CARL TOEPFER
Spinne, der Torwart
UNION VERLAG STUTTGART
Einband und Schutzumschlag: Karlheinz Grindler © Union Verl...
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CARL TOEPFER
Spinne, der Torwart
UNION VERLAG STUTTGART
Einband und Schutzumschlag: Karlheinz Grindler © Union Verlag Stuttgart 1958 Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung, der Übertragung durch Rundfunk, des Vertrags und der Verfilmung, vorbehalten Printed in Germany Gesamtherstellung: Ebner, Ulm/Donau, 1958
Schwarz-Gelb muß Meister werden! „Alte Flasche!“ sagte Spinne. Gemeint war der Mittelstürmer, der den Ball hoch in die Wolken gejagt hatte. Wenn auch das Spiel für die Ersten Junioren von Schwarz-Gelb so gut wie gewonnen war — sie führten 20 Minuten vor Schluß mit 4:1 -, so durfte man sich nach Ansicht von Spinne solche Schnitzer doch nicht leisten. In acht Tagen sollte das entscheidende Spiel um die Meisterschaft gewonnen werden, da war mit einem solchen Mittelstürmer nicht viel zu machen. Meinte Spinne. Das Spiel war durchaus nicht nach dem Geschmack dieses jungen Fachmannes, aber er wäre nie auf den Gedanken gekommen, auf den Schluß zu verzichten und nach Hause zu gehen. Für ihn war es selbstverständlich, daß er sonntags jedes Spiel sah, das für ihn irgendwie erreichbar war, natürlich von Anfang bis zu Ende. Er stand heute wie immer neben dem linken Torpfosten. Das Spiel des Torhüters war für ihn besonders wichtig, vielleicht konnte er da etwas lernen; denn er war selbst Torwart in einer Schülermannschaft und nach seiner Ansicht der beste seines Fachs. Das wenig fesselnde Spiel ließ seine Gedanken abschweifen, und sie waren bald bei seiner Lieblingsidee: Tormann der Länderelf. In acht bis zehn Jahren würde er das geschafft haben. In seinem Jungenkopf lag das alles genau fest und war eigentlich furchtbar einfach. Fleißig trainieren, sehr sportlich leben. Eines Tages würde man ihn dann schon holen, nachdem sein Ruhm über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden war. Er sah sich schon im Olympiastadion als Deutschlands Torwart Nr. 1. Da würde dann der Sturm des Gegners
heranbrausen, alles Spieler von Weltruf, aus allen Richtungen würden die schärfsten Schüsse auf sein Heiligtum losgelassen, und er würde mit eiserner Ruhe einfach alles halten. So mit einer Hand gewissermaßen würde er die tollsten Dinge vollbringen. Hunderttausend Zuschauer würden vor Begeisterung von den Sitzen aufspringen, die Hüte hochwerfen und schreien ... „Nimm doch deine Birne da weg, du ulkiger Heini!“ rief der Rechtsaußen von Schwarz-Gelb, dessen verunglückte Flanke Spinne unsanft an den Kopf geflogen war und ihn seinen Träumen entrissen hatte. Spinne murmelte mit hochrotem Kopf eine Blütenlese aus der Kollektion seiner Schimpfwörter vor sich hin (und die war sehr reichhaltig!). Laut etwas zu sagen schien ihm zu gefährlich, denn der andere war gut einen Kopf größer als er und hätte nach dem Spiel die Unterhaltung sicher in einer Art fortgesetzt, die Spinne unerwünscht war. Das Spiel ging weiter, und Spinne verzog sich wieder in das Reich seiner Träume. Jetzt stand er vor dem großen Schrank, der die vielen Pokale und Auszeichnungen bergen würde, die er in seiner ruhmreichen Fußballaufbahn zu erringen gedachte. Lassen wir ihn ruhig da stehen, wir haben so Gelegenheit, ihn uns einmal näher anzusehen. Auf alle Fälle wollen wir uns merken, daß dieser lang aufgeschossene Junge, der sich mit seinen 13 Jahren schon als richtiger Mann fühlt, eigentlich Werner Krüger heißt. Sein Körper hatte beim Wachsen mehr wert auf Länge als auf Breite gelegt, und seine Freunde nannten ihn wegen seiner langen, ungelenken Gliedmaßen „Spinne“. Nur Eingeweihte wußten seinen richtigen Namen, und er selbst hatte sich längst mit „Spinne“ abgefunden. Er war unter seinen Kameraden gut gelitten, auch wenn es nicht immer einfach war, mit ihm
auszukommen. Aber man konnte sich auf ihn verlassen, und — das wog in diesen Kreisen sehr schwer — er war ein guter und fairer Sportsmann. Wie immer hatte er beide Hände tief in den Taschen stecken. Hat ihn einer schon mal anders gesehen? Der schwarze Peter — wir hören später noch von ihm, leider nichts Gutes — behauptete, daß Spinne sogar an seiner Badehose zwei Taschen hätte, weil er sonst nicht wüßte, wo er außerhalb des Wassers seine Hände lassen sollte. Das ist im Augenblick nicht nachzuprüfen, aber man kann Spinne so etwas schon zutrauen. Das Gesicht des Jungen war meist ernst. Eine Mütze trug er nur an ganz hohen Fest- und Feiertagen, so daß sein blonder Schopf von Wind und Sonne immer mehr gebleicht wurde. Sein Anzug war zwar nicht ganz neu, aber sauber. Da Spinne so schrecklich schnell wuchs, paßten ihm seine Anzüge immer nur vier Wochen. In den letzten zehn Minuten kam noch etwas Schwung in das Spiel. Der Gegner war sichtlich abgekämpft, und die Stürmer von Schwarz-Gelb drehten noch einmal auf. Den vier Toren folgte ein fünftes, und vor dem Abpfiff legte der Halblinke noch ein Solo ein. Den müssen wir uns merken, weil er später eine große, sogar sehr große Rolle spielt. Das ist Kurt Lang, genannt „Kurz-Lang“, Oberprimaner, der Stolz der Ersten Junioren, Abgott der gesamten Fußballjugend im Umkreis von 30 km und mehr und die Hoffnung von Schwarz-Gelb. Kurz-Lang nahm im Mittelfeld geschickt eine Vorlage des rechten Läufers auf, die er sofort flach an den Mittelstürmer weitergab. Der war ausnahmsweise einmal im Bilde und schob den Ball für den blitzschnell gestarteten Kurz-Lang in den freien Raum. Kurt umspielte mit einer geschickten Wendung den Mittelläufer, täuschte den sich ihm entgegenstellenden Läufer und kam auch an dem heranbrausenden rechten
Verteidiger vorbei, der die Gefahr zu spät erkannt und nicht rechtzeitig eingegriffen hatte. Noch ein paar schnelle Schritte auf den Strafraum zu, und halbhoch schoß Kurt den Ball scharf neben den Pfosten. Der Torhüter machte nur eine hilflose Gebärde und holte den Ball aus der Ecke. „Bravo, Kurz-Lang!“ rief Spinne, der wieder wachgeworden war. Kurt nickte ihm lächelnd zu. Der Torsteher verhielt sich genauso, wie es alle Torsteher der Welt tun, wenn es bei ihnen eingeschlagen hatte: er lehnte sich gegen den Torpfosten, verschränkte die Arme über der Brust und tat so, als ginge ihn die ganze Geschichte überhaupt nichts an. Spinne hatte Mitleid mit ihm.„Da war nichts zu machen, das Ding war nicht zu halten.“ Im stillen aber meinte er, daß er den Ball vielleicht doch gehalten hätte, wenn er einen seiner bekannten Sprünge in die bedrohte Ecke gewagt hätte. Er hielt es aber auch hier für schlauer, das nur zu denken. Dann war das Spiel aus. Eine Horde Halbwüchsiger bemächtigte sich des Balles und tobte damit über den Platz. Der Platzwart Kullmann war außer Sicht, und das mußte ausgenutzt werden. Spinne schlenderte auf die Umkleidekabinen zu, die unter der Tribüne lagen, um noch ein paar Worte mit Kurz-Lang zu wechseln. Vielleicht würden sie auch zusammen nach Hause gehen. Unter den fußballbegeisterten Jungen galt das als besondere Auszeichnung. Es kam aber wieder einmal anders. Mit hochrotem Kopf schoß Herr Kullmann um die Ecke und rief: „Wollt ihr wohl mal da runter!“ und sich kurz umwendend fügte er hinzu: „Spinne, hol mal den Ball!“ Zwischen Herrn Kullmann und Spinne bestanden schon einige Zeit nähere Beziehungen. Der Junge hatte
uneingeschränkte Hochachtung vor diesem mächtigen Mann. Die Anlage gehörte zwar dem Club, aber Herr im Hause war unbestritten Herr Kullmann. Er konnte sogar der Ersten verbieten, auf dem Hauptplatz zu trainieren, wenn „sein“ Rasen geschont werden sollte. Er bestimmte, welche Bälle benutzt würden, auf welchen Plätzen man spielte — bei allen Dingen wurde immer erst Herr Kullmann gefragt, und er nahm es sehr übel, wenn man das vergaß. Er duzte sich mit allen Spielern der Ersten, die ihn vertraulich „Kulle“ nennen durften, und sogar mit einigen Mitgliedern des Vorstandes. Einen gewissen Respekt hatte er eigentlich nur vor Herrn Gangler, dem Ersten Vorsitzenden von Schwarz-Gelb. Herr Kullmann war ohne Zweifel ein mächtiger Mann. Er war früher selbst aktiver Spieler gewesen und hatte der sagenhaften Elf angehört, die einige Jahre in der obersten Klasse gespielt hatte. Man brauchte ihn nur anzustoßen, dann ließ er seine Walze ablaufen und erzählte die Geschichte des Meisterschaftsspiels von A bis Z mit allen Einzelheiten. Bei aller Bescheidenheit versäumte er auch nie darauf hinzuweisen, daß eigentlich er das „goldene“, das entscheidende Tor geschossen hatte. Der Mittelstürmer hatte seinen Ball nur etwas abgefälscht. Das also ist Herr Kullmann. Und dieser große Mann hatte Spinne in sein Junggesellenherz geschlossen. Spinne wurde sein ehrenamtlicher Gehilfe, er fettete Bälle ein, half beim Aufpumpen, machte kleine Gänge und hatte ganz heimlich den Ehrgeiz, einmal der Nachfolger von Herrn Kullmann zu werden. Erst so zehn bis fünfzehn Jahre Vertragsspieler und Nationaltorwart, dann Platzwart bei Schwarz-Gelb. Was konnte ihm dann noch passieren? Spinne machte sich auf den Weg, den Ball zu holen. Er kannte solche Aufträge und schätzte sie wenig. Es
würde eine ganze Weile dauern, bis er den Ball gesichert hätte. Immerhin hatte das Erscheinen von Herrn Kullmann genügt, um die Schar der unbefugten Spieler wesentlich zu verringern, aber eine Anzahl Unentwegter spielte ruhig weiter und verließ sich im Ernstfall auf die eigene Geschwindigkeit. Spinne stellte sich scheinbar uninteressiert neben das Tor und wartete ruhig, bis sich Gelegenheit bot, den Ball mit seinen langen Armen zu fassen. Als er mit seiner Beute abzog, folgte ihm eine Reihe wenig schmeichelhafter Zurufe, aber sie störten ihn nicht. Er arbeitete hier indirekt im Auftrage der Clubleitung und war über solches Gekläff erhaben. Er fand Herrn Kullmann im Geräteraum, in dem Ordnung und peinliche Sauberkeit herrschten. Eine von Kullmanns fundamentalen Weisheiten war der Satz: Mit dreckigen Sachen kann man kein sauberes Spiel hinlegen. Und damit hatte er sicher recht. „Leg den Ball oben in den Schrank. Und dann kannst du die beiden da unten nochmal einfetten, sie sind für heute nachmittag.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Wird ein schönes Spiel werden, ist aber nicht leicht zu gewinnen. Die beiden Punkte müssen unbedingt hierbleiben, wenn sie es diesmal schaffen wollen.“ Die Ersten Senioren hatten ebenso wie die Junioren Aussichten, in diesem Jahr Meister zu werden, und das würde natürlich für Schwarz-Gelb einen Riesenerfolg bedeuten.Spinne schmierte die Bälle mit wahrer Inbrunst und hatte nachher alle Mühe, seine Finger wieder sauber zu bekommen. Von draußen wurde gegen das Fenster geklopft. Machter, der Mittelstürmer der Ersten, winkte Kulimann zu. Der rief: „Komm doch rein, Walter!“ „Keine Zeit!“
„Komm schon!“ Machter trat ein, begrüßte „Kulle“ und nickte Spinne freundlich zu. „Du, hör mal, Kulle, mein linker Stiefel drückt ganz abscheulich im Spann. Kannst du ihn dir bis heute nachmittag mal ansehen? Ich kann sonst keine Tore schießen!“ fügte er lachend hinzu. Herr Kullmann hatte es gern, wenn man mit allen möglichen und unmöglichen Dingen zu ihm kam. Das bestätigte immer wieder seine Unentbehrlichkeit. „Ich werde mal sehen, was sich machen läßt, Walter.“ Als Machter gerade gehen wollte, trat Herr Gangler ein, hinter ihm Kurt Lang. „Guten Tag, meine Herren!“ grüßte der Erste Vorsitzende und gab ihnen der Reihe nach die Hand, wodurch Spinne sich mit Recht auch als Herr angesprochen fühlte. „Herr Kullmann, ich wollte Sie nur mal fragen, ob es bei Ihnen auch schon durchregnet. In den Kabinen an der Platzseite tropft es nach jedem Regen ganz munter durch.“ „Nein, Herr Gangler, hier ist noch alles dicht. Ich bin in der vergangenen Woche einmal im Gebälk herumgekrochen und habe ein paar undichte Stellen mit Teerpappe abgedeckt. Aber ewig hält das auch nicht. Wir müßten eben neu bauen!“ „Sehr richtig! Aber haben Sie das Geld dazu, oder können Sie mir wenigstens sagen, woher ich es nehmen soll?“ „Wir müßten eben mehr Einnahmen haben“, meinte Kullmann. „Das ist kaum zu erreichen, bevor unsere Erste nicht besonders hervorgetreten ist und größere Zuschauermengen anzieht. Wir sind ja an sich froh genug, daß wir kaum einmal in Abstiegssorgen waren;
aber erst dann, wenn wir wieder einmal Meister sind und uns eine Weile oben halten können, wird mehr Geld in die Kassen fließen. Dann können wir bauen.“ ,Dann muß die Erste Meister werden! Wir waren es doch schon einmal!“ trumpfte Kullmann auf. „Leicht gesagt!“ Eine Weile war es still im Raum. Jeder träumte auf seine Weise von der Meisterschaft. Schließlich sagte Machter: „An uns soll es nicht liegen, wir werden tun, was wir können. Vorläufig haben wir ja auch noch die Tabellenspitze, und die wollen wir nicht mehr abgeben.“ „Lieber Herr Machter“, sagte Gangler, „wir haben das schon zu oft erlebt, und es hat dann im entscheidenden Augenblick doch nicht ausgereicht. Wir wollen auch nicht vergessen, daß wir bei ein paar Spielen, die wir gewannen, sehr großes Glück hatten, sonst lägen wir heute nicht vorn.“ Machter lächelte. „Ohne Glück geht's nicht, Herr Gangler, und das soll ja auch auf die Dauer nur mit dem Tüchtigen sein. Und Sie scheinen auch Ihre Erste nicht ganz zu kennen. Unsere Erfolge, auch wenn sie teilweise mit Glück errungen wurden, haben uns einen besonderen Schwung gegeben. Wir liegen diesmal besonders günstig, und wir wollen in diesem Jahr Meister werden. Das ist nicht der Wunsch von elf einzelnen Spielern, sondern einer Mannschaft, und das ist etwas ganz anderes!“ „Das höre ich gerne“, sagte Herr Gangler, „diese Einstellung ist die einzig richtige. Der Wille versetzt Berge. Und so muß auch alles denken, was zu SchwarzGelb gehört! Wir wollen also nicht sagen: es wäre schön, wenn die Erste Meister würde, sondern: die Erste wird Meister!“
Spinne nickte so heftig, daß sich Herr Gangler mit einem Lächeln an ihn wandte. „Bist du nicht auch der gleichen Meinung?“ „Sicher! Und die Junioren werden auch Meister!“ „Das steht ja wohl so ziemlich fest, nicht wahr, Kurt?“ „Ja“, sagte Kurt, „wir brauchen nur das Spiel am nächsten Sonntag zu gewinnen.“ Nun mußte Herr Kullmann auch wieder etwas sagen: „Was die Jungen können, das wird die Erste doch auch schaffen! Wir...“ Zu einer erneuten Darstellung seines vorzeitlichen Meister- schaftsspiels kam er nicht, weil Machter ihn unterbrach. „Heute nachmittag holen wir zwei wichtige Punkte. Dann werden wir hoffentlich kein Spiel mehr verlieren. Und die anderen werden ja auch nicht alles gewinnen.“ „Also schön!“ schaltete Herr Gangler sich wieder ein. „Es ist also beschlossene Sache, daß Schwarz-Gelb Doppelmeister wird. Die hier anwesenden Spielführer beider Mannschaften übernehmen dafür die Garantie! Oder nicht? Jedenfalls ist die Meisterschaft der Ersten die Voraussetzung für den Bau des neuen Clubhauses, für das wir vorläufig nur den Bauplatz und die Pläne haben. Wir bilden hiermit einen geheimen Ausschuß von fünf ehrenwerten Männern - jawohl Werner, du gehörst auch dazu! - und beschließen, jeder an seinem Platz nach besten Kräften alles zu tun, um die Meisterschaft zu holen. Die Parole heißt: Schwarz-Gelb wird Meister!“ Spinne wußte nicht genau, ob diese Ansprache ganz oder nur teilweise scherzhaft gemeint sei. Er nahm die Angelegenheit jedenfalls todernst. Etwas unvermittelt trennte man sich. Herr Gangler und Kurt fuhren mit dem Wagen davon, Machter entfernte sich auf seinem alten, wildknatternden Motorrad und
Spinne auf Schusters Rappen. Zurück blieb nur Herr Kullmann, auf den niemand wartete. Um das Fahrgeld zu sparen, lief Spinne nach Hause, obwohl die Mutter sicher schon mit dem Essen warten würde. Aber daran war sie gewöhnt. Spinnes Mutter war nach seiner Ansicht die beste Frau der Welt, und er mußte das ja wissen. Wenn sie gekonnt hätte, wie sie wollte - aber leider konnte sie nicht so. Sie lebte mit ihrem einzigen Jungen allein und zurückgezogen, sie hatte in der Stadt keine Verwandten und nur einen kleinen Bekanntenkreis. Es gefiel aber beiden ganz gut so. Spinne hatte gerade angefangen, sich mit dem Ernst des Lebens auseinanderzusetzen - er war in die Schule gekommen und fühlte sich stark in seiner Freiheit beschränkt -, als sich der Vater im grauen Rock zum letztenmal verabschiedete. Der Vater, der immer sein bester Freund gewesen war, kam nicht mehr zurück, und er fehlte dem Jungen sehr, wenn er auch damals noch nicht recht begriff, was es für ihn und vor allem für die Mutter bedeutete, ohne den Vater durchkommen zu müssen. Allmählich lernte er verstehen, und da fielen ihm die Worte ein, die der Vater zum Abschied zu ihm gesagt hatte: Sei fleißig und paß auf die Mutti auf! Das nahm er sich zu Herzen. In der Schule war er nicht gerade eine Leuchte, aber er gab niemals Anlaß zu Klagen, und zu Hause machte er sich mehr und mehr nützlich. Es ging bei Krügers gewiß nicht üppig zu, aber Werner hatte nie das Gefühl, etwas entbehren zu müssen. Die Mutter arbeitete in einer Buchbinderei. Werner, der nachmittags immer allein war, sorgte für Feuerung, hielt den Ofen in Gang, machte Einkäufe, und manchmal überraschte er sogar die Mutter, wenn sie spät und müde heimkam, mit einer fertigen Mahlzeit. Er war eigentlich immer in Sorge um sie, denn er fühlte sich für sie verantwortlich, weil er
doch der einzige Mann im Hause war. Mutter und Sohn hingen sehr aneinander, wenn sie das auch nach außen hin kaum zeigten. Werner war mit seiner Einsamkeit durchaus einverstanden, denn er hatte einen unverkennbaren Hang zum Eigenbrödler. Es gab nur einen Streitpunkt: Fußball. Als kleiner Junge schon hatte Werner jeden Schuh in kurzer Zeit an der Spitze zerstoßen, weil er keinen Stein liegen sehen konnte, ohne ihn als Fußball zu benutzen. Später gab sich das, aber die Begeisterung für diesen Sport saß ihm so im Blut, daß ihn keine Drohung und keine Strafe davon abbringen konnte. Nach langen, vergeblichen Kämpfen hatte Frau Krüger ihn gewähren lassen. Sie gab sich damit zufrieden, ihn am Sonntag zum Mittagessen und in den Abendstunden zu Hause zu haben. Frau Krüger legte Wert darauf, sich und den Jungen aus eigener Kraft durchzubringen, und sie schaffte es auch. Es war nicht ganz einfach, aber sie verstand es, mit dem wenigen, was sie hatte, durchzukommen. Werner sorgte für sein Taschengeld selber, er hatte einen untrüglichen Instinkt für Verdienstmöglichkeiten und scheute sich auch vor keiner Arbeit. Seit einiger Zeit war er nachmittags als Austräger für eine Buchhandlung tätig und verdiente wöchentlich eine bestimmte Summe, die sich durch Trinkgelder noch erhöhte. Er war jetzt sogar stolzer Eigentümer eines richtigen Sparkassenbuches und setzte seinen ganzen Ehrgeiz darein, sich den Konfirmationsanzug selbst kaufen zu können. Darum lief er auch heute nach Hause, obwohl der Weg vom Sportplatz weit war.
Spinne als Retter Während Spinne, die Hände tief in den Taschen vergraben, nach Hause ging, saß Kurt Lang schon am Mittagstisch. „Na, wieviel Tore hast du heute geschossen?“ fragte ihn Onkel Willy, der Frau Lang gegenüber saß. „Zwei von sechs“, gab Kurt zur Antwort. „Laßt doch bitte diese Fußballgespräche wenigstens bei Tisch. Ich habe für diesen Sport nun einmal nichts übrig“, bat Frau Lang. „Weil du ihn nicht kennst, liebe Schwester! Du solltest einmal zusehen, wenn Kurt spielt. Erstens würdest du dann mächtig stolz auf deinen Jungen sein, und zweitens würdest du verstehen, warum wir so an diesem Sport hangen.“ „Verschont mich damit! Ich möchte auf Kurt aus einem anderen Grunde stolz sein dürfen. Vater hätte das alles nicht geduldet, aber gegen euch zwei Männer komme ich schwache Frau nicht auf.“ Das Tischgespräch der Familie Lang interessiert uns nicht weiter. Wir wollen uns lieber ein bißchen mit der Familie selbst beschäftigen. Herr Lang hatte von seinem Vater eine angesehene und erfolgreiche Textilgroßhandlung übernommen, die er mit Fleiß und viel Geschick weiter ausgebaut hatte. Der Krieg hatte zwar das Haus am Markt verschont, aber vieles war verloren und mußte neu gewonnen werden. Als kranker und gebrochener Mann kam Lang aus der Gefangenschaft zurück und starb bald darauf. Frau Lang war froh, daß ihr Bruder die Leitung des Geschäfts übernahm, aber - und das spürte sogar Kurt - Onkel Willy war doch nicht der richtige Mann für ein solches Unternehmen. Immerhin war es gelungen, den Betrieb
über alle Klippen der Nachkriegszeit zu retten, und es schien langsam wieder bergauf zu gehen. Ursprünglich schien es selbstverständlich, daß Kurt einmal das väterliche Geschäft übernehmen würde. Der zeigte aber, je älter er wurde, immer weniger Neigung dazu, und als dann der Vater nicht mehr da war, wurde es ihm leicht, die Mutter zu veranlassen, ihre Zustimmung zu der Berufswahl zu geben, die er getroffen hatte. Er wollte Architekt werden und hatte wie jeder junge Mensch in seinem Alter große Pläne. Daß er seiner Mutter damit manche Sorge bereitete, ahnte er nicht. Sie selber war ebenso wie ihr verstorbener Mann mit der Firma verwachsen und verstand es nicht, daß Kurt nichts davon wissen wollte. Aber sie wollte ihn nicht in eine Bahn drängen, die ihm nicht zusagte. Zunächst saß Kurt noch auf der Schulbank, allerdings nicht mehr lange. Noch hielt er das Leben, das vor ihm lag, für angenehmer und schöner als seine unbeschwerte Kindheit. Er hatte bisher sorglos und heiter leben können, und alles, was er zu tun hatte, war ihm leicht gefallen. Frühzeitig fand er Freude am Sport, bis er ganz dem Fußball verfiel, für den er alle Anlagen mitbrachte. Ein überragender Spieler muß dazu veranlagt sein, lernen läßt sich das bei allem Eifer nicht. Kurt war sich noch nicht im klaren, ob er nach dem Abitur weiter bei Schwarz-Gelb spielen oder sich einem Verein in der Großstadt anschließen würde. Das hing davon ab, ob er weiter zu Hause wohnen würde. Die Technische Hochschule lag in der nächsten größeren Stadt, und er hätte ohne große Schwierigkeiten täglich hin und her fahren können. Das war noch nicht entschieden, das letzte Wort würde hier Mama sprechen. Im Augenblick gab es aber noch wichtigere Dinge. Am nächsten Sonntag sollte die Junioren-Meisterschaft
gewonnen werden, dann kam das Abitur. Später würde man weitersehen. Spinne traf auf dem Marktplatz den schwarzen Peter. Der hieß wirklich Peter, und Schwarz hieß er auch, die Jungen hatten nur die Reihenfolge der Namen geändert und einen schwarzen Peter aus ihm gemacht. Peter hatte wenig Freunde und war dazu ein ausgesprochener Gegner von Schwarz-Gelb. Aber dafür konnte er nicht. Sein Vater war Vorsitzender eines kleinen Fußballvereins, und Peter hörte oft, wie der Vater über die großen Vereine klagte,die den kleinen keine Luft ließen und ihnen die besten Spieler fortlockten. Der große Bruder war Mitglied des FC Neustadt, dessen Junioren nur einen Punkt hinter Schwarz-Gelb lagen und die sich mit dem gleichen Recht als künftige Meister sahen. So ist es erklärlich, daß Peter ganz unbewußt auf die Gegenseite gedrängt wurde und sich der allgemeinen Sympathie für die Schwarz-Gelben nicht anschloß. „Tag, Spinne!“ Spinne hatte seinen vornehmen Tag und nickte Peter nur gönnerhaft zu. Er blieb nicht stehen, konnte aber auch nicht verhindern, daß Peter sich ihm anschloß. „Gehste nachmittag zum Spiel?“ Spinne verstand. „Hast wohl kein Geld?“ Diesmal beschränkte sich Peter aufs Nicken. Spinne brauchte als Helfer von Herrn Kullmann natürlich kein Eintrittsgeld zu zahlen, ab und zu konnte er auch einen Kameraden kostenlos durch die Sperre lotsen. Das war bekannt und veranlaßte manchen Jungen, sich mit Spinne besonders gut zu stellen. „Kannste doch mal machen“, sagte Peter, dessen Gedanken den gleichen Weg gegangen waren. „Mal sehen. Um halb drei am Rathaus. Und jetzt hab ich’s eilig. Mach’s gut!“ Spinne schaltete den nächsten
Gang ein und verschwand in einer Gegend, in der man Herrschaftshäuser vergeblich gesucht hätte. Peter kam auf alle Fälle zehn Minuten früher als verabredet, obwohl er wußte, daß Spinne immer pünktlich war. So hatte er Zeit, sich das noch einmal gründlich zu überlegen, was er mit seinem Bruder besprochen hatte. Der war heute wieder einmal zu Haus aufgekreuzt, um sich gründlich sattzuessen. Das Gespräch drehte sich natürlich in der Hauptsache um Fußball und im besonderen um das Meisterschaftsspiel am nächsten Sonntag. In Neustadt rechnete man genauso auf den Sieg des FC, wie man hier an die Schwarz- Gelben glaubte. Peter war für Neustadt, weil er den anderen den Sieg nicht gönnte. ,Tja’, hatte der Bruder gesagt, ,das wird nicht einfach werden, aber wir müssen es schaffen. So gut sind die auch nicht, die Schwarz- Gelben, wenn nur nicht der häßliche Kurz-Lang wäre, der in jedem Spiel für zwei, drei Tore gut ist! Wenn man den ausschalten könnte. Vielleicht kriegt er bis dahin noch die Masern.’ ,Wie willste den denn ausschalten?’ hatte Peter gefragt. ,Wenn ich das wüßte, brauchte ich dich nicht zu fragen, kleiner Bruder! Ich will dir aber mal was sagen: Wenn du es irgendwie schaffst, Kurz-Lang kaltzustellen, kaufe ich dir ein Paar Fußball- Stiefel, die du dir selbst aussuchen kannst.’ Junge, Junge, dachte Peter, das wäre was für mich — aber wie soll ich das machen? Ich kann doch Kurz-Lang nicht entführen oder ihn am nächsten Sonntag zum Kaffee einladen! Seitdem wälzte Peter die tollkühnsten Pläne durch seinen armen Kopf, die aber, wie er bald selber merkte, alle undurchführbar waren. Das war wohl ein
hoffnungsloser Fall. Aber die Prämie reizte ihn, und er zerbrach sich weiter den Kopf, bis Spinne ihn störte. Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gegangen waren, fragte Peter: „Fährste nächsten Sonntag nach Neustadt?“ Dumme Frage, dachte Spinne. Natürlich bin ich dabei, wenn die Jungen Meister werden. Aber alles braucht der auch nicht zu wissen. „Mal sehen.“ „Ich bin mächtig gespannt, wer gewinnt. Mein Bruder sagt, der FC schafft es bestimmt.“ Spinne lachte verächtlich. „Was dein Bruder sagt, ist nicht maßgebend. Zweifelst du etwa daran, daß unsere Meister werden?“ Das war nun eine ausgesprochene Gewissensfrage. Peter durfte nicht sagen, daß er Schwarz-Gelb den Erfolg nicht gönnte, Spinne würde ihn sonst an der Kasse glatt verleugnen. Zu seinem Glück stieß ein Schulfreund zu ihnen, und das Thema wurde gewechselt, ohne daß Peter die gewünschte Auskunft zu geben brauchte. „Ob sie heute gewinnen?“ Das stand für Spinne außer Frage.„Die gewinnen heute und jeden Sonntag! Schwarz-Gelb wird Meister, darauf könnt ihr euch verlassen!“ Und als die anderen ihn etwas verwundert ansahen, fügte er ergänzend hinzu: „Wir hatten heute morgen eine AusschußBesprechung mit Herrn Gangler, Machter und noch ein paar anderen Herren, da ist alles genau festgelegt worden. Nach der Meisterschaft bauen wir ein großes Clubhaus mit Turnhalle, Umkleidekabinen, Bade- und Massageräumen, einer großen Kantine, Büros und allem möglichen.“ Seine Zuhörer konnten sich nicht recht erklären, was Spinne in einer solchen Ausschuß-Sitzung — wenn sie überhaupt stattgefunden hatte — zu suchen hätte, aber
er war immer erstaunlich gut unterrichtet und hatte auch sonst nicht die Gewohnheit aufzuschneiden. Außerdem schilderte er die Pläne des Clubs so überzeugend und eindringlich, daß die beiden anderen ihm glaubten. Also wird Schwarz-Gelb Meister und baut ein riesiges Clubhaus. Allerhand! An der Platzsperre setzte Spinne seine Amtsmiene auf und sagte zu dem Kontrolleur, mit einer Kopfbewegung auf Peter deutend: „Der Kollege muß mir noch ein bißchen helfen.“ Der Mann hatte Humor und antwortete ebenso ernst: „Ist gut, Sportsfreunde!“ Peter folgte Spinne in das Reich des Herrn Kullmann. „Hast du den mitgebracht?“ „Ja, kein Geld.“ „Schädigt den Verein, mein Junge!“ Damit brachte Herr Kullmann zum Ausdruck, daß er auf die Anwesenheit von Peter nicht unbedingt Wert legte. „Nach dem Vorspiel saust du mit der Karre raus und ziehst vor den Toren die Kreidestriche nach. Der da kann dir den Eimer tragen.“ Das war auch so eins von den beliebten Ehrenämtern und trug Spinne die spöttischen Zurufe der Jungen ein, die ihre fünf Groschen bezahlt hatten und außerhalb der Barriere standen. Aber auch daran war er gewöhnt. Lacht ihr nur, dachte er dann. In ein paar Jahren stehe ich hier zwischen den Pfosten und gebe euch vielleicht, wenn ich guter Laune bin, ein Autogramm. Dann werdet ihr mächtig stolz darauf sein, Werner Krüger, den Nationaltorwart, zu kennen. Dann soll mal einer von euch „Spinne“ zu mir sagen! Während des Spiels waren sie im Geräteraum, das heißt, die Jungen standen auf dem ans Fenster gezogenen Tisch und sahen über die Köpfe der
Stehplatzbesucher hinweg. Als der Halbzeitpfiff ertönte, verschwand Herr Kullmann, und Spinne hatte den ehrenvollen Auftrag, einen Korb mit Sprudelflaschen in die Kabine der Ersten zu tragen. Peter blieb allein und sah sich näher in dem Raum um. Er mußte natürlich schnell mal in den großen Schrank gucken und staunte über die vielen Bälle, die dort sauber hergerichtet lagen. Dann zog er die Schublade des Tisches auf, aber darin fand er nur langweilige Formulare. Doch halt, die könnten vielleicht den Vater interessieren. Im Handumdrehen war eine lückenlose Kollektion in Peters Tasche verschwunden. Und dann erschien auch Spinne wieder. Herr Kullmann atmete erleichtert auf, als das Spiel abgepfiffen wurde. „Wieder mal gewonnen, wieder ein Schritt zur Meisterschaft!“ Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Wenn sie es bloß schaffen! Winkler gefällt mir nicht mehr, ist zu langsam, wird alt. Aber woher einen besseren Halblinken nehmen? — Ich weiß, was du sagen willst, Werner, aber Kurt ist noch zu jung und unerfahren. Die Spiele der Ersten sind harte Arbeit und kein Vergnügen. Na, wollen mal abwarten, vielleicht schaffen sie es doch, wie wir es auch einmal geschafft haben.“ Spinne fühlte, daß nun wieder ein Bericht über das Meisterschaftsspiel fällig war, das in grauer Vorzeit stattgefunden hatte und von dem er nun nach seiner Meinung schon genug wußte. Er empfahl sich etwas eilig, was Herrn Kullmann sichtlich verdroß. Am nächsten Sonntag trafen sich die Junioren rechtzeitig am Bahnhof, um wie üblich gemeinsam nach Neustadt zu fahren. Als der Jugendleiter seine Schäflein zählte, fehlte nur noch der Halblinke. „Auf den brauchen wir nicht zu warten, den wird wohl Herr Gangler wieder mitbringen. Also los, auf geht’s!“
Herr Gangler, der mit der Familie Lang freundschaftliche Beziehungen unterhielt, hatte Kurt schon oft in seinem Wagen zum Sportplatz gebracht. Also fuhr man getrost ohne den Halblinken ab. Eigentlich wollte Spinne mit der Mannschaft zusammen fahren, aber es gab zu Hause noch einiges für ihn zu tun, und da konnte er sich nicht gut drücken, weil er die Mutter nicht verärgern wollte, die heute ohne ihn essen mußte. Mit dem nächsten Zug reichte es außerdem auch noch. Pünktlich wie immer war Spinne am Bahnhof. Auf dem Bahnsteig sah er hinter einem Verkaufsstand den schwarzen Peter, der ihn nicht hatte kommen sehen und eifrig auf einen anderen Jungen einredete. Spinne, der lieber allein gefahren wäre, nahm hinter der anderen Seite des Standes Deckung. Peter schien sehr aufgeregt und redete so laut, daß Spinne einige Fetzen der Unterhaltung auffing, ohne es zu wollen. Der Unsinn, den Peter erzählte, interessierte ihn sowieso nicht. Aber plötzlich richtete sich Spinne wie elektrisiert auf. Er nahm sogar beide Hände aus der Tasche, und das will etwas bedeuten. Was redet der Kerl da?,... SchwarzGelb verliert... ohne Kurt Lang... Karte geschrieben ... kommt bestimmt nicht...!’ Zunächst hatte Spinne den brennenden Wunsch, Peter windelweich zu schlagen. Was war das für eine teuflische Sache? Was hatte der schwarze Peter da ausgeheckt? Ohne Kurt in Neustadt? Eine Weile stand Spinne wie gelähmt, überlegte und kombinierte. Dann fiel bei ihm der Groschen. Na warte, Peter! Plötzlich sauste Spinne los, als hätte man ihm eine Nadel in den verlängerten Rücken gestochen. Er raste durch die Sperre und warf dem Beamten seine Fahrkarte in hohem Bogen zu. Er war so in Fahrt, daß er leider nicht mehr hörte, was ihm der Zangenmann
an Segensworten nachrief. Er stürzte auf die nächste Taxe zu und rief dem schlafenden Fahrer ins Ohr: „Marktplatz 9!“ Der Fahrer war genau so ruhig, wie Spinne aufgeregt war. „Haste denn Geld?“ Spinne hielt ihm das geöffnete Portemonnaie unter die Nase und veranlaßte dadurch den unsanft seinem Schlaf Entrissenen, den Versuch zu machen, seinen nicht mehr ganz neuen Wagen in Gang zu bringen. „Fahren Sie schnell, es ist furchtbar wichtig!“ hetzte Spinne, und in einem Anflug von Verschwendungssucht fügte er hinzu: „Es gibt auch ein gutes Trinkgeld!“ Das war die einzige Sprache, die der Fahrer sofort verstand. Spinne starrte wie gebannt auf den Taxameter, der erstaunlich schnell in die Höhe stieg. Am Ziel hatte er die Tür schon offen, bevor der Wagen hielt, reichte dem Fahrer einen Geldschein und stürmte ins Haus. Oben klingelte er Sturm. Auf den Gedanken, daß es Leute gibt, die sonntags etwas Ruhe brauchen, kam er nicht. Frau Lang öffnete selbst. Man kann nicht sagen, daß sie ausgesprochen freundlich aussah. Spinne hatte für eine förmliche Begrüßung gar keine Zeit und fragte aufgeregt: „Ist Kurt hier?“ „Ja, was ist denn eigentlich los?“ „Ach, entschuldigen Sie bitte, Frau Lang, aber es ist furchtbar wichtig, ich muß Kurt unbedingt ganz schnell sprechen!“ Wenn die Frau jetzt bloß nicht die Tür vor meiner Nase zuknallt, dachte der gehetzte Junge. Aber Frau Lang hatte ja selber einen Sohn, und sie wußte, daß man da oft beide Augen zudrücken mußte. Die furchtbar
wichtigen Dinge waren dann meist Kleinigkeiten, aber Jungen sind nun mal so. „Na, dann komm mal rein!“ Spinne war schon drin und rannte auf Kurts Zimmer zu. Da lag doch der lange Kerl auf dem Sofa und las seelenruhig ein Buch, und in anderthalb Stunden sollte das Spiel in Neustadt anfangen! „Schnell, Kurt, nimm deinen Koffer!“ Kurt legte das Buch aus der Hand. „Was ist denn mit dir los?“ „Na, willste vielleicht deine Mannschaft verlieren lassen und lieber hier Liebesromane lesen?“ „Man sachte, Spinne. Wo hast denn du dein Wehwehchen?“ Spinne war dicht am Platzen. In seiner Aufregung fuchtelte er mit seinen langen Armen durch die Luft.„Verstehste denn nicht, Kurt? Warum biste denn nicht in Neu- Stadt?“ „Weil wir erst am nächsten Sonntag dort spielen, mein Goldkind!“ Spinne schnappte nach Luft. Am liebsten hätte er geheult. „Ist doch alles.Schwindel! Heute wird gespielt!“ Kurt war aufgestanden. Inzwischen war Frau Lang ins Zimmer getreten, und Onkel Willy steckte seinen Kopf durch die andere Tür. Alle drei sahen mit einiger Verwunderung auf Spinne. „Nun sei mal ruhig, Werner. Um was handelt es sich denn eigentlich?“ „Mann, das sage ich doch schon dauernd: heute wird in Neustadt gespielt, und du liegst hier so lang, wie du heißt — äh — wie du bist.“ Kurt nahm eine Karte aus seiner Brieftasche und reichte sie Spinne. „Lies das mal, das ist doch wohl deutlich genug.“
Spinne betrachtete die Karte wie das achte Weltwunder. Das war eine der vorgedruckten Karten, die der Club zur Benachrichtigung der Spieler verwendete. Und darauf stand, daß der Verband das Meisterschaftsspiel der Junioren um eine Woche verlegt hätte. Mit einer Schärfe, die einem Sherlock Holmes Ehre gemacht hätte, kombinierte Spinne. Das war also das Heldenstück des schwarzen Peter! Junge, Junge, das gibt eine Abreibung! „So ein Schuft!“ stieß er hervor. „Wer?“ „Der schwarze Peter!“ und dann erzählte er, was er wußte und was er sich dachte. Es gelang ihm sogar, seine Zuhörer zu überzeugen. Kurt wurde allmählich unruhig. „Meinen Koffer!“ rief er und lief hinaus. Seine Mutter folgte ihm. „Was willst du denn jetzt noch machen? Der Zug ist doch längst fort!“ „Ist egal, Mama, irgendwie komme ich schon hin.“ „Das ist doch aber Unsinn, Junge!“ „Komm, Kurt“, rief Spinne erbarmungslos, „vielleicht steht meine Taxe noch unten.“ „Bist du mit einer Taxe gekommen?“ fragte Onkel Willy erstaunt. Spinne nickte nur und ergriff Kurts Koffer. „Komm, komm, Kurt, du kannst deine Kameraden gerade heute nicht im Stich lassen! Denk an die Parole vom Geheimausschuß!“ Kurt lächelte. Frau Lang stand ratlos. Was waren das für Jungen! Und alles um den verrückten Fußball! Onkel Willy gab den beiden durchaus recht.
„Natürlich muß Kurt versuchen, noch irgendwie nach Neustadt zu kommen. Ich rufe Gangler an, der ist vielleicht noch nicht fort.“ Leider war er aber schon fort. „Wir schaffen's schon, Kurt!“ Spinne ließ nicht locker. „Wir fahren Anhalter.“ „Seht zu, Jungens, wie Ihr es macht“, ermunterte Onkel Willy und schob sie zur Tür, wobei er Spinne ein Fünfmarkstück als „Spesen“ in die Hand drückte. Frau Lang blieb weiter nichts übrig, als gute Reise zu wünschen. Zum Glück erreichten sie noch die Straßenbahn, die zur Stadtgrenze fuhr. Dort bauten sie sich an der Straße auf, Spinne furchtbar aufgeregt, Kurt wesentlich ruhiger. Er sah auf die Uhr. Noch genau eine Stunde bis Spielbeginn. Fahrzeit wenigstens 50 Minuten. Spinne stand auf der Straße und bewegte seine Arme wie Windmühlenflügel, als sich der erste Wagen näherte. Leider ohne Erfolg, in dem Viersitzer saßen schon sieben Personen. Auch der nächste Wagen, in dem ein einzelner Herr saß, fuhr vorbei, ohne von den beiden Notiz zu nehmen. Und dann kam lange nichts. Spinne war nahe am Verzweifeln. „Sonst wirst du hier dauernd überfahren, so dicht ist der Verkehr. Heute ist kein Schwanz zu sehen.“ Aus der Gegenrichtung kam ein Wagen nach dem anderen, aber nach Neustadt schien heute kein Mensch zu fahren. „Da kommt einer!“ rief Kurt, und Spinne bezog wieder seinen Posten. Er stellte sich mitten auf die Fahrbahn und winkte wie ein Wilder. Im letzten Augenblick sprang er erst zur Seite. Und siehe da: mit quietschenden Bremsen hielt der Wagen, Spinne lief hinterher.Der Fahrer empfing ihn durchaus nicht so freundlich, wie er wohl erwartet hatte. Er brüllte ihn an:
„Du willst wohl mit Gewalt überfahren werden, du Lausebengel? Man müßte dir die Hosen stramm ziehen.“ „Ach, entschuldigen Sie bitte vielmals“, stotterte Spinne atemlos, „wir müssen nämlich unbedingt nach Neustadt.“ „Dann lauft doch!“ schnaubte der Herr und machte Anstalten weiterzufahren. Inzwischen war Kurt herangekommen, der wohl auf den Herrn einen besseren Eindruck machte als Spinne. So ließ er sich herab, Kurts Vortrag anzuhören. Der erzählte ihm, warum sie nach Neustadt müßten, und bat höflich, mitgenommen zu werden. „So ganz schlau werde ich aus der Geschichte noch nicht. Ich habe aber keine Lust, hier so lange zu stehen, bis ihr mir die Sache erklärt habt. Steigt mal ein, damit wir endlich weiterkommen!“ Spinne feuerte den Koffer in den Wagen und gab Kurt einen heftigen Schubs. Junge, Junge, das war ein Wägelchen! Der machte auf der Autobahn bestimmt seine 120 Sachen und mehr! Der Fahrer, der sich später als der sehr liebenswürdige Herr Lieblich entpuppte, interessierte sich allmählich immer mehr für den Fall. Es gefiel ihm besonders, daß die Jungen so beharrlich ihr Ziel verfolgten. Da Spinne es nicht lassen konnte, den Vortrag von Kurt mit weitschweifenden Erklärungen zu schmücken, wurde Herrn Lieblich zwar der Zusammenhang immer noch nicht ganz klar, besonders das, was der Junge von Geheimausschuß und Parole dazwischenwarf. Aber auf alle Fälle war er für den Plan gewonnen. „Ehrensache, daß wir es schaffen!“ sagte er und gab noch etwas Gas. Spinnes Augen hingen abwechselnd mit Begeisterung am Geschwindigkeitsmesser und mit Sorge
auf dem Zifferblatt der Uhr. Dann kam ihm wieder mal eine gute Idee. „Kurt, du kannst dich gleich hier im Wagen umziehen, dann hast du nachher Zeit gespart.“ „Ausgezeichnet!“ lobte Herr Lieblich, „und der ,Lausebengel’ wird hiermit feierlichst zurückgenommen!“ Spinne fühlte sich als Held des Tages. Immerhin, es war noch nicht entschieden, ob man noch rechtzeitig in Neustadt eintreffen würde. Herr Lieblich fuhr zwar wie ein Teufel, aber sie hatten doch durch das Warten an der Straße viel Zeit verloren. „Wie weit können Sie uns fahren?“ „Ich kenne den Sportplatz in Neustadt, natürlich fahre ich euch bis hin.“ Dann schaffen wir es vielleicht doch noch, dachte Spinne. In der Umkleidekabine von Schwarz-Gelb herrschte dicke Luft. Noch zehn Minuten bis zum Spielbeginn, und Kurz-Lang war immer noch nicht da. Herr Gangler war inzwischen eingetroffen, aber leider ohne Kurt. Was mochte da nur vorgefallen sein? Es war noch nie vorgekommen, daß Kurt ein Spiel versäumt hätte, ohne sich rechtzeitig zu entschuldigen. „Das wird eine schöne Packung geben!“ maulte Paul, der lange Torwart. „Da hätten wir uns gar nicht auszuziehen brauchen.“ „Na, vielleicht kommt Kurt doch noch. Es ist ja noch Zeit“, tröstete ein anderer. „Jawohl, noch ganze acht Minuten!“ Herr Gangler kam in die Kabine. „Ist denn wenigstens ein Ersatzmann da?“ fragte er. „Der ,lahme Heini’ steht draußen“, gab Paul höhnisch grinsend zur Antwort. Da machte sich auch bei dem sonst so ruhigen Herrn Gangler die Nervosität bemerkbar:
„Was heißt hier ,lahmer Heini’?“ schimpfte er. „Ihr meint wohl, ihr könnt alle mehr als Heinrich Scholz? Holt ihn rein, er soll sich umziehen. Und dann will ich euch mal was sagen: ihr seid mir schöne Sportsleute, wenn ihr ein Spiel schon verloren gebt, bevor es überhaupt angefangen hat! Könnt ihr denn ohne Kurt gar nichts? Reißt euch zusammen und holt euch die Meisterschaft! Die Ersten Senioren werden es euch dann nachmachen!“ Damit ging er hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Die Mannschaften betraten das Spielfeld. Der FC Neustadt war sehr siegessicher, denn es hatte sich schon herumgesprochen, daß Kurz-Lang nicht erschienen sei. Die Schwarz-Gelben machten den Eindruck, als träten sie zu ihrem eigenen Begräbnis an. Da der ,lahme Heini’ nur als Läufer zu verwenden war, mußte auch noch die ganze Mannschaft umgestellt werden, was nicht dazu beitrug, die Stimmung zu heben. Der Bruder des schwarzen Peter klopfte Paul wohlwollend auf die Schulter. „4:1 für uns?“ „Kann sein“, antwortete Paul mürrisch und verzichtete auf eine weitere Unterhaltung. Der Schiedsrichter rief die Mannschaftsführer zur Seitenwahl. Die Fußballjugend von Neustadt sammelte sich hinter Pauls Tor. weil man dort mit besonders vielen Einschlägen rechnete. Draußen erhob sich plötzlich ein ungewöhnlicher Lärm. Man hörte das wilde Hupen eines Autos, das sich anscheinend in rasender Fahrt näherte. Dann quietschten ein paar Bremsen, und wie aus dem Boden gezaubert schwang sich plötzlich Kurz-Lang im Sportdreß über die Barriere. Die Anhänger von SchwarzGelb brüllten Beifall, der Rest machte lange Gesichter. Da das Spiel noch nicht angepfiffen war, hatte es keine Schwierigkeiten, Kurt gegen den ,lahmen Heini’ auszuwechseln. Und dann begann das
Meisterschaftsspiel, das für die Jugend noch nach Wochen das Gesprächsthema Nummer eins bildete. Spinne hatte sich mit Kurts Kleidungsstücken beladen und sich dankend von Herrn Lieblich verabschiedet. Der gab ihm noch seine Visitenkarte und bat um kurze Nachricht über das Spielergebnis. Er wollte doch wissen, ob seine gute Tat zum Erfolg beigetragen hatte. Herr Gangler, der sich genähert hatte, kam leider zu spät, um noch ein paar Dankesworte an Herrn Lieblich zu richten. Spinne brachte die Sachen in die Kabine und durfte dann neben Herrn Gangler auf der Tribüne sitzen. Sein Bericht war ebenso dramatisch wie ausführlich. Herr Gangler lobte ihn sehr und stellte ihm eine Belohnung in Aussicht, die Spinne sehr höflich ablehnte. Er habe das alles nur aus Interesse am Sport und am Club getan. Als Herr Gangler den Streich des schwarzen Peter erfuhr, schüttelte er betrübt den Kopf. Was mochte diesen Jungen dazu veranlaßt haben? Was sollte man mit ihm machen? Spinne nahm ihm diese Sorge sofort ab. „Den überlassen Sie nur mir, mit dem rechne ich schon ab.“ Herrn Gangler war diese Regelung zwar nicht restlos angenehm, aber eine Strafe hatte der Junge schon verdient, und er hatte andererseits auch nicht die Absicht, aus diesem Dummenjungenstreich eine Staatsaktion zu machen. Aber nun zurück zum Spiel, das sonst vorbei ist, bevor wir uns damit beschäftigt haben. Schwarz-Gelb kam durch das Erscheinen von Kurt in letzter Minute ganz groß in Fahrt. Die Jungen spielten, wie sie noch nie gespielt hatten. Für den Gegner hatte das plötzliche Auftauchen des besten Spielers von Schwarz-Gelb die gegenteilige Wirkung. Es wurde lustlos und zerfahren gespielt, so daß die Schwarz-Gelben bei Halbzeit schon 4:0 in Führung lagen.
Spinne benutzte die Pause, sich dem staunenden Volke zu zeigen. Er verließ die Tribüne und mischte sich unter die Menge. Gnädig gab er hier und da ein paar Auskünfte, deutete ein Verbrechen an, wies bescheiden auf seine Verdienste hin und bedauerte sehr, daß schon nach einer Viertelstunde weitergespielt wurde. Auf dem Wege zur Tribüne traf er auf den schwarzen Peter. Der konnte nicht mehr ausweichen und dachte auch daran, daß Spinne sowieso schneller war als er. Spinne baute sich groß vor ihm auf und hielt eine kurze Ansprache, die von allen Umstehenden gehört werden mußte: „Du bist entlarvt, du häßlicher Vogel! Dir ist eine Abreibung sicher, wie du sie noch nie bezogen hast, und da wird dir auch dein großer Bruder nicht helfen können. Du willst ein Sportsmann sein? Solchen Leuten wie dir müßte man das Betreten von Sportplätzen überhaupt verbieten! Und — Schwarz-Gelb wird Meister, daran kannst auch du nichts ändern.“ Hoheitsvoll wandelte er weiter. Dem hatte er es gegeben! Eine härtere Strafe hätte er nicht androhen können, das Verbot zum Betreten von Sportplätzen wäre für ihn einem unheilbaren Siechtum gleichgekommen. Am Ende trennte man sich mit dem Ergebnis von 9:2 Toren. Man muß zugeben, daß die Jungen von FC Neustadt sonst nicht so viel schlechter sind, aber an diesem Tage waren sie es wirklich. Der Traum von der Meisterschaft war recht eindeutig zerstört worden. Am Abend feierte man bei Schwarz-Gelb die erste Meisterschaft. Natürlich war Spinne unter den geladenen Gästen; seine Mutter hatte ihn, nachdem sie die ganze Geschichte erfahren hatte, lächelnd beurlaubt. Herr Gangler wies in seiner Ansprache sehr ausführlich auf die Verdienste von Werner Krüger hin, dem man wohl letzten Endes den Sieg überhaupt zu verdanken hätte.
Auf diese Weise erfuhren wieder einige Leute, wie Spinne richtig hieß. Später nahm Herr Gangler den jungen Helden beiseite und händigte ihm als Prämie des Clubs zwanzig Mark aus, die er mit seinen Spesen verrechnen sollte. Spinne hatte sehr schnell ausgerechnet, daß er neben dem Ruhm und der Ehre ein gutes Geschäft gemacht hatte. Er konnte es brauchen, der Konfirmationsanzug auf eigene Rechnung war damit gesichert.
Der ehrliche Finder Das Interesse der Fußballanhänger konzentrierte sich mehr und mehr auf die Spiele der Ersten Senioren. Es hatte den Anschein, als sollte sich auch die Erste Elf von Schwarz-Gelb mit Meisterehren schmücken. Drei Vereine lagen an der Spitze, die Chancen waren ziemlich gleich. An einem schönen Märzsonntag unterlag SchwarzGelb wider Erwarten gegen den Tabellendritten. Nun schien es aus mit dem Meisterschaftstraum. Aber man konnte wieder aufatmen, als man erfuhr, daß der Zweite zur gleichen Zeit nur unentschieden gespielt hatte. Beide Vereine lagen nun punktgleich an der Spitze, das letzte Spiel mußte die Entscheidung bringen. Dabei hatte Schwarz-Gelb den wesentlichen Vorteil, auf eigenem Platz spielen zu können. Es gab einen Kampf auf Biegen und Brechen. Man schenkte sich auf beiden Seiten nichts und kämpfte bis zum Letzten. Schließlich trennten sich die völlig erschöpften Mannschaften mit 2:2. Es war also ein neues Entscheidungsspiel nötig, das auf einem neutralen Platz in der Landeshauptstadt angesetzt wurde und in zwei Wochen stattfinden sollte. Kurz-Lang hatte sich nach dem Meisterschaftsspiel wenig um den geliebten Fußballsport kümmern können. Die Vorbereitung für das Abitur nahm ihn ganz in Anspruch. Nicht, daß er Sorge gehabt hätte, durchfallen zu können, aber er wollte doch so gut wie möglich abschneiden. Es ging dann auch alles nach Wunsch, und Kurt nahm mit lauter Freude und stiller Trauer Abschied von der Schule, die dreizehn Jahre lang sein Jungenleben beherrscht und beeinflußt hatte. Nun war er frei, und die Welt lag offen vor ihm und wartete nur darauf, von ihm erobert zu werden.
Nach einigen Tagen ging wie ein Lauffeuer die aufregende Nachricht durch die Stadt, daß der Inhaber eines großen Konfektionskaufhauses plötzlich gestorben sei und die Erben Konkurs angemeldet hätten. Es stellte sich heraus, daß diese Firma schon lange mit erheblichen Verlusten gearbeitet hatte, die man geschickt verschleierte. Das Ergebnis einer genauen Prüfung war die Tatsache, daß die Gläubiger ausnahmslos ihr Geld verlieren würden. Das war an sich nicht weltbewegend und geschieht leider alle Tage, aber für uns ist es doch wichtig, weil dieser Zusammenbruch alle Pläne unseres jungen Freundes Kurt Lang zunichte machte. Dieses Konfektionshaus hatte bei der Firma Lang erhebliche Kredite gehabt, und es schien zunächst so, als ob auch die Firma Lang ihre Zahlungen einstellen müßte. Das ließ sich erfreulicherweise vermeiden, aber der Betrieb mußte stark eingeschränkt, und eine Reihe alter Mitarbeiter mußten entlassen werden. Frau Lang atmete auf, als Onkel Willy ihr mitteilen konnte, daß die Firma weiterbestehen würde, aber eines stand fest: Kurt würde nicht studieren können, dazu reichte es nicht mehr. Er sollte als Lehrling in das väterliche Geschäft eintreten. Kurt war alt genug, um zu begreifen, was vorging. Er hatte sich in den letzten Tagen auch schon auf diese Nachricht vorbereitet, weil ihm die ernsten Gesichter und die Gespräche der Mutter mit Onkel Willy genug sagten. Aber es traf ihn trotzdem sehr hart, als ihm seine Mutter diese endgültige Tatsache mitteilte. Im stillen machte er Onkel Willy für den Schaden verantwortlich, der es wohl in seiner Leichtgläubigkeit an der nötigen Vorsicht hatte fehlen lassen. Aber es war nicht mehr zu ändern. Als die Mutter ihn darauf hinwies, daß es ja immer der Wunsch des Vaters gewesen sei, einmal den Sohn an seinem
Platz zu sehen, war auch das nur ein schwacher Trost für Kurt. Gerade jetzt, da er anfangen wollte, sich sein Leben selber aufzubauen, ging seine ganze Welt in Trümmer. Wenn man noch so jung ist, erscheint alles doppelt so groß, als es wirklich ist, Freude ebenso wie Schmerz. Spinne hatte inzwischen vergnügt und bescheiden mit seiner Mutter seinen 14. Geburtstag gefeiert. Nach diesem Fest warteten noch zwei andere auf ihn: Schulentlassung und Konfirmation. Die Sorgen, die seinen großen Freund Kurt Lang bedrückten, blieben ihm erspart. Es war längst ausgemachte Sache, daß er nach der Schulentlassung als Kassenbote bei der Stadt eintreten würde. Da würde er gleich etwas Geld verdienen. Er hätte ja gerne ein Handwerk erlernt, aber das wären für die Mutter dann noch einmal drei harte Jahre geworden, und er wollte ihr doch helfen. An einem warmen Vorfrühlingsabend war Spinne wieder einmal zum Sportplatz gewandert, um sich mit Herrn Kullmann darüber zu unterhalten, auf welche Weise er ohne Kosten das Meisterschaftsspiel der Ersten sehen könnte. Er traf vor dem Sportplatz Herrn Gangler in einer Unterhaltung mit Herrn Kullmann und hielt sich im Hintergrund, bis der Erste Vorsitzende in seinen Wagen stieg und fortfuhr. Herr Kullmann konnte Spinne auch nicht helfen, riet ihm aber, noch nicht alle Hoffnungen aufzugeben, vielleicht ließ es sich doch irgendwie machen. Dann wurden die Aussichten für das Spiel eingehend erörtert, und als Spinne den Heimweg antrat, war es bereits völlig dunkel. Am Ausgang stolperte er über etwas. Als echter Fußballer versuchte er zunächst mit den Füßen festzustellen, was da wohl liegen mochte. Schließlich mußte er aber doch eine Hand aus der Hosentasche ziehen und sich bücken. Da lag eine Aktenmappe. Spinne nahm sie auf und ging zur nächsten Laterne, um
sie zu untersuchen. Er traute seinen Augen nicht: die Tasche war voll Geld, lauter große Scheine! Er versuchte zu zählen, aber die Zahlen liefen ihm durcheinander wie aufgescheuchte Hühner. Das war ja ein Vermögen, tausend Mark wenigstens, nein fünf oder noch mehr. Ganz außer sich vor Aufregung ging er weiter. Was sollte er tun? Natürlich mußte er die Tasche abgeben, das war sonnenklar. Aber wem gehörte sie? Bis zur nächsten Laterne gingen Spinne tausend Gedanken durch den Kopf. So viel Geld! Was könnte man damit alles machen! Die Mutter brauchte nicht mehr arbeiten zu gehen, und er konnte etwas Richtiges lernen. Ein Vermögen war das! Und vielleicht bedeutete es für den, der es verloren hatte, nicht einmal sehr viel, vielleicht konnte er es entbehren. Wer so viel Geld mit sich herumtrug, mußte auch viel haben. An der nächsten Laterne blieb Spinne wieder stehen. Zunächst sah er scheu umher, ob ihn auch niemand beobachtete. Wenn ihm jemand das Geld entriß, war es unweigerlich verloren. Spinne vermutete gerade jetzt hinter jedem Baum zwei Schwerverbrecher. Der Anblick des vielen Geldes verwirrte ihn von neuem. Dann riß er sich aber zusammen und untersuchte die Tasche aufmerksam. In einer Seitentasche entdeckte er einige Visitenkarten. Darauf stand schön und sauber gedruckt: Walter Gangler Möbelfabrikant Spinne schlug mit der flachen Hand vor die Stirn. Daß er nicht gleich darauf gekommen war! Wer sollte auch sonst hier beim Sportplatz mitten in der Woche eine Aktentasche verlieren! Er hatte Herrn Gangler doch eben erst hier abfahren sehen! Also auf zur Kurfürstenstraße!
Wie immer bei großen Sachen war Spinne auch hier nicht kleinlich: er steckte Geld in das Geschäft, das heißt, er beschloß, die Straßenbahn zu benutzen, weil der Weg zur Kurfürstenstraße recht weit war. Am Marktplatz mußte er umsteigen. Bei Kurt Lang sah er Licht und dachte: Wenn du wüßtest, warum ich hier auf die Straßenbahn warte! Einen Schulkameraden, der zufällig vorbeiging, schickte er zu seiner Mutter mit der Nachricht, daß er aus einem sehr wichtigen Grunde erst später heimkäme. In die Gegend, in der Herr Gangler seinen Wohnsitz hatte, kam Spinne selten. Die Jungen, die hier wohnten, gingen fast alle in die Höhere Schule und gaben sich mit Leuten wie Spinne wenig ab. Ein paar kannte er durch den Sportclub, aber deren Kameradschaft reichte meistens nicht über das Fußballfeld hinaus. Die Altstadt und die Villenvorstadt waren innerlich und äußerlich zu verschieden, und die Bewohner — junge wie alte — hatten wenig Berührungspunkte. Herr Gangler besaß nicht nur eine moderne und weitbekannte Möbelfabrik, sondern auch die größte und schönste Villa gehörte ihm. Spinne ging durch das große Tor in den gepflegten Garten. Der Hauseingang war hell erleuchtet, davor stand der große Wagen. Spinne sah Herrn Gangler ohne Hut und Mantel im Gespräch mit dem Fahrer Knoll. Näherkommend hörte er, worüber sie sich unterhielten. „Ich kann mich gar nicht entsinnen“, sagte Knoll. „Doch, ich habe die Tasche, als ich von der Bank kam, hierher gestellt. Sie muß herausgefallen sein. Aber wo? Wo sind wir denn gewesen?“ „Zuerst beim Rechtsanwalt, dann haben Sie sich am Markt Zigarren gekauft, dann haben wir nochmal bei Schmidt gehalten, und dann sind wir zum Sportplatz gefahren.“
„Richtig. Und wo ist die Tasche?“ „Hier!“ rief eine Stimme aus der Dunkelheit, und Spinne trat ins Licht. Sprachlos sahen Herr Gangler und Knoll ihn an. Spinne strahlte wie eine Weihnachtskerze. „Ich habe sie gefunden!“ „Tatsächlich! Gib her, Junge!“ Herr Gangler nahm die Tasche in Empfang, öffnete sie hastig und atmete erleichtert auf. „Noch alles drin! — Wo hast du sie gefunden?“ „Beim Sportplatz, Herr Gangler.“ „Also da haben wir sie verloren. — Na, dann ist ja alles gut. Fahren Sie den Wagen in die Garage, Herr Knoll. Und du, Werner, komm mal mit!“ Spinne folgte Herrn Gangler ins Haus. Da gab es genug zu staunen, so fein hatte er sich das nicht gedacht. Auf den Treppen lagen dicke Läufer; er kannte zu Haus nur altes Linoleum. Überall war helles Licht, und die Halle, in der das Treppenhaus lag, machte einen besonderen Eindruck auf Spinne. Herr Gangler öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Er nötigte Spinne in einen tiefen Ledersessel und nahm selbst hinter einem breiten Schreibtisch Platz. Er dachte einen Augenblick nach und sah dann Spinne fest in die Augen. „Weißt du, was die Tasche enthält?“ „Viel Geld, Herr Gangler!“ antwortete Spinne. „Hast du es gezählt?“ „Nein. Es muß aber eine ganze Menge sein.“ „Es sind über 20.000 Mark, mein Junge. Lohngelder, die morgen ausgezahlt werden sollen. Weißt du, was das bedeutet?“ Spinne sah ihn verständnislos an. „Sieh mal, mein Junge, ich habe eine große Fabrik, in der eine Menge Leute arbeitet. Die müssen alle für ihre Arbeit pünktlich am Freitag ihr Geld bekommen. Und
morgen hätte es dann plötzlich geheißen: Es ist kein Geld für uns da! Ich hätte die Summe natürlich noch einmal rechtzeitig beschaffen können. Aber 20.000 Mark sind auch für mich viel Geld. Du bist zu jung, um zu wissen, wieviel Fleiß und Mühe dazu gehört, diese Summe zu verdienen. — Ich verliere dieses Geld, und schon nach einer Stunde kommt einer und bringt es mir wieder! Wenn es ein anderer gefunden hätte, würde ich es vielleicht nie wiedergesehen haben.“ Herr Gangler machte eine Pause. Er sah vor sich hin und schüttelte mehrmals den Kopf. Spinne dachte schon daran, wieder zu gehen. Mutter würde schon auf ihn warten. „Ja, mein Junge“, nahm Herr Gangler seine Betrachtungen wieder auf, „das hat natürlich ernste Folgen für uns beide. Nicht wahr? Ein ehrlicher Finder muß belohnt werden. Wir werden das schon in Ordnung bringen.“ Die Tür zum Flur öffnete sich, und eine Dame trat herein. Spinne erhob sich — mit einiger Mühe. „Liebe Inge, ich habe gerade Besuch von meinem Freund Werner Krüger, der mir einen sehr großen Dienst erwiesen hat.“ Die Dame gab Spinne lächelnd die Hand, der eine Verbeugung machte, die zwar etwas verunglückte, aber wohlwollend aufgenommen wurde. Herr Gangler erzählte die Geschichte mit der Aktentasche, und seine Frau fühlte sich veranlaßt, nun auch ein paar Dankesworte an Spinne zu richten. Dem wurde dabei leicht ungemütlich, und er glaubte auch, daß seine Mission damit beendet sei. „Nein, nein, Werner! Wir haben noch einiges zu besprechen!“ wandte Herr Gangler ein. Und zu seiner Frau sagte er:
„Das ist übrigens der berühmte Werner Krüger, der damals geholfen hat, die Junioren-Meisterschaft zu gewinnen.“ „Du hast damals nur ein paar kurze Andeutungen gemacht. Wie war die Sache denn eigentlich?“ „Das kann Werner am besten selber erzählen.“ Auf längere Konversation in diesem Kreise war Spinne gar nicht eingerichtet. Er versuchte, sich mit einem Hinweis auf seine Mutter zu drücken. „Keine Angst, ich schreibe dir einen Entschuldigungsbrief.“ Das haste nun davon, dachte Spinne. Frau Gangler ermunterte ihn erneut. „Erzähle mir doch einmal die Geschichte. Aber essen mußt du auch etwas.“ „Danke, ich habe gar keinen Hunger!“ „Werner, jetzt schwindelst du! Jungen in deinem Alter haben immer Hunger.“ Frau Gangler drückte auf einen Klingelknopf, und ein Mädchen mit weißer Schürze erschien. „Elfriede, bringen Sie bitte für unseren jungen Gast ein paar belegte Brote!“ Und zu Spinne sagte sie: „So, nun kannst du mit deiner Erzählung anfangen.“ Spinne holte tief Luft und ergab sich in sein Schicksal. „Also, da war doch mal der schwarze Peter mit zum Sportplatz gekommen, und wir sind dann zu Herrn Kullmann gegangen. In der Pause, da ist der Peter allein gewesen, und da hat er aus dem Tischkasten eine Karte geklaut — äh genommen. Wissen Sie, so eine Karte, die der Verein an die Spieler schickt.“ Frau Gangler hatte zwar keine Ahnung, aber sie nickte Spinne ermunternd zu. „Ja, und die Karte hat er dann an Kurz-Lang geschrieben, und da stand drauf, daß erst acht Tage später in Neustadt gespielt wird. Kurt ist auch prompt
darauf reingefallen. Und wie ich dann nach Neustadt fahren wollte, stand der schwarze Peter auf dem Bahnhof, und da habe ich dann gehört, was los ist. Da habe ich dann schnell den Kurt geholt, und wir sind mit einem prima Auto nach Neustadt gesaust. Es hat gerade noch gereicht.“ Herr Gangler mischte sich ein. „Werner vergißt in seiner Bescheidenheit zu erzählen, daß er auf dem Bahnhof seine schon bezahlte Fahrkarte zurückgegeben und schnell mit einer Taxe zu Kurt Lang gefahren ist. Und wenn er dort nicht so hartnäckig gewesen wäre, hätte man ihm die ganze Sache nicht geglaubt, und Kurt wäre auf dem Sofa liegengeblieben, während seine Kameraden das entscheidende Spiel verloren. Wenn Werner nicht aufgepaßt und gleich richtig kombiniert hätte, wäre das Manöver des schwarzen Peter völlig geglückt.“ Spinne fügte strahlend hinzu: „Und den schwarzen Peter habe ich mächtig verdroschen!“ Frau Gangler lachte, und Spinne ergänzte: „Das war doch alles Ehrensache für mich, wir haben doch unsere Geheimparole!“ Er warf Herrn Gangler einen bedeutungsvollen Blick zu, der bestätigend nickte. Das Mädchen mit der weißen Schürze unterbrach die Unterhaltung. Sie stellte ein Tablett auf einen kleinen Tisch, und Frau Gangler forderte Spinne auf, sich zu stärken. Der riskierte einen Blick auf das Tablett, worauf ihm sofort das Wasser im Munde zusammenlief. Lecker, lecker! Die Sache hatte nur einen Haken: es stand ein leerer Teller mit Besteck dabei. Für ihn vielleicht? Die Brote waren doch schon fertiggemacht. Das konnte schiefgehen.
Frau Gangler warf ihrem Mann einen versteckten Blick zu, der sofort verstanden wurde. „Werner, wir müssen dich einen Augenblick allein lassen. Du fängst inzwischen an zu essen. Damit wir uns einig sind: Bevor die Schüssel nicht leer ist, darfst du nicht gehen.“ Spinne hatte bereits einen Voranschlag gemacht und traute sich zu, mit allem fertig zu werden. Er nahm sich die Zeit, die Herrlichkeiten erst allein mit dem Auge zu genießen. Das hätte die Mutter sehen müssen! Ob er einpaar Brote für sie in der Tasche verschwinden ließ? Aber vielleicht stand das Mädchen mit der weißen Schürze hinter der Tür und beobachtete ihn durch das Schlüsselloch. Die würde bestimmt petzen. Also machte er sich an die Arbeit, und es dauerte nicht lange, bis alles restlos verzehrt war. Dann legte er das Besteck über Kreuz auf den Teller, weil er das für vornehm hielt, erhob sich und verschwand wieder in dem bequemen Sessel. Herr und Frau Gangler hatten inzwischen Kriegsrat gehalten. Es wurde beschlossen, daß Herr Gangler Werner nach Hause bringen würde, um mit Frau Krüger einiges zu besprechen. Ein fester Plan lag schon vor, und Frau Krüger würde dafür sicher gewonnen werden. Als das Ehepaar wieder ins Zimmer trat, bat Werner, gehen zu dürfen. „Nur noch ein paar Minuten, Werner, ich bringe dich dann nach Hause.“ Herr Gangler ging zum Telefon. „Wer ist da? — Elfriede, sagen Sie bitte Herrn Knoll, daß wir in zehn Minuten noch einmal mit dem Wagen fort müssen.“ Die folgende Unterhaltung war für Spinne eine Qual. Er mußte Herrn und Frau Gangler eine ganze Reihe von Fragen über sich selbst, seine Mutter und alles mögliche beantworten, bis es ihm fast leid tat, die Tasche
überhaupt gefunden zu haben. Eine Hupe, die meldete, daß der Wagen vorgefahren sei, erlöste ihn endlich. „So, da ist der Wagen. Dann kann es losgehen.“ Spinne verabschiedete sich dankend von der Dame des Hauses und folgte Herrn Gangler. Herr Knoll machte ein ungnädiges Gesicht, daß dieser merkwürdige Junge mit einsteigen durfte und sich sogar neben den Chef setzte. „Wohin fahren wir, Werner?“ „Torgasse 25.“ Feine Gegend, dachte Herr Knoll, aber Dienst ist Dienst. Spinne bedauerte außerordentlich, daß es schon so dunkel und so spät war. Jetzt würde ihn niemand in dem vornehmen Wagen neben Herrn Gangler bewundern können. Immerhin beruhigte es ihn, daß sich in der Torgasse wenigstens einige Fenster öffneten, denn hier war ein Auto schon ein Ereignis. Frau Krüger war nicht wenig erstaunt, ihren Sprößling in so vornehmer Gesellschaft wiederzusehen. „Guten Abend, Frau Krüger. Bitte entschuldigen Sie, daß ich noch so spät störe.“ „Aber bitte! Was hat der Junge denn ausgefressen?“ „Diesmal etwas sehr Gutes! Darf ich einen Augenblick eintreten?“ „Bitte, Herr Gangler, nur — bei uns ist es etwas bescheidener, als Sie es sonst gewöhnt sind.“ „Macht nichts, Frau Krüger!“ Herr Gangler erzählte nun noch einmal die Geschichte mit der Aktentasche und rückte dann mit seinen Plänen heraus. Selbstverständlich sollte der Junge einen Finderlohn haben, und zwar 10 Prozent der Summe, keinen Pfennig weniger. Das Geld würde wohl am besten auf ein Bankkonto eingezahlt. „Ich möchte vorschlagen“, ergänzte Herr Gangler, „daß davon monatlich ein bestimmter Betrag als
Erziehungsbeihilfe ausgezahlt wird. Werner kann dann etwas Vernünftiges lernen, ohne seine Mutter weiter zu belasten.“ Frau Krüger hatte Bedenken. „Das können wir doch gar nicht annehmen, und mit der Stadtbank ist doch auch schon alles abgemacht!“ „Wann sollte Werner dort anfangen?“ „Am 1. Mai.“ „Nun, mit dem Direktor der Stadtbank werde ich schon fertig, das können Sie mir überlassen. Aber was sagt denn Werner dazu? Hast du Lust, ein Handwerk zu erlernen? Du könntest bei mir eine Lehrstelle bekommen.“ Werner stimmte freudig zu. Seine Mutter, die zu erregt war, um ruhig sitzenbleiben zu können, fing an Kaffee zu kochen, nachdem Herr Gangler die Einladung dazu dankend angenommen hatte. Er wandte sich noch einmal an Werner: „Hast du noch einen besonderen Wunsch?“ „Ich möchte gern das Endspiel sehen!“ Herr Gangler lachte. „Wenn’s weiter nichts ist! Das läßt sich machen.“ Als Herr Gangler sich verabschiedet hatte — Spinne begleitete ihn als wohlerzogener Mann bis zum Wagen —, fielen sich Mutter und Sohn um den Hals. Frau Krüger weinte vor Freude. Werner mußte angeblich noch schnell einmal raus, aber das sagte er nur, um sich verstohlen mit dem Handrücken über die Augen zu fahren, die merkwürdig feucht geworden waren.
Das Endspiel Das Endspiel um die Meisterschaft war zu einer Sache geworden, die alle Einwohner der Stadt anging. Die Fußballjugend kannte überhaupt kein anderes Thema, und es war ganz klar, daß der SC Altenburg keinen Schimmer einer Chance habe. Alles, was sonst zum Anhang von Schwarz-Gelb gehörte, diskutierte gleichfalls bei jeder sich bietenden Gelegenheit dieses unerschöpfliche Thema. Der Stadtanzeiger, der früher zum Ärger der Sportanhänger alle Sportereignisse nur am Rande erwähnt hatte, konnte es sich jetzt ohne Widerspruch leisten, alle Tage einen ausführlichen Artikel über das Endspiel und die Vorbereitungen zu bringen. Schließlich war auch jede Hausfrau und jedes Bürofräulein ausführlich über Mannschaftsaufstellung, Beruf und Alter der Spieler und andere Einzelheiten unterrichtet. Auch die älteren Damen konnten bei ihren Kaffeegesellschaften nicht darauf verzichten, dieses Thema wenigstens zu streifen. Die Ankündigung der Bundesbahn, daß zum Endspiel ein Sonderzug eingesetzt würde, ließ deutlich erkennen, wie wichtig man „oben“ dieses sportliche Ereignis nahm. Und es zeigte sich, welches Interesse dafür vorhanden war: es mußten sogar zwei Züge eingelegt werden, und die Vereinsleitung von Schwarz-Gelb brachte es fertig, für die unerwartet große Zahl der Vereinsanhänger Eintrittskarten zu beschaffen. Die Presse in der Landeshauptstadt machte ihre Leser auf diese Begeisterung aufmerksam und fragte, ob wohl auch Großmütter und Säuglinge mitkämen, denn es seien Riesenmengen von Eintrittskarten angefordert worden, viel mehr, als die Stadt Einwohner haben könnte. Man hätte das Spiel wohl besser nach Berlin ins Olympia-
Stadion verlegen sollen. Nun, dieser billige Hohn störte nicht. Schwarz-Gelb würde denen schon zeigen, daß auch in der Provinz gut Fußball gespielt wird. Aus der Hauptstadt war jedenfalls keine Mannschaft ins Endspiel gekommen. Am Mittwoch vor dem ereignisreichen Tag fuhr ein großer Omnibus in Richtung Landeshauptstadt. Ohne viel Aufhebens wurde die Mannschaft in ein kleines Bad in der Nähe der Hauptstadt gebracht. Dort sollten die Spieler in Luft und Sonne Ruhe und Kraft für das Endspiel sammeln. Natürlich war die Erste Elf komplett beisammen, mit ihr zwei Ersatzspieler. Außerdem gehörten zur Partie einige Herren vom Vorstand, der Trainer, ein Masseur, Herr Kullmann und — das war keinesfalls zu übersehen — auch unser Freund Spinne. Herr Kullmann hatte behauptet, er würde den Jungen unbedingt brauchen, und Herr Gangler hatte, seines Versprechens gedenkend, zugestimmt. Wir müssen schon etwas genauer hinsehen, denn Spinne ist kaum wiederzuerkennen. Die Sache mit der Aktentasche war einem findigen Lokalreporter zu Ohren gekommen, der daraus eine ebenso lange wie rührende Geschichte vom ehrlichen Finder gemacht hatte, die auch prompt im Stadtanzeiger erschien. Dadurch war Spinne zu einer stadtbekannten Persönlichkeit geworden. Wenn auch in dem Artikel sein Name nicht genannt wurde, so dauerte es doch keine vierundzwanzig Stunden, bis jeder im Städtchen wußte, wer dieses Heldenstück vollbracht hatte. Das führende Haus für Herrenausstattung hatte es sich nicht nehmen lassen, Spinne von Kopf bis Fuß neu einzukleiden, und dies unter dem Motto „Belohnte Ehrlichkeit“ in den Stadtanzeiger bringen zu lassen. Dieser Reklametrick
machte sich sehr bezahlt, denn viele Jungen hatten plötzlich den Ehrgeiz, so fein wie Spinne auszusehen. Spinne sah aus wie ein verkappter Graf. Er trug sogar einen Hut, den ersten seines Lebens, und die ersten langen Hosen. Es läßt sich nicht bestreiten, daß er gut aussah, wenn man auch den Eindruck haben konnte, daß ihm der ungewohnte Hut und die Bügelfalten ebensolches Unbehagen bereiteten wie die elegant gebundene Krawatte. Aber er war doch recht stolz, und eitel wie ein Pfau. Das konnte er auch ruhig sein, denn wenn einer so wie er plötzlich mit beiden Händen in den Glückstopf faßt, muß sich das im Oberstübchen doch irgendwie bemerkbar machen. Wir wissen aber, daß Spinne im Grunde ein vernünftiger Kerl ist und allmählich wieder zu sich kommen wird. Dafür wird seine Mutter schon sorgen. Und wenn er als Stift in der Möbelfabrik erst das Frühstück für die Gesellen zusammenholt, muß er auf Hut und Bügelfalte sowieso verzichten. Spinne hatte, abgesehen von einigen kleinen Fußballfahrten, noch keine Reise unternommen. Er hatte sich im Omnibus natürlich den Platz neben dem Fahrer gesichert und genoß die Aussicht gewissermaßen aus erster Hand. Das war eine Fahrt! Als der Omnibus durch die Landeshauptstadt fuhr, kam Spinne aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus. Straßenbahnen, Omnibusse, Autos in jeder Größe und Zahl fuhren anscheinend wild durcheinander, und dazwischen bewegten sich Fußgänger, die so taten, als seien sie ganz allein. Hier gab es bestimmt alle Stunden ein paar Tote! Und mitten auf dem Bahnhofsplatz stand ein Verkehrsschutzmann, der den riesigen Zirkus mit ein paar Armbewegungen dirigierte. Wenn er die Hand hob, mußten alle Wagen, auch die ganz großen, halten, und erst wenn er wieder winkte,
konnten sie weiterfahren. Das war ein Mann! Einen Augenblick reizte es Spinne, einen Berufswechsel zu erwägen, aber er wurde sich schnell darüber klar, daß er Herrn Gangler und seinen alten Freund Kulimann nicht enttäuschen könne. Der Aufenthalt im Hotel „Waldschloß“ war für alle Beteiligten eine angenehme Unterbrechung des täglichen Einerlei. Man machte gemeinsam Spaziergänge, ging abends zeitig ins Bett, stand morgens nicht zu früh auf und war vergnügt und unbeschwert. Bei einem leichten Training am Freitag verstauchte sich einer der beiden Ersatzleute den linken Knöchel, was man ohne Erregung zur Kenntnis nahm, da ja die Mannschaft komplett war. Wesentlich besorgter wurde man jedoch, als sich am Abend bei dem Halblinken Winkler Anzeichen einer Grippe bemerkbar machten. Er wurde zeitig ins Bett gesteckt und mußte Pillen schlucken, wenn er auch heftig dagegen protestierte, daß man „das bißchen Kopfschmerzen“ so tragisch nahm. Am nächsten Tage schien es ihm besser zu gehen, und alle atmeten erleichtert auf. Am Sonntag war morgens nach dem Frühstück ein gemeinsamer Spaziergang vorgesehen. Anschließend sollten die Spieler noch eine Stunde ruhen, bevor man gemeinsam zum Spiel fuhr. Während des Spazierganges bemühten sich alle, so zu tun, als hätten sie nichts im Sinn als Dummheiten, es ließ sich aber doch nicht verbergen, daß dahinter eine verständliche Unruhe und Spannung versteckt werden sollte. Winkler ging allein am Ende des Zuges. Herr Gangler, der ihn beobachtet hatte, blieb zurück und wartete auf ihn. „Na, alles in Ordnung?“
Winkler schüttelte kaum merklich den Kopf. Er schien etwas sagen zu wollen, und Herr Gangler wartete geduldig, bis er anfing. „Ja“, begann er, „ich muß es Ihnen nun doch sagen, Herr Gangler. Ich glaube, es geht nicht.“ Er sah Herrn Gangler an, und dem schien es, als schimmerte es in den Augen dieses alten Fußballers feucht. „Ich hatte mir das so schön gedacht: heute die Meisterschaft mitmachen und dann die Fußballstiefel für immer an den Nagel hängen. Ich bin ja nicht mehr der Jüngste und muß einmal abtreten, um einem Jüngeren Platz zu machen. Es geht schon lange nicht mehr so wie früher in meinen besten Zeiten. Aber ich wollte doch wenigstens heute mit dabei sein.“ Er machte wieder eine Pause. „Ich kann es nicht ändern, aber ich bin wohl wirklich krank. Ich fühle mich schwach und elend, und es wäre unverantwortlich von mir, wenn ich so ins Spiel ginge. Schwarz-Gelb muß Meister werden, und es muß eben auch ohne mich gehen.“ Herr Gangler war recht erschrocken. Dieses Pech am Tage der Entscheidung! Der eine Ersatzmann war ausgefallen, der andere war ein Tormann. Aber man konnte Winkler keinen Vorwurf machen, krank konnte jeder werden, und schließlich fiel es ihm selbst sicher nicht leicht, auf die Teilnahme am Endspiel zu verzichten. Aber was tun?Die Mannschaft hatte inzwischen einen kleinen See erreicht, an dessen Ufer man sich lagerte, um die Ruhe und das schöne Bild genießen zu können. Winkler setzte sich zu den anderen, Herr Gangler blieb in der Mitte stehen. „Ich bitte einen Augenblick um Gehör. Leider muß ich Ihnen eine betrübliche Mitteilung machen. Aber ich bitte vorweg, daß niemand den Kopf verliert und daß wir uns gemeinsam in Ruhe klar werden, was zu geschehen hat.
Unser Kamerad Winkler hat mir eben eröffnet, daß er sich körperlich nicht imstande fühlt, am Spiel teilzunehmen. Er will als kranker Mann nicht die Erfolgsaussichten seines Vereins zerstören. Wir müssen das unserem Freund Winkler hoch anrechnen, wenn wir auch durch seine Mitteilung in eine sehr bedrängte Lage gekommen sind. Der Ersatzmann ist ausgefallen, und wir haben nur zehn Leute auf dem Spielfeld, wenn wir nicht einen Tormann auf Halblinks stürmen lassen wollen. Einen Augenblick! Ich bin gleich fertig. Es ist nicht viel Zeit für Debatten und Überlegungen. Ich habe mich entschlossen, sofort nach Hause zu fahren, um den elften Mann zu holen. Wer kommt nach Ihrer Ansicht dafür in Betracht?“ Es wurden mehrere Namen genannt, aber keiner fand die Zustimmung der Mehrheit. Herr Gangler gab der Versammlung Gelegenheit, ihren Schrecken durch einen lebhaften Meinungsaustausch abzureagieren. Dann ergriff er wieder das Wort. „Ich habe einen Vorschlag zu machen: Ich hole unseren befähigtsten Junior, Kurt Lang!“ Einige waren überrascht, andere stimmten sofort zu. Man sollte dem Jungen eine Chance geben. Schlechter als die anderen, die genannt worden waren, würde er es auch nicht machen. Es wurden Bedenken laut: fehlende Spielerfahrung, Mangel an Härte und manches andere. Allmählich aber schien dieser Vorschlag doch den meisten zu gefallen. Wieder ergriff der Erste Vorsitzende das Wort. „Wir wollen uns einmal über eins klar sein: Die öffentliche Meinung glaubt ziemlich eindeutig an einen Sieg von Altenburg. Uns billigt man bestenfalls eine Chance als Außenseiter zu. Für den Gegner ist das eine Belastung, denn er muß gewinnen, um die Vorschußlorbeeren zu verdienen. Wir gehen dagegen
unbeschwert in den Kampf, eine Niederlage würde man uns nicht übelnehmen. Da können wir es uns nach meiner Meinung ruhig leisten, das Experiment mit Kurt Lang zu machen, schon weil uns kaum eine andere Wahl bleibt. Allerdings möchte ich vorher die Zustimmung der gesamten Mannschaft haben. Der junge Mann soll beim Spiel einer der Ihren sein, kein Fremdkörper.“ Er sah die Spieler der Reihe nach an. Sie stimmten ihm alle zu, manche schnell, andere nach kurzem Bedenken. „Also gut! Ich freue mich, daß wir einer Meinung sind. Ich fahre sofort los und bin rechtzeitig wieder hier. Herr Kulimann, Sie rufen bitte sofort bei Frau Lang an. Sagen Sie, ich müßte Kurt unbedingt sprechen. Wenn er nicht zu Haus ist, muß er gesucht werden. Ich erreiche ihn auf alle Fälle, bevor der erste Sonderzug fährt, und bringe ihn her. Bis dahin: auf Wiedersehen!“ Spinne war aufgesprungen und hatte sich wortlos vor Herrn Gangler aufgepflanzt. Der lächelte. „Schon verstanden, Werner! Gut, komm mit!“ Herr Knoll konnte sich wieder einmal wundern, daß sein Chef diesen merkwürdigen, feingemachten Jungen mitnahm. Immerhin imponierte ihm die neue Schale von Spinne, und als dieser bescheiden bat, während der Fahrt neben Herrn Knoll sitzen zu dürfen, hatte der sich fast mit diesem Fahrgast ausgesöhnt. Herr Kullmann hatte sich am Apparat so geschraubt und geheimnisvoll ausgedrückt, daß Frau Lang nicht recht verstanden hatte, um was es eigentlich ging. Herr Gangler wollte Kurt abholen, und der wollte doch mit dem Sonderzug fahren. Herr Gangler schien es eilig zu haben. Natürlich drückte auch Spinne in seiner Miene höchste Geschäftigkeit aus.
„Um es kurz zu machen — ich habe es wirklich sehr eilig, liebe Frau Lang! — Kurt, du mußt heute in der Ersten spielen!“ Die Augen des Jungen strahlten. Seine Mutter dagegen war nicht sehr erfreut. „Nein, das kann ich nicht erlauben! Sie können doch ein Kind nicht in diesen mörderischen Kampf schicken!“ Herr Gangler lächelte. „Halten Sie Kurt immer noch für ein Kind? Dafür ist er doch schon etwas zu groß. Und Fußball ist ein sehr gesunder Männersport, aber kein mörderischer Kampf.“ „Immer wieder dieser Ärger um das Fußballspielen! Ich hätte es Kurt nie erlauben sollen.“ „Einem Vogel werden Sie das Fliegen auch nicht verbieten können, Frau Lang.“ „Und die Parole heißt: Schwarz-Gelb wird Meister!“ ergänzte Spinne. Kurt war schon hinausgegangen, um den immer bereiten Koffer zu holen. „Liebe Mama“, sagte er, als er zurückkam, „du mußt diesmal nachgeben. Es handelt sich ja nicht nur um mich, sondern um den Erfolg von Schwarz-Gelb, um die Ehre unserer guten alten Stadt. Und eine besondere Bitte habe ich noch: Komm diesmal mit!“ Davon wollte Frau Lang nun gar nichts wissen. Aber die drei Männer — wir rechnen Spinne wieder einmal dazu — ließen nicht locker, bis Frau Lang mit im Wagen saß, der sich in höchster Eile entfernte. Das Stadion war ausverkauft. Tribüne und Ränge waren mit einer bunten, erwartungsvollen Menge gefüllt. Eine leichte Brise wehte über das sonnenbeschienene grüne Feld, es waren äußerlich alle Voraussetzungen für ein besonderes Ereignis gegeben. Es war aber auch sonst alles da, was bei solchen Anlässen dazugehört:
Kuhglocken, Trompeten, Fähnchen in den Vereinsfarben: weiß- rot die einen, schwarz-gelb die anderen. Das Vorspiel zweier Jugendmannschaften interessierte wenig. Man studierte aufmerksam das Programm oder unterhielt sich mit dem Nachbarn. Die Fahnenträger bekundeten schon äußerlich ihre Einstellung und machten auch in Gesprächen durchaus kein Hehl daraus. ,Wir gewinnen!’ sagten die mit den weiß-roten, ,wir werden Meister!’ sagten die mit den schwarz-gelben Fähnchen. Die neutralen Einheimischen lächelten nur und sagten: ,Abwarten!’ Unten wurde das Jugendspiel abgepfiffen. Jetzt nur noch fünf Minuten, dann ging’s los. Der Lautsprecher meldete sich. „Achtung! Achtung! Der SC Altenburg spielt in der im Programm angekündigten Aufstellung. Bei Schwarz-Gelb spielt anstelle des in letzter Minute erkrankten Winkler auf Halblinks der Junior Lang.“ Es summte wie in einem Bienenkorb. Für die Neutralen war das nur ein anderer Name. Die mit den weiß-roten Fähnchen lächelten verständnisinnig und sagten: ,Auch das noch!’ Die Schwarz-Gelben freuten sich und sagten: ,Sehr gut!’ Und dann hatten die Debatten plötzlich ein Ende. Die Mannschaften liefen nebeneinander aufs Spielfeld, lebhaft begrüßt durch Rufe, Händeklatschen, Glockengeläut und Trompetensignale. Kurze Ansprache des Verbandsvorsitzenden, aufgeregte Photographen, Wimpelaustausch der Spielführer, Seitenwahl, Aufstellung. Das Spiel konnte beginnen. Und da unten stand jetzt unser Freund Kurt Lang im schmucken Dreß von Schwarz-Gelb. Es war ihm alles wie ein Traum. Aus dem Dämmerlicht des Umkleideraums war man plötzlich auf das
sonnenbestrahlte Spielfeld gelaufen. Ringsumher unübersehbare Zuschauermengen. Es schien Kurt, als wüchsen Ränge und Tribüne hoch in den Himmel, und hunderttausend Augen sahen auf ihn, nur auf ihn. Und hier sollte er spielen, sollte den Verein und die, die da draußen standen und ihr Geld bezahlt hatten, nicht enttäuschen. Er nahm sich vor, nicht daran zu denken und so zu tun, als sei er allein. Der Schiedsrichter pfiff, und der neue gelbe Ball rollte. Machter, der Mittelstürmer, schob Kurt den Ball zu. Bevor der etwas unternehmen konnte, war er den Ball auch schon wieder los. Der Halbrechte des SC war ihm blitzschnell in die Parade gefah-ren, und als Kurt sich umwandte, lief der Linksaußen des Gegners mit dem Ball in Richtung Tor. Das fing ja gut an! Machter grinste. „Aller Anfang ist schwer! Aber keine Bange, die spielen auch bloß Fußball!“ Alle guten Ratschläge hatte Kurt anscheinend zusammen mit dem, was er konnte, vergessen. Es mißlang ihm so ziemlich alles.Sein Gegenspieler, der rechte Läufer, war ein Mann mit internationaler Erfahrung, dem ein Anfänger wie Kurt keine besonderen Schwierigkeiten bereiten konnte. Und wenn Kurt wirklich einmal an ihm vorbeikam, nahm ihm eben ein anderer den Ball ab. Er hatte gemeint, an ein schnelles Tempo gewöhnt zu sein, heute wirkte er ausgesprochen langsam. Das, was er machte, schien auch so schablonenhaft, daß es dem Gegner nie schwer wurde, seine Absichten zu durchschauen und entsprechende Gegenmaßnahmen zu treffen. In seiner Junioren-Mannschaft war das ganze Spiel auf ihn zugeschnitten, hier war er der letzte von elf. Am schnellsten fand er Kontakt mit Machter, sie spielten sich oft schön durch, aber wenn sie wirklich zum Schuß
kamen, war da ein Torsteher, der alle Bälle wie ein Magnet an sich zog. Die Mannschaft des SC, ein geschlossenes Ganzes, hatte nicht diese Anfangsschwierigkeiten wie Schwarz Gelb. Sie hatte sich wohl vorgenommen, den Gegner in der ersten Viertelstunde zu überrumpeln. Pausenlos rollten ihre Angriffe, und wäre nicht die schwarz-gelbe Hintermannschaft so ruhig und sicher gewesen, hätte die Entscheidung sehr früh fallen können. Kurt leistete ein ungeheures Arbeitspensum. Er war vorn im Sturm, half, wenn es nötig schien, hinten aus, und hatte schon nach einer halben Stunde das Gefühl, mit seinen Kräften am Ende zu sein. Beide Mannschaften setzten, sich restlos ein, und Kurt bekam das zu spüren. Der Mittelläufer des SC war ein Hüne, trotz seiner Größe und Schwere behende und flink, und auch die beiden Verteidiger fuhren rücksichtslos dazwischen und verschenkten keinen Ball ohne harten Kampf. Bis Kurt sich darauf besann, daß auch er seinen Körper einsetzen konnte, war er einige Male unsanft zu Boden geschickt worden und hatte den Eindruck, daß ihm sämtliche Rippen gebrochen wären. Aber mehr und mehr fügte er sich in den Mechanismus der Mannschaft. Er lernte erkennen, nach welchem System der Mittelläufer das Spiel aufbaute — wenn ihm die Verteidigung dazu Zeit ließ —, und stellte sich auch richtig auf seinen Nebenmann zur Linken ein. Dessen Stärke waren rasante Flügeläufe, und Kurt hatte ihm ein paar spitze Vorlagen nach außen zugeschoben, die ihm wohl gefallen hatten. „Etwas schärfer noch, und nicht zu spitz! Ich laufe meinem Verteidiger immer noch davon!“ Kurt verstand, und sofort ging es besser. Allmählich bildeten die beiden einen Flügel, der die Deckung des Gegners oft genug auseinanderriß.
Schwarz-Gelb hatte sich jetzt gefunden und war dem SC ein durchaus ebenbürtiger Gegner. Es schien sogar, als sollte ihnen der Führungstreffer glücken. Der Linksaußen war mit einer Vorlage von Kurt auf und davon gegangen und schoß aus etwa 20 Meter aus vollem Lauf auf das Tor. Der Torwart war ihm jedoch rechtzeitig entgegengelaufen, hatte dadurch den Schußwinkel verkleinert und konnte den scharfen Schuß mit etwas Glück im Wurf zur Ecke ablenken. Die Ecke wurde abgewehrt, und im Gegenstoß schlug der SC zu. Mit einer vorbildlichen Leistung, bei der der Ball flach von Mann zu Mann lief, arbeitete sich der Sturm bis in den Strafraum vor, wo der Halbrechte mit einem gutplacierten Flachschuß den Torsteher überwinden konnte. Die Zuschauer mit den weiß-roten Fähnchen rasten vor Begeisterung. ,Das war der Anfang’, sagten sie. Die mit den schwarzgelben waren sichtlich unruhig, taten aber so, als sei das kein Grund zur Aufregung, und schließlich hatte Schwarz-Gelb ja auch gerade erst angefangen, richtig zu spielen. Am Ende kam es doch darauf an, wer die meisten Tore geschossen hatte, und das war nach diesem einen Tor nicht entschieden. Immerhin waren die Massen in Stimmung gekommen, und es wurde überall eine Weile diskutiert, bis man die Aufmerksamkeit wieder voll dem Spiel zuwandte. Wir wollen uns inzwischen einmal auf der Tribüne nach Bekannten umsehen. Es wird währenddessen hoffentlich nicht wieder ein Tor fallen, über das wir dann nichts berichten könnten. Aha, da sitzen sie, die Herren von Schwarz-Gelb. Herr Gangler, neben ihm Frau Lang. Eine Reihe höher sehen wir Herrn Kullmann, daneben Spinne mit seiner Mutter. Herr Gangler hatte schon so viele wichtige und entscheidende Spiele mitangesehen, daß ihn dieses hier nicht sonderlich aufregte, auch wenn sein Verein mit 0:1
hinten lag. Er war immer für den olympischen Grundgedanken: nicht zu siegen, sondern dabei zu sein ist ehrenhaft. Frau Lang hatte noch gar kein Spiel gesehen, und sie verstand auch nichts davon. Herr Kullmann hingegen schob seinen kalten Zigarrenstummel von einem Mundwinkel in den anderen. Daran kaute er schon über eine Stunde und hatte wiederholt abgelehnt, diese Tabakruine wieder in Brand zu setzen. Spinne war der ruhigste. Sollten die anderen ruhig das erste Tor schießen. Nach Halbzeit würden die Schwarz-Gelben erst einmal richtig aufdrehen, und dann sollte der SC mal sehen! Frau Lang kam sich vor wie ein Blinder in einer Kunstausstellung. Herr Gangler hatte zwar vor Spielbeginn den Versuch gemacht, ihr die primitivsten Grundregeln beizubringen, hatte es aber bald als hoffnungslos aufgegeben. Frau Lang hatte zeitweise durchaus den Eindruck, sich auf einem Kongreß Geisteskranker zu befinden. Da saßen würdige Herren, die im Zivilleben sicher etwas vorstellten, und fingen ohne jeden ersichtlichen Grund plötzlich an zu schreien. Man unterhielt sich um sie her in Ausdrücken, die einer fremden Sprache anzugehören schienen. Da unten hatte ein Spieler einen anderen umgerannt und ihn einfach liegen lassen. Keiner kümmerte sich um den armen Kerl, und die Polizisten, die da am Rande untätig umherstanden, hatten wohl überhaupt keine Augen. Wo blieb der Arzt? Nichts geschah. Der Verunglückte erhob sich langsam und humpelte auf die Seitenlinie zu. Der hatte sicher genug von diesem rohen Sport. Aber nein! Ein Mann mit einem kleinen Holzkasten ging zu ihm und wickelte ihm einen dicken Verband um das Knie, und dann kam doch dieser Invalide tatsächlich wieder auf das Spielfeld und wollte weiterspielen! Dem Publikum schien diese Roheit sichtlich zu gefallen, denn es begrüßte das
Wiedererscheinen des Spielers mit lautem Beifall. Und das hatte Herr Gangler einen gesunden Männersport genannt! Wenn nur Kurt nichts passierte! Die RotWeißen gingen rücksichtslos mit ihm um, sie hatten es wohl auf ihn besonders abgesehen, weil er der Jüngste war. Die Menge und ihre Reaktion auf das Spielgeschehen schien von einer unsichtbaren Macht dirigiert zu sein. Manchmal sagten die 50.000 zur gleichen Zeit, ohne daß man ein Kommando vernommen hätte, ,Ecke!’ Dann wieder wurde laut gerufen: ,Pfui! Schiebung! Raus!’ Und wenn mal einer den Ball nicht dem armen Mann zwischen den weißen Stangen auf den Leib knallte, sondern vorsichtig über die Querleiste hob, stöhnten alle vor Schmerz auf. Warum geschah das alles? Frau Lang konnte es nicht erfassen. Sie sah sich das Spiel überhaupt nur an, um auf ihren Jungen aufzupassen. Jedesmal, wenn er stürzte, meinte sie, er müßte tot sein oder wenigstens ein paar Knochen gebrochen haben, aber er erhob sich jedesmal wieder und spielte weiter. Sie verstand von den Vorgängen auf dem Spielfeld soviel wie eine Kuh vom Klavierspielen. Aber allmählich, ohne daß sie es selbst merkte, sah sie doch aufmerksamer und mit einem gewissen Interesse zu. Manche Spieler fielen ihr durch ihre Beweglichkeit auf, andere wegen ihrer Schnelligkeit, und sie freute sich immer, wenn der Linksaußen auf und davon ging. Der konnte laufen! Als der SC das Führungstor schoß, regte sie sich nicht auf, weil sie nicht einmal genau wußte, für welche Partei es nun eigentlich gewertet wurde. Das Spiel bekam allmählich ein Niveau, das auch verwöhnte Zuschauer in seinen Bann zog. Das waren wirklich zwei Klassemannschaften, jede des Meistertitels würdig. Der SC versuchte mit pausenlosen Angriffen seinen Vorsprung zu vergrößern und dem Gegner den
entscheidenden Schlag zu versetzen. Es war eine Freude, ihm zuzusehen, aber elf Gegner haben auch zweiundzwanzig Beine und zwei Hände. Jeder stand auf seinem Posten und deckte eisern seinen Mann. Hin und her wogte der Kampf, keiner hatte ein entscheidendes Übergewicht, und keiner gab nach. Es schien so, als sollte sich an der Führung des SC bis zur Halbzeit nichts mehr ändern, als einer der Blitzangriffe von Schwarz-Gelb aus der Deckung heraus zum Erfolg führte. Der SC hatte sich minutenlang in der Hälfte des Gegners festgesetzt. Die Verteidigung war weit aufgerückt. Es gab vor dem Tor von Schwarz-Gelb eine Reihe gefährlicher Situationen, die mit einigem Glück überstanden wurden. Der Torwart hatte einen hohen Ball abgefangen. Er ließ sich nicht die Zeit, damit bis zur Strafraumgrenze zu laufen, um ihn hoch ins Feld zurückzuschlagen,sondern rollte ihn flach dem freistehenden linken Läufer zu. Der überlegte nicht lange und gab den Ball hoch zur Mitte. Machter und der große Mittelläufer streckten sich gleichzeitig. Machter, der etwas günstiger stand, blieb in diesem Zweikampf Sieger. Er berührte das Leder nur leicht mit dem Kopf und lenkte es über seinen Widersacher hinweg in die Hälfte des Gegners. Kurt hatte das irgendwie vorausgeahnt und war im gleichen Moment gestartet. Der Gegner reklamierte ,Abseits’, aber der Unparteiische schüttelte nur den Kopf und ließ weiterspielen. Kurt holte sich den Ball und schob ihn flach seinem Außen zu. Der lief noch ein paar Schritte und flankte zur Mitte, bevor ihn der Verteidiger daran hindern konnte. Machter, sah hier eine gute Chance, kam aber nicht rechtzeitig heran, und der gleichfalls mitgelaufene Rechtsaußen konnte den etwas zu hoch hereingekommenen Ball nur mit der Stirn erwischen. Der Ball fiel Kurt direkt auf den rechten Fuß. Mit voller Kraft
schlug er zu. Im gleichen Augenblick war der Mittelläufer heran. Sein Versuch, Kurt am Schuß zu hindern, endete damit, daß sich unser Freund überschlug und liegen blieb. Einen Elfmeter brauchte der Schiedsrichter nicht zu geben, denn der Ball war trotzdem da gelandet, wohin Kurt ihn haben wollte. Wie ein Blitz hatte das Leder unter der Querlatte eingeschlagen, vergeblich riß der Torsteher seine Arme hoch. Als Kurt sich wieder gesammelt hatte, hörte er das Beifallsgeschrei der Menge. Die Glückwünsche seiner Kameraden, die sich um ihn bemühten, bestätigten ihm, daß er ein Tor geschossen hatte. Langsam humpelte Kurt zur Mitte, umbrandet vom Jubel der Menge. Das Spiel ging weiter. Nach ein paar Minuten ertönte der Halbzeitpfiff. In der Kabine war man sich einig, daß Kurt ein vollwertiger Ersatz für Winkler sei, er würde allmählich sicher so werden, wie es sein Vorgänger in seinen besten Jahren gewesen war. Alles redete auf ihn ein, bis sich der Masseur seiner bemächtigte, um ihn noch einmal tüchtig durchzukneten. Das Spiel wurde in der zweiten Hälfte fast noch schneller und interessanter. Beide Mannschaften gaben ihr Letztes her, man rechnete auf beiden Seiten mit einem Erfolg und schenkte einander nichts. Der Schiedsrichter hatte das Spiel so fest in der Hand, daß er alle Auswüchse im Keime erstickte. Kurt hatte sich gefunden. Sein Ausgleichstor hatte alle Hemmungen von ihm genommen und ihm einen starken Auftrieb gegeben. Er spielte so, als gehöre er schon lange zur Ersten Seniorenelf und sei solche Auseinandersetzungen gewöhnt. So wurde Schwarz-Gelb zu einer geschlossenen Einheit, die immer wieder die Deckung des Gegners auseinanderriß und sich in keinem Augenblick das
Spielgeschehen diktieren ließ. Aber der SC war nicht schlechter und zahlte mit gleicher Münze zurück. Spieler und Zuschauer wußten: Das nächste Tor entscheidet. Die Mannschaft, der das Glück des nächsten Treffers beschert wird, ist der neue Meister. Wem würde es gelingen? In der 75. Minute schien sich die Waage auf die Seite des SC zu neigen. Der Mittelstürmer nutzte ein Mißverständnis in der Deckung von Schwarz-Celb geschickt aus, schickte seinen flinken Linksaußen auf die Reise, und der lief allein mit Riesenschritten auf das Tor zu. Wenn er jetzt schießt... Da flog ihm im letzten Moment der Torhüter in tollkühnem Sprung vor die Füße und begrub das Leder unter seinem Körper. Die Menge raste vor Begeisterung. Etwa zehn Minuten später ergab sich eine ähnliche Situation auf der anderen Seite. Kurt, der immer mehr Selbstvertrauen gewann, versuchte es einmal allein. Er trieb den Ball nach vorn, und als der Gegner unschlüssig auf seine Abgabe wartete, erspähte er eine Lücke in der Deckung und lief plötzlich los. Er setzte seine letzten Reserven ein und hatte schnell ein paar Meter Vorsprung vor seinen Verfolgern gewonnen. Nun war nur noch der Torwart des Gegners vor ihm. Sollte er jetzt schießen? Hoch — flach — scharf — in die lange Ecke? Der letzte Mann vom SC löste sich von der Torlinie und lief Kurt ent- gegen. Es war draußen zunächst still wie in einer Kirche, dann aber machte sich die Spannung in erregten Zurufen Luft. „Schießen! Schießen!“ Kurt erwog noch einmal seine Chance, und dann tat er das einzig Richtige: er verzichtete auf die Möglichkeit, das entscheidende Tor selber zu schießen. Bevor der Torwart ihn erreichte, schob er den Ball behutsam zu dem mitgelaufenen Rechtsaußen.Der war ein alter Hase, und
er verzichtete auf einen besonders effektvollen Torschuß und vollstreckte sicher und besonnen. Das war die Entscheidung! Der Torschütze und Kurt wurden von ihren glücklichen Kameraden fast erdrückt. Sogar die Verteidiger kamen über das ganze Spielfeld gelaufen, um die beiden zu beglückwünschen. Auf der Tribüne und auf den Rängen erhob sich ein ohrenbetäubender Lärm. Kuhglocken läuteten ohne Pause, Hornsignale schrillten durch die Luft, und die schwarz-gelben Fähnchen wurden geschwungen, bis sie restlos zerfetzt waren. Jeder wußte: der Kampf ist entschieden. Herr Gangler strahlte und bereitete sich innerlich schon auf die Festansprache vor. Frau Lang fand sich plötzlich laut rufend in einer schreienden Menge und klatschte sich vor Begeisterung die Handschuhe aus den Nähten. Das war ihr Junge! Spinne hatte aufspringend seinen neuen Hut heruntergerissen und ihn ein paarmal wild auf die Köpfe unter sich geschmettert, was man ihm durchaus nicht übelnahm, bis ihm seine Mutter das arg mißhandelte gute Stück entriß, um ihm wieder eine brauchbare Form zu geben. Spinne schrie ohne Pause: „Kurz-Lang! Kurz-Lang!“ In den letzten Minuten liefen sich die verzweifelten Angriffe vom SC an der massierten Verteidigung fest. Alle Spieler wurden zurückgezogen und hielten den knappen Vorsprung bis zum Schlußpfiff.
Die Siegerehrung Am nächsten Tage schrieb die „Fußballwoche“: Der junge Lang fügte sich nach einer anfänglichen und verständlichen Schwäche sehr gut in die Mannschaft ein und ließ den alten Haudegen Winkler kaum vermissen, der sich, wie wir hören, vom aktiven Sport zurückziehen will. Langs Tor war ein Meisterstück, solche Torschüsse sieht man selten, und es gibt auch keinen Torsteher, der diese Bälle halten kann. Aber der junge Mann wird uns nicht böse sein, wenn wir behaupten, daß er im entscheidenden Moment Glück gehabt hat. Wir haben solche Schüsse schon zu oft hoch über das Tor gehen sehen. Ein Volltreffer ist da immer etwas Glückssache. Aber Lang hat dieses Glück verdient. Seine größte Leistung vollbrachte Lang, als er auf die Möglichkeit eines zweiten Tores verzichtete und den Ball dem Stürmer zuspielte, der sich in besserer Schußposition befand. Über dem eigenen Ruhm steht der Erfolg der Mannschaft. Und, Hand aufs Herz: Wer von uns, die wir zusahen, hätte an Langs Stelle nicht doch lieber geschossen? Trotz aller Vorkehrungen durchbrach ein Teil der Menge nach dem Schlußpfiff die Absperrung und umringte die Spieler. Der SC gratulierte neidlos dem neuen Meister, dessen Spielführer, mit einem Kranz geschmückt, auf den Schultern vom Platz getragen wurde. Und dann hoben ein paar Begeisterte auch die beiden Torschützen auf die Schultern. Spinne hatte sich rücksichtslos nach vorn durchgekämpft und dirigierte einen Sprechchor, der, begleitet von rhythmischem
Händeklatschen, rief: „Kurz-Lang, Kurz- Lang, KurzLang!“ Die Umkleidekabine glich lange Zeit einem Hexenkessel. Alle möglichen und unmöglichen Leute wollten ihre Glückwünsche anbringen, Photographen versuchten vergeblich, Kurt herauszulocken, um eine Aufnahme von ihm zu machen. Mit dem Bild dieses jungen Tageshelden konnte man sicher Geschäfte machen. Herr Kulimann umarmte der Reihe nach alle Spieler und fing, als er fertig war, damit wieder von vorne an. Spinne hatte es auch verstanden, sich in die Kabine einzuschmuggeln, und schlug Kurt immer wieder auf die Schultern und strahlte dabei wie eine Bogenlampe. Schließlich griff Herr Gangler ein und warf kurzerhand alles raus, was in der Kabine nichts zu suchen hatte. „Ich möchte nicht, daß die Leute, die den schweren Kampf gesund überstanden haben, hier in der Kabine totgedrückt werden!“ Um ein paar Ansprachen kam man nicht herum. Herr Gangler machte es ganz kurz, der Herr Bürgermeister brauchte schon etwas mehr Zeit denn während seiner Amtszeit war so etwas noch nicht geschehen. Er überlegte angestrengt, was man von Seiten der Stadt zum Empfang der siegreichen Mannschaft tun könnte, und war sichtlich erfreut, daß die Spieler noch einmal ins „Waldschloß“ fahren würden, um am Montagabend heimzukommen. Da konnte man noch etwas vorbereiten. Die Spieler selbst waren noch nicht recht zur Besinnung gekommen. Sie waren ausgepumpt und auch mit den Nerven ziemlich fertig. Der Kampf hatte alles von ihnen gefordert, und die Spannung während der neunzig Minuten war oft unerträglich gewesen. Jetzt hatten sie Zeit, einmal nachzusehen, ob noch alle Knochen heil waren. Sie wollten sich zunächst einmal säubern und etwas ausruhen dürfen. Allmählich löste sich die
Spannung, und sie begannen den Erfolg in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Als man endlich gemeinsam die Kabine verließ, betrugen sich die müden Kämpfer wie ausgelassene Schuljungen und schienen zu allen möglichen dummen Streichen aufgelegt. Der Omnibus, der die Mannschaft fortbringen sollte, war dicht umlagert. Man hatte bis zur Abfahrt der Sonderzüge noch genügend Zeit und wollte nicht darauf verzichten, den neuen Meister zu begrüßen. Es dauerte dann auch eine ganze Weile bis die strahlenden Sieger ihren Weg zum Wagen erkämpft hatten und die Reise losgehen konnte. Am Sonnabend darauf fand im Stadtsaal die offizielle Siegesfeier statt, nachdem schon während der ganzen Woche hier und da große und kleine Feiern durchgeführt worden waren. So hatte es sich der Turnverein nicht nehmen lassen, die siegreiche Mannschaft zu seinem Stiftungsfest zu laden. Selbstverständlich war auch schon am Abend nach dem Spiel eine kleine Feier im „Waldschloß“ arrangiert worden. Die Stadtverwaltung hatte am Tage der Rückkehr einen Empfang im Rathaus veranstaltet, und nun sollten die Feiern mit diesem großen Fest im Stadtsaal ihren Höhepunkt und Abschluß finden. Alles, was Rang und Namen hatte, besorgte sich rechtzeitig Eintrittskarten, und schon eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung konnte sich der Wirt schmunzelnd die Hände reiben: es war kein Stuhl mehr frei. Vor der Bühne war ein Tisch für die Mannschaft und Vereinsleitung freigehalten, vor dem geschlossenen Vorhang stand ein Rednerpult. Punkt acht Uhr erhob sich Herr Gangler, um seine Festansprache zu halten.
„Meine Damen und Herren, liebe Sportfreunde! Es sind fast zwanzig Jahre vergangen, seit ich die Leitung unseres Vereines übernahm. Ich war noch verhältnismäßig jung, und der Name Schwarz-Gelb war schon altbekannt. Mancher von Ihnen, der heute hier als würdiger Familienvater sitzt, hat damals den schwarzgelben Dreß getragen, viele andere sind im Laufe der Jahre aus den eigenen Jugendmannschaften in die Reihen der Senioren hineingewachsen, haben lange Jahre für den Verein gespielt und sind ihm auch später in Treue verbunden geblieben. Immer hatten wir — Spieler wie Vereinsleitung — das Ziel, die Meisterschaft zu erringen, wie damals die Mannschaft, der unser alter Freund Kullmann angehörte. Oft haben wir dicht vor dem Ziel gestanden, dann wieder reichte es nur für einen bescheidenen Mittelplatz, und es gab auch Jahre, in denen wir um den Verbleib in unserer Klasse bangen mußten. Dieses Jahr nun bringt uns allen die Krönung unserer Bemühungen: Schwarz-Gelb ist Meister geworden!“ Lauter Beifall unterbrach den Redner und zwang ihn zu einer Pause. „Nachdem unseren Junioren vor einigen Wochen der große Wurf gelang, hat es nun am letzten Sonntag die Erste den Jungen nachgemacht. Dieser doppelte Erfolg hat für uns alle vielfache Bedeutung. Zunächst verpflichtet er die Spieler unserer Ersten, sich dieses Titels würdig zu erweisen und sich in der obersten Klasse erfolgreich zu behaupten. Ich zweifle nicht an einem guten Gelingen, denn diese Elf kann nicht nur spielen, sondern sie bildet auch eine feste, kameradschaftliche Gemeinschaft, und das ist bei einem Mannschaftssport die Voraussetzung für den Erfolg.
Der Jugend soll die Meisterschaft Ansporn sein, weiter an sich zu arbeiten, um einmal in die Mannschaft der Großen eingereiht werden zu können, so, wie es ihnen ihr Kamerad Kurt Lang vorgemacht hat. Und auch der Vereinsleitung erwachsen neue Aufgaben. Die Spiele in der obersten Klasse führen Vereine mit großen Namen zu uns, bringen erhöhte Zuschauermengen. Es gilt zunächst, unsere Platzanlage zu verbessern und auszubauen. Und dann freuen wir uns, einen alten Plan verwirklichen zu können. Die letzten Spiele, besonders aber das Endspiel, haben uns so beträchtliche Einnahmen gebracht, daß wir sofort mit dem Bau des lange geplanten Clubhauses beginnen können, das schon zu Beginn der neuen Spielsaison seiner Bestimmung übergeben werden soll. Ich kann Ihnen auch schon verraten, daß wir als ersten Gegner auf der dann größeren und schöneren Anlage den Deutschen Meister verpflichten konnten.“ Neuer Beifall unterbrach den Redner. Dann fuhr Herr Gangler fort: „Es ist ein alter, schöner Brauch, bei so festlichen Anlässen die zu ehren, die sich um den Verein besondere Verdienste erworben haben. Es werden auf einstimmigen Beschluß des Vorstandes eine Reihe verdienstvoller Vereinsmitglieder mit der Ehrennadel ausgezeichnet. Der erste ist unser langjähriger, treuer Platzwart Kulimann, der ohne viel Worte und gewissermaßen hinter den Kulissen mehr für den Verein getan hat, als ein Außenstehender ermessen kann. Seit mehr als vierzig Jahren gelten seine Interessen und seine Arbeit ausschließlich dem Verein.
Als aktiver Spieler war es ihm einmal vergönnt, einer Meistermannschaft anzugehören, und der Erfolg, den unsere Spieler vor einer Woche erringen konnten, ist teilweise auch der seine. Es ist uns eine Freude, ihm den Dank des Vereins heute in dieser Form öffentlich aussprechen zu können!“ Begleitet von lebhaftem Beifall ging Herr Kullrnann auf die Bühne, um sich vom Ersten Vorsitzenden die Ehrennadel anheften zu lassen. „Der Zweite, dem der Verein die Ehrennadel verleiht, ist der Spielführer der siegreichen Mannschaft, Walter Machter. Wir ehren in ihm nicht nur die elf Spieler, deren Interessen er stets und überall vertreten hat, sondern auch den vorbildlichen Sportsmann, der Haltung und Geist der Mannschaft maßgebend beeinflußt hat.“ Nachdem Machter seine Auszeichnung empfangen hatte, sprach Herr Gangler weiter: „Es ist nicht allgemein üblich, junge Leute mit besonderen Ehren zu bedenken. Wir sehen andererseits aber nicht ein, warum Verdienste nicht ohne Ansehen des Alters ihre Anerkennung finden sollen. Aus diesem Grunde verleihen wir die Ehrennadel Kurt Lang, der nicht nur als Spielführer der Ersten Junioren Entscheidendes für die Erringung der Meisterschaft geleistet hat, sondern auch beim Endspiel der Ersten dazu beigetragen hat, den Titel zu erringen.“ Der Beifall, der Kurt zur Bühne begleitete, war besonders herzlich. Man mochte diesen bescheidenen, sympathischen jungen Menschen allgemein gern. Es
dauerte eine ganze Weile, bis die nötige Ruhe eintrat, um Herrn Gangler fortfahren zu lassen: „Es ist vom Vorstand eine weitere Ehrennadel verliehen worden. Allerdings ist dieser Beschluß nicht einstimmig gefaßt worden, weil ich dagegen gestimmt habe. Diese Nadel ist nämlich für mich bestimmt. Dem Wunsche des Vorstandes folgend, bitte ich unser ältestes Mitglied, Herrn Wagner, sich zu mir heraufzubemühen, damit ich aus seiner Hand die unverdiente Ehrung entgegennehmen kann.“ Der alte Herr Wagner ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, in einer launigen Ansprache auf die Verdienste von Herrn Gangler um Schwarz-Gelb hinzuweisen, um ihm dann unter dem Beifall aller Anwesenden die Nadel zu überreichen. Mühsam verschaffte sich Herr Gangler erneut Ruhe. „Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich immer noch hier oben stehe und scheinbar kein Ende finde. Ich will Ihnen zum Schluß noch eine kleine Geschichte erzählen.Vor ein paar Monaten unterhielten sich ein paar Vereinsmitglieder über das Schicksal des Vereins. Es ging damals besonders um den Bau des Clubhauses; aber wir sahen keinen Weg, der dahin führte. Schließlich waren wir uns darüber einig, daß nur eine Meisterschaft die Mittel bringen könnte, die wir brauchten. Und so entschlossen wir uns, alles zu tun, um Schwarz-Gelb die Meisterschaft zu holen. Das klingt vielleicht etwas merkwürdig, besonders wenn man bedenkt, daß die Aussichten zu dieser Zeit durchaus nicht rosig waren. Aber der Wille versetzt bekanntlich Berge, und unsere Parole ,Schwarz-Gelb wird Meister!’ hat uns immer vor Augen gestanden und unser Tun beeinflußt. Ich bin heute
davon überzeugt, daß der feste Vorsatz, den wir damals gefaßt haben, viel zum Erfolg beigetragen hat. Nun werden Sie wissen wollen, wer an der Besprechung teilgenommen hat. Wir waren damals fünf, und vier von diesen ,Verschwörern’ haben Sie soeben hier auf der Bühne gesehen: Kullmann, Machter, Lang und mich. Vielleicht ist es ein Zufall, daß die neuen Träger der Ehrennadel die Männer sind, die damals den Entschluß faßten, dem Verein zur Meisterschaft zu verhelfen. Und der Fünfte? Nun, das ist einer aus unserem hoffnungsvollen Nachwuchs, einer, der mit der ganzen Begeisterungsfähigkeit seiner Jugend für den Verein einsteht. Er war damals dabei und hat mit der gleichen Aufrichtigkeit wie wir anderen versprochen, alles zu tun, was in seinen Kräften steht, um unseren Vorsatz zu verwirklichen. Es ist ihm dabei sogar eine wichtige Rolle zugefallen: er war es, der durch Wachsamkeit und Umsicht den Anschlag gegen die Juniorenelf vereitelte; ohne ihn könnten wir heute kaum eine Doppelmeisterschaft feiern. Es scheint uns nicht mehr als recht und billig, daß auch der fünfte Verschwörer für seine Vereinstreue belohnt wird. Ich bitte unser Jugendmitglied Werner Krüger, zu mir heraufzukommen.“ Spinne hatte einen Kopf wie eine reife Tomate. Während der letzten Sätze von Herrn Gangler hatten sich immer mehr Augen auf ihn gerichtet, und er überlegte vergeblich, wie er entrinnen könnte. Es gab aber keinen Ausweg, und als seine Mutter ihm einen sanften Stoß versetzte, erhob er sich, um zur Bühne zu gehen. Der Beifall schwoll zum Orkan. „Lieber Werner Krüger, du bist zwar erst vierzehn Jahre alt, aber du hast bewiesen, wie stark das Band ist, das dich mit deinem Verein verknüpft. Wir sind stolz
darauf, solche Jungen zu den Unseren zu zählen, und wir hoffen, daß du noch viele Jahrzehnte mit gleicher Treue zu uns gehören wirst. Eine Ehrennadel wirst du dir später verdienen, wenn du einmal in der Ersten Mannschaft ruhmreiche Taten vollbringst. Unsere Anerkennung bringen wir durch dieses kleine Geschenk zum Ausdruck. Bleibe so, wie du bist, dann wird alles gut werden!“ Kullmann gab einen Karton herauf, den Herr Gangler unserem jungen Freund überreichte. Darin war ein Paar wunderbare neue Fußballstiefel. Es dauerte lange, bis Spinne zu seinem Platz zurückfand, jeder wollte ihn beglückwünschen und ihm die Hand schütteln. Die Befangenheit war allmählich abgefallen, und er fühlte sich stolz als Mittelpunkt einer so großen und erlesenen Gesellschaft. Und damit ist der erste Teil unserer Geschichte zu Ende. Schwarz-Gelb ist Doppelmeister geworden, und darum gab es ja die ganze Aufregung. Über Spinne wissen wir Bescheid. Wir haben ihn neulich in der Stadt getroffen; er wirft bereits mit Fachausdrücken um sich wie ein alter Obermeister und tut so, als gehöre die Ganglersche Fabrik ihm ganz allein. Er roch nach Holz und Leim und hatte an beiden Händen zünftige Blasen. Auch für Kurt Lang hat sich alles zum Guten gewendet. Bei der großen Meisterschaftsfeier gab es eine erregte Debatte zwischen seiner Mutter und Herrn Gangler. Auch wenn Frau Lang ihre Ansicht über das Fußballspiel gründlich geändert hatte, wollte ihr der Plan, den Herr Gangler entwickelte, nicht recht gefallen. Schließ- lich gab sie aber doch nach, weil der Gedanke an das Glück ihres Jungen den Ausschlag gab.
Herr Gangler ist als stiller Teilhaber in die Langsche Textilgroßhandlung eingetreten. Der Anteil, den er einbrachte, reichte aus, um der Firma über die Schwierigkeiten hinwegzuhelfen und Kurt das Studium zu ermöglichen. Er wird nun nämlich doch Architekt. Es hätte für Kurt vielleicht noch eine andere Möglichkeit gegeben: Schwarz-Gelb hätte ihn gern unter Vertrag genommen, und Kurt wäre dann für sein Spielen bezahlt worden. Aber dazu hätte Frau Lang nie ihre Zustimmung gegeben, und Kurt selbst hatte daran nicht gedacht. Er freute sich, daß er etwas konnte und daß seine Leistungen anerkannt wurden; aber Geld dafür fordern und nehmen? Fußball war für ihn ein Spiel, kein Broterwerb, und dabei wollte er auch bleiben.
UMWEGE Spinne macht sich unbeliebt „Dumm, sehr dumm“, sagte Herr Kullmann und blickte nachdenklich auf seinen jungen Freund. „Das hättest du gar nicht ungeschickter machen können.“ „Na, so schlimm ist die Sache auch nicht“, verteidigte sich Werner. „Doch! Das kannst du nur nicht begreifen, weil du noch zu jung bist.“ „Natürlich! Zu jung! Das habe ich heute schon ein paarmal gehört. Man ist doch mit siebzehn Jahren kein Hosenmatz mehr!“ „Das nicht. Aber auch kein ausgewachsener und erfahrener Mann.“ Herr Kullmann ging in Gedanken versunken auf und ab. Er hätte dem Jungen gern geholfen, aber die Geschichte war wohl schon zu verfahren. Nach einer Weile blieb er wieder vor Werner stehen. „Am besten wäre es, wenn du dich bei Herrn Schmidt entschuldigst; er wird ein Auge zudrücken und die Sache dann auf sich beruhen lassen.“ „Ich soll mich entschuldigen? Er hat mich doch angeschnauzt!“ „Und warum? Weil du frech geworden bist!“ „Man wird doch wohl noch seine Meinung sagen dürfen!“ „Auf deine Meinung wird gar kein Wert gelegt, junger Mann, außerdem ist sie grundfalsch. Herr Schmidt ist ein altbekannter Nationalspieler; wir sind sehr froh, daß wir ihn als Trainer verpflichten konnten. Und dann kommt Herr Werner Krüger, der weltbekannte Torwart der Ersten Junioren von Schwarz-Gelb, und erklärt, Herr
Schmidt hätte vom Fußball keine Ahnung. Wenn mir das passiert wäre, ich hätte dir ein paar kräftige Ohrfeigen gegeben und dich rausgeschmissen!“Herr Kullmann wurde langsam warm. Der Junge war unverbesserlich. „Was seid ihr doch für ein undankbares Volk! Als ich so alt — oder so jung war, da konnten wir uns noch keinen Trainer leisten. Sowas gab’s damals bloß in England. Wir mußten noch selbst die Stangen auf den Platz tragen und Tore aufbauen. Es gab keinen Platzwart, keinen Masseur, keinen Trainer — es war alles viel schwieriger und anstrengender, aber wir waren mit Liebe und Begeisterung bei der Sache. Ihr habt heute diesen herrlichen Platz, der dem Club gehört, ihr werdet in jeder Weise unterstützt, und dann tut ihr jungen Herren so, als müßte alles so oder noch besser sein. Ich weiß ganz genau, was mit euch los ist! Euch ist es in den Kopf gestiegen, daß ihr wieder Meister geworden seid. Ihr haltet euch für die Größen von morgen. Am Spiel der Ersten müßt ihr auch immer kritisieren, ihr könnt natürlich alles besser.“ „Immerhin sind wir Meister geworden mit einem Torverhältnis von 118:27. Also: Sturm gut, Hintermannschaft gut!“ „Wird alles anerkannt, deswegen braucht ihr aber nicht gleich überzuschnappen. Ihr denkt doch nicht etwa im Ernst daran, daß ihr alle oder wenigstens ein Teil der Mannschaft im nächsten Jahr für die Erste reif seid? Dazu gehört doch etwas mehr. Frag einmal Kurt Lang.“ „Der hat doch gleich im ersten Spiel das entscheidende Tor geschossen.“ „Alles weißt du besser! Nun sage mal im Ernst, Werner: Glaubst du wirklich, daß du genug kannst, um das Tor der Ersten zu hüten?“ „Warum nicht?“
„Aha! So ’ne Art Größenwahn. Aber es hat kaum Zweck, weiter mit dir zu reden, du weißt ja doch alles besser. Soviel laß dir aber von mir gesagt sein — und ich verstehe wirklich etwas vom Fußball —: Du mußt noch viel lernen, mehr als du denkst. Und ein Spieler in der Ersten muß nicht nur ein wirklicher Könner sein, sondern auch innerlich ein sauberer Kerl.“ „Wollen Sie damit sagen, daß ich ...“ „Denk, was du willst. Früher, da hätte ich für dich die Hand ins Feuer gelegt, da warst du ein feiner Kerl und ein guter Kamerad, auf den man sich verlassen konnte. Da warst du noch unsere Spinne, und der Club ging dir über alles. Du bist ganz anders geworden, und das ist schade. Du bist heute nach deiner Ansicht schon ein großer Mann, der sich an allem Kritik erlauben darf und der so ziemlich alles kann. Wirklich schade, Werner!“ Sie blieben eine Weile still, Herr Kullmann nahm seine Wanderung wieder auf. Dann sagte er, und seine Stimme hatte einen fast traurigen Klang: „So wie früher verstehen wir uns lange nicht mehr, und lange Debatten ändern daran auch nichts. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, es kann ja alles wieder anders werden. Nun sieh mal erst zu, wie du die Sache mit Herrn Schmidt aus der Welt schaffst. Wie ich schon sagte: Geh zu ihm und entschuldige dich.“ Spinne antwortete nicht. Er war sich wie ein Held vorgekommen, der des Beifalls seiner Freunde gewiß ist, als er dem Trainer einmal richtig die Meinung sagte. Und nun sollte er zu Kreuze kriechen und sich vor aller Welt blamieren? Das mußte erst einmal gründlich überlegt werden. Mit einem kurzen Gruß verabschiedete er sich. Herr Kullmann blieb allein in seinem Reich, dem Geräteraum unter der Haupttribüne. Er war enttäuschter, als er sich selber zugeben wollte. Mit Werner war augenblicklich
aber auch gar nichts anzufangen. Das waren nicht nur die Flegeljahre, dahinter steckte mehr. Was war das früher für ein netter Kerl gewesen, diese „Spinne“, an die Kullmann sein einsames Junggesellenherz gehängt hatte! Zudem war Werner ein ungewöhnliches Torwarttalent, aus dem sich viel hätte machen lassen, und Kullmann hatte oft davon geträumt, daß sein Schützling einmal eine ganz große Rolle spielen würde. Werner hatte sich aber seinem Einfluß ganz entzogen und ging eigene Wege — keine guten, wie es schien. Spinne ging mißgestimmt fort. Überall nur Vorwürfe und Belehrungen! Sein neuer Freund Hans hatte sicher recht: man wollte ihn einfach nicht hochkommen lassen! „Hallo, Werner! So in Gedanken!?“ Spinne war achtlos an Kurt Lang vorbeigegangen. Früher war Werner stolz gewesen, wenn er ihm den Koffer tragen durfte, heute hätte er ihn am liebsten übersehen. „Sehr vergnügt siehst du nicht aus, alte Spinne!“ „Man hat so seinen Ärger“, wich Werner aus. „Ärger? Ach so, ich habe davon gehört. War das nötig?“ „Nun fang du auch noch an!“ sagte Spinne ärgerlich. „Eben hat mir Herr Kullmann einen längeren Vortrag gehalten, und nun willst du wohl das Thema ausspinnen. Kulle riet mir, mich bei Schmidt zu entschuldigen.“ „Das wäre wohl das Richtigste. Herr Gangler meint das übrigens auch.“ „Natürlich muß der Erste Vorsitzende in die gleiche Kerbe hauen. Anscheinend haben sich die Herren auch schon mit der lächerlichen Geschichte befaßt.“ Als Kurt nicht antwortete, fuhr Werner fort: „Übrigens Kurt, sag mal im Vertrauen: Was hältst du eigentlich von unserem neuen Trainer?“ „Großartiger Mann! Von dem können wir viel lernen.“
„Naja, vielleicht ihr Feldspieler. Aber von Torstehen hat der Mann doch keine Ahnung! Mich will er mit Freiübungen in Form bringen. Das kann ich in jedem Turnverein haben!“ „Laß ihn nur, er weiß schon, was er will. Wir haben uns zuerst auch etwas über seine neuen und ungewöhnlichen Trainingsmethoden gewundert, aber der Erfolg zeigt sich doch von Sonntag zu Sonntag deutlicher. Und du kannst auch noch manches von ihm lernen, verlaß dich darauf. Auch wenn er nicht Torsteher war.“ Spinne machte ein Gesicht, das alle Zweifel ausdrücken sollte. Kurt schlug ihm wohlwollend mit der Hand auf die Schulter und fuhr fort: „Geh nur hin, dann ist die dumme Sache aus der Welt, bevor sie unter die Leute kommt. Wenn du einen Fehler zugibst, ist das kein Beinbruch.“ „Mal sehen“, sagte Spinne und verabschiedete sich. Er ging nicht gleich nach Hause, obwohl seine Mutter sicher auf ihn wartete. Er wußte, daß er Hans im Bürgerbräu treffen würde. Mit dem könnte er sich einmal über die Sache unterhalten. Hans saß mit ein paar jungen Burschen an seinem Stammtisch. Man schien recht vergnügt. Spinne wurde mit lautem Hallo begrüßt. „Der Spinne ist eine Spinne über die Leber gelaufen“, scherzte Hans, und alles lachte. „Trinke erst einmal einen Schnaps, der hebt die Stimmung.“ Sehr bald kam man auf den „Fall Schmidt“ zu sprechen. Hier war man entschieden anderer Ansicht. „Das hast du großartig gemacht“, lobte Hans, „die Jungen haben mir die Geschichte erzählt. Wie ich dir schon sagte: nur den Werner Krüger nicht groß werden lassen, der kommt sonst noch auf die Idee, in der Ersten
spielen zu wollen, und die Herren bleiben lieber unter sich, verstehst du? Mir kann man nichts vormachen!“ Die Jungen sahen ehrfürchtig zu Hans Kudel auf, der so sicher war und über alles, aber wirklich auch alles, so gut Bescheid wußte. Ganz klar, daß keiner von den Jungen hochkommen sollte. Die Vertragsspieler der Ersten verdienten doch einen Haufen Geld und hatten manche Vergünstigung. Man hörte ja so allerlei. Hans Kudel führte die Unterhaltung. Ende zwanzig war dieser Allerweltskerl, immer freundlich — etwas zu freundlich —, freigebig und stets guter Laune. Er war erst vor einem halben Jahr aus Neustadt zugezogen und verdiente anscheinend viel Geld. Er hatte sich bald mit einem Kreis junger Leute umgeben, deren Anerkennung seinem Geltungsbedürfnis schmeichelte. Mit älteren Leuten sah man ihn selten, da hätte er mit seinen bescheidenen Kräften auch nicht so leuchten können. „Auf keinen Fall darfst du nachgeben“, sagte er zu Werner. „Das wäre so etwas für die großen Herren! Ein ganz komischer Verein! Da ist ein junger Spieler, ein großes Talent, eine Zukunftshoffnung, und da tut man alles, um diesen jungen Mann zu verärgern. Andere Vereine würden alles nur Erdenkliche tun, um solche Leute zu halten und zu fördern. Eine ziemlich durchsichtige Angelegenheit übrigens, mir kann man nichts vormachen!“ Die Jungen glaubten das ohne weiteres. Peter Schwarz, genannt der schwarze Peter, sagte höhnisch grinsend zu Werner: „Schwarz-Gelb ist die Parole — weißt du noch? Das hast du nun davon!“l Damit kam er allerdings falsch an, er erinnerte Werner an sein Glanzstück. t „Damals hast du von mir mörderische Dresche bezogen, das hast du wohl auch nicht vergessen. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!“
Spinne war immer noch der Stärkere, und Peter verzichtete darauf die Debatte fortzuführen. Außerdem hatte Hans Kudel es nicht gern, wenn Unterhaltungen ohne seine Mitwirkung geführt wurden oder von Sachen gesprochen wurde, die er nicht kannte. Er ergriff also wieder das Wort: „Laß nur, Spinne, wir werden über die Sache noch reden müssen, einmal unter vier Augen. Ich finde da schon einen Ausweg. Mir kann keiner etwas vormachen!“ Irgendwie war die Stimmung gestört. Die jungen Leute verschwanden einer nach dem anderen. Schließlich verabschiedete sich auch Hans Kudel, ohne daß über die Angelegenheit noch einmal gesprochen wurde. Werner zahlte und machte sich mißgelaunt auf den Heimweg. Am Sonntagmorgen packte Spinne seinen Fußballkoffer. Seine Mutter sah ihm zu. „Was hast du denn eigentlich mit diesem Herrn Schmidt, oder wie er heißt, gehabt?“ „Woher weißt du denn das?“ „Ich habe neulich Herrn Kullmann getroffen, der hat so etwas angedeutet.“ „Der soll sich lieber um seine eigenen Sachen kümmern!“ „Aber Junge, er meint es doch gut mit dir!“ „Sieht gar nicht so aus, sonst würde er nicht darüber klatschen.“ „Na, wenn er deiner Mutter etwas sagt, kannst du das doch nicht klatschen nennen. — Er meint auch, du hättest dich sehr verändert. Du läßt dir gar nichts mehr sagen, und auf mich hörst du ja schon lange nicht mehr. Wenn Vater noch lebte, wäre manches anders.“ An den Vater wollte Werner, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte, nicht gern erinnert werden. Hatte er als Kind etwas ausgefressen, gab es in den seltensten
Fällen Prügel. Der Vater sah ihn dann nur einmal an — er hatte bei solchen Sachen eine ganz merkwürdige Art, ihn anzusehen —, und dann war er ein paar Tage lang recht zurückhaltend, und das war für Werner schlimmer als jede andere Strafe. Der Gedanke an den Vater stimmte Werner versöhnlicher. „Die Geschichte wird schon irgendwie in Ordnung kommen.“ „Du wirst Herrn Schmidt doch sicher heute sehen. Dann geh einfach zu ihm hin und entschuldige dich.“ „Na, wollen mal sehen!“ sagte Spinne und legte seiner Mutter lächelnd den Arm um die Schultern. „So, und jetzt muß ich gehen! Auf Wiedersehen bis zum Mittagessen!“ Auf dem Wege zum Stadion faßte Werner den Entschluß, die Sache so bald wie möglich in Ordnung zu bringen. Eine Entschuldigung vor größerem Publikum blieb ihm erspart. Herr Schmidt begegnete ihm am Eingang. Werner grüßte höflich und sagte: „Herr Schmidt, ich habe mich neulich schlecht betragen. Das tut mir leid, und ich bitte Sie hiermit um Entschuldigung!“ Der Trainer sah ihn forschend an. War diese Reue echt? Andererseits sagte er sich, daß es einem so jungen Menschen viel Mühe kostete, überhaupt eine Entschuldigung hervorzubringen. „Du hättest uns beiden diesen Ärger ersparen können, mein Junge! Aber — Schwamm drüber! Ich bin auch mal jung gewesen und habe damals alles besser gewußt als die Älteren. Reden wir also nicht mehr davon, und wenn du jetzt beim Training mitmachst, können wir gute Freunde werden!“ Er drückte Werner die Hand, der aufatmend weiterging. Das war also erledigt, und es hätte schlimmer werden können.
Bei dem Spiel gegen Frischauf stand für die Ersten Junioren nichts mehr auf dem Spiel, die Meisterschaft war bereits gesichert. Aber man hatte den Ehrgeiz, nun auch wie ein Meister zu spielen. Die gut eingespielte Mannschaft lag bald 2:0 in Führung, und anfangs sah die Angelegenheit sehr einseitig aus. Die deutliche Überlegenheit verführte aber die Schwarz-Gelben zum Leichtsinn. Aus dem Spiel wurde eine Spielerei. Frischauf spürte eine nie wiederkehrende Gelegenheit, und ehe eine halbe Stunde um war, mußte Spinne zweimal den Ball aus dem Netz holen. Beide Male hatte ihn der gefährliche Mittelstürmer von Frischauf mit halbhohen Schüssen neben den linken Pfosten überwunden. Trainer Schmidt stellte sich neben das Tor und beobachtete Werner sehr aufmerksam. Reaktionsfähigkeit, Stellungsspiel, Herauslaufen, Fangen — alles gut und durchaus in Ordnung. Leichte Neigung zum Galeriespiel — bei dem Alter verständlich und leicht abzugewöhnen. Schwierigkeiten machten diesem jungen Talent anscheinend Schüsse in die linke Ecke. „Hast du das beobachtet, Werner? Zweimal der gleiche Schuß und zwei Tore!“ „Ja. Komischer Zufall.“ „Weder Zufall noch komisch, aber bemerkenswert. Wenn dir der Mittelstürmer weiter halbhohe Schüsse neben den Pfosten setzt, dann schießt er soviel Tore, wie er will.“ „Aber nicht bei mir!“ Spinne ärgerte sich schon wieder. Eben erst hatten sie sich versöhnt, und nun fing der Mann schon wieder an zu meckern. „Na, warten wir ab, wer recht behält“, sagte der Trainer ruhig. Inzwischen war auch Hans Kudel erschienen, der es unter seiner Würde hielt, schon bei Spielanfang auf den Platz zu kommen. Er begrüßte Werner mit einem
gönnerhaften Kopfnicken und stellte sich an die andere Seite des Tores. Kurz vor Halbzeit schaffte Frischauf den Führungstreffer. Es war wieder ein halbhoher Schuß des Mittelstürmers neben den linken Pfosten. Spinne warf sich leicht und elegant in die bedrohte Ecke, aber er griff daneben. Man ging also mit 3:2 für den Gegner in die Pause. Spinne ging mißgestimmt zwischen Herrn Schmidt und Hans Kudel über den Platz. „Bei allen drei Toren hast du den gleichen Fehler gemacht“, sagte der Trainer. „Wieso?“ fragte Werner — sein Ton war durchaus nicht höflich. „Das will ich dir erklären. Von einem guten Stürmer verlange ich, daß er mit beiden Füßen gleich gut spielen kann. Der eine Spieler ist von Natur aus rechts besser, der andere links. Das läßt sich durch fleißiges und unermüdliches Training ausgleichen. Ebenso muß ein Torwart mit beiden Händen gleich sicher sein. Du bist Rechtshänder und willst darum unwillkürlich jeden Ball mit der rechten Hand abwehren. Ich hatte das schon beobachtet, wenn du einen Ball faustest. Auch bei der Abwehr von Schüssen in die linke Ecke versuchst du, den Ball mit der rechten Hand zu fassen. Dazu machst du unbewußt beim Sprung eine kleine Körperdrehung, die Zeit kostet. Und dieser Sekundenbruchteil genügt — du greifst daneben. Mit der linken Hand hättest du wahrscheinlich alle drei Tore verhindern können.“ „Ich bin doch kein Anfänger und müßte das auch schon selbst bemerkt haben“, wehrte sich Spinne. „So etwas merkt man selber kaum“, sagte Herr Schmidt. „Dazu ist eben der Trainer da“, fügte er lächernd hinzu.
Bevor Werner etwas erwidern konnte, meldete sich Hans Kudel. „Ich halte Werner für einen der besten Nachwuchstormänner, die wir haben. Mir scheint, daß ihn nur Ihre Anwesenheit am Tor verwirrt hat.“ Herr Schmidt nahm die Sache von der heiteren Seite. „Und nicht die Ihre? Vielleicht hat ihn Ihr gelbes Oberhemd oder der giftgrüne Binder geblendet?“ und bevor Hans Kudel das verdaut hatte, fuhr er fort: „Wir unterhalten uns beim nächsten Training eingehend darüber. Überleg dir die Geschichte einmal bis dahin!“ Er ließ die beiden allein. „So ein aufgeblasener Kerl!“ rief Hans Kudel erbost. „Na, mir kann keiner etwas vormachen, so dumm bin ich nun doch nicht. Ich weiß schon, was der will! Werner Krüger soll noch einmal in die Schule gehen und lernen, wie man Bälle hält! Verstehst du? Ganz klein sollst du werden, dafür werden die Herren schon sorgen. Das heißt — wenn du dir das gefallen läßt!“ „Ha! — Der soll mir erst mal zeigen, daß er es besser kann. Klug reden kann jeder.“ Werner kam sich sehr mutig vor, aber irgendwie mußte er dem Trainer doch recht geben. Dreimal in die gleiche Ecke — da stimmte doch etwas nicht! Als die Mannschaften nach der Pause wieder Aufstellung nahmen, kam der Mittelläufer zu Werner.„Was ist denn heute mit dir los, Spinne? Wenn du nicht besser aufpaßt, verlieren wir noch das Spiel!“ Spinne wurde wütend. „Stell dich doch selber in den Kasten, wenn du’s besser kannst! Besser aufpassen! Laß den Mittelstürmer nicht zum Schuß kommen, dann gibt’s auch keine Tore!“
„Na, na — sei friedlich, alte Spinne! Wir haben uns doch sonst immer ganz gut verstanden. Tun wir beide unser Bestes, dann wird’s schon klappen!“ Schwarz-Gelb wurde durch die drohende Niederlage aufgemuntert, es wurde wieder ernsthaft gespielt. An Ende kam ein 6:4- Erfolg für Schwarz-Gelb heraus. Das war zwar keine Niederlage, aber die vier Gegentore waren ärgerlich und drückten gewaltig auf den Tordurchschnitt, auf den man so stolz gewesen war. Spinne bekam in der Umkleidekabine eine ganze Reihe von Unfreundlichkeiten zu hören. Am Ausgang erwartete ihn Hans Kudel. „Hast du für den Nachmittag etwas vor?“ „Nein — wieso?“ „Ein Kollege von mir fährt mit dem Wagen nach Neustadt. Wenn du Lust hast, könntest du mitkommen.“ Spinne überlegte. Das wäre eine willkommene Abwechslung. Die Erste spielte heute auswärts, da würde er also nichts versäumen. Er sagte zu, ohne zu ahnen, welche Pläne Hans Kudel mit ihm hatte.
Der Ausflug nach Neustadt Der Wagen hielt vor dem Hotel „Kurfürst“. Spinne stieg aus und machte ein Gesicht, als gehöre der Wagen ihm. Leider fehlte das Publikum, das ihn bewundern sollte. Während der Fahrt hatte Werner sich sehr still verhalten. Der Besitzer des Wagens, ein Herr Glumbitz, gefiel ihm nicht. Außerdem hatten sich Hans Kudel und dieser Herr Glumbitz über Dinge unterhalten, von denen Werner keine Ahnung hatte. So konnte er sich an dem Gespräch nicht beteiligen. Im Gastzimmer trafen sie an einer langen Tafel eine bunte Gesellschaft. Fast der gesamte Vorstand des FC hatte sich eingefunden, dazu einige Spieler der Ersten und einige Vereinsanhänger. Glumbitz schien dazu zu gehören, und auch Hans Kudel be- grüßte man wie einen alten Bekannten. Er stellte Werner vor, der keinen der vielen fremden Namen behielt. Nur Herrn Scholz, den Ersten Vorsitzenden des FC, merkte er sich, von dem hatte er schon viel gehört. Werner setzte sich und beschränkte sich auf das Zuhören. Das Gespräch drehte sich natürlich um Fußball und den FC im besonderen. Werner erkannte bald, daß man hier so ziemlich dasselbe erzählte wie im Kasino von Schwarz-Gelb, nur mit anderen Vorzeichen. Wie sich dort alles um SchwarzGelb drehte, ging es hier um den FC. Als der Kreis zu später Stunde kleiner wurde, nahm Werner neben Hans Kudel Platz, der Herrn Scholz gegenübersaß. Auch hier schien Hans Kudel das große Wort zu führen, nur merkte er nicht, daß sich seine Zuhörer ab und zu anlächelten und sich über ihn lustig zu machen schienen. Das war eben doch ein anderes Publikum als das, vor dem er sich sonst produzierte. Bei
passender Gelegenheit brachte Hans Kudel das Gespräch auf Werner. „Herr Scholz, dieser junge Mann ist übrigens die Nachwuchshoffnung von Schwarz-Gelb, erstklassiger Tormann, wird einmal etwas!“ Herr Scholz lächelte. „So, Sie sind also der junge Werner Krüger! Ich kenne Sie vom Hörensagen. Namen von guten Spielern merke ich mir grundsätzlich. Ich habe Sie wohl auch schon einmal hier spielen sehen.“ „Ja, im November. Wir gewannen 5:1.“ „Richtig, ich entsinne mich. Ihr wart eigentlich keine vier Tore besser, aber“ — und er machte lächelnd eine kleine Verbeugung — „der Tormann war ausgezeichnet.“ Hans Kudel ging direkt auf sein Ziel los. „Werner hat Differenzen mit der Vereinsleitung und erwägt einen Vereinswechsel. Er hat schon daran gedacht, nach Neustadt überzusiedeln und sich dem FC anzuschließen.“ Werner staunte. Das war selbst ihm neu. „Warum nicht?“ sagte Herr Scholz. „Sie sind uns selbstverständlich willkommen, wenn Ihr Spielerpaß in Ordnung ist.“ Werner verbeugte sich dankend. Er war noch zu überrascht, um etwas sagen zu können. Das besorgte für ihn Hans Kudel. Leise wandte er sich an Spinne: „Das war doch was für dich, die suchen einen Tormann für die Erste!“ „Ich kann doch nicht dauernd hin und her fahren.“ „Dann ziehst du einfach nach Neustadt. Du wirst doch nicht ewig an Mutters Schürzenzipfel hängen wollen.“ „Gut gesagt! Und Arbeit und Wohnung?“ Auch das mußte Hans Kudel gleich klären. „Entschuldigen Sie bitte noch einmal, Herr Scholz, mein Freund hat noch eine Frage. Wenn er sich dem FC
anschließt, gibt es dann für ihn hier Arbeits- und Wohnmöglichkeiten?“ „Was sind Sie denn?“ wandte sich Herr Scholz an Werner. „Möbeltischler? Da finden Sie hier jederzeit Arbeit, und ein Zimmer wird sich für Sie wohl auch beschaffen lassen.“ Spinne ahnte nicht, daß diese Antwort durchaus allgemein und unverbindlich war. Er faßte sie so auf, daß man einem so bekannten Spieler wie ihm von vereinswegen alle Wege ebnen würde. Er meinte auch, die Vereinsleitung würde sich um alles kümmern, sobald er sein Kommen meldete. Die Tafelrunde wurde immer kleiner. Am Schluß schienen nur die ganz Trinkfesten sitzengeblieben zu sein. Werner wurde großzügig zum allgemeinen Gast erklärt und hielt wacker mit. Als er gerade noch fähig war, das zu begreifen, was gesprochen wurde, hörte er Herrn Scholz sagen: „Sind Sie am zweiten Ostertag spielfrei?“ Spinne nickte zustimmend. „Mir fällt da gerade ein, daß unsere Ersten Junioren auswärts ein Gesellschaftsspiel verabredet haben. Das wäre doch eine gute Gelegenheit, Sie einmal für uns spielen zu lassen. Natürlich für beide Teile ganz unverbindlich.“ Werner erkundigte sich nach näheren Einzelheiten und sagte zu. Und dann ging sein Bewußtsein langsam in Alkohol unter. „Sagen Sie, Herr Kudel“, fragte Herr Scholz leise, „was will der junge Mann eigentlich?“ „Er möchte gern in der Ersten spielen.“ „Haben Sie ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt?“ „Nein, nein, ich denke nicht daran, dazu ist er ja noch viel zu unerfahren.“
„Das meine ich auch. Vielleicht später einmal, vorläufig ist das ganz ausgeschlossen. Reden Sie ihm das bitte aus, damit er sich keine falschen Hoffnungen macht und nicht unüberlegte Entschlüsse faßt!“ Am nächsten Morgen fand Werner sich am Straßenrand auf einer Anhöhe unweit seiner Heimatstadt. Ihm war sterbenselend zumute, und sein Kopf schmerzte entsetzlich. Lange Zeit überlegte er angestrengt, wie er wohl hierhergekommen sei. Allmählich fing es in ihm und um ihn an zu dämmern. In Neustadt war er gewesen, mit Hans Kudel und diesem merkwürdigen Herrn — na, wie hieß er denn noch? — war ja auch egal. Hin waren sie im Wagen dieses Herrn mit dem komischen Namen gefahren, zurück sicher auch, aber davon wußte Werner gar nichts mehr. Oder doch? Er entsann sich dunkel, daß er auf der Rückfahrt einmal aus seinem Alkoholschlaf erwacht war und gebeten hatte, anzuhalten. Die Luft im Wagen schien ihm unerträglich, er wollte raus. Und wie ging es weiter? Richtig, als er draußen war, hörte er hinter sich ein höhnisches Gelächter, und bevor er sich noch umdrehen konnte, war der Wagen ohne ihn abgefahren. Er hatte eine Weile laut hinter den beiden hergeschimpft und sich dann, weil er so schrecklich müde war, hingesetzt. Dann war er wohl eingeschlafen. Der Heimweg war sehr anstrengend, die Straßen waren heute alle viel länger als sonst. Je mehr Werner sich seiner Behausung näherte, desto unbehaglicher wurde ihm zumute. Er hatte einen ausgewachsenen Kater und einen moralischen Katzenjammer. Was wohl die Mutter sagen würde? Vielleicht schlief sie so fest, daß sie ihn nicht kommen hörte. Aber Mütter haben einen so merkwürdig leisen Schlaf, sie hören alles. Sie würde ihn sicher an den Vater erinnern, der ein geschworener
Feind des Alkohols gewesen war. Der Gedanke an den Vater drückte den zerknirschten Spinne noch tiefer. „Ein Sportsmann, der trinkt, ist kein Sportsmann!“ sagte er vor sich hin. Bisher hatte er alles vermieden, was unsportlich war, und er war darauf immer sehr stolz gewesen. „Nie wieder Alkohol, nie wieder!“ Mit diesem guten Vorsatz langte er zu Hause an. Die Mutter war schon aufgestanden; es war auch für sie Zeit, zur Arbeit zu gehen. Sie sah ihren Sprößling nur vorwurfsvoll an und sagte gar nichts, und das traf Spinne viel schwerer als eine tüchtige Standpauke. Er zog sich aus und stellte sich in die Badewanne. Die kalte Brause warf ihn zuerst fast um, dann aber fühlte er sich doch erfrischt und wesentlich munterer. Als er seine Arbeitskleidung angezogen hatte, wartete ein besonders guter Kaffee auf ihn. Werner freute sich wieder einmal, wie gut seine Mutter zu ihm war, und er hatte es doch heute bestimmt nicht verdient. Heute abend würde er fleißig Holz sägen und hacken, damit die Mutter wieder genügend Vorrat hatte. Damit hatte er in den letzten Wochen reichlich gebummelt. Die Fahrt auf dem Rade durch die kühle Morgenluft zur Ganglerschen Möbelfabrik nahm ihm den Rest der Müdigkeit, und er stürzte sich mit wahrem Feuereifer auf die Arbeit. Am Abend zog es ihn nicht zum Bürgerbräu, Hans Kudel konnte ihm gestohlen bleiben. Er begegnete ihm aber auf dem Heimwege und stellte ihn sogleich zur Rede. „Was habt ihr denn heute nacht mit mir vorgehabt? Warum habt ihr mich da oben sitzen lassen?“ „Sitzen lassen? Aber erlaube mal! Du wolltest ja nicht mehr mitfahren!“
„Ich? Ihr seid doch einfach davongefahren, als ich ausgestiegen war! Ich habe euch doch noch lachen hören!“ „Das hast du wohl geträumt? Du hattest ja einen schönen sitzen, das weißt du wohl noch? Erst hatten wir unsere liebe Not, dich in Neustadt in den Wagen zu bringen, und dann hast du, als wir fast zu Hause waren, immer getobt: Ich will raus! daß wir schließ- lieh deinetwegen halten mußten. Aber daran erinnerst du dich sicher nicht mehr. Du warst ja nicht klar bei Verstand, aber für mich war die Sache doch recht peinlich. Schließlich war Herr Glumbitz so freundlich gewesen, uns mitzunehmen, und zum Dank dafür hast du uns dann so schrecklich blamiert. Ja, und dann wolltest du nicht wieder einsteigen. Fast eine halbe Stunde haben wir dir zugeredet, aber du wolltest nicht, und da blieb uns wirklich nichts anderes übrig, als ohne dich abzufahren. Sonst würden wir vielleicht jetzt noch da oben stehen!“ Werner hatte ruhig zugehört. Er fühlte sehr deutlich, daß der andere log. So war es nicht gewesen, man hatte ihn regelrecht versetzt. Aber er regte sich nicht auf, das Kapitel Kudel hatte er bereits abgeschlossen. Er fragte nur ruhig: „Und das soll ich dir glauben?“ „Na höre mal! Habe ich dich schon einmal beschwindelt?“ „Das weiß ich nicht — aber diesmal bestimmt!“ Hans Kudel versuchte, die Situation durch einen Scherz zu retten. „Der kleine Junge ist noch müde, es fehlt ihm an Praxis im Saufen! Schlaf dich erst mal aus, dann reden wir weiter!“ „Ausschlafen schon, aber weiterreden nicht! Mit dir bin ich fertig, mit mir kannst du solche Scherze nur einmal machen!“
Damit ließ er Kudel stehen, der zum ersten Male sprachlos war. Das Spiel am zweiten Ostertag schien buchstäblich ins Wasser zu fallen. Seit Karfreitag hatte es mit nur kurzen Unterbrechungen geregnet, und es sah keinesfalls so aus, als würde sich das Wetter bessern. Jeder vernünftige Mensch hätte auf einen Ausflug oder nur einen Spaziergang verzichtet. In dieser Hinsicht rechnen aber die Anhänger des Fußballsports — Aktive und Passive — nicht zu den vernünftigen Menschen. Wenn die Sonne aufhört zu scheinen und es Mauersteine regnet — der richtige Fußballer ist doch zur angesetzten Zeit da. Neben dem eingefleischten Pflichtbewußtsein treibt ihn eine leise Hoffnung, die Sonne könnte im letzten Augenblick doch noch herauskommen, oder es würde wenigstens beim Spielanpfiff nicht mehr regnen. Werner fuhr mißgelaunt durch den trüben Tag nach Neustadt. Er hatte lange überlegt, ob er nicht zu Hause bleiben sollte. Die ganze Sache, die ihm Hans Kudel, der falsche Freund, da eingebrockt hatte, gefiel ihm nicht mehr, er sah die Dinge jetzt doch ganz anders. Aber er hatte zugesagt, und da gab es für ihn als Sportsmann keine andere Lösung: er mußte fahren. In Neustadt traf er am Bahnhof die Ersten Junioren des FC, lauter fremde Gesichter. Es machte auch keiner besondere Anstalten, den gefeierten Tormann Spinne zu begrüßen. Nur der Jugendleiter, der neulich im Hotel „Kurfürst“ dabeigewesen war, nickte ihm zu. In einem Omnibus ging es weiter. Unterwegs erfuhr Werner, daß außer ihm noch ein paar Neulinge spielen würden, außerdem waren einige Stammspieler durch Spieler aus unteren Mannschaften ersetzt. Das konnte ja nett werden! Durch diese Mitteilungen wurde Werners Stimmung nicht gehoben.
Das Umkleidelokal war kalt und ungemütlich, es zog aus allen Ecken. Dann mußte man im Nieselregen weit bis zum Platz laufen, und sie waren alle schon durchnäßt, bevor sie ankamen. Die ganze Expedition stand von Anfang an unter negativen Vorzeichen. Die Mannschaft des FC war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, außer Werner wußte anscheinend keiner, was er eigentlich spielen sollte. Es dauerte eine ganze Weile, bis man sich über die Aufstellung einig werden konnte, Verteidiger waren überhaupt nicht da, alles wollte im Sturm spielen. Als der Unparteiische ungeduldig wurde, wies der Jugendleiter jedem einfach einen Platz zu. Es kam, wie es kommen mußte. Die beiden Spieler, denen man die Rolle der Verteidiger zugeteilt hatte, liefen hilflos hin und her, versperrten Werner die Sicht und waren sich gegenseitig im Wege. Bis der Jugendleiter, der aufgeregt hinter dem Tor stand, begriffen hatte, daß er unbedingt einen Austausch vornehmen müßte, hatte Spinne den Ball schon dreimal zur Mitte gegeben. Zwei Läufer wurden zurückbeordert, und dann ging es hinten etwas besser, während es vorn noch weniger als zuvor klappte. Spinne hielt, was zu halten war, am Halbzeitstand von 5:0 konnte er aber nichts ändern. Die Spieler waren so ausgepumpt und gleichzeitig so erbittert, daß während der Pause kaum gesprochen wurde. Man suchte in einem kleinen Schuppen Schutz vor dem kalten Wind und ging dann wieder ohne jede Hoffnung auf den Platz. Der Jugendleiter hatte nun die beiden befähigsten Spieler in die Verteidigung zurückgenommen, und die ganze Mannschaft beschränkte sich in der zweiten Hälfte auf die Verteidigung, um eine Katastrophe zu verhindern. Einer der wenigen Vorstöße führte sogar durch einen Handelfmeter zum Ehrentor.
Werner kochte vor Wut. Er sprang in seinem Tor umher wie ein Löwe im Käfig, er hielt die unglaublichsten Schüsse, konnte aber doch nicht verhindern, daß weitere Tore fielen. Seit Werner gesehen hatte, daß sich Herr Scholz unter den wenigen Zuschauern befand, gab er sich besondere Mühe, um einmal zu zeigen, was er konnte. Am Ende hieß es 9:1, kein Ruhmesblatt für den FC. Spinne ging in das Umkleidelokal zurück in dem Bewußtsein, bewiesen zu haben, was ein guter Torwart kann. Bei der drückenden Überlegenheit des Gegners hätte es mit einem Durchschnittstormann leicht 20:0 heißen können. Um so mehr war Werner überrascht, als beim Umkleiden fast die ganze Mannschaft über ihn herfiel. Das hatte er nicht erwartet. „Das ist nun der große Torwart Krüger — neun Tore!“ „Mit unserem alten Tormann wäre uns das nicht passiert! Als wenn wir fremde Leute nach Neustadt importieren müßten! Neun Bälle hätte meine Großmutter auch durchgelassen!“ „Manche hätte mein kleiner Bruder mit der Pudelmütze gehalten!“ Spinne war zunächst sprachlos, dann setzte er sich zur Wehr. „Das soll nun eure Erste Juniorenmannschaft sein? Da spielt bei uns die sechste Schülermannschaft besser! Keine Ahnung vom Zusammenspiel, keine Technik, keine Ballbehandlung — ihr müßt aber noch viel lernen!“ „Aber nicht von dir!“ „Hast du schon mal im Tor gestanden?“ „Nee, aber ich mache auch nicht so viel Reklame mit mir wie du. Wenn du dich mal mit dem Vorstand im ,Kurfürst’ hast volllaufen lassen, bist du noch lange kein Klassetorwart.“
„Neun zu eins! Das ist uns noch nie passiert!“ sagte seufzend ein anderer. „Doch“, höhnte Spinne, „ich war sogar dabei. Damals war eure Mannschaft aber besser als heute!“ So ging es eine ganze Weile hin und her. Während der Rückfahrt wurde Werner von allen geschnitten. Er hätte gern mit Herrn Scholz über das Spiel gesprochen, aber der war gleich nach dem Abpfiff davongefahren, ohne sich um die Mannschaft zu kümmern. Der Abschied in Neustadt war mehr als kühl. Werners Start beim FC hatte unter keinem guten Stern gestanden.
Leb wohl, Schwarz-Gelb! Am nächsten Sonntag war Werner nach dem Spiel beim Umkleiden, als Herr Kullmann in die Kabine kam. „Werner, du sollst gleich mal ins Vorstandszimmer kommen.“ „Was ist denn los? Ich habe heute gar keine Zeit!“ „Keine Ahnung, wirst schon hören.“ „Na, schön, ich komme gleich!“ Das Vorstandszimmer hatte Werner nur betreten, wenn es leer war. Sonst war es für ihn und alle anderen ein verschlossenes Heiligtum. Zaghaft klopfte er an. Mit einer verkrampften Verbeugung schloß er die Tür hinter sich. Da sah er sich allein den Gewaltigen des SC SchwarzGelb gegenüber, an ihrer Spitze Herrn Gangler, der zugleich sein Arbeitgeber war. Die Begrüßung war äußerst kühl. „Bitte nehmen Sie dort unten Platz, Herr Krüger!“ Werner setzte sich auf die Stuhlkante. Dann begann Herr Gangler: „Herr Krüger, wir haben Sie aus einem Anlaß hergerufen, der für Sie und uns recht unangenehm ist. Sie werden wissen, was ich meine. Nicht? So! Dann muß ich wohl Ihr Gedächtnis etwas auffrischen. Zunächst möchte ich etwas fragen: wie lange gehören Sie unserem Verein an?“ „Acht Jahre.“ „Also acht Jahre waren Sie ein treues und eifriges Mitglied unseres Vereins. Sie haben lange Zeit unser besonderes Vertrauen genossen und sich auch um den Verein einige Verdienste erworben, die wir nicht vergessen haben. Um so mehr hat es uns gewundert, daß Sie seit einiger Zeit Wege gehen, die uns gleichgültig sein könnten, wenn sie nicht Ruf und Ansehen unseres
Vereins schädigten. Ihr ungebührliches Verhalten gegen unseren neuen Trainer hat uns wenig gefallen. Aber Sie haben sich deswegen bei Herrn Schmidt entschuldigt, und er hat uns gebeten, von Weiterem abzusehen. Damit ist die Sache erledigt, wenn sie auch nicht vergessen ist.“ Herr Gangler machte eine Pause, als wollte er sich sammeln. Werner sah vor sich hin und überlegte, was nun kommen würde. Warum wurde diese alte Geschichte eigentlich wieder aufgewärmt? Die Stimme von Herrn Gangler enthob ihn weiterer Gedanken. „Man hätte nach diesem unliebsamen Vorfall annehmen sollen, daß Sie wieder der Alte werden würden, der zuverlässige und sympathische Spieler Spinne. Statt dessen leisten Sie sich einen neuen Streich, den wir nicht ohne weiteres durchgehen lassen können. Sie werden kaum abstreiten können, daß Sie Verbindung mit dem FC Neustadt aufgenommen und auch schon für diesen Verein gespielt haben. Stimmt’s?“ „Es war aber nur ein Gesellschaftsspiel!“ „Nur? Worin liegt denn da der Unterschied? Uns genügt es jedenfalls. Wir üben auf unsere Mitglieder gewiß keinen Zwang aus, wem es bei uns nicht gefällt, der mag gehen. Wir lassen jeden, aber auch jeden mit guten Wünschen ziehen. Wir haben kürzlich einen Brief — ohne Unterschrift — erhalten, in dem uns mitgeteilt wurde, daß Sie mit dem FC Neustadt wegen eines Vereinswechsels verhandelten. Das ist Ihr gutes Recht, und der Brief ist da gelandet, wohin er gehörte: im Papierkorb. Nun wollte es aber das Pech — besser gesagt: Ihr Pech, daß man Sie bei diesem Gesellschaftsspiel gesehen hat und uns Meldung machte. Dazu müssen wir natürlich Stellung nehmen, und zwar in ganz eindeutiger Form. Haben Sie irgend etwas zu sagen, was Ihr Verhalten rechtfertigt oder entschuldigt?“
Werner dachte angestrengt nach. Diese Entwicklung hatte er nicht vorausgesehen. Es war ja auch mit dem FC noch nichts Endgültiges abgesprochen, er brauchte nicht nach Neustadt zu gehen. „Ich hatte in der letzten Zeit das Gefühl, daß man mich hier nicht mehr gern sieht und daß man mich nicht weiterkommen lassen will.“ „Ob man Sie gern hat oder nicht, hängt allein von Ihrem Verhalten ab. Sie haben doch wohl gerade in dieser Hinsicht unsere Großzügigkeit kennengelernt. Und was meinen Sie mit weiterkommen? Sie sind, wenn ich mich nicht irre, gerade 18 Jahre alt geworden und spielen bei uns in der Ersten Junioren-Mannschaft. Was wollen Sie noch mehr?“ „Ich möchte gern in der Ersten spielen!“ Diese Mitteilung wurde mit Heiterkeit aufgenommen. Schöpp, der Vorsitzende des Spielausschusses, fragte: „Glauben Sie, daß Sie dazu die nötigen Fähigkeiten besitzen?“ „Warum nicht?“ „Nun, ich habe Sie wiederholt spielen sehen, da mich der Nachwuchs natürlich besonders interessiert. Gute Anlagen haben Sie, das will ich gern zugeben, aber Sie müssen doch noch manches dazulernen. Für die Erste brauchen wir fertige Leute, zum Lernen ist dann keine Zeit mehr.“ „Das ist die sportliche Seite, lieber Herr Krüger“, schaltete sich Herr Gangler wieder ein. „Ebenso wichtig ist die andere, die charakterliche. Gerade mit dem, was Sie sich jetzt geleistet haben, beweisen Sie nur, daß Sie auch in dieser Hinsicht noch nicht genug gefestigt sind. Und glauben Sie etwa, daß man Sie in Neustadt ins Tor der Ersten stellt?“ „Ich denke doch!“
„Dann kann ich Ihnen nur einen Rat geben: Gehen Sie nach Neustadt! Und was uns betrifft: wir haben immer Wert auf ganz klare Verhältnisse gelegt. Mitglieder, die zwischen uns und einem anderen Verein schwanken, haben sich — von uns aus gesehen — schon für den anderen Verein entschieden. Also auch Sie!“ Herr Gangler machte eine kurze Pause und sagte dann sehr betont und deutlich: „Ich habe Ihnen namens des Vorstandes mitzuteilen, daß wir Sie ab sofort nicht mehr als Mitglied unseres Vereins betrachten. Ihre Mitgliedskarte geben Sie bitte sofort zurück. Es tut mir aufrichtig leid, daß wir durch Ihr Verhalten zu dieser Entscheidung gezwungen wurden. Sie sind für mich aus mancherlei Gründen der Typ des jungen Sportsmannes gewesen, auf den die Vereine ihre Zukunft bauen. Sehr schade, daß sich unsere Wege nun trennen. Wir wünschen Ihnen aufrichtig alles Gute und Erfolge als Sportsmann!“ Werner war aufgestanden und nahm diese Erklärung wie ein Todesurteil entgegen. Umständlich suchte er seine Mitgliedskarte hervor und legte sie auf den Tisch. Was sollte er tun? Sollte er sagen: Meine Herren, ich bin doch eigentlich noch ein dummer Junge, und mir fehlt so sehr der Vater, der mich lenken und leiten kann. Üben Sie Gnade und lassen Sie mich weiter in Schwarz-Gelb, in meinem Verein bleiben. Ich will gar nicht nach Neustadt, ich möchte so gern hierbleiben. — Aber Spinne brachte kein Wort hervor. Er machte nur eine linkische Verbeugung und stand dann blaß und mit traurigem Gesicht vor der Tür. Was nun? Ohne lange zu überlegen, ging Werner zu Herrn Kullmann. Der stand ihm trotz allem immer noch am nächsten. Werner setzte sich im Geräteraum in eine Ecke und wartete, bis der Platzwart kam.
„Was ist denn mit dir los?“ „Rausgeschmissen!“ „Was? Wie ist denn das möglich?“ „Ach, ich habe zu Ostern mal beim FC mitgespielt, und deswegen haben sie mich eben rausgeschmissen.“ „Du hast beim FC gespielt? Ja, bist du denn wahnsinnig?“ Herr Kullmann stand ratlos vor Werner. Das konnte er nicht fassen. Da geht einer von Schwarz-Gelb — und ausgerechnet auch noch sein Schützling Spinne — zum FC und macht ein Spiel mit! So etwas war doch noch nicht dagewesen! Da werden die beim FC schön gelacht haben! „Du scheinst ja völlig übergeschnappt zu sein! Wer hat dir denn diesen Floh ins Ohr gesetzt? Das war wohl dein neuer Freund?“ Spinne nickte nur. „Hab ich mir gedacht! Solchen Unsinn kann auch bloß der aushecken. Und du fällst natürlich prompt darauf herein.“ „Es war doch bloß ein Gesellschaftsspiel. Deswegen brauchen sie mich doch nicht gleich rauszuschmeißen!“ „Ja, soll man dir dafür vielleicht die goldene Ehrennadel überreichen? Das hast du dir selber zuzuschreiben!“ Erregt ging Herr Kullmann auf und ab. Es war ein Kreuz mit dem Jungen! Leider hatte er keinen Einfluß mehr auf ihn, sonst wäre es gar nicht so weit gekommen. Eine harte Strafe für einen so jungen Menschen, aber es ging wohl nicht anders, das konnte man nicht durchgehen lassen. Zu retten war da wohl auch nichts mehr. Spinne tat ihm leid, aber er konnte ihm nicht helfen. „Ja, mein Junge, das ist eine schlimme Sache. Du hast kaum richtig laufen können, da hast du
gewissermaßen schon zu Schwarz-Gelb gehört. Bei dir dreht sich doch alles, genau wie bei mir, um den runden Lederball. Und nun gehörst du plötzlich nicht mehr zu uns, ziehst den schwarz-gelben Dreß nicht mehr an — sehr schade, mein Junge!“ Werner ging jetzt allmählich auf, was er durch seine eigene Dummheit verloren hatte. Da ging eine ganze Welt in Trümmer. Werner Krüger, der Torwart der Ersten Junioren, ist vom Vorstand ausgeschlossen — das mußte in der Stadt wie eine Sensation wirken. Gab es denn gar keinen Ausweg mehr? „Herr Kullmann, können Sie — — wäre es nicht möglich — ich meine, Herr Gangler gibt doch viel auf Ihre Meinung — können Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen? Ich möchte so gern bei Schwarz-Gelb bleiben!“ Herr Kullmann schüttelte den Kopf. „Es ist für mich ein harter Schlag, daß ausgerechnet du so von uns gehen mußt, aber Recht muß Recht bleiben. Ich würde schon gern etwas für dich tun, auch wenn du mir in letzter Zeit kaum Veranlassung dazu gegeben hast. Aber wenn der Vorstand einmal zu dieser Entscheidung gekommen ist, kann nicht gut der Platzwart kommen und sagen: Meine Herren, so geht das nicht, Werner Krüger bleibt natürlich bei uns! Die würden mir was Schönes erzählen! Nein, Junge, da ist nichts mehr zu machen!“ Werner nickte schicksalergeben. „Na, dann nicht! Dann leb wohl, Schwarz-Gelb!“ Seine Stimme klang merkwürdig gepreßt, und er schluckte heftig. Herr Kullmann streckte ihm die Hand hin. „Mach’s gut, Junge! Nimm die Sache nicht zu tragisch und laß dich ruhig mal wieder bei mir sehen. Wir wollen trotzdem gute Freunde bleiben.“
Sie hatten beide Tränen in den Augen, und es war gut, daß Werner sich plötzlich umwandte und ging. So konnte Herr Kullmann nicht sehen, daß dem Jungen ein paar dicke Tränen über das Gesicht rollten. Auf dem Heimweg kam ihm der Gedanke, daß es eigentlich nur eine Lösung gebe. Er wollte sich seine Niederlage nicht in ihrem ganzen Umfang eingestehen und versuchte sich einzureden, daß diese gewaltsame Lösung von seinem alten Verein vielleicht ganz gut sei. Er würde nach Neustadt fahren „und Nägel mit Koppen machen“! Der FC hatte heute gegen Oberland zu spielen, da würde er Herrn Scholz sicher auf dem Platz treffen. Es war nicht ganz einfach, an Herrn Scholz heranzukommen. Der Erste Vorsitzende eines so großen Vereins hatte an Spieltagen ganz andere Sorgen, als sich mit einem jungen Mann wie Spinne zu unterhalten. Es war schon ziemlich spät, als Werner ihn sprechen konnte. „Na, junger Mann? Ich habe nicht viel Zeit! Was haben Sie denn auf dem Herzen?“ „Herr Scholz, wir sprachen neulich abends über einen Vereins- Wechsel. Ich habe jetzt meine Verbindung zu Schwarz-Gelb gelöst und möchte dem FC unter gewissen Voraussetzungen beitreten.“ „So — unter gewissen Voraussetzungen! Das wäre?“ „Nun, ich würde gern nach Neustadt übersiedeln. Sie hatten damals ja gesagt, daß mir der Verein wegen der Arbeitsstelle und der Wohnung helfen würde.“ „Lieber Freund, wir sind weder eine Filiale des Arbeitsamtes noch haben wir ein Vermittlungsbüro. Da müßten Sie schon selber zusehen. Außerdem wüßte ich im Augenblick gar nicht, für welche Mannschaft ich Sie vorsehen sollte.“ Werner tat sehr erstaunt.
„Soviel ich verstanden habe, war damals von der Ersten die Rede!“ Herr Scholz lachte. „Da müssen wir uns aber sehr mißverstanden haben. Ich hatte Herrn Kudel auch sofort gebeten, Ihnen darüber klaren Wein einzuschenken. Neulich haben Sie beim Spiel der Ersten Junioren neunmal den Ball aus dem Netz holen müssen, das ist doch wohl keine besondere Empfehlung für Sie!“ Jetzt fühlte sich Spinne in seiner Ehre gekränkt. „Ich habe doch wohl gehalten, was zu halten war! Mit einer so schlechten Mannschaft konnte man das Spiel doch unmöglich gewinnen!“ „Herr ... wie war doch Ihr Name? Richtig! Herr Krüger, Sie sprechen von einer Mannschaft des Vereins, dem Sie beitreten wollen. Das ist wieder keine Empfehlung für Sie! Übrigens — was hat Sie eigentlich veranlaßt, sich von Schwarz-Gelb zu trennen?“ „Es gefiel mir dort nicht mehr, und ich hatte einige Differenzen.“ „Einige? Eine davon kenne ich. Ich habe nämlich heute mittag mit Herrn Gangler telefoniert, der mir Ihretwegen Vorwürfe machen wollte. Völlig unberechtigte Vorwürfe! Wenn Sie bei uns als Gast spielen, muß ich natürlich voraussetzen, daß Sie dazu vorher die Zustimmung Ihrer Vereinsleitung eingeholt haben.“ Er machte eine kurze Pause, und da Spinne nichts zu sagen wußte, führ er fort: „Sie werden zugeben müssen, daß das alles keine guten Voraussetzungen sind, Ihre Aufnahme zu empfehlen. Allerdings entscheide ich nicht allein darüber, sondern der Gesamtvorstand. Legen Sie eigentlich immer noch Wert darauf, in den FC einzu-treten?“ „Nein, danke!“ Spinne machte ohne Gruß kehrt.
Freunde in der Not Erwin Kunz trat in die Kabine, in der sich die Ersten Junioren umzogen. Er grüßte kurz, suchte sich einen Platz und stellte seinen Koffer auf die Bank. „Was willst du denn hier?“ fragte Herbert, der Mittelstürmer. „Spielen“, war die kurze Antwort. „Seit wann spielen wir denn mit zwölf Mann? Hier, zähle einmal: Zehn Mann sind hier. Fehlt bloß noch Spinne.“ „Das eben ist des Pudels Kern, lieber Freund. Spinne fehlt, wie du richtig sagst.“ „Bist du hergekommen, um das festzustellen? Das haben wir auch schon ohne dich gemerkt“, mischte sich Erich, der linke Läufer, ein. „Was ist denn nun eigentlich los?“ fragte Horst Sturm, der Kapitän der Mannschaft. „Gar nichts. Ich soll bei euch spielen“, sagte Erwin Kunz. „Hier ist meine Benachrichtigungskarte.“ Horst schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht, wir sind doch komplett, wenn Spinne kommt.“ „Spinne kommt nicht“, sagte Erwin. „Ich habe eben den alten Kullmann getroffen, der hat mir gesagt, daß ich für Spinne im Tor stehen soll.“ „Was ist denn mit Spinne los?“ Bevor es eine Antwort auf diese Frage gab, öffnete sich die Tür, und der Jugendleiter trat ein. „Guten Morgen!“ „Guten Morgen, Herr Huber!“ dankte Horst. „Stimmt das, was Erwin sagt: Spinne kommt nicht?“ „Ja, das ist richtig. Für ihn ist Erwin aufgestellt. Nach dem Spiel werde ich euch die Sache erklären. Ist die
Mannschaft komplett? Gut! Beeilt euch, ihr müßt in fünf Minuten auf den Platz.“ Damit ging Herr Huber. Während sich die Spieler fertigmachten, unterhielten sie sich über den Fall. Was mochte mit Spinne sein? „Vielleicht ist er Krank’.“ „Oder verreist.“ „Nein, ich habe ihn gestern gesehen.“ „Hast du ihn gesprochen?“ „Nein, er schien es sehr eilig zu haben.“ „Merkwürdig!“ „Na, wir werden ja nachher hören, was los ist“, meinte Horst. „Kommt jetzt, es ist Zeit.“ Das Spiel der Schwarz-Gelben wollte nicht klappen, sie spielten alles andere als meisterlich. Erwin Kunz im Tor war nicht schlecht, aber er war ein Fremder in der Mannschaft. Spinne hatte sich durch kurze Zurufe immer am Spiel beteiligt und so seinen Kameraden manchen guten Rat gegeben. Erwin erledigte brav sein Pensum, aber es fehlte der Zusammenhalt, den Spinne der Mannschaft gegeben hatte. Jetzt, als er nicht da war, merkten die anderen erst, wie wichtig er für das Ganze gewesen war. Das Schlußresultat lautete 2:2, es war nach dem unbefriedigenden Spielverlauf noch schmeichelhaft für Schwarz-Gelb. Als sich die Spieler wieder umgezogen hatten, gingen sie ins Kasino, wo Herr Huber auf sie wartete. „Na, da seid ihr ja! Sind alle da? Gut, setzt euch und hört einmal zu.“ Als Ruhe eingetreten war, begann Herr Huber: „Euer Freund Spinne hat eine große Dummheit gemacht. Er hatte anscheinend die Absicht, zum FC Neustadt überzuwechseln und hat bereits einmal für diesen Verein gespielt. Dem Vorstand, der davon hörte,
blieb weiter nichts übrig, als Spinne aus dem Verein auszuschließen.“ „Was, Spinne ist rausgeschmissen worden?“ rief Otto Scholz, der linke Verteidiger. „Das ist doch ganz unmöglich!“ „War die Sache denn so schlimm, das man ihn gleich ausschließen mußte?“ fragte Horst Sturm. „Eine Verwarnung hätte doch wohl genügt.“ „Nein“, gab Herr Huber zur Antwort, „da stehe ich ganz auf der Seite des Vorstandes. Wer für einen anderen Verein spielt, gehört nicht mehr zu uns.“ „Ausgerechnet der FC!“ sagte Otto. „So ein dummer Kerl, unsere Spinne! Wenn ich das vorher gewußt hätte, wäre bestimmt nichts daraus geworden. Auf mich hat er immer gehört.“ „Ganz so einfach wäre das wohl nicht gewesen“, meinte Horst. „Spinne hat immer seinen eigenen Kopf durchgesetzt, und es war oft gar nicht leicht, mit ihm auszukommen.“ Nun nahm Herr Huber wieder das Wort. „Da war ja auch vor kurzem die Sache mit Herrn Schmidt. Das hat der Vorstand noch durchgehen lassen. Aber die neue Geschichte hat doch dem Faß den Boden ausgeschlagen. Hier hat Werner Krüger charakterlich versagt.“ Im Augenblick hatte Herr Huber die ganze Mannschaft gegen sich. Gewiß, Spinne war manchmal etwas schwierig zu behandeln, aber ein guter Kamerad war er trotzdem gewesen. „Das stimmt nicht, Herr Huber! Spinne ist ein feiner Kerl und ein anständiger Sportsmann!“ rief Otto. „Ich habe mit ihm schon in der Schülermannschaft gespielt und kenne ihn ziemlich gut. Wir haben damals beide zusammen bei Schwarz-Gelb angefangen. Es war nicht immer ganz leicht mit ihm, aber er war aufrichtig und
verträglich, und wenn er im Spiel hinter mir stand, wußten wir alle, das wir uns auf ihn verlassen konnten.“ „Ohne Spinne wären wir nie Meister geworden“, sagte Horst. „Einen so guten Torwart bekommen wir nicht wieder. Sei nicht böse, Erwin, aber das wirst auch du zugeben müssen.“ Erwin schien durchaus nicht gekränkt und nickte zustimmend. Jetzt meldete sich der rechte Verteidiger, Albert Graetz. Er hatte bisher nur zugehört, weil er nicht gern sprach. Er war ein guter Spieler, dem man eine große Zukunft voraussagte, aber ein Redner war er nicht. Er war zwar immer gern mit seinen Kameraden zusammen, aber man hörte ihn kaum. „Ohne Spinne geht’s überhaupt nicht! Was sich der Vorstand so denkt! Da mache ich nicht mit!“ „Und was willst du tun?“ fragte Herr Huber. „Wir wollen unsere Spinne wiederhaben“, sagte Albert treuherzig. „Sonst spiele ich nicht mehr.“ „Und ich auch nicht!“ rief Herbert. Herr Huber sah die beiden ruhig an. „Das wäre einmal taktisch falsch und zum anderen unkameradschaftlich. Dadurch, daß ihr nicht mehr spielt, holt ihr Krüger nicht zurück, und ihr schadet auch euren Kameraden, die dann außer Spinne noch auf zwei andere gute Spieler verzichten müssen.“ „Ja, was sollen wir denn machen?“ fragte Herbert. „Gar nichts!“ antwortete Herr Huber. „An der Tatsache ist nichts mehr zu ändern, und ihr müßt euch damit abfinden. Ihr wißt, daß Erwin Kunz kein schlechter Torwart ist, er wird Spinne allmählich ersetzen.“ „Niemals!“ rief Herbert. „Nichts gegen Erwin, aber jetzt sind unsere ganzen Pläne über den Haufen geworfen.“ „Welche Pläne?“ wollte Herr Huber wissen.
„Ach, wir hatten so bestimmte Gedanken, ich möchte jetzt aber nicht darüber reden.“ „Viel Vertrauen scheint ihr zu eurem Jugendleiter nicht zu haben“, meinte Herr Huber enttäuscht. „Ich darf Ihnen als Kapitän der Mannschaft für alle antworten“, meldete sich Horst Sturm. „Was wir uns vorgenommen haben, soll vorläufig unter uns bleiben, und wenn wir Ihnen das jetzt nicht sagen, ist das kein Beweis mangelnden Vertrauens. Aber — lassen Sie mich das offen aussprechen — wir sind von Ihnen enttäuscht. Fünf Minuten vor Spielbeginn hörten wir, daß Spinne nicht mehr zu uns gehört, ohne daß uns die Gründe dafür genannt wurden. Das haben Sie sich für jetzt aufgehoben, Sie hatten wohl angenommen, daß wir meutern würden, wenn wir die Zusammenhänge vorher gekannt hätten. Lassen Sie mich bitte ausreden!“ fuhr er fort, als Herr Huber ihn unterbrechen wollte. „Was Albert und Herbert eben sagten, ist nicht wörtlich zu neh- men. Es ist selbstverständlich, daß keiner von uns SchwarzGelb im Stich läßt, wenn Spinne nicht mehr spielt. Haben Sie daran gezweifelt?“ Herr Huber hatte mit wachsendem Staunen zugehört. Horst hatte nicht so unrecht, denn Herr Huber hatte wirklich Komplikationen befürchtet, wenn die Mannschaft vor dem Spiel genau unterrichtet worden wäre. Darum hatte er sich die Mitteilung bis nach Spielschluß aufgespart. Daß Horst das mit einer gewissen Enttäuschung zum Ausdruck brachte, konnte er dem jungen Menschen nicht übelnehmen. In dem Alter war man noch kein Diplomat und sagte, was man dachte. „Ich kann verstehen, daß euch die Sache jetzt etwas aufregt. Überlegt aber einmal alles in Ruhe, ihr kommt dann sicher zu der Überzeugung, daß es anders nicht ging. So, und nun muß ich gehen, ich habe noch eine Verabredung. Auf Wiedersehen!“
„Da haben wir den Salat“, meinte Herbert, als Herr Huber gegangen war. „Und mit unserem Plan ist es aus!“ „Was für ein Plan ist das denn?“ erkundigte sich Erwin. „Entschuldige, Erwin“, sagte Horst, „das können wir dir noch nicht sagen, du bist noch zu neu bei uns. Vielleicht reden wir später einmal darüber.“ „Das ist ja auch im Augenblick nicht so wichtig“, meinte Otto Scholz. „Viel wichtiger ist die Frage, was wir jetzt machen.“ Es wurde einen Augenblick still. Jeder der elf jungen Leute suchte nach einem Ausweg. Mit der Tatsache, daß Spinne nun endgültig aus ihrem Kreis ausgeschieden war, konnten sie sich nicht abfinden. Dann sprach Hans Bergmann, der Linksaußen. „Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste: wir finden uns mit der Tatsache ab und unternehmen nichts. Das wäre das Einfachste und Bequemste. Ich meine aber, unser alter Freund Werner hat es verdient, daß wir wenigstens den Versuch machen, ihn wieder herauszuhauen. Und das wäre die zweite Möglichkeit. Mit einem Streik Einzelner oder Aller ist nichts zu erreichen. Die Spielsaison ist vorbei, und zu Beginn der neuen Serie läßt sich auch ohne uns eine neue Mannschaft aufstellen, zumal ja die meisten von uns dann sowieso bei den Senioren spielen werden. Wir müssen also etwas unternehmen, wodurch der Beschluß des Vorstandes rückgängig gemacht wird.“ Hans Bergmann, genannt der Professor, war ein kluger Kopf, der schwer aus der Ruhe zu bringen war und sich das, was er sagte, vorher reiflich überlegt hatte. Die Jungen waren seinenAusführungen mit Interesse gefolgt. Vielleicht fand Hans einen Ausweg. Als er geendet hatte, fragte Horst: „Und wie stellst du dir das vor?“
„Wir müssen eine Abordnung zu Herrn Gangler schicken, die ihn im Namen der Mannschaft um eine Revision des Urteils bittet.“ „Das Ergebnis kann ich euch schon vorher sagen“, sagte Herbert. „Herr Gangler wird sich dahinter verschanzen, daß er allein nicht der Vorstand ist. Dabei kommt also nichts heraus.“ „Sage das nicht“, entgegnete Hans. „Wir wissen alle, wie groß der Einfluß ist, den Herr Gangler im Verein hat. Man sollte es also wenigstens versuchen.“ „Richtig“, sagte Otto. „Das wäre etwas für dich, Professor!“ „Kapitän der Mannschaft ist Horst Sturm“, entgegnete Hans lächelnd. „Wenn also mit Herrn Gangler verhandelt werden soll, kann das nur Horst machen.“ „Du kannst aber besser reden als ich“, gab Horst zu bedenken. „Hans hat aber Recht“, sagte Herbert. „Das mußt du schon in die Hand nehmen, Horst.“ „Na schön“, sagte Horst nach einer Pause. „Dann gehe ich mal zu Herrn Gangler.“ Hans hob die Hand. „Warte noch damit! Wir müssen uns doch erst einmal mit Spinne unterhalten. Wie Herr Huber sagte, will er zum FC gehen. Vielleicht hat er gar keine Lust mehr, bei Schwarz-Gelb zu spielen.“ „Glaube ich nicht!“ rief Albert Graetz. „Spinne gehört zu Schwarz-Gelb!“ „Fragen wir ihn also“, fuhr Hans beharrlich fort. „Das kann ich übernehmen. Nachher komme ich zu dir, Horst, und berichte dir.“ „Und ich spreche mit Kurz-Lang“, sagte Eugen Kummer, der sich bisher am Gespräch nicht beteiligt hatte. „Kurt ist mit Werner befreundet, und Langs haben ja gute Beziehungen zu Herrn Gangler.“
„Das ist ein guter Gedanke“, sagte Horst anerkennend. „Du kommst dann auch zu mir. Sagen wir um drei. Recht so?“ Als die Jungen aufbrechen wollten, ging draußen Herr Kullmann vorbei. Horst öffnete schnell das Fenster. „Herr Kullmann! Dürfen wir Sie einen Augenblick hereinbitten? Wir möchten gern etwas mit Ihnen besprechen.“ Kullmann nickte zustimmend und bog um die Ecke. Mit kurzem Gruß trat er ins Kasino. „Um was handelt es sich?“ „Um Spinne!“ „Ach, um den verdrehten Kerl? Laßt mich mit dem zufrieden, über den habe ich mich schon genug geärgert!“ Die Jungen kannten ihren Platzwart gut genug, um zu wissen, wie man ihm am besten beikam. „Wir hätten Sie gern um Ihren Rat gefragt, lieber Herr Kullmann“, sagte Hans Bergmann sanft. „So?“ Kullmann wurde schon zugänglicher. „Was wollt ihr denn wissen?“ Hans entwickelte den Plan, den sie eben durchgesprochen hatten. Kullmann nickte mehrmals zustimmend mit dem Kopf. „Gar nicht so dumm! Ihr könnt es ja mal versuchen, obwohl ich nicht viel Hoffnung habe. So einfach ist die Geschichte doch nicht. Darüber müßte erst einmal gründlich Gras wachsen.“ Nachdenklich sah er vor sich hin. „Daß der Junge auch diesen Unsinn machen mußte“, sagte er dann. „Früher war Schwarz-Gelb für ihn alles, und jetzt läßt er sich zu solchen Dummheiten verleiten!“ „Spinne ist aber doch ein guter Kerl“, verteidigte Horst den Kameraden, „und die Strafe ist sicher zu hart.“ Herr Kullmann nickte zustimmend.
„Ich hätte ihm ein paar kräftige Ohrfeigen gegeben, die hätten ihm vielleicht mehr genützt. Wenn ich an meine Jugend denke! Uns wäre so etwas nicht im Traum eingefallen! Damals ...“ Jetzt kommen wieder die alten Geschichten, dachte Hans, und versuchte zu bremsen. „Entschuldigen Sie, Herr Kullmann, wenn ich Sie unterbreche. Aber Sie sind doch ein mächtiger Mann im Verein. Können Sie nicht ein gutes Wort für Spinne einlegen?“ „Wenn Werner mich rechtzeitig von seinem Ausflug nach Neustadt unterrichtet hätte, wäre es mir leicht gewesen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Ich habe aber davon erst gehört, als es schon zu spät war. Jetzt kann ich auch nichts mehr machen.“ „Glauben Sie denn nicht, daß Ihr Einfluß bei Herrn Gangler...“ „Glaube ich gar nicht! Herr Gangler gibt schon etwas auf meine Meinung, aber da kommen immer mehr neue Leute in den Vorstand, die man kaum dem Namen nach kennt und die einen für einen besseren Schuhputzer halten. — Tut mir leid, aber ich kann Spinne jetzt nicht mehr helfen. Vielleicht habt ihr mehr Glück!“ „Schade“, sagte Hans höflich. „Wir hatten uns gerade von Ihrer Mithilfe viel versprochen.“ „Ich will schon sehen, was ich tun kann“, meinte Kullmann, „aber es wird dabei nicht viel herauskommen.“ „Jedenfalls danken wir Ihnen, Herr Kullmann. Wenn es uns gelingt, Spinne zu retten, wird das sicher zum großen Teil Ihr Verdienst sein.“ Kullmann hob zweifelnd die Schultern und verabschiedete sich mit kurzem Gruß.
Freunde in der Not
Erwin Kunz trat in die Kabine, in der sich die Ersten Junioren umzogen. Er grüßte kurz, suchte sich einen Platz und stellte seinen Koffer auf die Bank. „Was willst du denn hier?“ fragte Herbert, der Mittelstürmer. „Spielen“, war die kurze Antwort. „Seit wann spielen wir denn mit zwölf Mann? Hier, zähle einmal: Zehn Mann sind hier. Fehlt bloß noch Spinne.“ „Das eben ist des Pudels Kern, lieber Freund. Spinne fehlt, wie du richtig sagst.“ „Bist du hergekommen, um das festzustellen? Das haben wir auch schon ohne dich gemerkt“, mischte sich Erich, der linke Läufer, ein. „Was ist denn nun eigentlich los?“ fragte Horst Sturm, der Kapitän der Mannschaft. „Gar nichts. Ich soll bei euch spielen“, sagte Erwin Kunz. „Hier ist meine Benachrichtigungskarte.“ Horst schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht, wir sind doch komplett, wenn Spinne kommt.“ „Spinne kommt nicht“, sagte Erwin. „Ich habe eben den alten Kullmann getroffen, der hat mir gesagt, daß ich für Spinne im Tor stehen soll.“ „Was ist denn mit Spinne los?“ Bevor es eine Antwort auf diese Frage gab, öffnete sich die Tür, und der Jugendleiter trat ein. „Guten Morgen!“ „Guten Morgen, Herr Huber!“ dankte Horst. „Stimmt das, was Erwin sagt: Spinne kommt nicht?“ „Ja, das ist richtig. Für ihn ist Erwin aufgestellt. Nach dem Spiel werde ich euch die Sache erklären. Ist die Mannschaft komplett? Gut! Beeilt euch, ihr müßt in fünf Minuten auf den Platz.“
Damit ging Herr Huber. Während sich die Spieler fertigmachten, unterhielten sie sich über den Fall. Was mochte mit Spinne sein? „Vielleicht ist er Krank’.“ „Oder verreist.“ „Nein, ich habe ihn gestern gesehen.“ „Hast du ihn gesprochen?“ „Nein, er schien es sehr eilig zu haben.“ „Merkwürdig!“ „Na, wir werden ja nachher hören, was los ist“, meinte Horst. „Kommt jetzt, es ist Zeit.“ Das Spiel der Schwarz-Gelben wollte nicht klappen, sie spielten alles andere als meisterlich. Erwin Kunz im Tor war nicht schlecht, aber er war ein Fremder in der Mannschaft. Spinne hatte sich durch kurze Zurufe immer am Spiel beteiligt und so seinen Kameraden manchen guten Rat gegeben. Erwin erledigte brav sein Pensum, aber es fehlte der Zusammenhalt, den Spinne der Mannschaft gegeben hatte. Jetzt, als er nicht da war, merkten die anderen erst, wie wichtig er für das Ganze gewesen war. Das Schlußresultat lautete 2:2, es war nach dem unbefriedigenden Spielverlauf noch schmeichelhaft für Schwarz-Gelb. Als sich die Spieler wieder umgezogen hatten, gingen sie ins Kasino, wo Herr Huber auf sie wartete. „Na, da seid ihr ja! Sind alle da? Gut, setzt euch und hört einmal zu.“ Als Ruhe eingetreten war, begann Herr Huber: „Euer Freund Spinne hat eine große Dummheit gemacht. Er hatte anscheinend die Absicht, zum FC Neustadt überzuwechseln und hat bereits einmal für diesen Verein gespielt. Dem Vorstand, der davon hörte, blieb weiter nichts übrig, als Spinne aus dem Verein auszuschließen.“
„Was, Spinne ist rausgeschmissen worden?“ rief Otto Scholz, der linke Verteidiger. „Das ist doch ganz unmöglich!“ „War die Sache denn so schlimm, das man ihn gleich ausschließen mußte?“ fragte Horst Sturm. „Eine Verwarnung hätte doch wohl genügt.“ „Nein“, gab Herr Huber zur Antwort, „da stehe ich ganz auf der Seite des Vorstandes. Wer für einen anderen Verein spielt, gehört nicht mehr zu uns.“ „Ausgerechnet der FC!“ sagte Otto. „So ein dummer Kerl, unsere Spinne! Wenn ich das vorher gewußt hätte, wäre bestimmt nichts daraus geworden. Auf mich hat er immer gehört.“ „Ganz so einfach wäre das wohl nicht gewesen“, meinte Horst. „Spinne hat immer seinen eigenen Kopf durchgesetzt, und es war oft gar nicht leicht, mit ihm auszukommen.“ Nun nahm Herr Huber wieder das Wort. „Da war ja auch vor kurzem die Sache mit Herrn Schmidt. Das hat der Vorstand noch durchgehen lassen. Aber die neue Geschichte hat doch dem Faß den Boden ausgeschlagen. Hier hat Werner Krüger charakterlich versagt.“ Im Augenblick hatte Herr Huber die ganze Mannschaft gegen sich. Gewiß, Spinne war manchmal etwas schwierig zu behandeln, aber ein guter Kamerad war er trotzdem gewesen. „Das stimmt nicht, Herr Huber! Spinne ist ein feiner Kerl und ein anständiger Sportsmann!“ rief Otto. „Ich habe mit ihm schon in der Schülermannschaft gespielt und kenne ihn ziemlich gut. Wir haben damals beide zusammen bei Schwarz-Gelb angefangen. Es war nicht immer ganz leicht mit ihm, aber er war aufrichtig und verträglich, und wenn er im Spiel hinter mir stand, wußten wir alle, das wir uns auf ihn verlassen konnten.“
„Ohne Spinne wären wir nie Meister geworden“, sagte Horst. „Einen so guten Torwart bekommen wir nicht wieder. Sei nicht böse, Erwin, aber das wirst auch du zugeben müssen.“ Erwin schien durchaus nicht gekränkt und nickte zustimmend. Jetzt meldete sich der rechte Verteidiger, Albert Graetz. Er hatte bisher nur zugehört, weil er nicht gern sprach. Er war ein guter Spieler, dem man eine große Zukunft voraussagte, aber ein Redner war er nicht. Er war zwar immer gern mit seinen Kameraden zusammen, aber man hörte ihn kaum. „Ohne Spinne geht’s überhaupt nicht! Was sich der Vorstand so denkt! Da mache ich nicht mit!“ „Und was willst du tun?“ fragte Herr Huber. „Wir wollen unsere Spinne wiederhaben“, sagte Albert treuherzig. „Sonst spiele ich nicht mehr.“ „Und ich auch nicht!“ rief Herbert. Herr Huber sah die beiden ruhig an. „Das wäre einmal taktisch falsch und zum anderen unkameradschaftlich. Dadurch, daß ihr nicht mehr spielt, holt ihr Krüger nicht zurück, und ihr schadet auch euren Kameraden, die dann außer Spinne noch auf zwei andere gute Spieler verzichten müssen.“ „Ja, was sollen wir denn machen?“ fragte Herbert. „Gar nichts!“ antwortete Herr Huber. „An der Tatsache ist nichts mehr zu ändern, und ihr müßt euch damit abfinden. Ihr wißt, daß Erwin Kunz kein schlechter Torwart ist, er wird Spinne allmählich ersetzen.“ „Niemals!“ rief Herbert. „Nichts gegen Erwin, aber jetzt sind unsere ganzen Pläne über den Haufen geworfen.“ „Welche Pläne?“ wollte Herr Huber wissen. „Ach, wir hatten so bestimmte Gedanken, ich möchte jetzt aber nicht darüber reden.“
„Viel Vertrauen scheint ihr zu eurem Jugendleiter nicht zu haben“, meinte Herr Huber enttäuscht. „Ich darf Ihnen als Kapitän der Mannschaft für alle antworten“, meldete sich Horst Sturm. „Was wir uns vorgenommen haben, soll vorläufig unter uns bleiben, und wenn wir Ihnen das jetzt nicht sagen, ist das kein Beweis mangelnden Vertrauens. Aber — lassen Sie mich das offen aussprechen — wir sind von Ihnen enttäuscht. Fünf Minuten vor Spielbeginn hörten wir, daß Spinne nicht mehr zu uns gehört, ohne daß uns die Gründe dafür genannt wurden. Das haben Sie sich für jetzt aufgehoben, Sie hatten wohl angenommen, daß wir meutern würden, wenn wir die Zusammenhänge vorher gekannt hätten. Lassen Sie mich bitte ausreden!“ fuhr er fort, als Herr Huber ihn unterbrechen wollte. „Was Albert und Herbert eben sagten, ist nicht wörtlich zu neh- men. Es ist selbstverständlich, daß keiner von uns SchwarzGelb im Stich läßt, wenn Spinne nicht mehr spielt. Haben Sie daran gezweifelt?“ Herr Huber hatte mit wachsendem Staunen zugehört. Horst hatte nicht so unrecht, denn Herr Huber hatte wirklich Komplikationen befürchtet, wenn die Mannschaft vor dem Spiel genau unterrichtet worden wäre. Darum hatte er sich die Mitteilung bis nach Spielschluß aufgespart. Daß Horst das mit einer gewissen Enttäuschung zum Ausdruck brachte, konnte er dem jungen Menschen nicht übelnehmen. In dem Alter war man noch kein Diplomat und sagte, was man dachte. „Ich kann verstehen, daß euch die Sache jetzt etwas aufregt. Überlegt aber einmal alles in Ruhe, ihr kommt dann sicher zu der Überzeugung, daß es anders nicht ging. So, und nun muß ich gehen, ich habe noch eine Verabredung. Auf Wiedersehen!“ „Da haben wir den Salat“, meinte Herbert, als Herr Huber gegangen war. „Und mit unserem Plan ist es aus!“
„Was für ein Plan ist das denn?“ erkundigte sich Erwin. „Entschuldige, Erwin“, sagte Horst, „das können wir dir noch nicht sagen, du bist noch zu neu bei uns. Vielleicht reden wir später einmal darüber.“ „Das ist ja auch im Augenblick nicht so wichtig“, meinte Otto Scholz. „Viel wichtiger ist die Frage, was wir jetzt machen.“ Es wurde einen Augenblick still. Jeder der elf jungen Leute suchte nach einem Ausweg. Mit der Tatsache, daß Spinne nun endgültig aus ihrem Kreis ausgeschieden war, konnten sie sich nicht abfinden. Dann sprach Hans Bergmann, der Linksaußen. „Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste: wir finden uns mit der Tatsache ab und unternehmen nichts. Das wäre das Einfachste und Bequemste. Ich meine aber, unser alter Freund Werner hat es verdient, daß wir wenigstens den Versuch machen, ihn wieder herauszuhauen. Und das wäre die zweite Möglichkeit. Mit einem Streik Einzelner oder Aller ist nichts zu erreichen. Die Spielsaison ist vorbei, und zu Beginn der neuen Serie läßt sich auch ohne uns eine neue Mannschaft aufstellen, zumal ja die meisten von uns dann sowieso bei den Senioren spielen werden. Wir müssen also etwas unternehmen, wodurch der Beschluß des Vorstandes rückgängig gemacht wird.“ Hans Bergmann, genannt der Professor, war ein kluger Kopf, der schwer aus der Ruhe zu bringen war und sich das, was er sagte, vorher reiflich überlegt hatte. Die Jungen waren seinenAusführungen mit Interesse gefolgt. Vielleicht fand Hans einen Ausweg. Als er geendet hatte, fragte Horst: „Und wie stellst du dir das vor?“ „Wir müssen eine Abordnung zu Herrn Gangler schicken, die ihn im Namen der Mannschaft um eine Revision des Urteils bittet.“
„Das Ergebnis kann ich euch schon vorher sagen“, sagte Herbert. „Herr Gangler wird sich dahinter verschanzen, daß er allein nicht der Vorstand ist. Dabei kommt also nichts heraus.“ „Sage das nicht“, entgegnete Hans. „Wir wissen alle, wie groß der Einfluß ist, den Herr Gangler im Verein hat. Man sollte es also wenigstens versuchen.“ „Richtig“, sagte Otto. „Das wäre etwas für dich, Professor!“ „Kapitän der Mannschaft ist Horst Sturm“, entgegnete Hans lächelnd. „Wenn also mit Herrn Gangler verhandelt werden soll, kann das nur Horst machen.“ „Du kannst aber besser reden als ich“, gab Horst zu bedenken. „Hans hat aber Recht“, sagte Herbert. „Das mußt du schon in die Hand nehmen, Horst.“ „Na schön“, sagte Horst nach einer Pause. „Dann gehe ich mal zu Herrn Gangler.“ Hans hob die Hand. „Warte noch damit! Wir müssen uns doch erst einmal mit Spinne unterhalten. Wie Herr Huber sagte, will er zum FC gehen. Vielleicht hat er gar keine Lust mehr, bei Schwarz-Gelb zu spielen.“ „Glaube ich nicht!“ rief Albert Graetz. „Spinne gehört zu Schwarz-Gelb!“ „Fragen wir ihn also“, fuhr Hans beharrlich fort. „Das kann ich übernehmen. Nachher komme ich zu dir, Horst, und berichte dir.“ „Und ich spreche mit Kurz-Lang“, sagte Eugen Kummer, der sich bisher am Gespräch nicht beteiligt hatte. „Kurt ist mit Werner befreundet, und Langs haben ja gute Beziehungen zu Herrn Gangler.“ „Das ist ein guter Gedanke“, sagte Horst anerkennend. „Du kommst dann auch zu mir. Sagen wir um drei. Recht so?“
Als die Jungen aufbrechen wollten, ging draußen Herr Kullmann vorbei. Horst öffnete schnell das Fenster. „Herr Kullmann! Dürfen wir Sie einen Augenblick hereinbitten? Wir möchten gern etwas mit Ihnen besprechen.“ Kullmann nickte zustimmend und bog um die Ecke. Mit kurzem Gruß trat er ins Kasino. „Um was handelt es sich?“ „Um Spinne!“ „Ach, um den verdrehten Kerl? Laßt mich mit dem zufrieden, über den habe ich mich schon genug geärgert!“ Die Jungen kannten ihren Platzwart gut genug, um zu wissen, wie man ihm am besten beikam. „Wir hätten Sie gern um Ihren Rat gefragt, lieber Herr Kullmann“, sagte Hans Bergmann sanft. „So?“ Kullmann wurde schon zugänglicher. „Was wollt ihr denn wissen?“ Hans entwickelte den Plan, den sie eben durchgesprochen hatten. Kullmann nickte mehrmals zustimmend mit dem Kopf. „Gar nicht so dumm! Ihr könnt es ja mal versuchen, obwohl ich nicht viel Hoffnung habe. So einfach ist die Geschichte doch nicht. Darüber müßte erst einmal gründlich Gras wachsen.“ Nachdenklich sah er vor sich hin. „Daß der Junge auch diesen Unsinn machen mußte“, sagte er dann. „Früher war Schwarz-Gelb für ihn alles, und jetzt läßt er sich zu solchen Dummheiten verleiten!“ „Spinne ist aber doch ein guter Kerl“, verteidigte Horst den Kameraden, „und die Strafe ist sicher zu hart.“ Herr Kullmann nickte zustimmend. „Ich hätte ihm ein paar kräftige Ohrfeigen gegeben, die hätten ihm vielleicht mehr genützt. Wenn ich an meine
Jugend denke! Uns wäre so etwas nicht im Traum eingefallen! Damals ...“ Jetzt kommen wieder die alten Geschichten, dachte Hans, und versuchte zu bremsen. „Entschuldigen Sie, Herr Kullmann, wenn ich Sie unterbreche. Aber Sie sind doch ein mächtiger Mann im Verein. Können Sie nicht ein gutes Wort für Spinne einlegen?“ „Wenn Werner mich rechtzeitig von seinem Ausflug nach Neustadt unterrichtet hätte, wäre es mir leicht gewesen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Ich habe aber davon erst gehört, als es schon zu spät war. Jetzt kann ich auch nichts mehr machen.“ „Glauben Sie denn nicht, daß Ihr Einfluß bei Herrn Gangler...“ „Glaube ich gar nicht! Herr Gangler gibt schon etwas auf meine Meinung, aber da kommen immer mehr neue Leute in den Vorstand, die man kaum dem Namen nach kennt und die einen für einen besseren Schuhputzer halten. — Tut mir leid, aber ich kann Spinne jetzt nicht mehr helfen. Vielleicht habt ihr mehr Glück!“ „Schade“, sagte Hans höflich. „Wir hatten uns gerade von Ihrer Mithilfe viel versprochen.“ „Ich will schon sehen, was ich tun kann“, meinte Kullmann, „aber es wird dabei nicht viel herauskommen.“ „Jedenfalls danken wir Ihnen, Herr Kullmann. Wenn es uns gelingt, Spinne zu retten, wird das sicher zum großen Teil Ihr Verdienst sein.“ Kullmann hob zweifelnd die Schultern und verabschiedete sich mit kurzem Gruß.
Ein Fehlschlag Spinne war, nachdem Hans ihn verlassen hatte, unruhig zurückgeblieben. Was sollte er tun? Ganz auf das Fußballspielen verzichten? Das war doch nicht möglich! Der Rückweg zu Schwarz-Gelb schien ihm für alle Zeiten verbaut. Der Versuch beim FC war kläglich gescheitert. Spinne dachte nicht gern an seine Unterredung mit Herrn Scholz zurück. Diese beiden Vereine waren doch aber nicht die einzigen! Spinne hielt sich immer noch für einen überdurchschnittlichen Torwart, dessen Auftauchen überall mit Freude begrüßt werden würde. Wer kam da wohl in Frage? Am Anfang von Spinnes Überlegungen stand die Feststellung, daß ein Ortswechsel nötig sei. Hier gab es außer Schwarz-Gelb nur noch ein paar kleinere Vereine, die in unteren Klassen spielten. Ein anderer Verein würde für Werner also eine neue Heimat und eine neue Arbeitsstätte bedeuten. Seine Gedanken hielten sich mit diesem Thema nicht lange auf. Eine innere Stimme warnte ihn vor so einschneidenden Umwälzungen. Er arbeitete gern in der Gangierschen Möbelf abrik. Man schätzte ihn dort als einen tüchtigen Facharbeiter und räumte ihm trotz seiner Jugend viel Selbständigkeit ein. Herr Gangler hatte immer mit eiserner Konsequenz das Berufliche vom Sportlichen zu trennen gewußt. Im Betrieb war es nie zu spüren, daß der Firmeninhaber gleichzeitig auch Erster Vorsitzender von Schwarz-Gelb war. Beides war grundsätzlich voneinander getrennt. Werner hatte also nicht zu befürchten, daß sich der Ausschluß aus dem Verein irgendwie auf seine berufliche Arbeit auswirken würde. Der´Tischlergeselle Krüger und
der Torwart Spinne waren für Herrn Gangler zwei völlig getrennte Wesen. Für Spinne aber waren Arbeitgeber und Vereinsvorsitzender immer ein und dieselbe Person gewesen. Er würde also immer, wenn er seinem Chef im Betrieb begegnete, an seine Niederlage als Sportler erinnert werden. Schon aus diesem Grunde wäre ein Wechsel zu begrüßen. Es würde nach Spinnes Meinung auch gar nichts schaden, wenn er sich einmal woanders umsehen würde. Da könnte er nur zulernen. Die Stadt? Er war hier geboren und aufgewachsen. Jedes Haus, jeder Baum war ihm bekannt, er kannte fast jeden, dem er auf der Straße begegnete. Ob ihm das fehlen würde? Werner kannte Fremde und Heimweh noch nicht, er konnte also diesen Posten in seine Überlegungen nicht mit einbeziehen. Aber die Mutter! Von ihr müßte er sich trennen, und das würde sicher das Schwerste von allem sein. Nach dem Abendessen sprach Werner mit seiner Mutter über seine Pläne. Sie nahm sie gefaßter auf, als er erwartet hatte. Frau Krüger wußte sehr gut, was in ihrem Jungen vorging, und sie wäre keine gute Mutter gewesen, wenn sie nicht nach einem Ausweg gesucht hätte. Das hatte sie manche schlaflose Nacht gekostet. Der Gedanke, sich von ihrem Jungen trennen zu müssen, war hart für sie, aber wenn es zu seinem Besten wäre, mußte sie wohl damit einverstanden sein. „Was du mir da erzählst, überrascht mich weniger, als du denkst. Ich habe mir auch schon meine Gedanken gemacht, und da ich dich kenne, habe ich mir schon gedacht, daß du keine andere Lösung finden wirst. Ob es die richtige ist — wer kann das vorher beurteilen? Aber das muß alles gründlich überlegt werden. Es ist leichter, alte Brücken abzureißen, als neue aufzubauen.“
„Ich muß ja auch nicht heute oder morgen gehen“, sagte Werner. „Zuerst muß ich einen Ort ausfindig machen, in dem ich eine zusagende Stellung bekommen kann und in dem ein guter Verein ist, der mich braucht. Bei den meisten Orten wird nur das eine oder das andere in Ordnung sein. Mir ist natürlich völlig klar, daß die berufliche Seite die wichtigere ist, aber spielen möchte ich auch wieder gern.“ „Hast du schon bestimmte Pläne?“ „Ich dachte an Bergstadt. Da sind einige gute Möbelfabriken, und der SC Bergstadt hat einen guten Namen.“ „Willst du einmal hinfahren?“ „Ja. Ich habe noch vier Tage Urlaub zu bekommen, die könnte ich jetzt nehmen. Wenn ich um zwei Tage mehr bitte, wird man das sicher nicht abschlagen, und ich hätte dann eine ganze Woche Zeit, mich in Bergstadt in Ruhe und gründlich umzusehen.“ „Gehe nur nicht irgendwelche Verpflichtungen ein, bevor du mit mir vorher darüber gesprochen hast. Du weißt, daß du mit deinen achtzehn Jahren noch zu allem meine Zustimmung brauchst.“ „Hab keine Sorge, Mutter, ich laß mir Zeit. Es muß ja auch nicht unbedingt Bergstadt sein.“ Eine Woche später packte Frau Krüger den Koffer für ihren Sohn. Sie hatte vor einigen Tagen zufällig Herrn Kullmann in der Stadt getroffen, dem sie ihr Herz ausschütten mußte. Kullmann war zuerst von der Mitteilung überrascht, nach einigem Über- legen meinte er aber: „Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Krüger. Länger als eine Woche bleibt Werner nicht in der Fremde! Der gehört dahin, wo Schwarz-Gelb spielt, an einem anderen Ort hält er es gar nicht aus. Passen Sie auf, ich werde Recht behalten!“
Vorläufig fuhr Werner erst einmal fort, und so gern Frau Krüger an die Voraussage von Herrn Kullmann glauben wollte, sie konnte nicht verhindern, daß ihr bei ihrer Arbeit immer wieder die Tränen über das Gesicht rollten. Werner hatte sich in der vergangenen Woche eifrig bemüht, der Sache die leichte Seite abzugewinnen. Er bekam wieder Oberwasser und meinte, sein Entschluß sei die einzig mögliche und richtige Lösung aller Fragen. Daß seine Mutter still und sehr traurig war, wollte er nicht sehen. Es konnte niemand dafür, daß es gerade regnete, als der Zug in Bergstadt einfuhr. Die Stadt wartete gleich mit einer Enttäuschung auf: vom Bahnhof zur Stadtmitte mußte man fünfzehn Minuten laufen. Werner war völlig durchnäßt, als er endlich vor dem Hotel „Zur Burg“ stand, das ihm ein Bekannter empfohlen hatte. Es sah nicht so aus, als würden hier Fürsten und andere hochgestellte Persönlichkeiten absteigen, aber es machte doch einen einigermaßen vertrauenswürdigen Eindruck. Werner hatte aber für solche Betrachtungen wenig Zeit, ihm lag vor allen Dingen daran, sich möglichst schnell umziehen zu können. Er trat also kurz entschlossen ein. Ein älterer Kellner mit einem gewaltigen Kahlkopf und einem speckigen Rock empfing ihn. „Guten Tag, der Herr!“ „Guten Tag!“ „Sie wünschen?“ „Kann ich ein einfaches Zimmer haben?“ „Für eine Nacht oder länger?“ „Das weiß ich noch nicht. Es ist möglich, daß ich eine Woche hierbleibe.“ „So! Da haben wir im ersten Stock noch zwei Einzelzimmer. Numero acht mit Aussicht zum Park. Acht Mark. Numero sechs zur Hofseite. Sechs Mark.“
„Das dürfte genügen.“ „Bitte sehr!“ Der Kellner nahm von einem Nummernbrett einen Schlüssel und ergriff Werners Koffer. „Den kann ich allein tragen.“ „Bitte, der Herr, das ist meine Aufgabe.“ Werner ergab sich und folgte dem Kellner. Er erkannte mit einigen Blicken, daß diesem Hotel nichts so sehr fehlte wie eine gründliche Überholung. Wenn die Zimmer so waren wie das Treppenhaus — — Der Kellner stellte den Koffer in den halbdunklen Flur und versuchte umständlich eine Tür zu öffnen. „So, bitte! Zimmer sechs. Wird von allen Gästen sehr gelobt.“ Er ging zum Fenster. „Hier haben Sie eine sehr schöne Aussicht. Das ist die alte Stiftskirche — sehr sehenswert! Kostbarer alter Altar und eine berühmte Orgel. Im Keller die Fürstengruft. Dahinter die Burg. Müssen Sie unbedingt besuchen! Schöne alte Ruine mit herrlichem Rundblick und eine bestens renommierte Wirtschaft. In der Stadt...“ Werner unterbrach den Redestrom. „Vielen Dank für die Hinweise, aber ich möchte mich gern erst einmal umziehen!“ „Selbstverständlich! Verzeihung, Herr...“ „Krüger.“ „Herr Krüger. Ich heiße Anton. Wenn Sie nachher nach unten kommen, füllen Sie bitte das Anmeldeformular aus. Mittagessen gibt es ab zwölf Uhr. Eine reichhaltige Karte und gepflegte Biere. Empfehle mich!“ Anton verschwand mit einer Verbeugung. Werner sah sich im Zimmer um. Mittelprächtig, dachte er, nicht gerade gemütlich. Er packte den Koffer aus und legte seine Sachen in den Schrank, dessen Tür immer wieder zufiel. Als Werner sich umgezogen hatte, stand er vor
seinen durchnäßten Kleidungsstücken. Was sollte er damit tun? Anton würde Rat wissen. Zu Hause hatte sich die Mutter darum gekümmert. Er war daran gewöhnt, nach einigen Tagen alles wieder ordentlich im Schrank zu finden. Werner erkannte, daß er einiges hinzulernen und wesentlich bescheidener sein müßte, wenn er sich von der Mutter trennte. Er ging nach unten in das Gastzimmer, das bei dem trüben Wetter muffig und wenig einladend wirkte. Anton steuerte sofort auf ihn zu. „Gefällt Ihnen das Zimmer?“ „Danke, es geht. Sagen Sie, Herr Anton, was kann ich mit meinen nassen Sachen machen?“ „Den Anzug kann ich morgen zum Schneider bringen, damit er ihn bügelt. Um die Schuhe werde ich mich auch kümmern. Sie sollen sich bei uns wie zu Hause fühlen! Sind Sie hier fremd, Herr Krüger?“ „Ja, ich bin zum erstenmal hier.“ „Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann — ich kenne alle Leute und habe gute Verbindungen. Schade, daß wir heute so schlechtes Wetter haben. Da werden Sie nicht viel untemeh- men können. Vielleicht hört es am Nachmittag noch auf zu regnen, dann könnten Sie zum Sportplatz gehen. Ein Fußballspiel, falls Sie das interessiert.“ Werner wollte seine Karten nicht sofort aufdecken und tat so, als wäre die Aussicht auf eine solche Unterhaltung für ihn nicht besonders verlockend. „Fußball? Na ja, vielleicht. Muß man da weit laufen?“ „Nein, höchstens zehn Minuten. Hier muß man überhaupt nicht weit laufen, unser Städtchen ist ja nicht sehr groß. Nur die Möbelfabriken, die liegen zum Teil weiter draußen.“
„Schreiber & Kühn, Kalinich & Co., Holzbau AG und so weiter“, sagte Werner, und freute sich über Antons Verblüffung. „Die kennen Sie alle? Sie sind wohl aus der Möbelbranche?“ „Ja. Es ist möglich, daß ich mir hier eine Stellung suche. Das hängt aber noch von anderen Dingen ab.“ „So so! Interessant! Übrigens - Herr Kaiser, der Prokurist von Kalinich & Co., ißt hier an Wochentagen zu Mittag. Mit dem können Sie morgen sprechen. Kalinich & Co. macht besonders Ladeneinrichtungen, alles große Sachen, sehr bekannte, gute Firma.“ „Ja, ich weiß, die Firma hat einen guten Namen.“ „Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Ein Bierchen?“ „Danke, ich trinke keinen Alkohol. Haben Sie einen guten Apfelsaft?“ „Selbstverständlich, Herr Krüger. Kommt sofort!“ Werner sah sich in der Gaststube um. Auch hier war die Einrichtung überaltert. An den Wänden hingen zahlreiche gerahmte Diplome und Ehrenurkunden, die erkennen ließen, daß hier einige Vereine tagten. Kegelklub „Alle Neune“, Sparverein „Goldtaler“ und „Heimatverein Bergstadt“ konnte Werner erkennen. Die Fußballer waren wohl woanders zu Hause, ihr Klublokal lag sicher näher beim Sportplatz. Anton stellte den Apfelsaft auf einen anderen Tisch. „Darf ich Sie bitten, hier Platz zu nehmen? Hier ist es heller, und Sie können durch das Fenster auch etwas sehen. An dem Tisch dort sitzen immer einige Stammgäste, die gleich zum Essen kommen werden.“ Werner wechselte den Platz. „Haben Sie schon etwas gewählt? Der Kalbsnierenbraten ist sehr zu empfehlen. Unsere Spezialität!“
Die Speisekarte war nicht besonders reichhaltig, und die Preise flößten Werner einen gelinden Schrecken ein. Aber heute war Sonntag, zudem der erste Tag der Selbständigkeit, da brauchte er es nicht so genau zu nehmen. „Schön, bringen Sie mir also einen Kalbsnierenbraten.“ Nach und nach kamen einige Gäste, die sehr vertraut miteinander schienen und ungeniert eine laute Unterhaltung begannen, an der sich Anton lebhaft beteiligte. Hinter der Theke hatte sich der Wirt mit einer frischen weißen Schürze eingefunden. Die Stammgäste wurden mit Handschlag begrüßt, für Werner hatte ein kurzes Kopfnicken genügt. Als Werner mit dem Braten fertig war, wurde ihm klar, daß er noch lange nicht satt war. Da hatte es bei der Mutter andere Portionen gegeben! Anton stellte den Nachtisch vor Werner hin, und der machte große Augen. Da schwammen in einer trüben Soße vier kümmerliche Pflaumen. Sollte das alles sein? Von Anton ließ er sich den Weg zum Sportplatz beschreiben. Dann ging er in sein Zimmer, um den Mantel zu holen. Die feuchten Sachen waren verschwunden. Anton hatte das Fenster geöffnet, und es roch jetzt stark nach Bratkartoffeln. Werner stellte fest, daß sein Zimmer direkt über der Küche lag, aus deren Fenster breite Schwaden nach oben zogen. Er schloß das Fenster wieder und setzte sich auf das alte Sofa, dessen Federn klirrten und ächzten. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Spiels waren noch fast zwei Stunden Zeit. Hier im Zimmer war es aber so ungemütlich und so unheimlich still, daß Werner sich zum Gehen entschloß. Er schlenderte durch die Straßen und stand bald auf dem kleinen Marktplatz, der ihm gut gefiel. Von Baustil und solchen Dingen verstand er nichts, aber die kleine
Kirche an der Ecke und das alte Rathaus machten Eindruck auf ihn. Sonst gab es nicht viel Sehenswertes. Am Markt und in den angrenzenden Straßen waren einige größere Geschäfte, die durch ihre Auslagen Großstadt vorzutäuschen versuchten. Je weiter sich Werner vom Marktplatz entfernte, desto stiller wurde es. Die kleinen Häuser, die eng aneinandergerückt standen, schienen seit Jahrhunderten zu schlafen. Ein modernes Kino, das protzig zwischen zwei alten Gassen stand, zeigte einen Film an, der Werner dem Namen nach schon seit zwei Jahren bekannt war. Es regnete nicht mehr, aber über allem lag ein feuchter, grauer Dunst, der alle lebhaften Farben erstickte. Werner hatte den Eindruck, als wäre das ganze Städtchen in einer jämmerlichen Trostlosigkeit versunken. Er fragte sich zum Sportplatz durch, der weit außerhalb der Stadt versteckt zwischen kleinen Wäldchen lag. Die Anlage gefiel Werner. Die Tribüne war alt und sah recht baufällig aus, und sie schien lächerlich klein. Hier war aber mit größeren Zuschauermengen nicht zu rechnen. Werner kaufte sich eine Tribünenkarte, weil er glaubte, hier am ehesten einen der Vereinsgewaltigen sprechen zu können. Das Vorspiel bestritten untere Mannschaften, aus deren Können man keine Schlüsse auf die Leistung der Ersten ziehen konnte. Als das Hauptspiel endlich begann, hatte sich eine erstaunliche Zuschauerzahl eingefunden. Werner rechnete sich schnell aus, daß hier im Verhältnis zur Einwohnerzahl viel mehr Leute zum Spiel kamen als bei Schwarz-Gelb. Es gab hier wohl auch weniger Abwechslung. Werner hatte den SC Bergstadt früher schon spielen sehen. Die Mannschaft war gut, sie hielt auch einen sicheren Platz in der Tabellenmitte. Aber was war das
schon gegen ein Spiel von Schwarz-Gelb! Hier gab es richtigen Provinzfußball. Alle Spieler zeigten einen ungeheuren Eifer, der aber die fehlende Technik und den Mangel an Spielkultur nicht ersetzte. Auch der FC Neustadt zeigte mehr. Die Bergstädter gewannen fast alle Heimspiele, bei denen ihnen ein fanatisches Publikum den nötigen Rückhalt gab. Ab und zu brachten sie auch von Auswärtsspielen einen Punkt mit, so daß sie immer vor Abstiegssorgen bewahrt blieben. Das Spiel des Torwächters schien Werners Plänen entgegenzukommen. Bis zur Halbzeit hatte der Gegner zwei Tore geschossen. Beide Male hatte Werner das Unglück kommen sehen. Jeder, der etwas vom Fußball verstand, konnte beim ersten Tor voraussehen, daß der Rechtsaußen den Ball zu dem freigelaufenen Halblinken spielen würde. Warum blieb der Torwart in der linken Ecke stehen? Er machte es damit dem Torschützen leicht, den Ball in der langen Ecke unterzubringen. Und warum lief er später nicht hinaus, als der Ball von links hoch hereinkam? Zwei, drei Schritte, Sprung und Faustabwehr — das war doch so einfach! Aber der Mann blieb wie angewurzelt auf der Torlinie stehen und sah hilflos zu, wie der Mittelstürmer den Ball neben den Pfosten köpfte. Es hätte zu Halbzeit 1:0 und nicht 1:2 stehen können! Als der Schiedsrichter zur Pause pfiff, fragte Werner einen Ordner, ob der Vereinsvorsitzende auf dem Platz sei. „Ja, Herr Klepzig ist natürlich hier. Das ist der Herr da vorn, der Große mit dem graukarierten Mantel.“ Werner bahnte sich einen Weg durch die Zuschauer. „Kann ich Sie einen Augenblick sprechen? Mein Name ist Krüger.“ „Sehr angenehm! Klepzig. Womit kann ich Ihnen dienen?“
„Ich habe die Absicht, mich Ihrem Verein anzuschließen.“ „Aktiv?“ „Ja. Ich bin Torsteher.“ „So. Wo haben Sie denn bisher gespielt?“ „Bei Schwarz-Gelb, in der Ersten Juniorenmannschaft. Wir waren in den drei letzten Jahren Bezirksmeister.“ „Von der Wundermannschaft habe ich gehört. Und da haben Sie im Tor gestanden? Das ist eine gute Empfehlung! Darf ich fragen, warum Sie von SchwarzGelb fortgehen wollen?“ „Erstens gibt es da einige persönliche Differenzen, und dann will ich wegen meiner beruflichen Fortbildung einen Platzwechsel vornehmen.“ „Was sind Sie, wenn ich fragen darf?“ „Möbeltischler.“ „So. Da haben Sie hier ja die besten Aussichten. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann...“ „Danke. Ich wollte morgen mit Herrn Kaiser sprechen.“ „Sehr gut, Herr Krüger. Aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen, man hat als Vorsitzender bei so einem Spiel allerlei zu erledigen. Nach dem Spiel treffen wir uns alle in der ,Krone’. Kommen Sie doch auch dorthin! Wir könnten uns dann in Ruhe weiter unterhalten.“ „Ist recht, Herr Klepzig. Vielen Dank!“ Der SC Bergstadt gewann gegen einen schwächeren Gegner knapp mit 5:4. Werner meinte, daß es am Schluß 5:0 oder 5:1 geheißen hätte, wenn er im Tor gestanden hätte. In der „Krone“ war kaum noch ein Platz zu finden, nachdem Werner nach einigen Umwegen das Lokal entdeckt hatte. Der SC hatte das Spiel gewonnen, das war für die Anhänger ein Grund zum Feiern. Herr Klepzig, der Werner erwartet hatte, rief ihn an seinen Tisch.
„Kommen Sie hierher, Herr Krüger, ich habe für Sie einen Platz freigehalten.“ Werner wurde einigen älteren Herren vorgestellt, die alle zum Vorstand gehörten. Ein Kellner stellte unaufgefordert ein Glas Bier vor ihn hin und war erschüttert, als es zurückgewiesen wurde. „Bringen Sie mir bitte ein Glas Apfelsaft.“ „Trinken Sie kein Bier?“ fragte Herr Klepzig mit Staunen, und die Verwunderung schien allgemein. „Nein“, sagte Werner lachend, „ich rauche auch nicht.“ „Hat Ihnen das Spiel gefallen?“ wurde Werner von seinem Nachbarn gefragt. Bevor er antworten konnte, rief Herr Klepzig über den Tisch: „Herr Krüger ist ein Kollege von dir. Er will bei Kalinich & Co. anfangen.“ „So? Ausgerechnet bei der Konkurrenz?“ „Das konnte ich nicht ahnen“, sagte Werner lächelnd. „Ich habe auch noch nichts verabredet.“ „Bitte keine Gespräche über geschäftliche Dinge!“ sagte ein anderer. „Der Herr wollte uns doch sagen, wie ihm unsere Mannschaft gefallen hat.“ Werner überlegte seine Antwort. Man war hier anscheinend vom Können der Mannschaft restlos überzeugt, und er wollte niemand durch ein voreiliges Urteil verletzen. „Das Spiel war gut. Ihre Mannschaft hat ja auch gewonnen. Aber das Resultat hätte 5:0 oder 5:1 lauten müssen.“ „Na, na! So schlecht war der Gegner auch nicht. Außerdem waren die Gegentore doch alle unhaltbar.“ „Unhaltbar — das ist ein dehnbarer Begriff. Das hängt immer vom Torwart ab.“ „Richtig“, sagte der Nachbar, der immer noch nicht erkannte, worauf Spinne hinauswollte. „Sicher gibt es ein paar Torwächter, die den einen oder anderen Ball gehalten hätten.“
Werner ließ nicht locker. Er wollte zeigen, daß er auch etwas von seinem Fach verstand. „Zur Halbzeit hätte es 1:0 für den FC stehen müssen. Beim ersten Gegentor hat Ihr Torwart einen Stellungsfehler gemacht, beim zweiten hätte er rauslaufen und den Ball fausten müssen.“ „Haben Sie etwas gegen Rudi?“ fragte der Nachbar. Werner schüttelte den Kopf. „Ist Rudi der Torwart? Ich kenne ihn nicht und beurteile nur seine Leistung. Da ich selber Torsteher bin, glaube ich, etwas davon zu verstehen.“ „So so“, sagte der Nachbar nur. Es folgte ein betretenes Schweigen. Herr Klepzig versuchte, die Situation zu retten. Er wandte sich an Werners Nachbarn: „Otto, Herr Krüger hat in der Junioren-Wundermannschaft von Schwarz-Gelb im Tor gestanden und will jetzt unserem Verein beitreten.“ Und zu Spinne gewandt fuhr er fort: „Herr Baumann ist der Vater unseres Torstehers.“ Das hätte ich ahnen sollen! dachte Spinne. Man kann doch nicht vorsichtig genug sein! Er wandte sich an Herrn Baumann: „Ich hoffe, daß Sie mir meine Offenheit nicht übelnehmen. Ich habe, ohne die Zusammenhänge zu kennen, nur meine Ansicht geäußert, wobei ich als Außenstehender unbeeinflußt bin. Es täte mir leid, wenn ich Sie irgendwie gekränkt hätte.“ Herr Baumann winkte ab. „Machen Sie sich keine Sorgen, junger Mann. Rudi will sich sowieso vom aktiven Sport zurückziehen, und wenn wir in Ihnen einen besseren Nachfolger finden, soll es mir nur recht sein. Es käme auf eine Probe an.“ Der Gedanke wurde sofort aufgegriffen und weitergesponnen. Schließlich wurde festgelegt, daß am kommenden Dienstag aus der Reserve und der Ersten
zwei Mannschaften gebildet werden sollten, wobei Rudi das eine und Werner das andere Tor hüten sollten. Werner blieb länger sitzen, als es sonst seine Art war. Aber was sollte er in dem ungemütlichen Hotelzimmer?! An einer längeren Unterhaltung mit Anton lag ihm auch nichts. Arn nächsten Vormittag war Werner in der Stadt unterwegs. Er wollte sich nach einem Zimmer umsehen. Bald merkte er, daß es nicht einfach sein würde, ein brauchbares Zimmer zu bekommen. Die ausgedehnte Möbelindustrie zog viele Fremde an, und freiwerdende Zimmer wurden anscheinend von den Firmen an neue Mitarbeiter vermittelt. In der Altstadt konnte Werner einige freie Zimmer besichtigen, aber der Eindruck war so niederschmetternd, daß er lieber im Freien als in diesen Zimmern geschlafen hätte. Kleine, enge Räume in dunklen Gassen ohne Licht und Aussicht — nein, das wäre nichts für ihn gewesen.Mißmutig ging er ins Hotel zurück. Er tröstete sich damit, daß ihm die Firma vielleicht bei der Zimmersuche helfen könnte. Nach dem Mittagessen ging er noch einmal hinaus und besorgte sich Brot, Butter und Wurst. Mit ein paar kräftigen Butterbroten beruhigte er den enttäuschten Magen. Das immer noch trübe Wetter lud nicht zu einem Spaziergang auf die Burg ein. Die wird mir auch nicht weglaufen, dachte Spinne. Er ging in eine kleine Buchhandlung und besorgte sich etwas zum Lesen. Der Verkäufer, der den unschlüssigen Kunden bediente, empfahl eine Reisebeschreibung. Im Hotel legte er Rock und Schuhe ab und vertiefte sich in das Buch, das ihn schnell in seinen Bann zog. Mittags hatte er durch Antons Vermittlung Herrn Kaiser kennengelernt. Der hatte es sehr eilig und bat, schnell in Ruhe essen zu dürfen. Er werde abends wieder
vorbeikommen. Werner ritt gerade auf einem feurigen Rappen durch die Pampas, als Anton meldete, daß Herr Kaiser im Gastzimmer auf ihn wartete. Die Begrüßung war beinahe herzlich, Werner gefiel dem großgewachsenen, grauhaarigen Mann. Auch Werner faßte schnell Zutrauen. „Ich habe mich erkundigt, Herr Krüger. Bei uns wäre ein Platz für Sie frei. Er wird Ihnen zusagen, denke ich. Wenn Sie Lust haben, können wir das Nötige gleich festmachen.“ Das ging Werner etwas zu schnell. „Ich bin erst achtzehn Jahre alt und brauchte die Zustimmung meiner Mutter, mit der ich mich erst besprechen müßte. Außerdem interessiert mich, was ich hier verdienen kann.“ „Wir zahlen Tarif, Ortsklasse C.“ Werner wußte nicht genau, wieviel das war, auf alle Fälle aber weniger, als er bisher bekommen hatte. Aber damit hatte er rechnen müssen. Er erzählte von seinen Versuchen, ein Zimmer zu finden. „Da werden wir Ihnen wohl helfen können. Soviel ich weiß, sind unserem Personalbüro immer ein paar freie Zimmer gemeldet. Wissen Sie, die Leute hier sind mißtrauisch gegen Fremde, sie vermieten daher gern an Leute, die bei einer großen Firma tätig sind, da bekommen sie bestimmt ihr Geld.“ Werner stellte noch einige Fragen, die den Betrieb angingen, und Herr Kaiser riet ihm, am nächsten Tage hinauszukommen, um sich alles anzusehen. Er wies auf die vorbildlichen sozialen Einrichtungen hin und hob einige außertarifliche Vergünstigungen hervor. Werner dankte herzlich und versprach zu kommen. Herr Kaiser solle ihm nicht böse sein, wenn er vielleicht erst am Mittwoch käme, er habe morgen noch einiges zu erledigen.
Am Dienstag hatte Werner das Leben im Hotel schon gründlich über. Der Frühstückskaffee schmeckte nicht, die Brötchen waren zu klein, und es gab zu wenig. Die Speisekarte schien alle Tage nur von der alten abgeschrieben zu werden. Er wagte kaum an zu Hause zu denken. Welch ein Unterschied! Und teuer war das hier! Werner sah mit Sorge seine Barschaft schwinden. Er tröstete sich damit, daß er es billiger haben würde, wenn er erst ein eigenes Zimmer hätte. Aber so hatte er sich das alles doch nicht vorgestellt. Das Spiel, das Spinne auf die Probe stellen sollte, lockte erstaunlich viele Zuschauer an. Es hatte sich herumgesprochen, daß da ein junger Mann aufgetaucht war, der Rudi im Tor Konkurrenz machen wollte. Den mußte man sich ansehen. Mit Werners Einverständnis hatte man die besten Stürmer in der Gegenmannschaft aufgestellt. Es kam, wie er es vorausgesehen hatte: „seine“ Mannschaft gewann 4:1. Als man nach dem Spiel in der „Krone“ zusammensaß, waren die Meinungen geteilt. Spinne hatte zweifellos eine bessere Leistung gezeigt als Rudi, der Stammtorwart. Vielleicht aber hatte Rudi, von dem man hier so viel hielt, einen schlechten Tag gehabt. Der Neue würde auch nur mit Wasser kochen. Werner hatte den Eindruck, daß von irgendeiner Seite lebhaft gegen ihn gearbeitet wurde. Im Laufe des Abends beobachtete er, wie Rudis Vater — sein Tischnachbar vom Sonntag — von Tisch zu Tisch ging und lebhaft auf die Vereinsanhänger einredete. Das war es also! Spinne glaubte aber doch, daß seine Leistung überzeugend genug gewesen war, um die Frage nach dem Besseren eindeutig zu klären. Als Werner endlich Gelegenheit fand, mit dem Vorsitzenden zu sprechen, wich der seinen Fragen aus. Offensichtlich war ihm die Situation unangenehm. Er
sprach von unerwarteten Widerständen, von notwendigen Rücksichten. Schließlich kam er damit heraus, daß sich ein sehr bekannter Torwart aus Berlin gemeldet hätte, der aus beruflichen Gründen nach Bergstadt übersiedeln würde und beim SC spielen wollte. „Waren Sie mit meiner Leistung nicht zufrieden?“ fragte Werner. „Doch, durchaus! Sie sind ein ausgezeichneter Torwart und haben sicher eine große Zukunft. Aber, sehen Sie, in einer Kleinstadt wie Bergstadt muß man viele Rücksichten nehmen und sich mit Dingen auseinandersetzen, die woanders kaum beachtet werden. Der Vater unseres Torwarts Rudi zum Beispiel ist ein altes Mitglied des Vereins. Er hat dem Verein öfter finanziell geholfen, und wir können ihn nicht so einfach vor den Kopf stoßen und Rudi kaltstellen. Aber das letzte Wort ist da noch nicht gesprochen. Am Sonnabend haben wir Vorstandssitzung, da kommt die Sache sicher zur Sprache. Mir persönlich wäre es schon recht, wenn Sie bei uns blieben, aber ich bin ja nicht allein der Vorstand. Ich denke, daß ich Ihnen am Sonntag einen endgültigen Bescheid geben kann, der hoffentlich zu Ihren Gunsten ausfällt.“ „So lange werde ich nicht warten können“, sagte Werner. „Ich möchte morgen meine Entscheidung in beruflicher Hinsicht treffen, und für mich steht eins mit dem anderen im Zusammenhang.“ „Sie müssen so etwas nicht übereilen, Herr Krüger. Ich meine auch das Berufliche. Lassen Sie sich Zeit!“ Werner verabschiedete sich und ging mißmutig ins Hotel. Dort erwartete ihn Anton mit einer Rechnung für Reinigen und Bügeln eines Anzuges. „Warum Reinigen?“ fragte Werner. „Der Anzug war doch tadellos in Ordnung.“
„Da irren Sie sich aber, Herr Krüger! Ihr Marsch durch den Regen hat dem Anzug doch ordentlich geschadet.“ Hier stimmt etwas nicht, dachte Werner. Er bezahlte aber ohne ein weiteres Wort, weil er einsah, daß ihm nichts anderes übrigblieb. Als Anton gegangen war, setzte Werner sich auf das knarrende Sofa. Ungemütliche Bude, dachte er. Es roch wieder nach Küche. Die Lampe gab einen trüben Schein und ließ das Zimmer noch dürftiger erscheinen, als es war. Zu Hause — ja, zu Hause war es hell und warm und so gemütlich! Die Mutter würde jetzt in ihrem Sessel sitzen und stricken. Das tat sie abends immer. Sicher würde sie an ihren Sohn denken, der irgendwo in der Fremde war. Ganz allein war er, und keiner kümmerte sich um ihn. Werner sprang plötzlich auf. Das ist doch alles Unsinn, was ich hier mache! dachte er. Warum eigentlich will ich mein schönes Zuhause und meine gute Stellung für eine Ungewisse Zukunft aufs Spiel setzen?! Und ist es eigentlich recht, der Mutter diese Sorgen zu machen? Immer hat sie nur an mich gedacht, alles hat sie für mich getan und gegeben. Und ich packe einfach meinen Koffer und gehe davon. Nein, so geht es nicht! Werner ging in die Gaststube und bestellte sich etwas zu essen. Gleichzeitig bat er um das Kursbuch. „Nanu?“ fragte Anton, „wollen Sie schon weiter?“ „Ja“, antwortete Werner kurz. Um 8.30 Uhr ging ein Zug, der war gut, mit dem könnte er mittags zu Hause sein. Die Mutter wird Augen machen, wenn sie ihn abends vorfindet! „Ich fahre morgen früh nach dem Frühstück“, sagte er zu An- ton. „Machen Sie bitte meine Rechnung fertig. Und noch eins: bitte grüßen Sie Herrn Kaiser. Er möchte mir nicht böse sein, daß ich nicht gekommen bin.“
Werner ging früh ins Bett. Er ertappte sich dabei, daß er lustig vor sich hinpfiff. Ich fahre nach Hause, dachte er vergnügt. In dieser Nacht schlief er zum ersten Male gut in Bergstadt. Als er vom Bahnhof durch die altbekannten Straßen ging und bekannte Gesichter sah, fragte er sich: Wie konnte ich nur auf den Gedanken kommen, von hier fortzugehen? Hier bin ich, und hier bleibe ich! Er packte seinen Koffer aus und legte alles sorgfältig an Ort und Stelle. Dann ging er, um für das Abendbrot einzukaufen, und er ließ sich das etwas kosten. Der Tag, meinte er, müsse richtig gefeiert werden. Er kaufte sogar ein paar Blumen für die Mutter. Dann deckte er liebevoll den Tisch und wartete. Als die Mutter kam, war sie natürlich überrascht, daß er schon wieder zurück war. „Guten Abend, Werner. Schön, daß du wieder da bist!“ Sie sah ihren Jungen forschend an. Was würde nun kommen? „Hast du schon eine Entscheidung getroffen?“ Werner spürte, wieviel bange Sorge hinter dieser Frage stand. „Ja, Mutter.“ „Und was willst du tun?“ „Ich bleibe bei dir, Mutter!“ Strahlend schloß Frau Krüger ihren Jungen in die Arme.
Umkehr und neue Wege Die Fußballsaison ging zu Ende — auch ohne Spinne. Es wurde ihm sehr schwer, sich an die veränderten Verhältnisse zu gewöhnen. Nicht mehr spielen, und kein Spiel der Ersten mehr sehen — das war sehr schwer. Im Stadion von Schwarz-Gelb mochte er sich nicht mehr blicken lassen. Alle kannten ihn, und die Leute würden mit Fingern auf ihn zeigen: Das ist Werner Krüger, den man rausgeschmissen hat! Selbstverständlich war Werner nach wie vor brennend an allem interessiert, was mit dem Verein zusammenhing, er verstand es auch, sich die Vereinszeitung regelmäßig zu beschaffen. Nach außen hin tat er, als ginge ihn Schwarz-Gelb nichts mehr an. Aus und erledigt! Das war eine recht merkwürdige Zeit. Bisher hatte der Fußball alle freien Stunden in Anspruch genommen. Da waren Trainingsabende, Mannschaftsbesprechungen, Besuche bei Herrn Kullmann und jeden Sonntag von früh bis abends Spiele. Das alles gab es jetzt nicht mehr, man dachte am besten überhaupt nicht mehr daran. Das war leicht gesagt, denn immer wieder wanderten die Gedanken die bekannten Wege. Werner suchte sich Beschäftigung. Soviel Holz, wie er hacken und sägen konnte, brauchte die Mutter nicht. Auf die Dauer war das also nichts. Er konnte auch nicht immer Spazierengehen. Werner besorgte sich Holz und baute seiner Mutter eine Wäschetruhe. Aber auch damit war er nicht ewig beschäftigt. Eines Abends besuchte ihn Hans Kudel. Werner blieb kühl und ließ sich nicht verlocken, obwohl er dann wohl gewußt hätte, was er mit seiner freien Zeit anfangen sollte. Hans ging bald und versprach, sich wieder sehen zu lassen. Werner sagte ihm aber recht deutlich, daß er
darauf gar keinen Wert legte. Nun begriff Kudel endlich, daß seine Rolle ausgespielt war. Werner hielt es nicht für nötig, ihn zu fragen, warum er ihm nichts von seinem Gespräch mit Herrn Scholz erzählt hatte — mit Hans Kudel war er endgültig fertig. Ruhe fand Werner nur bei seiner Arbeit. Er liebte seinen Beruf und leistete auch etwas. Aber die Rastlosigkeit und die Leere seiner freien Stunden ließen ihn nicht froh werden. Post bekam Werner selten. Vielleicht las er darum den Prospekt der Volkshochschule so eingehend durch. Da waren viele Dinge, die ihn ansprachen. Seine Mutter, die sich freute, daß er überhaupt wieder für etwas Interesse zeigte, redete ihm zu, sich im Büro der Volkshochschule einmal über die näheren Einzelheiten zu erkundigen. Fragen kostet nichts und verpflichtet zu nichts. Werner fand dort einen Mann, der ihm den richtigen Weg wies. „Sie sind Möbeltischler? Da haben wir eine ganze Reihe von Kursen, die Sie schon aus beruflichen Gründen interessieren dürften: Geometrie, Buchführung, Kalkulation — um nur einige zu nennen, und Vortragsreihen über Stilkunde, Innenarchitektur und vieles andere. Sie wollen doch sicher vorwärtskommen — welcher junge Mann wollte das nicht!? Sehen Sie zu, daß Sie bald Ihre Meisterprüfung machen, und dazu können Sie hier allerlei lernen. Und dann sollte das Streben erst richtig anfangen! Je mehr Sie gelernt haben, je weiter kommen Sie.“ „Natürlich will ich weiter. Aber die guten Posten sind ja doch für die Akademiker reserviert.“ „Stimmt in keiner Weise! Herr Gangler hat nur ein paar Semester als Hospitant gehört, und der alte Kugler, der ja in der Fabrik eine führende Rolle spielt, hat genau wie
Sie als Tischlergeselle angefangen. Trauen Sie sich doch etwas zu, junger Freund! Man soll sein Ziel immer möglichst hoch ansetzen. Und Sie können jederzeit zu mir kommen, wenn es irgendwo nicht weiter geht, wir werden dann schon einen Weg finden.“ Schritt für Schritt fand Werner Eingang in eine neue Welt. Er stellte mit großem Erstaunen fest, daß es außer Fußball noch viele Dinge in der Welt gibt, für die man sich interessieren und begeistern kann. Der freundliche Herr sorgte dafür, daß Werner sich nicht übernahm, sondern sich sein neues Reich vorsichtig und planmäßig eroberte. Und Werner merkte bald, wieviel man mit den freien Abendstunden anfangen konnte, wenn man sie richtig einteilte. Trotz allem schmerzte die Wunde weiter, aber sie durfte auch nicht heilen, bevor Werner zu der Einsicht gekommen war, daß er allein an allem schuld war. Eines Tages erfuhr er, daß Hans Kudel die Stadt plötzlich verlassen hatte. Keiner wußte warum, und keiner kannte sein Ziel. Er hinterließ keine Lücke und keinen trauernden Freund. Nur der Wirt vom Bürgerbräu dachte noch eine Weile an ihn, weil die letzte Zeche unbezahlt blieb. Auch Werner widmete ihm ein paar Abschiedsgedanken, ohne sich darüber klar werden zu können, was diesen merkwürdigen Gernegroß veranlaßt haben mochte, ihn in dieses Abenteuer zu locken. Vielleicht war ihm vom Schicksal nur die Rolle zugewiesen worden, Werner auf diesem betrüblichen Umweg zur Besinnung zu bringen. Werner ahnte nicht, daß seine alten Freunde — Herr Gangler, Kullmann und Kurt Lang — seine Entwicklung aufmerksam verfolgten und sich laufend über ihn berichten ließen. Auch wenn er jetzt nicht mehr zur großen Familie der Schwarz-Gelben gehörte, durfte man
ihn nicht aus dem Auge verlieren. Eines Tages schrieb ihm Kurt Lang: „Lieber Werner! Wir haben einander lange nicht mehr gesehen, und ich wüßte gern, was du jetzt treibst. Wenn du am Sonnabend nichts besseres vor« hast, komm bitte zum Kaffee zu uns. Wir können dann einmal in Ruhe plaudern. Meine Mutter würde sich auch freuen, die alte Spinne wieder begrüßen zu können. Also: Sonnabend um vier Uhr! Herzliche Grüße Dein Kurt Lang“ Werner konnte nicht wissen, daß Herr Gangler dieses Zusammentreffen angeregt hatte. Gern nahm er die Einladung an. Er vergaß auch nicht, ein paar Blumen für Frau Lang (seine Mutter hatte ihm dringend dazu geraten) mitzubringen. Als man zu dritt am Tisch saß, sprach man von belanglosen Dingen. Später zogen sich Kurt und Werner in die „Räuberhöhle“ zurück, wie Kurt sein Zimmer nannte. „So, alte Spinne, mach's dir bequem! Zigarette? Nein? Also immer noch Nichtraucher. Gut so! Ich habe sie auch nur zum Anbieten hier. Cognac?“ „Ebenfalls danke! Nie wieder Alkohol!“ „Warum ,nie wieder’? Bist du damit schon mal reingefallen? Das mußt du mir erzählen!“ Werner berichtete von seinem Erlebnis mit Hans Kudel. Zuerst wollte er eigentlich nur von der Fahrt nach Neustadt erzählen, dann wurde aber daraus eine ausführliche Beichte über die Ereignisse, die mit seiner Rückkehr aus Bergstadt endeten.
Kurt hatte schweigend zugehört und auch da nicht unterbrochen, wo er gern etwas gefragt hätte. Er fühlte, daß es Werner gut tat, sich einmal gründlich auszusprechen und die Zusammenhänge geschlossen darzustellen. Er hatte nun schon etwas Abstand zu den Dingen und sah ein, daß er allein schuld an dem unrühmlichen Ausgang trug. Er hatte sich anscheinend damit abgefunden und deutete sogar an, daß er die Fußballstiefel endgültig an den Nagel hängen würde. Bei Schwarz-Gelb durfte er nicht mehr spielen, und einem anderen Verein mochte er sich nicht anschließen. Kurt hatte durchaus den Eindruck, daß Werner durch seine trüben Erfahrungen wesentlich reifer geworden sei. Als die Beichte zu Ende war, saßen beide eine Weile schweigend in der Dämmerung, und jeder hing seinen Gedanken nach.„Du hast durch diese Geschichte eine Menge gelernt“, begann dann Kurt. „Vor falschen neuen Freunden muß man sich hüten, beson- ders wenn man gute alte Freunde hat, auf die man sich verlassen kann. Wenn du damals offen mit mir gesprochen hättest oder zu Herrn Gangler gegangen wärest, hätte sich vieles vermeiden lassen, was dir heute leid tut. Aber du warst ja so viel schlauer als wir alle zusammen! Das ist nun aber einmal geschehen, und es läßt sich an den Tatsachen nichts mehr ändern. Die Hauptsache ist, daß du beim nächsten Mal klüger bist. Wir machen alle Fehler, man muß sich nur vor Wiederholungen hüten.“ Dann fragte er Werner: „Womit beschäftigst du dich sonst, ich meine, in deiner Freizeit?“ „Ich habe einige Abendkurse belegt, zunächst für die fachliche Fortbildung, daneben aber auch anderes wie Kunstgeschichte und Literatur. Ich habe ja nur die Volksschule besucht und muß viel nachholen.“
„Daran tust du recht, man kann nie genug lernen, und man soll das möglichst tun, wenn man noch jung ist.“ „Mir macht das auch Freude. Früher habe ich gar nicht gewußt, daß es neben Fußball auch noch andere Dinge gibt, die mich interessieren könnten.“ Kurt lachte. „Einseitig darf man nicht werden! Ich hänge wie du am Fußballsport, beschäftige mich aber doch nebenher mit allerlei Dingen, die mir Freude machen. Und du willst das Fußballspielen nun wirklich endgültig aufgeben?“ „Was soll ich machen? Bei Schwarz-Gelb darf ich nicht mehr spielen, und ein anderer Verein kommt für mich nicht in Frage, das habe ich bei meiner Exkursion nach Neustadt und der Reise nach Bergstadt deutlich erkannt.“ „Es hat doch aber niemand behauptet, daß du für ewige Zeiten aus dem Verein ausgeschlossen bist. Vielleicht ergibt sich für dich später doch wieder eine Möglichkeit für eine Rückkehr. An deiner Stelle würde ich das Fußballspielen nicht vernachlässigen. Talent hast du, aus dir könnte ein Klasse-Tormann werden, wenn du an dir arbeitest.“ „Ich kann doch nicht mit mir allein spielen. Oder soll ich mit den kleinen Jungen auf einer Wiese hinter dem Ball herlaufen?“ „Nein, das gerade nicht, aber du kannst irgendeinen anderen Sport treiben, um deine Spannkraft zu erhalten. Laufen und Schwimmen kannst du zum Beispiel auch ohne Verein.“ „Ja, meinst du denn, daß ich später wieder bei Schwarz-Gelb aufgenommen werde?“ „Ich denke schon. Kommt Zeit, kommt Rat.“ Als Werner sich verabschieden wollte, fiel Kurt noch etwas ein. „Hast du übrigens Lust, dir ein paar Mark nebenbei zu verdienen? Ein Bekannter will sich ein paar
Möbel umbauen lassen. Keine große Sache, darf auch nicht viel kosten. Das wäre doch was für dich?“ „Man müßte mal sehen, um was es sich handelt. Ich möchte keine Arbeit übernehmen, die ich nicht gut ausführen kann.“ „Sieh dir die Sache doch einmal an. Übrigens kennst du ja den Auftraggeber, es ist Herr Schmidt, unser Trainer. Gefällt dir die Geschichte nicht? Na, höre mal, mit dem hast du dich doch ausgesöhnt, und mit dem anderen hat er doch nichts zu tun.“ Werner schüttelte bedenklich den Kopf. „Mal sehen!“ „Überleg es dir und geh mal hin. Herr Schmidt wohnt Schulstraße 27.“ Auf dem Heimweg nahm Werner sich vor, am nächsten Tage schwimmen zu gehen und einen tüchtigen Waldlauf anzuschließen. Nach der Unterhaltung mit Kurt fühlte er sich viel leichter. Er war kein Ausgestoßener, vielleicht gab es für ihn doch einen Weg zurück zu Schwarz-Gelb. Am Sonntagvormittag machte er sich auf den Weg zu Herrn Schmidt. Er hatte lange überlegt, ob er gehen sollte oder nicht. Seine Mutter hatte ihm zugeredet, und er hatte sich überzeugen lassen. Wenn er nicht ginge, könnte man vielleicht annehmen, er fühle sich der Aufgabe nicht gewachsen. Dabei hatte er doch seine Gesellenprüfung mit Auszeichnung bestanden! Herr Schmidt empfing ihn recht freundlich, zeigte ihm, was zu tun sei, und man verabredete sofort alle Einzelheiten. Vom Fußball wurde überhaupt nicht gesprochen. Herr Schmidt war der Auftraggeber, Werner der Handwerker. Zum Abschluß fragte Herr Schmidt dann aber doch: „Sind Sie heute nachmittag im Stadion? Was, Sie wollen den 1. FC Nürnberg nicht sehen? Na, ich weiß
schon, was Sie denken! Aber so ein Spiel sollten Sie sich als alter Fußballer doch nicht entgehen lassen. Warten Sie mal — hier! Da haben Sie eine Tribünenkarte — und nun: viel Vergnügen!“ Werner wollte eigentlich ablehnen, um seinen Grundsätzen nicht untreu zu werden, aber der Name Nürnberg zog stärker als ein Magnet. Das Stadion war bis auf den letzten Platz gefüllt. Dieses Freundschaftsspiel war das letzte vor der fußballosen, der schrecklichen Zeit, und niemand wollte sich diesen Leckerbissen entgehen lassen. Werner hatte sich zwar vorgenommen, das Spiel mit den Augen eines neutralen Beobachters zu sehen, aber er sah doch nur Schwarz-Gelb und war mit der Mehrzahl der Zuschauer sichtlich betrübt, daß die Gäste bei Halbzeit mit 3:2 führten. Während der Pause hörte er einiges von der Unterhaltung seiner Nachbarn. „Schwarz-Gelb ist doch den Nürnbergern ziemlich ebenbürtig, eigentlich sollte der Vorteil des eigenen Platzes zum Siege ausreichen!“ „Ja, die Mannschaft ist ganz ausgezeichnet, nur der Torwart ist nicht ganz das, was man erwarten sollte.“ „Die Torwartfrage ist die große Sorge von SchwarzGelb. Gerling, der früher einmal ganz groß war, ist zu alt geworden. Es sind schon zahlreiche Versuche mit neuen Leuten gemacht worden, aber keiner hat die Erwartungen erfüllt.“ „Hat Schwarz-Gelb nicht einen so tüchtigen Nachwuchs-Tormann?“ „Gehabt. Der ist vor einiger Zeit ausgeschieden!“ Werner drehte sich hastig zur Seite, er fürchtete, daß man ihn erkennen könnte. Es beruhigte ihn, daß der Herr „ausgeschieden“ und nicht „rausgeschmissen“ gesagt
hatte. Das war seine große Chance gewesen, und nun saß er hier als Zuschauer! Das Spiel ging weiter und lenkte Werner von allen anderen Gedanken ab. Als Schwarz-Gelb mit einem etwas glücklichen 4:3 den Platz verließ, strahlte Werner ebenso wie alle anderen Vereinsanhänger. Die große Mannschaft aus Nürnberg war besiegt worden. Es würde bald niemand mehr davon sprechen, daß es ebenso gut auch anders hätte enden können. Die Arbeit bei Herrn Schmidt, die sich über eine längere Zeit hinzog, gestaltete sich recht angenehm. Es ließ sich natürlich nicht vermeiden, daß eines Tages auch über Fußball gesprochen wurde. Schließlich war das der eigentliche Gesprächsstoff. Werner brachte die Arbeit aber doch in der vorgesehenen Zeit zur Zufriedenheit von Herrn Schmidt fertig. Am letzten Tage hörte er etwas von Herrn Schmidt, was ihn stark interessierte. Der FC Schwarz-Gelb ging daran, während der Sommerpause die Kurven auszubauen, um die Zahl der Stehplätze zu erhöhen. Da nach Möglichkeit gespart werden sollte, waren alle Vereinsmitglieder aufgefordert worden, sich an den Erdarbeiten zu beteiligen. „Da können Sie jeden Abend eine Menge Leute sehen, die schippen und Sand karren“, sagte Herr Schmidt. „Das müssen Sie sich mal ansehen!“ Werner wollte zuerst nicht; an einem der nächsten Abende spazierte er aber doch hinaus zum Stadion. Er hatte geglaubt, daß die Beteiligung viel größer sein würde, und war enttäuscht, nur etwa 40 Leute arbeiten zu sehen, die sich in dem weiten Oval verloren. So kamen sie doch nicht weiter! Ja, wenn er mitgemacht hätte, dann wäre etwas Schwung in die Geschichte gekommen! Aber er gehörte ja nicht dazu, ihn hatte man ausgeschlossen.
Werner schlenderte unschlüssig umher. Herrn Kullmann mochte er nicht besuchen, wer weiß, wen er da noch traf. Die Leute, die hier arbeiteten, kannte er alle nicht, das waren wohl die passiven Mitglieder. Vermutlich kamen die Aktiven an anderen Tagen. Ein älterer Herr, von dem Werner meinte, er müsse Oberlehrer sein, schien sich bei der Arbeit recht anzustrengen. Werner beobachtete ihn, wie er mit seiner Karre ankam, sie ungeschickt füllte unddann eine kleine Pause einlegte, um den Schweiß abzuwischen. Das war doch nichts für den Mann! Eine Weile sah Werner das mit an, dann erwartete er den Herrn mit der Schaufel in der Hand. „Jetzt ruhen Sie sich ein bißchen aus, ich fülle inzwischen die Karre.“ „Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagte der Herr, und verlegen lächelnd fügte er hinzu, „für mich ist diese Arbeit zu ungewohnt, ich strenge mich wahrscheinlich mehr dabei an als nötig.“ Werner warf die Karre mit ein paar Schaufeln voll, und da die Pause für seinen Schützling zu kurz gewesen wäre, schob er selber damit los. Dann ließ er sich Zeit, wenn er die Karre füllte, damit der Herr sich richtig ausruhen konnte. Er ahnte nicht, daß er beobachtet wurde. Herr Kullmann, dem die freiwilligen Helfer unterstanden, hatte ihn kommen sehen und freute sich, daß Werner so selbstverständlich zugriff. Der Junge gehörte eben zu Schwarz-Gelb, ob Mitglied oder nicht! Anders dachte Herr Gangler darüber, der nicht wenig darüber erstaunt war, Werner unter den freiwilligen Helfern zu finden. „Wer hat dem jungen Krüger eigentlich erlaubt, hier mitzumachen? Es sind meines Wissens nur Vereinsmitglieder aufgefordert worden!“
Das ging Herrn Kullmann entschieden gegen den Strich. „Na ja, Herr Gangler, das ist richtig. Aber wollen Sie den Jungen fortjagen? Ich kann es nicht!“ „Nun, das ist auch nicht meine Absicht. Ich möchte nur vermeiden, daß dadurch falsche Gerüchte in Umlauf kommen oder daß Krüger daraus irgendwelche Ansprüche herleitet.“ „Aber nein, der Junge ist in Ordnung, für den lege ich die Hand ins Feuer. Der ist ebenso wie Sie und ich mit dem Club verwachsen, ob er nun eine Mitgliedskarte hat oder nicht!“ „Lassen wir ihn also gewähren. Wir tun aber so, als bemerkten wir ihn gar nicht. Vielleicht ist sein Eifer auch nur Strohfeuer.“ „Bei dem bestimmt nicht!“ Herr Kullmann behielt recht. Werner kam, so oft es ihm seine Zeit erlaubte. Er wußte, an welchen Tagen die Ersten Junioren zum Schippen kamen, und blieb an diesen Tagen zu Hause. Als Werner sich Mitte Juli bei Herrn Gangler zum Urlaub abmeldete, wagte er den ersten Vorstoß. „Wohin soll die Reise gehen, Herr Krüger?“ „Ich bleibe hier, Herr Gangler.“ „So! Nun, von hier aus können Sie auch schöne Ausflüge und Wanderungen unternehmen. Also, erholen Sie sich gut und kommen Sie neu gestärkt wieder! — Sonst noch etwas?“ „Ja, Herr Gangler, ich habe noch eine Bitte. Sie wissen vielleicht, daß ich in der letzten Zeit im Stadion mitgearbeitet habe, auch wenn ich nicht mehr Vereinsmitglied bin. Ich möchte in meinem Urlaub gern eine besondere Arbeit ausführen.“ „Und was wäre das?“
„Wissen Sie, Herr Gangler, das Stadion wird durch den Umbau noch schöner. Es ist dann eigentlich alles in bester Ordnung, nur die vier Kassenhäuschen am Eingang sehen so alt und schäbig aus, da möchte ich gern neue bauen.“ „So, die Kassenhäuschen gefallen Ihnen nicht? Daran habe ich noch gar nicht gedacht; aber Sie haben recht, schön sind sie nicht mehr. Und wie haben Sie sich die Sache vorgestellt?“ Werner griff in seine Mappe und holte eine saubere Zeichnung hervor, die seinen Plan in allen Einzelheiten darstellte. Herr Gangler vertiefte sich in die Zeichnung und nickte einige Male anerkennend. „Gut und schön! Übrigens eine saubere Zeichnung! Aber das kostet Holz und Arbeitslohn.“ „Ich will das natürlich umsonst machen, aus reiner Freude an der Sache!“ „So! Und das Holz? Der Verein hat dafür kein Geld.“ „Vielleicht könnte das die Firma stiften“, wagte Werner vorzuschlagen. „Wir haben da im alten Lager einen Stapel Kiefernbretter, die sonst kaum noch verwendbar sind.“ „Das haben Sie also auch schon ausgekundschaftet!“ Herr Gangler mußte lächeln. Der Eifer und die Gründlichkeit des jungen Mannes gefielen ihm. „Ja, lieber Herr Krüger, die Sache gefällt mir, und Ihr Interesse freut mich. Die Holzfrage will ich untersuchen. Wenn Sie rechthaben, soll es der Verein bekommen — wie schon so vieles andere. Aber was machen wir mit Ihnen? Bezahlen kann ich Sie nicht, das sagte ich schon. Ich will aber mit dem Kantinenwirt sprechen, daß er Ihnen wenigstens ab und zu eine Flasche Bier auf Vereinskosten hinstellt. Aber eins möchte ich Ihnen gleich sagen: Sie können sich durch diese Hilfeleistung keine Anwartschaft auf die
Wiederaufnahme in den Verein erwerben. Darüber entscheide ich nicht allein, sondern der Gesamtvorstand, und der ändert seine Meinung nicht von heut auf morgen. Machen Sie sich also keine falschen Hoffnungen! Ob und wann Sie wieder einmal zu uns kommen, läßt sich heute noch nicht sagen, das wird auch im wesentlichen von Ihnen abhängen. Im übrigen freue ich mich aber, daß Sie trotz allem auf diese Weise Ihre Treue zu Schwarz-Gelb beweisen wollen. Und denken Sie daran: Sie haben bei mir gelernt, also müssen die Kassenhäuschen erstklassige Arbeit werden!“ „Vielen Dank, Herr Gangler! Ich werde mir alle Mühe geben.“ „Nichts zu danken. Holz, Handwerkszeug und alles andere schicke ich Montagvormittag zum Stadion, Sie können also gleich anfangen. Viel Freude und guten Erfolg!“ Werner ging mit Feuereifer ans Werk. Herr Kullmann, der die Sache seines jungen Freundes zu der seinen machte, half beim Abladen der Bretter, die in einen trockenen Raum unter der Tribüne gebracht wurden, der Werner als Arbeitsraum dienen sollte. Herr Kullmann versprach, fleißig zu helfen, soweit es seine Zeit erlaubte. So oft er aber in Werners Werkstatt kam, stand er im Wege und gab unmögliche Ratschläge. Zur Mitarbeit kam er vor lauter Erzählen nicht. Werner kannte die Geschichten aus Kullmanns Fußballvergangenheit schon lange auswendig, hörte sie jetzt aber gern noch einmal. Man mußte den Eindruck gewinnen, daß Herr Kullmann in der Ersten von Schwarz-Gelb gespielt hatte, als Tacitus den Römern die erste genauere Kunde von den alten Germanen gebracht hatte. So weit lag das alles zurück. An einem sonnigen Vormittag kam Herr Kullmann wieder in die Werkstatt.
„Werner, komm doch mal mit raus. Binde aber die Schürze ab!“ Werner folgte ihm. Zu seinem Erstaunen traf er draußen Herrn Schmidt im Trainingsanzug mit einem Ball unter dem Arm. „Wir beiden Alten können es nicht lassen“, sagte Herr Schmidt grinsend. „Wenn wir hier ganz allein sind, spielen wir ab und zu ein bißchen Fußball. Sie könnten wir als Torwart ganz gut gebrauchen. Haben Sie Lust?“ Und ob Werner Lust hatte! Kullmann und Schmidt waren nicht mehr die Jüngsten, aber sie zeigten doch, daß sie einmal viel gekonnt hatten, und hielten Werner in Atem. Dreimal schoß Schmidt halbhoch neben dem linken Pfosten, dreimal griff Werner daneben. „Wissen Sie noch? Das ist die schwache Stelle des Herrn Krüger!“ „Tatsächlich! Was macht man da?“ „Das bringen wir Ihnen bald bei! Jeden Tag trainieren, wenn Sie Lust und Zeit haben. Ich werde Ihnen dann auch ein bißchen bei der Arbeit helfen, damit Sie rechtzeitig fertig werden.“ Werner war damit sehr einverstanden. Herr Schmidt nahm ihn sich nun regelmäßig vor und ließ nicht locker. Werner mußte ihm immer wieder den Ball von der Torlinie aus zurollen, und dann pfiff er jedesmal neben dem linken Pfosten ins Tor. Werner spürte bald, daß dieser Mann mit gutem Recht in der Nationalmannschaft gestanden hatte. Da gab es keine Schüsse über oder neben das Tor. Der Ball schlug immer da ein, wo Schmidt ihn haben wollte. Er ließ manchmal Kullmann schießen und stellte sich neben das Tor, korrigierte Werners Haltung, gab Anweisungen und Ratschläge, und ruhte nicht eher, bis Werner am Rande der Verzweiflung war. Es dauerte eine Weile, bis Werner begriff, worauf es
ankam. Links mit der linken Hand, das war das Leitmotiv der Trainingsarbeit. Werners Linke war leider völlig vernachlässigt. Herr Schmidt versuchte es auch mit hohen Bällen, die Werner fausten mußte. Er ging so weit, den rechten Arm am Körper festzubinden, so daß Werner gezwungen war, den linken zu gebrauchen. Nach der täglichen Trainingsstunde taten Werner sämtliche Knochen weh. Und es ging ihm wie manchem Jungen mit dem Schwimmen. Da wird mit Todesverachtung geübt und geübt, und man kommt trotzdem bei jedem Versuch in die Gefahr zu ertrinken. Und mit einem Male kann man es, als wäre es ganz selbstverständlich und gar nicht schwer. Eines Tages war Werner so weit: Schüsse auf die linke Seite hielt er automatisch mit der linken Hand, als hätte er es nie anders getan. Wenn es regnete, unterrichtete Herr Schmidt an einer Tafel, auf der er Werner taktische Kniffe, richtiges Stellungsspiel und anderes beibrachte. Daneben legte er Wert auf genaue Kenntnis der amtlichen Spielregeln. Er sagte zwar nie, daß er mit seinem Schüler zufrieden sei, aber er war es. Daneben wurde der Bau der Kassenhäuschen keinesfalls vergessen. Herr Schmidt hielt sein Versprechen und half Werner, wobei er eine erstaunliche Geschicklichkeit bewies. Fünf Tage vor dem gesetzten Termin waren alle vier Häuschen fertig. Werner und seine beiden Helfer umstanden ihr Werk und fanden es gut. „Obendrauf gehört Dachpappe, und dann müssen die Dinger schön gestrichen werden!“ stellte Herr Kullmann fest. „Womit? Mit nassem Sand? Farbe haben wir nicht.“ Herr Kullmann überhörte diesen Einwand, er war noch nicht so weit.
„Eine Rolle Dachpappe habe ich noch. Die haben wir früher gebraucht, als es bei der alten Tribüne immer durchregnete. Und Farbe? Woher nehmen und nicht stehlen?“ Er dachte eine Weile scharf nach und hatte dann wieder einmal den rettenden Gedanken. „Ist nicht der Farben-Meyer passives Mitglied? Der wartet sicher schon seit Jahren darauf, dem Verein einen Dienst erweisen zu können. Das wäre für ihn eine nie wiederkehrende Gelegenheit. Dem müssen wir ein paar Kilo Ölfarbe entreißen!“ Mit Herrn Schmidt fuhr er in die Stadt, und tatsächlich schleppten die beiden nach etwa zwei Stunden Farben in ausreichenden Mengen und Pinsel an. Herr Meyer hatte ihnen ein schönes Grün dringend empfohlen, Herr Kullmann hatte aber alle Farben außer schwarz und gelb kategorisch abgelehnt. Über die Art des Anstriches konnte man sich zuerst gar nicht einig werden. Herr Schmidt war für Schrägstreifen, aber Herr Kullmann war gegen alles, was irgendwie an Schilderhäuser erinnerte. Oben gelb und unten schwarz, wie Werner es vorschlug wurde auch abgelehnt. Schließlich einigte man sich auf große Karos in der Art des Schachbretts. Herr Kullmann fand auch dies nicht schön, wurde aber überstimmt. Das Wetter war warm und trocken, und so konnte man gleich nach Herzenslust mit dem Streichen beginnen. Herr Schmidt verstand etwas von der Sache und zeigte den anderen, wie man mit möglichst wenig Farbe und Mühe einen sauberen Anstrich zuwegebrachte.
Belohnung und neuer Anfang Am Tage vor Beginn der neuen Spielsaison wurden die alten Kassenhäuschen abgerissen, und abends standen die neuen an Ort und Stelle. Werner postierte sich am Sonntagnachmittag unauffällig in der Nähe seines Werkes und labte seine Seele an den anerkennenden Worten, mit denen man von der Existenz der neuen Kassenhäuschen Kenntnis nahm. Zur gleichen Zeit hielt der Vorstand von Schwarz-Gelb eine außerordentliche Sitzung ab. „Meine Herren“, sagte Herr Gangler, „wir können uns heute kurz fassen, es steht nur ein Punkt auf der Tagesordnung: Wiederaufnahme von Werner Krüger. Sie wissen noch, meine Herren, welche Gründe uns vor Monaten veranlaßten, Krüger auszuschließen. Ich habe den jungen Mann, der bekanntlich in meiner Fabrik arbeitet, aufmerksam beobachtet und konnte die Feststellung machen, daß er sich in der Zwischenzeit sehr zu seinem Vorteil verändert hat. Aus der damaligen Affäre, die mehr eine Dummheit war, hat er viel gelernt. Besonders hat mich seine unverminderte Anhänglichkeit an seinen alten Verein gefreut. Sie wissen wohl, daß er sich für die Bauarbeiten freiwillig zur Verfügung gestellt hat und daß die neuen Kassenhäuschen, die jetzt unseren Platzeingang schmücken, vonihm entworfen und gebaut wurden. Das allein würde nach meiner Ansicht genügen, seine Wiederaufnahme zu befürworten. Es kommt aber noch etwas Wichtiges hinzu: Unser Trainer hat in den letzten Wochen fleißig mit Krüger gearbeitet, ohne daß der junge Mann ahnte, daß dies in unserem Auftrage geschah. Krüger ist ein Torwarttalent, und er hat viel dazugelernt. Unser alter Gerling muß
durch einen jungen Mann ersetzt werden, und ich glaube, daß Krüger dieser Aufgabe bald gewachsen sein wird.“ „Ist das nicht etwas zu früh? Der junge Mann ist doch wohl eben erst achtzehn Jahre alt geworden?“ wandte einer der Herren ein. „Das dürfte mit dem Alter wenig zu tun haben. Kurt Lang war auch nicht älter, als wir ihn in die Erste übernahmen.“ „Man kann es ja schließlich einmal versuchen“, meinte ein anderer. „Der Meinung bin ich auch“, sagte Herr Gangler. „Ich bin dafür — vorausgesetzt, daß mein Antrag angenommen wird —, daß wir Krüger am nächsten Sonntag einmal in der Reservemannschaft spielen lassen. Da kann er zeigen, was er gelernt hat.“ Herr Schmidt, den man zur Teilnahme an der Sitzung aufgefordert hatte, meldete sich zum Wort. „Ich habe durchaus den Eindruck, daß Krüger es schaffen wird. Er hat die Fähigkeit dazu, und was ihm noch fehlt, muß die Praxis bringen. Ich bin als verantwortlicher Trainer besonders daran interessiert, daß ein guter Mann im Tor steht, und ich habe jetzt zu Krüger volles Vertrauen, auch in menschlicher Hinsicht.“ Herr Gangler bat, über die Wiederaufnahme abzustimmen. Der Antrag ging einstimmig durch. Herr Gangler mußte nicht lange überlegen, wo er Werner suchen sollte. Er fand ihn bei Herrn Kullmann. „Herr Krüger, ich möchte Ihnen im Namen des Vorstandes für die gute Arbeit danken, die allgemeinen Beifall findet. Bezahlen können wir Sie nicht. Wir glauben aber, Ihnen hiermit eine kleine Freude machen zu können!“ Er übergab Werner seine alte Mitgliedskarte, die der Junge mit strahlendem Gesicht entgegennahm.
„Nichts zu danken, lieber Krüger, das haben Sie sich ehrlich verdient, und ich freue mich sehr, daß es so gekommen ist. Und am nächsten Sonntag spielen Sie wieder. Ich weiß noch nicht, für welche Mannschaft wir Sie einsetzen, bringen Sie aber den Koffer mit!“ Spinne war glücklich wie ein Kind am Weihnachtsabend. Nach dem Spiel marschierte er erhobenen Hauptes nach Hause. Er gehörte wieder zu Schwarz-Gelb! Am nächsten Sonntag erschien Werner mit Koffer schon kurz nach neun Uhr auf dem Sportplatz, obwohl er genau wissen mußte, daß zu so früher Zeit bestenfalls Schülermannschaften spielen würden. Aber sicher ist sicher, sagte er sich. Von seiner Mutter hatte er sich für den ganzen Tag verproviantieren lassen. Auch hier hatte er sich gesichert. Das Spiel der Ersten gegen Mainau war auf 16.30 angesetzt. Um 14.45 spielte die Reserve, vorher hatten die Ersten Junioren ihr erstes Pflichtspiel der Saison. Während der ganzen Zeit würden auf den Nebenplätzen die unteren Mannschaften spielen. Das ist ein Kapitel für sich: die unteren Mannschaften. Es gibt da kaum Zuschauer, Spesen werden nicht zurückerstattet, an irgendwelche Sonderzuwendungen ist nicht zu denken. Die Spieler sind schon zufrieden, wenn der Verein das Jersey stellt, damit sie wenigstens gleichmäßig gekleidet sind. Sie sind alle keine großen Könner, die Spieler der unteren Mannschaften. Wenn einer aus der Jugend in die vierte Senioren-Mannschaft übernommen wird, ist es aus mit der Hoffnung auf Ehre und Ruhm. Schießt Kurt Lang in der Ersten ein Tor, kann man das mit allen Einzelheiten in jeder Zeitung lesen. Ist Otto Krause in der fünften Mannschaft dreimal erfolgreich, spricht kein Mensch davon, vielleicht
erscheint in der Vereinszeitung ein kurzer Spielbericht, wenn dafür Platz vorhanden ist. Und doch sind die Spieler der unteren Mannschaften, die Namenlosen und Unbekannten, das eigentliche Fundament des Fußballsports. Hier ist die echte Begeisterung und die unwandelbare Treue zum Verein. Man kennt keine Starallüren und denkt auch nicht daran, den Verein zu wechseln, weil woanders vielleicht mehr geboten wird. Für die Massen werden die Spitzenmannschaften immer der Magnet bleiben. Der reine Sportgedanke lebt aber bei denen, die ihrem geliebten Sport Opfer an Zeit und Geld bringen. Doch zurück zu unserem Freund Spinne. Der saß bei Herrn Kullmann und wartete auf Abruf. Niemand konnte ihm sagen, in welcher Mannschaft er spielen würde, und Herr Gangler war noch nicht anwesend. Um 14.15 spielten die zweite und die vierte Mannschaft, um 16.30 die fünfte. Eine dieser Mannschaften würde wohl in Frage kommen. Werner hätte gern wieder mit den Ersten Junioren gespielt, aber das Spiel war schon ohne ihn im Gange. Um halb drei erschien Herr Gangler. „Also, Herr Krüger, nun kann’s wieder losgehen! Gehen Sie in Kabine sechs, Sie spielen in der Reserve. Zufrieden?“ Werner dankte erfreut und eilte davon. In der Kabine traf er Herrn Schmidt, der ihn den Spielern, soweit er sie nicht schon kannte, vorstellte. Der Trainer, dem die Reserve ebenso wichtig war wie die Erste, gab noch einige Anweisungen. Die Reserve von Mainau war bekannt und gefürchtet, dreimal war die Mannschaft hintereinander Meister geworden. „Kümmert euch besonders um die beiden Außen, das sind erfahrene Leute, die noch für die Erste gut sind“, sagte er zu den beiden Verteidigern. „Nicht zu weit
aufrücken, den Ball immer gleich nach vorn, keine Einzelkämpfe! Und auf Werner Krüger könnt ihr euch verlassen, da braucht ihr nicht auszuhelfen.“ Anschließend wurden noch einige taktische Fragen besprochen, und dann war es Zeit, auf den Platz zu gehen. Für Werner begann nun die Stunde der Bewährung. Er war kein Neuling zwischen den Pfosten. Bald aber konnte er erkennen, daß es bei den Junioren doch anders zugegangen war als hier in einer „Männer“Mannschaft. Was dort Spiel war, wurde hier harter Kampf, bei dem alle erlaubten Mittel eingesetzt wurden und es keinen Pardon gab. Schwarz-Gelb spielte sich zunächst eine leichte Feldüberlegenheit heraus, und Werner wurde in der ersten Viertelstunde nur wenig beschäftigt. Dann gab es nacheinander zwei saftige Schüsse dicht neben den linken Pfosten. Beide Bälle hielt Werner scheinbar spielend. Herr Schmidt, der in der Nähe des Tores an der Außenlinie hockte, rief Werner zu: „Gelernt ist gelernt! Da müssen sie dir schon anders kommen!“ Mainau kam immer mehr auf. Anscheinend hatten die Stürmer Anweisung, die Deckung des Gegners durch Steilvorlagen aufzureißen und aus jeder Lage zu schießen. Da stand ein Jüngling im Tor, der sich wohl erst die Sporen verdienen sollte. Sie hatten aber nicht damit gerechnet, daß dieser Jüngling ein Könner war. Weitschüsse konnten Werner überhaupt nicht imponieren. Ob sie nun hoch oder flach auf das Tor kamen, sie fanden ihn immer auf dem Posten. Bei ein paar Schüssen aus der Nähe reagierte er ausgezeichnet und hielt sein Tor rein. Er war dabei erstaunlich ruhig. Zunächst gab ihm die Freude, wieder spielen zu dürfen, einen gewaltigen Auftrieb, und dann wußte er auch, daß er etwas konnte und daß er das heute beweisen würde.
Er war den Stürmern des Gegners fast dankbar, daß sie ihm Gelegenheit gaben, sich auszuzeichnen und ein paar „todsichere“ Sachen unschädlich zu machen. Mit 0:0 ging es in die Pause. Als Werner wieder auf den Platz kam, wunderte er sich, daß schon so viele Zuschauer erschienen waren. Seinetwegen waren die kaum gekommen. Das erste Verbandsspiel wollte nach so langer Pause niemand versäumen, und wer rechtzeitig erschien, konnte auf einen guten Platz rechnen. Außerdem war Mainau ein Gegner, der ein lebhaftes und abwechslungsreiches Spiel versprach. Die Zuschauer, natürlich in der Mehrzahl Anhänger des Platzvereins, feuerten die Reserve-Elf von SchwarzGelb tüchtig an. Es zeigte sich bald, wie wichtig eine solche Unterstützung ist: das Spiel der Schwarz-Gelben bekam Farbe, und in der 60. Minute fiel der Führungstreffer. Jetzt drängte Mainau ungestüm auf den Ausgleich. Alles wurde nach vorn geworfen, man verzichtete bewußt auf eine betonte Torsicherung. 2:0 ist ebenso verloren wie 1:0, und nur mit verstärktem Einsatz konnte man ein Unentschieden erreichen oder gar noch gewinnen. Der Schwung von Schwarz-Gelb erlahmte allmählich, man wurde völlig in die Verteidigung gedrängt. Werner bekam nun reichlich Gelegenheit zu zeigen, daß er mit jeder Art von Torschüssen fertig wurde. In der letzten Viertelstunde rollten die Angriffe pausenlos gegen sein Tor. Inzwischen hatte sich das Stadion restlos gefüllt. Durch zwei Verletzungen war Zeit verlorengegangen, die nachgespielt werden mußte. Schon standen die Mannschaften für das Hauptspiel wartend an der Tribünenseite, und die Presse hatte ihre Plätze eingenommen.
Werner wollte das 1:0 unbedingt halten. Durch seine glänzenden Paraden brachte er die Stürmer von Mainau allmählich zur Verzweiflung, die Zuschauer dagegen zollten ihm für seine Leistungen reichen Beifall. Werner und seine Kameraden kämpften bis zum Umfallen, die Menge ging immer mehr mit und verfolgte interessiert den heroischen Abwehrkampf der Reservemannschaft. Und doch schien es in letzter Minute so, als sollte Mainau wenigstens der verdiente Ausgleich glücken. Der Mittelstürmer nahm an der Strafraumgrenze eine schöne Vorlage auf und schoß mit voller Kraft. Er sah den Ball schon im Netz und riß jubelnd die Arme hoch, aber Werner schnellte wie ein Panther empor und traf den Ball mit der Faust. Der sprang hoch, fiel zurück auf die Querlatte und rollte über das Netz ins Aus. Der Eckball wurde zwar noch ausgeführt, aber kaum war der Ball getreten, pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab. Werner wurde von seinen Kameraden beglückwünscht. „Das hast du großartig gemacht, die beiden Punkte verdanken wir dir!“ „Mach nur so weiter, dann wirst du bei uns nicht alt!“ „Wieso?“ „Die Erste wird dich schon bald beschlagnahmen, darauf kannst du warten!“ Als Werner über den Platz zur Kabine ging, brauste noch einmal lebhafter und herzlicher Beifall auf, der allein dem jungen Tormann galt. Das Hauptspiel endete mit einem 3:4-Erfolg der Gäste. Hier war das Verhältnis genau umgekehrt: Schwarz-Gelb war eindeutig überlegen, aber eine schwache Torwartleistung entschied das Spiel zugunsten des Gegners. Die „Fußballwoche“ schrieb unter anderem:
Am interessantesten bei dem gestrigen Spiel „Schwarz-Gelb“ gegen „Mainau“, das mit einem unverdienten 4:3-Sieg der Gäste endete, war das Vorspiel der Reservemannschaften. „Schwarz-Gelb“ hat da erstmalig einen jungen Torwart eingesetzt, der sich als ein ungewöhnliches Talent entpuppte. Man wird sich den Namen dieses 18jährigen Werner Krüger merken müssen. Vermutlich wird man ihn bald zu größeren Aufgaben heranziehen, denn „Schwarz-Gelb“ muß sich nach einem neuen Tormann umsehen. Zwei von den vier Toren, die Gerling zuließ, hätte Krüger sicher verhindert. Werners Mutter schnitt diesen Artikel aus der Zeitung aus und klebte ihn auf die erste Seite einer kleinen Mappe. „Wir wollen doch einmal sehen, was da noch alles hinzukommt“, sagte sie stolz. Auch bei den nächsten beiden Spielen hütete Werner das Tor der Reserve-Mannschaft. Dann war es so weit. Ausgerechnet beim Spiel gegen den FC Neustadt wurde Werner erstmalig für die Erste aufgestellt. Herr Gangler erklärte dazu lachend: „Das habe ich mir als besonderen Trumpf aufgehoben. Denen wollen wir doch einmal zeigen, was sie sich da entgehen ließen. Herr Scholz wird ein komisches Gesicht gemacht haben, als er unsere Mannschaftsaufstellung gelesen hat!“ Kurt Lang freute sich aufrichtig, Werner nun in „seiner“ Mannschaft zu haben. Kurt, der anerkannt beste und auch sympathischste Spieler, war von seinen Kameraden zum Kapitän der Mannschaft gewählt worden. Auf der Fahrt nach Neustadt saß er im Omnibus neben Werner, und sie plauderten von alten Zeiten. Werner hatte sich einen knallroten Pullover zugelegt. Dazu trug er schwarze Hosen und eine dunkle
Schirmmütze. Dieser Pullover sollte, ebenso wie die Mütze, Werners Kleidung bei allen Spielen bleiben, bis er später einmal abtreten würde. Die Mannschaft des FC erhielt von Herrn Scholz die Weisung: „Schießen und schießen, aus jeder Lage und jeder Entfernung! Der junge Krüger, den sie heute mitgebracht haben, hat einmal vor einigen Monaten in unserer Ersten Juniorenelf gespielt, da hat er neun Tore zugelassen. Also immer drauf schießen!“ Herr Scholz hatte seine Rechnung allerdings ohne Werner und Herrn Schmidt gemacht. Von dem intensiven Training konnte er ja auch nichts wissen. Die Neustädter schossen, was das Zeug hielt. Aber sie merkten bald, daß da etwas nicht stimmte. Mit Weitschüssen konnte man dem jungen Mann nicht beikommen, da mußte man schon schwereres Geschütz auffahren. Wenn man da nicht aus der Nähe und sehr placiert schoß, war wohl kaum etwas zu machen. Außerdem wirkte der rote Pullover irgendwie irritierend. Man konnte diesen roten Fleck zwischen den Pfosten so schön als Zielpunkt benutzen, und das tat man auch. Dadurch schien es, als zöge Werner alle Schüsse wie ein Magnet auf sich. Die erste Großoffensive des FC verlief im Sande oder endete, besser gesagt, in Werners Armen. Schwarz-Gelb empfing durch die scheinbare Unüberwindlichkeit ihres Torhüters die Ruhe, die in den letzten Wochen gefehlt hatte. Da hatte man sich vorn abmühen und Tore schießen können, und es war doch umsonst gewesen, weil es hinten nicht klappte. Das Führungstor erzielte Schwarz-Gelb kurz vor der Pause, als Machter einen Idealpaß von Kurt Lang einschob. Die zweite Hälfte begann mit einigen wütenden Angriffen des FC. Man wollte unbedingt den Ausgleich
erzwingen. Aber Werner war anscheinend wirklich nicht zu überwinden. Er fühlte sich ganz in seinem Element und fing allmählich an, die gesamte Abwehr vom Tor aus zu organisieren. Er gab den beiden Verteidigern mit einer entwaffnenden Selbstverständlichkeit Anweisungen, und auch der Mittelläufer mußte es sich gefallen lassen, daß er durch Zurufe von Werner eingewiesen wurde. Die drei waren sicher zehn Jahre älter als der junge Torwart, aber sie erkannten bald, daß der Junge zwischen den Pfosten sein Fach verstand, und sie fügten sich willig. Und dann schien dem FC der Ausgleich doch zu glücken. Der Halblinke war bis in den Strafraum vorgedrungen und wurde bei dem Versuch, den Verteidiger zu umspielen, von diesem unfair gelegt. Da gab es nur eine Entscheidung: Elfmeter! Der Übeltäter sah Werner betrübt an. „Nun klingelt es doch bei uns!“ „Abwarten“, sagte Werner ganz ruhig, „solange gesungen wird, ist die Kirche nicht aus.“ Im weiten Rund des Stadions herrschte Grabesstille. Der Unparteiische wies die Spieler hinter die Grenze des Strafraums zurück und legte den Ball auf den Elfmeterpunkt. Der FC beauftragte den stämmigen Mittelstürmer mit der Exekution. Werner stand abwartend auf der Torlinie, mit federnden, leicht gebeugten Knien. Durch die atemlose Stille schrillte der Pfiff des Schiedsrichters. Der Mittelstürmer faßte noch einmal das Tor ins Auge und lief dann .an. Unheimlich scharf geschossen sauste der Ball flach auf die rechte Ecke zu. Wie ein Pfeil flog Werner auf die bedrohte Seite, und die ausgestreckte Hand konnte den Ball aufhalten. Auf dem Boden liegend, schob ihn Werner um den Pfosten ins Aus.
Aufatmend blieb er liegen. Die Bombe hätte ich also gehalten, dachte er erfreut. Seine Kameraden hoben ihn begeistert auf und zerdrückten ihn fast. „Bravo, alte Spinne!“ rief Kurt Lang und schlug ihm mit der Hand auf den Rücken. Die Enttäuschung machte sich unter den Zuschauern zunächst durch ein lautes Stöhnen bemerkbar, dann aber bekam Werner doch den verdienten Beifall für die feine Leistung. Den hoch hereinkommenden Eckball schlug Werner mit der Faust weit ins Feld. Der rechte Läufer nahm den Ball aus der Luft, ohne ihn zu stoppen, und schlug ihn weit über das ganze Feld zum Linksaußen. Der gab ihn sofort durch eine Lücke in der Deckung des Gegners zum Halbrechten, der Kurt Lang umgehend mit einer Steilvorlage in den freien Raum bediente. Kurt lief noch ein paar Schritte und schoß dann vom Elfmeterpunkt im vollen Lauf unhaltbar ein. Mit einem solchen Schuß hätte man auch Werner bezwingen können.Da war nun aus dem erhofften 1:1 im Handumdrehen ein 2:0 geworden! Dieser zweite Treffer war ein richtiges Bilderbuchtor. Nach der Faustabwehr durch Werner war der Ball blitzschnell im Zickzack nach vorn getrieben worden, ohne daß ein Gegner ihn berührt hätte. Ebenso sauber wie die Kombination, die nicht einmal 30 Sekunden gedauert hatte, war der Torschuß gewesen. Das Spiel schien entschieden. Der verpaßte Ausgleich und der sofort darauf folgende zweite Treffer des Gegners hatte dem FC den Schneid abgekauft. Es wollte nichts mehr gelingen. Andererseits bekam Schwarz-Gelb einen gewaltigen Auftrieb, und es sah mehrmals so aus, als könnte der Vorsprung noch vergrößert werden. Werner bekam noch einige Male Gelegenheit, sich auszuzeichnen, und dann war sein erstes Spiel in der Ersten zu Ende.
Strahlend ging Werner vom Platz und nahm die zahlreichen Glückwünsche entgegen. „Hast du nun dein Ziel erreicht?“ fragte Kurt Lang. „Die erste Etappe“, war die geheimnisvolle Antwort. „Ich habe noch viel vor!“ „Das hast du fein gemacht“, sagte Machter, der beinahe Werners Vater hätte sein können. „Wenn du den Elfer nicht gehalten hättest, wäre das Spiel für uns wahrscheinlich verlorengegangen.“ Herr Gangler kam in die Kabine. „Was sagt die Erste zu diesem Jüngling?“ Kurt Lang antwortete als Kapitän für alle: „Wir werden ihn wohl behalten müssen, sonst weint der Kleine!“ Alles lachte, und damit war Werner als vollwertiges Mitglied in die Erste aufgenommen. Und wie betrüblich hatte es vor einem halben Jahr ausgesehen! Da hatte man einem gewissen Werner Krüger die Mitgliedskarte abgenommen, weil er Dummheiten gemacht hatte. Seine alten Freunde hatten ihm geholfen, den Weg zurück zu finden: Herr Gangler, Kurt Lang und Herr Kullmann, zu denen sich nun Herr Schmidt gesellt hatte. An dem Tage, an dem Werner ausgeschlossen wurde, war man sich klar geworden, daß man dem Jungen helfen müsse. Alles, was seitdem geschah, schien ohne Zusammenhang, es waren aber doch alles Glieder der gleichen Kette. Die Kaffee-Einladung zu Kurt Lang, die Möbelarbeiten bei Herrn Schmidt, die Tribünenkarte für das Nürnbergspiel, der Hinweis auf den Stadion-Umbau, das Training mit Herrn Schmidt — das alles war durchaus nicht zufällig, sondern überlegt und verabredet. Alle wußten davon, nur Werner nicht, und der hat es auch nie erfahren.
SPINNE AM ZIEL Der neue Meister Bereits in der neunten Minute fiel das erste Tor für den SC Bremen. Der linke Verteidiger von Schwarz-Gelb war bei dem Versuch, den Rechtsaußen der Bremer aufzuhalten, plötzlich umgeknickt und ging hinkend zum Rande des Spielfeldes. Sein Ausfall nötigte den Mittelläufer, dem Rechtsaußen entgegenzueilen. Der gab den Ball zum Halbstürmer, der ihn zu dem nun freistehenden Mittelstürmer schob. Bevor sich die Verteidigung von Schwarz-Gelb neu formieren konnte, sauste aus kurzer Entfernung ein Flachschuß in die Torecke. Werner Krüger im Tor hatte keine Abwehrmöglichkeit und gab den Ball resigniert zur Mitte. 1:0 nach knapp zehn Minuten — das mußte man nicht unbedingt tragisch nehmen. Aber was war mit dem linken Verteidiger geschehen? Er saß in der Obhut des Masseurs außerhalb des Spielfeldes und verzog schmerzhaft das Gesicht. Der Trainer Schmidt stellte durch Zurufe die Mannschaft um. Der Mittelläufer ging in die Verteidigung, seinen Platz nahm der Halblinke Kurt Lang ein. Dadurch wurde der Sturm entscheidend geschwächt, denn Lang war es, der ihn dirigierte, der die Tore schoß oder sie vorbereitete. „Was ist mit Rudi los? Ob er weiterspielen kann?“ Die Frage galt Kullmann, der wie stets hinter dem Tor hockte. „Ich werde mal fragen.“ Der Masseur war dabei, das rechte Knie von Rudi Kölsch zu bandagieren. „Wo fehlt’s?“ fragte Kullmann.
„Anscheinend eine Zerrung“, antwortete der Masseur. „Vielleicht geht es mit einer festen Bandage. Rudi will es jedenfalls versuchen.“ „Es muß gehen!“ sagte Rudi. „Die können doch nicht mit zehn Mann spielen!“ Er erhob sich mühsam, und man sah ihm an, daß ihm jede Bewegung Schmerzen verursachte. „Versuche es auf Linksaußen“, meinte der Trainer, „aber mute dir nicht zu viel zu.“ Rudi meldete sich beim Schiedsrichter zurück und humpelte unter dem Beifall der Zuschauer auf seinen neuen Posten. Schmidt baute die Mannschaft erneut um, so daß Kurt Lang wieder halblinks stürmte. Schwarz-Gelb ließ sich durch diesen Zwischenfall nicht entmutigen, obwohl er entscheidend sein konnte. Es ging um viel in diesem Spiel: der Sieger sollte nach vierzehn Tagen zum Endspiel um die Deutsche Meisterschaft antreten. Der SC Bremen war ein alter, bekannter Verein, der fast immer dabeigewesen war, wenn es um die höchste Krone ging. Schwarz-Gelb nahm dagegen zum ersten Male an den Endspielen teil. Man hatte diesem Provinzverein in Fachkreisen keine großen Chancen eingeräumt. Als aber die ersten Spiele klar gewonnen wurden, horchte man auf. Namen wie Kurt Lang und Werner Krüger wurden bekannt. Der junge Torwart schien ein ganz außergewöhnliches Talent zu sein. „Paß auf!“ rief Kullmann. Er war wesentlich aufgeregter als Werner, der seinem Können und seinem sprichwörtlichen Glück vertraute. „Keine Angst, Herr Kullmann, mehr als ein Tor dürfen die Bremer heute nicht schießen.“ „Na, Spinne, wie sieht’s denn aus?“ fragte Kurt Lang, der zur Abwehr eines Eckballes zurückgeeilt war. „Wir gewinnen 2:1!“ „So? Du mußt es ja wissen, alter Freund!“
„Sicher! Da wir Deutscher Meister werden, müssen wir heute gewinnen. Aber paß auf! Decke den Mittelstürmer besser!“ Vier Spieler sprangen nach dem hoch hereinkommenden Ball. Werner traf ihn mit der Faust. Da er aber behindert wurde, brachte er ihn nicht weit genug fort, und der rechte Läufer der Bremer schoß ohne zu zögern. Das mußte ein Tor geben! Nein! Werner Krüger riß die Arme hoch und hielt das Leder fest. Im nächsten Augenblick war Schwarz-Gelb wieder im Angriff. Sieben Jahre waren vergangen, seit sich SchwarzGelb — damals noch ohne Spinne — den Platz in der Oberliga zurückerobert hatte. In den folgenden Jahren war man über einen Mittelplatz in der Tabelle nicht hinausgekommen. Im letzten Jahr stand man auf Platz drei, und nun wollte man Deutscher Meister werden. Mit 1:0 für Bremen ging man in die Pause. Aber schon in der fünfzigsten Minute fiel der Ausgleich, als Kurt Lang im Anschluß an einen Eckball den Torhüter, der in der Sicht behindert war, mit einem Langschuß überwinden konnte. Rudi war in der Pause eingehend untersucht worden. Der Arzt stellte eine Zerrung fest, die mehr schmerzhaft als gefährlich war. Und gerade dem hinkenden Linksaußen gelang es, die Entscheidung zugunsten von Schwarz-Gelb einzuleiten. In einer harmlosen Situation bekam er ungedeckt den Ball und hastete damit die Seitenlinie entlang. Er achtete nicht auf den unerträglichen Schmerz in seinem Knie. Den Verteidiger, der ihm den Weg abschneiden wollte, täuschte er, und dann hob er den Ball so geschickt in den Strafraum, daß der mitgelaufene Rechtsaußen nur zuzuschlagen brauchte. Der Bremer Torwart riß zwar die Arme hoch, aber der Ball war schon im Netz.
Rudi kroch stöhnend auf allen vieren aus dem Spielfeld. „Jetzt müßt ihr ohne mich auskommen“, sagte er zu Kurt Lang, der sich um ihn bemühte. „Haltet das 2:1, das genügt für heute.“ „Das hast du großartig gemacht“, lobte Kurt. „Bleibe draußen, wir werden die letzten Minuten mit zehn Mann verteidigen.“ Auf Kullmann gestützt, humpelte Rudi zur Kabine. Alle verzweifelten Versuche der Bremer, das Blatt in den letzten Minuten noch zu wenden, halfen nichts. Schwarz-Gelb verließ als Sieger den Platz. Das Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft war auf den 23. Juni im Stuttgarter Neckarstadion angesetzt. Gegner von Schwarz-Gelb war der Hamburger FC, der das Spiel der Vorschlußrunde mit 5:1 gewonnen hatte und allgemein als Favorit galt. Je näher der Termin rückte, desto größer wurde das allgemeine Interesse. Die Zeitungen brachten immer längere Berichte über die Mannschaften, ihre Aussichten, die Vorbereitung in der Schwabenmetropole und alles, was mit einem so großen sportlichen Ereignis zusammenhängt. So erfuhren alle, die es wissen oder nicht wissen wollten, wie alt, wie groß, wie schwer jeder Spieler war, was er tat, was er dachte und wie er aussah. Diese Meldungen waren einfach, soweit es sich um den Hamburger FC handelte. Da brauchte man nur in den Archiven nachzublättern und einiges zu ergänzen. Schwieriger war es, Material über Schwarz-Gelb zu beschaffen. Es war daher unvermeidlich, daß es im Heimatort dieses Vereins bald von Reportern wimmelte, die eifrig forschten und fragten. Werner Krüger wurde wütend, als ihn der fünfte Pressemann ausfragen wollte. „Ich bin ein einfacher Tischlergeselle und spiele nebenbei
Fußball. Das, was Sie von mir wissen müssen, können Sie sonntags auf dem Sportplatz erfahren.“ Es fanden sich aber genug Leute, die etwas über Werner Krüger erzählen konnten, und so wußte bald jeder gründlich über ihn Bescheid. Es imponierte, daß er erst zwanzig Jahre alt war, und man fand es spaßig, daß er Spinne genannt wurde. Während der Trubel um das Endspiel allmählich seinem Höhepunkt entgegenging, zogen sich die beiden Mannschaften in die Einsamkeit zurück. Die Hamburger verschwanden im nahegelegenen Schwarzwald, und Schwarz-Gelb bezog in der ländlichen Stille nahe bei Stuttgart Quartier. Ein leichtes Training sorgte dafür, daß die Spieler in Form blieben, sonst war der Hauptpunkt des Programms: Ruhe! Am Freitag vor dem Spiel wurde das Neckarstadion besichtigt, anschließend wurde ein kurzer Stadtbummel genehmigt. Dabei ging man in kleinen Gruppen, um jedes Aufsehen zu vermeiden. Die Vereinsleitung richtete es so ein, daß bei jeder der Gruppen einer der Offiziellen war. Kurt Lang und Werner Krüger schlossen sich Kullmann an, der die Stadt kannte. Obwohl sie sich vorgenommen hatten, möglichst wenig an das Endspiel zu denken und nicht darüber zu sprechen, drehten sich die Gedanken und die Unterhaltung um nichts anderes. „Es wäre schön, wenn wir es am Sonntag genauso schafften wie damals“, sagte Kullmann. „Erinnerst du dich noch, Kurt?“ „Natürlich, es war doch mein erstes Spiel in der Ersten!“ „Und das erste Tor!“ rief Werner. „Das werde ich nie vergessen. Am Sonntag mußt du das wiederholen, solche Sachen zeigen wir nur bei ganz großen Gelegenheiten.“
Kullmann lachte. „Auf euch beide kommt es besonders an“, meinte er. „Wenn du, Kurt, in Höchstform bist, fallen bestimmt ein paar Tore, und wenn Werner auf der Hut ist, kann hinten nicht allzuviel passieren.“ „Sie tun gerade so, als wären wir beide allein. Die anderen können erfreulicherweise auch etwas“, sagte Kurt. „Das schon. Nur — Otto Stenzel ist sicher ein guter Mittelstürmer, aber für ein solches Spiel ist er noch viel zu jung, es fehlt ihm die Erfahrung. Da hätte man doch lieber Machter aufstellen sollen, auch wenn er nicht mehr der Jüngste ist.“ „Da muß ich protestieren!“ meldete sich Werner. „Vergessen Sie nicht, daß Kurt damals für das Meisterschaftsspiel aus der Juniorenmannschaft geholt wurde, und wie hat er eingeschlagen! Und ich war ja auch nicht viel älter, als ich zum erstenmal in der Ersten spielen durfte. Sie können also Otto seiner Jugend wegen keinen Vorwurf machen.“ Kullmann kannte Stuttgart aus vergangenen Tagen und wollte, wie es seine Art war, mit der ausführlichen Schilderung eines Spieles beginnen, das vor etwa dreißig Jahren hier stattgefunden hatte. Bei solchen Schilderungen spielte er immer eine große Rolle, wenn er sich auch bemühte, seine Verdienste bescheiden nebenbei zu erwähnen. Die beiden jungen Leute kannten diese Geschichten alle schon seit Jahren. „Wir haben hier einmal gespielt, damals waren wir gerade Meister geworden“, begann er, „und...“ „Gewannen 6:1“, ergänzte Werner. „Habe ich das schon mal erzählt? Dir auch, Kurt?“ Der nickte lebhaft und suchte krampfhaft nach einem anderen Thema.„Ist die Englandreise eigentlich schon
perfekt?“ fragte er, obwohl er darüber besser Bescheid wußte als Kullmann. „Noch nicht. Sobald wir Meister sind, unterschreibt der Tommy.“ „Also Sonntag nach Spielschluß“, sagte Werner siegesbewußt. „Abwarten“, meinte Kullmann, „man soll nicht zu sicher sein. Die Hamburger spielen auch einen guten Fußball.“ „Also gut, reden wir nicht mehr darüber“, schloß Werner die Debatte. „Die Sache ist sowieso schon entschieden.“ „Wenn nur das Experiment mit Erich klappt“, sagte Kullmann besorgt. Der Trainer Schmidt hatte für das Endspiel eine Überraschung geplant. Erich Dreger, der lange Jahre Rechtsaußen gespielt hatte, sollte als Läufer zurückgenommen werden. Der alte Stammspieler auf diesem Posten war seit Wochen in schlechter Form, und gerade der linke Flügel der Hamburger war gefürchtet. Als Rechtsaußen war ein junger Nachwuchsspieler vorgesehen, von dem man sich viel versprach. Aber Kullmann war nicht für Experimente. Zwei neue, junge Stürmer und auf dem wichtigsten Läuferposten ein Mann, der bisher im Sturm gestanden hatte — konnte das gut gehen? Am Vorabend des Spiels waren in Stuttgart alle Gastwirtschaften überfüllt. Überall fanden sich Gruppen zusammen, die mit mehr oder weniger Temperament die Chancen „ihrer“ Mannschaft erörterten. Kullmann saß in einer kleinen Weinstube in der Nähe des Rathauses und war ausgerechnet an einen Tisch geraten, an dem man ganz eindeutig für Hamburg war. Die Leute waren sich im Prinzip darüber im klaren, daß die Hamburger gewinnen würden, sie konnten sich nur nicht über den Torunterschied einigen.
„Ich sage: Halbzeit 3:1 und am Schluß 5:3.“ „Nein, vielleicht 3:i am Ende. So schlecht sind die anderen auch nicht.“ „Ach, rede doch kein dummes Zeug! Der Flügel Kolzen—Johannsen ist einfach nicht zu halten. Ich weiß ganz genau, daß der rechte Läufer von Schwarz-Gelb der schwächste Punkt der Mannschaft ist. Da müssen doch die Tore am laufenden Band fallen!“ „Wenn Sie sich nur nicht irren!“ meldete sich Kullmann, dem die Sache allmählich zu bunt wurde. „So? Verstehen Sie auch etwas vom Fußball, alter Herr?“ „Wenigstens ebensoviel wie Sie!“ „Haha! Sie sind wohl einer von den aktiven Zuschauern und haben selbst nie einen Ball getreten?“ „Da kann ich Sie beruhigen. Ich habe aktiv in der Oberliga gespielt, als Sie noch in den Windeln lagen.“ „Wo denn?“ „Bei Schwarz-Gelb.“ „Ah, daher pfeift der Wind! Also Vereinsfanatiker!“ „Sicher nicht mehr als Sie.“ „Aber meine Herren, hören Sie mal!“ mischte sich ein Gast ein, der bisher anscheinend unbeteiligt zugehört hatte. „Dieser Herr gehört zu Schwarz-Gelb, und die übrigen Herren sind wohl alle Anhänger des Hamburger Vereins. Ich bin neutral. Das wäre doch eine gute Zusammensetzung für ein ruhiges und vernünftiges Gespräch.“ „Sehr richtig!“ „Übernehmen Sie das Präsidium!“ „Halten Sie das für nötig? Meinetwegen! Also — bisher ist an diesem Tisch sehr ausgiebig über die Aussichten des Hamburger FC gesprochen worden. Ich bin nun dafür, daß uns dieser Herr — Namen brauchen nicht
genannt zu werden — einmal erklärt, worauf sich die Hoffnungen von Schwarz-Gelb gründen.“ Kullmann sammelte sich und sah die Mitglieder der Tafelrunde nacheinander wie abschätzend an. „Ich bin, wie ich schon sagte, ein alter Fußballer. Über zwanzig Jahre habe ich aktiv gespielt, und ich hatte in meiner besten Zeit einen guten Namen. Seit mehr als fünfzehn Jahren bin ich Platzwart bei Schwarz-Gelb. Sie werden also nicht bestreiten können, daß ich etwas vom Fußball verstehe. Den berühmten Hamburger Flügel habe ich vor wenigen Wochen spielen sehen, und ich weiß, daß Kolzen groß anfängt, um dann immer mehr nachzulassen, weil er einfach zu alt für solche Spiele ist. Als alter Fachmann, wenn ich mich so bezeichnen darf, sage ich: Schwarz-Gelb gewinnt. Die Mannschaft kann etwas, und der Sieg ist ihr zu gönnen. Aber solange Fußball gespielt wird, steht das Ergebnis immer erst nach Spielschluß fest. Ich hoffe nur, daß es ein schönes und faires Spiel wird.“ „Das ist alles sehr schön gesagt“, meinte einer der Hamburger, „aber vergessen Sie nicht, daß unsere Leute internationale Erfahrung haben, während Schwarz-Gelb zum ersten Male vor einer so großen Aufgabe steht.“ „Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen“, sagte ein anderer. „Nach der Papierform ist Hamburg eindeutig überlegen. Schwarz-Gelb hat bestenfalls eine Außenseiterchance. Das sind doch alles unbekannte Leute.“ „Glauben Sie?“ fragte Kullmann. „Nun, es sind wenigstens zwei Leute dabei, deren Namen inzwischen auch in Hamburg bekanntgeworden sein dürften.“ „Sie meinen den Halblinken Lang?“ „Ja, und meine Entdeckung, den jungen Tormann Werner Krüger.“ „Ist das die Spinne?“
„Ja, so wird er bei uns genannt. Diese beiden Leute werden Sie bald in der Ländermannschaft sehen.“ Kullmanns Art war so bescheiden und ruhig, daß die anderen sehr bald die Lust an einem vergnügten Streitgespräch verloren. Einer der Älteren erkundigte sich nach Kullmanns sportlicher Laufbahn, und da waren alle Schleusen geöffnet. Ungehindert konnte er seinen gespannt lauschenden Zuhörern von vergangenen Zeiten erzählen, die viel besser gewesen waren und in denen man einen ganz anderen, schöneren Fußball gespielt hatte. Das Stadion glich einem Hexenkessel, als die Hamburger zwanzig Minuten vor Schluß ausglichen. In der Mitte der ersten Spielhälfte hatte Schwarz-Gelb in Führung gehen können. Erich Dreger hatte dem kleinen Rechtsaußen eine Steilvorlage gegeben. Der flankte kurz vor der Auslinie zur Mitte, wo Kurt Lang den Ball in gewaltigem Sprung erwischte. Er köpfte aber nicht, wie man erwartete, aufs Tor, sondern zu dem freigelaufenen Otto Stenzel, der aus kurzer Entfernung einschießen konnte. Das Spiel hatte wie erwartet begonnen: die Hamburger legten mit gewaltigem Elan los und stürmten pausenlos auf das Tor der Schwarz-Gelben. Erich Dreger fühlte sich auf dem ungewohnten Posten anscheinend nicht recht wohl, die beiden jungen Leute im Sturm hatten offensichtlich Lampenfieber — es sah so aus, als würde der Hamburger FC im Handgalopp nach Gefallen siegen. In den ersten zehn Minuten rettete Spinne das Spiel. Mit einer unerhörten Ruhe organisierte er von der Torlinie aus die Abwehr und zeigte den Hamburgern mit ein paar glänzenden Paraden, daß es nicht ganz einfach sein würde, bei ihm Tore zu schießen. Drei-, viermal sah es schon so aus, als wäre er geschlagen, aber immer wieder griffen seine langen Arme den Ball. Die
Hamburger hatten bald das Gefühl, das schon viele andere vor ihnen gehabt hatten: Spinne schien die Bälle wie ein Magnet an sich zu ziehen. Sie mochten ihre Schüsse noch so genau plazieren: immer war der Mann mit dem roten Pullover im Wege. Allmählich fand sich Erich Dreger in seine neue Rolle. Trainer Schmidt gab vom Spielfeldrand einige Anweisungen, und mit zunehmender Zeit stellte sich Dreger immer besser auf die neue Aufgabe ein. Je öfter es ihm glückte, die Schachzüge des Hamburger linken Flügels zu durchkreuzen, je mehr wuchs seine Spielfreudigkeit. Er schlug die Bälle, die er erreichte, nicht planlos nach vorn, sondern schaltete sich geschickt in das Angriffsspiel ein. Flach und genau wanderten seine Vorlagen in den Sturm, der allmählich auf volle Touren kam. Der junge Kolbe auf Rechtsaußen nutzte seine Spurtschnelligkeit aus und lief seinem Verteidiger mehr als einmal davon. Auch Otto Stenzel überwand bald den Respekt vor dem gefürchteten Hamburger Mittelläufer, den er ein paarmal glänzend ausspielte. So war nach anfänglicher Überlegenheit der Leute aus dem Norden das Spiel bald ausgeglichen. Schwarz-Gelb hatte sogar ein deutliches Plus in Bezug auf die reellen Torchancen. In der dreiundzwanzigsten Minute fiel das schon geschilderte Tor, und mit 1:0 ging man in die Kabinen. Nach der Pause versuchte man auf beiden Seiten, das Tempo zu steigern. Schwarz-Gelb bemühte sich, durch ein zweites Tor den Erfolg sicherzustellen, die Hamburger drängten mit aller Macht auf den Ausgleich. Dann kam der Augenblick, in dem der Sieg der Schwarz-Gelben sicher schien. Kolbe gab einen Eckball hoch herein. Der Wind drückte den Ball bis an die Strafraumgrenze zurück, wo ihn der lauernde Dreger direkt aus der Luft nahm. Gegen diesen Schuß gab es
keine Abwehrmöglichkeit, aber das Glück stand diesmal auf der Seite der Hamburger. Von der Querlatte schlug der Ball nach unten, von wo ihn ein Läufer geistesgegenwärtig über die Seitenlinie beförderte. Wenige Minuten kam der Hamburger FC mit einem schönen Paßspiel durch. Wie im Lehrbuch lief der Ball von Mann zu Mann. In der Höhe des Elfmeterpunktes paßte der Halblinke zum freistehenden Mittelstürmer. Als alles seinen Schuß erwartete, sprang er täuschend über den Ball und gab dem mitgelaufenen Rechtsaußen Gelegenheit, den Ball unhaltbar einzuschießen. Die Zuschauer rasten, selbst die Anhänger von Schwarz-Gelb kargten nicht mit ihrem Beifall. Diese schöne Aktion war ein Tor wert gewesen. Spinne gab den Ball zur Mitte. „Jetzt fangen wir also wieder von vorne an“, sagte er zu seinem Mittelläufer. „Da war nichts zu machen“, meinte der, „das war wirklich gekonnt.“ „Wer das nächste Tor schießt, gewinnt“, orakelte Werner. „Jetzt kommt es auf die besseren Nerven an.“ Kurt Lang, der in vielen Schlachten Erprobte, bewies, daß er ausgezeichnete Nerven hatte. Zunächst gab er dem Hamburger Torwart Gelegenheit, sich bei einer seiner bekannten Flachbomben auszuzeichnen, dann spielte er für Otto Stenzel zwei gute Chancen heraus, die aber beide leider nicht zum Erfolg führten. Es wurde auf beiden Seiten mit letztem Einsatz gespielt, ohne dem Spiel durch übertriebene Härte eine unschöne Note zu geben. Zweiundzwanzig Spieler und fünfundachtzigtausend Zuschauer wußten: das nächste Tor entscheidet. Wer würde es schießen? Zweimal waren die Hamburger dicht vor einem Erfolg, beide Male bewies Werner Krüger, daß er Überdurchschnittliches konnte. Zunächst lenkte er einen
halbhohen Schuß in wahrem Panther- sprung um den Pfosten, dann warf er sich mit dem richtigen Instinkt in einen sogenannten „Totsicheren“ und wehrte den Ball mit der Faust ab. Diese beiden ungewöhnlichen Leistungen brachten Hamburg um den Sieg und machten Spinne zum Helden des Tages. Zehn Minuten vor Schluß fiel die Entscheidung. Erich Dreger erkämpfte sich im Mittelfeld den Ball und lief mit ihm nach vorne. Alles wartete darauf, daß er den Ball ab-spielen würde. Aber er wich damit, einen Gegenspieler täuschend, nach rechts aus und flankte halbhoch zur Mitte. Der Torwart flog dem Ball mit ausgestreckten Händen entgegen, und Otto Stenzel warf sich mit gewaltigem Hechtsprung gleichzeitig nach vorne. Sie erreichten den Ball im gleichen Augenblick, aber der Kopfstoß war kräftiger als die Handabwehr: über den Torsteher hinweg sprang der Ball ins Tor. Schwarz-Gelb führte mit 2:1. Zehn Minuten waren noch zu spielen. Die Hamburger warfen alles nach vorn, um noch einmal den Ausgleich zu erzwingen. Schwarz-Gelb verfiel nicht in den Fehler, die Mannschaft zur Verteidigung des knappen Vorsprungs zurückzuziehen, sondern hielt das Spiel weiter offen. Die verständliche Taktik der Hamburger wurde ihr Verhängnis. Der Ball kam von der Verteidigung hoch zu dem lauernden Otto Stenzel, der im Kopfballduell gegen den Mittelläufer Sieger blieb. Der kleine Kolbe war rechtzeitig gestartet und strebte mit gewaltigen Schritten dem Tor zu. Vergeblich bemühten sich Mittelläufer und Verteidiger, ihn einzuholen, vergeblich rannte ihm der Torwart entgegen: aus vollem Lauf schoß Kolbe ein herrliches Tor, dicht unter der Latte schlug der Ball ein. Schwarz-Gelb hatte mit 3:1 gewonnen. Alle Anstrengungen der Hamburger blieben umsonst. Werner mußte sich noch einmal strecken, um einen saftigen Weitschuß über die Latte zu lenken, dann
wurde das Spiel abgepfiffen. Die beiden jungen Torschützen trugen strahlend ihren jungen Torwart vom Spielfeld.
Die Ferne lockt Es versteht sich von selbst, daß die Sieger von Stuttgart in ihrer Heimatstadt gebührend empfangen wurden. Die vielen Feierlichkeiten interessieren uns aber ebenso wenig wie die zahllosen Ansprachen. Wichtig für uns ist zu wissen, daß der Bundestrainer, der das Endspiel aufmerksam beobachtet hatte, seine Liste der Kandidaten für die Ländermannschaft überprüfte. Die Namen Lang und Krüger wurden unterstrichen, was zu bedeuten hatte: erste Wahl. Neuaufgenommen wurde der Name Dreger. Dessen Leistung im Endspiel war zwar nicht gerade überwältigend gewesen, aber sie war doch recht aufschlußreich. Der Mann, der bisher ein guter, aber nicht überragender Außen gewesen war, schien der geborene Läufer zu sein. Er hatte manches gezeigt, was sich nicht lernen läßt, sondern drinstecken muß. Auf alle Fälle mußte man den Mann vormerken; aus ihm war etwas zu machen. Spinne benutzte seinen Sommerurlaub zu einer Radtour durch Franken. Der Zufall wollte es, daß er in einem stillen Städtchen im Fränkischen Jura auf einen Fußballgewaltigen aus Berlin traf. Sie wohnten in dem gleichen kleinen Hotel, und es ergab sich von selbst, daß sie ins Gespräch kamen. Der fremde Herr stellte sich als Rechtsanwalt Kunze aus Berlin vor. „Ich muß Sie irgendwo schon einmal gesehen haben“, sagte Herr Kunze. „Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor.“ „Ich kann mich nicht entsinnen“, meinte Spinne. „Waren Sie schon einmal in Berlin?“ „Nein, bisher noch nicht.“ „Schade, da haben Sie etwas versäumt! Aber woher kenne ich Sie nur?“
Später entnahm Herr Kunze seiner Aktentasche einen Packen von Sportzeitschriften, in denen er eifrig blätterte. Nach einer Weile sah er hoch. „Jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne! Das sind Sie doch?“ Er hielt triumphierend eine Zeitschrift hoch, auf deren Titelbild Werner zu sehen war. Werner nickte. „Das freut mich“, rief Herr Kunze. „Ich bin nämlich selber ein alter Fußballer und seit einigen Jahren Erster Vorsitzender des FC Brandenburg in Berlin. Da muß ich Ihnen herzlich zu Ihrem großen Erfolg gratulieren! Wir glaubten ja zunächst alle, daß die Meisterschaft nach Hamburg fallen würde, aber Ihre Mannschaft muß ganz großartig gespielt haben, und die Fachpresse lobt besonders Ihre Leistung über den grünen Klee. Das freut mich aber, daß ich Sie gerade hier treffe, lieber Herr Krüger! Kommen Sie, darauf müssen wir ein paar gute Tropfen trinken!“ „Vielen Dank für die Einladung, Herr Kunze, aber ich trinke keinen Alkohol.“ „Schade. Aber mal so eine kleine Ausnahme bei besonderer Gelegenheit ist doch wohl gestattet. Es gibt hier einen ausgezeichneten Bocksbeutel.“ Werner wehrte lachend ab. „Danke, bemühen Sie sich nicht, ich muß auch die edelste Sorte ablehnen.“ „Wirklich schade! Aber anerkennenswert, durch und durch Sportsmann. Wie ist es denn mit einer guten Zigarre? Hier, eine ausgezeichnete Havanna!“ „Ich muß erneut danken, ich rauche auch nicht.“ „Ich kann Sie doch nicht zu Limonade und Malzbonbon einladen, lieber Herr Krüger!“ „Das ist auch gar nicht nötig. Wir können uns doch auch so ganz gut unterhalten.“ „Meinen Sie? Na, ja. Wissen Sie was? Ich bestelle mir eine Flasche Bocksbeutel und setze eine meiner
Importen in Brand, und dann werden wir in aller Gemütlichkeit ein Stündchen fachsimpeln. Einverstanden?“ „Gewiß. Ich werde dazu eine Flasche Apfelsaft trinken.“ Es wurde eine nette, angeregte Unterhaltung, bei der Herr Kunze im Wesentlichen das Wort führte. So nebenbei erkundigte er sich nach Werners privaten Verhältnissen. Es interessierte ihn sicher, mit dem jungen Torwart, der so plötzlich einen großen Namen bekommen hatte, plaudern zu können, aber die Unterhaltung mit Werner hatte einen anderen, bestimmten Zweck. Das war Herrn Kunze schon in dem Augenblick klar geworden, als er in dem jungen Mann den bekannten Torwart Krüger entdeckte. Nach einer Gesprächspause sagte er scheinbar ohne Nebenabsicht: „Sie sollten doch einen ganz anderen Rahmen haben, Herr Krüger.“ „Wie meinen Sie das?“ „Nun, es ist zweifellos eine große Ehre, in der Mannschaft des Deutschen Meisters spielen zu können. Aber schließlich bleibt eine Kleinstadt doch eine Kleinstadt. Finden Sie nicht auch?“ „Man kann doch eine Stadt mit fünfundsechzigtausend Einwohnern nicht gut eine Kleinstadt nennen“, sagte Werner, bereit, die Heimat tapfer zu verteidigen. „Na schön, sagen wir Mittelstadt. Aber was ist das schon? Sie kennen Berlin nicht, sonst würden Sie wissen, wie groß der Unterschied zwischen Großstadt und Provinzstadt ist. Die Großstadt bietet einem aufgeschlossenen jungen Mann, wie Sie es sind, doch ganz andere Abwechslung.“ „Wer sagt Ihnen, daß ich Abwechslung brauche?“ „Warum nicht? Sie sind doch jung und wollen etwas vom Leben haben!“
„Über dieses Etwas kann man verschiedener Meinung sein.“ „Sie reden wie der Blinde von der Farbe. Sie kennen doch das Leben noch gar nicht.“ „Was man so Leben nennt — aber ich bin ganz zufrieden.“ „Kommen Sie mal nach Berlin! Ich werde mich um ein Freundschaftsspiel mit dem Deutschen Meister bemühen, und dann sollen Sie unter meiner Führung Berlin einmal kennenlernen! Da werden Sie Augen machen! Ich bin sicher, daß Sie dann sehr gern in Berlin bleiben wollen. Und da wir uns dann schon kennen, wissen Sie gleich, welchem Verein Sie sich anschließen können.“ Werner lächelte. Das war es also! „Ich bin meinem Verein einmal untreu geworden, und das war eine böse Zeit für mich, wenn ich damals auch viel gelernt habe. Herr Kunze, ich habe gar keine Neigung und auch nicht die geringste Veranlassung, den Verein zu wechseln. Und dann müßte es ja auch nicht ausgerechnet Berlin sein.“ Herr Kunze verbarg geschickt seine Enttäuschung. Der junge Mann war doch nicht so leicht zu fangen, wie er es sich im Anfang gedacht hatte. „Fassen Sie das, was ich Ihnen sagte, nicht falsch auf! Ich meine es nur gut mit Ihnen. Bedenken Sie doch einmal, was ein solcher Platzwechsel allein beruflich für Sie bedeuten würde! Sie wollen doch weiterkommen, und dazu brauchen Sie Erfahrung. Andere Menschen, andere Verhältnisse, das bildet einen Charakter. Wenn Sie ewig an der gleichen Stelle kleben bleiben, werden Sie bald versauern. Sie müssen doch auch an Ihre Zukunft denken, mit fünfzig werden Sie nicht mehr Torwart beim Deutschen Meister sein können.“
Werner antwortete nicht. Ganz unrecht hatte Herr Kunze nicht, wenn man von seinen Beweggründen absah. Aber Werner meinte, er wäre doch jung genug, um solche Fragen der Zukunft überlassen zu können. Die Heimat und den alten Verein verlassen? Dazu bedurfte es stärkerer Lockungen, als Berlin sie bot. „Reden wir von etwas anderem“, schlug Herr Kunze vor. „Aber wir können trotzdem in Verbindung bleiben, man kann ja nie wissen. Sie fahren morgen weiter, ich muß nach Berlin zurück. Hier haben Sie meine Adresse. Wenn ich Ihnen einmal irgendwie behilflich sein kann, schreiben Sie mir.“ Werner bedankte sich für das Wohlwollen und versprach, gelegentlich von sich hören zu lassen. Als er am nächsten Morgen in einen herrlichen Sommertag hineinfuhr, hatte er Herrn Kunze und dessen Pläne bald vergessen. — Die neue Fußballsaison begann mit einem Lehrgang für Länderspiel-Anwärter. Kurt Lang und Werner Krüger erhielten über ihren Verein eine Einladung zur Teilnahme. Die Freunde reisten gemeinsam ins Rheinland. Kurt hatte sich aus beruflichen Gründen einen kleinen Wagen angeschafft, mit dem sie geruhsam nach Norden fuhren. Werner war von der Fahrt begeistert und genoß sie mit offenen Augen. In der Sportschule Wiesenau fanden sie eine Gruppe von etwa dreißig jungen Fußballspielern, die wie sie selbst das Zeug dazu hatten, einmal in der Länderelf spielen zu können. Das ist begreiflicherweise das Ziel eines jeden jungen Fußballers. Es sind Hunderttausende, die ihre sportliche Laufbahn mit dieser Hoffnung beginnen, und nur elf können auserwählt werden. Es ist gut, daß man im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren noch nicht weiß, wohin der Weg führt und wie weit die
eigene Kraft reicht. Jeder, der anfängt, hat aber das Recht, sich später in der Länderelf zu sehen. Die Zeit lehrt, wer dann wirklich zu der kleinen Schar der Berufenen gehört. , Was die beiden Neulinge besonders überraschte, war kameradschaftliche Ton, in dem die Lehrgangsteilnehmer untereinander verkehrten und den der Bundestrainer anschlug. Da galt keiner für besser als der andere, jeder bemühte sich, sein Bestes zu zeigen und größere Leistungen wurden neidlos anerkannt. Kurt und Werner standen zuerst im Mittelpunkt, einmal, weil sie der Mannschaft des neuen Meisters angehörten, und dann, weil der Trainer für den taktischen Unterricht im wesentlichen Beispiele aus dem Endspiel wählte. Als die Tage in Wiesenau vorüber waren, hatten beide viel gelernt. Sie fuhren gemeinsam weiter nach Hamburg, wo vor Beginn der Punktspiele das übliche Rückspiel der beiden Endspielgegner stattfinden sollte. Für den Deutschen Meister war dieses erste Spiel eine harte Prüfung. Der Titel verpflichtete, man hatte zu beweisen, daß man wirklich der Meister war. Die Hamburger, jetzt befreit von der Verantwortung, die bei einem Endspiel an den Nerven der Spieler zehrt, würden den Schwarz-Gelben vor dem heimischen Publikum alles abfordern. „Wie beurteilst du unsere Chancen für die Länderelf?“ fragte Werner während der Fahrt. „Das läßt sich schwer sagen. Vorläufig gehören wir einmal zum Kreis der Anwärter. Es gibt aber außer uns noch andere gute Torsteher und Halblinke.“ „Für uns spricht die Tatsache, daß wir zur Elf des Deutschen Meisters gehören“, meinte Werner. „Dann hätten unsere neun Kameraden das gleiche Anrecht, bei der Aufstellung der Ländermannschaft berücksichtigt zu werden. Wir wollen uns nicht den Kopf
zerbrechen über Dinge, die wir nicht übersehen können. Aber das verspreche ich dir: wenn du einmal in die Länderelf berufen wirst, will ich der Erste sein, der dir neidlos diese Auszeichnung gönnt.“ „Und umgekehrt!“ rief Werner. Das Spiel in Hamburg hatte eine riesige Zuschauermenge angelockt, die der Platz kaum fassen konnte. Die Anhänger des FC hofften auf eine Revanche für Stuttgart, die anderen kamen, weil sie den neuen Deutschen Meister sehen wollten und sich ein gutes Spiel versprachen. Solche Kämpfe, bei denen es weder um Punkte noch um weittragende Entscheidungen geht, sind für die Zuschauer meist besonders reizvoll. Die Spieler sind frei von der oft erdrückenden Verantwortung und gehen unbeschwert in den Kampf, der hier wirklich nur Spiel ist. Die Schwarz-Gelben boten eine geschlossene, wirklich meisterliche Leistung und spielten sich schnell in die Herzen der Zuschauer. Klar und eindeutig wurde der FC mit 4:1 geschlagen, und neidlos erkannten auch die Unterlegenen die bessere Leistung des Meisters an. Es war für alle Beteiligten ein wirkliches Freundschaftsspiel, und Schwarz-Gelb nahm außer einem wertvollen Ehrenpreis der Hansestadt Hamburg die Sympathie des Publikums mit. Der Abend vereinte Sieger und Besiegte bei einem Bankett, das die Stadt dem Deutschen Meister gab. Nach dem offiziellen Teil löste sich die Gesellschaft zwanglos in kleine Gruppen auf. Werner, der sich zuerst unter so viel namhaften Leuten etwas verloren vorkam, fand später in einem netten älteren Herrn einen sympathischen Gesellschafter. Als sich dann herausstellte, daß die beiden den gleichen Beruf hatten, wurde die Unterhaltung lebhaft. Schließlich machte der alte Herr einen Vorschlag:
„Mein Betrieb liegt hier ganz in der Nähe. Wollen Sie sich ihn einmal ansehen? Man wird uns hier kaum vermissen, wenn wir eine halbe Stunde fehlen.“ Werner ging gern darauf ein. In einem Wagen fuhr man wenige Minuten, um dann durch eine breite Toreinfahrt in einem Industriehof zu landen. Der alte Herr schloß umständlich eine Tür zu ebener Erde auf und machte Licht. Werner stand vor einer Tischlerei, in der nach seiner Schätzung etwa dreißig Personen beschäftigt wurden. Das Ganze machte einen sehr ordentlichen Eindruck, Werner erkannte sofort, daß der Maschinenpark modern und sehr gepflegt war. Hier mußte es sich gut arbeiten lassen. „Gefällt es Ihnen?“ „Ja, sehr gut. Wieviel Leute beschäftigen Sie?“ fragte Werner. „Zwanzig bis fünfundzwanzig, je nach Konjunktur.“ Werner ging interessiert umher und stellte einige Fragen. Der alte Herr fing an zu erzählen. „Als ich in Ihrem Alter war, ging es mir genauso wie heute Ihnen. Ich hatte keinen Pfennig Geld, aber viele Hoffnungen. Nach der Meisterprüfung fing ich in einem abbruchreifen Schuppen allein an. Das war eine sehr schwere Zeit, aber allmählich ging es doch aufwärts. Zuerst hatte ich einen Gesellen, dann wurden es mehr. Eine Zeitlang war der Betrieb größer als jetzt, aber das brachte für mich zu viel Schwierigkeiten mit sich. Jetzt ist die Konjunktur gut, ich könnte mich leicht wieder vergrößern. Aber wozu? Mein einziger Junge ist im Osten geblieben, für wen soll ich aufbauen? Es geht doch eines Tages alles in fremde Hände über. Es müßte auch eine jüngere Kraft her, die mit der neuen Zeit besser fertig wird als ich alter Mann.“ Nach einer Pause fuhr er fort:
„Wäre das nicht etwas für Sie? Machen Sie Ihre Meisterprüfung und kommen Sie zu mir! Sie gefallen mir. Eines Tages würde ich Ihnen das Ganze übergeben und mich zurückziehen. Sie könnten hier genug verdienen, um mich nach und nach auszuzahlen.“ Werner war sprachlos. Da wurde ihm ein fertiger Betrieb angeboten, in den er sich nur hineinzusetzen brauchte. War das wirklich ernst gemeint? „Sie kennen mich doch kaum. Ist das wirklich Ihr Ernst?“ „Doch. Ich meine es so, wie ich es sagte. Ich kann mir denken, daß Sie überrascht sind, und Sie sollen auch nicht sofort ja oder nein sagen. So etwas will überlegt sein. Lassen Sie sich dazu Zeit. — So, und nun wollen wir wieder zu den anderen gehen.“ Werner schien das Ganze wie ein Traum, der ihn stark und lange beschäftigte. Inzwischen nahmen die Punktespiele ihren Anfang. Schwarz-Gelb schien unangefochten einer neuen Meisterschaft entgegenzugehen, nach acht Spielen lag die Mannschaft mit 15:1 Punkten und einem Torverhältnis von 28:9 in Front. Die Reise nach England war perfekt geworden. Ende November sollte Schwarz-Gelb in London gegen Arsenal spielen. Vorher war ein Spiel gegen eine Stadtmannschaft von Lille vereinbart, und den Abschluß würde ein Spiel in Nottingham gegen eine Mannschaft der II. Division bilden. Werner war nach wie vor der verläßliche, überragende Tormann. Aber alle, die ihm näherstanden, bemerkten eine Veränderung an ihm, die er zu verbergen suchte. Irgend etwas schien ihn sehr stark zu beschäftigen. Schließlich beschloß Kullmann, den Dingen einmal auf den Grund zu gehen. Eines Tages fragte er seinen
jungen Freund: „Hast du Sorgen, Werner? Du bist seit einiger Zeit merkwürdig verändert.“ „Finden Sie das? Nein, direkte Sorgen habe ich nicht, aber...“ „Also doch! Was drückt dich denn?“ Werner dachte nach. Hatte es überhaupt Zweck, mit Herrn Kullmann über das zu sprechen, was ihn beschäftigte? „Also, nun rede schon!“ ermunterte ihn Kullmann. „Ja“, begann Werner zögernd, „die Sache ist folgende: ich habe mir überlegt, wie das einmal mit mir weitergehen soll. Beruflich meine ich, nicht sportlich. Eines Tages werde ich ja wohl meine Meisterprüfung machen, aber zur Selbständigkeit reicht es nicht, das ist sicher. Dann werde ich also mein Leben lang bei der Firma Gangler sitzen und jahraus, jahrein dasselbe machen.“ „Du hast komische Gedanken“, sagte Kullmann verwundert. „Vorläufig bist du doch noch Geselle. Wenn du einmal Meister bist, wird man schon weitersehen.“ „Da wird nicht viel zu sehen sein“, meinte Werner bitter. „Du kannst dich doch wirklich nicht beklagen. Gerade dir hat Herr Gangler viel geholfen. Was wäre denn ohne ihn aus dir geworden?“ „Sie haben schon recht“, gab Werner zurück, „aber woanders wird auch Brot gebacken.“ „Dir ist Kuchen anscheinend lieber als Brot!“ sagte Kullmann erbost. „Dir hat sicher wieder irgend jemand einen Floh ins Ohr gesetzt. Ich kann mir schon denken, woher der Wind weht.“ „Ein junger Mensch muß doch sehen, daß er vorwärts kommt, und muß Chancen, die sich ihm bieten, ausnutzen.“ „Hast du den Vertrag mit Hamburg schon unterschrieben?“
„Wieso? Wie meinen Sie das?“ „Halte mich nicht für dümmer, als ich bin! Ich habe das Theater in Hamburg sehr genau beobachtet. Ich denke mir, die Leute haben dir ein großzügiges Angebot gemacht, und du hast nun ohne Bedenken die Absicht, deinen alten Verein aufzugeben.“ „Ganz ohne Bedenken würde das nicht geschehen. Aber wenn man die Aussicht hat, die Leitung eines ordentlichen und modernen Betriebes übernehmen zu können, muß man sich das doch überlegen.“ „Was für Aussichten hast du?“ fragte Kullmann. Werner schilderte mit kurzen Worten seine Unterhaltung mit dem alten Herrn in Hamburg. „Und du glaubst wirklich, daß dieses Märchen Wahrheit wird? Ja, denkst du denn, du kannst mit deinen zwanzig Jahren Betriebsleiter werden und eines Tages das Geschäft übernehmen?“ „Der alte Herr hat es aber doch so dargestellt!“ „Werner! Torstehen kannst du, aber sonst bist du doch noch recht unfertig. Das Ganze ist doch weiter nichts als eine Falle, in die du auch brav hineintappen willst. Es kommt den Leuten aber doch nur darauf an, dich nach Hamburg zu locken, weil der FC einen guten Torwart dringend nötig hat.“ „Der alte Herr hat mit dem FC doch gar nichts zu tun!“ „Das meinst du! Als ihr beide verschwandet, hörte ich sehr deutlich, wie einer der Anwesenden zu seinem Nachbarn sagte: ,Die Sache mit Spinne scheint zu klappen.’“ „Das glaube ich nicht!“ „Nun höre mal, mein Junge“, sagte Kullmann aufgebracht, „der alte Kullmann ist vielleicht nicht ganz so schlau wie diese Herren in Hamburg, aber gelogen hat er noch nie! Die ganze Geschichte ist recht geschickt eingefädelt, und wenn ich nicht die Ohren offengehalten
hätte, würde Werner Krüger eines Tages sang- und klanglos nach Hamburg übersiedeln!“ Er ging aufgeregt umher. Dann blieb er wieder vor Werner stehen, der mißmutig vor sich hinsah. „Eben seid ihr Deutscher Meister geworden, und schon überlegt sich Herr Krüger, ob er nicht lieber in Hamburg spielen sollte. Und das nur, weil dort vielleicht etwas mehr Butter auf das Brot geschmiert wird. Das nenne ich Vereinstreue! Ist dir Schwarz-Gelb nichts mehr wert? Wie willst du denn deine Pläne vor Herrn Gangler rechtfertigen? Was wird wohl Kurt Lang sagen, wenn er hört, daß du abwandern willst? Du weißt ja gar nicht, was du hier hast! Du würdest dich sonst nicht mit solchem Unsinn befassen. Hier alles aufgeben, nur weil man dir Versprechungen macht, die man nie halten will und kann? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Wenn du gehst, bedeutet das einen endgültigen Bruch, darüber mußt du dir klar sein. Einmal hat man dir verziehen, als du Schwarz-Gelb aufgeben wolltest. Du erinnerst dich wohl noch, wie du damals hier bei mir gesessen hast mit Tränen in den Augen und gern alles ungeschehen machen wolltest?! Ach, was wollen wir noch weiter darüber reden, du kannst ja gar nicht fort von Schwarz-Gelb! Du gehörst doch zu uns. Laß dir von fremden Leuten keinen Unsinn erzählen und sprich dich öfter mit deinem alten Freund Kullmann aus!“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Der alte Herr hat es sicher gut mit dir gemeint, und er ahnte wohl nicht, daß er von gewissenlosen Menschen nur als Werkzeug benutzt wurde. Kannst du dir vorstellen, daß Herr Gangler mit so unsauberen Mitteln neue Spieler an Schwarz-Gelb fesseln würde? Wir müssen doch unseren Sport sauber halten, und du bist
eben noch zu jung, um solche Machenschaften zu durchschauen.“ Er streckte Werner die Hand hin. „Also Schluß damit! Versprich mir, daß die Sache für dich erledigt ist, wir wollen nicht mehr darüber reden. Und ich werde auch niemand davon erzählen. In der Fremde bleibst du ein Fremder. Hier bist du zu Haus.“ Werner sah den alten Freund an und nahm dann seine Hand. „Ist gut, Herr Kullmann, die Sache ist erledigt. Ich werde dem alten Herrn mit ein paar Dankesworten abschreiben.“ Auf dem Heimweg dachte er über das Gespräch nach. Sicher hatte Kullmann recht: es kam den Hamburgern in erster Linie auf den Torwart an. Den Tischler würde man schon irgendwie unterbringen, aber nicht da, wo er es erwartete. „Guten Tag, Herr Krüger!“ „Na, Jürgen, was gibt’s denn?“ Jürgen war einer der zahlreichen fußballbegeisterten Jungen, die mit Bewunderung zu den Spielern der Ersten von Schwarz-Gelb aufsahen. Jürgen war Torsteher und wollte einmal der Nachfolger von Werner Krüger werden. Er war stolz darauf, daß Werner ihn beim Vornamen nannte und ihn mit Handschlag begrüßte. Werner mochte den guterzogenen Jungen gern. Er wußte, wie es in dem Jungen aussah, denn er hatte vor nicht allzu langer Zeit genauso angefangen. Hätte er damals erzählt, welche Träume er hatte, würde man ihn ausgelacht haben. Der kleine Jürgen würde sicher ähnliches träumen. Warum sollte er darüber lachen? „Herr Krüger“, begann Jürgen, „ich wollte Sie etwas fragen.“ „Frag’ schon!“ „Sie fahren doch nach England?“
„Ja, im November. Willst du mitkommen?“ „Gern, aber das wird wohl nicht gehen.“ „Das fürchte ich auch. Soll ich dir eine Ansichtskarte schreiben?“ „Ach ja, das wäre fein! Und ...“ „Na, was möchtest du denn noch?“ „Können Sie mir vielleicht ein paar Briefmarken mitbringen?“ „Bist du Sammler?“ Jürgen nickte eifrig. „Ich habe schon beinahe dreihundert!“ „Das ist aber eine Menge! Also Marken soll ich mitbringen? Das wird sich sicher machen lassen, wenn ich es nicht vergesse. Am besten wird es sein, wenn du mich noch einmal daran erinnerst.“ „Mache ich, Herr Krüger! Und vielen Dank!“ „Das hat Zeit, bis du die Marken hast.“
Die Reise nach England Das Spiel in Lilie gegen eine Stadtmannschaft wurde 5:1 gewonnen. Die französische Presse lobte nicht nur das Können der Mannschaft, sondern wies mit Nachdruck auf das vorbildliche Verhalten der jungen Sportler hin. Der ,Matin’ schrieb: Die Mannschaft des Deutschen Meisters demonstrierte den hohen Stand des Fußballspiels in Deutschland, sie zeigte eine wahrhaft meisterliche Leistung und gewann das Spiel gegen die Stadtmannschaft von Lilie nach Gefallen mit 5:1. Noch eindrucksvoller war für uns alle, die wir die Abgesandten des deutschen Sports auch außerhalb des Spielfeldes erlebten, das sympathische Auftreten. Eine sehr wirksame, nachhaltige Werbung für unseren Nachbarn jenseits des Rheins. Im Auftrage der Stadt Lilie schloß sich der Expedition der sehr liebenswürdige Herr Dupont an, der sich erst verabschiedete, als alle sicher an Bord des Fährschiffes in Calais waren. Alle Schwierigkeiten bei der Paß- und Gepäckkontrolle hatte Herr Dupont aus dem Wege geräumt. Die Reisegesellschaft umfaßte zwanzig Personen: elf Spieler, vier Ersatzleute, Trainer Schmidt, den Masseur und selbstverständlich auch den alten Kullmann, der nun einmal dazugehörte. Der Vorstand war durch Herrn Gangler und den Vereinskassier vertreten. Man hatte auf eine Überfahrt bei Sonnenschein und guter Sicht gehofft; leider wurde daraus nichts. Der Dampfer schaukelte mehr, als es manchem lieb war, und viele bekamen grüne Gesichter. Kullmann lehnte blaß an der Reling und sann darüber nach, ob er nicht doch
besser zu Hause geblieben wäre. Er suchte krampfhaft nach einem Weg, der Seekrankheit aus dem Wege zu gehen. Zuerst war er unter Deck in die Speisekabine gegangen und hatte dort mutig einige Cognacs getrunken. Allmählich gingen ihm aber die Gerüche aus der nahen Kombüse auf den Magen und das endlose Schaukeln der Lampen auf die Nerven. Jetzt schien es ihm ratsam, an Deck in die frische Luft zu gehen. Aber das Laufen war hier ein Kunststück. Entweder trat man hart und viel zu fest auf, oder das Bein blieb scheinbar in der Luft hängen und fand keinen Halt. Wenn man auf das Wasser blickte, schien der Magen alle Bewegungen der Wellen mitzumachen. Es war ein schrecklicher Zustand. Von der Reisegesellschaft sprachen nur Herr Gangler und Kurt Lang fließend Englisch. Erich Dreger war mehrere Jahre in englischer Kriegsgefangenschaft gewesen und freute sich besonders auf das Spiel in Nottingham. In der Nähe dieser Industriestadt war er mehr als ein Jahr in einem Lager untergebracht gewesen und damals öfter in die Stadt gekommen. An dem Platz der Forrests war er mehrmals mit Bedauern vorbeigefahren. Nun würde er selber darauf spielen. Je näher man Dover kam, desto mehr besserte sich das Wetter. Allmählich hob sich aus dem Nebel die weiße hohe Kreideküste Südenglands, und in der Nähe des Hafens machte der Kanal einen durchaus harmlosen Eindruck. Kullmann faßte neuen Lebensmut und gab sich das Ansehen eines Mannes, der auf allen sieben Weltmeeren zu Hause war. Der Dampfer hatte kaum festgemacht, als mit den Zollbeamten vier Herren an Bord kamen, die auf die beieinanderstehende Gruppe zueilten. „Willkommen in Old-England! Wir sind die Abgesandten von Arsenal und haben die Aufgabe, Sie gut und sicher in Ihre Quartiere zu bringen.“
Man machte sich gegenseitig bekannt, wobei dies in der Hauptsache mit einem Händedruck und einem freundlichen Lächeln geschehen mußte. Auch hier übernahmen die Gastgeber die Erledigung aller Formalitäten. Während sich Herr Gangler und Kurt Lang mit den englischen Herren unterhielten, bemühte sich der deutschsprechende Mr. Bacon um die übrigen Teilnehmer der Expedition. „Wo ist der Goalkeeper Krüger?“ Werner meldete sich lächelnd. „Ich heiße Krüger. Und was soll ich sein?“ „Sie sind doch der Goalkeeper — ach so, Torsteher sagen Sie. Auf Sie sind wir besonders gespannt. Ich heiße Bacon — warten Sie, ich werde es Ihnen aufschreiben. Hier.“ „Das heißt doch aber Bakon“, sagte Werner verwundert. „Wir sprechen das ,Beeken’ aus. Und wo ist Herr Läng?“ „Wir haben keinen Läng.“ „Aber, das ist doch Ihr Halfleft - der Halblinke.“ „Sie meinen Kurt Lang? Dort steht er.“ Werner stellte seine Kameraden vor, zuerst seinen alten Freund Kullmann. Er machte aus ihm eine sagenhafte Gestalt, der die Entwicklung des deutschen Fußballsports wenigstens zur Hälfte zu verdanken sei, und es machte ihm Freude, daß Mr. Kjulmen künftig mit besonderer Hochachtung behandelt wurde. In einem sehr modernen und bequemen Aussichtswagen fuhr man in den dämmernden Abend hinein. In Wimbledon, in der Nähe des bekannten Stadions, dem Schauplatz der Olympischen Spiele von 1948, fanden alle in einem Sportheim Unterkunft. Dort hatte sich neben einigen anderen Offiziellen auch Mr.
Swinnerton, der Manager von Arsenal, eingefunden. Nach einer herzlichen, aber nicht überschwenglichen Begrüßung legte er mit Herrn Gangler ein Programm für die folgenden Tage fest. Am Sonnabend würde nachmittags das Spiel stattfinden. In England wird grundsätzlich mit Rücksicht auf die strenge Sonntagsruhe nur an Wochentagen gespielt. Nach der englischen Auffassung gehört der Sonntag Gott und der Familie. Am nächsten Morgen waren die Schwarz-Gelben sichtlich überrascht, als Arsenal mit einem großen Aufgebot von Begleitern auftrat. Für fast jeden der Gäste war ein sprachkundiger Engländer erschienen. Zwei Omnibusse waren nötig, um die Gesellschaft aufzunehmen. Werner Krüger saß neben Mr. Bacon, Kurt Lang hatte einen der wenigen Engländer neben sich, die nicht deutsch sprachen. Der Eindruck, den das Arsenal-Stadion machte, war überwältigend. Riesenhohe Ränge umsäumten das weite Oval, das eine geradezu ideale Grasnarbe zeigte. Auf diesem Rasen müßte es sich herrlich spielen lassen. Die Spieler gingen über die Fläche und hatten das Gefühl, über einen weichen Teppich zu laufen. Unter den Tribünen befanden sich fast luxuriös ausgestattete Räume für die Mannschaften und die Clubleitung. England gilt mit Recht als das Mutterland des Sportes. Als sich in Europa die ersten bescheidenen Anfänge eines organisierten Sports zeigten, stand in England besonders das Fußballspiel auf unerreichter Höhe. Es dauerte Jahrzehnte, bis europäische Mannschaften es wagen konnten, ihre Kräfte mit dem Lehrmeister zu messen. Es waren Lehrspiele, die die Engländer nach Gefallen gewannen. Und dann kam die Zeit, in der auch englische Mannschaften geschlagen wurden; die Schüler zeigten, daß sie genügend gelernt hatten. Und es kam
auch der Tag, an dem die englische Nationalmannschaft auf heimischem Boden unterlag. Die Omnibusse fuhren in die City, wie man das Stadtzentrum, den alten Kern der Weltstadt, nennt. Einer der markantesten Punkte der Innenstadt ist der Trafalgar-Square, ein fast quadratischer, sehr großer Platz, der von öffentlichen Gebäuden umsäumt ist und in dessen Mitte sich die hohe Nelson-Säule erhebt. In der Seeschlacht von Trafalgar (1805) wurden die vereinigten Flotten der Franzosen und Spanier von den Engländern unter Admiral Nelson vernichtend geschlagen. England errang damit endgültig die Herrschaft über die Meere, Nelson bezahlte den Sieg mit seinem Leben. Neben vielen anderen Straßen beginnt hier die WhiteHall, eine breite Prachtstraße mit den wichtigsten Ministerien. Am Ende dieser Straße steht die Westminster-Abbey, die alte Krönungskirche der englischen Könige. Hier liegen die Männer begraben, die auf ihrem Gebiet entscheidend dazu beigetragen haben, Englands Weltmacht und Ruhm zu begründen. Ganz in der Nähe dieser ehrwürdigen Abtei befindet sich Scotland Yard, das Zentrum der Londoner Polizei. Die Reisegesellschaft hatte sich am Trafalgar-Square aufgelöst, nachdem man verabredet hatte, sich hier um 5 Uhr wieder zu treffen. Mehr durch Zufall als beabsichtigt blieben Kullmann, Kurt und Werner und ihre Begleiter zusammen. Sie gingen durch die White-Hall bis zur Westminster-Bridge (Brücke) und wieder zurück. Mr. Bacon wies seine Gäste auf eine stille, einfache Straße unweit des großen Platzes hin. „Das ist Downing-Street, ein Name, der Ihnen sicher bekannt ist. Nr. 10 ist der Sitz des Premierministers. Leider kann ich Sie nicht mit unserem Premierminister bekanntmachen, da er sich heute nicht in London aufhält.“
Kullmann betrachtete ehrfurchtsvoll den unscheinbaren Backsteinbau, während Werner enttäuscht war. Er fand das Gebäude, in dem Englands große Politik gemacht wurde, ausgesprochen dürftig. Die gewaltigen Bauten der Ministerien hatten ihm viel mehr imponiert. „Wenn es Ihnen recht ist, besuchen wir jetzt eins der großen Docks. Anschließend können wir irgendwo essen und dann den Tower besichtigen.“ Mr. Bacon führte seine Gäste in das West-India-Dock. Um eine gewaltige Wasserfläche standen hohe Lagerhäuser, vor denen Riesenkrane ihre Arme ausstreckten. Im Wasser lagen dicht beieinander Schiffe jeglicher Größe, und das Lied der Arbeit erfüllte das Dock mit seiner gewaltigen Melodie. Einem unbefangenen Zuschauer mußte das scheinbare Durcheinander unentwirrbar erscheinen. Unsere deutschen Freunde sahen mit Staunen auf das buntbewegte Bild. Das war also Englands Tor zur Welt, die Quelle seines Reichtums. Ein ohrenbetäubendes Pfeifen und Heulen kündigte die Mittagspause an. Erst jetzt zeigte die aus Toren und Luken hervorquellende Menschenmenge, wie groß die Zahl derer war, die hier Arbeit und Brot fanden. Menschen jeder Farbe waren hier zu sehen, alle Sprachen der Welt konnte man hören. Unsere Freunde fuhren mit ihren Begleitern in die City zurück. Nach einem gemeinsamen Mittagessen brachte sie ein Omnibus zum Tower. Der Tower, zu dem der Grundstein vor rund 900 Jahren gelegt wurde und an dem Generationen gebaut haben, war ursprünglich eine Festung außerhalb der Stadt, später die Residenz der Könige. Heute dient er im wesentlichen als Museum und birgt unter anderem die kostbaren Kronjuwelen.
Es blieb dann noch Zeit, auf der Rückfahrt die weltbekannte St. Pauls-Kathedrale zu besichtigen. Sie ist eine der fünf größten Kirchen der Welt (das Schiff hat eine Länge von 153 Metern) und hinterläßt beim Besucher einen nachhaltigen Eindruck. — Am nächsten Morgen wurde Werner eine Karte überreicht, die er lächelnd las. „Lieber Herr Krüger! Viele Grüße aus der Heimat. Hoffentlich gewinnen Sie auch das Spiel gegen die Engländer. Ihr Jürgen. Nachschrift: Briefmarken!“
Bitte
vergessen
Sie
nicht
die
Werner zeigte die Karte später Mr. Bacon und bat ihn, ihm beim Kauf der Marken behilflich zu sein. Er durfte Jürgen nicht enttäuschen. Die vorgesehene Fahrt nach Windsor unterblieb auf Wunsch der Gäste, deren Mehrzahl der Meinung war, man hätte noch nicht genügend von London gesehen. Am Abend vorher hatte man Erfahrungen ausgetauscht, und jeder, der den Tower noch nicht besucht hatte, wollte das heute unbedingt nachholen, während die anderen Dinge interessierten, die ihnen bisher entgangen waren. Unsere drei Freunde fuhren wieder zum TrafalgarSquare und wanderten mit ihren Begleitern durch die Parks zum Buckingham-Palast, der Residenz der englischen Könige. Von dort ging es zum Hyde-Park, der größten Grünanlage Londons. Werner gefielen hier besonders die Volksredner. In England kann jeder öffentlich das aussprechen, was er
denkt. Wer glaubt, den anderen etwas zu sagen zu haben, verschafft sich eine Kiste, die er als Rednertribüne benutzt. Dann sucht er sich einen möglichst guten Platz und fängt an. Solange er nichts gegen das Königshaus und die Kirche sagt, kann er reden und schimpfen, solange es ihm gefällt. Die Schutzleute, Bobbys genannt, hören sich das alles ruhig an, auch wenn der Redner gerade dabei ist, tüchtig über die Polizei herzuziehen. Das ist sein gutes Recht. Bei einer Pause in einer der vielen Teestuben las Mr. Bacon einige Vorbesprechungen zum Spiel gegen Arsenal vor. Die Presse räumte dem Spiel gegen den Deutschen Meister erstaunlich viel Platz ein. Die Mehrzahl der Reporter rechnete mit einem eindeutigen Erfolg der englischen Mannschaft, für die der Vorteil des eigenen Platzes und der einheimischen Umgebung ein gewaltiges Plus bedeute. Man warnte jedoch vor einer Unterschätzung des Gegners und wies darauf hin, daß der Halblinke und der Torwart internationales Format hätten. „Da könnt ihr einmal sehen, wie berühmt ihr seid!“ sagte Kullmann. „Wenn ich einmal nach Brasilien komme, brauche ich nur darauf hinzuweisen, daß Spinne mein Freund ist, und man wird mir die dicksten Zigarren anbieten. Internationales Format — das muß ich mir merken.“ Am Sonnabend war das Wetter annehmbar, der Himmel war leicht bewölkt, und als sich die Frühnebel verzogen hatten, kam hier und da die Sonne durch. Die Leitung von Arsenal hatte fleißig die Werbetrommel gerührt, und da die anderen Vereine der 1. Liga auswärts spielten, konnte man mit einem Massenbesuch rechnen. Die Vorbereitungen für das Spiel hielten sich im üblichen Rahmen, allerdings verwandte man auf die Formalitäten nur wenig Zeit. Die deutsche
Meistermannschaft wurde mit herzlichem Beifall begrüßt. Kurt Lang tauschte mit dem englischen Kapitän Vereinswimpel, und dann pfiff der Schotte McPhean das Spiel an. Bevor die deutsche Mannschaft richtig Tritt gefaßt hatte, mußte Werner zweimal beweisen, daß er nicht ohne Grund im Tor des Deutschen Meisters stand. Einmal mußte er sich bei einem Flachschuß des Rechtsaußen gewaltig strecken, und dann hatte er Mühe, einen Volleyschuß des linken Läufers über die Latte zu heben. Bei dem anschließenden Eckball erkannte er zum erstenmal, daß man hier auf den Torwart nicht allzuviel Rücksicht nahm. Er fing den Ball in der Luft und hatte dann Mühe, auf den Beinen zu bleiben, als einer der Arsenalstürmer den Versuch machte, ihn mit dem Ball über die Linie zu drängen. „Fausten, Werner, nur fausten!“ rief Kullmann, der wieder hinter dem Tor hockte. „Schon recht, Herr Kullmann, beim nächsten Ball mache ich es anders.“ Allmählich fing sich die deutsche Mannschaft. Erich Dreger holte sich den ersten Beifall, als er den linken Arsenal-Flügel ein paarmal geschickt ausspielte, und als Otto Stenzel eine Vorlage von Kurt Lang aus vollem Lauf auf das Tor jagte, hatte der englische Torwart Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Arsenal führte ein gekonntes halbhohes Flugballspiel vor, bei dem die schnellen Flügelstürmer bevorzugt eingesetzt wurden, während die Gäste bemüht blieben, den Ball flach zu halten. Die ideale Rasenfläche kam einem solchen System entgegen. Die deutschen Spieler erkannten beruhigt, daß die Engländer auch nur Fußball spielten, und in der ersten Spielhälfte waren sich beide Mannschaften durchaus ebenbürtig.
Nach der Pause blies Arsenal zum Generalangriff. Mit unheimlicher Schnelligkeit und raffinierten Tricks wurden die Angriffe vorgetragen, Schwarz-Gelb mußte alle Spieler bis auf drei vorgeschobene Stürmer zur Verteidigung zurückziehen. Werner war ganz in seinem Element. Frei von jeder Pose zeigte er eine schlechthin meisterliche Leistung. Er wurde weit mehr als sein Gegenüber beschäftigt und riß die sonst so kühlen Engländer immer wieder zu Beifallsstürmen hin. Einmal schien er schon geschlagen, als er sich im Anschluß an einen abgewehrten Eckball vergeblich nach einem Nachschuß streckte. Auf der Torlinie stand aber einer der Verteidiger, der den Ball ins Feld zurückköpfte. Die Angriffe von Arsenal rollten pausenlos gegen das Tor von Schwarz-Gelb. Die Engländer schossen aus allen Lagen, und sie konnten schießen! Aber der junge Mann im roten Pullover schien unüberwindlich. Sein gutes Stellungsspiel und sein sicherer Instinkt ließen ihn immer da stehen, wo der Ball einschlagen sollte. Als er in der fünfundsechzigsten Minute einen Kernschuß aus etwa acht Metern im Sprung abfing, lief der Schütze zu ihm, um ihm die Hand zu drücken. Solche Leistungen imponierten auch den anspruchsvollen Engländern. Allmählich löste sich Schwarz-Gelb aus der Umklammerung. Der Generalangriff von Arsenal war an Spinne gescheitert. Beinahe wären die Deutschen in Führung gegangen, als Kurt Lang an der Strafraumgrenze eine seiner gefürchteten Flachbomben abschoß. Milton im Tor streckte sich vergeblich, aber der Pfosten hielt für ihn den Ball auf. Und wenig später kam Arsenal zu dem längst verdienten Führungstreffer. Der Linksaußen umspielte dicht an der Mittellinie seinen Verteidiger und lief davon. Dem Mittelläufer, der ihm entgegeneilte, folgte Cunningham, der baumlange Mittelstürmer. Der Rechtsaußen wich zur Mitte aus,
während Cunningham seinen Posten einnahm. Mit einer geschickten Täuschung gab der Rechtsaußen den Ball zu Cunningham, der hoch vor das Tor flankte. Werner und der rechte Verteidiger sprangen, sich gegenseitig behindernd, nach dem Ball, die Abwehr glückte nicht restlos, aber Werner konnte den folgenden Schuß im Sprung mit der Faust abwehren. Der Ball fiel Cunningham direkt vor die Füße, und gegen dessen Schuß war Werner machtlos. Arsenal führte mit 1:0. Schwarz-Gelb gab sich nicht geschlagen. Vielleicht hielt Arsenal das Spiel bereits für gewonnen: man begnügte sich mit .einer Demonstration bester Fußballschule und vernachlässigte dabei etwas die Deckung. Schwarz-Gelb kam wieder auf und drängte auf Ausgleich. Zehn Minuten vor Schluß fiel die Entscheidung. Ein paar Minuten sah es so aus, als wären die Deutschen die Lehrmeister. In einer mustergültigen Flachkombination wanderte der Ball von Mann zu Mann: vom Mittelläufer zu Kurt Lang, der gab an den Linksaußen ab, Flachpaß zu Otto Stenzel. Der gab täuschend zu Erich Dreger zurück. Eine spitze Vorlage zu Kolbe, und dessen weiche, halbhohe Flanke setzte Kurt Lang direkt unter die Latte. Schwarz-Gelb hatte ausgeglichen. Nun war es für die Gäste selbstverständlich, alles zurückzuziehen, um das Resultat zu halten. Ein Unentschieden gegen Arsenal war ein großer Erfolg. Arsenal warf alles nach vorn, um das Spiel doch noch zu gewinnen. Es gab tolle Szenen vor Werners Tor, aber das Glück war diesmal auf der Seite der Deutschen. Sie kämpften bis zum Letzten, und immer wieder zog Spinne den Ball auf sich. Drei Minuten vor Schluß schoß Cunningham freistehend aus acht Meter Entfernung. Aber Spinne vollbrachte das Unglaubliche: er flog dem Ball entgegen und lenkte ihn mit der Faust über die Latte.
Cunningham schüttelte den Kopf und lächelte Werner anerkennend zu. Werner rieb sich die Knöchel und lächelte zurück. Und bald darauf ertönte der Schlußpfiff. Schwarz-Gelb hatte Arsenal ein Unentschieden abgetrotzt. Am Montag fuhren sie nach Nottingham, wo die Forrests, die in der II. Division spielten, am kommenden Tag eindeutig mit 4:1 geschlagen wurden. Erich Dreger fand einen verständigen Engländer, der ihn nach Tollerton-Hall fuhr, wo er Erinnerungen an seine Kriegsgefangenschaft auffrischen konnte. Am Mittwoch ging es nach London zurück. Auf dem Flugplatz Croydon hatten sich einige Offizielle von Arsenal eingefunden, unter ihnen auch Mr. Bacon. „Lieber Herr Krüger, Sie haben mir von der deutschen Mannschaft am besten gefallen, bitte nehmen Sie das hier als Erinnerung an die Tage in London mit.“ Er überreichte Werner ein dickes AIbum mit Aufnahmen aus London. Werner war sehr erfreut darüber und bedankte sich herzlich. „Und hier ist noch etwas für Ihren Briefmarkenfreund. Grüßen Sie ihn von mir, und wenn er Lust hat, soll er mich einmal besuchen.“ „Ich danke Ihnen im Namen von Jürgen, Mr. Bacon. Sicher käme er gern einmal nach England, aber das wird sich wohl kaum machen lassen.“ „Warum nicht? Man muß es nur wollen.“ Dann war es Zeit, Abschied zu nehmen. In den wenigen Tagen hatte man unendlich viel gesehen und erlebt und viele neue Freunde gewonnen. Kullmann bekam zur Erinnerung einen knorrigen Krückstock überreicht, der auf einem kleinen Emailleschild die Farben von Arsenal zeigte. Jeder trug ein Andenken mit nach Hause.
Und dann huschte die Maschine über das Rollfeld und verschwand nach einer Ehrenrunde im Dunst des Abends.
Länderspiele Schwarz-Gelb und sein großer Anhang konnten auf das Ergebnis der Englandfahrt stolz sein. Die deutsche Presse brachte lange Berichte, und wieder wurden Werner Krüger und Kurt Lang besonders gelobt. Am meisten zufrieden war Jürgen Weinert. In dem großen Umschlag, den ihm Mr. Bacon mitgeschickt hatte, hatten sich ungeahnte Schätze gefunden, und Jürgen war wegen seiner seltenen Tauschobjekte in Sammlerkreisen bald eine bekannte Persönlichkeit. Mr. Bacon mußte nach Jürgens Meinung ein großer Mann sein. Wer so viele seltene Briefmarken verschenken konnte, war sicher sehr reich und ungewöhnlich gutherzig. Jürgen setzte sich hin und quälte sich lange mit einem englischen Dankesbrief. Als er fertig war, ging er damit zu Werner Krüger. „Herr Krüger, wollen Sie bitte einmal prüfen, ob ich so an Mr. Bacon schreiben kann?“ Werner sah den Brief an. „Das ist ein sehr schöner Brief“, sagte er. „Sie haben ihn doch noch gar nicht gelesen! „Das kann ich auch nicht.“ „Nanu? Sie waren doch in England!“ „Das schon. Und da meinst du, ich könnte nun gleich so reden wie ein Eingeborener? So schnell geht das nicht. Aber geh doch mal zu Kurt Lang, der spricht besser Englisch als ich Deutsch. Und noch einfacher wäre es, wenn du Mr. Bacon einen deutschen Brief schreiben würdest.“ „Spricht Mr. Bacon deutsch?“ „Ja, sehr gut sogar. Er hat in Deutschland studiert.“ „Das hätte ich wissen sollen! Dann hätte ich doch gleich einen deutschen Brief schreiben können.“
„Das wäre das einfachste gewesen. Aber sind die vielen Marken nicht etwas Mühe wert? Schicke deinen englischen Brief ruhig so ab, wie er ist, und dann schreibe dasselbe noch einmal in Deutsch. Dann bittest du Mr. Bacon, den englischen Brief korrigiert zurückzuschicken. Das macht er bestimmt gern, und du lernst etwas dabei.“ Jürgen nickte zustimmend. Das war ein guter Vorschlag. Mit herzlichem Dank verabschiedete er sich. Im Januar fand in Kopenhagen ein Länderspiel gegen Dänemark statt. Am gleichen Tage sollte die BMannschaft in Köln gegen Luxemburg antreten. Bei der Auswahl für Kopenhagen stützte sich der Bundestrainerauf altbewährte Kräfte, in Köln sollten dagegen junge Leute zum Zuge kommen. Kurt Lang und Werner Krüger wurden in die BMannschaft berufen. Erich Dreger fuhr als Ersatzmann mit. Diese Tatsache überraschte allgemein, da Dreger bisher in weiten Kreisen kaum bekannt war. Seine Zugehörigkeit zur Meisterelf schien keine genügende Rechtfertigung für diese Berufung. Von den Spielern der Kölner Mannschaft hatten nur zwei schon einmal in einer Länderelf mitgewirkt, alle anderen waren Neulinge. Da sie zudem aus zehn verschiedenen Vereinen kamen — nur Kurt und Werner bildeten eine Ausnahme —, sah man dem Ausgang des Spieles skeptisch entgegen. Positiv war allein die Tatsache zu werten, daß das Spiel nicht im Ausland vor fremdem Publikum stattfand. Man konnte damit rechnen, daß die Kölner Zuschauer der jungen Elf den Rücken stärken würden. Kurt Lang und sein Außen verstanden sich sofort. Nach wenigen Minuten spielten sie so miteinander, als hätten sie schon jahrelang in der gleichen Elf nebeneinander gestanden. Es wurde bald klar, daß der
linke Flügel die stärkste Bedrohung für die Luxemburger bedeuten würde. Werner spielte ohne Lampenfieber mit der ge- wohnten Ruhe. Die Luxemburger Mannschaft ging nicht ohne Chance in den Kampf. Es standen einige Könner von Format in ihren Reihen, und die übrigen Spieler ersetzten das fehlende Können durch unermüdlichen Eifer. So nahm es nicht Wunder, daß es bei Halbzeit 1:0 für Deutschland stand, ein Resultat, das ein ziemlich ausgeglichenes Spiel ausdrückte. In der Mitte der ersten Hälfte war nach Vorarbeit des linken Flügels der Führungstreffer gefallen. Nach der Pause griffen die Gäste ungestüm an, und Werner konnte beweisen, daß er nicht zu Unrecht in die B-Elf berufen worden war. Er zeigte auch hier sein gutes Stellungsspiel und eine blitzschnelle Reaktionsfähigkeit. Es schien gerade so, als wüßte er immer vorher, wohin der Ball fliegen würde, die Luxemburger fanden nie eine Lücke. Für die junge Mannschaft war die Sicherheit und die Ruhe des Torwarts eine wertvolle Stütze, an der ihr Selbstvertrauen wuchs. Der Elan der Luxemburger ließ allmählich nach, sie fielen ihrem eigenen Tempo zum Opfer. Um so mehr kam die deutsche Mannschaft ins Spiel. In regelmäßigen Abständen fielen vier weitere Tore, während Werner kein Gegentor zuließ, obwohl dem tapferen Gegner ein Ehrentreffer zu gönnen war. Zwanzig Minuten vor Schluß fiel der deutsche rechte Läufer durch Verletzung aus, und an seine Stelle trat Erich Dreger. Es wurde ihm nicht schwer, zusammen mit dem rechten Verteidiger den abgekämpften linken Flügel der Luxemburger zu halten, und seine Leistung war nicht als Maßstab für sein Können zu werten. Am Ende hieß es 5:0 für die deutsche B-Mannschaft. Am nächsten Tage schrieb die Fußballwoche:
Während unsere erste Auswahl in Kopenhagen mit 3:1 geschlagen wurde, gewann die zweite Garnitur in Köln gegen Luxemburg mit 5:0. Die Niederlage im Norden hätte sich wohl vermeiden lassen, wenn man die Mannschaft etwas anders aufgestellt hätte. Der Sieg über Luxemburg war zu erwarten, und wenn der rechte Flügel der B-Mannschaft so gut gewesen wäre wie der linke, und wenn der talentierte Neumann als Mittelstürmer nicht so schrecklich unter Lampenfieber gelitten hätte, wäre die Torausbeute noch höher gewesen. Wenn Luxemburg zu keinem Gegentreffer kam, lag das nicht an mangelnden Stürmerleistungen, sondern an dem jungen Torwart Krüger, der sich ebenso wie sein Vereinskamerad Lang (Halblinks) für größere Aufgaben empfahl. Vielleicht hätten diese beiden Spieler das Ergebnis in Kopenhagen etwas freundlicher gestaltet. Die A-Mannschaft kam bei der Kritik überhaupt schlecht weg, wobei sich die Vorwürfe vor allem gegen den Bundestrainer richteten, dem man nachsagte, er wollte Länderspiele mit einer Altherren-Mannschaft gewinnen. Im März stand ein Länderspiel gegen Holland in Hannover auf dem Programm, und es überraschte niemand, daß Lang und Krüger mit aufgestellt wurden. Das Hindenburg-Stadion war bis auf den letzten Platz gefüllt, als die Mannschaften bei strahlendem Sonnenschein auf den Rasenliefen. Es entspann sich eine Schlacht, bei der auf beiden Seiten mit vollem Einsatz gekämpft wurde. Holland war ein durchaus gleichwertiger Gegner, jeder Mann ein Könner mit reichhaltigem Repertoire. Hin und her wogte der Kampf, dem zuzusehen eine Freude war.
Das erste Tor schossen die Gäste. Werner warf sich nach einem scharfen Schuß, der in die untere Ecke gezielt war. Gleichzeitig versuchte der linke Läufer, den Ball mit dem Fuß abzuwehren. Er konnte ihn aber nicht wegschlagen, sondern berührte ihn nur leicht, so daß er, für Werner völlig unerreichbar, im Tor landete. Das war ausgesprochenes Pech, aber niemand machte dem unglücklichen Läufer einen Vorwurf. Doch auch ein Eigentor ist ein Tor, und Holland führte mit 1:0. Jetzt begann eine Periode, in der Werner alle Register seines großen Könnens ziehen mußte, um ein zweites Tor zu verhindern, das sicher spielentscheidend gewesen wäre. Einmal warf er sich tollkühn dem Halblinken in den Schuß, dann nahm er dem Mittel- Stürmer drei Meter vor dem Tor den Ball vom Fuß. Er stand immer richtig und war durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Das Publikum hatte begonnen, um den Sieg der deutschen Mannschaft zu bangen, als der Generalangriff der Holländer ein- setzte. Aber die Ruhe, die von Spinne ausging, erfüllte allmählich auch die Zuschauer. Das Spiel dieses jungen Torwarts war so sicher und überzeugend, daß kaum etwas geschehen konnte. Zehn Minuten vor der Pause sah es einmal doch so aus, als sollte Holland seinen Vorsprung ausdehnen. Nach einem deutschen Angriff erhielt der holländische Linksaußen den Ball und strebte in schnellem Lauf dem Tor zu. Spinne löste sich rechtzeitig von der Torlinie, um dadurch den Schußwinkel zu verkürzen. Aus vollem Lauf gab der Holländer einen Schuß ab, der ein Tor wert gewesen wäre. Aber Spinne flog wie ein Pfeil durch die Luft und traf den Ball mit der vorgestreckten Faust. Der Ball stieg hoch und senkte sich in weitem Bogen auf das Tor zu, unter atemloser Stille verfolgt von sechzigtausend Augenpaaren. Er fiel auf die Latte und rollte über das
Netz ins Aus. Ohrenbetäubender Beifall löste die Spannung. Es blieb bis zur Pause beim 1:0 für die Gäste. Kurt Lang schoß in diesem Spiel kein Tor, aber wie entscheidend seine Mitwirkung war, ging daraus hervor, daß er alle drei Tore, die in der zweiten Hälfte für Deutschland fielen, vorbereitet hatte. Er wurde zwar besonders scharf bewacht, aber immer wieder gelang es ihm, sich seinen Verfolgern zu entziehen. Werner hatte in der zweiten Hälfte weniger zu tun, war aber stets auf seinem Posten. Das 3:1 entsprach nicht ganz dem Spielverlauf und wurde der Leistung der Holländer nicht voll gerecht. Es wollte ihnen aber nach Halbzeit nichts mehr glücken, und Spinne schien unüberwindlich. Wenige Wochen später fuhr die deutsche Mannschaft zu einem Länderspiel nach Wien. Der Bundestrainer hatte die in Hannover siegreiche Mannschaft nicht geändert, nur der rechte Läuferposten war neu zu besetzen, da der Stammspieler verletzt war. Es erregte wieder beträchtliches Aufsehen, als Erich Dreger nominiert wurde. Die Reise nach Wien stand unter keinem günstigen Stern. Zunächst verzögerte sich die Ankunft um mehr als acht Stunden, weil die Strecke durch eine entgleiste Lokomotive blockiert war. Man kam also nicht, wie vorgesehen, am späten Abend, sondern erst im Morgengrauen in Wien an. Dazu regnete es, und es hatte den Anschein, als sollte es noch einige Tage Regen geben. Als die Mannschaft am nächsten Nachmittag zum Stadion fuhr, regnete es zwar nicht mehr, und der Anmarsch der Massen versprach einen Rekordbesuch. Aber es fehlte die Sonne, die einem solchen Spiel erst Leben und Farbe gibt. Dafür wehte ein kühler, böiger Wind.
Schon zehn Minuten nach Spielbeginn traf die deutsche Mannschaft ein böses Mißgeschick. Die Österreicher griffen von links an, der Ball kam hoch herein. Der Mittelläufer wehrte den Ball zwar durch Kopfstoß ab, aber gleich darauf wurde er wieder flach in den Strafraum gegeben. Dort stand der Mittelstürmer der Österreicher mit dem Rücken zum Tor. Werner Krüger warf sich dem Ball entgegen und erreichte ihn auch mit den Händen. Im gleichen Augenblick machte der Mittelstürmer eine jähe Wendung, um den Ball ins Tor zu stoßen. Daheim im Radio hörte man die aufgeregte Stimme des deutschen Ansagers: „Flanke von rechts, Kraus wehrt ab, aber zu kurz, schon wieder ist der Ball im deutschen Strafraum! Krüger wirft sich auf den Ball, hält ihn fest. Aber was ist das? Krüger bleibt liegen, seine Kameraden bemühen sich um ihn, auch die Österreicher greifen zu. Krüger wird vom Platz getragen, er ist anscheinend bewußtlos. Das Spiel wird für eine Weile unterbrochen. Sanitäter legen Krüger auf eine Bahre und tragen ihn fort. Er scheint am Kopf zu bluten. Der Ersatztorwart, Scholz vom FC Hamburg, nimmt Krügers Platz ein. Menzel klopft dem Mittelstürmer der Österreicher beruhigend auf die Schulter, als wollte er sagen: Dich trifft keine Schuld. Das Spiel geht weiter! Menzel spielt flach zu Lang...“ Werner kam erst wieder zu Bewußtsein, als seine Kopfwunde schon vernäht war. Der Arzt beugte sich über ihn. „Nun, wie geht’s?“ Werner sah sich verwundert um. Er hatte doch eben noch im Prater-Stadion im Tor der deutschen Länderelf gestanden!
„Was ist denn geschehen?“ fragte er zurück. „Sie sind ein wenig verletzt“, sagte beruhigend der Arzt, „es hätte schlimmer ausgehen können. Eine Rißwunde am Kopf, die schon vernäht ist, und eine kleine Gehirnerschütterung. In ein paar Tagen können Sie wieder aufstehen.“ Eine Schwester trat hinzu: „Entschuldigen Sie, Herr Doktor, vom Stadion wird nach dem Befinden des Patienten gefragt.“ „Ich kann doch sagen, daß es gut geht, nicht wahr, Herr Krüger?“ „Ja“, sagte Werner, „der deutsche Ansager möchte die Hörer zu Hause beruhigen. Meine Mutter wird in großer Sorge um mich sein.“ „Aber nicht mehr lange, Herr Krüger! Ich gehe jetzt an den Apparat, um Bescheid zu sagen.“ Nach wenigen Minuten hörte man im deutschen Rundfunk: „Wir erhalten soeben Nachricht aus dem JosephsSpital. Werner Krüger hat eine unbedeutende Kopfwunde und eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen. Anlaß zu irgendwelcher Besorgnis besteht nicht. Er läßt seine Mutter, die jetzt wohl am Lautsprecher auf Nachricht wartet, herzlich grüßen. Den Mittelstürmer der österreichischen Mannschaft, der den Unfall sehr bedauert, trifft kein Verschulden. Und nun wieder zum Spiel. Es steht immer noch 2:0 für die Gastgeber. Lang ist durchgebrochen — Lang steht allein vor dem Tor — er schießt. Tor! Tor! Das war ein herrlicher Schuß! Mit unheimlicher Schärfe schlug der Ball dicht neben dem Pfosten ein. 2:1 in der 57. Minute durch einen Prachtschuß von Kurt Lang!“
Das Spiel ging 3:1 verloren. Auch Werner Krüger hätte die Niederlage nicht verhindern können. Vielleicht — aber nein, Scholz zeigte eine feine Leistung und war an keinem der drei Tore schuld. Nach dem Spiel fuhren der Bundestrainer und Kurt Lang zum Hospital. Werner war über den Ausgang des Spieles schon unterrichtet, aber er nahm es nicht tragisch. Viel mehr störte ihn, daß er nun allein in Wien zurückbleiben mußte. „Herr Doktor, Sie können mich ruhig fahren lassen! Es geht mir ganz gut. Ich habe zwar ein bißchen Kopfschmerzen, aber deswegen kann ich doch fahren.“ „Nein, daraus wird nichts, Herr Krüger, das kann ich nicht verantworten. Ein paar Tage müssen Sie schon mit unserer Gesellschaft vorlieb nehmen.“ „Was sagst du dazu, Kurt? Das ist doch Freiheitsberaubung!“ „Du bist imstande, daraus einen diplomatischen Zwischenfall zu machen“, gab Kurt lachend zurück. „Ich gebe in diesem Falle mehr auf die Meinung des behandelnden Arztes als auf deine. Bevor du nicht transportfähig bist, darfst du nicht reisen.“ „Na ja, ich muß es mir gefallen lassen. — Grüße meine Mutter herzlich, du kannst sie beruhigen, ich lebe noch. Und vergiß nicht einen Gruß an Kullmann. Der wird nun für alle Zeiten einen Groll gegen alles haben, was aus Österreich kommt.“ Eine Woche später konnte auch Werner die Heimreise antreten. Man hatte ihn im Spital nach allen Regeln der Kunst verwöhnt, und er schied mit herzlichen Dankesworten. Auf ärztliches Anraten durfte Werner einige Wochen nicht spielen. Selbstverständlich war er deswegen doch jeden Sonntag bei der Mannschaft und sah einmal zu, wie seine Kameraden spielten.
Eines Abends besuchte ihn Jürgen. Er zeigte stolz einen Brief aus London. Mr. Bacon hatte sehr liebenswürdig geantwortet und Grüße an Werner Krüger aufgetragen. „Hat er deutsch oder englisch geschrieben?“ „Deutsch, mit ein paar Fehlern.“ „Das hat dir wohl Spaß gemacht? Hat er deinen englischen Brief zurückgeschickt?“ „Ja. Die Fehler hat er rot angestrichen“ „Nun ist wohl der ganze Brief so rot wie du es jetzt wirst?“ „Ganz so schlimm ist es nicht“, verteidigte sich Jürgen. „Mr. Bacon hat den ganzen Brief noch einmal neu aufgesetzt, da habe ich eine Menge gelernt.“ „Siehst du! Das war ja der Zweck der Übung! Und was macht das Fußballspiel?“ „Ich soll in der nächsten Saison in der Ersten Schülermannschaft spielen“, berichtete Jürgen stolz. „Gut so! Da habe ich auch angefangen. Aus dir kann also noch etwas werden.“ „Ob ich dann auch einmal Nationaltorwart werde?“ Werner lachte. „Warten wir es ab! Ein großer Mann — ich weiß nicht, wie er hieß — hat einmal gesagt: Genie ist Fleiß. Also trainieren und immer wieder trainieren! Und glaube nie, daß du schon alles könntest! Es gibt immer wieder etwas Neues zu lernen.“ — Den Höhepunkt der Saison würde das Länderspiel gegen Spanien bilden, das im Berliner Olympia-Stadion stattfinden sollte. Werner war wieder soweit hergestellt, daß ihn der Bundestrainer unbedenklich aufstellen konnte. Wenige Tage vor der Abreise bekam Werner Besuch. Vor der Tür hielt ein schwerer, großer Wagen mit einer ausländischen Kennziffer. Der Besucher, unverkennbar
ein Südländer, stellte sich als Signor Rosario aus Mailand vor. „Herr Krüger“, begann er in einem schwer verständlichen Deutsch, „ich reise zu Berlin für Fußballspiel gegen Spanien. Hauptsache will ich sehen Ihre Spiel, ob Sie können so viel, wie Leute sagen.“ Werner wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Was hatte er mit diesem Signor Rosario zu tun? „Meine Besuch hat andere Bedeutung. Wenn Sie sind erstklassig, ich mache Ihnen große Angebot. Keine deutsche Verein kann das wie ich. Kommen Sie zu FC Milano! Wir haben viele Geld, können Ihnen geben jedes Monat eintausend und zweihundert Mark. Sie werden haben Häuschen und neue Auto. Das ist gut, wie?“ Werners Entschluß stand schon fest, bevor Signor Rosario mit der Aufzählung seiner Trümpfe begann. „Herr Rosario, es ehrt mich, daß Sie mir ein so großzügiges Angebot machen, aber ich möchte Ihnen doch von vornherein sagen, daß ich nicht daran denke, den Verein zu wechseln. Mein Beruf ist außerdem Tischler, nicht Fußballspieler.“ „Nun, Sie werden überlegen mein Angebot, Herr Krüger?“ „Da gibt es nichts zu überlegen, ich werde meine Meinung nicht ändern. Ich spiele jetzt als Amateur in der Ländermannschaft und habe nicht die Absicht, in der nächsten Saison in Italien als Profi aufzutauchen.“ „Wenn Sie spielen in Länderelf, Sie haben nur Ehre. Wenn Sie werden spielen in Milano, Sie werden sein reiche Mann.“ „Sehen Sie, Herr Rosario, das ist der grundlegende Unterschied zwischen Ihrer und meiner Auffassung. Ich betreibe den Fußballsport aus Freude an der Sache, für Sie ist er ein Geschäft. Auch Sie können mich nie dazu bewegen, meine Ansicht zu ändern.“ „Werden wir sehen,
Herr Krüger. Wenn ich komme zurück von Berlin, ich werde fragen noch einmal. Wenn Sie wollen noch mehr verdienen, Sie müssen sagen. Milano hat viele Geld, kann gut zahlen.“ Werner schüttelte lächelnd den Kopf. „Sie kennen meine Meinung. Es wäre also zwecklos, wenn Sie meinetwegen noch einmal den Umweg machen würden.“ „Ich komme wieder, Herr Krüger. Ich weiß, Geld spielt immer große Rolle. Italien schönes Land!“ Werner erhob sich. Es hatte wirklich keinen Zweck, noch weiter zu verhandeln. „Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, Herr Rosario, und wünsche Ihnen eine gute Fahrt.“ „Danke, Herr Krüger. Hier meine Adresse. Sie schreiben, wenn Sie wollen kommen.“
Das große Spiel Als die Mannschaftsaufstellung für das Spanien-Spiel bekannt wurde, gab es lange und recht lebhafte Debatten. Der Bundestrainer hatte für dieses Spiel nicht weniger als vier Spieler von Schwarz-Gelb vorgesehen. Lang und Krüger gehörten in die Länderelf, darüber war nicht zu reden. Man nahm es auch noch hin, daß Erich Dreger wieder aufgestellt wurde, obwohl er eigentlich noch nicht bewiesen hatte, daß er für so große Aufgaben reif sei. Die zwanzig Minuten im Spiel gegen Luxemburg hatten nicht ausgereicht, um ein abschließendes Urteil über ihn zu bilden, und die Berichte über das verlorene Spiel in Wien klangen auch nicht gerade überzeugend. Es gab doch eine ganze Reihe bewährter Läufer, wie etwa Konitz aus Dortmund oder den Stuttgarter Pfleiderer, ganz zu schweigen von Grieser aus München, der schon viermal in der Nationalelf gestanden hatte. Warum mußte der Bundestrainer wieder Dreger aufstellen? Völlig unverständlich war die Nominierung von Kolbe als Linksaußen. War es wirklich so entscheidend, neben Lang einen Vereinskameraden zu stellen, der dazu in der Vereinsmannschaft Rechtsaußen spielte? Vielleicht würde der Bundestrainer doch noch zur Einsicht kommen. Am Tage vor der Abreise erhielt Werner einen Brief aus London. „Lieber Herr Krüger! Heute fliege ich aus geschäftlichen Gründen nach Berlin. Ich werde bis Ende der nächsten Woche dort bleiben, um das Spiel gegen Spanien zu sehen. Es freut mich, daß ich in der deutschen Mannschaft vier alte Freude von Schwarz-Gelb wiedersehe. Können wir uns
vor dem Spiel irgendwo treffen, um miteinander zu plaudern? Nachricht erbitte ich in das Hotel Russischer Hof. Würden Sie meinen Briefmarkenfreund mitbringen? Der Junge hat mir so nette Briefe geschrieben, und ich möchte ihn gern kennenlernen. Für alle Kosten komme ich selbstverständlich auf. Darüber erbitte ich möglichst bald Bescheid. Es freut sich auf ein Wiedersehen in Berlin Ihr P. T. C. Bacon.“ Werner freute sich darauf, den sympathischen Engländer wie« derzusehen, und Jürgen würde sich wahrscheinlich noch mehr freuen, daß er zum Länderspiel nach Berlin fahren durfte. Werner machte sich sofort auf, um Jürgen die Botschaft zu bringen. Es dauerte eine Weile, bis Werner Herrn Weinert davon überzeugen konnte, daß er ein solches Angebot unbedenklich annehmen könne und daß sein Junge in guten Händen sei. Jürgen strahlte, als sein Vater endlich die Zustimmung gab, und machte sich sofort daran, einen Brief nach Berlin zu schreiben. „Per Luftpost!“ sagte er. „Natürlich“, meinte sein Vater, „ich will den Brief aber sehen, bevor du ihn zur Post bringst.“ Am nächsten Tage flogen die vier Spieler von Schwarz-Gelb, die für die Ländermannschaft vorgesehen waren, nach Berlin. Jürgen bekam schon drei Tage später einen dicken eingeschriebenen Luftpostbrief aus Berlin. Mr. Bacon schrieb ihm, daß er sich darauf freue, ihn kennenzulernen. Er schickte eine Flugkarte ab Frankfurt und für sonstige Auslagen einhundert Mark. Er wußte, daß die Luftreise dem Jungen besondere Freude machen würde. Der Brief enthielt genaue Angaben, wie sich Jürgen in Frankfurt und Berlin zu verhalten habe,
und diese unverkennbare Sorgfalt war für Jürgens Eltern sehr beruhigend. Es gab während der Fahrt nach Frankfurt eine Menge zu sehen. Jürgen stand meist am Fenster im Seitengang. Dann meldete sich aber sein Magen, und Jürgen räumte mit seinem Reiseproviant restlos auf. Das hatte bis Berlin reichen sollen, aber in Frankfurt konnte er sicher ein paar Brötchen kaufen. Jürgen wußte, daß sich die Geschäftsstelle der Fluggesellschaft in Frankfurt gegenüber dem Hauptbahnhof befand, das hatte ihm Mr. Bacon geschrieben, der anscheinend alles wußte. Er zeigte einem Angestellten seine Flugkarte. „Du bist also Jürgen Weinert? Man hat dich schon bei uns angemeldet.“ In der Vorhalle des Flughafens wurde Jürgen von einer Stewardess in Empfang genommen. „Du bist sicher Jürgen Weinert? Auf dich warte ich schon. Gib mir bitte deine Flugkarte und deinen Koffer.“ „Entschuldigen Sie, kann ich mir hier irgendwo ein paar Brötchen besorgen?“ „Hast du schon alles aufgegessen?“ Jürgen nickte zustimmend. „Mach dir keine Sorge, wir haben genug zu essen in der Maschine.“ „Ist das sehr teuer?“ fragte Jürgen vorsichtig. „Keine Angst, das kostet dich gar nichts.“ Nach wenigen Minuten rollte die Maschine an und erhob sich in die Luft. Jürgen fand das Fliegen wunderbar und erwachte erst aus seiner Verzückung, als eine Kanne mit Schokolade und ein paar Stück Kuchen vor ihn hingestellt wurden. Auch diese Seite der Fliegerei fand seinen Beifall. Im Lautsprecher wurde angesagt, daß man sich bereits über Berlin befände. In etwa fünf Minuten würde
die Maschine landen. Das sollte Berlin sein? Hier und da ein paar Häuser, dann wieder Wald, ein kleines Dörfchen — das war doch nicht Berlin. Bald aber rückten die Häuser immer enger zusammen, und dann befand sich die Maschine über einem unübersehbaren Häusermeer. Mit einem kaum spürbaren Ruck setzte sie auf und rollte aus. Jürgen spähte aufgeregt nach Mr. Bacon aus. Wie sollte er ihn finden, er hatte doch keine Ahnung, wie er aussah? Die Stewardess half ihm. „Der schlanke, große Herr dort an der Barriere, das könnte Mr. Bacon sein, der sieht aus wie ein Engländer.“ Jürgen winkte zaghaft, und der Herr winkte zurück. „Hallo, Jürgen!“ „Guten Tag, Mr. Bacon!“ Jürgen machte eine seiner besten Verbeugungen. „Ich danke Ihnen nochmals herzlich für die Einladung. Meine Eltern lassen grüßen.“ „Danke, Jürgen. Also so siehst du aus? Genau so hatte ich mir dich vorgestellt. Und bist du mit mir zufrieden?“ Jürgen nickte. „Na, dann ist wohl alles in Ordnung. Wir wollen hoffen, daß wir uns gut vertragen und gute Freunde werden.“ Der Junge gefiel ihm. Die Tage vor dem Spiel vergingen viel zu schnell. Jürgen fand Mr. Bacon einfach reizend, sie verstanden sich glänzend, und wenn Jürgen abends im Bett lag, hatte er Mühe, die Eindrücke des Tages rückblickend zu ordnen. Am Sonntag fuhren sie nach dem Mittagessen zum Stadion, das bis auf den letzten Platz gefüllt war. Auf dem sattgrünen Rasen ging das Vorspiel zu Ende, und dann war es soweit. Unter dem Jubel der Massen liefen beide Mannschaften nebeneinander durch das Marathontor auf
das Spielfeld. Es gab die bei so großen Ereignissen üblichen Vorbereitungen: Nationalhymnen, Blumen, Ansprachen, Pressephotographen, und dann pfiff der englische Schiedsrichter die Spielführer zur Seitenwahl. Spanien gewann und entschied sich, zuerst mit der Sonne im Rücken zu spielen. Beide Mannschaften nahmen Aufstellung, die Photographen verließen den Rasen, das Spiel konnte beginnen. Der Anstoß der Deutschen wurde abgefangen, und schon rollte der erste Angriff auf das deutsche Tor. Aus zwanzig Meter gab der Halbrechte einen Bombenschuß ab, den Werner mit Mühe halten konnte. Die Spanier legten mit atemberaubendem Tempo los, und bevor sich die deutsche Elf gefunden hatte, mußte Werner ein paar schwere Brocken abwehren. Die Spanier waren nicht nur eminent schnell, sie zeigten sich auch technisch sehr beschlagen und kämpften mit Einsatz aller erlaubten Mittel. Allmählich wuchs die deutsche Mannschaft zu einer Einheit zusammen. Lang und Kolbe bildeten einen ausgezeichneten Flügel, der die spanische Abwehr wenig respektierte und für das spanische Tor manche Gefahr heraufbeschwor. Der linke Flügel und Werner Krüger im Tor rechtfertigten ihre Berufung in die Länderelf schon in den ersten fünf Minuten. Erich Dreger dagegen hatte mit dem wieselflinken Halblinken der Spanier zunächst Schwierigkeiten, er wurde mit ein paar raffinierten Tricks einige Male glatt ausgespielt. Als aber das Repertoire des Spaniers erschöpft war, blieb er öfter an Dreger hängen. Und je länger das Spiel dauerte, desto ansprechender wurde die Leistung des rechtenLäufers. Die deutsche Mannschaft war in ausgezeichneter Kondition und war dem Tempo, mit dem die Spanier begannen, ohne Schwierigkeiten gewachsen. Auf beiden Seiten wurden ungewöhnliche Leistungen gezeigt. Die
Spanier hatten vielleicht ein kleines Übergewicht im Sturm, der zügiger kombinierte und häufiger schoß. Aber alle Schüsse, die auf das Tor kamen, fanden Spinne auf dem Posten. Er trug wieder den alten roten Pullover, von dem ihn auch der Bundestrainer nicht trennen konnte. Seine Leistungen begeisterten die Zuschauer, die ihn immer wieder mit Beifall überschütteten. Da stand er nun in einem der wichtigsten Spiele im Tor der Ländermannschaft. Das war das Höchste, was er erreichen konnte. Und ihm fiel ein, daß dies der Traum seiner Jugendjahre gewesen war. Spinne, der dreizehnjährige Torwart einer Schülermannschaft von Schwarz-Gelb, hatte heimlich davon geträumt, einmal im Olympia-Stadion das Tor der Länderelf hüten zu dürfen. Nun war dieser Traum in Erfüllung gegangen. Eine natürliche Begabung hatte ihm den Weg geebnet, gute Freunde hatten ihm geholfen. Irgendwo zwischen den Neunzigtausend saßen sie: Herr Gangler, der alte Kullmann, Trainer Schmidt. Und da vorn spielte im Sturm sein Freund Kurt Lang. Ihnen allen war er zu Dank verpflichtet, sie hatten ihn davor bewahrt, sich für mehr zu halten, als er tatsächlich war. Er war im Grunde seines Herzens der bescheidene Junge geblieben, der er vor acht oder zehn Jahren gewesen war. Es erfüllte ihn mit berechtigtem Stolz, daß er auf diesen Posten berufen worden war, aber er vergaß auch nie, daß dieses Vertrauen immer neu verdient werden mußte. Kurz vor der Pause glückte der deutschen Mannschaft etwas überraschend der Führungstreffer. Kolbe erlief sich einen mißglückten Abschlag des spanischen Mittelläufers. Dicht an der Eckfahne erreichte er den Ball und spielte ihn hoch in den Strafraum. Ein dichtes Menschenknäuel reckte sich danach. Vom Kopf eines Spaniers kam der Ball zu dem aufgerückten Erich
Dreger, der unerwartet mit voller Kraft schoß. Dicht neben dem Pfosten schlug es ein, der spanische Torhüter streckte sich vergebens, Deutschland führte 1:0. Mit einem ungeheuren Freudenschrei machte die Menge ihrer Begeisterung Luft. Erich Dreger wurde von seinen Kameraden fast erdrückt, selbst Spinne eilte aus dem Tor herbei, um dem Vereinskameraden die Hand zu reichen. Nach der Pause versuchten die Spanier, das Tempo noch zu verschärfen. Mehr als bisher setzten sie ihre flinken Flügelstürmer ein, um die deutsche Deckung aufzureißen. Schon wenige Minuten nach der Pause schafften sie den Ausgleich. Mit schnellem Flügelwechsel trieben sie den Ball vor, und dicht an der Torraumgrenze bekam der Halblinke freistehend den Ball flach zugespielt. Gegen dessen placierten Bombenschuß gab es keine Abwehrmöglichkeit. Das Ausgleichstor gab den Spaniern einen gewaltigen Auftrieb. Es war unglaublich, über welche Kraftreserven diese Männer verfügten. Alle zehn Feldspieler waren in ständiger Bewegung, immer wieder und völlig unberechenbar wechselten sie die Plätze. Die deutsche Hintermannschaft hatte ein gewaltiges Pensum zu erledigen, und es war wohl nur eine Frage der Zeit, wann die deutsche Abwehr zusammenbrechen würde. Der ruhende Pol war wieder Spinne, der durch nichts aus der Ruhe zu bringen war. Die Spanier schossen aus allen Situationen, und welche Kraft steckte hinter diesen Schüssen! Aber sie fanden in Werner ihren Meister, der sie fast zur Verzweiflung brachte. Wie ein Gummiball sprang er in seinem Gehäuse umher und stand immer gerade da, wo der Ball in das Tor flitzen sollte. Das Publikum raste, eine solche Torwartleistung hatte man noch nicht erlebt. Die Spanier waren in dieser Spielperiode eindeutig überlegen. Da die deutschen
Halbstürmer hinten aushelfen mußten, fehlten sie vorn im Sturm, dessen Angriffe im Keim erstickten. Bis zur 78. Minute hielt die deutsche Abwehr das Unentschieden, dann geschah das Unglück. Der spanische Mittelstürmer schoß auf das deutsche Tor. Der Mittelläufer kam bei einem Zusammenprall mit einem Spanier zu Fall und berührte unglücklicherweise den Ball mit der Hand. Der Schuß war durchaus nicht gefährlich, Spinne hätte ihn ohne Schwierigkeiten gehalten, aber für den unauffällig und korrekt amtierenden Schiedsrichter gab es nur eine Entscheidung: Elfmeter. Die neunzigtausend Zuschauer hielten den Atem an, als der rechte Verteidiger der Spanier, der mit der Ausführung betraut wurde, anlief. Er hatte den Ball kaum getreten, als er auch schon im Netz war. Es war einer jener Schüsse, von denen man nach Jahren noch spricht. Spinne hatte keine Spur einer Abwehrmöglichkeit, er sagte auch später, er hätte den Ball kaum gesehen. Ihm blieb weiter nichts übrig, als ihn zur Mitte zu geben. Damit schien das Spiel entschieden. Die Spanier würden alles aufbieten, um diesen knappen Vorsprung zu halten, und die deutsche Elf hatte wohl nicht mehr die Kraftreserven, um zum Gegenschlag auszuholen. Der Bundestrainer gab Anweisung, offensiv zu spielen, und die Umklammerung der Spanier löste sich allmählich. Sie schienen mit dem Resultat zufrieden. Die deutsche Mannschaft, unterstützt vom Publikum, raffte sich noch einmal zu einer Energieleistung auf. Erich Dreger hatte durch seinen Torschuß alle die versöhnt, die mit seiner Aufstellung nicht zufrieden waren. In der letzten Viertelstunde wuchs er über sich selbst hinaus. Griffen die Spanier an, war er hinten auf seinem Posten, gingen die Deutschen vor, schaltete er sich als sechster Stürmer ein. Er mußte dabei ein ungeheures Laufpensum
erledigen, und doch war alles, was er tat, überlegt und ohne Hast. Vielleicht war es reiner Zufall, daß allein die vier Spieler von Schwarz-Gelb die Entscheidung herbeiführten. Werner Krüger war einer mißglückten Steilvorlage entgegengelaufen, an der Strafraumgrenze nahm er den Ball auf und rollte ihn Erich Dreger zu. Der startete blitzschnell und gab den Ball flach an Kurt Lang, der sofort Kolbe einsetzte. Der flankte nicht, wie die spanische Abwehr erwartete, hoch vor das Tor, sondern gab den Ball an Erich Dreger zurück, der in der Mitte auftauchte. Dreger widerstand der Versuchung, auch das zweite Tor schießen zu wollen, und schob den Ball durch eine Lücke zu dem freigelaufenen Kurt Lang. Zwei — drei Schritte, und Lang schoß aus kurzer Entfernung den Ball neben dem Pfosten ins Tor. Der Jubel war unbeschreiblich. Die vier SchwarzGelben umarmten sich gegenseitig, während die Spanier abseits reklamierten. Aber der Unparteiische ließ sich auf keine Debatte ein und wies unmißverständlich zur Mitte. Noch drei Minuten waren zu spielen, noch einmal rissen sich die Spanier zusammen. Und tatsächlich schien sich das Glück in der letzten Minute auf die Seite der Spanier zu stellen. Der spanische Halbrechte gab aus vollem Lauf aus etwa zwanzig Meter einen Mordsschuß ab, der unhaltbar schien. Man meinte, den Ball durch die Luft sausen zu hören, und neunzigtausend Menschen stockte der Atem: würde Krüger diesen Schuß abwehren können? Wie ein Panther flog er durch die Luft, die Fäuste weit vorgestreckt. Halten konnte er den Ball nicht, aber er berührte ihn und lenkte ihn gegen den Pfosten, von dem er klatschend ins Feld zurücksprang. Sekunden später ertönte der Schlußpfiff.
Vom Jubel der Menge begleitet, gingen die Spieler zur Spielfeldmitte. Werner Krüger kam als letzter. Er strahlte: das war sein Tag gewesen. Lauter Jubel erfüllte das Stadion. Ein Unentschieden gegen Spanien war ein großer Erfolg. Der Gegner war, das mußte man zugeben, besser gewesen als die eigene Mannschaft und hätte einen Sieg verdient. Daß es nicht dazu kam, war allein das Verdienst von Werner Krüger. Jürgen stand neben Mr. Bacon und brüllte sich die Kehle wund. Wie gern wäre er auf den Rasen geeilt, um seinem Freund Werner Krüger die Hand zu drücken! „Das war ein ausgezeichnetes Spiel!“ sagte Mr. Bacon. „Einen solchen Torwart würde man auch in England in das Tor der Länderelf stellen. Und nun komm, Jürgen! Wir müssen zum Flughafen, sonst fliegen die Maschinen ohne uns ab.“ Sie fuhren gemeinsam zum Flughafen. Unterwegs unterhielten sie sich weiter über das Spiel, und Mr. Bacon sagte abschließend: „Werner Krüger ist nun die Nummer eins unter den deutschen Torstehern, und er wird es wohl auch einige Jahre bleiben. Dann ist deine Generation an der Reihe. Vielleicht bist du es sogar, der ihn einmal ablöst.“ Jürgen nickte hoffnungsvoll. „Ich will mir alle Mühe geben. Werner Krüger hat ja auch einmal in der Mannschaft gestanden, in der ich jetzt spiele.“ „Da brauchst du es ihm also nur nachzumachen. Nach einigen Jahren kommst du dann vielleicht auch einmal mit deiner Mannschaft nach England.“ „Das ist wahrscheinlich schon früher möglich. Uns wurde neulich gesagt, daß im nächsten Jahr je eine Schüler- und Jugendmannschaft nach England fahren soll. Es wird darüber bereits verhandelt.“
„Sicher bist du dann dabei. Ich würde mich jedenfalls freuen, dich in London wiederzusehen. Ich werde dann versuchen, dir so viel wie möglich von meiner Heimat zu zeigen. Schreibe mir nur rechtzeitig.“ Damit waren sie am Flugplatz angekommen. Jürgen bedankte sich herzlich für alles und nahm Abschied von Mr. Bacon, dessen Maschine zuerst startete. Kurz darauf waren zwei Maschinen in der Luft. Die eine flog westwärts nach England, die andere, mit südlichem Kurs, brachte Jürgen in seine Heimat. — Nach dem Spiel hatten die Photographen Werner gestellt und unzählige Aufnahmen von ihm gemacht. Auf dem Wege war ihm ein Schwarm von Reportern gefolgt, die ihn mit Fragen überschütteten. Lächelnd gab Werner Auskunft, bis ihn der Bundestrainer befreite. „Bitte, meine Herren, lassen Sie doch Werner Krüger jetzt einmal ausruhen. Es war ja nicht das letztemal, daß er in der Länderelf spielte, Sie werden ihn also noch öfter sprechen können.“ Widerstrebend gab man Werner frei. „Sie waren also mit mir zufrieden?“ fragte er. „Mehr als das, lieber Krüger! In den nächsten Jahren wird mir die Torwartfrage nun keine Sorgen mehr bereiten.“ Als Werner in die Mannschaftskabine kam, empfingen ihn die Kameraden mit Bravorufen. Man erkannte neidlos an, daß man nur Werner das Unentschieden zu danken hatte. Werner setzte sich, und er spürte, wie die Spannung allmählich nachließ. Das war ein schönes Spiel gewesen, und es war ihm auch wieder einmal alles geglückt. Ein bißchen stolz war er schon auf seine Leistung, aber viel größer war die Freude darüber, daß er sich bewährt hatte. Nun war er wirklich der Mann mit der Rückennummer eins, der Torwart der Ländermannschaft.
Kurt Lang setzte sich zu ihm. „Nun hast du wohl erreicht, was du wolltest?“ „Ja“, sagte Werner, „und es ist eigentlich gar nicht so schwer gewesen. Man muß nur immer gerade seinen Weg gehen und das Ziel nicht aus den Augen verlieren.“ „Nach dem heutigen Spiel ist die Frage nach dem Ländertorwart gelöst“, meinte Kurt. „Du wirst nun ein paar Jahre in der Ländermannschaft spielen. Für mich ist die Zeit bald abgelaufen.“ „So alt bist du doch aber noch nicht“, meinte Werner. „Das nicht, aber man muß rechtzeitig erkennen, wann man den Höhepunkt überschritten hat.“ „Schon recht. Und dann kommen andere.“ „Warum lächelst du jetzt?“ fragte Kurt. „Ich denke gerade an unseren kleinen Freund Jürgen, der heute schon davon träumt, einmal mein Nachfolger zu werden.“ „Laß ihm nur diesen Glauben! Warum sollte er es nicht schaffen? „Ich gönnte es ihm“, sagte Werner. „Im gleichen Alter habe ich genauso gedacht. Und heute ...“ „Heute bist du am Ziel!“
Ausklang Wie es Spinne weiter ergangen ist? Da ist nicht mehr viel zu erzählen. Der Höhepunkt seiner sportlichen Laufbahn blieb das Länderspiel gegen Spanien. Spinne hatte im Olympiastadion endgültig den Beweis erbracht, daß er der Torwart der Nationalelf war. Werner war noch jung, und es war damit zu rechnen, daß er eine ganze Reihe von Jahren das Tor der Ländermannschaft hüten würde. Schwarz-Gelb hielt sich ein paar Jahre an der Spitze. Dreimal noch kam die Mannschaft in das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft, einmal noch reichte es zum Erwerb des begehrten Titels. Es tauchten neue Gesichter in der Mannschaft auf, alte, bekannte verschwanden. Eines Tages zog sich auch Kurt Lang vom aktiven Sport zurück. Er hatte als Architekt Erfolg, und einige größere Aufgaben machten es ihm unmöglich, ausreichend und regelmäßig zu trainieren. Er half noch eine Weile aus, wenn es nötig war, dann kam aber doch der Tag, an dem er endgültig Abschied nahm. An einem Abend kurz darauf saßen Kurt, Werner und Kullmann im Vereins-Kasino zusammen. „Es ist schwer zu glauben, daß du jetzt nicht mehr spielen wirst“, sagte Werner zu Kurt. „Ich entsinne mich noch genau, wie deine Laufbahn angefangen hat. Erinnerst du dich noch an den Geheimausschuß mit der Parole ,Schwarz-Gelb wird Meister’?“ „Natürlich! Das habe ich nicht vergessen. Das war unter der alten Tribüne in Ihrem Raum, Herr Kullmann.“ „Weiß ich, weiß ich“, meinte Kullmann. „Werner war damals noch ein Hosenmatz, und du spieltest bei den Ersten Junioren.“
„Ja“, sagt« Werner. „Damals fing es an, mit SchwarzGelb wieder bergauf zu gehen. Kurt kam in die Erste, und schon klappte es.“ „Und jetzt läßt er uns im Stich“, klagte Kullmann, dessen Haare weiß geworden waren. „Der Sturm der Mannschaft ist doch jetzt nur noch ein Torso.“ „Na, na“, meinte Kurt, „jeder ist zu ersetzen.“ „Ich kann mir wirklich nicht denken, wer dich ersetzen sollte“, sagte Werner. „In der Reserve ist keiner, der auch nur annähernd in Betracht käme, und der Nachwuchs — ? Einen Kurt Lang gibt es eben nicht alle Tage.“ „Macht mich nicht besser, als ich bin“, wehrte Kurt ab. „Ich gebe zu, daß im Augenblick durch meinen Abgang eine Lücke entsteht, aber die wird sich bald schließen lassen. Ich mache meinen Entschluß jedenfalls nicht rückgängig.“ „Wenn du wenigstens noch eine Serie spielen würdest“, versuchte es Werner. „Auch nicht ein Spiel, Werner!“ „An den Verein denkst du wohl gar nicht?“ fragte Kullmann. „Herr Kullmann“, sagte Kurt ernst, „ich habe, seit ich erwachsen bin, oder besser: seit ich in der Ersten spiele, manchmal zuviel an den Verein gedacht. Ich habe gern gespielt, aber ist hier ‘spielen’ noch der richtige Ausdruck? Jeden Sonntag ein Spiel, in der Woche Training, Reisen, Lehrgänge, Kurse — ja, ich habe mich manchmal gefragt, ob ich nun eigentlich Architekt oder Fußballspieler bin.“ „Das ist doch wohl etwas übertrieben“, sagte Kullmann. „Nein, durchaus nicht! Wer heute in einer Spitzenmannschaft spielt und den Ehrgeiz hat, in der Länderelf mitzuwirken, muß große Opfer an Zeit bringen
und steht oft an der Grenze, an der Sport zum Beruf wird. Und daran habe ich nie gedacht.“ Herrn Kullmann behagte die Unterhaltung nicht. „Ich weiß gar nicht, was du willst! Du bist doch immer Amateur geblieben.“ „Richtig! Aber habe ich deswegen weniger Zeit gebraucht als die bezahlten Vertragsspieler? Für mich ist der Fußballsport ein Spiel, ein Mittel, den Körper frisch und gesund zu erhalten. Ich halte es daher auf die Dauer auch für falsch, dem Körper durch hartes Training mehr abzufordern, als er freiwillig geben will. Andererseits aber fordert der Kampf um die Spitze und der Spielverkehr mit ausländischen Berufsspieler-Mannschaften direkt zu einem Raubbau heraus.Du lächelst, Werner, weil ich eine so lange Rede halte. Höre sie dir nur an, Du kommst einmal in die gleiche Lage.“ „Werner hat noch viele Jahre Zeit“, wandte Kullmann ein, „bis er sich solche Gedanken machen muß.“ „Immerhin“, meinte Werner, „man kann sich ruhig einmal darüber unterhalten.“ „Macht nur weiter“, meinte Kullmann gekränkt, „laßt euch nicht stören. Ich habe hier ja doch nichts mehr zu sagen.“ „Nicht böse sein, lieber Herr Kullmann“, lenkte Kurt ein. „Es kommt mir nur darauf an, meinen Schritt zu rechtfertigen. Die hohen Anforderungen und der strenge Maßstab, der angelegt wird, verbrauchen uns Spitzenspieler schneller, als wir es wahrhaben wollen. — Wenn du meine Spiele im letzten Jahr beobachtet hast, Werner, konntest du das genau feststellen. Es gab eine Zeit, in der war Kurt Lang schlechthin der Halblinke. Man erwartete von ihm weitere Steigerungen und wollte nicht daran denken, daß einmal der Höhepunkt überschritten würde. Ich weiß sehr gut, daß dieser Punkt bei mir vor etwa einem Jahr erreicht war. Seitdem geht es langsam
abwärts. Doch, du brauchst nicht zu widersprechen, ich weiß das sehr genau. Wenn man das Spielen nicht zum Lebensinhalt macht — und das habe ich bestimmt nicht getan, kommt bei jedem die Stunde, in der man sich fragt, ob man nicht Gefahr läuft, einseitig zu werden. Vielleicht fällt dieser Gedanke in die Stunde, in der man erkennt, daß der Höhepunkt überschritten ist. Je älter man wird, desto weiter wird der Gesichtskreis, und es drängen sich andere Dinge zur Entfaltung, die einen Teil der Zeit für sich beanspruchen, die man bisher dem Sport geopfert hat. Dann muß man das Ruder herumwerfen und sich einen Termin setzen. Ich habe das vor einem Jahr getan. Du erinnerst dich an das Spiel in Kopenhagen gegen Dänemark, das wir knapp mit 1:0 gewannen. Der rechte Läufer, gegen den ich zu spielen hatte, brachte mich zur Verzweiflung. Die Presse schrieb, ich hätte einen schlechten Tag gehabt, und der Läufer wäre ein ungewöhnliches Talent. Ich wußte, daß es anders war. Gewiß, der junge Kerl war ausgezeichnet, aber er gewann die Zweikämpfe gegen einen Kurt Lang, der nach zehn anstrengenden Jahren seine beste Zeit hinter sich hatte. Nach diesem Spiel habe ich mir geschworen: nach einem Jahr mache ich Schluß. Ich will nicht warten, bis mich die ersten Pfiffe wecken. Und dabei bleibe ich auch. Schwarz-Gelb wird bald einen neuen Halblinken haben, und für die Länderelf stehen schon ein halbes Dutzend Talente bereit, denen ich bisher im Wege gestanden habe.“ Nach einer Pause sagte Kullmann: „Schade! Ein Jahr hättest du wenigstens noch spielen können.“ Kurt hatte genug gesagt, er antwortete darauf nicht mehr.
Auf dem Heimweg dachte Werner über das nach, was Kurt gesagt hatte. Ihm fiel ein, daß er als Junge davon geträumt hatte, einmal Kullmanns Nachfolger zu werden. Nun, im Laufe der Jahre hatte sich vieles gewandelt, auch die Gedanken über die eigene Zukunft. In wenigen Monaten wollte Werner seine Meisterprüfung machen. Dazu waren intensive Vorbereitungen nötig. Wahrscheinlich würde er deswegen auf die Teilnahme an einem Lehrgang während seines Urlaubs verzichten müssen. Kurt hatte Recht: der Beruf ging vor. Herr Gangler hatte auch schon angedeutet, daß er Werner nach bestandener Meisterprüfung an einen verantwortlichen Posten stellen wollte. Das würde neue Aufgaben bringen, Würde eine Weiterbildung nötig machen. Wo war bei ihm der Höhepunkt, von dem Kurt gesprochen hatte? Wann kam die Stunde, in der er vom aktiven Sport Abschied nehmen mußte? Sicher hatte auch hier Kurt recht: nicht abwarten, bis durch nachlassende Leistungen der Abschied von anderer Seite bestimmt wurde, sondern selbst darüber entscheiden. Es war für Werner schwer, sich das Leben ohne Fußballspielen zu denken, aber er sah klar, daß der Tag einmal kommen müßte. Er hatte immer an sich gearbeitet, um die Spannkraft zu erhalten, und noch stand er auf der Höhe. Kurt hatte genauso gern gespielt wie er. Es war ihm sicher nicht leicht geworden, sich vom Sport zu trennen, aber er hatte es doch getan, weil Einsicht und Verhältnisse diese Entscheidung verlangten. Wenn man älter geworden ist, denkt man anders als mit Achtzehn, und man soll sich nicht schämen, das einzugestehen. So werde ich es auch einmal machen, sagte sich Werner. Kurt war mir als Junge ein leuchtendes Vorbild,
dem ich nachgeeifert habe. Ich vergebe mir nichts, wenn ich auch als Erwachsener den Weg gehe, den er vorgezeichnet hat. Und es bleibt dann nicht einmal eine Lücke. Jürgen Weinert steht für die Nachfolge schon bereit.