Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.)
Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung 7. akt...
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Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.)
Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung 7. aktualisierte Auflage
Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.)
Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung 7. aktualisierte Auflage Mit 32 Abbildungen
Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10704 Berlin
ISBN-13 978-3-642-10249-3, 7. Auflage, Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York ISBN-13 978-3-540-01296-2, 6. Auflage, Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Der Springer Medizin Verlag ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2003, 2011 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Werden in diesem Buch Personen in der männlichen Form angesprochen, so ist die weibliche Form gleichermaßen gemeint. Planung: Ulrike Hartmann, Heidelberg Projektmanagement: Ulrike Niesel, Heidelberg Lektorat: Anne Borgböhmer, Essen Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: Medionet Publishing Services, Ltd., Berlin SPIN: 12112333 Gedruckt auf säurefreiem Papier 22/2122/UN – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort zur 7. Auflage Seit seiner Erstauflage im Jahr 1958 hat sich das aktuell neu überarbeitete Werk für die sozialmedizinische Begutachtung der gesetzlichen Rentenversicherung als unverzichtbar erwiesen. Vor dem Hintergrund von jährlich etwa 370.000 Anträgen auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und ca. zwei Millionen Anträgen auf Leistungen zur Teilhabe (medizinische und berufliche Rehabilitation) ist die sozialmedizinische Begutachtung von zentraler Bedeutung für nachfolgende Verwaltungs- und Sozialgerichtsentscheidungen. Hierbei ist im Interesse der Versicherten die nötige fachliche Expertise bei der Betrachtung des Einzelfalls wie auch die Gleichbehandlung aller Versicherten zu gewährleisten. Es erscheint daher folgerichtig, den Gutachern – unter Wahrung ihrer notwendigen Unabhängigkeit als Sachverständige – einheitliche, fachlich fundierte Maßstäbe für eine angemessene sozialmedizinische Beurteilung an die Hand zu geben. Zielgruppe sind in erster Linie Ärzte in den Sozialmedizinischen Diensten und Vertragsgutachter der Rentenversicherungsträger, Ärzte in den Rehabilitationseinrichtungen sowie Mitarbeiter anderer Berufsgruppen, die im Bereich Rehabilitation und (Erwerbsminderungs-)Rente tätig sind. Hierzu zählen insbesondere Juristen und andere Experten im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren. Auch die von den Entscheidungen direkt betroffenen Versicherten können sich anhand des vorliegenden Begutachtungsbuches über die allgemeinen fachlichen Grundlagen für eine Beurteilung des individuellen Leistungsvermögens informieren. Verständlichkeit und Transparenz sind dabei integrale Anliegen der sozialmedizinischen Begutachtung wie auch dieses Buches. Den sich stetig fortentwickelnden rechtlichen Grundlagen für den Zugang zu Erwerbsminderungsrente und Rehabilitationsleistungen trägt die vorliegende Überarbeitung Rechnung. Auch die Grundgedanken des Neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) werden aufgegriffen. Dies gilt für die stärkere Ausrichtung an einer sektorenübergreifenden Vernetzung im Gesundheitssystem wie auch für die Etablierung des bio-psycho-sozialen Modells und der Begrifflichkeiten der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Auf die Bedeutung aktueller fachlicher Entwicklungen für die
sozialmedizinische Sachaufklärung – beispielsweise in Hinsicht auf neue diagnostische und therapeutische Verfahren – wird in den überarbeiteten Beiträgen eingegangen. Darüber hinaus werden die weitreichenden Ergebnisse der Kommission zur Weiterentwicklung der Sozialmedizin in der gesetzlichen Rentenversicherung (SOMEKO) berücksichtigt. Diese hatte in ihrem Abschlussbericht 2004 u.a. die Entwicklung eines trägerübergreifenden Qualitätssicherungsverfahrens sowie die Entwicklung und Implementierung von Leitlinien zur sozialmedizinischen Beurteilung als zentrale Handlungsfelder benannt. Mittlerweile liegen für eine Reihe sozialmedizinisch relevanter Krankheitskomplexe im Expertenkreis konsentierte Leitlinien zur sozialmedizinischen Begutachtung vor. Diese beziehen sich sowohl auf die Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben wie auch die der Rehabilitationsbedürftigkeit. Das in Umsetzung befindliche Qualitätssicherungsverfahren konkretisiert die an ein sozialmedizinisches Gutachten zu stellenden Qualitätsanforderungen. In den fachspezifischen Kapiteln erfolgt eine kompakte krankheitsbezogene Darstellung des komplexen Begutachtungsprozesses. Dabei sind weder eine propädeutische Betrachtung der einzelnen Krankheiten noch eine »kochbuchartige« Anleitung zur Begutachtung Anliegen dieses Buches. Übergeordnetes Ziel des Begutachtungsbuches ist es, die Qualität der sozialmedizinischen Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung zu fördern und die sozialmedizinische Beurteilung der Versicherten nach einheitlichen Kriterien sicherzustellen. Die vorliegende überarbeitete Auflage des Begutachtungsbuches gliedert sich weiterhin in einen Allgemeinen und einen Speziellen Teil. Der Allgemeine Teil stellt die Rahmenbedingungen der Begutachtung dar, der Spezielle Teil behandelt systematisch die Begutachtung bei einzelnen Krankheitsbildern. Betrachtet werden hierbei die Auswirkungen von krankheitsbedingten Funktionsstörungen auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Im Speziellen Teil ist ein weitgehend einheitlicher Kapitelaufbau umgesetzt. Soweit möglich ist jedem Kapitel ein Abschnitt »Allgemeines« vorangestellt, der alle Gemeinsamkeiten der nachfolgen-
VI
Vorwort
den Unterkapitel extrahiert, die dann nicht mehr bei jeder Krankheit wiederholt zu werden brauchen. Besonderes Augenmerk wird auf die Begutachtungs- bzw. Beurteilungskriterien gelegt, wobei mit Hilfe der ICF-Basierung die entscheidenden Funktionsparameter für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit beschrieben und bewertet werden. In den folgenden Unterkapiteln werden die allgemeinen Ausführungen krankheitsspezifisch ergänzt und präzisiert. Für die eigenständige Lesbarkeit sind die Kapitel und Unterkapitel im Allgemeinen Teil als jeweils umfassende, eigenständige Module konzipiert, wodurch sich z. T. redundante Darstellungen ergeben. Neu eingebracht wurde ein eigenständiges Kapitel 6 Statistische Auswertungen, das einen Einblick in die umfassenden von der Deutschen Rentenversicherung erhobenen Daten und Auswertungen zu Rehabilitation und Er werbsminderungsrente erlaubt. Das Anliegen des neuen Kapitels 27 »Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen« ist es, auch schwierig einzuordnenden Begutachtungskonstellationen gerecht zu werden. Die Tumorerkrankungen werden im Überblick in einem eigenständigen Kapitel 10 dargestellt, des Weiteren in den jeweiligen fachspezifischen Kapiteln behandelt. Last not least möchten wir allen Beteiligten Dank sagen, die an der intensiven Überarbeitung des Begutachtungsbuches mitgearbeitet haben. Dies sind in erster Linie die Autoren u. a. aus wissenschaftlichen und Rehabilitationseinrichtungen, aus der Sozialgerichtsbarkeit und dem internen Grundsatzbereich sowie sozialmedizinisch ausgerichteten Institutionen wie der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, welche sich erneut in regem Austausch zahlreichen Anregungen und Änderungswünschen gegenüber offen zeigten. Gedankt sei auch dem Redaktionskollegium und den Beratern, die konzeptionell und beratend tätig waren. Alle Leserinnen und Leser sind eingeladen, die Mitwirkenden durch kritische Sicht und Verbesserungsvorschläge bei der Weiterentwicklung des Werkes zu unterstützen. Berlin im März 2011 Der Herausgeber
Redaktionskollegium aus dem Bereich Sozialmedizin der Deutschen Rentenversicherung Bund: Dr. med. Katja Fischer Sabine Horn Dr. med. Hanno Irle Dr. med. Joachim Köhler MPH Dr. med. Margarete Ostholt-Corsten MPH Dr. med. Ingrid Pottins Dr. med. Manfred Rohwetter Dr. med. Ralf Schönberger Dr. med. Petra Schuhknecht Dr. rer. nat. Klaus Timner Weitere fachspezifische Berater aus der Deutschen Rentenversicherung Bund: Dr. med. Silke Brüggemann MSc Dr. jur. Uwe Chojetzki Doris Diekhans Dr. med. Johannes Falk Jörg Gehrke Dr. med. Astrid Grunow Dr. med. Thomas Hillmann Dr. med. Marion Kalwa Dr. med. Ilona Knorr Dr. med. Lutz Stollfuß Dipl.-Med. Martina Wendland Redaktion und Projektkoordination: Dr. med. Helga Mai
VII
Inhaltsverzeichnis I
Allgemeiner Teil
1
Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung . . . . . . . . . . . 3
1.1
Leistungen zur Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Marion Götz, Sabine Roth
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Ergänzende Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Sonstige Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.2
Renten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Uwe Chojetzki
1.2.1 1.2.2
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Weitere Rentenarten mit sozialmedizinischem Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1.3
Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Uwe Chojetzki
1.3.1 1.3.2 1.3.3
Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 bis 46 SGB XII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2
Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Marion Schneider
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.1.8 2.1.9 2.1.10 2.1.11 2.1.12 2.1.13
Der medizinische Sachverständige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Die Aufklärung des Sachverhalts – Aufgabe von Verwaltung und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Sachverständiger und sachverständiger Zeuge – Abgrenzungen und Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . 28 Funktion und Bedeutung von Sachverständigengutachten – Kriterien für die Auswahl von Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Die Beauftragung des Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Die Pflicht zur Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Weigerungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Sachverständiger und Proband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Die Ablehnung des Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Rechte und Pflichten des Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Grenzen der Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Formen der Erstellung von Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Der Aufbau des schriftlichen Sachverständigengutachtens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Unabhängigkeit des Gutachters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.2.8 2.2.9
Die Mitwirkung des Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Amtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Die Rolle des Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Die Rolle des Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Übersicht über die Mitwirkungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Aufklärungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Grenzen der Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Mitwirkung bei Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Mitwirkung bei Behandlung und medizinischer und beruflicher Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
VIII
Inhaltsverzeichnis
2.2.10 2.2.11 2.2.12
Folgen fehlender Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Praktisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Relevante Gesetzestexte (SGB I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
3
Arbeitsmedizinische und berufskundliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.1
Arbeitsmedizinische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Martina Hildebrandt, Klaus Timner, Wilhelm Moesch Belastung und Beanspruchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Arbeitsschwere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Arbeitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Arbeitsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Arbeitsumgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Aspekte arbeitsmedizinischer Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7
3.2 3.2.1 3.2.2
Berufskundliche Aspekte in der Sozialmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Lutz Haustein Der allgemeine Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Verweisbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
4
Ausgewählte Klassifikationssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
4.1
Die ICD-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Margarete Ostholt-Corsten Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Basisinformationen zur ICD-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Hinweise zur ICD-10 im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.1.1 4.1.2 4.1.3
4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6
Die ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Michael Schuntermann Das Konzept der ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Ziele, Bedeutung und Grenzen der ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Die Teilklassifikationen der ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Beurteilungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Die ICF unter sozialmedizinischen Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Ergänzende Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
5
Die sozialmedizinische Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
5.1
Begutachtungsanlass und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Wolfgang Cibis Grundsätzliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Fragen an den Gutachter bei Anträgen auf Erwerbsminderungsrente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Spezielle Fragen bei Anträgen auf Leistungen zur Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
5.1.1 5.1.2 5.1.3
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6
5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3
Das sozialmedizinische Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Wolfgang Cibis Vorbereitung der Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Epikrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Weitere Aspekte der Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Wolfgang Cibis Der ärztliche Gutachter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Der Gutachtenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Konkrete »Anhaltspunkte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
IX Inhaltsverzeichnis
5.3.4 5.3.5 5.3.6 5.3.7 5.3.8 5.3.9
Objektivierung und Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Bedeutung exakter Grenzwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Ermessens-/Beurteilungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Migrationshintergrund als Kontextfaktor bei der Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Auf Kosten der Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Datenschutz und Schweigepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Eva-Maria Paulus 5.4
Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Helga Mai, Jörg Gehrke, Wolfgang Cibis
5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4
Rechtliche Rahmenbedingungen der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsentwicklung in Rehabilitation und Sozialmedizin in der gesetzlichen Rentenversicherung . . . Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätssicherung der sozialmedizinischen Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
Statistische Auswertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
102 104 105 108
Ulrike Beckmann, Barbara Naumann 6.1
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
6.2
Inanspruchnahme medizinischer Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
6.3
Sozialmedizinischer 2-Jahres-Verlauf nach medizinischer Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
6.4
Kontinuität der rehabilitativen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
6.5
Inanspruchnahme beruflicher Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
6.6
Sozialmedizinischer Status nach einer beruflichen Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
6.7
Ausscheiden aus dem Erwerbsleben durch Erwerbsminderungsrenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
6.8
Rehabilitation vor Rente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
II
Spezieller Teil
7
Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
7.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Wolfgang Beyer, Christine Göser, Jürgen Heisel
7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4
Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2
Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Wolfgang Beyer, Christine Göser
7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4
Degenerative Erkrankungen der Halswirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Degenerative Erkrankungen der Brust- und Lendenwirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Erkrankungen der Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traumafolgen und Folgen operativer Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.3
Obere Extremitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Jürgen Heisel
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schultergürtel und Oberarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ellenbogen und Unterarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hand und Finger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.4
Untere Extremitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Jürgen Heisel
7.4.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
134 134 141 141
143 147 150 154
155 156 160 163
X
Inhaltsverzeichnis
7.4.2 7.4.3 7.4.4
Becken, Hüfte, Oberschenkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Kniegelenk und Unterschenkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Sprunggelenk und Fuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
7.5 7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.5.4 7.5.5 7.5.6 7.5.7
Kombinationsschäden und Systemerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Jürgen Heisel Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Polyarthrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Tendomyosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Osteopenie, Osteoporose, Osteomalazie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Knochentumoren und Skelettmetastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Aseptische Knochennekrosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Skelettmissbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
8
Entzündlich-rheumatische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3
Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Polyarthritiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Spondarthritiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Kollagenosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
9
Hämatologische und immunologische Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
9.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3
Benigne Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Erkrankungen der Erythrozyten, Anämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Erkrankungen der weißen Blutzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Erkrankungen der Thrombozyten, hämorrhagische Diathesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5 9.3.6 9.3.7 9.3.8 9.3.9 9.3.10
Maligne Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Myelodysplastische Syndrome (MDS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Akute myeloische Leukämien (AML) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Akute lymphatische Leukämien (ALL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Chronische myeloische Leukämien (CML) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Chronische lymphatische Leukämie vom B-Zell-Typ (B-CLL) Kleinzelliges lymphozytisches B-Zell-Lymphom (SLL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Maligne Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Multiples Myelom (MM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Polycythaemia vera (PV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Essentielle Thrombozythämie (ET) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
9.4 9.4.1 9.4.2 9.4.3
Stammzelltransplantation (SZT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Spezifische therapiebedingte Schädigungen und Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Begutachtungskriterien, Zielkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Wolfgang Miehle, Sabine Horn, Anette Schulz
Volker König
XI Inhaltsverzeichnis
10
Onkologische Erkrankungen (Übersichtskapitel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Volker König
10.1
Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
10.2
Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
10.3
Charakteristika onkologischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
10.4 10.4.1 10.4.2
Therapeutische Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Therapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Therapieergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
10.5 10.5.1 10.5.2
Therapiefolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Operationsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Folgen von systemischer antineoplastischer Therapie und Bestrahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
10.6
Krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
10.7
Begutachtungskriterien, Zielkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
10.8 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 10.8.1 Medizinische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 10.8.2 Teilhabe am Arbeitsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 10.8.3 Erwerbsminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
11
HIV-Infektion und AIDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Christian Hoffmann, Klaus-Dieter Kolenda
11.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 11.1.1 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 11.1.2 Klassifikationen und Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 11.2
Therapeutische Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
11.3 Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 11.3.1 AIDS-definierende Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 11.3.2 Nicht-AIDS-definierende Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 11.4
Spezifische krankheits- bzw. therapiebedingte Beeinträchtigungen nach ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
11.5
Diagnostik und Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
11.6
Begutachtungskriterien, Zielkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
11.7 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 11.7.1 Medizinische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 11.7.2 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 11.7.3 Erwerbsminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
12
Metabolische und endokrine Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Rainer Diehl, Werner Knisel, Ekke Haupt
12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
12.2 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4
Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Metabolisches Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Erkrankungen der Schilddrüse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Erkrankungen anderer endokriner Drüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
XII
13
Inhaltsverzeichnis
Herz-Kreislauf-Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Bernhard Schwaab, Ingomar-Werner Franz
13.1 13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Kardiologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
13.2 Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 13.2.1 Koronare Herzkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 13.2.2 Arterielle Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 13.2.3 Herzklappenfehler und Herzfehlbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 13.2.4 Kardiomyopathien und Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 13.2.5 Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 13.2.6 Entzündliche Herzkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 13.2.7 Pulmonale Hypertonie und Cor pulmonale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 13.2.8 Folgen operativer Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
14
Gefäßkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
14.1 14.1.1 14.1.2
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Diagnostik, Begutachtungskriterien, Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
Arndt Dohmen, Trudbert Layher
14.2 Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 14.2.1 Erkrankungen der peripheren Arterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 14.2.2 Erkrankungen der Lymphgefäße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 14.2.3 Erkrankungen der Venen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 14.2.4 Folgen operativer Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
15
Krankheiten der Atmungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Jürgen Fischer
15.1 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
15.2 Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 15.2.1 Chronische Bronchitis (inkl. COPD), Lungenemphysem, Bronchiektasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 15.2.2 Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 15.2.3 Lungenfibrose, Pneumokoniosen, Sarkoidosen, Mukoviszidose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 15.2.4 Lungentuberkulose und andere infektiöse Lungenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 15.2.5 Bronchialkarzinom, Lungenmetastasen und Pleuramesotheliom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 15.2.6 Folgen operativer Eingriffe inklusive Lungentransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 15.2.7 Schlafbezogene Atmungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
16
Krankheiten des Verdauungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
16.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Christoph Reichel, Eberhard Zillessen Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.1.4 16.1.5
XIII Inhaltsverzeichnis
16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 16.2.5
17
Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Erkrankungen von Ösophagus, Magen und Duodenum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Christoph Reichel, Eberhard Zillessen Erkrankungen von Dünn-, Dick- und Mastdarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Christoph Reichel, Eberhard Zillessen Krankheiten der Leber und Gallenwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Gerd Oehler Krankheiten des Pankreas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Christoph Reichel, Eberhard Zillessen Folgen operativer Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Christoph Reichel, Eberhard Zillessen
Krankheiten der Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Emanuel Fritschka
17.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 17.1.1 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 17.1.2 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 17.1.3 Krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 17.1.4 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 17.1.5 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 17.2 17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5 17.2.6
Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Glomeruläre Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Interstitielle Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Tubuläre Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Vaskuläre Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Hereditäre Nierenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Nierenbeteiligung bei Allgemeinerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
17.3 Nierenersatztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 17.3.1 Hämodialyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 17.3.2 Peritonealdialyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 17.3.3 Nierentransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
18
Urologische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Winfried Vahlensieck, Olaf Sawal, Horst Hoffmann
18.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 18.1.1 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 18.1.2 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 18.1.3 Krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 18.1.4 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 18.1.5 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 18.2 Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 18.2.1 Harnsteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 18.2.2 Urogenitalinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 18.2.3 Harninkontinenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 18.2.4 Harnblasenentleerungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 18.2.5 Nierentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 18.2.6 Harnblasenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 18.2.7 Prostatakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 18.2.8 Hodentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
XIV
19
Inhaltsverzeichnis
Gynäkologische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Christiane Niehues
19.1 19.1.1 19.1.2 19.1.3 19.1.4
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.2.7
Benigne Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Endometriose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Uterus myomatosus, Ovarialzysten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Deszensus und Harninkontinenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Entzündliche Erkrankungen der weiblichen Beckenorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Folgen gynäkologischer Operationen und Geburtsverletzungen, Fisteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Chronischer Unterbauchschmerz/Adhäsionsbauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Weitere gynäkologische Erkrankungen und Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
19.3 19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.3.4 19.3.5
Maligne Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Mammakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Korpuskarzinom (Endometriumkarzinom) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Ovarialkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Zervixkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Vaginal- und Vulvakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
20
Hauterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Norbert Buhles
20.1 20.1.1 20.1.2 20.1.3 20.1.4
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
20.2 Ekzemerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 20.2.1 Konstitutionell bedingte Ekzemformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 20.2.2 Allergisches (Kontakt-)Ekzem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 20.2.3 Toxisch-kumulatives (Kontakt-)Ekzem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 20.2.4 Primär mikrobielle Ekzeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 20.2.5 (Dys-)seborrhoisches Ekzem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 20.2.6 Gewerbedermatosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 20.3 Psoriasis und andere nicht-infektiöse entzündliche Hauterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 20.3.1 Psoriasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 20.3.2 Parapsoriasis-Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 20.3.3 Weitere chronisch entzündliche Dermatosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 20.4 20.4.1 20.4.2
Infektionsbedingte Hauterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Erysipel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Mykose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462
20.5
Hauttumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462
21
Augenkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Ralph Lorenz
21.1 21.1.1 21.1.2 21.1.3
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Beurteilungs- und Zielkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
XV Inhaltsverzeichnis
21.2 21.2.1 21.2.2 21.2.3
Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Erkrankungen der vorderen Augenabschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Erkrankungen der hinteren Augenabschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Weitere (neuro-)ophthalmologische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
21.3 21.3.1 21.3.2 21.3.3
Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 Medizinische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Teilhabe am Arbeitsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Erwerbsminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482
22
HNO-Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Roland Zeh
22.1 22.1.1 22.1.2
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
22.2 Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 22.2.1 Schwerhörigkeit und Taubheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 22.2.2 Gleichgewichtsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 22.2.3 Stimm-, Sprach- und Sprechstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 22.2.4 Geruchs- und Geschmacksstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 22.2.5 Folgen operativer Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
23
Neurologische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497
23.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 Peter Frommelt, Ottmar Leidner
23.1.1 23.1.2 23.1.3 23.1.4
Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23.2 23.2.1
Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Zerebrovaskuläre Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Peter Frommelt, Ottmar Leidner Schädel-Hirn-Traumata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Peter Frommelt, Ottmar Leidner Spinale Traumata und Querschnittlähmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Peter Frommelt, Ottmar Leidner Nicht-traumatische spinale Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Peter Frommelt, Ottmar Leidner Polyneuropathien und periphere Nervenläsionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Peter Frommelt, Ottmar Leidner Multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Peter Frommelt, Ottmar Leidner Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Peter Frommelt, Ottmar Leidner PARKINSON-Syndrom und andere Bewegungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 Peter Frommelt, Ottmar Leidner Systematrophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Peter Frommelt, Ottmar Leidner Krankheiten im Bereich der neuromuskulären Synapse und des Muskels (Myopathien) . . . . . . . . . . . . . . . 526 Peter Frommelt, Ottmar Leidner Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Ulrich Specht Narkolepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 Ulrich Specht
23.2.2 23.2.3 23.2.4 23.2.5 23.2.6 23.2.7 23.2.8 23.2.9 23.2.10 23.2.11 23.2.12
499 500 503 503
XVI
Inhaltsverzeichnis
23.2.13 Migräne und andere anfallsartig auftretende Kopfschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
Peter Frommelt, Ottmar Leidner 23.2.14 Hirntumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535
Peter Frommelt, Ottmar Leidner
24
Psychische und Verhaltensstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541
24.1 24.1.1 24.1.2 24.1.3 24.1.4 24.1.5
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 Klaus Foerster, Wolfgang Weig, Katja Fischer Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 Klassifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548
24.2 24.2.1
Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
24.2.2
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553
24.2.3
Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558
24.2.4
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563
24.2.5
Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
24.2.6
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
24.2.7
Intelligenzstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575
24.2.8
Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
Wolfgang Weig, Katja Fischer Wolfgang Weig, Katja Fischer Klaus Foerster, Katja Fischer Klaus Foerster, Katja Fischer Klaus Foerster, Katja Fischer Wolfgang Weig, Katja Fischer Wolfgang Weig, Katja Fischer Wolfgang Weig, Katja Fischer
25
Sucht und suchtähnliche Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Caspar Friedrich Sieveking
25.1 25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586
25.2 25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.2.4 25.2.5
Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 Alkoholabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 Drogenabhängigkeit und multipler Substanzgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Medikamentenabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Nikotinabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 Pathologisches Glücksspiel und pathologischer PC-Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
26
Schmerzsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Bernhard Widder
26.1 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 26.1.1 Begutachtung von Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 26.1.2 Auswahl von Gutachtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 26.1.3 Begutachtung bei Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 26.2 26.2.1
Nosologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 Definition von Schmerzsyndromen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600
XVII Inhaltsverzeichnis
26.2.2 26.2.3 26.2.4
Nozizeptiv-neuropathische Schmerzsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 Primär psychisch verursachte Schmerzsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Schmerzsyndrome bei somatisch-psychischer Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
26.3 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 26.3.1 Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 26.3.2 Fragebogen und Skalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 26.3.3 Klinische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 26.3.4 Apparative Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 26.3.5 Medikamentenmonitoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 26.3.6 Beschwerdenvalidierungstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 26.3.7 Diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 26.4
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
26.5 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 26.5.1 Einflussfaktoren der Chronifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 26.5.2 Erfassung des Chronifizierungsgrades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 26.6 26.6.1 26.6.2 26.6.3
Begutachtungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 »Konsistenzprüfung« der geklagten Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Prüfung der »willentlichen Steuerbarkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Gutachterliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613
26.7 26.7.1 26.7.2 26.7.3
Sozialmedizinische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Medizinische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Teilhabe am Arbeitsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 Erwerbsminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
26.8
Spezielle Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615
27
Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619
27.1
Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 Wolfgang Hausotter
27.2
Beschwerdenvalidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 Thomas Merten
27.2.1 27.2.2 27.2.3 27.2.4
Antwortverzerrungen in der Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige differenzialdiagnostische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden zur Erfassung negativer Antwortverzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung im Gutachten und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27.3 27.3.1
Beschwerdebilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 Schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624
620 622 623 623
Wolfgang Hausotter 27.3.2
Erhöhte Erschöpfbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
Wolfgang Hausotter 27.3.3
Umweltassoziierte Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630
Wolfgang Hausotter 27.3.4
Zervikales Beschleunigungstrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635
Wolfgang Hausotter 27.3.5
Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
Ingo Fietze
28
Medizinische Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Carl-Peter Bauer
28.1 28.1.1 28.1.2 28.1.3
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
XVIII
Inhaltsverzeichnis
28.1.4 28.1.5 28.1.6 28.1.7
Ziele und Aufgaben der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
646 646 647 648
28.2 Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 28.2.1 Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 28.2.2 Adipositas mit Folgeerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 28.2.3 Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 28.2.4 Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 28.2.5 Neurodermitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Sozialmedizinisches Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
XIX
Autorenverzeichnis Prof. Dr. med. Carl-Peter Bauer
Ärztlicher Direktor Fachklinik Gaißach Dorf 1 83674 Gaißach Dr. med. Dipl. Epidemiology/ Biostatistics (Canada) Ulrike Beckmann
Referatsleiterin im Bereich Reha-Qualitätssicherung, Epidemiologie, Statistik Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin Prof. Dr. med. Wolfgang Beyer
Ärztlicher Direktor Abteilung Orthopädie - Rheumatologie Orthopädie-Zentrum Bad Füssing der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd Waldstraße 12 94072 Bad Füssing
Ltd. Medizinaldirektor Dr. med. Rainer Diehl
Prof. Dr. med. Emanual Fritschka
Leitender Arzt Abt. I Deutsche Rentenversicherung Hessen Städelstraße 28 60596 Frankfurt/Main
Chefarzt der Sinntalklinik der Deutschen Rentenversicherung Nordbayern Wernarzer Straße 12 97769 Bad Brückenau
Dr. med. Arndt Dohmen
Dr. med. Peter Frommelt
Ärztlicher Direktor der Hochrhein-Eggberg-Klinik Bergseestraße 57 79713 Bad Säckingen
Praxis für Neurorehabilitation und kognitive Neurologie Zentrum für ambulante Neuropsychologie und Verhaltenstherapie Schleiermacherstraße 24 10961 Berlin
Prof. Dr. med. Ingo Fietze
Leiter Interdisziplinäres Schlafzentrum Interdisziplinäres Schlafmedizinisches Zentrum, CCII Charité – Universitätsmedizin Berlin Luisenstraße 13 10117 Berlin
Chefarzt der Klinik für Dermatologie und Allergologie Asklepios Nordseeklinik Westerland/Sylt Norderstraße 81 25980 Westerland/Sylt Dr. jur. Uwe Chojetzki
Referent im Geschäftsbereich Rechts- und Fachfragen Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin Dr. med. Wolfgang Cibis
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) Solmsstraße 18 60486 Frankfurt/Main
Bereich Sozialmedizin Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin Dr. med. Christine Göser
Prof. Dr. med. Jürgen Fischer Dr. med. Norbert Buhles
Jörg Gehrke
Chefarzt der Klinik Norderney der Deutschen Rentenversicherung Westfalen Kaiserstraße 26 26548 Norderney
Oberärztin Abteilung Orthopädie - Rheumatologie Orthopädie-Zentrum Bad Füssing der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd Waldstraße 12 94072 Bad Füssing
Dr. med. Katja Fischer
Ass. jur. Marion Götz
Bereich Sozialmedizin Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin
Leiterin des Bereichs Rehabilitationsrecht Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin
Prof. Dr. med. Klaus Foerster
Osianderstraße 24 72076 Tübingen Prof. Dr. med. Ingomar-Werner Franz
Am Sägelochbach 1 79682 Todtmoos
Prof. Dr. med. Ekke Haupt
ehem. Leitender Arzt der Klinik Saale Reha-Zentrum Bad Kissingen der Deutschen Rentenversicherung Bund Euerdorferstraße 8 97688 Bad Kissingen
XX
Autorenverzeichnis
Dr. med. Wolfgang Hausotter
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Martin-Luther-Straße 8 87527 Sonthofen
Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Kolenda
ehem. Chefarzt der Ostseeklinik Schönberg-Holm Villenweg 21 24119 Kronshagen
Dr. med. Wilhelm Moesch
Grünbergstraße 18 38108 Braunschweig Barbara Naumann
Berufskundlicher Berater in der Abteilung Grundsatz Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin
Dr. med. Volker König
Chefarzt Abteilung Erwachsenenonkologie Klinik Bad Oexen Oexen 27 32549 Bad Oeynhausen
Gesundheits- und Sozialökonomin (VWA) im Bereich Reha-Qualitätssicherung, Epidemiologie, Statistik Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin
Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Jürgen Heisel
Dr. med. Trudbert Layher
Dr. med. Christiane Niehues
Oberarzt Abteilung Innere Medizin Krankenhaus Bad Säckingen Meisenhartweg 14 79713 Bad Säckingen
Chefärztin Abteilung Gynäkologie MEDIAN Klinik am Burggraben Alte Vlothoer Straße 47 – 49 32105 Bad Salzuflen
Lutz Haustein
Chefarzt Orthopädische Abteilung Fachkliniken Hohenurach Immanuel-Kant-Straße 33 72574 Bad Urach
Prof. Dr. med. Ottmar Leidner Dr. med. Martina Hildebrandt
Teilbereichsleiterin Sozialmedizin Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland Georg-Schumann-Str. 146 04159 Leipzig PD Dr. med. Christian Hoffmann
SRH-Gesundheitshochschule 07548 Gera Dr. med. Ralph Lorenz
Chefarzt der Vitalisklinik Am Weinberg 3 36251 Bad Hersfeld
Augenarzt Ernst-Ihle-Straße 13 34613 Schwalmstadt
Dr. med. Margarete Ostholt-Corsten MPH
Dr. med. Helga Mai
Infektionsmedizinisches Centrum Hamburg ICH Mitte Dammtorstraße 27 20354 Hamburg
Bereich Sozialmedizin Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin
Sabine Horn
Dr. phil. Thomas Merten
Bereich Sozialmedizin Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin
Klinischer Neuropsychologe Abteilung Neurologie Vivantes-Klinikum im Friedrichshain Landsberger Allee 49 10249 Berlin
Dr. med. Werner Karl Knisel
ehem. Leitender Abteilungsarzt Klinik Saale Reha-Zentrum Bad Kissingen der Deutschen Rentenversicherung Bund Pfaffstraße 10 97688 Bad Kissingen
Prof. Dr. med. Gerd Oehler
Bereich Sozialmedizin Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin Eva-Maria Paulus
Leitende Verwaltungsdirektorin Referatsleiterin in der Abteilung Grundsatz Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin PD Dr. med. Christoph Reichel
Dr. med. Wolfgang Miehle
ehem. Chefarzt der Klinik Wendelstein – Rheumazentrum Reha-Zentrum Bad Aibling der Deutschen Rentenversicherung Bund Kolbermoorer Str. 56 83043 Bad Aibling
Leitender Arzt der Klinik Hartwald Reha-Zentrum Bad Brückenau der Deutschen Rentenversicherung Bund Schlüchtener Straße 4 97769 Bad Brückenau
XXI Autorenverzeichnis
Sabine Roth
Dr. rer. nat. Klaus Timner
Referatsleiterin Stationäre Versorgung Verband der Ersatzkassen e.V. Landesvertretung Bayern Arnulfstraße 201 a 80634 München
Bereich Sozialmedizin Deutsche Rentenversicherung Bund Ruhrstraße 2 10709 Berlin
Dr. med. Ralph Olaf Sawal
Chefarzt der Asklepios Helenenklinik Laustraße 35 34537 Bad Wildungen Marion Schneider
Vorsitzende Richterin am Sächsischen Landessozialgericht Parkstraße 28 09120 Chemnitz PD Dr. rer. pol. Michael Schuntermann
ehem. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) Odenwaldstraße 6 12161 Berlin Prof. Dr. med. Bernhard Schwaab
Ärztlicher Direktor Abteilung Kardiologie Klinik Höhenried der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd 82347 Bernried Dr. med. Caspar Friedrich Sieveking
Chefarzt der ParacelsusWiehengebirgsklinik Kokenrottstraße 71 49152 Bad Essen Dr. med. Ulrich Specht
Leitender Arzt Rehabilitationsklinik Krankenhaus Mara Epilepsie-Zentrum Bethel Maraweg 21 33617 Bielefeld
PD Dr. med. Winfried Vahlensieck
Ärztlicher Direktor der Klinik Wildetal Chefarzt der Abt. Urologie Onkologie Nephrologie Mühlenstraße 8 34537 Bad Wildungen Prof. Dr. med. Wolfgang Weig
Ärztlicher Direktor der Magdalenen-Klinik Bischofsstraße 28 49074 Osnabrück Prof. Dr. Dr. Bernhard Widder
Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie und Neurologische Rehabilitation Bezirkskrankenhaus Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Straße 2 89312 Günzburg Dr. med. Roland Zeh
Chefarzt der Abteilung Hörstörungen, Tinnitus und Schwindel Kaiserberg - Klinik Am Kaiserberg 8 – 10 61169 Bad Nauheim
1
Allgemeiner Teil Kapitel 1
Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung Marion Götz, Sabine Roth (1.1); Uwe Chojetzki (1.2, 1.3)
Kapitel 2
Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren Marion Schneider
Kapitel 3
Arbeitsmedizinische und berufskundliche Aspekte Martina Hildebrandt, Klaus Timner, Wilhelm Moesch (3.1); Lutz Haustein (3.2)
Kapitel 4
Ausgewählte Klassifikationssysteme Margarete Ostholt-Corsten (4.1); Michael Schuntermann (4.2)
Kapitel 5
Die sozialmedizinische Begutachtung Wolfgang Cibis (Einleitung, 5.1, 5.2, 5.3.1 – 5.3.8); Eva-Maria Paulus (5.3.9); Helga Mai, Jörg Gehrke, Wolfgang Cibis (5.4)
Kapitel 6
Statistische Auswertungen Ulrike Beckmann, Barbara Naumann
I
3
Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung Marion Götz, Sabine Roth (1.1); Uwe Chojetzki (1.2, 1.3)
1.1
Leistungen zur Teilhabe – 4
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation – 7 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) – 8 Ergänzende Leistungen – 9 Sonstige Leistungen – 11 Verfahren – 12
1.2
Renten – 14
1.2.1 1.2.2
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit – 15 Weitere Rentenarten mit sozialmedizinischem Bezug – 22
1.3
Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen – 23
1.3.1 1.3.2
Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) – 23 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 bis 46 SGB XII) – 24 Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) – 24
1.3.3
Weiterführende Literatur – 25
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
1
1
4
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
1.1
Leistungen zur Teilhabe Marion Götz, Sabine Roth
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Das historisch gewachsene gegliederte System der Rehabilitation in der Bundesrepublik Deutschland basiert darauf, dass nicht ein einheitlicher Träger für die Erbringung dieser Sozialleistungen zuständig ist, sondern verschiedene Rehabilitationsträger entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen. Nach dem Prinzip der einheitlichen Risikozuordnung soll jeweils derjenige für die Leistung verantwortlich sein, der das finanzielle Risiko ihres Scheiterns trägt. Die mit dieser Differenzierung verknüpfte Einbindung der Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in das jeweilige Recht und die Leistungspraxis der unterschiedlichen Rehabilitationsträger hat sich bewährt. Die Vorteile des gegliederten Systems liegen in der Arbeitsaufteilung und Spezialisierung, in einer besseren Plan- und Steuerbarkeit sowie in mehr Flexibilität der einzelnen Rehabilitationsträger mit ihrem jeweils klar definierten Versorgungsauftrag. Die Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung waren bis zum Inkrafttreten des SGB IX im Wesentlichen in den §§ 9–32 SGB VI geregelt. Mit der Kodifikation des SGB IX hat der Gesetzgeber eine einheitliche Grundlage für alle Rehabilitationsträger geschaffen und damit einer lange bestehenden Forderung Rechnung getragen, das Recht der Rehabilitation mit seinen unterschiedlichen Leistungszuständigkeiten transparenter zu gestalten und weiterzuentwickeln. Politisches Ziel war es, anstelle der beklagten Divergenz und Unübersichtlichkeit im Rehabilitationsrecht mehr Bürgernähe und eine verbesserte Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger auf der Basis einer einheitlichen Praxis zu erreichen. Das Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) aus dem Jahre 1974 wurde aufgehoben und das bestehende Rehabilitationsrecht mit dem Schwerbehindertenrecht (SchwbG) zusammengefasst zu einem neuen Recht zur Teilhabe. Im Mittelpunkt stehen der behinderte oder von Behinderung bedrohte Mensch und seine gleichberechtigte Teilhabe. Er soll weitgehend das Maß an Selbstbestimmung erhalten, das für jeden Bürger ohne Behinderung selbstverständlich ist. Damit wird das im Grundgesetz verankerte Benachteiligungsverbot (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) umgesetzt. Das SGB IX beabsichtigt eine Stärkung individueller Rechtspositionen, z. B. durch Wunsch- und Wahlrecht (§ 9 SGB IX) des Rehabilitanden und durch persönliche Budgets (§ 17 Abs. 2–6 SGB IX). Damit rückt die Dienstleistungsfunktion der Rehabilitationsträger in den Vordergrund. Ein Kernanliegen besteht in der Organisation eines bürgernahen Zugangs zu den erforderlichen Leistungen und deren Erbringung. Dieser soll u. a. erreicht werden durch eine umfassende, trägerübergreifende Beratung
. Tab. 1.1 Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 SGB IX 5 5 5 5
Gesetzliche Krankenkassen Bundesagentur für Arbeit Gesetzliche Unfallversicherung Gesetzliche Rentenversicherung sowie Alterssicherung der Landwirte 5 Kriegsopferversorgung und -fürsorge 5 Öffentliche Jugendhilfe 5 Sozialhilfe
und Unterstützung der Betroffenen in Gemeinsamen Servicestellen (§§ 22 ff. SGB IX) sowie durch ein beschleunigtes Zuständigkeitsklärungsverfahren (§ 14 SGB IX). Der Kreis der Rehabilitationsträger (vgl. . Tab. 1.1) wurde erweitert um die öffentliche Jugendhilfe und die Sozialhilfe, da zu einer umfassenden Teilhabe am Leben in der Gesellschaft neben medizinischen und beruflichen Leistungen zur Rehabilitation in vielen Fällen auch weitere (soziale) Leistungen gehören. Durch die Zusammenfassung der Rechtsvorschriften zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen wirkt das SGB IX in ähnlicher Weise bereichsübergreifend wie die Regelungen von SGB I, IV und X. Aufgrund der Besonderheiten des gegliederten Systems richten sich die Zuständigkeiten und die Leistungsvoraussetzungen nach wie vor nach den trägerspezifischen Leistungsgesetzen, d. h. für die Rentenversicherung nach dem SGB VI. Damit werden hohe Anforderungen an Kooperation und Koordination der Träger gestellt. Einerseits müssen die Inhalte der Leistungen nach Art, Intensität und Qualität der eingesetzten Methoden und Verfahren weitgehend gleich gestaltet werden. Andererseits sind darüber hinausgehende, trägerspezifische Leistungskomponenten zu definieren, sofern die Aufgaben eines Rehabilitationsträgers dies im gegliederten System erfordern. Als ein wichtiges Instrument zur Förderung einer reibungslosen Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger wurde die Pflicht zur Vereinbarung gemeinsamer Empfehlungen in § 13 SGB IX gesetzlich normiert. Mit dem SGB IX hat der Gesetzgeber auch den Begriff der Leistungen zur Teilhabe eingeführt, die sich unterteilen in 4 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation 4 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben 4 Unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen 4 Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft Von besonderer Tragweite in verfahrensrechtlicher Hinsicht ist die Vorschrift des § 14 SGB IX, die den Rehabilitationsträgern im Interesse der Leistungsberechtigten eine schnelle Zuständigkeitsklärung und Entscheidung
5 1.1 · Leistungen zur Teilhabe
abverlangt; 7 Abschn. 1.1.5. Unter bestimmten Voraussetzungen kann sich der Betroffene die erforderlichen Leistungen auch selbst beschaffen und die ihm entstandenen Kosten vom zuständigen Leistungsträger einfordern (§ 15 SGB IX). Ferner sind Leistungen zur Teilhabe auch im Ausland möglich, wenn sie dort bei zumindest gleicher Qualität und Wirksamkeit wirtschaftlicher ausgeführt werden können (§ 18 SGB IX). Die gesetzliche Rentenversicherung ist Träger von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie unterhaltssichernden und anderen ergänzenden Leistungen (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX). Hinzu kommen nach § 31 SGB VI die sonstigen Leistungen zur Teilhabe. Im gegliederten System sind diese Leistungen darauf ausgerichtet, den Auswirkungen einer Krankheit oder Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten entgegenzuwirken oder diese zu überwinden. Dadurch sollen Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit des Betroffenen oder sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verhindert bzw. seine möglichst dauerhafte Wiedereingliederung in das Erwerbsleben erreicht werden (§ 9 Abs. 1 S. 1 SGB VI). Die Rentenversicherung konzentriert sich auf Versicherte, bei denen Leistungen erforderlich sind, um sie zur weiteren Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit zu befähigen oder um sie wieder in das Erwerbsleben einzugliedern. Leistungen zur Teilhabe haben grundsätzlich Vorrang vor Rentenleistungen, die bei erfolgreich durchgeführten Leistungen nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (Grundsatz »Reha vor Rente«, vgl. § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VI). Dies gilt während des Bezuges einer Rente entsprechend. z
Leistungsvoraussetzungen
Leistungspflicht und Kostenträgerschaft der Rentenversicherung sind an das Vorliegen bestimmter versicherungsrechtlicher und persönlicher Voraussetzungen (§§ 10 und 11 SGB VI) geknüpft. Nach § 11 SGB VI sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, wenn einer der folgenden Tatbestände vorliegt: 4 Der Versicherte hat im Zeitpunkt der Antragstellung die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt. 4 Der Versicherte bezieht bei Antragstellung eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. 4 Der überlebende Ehegatte des Versicherten hat Anspruch auf große Witwenrente bzw. Witwerrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation liegen darüber hinaus die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen in den folgenden Fällen vor:
4 Der Versicherte hat in den letzten 2 Jahren vor der Antragstellung 6 Kalendermonate Pflichtbeitragszeiten (»6 aus 24 Monate«) erworben. 4 Der Versicherte hat innerhalb von 2 Jahren nach Beendigung einer Ausbildung eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit aufgenommen und bis zum Rehabilitationsantrag ausgeübt oder ist nach einer solchen Beschäftigung oder Tätigkeit bis zum Antrag arbeitsunfähig oder arbeitslos gewesen. 4 Der Versicherte ist vermindert erwerbsfähig oder verminderte Erwerbsfähigkeit ist in absehbarer Zeit zu erwarten; die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren ist erfüllt. Ferner sind für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, wenn von einem der folgenden Tatbestände auszugehen ist: 4 Ohne diese Leistungen wäre Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu leisten, d. h. ein solcher Rentenanspruch liegt vor oder droht unmittelbar. 4 Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind unmittelbar im Anschluss an Leistungen zur medizinischen Rehabilitation der Rentenversicherung erforderlich. Die Rentenversicherung ist damit auch für die berufliche Rehabilitation im Einzelfall wesentlich jüngerer Versicherter zuständig, weil hier die o. a. Regel »6 aus 24 Monate« gilt. Nach § 10 Abs. 1 SGB VI sind die persönlichen Voraussetzungen erfüllt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und wenn voraussichtlich durch die Leistungen zur Teilhabe 4 bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit abgewendet werden kann, 4 bei bereits geminderter Erwerbsfähigkeit diese wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann, 4 bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Für im Bergbau tätige Versicherte enthält § 10 Abs. 2 SGB VI eine Sonderregelung. Die vorgenannten Rechtsbegriffe sind in den Auslegungsgrundsätzen der Rentenversicherungsträger zu den persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Leistungen zur Teilhabe und zur Mitwirkung der
1
6
1
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
Versicherten i. d. F. vom 18.07.2002 näher definiert. Danach gilt – vorbehaltlich künftiger redaktioneller Anpassungen – folgende Auslegung:
z
1 Krankheit. Regelwidriger körperlicher, geistiger oder
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
seelischer Zustand. Behinderung. Die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit weicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab, und daher ist die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt. Erwerbsfähigkeit. Fähigkeit eines Versicherten, unter
Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen und Erfahrungen sowie seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, Erwerbseinkommen zu erzielen. Erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit. Durch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die damit verbundenen Funktionseinschränkungen ist innerhalb von drei Jahren mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit zu rechnen.
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Minderung der Erwerbsfähigkeit. Infolge von gesundheitlichen Beeinträchtigungen entstandene, erhebliche und länger andauernde Einschränkung der Leistungsfähigkeit, wodurch der Versicherte seine bisherige oder zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit nicht oder nicht mehr ohne wesentliche Einschränkungen ausüben kann.
1
Wesentliche Besserung. Nicht nur geringfügige oder
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nicht nur kurzzeitige Steigerung der durch gesundheitliche Beeinträchtigungen geminderten Leistungsfähigkeit des Versicherten im Erwerbsleben. Eine wesentliche Besserung liegt nicht vor, wenn nur eine Linderung des Leidens oder eine sonstige Erleichterung in den Lebensumständen erreicht wird oder volle Erwerbsminderung bestehen bleibt, unbeschadet der Sonderregelungen für Versicherte in einer Werkstatt für Behinderte.
1
Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Die Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben wird dauerhaft behoben.
1
Abwenden
1 1
Voraussichtlich. Der angestrebte Erfolg wird mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eintreten.
einer
wesentlichen
Verschlechterung.
Durch die Leistungen zur Teilhabe kann eine weitere, nicht nur geringfügige oder nicht nur kurzzeitige Verschlechterung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten verhindert werden. Dabei kommt es nicht auf ein rentenrechtlich relevantes Absinken der Leistungsfähigkeit an.
Leistungsausschluss
Aus der Aufgabenverteilung im gegliederten System und dem spezifischen Rehabilitationsziel der gesetzlichen Rentenversicherung folgt, dass die Rentenversicherungsträger trotz des Vorliegens der versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen für Versicherte unter bestimmten Umständen nicht originär zuständig sein können. Die Tatbestände, für die ein Leistungsausschluss gesetzlich festgelegt ist (§§ 12, 13 Abs. 2, 3 SGB VI), werden im Folgenden dargestellt: 4 Versicherte, die wegen eines Arbeitsunfalls, einer Berufskrankheit oder einer Schädigung im Sinne des sozialen Entschädigungsrechts gleichartige Leistungen eines anderen Rehabilitationsträgers erhalten können. In diesen Fällen sind als Sondersysteme die gesetzliche Unfallversicherung oder die Kriegsopferversorgung leistungszuständig. 4 Versicherte, die Rente wegen Alters von wenigstens zwei Dritteln der Vollrente beziehen oder eine solche Rente beantragt haben. Dieser Personenkreis ist aus Altersgründen bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und insofern nicht mehr Zielgruppe von Leistungen zur Teilhabe der gesetzlichen Rentenversicherung. Hierfür sind andere Trägergruppen, insbesondere die gesetzliche Krankenversicherung zuständig. 4 Versicherte, die eine Beschäftigung ausüben, aus der ihnen nach beamtenrechtlichen oder entsprechenden Vorschriften Anwartschaft auf Versorgung gewährleistet ist, oder die als Bezieher einer Beamtenversorgung oder beamtenähnlichen Versorgung wegen Erreichens einer Altersgrenze versicherungsfrei sind. Hierfür muss ein anderes Versorgungssystem einstehen. 4 Versicherte, die eine Leistung beziehen, die regelmäßig bis zum Beginn einer Rente wegen Alters gezahlt wird. Damit werden insbesondere ältere Versicherte, die bereits dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und durch entsprechende Lohnersatzleistungen auf die Altersrente hingeführt werden, ausgeschlossen. Für diesen Personenkreis kann das Ziel der Leistungen zur Teilhabe der Rentenversicherung, die Verhinderung des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben, nicht mehr erreicht werden. 4 Versicherte, die sich in Untersuchungshaft oder im Vollzug einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befinden oder einstweilig nach der Strafprozessordnung untergebracht sind. Dies gilt nicht für Versicherte im
7 1.1 · Leistungen zur Teilhabe
4
4
4 4
erleichterten Strafvollzug bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in der Phase akuter Behandlungsbedürftigkeit einer Krankheit. In diesen Fällen obliegt die medizinische Betreuung grundsätzlich der gesetzlichen Krankenversicherung als Leistung der Krankenbehandlung bzw. Krankenhausbehandlung. Die Rentenversicherung kann hier nur ausnahmsweise Leistungen bei akuter Behandlungsbedürftigkeit übernehmen, wenn diese während einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation eintritt. Es handelt sich dabei um die sog. interkurrenten Erkrankungen deren Behandlungskosten nach einer Vereinbarung zwischen der gesetzlichen Kranken- und der Rentenversicherung unter bestimmten Voraussetzungen vom Rentenversicherungsträger mitgetragen werden. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation anstelle einer sonst erforderlichen Krankenhausbehandlung. Dieser Regelung wird von der Rentenversicherung keine praktische Bedeutung zugemessen, da sich Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und Krankenhausbehandlungen grundsätzlich ausschließen. Ist eine Krankenhausbehandlung erforderlich, hat diese Vorrang vor einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die dem allgemein anerkannten Standard medizinischer Erkenntnisse nicht entsprechen. Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft. Ausnahmsweise können diese von der Rentenversicherung übernommen werden, wenn sie während einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation durch die Rentenversicherung erforderlich werden. Die Rentenversicherung kann in diesen Fällen von der Krankenversicherung Erstattung ihrer Aufwendungen verlangen.
1.1.1
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
Gemäß § 15 Abs. 1 SGB VI erbringen die Träger der Rentenversicherung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach den §§ 26 bis 31 SGB IX. Ausgenommen sind die Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder. Die wesentlichen Leistungen ergeben sich aus dem nicht abschließend formulierten Katalog des § 26 Abs. 2 SGB IX (vgl. . Tab. 1.2). Zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Zahnersatz wird nur erbracht, wenn sie unmittelbar und gezielt zur wesentlichen Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, insbesondere zur
. Tab. 1.2 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Behandlung durch Ärzte, Zahnärzte und Angehörige anderer Heilberufe, soweit deren Leistungen unter ärztlicher Aufsicht oder auf ärztliche Anordnung ausgeführt werden, einschließlich der Anleitung, eigene Heilungskräfte zu entwickeln 5 Arznei- und Verbandmittel 5 Heilmittel einschließlich physikalischer, Sprach- und Beschäftigungstherapie 5 Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung 5 Hilfsmittel 5 Belastungserprobung und Arbeitstherapie
Ausübung des bisherigen Berufs, erforderlich ist und soweit sie nicht als Leistung der Krankenversicherung oder als vorbeugende Gesundheitshilfe nach SGB XII zu erbringen ist. Bestandteil der medizinischen Leistungen sind auch medizinische, psychologische und pädagogische Hilfen, die zur Erreichung des Rehabilitationszieles erforderlich sein können. Hierzu gehören Hilfen zur Unterstützung bei Krankheits- und Behinderungsverarbeitung, Aktivierung von Selbsthilfepotentialen, Information und Beratung von Partnern und Angehörigen sowie von Vorgesetzten und Kollegen im Einvernehmen mit den Leistungsberechtigten, Vermittlung von Kontakten zu örtlichen Selbsthilfe- und Beratungsstellen, Hilfen zur psychischen Stabilisierung und zur Förderung der sozialen Kompetenz (u. a. Training sozialer und kommunikativer Fähigkeiten und Umgang mit Krisensituationen) sowie Anleitung und Motivation zur Inanspruchnahme von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation können sowohl stationär als auch ambulant erbracht werden. Die geeignete Form der Leistungen zur Teilhabe hängt vom konkreten Einzelfall ab. Dieser notwendigen Flexibilisierung trägt auch § 19 Abs. 2 SGB IX Rechnung. Hier werden zwar die Vorteile ambulanter Leistungserbringung hervorgehoben, jedoch wird kein strikter Grundsatz »ambulant vor stationär« festgeschrieben, sondern auf den Einzelfall und die persönlichen Umstände abgestellt. Stationäre Leistungen werden einschließlich der erforderlichen Unterkunft und Verpflegung in Einrichtungen erbracht, die unter ständiger ärztlicher Verantwortung und unter Mitwirkung von besonders geschultem Personal stehen, soweit die Art der Behandlung dies erfordert. Die Einrichtungen werden entweder vom Rentenversicherungsträger selbst betrieben oder es besteht mit ihnen ein Vertrag. Nach § 15 Abs. 3 SGB VI sollen die stationären Leistungen für längstens 3 Wochen erbracht werden. Eine längere Leistungsdauer ist jedoch möglich, wenn sie aus gesundheitlichen Gründen zum Erreichen des Rehabilitationszieles erforderlich ist. Dies ist z. B. grund-
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8
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Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
sätzlich anzunehmen bei psychischen und psychosomatischen sowie Abhängigkeitserkrankungen. Ambulante Leistungen können eigenständig an die Stelle einer stationären Rehabilitation treten. Ambulante Rehabilitation kann insbesondere sinnvoll sein bei Erkrankungen, für die ein länger dauernder oder wiederholter Rehabilitationsbedarf besteht, bei Erkrankungen, die wechselnde Behandlungsformen notwendig machen, oder in Fällen, die eine enge Einbindung in das berufliche oder familiäre Umfeld erfordern. Die Grundsätze und Anwendungsempfehlungen der gesetzlichen Rentenversicherung zur ambulanten medizinischen Rehabilitation vom 31.10.2001 treffen Aussagen zu den Anforderungen an die ambulante Rehabilitation und die ambulanten Rehabilitationseinrichtungen sowie zu den Zuweisungskriterien. Als Grundlage für den koordinierten Ausbau der ambulanten Rehabilitation dienen die auf der Ebene der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) vereinbarten Rahmenempfehlungen zur ambulanten medizinischen Rehabilitation einschließlich ihrer indikationsspezifischen Konzepte. z
Anschlussrehabilitation (AHB)
Eine besondere Form der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ist die Anschlussrehabilitation (Abk. für die gesetzliche Rentenversicherung AHB). Bei festgelegten Indikationen (vgl. . Tab. 1.3) kann der Rehabilitationserfolg und damit die dauerhafte Wiedereingliederung des Versicherten in das Erwerbsleben nur erreicht werden, wenn die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im unmittelbaren Anschluss oder in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Krankenhausbehandlung durchgeführt werden. Hierfür haben die Rentenversicherungsträger ein vereinfachtes und beschleunigtes Verwaltungsverfahren entwickelt. Eine Anschlussrehabilitation (AHB) wird in besonders spezialisierten Rehabilitationseinrichtungen in ambulanter oder stationärer Form durchgeführt. Um sicherzustellen, dass die Behandlung nahtlos an die Behandlung im Akutkrankenhaus erfolgt, wird die Antragstellung bereits während des Aufenthalts im Akutkrankenhaus vorbereitet. Die Überweisung wird entweder durch Absprache mit dem Akutkrankenhaus und der aufnehmenden Rehabilitationseinrichtung oder aber durch eine direkte Beantragung beim Rentenversicherungsträger organisiert. Der enge zeitliche Zusammenhang mit der Krankenhausbehandlung ist auch dann gewahrt, wenn die Anschlussheilbehandlung bereits vom Akutkrankenhaus eingeleitet wurde und der Patient mit ärztlicher Genehmigung zunächst für einen Zwischenaufenthalt nach Hause entlassen wird. Dieser Zwischenaufenthalt sollte jedoch einen Zeitraum von 14 Tagen nicht überschreiten.
. Tab. 1.3 AHB-Indikationen im Überblick 5 5 5 5
5 5 5 5 5 5 5
z
Krankheiten des Herzens und des Kreislaufs Krankheiten der Gefäße Entzündlich-rheumatische Erkrankungen Degenerativ-rheumatische Krankheiten und Zustand nach Operationen und Unfallfolgen an den Bewegungsorganen Gastroenterologische Erkrankungen und Zustand nach Operationen an den Verdauungsorganen Endokrine Krankheiten Krankheiten und Zustand nach Operationen an den Atmungsorganen Krankheiten der Niere und Zustand nach Operationen an Nieren, ableitenden Harnwegen und Prostata Neurologische Krankheiten und Zustand nach Operationen an Gehirn, Rückenmark und peripheren Nerven Onkologische Krankheiten Gynäkologische Krankheiten und Zustand nach Operationen am weiblichen Genitale
Entwöhnungsbehandlungen
Für Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige sowie bei pathologischem Glücksspiel kann die Rentenversicherung ambulante oder stationäre Entwöhnungsbehandlungen erbringen, wenn diese unter Einbeziehung der Prognosekriterien, der Motivation des Patienten, seiner sozialen Situation, der bisherigen Entwicklung seines Suchtverhaltens und der Auswertung somatischer und psychischer Befunde aussichtsreich erscheinen. Näheres insbesondere zur Leistungsabgrenzung zur Krankenversicherung ist der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen vom 04.05.2001 zu entnehmen (siehe auch 7 Kap. 25). z
Stufenweise Wiedereingliederung
Mit dem SGB IX wurde die stufenweise Wiedereingliederung als neue Leistung der Rentenversicherung in den Katalog der Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe aufgenommen. Durch das Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen wurde mit Wirkung zum 1. Mai 2004 die Zuständigkeit der Rentenversicherung erweitert. Seitdem kommt die Weiterzahlung von Übergangsgeld während einer stufenweisen Wiedereingliederung in Betracht, wenn diese im inmittelbaren Anschluss an eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation erforderlich ist (§ 51 Abs. 5 SGB IX). 1.1.2
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA)
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 16 SGB VI i. V. m. §§ 33–38, 40 SGB IX werden erbracht, um die Erwerbsfähigkeit behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähig-
9 1.1 · Leistungen zur Teilhabe
. Tab. 1.4 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben – Leistungen an Versicherte 5 Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes einschließlich der Beratung und Vermittlung, Trainingsmaßnahmen und Mobilitätshilfen. Hierzu gehören u. a. auch Kraftfahrzeughilfen, Hilfsmittel oder technische Arbeitshilfen sowie Wohnungskosten. 5 Berufsvorbereitung, einschließlich der wegen einer Behinderung erforderlichen Grundausbildung 5 Individuelle betriebliche Qualifizierung im Rahmen Unterstützter Beschäftigung 5 Berufliche Ausbildung sowie berufliche Anpassung und Weiterbildung, einschließlich eines bei Inanspruchnahme dieser Leistungen erforderlichen schulischen Abschlusses 5 Gründungszuschuss 5 Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz für schwerbehinderte Menschen als Hilfe zur Erlangung eines Arbeitsplatzes (z. B. Vorlesekraft für Blinde) 5 Sonstige Hilfen zur Förderung der Teilnahme am Arbeitsleben, um behinderten Menschen eine angemessene und geeignete Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit zu ermöglichen oder zu erhalten.
keit zu erhalten, zu verbessern oder (wieder)herzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern (vgl. . Abb. 1.1).
4 Ausbildungszuschüsse für betriebliche Bildungsleistungen, 4 Eingliederungszuschüsse, 4 Zuschüsse für Arbeitshilfen im Betrieb, 4 teilweise oder volle Kostenerstattung für eine befristete Probebeschäftigung. z
Werkstatt für behinderte Menschen
Können Versicherte aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein, kann die Rentenversicherung Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Eingangsverfahren und/ oder Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) erbringen. Die Voraussetzungen sowie die Dauer der Leistungen im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich einer WfbM sind in den §§ 40, 42 SGB IX geregelt. Für die Erbringung von Leistungen zur beruflichen Teilhabe im Arbeitsbereich einer WfbM sind die Träger der Unfallversicherung, der Kriegsopferfürsorge oder der öffentlichen Jugendhilfe zuständig sowie im Übrigen die Träger der Sozialhilfe.
1.1.3 z
Nach § 33 SGB IX ergeben sich folgende Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für Versicherte (vgl. . Tab. 1.4). Bei der Auswahl der Leistungen sind die Eignung, Neigung und bisherige Tätigkeit des Versicherten und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angemessen zu berücksichtigen. Soweit erforderlich, wird die berufliche Eignung geklärt oder eine Arbeitserprobung durchgeführt. Deren Kosten sowie die erforderlichen Reisekosten, Haushaltshilfe und Kinderbetreuungskosten übernimmt die Rentenversicherung. Die Dauer der Leistungen hängt von der vorgeschriebenen oder allgemein üblichen Zeitdauer ab, die erforderlich ist, um das angestrebte Teilhabeziel zu erreichen. Bei ganztägigem Unterricht soll eine Weiterbildung in der Regel nicht länger als zwei Jahre dauern, es sei denn, dass das Teilhabeziel nur über eine länger dauernde Leistung erreicht oder die Eingliederungsaussicht nur durch eine länger dauernde Leistung wesentlich verbessert werden kann. Stationäre Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden in Berufsbildungswerken, Berufsförderungswerken und vergleichbaren Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation erbracht, soweit die Art und Schwere der Behinderung oder die Sicherung des Erfolges dies erfordern. z
Ergänzende Leistungen
Leistungen an Versicherte
Leistungen an Arbeitgeber
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben können auch als Zuschüsse an Arbeitgeber erbracht werden, insbesondere als
Ergänzende Leistungen können von der Rentenversicherung nur im Zusammenhang mit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und insofern nicht selbständig erbracht werden. Sie bestehen insbesondere aus finanziellen Zuwendungen. Nach dem durch das Inkrafttreten des SGB IX neugefassten § 28 SGB VI werden die Leistungen zur Teilhabe der gesetzlichen Rentenversicherung außer durch das Übergangsgeld durch die Leistungen nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 und Abs. 2 sowie §§ 53 und 54 SGB IX ergänzt (vgl. . Tab. 1.5). Das SGB IX hat damit die früher bestehenden, z. T. voneinander abweichenden Vorschriften der einzelnen Rehabilitationsträger zu den ergänzenden Leistungen . Tab. 1.5 Ergänzende Leistungen 5 Übergangsgeld 5 Beiträge und Beitragszuschüsse zur Sozialversicherung 5 Ärztlich verordneter Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung, einschließlich Übungen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen, die der Stärkung des Selbstbewusstseins dienen 5 Ärztlich verordnetes Funktionstraining in Gruppen unter fachkundiger Anleitung und Überwachung 5 Reisekosten 5 Haushaltshilfe und Kinderbetreuungskosten
1
10
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
1 1 Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes
1
Berufsvorbereitung
Bildung (Qualifizierungsmaßnahmen)
Bewerbungskosten
1
Integrationsmaßnahmen
Leistungen zur Beratung und Vermittlung
berufliche Anpassung/ Teilqualifizierung Ausbildung
Hilfen zur Berufsausübung
Weiterbildung
Trainingsmaßnahmen
1
Gründungszuschuss
Leistungen an Arbeitgeber
Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen
Zuschuss für betriebliche Bildung/ Ausbildungszuschuss
Eingangsverfahren Berufsbildungsbereich
Eingliederungszuschuss Arbeitshilfen
1
Umschulung
Wohnungshilfe
Fortbildung
Probebeschäftigung Inanspruchnahme von Integrationsfachdiensten
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Arbeitsassistenz
Kraftfahrzeughilfe Mobilitätshilfen Übergangsbeihilfe
1
Ausrüstungsbeihilfe
1
Fahrkostenbeihilfe
1
Zur Auswahl der Leistungen: Beschaffung eines Kfz
Reisekostenbeihilfe
Trennungskostenbeihilfe Umzugskostenbeihilfe
- Arbeitserprobung behinderungsbedingte Zusatzausstattung
- Abklärung der beruflichen Eignung
Leistungen zur Erlangung einer Fahrerlaubnis
- Begabten- und Kenntnisprüfung
Beförderungskosten
. Abb. 1.1 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
zusammengefasst und einheitliche Rechtsgrundlagen geschaffen. z
Übergangsgeld
Das Übergangsgeld ist eine Barleistung zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz als Ausgleich für entgangenes Einkommen während bzw. im Zusammenhang mit einer Leistung zur Teilhabe. Die Anspruchsvoraussetzungen, Berechnung und Zahlungsweise des Übergangsgeldes sind in den §§ 20 und 21 SGB VI sowie den §§ 45 bis 52 SGB IX geregelt. Das Übergangsgeld in der gesetzlichen Rentenversicherung basiert bei versicherungspflichtig Beschäftigten, freiwillig Versicherten und pflichtversicherten Selbständigen auf der zu ermittelnden Berechnungsgrundlage. Diese richtet sich im Allgemeinen nach den letzten Arbeitseinkünften sowie bestimmten persönlichen Voraussetzungen. Die Höhe des Übergangsgeldes hängt davon ab, ob der Leistungsempfänger mindestens ein Kind i. S. d. § 32 Abs. 1, 3–5 Einkommensteuergesetz hat oder ob sein Ehegatte oder Lebenspartner einer Erwerbstätigkeit nicht nachgehen kann, weil er den Leistungsempfänger pflegt oder selbst der Pflege bedarf und keinen Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung hat. Das Übergangsgeld beträgt in diesen Fällen 75 v. H. und für die üb-
rigen Leistungsempfänger 68 v. H. der maßgebenden Berechnungsgrundlage. Die leistungsrechtlichen Vorschriften zum Übergangsgeld sind in einem Gemeinsamen Rundschreiben der Rentenversicherungsträger zum Übergangsgeld kommentiert. z
Rehabilitationssport und Funktionstraining
Um die Behandlungsergebnisse von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation langfristig zu sichern, ist im unmittelbaren Anschluss daran die ärztliche Verordnung von Rehabilitationssport und Funktionstraining möglich (§ 28 SGB VI i. V. m. §§ 44 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SGB IX). Diese umfassen bewegungstherapeutische Übungen, die als Gruppenbehandlung unter ärztlicher Betreuung im Rahmen regelmäßiger Übungsveranstaltungen durchgeführt werden. Die Übungen müssen auf Art oder Schwere der Behinderung einerseits sowie auf den gesundheitlichen Allgemeinzustand des Einzelnen andererseits abgestimmt sein. Eine Erweiterung hat sich durch die eigens durch das SGB IX aufgenommene Zielsetzung ergeben, im Rahmen des Rehabilitationssports dem besonderen Hilfebedarf und den besonderen Bedürfnissen behinderter und von Behinderung bedrohter Frauen und Mädchen
11 1.1 · Leistungen zur Teilhabe
. Tab. 1.6 Sonstige Leistungen 5 Leistungen zur Eingliederung in das Erwerbsleben 5 Leistungen zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit 5 Nach- und Festigungskuren wegen Geschwulsterkrankungen 5 Kinderrehabilitation 5 Zuwendungen an bestimmte Einrichtungen
durch Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins (sog. Selbstbehauptungskurse) Rechnung zu tragen.
1.1.4
Sonstige Leistungen
Abgesehen von den vorgenannten Leistungen können die Träger der Rentenversicherung sonstige Leistungen zur Teilhabe nach § 31 Abs. 1 Nr. 1–5 SGB VI erbringen (vgl. . Tab. 1.6). Mit Ausnahme der stationären Leistungen zur Eingliederung sowie der Nach- und Festigungskuren wegen Geschwulsterkrankungen sind die Aufwendungen für die sonstigen Leistungen budgetiert. Sie dürfen im Kalenderjahr 7,5 v. H. der Haushaltsansätze für die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und die ergänzende Leistungen nicht übersteigen. Entsprechend der Vorgabe des Gesetzgebers haben die Rentenversicherungsträger zwecks einheitlicher Gewährung der in § 31 Abs. 1 Nr. 1–5 SGB VI geregelten sonstigen Leistungen Gemeinsame Richtlinien verabschiedet. z
Leistungen zur Eingliederung in das Erwerbsleben
Als Leistungen zur Eingliederung von Versicherten in das Erwerbsleben kommen Leistungen zur Rehabilitationsvorbereitung und -nachsorge in Betracht sowie weitere Leistungen, die erforderlich sind, um das Ziel der Rehabilitation zu erreichen oder zu sichern; vgl. die Gemeinsamen Richtlinien nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI . Diese sind in ambulanter oder stationärer Form möglich und setzen das Vorliegen der persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen voraus. z
Leistungen zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit
Zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit können nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI medizinische Leistungen erbracht werden für Versicherte, die eine besonders gesundheitsgefährdende, ihre Erwerbsfähigkeit ungünstig beeinflussende Beschäftigung ausüben. Damit kann die Rentenversicherung auch präventiv tätig werden, ohne den Nachweis einer erheblichen Gefährdung oder bereits eingetretenen Minderung der Erwerbsfähigkeit. Voraussetzung ist allerdings, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen
vorliegen. Als besonders gesundheitsgefährdend sind Beschäftigungen mit außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Belastungen anzusehen, wenn bei entsprechender Disposition erhöhte Erkrankungsgefahr besteht. Näheres ist den Gemeinsamen Richtlinien nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI zu entnehmen. z
Nach- und Festigungskuren wegen Geschwulsterkrankungen
Nach § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI können die Rentenversicherungsträger Nach- und Festigungskuren wegen Geschwulsterkrankungen (sog. onkologische Nachsorgeleistungen) erbringen. Der Kreis der Leistungsberechtigten ist weiter als bei den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und schließt neben Versicherten auch Rentenbezieher sowie ihre Angehörigen ein. Die Gemeinsamen Richtlinien nach § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI (CA-Richtlinien) enthalten die notwendigen Leistungsvoraussetzungen und -inhalte. Für Versicherte gelten die gleichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen wie bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§ 11 SGB VI); allerdings reicht anstelle einer Wartezeit von 15 Jahren die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren aus. Die persönlichen Voraussetzungen nach § 10 SGB VI müssen demgegenüber nicht vorliegen. Es ist also nicht erforderlich, dass durch die onkologischen Nachsorgeleistungen die Erwerbsfähigkeit des Patienten voraussichtlich erhalten, wesentlich gebessert, wiederhergestellt oder eine wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann. Ausreichend ist vielmehr, dass die durch die Tumorerkrankungen oder deren Therapie bedingten körperlichen, seelischen, sozialen und beruflichen Behinderungen positiv beeinflussbar sind. Ferner muss die Diagnose geklärt und eine vorher stattgefundene operative oder Strahlentherapie abgeschlossen sein. Der Patient muss für die onkologischen Nachsorgeleistungen ausreichend belastbar sein und sollte in der Regel allein reisefähig sein. Die Leistungen umfassen gezielte diagnostische und therapeutische Maßnahmen, die geeignet sind, zur Stabilisierung oder Besserung des Gesundheitszustandes beizutragen und insbesondere Funktionsstörungen zu beseitigen oder auszugleichen. Sie können auch als Anschlussheilbehandlung durchgeführt werden. Die Leistungsgewährung ist nach den CA-Richtlinien bis zum Ablauf eines Jahres nach einer beendeten Primärbehandlung möglich, bei erheblichen Funktionsstörungen im Einzelfall auch bis zum Ablauf von zwei Jahren danach. z
Kinderrehabilitation
Kinder von Versicherten, Beziehern einer Rente wegen Alters oder wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Bezieher einer Waisenrente können nach § 31 Abs. 1 Nr. 4
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Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
SGB VI stationäre Kinderheilbehandlungen von der Rentenversicherung erhalten, wenn hierdurch voraussichtlich eine erhebliche Gefährdung ihrer Gesundheit beseitigt oder eine beeinträchtigte Gesundheit wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann und dies Einfluss auf die spätere Erwerbsfähigkeit hat. Die Rentenversicherungsträger haben hierzu Gemeinsame Richtlinien nach § 31 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI (Kinderheilbehandlungsrichtlinien) festgelegt. Bei akuten Krankheiten und Infektionskrankheiten ist nicht die Rentenversicherung, sondern die Krankenversicherung für die Durchführung der Kinderheilbehandlung leistungszuständig. Die Leistungen umfassen insbesondere die Gewährung von ärztlicher und nichtärztlicher Therapie, Pflege und Versorgung mit Medikamenten, Unterkunft und Verpflegung in geeigneten Rehabilitationseinrichtungen sowie Übernahme von Reisekosten und sonstigen notwendigen Nebenkosten. Auch die Unterbringung einer Begleitperson kann aus medizinischen Gründen zu Lasten der Rentenversicherung erfolgen. z
Zuwendungen an bestimmte Einrichtungen
Als sonstige Leistungen nach § 31 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI kann die Rentenversicherung finanzielle Zuwendungen für Einrichtungen erbringen, die auf dem Gebiet der Rehabilitation forschen oder die Rehabilitation fördern. Näheres ist in den Zuwendungsrichtlinien geregelt.
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1.1.5
Verfahren
Antrag und Zuständigkeitsklärung
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z
Antrag
Leistungen zur Teilhabe setzen grundsätzlich einen Antrag voraus. Sie können allerdings auch von Amts wegen erbracht werden, wenn die Versicherten dem zustimmen (§ 115 Abs. 1, 4 SGB VI). Die Anträge können unmittelbar beim zuständigen Rentenversicherungsträger, aber auch bei den übrigen Rehabilitationsträgern sowie bei den Gemeinsamen Servicestellen wirksam gestellt werden. Zur Antragsannahme sind alle Sozialleistungsträger sowie Gemeinden befugt. Sie sind verpflichtet, den Antrag unverzüglich an den zuständigen Rehabilitationsträger weiterzuleiten. z
Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX
Zur Beschleunigung des Antragsverfahrens hat der Gesetzgeber in § 14 SGB IX ein fristenabhängiges Zuständigkeitsklärungsverfahren eingeführt. Dieses tritt an die Stelle des früheren Systems der vorläufigen Leistungsverpflichtung bei ungeklärter Zuständigkeit. Damit soll gewährleistet werden, dass der Leistungsberechtigte seine erfor-
derliche Leistung möglichst rasch erhält. Schwierigkeiten hinsichtlich der zum Teil recht zeitaufwändigen Abklärung der Leistungszuständigkeit eines Rehabilitationsträgers gehen nicht (mehr) zu Lasten des Antragstellers, sondern werden erst im Nachhinein im Rahmen des Erstattungsrechts gelöst. Erstangegangener Träger. Wird ein Antrag auf Leistungen zur Teilhabe bei einem Rehabilitationsträger gestellt, hat dieser als erstangegangener Träger wie folgt zu verfahren: 1. Feststellung der Zuständigkeit Er hat innerhalb von zwei Wochen festzustellen, ob er nach seinem spezifischen Leistungsgesetz für die beantragten Leistungen sachlich und örtlich zuständig ist. Der Rentenversicherungsträger ist also gehalten, die versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen, etwaige Ausschlussgründe sowie seine örtliche Zuständigkeit binnen zwei Wochen ab Antragseingang zu klären. Hält sich der erstangegangene Träger für unzuständig, leitet er den Antrag unverzüglich an den aus seiner Sicht zuständigen (und nunmehr zweitangegangenen) Träger weiter. Andernfalls hat er umgehend den Rehabilitationsbedarf festzustellen und ggf. eine hierfür erforderliche Begutachtung in die Wege zu leiten. Eine Sonderregelung besteht für die Fälle, in denen die Zuständigkeit von der Ursache einer Behinderung (Arbeitsunfall, Berufskrankheit) abhängt. Hier hat der erstangegangene Rehabilitationsträger den Antrag dem Rehabilitationsträger zuzuleiten, der für die Leistung ohne Rücksicht auf die Ursache der Behinderung zuständig wäre. 2. Feststellung des Rehabilitationsbedarfs Die sozialmedizinische Sachaufklärung hat in der Regel zwei Aufgabenstellungen: Zum einen gilt es, den Rehabilitationsbedarf festzustellen und zum anderen das Vorliegen der medizinischen/persönlichen Voraussetzungen zu prüfen, bei der gesetzlichen Rentenversicherung im Sinne des § 10 SGB VI. Das SGB IX bezieht sich mit § 14 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 5 lediglich auf die Feststellung des Rehabilitationsbedarfes durch ein ggf. notwendiges Gutachten. Dazu sieht § 14 Abs. 5 Satz 6 SGB IX vor, dass die in dem Gutachten getroffenen Feststellungen zum Rehabilitationsbedarf den Entscheidungen der (also aller ggf. beteiligten) Rehabilitationsträger zugrunde gelegt werden und nicht nur der Entscheidung des Trägers, der das Gutachten in Auftrag gegeben hat. Die sozialmedizinische Begutachtung hat insofern umfassend und unter Berücksichtigung aller sozialmedizinischen Aspekte zu erfolgen. Damit sollen unnötige, verfahrensverzögernde und den Betroffenen belastende Mehrfachbegutachtungen vermieden werden; siehe auch § 96 SGB X. Bestehen jedoch aus Sicht des Trägers Zweifel
13 1.1 · Leistungen zur Teilhabe
an der sozialmedizinischen Begutachtung oder haben die gutachterlichen Fragestellungen für die Entscheidung keine Relevanz (mehr), so steht es ihm nach dem Grundsatz der unabhängigen Beweiswürdigung frei, z. B. ein Zusatzgutachten oder Zweitgutachten einzuholen. Ist eine Begutachtung erforderlich, hat der Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 5 SGB IX dem Antragsteller in der Regel drei geeignete Sachverständige zur Auswahl zu benennen, die möglichst wohnortnah erreichbar und entsprechend dem individuellen Bedarf barrierefrei zugänglich sind. Laut Gesetz sind hierbei auch die bestehenden sozialmedizinischen Dienste zu berücksichtigen. Die Pflicht zur Benennung von drei Sachverständigen bezieht sich nur auf externe Gutachter. Greifen Rentenversicherungsträger auf eigene sozialmedizinische Dienste zurück, ist eine entsprechende Gutachterbenennung nicht erforderlich. Das Gutachten ist innerhalb von zwei Wochen zu erstellen. Von den Rehabilitationsträgern ist darauf hinzuwirken, dass die Begutachtung unverzüglich – spätestens innerhalb von zwei Wochen nach Beauftragung – erfolgt. 3. Entscheidung über den Antrag Über den Antrag ist innerhalb von drei Wochen nach Eingang zu entscheiden, sofern der Rehabilitationsbedarf anhand der vorliegenden Unterlagen ohne ein (weiteres) Gutachten festgestellt werden kann. Ist ein Gutachten erforderlich, ergeht die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens. Zweitangegangener Träger. Für diesen gelten die gleichen Entscheidungsfristen wie für den erstangegangenen Träger. Er kann sich jedoch nicht auf eine fehlende Zuständigkeit berufen, da diese mit der Weiterleitung des Antrags an ihn als gegeben normiert ist. Er muss demnach leisten, sofern ein Rehabilitationsbedarf besteht. Eine Rückgabe oder eine erneute Weiterleitung des Antrags ist grundsätzlich ausgeschlossen. Kann allerdings der zweitangegangene Träger für die beantragte Leistung nicht Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 SGB IX sein, klärt er unverzüglich mit dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger, von wem und in welcher Weise über den Antrag entschieden wird und unterrichtet hierüber den Antragsteller. Erstattung. Die Prüfung der spezifischen Leistungsvoraussetzungen des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers (für die Rentenversicherung nach den §§ 10, 11, 12, 13 SGB VI) ist nachgelagert – nach Leistungsbewilligung – durchzuführen. Im Falle seiner Unzuständigkeit erhält der zweitangegangene Träger die ihm entstandenen Aufwendungen vom eigentlich zuständigen Träger erstattet. Über die Ausgestaltung des Zuständigkeitsklärungsverfahrens nach § 14 SGB IX ist von den Rehabilitationsträgern auf der Ebene der Bundesarbeitsgemeinschaft für
Rehabilitation (BAR) eine Gemeinsame Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung vereinbart worden.
Aufforderung zur Reha-Antragstellung In bestimmten, gesetzlich definierten Fällen kann ein Versicherter durch die Krankenkasse (§ 51 Abs. 1 SGB V) oder die Arbeitsagentur (§ 125 Abs. 2 SGB III) aufgefordert werden, einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe bei der Rentenversicherung zu stellen. Nach § 51 Abs. 1 SGB V kann die Krankenkasse einen Versicherten, dessen Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, zu einem Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben bei der Rentenversicherung auffordern. Kommt der Versicherte dieser Aufforderung nicht nach, entfällt sein Anspruch auf Krankengeld bis zu dem Tag, an dem die Antragstellung nachgeholt wird. Näheres für die Verfahrenspraxis regeln die Empfehlungen zur Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Nach § 125 Abs. 1 SGB III hat ein Arbeitsloser auch dann Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn ihm wegen einer nicht nur vorübergehenden Minderung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit (mehr als 6 Monate) eine regelmäßige Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts (mindestens 15 Wochenstunden) nicht zumutbar ist. In diesen Fällen soll ihn das Arbeitsamt auffordern, binnen eines Monats einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben bei der Rentenversicherung zu stellen. Tut er dies nicht, ruht sein Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zum Tag der nachgeholten Antragstellung (§ 125 Abs. 2 SGB III).
Umdeutung des Reha-Antrags in einen Rentenantrag Nach § 116 Abs. 2 SGB VI gilt ein Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben als Antrag auf Rente, wenn Versicherte vermindert erwerbsfähig sind und ein Erfolg der Rehabilitationsleistung nicht zu erwarten ist oder Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe nicht erfolgreich gewesen sind, weil sie die verminderte Erwerbsfähigkeit nicht verhindert haben. Sofern Übergangsgeld gezahlt worden ist und nachträglich für denselben Zeitraum der Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit festgestellt wird, gilt dieser Anspruch bis zur Höhe des gezahlten Übergangsgeldes als erfüllt. Übersteigt das Übergangsgeld den Betrag der Rente, kann der übersteigende Betrag nicht zurückgefordert werden. Näheres zur Umdeutung siehe 7 Abschn. 1.2.1.
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Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
Rentenarten
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Regel altersrente
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vorgezogene Altersrenten
kleine Witwenrente oder Witwerrente
Altersrente für schwerbehinderte Menschen
Rente wegen voller Erwerbsminderung
große Witwenrente oder Witwerrente
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit [3]
Erziehungsrente
Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit [1]
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Altersrente für Frauen [1]
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Rente für Bergleute
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung
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Rente wegen Berufsunfähigkeit [2]
Renten wegen Todes
Altersrente für langjährig Versicherte
Altersrente für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute
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Renten Rente wegen Erwerbs- wegen Erwerbsminderung unfähigkeit [2]
Altersrente für bes. langjährig Versicherte
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Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
Renten wegen Alters
Waisenrente
[2] nach altem Rentenrecht bis 31.12.2000: Besitzstandsregelung [3] Übergangsregelung für vor dem 02.01.1961 geborene Versicherte
[1] nur noch für vor 1952 geborene Versicherte
. Abb. 1.2 Rentenarten
1.2
Renten Uwe Chojetzki
Die gesetzliche Rentenversicherung bietet Schutz gegen die wirtschaftlichen Folgen von »Erwerbsminderung«, »Alter« und »Tod unter Hinterlassung von Hinterbliebenen«. Dementsprechend gehören zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Rentenversicherung Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Renten wegen Alters und Renten wegen Todes (siehe auch . Abb. 1.2). Als monatlich wiederkehrende Geldleistungen haben die Renten die Aufgabe, die finanziellen Folgen bereits eingetretener Risiken auszugleichen. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sind: 4 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) 4 Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) 4 Rente für Bergleute (§ 45 SGB VI) 4 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) 4 Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 43 SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung) 4 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 44 SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung)
Renten wegen Alters sind: 4 Regelaltersrente (§§ 35, 235 SGB VI) 4 Altersrente für langjährig Versicherte (§§ 36, 236 SGB VI) 4 Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) 4 Altersrente für besonders langjährig Versicherte (§ 38 SGB VI) 4 Altersrente für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute (§§ 40, 238 SGB VI) 4 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit (§ 237 SGB VI, nur noch für vor 1952 geborene Versicherte) 4 Altersrente für Frauen (§ 237a SGB VI, nur noch für vor 1952 geborene Versicherte) Renten wegen Todes sind: 4 kleine Witwenrente oder Witwerrente (§ 46 SGB VI) 4 große Witwenrente oder Witwerrente (§ 46 SGB VI) 4 Erziehungsrente (§ 47 SGB VI) 4 Waisenrente (§ 48 SGB VI) Wie Leistungen zur Teilhabe werden auch Renten nur dann geleistet, wenn bestimmte versicherungsrechtliche und persönliche Voraussetzungen erfüllt sind. Auf Renten wegen Alters und Renten wegen Todes wird nachfolgend
15 1.2 · Renten
nur eingegangen, soweit ein sozialmedizinischer Bezug besteht. 1.2.1
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
Die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sollen den teilweisen oder vollen Verlust der Erwerbsfähigkeit infolge Krankheit oder Behinderung finanziell ausgleichen. Von praktischer Bedeutung sind vor allem die Renten wegen teilweiser sowie voller Erwerbsminderung und die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Die Rente für Bergleute ist eine Leistung der knappschaftlichen Rentenversicherung u. a. für Versicherte, die im Bergbau vermindert berufsfähig sind, d. h. wegen Krankheit oder Behinderung eine knappschaftliche Beschäftigung nicht mehr ausüben können. Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit waren nach dem bis 2000 geltenden Recht zu erbringen und haben nur noch im Rahmen von Übergangsregelungen Bedeutung. Rehabilitation vor Rente. Leistungen zur Teilhabe haben Vorrang vor Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sowie großer Witwen-/Witwerrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die bei erfolgreich abgeschlossenen Leistungen zur Teilhabe nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind. Dieser kurz »Reha vor Rente« genannte Grundsatz ist für alle Leistungsträger in § 8 Abs. 2 SGB IX und speziell für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung in § 9 Abs. 1 SGB VI verankert. Vor der Bewilligung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ist daher stets zu prüfen, ob die festgestellte Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben behoben oder wesentlich gebessert werden kann. Es müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, leistungsgeminderte Versicherte wieder in das Erwerbsleben zu integrieren. Besteht bei teilweiser Erwerbsminderung keine Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit, können Versicherten, die einen Arbeitsplatz innehaben, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gewährt werden, um den Arbeitsplatz zu erhalten.
Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nach dem bis zum 31.12.2000 geltenden Recht (§§ 43, 44 SGB VI) Mit der Rentenreform 1957 wurde der Begriff der Invalidität durch Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit abgelöst. Diese Unterscheidung, die auch in dem mit der Rentenreform 1992 in Kraft getretenen SGB VI beibehalten wurde, sollte dem Umstand Rechnung tragen, dass
es Versicherte gibt, die trotz einer Minderung ihrer Leistungsfähigkeit noch in der Lage sind, erwerbstätig zu sein und Einkommen zu erzielen. Eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU-Rente) wurde gewährt bei einer Einbuße der Erwerbsfähigkeit im bisherigen Beruf bzw. einer zumutbaren Verweisungstätigkeit um mehr als die Hälfte (§ 43 SGB VI a. F.). Bei dieser Rente wurde unterstellt, dass der betroffene Versicherte sein Restleistungsvermögen noch in Erwerbseinkommen umsetzen kann. Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EURente) erhielten Versicherte, die auf nicht absehbare Zeit außerstande waren, noch irgendeine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder mehr als ein geringfügiges Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen (§ 44 SGB VI a. F.), oder bei denen bei Arbeitslosigkeit bzw. Beschäftigungslosigkeit der Teilzeitarbeitsmarkt als verschlossen anzusehen war. Die Erwerbsunfähigkeitsrente wurde deshalb mit dem Rentenartfaktor 1,0 berechnet, der auch bei einer Rente wegen Alters maßgebend ist. Die Rente wegen Berufsunfähigkeit war demgegenüber mit dem Rentenartfaktor 0,6667 um ein Drittel geringer. Mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 wurde das Recht der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zum 01.01.2001 grundlegend reformiert. Die bisherigen Renten wegen Berufsunfähigkeit- bzw. Erwerbsunfähigkeit wurden durch eine zweistufige Erwerbsminderungsrente ersetzt. Für Versicherte, die am 31.12.2000 bereits Anspruch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit hatten, wurde das bisherige Recht beibehalten: Der Anspruch auf Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente besteht bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze weiter, solange die Voraussetzungen vorliegen. Wurde die Rente befristet gewährt, bleibt auch bei einer Verlängerung der Rente das bis zum 31.12.2000 geltende Recht maßgebend, sofern sich der neue Anspruchszeitraum nahtlos an den vorherigen anschließt (§§ 302b, 314b SGB VI).
Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung nach dem ab 01.01.2001 geltenden Recht (§ 43 SGB VI) z
Versicherungsrechtliche Voraussetzungen
Vor Eintritt der Erwerbsminderung muss die allgemeine Wartezeit (Mindestversicherungszeit) von fünf Jahren erfüllt sein. Außerdem müssen die Versicherten in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre Pflichtbeitragszeiten für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (§ 43 Abs. 1, 2 SGB VI). Zu diesen Pflichtbeitragszeiten gehören auch Zeiten, in denen wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosengeld II Versicherungspflicht bestand.
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Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
Persönliche Voraussetzungen: Teilweise oder volle Erwerbsminderung
Der Versicherte muss wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sein, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden bzw. mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1, 2 SGB VI). Bei einem 3- bis unter 6-stündigen Leistungsvermögen liegt teilweise Erwerbsminderung, bei einem weniger als 3-stündigen Leistungsvermögen liegt volle Erwerbsminderung vor. z z Ausgangspunkt Erwerbsfähigkeit
Die Erwerbsfähigkeit des Versicherten ist Ausgangspunkt für die Prüfung, ob ein Leistungsfall der Erwerbsminderung eingetreten ist. Wie schon die RVO enthält auch das SGB VI keine Definition des Begriffs »Erwerbsfähigkeit«, sondern lediglich verschiedene Kriterien der »Minderung« der Erwerbsfähigkeit. In Rechtsprechung und Literatur wird unter Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit des Versicherten verstanden, durch Ausübung einer Tätigkeit dem Lebensunterhalt dienendes Entgelt zu erzielen. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit setzt voraus, dass sie zunächst in vollem Umfang bestanden und sich erst im Laufe der Zeit verringert hat. Eine Leistungseinschränkung, die bereits bei Eintritt in die Versicherung vorhanden war (sog. eingebrachtes Leiden), kann grundsätzlich nicht zu einem Rentenanspruch führen, solange keine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes eingetreten ist. z z Ursachen und Dauer der Erwerbsminderung
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit muss auf Krankheit oder Behinderung zurückzuführen sein. Zu den durch die Rentenversicherung geschützten Risiken gehört nicht eine Minderung der Erwerbsfähigkeit, die auf anderen als gesundheitlichen Gründen beruht. Sind z. B. berufliche Fähigkeiten mangels deutscher Sprachkenntnisse nicht verwertbar oder sind Berufserfahrungen nutzlos geworden, weil bestimmte Produktionsverfahren grundlegend umgestellt wurden, so hat beim Verlust des Arbeitsplatzes die Arbeitslosenversicherung für den Versicherten einzutreten. Veränderungen der körperlichen Leistungsfähigkeit als Folge des normalen Alterungsprozesses sind ebenfalls nicht als Krankheit oder Behinderung anzusehen. Eine Erwerbsminderung ist erst dann rentenrechtlich relevant, wenn das Leistungsvermögen trotz Ausschöpfens aller therapeutischen Möglichkeiten auf »nicht absehbare Zeit« eingeschränkt ist. Hierunter ist ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten zu verstehen. z z Umfang der Erwerbsminderung
Bei der Prüfung, ob eine Erwerbsminderung vorliegt, kommt es anders als im Recht der sozialen Entschädi-
gung, im Schwerbehindertenrecht und im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht auf einen Grad der Leistungsminderung, sondern auf das verbliebene individuelle Restleistungsvermögen an. Dieses Restleistungsvermögen ist im Wege der sozialmedizinischen Begutachung festzustellen. Die Ermittlungen haben sich auf das positive und negative Leistungsvermögen zu erstrecken (Näheres hierzu in 7 Abschn. 5.2.6). Zu unterscheiden sind drei Stufen des quantitativen (zeitlichen) Leistungsvermögens, an die sich jeweils unterschiedliche rechtliche Konsequenzen knüpfen: Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, sind voll erwerbsgemindert (§ 43 Abs. 2 SGB VI). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, also bei einem weniger als 3-stündigen Leistungsvermögen, erhält der Versicherte eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Grenze von drei Stunden entspricht der Geringfügigkeitsgrenze in der Arbeitslosenversicherung und wurde gewählt, um die Nahtlosigkeit zwischen den Regelungen der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung zu gewährleisten. Die Höhe der vollen Erwerbsminderungsrente orientiert sich mit dem Rentenartfaktor 1,0 an der Höhe einer Altersrente (§ 67 Nr. 3 SGB VI). Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, sind teilweise erwerbsgemindert (§ 43 Abs. 1 SGB VI). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, also bei einem 3bis unter 6-stündigen Leistungsvermögen, wird grundsätzlich eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung geleistet. Diese Rente hat – wie die frühere Berufsunfähigkeitsrente – keine volle Lohnersatzfunktion. Sie wird in Höhe der Hälfte der vollen Erwerbsminderungsrente gezahlt (Rentenartfaktor: 0,5; § 67 Nr. 2 SGB VI). Ausgegangen wird davon, dass die betroffenen Versicherten zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes weiteres Einkommen erzielen. Wenn aber für den Versicherten bei Arbeitslosigkeit oder Beschäftigungslosigkeit der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist, besteht nach der von der Rechtsprechung entwickelten »konkreten Betrachtungsweise« ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, ist nach der gesetzlichen Konzeption nicht erwerbsgemindert (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Von Versicherten mit einem entsprechenden Leistungsvermögen wird erwartet, dass sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Finden sie keinen Arbeitsplatz, so fällt dies in den Risikobereich der Arbeitslosenversicherung.
17 1.2 · Renten
Bei bestimmten qualitativen Leistungseinschränkungen ist allerdings nach der Rechtsprechung unter Umständen auch dann von einer vollen Erwerbsminderung auszugehen, wenn das Leistungsvermögen zeitlich gesehen sechs Stunden und mehr beträgt. Auf einige dieser Leistungseinschränkungen (Erfordernis zusätzlicher unüblicher Arbeitspausen, fehlende Wegefähigkeit, »schwere spezifische Leistungsbehinderung«, »Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen«) wird unten im Zusammenhang mit den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eingegangen. z z Erwerbstätigkeit auf Kosten der Gesundheit
Einen hohen Beweiswert misst die Rechtsprechung der tatsächlichen Ausübung einer Erwerbstätigkeit bei. Sie kann ein ärztliches Gutachten, nach dem eine Erwerbsminderung besteht, widerlegen. Wird eine Erwerbstätigkeit dagegen »auf Kosten der Gesundheit« ausgeübt, steht dies einem Rentenanspruch nicht entgegen. Eine die Erwerbsminderung nicht ausschließende Erwerbstätigkeit auf Kosten der Gesundheit liegt vor, wenn die Tätigkeit unter unzumutbaren Schmerzen oder einer unzumutbaren Anspannung der Willenskraft verrichtet wird oder für den Versicherten nach ärztlicher Prognose bei weiterer Arbeit in absehbarer Zeit eine Verschlimmerung einzutreten droht. Eine derartige Tätigkeit ist zwar im Hinblick auf den Rentenanspruch unschädlich, der erzielte Verdienst kann allerdings im Rahmen der Hinzuverdienstregelungen die Rentenhöhe mindern oder die Rentenzahlung ganz entfallen lassen (§ 96a SGB VI). z
somit nur zur Abgrenzung von Sonderbereichen wie z. B. beschützenden Einrichtungen Bedeutung zu. Darüber hinaus hat er keine Relevanz. z z Übliche Bedingungen
Die »üblichen Bedingungen« des allgemeinen Arbeitsmarktes betreffen nicht die Tätigkeit selbst, sondern die konkrete Ausgestaltung von Tätigkeiten, wie sie in gesetzlichen Regelungen, Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen etc. zum Ausdruck kommt. Üblich sind Bedingungen dann, wenn Beschäftigungsverhältnisse oder selbständige Tätigkeiten zwar nicht unbedingt in der Mehrzahl, aber zumindest in einer nennenswerten Zahl unter Beachtung derartiger Bedingungen eingegangen oder ausgeübt werden. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang vor allem die Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit, da sich in dieser Hinsicht viele Gesundheitsbeeinträchtigungen besonders störend auswirken. Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten hängt also neben seinem zeitlichen Leistungsvermögen auch von den realen Anforderungen in der Arbeitswelt ab. Beträgt das zeitliche Leistungsvermögen sechs Stunden und mehr, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass es auch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes verwertbar ist. Bei einigen qualitativen Leistungseinschränkungen kann eine andere Beurteilung geboten sein. Zu den von der Rechtsprechung in diesem Zusammenhang anerkannten Ausnahmefällen, in denen es an der Erwerbsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes fehlt, gehören u. a. folgende Leistungseinschränkungen:
Bedeutung des Arbeitsmarktes
Festzustellen ist das zeitliche Leistungsvermögen des Versicherten »unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes«. z z Allgemeiner Arbeitsmarkt
Der Arbeitsmarkt ist der Bereich einer Volkswirtschaft, in dem sich Angebot an und Nachfrage nach Arbeit begegnen. Er ist kein homogenes »Ganzes«, sondern setzt sich aus einer Vielzahl von Teilarbeitsmärkten zusammen, z. B. für einzelne Wirtschaftszweige, für verschiedene Berufe/ Qualifikationen, für Frauen und Männer, für Teilzeit- und Vollzeitarbeit oder für Ausbildungsstellen. Der allgemeine Arbeitsmarkt im Sinne des § 43 SGB VI umfasst alle nur denkbaren unselbständigen oder selbständigen Tätigkeiten außerhalb einer beschützenden Einrichtung (z. B. Werkstätte für behinderte Menschen oder Blindenwerkstätte), für die Angebot und Nachfrage besteht. So genannte Schonarbeitsplätze, die nur leistungsgeminderten Betriebsanghörigen vorbehalten sind bzw. speziell für diese eingerichtet werden, sind nicht dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzuordnen. Dem Begriff »allgemein« kommt
Erfordernis zusätzlicher unüblicher Arbeitspausen.
Maßstab für den üblichen Umfang von Arbeitspausen sind die Arbeitszeitordnung, tarifvertragliche Regelungen, betriebliche Vereinbarungen und Übung. Benötigt ein Versicherter darüber hinausgehende Pausen, ist er unter Umständen nicht fähig, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein und damit voll erwerbsgemindert. Kurze Arbeitsunterbrechungen, die z. B. aufgrund von häufigen Toilettengängen wie bei M. Crohn oder Blutzuckerkontrollen bei Diabetes mellitus erforderlich sind, gehen jedoch regelmäßig nicht über das übliche Maß der Arbeitspausen hinaus, da Arbeitnehmern in vielen Bereichen des allgemeinen Arbeitsmarktes zusätzlich zu den Arbeitspausen eine sog. persönliche Verteilzeit zugebilligt wird. Fehlende Wegefähigkeit. Zur Erwerbsfähigkeit gehört auch die Fähigkeit, eine Arbeitsstelle aufsuchen zu können. Bei einem gehbehinderten Versicherten, dem kein Kraftfahrzeug zur Verfügung steht, ist maßgebend, ob er einen Arbeitsplatz unter Benutzung öffentlicher Verkehrs-
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Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
mittel erreichen kann. Nach dem von der Rechtsprechung entwickelten generalisierenden Maßstab ist nicht wegefähig, wer auch unter Verwendung von Hilfsmitteln (z. B. Gehstützen) nicht in der Lage ist, täglich viermal eine Wegstrecke von mehr als 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurückzulegen und zweimal während der Hauptverkehrszeit öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Für eine Wegstrecke von 500 Metern gilt ein Zeitaufwand von 20 Minuten als nicht mehr zumutbar. Ist Wegefähigkeit nicht gegeben, liegt bei dem Versicherten unabhängig von seinem quantitativen Leistungsvermögen volle Erwerbsminderung vor, es sei denn, er hat einen Arbeitsplatz inne, den er mit der ihm möglichen Wegstrecke tatsächlich erreicht oder ihm wird ein solcher Arbeitsplatz konkret angeboten. Die fehlende Wegefähigkeit kann im Einzelfall durch Zusage bzw. Erbringung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (z. B. Übernahme der Kosten für Inanspruchnahme eines Fahrdienstes, behindertengerechter Umbau eines Kfz) kompensiert werden. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht dann nicht mehr. Schwere spezifische Leistungsbehinderung und Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen.
In den Fällen einer»schweren spezifischen Leistungsbehinderung« oder einer »Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen« besteht nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die Gefahr, dass der allgemeine Arbeitsmarkt schlechthin keine leistungsgerechte Arbeitsstelle mehr bereithält und damit verschlossen ist. Dem Rentenversicherungsträger erwächst in diesen Fällen eine Darlegungslast: Der Arbeitsmarkt ist nur dann als »offen« anzusehen, wenn dem Versicherten zumindest eine seinem Leistungsvermögen entsprechende Berufstätigkeit benannt werden kann. Zu benennen ist kein konkreter Arbeitsplatz, sondern eine Berufstätigkeit mit einer im Arbeitsleben üblichen Berufsbezeichnung. Gelingt die Benennung einer derartigen Tätigkeit nicht, liegt auch bei einem mindestens 6-stündigen Leistungsvermögen volle Erwerbsminderung vor. Dem Begriff »schwere spezifische Leistungsbehinderung« werden diejenigen Fälle zugerechnet, bei denen bereits eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Dies ist beispielsweise bei Einarmigkeit anzunehmen. Bei der Frage, wann eine »Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen« vorliegt, sind die Besonderheiten des Einzelfalles entscheidend. Die Rechtsprechung hat bisher insoweit keine generalisierenden Vorgaben und Maßstäbe aufgestellt, sondern im Sinne einer Kasuistik lediglich Einzelfallentscheidungen getroffen. Als Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen sind u. a. angesehen worden:
4 Besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz, 4 das Erfordernis, zwei zusätzliche Pausen von je 15 Minuten einzulegen in Verbindung mit anderen Einschränkungen, 4 das Erfordernis, bei der Arbeit halbstündig zwischen Sitzen und Stehen zu wechseln und Gehphasen zwischenzuschalten in Verbindung mit Einschränkungen bei Arm- und Handbewegungen, 4 durchschnittlich einmal in der Woche auftretende Fieberschübe mit mehrtägigen (vollständigen) Arbeitsunfähigkeiten, 4 Sehstörungen, Beweglichkeitseinschränkungen der Hände, Arbeit nur unter Ausschluss bestimmter Umwelteinflüsse wie Kälte, Nässe und Staub möglich, Auschluss von knieenden Arbeiten und Arbeiten mit häufigem Bücken. Verneint wurde eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen u. a. beim 4 Ausschluss von Tätigkeiten, die überwiegendes Stehen oder ständiges Sitzen erfordern, in Nässe oder Kälte oder mit häufigem Bücken zu leisten sind, besondere Fingerfertigkeit erfordern oder mit besonderen Unfallgefahren verbunden sind, 4 Ausschluss von Tätigkeiten im Akkord, im Schichtdienst und an laufenden Maschinen, 4 Ausschluss von Tätigkeiten, die besondere Anforderungen an das Seh-, Hör- oder Konzentrationsvermögen stellen, 4 Ausschluss von Tätigkeiten, die häufiges Bücken, Treppen- und Leiternsteigen, Zwangshaltungen sowie Überkopfarbeiten erfordern. z z Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes
Versicherte mit einem Restleistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden täglich haben an sich nur Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Sie erhalten dennoch eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn für sie der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist. Diese arbeitsmarktbedingte Gewährung voller Erwerbsminderungsrenten geht auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zurück. Es entschied bereits 1969 bzw. 1976, dass es bei der Beurteilung, ob ein Versicherter, der aufgrund seines Gesundheitszustandes nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, erwerbsunfähig ist, nicht allein auf das Ausmaß seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung, sondern auch auf das Vorhandensein leidensgerechter Teilzeitarbeitsplätze ankommt. Diese so genannte konkrete Betrachtungsweise ist mit der am 01.01.2001 in Kraft getretenen Reform des Rechts der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beibehalten worden.
19 1.2 · Renten
Im Einzelnen gelten folgende Grundsätze: Hat der Versicherte einen leidensgerechten Teilzeitarbeitsplatz inne oder arbeitet er auf Kosten seiner Gesundheit täglich sechs Stunden oder länger, ist der Teilzeitarbeitsmarkt nicht als verschlossen anzusehen. Folglich besteht nur Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Im Fall der Arbeits- bzw. Beschäftigungslosigkeit ist zu prüfen, ob für den Versicherten seinem Leistungsvermögen entsprechende Arbeitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden sind. Von einem verschlossenen Arbeitsmarkt ist auszugehen, wenn es weder dem Rentenversicherungsträger noch der Arbeitsverwaltung gelingt, dem Versicherten innerhalb eines Jahres seit Rentenantragstellung einen geeigneten Teilzeitarbeitsplatz zu vermitteln. Wenn nach Kenntnis des Rentenversicherungsträgers oder der Arbeitsverwaltung mit aller Wahrscheinlichkeit von vornherein nicht (mehr) damit zu rechnen ist, dass dem Versicherten innerhalb eines Jahres ein entsprechender Arbeitsplatz angeboten werden kann, braucht das Jahr nicht abgewartet zu werden; eine Rente wegen voller Erwerbsminderung kann sofort bewilligt werden. Im Hinblick auf die nach wie vor ungünstige Arbeitsmarktlage für gesundheitlich eingeschränkte Teilzeitarbeitskräfte gehen die Rentenversicherungsträger regelmäßig ohne weitere Ermittlungen von einem verschlossenen Teilzeitarbeitsmarkt aus.
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) Mit der Rentenreform 2001 wurde die Rente wegen Berufsunfähigkeit und damit der Berufsschutz des früheren Rechts abgeschafft. Allerdings besteht für Versicherte, die bei Inkrafttreten der Reform am 01.01.2001 das 40. Lebensjahr bereits vollendet hatten, d. h. vor dem 02.01.1961 geboren sind, Vertrauensschutz. Sie erhalten bei Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auch dann, wenn sie berufsunfähig sind. Berufsunfähig sind nach der gesetzlichen Definition Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind.
Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 240 Abs. 2 SGB VI). Ob Berufsunfähigkeit vorliegt, wird in drei Schritten geprüft: Zunächst ist anhand der vom Versicherten ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigungen oder Tätigkeiten dessen bisheriger Beruf bzw. Hauptberuf festzustellen. Ausgangspunkt für die Prüfung ist die letzte auf Dauer ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung/Tätigkeit (siehe auch 7 Kap. 3.2). Anschließend werden im Wege der sozialmedizinischen Begutachtung das positive und das negative Leistungsvermögen des Versicherten festgestellt. Das medizinisch ermittelte qualitative Leistungsvermögen ist sodann in Beziehung zu setzen zu dem Anforderungsprofil des bisherigen Berufs (siehe auch 7 Kap. 3.2). Kann der Versicherte seinen bisherigen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr mindestens sechs Stunden täglich ausüben, ist zu klären, ob er auf eine andere Tätigkeit verwiesen werden kann. Diese muss den Kenntnissen und Fähigkeiten des Versicherten entsprechen. Zudem darf sie ihn nicht körperlich oder geistig überfordern und der Versicherte muss in der Lage sein, sie noch mindestens sechs Stunden täglich auszuüben (objektive Zumutbarkeit). Eine Verweisung ist weiterhin nur auf Tätigkeiten möglich, deren Ausübung nicht mit einem unzumutbaren »sozialen Abstieg« verbunden ist (subjektive Zumutbarkeit). Welche Verweisungstätigkeiten dem Versicherten sozial zumutbar sind, bestimmt sich nach dem qualitativen Wert seines bisherigen Berufs. Die Rechtsprechung hat für die Arbeiter- und Angestelltenberufe jeweils ein Mehrstufenschema entwickelt, in dem gleichwertige Berufstätigkeiten zu sog. Leitberufen zusammengefasst und hierarchisch geordnet sind. Bei Arbeitern wird unterschieden zwischen: (1) hochqualifizierten Facharbeitern und Facharbeitern mit Vorgesetztenfunktion, (2) Facharbeitern, (3) angelernten Facharbeitern und (4) ungelernten Arbeitern. Das Mehrstufenschema für Angestellte weist insgesamt sechs Stufen auf (siehe auch . Abb. 3.1). Zumutbar verwiesen werden kann ein Versicherter, gemessen am bisherigen Beruf, nur auf Tätigkeiten derselben oder der nächstniedrigeren Stufe. Ist eine solche Verweisung nicht möglich, liegt Berufsunfähigkeit vor. Die Höhe der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit beträgt die Hälfte der vollen Rente (Rentenartfaktor 0,5; § 67 Nr. 2 SGB VI).
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Befristung, Beginn, Wegfall und Entzug der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit z
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Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
Befristung
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden grundsätzlich auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn. Verlängerungen der Rente erfolgen für längstens drei Jahre nach Ablauf der vorherigen Frist (§ 102 Abs. 2 Sätze 1 bis 4 SGB VI). Die Rente kann auch auf kürzere Zeiträume befristet werden, wenn die maßgebliche Erwerbsminderung in dieser Zeit behoben werden kann. Arbeitsmarktbedingte Erwerbsminderungsrenten werden stets auf Zeit geleistet. Allein aus medizinischen Gründen bewilligte Renten werden grundsätzlich als Zeitrenten geleistet, unbefristet dann, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Dies ist dann anzunehmen, wenn aus ärztlicher Sicht bei Betrachtung des bisherigen Krankheitsverlaufs nach medizinischen Erkenntnissen auch unter Berücksichtigung noch vorhandener therapeutischer Möglichkeiten eine Besserung auszuschließen ist, durch die sich eine rentenrelevante Steigerung der qualitativen und/ oder quantitativen Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ergeben würde. Nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren wird vermutet, dass eine künftige Besserung unwahrscheinlich ist (§ 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI). Bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen kann eine Erwerbsminderungsrente auch während einer Leistung zur Teilhabe gezahlt werden. Werden Leistungen zur Teilhabe erbracht, ohne dass zum Zeitpunkt der Bewilligung feststeht, wann die Leistung enden wird, kann bestimmt werden, dass die Erwerbsminderungsrente mit Ablauf des Kalendermonats endet, in dem die Leistung zur Teilhabe beendet wird (§ 102 Abs. 2a SGB VI). Die Befristung erfolgt also ohne Angabe eines kalendermäßig bestimmten Enddatums. z
Beginn
Unbefristete Renten werden bei rechtzeitiger Antragstellung von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind (§ 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Befristete Renten werden hingegen frühestens ab Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet (§ 101 Abs. 1 SGB VI). In solchen Fällen haben ggf. andere Leistungsträger ihre Leistungen bis zum Ende des sechsten Kalendermonats weiter zu zahlen, z. B. die Krankenkassen das Krankengeld. z
Wegfall und Entzug
Befristete Renten enden mit Zeitablauf; eine Verlängerung der Rente muss gesondert beantragt und bewilligt werden.
Der Bescheid über eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit kann nach § 48 SGB X aufgehoben und damit die Rente entzogen werden, wenn aufgrund einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bescheids vorgelegen haben, die Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit nicht mehr vorliegt. Dies gilt für Zeit- und Dauerrenten. Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen kann sich beispielsweise ergeben durch eine Besserung des Gesundheitszustands, die Erlangung eines geeigneten/leistungsrechten Arbeitsplatzes oder durch den Erwerb neuer Qualifikationen. Liegt bei dem Empfänger einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nur noch teilweise Erwerbsminderung vor, so wird die Rente in eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung umgewandelt. Um die Änderung der Verhältnisse festzustellen, sind u. a. die medizinischen Befunde, die der Rentenbewilligung zugrunde lagen, mit denen am Tag der Überprüfung zu vergleichen. Nur wenn sich die Änderung zwischen diesen beiden Zeitpunkten ereignet hat, liegt eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse vor. War der Rentenempfänger schon bei der Rentenbewilligung nicht oder nicht mehr erwerbsgemindert, so war der Rentenbescheid rechtswidrig und kann nur im engen Rahmen des § 45 SGB X zurückgenommen werden. Das ist z. B. bei einer Fehldiagnose der Fall. Von Seiten der Gerichte werden hohe Anforderungen an das Vorliegen entziehungsrelevanter Sachverhalte gestellt. Auch deshalb hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, dass Erwerbsminderungsrenten im Regelfall zu befristen sind. Anlässlich der Entscheidung über die Verlängerung einer Zeitrente können die gesundheitlichen Verhältnisse nochmals geprüft werden. z
Umwandlung in Altersrente
Erwerbsminderungsrenten werden längstens bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze geleistet. Danach ist von Amts wegen die Regelaltersrente zu leisten (§ 115 Abs. 3 SGB VI). Für Versicherte, die vor 1947 geboren wurden, liegt die Regelaltersgrenze bei 65 Jahren. Die Regelaltersgrenze wird aufgrund des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes beginnend mit dem Jahrgang 1947 im Zeitraum 2012 bis 2029 schrittweise vom 65. auf das 67. Lebensjahr angehoben.
Verfahrensfragen z
Antragsprinzip
Renten der gesetzlichen Rentenversicherung werden nur auf Antrag erbracht. Der Rentenversicherungsträger entscheidet anhand der eingereichten Unterlagen, Befundberichte oder weiterer Gutachten, ob und welche Leistungen gewährt werden. Nach dem Grundsatz »Reha vor Rente«
21 1.2 · Renten
werden stets zunächst Möglichkeiten zur Rehabilitation geprüft. z
Umdeutung eines Antrags auf Leistungen zur Teilhabe in einen Rentenantrag
War (nur) ein Antrag auf Leistungen zur Teilhabe gestellt worden, kann dieser in einen Rentenantrag umgedeutet werden, wenn der Versicherte vermindert erwerbsfähig ist und 4 sich bereits bei Prüfung des Antrags auf Leistungen zur Teilhabe ergibt, dass ein Erfolg einer solchen Leistung nicht zu erwarten ist (§ 116 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI) oder 4 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben durchgeführt worden sind, diese die verminderte Erwerbsfähigkeit aber nicht verhindert haben (§ 116 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI). Die Umdeutung eines Antrags auf Leistungen zur Teilhabe in einen Rentenantrag bedarf grundsätzlich der Zustimmung des Versicherten. Wenn er die Rente nicht anknüpfend an den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe, sondern erst ab einem späteren Zeitpunkt beziehen will, kann er einer Umdeutung widersprechen und einen späteren Zeitpunkt als Rentenbeginn wählen. Dies geschieht häufig dann, wenn noch ein Anspruch auf höheres Krankengeld oder höheres Arbeitslosengeld besteht, der noch ausgeschöpft werden soll. z
Einschränkung der Dispositionsfreiheit
Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung hat Vorrang gegenüber einem Anspruch auf Krankengeld oder Arbeitslosengeld. Wird einem Versicherten, der zunächst Krankengeld oder Arbeitslosengeld bezogen hat, rückwirkend eine volle Erwerbsminderungsrente bewilligt, hat die Krankenkasse bzw. Agentur für Arbeit gegen den Rentenversicherungsträger einen Anspruch auf Erstattung der von ihr erbrachten Leistungen, maximal in Höhe der Rentennachzahlung. Krankenkasse und Agentur für Arbeit können den Versicherten unter bestimmten Voraussetzungen auffordern, innerhalb einer bestimmten Frist einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen. Kommt der Versicherte dieser Aufforderung nicht nach, entfällt bzw. ruht nach Ablauf der Frist der Anspruch auf Kranken- bzw. Arbeitslosengeld (§ 51 Abs. 1, 3 SGB V; § 125 Abs. 2 SGB III). Der Antrag eines vermindert Erwerbsfähigen auf Leistungen zur Teilhabe kann nach Maßgabe des § 116 Abs. 2 SGB VI als Antrag auf Rente gelten. Daher können Krankenkasse und Agentur für Arbeit durch eine Aufforderung nach § 51 Abs. 1 SGB V, § 125 Abs. 2 SGB III Einfluss auf den Beginn der Erwerbsminderungsrente nehmen und da-
mit einen frühzeitigen Wegfall des Anspruchs auf Krankengeld/Arbeitslosengeld bewirken. Krankenkasse und Agentur für Arbeit haben also ein Druckmittel, um die Versicherten in die Leistungszuständigkeit der Rentenversicherung zu überführen. Um den Krankenkassen/Agenturen für Arbeit diesen vom Gesetzgeber beabsichtigten Vorteil zu erhalten, ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts der Versicherte, der entsprechend der Aufforderung der Krankenkasse/Agentur für Arbeit einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe gestellt hat, hinsichtlich dieses Antrags in seiner Dispositionsfreiheit eingeschränkt: Nur noch mit Zustimmung der Krankenkasse/Agentur für Arbeit kann er den Antrag wirksam zurücknehmen oder seiner Umdeutung in einen Rentenantrag widersprechen. Die Dispositionsbefugnis ist im vorgenannten Sinne unter Umständen auch dann eingeschränkt, wenn der Versicherte von sich aus einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe gestellt hatte und die Krankenkasse/Agentur für Arbeit erst danach eine Aufforderung im Sinne des § 51 Abs. 1 SGB V, § 125 Abs. 2 SGB III ausspricht. Die Krankenkasse/Agentur für Arbeit hat bei der Frage, ob sie einer Disposition des Versicherten zustimmt, die berechtigten Interessen des Versicherten zu berücksichtigen. Überwiegt das Interesse des Versicherten an der Nichtinanspruchnahme der Rente das Interesse der Krankenkasse/Agentur für Arbeit an einer frühestmöglichen Rentenzahlung, muss letztere z. B. der Ablehnung einer Umdeutung durch den Versicherten und damit im Ergebnis einem späteren Rentenbeginn zustimmen. Die genannten Regelungen sollen gewährleisten, dass die Versicherten nicht nach Belieben die Leistungen der verschiedenen Sozialversicherungszweige in Anspruch nehmen, sondern so früh wie möglich Leistungen von dem für sie vorrangig zuständigen Träger erhalten. Dies ist für erwerbsgeminderte Rentenversicherte die gesetzliche Rentenversicherung. z
Mitwirkung des Antragstellers
Dem Antragsteller obliegen im Rentenverfahren Mitwirkungspflichten. Er muss z. B. alle entscheidungserheblichen Tatsachen angeben und sich auf Verlangen des Rentenversicherungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungen unterziehen. Kommt der Antragsteller Mitwirkungspflichten nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann die beantragte Rente – wenn ihre Voraussetzungen nicht nachgewiesen sind – versagt werden (§§ 60 bis 67 SGB I). Ausführlich wird auf die Mitwirkung des Versicherten in 7 Kap. 2.2 eingegangen.
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Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
Widerspruch und Klage
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Das Rentenverfahren endet mit Erlass eines schriftlichen Bescheides. Ist der Antragsteller mit der Entscheidung nicht einverstanden, kann er den Bescheid durch den Rentenversicherungsträger in einem förmlichen Verfahren, dem Widerspruchsverfahren, überprüfen lassen. Der Widerspruch muss innerhalb eines Monats – bei fehlender oder unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung innerhalb eines Jahres – nach Bekanntgabe des Bescheides erhoben werden. Begründet ist der Widerspruch, soweit der angefochtene Bescheid rechtswidrig ist. Die Rechtswidrigkeit kann insbesondere auf der falschen Anwendung von Rechtsnormen oder auf der unzulänglichen Ermittlung oder fehlerhaften Bewertung der entscheidungserheblichen Tatsachen beruhen. Ist der Widerspruch ganz oder teilweise begründet, wird ihm im Umfang der Begründetheit abgeholfen. Soweit der Widerspruch unbegründet ist, wird er mit einem Widerspruchsbescheid ganz oder teilweise zurückgewiesen. Binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides kann der Versicherte beim zuständigen Sozialgericht Klage erheben. Es ist nicht möglich, ohne vorheriges Widerspruchsverfahren zu klagen. Das Widerspruchsverfahren hat nämlich nicht nur den Zweck, dem Versicherungsträger eine Eigenkontrolle zu ermöglichen, es dient auch und vor allem der Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit. Erhebt der Versicherte keinen Widerspruch, wird der Bescheid mit Ablauf der Widerspruchsfrist bestandskräftig, d. h. die Entscheidung des Versicherungsträgers wird auf Dauer verbindlich. Ein bestandskräftiger Bescheid kann nur unter bestimmten, im SGB X geregelten Voraussetzungen zurückgenommen oder aufgehoben werden. Praktisch bedeutsam ist die Aufhebung des Rentenbescheids bei Besserung des Gesundheitszustands.
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1.2.2
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Weitere Rentenarten mit sozialmedizinischem Bezug
Altersrente für schwerbehinderte Menschen
Eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) können Versicherte erhalten, die die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben und die bei Beginn der Rente als schwerbehinderte Menschen anerkannt sind. Schwerbehindert sind Personen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens 50 (§ 2 Abs. 2 SGB IX). Das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden fest. Die Rentenversicherungsträger sind an deren Feststellung gebunden. Versicherte, die vor 1951 geboren sind, können nach einer Übergangsregelung eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen auch dann beziehen, wenn
sie bei Beginn der Rente berufs- oder erwerbsunfähig nach dem am 31.12.2000 geltenden Recht sind. Für Versicherte, die vor 1952 geboren wurden, liegt die reguläre Altersgrenze bei 63 Jahren und die Altersgrenze für den vorzeitigen, abschlagsbehafteten Rentenbezug bei 60 Jahren. Diese Altersgrenzen werden aufgrund des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes im Zeitraum 2012 bis 2029 beginnend mit dem Jahrgang 1952 schrittweise jeweils um zwei Jahre auf das 65. bzw. 62. Lebensjahr angehoben. Versicherte, die bereits am 01.01.2007 als schwerbehinderte Menschen anerkannt waren, vor dem 01.01.1955 geboren sind und vor dem 01.01.2007 mit ihrem Arbeitgeber Altersteilzeitarbeit vereinbart haben, sind nach einer Vertrauensschutzregelung von der Anhebung der Altersgrenzen ausgenommen. Die Altersgrenze für den abschlagsfreien Bezug der Altersrente für schwerbehinderte Menschen lag ursprünglich bei 60 Jahren. Von 2001 bis 2003 wurde sie schrittweise auf 63 Jahre angehoben. Nach einer in diesem Zusammenhang getroffenen Vertrauensschutzregelung können Versicherte, die vor dem 17.11.1950 geboren sind und am Stichtag 16.11.2000, das war der Tag der 3. Lesung des betreffenden Gesetzes im Deutschen Bundestag, schwerbehindert, berufs- oder erwerbsunfähig nach dem am 31.12.2000 geltenden Recht waren, bei Erfüllung aller Voraussetzungen weiterhin ab dem 60. Lebensjahr ohne Abschlag in Rente gehen. Dabei kommt es nicht auf das Datum der Anerkennung der Schwerbehinderung oder der Feststellung der Erwerbsminderung an, sondern auf das Vorliegen des entsprechenden Sachverhalts am Stichtag. Das bedeutet, dass in Einzelfällen noch bis zum Jahr 2013 nachträglich geprüft werden muss, ob eine Schwerbehinderung oder eine Erwerbsminderung am Stichtag bereits vorgelegen hatte. z
Große Witwen-/Witwerrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
In versicherungsrechtlicher Hinsicht setzen Hinterbliebenenrenten voraus, dass der Verstorbene zur Zeit seines Todes die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren zurückgelegt hatte oder ihm zu diesem Zeitpunkt eine Versichertenrente zustand. Eine große Witwen-/Witwerrente wird zunächst dann geleistet, wenn der hinterbliebene Ehegatte das 45. Lebensjahr vollendet hat. Diese Altersgrenze wird aufgrund des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes von 2012 bis 2029 stufenweise auf das 47. Lebensjahr angehoben. Vor dem 45. Lebensjahr haben Anspruch auf große Witwen-/ Witwerrente unter anderem hinterbliebene Ehegatten, 4 die erwerbsgemindert sind (§ 46 Abs. 2 SGB VI), 4 die vor dem 02.01.1962 geboren und berufsunfähig sind oder
23 1.3 · Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen
4 die am 31.12.2000 bereits berufsunfähig oder erwerbsunfähig waren und dies ununterbrochen sind (§ 242a Abs. 2 SGB VI).
1.3
Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen Uwe Chojetzki
Nach Ablauf des Sterbevierteljahres, in dem eine volle Rente gezahlt wird, beträgt die große Witwen-/Witwerrente 60 % der Rente des verstorbenen Versicherten. Im Falle der Wiederheirat entfällt der Anspruch auf Witwen-/ Witwerrente. Der überlebende Ehegatte erhält dann eine Abfindung in Höhe des zweifachen Jahresbetrags der weggefallenen Rente. Das Recht der Hinterbliebenenrenten wurde zum 01.01.2002 grundlegend reformiert. Die Änderungen kommen allerdings aufgrund langfristig wirkender Übergangsregelungen nur allmählich zum Tragen. Für Hinterbliebene, die von dem neuen Recht betroffen sind, ergeben sich u. a. folgende Änderungen: 4 Ein Anspruch auf Witwen-/Witwerrente setzt grundsätzlich voraus, dass die Ehe mindestens ein Jahr gedauert hat. Bei kürzeren Ehen wird vermutet, dass die Ehe geschlossen wurde, um eine Hinterbliebenenversorgung zu erlangen. Eine Rente wird nur geleistet, wenn diese Vermutung im Einzelfall widerlegt werden kann. 4 Die große Witwen-/Witwerrente beträgt nur noch 55 % der Versichertenrente. 4 Hinterbliebene, die Kinder erzogen haben, erhalten zur Witwen- oder Witwerrente einen Zuschlag. z
Waisenrente wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung
Kinder verstorbener Versicherter haben Anspruch auf Waisenrente (§ 48 SGB VI). Wenn noch ein unterhaltspflichtiger Elternteil lebt, wird eine Halbwaisenrente gezahlt; ist kein unterhaltspflichtiger Elternteil mehr vorhanden, eine wesentlich höhere Vollwaisenrente. Waisenrenten werden grundsätzlich bis zum 18. Geburtstag des Kindes geleistet. Unter anderem wenn die Waise wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, besteht der Anspruch längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres. Eine Behinderung im vorgenannten Sinne ist gegeben, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit der Waise mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher die Teilhabe der Waise am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 48 Abs. 4 SGB VI i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Entsprechende Behinderungen können auch durch Krankheiten bewirkt werden. Unter den Begriff »Behinderung« fallen dagegen keine Krankheiten, deren Verlauf sich auf eine im Voraus abschätzbare kurze oder längere Dauer beschränkt (sog. akute Krankheiten).
1.3.1
Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende umfasst Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Zu Letzteren gehört das Arbeitslosengeld II. Eine Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosengeld II ist die Erwerbsfähigkeit. Erwerbsfähig im Sinne des SGB II ist, »wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein« (§ 8 Abs. 1 SGB II). Diese Regelung lehnt sich an die Definition der vollen Erwerbsminderung in § 43 Abs. 2 SGB VI an. Als erwerbsfähig sind alle Personen anzusehen, die nicht voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI sind. Die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des SGB II richtet sich also nach rentenversicherungsrechtlichen Kriterien. Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind die Bundesagentur für Arbeit sowie die kreisfreien Städte und Kreise. Die Agentur für Arbeit hat festzustellen, ob der Arbeitsuchende erwerbsfähig ist. Der kommunale Träger, ein anderer Träger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre (z. B. ein Rentenversicherungsträger), oder die Krankenkasse, die bei Erwerbsfähigkeit Leistungen der Krankenversicherung zu erbringen hätte, können der Feststellung der Agentur für Arbeit widersprechen. Bis 2010 entschied im Widerspruchsfall eine gemeinsame Einigungsstelle. Die Einigungsstelle sollte eine einvernehmliche Entscheidung anstreben, zog im notwendigen Umfang Sachverständige hinzu und entschied mit der Mehrheit der Mitglieder (§§ 44a, 45 SGB II a. F.). Die Entscheidung der Einigungsstelle war für die an der Entscheidung beteiligten Träger bindend. Zum 01.01.2011 wurde das Einigungsstellenverfahren abgeschafft. Im Widerspruchsfall entscheidet seitdem die Agentur für Arbeit, nachdem sie eine gutachterliche Stellungnahme des nach § 109a Abs. 4 SGB VI zuständigen Rentenversicherungsträgers eingeholt hat. Die Agentur für Arbeit ist bei der Entscheidung über den Widerspruch an das Gutachten des Rentenversicherungsträgers gebunden. Die gutachterliche Stellungnahme zur Erwerbsfähigkeit bindet darüber hinaus alle Leistungsträger nach dem SGB II, SGB III, SGB V, SGB VI und SGB XII (§ 44a SGB II). Die Rentenversicherung hat mit der Bundesagentur für Arbeit eine Verfahrensvereinbarung über die Zusammenarbeit bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit von
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Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung
Arbeitsuchenden im Sinne des SGB II getroffen. Sie zielt darauf ab, den Aufwand für alle Beteiligten zu begrenzen, insbesondere unnötige Doppeluntersuchungen und unterschiedliche Beurteilungen der Leistungsfähigkeit von Arbeitsuchenden zu vermeiden. Wenn im Einzelfall die Leistungsfähigkeit von Arbeitsuchenden, die die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente erfüllen, unterschiedlich beurteilt wird, sollen diese Divergenzen zwischen den ärztlichen Diensten der Agentur für Arbeit und des Rentenversicherungsträgers erörtert und möglichst ausgeräumt werden. Nach der Erörterung entscheidet der Rentenversicherungsträger abschließend über den Rentenantrag. Die Arbeitsagentur erkennt die im Rentenverfahren abgegebene ärztliche Stellungnahme als für sich verbindlich an. Diese Regelungen haben zur Folge, dass bei den genannten Arbeitsuchenden ein förmlicher Widerspruch des Rentenversicherungsträgers gegen die Feststellung der Agentur für Arbeit zur Erwerbsfähigkeit regelmäßig entfällt.
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1.3.2
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 bis 46 SGB XII)
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Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist eine steuerfinanzierte, Bedürftigkeit voraussetzende Leistung zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts älterer und dauerhaft voll erwerbsgeminderter Personen. Sie wurde 2003 eingeführt und war zunächst in einem eigenen Gesetz geregelt. Zum 01.01.2005 wurde die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in das Sozialhilferecht (SGB XII) integriert und ist seitdem eine besondere Leistung der Sozialhilfe. Anspruch auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung haben u. a. bedürftige Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage, also aus medizinischen Gründen, voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI sind und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann (§ 41 Abs. 1 und 3 SGB XII). Ob eine Person aus medizinischen Gründen dauerhaft voll erwerbsgemindert ist, prüft und entscheidet auf Ersuchen des Sozialhilfeträgers der zuständige Rentenversicherungsträger. Die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers ist für den ersuchenden Sozialhilfeträger bindend. Wurde bereits in einem Rentenverfahren oder bei einer Begutachtung nach § 44a SGB II zur Erwerbsfähigkeit (siehe 7 Abschn. 1.3.1) eine dauerhafte volle Erwerbsminderung festgestellt, entfällt eine erneute Prüfung des Leistungsvermögens (§ 45 SGB XII, § 109a Abs. 2 und 4 SGB VI).
Die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung entsprechen weitestgehend den Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 bis 40 SGB XII). Ein wesentlicher Unterschied zur Hilfe zum Lebensunterhalt besteht darin, dass Unterhaltsansprüche gegenüber Kindern oder Eltern unberücksichtigt bleiben, sofern deren jährliches Gesamteinkommen unter 100.000 Euro liegt. Mit dieser Regelung soll »verschämter Altersarmut« entgegengewirkt werden. Ältere Menschen machten in der Vergangenheit Sozialhilfeansprüche oft nicht geltend, um einen Rückgriff des Sozialhilfeträgers auf unterhaltspflichtige Kinder zu vermeiden. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist primär für die dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen von Bedeutung, die die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung nicht erfüllen. Für Rentenberechtigte kommt ein (ergänzender) Bezug von Grundsicherungsleistungen dann in Betracht, wenn die Rente wegen voller Erwerbsminderung den notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des SGB XII nicht vollständig deckt. 1.3.3
Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII)
Die gesetzliche Unfallversicherung hat die Aufgabe, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten und nach Eintritt eines Versicherungsfalls die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Versicherten wiederherzustellen (insbesondere durch Heilbehandlung, Leistungen zur Teilhabe) und ihn oder seine Hinterbliebenen zu entschädigen (insbesondere durch Verletzten- und Hinterbliebenenrenten). Verletztenrenten werden gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge eines Versicherungsfalls (Arbeitsunfall oder Berufskrankheit) länger als 26 Wochen um mindestens 20 % gemindert ist. Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Fähigkeit des Versicherten, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) richtet sich nach dem Umfang der verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Höhe der Verletztenrente hängt ab vom Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit und dem Jahresarbeitsverdienst vor dem Eintritt des Versicherungsfalls. Bei völligem Verlust der Erwerbsfähigkeit wird eine Jahresrente in Höhe von 2/3 des Jahresarbeitsverdienstes gezahlt (Vollrente). Bei einer geringeren Erwerbsminderung wird der Teil der Vollrente gezahlt, der dem Grad der Erwerbsminderung entspricht
25 Weiterführende Literatur
(Teilrente), wobei für die Feststellung des Grads der Erwerbsminderung nur Minderungen von wenigstens 10 % zu berücksichtigen sind. Die Verletztenrente orientiert sich mit der Anknüpfung an den Jahresarbeitsverdienst, anders als die Erwerbsminderungsrente der gesetzlichen Rentenversicherung, nicht an dem Einkommensniveau des gesamten Erwerbslebens, sondern am aktuellen Einkommen des Versicherten. Neben einem Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung kann zugleich ein Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestehen. In diesem Fall wird die Erwerbsminderungsrente insoweit nicht geleistet, als die Summe der zusammentreffenden Rentenbeträge einen bestimmten Grenzbetrag übersteigt (§ 93 SGB VI). Die Verletztenrente wird also in voller Höhe geleistet, auf die Erwerbsminderungsrente wird ggf. der Betrag angerechnet, der den Grenzbetrag übersteigt. Mit der Absenkung der Erwerbsminderungsrente soll einer »Überversorgung« begegnet werden.
Weiterführende Literatur Ruland F: Rentenversicherung, in: von Maydell B, Ruland F, Becker U (Hrsg.) Sozialrechtshandbuch. S. 801–875. Baden-Baden: Nomos Verlag, 4. Auflage, 2008 Seidel E: Das Rentenversicherungsrecht – Die gesicherten Risiken, in: von Maydell B, Ruland F (Hrsg.) Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung. Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag, 1990 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, VDR (Hrsg.): Die Erwerbsminderungsrente, Grundsätze der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV) 2002, S. 81–213
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Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungsund Sozialgerichtsverfahren Marion Schneider 2.1
Der medizinische Sachverständige – 28
2.1.1
2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.1.8 2.1.9 2.1.10 2.1.11 2.1.12 2.1.13
Die Aufklärung des Sachverhalts – Aufgabe von Verwaltung und Rechtsprechung – 28 Sachverständiger und sachverständiger Zeuge – Abgrenzungen und Begriffsbestimmungen – 28 Funktion und Bedeutung von Sachverständigengutachten – Kriterien für die Auswahl von Sachverständigen – 29 Die Beauftragung des Sachverständigen – 30 Die Pflicht zur Begutachtung – 32 Weigerungsgründe – 33 Sachverständiger und Proband – 33 Die Ablehnung des Sachverständigen – 33 Rechte und Pflichten des Sachverständigen – 34 Grenzen der Kompetenz – 34 Formen der Erstellung von Gutachten – 35 Der Aufbau des schriftlichen Sachverständigengutachtens – 36 Unabhängigkeit des Gutachters – 37
2.2
Die Mitwirkung des Versicherten – 38
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.2.8 2.2.9
Ausgangslage – 38 Amtsermittlung – 38 Die Rolle des Versicherten – 38 Die Rolle des Sachverständigen – 39 Übersicht über die Mitwirkungspflichten – 39 Aufklärungspflichten – 39 Grenzen der Mitwirkung – 40 Mitwirkung bei Untersuchungen – 40 Mitwirkung bei Behandlung und medizinischer und beruflicher Rehabilitation – 41 Folgen fehlender Mitwirkung – 42 Praktisches Vorgehen – 42 Relevante Gesetzestexte (SGB I) – 42
2.1.2
2.1.3
2.2.10 2.2.11 2.2.12
Literatur – 43 D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 2 · Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren
2.1
Der medizinische Sachverständige
2.1.1
Die Aufklärung des Sachverhalts – Aufgabe von Verwaltung und Rechtsprechung
Die Behörden im Bereich der Sozialverwaltung und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben den Sachverhalt in eigener Zuständigkeit von Amts wegen aufzuklären, ohne an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten gebunden zu sein (§ 20 SGB X, § 103 SGG). Sozialverwaltung wie Sozialgerichte müssen daher von sich aus alle Möglichkeiten zur Klärung entscheidungserheblicher Tatsachen ausschöpfen. Die Verwaltung z. B. darf also nicht etwa nur die vom Antragssteller vorgebrachten Angaben berücksichtigen. Vielmehr liegt die Verantwortung für die erforderliche Sachaufklärung bei der Verwaltung selbst. Ergibt sich ein Anhalt für das Vorliegen einer anspruchsbegründenden gesundheitlichen Beeinträchtigung, haben Verwaltung bzw. Sozialgericht dem von Amts wegen nachzugehen. Lässt z. B. ein beigezogener Arztbrief die Möglichkeit offen, dass der eine Erwerbsminderung geltend machende Antragsteller an einer bislang noch nicht bekannten Erkrankung leidet, die ihrerseits für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit und damit des Anspruchs erheblich sein könnte, hat die Verwaltung diesbezüglich zu ermitteln, ggf. ein Gutachten einzuholen. Bei ihren Ermittlungen sind Verwaltung und Sozialgerichte nicht auf bestimmte Beweismittel beschränkt, sondern vielmehr zu Ermittlungen jeder Art befugt. Die Verwaltung als Teil der Exekutive wie die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben den Sachverhalt umfassend aufzuklären. Als Mittel zur Sachaufklärung können sowohl von Verwaltung wie Sozialgericht in weitem Umfang medizinische Unterlagen aus ambulanter und stationärer Behandlung und Akten bzw. Unterlagen anderer Sozialleistungsträger und sonstiger Stellen beigezogen werden. Sozialgerichte und ihnen zuvor die Verwaltung können Auskünfte aller Art einholen; sie können von Ärzten Befundberichte anfordern. Außerdem besteht in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit – nach Lage des Falles ggf. auch die Pflicht – Beteiligte anzuhören. Dies ist ein oftmals unentbehrliches Mittel zur Sachaufklärung. Zur Durchführung der Amtsermittlung zählt nicht zuletzt, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen oder schriftliche Gutachten einzuholen. Festzuhalten bleibt: Mögen Verwaltung und Rechtsprechung im Verfassungsgefüge des sozialen Rechtsstaats unterschiedliche Funktionen wahrnehmen und sich insoweit unterscheiden, sind beide in gleicher Weise an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Dieser Bindung folgend sind sowohl die Verwaltung als auch die Gerich-
te verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären und dabei ein Höchstmaß an Sorgfalt aufzuwenden. Insoweit besteht kein Unterschied darin, ob ein medizinisches Sachverständigengutachten für eine Verwaltungsentscheidung (z. B. Rentenantrag) erforderlich ist oder der richterlichen Beurteilung dient. Soweit sich gleichwohl einzelne Unterschiede im Verfahrensablauf und Verfahrensinhalt zwischen den im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten gegenüber sozialgerichtlich in Auftrag gegebenen Gutachten ergeben mögen, wird darauf gesondert eingegangen. Hinzuweisen bleibt darauf, dass gerade auch im Verwaltungsverfahren Gutachten nicht »parteiisch« zu erstellen sind. Das Verwaltungsgutachten hat die gleiche finale Funktion zur Sachaufklärung wie das Gerichtsgutachten. Gutachten aus Verwaltungsverfahren stellen keine »Parteigutachten« dar. Hier wie dort beantwortet der beauftragte Sachverständige die Beweisfragen, die ihm gestellt werden, als Arzt nach »bestem Wissen und Gewissen«. 2.1.2
Sachverständiger und sachverständiger Zeuge – Abgrenzungen und Begriffsbestimmungen
Der Arzt ist jeweils für diejenigen Bereiche seines Gebietes als Sachverständiger anzusehen, in denen er besondere Kenntnisse und Erfahrungen besitzt. In dieser Funktion gibt er gegenüber dem gerichtlichen, behördlichen oder auch privaten Auftraggeber eine Beurteilung aus Tatsachen auf Grund seiner besonderen Sachkunde und der Fragestellung der Beweisanordnung ab. Die hier relevanten »Tatsachen« sind die Befunde, die er in der Regel durch selbst ausgeführte Untersuchungen erhoben und unter Berücksichtigung der Dokumente und Befunde etwaiger früherer Untersuchungen ausgewertet hat. Lediglich bei reinen Aktengutachten stehen dem Sachverständigen neben dem Akteninhalt als »Tatsachen« nur die Dokumente und Befunde früherer Untersuchungen zur Verfügung. Darüber hinaus bleibt auf die Abgrenzungsproblematik gegenüber dem Zeugen und dem sachverständigen Zeugen hinzuweisen. Zeuge, sachverständiger Zeuge und Sachverständiger sind nach den einzelnen Prozessund Verfahrensordnungen jeweils Beweismittel (vgl. die §§ 373 ff., 402 ff. und 414 ZPO, § 118 SGG, § 98 VwGO, § 21 SGB X, §§ 46 Abs. 2 und 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, §§ 72 ff. StPO). Der Zeuge bekundet sein – zumeist zufällig erlangtes – Wissen über bestimmte Tatsachen. Demgegenüber gibt der Sachverständige dem Richter auf Grund seiner besonderen Qualifikation und der Nutzung seines Wissens, seiner Erfahrungen und der Fachliteratur eine Bewertung der ihm vorliegenden »Tatsachen«, seien diese
29 2.1 · Der medizinische Sachverständige
nun eigene Untersuchungen oder Voruntersuchungen, unter Berücksichtigung der Aktenlage wieder, kraft derer dem Richter die Rechtsanwendung ermöglicht wird. Auch wenn das Gericht dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen darf, sondern zu prüfen hat, ob die gutachtlich getroffene Äußerung überzeugend ist, darf sich der Richter trotz der Notwendigkeit einer Beweiswürdigung und damit der richterlichen Bewertung einer gutachtlich getroffenen Äußerung nicht ohne eigene genügende Sachkenntnis über das Gutachten hinwegsetzen. Hat er ernsthafte Zweifel, muss er ggf. einen weiteren Sachverständigen zu der gleichen Frage bestellen. Die Entscheidung, welcher von mehreren voneinander abweichenden gutachterlichen Äußerungen zu folgen ist, gehört zu den schwierigsten, oft nicht objektiv lösbaren Problemen der Rechtsfindung. Im Unterschied zum Sachverständigen soll der sachverständige Zeuge seine ohne einen Zusammenhang mit einem gerichtlichen Auftrag gezogenen Wahrnehmungen bekunden und daraus Schlüsse ziehen. Klassischer Anwendungsfall ist die Übermittlung der bei dem jeweiligen Patienten bestehenden Befunde im Rahmen der Erstellung eines Befundberichts oder einer richterlichen Vernehmung über den Gesundheitszustand des Patienten. Damit nimmt der sachverständige Zeuge, wie bereits die bloße Wortbezeichnung erkennen lässt, eine Zwischenstellung zwischen Zeugen und Sachverständigen ein: 4 Sachverständige berichten über Erfahrungssätze ihrer Wissenschaft und ziehen daraus Schlussfolgerungen, sie vermitteln die bei ihnen gegebene besondere Sachkunde. 4 Sachverständige Zeugen bekunden dagegen allein Tatsachen oder Zustände, zu deren Wahrnehmung es der besonderen Sachkunde bedarf. Ein Arzt kann demnach, je nach Beauftragung, Sachverständiger oder sachverständiger Zeuge sein. Letztes wird dann anzunehmen sein, wenn vom Auftraggeber (Gericht bzw. Verwaltung) die Bekundung von Tatsachen verlangt wird, die er als Arzt kraft seiner medizinischen Sachkunde wahrgenommen hat; dann ist der Arzt als sachverständiger Zeugen berufen. Geht es dagegen darum, dass der Arzt – über die Bekundung von Tatsachen hinaus – aus medizinischen Erkenntnissen bestimmte Schlussfolgerungen ziehen soll, ist er als Sachverständiger beauftragt. Die Unterschiede ergeben sich vor allem in der verfahrensrechtlichen Stellung: Der sachverständige Zeuge ist gerade nicht Sachverständiger, sondern Zeuge. Auf ihn finden daher andere Rechtsregeln Anwendung als auf den Sachverständigen. So klar die Grenzziehung mithin ist, mag es Grenzfälle geben, in denen die Zuordnung nicht offensichtlich ist. Typisches Beispiel: Der behandelnde Arzt, der einen Behandlungs- und Befundbericht abgibt,
ist sachverständiger Zeuge. Wird er außerdem aufgefordert, zum Leistungsvermögen seines Patienten oder zu Fragen der Rehabilitationsfähigkeit Auskunft zu geben, kann er, soweit von ihm besondere Kenntnisse und Erfahrungen und wissenschaftliche Erfahrungssätze in Bezug auf die konkrete Beauftragung eingesetzt werden müssen, unabhängig von der Auftragsbezeichnung als Sachverständiger anzusehen sein. Soweit sich für den beauftragten Arzt im Einzelfall Zweifel ergeben, ob eine Beauftragung als Sachverständiger oder als sachverständiger Zeuge vorliegt, ist ihm anzuraten, mit dem Auftraggeber (Verwaltung bzw. Gericht) vor der Wahrnehmung des Auftrags Rücksprache zu halten. 2.1.3
Funktion und Bedeutung von Sachverständigengutachten – Kriterien für die Auswahl von Sachverständigen
Gerade in sozialrechtlichen Angelegenheiten und damit namentlich im Zusammenhang mit Ansprüchen, die gegen gesetzliche Rentenversicherungsträger erhoben werden, kann nur ein begrenzter Teil der Verfahren ohne die Erhebung von Gutachten abgeschlossen werden. Die sich am medizinischen Sachverstand ausrichtende Beurteilung des Bestehens etwa einer Erwerbsminderung als Voraussetzung für die Zuerkennung eines entsprechenden Rentenanspruchs oder die Prognose für die Wiedereingliederung als Voraussetzung für die Geltendmachung eines Anspruchs auf medizinische Rehabilitation erfordern vielfach eine (sozial)medizinische Begutachtung. Es bleibt darauf hinzuweisen: Die Beurteilung von Ansprüchen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung erfordert weithin die Erstattung von medizinischen Sachverständigengutachten. Die damit aufgeworfene Frage, welche Ärzte als geeignete Sachverständige im Einzelfall in Betracht kommen, obliegt dem Auftraggeber und damit der Verwaltung bzw. den Sozialgerichten. Nicht jeder Arzt ist für alle Bereiche seines Faches per se als Sachverständiger anzusehen. Er ist vielmehr in der Regel nur dann als Sachverständiger zu bestellen, wenn er auf dem aus dem Beweisbeschluss oder der Auftragsstellung hervorgehenden Teil seines Gebietes durch besondere Kenntnisse und Erfahrungen ausgewiesen ist. Die Wahl geeigneter Sachverständiger unter diesen Gesichtspunkten ist eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe für den Richter und die Verwaltung gleichermaßen. Dem Gutachter kommt die Aufgabe zu, im Rahmen der Diagnostik unter Einsatz der hierfür geeigneten Untersuchungsmethoden Befunde zu erheben und zu beurteilen sowie auf Grund der Aktenlage und seiner Untersuchungsergebnisse die Fragestellungen der Beweis-
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Kapitel 2 · Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren
anordnung so zu beantworten, dass dem Richter oder im weitesten Sinne dem Auftraggeber die Rechtsanwendung ermöglicht wird. Für sämtliche Aufgabenfelder benötigt der Sachverständige ein besonderes Fachwissen, das dem Auftraggeber fehlt. Verwaltung und Gerichte sind mangels eigener medizinischer Sachkunde nicht in der Lage, einen medizinischen Sachverhalt angemessen zu bewerten. In diesem Sinne ist der Sachverständige Helfer des Auftraggebers. Bei gerichtlicher Sachverständigentätigkeit wird diese besondere Beziehung zwischen Richter und Sachverständigem auch durch die Bestimmung unterstrichen, dass der Richter die Tätigkeit des Sachverständigen erforderlichenfalls zu leiten hat. Dies geschieht bei Gerichtsgutachten in der Regel ausschließlich durch den Inhalt des Beweisbeschlusses. Der Richter ist im Bereich der Medizin nicht ausgebildet. Er ist allerdings auf dem Gebiet der Medizin, denkt man nur an die Sozialgerichte, vielfach mit Halbwissen ausgestattet, welches jedoch die erforderliche Sachkunde nicht zu ersetzen vermag. Auch wenn die dem Richter im Einzelfall zugänglichen medizinischen Informationen geeignet sein mögen, im Rahmen der Beweisanordnung sachlich zutreffende Fragen zu stellen, fehlt ihm die hinreichende Sachkunde, die es ihm ermöglichen würde, ein Verfahren ohne die Einholung eines erforderlichen medizinischen Sachverständigengutachtens abzuschließen. Hieraus werden sowohl die Bedeutung des Gutachtens als auch die Stellung des Sachverständigen deutlich: Das Gutachten soll dem Auftraggeber zur Klärung eines medizinischen Sachverhaltes verhelfen, die ihm selbst mangels eigener Sachkunde nicht möglich ist. Nicht selten ergibt sich für den Sachverständigen auf Grund des Aktenstudiums und seiner Untersuchungsergebnisse auch die Notwendigkeit, eine Erweiterung der Beweisanordnungvorzuschlagen. Dem Probanden gegenüber, auch wenn dieser der Auftraggeber ist, nimmt der Sachverständige insofern eine andere Stellung als seinem Patienten gegenüber ein, als er bei dieser Aufgabe ausschließlich zu einer möglichst objektiven Bewertung nach pathologisch-anatomischen und funktionellen Gesichtspunkten verpflichtet ist und sich dabei nicht durch Vorstellungen und Äußerungen des Probanden beeinflussen lassen darf. Damit ist das Gutachten als die Anwendung besonderer medizinischer Erkenntnisse und Erfahrungen auf einen Einzelfall im Hinblick auf eine bestimmte, zumeist aus rechtlichen Gründen gebotene Fragestellung zu verstehen. Im Rahmen eines Sachverständigengutachtens hat der beauftragte Arzt aus Tatsachen und Sachverhalten, die sich aus den eigenen Untersuchungen oder den Akten einschließlich der Voruntersuchungen ergeben, mit Hilfe seiner besonderen Befähigung Schlussfolgerungen zu ziehen. Im Unterschied zum Befundbericht, der eine bloße Zustandsbeschreibung auf Grund von Unter-
suchungsergebnissen enthält, ist das ärztliche Gutachten dadurch gekennzeichnet, dass es auf Grund des von dem Urheber eingebrachten besonderen Kenntnis- und Erfahrungsschatzes eine wissenschaftlich begründete Schlussfolgerung enthält und die Fragen der Beweisanordnung beantwortet. 2.1.4
Die Beauftragung des Sachverständigen
Ein Arzt kann in unterschiedlichster Form als Sachverständiger beauftragt werden, etwa von einem privaten Auftraggeber (Privatperson, Versicherungsgesellschaft), einer Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer Staatsanwaltschaft. Im hier gegebenen Zusammenhang geht es um zwei Auftraggeber: Einerseits um die Beauftragung durch ein Sozialgericht, andererseits durch einen Rentenversicherungsträger. Im Verwaltungsverfahren und im Gerichtsprozess ist dem Sachverständigen eine im Wesentlichen gleiche Rolle zugewiesen. Gleichgültig, wer den Gutachtenauftrag erteilt hat, ob also der Versicherungsträger oder das Gericht: In beiden Fällen hilft der Sachverständige medizinischen Laien bei der Sachaufklärung, ordnet den medizinischen Sachverhalt und trägt im weitesten Sinne zur Wahrheitsfindung bei. Je nachdem, von wem er beauftragt ist, kommt ihm die Stellung eines medizinischen Helfers und Beraters entweder der Verwaltung oder des Gerichts zu. Der Sachverständige entscheidet damit nicht selbst, sondern trägt mit seinem medizinischen Fachwissen, seinen aus medizinischer Praxis gewonnenen Erfahrungen und seinem fachkundigen Rat dazu bei, dass die Verwaltung, im Streitfall das Gericht, die Entscheidung findet. In dieser Funktion gerät der Arzt als Sachverständiger allerdings leicht in Gefahr, mit einer Rolle versehen zu werden, die ihm gesetzlich nicht zukommt: Vielfach wird er zum eigentlichen Herrn des Verfahrens gemacht. So wird behauptet, in der heutigen Sozialordnung besäßen die Ärzte die Schlüssel, mit deren Hilfe sich Fächer zu Sozialleistungen vielfältiger Art öffnen ließen. Mit der Brille der Versicherten gesehen, ist diese Behauptung – so irrig sie ist – nicht einmal übertrieben, wenn man sich die Rolle vergegenwärtigt, die dem Arzt im Sozialstaat zufällt. An welche Sozialleistung oder soziale Vergünstigung man auch denkt, ob an Krankengeld oder Rente wegen Erwerbsminderung, ob an den Schwerbehindertenschutz oder an Rehabilitation, im Kern geht es immer darum: Krankheit ist Merkmal von gesetzlichen Tatbeständen, aus denen sich Rechtsansprüche gegen Sozialleistungsträger ableiten. Wo der Bürger aus Krankheitsgründen eine Sozialleistung beantragt, überall begegnet er dem Arzt, von dessen Beurteilung aus
31 2.1 · Der medizinische Sachverständige
seiner Sicht viel, wenn nicht alles abhängt. Für ihn liegt der Gang zum medizinischen Sachverständigen stets vor der Entscheidung über seinen Leistungsantrag. In dieser Situation ist es nicht verwunderlich, dass er den medizinischen Sachverständigen für denjenigen hält, der das letzten Endes entscheidende Wort spricht. Rechtlich jedoch liegt die Entscheidungskompetenz allein bei der Verwaltung oder beim Gericht. Der Sachverständige muss deshalb nicht nur bei seinen Gesprächen mit dem zu Begutachtenden, sondern auch in seiner gutachtlichen Aussage den Eindruck vermeiden, als sei er es, der entscheidet, ob die beantragte Sozialleistung zusteht. Er muss vor allem darauf bedacht sein, medizinische und außermedizinische Kompetenzen nicht zu verwischen.
Gutachten im Auftrag eines Sozialgerichts Bereits die Benennung als »Gerichtsgutachten« weist aus, dass der Auftraggeber des Sachverständigen ein Gericht ist. Zwischen diesem und dem Sachverständigen besteht ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis, das seine rechtlichen Grundlagen in den einschlägigen Prozessordnungen findet. Das Sozialgerichtsgesetz (SGG) als maßgebliche Grundlage für den sozialgerichtlichen Gutachtensauftrag verweist dazu auf die Vorschriften des Zivilprozessrechts (vgl. § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG; §§ 402 ff. ZPO). Auf diese Vorschriften wird im Folgenden abgestellt. Anders als im Verwaltungsverfahren stehen sich im Rechtsstreit der erfolglos gebliebene Antragsteller als Kläger und der Rentenversicherungsträger als Beklagter gegenüber. Sie sind damit Parteien eines Streitfalles (»Beteiligte«; vgl. § 69 SGG), zwischen denen in prozessualer Hinsicht »Waffengleichheit« herrscht. Aus diesem Grund zeichnet sich das gerichtliche Prozessrecht durch Formstrenge aus (§§ 402 bis 414 ZPO). Auftraggeber des Sachverständigen ist immer das Gericht, niemals eine Partei oder ein Beteiligter eines Verfahrens. Der gerichtlich beauftragte Sachverständige ist daher gegenüber dem Prozessbeteiligten niemals – weder gegenüber dem Kläger noch dem Rentenversicherungsträger – vertraglich gebunden. Er unterliegt ausschließlich einem als öffentlich-rechtliches Vertragsverhältnis zu beurteilenden Rechtsverhältnis gegenüber dem beauftragenden Gericht. Dies ist keine unnötige Förmlichkeit, sondern beruht im Gegenteil auf der besonderen Rolle, die dem Gericht gegenüber den Prozessbeteiligten obliegt. Der Richter ist der Unparteilichkeit verpflichtet. Er muss jeden Eindruck der Parteilichkeit vermeiden, etwa dergestalt, dass der Versicherungsträger mit seinen Gutachten eine bevorrechtigte Stellung einnähme. Vielmehr hat der Richter den gesamten Prozessstoff und damit auch die im Verwaltungsverfahren beigezogenen Gutachten ebenso unparteiisch und neutral zu würdigen wie das Vorbringen der Beteiligten.
Die Beauftragung des Sachverständigen erfolgt durch Beweisbeschluss des Gerichtes (§ 118 SGG sowie die § 404 i. V. m. § 358 ZPO). Beweisbeschlüsse sind nach Beweisthema, Beweismittel und Beweisführer gegliedert. Der Sachverständige ist an die Fragestellung im Rahmen des Beweisthemas gebunden. Er sollte sich an die mit dem Beweisthema abgesteckten sachlichen Grenzen der Begutachtung streng halten. Eine Auftragsüberschreitung des mit dem Beweisbeschluss gezogenen Rahmens ist dem Sachverständigen verwehrt. Sollte sich eine Unklarheit oder offenkundige Lücke im Rahmen des – von einem Nichtmediziner verkündeten – Beweisbeschlusses ergeben, so empfiehlt sich die unmittelbare Rückfrage gegenüber dem Gericht. Das Gericht bestellt eine bestimmte Person als Gutachter. Gerade wegen der Pflicht zur persönlichen Gutachtenerstattung kommt die Beauftragung einer Klinik oder einer Institution als solcher nicht in Betracht. Für das sozialgerichtliche Verfahren besteht die Besonderheit, dass der Kläger gem. § 109 SGG die Einholung eines Gutachtens bei einem von ihm bestimmten Sachverständigen beantragen kann. Das Sozialgericht hat dem grundsätzlich nachzukommen. Dies ändert aber nichts daran, dass das Gericht (und nicht der den Antrag i. S. d. § 109 SGG stellende Kläger) Auftraggeber ist. § 118 SGG i. V. m. § 407a Abs. 2 ZPO verbietet, dass der Sachverständige den ihm vom Gericht erteilten Gutachtenauftrag auf einen anderen Arzt überträgt. Daher muss auch der gerichtliche Beweisbeschluss klar erkennen lassen, welche Person zum Sachverständigen ernannt wird. Dieser Sachverständige – und nur er – hat die Pflicht, das Gutachten vorzubereiten und zu erstellen. Das Gericht will gerade seine Antwort zu dem mit seiner Hilfe aufzuklärenden medizinischen Sachverhalt hören, nicht die eines anderen. Selbstverständlich darf er zur Vorbereitung des Gutachtens Hilfskräfte hinzuziehen; er ist jedoch gesetzlich verpflichtet, seine Hilfskräfte namhaft zu machen und den Umfang ihrer Tätigkeit anzugeben, soweit sie nicht bloß Dienste »von untergeordneter Bedeutung« geleistet haben (§ 407a Abs. 2 ZPO). Der Sinn aller dieser Beweisvorschriften liegt darin, dem gerichtlich bestellten Sachverständigen eine unabhängige, über den streitenden Parteien stehende Stellung zu sichern. Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, dass dem Sachverständigen eine herausragende Bedeutung bei der prozessualen Wahrheitsfindung zukommt: Das Sozialgericht bedient sich, wie z. B. auch die Zivil- oder Strafgerichte, des Sachverständigen zur Entscheidungsfindung. Die deshalb gegebene Notwendigkeit einer Kooperation zwischen dem Sachverständigen und dem Gericht ist evident. Der medizinische Sachverständige sollte sich allerdings verdeutlichen, dass er im Verhältnis zum Gericht nicht selbst zur rechtlichen Bewertung berufen ist. Er
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Kapitel 2 · Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren
ist und bleibt vielmehr dessen Gehilfe. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass die Sozialgerichte, die vielfach über medizinische Sachverhalte zu befinden haben, auf die Mithilfe des medizinischen Sachverständigen angewiesen sind. Auch wenn sich das Gericht im Rahmen einer Sachverständigenbestellung dem Gutachter nicht ausliefern und damit die Aufgabe der Entscheidungsfindung nicht auf diesen übertragen darf, bleibt dennoch hervorzuheben, dass ein Gericht nur selten von gutachterlich getroffenen Bewertungen abweichen wird. Gerade dies verdeutlicht die Verantwortung des Sachverständigen.
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Gutachten im Auftrag eines Rentenversicherungsträgers
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Von Versicherungsträgern und Gerichten werden gleiche Beweismittel mit dem gleichen Ziel eingesetzt, den Sachverhalt aufzuklären und eine Entscheidung zu finden. Auch dem Rentenversicherungsträger obliegt es, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 20 SGB X; 7 Abschn. 2.2.1). Dieser Rechtspflicht folgend, hat sich der Rentenversicherungsträger der Beweismittel zu bedienen, die er nach seinem pflichtgemäßen Ermessen für erforderlich hält. Damit hat er auch die Möglichkeit, nach Lage des Falles aber auch die Rechtspflicht, »Sachverständige zu vernehmen« oder »die schriftliche Äußerung von Sachverständigen einzuholen« (vgl. § 21 Abs. 1 SGB X). Gerade bei der Einholung von Gutachten auf der Verwaltungsebene besteht hinsichtlich des Formzwanges allerdings ein Unterschied zu den Gerichtsgutachten. Zwar kann der Verwaltungsträger den Sachverständigen sowohl in einem »nichtförmlichen« als auch einem »förmlichen« Verwaltungsverfahren heranziehen. Allerdings besteht für den Bereich des Sozialrechts der Grundsatz der »Nichtförmlichkeit« des Verwaltungshandelns (vgl. § 9 SGB X). Der Versicherungsträger ist folglich nicht an derart strenge Verfahrensregeln gebunden wie die Gerichte. Art und Umfang der Ermittlungen werden im Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt (§ 20 Abs. 1 SGB X). Dem Versicherungsträger ist gesetzlich die Aufgabe übertragen, den Sachverhalt mit dem Ziel zu ermitteln, Entscheidungsreife herbeizuführen. Dabei bedient er sich der Beweismittel, die er für erforderlich hält; insbesondere kann er Zeugen und Sachverständige vernehmen. Der insoweit einschlägige § 21 SGB X stellt eine Vorschrift dar, die einen Bogen zum gerichtlichen Prozessrecht der ZPO schlägt. Dies bedeutet, dass dem von der Verwaltung erteilten Gutachtenauftrag nicht dieselbe Förmlichkeit zukommt wie dies für die gerichtliche Beauftragung gilt. Doch muss auch er zumindest das Beweisthema klar festlegen, also bestimmte Beweisfragen enthalten. Die Vorschrift, dass der Gutachtenauftrag nicht auf einen anderen Arzt übertragbar ist, gilt zwar nicht. Trotzdem ist es nicht in das
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freie Belieben des beauftragten Arztes gestellt, einen Auftrag kurzerhand weiterzuleiten.
2.1.5
Die Pflicht zur Begutachtung
Gegenüber den Gerichten und damit auch in sozialgerichtlichen Angelegenheiten ist der Arzt gesetzlich verpflichtet, Gutachten zu erstellen. Voraussetzung ist, dass er gerichtlich zum Sachverständigen bestellt worden ist (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 407 ZPO). Dieser Begutachtungspflicht kann sich der Arzt, aus der besonderen Stellung seines Berufes folgend, nur schwer entziehen (vgl. §§ 406, 408, 411 ZPO). Demgemäß hat der medizinische Sachverständige einem gerichtlichen Auftrag zur Gutachtenerstattung Folge zu leisten, soweit ihm nicht ein Gutachtenverweigerungsrecht zusteht; vergleiche hierzu 7 Abschn. 2.1.6. Unabhängig davon wird aber das Gericht – dem Grundsatz der Kooperation entsprechend – auch im eigenen Interesse den Sachverständigen von der Pflicht zur Gutachtenerstattung entbinden, wenn dieser z. B. arbeitsüberlastet ist oder auch den Probanden zuvor selbst behandelt hat. Dem beauftragten Sachverständigen ist anzuraten, solche, die Gutachtenerstellung verzögernde oder gar hindernde Gründe dem Gericht anzuzeigen. Der Griff zum Telefon schadet ihm ebenso wenig wie zuvor dem Richter, der einen Gutachter, ohne diesen zu kennen, möglicherweise erstmals beauftragt. Im Verwaltungsverfahren besteht eine vergleichbare Verpflichtung ausdrücklich dann, wenn die Erstattung eines Gutachtens unverzichtbar ist, um zu entscheiden, ob ein Leistungsanspruch entstanden, eine Sozialleistung zu erbringen, fortzusetzen oder zu entziehen ist, ruht oder wegfällt oder in welcher Höhe sie zusteht (vgl. zum Ganzen § 21 Abs. 3 SGB X). Wegen der Verweisung auf § 407 ZPO können Ärzte dieser Begutachtungspflicht auch im Verwaltungsverfahren nur schwer ausweichen. Sie haben, wie § 407 ZPO dies apodiktisch ausdrückt, »der Ernennung Folge zu leisten«. Bei grundloser Weigerung, den Gutachtenauftrag zu erfüllen, können sogar – im Verwaltungsverfahren allerdings nicht vom Versicherungsträger, sondern nur auf dessen Antrag vom zuständigen Sozialgericht – Zwangsmittel eingesetzt werden (§ 22 SGB X). Auch hier gilt: Ebenso wie mit den Sozialgerichten sollte der beauftragte Arzt mit dem Auftraggeber auf der Grundlage einer vertrauensvollen Zusammenarbeit kooperieren. Die vorstehenden Regeln gelten im Verwaltungsverfahren namentlich für beauftragte externe Ärzte. Für die dem Versicherungsträger angehörenden Ärzte beruht die Begutachtungspflicht entweder auf dienstrechtlicher Grundlage (Beamte) oder sie ergibt sich aus arbeitsvertraglichen Pflichten (Angestellte). Darüber hinaus ver-
33 2.1 · Der medizinische Sachverständige
weist § 21 Abs. 3 SGB X generell für Sachverständige, gleichgültig in welchen Rechtsbeziehungen sie zum Versicherungsträger stehen, auf Vorschriften der Zivilprozessordnung über 4 das Recht, ein Gutachten zu verweigern (§ 408), 4 die Ablehnung von Sachverständigen (§ 406) und 4 die Vernehmung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes (§ 408 Abs. 2).
2.1.6
Weigerungsgründe
Zur Verweigerung der Erstattung eines Gutachtens ist der Sachverständige aus gleichen Gründen wie ein Zeuge berechtigt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. den Bestimmungen der ZPO). Die ZPO zählt im Einzelnen namentlich verwandtschaftliche Beziehungen und sonstige sachliche Gründe auf. Außerdem ist dem Versicherungsträger wie dem Gericht die Möglichkeit eingeräumt, den Sachverständigen aus Zweckmäßigkeitsgründen von seiner Begutachtungspflicht zu entbinden, z. B. bei beruflicher Überlastung oder bei Fehlen der erforderlichen speziellen Sachkunde. Ein Weigerungsrecht zur Gutachtenerstattung besteht auch, wenn der medizinische Sachverständige der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen würde (§ 408 Abs. 1 i. V. m. §§ 383 ff. ZPO). Liegen solche Hinderungsgründe vor, sollte der Sachverständige seinem Auftraggeber unverzüglich Mitteilung geben und zugleich um Freistellung von dem Gutachtenauftrag nachsuchen. Gerade hierbei ist dem Sachverständigen die enge Kooperation mit dem Gericht anzuraten. Verweigert der von einem Gericht bestellte Sachverständige die Auftragsübernahme ohne entsprechenden Grund, teilt er eine persönliche Verhinderung zur Gutachtenerstattung dem Gericht nicht unverzüglich mit oder lässt er gesetzte Abgabefristen ohne wichtigen Grund verstreichen, so steht dem Gericht das Recht zur Erteilung einer Ordnungsstrafe in der Form eines Ordnungsgeldes zu. Die Entscheidung ist beschwerdefähig.
2.1.7
Sachverständiger und Proband
Wie eingangs dargelegt, ist der Sachverständige, sei er sozialgerichtlich oder von einem Rentenversicherungsträger beauftragt, der Objektivität und Neutralität unbedingt verpflichtet. Nicht zu verkennen ist allerdings, dass der medizinische Sachverständige – ob nun im Verwaltungs- oder im Gerichtsverfahren – eine schwierige Doppelrolle einnimmt, denn er ist Arzt und Gutachter zugleich. Wie für jeden Arzt gilt damit auch für ihn der Pflichtenkreis der
ärztlichen Berufsordnung, und zwar uneingeschränkt. Diese Doppelfunktion verlangt im Rahmen des Gutachtenauftrags Bemühungen, die Gesundheit des Probanden zu schützen, nicht zu gefährden und eine Gesundung des Gutachtenpatienten nicht zu behindern. Der prozessrechtlichen Eidesformel des § 410 ZPO folgend, die auch im sozialgerichtlichen Verfahren (§ 118 SGG) und dem Verwaltungsverfahren (§ 21 SGB X) gilt, hat der Sachverständige sein Gutachten 4 unparteiisch und 4 nach bestem medizinischen Wissen und ärztlichen Gewissen zu erstellen. Dies verlangt im Verhältnis des Sachverständigen gegenüber dem Probanden nach Neutralität. Es sei daran erinnert, dass die Erstellung des Gutachtens der Klärung eines medizinischen Sachverhalts dient. Zu dieser medizinischen Klärung ist der Auftraggeber mangels eigener medizinischer Kompetenz nicht in der Lage und daher insoweit auf den Sachverständigen angewiesen. Daher nimmt der Arzt als Sachverständiger dem Probanden gegenüber insofern eine andere Stellung als seinem Patienten gegenüber ein, als er bei dieser Aufgabe ausschließlich zu einer möglichst objektiven Bewertung nach pathologisch-anatomischen und funktionellen Gesichtspunkten verpflichtet ist. Dies gilt selbst in den Fällen, in denen der Proband – z. B. bei der Einholung eines Privatgutachtens – der Auftraggeber ist. Der Sachverständige darf sich dabei ebensowenig durch Vorstellungen und Äußerungen des Probanden wie im Verhältnis zu Dritten beeinflussen lassen. Er ist bei der Wahrnehmung seiner gutachtlichen Aufgabe nicht an Weisungen gebunden und nur seinem ärztlichen Gewissen unterworfen.
2.1.8
Die Ablehnung des Sachverständigen
Der gerichtliche wie der von der Verwaltung beauftragte Sachverständige kann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 406 ZPO und § 60 SGG). Besorgnis der Befangenheit setzt das Vorliegen eines Grundes voraus, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Aber auch dem Sachverständigen selbst steht ein Recht auf Selbstablehnung zur Seite (§ 48 ZPO). Beispiele für Ablehnungsgründe: Freundschaft zum Sachverständigen oder Zwistigkeiten mit ihm; unsachliche oder gar beleidigende Bemerkungen während der Untersuchung oder im Gutachten; erkennbar einseitige Parteinahme zugunsten eines Prozessbeteiligten, im Verwaltungsverfahren zu Ungunsten des Gutachtenpatienten; frühere Erstattung eines Privatgutachtens in derselben Sache; noch andauernde Behandlung als Patient des zum Sachverständigen bestellten Arztes; Ausstellung eines
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Kapitel 2 · Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren
Attestes mit Stellungnahme zu dem durch Gutachten zu klärenden Sachverhalt. Keine Ablehnungsgründe: Mangel an Sachkunde; Fehler bei der Begutachtung; Tätigkeit als Sachverständiger in früheren, inzwischen beendeten Verfahren; abgeschlossene ärztliche Behandlung, besonders in einer Klinik. Für die Vernehmung von Beamten und sonstigen Personen des öffentlichen Dienstes als Sachverständige gelten Vorschriften entweder des Bundes- oder Landesbeamtenrechts oder für die im Angestelltenverhältnis tätigen Ärzte (§ 408 Abs. 2 ZPO), namentlich aus zwei Blickpunkten: 4 der Amtsverschwiegenheit und 4 der Nebentätigkeit besonders bei externer Begutachtung.
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Fallgestaltungen sind z. B. die besondere Nähe zu einem Beteiligten aus persönlichen oder beruflichen Gründen, vor allem aber die Abgabe unbesonnener und vorschneller Erklärungen des Sachverständigen über den vermutlichen Prozessausgang.
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2.1.9
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Rechte und Pflichten des Sachverständigen
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Allgemein unterliegt der Sachverständige denselben Sorgfaltspflichten wie der privatrechtlich beauftragte. Demgemäß hat er nach dem geltenden ärztlichen Berufsrecht mit der notwendigen Sorgfalt zu verfahren und nach bestem Wissen und Gewissen seine ärztliche Überzeugung auszusprechen. Darüber hinaus ergeben sich in Folge der richterlichen Bestellung des Sachverständigen besondere prozessualen Pflichten (vgl. § 118 SGG i. V. m. § 407a ZPO). So ist er z. B. zum Erscheinen vor Gericht verpflichtet, wenn ihn das Gericht zu einer mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladen hat. Eine Delegation des Sachverständigen an einen Mitarbeiter ist unzulässig und steht dem Nichterscheinen vor Gericht gleich. Dieses wird in diesen Fällen ein Ordnungsgeld verhängen. Grundlage für den prozessualen Pflichtengehalt ist namentlich § 407a ZPO, dessen Zielsetzung darin liegt, im Gerichtsprozess die Zusammenarbeit zwischen Sachverständigen, Richtern und Prozessbeteiligten zu verbessern sowie eine rasche und trotzdem richtige Erledigung von Rechtsstreitigkeiten zu fördern. Daraus ergeben sich vor allem die folgenden Pflichten: 4 Der Sachverständige hat unverzüglich zu prüfen, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt und erledigt werden kann, ohne weitere Sachverständige hinzuzuziehen. 4 Er ist nicht befugt, den Auftrag auf einen anderen zu übertragen, hat die Personen, deren Mitarbeit er sich
bedient, namhaft zu machen und den Umfang ihrer Tätigkeit anzugeben. 4 Hat er Zweifel an Inhalt und Umfang des Auftrages, so hat er unverzüglich eine Klärung durch das Gericht herbeizuführen. 4 Auf Verlangen des Gerichts hat er Akten und sonstige zur Begutachtung beigezogene Unterlagen sowie Untersuchungsergebnisse unverzüglich herauszugeben oder mitzuteilen. 4 Das Gericht wiederum soll den Sachverständigen auf diese seine Pflichten hinweisen. Im Verwaltungsverfahren ergeben sich für den Sachverständigen der Sache nach keine wesentlichen Unterschiede. Zwar verweist § 21 Abs. 3 SGB X nicht unmittelbar auf § 407a ZPO. Gleichwohl unterliegt der Sachverständige auch beim Rentenversicherungsträger einem allgemeinen Pflichtenkatalog: 4 Unverzügliche Prüfung der eigenen Fachkunde zur Erfüllung gerade dieses Gutachtenauftrags. 4 Keine Weiterleitung eines persönlich gebundenen Auftrags ohne Zustimmung des Versicherungsträgers. 4 Unverzügliche Klärung von Zweifeln an Inhalt und Umfang des Auftrags. 4 Rückgabe von Akten und sonstigen Unterlagen an den Versicherungsträger zusammen mit dem fertiggestellten Gutachten.
2.1.10
Grenzen der Kompetenz
Es versteht sich von selbst, dass der Sachverständige, sei er in gerichtlichem oder im Auftrag der Verwaltung tätig, streng darauf zu achten hat, bei der Erarbeitung der gutachtlichen Bewertungen seine Fachkompetenz nicht zu überschreiten, andernfalls eine Haftung die Folge sein kann. Der Sachverständige sollte daher stets darauf bedacht sein, weder seine medizinische Fachkompetenz noch den Rahmen seines Gutachtenauftrags zu überschreiten. Der Gutachtenauftrag ist Expertenauftrag, aber eben nur für das Gebiet, auf dem der Sachverständige Experte ist: das Gebiet der Medizin. Ärztliche Gutachten sind Hilfsmittel bei der Sachaufklärung. Der Sachverständige hilft der Verwaltung oder dem Gericht auf dem Wege zum Ziel, eine Entscheidung zu finden. Diese auf das vorbereitende Stadium des Verfahrens beschränkte Funktion macht die Grenzen seiner Kompetenz deutlich. Sofern Sachkunde und Erfahrungen des Sachverständigen daher nicht ausreichen, sollte er beim Auftraggeber des Gutachtens anregen, die offenen nichtmedizinischen Fragen selbst zu klären. Notfalls kann – und muss – er eine gutachtliche Aussage ablehnen. Er darf sich nicht, nur
35 2.1 · Der medizinische Sachverständige
weil er als Gutachter befragt wird, eine Antwort abringen, die nicht stichhaltig ist und die er mit gutem Gewissen nicht zu geben vermag. Die Aufgabe, Sachaufklärung zu betreiben und schließlich eine Entscheidung zu treffen, ist gesetzlich nicht ihm, sondern dem Versicherungsträger und im Rechtsstreit dem Gericht übertragen (§ 20 SGB X, § 103 SGG). Das Reichsversicherungsamt (RVA) hat zu diesem Fragenkomplex frühzeitig in einem Rundschreiben vom 31.12.1901 klar und eindeutig Stellung genommen (Amtliche Nachrichten 1902, S. 178): »Die ärztlichen Gutachten haben den Zweck, dass mit Hilfe der ärztlichen Wissenschaft festgestellt wird, woran der Rentenbewerber leidet und inwiefern er durch diese Leiden an dem freien Gebrauch seiner körperlichen und geistigen Kräfte behindert wird. Die alsdann noch offene Frage, ob die festgestellten Leiden und deren Auswirkungen auf den Kräftegebrauch die Fähigkeit zu einem hinreichenden Arbeitsverdienst zulassen, liegt nicht auf ärztlichem Gebiet, hierüber haben die rechtsprechenden Instanzen nach ihrer freien richterlichen Überzeugung zu entscheiden.« Diese Feststellungen haben der Sache nach auch heute noch uneingeschränkt Geltung. Sie finden in der Praxis jedoch trotz gleichlautender Hinweise des Bundessozialgerichts (vgl. BSGE 9, 206; BSG Sozialrecht 2200 § 1247 Nr. 12) oft zu geringe Beachtung. Ärzte dürfen es sich daher nicht gefallen lassen, auf außermedizinisches Gebiet gedrängt zu werden. Sie sind keine Sachverständigen für allgemeine Fragen zum Arbeits- und Erwerbsleben. Bei Anträgen auf Rente wegen Erwerbsminderung erstrecken sich ihre Aufgaben darauf, die gesundheitlichen Verhältnisse festzustellen und danach die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu beurteilen. Gutachtliche Aussagen zur Leistungsfähigkeit für bestimmte Berufstätigkeiten setzen spezielle arbeitsmedizinische Fachkenntnisse voraus. Gewiss mag es Berufe geben, über die sich jedermann ein zutreffendes Bild machen kann. Auch bieten einige Sammlungen zur Berufskunde einen Anhalt. Bei zahlreichen Berufen liegt aber nicht offen zutage, welche Anforderungen sie stellen. Für Verwaltungsverfahren gilt, jedenfalls im Ausgangspunkt, die gleiche Regel wie für Gerichtsverfahren: Der Mediziner sollte sich hüten, sich als Sachverständiger zu weit auf nichtmedizinische Gebiete vorzuwagen. Die im unaufhörlichen Wandel begriffene Arbeitswelt verlangt eine gleiche Mobilität und Aktualität von berufskundlichen Aussagen. Berufe geraten in den Sog des technischen Wandels, viele verschwinden völlig, noch mehr verändern sich, andere entstehen neu. Wer berufliche Leistungsanforderungen verlässlich beurteilen möchte, muss die körperlichen und psychischen Belastungen und Beanspru-
chungen kennen, die aus realen Arbeitsbedingungen der heutigen Industriegesellschaft hervorgehen. Häufig wird es genügen, in Sammlungen zur Berufskunde Einblick zu nehmen. Doch wird es immer wieder Fälle geben, in denen auch solche Sammlungen nicht weiterhelfen. Der von einem Versicherungsträger beauftragte Sachverständige ist gleichwohl freier gestellt als im Gerichtsprozess, weil das Verwaltungsverfahren weniger förmlich verläuft. Daher steht es ihm auch frei, den für die medizinische Beurteilung wesentlichen Sachverhalt zu vervollständigen, wenn er Lücken im Tatsachenstoff findet. Soweit er es für zweckmäßig und sinnvoll hält, ist er ohne weiteres befugt, sachdienliche Erkundigungen einzuziehen und z. B. mit Hilfe dazu geeigneter Stellen Leistungsanforderungen in Berufen zu klären, die ihm nicht oder nicht genau genug bekannt sind.
2.1.11
Formen der Erstellung von Gutachten
Sachverständigengutachten werden ganz überwiegend als schriftliches Gutachten erstattet. Der Auftraggeber hat damit eine bleibende Entscheidungshilfe, die im Rahmen einer nur mündlichen Äußerung fehlt. Gerade im gerichtlichen Bereich werden nahezu ausschließlich schriftliche Gutachten eingeholt. Soweit – in wenigen Fällen – ein Richter im Einzelfall auch einen »Termingutachter« bevorzugen mag, ist davon abzuraten. Oftmals ist in diesen Fällen der Aussagewert solcher Gutachten mangels Vorhandenseins der erforderlichen technischen Ressourcen vor Ort (also im Gericht) oder auch nur wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nur sehr begrenzt. Unabhängig davon ist die Notwendigkeit des schriftlichen Vorliegens einer gutachtlichen Äußerung offensichtlich. Insbesondere der Richter hat mit einem schriftlich erstatteten Gutachten die Möglichkeit einer hinreichenden Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung. Daher legen die einschlägigen Prozessordnungen die Möglichkeit der richterlichen Anordnung einer schriftlichen Begutachtung nahe (vgl. nur § 411 ZPO für den Zivilprozess). Hinzuweisen ist auf die Notwendigkeit einer mündlichen Erläuterung des schriftlichen Gutachtens, die im Einzelfall in Betracht kommen kann. Der Richter z. B. hat im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens zu beurteilen, ob das Erscheinen des Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung erforderlich ist. Die Anordnung wird in den Fällen notwendig, in denen Zweifel oder Unklarheiten zu beseitigen sind. Die mündliche Erläuterung des schriftlichen Gutachtens kann die Möglichkeit bieten, die bereits vorhandene schriftliche Ausarbeitung mündlich zu verfestigen – ggf. aber auch zu korrigieren.
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Kapitel 2 · Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren
Wie bereits dargelegt (Termingutachten), lassen die einschlägigen Verfahrensbestimmungen die Erstattung eines mündlichen Gutachtens zu (vgl. § 411 ZPO, § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, § 98 VwGO, § 82 und 161a StPO sowie § 26 VwVfG und 21 SGB X). Das mündliche Gutachten kann geeignet sein, Missverständnisse und offen erscheinende Fragen sofort zu klären. Nachteilig gegenüber dem schriftlichen Gutachten sind indessen die mögliche Ungenauigkeit und letztlich die denkbare Missdeutung des gesprochenen Wortes. Da insbesondere in Gerichtsverhandlungen nur sehr begrenzte Zeit zur Verfügung steht, ist die Möglichkeit einer ungenauen mündlichen Darstellung evident. Zudem sind die Prozessbeteiligten oftmals nicht in der Lage, in der zur Verfügung stehenden Zeit ihre Fragen vollständig anzubringen. Mündliche Gutachten sollten daher die Ausnahme bleiben, zumal sie sich für die Bewertung komplizierter Sachverhalte kaum eignen dürften. In sozialrechtlichen Fragestellungen kommen oft »Begutachtungen nach Lage der Akten« vor. Insoweit eröffnen § 21 SGB X und § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG auch die Möglichkeit, von einer Untersuchung des Probanden abzusehen, so dass dessen Untersuchung nicht zum Auftragsinhalt zählt. Der jeweilige Auftraggeber, z. B. das Sozialgericht, stellt bei der Erteilung eines Gutachtenauftrages zumeist klar heraus, ob eine Untersuchung des Probanden in ambulanter oder stationärer Form zu erfolgen hat. Gleichwohl wird zur Vorsicht geraten: Wird dem Sachverständigen deutlich, dass in der Beweisanordnung nicht vorgesehene zusätzliche Untersuchungen notwendig sind oder dass die Bestellung weiterer Sachverständiger aus anderen Gebieten erforderlich erscheint, so muss er das Einverständnis des Auftraggebers sofort nach Eingang des Gutachtenauftrages, noch vor Durchführung der Untersuchung einholen. Wird eine stationäre Untersuchung vom Sachverständigen für erforderlich gehalten, obwohl der Auftraggeber nur eine ambulante Untersuchung vorgegeben hat, bedarf es ebenfalls einer vorherigen Zustimmung durch den Auftraggeber. Hinzuweisen bleibt auf folgende weitere Verfahrenskonstellationen: Die Verwaltung und die Gerichte können ggf. ein weiteres Gutachten einholen. Hierbei ist für den Auftraggeber der Sachverhalt mit einem bereits vorliegenden Gutachten nicht hinreichend geklärt. In diesem Falle wird der Auftraggeber einen anderen Sachverständigen heranziehen und von diesem ein neues – weiteres – Gutachten einholen, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, das Erstgutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgegangen oder in sich widersprüchlich ist oder wenn dem neuen Sachverständigen auf neuen wissenschaftlichen oder technischen Erkenntnissen beruhende Forschungsmittel zur Verfügung stehen. In einem solchen Fall hat sich der be-
auftragte (weitere) Sachverständige mit dem bis dahin angefallenen Prozessstoff auseinanderzusetzen. Von einem »Obergutachten« sollte weder hierbei noch im Ganzen gesprochen werden. Dieses Wort ist den Verfahrensbestimmungen fremd. Ein prozessualer Begriff des »Obergutachtens« existiert schlicht nicht. Schließlich bleibt auf die Besonderheit hinzuweisen, dass ein Gutachten auch als »gemeinschaftliches« bzw. als »Teamgutachten« zu erstellen ist. Auch hier gilt, dass bei Unklarheiten hinsichtlich der Auftragserteilung bzw. des Auftragsinhalts vor Ausführung Rücksprache mit dem Auftraggeber gehalten werden sollte. 2.1.12
Der Aufbau des schriftlichen Sachverständigengutachtens
Wie dargelegt, dürfte das schriftliche Gutachten der Regelfall sein. Verwertbarkeit und auch Überzeugungskraft des Gutachtens steigen in dem Maße, wie der Verfasser eines Gutachtens dieser Ausgangslage Rechnung trägt. In diesem Sinne stellt ein Gutachten das Bindeglied zwischen medizinischem und juristischem Sachverstand dar. Daher sollte das Gutachten nicht ausschließlich von medizinischer Fachsprache geprägt, sondern von einer für den medizinisch unkundigen Leser verständlichen Ausdrucksform getragen sein. Unerlässlich sind folgende Einzelheiten über die Auftragserteilung: 1. Auftraggeber (Geschäftszeichen) und Datum der Auftragserteilung 2. Bestellung des Sachverständigen 3. Auftragsgegenstand 4. Präzise Wiedergabe des Auftragsinhalts (Beweisfragen) 5. Gedrängte Wiedergabe des Akteninhalts 6. Objektive Befundung 7. Beantwortung der Beweisfragen 8. Ggf. Literaturverzeichnis z Einzelheiten Anknüpfungstatsachen. Für Gerichtsverfahren schreibt
§ 404a ZPO vor, dass das Gericht bestimmt, welche Tatsachen der Sachverständige seiner Beurteilung zugrunde legen soll, soweit der Sachverhalt noch nicht eindeutig feststeht. Dies gilt auch für das Verwaltungsverfahren. Bei einem eindeutigen Sachverhalt reicht es aus, auf den Akteninhalt zu verweisen. Freilich muss auch dabei Klarheit herrschen. Der Sachverständige hat nicht die Aufgabe, sich mühsam aus Akten zusammenzusuchen, welcher Sachverhalt für ihn wohl erheblich sein könnte. Grundsätzlich hat das Gericht ihm den gesamten Tatsachenstoff für das Gutachten zu liefern, die Tatsachen kenntlich zu
37 2.1 · Der medizinische Sachverständige
machen, auf denen das Gutachten aufbauen soll (sog. »Anknüpfungstatsachen«).
deutungsinhalt Klarheit zu verschaffen. Erst dann wird das Gutachten im Rahmen der von dem Gutachter zu treffenden Folgerungen überhaupt verwertbar.
Befundtatsachen. Die Befunde (»Befundtatsachen«) hat
der Sachverständige selbst zu ermitteln. Darunter werden die Wahrnehmungen verstanden, die nur er – kraft seiner medizinischen Sachkunde – machen kann. Er ist also berechtigt und verpflichtet, Informationen mit dem Ziel einzuholen, sich die medizinische Grundlage für seine gutachtliche Beurteilung zu schaffen. Solche Befundtatsachen werden vor allem in die Anamnese aufgenommen, der je nach dem Gutachtenthema besonderes Gewicht zukommt. Den Beweisfragen angepasst, muss sie, soweit im Einzelfall erforderlich, eine sachgemäße Sozial-, Berufsund Arbeitsanamnese umfassen. Andererseits ist es im Übrigen Aufgabe des Gerichts bzw. der Verwaltung, den über das medizinische Aufgabenfeld hinaus reichenden Tatsachenstoff zu klären. Es fällt also in den Bereich des Auftraggebers, z. B. Ermittlungen zur vollständigen Sachaufklärung zu führen und die dazu erforderliche Verwaltungsarbeit zu leisten, die ohne medizinische Sachkunde erledigt werden kann (vgl. auch § 20 SGB X). Zu dieser Aufgabe gehört es, die Sache zur Begutachtung so vorzubereiten, dass sie gewissermaßen »arztreif« wird. Untersuchung. Soweit der Gutachtenauftrag nicht auf eine Erstattung nach Aktenlage begrenzt ist, sondern sich – wie im Regelfall – auf eine Untersuchung des Probanden erstreckt, muss das Gutachten sowohl über die eingesetzten Untersuchungsverfahren und deren Dokumentation als auch über die Ergebnisse der Untersuchung berichten. Es muss insbesondere erkennen lassen, ob und in welchem Maße der Gutachter Hilfskräfte zur Ausführung einzelner Untersuchungen herangezogen hat. Folgerungen. Als Bindeglied zwischen Auftragserteilung und dem von dem Gutachter gewonnenen Ergebnis muss das Gutachten die Folgerungen aus den der Begutachtung zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen (Akteninhalt) und der gutachtlichen Untersuchung aufweisen. Neben einer exakten Beantwortung der Fragestellung sollte das Gutachten auch kenntlich machen, ob dem Sachverständigen eine Fragestellung als nicht hinreichend aufklärbar erscheint. Insbesondere bei der Frage nach dem Bestehen oder Nichtbestehen von Ursachenzusammenhängen sollte das Gutachten von Vorsicht getragen sein. Je nach Rechtsgebiet kann dem Begriff des Ursachenzusammenhangs ein unterschiedlicher Bedeutungsgehalt zuteil werden. Dem Sachverständigen ist hier dringend anzuraten, sich bei Unklarheiten mit dem Auftraggeber, meist einem Gericht, in Verbindung zu setzen, um sich über den genauen Be-
Zusammenfassung. Die Begutachtung sollte mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse abgeschlossen werden, die die Fragestellung beantwortet. Das Gutachten schließt mit der Unterschrift des Sachverständigen. Es ist eigenhändig von dem Sachverständigen zu unterschreiben. Ihm ist zu empfehlen, die Versicherung abzugeben, das Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstattet zu haben.
2.1.13
Unabhängigkeit des Gutachters
Im Verwaltungsverfahren, außerhalb einer mündlichen Verhandlung aber auch im gerichtlichen Verfahren, ist der Arzt oft der einzige, der dem Probanden persönlich gegenübertritt. Gerade unter diesem Blickwinkel trifft ihn eine besondere ärztliche Verantwortung. In seiner Stellung als Sachverständiger obliegt ihm nicht lediglich die dem Arzt schlechthin zukommende Aufgabe der Krankheitserkennung und -behandlung. Gerade wegen des ihm zugewiesenen Auftrags, kraft seiner besonderen Qualifikation, seiner Erfahrung und seines besonderen Fachwissens dem Auftraggeber (Verwaltung oder Gericht) die Rechtsanwendung – mithin die Entscheidung über einen Antrag oder eines Rechtsstreits – überhaupt erst zu ermöglichen, ist ihm eine Rolle zugewiesen, die in erster Linie Unparteilichkeit verlangt. Die dem Sachverständigen übertragene besondere Aufgabe schließt sowohl einseitiges Engagement zu Gunsten des Probanden als auch zu Gunsten der Verwaltung aus. Wer dem Gutachtenpatienten ein – falsch verstandenes – »Wohlwollen« entgegenbringt, verfehlt ebenso den Gutachtenauftrag wie derjenige Sachverständige, der seine Rolle in der des »Entscheiders« sieht. Richtig ist allein, dass der Sachverständige jedem Eindruck von Parteilichkeit entgegenwirken muss. In diesem Verständnis erweist sich die Stellung des Sachverständigen als die eines Unabhängigen: Der Sachverständige hat sein Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen zu erstellen. Daran ändert sich auch nichts, wenn sein Auftraggeber Art und Umfang der sachverständigen Tätigkeit anleitet. Dies ist Folge der sich aus dem jeweiligen Sachverhalt ergebenden Fragestellungen, ändert aber an der fachlichen Unabhängigkeit und der Eigenverantwortung des Sachverständigen nichts.
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Kapitel 2 · Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren
2.2
Die Mitwirkung des Versicherten
2.2.1
Ausgangslage
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Maßgebend für die gerichtliche Überprüfung ist der vom Kläger behauptete Anspruch, das »Klagebegehren«. Der Kläger bestimmt mit seinem Vorbringen, ob und in welchem Umfang er seinen Streitfall mit der Verwaltung durch das Gericht entscheiden lassen will. Das Gericht entscheidet insoweit »über die vom Kläger erhobenen Ansprüche« (§ 123 SGG), ohne jedoch an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Dabei ist es eine der wichtigsten Aufgaben des Richters gerade im sozialgerichtlichen Verfahren, in dem in besonders großer Zahl rechtlich unerfahrene Bürger auftreten, das Klagevorbringen sachgerecht zu würdigen, den mutmaßlichen Willen des Klägers zu erforschen und darauf hinzuwirken, dass sachdienliche Klageanträge gestellt werden. Auch im Verwaltungsverfahren geht es darum, dass die Behörde, hier der Rentenversicherungsträger, über einen vom Versicherten geltend gemachten Anspruch zu befinden hat. In diesem Sinne finden die vorstehenden Darlegungen sinngemäß Anwendung. Auch hier geht es darum, dass die Verwaltung überwiegend einem in sozialrechtlichen Belangen oft unerfahrenen Antragsteller gegenübersteht. Die gesetzliche Rentenversicherung gewährt unter anderem auf Antrag Sozialleistungen nach Maßgabe des SGB VI, z. B. Rehabilitationsleistungen oder Renten wegen Erwerbsminderung. Ob die Antragsteller einen Anspruch auf eine Leistung aus der Rentenversicherung haben, diese noch zu Recht beziehen oder ob der »Leistungsfall« nicht gegeben ist, setzt eine Ermittlung des Sachverhaltes voraus. Sowohl die Sozialversicherungsträger als auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben daher die Aufgabe, den Sachverhalt vollständig aufzuklären. Alle für die Entscheidung erheblichen Tatsachen sind zu ermitteln.
2 2.2.2
Amtsermittlung
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Anders als insbesondere im zivilgerichtlichen Verfahren unterliegen die Verwaltungen der Sozialleistungsträger und die Sozialgerichte bei der Beurteilung über die jeweils geltend gemachten Ansprüche der Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Die der Amtsermittlung verpflichtete Behörde – damit auch der Rentenversicherungsträger – bestimmt daher sowohl die Art als auch den Umfang der Ermittlungen. An das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden. Ihre Ermittlungen erstrecken sich auf alle bedeutsamen Umstände des Einzelfalles, und zwar gerade auch, wenn diese für den Rechtsuchenden günstig sind (vgl. § 20 SGB X). In
gleicher Weise legt § 103 SGG fest, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit den Sachverhalt von Amts wegen erforschen; an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten besteht auch hier keine Bindung.
2.2.3
Die Rolle des Versicherten
Wegen der Amtsermittlung ist dem Versicherten nach der verfahrensrechtlichen Ausgangslage zwar weder im Verfahren vor dem Rentenversicherungsträger noch vor den Sozialgerichten die Pflicht auferlegt, die den jeweiligen Anspruch begründenden Tatsachen in bestimmter Art und Weise vorzutragen oder zu substantiieren. Überdies geht die Pflicht zur Erforschung des Sachverhaltes so weit, dass weder die Verwaltung noch das (Landes-)Sozialgericht im Falle der Weigerung eines Betroffenen zur Mitwirkung berechtigt wäre, jegliche Amtsermittlung zu unterlassen. Jedenfalls müssen diejenigen entscheidungserheblichen Beweise erhoben werden, die ohne Mitwirkung beigetrieben werden können. Zum Beispiel verletzt ein Sozialgericht die ihm obliegende Amtsermittlung, wenn es nach der Weigerung des Klägers, sich vom Sachverständigen untersuchen zu lassen, ein Gutachten nicht einholt, ohne festzustellen, ob eine Untersuchung überhaupt erforderlich ist oder die Erstattung eines Gutachtens nach Aktenlage ausreicht. Eine andere Frage ist indes, dass der Versicherte im eigenen Interesse bei der Erforschung und Feststellung des Sachverhaltes nach Kräften mitwirken sollte. Vielfach kann die Verwaltung – nichts anderes gilt für die Gerichte – den entscheidungserheblichen Sachverhalt ohne die Mitwirkung des Rechtsuchenden nicht aufklären, wie dies vor allem bei Ermittlungen im Bereich medizinischer Sachverhalte der Fall ist. Dies wird gerade am Beispiel der gesetzlichen Rentenversicherung deutlich, wie etwa die Ansprüche auf Renten wegen Erwerbsminderung oder auf Rehabilitation belegen. Dem Erfordernis der Mitwirkung des Betroffenen tragen die einschlägigen verfahrensrechtlichen Bestimmungen Rechnung. Allgemein bestimmt § 21 Abs. 2 SGB X, dass »die Beteiligten« (hierzu zählt auch der Antragsteller!) bei der Ermittlung des Sachverhaltes »mitwirken« sollen. In Konkretisierung dieser Vorschrift und darüber hinaus legen sowohl die Verfahrensbestimmungen des SGB I (§§ 60 bis 67 SGB I) als auch die prozessualen Regelungen des SGG (§ 103 Satz 1 Halbsatz 2 SGG) die dem Betroffenen auferlegten Pflichten zur Mitwirkung im Verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren nach Inhalt, Reichweite und Rechtsfolgen fest. Die in diesen Vorschriften getroffenen Regelungen sollte der Antragsteller bzw. Rechtsuchende im eigenen Interesse befolgen. Aus ihnen, vor allem aus den allgemeinen Bestimmungen des SGB I,
39 2.2 · Die Mitwirkung des Versicherten
ergibt sich grundlegend, dass der Rechtsuchende, will er seinen Anspruch mit Erfolg durchsetzen, im Sinne einer Obliegenheit hierbei zur Mitwirkung verpflichtet ist.
2.2.4
Die Rolle des Sachverständigen
Obgleich der Antragsteller bzw. Rechtsuchende Adressat der Mitwirkungspflicht ist, muss auch der Sachverständige ihr Rechnung tragen. Der Anspruch auf Rehabilitationsleistungen und auf Renten wegen Erwerbsminderung setzt unter anderem voraus, dass die jeweiligen (sozial-) medizinischen Tatbestandsmerkmale vorliegen. Ihre Ermittlung ist eine der wesentlichen Aufgaben des Sachverständigen. Er soll auf Grund seiner medizinischen Sachkenntnisse Befunde erheben und sozialmedizinisch bewerten. In seiner Verantwortung liegt, mit seinem Fachwissen im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, welche Maßnahmen im Rahmen der Sachaufklärung erforderlich sind. Weil die Begutachtung Teil des Beweiserhebungsverfahrens ist, sind auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit zwischen Mittel und Zweck im Sinne des »Übermaßverbotes« zu beachten. Vom Versicherten darf nur die Mitwirkung an den im Einzelfall »erforderlichen« Maßnahmen verlangt werden. Sind mehrere Maßnahmen für den Begutachtungszweck »geeignet«, ist die für den Versicherten am geringsten belastende einzusetzen. Die Beurteilung, ob der Versicherte gegenüber dem Sachverständigen z. B. eine Lungenfunktionsdiagnostik oder auch eine therapeutische Maßnahme als »unzumutbar« ablehnen darf, ob also eine Maßnahme das Übermaßverbot verletzt, setzt auf Seiten des Sachverständigen die Kenntnis über die wesentlichen einschlägigen Regelungen voraus. In seiner Stellung als Sachverständiger muss der Arzt daher gerade auch hier den erforderlichen Wissensstand aufweisen, andernfalls läuft er Gefahr, ein wegen der Verletzung von Verfahrensvorschriften nicht verwertbares Gutachten zu erstellen. Wie allgemein bei der Erstattung eines Sachverständigengutachtens ergibt sich auch hier: Zweifelsfragen über die Reichweite von Mitwirkungspflichten sollte der Sachverständige rechtzeitig mit seinem Auftraggeber, der Verwaltung oder dem Gericht abklären. 2.2.5
Übersicht über die Mitwirkungspflichten
Namentlich die Pflichten zur Mitwirkung, ihre Grenzen sowie die Pflicht zur Duldung der im Rahmen der Sachaufklärung von dem Versicherten geforderten Maßnahmen sind für die Sozialleistungsträger in den §§ 60 bis 67 SGB I gesetzlich festgelegt. Diese Vorschriften gliedern
sich in die allgemeine Pflicht zur Angabe von Tatsachen und zum persönlichen Erscheinen. Besondere Beachtung aus der Sicht des Sachverständigen verdienen die nachfolgenden Bestimmungen: 4 § 62 SGB I legt Inhalt und Umfang der Pflicht zur Mitwirkung bei Untersuchungsmaßnahmen fest. 4 Weitergehend verpflichten die §§ 63 und 64 SGB I zur Teilnahme an Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und Teilhabe am Arbeitsleben. 4 § 65 SGB I zieht jeweils die Grenze der dem Betroffenen auferlegten Mitwirkungspflicht. 4 Schließlich erstrecken sich die §§ 66 und 67 SGB I auf die jeweiligen Rechtsfolgen bei fehlender oder verspäteter Mitwirkung. Bezüglich des Wortlautes dieser Vorschriften wird auf 7 Abschn. 2.2.12 verwiesen. Von besonderem Interesse sind für den Sachverständigen die Fragen, welche rechtlichen Grenzen bei der Durchführung von Untersuchungsund Heilbehandlungsmaßnahmen gezogen sind bzw. in welchen Fällen eine Mitwirkungsobliegenheit des Probanden nicht besteht. Von gleichem Interesse ist die Frage nach den rechtlichen Folgen eines Verstoßes gegen die Mitwirkungsobliegenheit. Diese Fragen werden in den folgenden Abschnitten behandelt. Wiederum im Vordergrund steht aus der Sicht des Sachverständigen die in § 65 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB I geregelte Frage nach der »Zumutbarkeit« einer Maßnahme. Wie im Allgemeinen kommt es entscheidend darauf an, ob und inwieweit der Sachverständige den Probanden hinreichend aufklärt.
2.2.6
Aufklärungspflichten
Jeder ärztliche körperliche Eingriff unterliegt – in Abhängigkeit von der Belastung, den zu erwartenden Unannehmlichkeiten für den Patienten und dem Gefährdungsgrad – der Aufklärungspflicht und der wirksamen Einwilligung des Patienten. Erst die vollständige Aufklärung versetzt den Patienten in die Lage, in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes eine wirksame Einwilligung in die jeweilige ärztliche Maßnahme zu erteilen. Auch innerhalb von medizinischen Aufgaben, die der Arzt als Sachverständiger gegenüber seinem Probanden wahrzunehmen hat, gilt im Ausgangspunkt nichts anderes. Gerade auch der Sachverständige ist gut beraten, wenn er den Probanden sorgfältig aufklärt, die Gründe für die notwendige Untersuchung nennt und eine Risikoabwägung vornimmt. Auch insoweit ist der Proband in die Lage versetzt, in eine ihn belastende oder möglicherweise gefährdende Untersuchung oder Therapiemaßnahme rechtswirksam einzuwilligen. Erst die Nennung der Grün-
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Kapitel 2 · Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren
de, warum der Sachverständige eine Untersuchung für erforderlich hält, ermöglicht dem Versicherten folglich die Entscheidung darüber, ob er einen diagnostischen Eingriff, der ja nicht der Förderung seiner Gesundheit, sondern der Entscheidungsfindung über eine Sozialleistung dient, dulden will oder nicht. Auch belastende Therapiemaßnahmen sind erst dann der Frage nach der Duldungspflicht zugänglich und werfen erst dann die Frage nach Mitwirkungspflichten auf, wenn ihn der Sachverständige über den Umfang, das Ziel und ggf. dabei auftretende Nebenwirkungen oder Unannehmlichkeiten umfassend informiert hat. Erst die dem betroffenen Versicherten auf der Grundlage einer vollständigen Aufklärung ermöglichte Risikoabwägung zwischen den Belastungen der Untersuchung oder der therapeutischen Maßnahme erlaubt folglich, seine Mitwirkung bei der Sachaufklärung und damit der Untersuchung oder der therapeutischen Maßnahme wirksam zu verlangen.
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2.2.7
Grenzen der Mitwirkung
§ 65 SGB I legt in seinem Absatz 1 unter anderem fest, dass Mitwirkungspflichten nicht bestehen, soweit ihre Erfüllung dem Betroffenen »aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann«. Hierbei handelt es sich um eine besondere Ausprägung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgebotes. Es geht um jeden die Willensbildung bestimmenden Umstand, der die Weigerung des Probanden als berechtigt erscheinen lassen kann. Dies richtet sich in der Regel nach einem objektiven Maßstab, der unter Heranziehung von Grundrechtspositionen und dem jeweiligen Ausmaß der Betroffenheit des Probanden zu beurteilen ist. Liegt ein wichtiger Grund vor, besteht die Mitwirkungspflicht nicht. Als »wichtiger Grund« sind mit anderen Worten all diejenigen Gründe anzuerkennen, welche die Motive des Betroffenen als berechtigt erscheinen lassen. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit der Mitwirkung könnten vornehmlich Gründe aus dem privaten Bereich des Klägers in Betracht zu ziehen sein. Danach können Behandlungen und Untersuchungen, die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten, abgelehnt werden. Die in Absatz 2 festgelegten Grenzen der Zumutbarkeit von Untersuchungen und Behandlungen sind für den Sachverständigen von besonderer Bedeutung. Im Unterschied zu Absatz 1 ist die Grenze der Mitwirkung nur in dem Fall zu beachten, in dem der Proband sich hierauf tatsächlich beruft. Dies setzt notwendig die angemessene Aufklärung gegenüber dem Probanden voraus.
Einzelheiten werden in den nachfolgenden Abschnitten behandelt. Auch hier gilt: In Zweifelsfragen sollte der Sachverständige mit seinem Auftraggeber Rücksprache halten.
2.2.8
Mitwirkung bei Untersuchungen
Der Betroffene soll sich auf Verlangen des Leistungsträgers ärztlich bzw. psychologisch untersuchen lassen, soweit dies für die Entscheidung über den jeweiligen Anspruch erforderlich ist. Hierbei geht es um ärztliche und psychologische Diagnostik, die nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft zur Feststellung des Gesundheitszustandes des Untersuchten angezeigt und erforderlich sind. Dazu zählen Beobachtungen und Messungen, die Entnahme von Blut und anderen Körperflüssigkeiten oder die Einhaltung einer Diät oder Medikation zu diagnostischen Zwecken. Die Maßnahmen unterstehen der persönlichen Verantwortung eines approbierten Arztes bzw. Psychologen. Untersuchungen können sowohl im ambulanten wie auch stationären Rahmen indiziert sein. Zu den Untersuchungsverfahren zählen: 4 Anamneseerhebung, 4 körperliche Untersuchung, 4 psychometrische und psychiatrische Untersuchungen, 4 Blutabnahme (Ohrläppchen, Finger, Vene), 4 Elektrodiagnostik (EKG, Belastungs-EKG, EEG), 4 Lungenfunktionsdiagnostik, 4 Ultraschall (ohne intraluminale Verfahren), 4 Röntgenuntersuchungen (ohne Kontrastmittel), 4 Computertomographie (ohne Kontrastmittel), 4 Kernspintomographie. Bedingt zumutbar und damit auch im Wesentlichen duldungspflichtig sind Untersuchungsverfahren, die zwar eine größere Belastung darstellen, aber je nach Einzelfall keine nennenswert höhere Gefährdung darstellen. Hierher gehören z. B. Röntgenuntersuchungen und Computertomographien mit und ohne Kontrastmittel. Injektionen für diagnostische Verfahren (subkutan, intravenös, intramuskulär) sind nach besonderer Risikoabwägung ebenfalls bedingt zumutbar. Vom Sachverständigen ist dabei die aktuelle Strahlenschutzverordnung zu beachten. Im Gutachtenzusammenhang ergibt sich selten eine rechtfertigende Indikation für die Anwendung von Röntgenstrahlen. Nicht zumutbar sind Kontrastmitteldarstellungen von Körperhohlräumen, die mit größeren Belastungen, körperlichen Eingriffen und höheren Gefährdungen einhergehen. Unabhängig von möglichen wissenschaftlichen Diskussionen über das tatsächliche Ausmaß der Gefähr-
41 2.2 · Die Mitwirkung des Versicherten
dung oder Belastung des Patienten gelten alle nuklearmedizinischen Untersuchungsverfahren als nicht zumutbar. Allerdings bleibt auf den Fall hinzuweisen, in welchem der Proband nach ausreichender Aufklärung eine vorgeschlagene Untersuchung duldet. In diesem Fall darf die Untersuchung unabhängig von der Frage der Zumutbarkeit oder Duldungspflicht durchgeführt werden, wenn sie zur Klärung des Sachverhaltes beiträgt. 2.2.9
Mitwirkung bei Behandlung und medizinischer und beruflicher Rehabilitation
Im Ausgangspunkt ist der Versicherte auch im Rahmen von Behandlungsmaßnahmen und Leistungen zur Teilhabe zur Duldung der Maßnahme und allgemein zur aktiven Mitwirkung verpflichtet. Dies gilt namentlich für solche ärztlichen Eingriffe, die keinen Schaden für Leben und Gesundheit bergen, die nicht mit erheblichen Schmerzen verbunden sind und die keinen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten. Er muss z. B. die ihm vom Sachverständigen auferlegten Verhaltensregeln (etwa Diät, Einnahme von Medikamenten, kein Alkoholoder Nikotinkonsum) beachten. § 63 SGB I legt darüber hinaus fest, dass sich der Betroffene auf Verlangen des Leistungsträgers einer Heilbehandlung unterziehen soll, wenn zu erwarten ist, dass sie eine Besserung seines Gesundheitszustandes herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern wird. Es kommt jede Maßnahme in Betracht, die geeignet ist, einen bestehenden oder drohenden regelwidrigen körperlichen, seelischen oder Geisteszustand zu beheben, zu mildern oder zu vermeiden. Insoweit besteht auf Seiten des Leistungsträgers wie auch des Gerichts ein Auswahlermessen, ob und bejahendenfalls welche Maßnahme im Einzelfall in Betracht zu ziehen ist. Die Zumutbarkeit und Duldungspflicht therapeutischer Maßnahmen kann grundsätzlich nach den gleichen Kriterien beurteilt werden, wie sie zuvor bei der Frage der Zumutbarkeit diagnostischer Maßnahmen beschrieben worden sind. Neben den für eine erfolgreiche Behandlung notwendigen und duldungspflichtigen diagnostischen Maßnahmen sind demzufolge auch die therapeutischen Maßnahmen duldungspflichtig und zumutbar, wenn sie keine Gefahren für Leben oder Gesundheit bergen, nicht mit erheblichen Schmerzen verbunden sind und keinen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten. Diese Kriterien erfüllen ohne Weiteres medikamentöse Behandlungen, bei denen erhebliche Nebenwirkungen (Organgefährdungen, länger dauernde Beeinträchtigungen des Wohlbefindens oder der Psyche) nicht
zu befürchten sind oder nur mit einem sehr geringen Wahrscheinlichkeitsgrad vorkommen. Unter Abwägung der möglichen Nebenwirkungen gehören im Wesentlichen zu den zumutbaren therapeutischen Maßnahmen z. B.: 4 Diabetesbehandlung (oral, Insulin), 4 Herz-Kreislauf stützende, rhythmisierende Medikamente, 4 anfallsverhindernde Medikamente, 4 Antibiotika u. a. Auch weitergehende therapeutische Maßnahmen, die leistungsmindernde Schmerzzustände oder Funktionsstörungen bessern können, sind zumutbar und duldungspflichtig. Sie umfassen z. B.: 4 physiotherapeutische Maßnahmen, 4 psychotherapeutische Behandlungen, 4 logopädische Behandlung, 4 Anwendung von Prothesen und anderen Körperersatzstücken, 4 weitere Heil- und Hilfsmittel. Wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit medizinisch davon ausgegangen werden kann, dass z. B. eine regelmäßige Medikamenteneinnahme, eine balneophysikalische Maßnahme oder das Tragen einer Prothese den Eintritt des Leistungsfalles verhindern könnte und dies zumutbar ist, hat sie der Versicherten zu dulden und muss nach seinen Kräften hierbei mitwirken. Bei der Beurteilung des Leistungsvermögens für die Entscheidung über eine beantragte Erwerbsminderungsrente kann dann von der durch die medizinischen Maßnahmen zu erwartenden Verbesserung des Gesundheitszustandes ausgegangen werden. Dies gilt in besonderem Maße für Rehabilitationsleistungen, weil diese gerade die Erwartung der gesundheitlichen Verbesserung und damit den Erhalt oder die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit voraussetzen. Die Mitwirkungspflicht des Versicherten unterliegt indessen Grenzen, wenn eine mangelnde Compliance vorliegt und medizinisch notwendige Maßnahmen vom Versicherten nicht bewusst oder tendenziell verweigert werden. Eine ungenügende Compliance kann dabei in psychischen Veränderungen und besonderen persönlichen Lebensumständen begründet sein. Therapeutische Maßnahmen, die erhebliche körperliche oder psychische Nachteile mit sich bringen können, insbesondere auch operative Eingriffe, deren Gefährdungsgrad grundsätzlich nicht vernachlässigbar ist, müssen vom Probanden nicht geduldet werden und unterliegen daher keiner Duldungspflicht. Insoweit besteht auch keine Mitwirkungspflicht. Zum Beispiel kann bei einer rentenrelevanten Einschränkung der Gehfähigkeit durch eine Koxarthrose bei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu er-
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Kapitel 2 · Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren
wartender Wiederherstellung der Gehfähigkeit durch eine Totalendoprothese diese Operation vom Versicherten nicht abverlangt werden.
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2.2.10
Folgen fehlender Mitwirkung
Verweigert der Versicherte die notwendige Sachaufklärung gegenüber dem Sachverständigen, lehnt er insbesondere die Teilnahme an einer Begutachtung ab, sollte ihm der Sachverständige deutlich machen, dass er eine Begutachtung nicht durchführen kann und die Akten dem Auftraggeber zurückreichen muss. Der Sozialleistungsträger hat nachfolgend zu prüfen, ob der bis dahin – ohne die Begutachtung – ermittelte Sachverhalt für eine abschließende Entscheidung ausreicht. Hierbei ist er auf die Mitteilung des Gutachters angewiesen, aus welchen Gründen der Proband die Mitwirkung verweigert hat und weshalb die vom Versicherten abgelehnte Maßnahme für eine Sachaufklärung und die sozialmedizinische Beurteilung notwendig ist. Ist die unterlassene Mitwirkung erforderlich und zumutbar, wird der Sozialleistungsträger die beantragte Sozialleistung nach Anhörung des Betroffenen versagen. Er muss ihn aber auf die Folgen der fehlenden Mitwirkung schriftlich hinweisen und ihm unter Fristsetzung Gelegenheit zur Nachholung geben. Kommt der Versicherte dieser Aufforderung nach, darf der geltend gemachte Anspruch nicht wegen fehlender Mitwirkung verneint werden.
2 2.2.11
Praktisches Vorgehen
2 2 2 2 2 2 2 2 2
evtl. belastende Doppeluntersuchungen vermieden werden? 3. Ist eine ausreichend sichere medizinische Ermittlung und sozialmedizinische Wertung des Sachverhaltes nur auf der Grundlage einer körperlichen Untersuchung möglich? 4. Sind weitergehende diagnostische, evtl. auch apparative Untersuchungen erforderlich, gerechtfertigt und angemessen?
2.2.12 z
§ 60 Angabe von Tatsachen
(1) Wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, hat 1. alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen, 2. Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen, 3. Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen. Satz 1 gilt entsprechend für denjenigen, der Leistungen zu erstatten hat. (2) Soweit für die in Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 genannten Angaben Vordrucke vorgesehen sind, sollen diese benutzt werden. z
Ein sozialmedizinisch tätiger Sachverständiger oder rehabilitativ tätiger Arzt wird sich im Laufe des Verfahrens bis zur Entscheidung über eine Sozialleistung bzw. bei der Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme wiederholt mit den Fragen der Zumutbarkeit, der Duldungspflicht und letztendlich der Mitwirkungspflicht konfrontiert sehen. Die nachfolgenden Empfehlungen sollte er als Richtschnur für die vollständige Wahrnehmung seines Gutachtenauftrages im Zusammenhang mit dem Bestehen von Mitwirkungsobliegenheiten auf Seiten des Probanden zu Grunde legen: 1. Welcher medizinische Aufwand ist erforderlich, um die Beweisfragen vollständig zu beantworten? 2. Reichen die dem Sachverständigen verfügbaren Beweismittel (Arztbriefe, Befundberichte, Reha-Entlassungsberichte, Gutachten anderer Sozialleistungsträger, Akteninhalte usw.) für eine Begutachtung nach Aktenlage aus oder können wenigstens aufwändige,
Relevante Gesetzestexte (SGB I)
§ 61 Persönliches Erscheinen
Wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, soll auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers zur mündlichen Erörterung des Antrags oder zur Vornahme anderer für die Entscheidung über die Leistung notwendiger Maßnahmen persönlich erscheinen. z
§ 62 Untersuchungen
Wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, soll sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind. z
§ 63 Heilbehandlung
Wer wegen Krankheit oder Behinderung Sozialleistungen beantragt oder erhält, soll sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers einer Heilbehandlung unterziehen, wenn zu erwarten ist, dass sie eine Besserung seines Ge-
43 Literatur
sundheitszustands herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern wird. z
§ 64 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Wer wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit, anerkannter Schädigungsfolgen oder Arbeitslosigkeit Sozialleistungen beantragt oder erhält, soll auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) teilnehmen, wenn bei angemessener Berücksichtigung seiner beruflichen Neigung und seiner Leistungsfähigkeit zu erwarten ist, dass sie seine Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit auf Dauer fördern oder erhalten werden. z
§ 65 Grenzen der Mitwirkung
(1) Die Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 64 bestehen nicht, soweit 1. ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung oder ihrer Erstattung steht oder 2. ihre Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann oder 3. der Leistungsträger sich durch einen geringeren Aufwand als der Antragsteller oder Leistungsberechtigte die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen kann. (2) Behandlungen und Untersuchungen, 4. bei denen im Einzelfall ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, 5. die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder 6. die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten, können abgelehnt werden. (3) Angaben, die dem Antragsteller, dem Leistungsberechtigten oder ihnen nahestehende Personen (§ 383 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Zivilprozessordnung) die Gefahr zuziehen würden, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden, können verweigert werden. z
§ 66 Folgen fehlender Mitwirkung
(1) Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Dies gilt entsprechend, wenn der Antragsteller oder Leistungsberechtigte in anderer Weise absichtlich die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert.
(2) Kommt derjenige, der eine Sozialleistung wegen Pflegebedürftigkeit, wegen Arbeitsunfähigkeit, wegen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, anerkannten Schädigungsfolgen oder wegen Arbeitslosigkeit beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach §§ 62 bis 65 nicht nach und ist unter Würdigung aller Umstände mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass deshalb die Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung, die Arbeits-, Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert wird, kann der Leistungsträger die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen. (3) Sozialleistungen dürfen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leitungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist. z
§ 67 Nachholung der Mitwirkung
Wird die Mitwirkung nachgeholt und liegen die Leistungsvoraussetzungen vor, kann der Leistungsträger Sozialleistungen, die er nach § 66 versagt oder entzogen hat, nachträglich ganz oder teilweise erbringen.
Literatur Becker P: Das professionelle Gutachten – Anforderungen aus rechtlicher Sicht. Med Sach 105:82–92, 2008 Cibis W: Das professionelle Gutachten – Besonderheiten in der Rentenversicherung. Med Sach 105: 100–103, 2008 Dörfler H, Eisenmenger W, Lippert HD (Hrsg.): Das medizinische Sachverständigengutachten – Rechtliche Grundlagen, relevante Klinik, praktische Anleitung. Berlin; Heidelberg; New York: Springer-Verlag, 1999 ff. (Loseblatt) Hennies G: Rechtsgrundlagen der Begutachtung im System der sozialen Sicherung, in: Marx HH (Hrsg.): Medizinische Begutachtung – Grundlagen und Praxis, 6. Aufl., Thieme Verlag, Stuttgart 1997 Hennies G: Zumutbarkeit diagnostischer Maßnahmen. Med Sach 87: 189–192, 1991 Kater H: Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren, Schmidt-Verlag, Berlin 2008 Lampert G: Sind Röntgenuntersuchungen bei der Begutachtung mit der Röntgenverordnung vereinbar? Med Sach 92: 37–40, 1996 Lindner JP: Relevanz der Medizintechnik für die medizinische Begutachtung – aus Sicht eines Sozialrichters. Med Sach 95: 37–42, 1999 Lüdtke PB: Sachverstand und Entscheidung in der medizinischen Begutachtung, MedSach 76 (1980) 2 Maydell Bv: Das medizinische Gutachten im Sozialgerichtsprozeß. JbFfS S. 403–413, 1988/1989 Maydell Bv: Mitwirkungspflicht des Betroffenen sowie Aufklärungspflicht und Haftung des Sachverständigen. SGB S. 392–398, 1987 Rauschelbach HH: Ärztliche Begutachtung im Spannungsfeld zwischen Medizin, Recht und Auftraggeber, MedSach 75 (1979) 22 Scholz JF, Wittgens H: Arbeitsmedizinische Berufskunde, 2. Aufl., Gentner Verlag, Stuttgart 1992
2
44
2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2
Kapitel 2 · Rechtliche Rahmenbedingungen der Begutachtung im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren
Widder B, Hausotter W, Marx P, Puhlmann HU, Wallesch CW: Empfehlungen zur Schmerzbegutachtung. Med Sach 98: 27–29, 2002
45
Arbeitsmedizinische und berufskundliche Aspekte Martina Hildebrandt, Klaus Timner, Wilhelm Moesch (3.1); Lutz Haustein (3.2)
3.1
Arbeitsmedizinische Aspekte – 46
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7
Belastung und Beanspruchung – 46 Arbeitsschwere – 48 Arbeitszeit – 48 Arbeitsorganisation – 50 Arbeitsweg – 50 Arbeitsumgebung – 51 Aspekte arbeitsmedizinischer Beurteilung – 56
3.2
Berufskundliche Aspekte in der Sozialmedizin – 60
3.2.1 3.2.2
Der allgemeine Arbeitsmarkt – 60 Verweisbarkeit – 61
Literatur – 63
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
3
3
46
Kapitel 3 · Arbeitsmedizinische und berufskundliche Aspekte
3.1
Arbeitsmedizinische Aspekte Martina Hildebrandt, Klaus Timner, Wilhelm Moesch
3
3
Neue Techniken fördern und fordern den Menschen speziell in der Arbeitswelt. Der Wandel der Arbeit lässt sich exemplarisch an der Einführung von Personalcomputern, Internet und Mobiltelefonen erkennen. Arbeit stellt zunehmend Anforderungen an mentale und psychische Fähigkeiten, gekoppelt mit permanentem Lernen im und für den Beruf. Zum Wandel der Arbeit kommt hinzu, dass die Lebensarbeitszeit vor Beginn der Altersrente ausgedehnt wurde. Länger arbeiten zu ermöglichen bei guter Gesundheit und nicht nachlassenden psychischen Kräften sind aktuelle Herausforderungen, die gerade die arbeitsmedizinische Betreuung von Arbeitnehmern und die fachspezifische Beratung der Arbeitgeber herausfordert. Spezielle Beratungs- und Kooperationsangebote der Deutschen Rentenversicherung können zusätzlich genutzt werden. Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) [20] und Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) [2] haben neben anderen gesetzlichen Vorgaben, Verordnungen und Regeln dazu beigetragen, dass Arbeit und Arbeitsbedingungen stetig an den Menschen angepasst wurden. Betriebs- und Werksärzte können die Rehabilitation sowie die Wiedereingliederung des Arbeitnehmers im Rahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements unterstützen.
3
3.1.1
3 3 3 3 3 3 3 3 3
3 3 3 3
Belastung und Beanspruchung
Die Interaktion zwischen Mensch und Arbeit folgt physiologischen Abläufen, die näherungsweise mit dem Belastungs-Beanspruchungs-Konzept nach Rohmert und Rutenfranz beschrieben werden können. Neben den physiologischen Parametern werden zunehmend psychische Faktoren berücksichtigt, um die Wechselwirkung von Mensch und Arbeit zutreffend beschreiben zu können.
Belastung
3 3 3 3
Unter Belastung werden alle von außen auf den Menschen einwirkenden Einflussfaktoren zusammengefasst, die eine Veränderung im Organismus auslösen. Die Reaktionen sind mit physikalischen, chemischen oder biologischen Methoden messbar. Belastungen können danach unterschieden werden, ob sie aus einer Arbeitsaufgabe oder durch einen Arbeitsumgebungsfaktor entstehen. z
3 3
Arbeitsaufgabe
4 Arbeitsinhalte (Aufgabenspektrum, Handlungsspielraum, Vielfalt, Schwierigkeitsgrad, Verantwortung)
4 Arbeitsmittel (Werkzeuge, Maschinen, Geräte, Computer, Telefonanlagen, Schutzkleidung Schutzhandschuhe, Atemschutzgeräte) 4 Arbeitshaltung (Hocken, Knien, Kriechen, Zwangshaltung durch ungünstige oder unphysiologische Körperhaltung; Untertagearbeit, Gerüstarbeit, Arbeit auf schwankendem Boden) 4 Arbeitsplatzgestaltung (Barriere in Form eines nicht ergonomisch ausgerichteten Arbeitstisches oder eines geräuschvollen Großraumbüros; Förderfaktoren durch höhenverstellbares Arbeitspult, Schallschutzwand) 4 Arbeitsorganisation (Stück- und Zeitakkordarbeit, Nachtschicht, Wechselschicht, Gruppenarbeit, flexible Arbeitseinsatzzeiten nach Arbeitsanfall, Arbeitsablauf, Informationsaustausch, Kommunikation, Führung) z
Arbeitsumgebung
4 Beleuchtung (Helligkeit auf Arbeitsflächen, in Räumen und Gängen, Blendung durch Lichtquellen) 4 Klima (Hitze- oder Kälteeinwirkung, Wärmestrahlung, Raumlufttemperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftgeschwindigkeit an Arbeitsplätzen) 4 Lärm 4 Gefahrstoffe (Gifte, Krankheitserreger) 4 Physikalische Einwirkungen (Vibration, Schall, Strahlen, Druck) 4 Chemische Einwirkungen (Staub, Rauch, Gase, Säure, Lauge, Öle, Fette, Lösungsmittel) Mit unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben und Normen wird die bauliche Ausgestaltung von Arbeitsstätten geregelt. So werden beispielsweise Vorgaben für Erste Hilfe-Stellen, Toiletten, Waschräume, Bodenbeläge, Verkehrswege, Fluchtwege, Beleuchtungsstärke, Raumtemperatur und Feuerlöscheinrichtungen festgelegt. Einen Einblick in die Belastungen der Arbeitswelt bieten Beschäftigtenumfragen, die beispielsweise vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB), dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) und der Bundesanstalt für Arbeitschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in bestimmten Zeitabständen durchgeführt werden [8, 11], vgl. . Tab. 3.1. Für die tatsächliche Belastung in Teilbereichen von Arbeitsprozessen wurden Toleranzwerte für die körperliche Arbeit bestimmt. Dazu gehören beispielsweise das Heben und Tragen von Lasten als typische Arbeitsaufgaben, die je nach Häufigkeit und Belastungsdauer sowie nach Schwere und zurückgelegter Transportstrecke bemessen werden können. Einige Orientierungswerte sind vom Arbeitskreis »Manuelle Handhabung von Lasten« des Hauptverbandes der Berufsgenossenschaften (HVBG) zusammengestellt worden. Bei hohen Belastungen sollten
47 3.1 · Arbeitsmedizinische Aspekte
. Tab. 3.1 Umfrageergebnisse 2005/2006 zu beruflichen Belastungen [8, 11] Arbeitsbedingung und Belastungen
davon betroffen: (in Prozent)
davon fühlen sich belastet: (in Prozent)
Arbeit im Stehen
56
26
Arbeit im Sitzen
53
20
Arbeit unter Zwangshaltungen
14
51
Heben, Tragen schwerer Lasten: >10 kg (Frauen), >20 kg (Männer)
23
52
5
54
24
52
7
36
Rauch, Gase, Staub, Dämpfe
14
57
Kälte, Hitze, Nässe, Feuchtigkeit, Zugluft
21
53
Öl, Fett, Schmutz, Dreck
18
32
Arbeitsdurchführung in allen Einzelheiten vorgeschrieben
23
30
Ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge
51
14
Starker Termin- und Leistungsdruck
53
59
9
39
17
69
Starke Erschütterungen, Stöße, Schwingungen Arbeit unter Lärm Umgang mit gefährlichen Stoffen, Strahlung
Nicht Erlerntes / Beherrschtes wird verlangt Arbeiten an der Grenze der Leistungsfähigkeit
. Tab. 3.2 Orientierungswerte zu Hebe- und Tragehäufigkeit für eine Ganztagsschicht: Männer [1] Lastgewicht
Heben, Absetzen, Umsetzen, Halten
Tragen
kg
Dauer > Jungen, familiäre Häufung, in 40–45 % bilateral. Meist kombiniert mit einer Coxa valga antetorta. Früherkennung durch Screening mittels Ultraschall und frühzeitige Therapie im Säuglingsalter. Bei Behandlungsbeginn jenseits des 1. Lebensjahres verbleibt eine Gelenkinkongruenz mit möglicher Dysplasiekoxarthrose als Spätfolge. Das Leistungsvermögen hängt ab von der Stabilität und Kraftentfaltung der hüftumspannenden Muskulatur (Trendelenburg-Zeichen) sowie vom Ausmaß einer sekundären Koxarthrose. Periarthropathia coxae. Sehnenansatztendopathie im
Bereich des Trochanters, evtl. mit sekundären fibroostotischen Veränderungen. Behandlung konservativ: Ausschaltung der auslösenden Noxe, Sportpause, Krankengymnastik (Querfriktion, postisometrische Relaxation), lokale Infiltration mit Kristallkortikoiden. Im Allgemeinen verbleibt keine wesentliche Einschränkung des Leistungsvermögens. Bei chronischen Verläufen Ausschluss hüftgelenksbelastender Bewegungsmuster wie langes Stehen und Gehen, häufiges Treppensteigen über mehr als eine Etage oder Gehen auf unebenem Gelände. Coxa saltans. Schnappen des Tractus iliotibialis am Tro-
chanter major im Verlauf der Hüftbeugung, evtl. verbunden mit Schmerzempfinden. Bei chronischem Verlauf Entwicklung einer Bursitis trochanterica und lokaler Reizzustände. Therapie lokal physikalisch, in hartnäckigen Fällen operative Traktopexie. Limitierung der Bewegungen, die zum Traktusschnappen führen. Überwiegend sitzende Tätigkeit. Hüftkopfnekrose. Meist kranioventral lokalisierter Kno-
cheninfarkt des Femurkopfes; nicht selten zeitlich versetzt bilateral auftretend. Männer >> Frauen, meist im 30.–40. Lebensjahr. Auslöser ist meist eine Durchblutungsstörung der A. circumflexa femoris medialis (funktionelle Endarterie), seltener auch posttraumatische oder degenerative Ursachen. Risikofaktoren sind Fettstoffwechselstörungen, Alkohol- und Nikotinabusus sowie eine längere systemische Kortikoidmedikation. Erhebliche Belastungsschmerzen bei noch guter Gelenkfunktion. Früher Nachweis im NMR, Veränderungen im Röntgenbild erst nach 3–4 Monaten. Behandlung durch Schmerzabdeckung und Entlastung. Gelenkerhaltende Operationen sind allenfalls im Frühstadium erfolgreich. In der Regel kommt es
im Verlauf von 1–2 Jahren zur Ausbildung einer schweren destruktiven Arthrose mit Indikation zur Hüfttotalendoprothese. Arbeitsunfähigkeit im akuten Stadium. Das Leistungsvermögen hängt ab vom Ausmaß der sekundären Koxarthrose. Protrusio acetabuli. Unphysiologisch tiefe, ins kleine Be-
cken hineinragende Hüftpfanne, meist bei Coxa vara. Evtl. Beeinträchtigung der Hüftfunktion, vor allem Abduktion und Rotation. Begünstigung der Entstehung einer Pfannengrundarthrose. Einschränkungen des Leistungsvermögens abhängig von der Hüftbeweglichkeit und vom Ausmaß einer möglichen Sekundärarthrose. Koxarthrose. In jüngeren Lebensjahren vor allem post-
traumatische oder dysplastische sekundäre Koxarthrose, z. B. bei Pfannendysplasie, nach Morbus Perthes (Kindesalter), Epiphyseolyse (Adoleszentenalter), Hüftkopfnekrose, bei Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises. Im höheren Lebensalter meist idiopathische primäre Koxarthrose (25–30 %). Trotz auffälligem Röntgenbild meist langjährige subjektive Kompensation mit lediglich überlastungsbedingten Schmerzen in der Leiste, die nicht selten bis zum Kniegelenk ausstrahlen. Bei Aktivierung Schonbeugung der Hüfte mit lokaler Druckdolenz der ventralen Kapselweichteile. Allmählich zunehmende Einschränkung zunächst der Innenrotation mit späterer Außenrotationskontraktur, dann der Abduktion mit Ausbildung einer Adduktionskontraktur, schließlich der Extension (Kontraktur der ventralen Hüftgelenkskapsel) mit kompensatorischer Hyperlordose der Lendenwirbelsäule und typischem Gangbild, zuletzt zunehmendes Flexionsdefizit. Im Röntgenbild typische Gelenkspaltverschmälerung, Entrundung des Hüftkopfes mit späterer Ausbildung zystisch-sklerotischer Destruktionen sowie von halskrauseartigen Exophyten und evtl. Zusammensinterung. Ausschöpfen der konservativen medikophysikalischen und krankengymnastischen Behandlungspalette mit dem Ziel des Erreichens einer kompensierten Situation; häufigere Maßnahmen der ganztägig ambulanten oder stationären Rehabilitation zum Erhalt der Gelenkbeweglichkeit und Vermeidung eines operativen Eingriffes (zeitliche Verschiebung nach hinten) sinnvoll. Gelenkerhaltendes operatives Vorgehen im Sinne einer intertrochantären Osteotomie evtl. auch einer Arthrolyse im Frühstadium bei jüngeren Patienten überlegenswert. Bei einem femuroazetabulären Impingement (FAI), initiiert z. B. durch eine beginnende knöcherne Halskrausebildung im Bereich des Schenkelhalses, ist auch eine arthroskopische Sanierung möglich mit dann deutlich verkürzter postoperativer Rekonvaleszenz. Im Falle fortgeschrittener Destruktionen alloplastischer Gelenkersatz (Endoprothese des Hüftgelenkes).
7
172
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Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
Zur Vermeidung überlastungsbedingter Beschwerden (Dekompensation der Arthrose) sollten hüftgelenksstrapazierende Bewegungsmuster ausgeschlossen werden. Daher sind keine schweren sowie keine ausschließlich mittelschweren körperlichen Tätigkeiten mehr zumutbar, kein Heben und Tragen bzw. Bewegen von Lasten über 10–15 kg, kein Arbeiten in Hock- oder Bückstellung bzw. in kniender Körperhaltung, keine Tätigkeiten in Vorbeugehaltung des Oberkörpers, keine Arbeiten auf unebenem Gelände, kein Besteigen von Leitern und Gerüsten, kein häufiges Treppensteigen, keine ausschließliche Steh- und Gehbelastung; Arbeiten unter Ausschluss von Kälte, Nässe und Zugluft. Die Gehstrecke ist in Abhängigkeit vom Ausmaß der degenerativen Veränderungen eingeschränkt. Der Einsatz einer kontralateralen Gehstütze ist überlegenswert. Positives Leistungsbild: Im Allgemeinen ist von einem über sechsstündigen Leistungsvermögen für leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten in überwiegend sitzender Körperhaltung auszugehen (in Einzelfällen unter ergonomischen Gesichtspunkten Höhenverstellbarkeit der Arbeits- und Sitzfläche, evtl. auch Abklappbarkeit der homolateralen Sitzhälfte erforderlich); Arbeiten in wohltemperierten Räumen; gelegentliche Geh- und Stehbelastung in den meisten Fällen möglich. Bedeutsamkeit der Kompensationsfähigkeit durch eine weitgehend belastbare kontralaterale Extremität. Im Falle einer ausgeprägten bilateralen Störung kommt nur noch eine nahezu ausschließlich sitzende Tätigkeit in Betracht. Bei gleichzeitig vorliegenden erheblichen Störungen im Bereich der Rumpfwirbelsäule (Instabilität der LWS bzw. des lumbosakralen Überganges, ausgeprägter degenerativer Bandscheibenschaden, statische Fehlhaltung mit erheblichen muskulären Dysfunktionen u. ä.) können aufgrund der hierdurch bedingten Behinderungen eines längeren Sitzens unter Umständen auch quantitative Beeinträchtigungen des Restleistungsvermögens resultieren. Koxitis. Hochschmerzhafte Entzündung des Hüftgelen-
kes mit meist rascher, irreparabler Destruktion des Gelenkknorpels und Ausbildung einer Koxarthrose. Ursache: unspezifische (dann meist subakut) oder spezifische (v. a. tuberkulöse) Infektionen, rheumatisch (dann oft schleichender Verlauf), seltener reaktiv nach einer Infektion. Für die Leistungsbeurteilung entscheidend ist das Ausmaß der Koxarthrose. Morbus Perthes. Ischämische Knochennekrose des Hüftkopfes im Kindesalter (3.–12. LJ), in 10–20 % doppelseitig. Jungen : Mädchen = 4 : 1. Die Prognose ist umso schlechter, je später die Erkrankung beginnt. Krankheitsverlauf über 2–4 Jahre in vier Stadien. Ausheilung mit Deformie-
rung des Hüftkopfes (Coxa vara, Hirtenstabdeformität). Im Falle einer bleibenden deutlichen Kongruenzstörung Entwicklung einer sekundären Koxarthrose. Entscheidend für die Belastbarkeit sind das Funktionsspiel des betroffenen Hüftgelenkes, seine muskuläre Stabilität (Trendelenburgsches Zeichen, Duchenne-Hinken) sowie das Ausmaß der Kongruenzstörung bzw. der bereits bestehenden Arthrose. Epiphyseolyse des Femurkopfes. Wachstumsstörung im Bereich der Femurkopfepiphysenfuge mit lokaler Auflockerung und meist langsamem (Lenta-Form), seltener abruptem (akute Form) Abrutschen der knöchernen Kopfkalotte nach dorsokaudal. Jungen > Mädchen, häufig bei adipösem Hochwuchs mit unterentwickelten Gonaden, meist zwischen dem 10. und 16. Lebensjahr, in 50–60 % bilateral. Bei der Lenta-Form uncharakteristische Leisten- oder Knieschmerzen, schnelle Ermüdbarkeit, Schonhinken, Drehmannsches Zeichen (Hüftabduktion bei Flexion des außenrotierten Beines). Bei der akuten Form hochgradiger Belastungschmerz des betroffenen Beines mit Bewegungseinschränkung der Hüfte. Pathognomonischer Röntgenbefund in der Lauenstein-Aufnahme. Therapie operativ: bei Abrutschen unter 20° Spickung mit Kirschnerdrähten bzw. Stabilisierung mit 3-Lamellennagel, zwischen 20°–50° intertrochantäre valgisierende und flektierende Korrekturosteotomie, über 50° subkapitale Osteotomie. Prognose bei frühzeitiger Diagnose und adäquater Operation gut, wenngleich immer eine Restinkongruenz des Hüftgelenkes (Coxa vara epiphysarea) als Präarthrose verbleibt (sozialmedizinisch relevant, auch schon bei der Berufswahl). In Einzelfällen sekundäre Hüftkopfnekrose. Nach optimaler operativer Versorgung über Jahre und Jahrzehnte meist keine wesentlichen Beeinträchtigungen. Bei vorzeitigen sekundären degenerativen Veränderungen evtl. qualitative Leistungsminderung. z Folgen von Frakturen Beckenfrakturen. Frakturen des Os ilium heilen ohne
Folgen für die Beckenstabilität aus. Bei Beteiligung der Iliosakralgelenke (z. B. Fugensprengung) oder im Falle einer Symphysensprengung sind oft operative Maßnahmen erforderlich. Verbleibt eine Instabilität, die v. a. beim Einbeinstand zum Tragen kommt, sind Arbeiten mit längerem Gehen und Stehen, Tätigkeiten auf unebenem Gelände u. a. nicht mehr zumutbar. Sitz- und Schambeinfrakturen sind für die Stabilität des Beckens und für die Hüftgelenksfunktion unbedeutend. Nach Ausheilung verbleibt keine Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit. Azetabulumfrakturen bedürfen bei Gelenkflächeninkongruenz immer einer peniblen operativen Rekonstruktion. Sie gelten als Präarthrose, unter vermehrter axialer Belastung wird die Entstehung einer Koxarthrose begünstigt.
173 7.4 · Untere Extremitäten
Schenkelhalsfrakturen. Schenkelhalsfrakturen werden eingeteilt in die intrakapsulär gelegenen medialen Schenkelhalsfrakturen (Typ Pauwels I–III bzw. GARDEN I-IV), die extrakapsulären lateralen Schenkelhalsfrakturen sowie die per- und subtrochantären (proximalen) Femurfrakturen (Einteilung nach AO (Arbeitsgemeinschaft Osteosynthese), je nach Lokalisation, Fragmentierung und Stabilität). Von entscheidender Bedeutung sind nach der knöchernen Ausheilung der Fraktur die muskuläre Stabilität und die Funktionalität des betroffenen Hüftgelenkes sowie das Ausmaß bereits vorhandener sekundärer Aufbrauchserscheinungen. Femurfrakturen. Femurfrakturen können zu Beinverkürzungen und Fehlstellungen führen. Eine diaphysäre Einstauchung mit Beinverkürzung von bis zu 3 cm sowie ein leichterer Achsfehler von 10–15° sind irrelevant. Beinlängendifferenzen von über 0,75 cm sollten sofort durch entsprechende Schuhzurichtung ausgeglichen werden. Stärkere Achsfehler begünstigen auf längere Sicht bei starker axialer Belastung die Entwicklung einer Sekundärarthrose des gleichseitigen Hüft- und Kniegelenkes. Ein deutlicher Rotationsfehler wirkt sich durch Überlastung des homolateralen Hüftgelenkes negativ auf die Gangabwicklung aus. Nach einer Marknagelung kommt es im Bereich der Glutealmuskulatur oberhalb des Trochanter major nicht selten zu Weichteilverknöcherungen (»Kallushütchen«), die beim längeren Sitzen Beschwerden machen können. Nach fehlverheilten suprakondylären oder kondylären Frakturen kann sich durch übersteigerte (einseitige) Kniegelenksbelastung eine Gonarthrose entwickeln. Femurosteomyelitis. Eine blande Femurosteomyelitis ohne wesentliche entzündliche Aktivität (Abklärung durch Labordiagnostik, evtl. Tomographie und Szintigraphie) schränkt das Leistungsvermögen nur unwesentlich ein. Im Falle einer chronischen Fistelung mit täglich erforderlichen Verbandswechseln besteht die Notwendigkeit einer operativen Sanierung und somit Arbeitsunfähigkeit. z Folgen operativer Eingriffe Beckenosteotomie. »Pfannenverbessernder« Eingriff im
Falle einer Inkongruenz des Hüftgelenkes zwecks Optimierung der axialen Lastverteilung, z. B. durch ChiariOsteotomie, Schwenkplastik nach Tönnis, appositionelle Pfannendachplastik. Hierdurch soll einer vorzeitigen Arthrose entgegengesteuert werden. Die knöcherne Ausheilung bis zur Vollbelastung dauert mindestens 3 Monate, die Arbeitsunfähigkeit postoperativ nicht selten 4 Monate und länger. Das Leistungsvermögen hängt ab vom Ausmaß einer bereits bestehenden Koxarthrose, von der pelvitrochanteren muskulären Stabilität sowie vom funktio-
nellen Bewegungsspiel der Hüfte. Gelingt der Eingriff, ist i. Allg. mit einem über sechsstündigen Leistungsvermögen für leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten in überwiegend sitzender Körperhaltung zu rechnen. Die Gehstrecke ist nur bei erheblichen Funktionsstörungen beeinträchtigt. Korrekturosteotomie. Intertrochantäre Umstellungsosteotomie mittels Winkelplatte und Schrauben (varisierend, valgisierend, derotierend, flektierend, extendierend) zur Korrektur einer Fehlstellung im Schenkelhalsbereich (Coxa vara, Coxa valga, Coxa antetorta). Damit sollen bei jüngeren Patienten die Biomechanik des Hüftgelenkes verbessert, belastungsabhängige Beschwerden reduziert und eine vorzeitige Arthrose vermieden werden. Postoperative Teilentlastung der operierten Extremität für 8–12 Wochen, Arbeitsunfähigkeit 3–4 Monate, stationäre Rehabilitation nur im Einzelfall erforderlich. Das Leistungsvermögen wird bestimmt durch die pelvitrochantere muskuläre Stabilität (Trendelenburg), die Gelenkfunktion sowie das Ausmaß einer bereits vorhandenen Arthrose. In der Regel besteht nach einem gelungenen Eingriff ein über sechsstündiges Leistungsvermögen für leichte und zumindest gelegentlich mittelschwere Arbeiten ohne ausschließliche Geh- und Stehbelastung. Die Gehstrecke ist nicht wesentlich eingeschränkt.
Intertrochantäre
Endoprothese des Hüftgelenkes. Gesamtfallzahl 2007:
152.300 Primäreingriffe, 21.800 Wechseloperationen; Geschlechtsverteilung Frauen : Männer = 6 : 4; durchschnittliches Operationsalter: 65 Jahre. Ersatz des Hüftgelenkes mit zementfreier, teil- oder vollzementierter Endoprothese, Hüftkopfkappe, femoraler Teil- bzw. Totalendoprothese. Heutzutage Indikationsstellung auch bei jüngeren Patienten, die noch im Erwerbsleben stehen. Postoperative Rehabilitation i. Allg. über mindestens 12 Wochen (operierende Klinik etwa 2 Wochen; stationäre oder ganztägig ambulante Therapie in einer AHB-Einrichtung, dann ambulante Weiterbetreuung). Dauer der Arbeitsunfähigkeit abhängig von der Vorgeschichte und Art der Endoprothese etwa 2–4 Monate. Für die körperliche Belastbarkeit wesentlich ist die Funktionalität des Gelenkes (Restbeugekontraktur mit erforderlicher Kompensation über die untere Lendenwirbelsäule, Beugebeeinträchtigung z. B. im Falle ausgeprägter periartikulärer Ossifikationen, Gelenkstabilität, Trendelenburgsches Zeichen), seltener Außenrotationsfehler (bei persistierender Kontraktur oder bei Fehlimplantation der Stielkomponente). Eine Beeinträchtigung der Rotation ist kaum relevant. Ausgleich einer nicht seltenen postoperativen Beinlängenzunahme am Schuhwerk, wenn die Differenz > 0,75 cm beträgt.
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Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
Im Allgemeinen über sechsstündiges Leistungsvermögen für leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten. Auf Dauer keine ausschließlich mittelschweren und keine schweren körperlichen Arbeiten. Keine ausschließliche Geh- und Stehbelastung (Anteil an sitzender Tätigkeit zumindest 40 %). Unter Umständen sind Rotationsfehler zu beachten, die evtl. die Gehfähigkeit beeinträchtigen können. Kein tiefes Sitzen wegen Luxationsgefahr beim Aufstehen aus maximaler Hüftbeugung, kein Gehen auf unebenem Gelände, kein Besteigen von Leitern und Gerüsten, kein häufiges Treppensteigen. Keine Arbeiten im Hocksitz, keine Tätigkeiten mit häufigem Bücken (Luxationsgefahr); kein Heben, Tragen bzw. Bewegen von Lasten über 10 kg; keine Arbeiten unter Kälte-, Nässe- und Zuglufteinfluss. Gehstrecke begrenzt, in aller Regel sind jedoch Wege von 1.000–1.500 m mehrmals am Tag zumutbar. Bei muskulären Beschwerdebildern (pelvitrochantäre Insuffizienz) Einsatz eines kontralateralen Handstockes ratsam. Arthrodese des Hüftgelenkes. Versteifung des Hüftge-
lenkes in Funktionsstellung, d. h. Flexion 10–15°, Abduktion 5°, Außenrotation 5°. Heutzutage selten indiziert, z. B. bei Kontraindikation zur Implantation einer Hüftendoprothese wie im Falle einer bakteriellen oder tuberkulösen Koxitis. Langer postoperativer Zeitraum bis zur knöchernen Stabilisierung (3–4 Monate) bei nicht unerheblicher Misserfolgsquote. Nach geglücktem Eingriff ist das betroffene Bein weitgehend schmerzfrei belastbar. Das Gangbild ist mäßig, das Sitzen deutlicher behindert. Außerdem kommt es zu einer konsekutiven kompensatorischen Überlastung der Lendenwirbelsäule sowie des homolateralen Kniegelenkes. Leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten in überwiegend sitzender Körperhaltung. Hierbei sind eine Stuhlauflage (Arthrodesenkissen) oder gar ein Arthrodesenstuhl erforderlich. Arbeiten nur noch ebenerdig in geschlossenen, wohltemperierten Räumen; keine Hockoder Bückstellung. Gehstrecke beeinträchtigt, Wege von 1.000–1.200 m sind i. Allg. jedoch zumutbar; evtl. kontralateraler Gehstock. Resektionshüfte (Girdlestone-Situation). Operative Entfernung von Femurkopf und -hals z. B. wegen eitriger Koxitis oder nach dem Ausbau einer infizierten Endoprothese, jeweils mit Belassen der instabilen Defektsituation. Ein Fortbewegen ohne Gehhilfe ist nur über kurze Strecken möglich. Bei persistierender, fistelnder Infektion besteht ein aufgehobenes Leistungsvermögen. Nach Ausheilung der Entzündung sind leichte Tätigkeiten in ganz überwiegend sitzender Körperhaltung bei möglicher Kompensation durch die kontralaterale untere Extremität im Einzelfall noch denkbar. Die Gehstrecke ist deutlich
eingeschränkt, 500–800 m mit Gehhilfe können möglich sein. z Folgen von Amputationen Hüft(gelenks)exartikulation. Indikation vor allem bei
tumorösen Destruktionen oder aber als ultima ratio im Falle einer schweren persistierenden Infektion nach HüftTEP. Zur (exo)prothetischen Versorgung ist ein Beckenkorb mit Umfassung der Gegenseite erforderlich. Ein unterstützungsfreies Gehen ist in aller Regel nicht umzusetzen. Auch beim Sitzen besteht eine starke Beeinträchtigung. Leistungsvermögen und Gehstrecke sind erheblich eingeschränkt. Nur in Ausnahmefällen ist noch von einer Belastbarkeit von 3 Stunden oder mehr auszugehen. Öffentliche Verkehrsmittel sind nur sehr begrenzt nutzbar. Ein Pkw muss umgerüstet werden: breiter Einstieg, Sitzverlängerung, Umbau der Bedienungspedale. Oberschenkelamputation. Entscheidend sind eine ausreichende Stumpflänge (gemessen vom Tuber ossis ischii bis zum Stumpfende), eine optimale Myoplastik ohne »Weichteilpseudarthrose« und entzündungsfreie Hautverhältnisse. Meist ist eine prothetische Versorgung möglich. Bei gutem Sitz kann auf kurzen Strecken nicht selten auf eine kontralaterale Gehhilfe verzichtet werden. In seltenen Einzelfällen (z. B. bei ultrakurzem Stumpf) ist ein stabilisierender Beckengurt erforderlich.
7.4.3 z
Kniegelenk und Unterschenkel
Biomechanik
Das Kniegelenk verbindet Ober- mit Unterschenkel. Anatomisch ist es ein Drehwinkelgelenk (sog. Trochlogynglimus). Im Zuge der Beugebewegung führt die asymmetrisch geformte Femurkondyle auf dem Tibiaplateau eine gleichzeitige Rollbewegung nach ventral durch (Scharniergelenk mit wandernder Achse). In der Endphase der Streckung kommt es zu einer Schlussrotation nach außen von etwa 10°. Bei gebeugtem Knie sind darüber hinaus um eine Längsachse eine Innen- und Außenrotation von 20– 30° möglich. Das physiologische Bewegungsspiel bezüglich Extension/Flexion liegt beim Mann bei 0°/0/140°, bei der Frau besteht nicht selten eine leichte Überstreckbarkeit von 5–10°. Die Funktionsstellung ist eine leichte Flexion von 5°. Die Beinachse unter Belastung in stehender Körperhaltung beträgt normalerweise 6–7° Valgus. Die Stabilisierung des Kniegelenkes erfolgt über zwei rotationslimitierende Kreuzbänder sowie über ein sehr starkes mediales sowie ein eher schwächeres laterales Kollateralband. Zusätzlich besteht eine eher mäßige muskuläre Führung. Eine knöcherne Gelenkstabilisierung fehlt. Intraartikulär gleichen der halbmondförmige Innenme-
175 7.4 · Untere Extremitäten
niskus sowie der halbkreisförmige Außenmeniskus die Inkongruenzen der Gelenkflächen von Oberschenkelrolle und Schienbeinkopf aus. Die Kniescheibe liegt als Sesambein in der Kniestrecksehne und bildet mit dem ventralen Anteil der Oberschenkelrolle das sog. Femoropatellargelenk. Unter biomechanischen Gesichtspunkten ist sie als Hypomochlion bei der muskulären Kraftübertragung vom Ober- auf den Unterschenkel bedeutungsvoll. z Diagnostik Körperliche Untersuchung. Inspektion: O-Bein/X-Bein;
Kapselschwellung (Knieumfang im Seitenvergleich), Unterschenkelödem. Palpation/Funktion: Druckschmerz des (medialen, lateralen) Gelenkspaltes bzw. der Kapsel- oder Kollateralbandansatzpunkte, Patellaspiel, Patellaanpress- und -verschiebeschmerz, Zohlen-Zeichen, Kniekehle (Vorwölbung?), Gelenkreiben, Gelenkerguss, Meniskusprovokationsteste, Kollateralbandführung (Valgus- bzw. Varusstress), Kreuzbandführung (Schubladentest, Lachmann-Test), Streckung und Beugung (minimaler Abstand Ferse–Oberschenkel im Seitenvergleich); Wadenumfang (gemessen 15 cm unterhalb des inneren Kniegelenksspaltes im Seitenvergleich).
einwirkenden Krafteinflüssen sowie beim Gehen auf unebenem Gelände. Beweglichkeit. Ein Streckdefizit im Kniegelenk von bis
zu 5° wird beim Gehen weitgehend kompensiert und fällt funktionell kaum ins Gewicht. Ab 10° kommt es zu einer mäßigen, ab 20° zu einer deutlichen und ab 30° zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Gangabwicklung mit funktioneller Beinverkürzung und Problemen bei der Kraftübertragung mit vermehrter Muskelarbeit (v. a. beim Begehen von Treppen) sowie einer Gangunsicherheit auf unebenem Untergrund. Eine Beugefähigkeit von 110° reicht aus für einen normalen Einsatz im täglichen Leben. Ist die Flexion ab 100° limitiert, resultiert eine Beeinträchtigung des Fahrradfahrens, ab 90° eine deutliche Behinderung beim Treppauf- und -abgehen, bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sowie auch beim Einnehmen des tiefen Hocksitzes. Die komplette Einsteifung eines Kniegelenkes z. B. nach Kniearthrodese bringt Beeinträchtigungen beim Gehen, beim längeren Sitzen und vor allem beim Aufrichten aus einer sitzenden Körperhaltung mit sich. Gelenkflächen. (Arthrotische)
Röntgen. Kniegelenk in 2 Ebenen (a.p. möglichst im Ste-
hen): gelenkbildende Anteile (mechanische Achse 87°, anatomische Achse beim Erwachsenen 5–7° Valgus), ligamentäre Verknöcherungen. Patella axial: Beurteilung der Patellaform (Einteilung nach Wiberg) sowie des Alignments. Fricksche Tunnelaufnahme: Nachweis freier Gelenkkörper. Stressaufnahmen (Varus, Valgus): Objektivierung einer Kollateralbandinstabilität. Sonographie. Einsatz vor allem zur Darstellung der
Weichteile im Bereich der Kniekehle, z. B. bei V. a. auf Ganglionbildung. Computertomographie. Computertomographie ist nur
in Einzelfällen sinnvoll, z. B. zur exakten Lokalisation von Frakturfragmenten (koronarer Strahlengang). Kernspintomographie. In Einzelfällen zur Abklärung
pathologischer Gelenkbinnenstrukturen (Menisken, Kreuzbänder, Knorpeloberflächen) sinnvoll. Arthroskopie. Unter gutachterlichen Fragestellungen ist auch auf Arthroskopieberichte zurückzugreifen.
Veränderungen der Gelenkflächen führen oft zu belastungsabhängigen Beschwerden. Im Femorotibialgelenk erhöhen Körpergewicht und Traglasten im Stehen und Gehen sowie beim Aufstehen aus ruhender Körperhaltung den axialen Druck auf die Gelenkflächen. Im Femoropatellargelenk presst ein kraftvoller Einsatz der Quadrizepsmuskulatur die Kniescheibe in ihr femorales Gleitlager; z. B. beim Tragen schwerer Lasten, beim Bergauf- und Bergab- bzw. Treppauf- und Treppabgehen sowie beim Einnehmen der bzw. Aufrichten aus der Hockstellung.
Muskulatur. Standardisierte Messung des Muskelumfanges 15 cm unterhalb des inneren Kniegelenksspaltes (Wade) im Seitenvergleich; Differenzen von 1,0 cm und mehr weisen auf eine längere Schonung bzw. Entlastung des betroffenen Beines hin (z. B. auf Grund einer persistierenden radikulären Störung oder einer posttraumatischen Situation). Überprüfung des muskulären Tonus durch willkürliches Anspannen (Mitarbeit des Patienten erforderlich). Selbst auffällige, klinisch fassbare Defekte nach Muskelfaserrissen sind bezüglich der Belastbarkeit in den meisten Fällen irrelevant. Achsabweichung. Im Falle einer Achsabweichung im
z Begutachtungskriterien Stabilität. Eine Bandinstabilität erfordert verstärkte mus-
kuläre Kompensationsmechanismen. Oft verbleibt eine Unsicherheit bei plötzlich unvorhergesehen von außen
O- oder X-Sinne kommt es über die Verlagerung der Trageachse des Beines nach innen oder außen zu einer asymmetrischen Lastübertragung vom Oberschenkel auf den Unterschenkel mit Entwicklung einer einseitigen Arthrose (Genu varum, Genu valgum).
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Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
Reizzustände. Gonalgien (z. B. als Ausdruck einer akti-
vierten Arthrose) äußern sich typischerweise durch eine (synoviale) Kapselschwellung mit schmerzhaftem anteromedialen und anterolateralen Palpationsbefund sowie Belastungsarthralgien; Irritationen im Bereich der tibialen Kapselansatzpunkte, des Pes anserinus, des Ober- bzw. des Unterrandes der Patella, der Tuberositas tibiae oder der proximalen Anteile des dorsalen Schienbeinkopfes sprechen eher für insertionstendopathische Affektionen der kniebewegenden Muskulatur bzw. der ligamentären Strukturen. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Ebenso wie für das Hüftgelenk gilt es auch bei Affektionen des Kniegelenkes bei der Beurteilung des körperlichen Leistungsvermögens und der Gehstrecke unter sozialmedizinischen Gesichtspunkten die Möglichkeit der Kompensation durch eine schmerzfrei belastbare kontralaterale untere Extremität zu beachten; evtl. Einsatz einer Gehhilfe. z
Einzelne Krankheitsbilder
Die sozialmedizinische Beurteilung richtet sich nach den oben dargestellten Regeln. Besonderheiten sind bei den einzelnen Krankheitsbildern aufgeführt. Genu varum und Genu valgum. 0- bzw. X-Bein-Fehlstellung mit asymmetrischer axialer Belastung des Kniegelenkes (normal sind 6–7° Valgus). Die Folge sind Belastungsgonalgien mit Kniebinnenreizzuständen und Kapselschwellung, Meniskopathien sowie die Entwicklung einer sekundären Gonarthrose. Therapie symptomatisch (medikophysikalische und krankengymnastische Palette). Optimierung der Lastverteilung durch Sohlenaußenranderhöhung bei Genu varum, Sohleninnenranderhöhung bei Genu valgum. Relative Operationsindikation im Sinne der Achskorrektur (kniegelenksnahe Umstellungsosteotomie). Die körperliche Belastbarkeit wird bestimmt durch das Ausmaß degenerativer Aufbrauchserscheinungen mit entsprechenden lokalen Reizzuständen, die Stabilität des Gelenkes sowie eine bestehende Funktionseinschränkung. Gonarthrose. Degenerativer Aufbrauch des Kniegelenkes idiopathischer, aber auch posttraumatischer sowie entzündlich-rheumatischer Genese. Einflussfaktoren: dispositionelle Veranlagung, Beinachsenfehler, traumatische Vorschädigung des Gelenkknorpels, der Menisken und/ oder Bänder, Stoffwechselstörungen (Chondrokalzinose, Hyperurikämie u. a.), Übergewicht. Ziel einer konservativen Behandlung (medikophysikalisch, intraartikuläre Kristallkortikoide, Krankengymnastik u. a.) ist das Erreichen eines kompensierten, d. h. beschwerdefreien bzw. beschwerdearmen Zustandes. Im Falle der Dekompensation
(aktivierte Arthrose) belastungsabhängige Schmerzen, Kniegelenkserguss, Bewegungseinschränkung (Streckund Beugebehinderung). Radiologische Diagnostik durch Belastungsaufnahmen im Stehen sowie durch Patellaaxial-Aufnahmen. Die Indikation zu gelenkerhaltenden Eingriffen (knorpelsanierende Eingriffe, kniegelenksnahe Umstellungsosteotomie) bzw. zum endoprothetischen Ersatz hängt ab vom Schweregrad der degenerativen Veränderungen, vom bestehenden Funktionsdefizit sowie vom Lebensalter des Patienten. Evtl. diagnostische Arthroskopie zur exakten Erfassung von Ausmaß und Lokalisation der Arthrose. Bereits angelegte regressive Veränderungen sind nicht mehr rückbildungsfähig. Um eine Dekompensation der Arthrose zu vermeiden, sollten kniegelenksstrapazierende Aktivitäten vermieden werden. Von großer Wichtigkeit ist auch die Möglichkeit der Kompensation und Entlastung durch die kontralaterale Extremität. Im Allgemeinen ist von einem über sechsstündigen Leistungsvermögen für leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten in temperierten Räumen und überwiegend im Sitzen, durchaus mit gelegentlicher Geh- und Stehbelastung auszugehen. Keine schweren sowie ausschließlich mittelschweren Tätigkeiten, keine Arbeiten mit ständigem Stehen und Gehen, mit Heben, Tragen sowie Bewegen von Lasten über 10–15 kg, in Hock- oder Bückstellung, im Knien, auf unebenem Gelände, kein Besteigen von Leitern und Gerüsten, kein häufiges Treppensteigen, keine Kälte-, Nässe- und Zugluftexposition. Abhängig vom Ausmaß der degenerativen Veränderungen ist die Gehstrecke eingeschränkt. Ein kontralateraler Gehstock ist überlegenswert. Bei ausgeprägter bilateraler Gonarthrose sind nur noch Arbeiten in überwiegend sitzender Körperhaltung möglich. Bei dekompensiertem Beschwerdebild besteht evtl. auch eine quantitative Leistungseinschränkung. Meniskusläsionen. Überwiegend degenerative, seltener traumatische Schädigung des Innen- oder Außenmeniskus. Belastungsabhängiges Schmerzbild, vor allem bei Rotationsbewegungen sowie in Hockstellung; gonalgische Reizzustände mit Ergussbildung, Gelenkblockade (Streckhemmung). Arthroskopische Sanierung (Teilresektion, Refixation) empfehlenswert. Nach optimaler operativer Sanierung meist lange Zeit gut kompensierter Zustand ohne wesentliche Beeinträchtigungen. Begünstigung einer späteren Gonarthrose.
Meniskusdegeneration,
Meniskusganglion. Gallertige Degeneration meist des Außenmeniskus mit druckdolenter lokaler Schwellung in Höhe des Gelenkspaltes und bewegungsabhängigem Schnappen. Operative Ganglionexstirpation zusammen mit Teilresektion des Meniskus (sonst Rezidivneigung).
177 7.4 · Untere Extremitäten
Nach erfolgreicher operativer Sanierung verbleiben i. Allg. keine relevanten Störungen. In Einzelfällen Präarthrose.
Osteochondrosis dissecans. Subchondrale aseptische
generativer Aufbrauch der Kniescheibengelenkfläche mit resultierendem belastungsabhängigem femoropatellaren Schmerzsyndrom. Idiopathisch, bei Beinachsenfehlern, bei Patella- bzw. Gleitlagerdysplasie, posttraumatisch (vor allem nach Patellafraktur mit Gelenkflächenbeteiligung). Konservative Behandlungspalette mit dem Ziel des Erreichens einer kompensierten Belastungssituation (o Gonarthrose). Evtl. Versorgung mit einer textilen kniestabilisierenden Orthese. Tätigkeiten mit besonderer Beanspruchung des femoropatellaren Gelenkes sind auszuschließen: keine Arbeiten mit aussschließlicher Steh- und Gehbelastung, auf unebenem Gelände, mit häufigem Besteigen von Treppen, auf Leitern und Gerüsten, in Hockstellung, unter Kälte-, Nässe- und Zuglufteinfluss, auch mit häufigem Wechsel zwischen Sitzen und Stehen. Tragen von flachem Schuhwerk ist empfehlenswert. Gehstrecke nur bei ausgeprägten degenerativen Veränderungen eingeschränkt.
Knochennekrose meist im Bereich des lateralen Randes der medialen Femurkondyle, seltener im Bereich der lateralen Kondyle oder der Patellarückfläche. Doppelseitiges Auftreten in etwa 25 %. Vorkommen gehäuft im Kindesund Jugendalter mit nicht selten spontaner Rückbildung noch vor dem 12. Lebensjahr. Diagnose im Frühstadium durch Kernspintomogramm, sonst radiologisch. Belastungsabhängige Beschwerden, bei Ausbildung eines freien Gelenkkörpers (Gelenkmaus mit leerem Mausbett) Reizknie mit Einklemmungserscheinungen. Nach Dissektion verbleibt eine präarthrotische Deformität. Therapie symptomatisch, evtl. temporäre Entlastung. Im fortgeschrittenen Stadium evtl. Anbohrung (mit dem Ziel der Revaskularisierung des Nekrosebezirkes). Im Falle einer frischen Dissektion Versuch der Refixation, im Spätstadium autologe Knorpelknochenplastik bzw. autologe Chondrozyten-Transplantation. Die körperliche Belastbarkeit ist abhängig vom Bewegungsspiel des betroffenen Kniegelenkes, vom Auftreten möglicher Kniebinnenreizzustände sowie vom Ausprägungsgrad möglicher degenerativer Veränderungen (o Gonarthrose).
Patellainstabilität. Rezidivierende
Femurrollennekrose
Chondropathia patellae und Retropatellararthrose. De-
bzw. habituelle Kniescheibenluxation vor allem nach lateral im Zuge der Kniebeugung bzw. bei inadäquatem Trauma. Hypermobilität der Patella, evtl. belastungsabhängiges retropatellares Schmerzbild (o Chondropathia patellae). Röntgenologisch oft Dysplasie der Kniescheibe, evtl. mit Gleitlagerdysplasie. Auf längere Sicht Begünstigung der Entstehung einer sekundären o Retropatellararthrose. Im Falle erheblicher Beschwerden Tragen einer kniescheibenstabilisierenden Orthese, operative Optimierung des Weichteilalignments (mediale Kapselraffung), evtl. mit Medialisierung der Tuberositas tibiae. Leistungsbeurteilung: o Chondropathia patellae, Retropatellararthrose.
Poplitealzyste. Kniekehlenganglion, Baker-Zyste. Meist
dorsomedial gelegene Ausstülpung der hinteren Kniegelenkskapsel (Zyste mit stielartiger Verbindung zum Gelenk). Ganz überwiegend Folge einer Kniebinnenerkrankung mit vermehrter Bildung von Synovialflüssigkeit und hierdurch bedingtem länger andauerndem Innendruck. Prall elastische Vorwölbung (vor allem bei Kniestreckung tastbar), charakteristisches Spannungsgefühl in der Kniekehle mit schmerzhafter Beugebewegung. Diagnosesicherung durch Sonographie, evtl. Arthrographie. Abklärung der Kniebinnensituation (evtl. arthroskopische Sanierung) und Ausschluss einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung erforderlich, Exstirpation des Ganglions bei persistierenden Beschwerdebildern (Rezidive möglich). Längerandauernde Arbeiten in Hockstellung sind nicht möglich. Die Gehstrecke ist nicht beeinträchtigt.
(Morbus Ahlbäck). Segmentale Osteonekrose des inneren Femurkondylus. Idiopathisch, seltener nach systemischer oder lokaler Kortikoidbehandlung; v. a. bei älteren Menschen, Frauen >> Männer. Plötzlicher Beginn mit erheblichen Ruhe- und Belastungsschmerzen im inneren Kniegelenksbereich, Kapselschwellung und Gelenkerguss; zunehmend arthrotische Veränderungen. Im Frühstadium Entlastung und symptomatische Behandlung. Im fortgeschrittenen Stadium mit großer Defektzone Implantation einer monokondylären Schlittenendoprothese. Die körperliche Belastbarkeit hängt ab vom Bewegungsspiel des betroffenen Kniegelenkes, vom Auftreten möglicher Kniebinnenreizzustände sowie vom Ausprägungsgrad der degenerativen Veränderungen (o Gonarthrose).
Chondromatosis synovialis. Metaplastische Verände-
rung der Synovialmembran mit Bildung multipler, teils sessiler, teils freier Gelenkkörper. Meist chronische Gelenkschwellung, belastungsabhängige lokale Schmerzbilder, evtl. Gelenkblockade. Indikation zur möglichst radikalen Synovektomie mit Entfernung sämtlicher Gelenkkörper. Meist deutliche qualitative Einschränkung des körperlichen Leistungsvermögens, abhängig vom Funktionsspiel des Gelenkes sowie vom Ausmaß möglicher sekundärer Veränderungen (o Gonarthrose). Persistierende Kniebandinstabilität. Unzureichende Stabilität der Kollateralbänder bzw. Kreuzbänder. Meist posttraumatisch, sehr selten idiopathische Bandlaxizität.
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Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
Belastungsabhängige Schmerzen, Umknickneigung und Unsicherheitsgefühl vor allem beim Treppabwärtsgehen und beim Gehen auf unebenem Gelände. Diagnosesicherung durch Röntgenaufnahmen im Valgus- bzw. VarusStress. Krankengymnastische Behandlung mit gezieltem Auftrainieren der Quadrizepsmuskulatur, Tragen einer kniestabilisierenden Orthese (externe Schienung). Vor allem im Falle einer Rotationsinstabilität (Kreuzbänder) sind sekundäre degenerative Meniskusveränderungen zu befürchten; unter diesem Aspekt bei Patienten im jüngeren und mittlerem Lebensalter Indikation zur (autologen) Bandplastik o Kniebandplastik. Leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten sind i. Allg. ohne zeitliche Einschränkung verrichtbar. Vermeidung kniestrapazierender Bewegungsmuster wie Hockstellung oder Bückstellung, kein Gehen auf unebenem Gelände, kein Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, kein häufiges Begehen von Treppen, kein Heben, Tragen und Bewegen schwerer Lasten > 10–15 kg, keine ausschließlich gehenden und stehenden Tätigkeiten. Beeinträchtigung beim Gehen ohne Augenkontrolle. Evtl. Möglichkeit zum plötzlichen Abstützen (z. B. Handlauf an einer Treppe u. ä.). Die Gehstrecke ist in aller Regel nicht wesentlich eingeschränkt. Morbus Osgood-Schlatter. Relativ häufige aseptische Knochennekrose der Tuberositas tibiae. Ätiologie: Sportliche Überlastung? (verstärkter Zug am Lig. patellae?). Vor allem bei Jungen, bevorzugt zwischen dem 10.–14. Lebensjahr. Typischer lokaler Belastungsschmerz, druckbedingte Schwellung, Schmerzverstärkung bei kraftvoller Extension des Kniegelenkes gegen Widerstand. Temporäre Schonung, lokale Antiphlogese, Sportpause. Gute Prognose. In Einzelfällen verbleibt eine deutliche Prominenz der Tuberositas tibiae, die beim Knien schmerzen kann; dann evtl. operative Entfernung. Beim Arbeiten evtl. Tragen einer abpolsternden Schutzkappe aus Gummi. Achillessehnenruptur. Meist
komplette Rissbildung etwa 3–4 cm oberhalb des Ansatzpunktes am Fersenbein (nicht zwingend adäquates Trauma bei oft gegebener degenerativer Vorschädigung). Akuter Schmerz mit typischem Knall, Zehenspitzenstand unmöglich, lokale Druckdolenz, Schwellung, tastbare Gewebelücke. Im Liegen kann eine aktive Plantarflexion durch die Sehne des M. plantaris erhalten sein. Diagnosesicherung durch sonographische Kontrolle. Operative Versorgung, anschließende sechswöchige Ruhigstellung bzw. frühfunktionelle Behandlung unter axialer Entlastung. Dauer der Arbeitsunfähigkeit bei Sitzberufen etwa 3–4 Wochen, bei Tätigkeiten mit überwiegender stehender und gehender Körperhaltung 7–10 Wochen. Nach optimaler operativer Versorgung verbleibt i. Allg. bis auf eine geringe Beein-
trächtigung der Dorsalextension im oberen Sprunggelenk keine wesentliche Leistungseinschränkung. z Folgen von Frakturen Frakturen mit Beteiligung des Kniebinnenbereiches. Nach einer Schädigung tragender Gelenkflächen
(Oberschenkelrolle, Schienbeinkopf oder Kniescheibe) verbleibt, abhängig von der Qualität der anatomischen Wiederherstellung, eine präarthrotische Deformität. Belastungsgonalgien, o Gonarthrose, o Retropatellararthrose. Unterschenkelschaftfrakturen. Diaphysäre Frakturen des Schienbeines (evtl. auch gleichzeitig des Wadenbeines) meist als Folge eines direkt einwirkenden Traumas. Osteosynthetische Versorgung mit intramedullärem Tibiamarknagel, mit Platte oder durch Fixateur externe. Eine Ausheilung unter leichter Verkürzung (durch entsprechende Schuhzurichtung ohne Probleme kompensierbar) sowie geringe Achsfehler bis zu 5° sind klinisch kaum relevant. Im Falle eines stärkeren Achsfehlers und bei Rotationsfehlern resultiert eine Fehlbelastung des femorotibialen und des femoropatellaren Gelenkes sowie auch der Sprunggelenke mit Begünstigung der Entwicklung einer sekundären Arthrose (o Gonarthrose, o Retropatellararthrose, obere o Sprunggelenksarthrose) mit entsprechenden qualitativen Einschränkungen der Belastbarkeit des betroffenen Beines. Tibiaosteomyelitis. Eine blande Tibiaosteomyelitis ohne wesentliche entzündliche Aktivität (Abklärung durch Labordiagnostik, evtl. Tomographie und Szintigraphie) schränkt das Leistungsvermögen nur unwesentlich ein. Im Falle einer chronischen Fistelung mit täglich erforderlichen Verbandswechseln besteht die Notwendigkeit einer operativen Sanierung und somit Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung. z Folgen operativer Eingriffe Kniegelenksnahe Umstellungsosteotomie. Achskorri-
gierender Eingriff im suprakondylären femoralen (v. a. beim Genu valgum) oder infrakondylären tibialen (v. a. beim Genu varum) Bereich zur Verbesserung der axialen Lastverteilung. Hierdurch soll einer vorzeitigen Arthroseentwicklung entgegengewirkt bzw. ihre Progredienz verlangsamt werden. Die knöcherne Ausheilung nach der Osteosynthese (Platte mit Schrauben, Metallklammern, Fixateur externe) dauert etwa 3 Monate, die postoperative Arbeitsunfähigkeit 4 Monate. Das Leistungsvermögen hängt ab vom Ausmaß der bereits bestehenden degenerativen Gelenkveränderungen (o Gonarthrose) und den hierdurch möglicherweise bedingten Gelenkbinnenreiz-
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zuständen sowie der Bandstabilität und Funktionaliät des Knies. Kniebandplastiken. In den meisten Fällen ist das vordere Kreuzband (autologer Ersatz z. B. durch Anteile des Lig. patellae bzw. der Sehne des M. semitendinosus), seltener das hintere Kreuzband und in Ausnahmefällen auch das mediale oder laterale Kollateralband betroffen. Dauer der postoperativen Arbeitsunfähigkeit nicht selten 3–4 Monate. Ambulante oder im Einzelfall auch stationäre Rehabilitation zwischen der 2.–8. Woche sinnvoll. Das Leistungsvermögen wird bestimmt durch das Ausmaß bereits vorhandener sekundärarthrotischer Veränderungen (o Gonarthrose); i. Allg. ist bei gelungenem Eingriff wieder eine volle Belastbarkeit und auch Sportfähigkeit zu erwarten. Knorpelsanierende Eingriffe am Kniegelenk. Arthroskopisch oder offen durchgeführte operative Eingriffe bei degenerativen Veränderungen der kartilaginären Gelenkflächenanteile (reine Lavage, Gelenktoilette, Microfracturing, Mosaikplastik, Chondrozytentransplantation u. a. m.) zur Verbesserung der Gelenkmechanik und damit der Belastbarkeit des Kniegelenkes. Indikationsstellung v. a. bei therapieresistenten Arthralgien und hartnäckigen Reizzuständen. Art des Eingriffes abhängig von der Lokalisation und vom Ausmaß der degenerativen Veränderungen sowie vom Lebensalter des Patienten. Postoperativ ist bei aufwändigeren Knorpelplastiken oft eine konsequente axiale Entlastung für 8–12 Wochen erforderlich. Dann ist eine ambulante Behandlung oder ganztägig ambulante Rehabilitation zwischen der 2. und 8. Woche durchaus sinnvoll. Dauer der postoperativen Arbeitsunfähigkeit nicht selten 3–4 Monate. Das Leistungsvermögen wird bestimmt durch das Ausmaß der bereits vorhandenen arthrotischen Veränderungen; i. Allg. ist mit qualitativen Beeinträchtigungen im Arbeitsleben, evtl. auch der Gehstrecke zu rechnen (o Gonarthrose). Patellektomie. Operative Entfernung der Kniescheibe als ultima ratio bei schwerer Femoropatellararthrose mit sonst therapierefraktären Beschwerden. Postoperative Arbeitsunfähigkeit mindestens 6–8 Wochen (stabile Ausheilung des verbliebenen Kniestreckapparates), evtl. weitere ganztägig ambulante/stationäre Rehabilitation mit gezielter Aufschulung der kniestabilisierenden Muskulatur. Es verbleibt durchaus öfter eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Gang- und Standsicherheit v. a. beim Treppensteigen durch verminderte Kraftentfaltung des M. quadriceps, vor allem beim Aufstehen aus sitzender Körperhaltung bzw. beim Aufrichten aus der Hock- oder Bückstellung. In Einzelfällen ist das Tragen einer teilstabilisierenden Textilorthese überlegenswert.
Leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten in überwiegend sitzender Körperhaltung mit nur gelegentlicher Geh- und Stehbelastung sind i. Allg. sechs Stunden und mehr zumutbar. Kein Heben und Tragen sowie Bewegen von Lasten über 10 kg, keine Arbeiten in Hock- oder Bückstellung, keine Arbeiten, die einen häufigen Wechsel zwischen Sitzen und Stehen bzw. Gehen erfordern. Die Gehstrecke ist beeinträchtigt; 1.000 m sind jedoch i. d. R. ohne große Probleme zu bewältigen. Ein kontralateraler Handstock ist meist erforderlich. Endoprothese des Kniegelenkes. Gesamtfallzahl 2007: 136.400 Primäreingriffe, 9.600 Wechseloperationen; Geschlechtsverteilung Frauen : Männer = 7 : 3; durchschnittliches Operationsalter: 69 Jahre. Ersatz des Kniegelenkes mit zementfreier, teilzementierter oder vollzementierter Schlitten-, ungekoppelter Oberflächen- oder gekoppelter Scharnierendoprothese im Falle konservativ therapieresistenter Beschwerdebilder im Zuge schwerergradiger degenerativer, posttraumatischer oder entzündlichrheumatischer Gelenkdestruktionen (o Gonarthrose). Indikationsstellung in erster Linie bei Patienten im höheren Lebensalter (meist nicht mehr im Erwerbsleben). Postoperative Rehabilitation i. Allg. über mindestens 12 Wochen (operierende Klinik etwa 2 Wochen; stationäre oder ganztägig ambulante Rehabilitation in einer AHBEinrichtung, dann ambulante Weiterbetreuung). Arbeitsfähigkeit unabhängig von der Art der implantierten Endoprothese im Regelfall nach etwa 3–4 postoperativen Monaten anzunehmen. Für die Beurteilung der körperlichen Belastbarkeit wesentlich ist die Funktionalität (Streckdefizit > 10° ungünstig für die Gangabwicklung; Beugefähigkeit von < 90° ungünstig beim Treppensteigen u. ä.) sowie die Stabilität des Gelenkes (kollateraler Bandapparat, Streckapparat, Oberschenkelmuskulatur; evtl. verbleibende Beeinträchtigung der Gangabwicklung). Eine biomechanisch fehlerhafte Gelenkführung, femoropatellare Irritationen oder eine schleichende Infektion können nicht unerhebliche lokale Reizzustände, oft mit Gelenkergussbildung, verursachen mit dann deutlich eingeschränkter Beweglichkeit und (axialer) Belastbarkeit. Im Allgemeinen besteht ein über sechsstündiges Leistungsvermögen für leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten. Ausschließlich mittelschwere und schwere Arbeiten sind nicht mehr zumutbar. Keine einseitige Gehund Stehbelastung (Anteil sitzender Tätigkeit zumindest 50 %), kein Gehen auf unebenem Gelände, kein Besteigen von Leitern und Gerüsten, kein häufiges Treppensteigen, keine Arbeiten in gebückter Haltung, kniend oder im Hocksitz, kein Heben, Tragen bzw. Bewegen von Lastgewichten > 10 kg. Die Gehstrecke ist begrenzt, in aller Regel sind jedoch Strecken von 1.000–1.200 m mehrmals täglich
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Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
zumutbar, evtl. unter Benutzung eines kontralateral eingesetzten Handstockes.
7.4.4 z
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Arthrodese des Kniegelenkes. Operative Versteifung in Funktionsstellung (10° Flexion, 5° Valgus). Vor allem bei jüngeren Menschen im Falle einer eitrigen Gonitis, Rückzugsmöglichkeit nach septisch fehlgeschlagener Knieendoprothese (dann aufgrund des schlechten Knochenlagers höhere Misserfolgsquote). Nach geglücktem Eingriff ist das betroffene Bein i. Allg. gut und schmerzfrei belastbar, die Gangabwicklung ist nur mäßig behindert. Die konsekutive reale und virtuelle Beinverkürzung von 2 cm und mehr sollte im Hinblick auf ein besseres Gangbild nicht ganz ausgeglichen werden. Außerdem resultiert eine deutliche Beeinträchtigung beim längeren Sitzen. Weiterhin Rückwirkung auf das kompensatorisch funktionell vermehrt geforderte homolaterale Hüftgelenk. Leichte und gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten ohne ausschließliche gehende und stehende Körperhaltung sind i. d. R. ohne zeitliche Einschränkung verrichtbar. Keine Arbeiten auf unebenem Gelände, auf Leitern und Gerüsten, kein häufiges Begehen von Treppen, keinerlei Arbeiten in Hock- oder Bückstellung. Aufgrund der Beeinträchtigung beim Sitzen ist unter ergonomischen Gesichtspunkten eine erhöhte Sitzposition erforderlich. Gehstrecken von 1.000 m am Stück sind in aller Regel ohne Probleme möglich. z
Folgen von Amputationen
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Die Länge eines Unterschenkelstumpfes wird gemessen vom medialen Kniegelenksspalt bis zur Stumpfspitze bei gestrecktem Restbein.
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Knie(gelenks)exartikulation. Prothetische
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Versorgung ähnlich wie bei einer Oberschenkelamputation. Aufgrund der anatomisch schlechteren Weichteildeckung oft akribischere und aufwändigere Schaftgestaltung erforderlich, dafür ist die Belastbarkeit des Stumpfes jedoch deutlich besser und die Kraft wegen des längeren Hebelarmes größer.
Unterschenkelamputation. Wie bei der Oberschen-
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kelamputation sind für eine sichere Prothesenführung die knöcherne Stumpflänge und die muskuläre Weichteildeckung entscheidend. Nur in seltenen Einzelfällen ist ein Oberschenkelschaft notwendig, eine medial und lateral knieumfassende Versorgung oder die Fixierung mittels eines Silikonliners genügt. In aller Regel ist ein unterstützungsfreies Gehen möglich.
Sprunggelenk und Fuß
Biomechanik
Das obere Sprunggelenk (OSG), gebildet aus der Knöchelgabel und dem Sprungbein (sog. tibiotalares Gelenk) ist ein rein knöchern geführtes Scharniergelenk. Sein physiologisches Bewegungsspiel bezüglich Extension und Flexion beträgt 20°/0/50°, gemessen in leichter Knieflexion mit Entlastung des zweigelenkigen M. gastrocnemius. Der hintere Anteil des unteren Sprunggelenkes (sog. vorderes und hinteres subtalares Gelenk) wird aus der Unterfläche des Sprungbeines sowie der Oberfläche des Fersenbeines gebildet; hier erfolgen die Pro- und Supination des Fußes (sog. Fußkantung im Sinne einer Kippbewegung). Die Stabilität dieses Gelenkes wird gesichert durch die drei lateralen Anteile des Außenbandapparates. Der vordere Anteil des unteren Sprungelenkes, das sog. Chopartsche Gelenk (medial: talonavikular, lateral: calcaneoculboidal) ermöglicht eine Verwringungsbewegung des Mittelfußes gegen den Rückfuß, die den Abrollmechanismus beim Gehen ergänzt. Im Lisfrancschen Gelenk zwischen Tarsus und Metatarsus (Amphiarthrosen) erfolgt die Verwringung des Mittelfußes. Das Fußlängsgewölbe zwischen Ferse und Mittelfußköpfchen sowie das Fußquergewölbe dienen dem optimalen Auffangen der axialen Last. Unterstützend wirken hier ein straffer Bandapparat sowie ein ausgewogenes muskuläres Gleichgewicht. Sämtliche Gelenke der Großzehe und der Langzehen erlauben lediglich Scharnierbewegungen, die in die Endphase der Fußabrollung integriert werden. Degenerative Veränderungen des oberen und der einzelnen Anteile des unteren Sprungelenkes sind fast immer posttraumatischer Genese (o obere und untere Sprungelenksarthrose). Das Großzehengrundgelenk ist früher Manifestationsort einer Gichtarthritis, die Langzehengrund- und -mittelgelenke sind häufige Prädilektionsstellen einer o rheumatoiden Arthritis. z Diagnostik Körperliche Untersuchung. Globale Überprüfung der
Gangabwicklung (Abrollvorgang des Fußes) im Schuhwerk und barfuß zu ebener Erde; Zehen- und Fersengang, Einnehmen des tiefen Hocksitzes mit Überstreckung im oberen Sprungelenk. Inspektion: Knöchelschwellung, Fehlstellung des Fußes (Knick-, Senk-, Spreiz-, Platt-, Hohl-, Klumpfuß), Fußsohlenbeschwielung (einseitige Minderung als Ausdruck einer Schonung, atypisch als Hinweis auf Fehlbelastung); Fußrückenödem, Konturvergröberung des Großzehengrundgelenkes (z. B. beim Hallux rigidus), Langzehenschwellung (bei rheumatoider Arthritis), Zehenfehlstellung (Hallux valgus, Hammerzehen, Krallenzehen), Klavus, Mykose; livide Verfärbung bei arterieller Durchblutungsstörung? Palpation/Funk-
181 7.4 · Untere Extremitäten
tion: Druckdolenz der Kapselansatzpunkte medial, lateral und ventral; laterale Kapselbandinstabilität des OSG; Druckempfindlichkeit der plantaren Sehnenansätze am Kalkaneus oder der Mittelfußköpfchen; Beweglichkeit des oberen und unteren Sprungelenkes, des Chopart- und Lisfrancschen Gelenkes sowie sämtlicher Zehengelenke (Kontrakturen?). Fußpulse. Überprüfung auf globale (z. B. im Falle einer Polyneuropathie) oder segmentale sensible Dysfunktionen. Röntgen. Sprunggelenk in 2 Ebenen a. p. in 20–25° Innenrotation: gelenkbildende Anteile. Gehaltene Aufnahmen: Nachweis einer Bandinstabilität. Fuß in 2 Ebenen a. p. und seitlich oder a. p. und schräg: Beurteilung des Fußgewölbes; Usuren, Erosionen? Vorfuß in 2 Ebenen: Beurteilung der Zehen. Kalkaneus in 2 Ebenen: Nachweis einer Fersenbeinfraktur bzw. -pseudarthrose oder eines Fersensporns. z Begutachtungskriterien Stabilität. Im Falle einer persistierenden lateralen Kap-
selbandinstabilität mit Beeinträchtigung des Gehens auf unebenem Gelände kommt als Alternative zu einem operativ-stabilisierenden Eingriff der Einsatz einer teilimmobilisierenden Orthese in Frage. Beweglichkeit. Eine leichte Beeinträchtigung der Dorsa-
lextension im oberen Sprungelenk von 10° wird i. Allg. gut toleriert. Wird lediglich die Nullstellung erreicht, ist der Abrollvorgang des Fußes behindert, evtl. wird dann am Konfektionsschuhwerk eine spezielle Zurichtung erforderlich (bilaterale Absatzerhöhung, Schmetterlingsrolle bzw. Abrollsohle). Außerdem ist in diesen Fällen das Einnehmen des tiefen Hocksitzes nur noch schwer möglich. 25–30° Flexion genügen meist für ein unauffälliges Gehen. Eine Funktionsstörung im subtalaren Gelenk führt zur Behinderung der Fußkantung und damit zu einer Beeinträchtigung beim Gehen auf unebenem Gelände. Eine Aufhebung der Mittelfuß- und Vorfußverwringung im Chopart- bzw. Lisfranc-Gelenk spielt keine wesentliche Rolle. Bei Tragen korrekten (Arbeits-)Schuhwerkes mit optimaler Fußbettung liegen keine nennenswerten Beeinträchtigungen der Belastbarkeit und Gehstrecke vor. Eine Streckbehinderung im Großzehengrundgelenk (Hallux rigidus) und auch in den Langzehengrundgelenken beeinträchtigt das Abrollen des Fußes in der letzten Gangphase. Eine Beugebehinderung ist zumeist irrelevant. Ebenso fallen Bewegungsstörungen der übrigen Zehengelenke funktionell nicht ins Gewicht. Muskulatur. Eine gute Funktionalität der plantaren Muskelgruppen ist bei adäquater Schuhversorgung auch im
Falle deutlicher Deformitäten sozialmedizinisch von untergeordneter Bedeutung. Gelenkflächen. Degenerative Veränderungen der Knor-
pelflächen im Bereich der Sprunggelenke sind meist traumatischer Genese; in Abhängigkeit vom klinischen Beschwerdebild sollte eine (teil)immobilisierende Orthesen- oder gar eine spezielle Schuhversorgung zur Verbesserung der axialen Belastbarkeit der Extremität versucht werden. Aufbrauchserscheinungen im Bereich der Zehengelenke sind meist degenerativer Natur; adäquate (Teil) Entlastung und Weichpolsterung durch Einlagenversorgung oder Schuhzurichtung sinnvoll. Achsabweichungen. Achsabweichungen im Sinne eines
Pes varus bzw. valgus v. a. im Gefolge einer labilen Fußdeformität (Ausgleich durch spezielle Einlagen), seltener fixierte Kontraktur (z. B. beim Klumpfuß) mit der Notwendigkeit einer individuellen Schuhfertigung. Reizzustände. Arthralgische Reizzustände im Sprungge-
lenks- und Fußbereich (v. a. degenerativer Genese) gehen weniger mit einer synovialen Kapselschwellung einher als vielmehr mit typischen Belastungs- und Bewegungsschmerzen. Häufiger sind Metatarsalgien im Gefolge einer Fußdeformität mit Überlastungsproblematik der KapselBandansätze, auch Sehnenansatzirritationen am Tuber calcanei, am Ursprungspunkt des Lig. plantare longum am Kalkaneus sowie im Ansatzbereich des M. tibialis posterior, des M. tibialis anterior sowie der peronealen Muskeln; seltene tarsale Engpasssymptomatik im medialen Fußbereich. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Ähnlich wie bei der Hüft- und Kniegelenksregion spielen hier die Einzelkriterien wie axiale Belastbarkeit der Extremität, Sicherheit und Ökonomie des Gangablaufes, Standsicherheit, Gehstrecke sowie Kompensierbarkeit durch ein belastbares kontralaterales Bein (evtl. unter Einsatz einer Gehilfe und/oder Versorgung mit speziellem Schuhwerk) eine wesentliche Rolle. z
Einzelne Krankheitsbilder
Die sozialmedizinische Beurteilung richtet sich nach den oben dargestellten Regeln. Besonderheiten sind bei den einzelnen Krankheitsbildern aufgeführt. Arthrose des oberen/unteren Sprunggelenkes. De-
generativer Aufbrauchsschaden des tibiotalaren, des subtalaren und/oder des Chopart-Gelenkes. Meist posttraumatisch (fehlverheilte Knöchel-, Talus- oder Kalkaneusfrakturen), seltener Talusosteochondrose und Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises. Be-
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Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
schwerden v. a. bei offenem Schuhwerk und beim Gehen auf instabiler Unterlage, Bewegungseinschränkung, Schwellneigung. Medikophysikalische Therapie; Tragen einer adäquaten Schuhzurichtung (z. B. Abrollhilfe, zurückgesetzte Ballenrolle, Pufferabsätze, Einlagenversorgung), evtl. Verordnung von orthopädischem Schuhwerk. Bei Beschwerdepersistenz o Sprunggelenksarthrodese; auch relative Indikation zur Endoprothese des oberen Sprunggelenkes. Tragen leidensgerechten (Arbeits-)Schuhwerkes. Keine längerdauernden Arbeiten in ausschließlich gehender und/oder stehender Körperhaltung, keine häufigen Tätigkeiten im Hocksitz, kein Gehen auf unebenem Gelände, kein Besteigen von Leitern und Gerüsten. Gehstrecke bei ausgeprägten Veränderungen evtl. beeinträchtigt (Handstock). Wichtig ist die Kompensationsfähigkeit einer gut belastbaren kontralateralen Extremität. In den meisten Fällen können leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten mit der Möglichkeit des häufigeren Einnehmens einer sitzenden Arbeitshaltung sechs Stunden und mehr verrichtet werden. Persistierende laterale Kapsel-/Bandinstabilität des oberen Sprungelenkes. Angeborene Laxität oder post-
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traumatische Insuffizienz des äußeren Kapselbandapparates im Bereich des oberen Sprunggelenkes. Daraus resultieren Gang- und Standunsicherheit, eine Neigung zur »habituellen Distorsion« mit häufigem Umknicken im Supinationssinne und nicht selten lokale belastungsabhängige Schmerzen und Schwellungen. Exakte Diagnose durch gehaltene Röntgenaufnahmen. Zur Vorbeugung eines Umknicktraumas Tragen von stabilem Schuhwerk evtl. mit Sohlenaußenranderhöhung (etwa 5 mm) oder Absatzverbreiterung. Tragen einer externen stabilisierenden Orthese. Bei persistierendem, subjektiv beeinträchtigendem Unsicherheitsgefühl operative stabilisierende Bandplastik indiziert. Kein Gehen auf unebenem Gelände, kein Besteigen von Leitern und Gerüsten. Kein ausschließliches Stehen und Gehen. Die Gehstrecke ist bei Tragen adäquaten Schuhwerkes i. Allg. nicht beeinträchtigt.
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Senkfuß, Spreizfuß, Plattfuß, Hohlfuß. Angeborene oder
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erworbene Fußdeformitäten mit Abflachung bzw. Aufhebung des Längs- und/oder Quergewölbes bzw. mit einem übersteigerten Längsgewölbe. Bei monotoner länger dauernder axialer Belastung (Übergewicht) metatarsalgische Beschwerdebilder. Versorgung des (Arbeits)Schuhwerkes mit individuell nach Abdruck gefertigten Einlagen. Berufliche Tätigkeiten ohne ständiges monotones Gehen oder Stehen. Die Gehstrecke ist nicht beeinträchtigt.
Spitzfuß. Perstisierende Fehlstellung im oberen Sprung-
gelenk mit Unmöglichkeit der aktiven Dorsalextension. Bei schlaffem Spitzfuß, z. B. als Folge einer Wurzelschädigung S1 oder einer peripheren Peronaeusläsion, genügt i. d. R. das Tragen einer Fußheberorthese (Peronaeusfeder). Bei kontraktem Spitzfuß, etwa infolge einer kongenitalen Fußdeformität, sind spezielle orthopädische Schuhzurichtungen erforderlich (Absatzerhöhung bds., Innenschuh u. a.). Relative Indikation zur operativen Korrektur durch Sehnentransposition (schlaff), Verlängerung der Achillessehne, knöcherne Fußwurzelkorrektur(kontrakt). Das Tragen korrekten (Arbeits)Schuhwerkes bzw. einer unterstützenden Orthese ist erforderlich. Behinderung bei überwiegend stehenden und gehenden Tätigkeiten, auch bei Arbeiten in Hock- oder Bückstellung; kein Arbeiten auf unebenem Gelände, Leitern oder Gerüsten. Gehstrecke nur in Einzelfällen deutlicher beeinträchtigt (o Sprunggelenksarthrose). Klumpfuß. Kombinierte kongenitale Fußdeformität im Sinne eines Pes equinovarus (Fehlstellung im Spitz- und O-Fuß) mit gleichzeitiger Vorfußadduktion sowie fakultativem Hohlfuß. Zusätzlich besteht eine Insuffizienz der Peronealmuskulatur (Klumpfußwade). Konservative manuelle Redression im Säuglingsalter. Oft sind operative Korrekturen der kontrakten Weichteile unumgänglich. Bei Persistenz einer deutlichen Fehlstellung knöcherne Korrektur nach Wachstumsabschluss (untere Sprunggelenksarthrodese). In der Regel verbleibt eine Fußfehlform, evtl. mit Belastungsschmerzhaftigkeit und Beeinträchtigung der Gangabwicklung. Lebenslanges konsequentes Tragen von Schuhen mit gutem Fußbett (optimalerweise individuell gefertigt), in Einzelfällen auch von orthopädischen Schuhen erforderlich. Das Tragen korrekten (Arbeits-)Schuhwerkes ist unerlässlich. Gehstrecke in Einzelfällen beeinträchtigt (o Sprunggelenksarthrose, o Spitzfuß). Kongenitaler Plattfuß (Talus verticalis). Seltene kongenitale Störung mit angeborener Fehlstellung des Talus, Verkürzung der Achillessehne sowie Fehlfunktion der Peronealmuskulatur. Kontrakter Rückfuß-Valgus, Vorfußadduktion, abgeflachtes Fußgewölbe evtl. mit konvexer Fußsohle (sog. Schaukel- bzw. Tintenlöscherfuß). Frühe konservative redressierende Maßnahmen. Bei sehr kontrakter Situation operative Reposition im Alter von 4–6 Monaten. Es verbleibt immer eine deutliche anatomische Störung des Fußes; unter diesem Gesichtspunkt Schuhversorgung mit optimaler Fußbettung, in Einzelfällen sogar orthopädisches Schuhwerk erforderlich. In aller Regel resultieren bleibende qualitative Einschränkungen nur bezüglich Tätigkeiten mit ausschließ-
183 7.4 · Untere Extremitäten
licher Geh- und Stehbelastung sowie für Arbeiten auf unebenem Gelände. Fersensporn. Verknöcherung
des AchillessehnenAnsatzpunktes am Fersenbein (dorsaler F.) bzw. des Ursprungspunktes des Lig. plantare longum am Fersenbein (plantarer F.). Bei langem Stehen lokale Reizzustände mit Belastungsschmerz. Ein radiologisch auffälliger Befund ist nicht immer klinisch relevant. Versorgung des Schuhwerkes mit dorsaler Weichpolsterung bzw. mit weicher Einlage und individueller lokaler Hohlbettung. Lokale Kristallkortikoidinfiltration bei hartnäckig persistierenden lokalen Beschwerden. In Ausnahmefällen ist eine operative Intervention indiziert. Korrekte Fußbettung im Arbeitsschuhwerk. Berufliche Tätigkeit ohne mehrstündiges monotones Stehen und/oder Gehen. Gehstrecke i. Allg. nicht beeinträchtigt. Morbus Ledderhose. Sehr selten auftretende, dann oft
progredient in Schüben verlaufende Verschwielung der Plantaraponeurose mit lokalen Belastungsschmerzen. Versorgung des Schuhwerkes mit weicher (Korkleder) Einlage und individueller Hohlbettung des betroffenen Bereiches. Eine operative Entfernung der Gewebeverhärtung ist bei Beschwerdepersistenz sinnvoll. Korrekte Fußbettung im Arbeitsschuhwerk. Berufliche Tätigkeit ohne mehrstündiges monotones Stehen und/oder Gehen. Gehstrecke i. Allg. nicht beeinträchtigt. Hallux rigidus, Hallux valgus, Hammer- und Krallenzehen. Degenerativer Aufbrauch, evtl. mit X-Fehlstellung
im Bereich des Großzehengrundgelenkes. Spreizfußbedingte Kontrakturstellung der Langzehengelenke. Häufige »Schuhkonflikte« mit Druckstellen über dem lateralen und dorsalen ersten Mittelfußköpfchen, dorsaler Clavus über dem Langzehenmittelgelenk. Tragen breiter Schuhe mit gut gearbeitetem Fußbett, evtl. durchgehende weiche Einlagen, Abrollhilfe. Bei Beschwerdepersistenz operative Sanierung, z. B. Resektionsarthroplastik I nach Brandes, Korrekturosteotomie MFK I, Hohmannsche Resektionsarthroplastik Langzehenmittelgelenk u. a. m. Die korrekte Fußbettung im Arbeitsschuhwerk ist zu beachten. Der Verlust der Dorsalextension im Großzehengrundgelenk behindert bei jedem Schritt. Auch eine Beeinträchtigung der Streckung in den Langzehengrundgelenken führt zu einer deutlichen Behinderung der Fußabrollung und damit zu einer Einschränkung der Gehfähigkeit. Ein Funktionsverlust des Großzehenendgelenkes sowie der Langzehenmittel- und -endgelenke ist ohne wesentliche sozialmedizinische Relevanz.
Schwellung und Druckdolenz des lateralen Kapsel-/Bandapparates, Supinations- und Plantarflexionsschmerz ohne Instabilität. Frühzeitige lokale Kryotherapie, Fußhochlagerung, evtl. temporäre Immobilisation und Schonung. Dauer der Arbeitsunfähigkeit etwa 7–10 Tage. Bleibende Beeinträchtigungen sind nicht zu erwarten. Bei persistierenden lokalen Beschwerden ist evtl. eine temporäre Schuhaußenranderhöhung hilfreich. Außenbandruptur des Sprunggelenkes. Einriss des Lig.
fibulotalare anterius und/oder des Lig. fibulocalcaneare im Zuge eines Supinations- oder Adduktionstraumas. Schwellung und Hämatombildung unterhalb und vor dem Außenknöchel, lokale Druckdolenz, Supinations- und Plantarflexionsschmerz, klinisch und radiologisch durch gehaltene Aufnahmen nachweisbare vermehrte laterale Aufklappbarkeit bzw. übersteigerte ventrale Talusverschieblichkeit. Temporäre Ruhigstellung im Schienenverband in Pronationsstellung, nach Abschwellen Zinkleimverband oder Tape-Verband, lokale Kryotherapie, lokale und systemische Antiphlogese, Fußhochlagerung, evtl. bei eingeschränkter Belastbarkeit Thromboseprophylaxe. Operation heutzutage nur noch in wenigen Einzelfällen mit erheblicher Schädigung. Arbeitsunfähigkeit im Falle eines Sitzberufes 2–4 Wochen, bei vornehmlich gehender und stehender Körperhaltung 4–6 Wochen. Dann ist i. Allg. bei evtl. noch angelegter orthetischer Schienung eine ausreichende Belastbarkeit möglich. Bei bleibender Bandinsuffizienz ist eine sekundäre Bandplastik zu überlegen. Im Falle einer bandstabilen Ausheilung keine bleibende Beeinträchtigung. Evtl. vorübergehende geringe Schuhaußenranderhöhung (0,5 cm) bzw. Einsatz einer sprunggelenksstabilisierenden Orthese (Knöchelsocke). Nur in Ausnahmefällen bleibende qualitative Beeinträchtigungen, z. B. bei persistierender Instabilität mit Umknickneigung; dann Probleme beim Gehen auf unebenem Gelände sowie beim Heben und Tragen schwerer Lasten über längere Strecken. z Folgen von Frakturen Knöchelfrakturen. Laterale Frakturen vom Typ Weber
A werden konservativ, solche vom Typ Weber B oder C (Schädigung der Syndesmose) operativ behandelt. Innenknöchelfrakturen werden rotationsstabil mit Draht- oder Schrauben versorgt. Postoperative Entlastung sechs Wochen, weitere 3–6 Wochen Arbeitsunfähigkeit. Rehabilitation nicht erfoderlich. In Einzelfällen verbleibt eine leichte Extensions- und/oder Flexionsbehinderung. Sekundärarthrosen sind bei korrekter Operation eher selten. Talus- oder Kalkaneusfrakturen. Talus- oder Kalkane-
Sprunggelenksdistorsion. Traumatisches
Umknicken im oberen Sprunggelenk im Supinationssinne. Lokale
usfrakturen führen selbst nach guter operativer Rekonstruktion zu oft erheblichen Funktionseinschränkungen
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Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
mit unweigerlichem Auftreten einer Sekundärarthrose des unteren Sprunggelenkes und hierfür typischen belastungsabhängigen Beschwerden, die mit einer orthopädischen Schuhzurichtung oder gar orthopädischem Schuhwerk gebessert werden können. Mittelfußfrakturen. Mittelfußfrakturen
zeigen unter konservativer Therapie (meist temporäre Gipsruhigstellung) eine gute Ausheilungstendenz. Schmerzbilder unter Belastung bei verbliebener Fehlstellung können meist durch eine Einlage mit individueller Fußbettung deutlich reduziert werden.
Großzehengrundgliedfrakturen. Großzehengrundgliedfrakturen werden im temporären UnterschenkelGipsverband für sechs Wochen ruhiggestellt. In der Regel keine bleibenden Folgen. Langzehenfrakturen. Langzehenfrakturen und Groß-
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zehenendgliedfrakturen werden für etwa 4–6 Wochen in einem Pflasterzügelverband temporär immobilisiert. Arbeitsunfähigkeit bei Berufen mit sitzender Tätigkeit 2–4 Wochen, sonst 6–8 Wochen. Nur in Ausnahmefällen verbleiben subjektiv beeinträchtigende Störungen. z Folgen operativer Eingriffe Endoprothese des oberen Sprunggelenkes. Gesamt-
fallzahl 2007: 1.520. Ersatz des tibiotalaren Gelenkes mit zementfreier, teilzementierter oder vollzementierter Oberflächen-Scharnierendoprothese. Postoperative Rehabilitation i. Allg. über mindestens 12 Wochen: operierende Klinik etwa 2 Wochen; stationäre oder ganztägig ambulante Rehabilitation in einer AHB-Einrichtung, dann ambulante Weiterbetreuung. Arbeitsfähigkeit unabhängig von der Art der implantierten Endoprothese meistens nach etwa 3–4 postoperativen Monaten anzunehmen. In aller Regel können leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten wieder über sechs Stunden verrichtet werden. Überwiegend sitzende Körperhaltung, kein langes Stehen oder Gehen, kein Gehen auf unebenem Gelände, kein Besteigen von Leitern und Gerüsten, kein häufiges Begehen von Treppen, kein Arbeiten in Hock- oder Bückstellung. Arthrodese des oberen Sprunggelenkes. Versteifung des tibiotalaren Gelenkes, bei Männern in neutraler Nullstellung, bei Frauen oft in geringer Spitzfußstellung zum Tragen von Schuhen mit leichtem Absatz. Knöcherne Ausheilung nach stabiler Osteosynthese in etwa 12 Wochen. Rehabilitation i. Allg. nicht erforderlich. Bei geglücktem Eingriff resultiert ein gut und schmerzfrei belastbares Bein. Allerdings ist die Pseudarthrosenrate hoch. Wegen des Verlustes der Plantarflexion und Dorsalextension des
Fußes bei erhaltener Fußkantung und Vorfußverwringung ist die Versorgung der Konfektionsschuhe mit einer Abrollhilfe sinnvoll. Adäquates (Arbeits-)Schuhwerk. Keine Arbeiten in Hock- oder Bückstellung, auf unebener Fläche oder auf Leitern und Gerüsten. Behinderung beim Treppauf- und Treppabsteigen. Die muskuläre Wadenpumpe ist weniger effizient, daher ist wegen Ödemneigung gelegentlich eine Kompressionsstrumpfversorgung nötig. Gehstrecken von 1.000 m und mehr sind meist problemlos zu bewältigen. Arthrodese des unteren Sprunggelenkes. Versteifung des subtalaren Gelenkes, evtl. auch des Chopart-Gelenkes in Neutralstellung, nicht selten mit gleichzeitiger korrigierender Fußwurzelosteotomie. Knöcherne Ausheilung bei stabiler Osteosynthese nach 12–16 Wochen. Rehabilitation i. Allg. nicht erforderlich. Bei geglückter Operation resultiert ein gut und schmerzfrei belastbares Bein. Es verbleibt ein Verlust der Fußkantungsbewegungen, evtl. auch der Vorfußverwringung bei erhaltener Plantarflexion und Dorsalextension im oberen Sprunggelenk. In aller Regel reichen Konfektionsschuhe mit individuellem Fußbett aus. Nur in Einzelfällen ist die Versorgung mit orthopädischem Schuhwerk zwingend erforderlich. Adäquates (Arbeits-)Schuhwerk. Keine Arbeiten auf unebener Fläche oder auf Leitern und Gerüsten, Behinderung beim Treppauf- und Treppabsteigen, die Gehstrecke ist im Regelfall nicht beeinträchtigt. Korrektureingriffe im Bereich des Vorfußes. Bei Hallux
valgus Resektions(interpositions)arthroplastik (Keller/ Brandes) oder MFK-I-Osteotomie; bei Hallux rigidus Arthrodese oder Endoprothese des Großzehengrundgelenkes bzw. Resektionsarthroplastik; bei dekompensiertem Spreizfuß mit schweren rezidivierenden Metatarsalgien Mittelfußosteotomien nach Helal; bei Krallen-/ Hammerzehen Resektionsarthroplastik (Hohmann); bei Langzehengrundgelenksdestruktionen (v. a. bei rheumatoider Arthritis) MFK-Köpfchenresektion. Auch nach abgeschlossener Wundheilung verbleibt oft über einen Zeitraum von 3–4 Monaten eine hartnäckige lokale Schwellneigung mit Belastungsbeschwerden. Volle axiale Belastung (teilweise im vorfußentlastenden Spezialschuh) ist i. d. R. nach sechs Wochen möglich, freies Gehen nicht selten erst ab der 12. postoperativen Woche. Für etwa 3–6 Monate postoperativ sollte keine ausschließlich sitzende Tätigkeit ohne die Möglichkeit der Fußhochlagerung bzw. einer kurzfristigen Geh- und Stehbelastung (Einsatz der Wadenpumpe) verrichtet werden. Ab dem 6. Monat verbleiben im Falle eines geglückten Eingriffes i. Allg. keine schwerwiegenden Leistungsbeeinträchtigungen.
185 7.5 · Kombinationsschäden und Systemerkrankungen
z Folgen von Amputationen Fußamputation. Angestrebt wird die optimale Endbelas-
z Diagnostik Körperliche Untersuchung. Habitus, globale Körper-
tungfähigkeit bei erhaltenen Fersenweichteilen; z. B. beim Pirogoff-Stumpf, bei dem das Fersenbein mit belastungsfähigem Fersenpolster unter die distale Tibia eingestellt wird. Noch besser belastbar ist die SYME-Amputation, die einer Exartikualtion im Sprunggelenk entspricht und bei der zur Weichteildeckung ebenfalls das Fersenpolster verwendet wird. Versorgung mit orthopädischem Innenschuh bzw. Orthoprothese beim SYME-Stumpf. Nicht selten resultieren deutlichere Beeinträchtigungen durch Weichteilprobleme und muskuläre Imbalancen.
haltung (Haltungsschwäche, Haltungsfehler); Gang- und Standvarianten; evtl. Erfassung eines typischen Befallsmusters. Detaillierte Untersuchung der Stabilität und Funktionalität der oberen Extremitäten, der Wirbelsäule sowie der unteren Extremitäten (s. o.).
Mittelfußamputation. Amputationslinie bevorzugt im Bereich der Chopartschen bzw. Lisfrancschen Gelenklinie. In der Regel erlaubt eine gute orthopädische Schuhversorgung ein sicheres, unterstützungsfreies Gehen. Zehenamputation. Mit adäquatem Schuhwerk resultiert aus einem Großzehenverlust allenfalls eine geringe, aus einem (kompletten) Langzehenverlust meist keine wesentliche funktionelle Beeinträchtigung. Das Leistungsvermögen wird häufig durch die ursächliche bzw. begleitende internistische Störung wie z. B. Diabetes mellitus oder arterielle Verschlusskrankheit limitiert (vgl. 7 Kap. 12, 7 Kap. 14). 7.5
Kombinationsschäden und Systemerkrankungen Jürgen Heisel
Zahlreiche Krankheitsbilder des Halte- und Bewegungssystems sind nicht auf eine einzelne Körperregion beschränkt. Sie manifestieren sich an mehreren Gelenken (Polyarthrose), an Sehnen und Muskulatur (Tendomyosen), diffus (Osteoporose, Osteomalazie) oder polytop (Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, Metastasen) am Skelett; einige sind typisch für bestimmte Lebensphasen (aseptische Knochennekrosen, Skelettmissbildungen).
7.5.1
Allgemeines
Die Begutachtung dieser Kombinationsschäden und Systemerkrankungen richtet sich wie immer nach Art und Lokalisation der Funktionsstörungen, welche sich hier oft zu vielgestaltigen und komplexen Beschwerdebildern kombinieren. Die sozialmedizinische Beurteilung muss diese Details berücksichtigen, sie umfasst aber mehr als die Kumulation von Einzelheiten.
Röntgen. Röntgen in Abhängigkeit vom subjektiven Be-
schwerdebild sowie von der klinischen Situation (s. o.); evtl. in Einzelfällen zusätzlich Wirbelsäulenganzaufnahme a. p. und seitlich im Stehen, Beinganzaufnahmen a. p. im Stehen. Szintigraphie. Szintigraphie zur Erfassung des Befalls-
musters einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung oder bei V. a. auf eine Metastasierung sinnvoll. z Begutachtungskriterien Lokale Funktion. Die Untersuchung und Beurteilung
einzelner Gelenke bzw. Wirbelsäulenabschnitte richtet sich nach den Ausführungen der 7 Kap. 7.1 bis 7.4. Noch bedeutungsvoller sind bei diesen Krankheitsbildern die Erfassung von Ausweichbewegungen im Falle einer persistierenden Störung sowie Art und Umfang kompensatorischer Funktionsabläufe. Regionale Funktion. Globalfunktionen eines ganzen Ar-
mes oder Beines bzw. der Wirbelsäule als Ganzes ohne detaillierte Berücksichtigung der einzelnen Gelenke. Gesamtfunktion. Sind gleichzeitig mehrere Extremitäten
und/oder Wirbelsäulenabschnitte in ihrer Funktion beeinträchtigt, so resultiert i. Allg. neben einer qualitativen Beeinträchtigung auch eine zeitlich limitierte Belastbarkeit des betroffenen Patienten. Zeitlicher Verlauf. Sowohl der Spontanverlauf einer Er-
krankung als auch der Zeitbedarf und die Begleiterscheinungen der akutmedizinischen Therapie bzw. der medizinischen und beruflichen Rehabilitation spielen für die Begutachtung eine bedeutsame Rolle (z. B. medikamentöse Dauertherapie, schubweiser Verlauf, stetige chronische Progredienz). Schmerzzustände. Vor allem multilokuläre Affektionen
degenerativer und/oder entzündlicher Veränderungen können das Leistungsvermögen nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ deutlich einschränken. Nicht selten kommt es insbesondere bei sozialen Problemen oder längerem Krankheitsverlauf zu zusätzlichen psychischen Störungen, die für den orthopädischen Gutachter in ihrer
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Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
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Auswirkung von den Folgen morphologisch fassbarer Störungen gelegentlich schwer abzugrenzen sind.
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Kompensationsmechanismen. Leidensgerechter, ergo-
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nomisch ausgerüsteter Arbeitsplatz, adäquate Hilfsmittelversorgung; stressfreie Umgebung mit evtl. häufigeren Arbeitspausen u. a. m.
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z
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Sozialmedizinische Beurteilung
Bei degenerativen Erkrankungen der Wirbelsäule und/ oder der Extremitätengelenke spielen für die Beurteilung des körperlichen Leistungsvermögens einerseits die Gesamtmobilität des Patienten die wesentliche Rolle, andererseits das klinische Bewegungsspiel der jeweils betroffenen Körperregion, die Möglichkeit der muskulären Kraftentfaltung, das Auftreten überlastungs- bzw. fehlbelastungsbedingter Irritationen von Gelenkbinnenanteilen oder periartikulären Strukturen sowie das tatsächliche Ausmaß der bestehenden regressiven Aufbrauchserscheinungen. Zu beachten ist, dass unter Ausnutzung milder konservativer Behandlungsstrategien zwar viele dieser Erkrankungen in der bildgebenden Diagnostik teilweise beeindruckende morphologische Veränderungen zeigen, letztendlich jedoch bei Vermeidung spezieller kinetischer und/oder statischer Belastungen der betroffenen Körperregion oft ein kompensierter (klinisch stummer oder symptomarmer) Zustand erreicht werden kann. Die adäquate Anpassung der Arbeitstätigkeit einerseits, des Arbeitsplatzes bzw. seiner Umgebung andererseits im Hinblick auf persistierende Beeinträchtigungen sind bei allen den Haltungs- und Bewegungsapparat global betreffenden Erkrankungen von essentieller sozialmedizinischer Bedeutung, wobei mögliche Kompensationsmechanismen z. B. durch eine weniger stark geschädigte kontralaterale Extremität unter gutachterlichen Gesichtspunkten ebenfalls beachtet werden müssen. Kombinationsschäden und Systemerkrankungen der Haltungs- und Bewegungsorgane zeigen in vielen Fällen einen periodenhaften Verlauf, nicht selten auch eine deutliche Progression der krankmachenden Veränderungen. In diesem Zusammenhang sollte u. U. die häufigere Durchführung rehabilitativer Leistungen unter ambulanten oder stationären Bedingungen zum Erhalt der Leistungsfähigkeit und zur Vermeidung einer Erwerbsminderung überlegt werden, wobei sich hieraus eine vorzeitige Indikation für eine Rehabilitation ergeben kann.
7.5.2
Polyarthrose
Viel häufiger als die entzündlich-rheumatischen Erkrankungen (vgl. 7 Kap. 8) sind mit zunehmendem Lebensalter die nicht entzündlichen degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und Extremitätengelenke. In der allgemein- und fachärztlichen Praxis stellen sie die zweithäufigste Ursache für eine Behandlung und für die Attestierung von Arbeitsunfähigkeit dar; sie sind auch die häufigste Begründung für einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe. z Diagnostik Klinische Untersuchung. Zunächst globale Erfassung des
Befallsmusters; anschließend detaillierte Befunderhebung der einzelnen Körpergelenke (Stabililität, Funktionalität, Binnenreizzustände u. a.; s. o.). Röntgen. Erfassung der morphologischen Situation v. a. des Hand- bzw. auch des Fußskeletts (s. o.); hier ist das Ausmaß der tatsächlich nachweisbaren Veränderungen nicht zwingend mit einem entsprechendem Krankheitswert gleichzusetzen. Szintigraphie. Im Rahmen der Begutachtung in aller Regel entbehrlich (da keine entzündliche Affektion anzunehmen). z
Begutachtungskriterien
Aufgrund der teilweise deutlichen Komplexität der Krankheitsbilder wird nicht selten eine aufwändige klinische Bewertung der globalen (Rest)Funktionen erforderlich, bevor dann detailliert auf die symptomführenden Krankheitsstörungen eingegangen werden muss (s. o.). z
Sozialmedizinische Beurteilung
Primär regressive Veränderungen des mesenchymalen Gewebes ohne echte Entzündungszeichen; konsekutive reaktive und reparative Prozesse der betroffenen Gelenkbinnenstrukturen bzw. der periartikulären Weichteile (begünstigende Faktoren siehe . Tab. 7.13). Bei Auftreten regressiver Veränderungen unweigerliche Tendenz zur Progression, vor allem unter weiterer kinetischer oder statischer Belastung der betroffenen Körperregion mit sekundärer Ausbildung reparativer Umbauvorgänge (knöcherne Ausziehungen der Gelenkumschlagfalten im Sinne von Osteophyten; Fibrosierungen der periartikulären Strukturen mit Funktionseinschränkung u. a. m.). Typischer Anlaufschmerz (arthrotischer Startschmerz) nach längerer Einnahme einer ruhenden Körperhaltung; lokale Reizzustände mit periartikulärer Schwellung, Begünstigung muskulärer Dysfunktionen mit Verspannungen und Schmerzbildern, zu-
7
187 7.5 · Kombinationsschäden und Systemerkrankungen
. Tab. 7.13 Ätiologische Faktoren für die Ausbildung globaler degenerativer Gelenkveränderungen Primäre Störungen
Sekundäre Störungen
5 dispositionelle individuelle biologische Fehlanlage des Gelenkknorpels (minderwertig belastbares Gewebe aufgrund genetischer Faktoren; z. B. idiopathische Störungen, Chondrodystrophien u. a.) 5 im Wirbelsäulenbereich Degeneration der Zwischenwirbelscheiben mit nachfolgender Protrusion bzw. Prolaps 5 kongenitale isolierte oder kombinierte Fehlanlage mit sekundärer Fehlbelastung und Instabilität (z. B. Gelenkdysplasien) 5 kindliche oder juvenile Wachstumsstörungen (o Morbus PERTHES, o Epiphyseolyse des Femurkopfes u. a. m.) 5 posttraumatische Störungen nach Verletzung von nur unvollständig reparablen Binnenstrukturen (Gelenkknorpel, stabilisierender Bandapparat, Meniskusstrukturen) 5 Folgen entzündlich-bakterieller Gelenkprozesse mit nachfolgender meist schwerer Knorpeldestruktion 5 metabolische Störungen (z. B. Hyperurikämie, Chondrokalzinose, Ochronose) 5 endokrine Stoffwechselstörungen (z. B. Hyperparathyreoidismus, Hypothyreose, Diabetes mellitus) 5 Hämophilien mit Neigung zu rezidivierenden Gelenkbinnenblutungen
nehmende Bewegungseinschränkung, Deformitäten und Instabilitäten. Labordiagnostik allenfalls bei akzentuierten Reizzuständen mit geringen Auffälligkeiten. Radiologisch auffällige Befunde gehen nicht zwingend einher mit einer tatsächlichen subjektiven klinischen Störung; oft bestehen, vor allem bei Vermeidung von Fehlbelastungen, kompensierte Zustandsbilder. Konservative Behandlungspalette (medikamentös, physikalisch, krankengymnastisch, balneologisch, orthetisch) sinnvoll; operative Behandlungsmaßnahmen im Frühstadium bei gegebener Fehlbelastung eines Gelenkes zur Verbesserung der Lastverteilung (Korrektur präarthrotischer Deformitäten); im Falle fortgeschrittener Veränderungen gelenkerhaltende Maßnahmen (z. B. Lavage, Gelenktoilette, Resektionsarthroplastiken), gelenkstabilsierende Maßnahmen (z. B. Arthrodese) bzw. künstlicher Gelenkersatz (siehe . Tab. 7.14). Um das 40. Lebensjahr werden zumindest röntgenmorphologisch bei mehr als der Hälfte der Bevölkerung typische degenerative Aufbrauchserscheinungen einzelner oder mehrerer Körpergelenke und auch der Wirbelsäule (HWS, BWS, LWS) vorgefunden; ab dem 65. Lebensjahr ist dann praktisch jeder Mensch betroffen. Die individu-
. Tab. 7.14 Operative Differenzialtherapie und ihre Erfolgsaussichten bei Affektionen unterschiedlicher Körpergelenke Betroffene Gelenke
Gelenktoilette
Resektionsarthroplastik
Alloarthroplastik
Arthrodese
Schultergelenk
++
(+)
++
+
Akromioklavikulargelenk
+
+++
–
–
Sternoklavikulargelenk
+
+++
–
–
Ellenbogengelenk
++
(+)
++
+
Handgelenk
(+)
(+)
(+)
++
Daumengelenke
++
++
+
++
Langfingergrundgelenke
++
+
+
-
Langfingermittelgelenke
++
–
+
++
Langfingerendgelenke
+
–
–
++
Hüftgelenk
+
(+)
+++
(+)
Kniegelenk
+++
–
+++
+
Femoropatellargelenk
+
(+)
++
–
oberes Sprunggelenk
+
–
+
++
unteres Sprunggelenk
(+)
–
–
++
Großzehengrundgelenk
(+)
+++
+
++
Langzehengrundgelenke
(+)
+++
–
–
Langzehenmittelgelenke
–
++
–
++
Langzehenendgelenke
–
–
–
++
Zeichenerklärung: +++ sehr gute Erfolgsaussicht, Therapie der Wahl, ++ gute Erfolgsaussicht, + im Einzelfall sinnvoll, (+) unsichere Erfolgsaussicht, – wenig sinnvoll
188
Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
7
elle Beurteilung des körperlichen Restleistungsvermögens erfolgt vor allem unter Würdigung der klinischen Situation differenziert für die jeweilige Körperregion, wobei eine Bilateralität bzw. ein gleichzeitiges Betroffensein von Wirbelsäule und unteren Extremitäten zu erheblichen qualitativen und eventuell auch quantitativen Beeinträchtigungen des körperlichen Restleistungsvermögens Anlass geben kann. So sind zum Beispiel bei einer schweren Wirbelsäulenaffektion mit Instabilität keine längerdauernden sitzenden Tätigkeiten mehr möglich; bestehen gleichzeitig erhebliche Veränderungen der Hüft- und Kniegelenke mit Begrenzung einer stehenden und gehenden Arbeitshaltung, so ist u. U. nicht mehr von einer zeitlich uneingeschränkten Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen. Zu vermeiden sind jeweils spezielle gelenkbelastende Bewegungsmuster, wobei sowohl einseitige uniforme statische Belastungen als auch monotone Bewegungsabläufe (vor allem bei gleichzeitiger Lastaufnahme) nur noch begrenzt möglich sind. Siehe auch o Omarthrose (7 Kap. 7.3.2), o Ellenbogengelenksarthrose (7 Kap. 7.3.3), o Handgelenksarthrose (7 Kap. 7.3.4), o Polyarthrose der Hände (7 Kap. 7.3.4), o Koxarthrose (7 Kap. 7.4.2), o Gonarthrose (7 Kap. 7.4.3), o obere und untere Sprunggelenksarthrose (7 Kap. 7.4.4), o degenerative Wirbelsäulenveränderungen (7 Kap. 7.2).
7
7.5.3
7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7
7 7
Tendomyosen
Generalisierte Tendomyosen treten bei etwa 3 % der Bevölkerung auf. Ganz überwiegend (> 90 %) sind davon Frauen betroffen.
7
z Diagnostik Klinische Untersuchung. Detaillierte palpatorische Be-
7
funderhebung (evtl. in unterschiedlicher Reihenfolge der einzelnen Untersuchungsgänge unter Setzung von Markierungspunkten) erforderlich (tender points, Triggerpunkte, Kontrollpunkte mit jeweils definierter Druckbelastung; s. u.). Bewertung der Schwingungsfähigkeit und der Stimmungslage; Erfragen von life events in der Anamnese (Schicksalsschlag, Ehescheidung, Verlust des Arbeitsplatzes, Mobbing u. a.).
7 7 7 7 7 7
Röntgen. Meist wenig aussagekräftig; Ausschluss degenerativer Gelenkveränderungen, von Fibroostosen sowie von periartikulären Affektionen erforderlich. Sonographie. Ausschluss degenerativer perartikulärer
Weichteilprozesse (z. B. im Bereich des Schultergelenkes).
Szintigraphie. Im Allgemeinen wenig aussagekräftig. Labordiagnostik. Ausschluss entzündlicher (rheumati-
scher) Affektionen. z
Begutachtungskriterien
Da bei diesen globalen Störungen klinisch tatsächlich fassbare Funktionsdefizite nur selten vorliegen, in aller Regel auch radiologische und laborserologische Auffälligkeiten fehlen, sollte der orthopädische Gutachter lediglich die aktuelle Situation unter Würdigung des Zustandes der Haltungs- und Bewegungsorgane beurteilen und auf die Notwendigkeit einer neurologisch-psychiatrischen Zusatzbegutachtung verweisen (psychische Komorbidität, Antwortverzerrungen, Schmerzverarbeitungsstörung?). z
Sozialmedizinische Beurteilung
Unter orthopädischen Gesichtspunkten ist bei derartigen, klinisch nur schwer fassbaren Störungen in aller Regel von einem zeitlich nicht eingeschränkten Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für leichte körperliche Tätigkeiten auszugehen; mittelschwere Arbeitsabläufe, Tätigkeiten mit kinetischen Kraftspitzen, mit vermehrten Halteleistungen, monotone Bewegungsabläufe, Arbeiten unter Stress bzw. unter Kälte-, Nässe- und Zuglufteinfluss sind weitgehend auszuschließen. Eine wesentliche Beeinträchtigung der Gehstrecke liegt i. Allg. nicht vor. z
Fibromyalgie-Syndrom
Das Fibromyalgie-Syndrom ist seit den ersten Beschreibungen in den 1970er Jahren ein auch in Fachkreisen umstrittenes Krankheitsbild. 1980 publizierten Wolfe et al. [33] für das American College of Rheumatology (ACR) scheinbar eindeutige diagnostische Kriterien. Nach dieser Definition ist von einem »primären» FibromyalgieSyndrom auszugehen, wenn nach Ausschluss einer die Symptomatik erklärenden entzündlichen, neoplastischen oder sonstigen Ursache 11 von 18 »tender points» (meist Sehnenansätze) druckschmerzhaft sind sowie ggf. zusätzlich Befindlichkeitsstörungen wie Müdigkeit, Schlafstörungen, funktionelle Darmstörungen und psychische Auffälligkeiten bestehen. Eine »sekundäre Fibromyalgie» (mit identischem Beschwerdebild) soll hingegen von einer organischen Grundkrankheit ausgehen. Es folgte über Jahrzehnte eine kontroverse Debatte, in der einige Autoren auch eine rein psychische Genese der Beschwerden postulierten und eine eigene Krankheitsentität verneinten [8, 11] – im Jahr 2003 forderte Wolfe sogar selbst dazu auf, die von ihm entwickelten Diagnosekriterien nicht mehr zu verwenden [34]. 2008 entwickelte dann die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Schmerztherapie (DIVS) unter Beteiligung aller relevanten Fachgesellschaften eine Leitlinie
189 7.5 · Kombinationsschäden und Systemerkrankungen
auf S3-Niveau [14], AWMF-Leitlinien-Register 041/004. Eine eindeutige Ursache für das Beschwerdebild kann demnach nicht benannt werden, es finden sich allerdings mit hohem Evidenzgrad Zusammenhänge mit psychischen Erkrankungen (affektiven Störungen, Somatisierungsstörungen), unspezifischen Veränderungen zerebraler Transmittersysteme, Stress am Arbeitsplatz sowie einer dysfunktionalen Krankheitsverarbeitung. Daher wird eine mehrdimensionale Definition des Fibromyalgie-Syndroms (FMS) empfohlen: chronic widespread pain (CWP) = chronischer Schmerz in mehreren Körperregionen, zusätzlich weitere körperbezogene Beschwerden wie Müdigkeit/Schlafstörungen, Steifigkeits-/Schwellungsgefühl an Händen, Füßen und Gesicht, Druckschmerzempfindlichkeit. Weitere körperbezogene Beschwerden sind häufig. Ein Teil der FMS-Patienten weisen Kriterien einer Somatisierungsstörung auf. Zwischen 40 und 80 % erfüllen die Kriterien einer Angst- oder depressiven Störung. Hinsichtlich therapeutischer Interventionen gibt es eine 1a-Evidenz für die Wirksamkeit einer multimodalen Therapie, bestehend aus aerobem Ausdauertraining, Schulungen und verhaltenstherapeutischen Verfahren. Bei drohender Minderung der Erwerbsfähigkeit kann eine solche Therapie im Rahmen einer medizinischen Rehabilitation in einer geeigneten Einrichtung angezeigt sein. Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit richtet sich auch bei diesen Probanden nach dem Ausmaß der körperlichen und psychischen Funktionseinschränkungen.
7.5.4
Bei diesen Veränderungen handelt es sich um unterschiedliche Stoffwechsel- oder morphologische Störungen des knöchernen Skeletts. z Diagnostik Körperliche Untersuchung. Globale
Körperhaltung; Verkürzung der Rumpfwirbelsäule aufgrund zusammengesinterter Wirbelkörper (Tannenbaumphänomen der Haut; Rundrücken im Sinne eines Witwenbuckels, Aufsitzen des unteren Rippenbogens auf dem Beckenkamm, relative Überlänge der Arme); lokale oder ubiquitäre Klopf- und/oder Druckdolenz v. a. der Dornfortsatzreihe; Skelettdeformierungen (femorale O-Verbiegung, Säbelbeine u. a. m.). Röntgen. BWS, LWS in 2 Ebenen (jeweils im Stehen): Fehl-
haltung bzw. Deformität (Globalkyphose, Skoliose, Rotationslisthese u. a.), Knochenstruktur, Strahlentransparenz; frische oder ältere (Spontan) Frakturen. Beckenübersicht: Coxa vara, Spongiosastruktur des Schenkelhalses, schleichende Fraktur? Klinisch deformierte Körperregion (untere Extremität unter Belastung im Stehen) mit angrenzendem Gelenk in 2 Ebenen: Erfassung osteomalazischer Knochenbezirke. z
z
Myofasziale Schmerzsyndrome
Synonym: (extraartikulärer) Weichteilrheumatismus. Klinisch noch weniger exakt definiert. Globale, polytope chronische Myalgie mit diffusen druckdolenten Triggerpunkten sowie negativen Kontrollpunkten; ebenfalls erhebliche psychovegetative Begleitstörungen (s. o.). Die Attestierung einer Erwerbsminderung ist bei diesen Krankheitsbildern kontraproduktiv und führt eher zu einem Krankheitsgewinn mit weiterer psychischer Fixierung. In der Regel können leichte körperliche Tätigkeiten mit gleichmäßigen Bewegungsabläufen ohne kinetische Kraftspitzen sechs Stunden und mehr verrichtet werden; monotone Bewegungsabläufe, Akkordarbeiten, Stress und körperliche Zwangshaltungen sollten vermieden werden; keine Tätigkeiten mit Heben, Tragen und Bewegen von Lastgewichten von über 5 kg; Arbeiten in wohltemperierten Räumen unter Ausschluss von Kälte, Nässe und Zugluft; arbeitsübliche Pausen genügen. Die Gehstrecke ist i. d. R. nicht wesentlich eingeschränkt.
Osteopenie, Osteoporose, Osteomalazie
Osteodensitometrie
Sonographische Messung, z. B. im Bereich des Fersenbeines allenfalls als Grobscreening geeignet (keine Strahlenbelastung). Valide Werte liefert lediglich die CT-Messung (z. B. DEXA), standardisiert im Bereich des Schenkelhalses, der LWS oder der Radiusbasis. Zur Stadieneinteilung der Osteoporose vgl. . Tab. 7.15. Labordiagnostik. Im Falle einer Osteopenie oder Os-
teoporose in aller Regel wenig aussagekräftig. Bei einer Osteomalazie dagegen typische Befundkonstellation mit normalem bis leicht erniedrigtem Serumkalzium, deutlich erniedrigtem Serumphosphat sowie stark erhöhter alkalischer Phosphatase (siehe . Tab. 7.3). z
Begutachtungskriterien
Osteoporotische und auch osteomalazische Veränderungen spielen für die Stabilität und Belastbarkeit v. a. der Wirbelsäule sowie der unteren Extremitäten eine wesentliche Rolle. Subjektives Beschwerdebild, die Kraftentfaltung der Rückenstreck- und der hüftumspannenden Muskulatur, eine nach einer Fraktur (Oberarmkopf, Wirbelkörper, Schenkelhals) eingetretene Fehlstellung mit hieraus resultierenden funktionellen Beeinträchtigungen sowie das evtl. fortbestehende Frakturrisiko sind gutach-
7
190
Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
. Tab. 7.15 Stadieneinteilung der Osteoporose (WHO, 1994)
7 7
Grad
Definition
0
Osteopenie BMD < -1 bis -2,5 SD im T-Score keine Frakturen
1
präklinische Osteoporose BMD < -2,5 SD im T-Score keine Frakturen
2
symptomatische Osteoporose BMD < -2,5 SD im T-Score bereits eine bis drei Wirbelkörperfrakturen
3
symptomatische Osteoporose BMD < -2,5 SD im T-Score bereits mehr als drei Wirbelkörperfrakturen oder andere Frakturen (Schenkelhals, radiale Speichenbasis u. a.)
7 7 7 7 7 7 7
BMD = Bone mineral density (Knochenmineraldichte)
7
terlich zu bewerten. In allen Fällen sollte die Effektivität einer medikamentösen anabolen und evtl. auch antikatabolen Therapie überprüft bzw. vor Abgabe einer Bewertung des Leistungsvermögens abgewartet werden.
7
z
7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7
Sozialmedizinische Beurteilung
Die gutachterliche Beurteilung ist abhängig von der jeweiligen Grunderkrankung; im Falle einer Osteopenie oder einer mäßigen Osteoporose sind i. d. R. leichte und gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten mit gleichmäßigen Bewegungsabläufen ohne kinetische Kraftspitzen ohne zeitliche Einschränkung möglich; keine Akkordarbeiten; Arbeiten in wohltemperierten Räumen unter Ausschluss von Kälte, Nässe und Zugluft; keine monotone, möglichst wechselnde Körperhaltung, keine Zwangsposition; kein Heben, Tragen bzw. Bewegen von Lastgewichten > 8–10 kg. Gehstrecke in der Regel nicht beeinträchtigt. Bei symptomatischer Osteoporose, klinisch symptomatischer Osteomalazie sowie bei tumorösen Destruktionen wird das körperliche Leistungsvermögen durch die Grunderkrankung wesentlich bestimmt; in vielen Fällen ist die Belastbarkeit im Berufsleben bleibend beeinträchtigt. z
Osteopenie
Abnahme an Knochengewebe, die sowohl die anorganischen als auch die organischen Bestandteile in etwa gleichem Ausmaß betrifft; spongiöse Strukturen sind stärker betroffen als kortikale. Im Röntgenbild erhöhte gleichmäßige Strahlentransparenz; Osteodensitometrie (siehe . Tab. 7.15). Allenfalls uncharakteristische Beschwerden; Ausdruck eines typischen Alterungsprozesses des Knochenskeletts.
z
Osteoporose
Im Gegensatz zur Osteopenie über die Alters- und Geschlechtsnorm hinausgehende Minderung der Gesamtknochenmasse, wobei der Verlust an anorganischen Bestandteilen etwas größer ist als der an organischen Strukturen (Verschlechterung der Mikroarchitektur des Knochens). Es resultiert eine vermehrte Knochenbrüchigkeit. Epidemiologie: Jede 4. Frau > 60 Jahre ist betroffen. Bis zum 76. Lebensjahr kommt es bei > 30 % der Bevölkerung zu einer pathologischen Fraktur. Im jüngeren Lebensalter, in der Prämenopause sowie bei Männern wird eine Osteoporose nur selten beobachtet; vgl. . Tab. 7.16. Ätiologie und Einteilung: Low turn over mit verminderter Knochenneubildung (ungenügende anabole Situation); high turn over mit verstärkter Knochenresorption (katabole Situation). Klinik: Zunehmender Rundrücken mit reaktiven fehlstatischen muskulären Beschwerden, häufiger Spontanschmerz; im Spätstadium Haltungsverfall, Tannenbaumphänomen der Haut. Frakturneigung (BWS, LWS, Schenkelhalsregion, Oberarmkopf, distale Speichenbasis u. a.). Röntgen: Verminderung der Knochendichte erst ab einem Verlust von 30–40 % nachweisbar; Rarefizierung der Spongiosatrabekel im Spätstadium. Zur Stadieneinteilung durch Osteodensitometrie vgl. . Tab. 7.15). Labor: Meist unauffällig (siehe . Tab. 7.3). Therapie: Systemische Analgesie, physikalische Maßnahmen, milde Krankengymnastik, gleichmäßige Bewegung; standardisierte medikamentöse Abdeckung (antikatabol und dann anabol bei high turn over, anabol bei low turn over), ggf. Versorgung mit speziellen Rumpforthesen. z
Osteomalazie
Generalisierte Knochenerweichung mit unzureichender Mineralisation der Grundsubstanz (sog. qualitative Strukturschädigung). Ätiologie und Einteilung: siehe . Tab. 7.17. Klinik: rasche Ermüdbarkeit, erhebliche Muskelschmerzen, sekundäre Knochenverbiegungen (u. a. Beinachsenfehler, Glockenthorax, Wirbelsäulenfehlkrümmungen). Im Röntgenbild neben den typischen Zeichen einer o Osteoporose pathognomonische Loosersche Umbauzonen, verwaschene Konturunschärfe der Spongiosabälkchen, multiple (meist nur inkomplette) Frakturen. Labor: evtl. leicht erniedrigter Kalziumspiegel, Phosphatwert deutlich erniedrigt, alkalische Phosphatase deutlich erhöht; vgl. . Tab. 7.3. Therapie: adäquate Behandlung der jeweiligen Grunderkrankung. Bezüglich der klinischen Beschwerden der Haltungs- und Bewegungsorgane o Osteoporose.
191 7.5 · Kombinationsschäden und Systemerkrankungen
. Tab. 7.16 Ätiologie und Einteilung der Osteoporosen Primäre Osteoporosen
Sekundäre Osteoporosen
Idiopathisch
juvenil, adult, prämenopausal, präsenil
Postmenopausal (Typ I)
v. a. im Bereich der Wirbelkörper der BWS und oberen LWS
Senil (Typ II)
Rumpfwirbelsäule, Schenkelhalsregion, Humeruskopf, distaler Radius
Endokrin-metabolisch
Hyperparathyreoidismus, Hyperthyreose, Akromegalie, CUSHING-Syndrom, Diabetes mellitus, Homozystinurie, Hypogonadismus
Parainfektiös-immunogen
rheumatoide Arthritis, Spondylitis ankylosans
Myelogen-onkologisch
Plasmozytom, lymphoproliferative Erkrankungen, diffuse Knochenmarkskarzinose
Inaktivität, Immobilisation
lange Bettruhe, Paraplegie
latrogen-medikamentös
längere systemische Glukokortikoidgabe, längere ThyroxinEinnahme, Laxantienabusus
Folge komplexer Osteopathien
renale Osteopathie, Osteogenesis imperfecta, intestinale Malabsorption
. Tab. 7.17 Ätiologie und Einteilung der Osteomalazien Vitamin-D-Mangel
Mangelernährung (Umwelt, vegetarische Kost, Senium), Maldigestion (Pankreasinsuffizienz, verminderte Gallensekretion, Z. n. Gastrektomie), Malabsorption (Pankreasinsuffizienz, Z. n. Dünndarmresektion, Sprue), Bildungsstörung (ungenügende UV-Lichtexposition)
Störungen des Vitamin-D-Stoffwechsels
Leberzirrhose (Aufbaustörung), Niereninsuffizienz (sog. Pseudo-Vitamin-DMangel)
Störungen des Phosphatstoffwechsels
Kongenitaler Phosphatdiabetes (Phosphaturie), Debré-DeTonie-FanconiSyndrom (Phosphaturie, Glukosurie, Aminoazidurie), kongenitale renaltubuläre Azidose (Lightwood-Butler-Albright-Syndrom), Knochen- und mesenchymale Tumoren
Phosphatmangel
Kongenitale Hypophosphatasie
7.5.5
Knochentumoren und Skelettmetastasen
tionseinschränkung eines Gelenkes. Spontanfraktur im fortgeschrittenen Stadium.
Bösartige primäre Knochentumoren können im Bereich des Skeletts in jedem Lebensalter auftreten, die Inzidenz ist in den letzten Jahren gleichbleibend. Knöcherne Metastasen sind eher eine Domäne im Lebensalter > 60 Jahren. Eine verbesserte bildgebende Frühdiagnostik und moderne, funktionserhaltende operative Behandlungsstrategien bieten heute für eine Vielzahl an Patienten eine deutlich verbesserte Prognose als noch vor 20 Jahren.
Röntgen. Bei primären Knochentumoren oft zunächst nur
z Diagnostik Klinische Untersuchung. Tumoröse Destruktionen des
Labordiagnostik. Meist nur uncharakteristische Erhö-
Knochengewebes führen meist zu einer derben, eng lokalisierten druckschmerzempfindlichen Schwellung; uncharakteristischer Belastungsschmerz, nur selten Funk-
auffällige periostale Reaktion mit dann fortschreitenden knöchernen Destruktionen. Bei metastatischen Absiedelungen klassischer Befund der Osteolyse (überwiegende Beteiligung der spongiösen Knochenanteile mit oft unscharfer Begrenzung, Kompaktaanteile meist erst sekundär betroffen), hyperplastische Reaktionen v. a. bei Prostatakarzinom-Metastasen.
hung einiger Entzündungsparameter; im Falle eines Plasmozytoms hohe BSG, atypische Elektrophorese.
7
192
7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7
z
Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
Primäre Knochentumoren
Im jüngeren Lebensalter in erster Linie Osteosarkome und EWING-Sarkome im Bereich der unteren Extremitäten, v. a. kniegelenksnah. Bei frühzeitiger Diagnose und adäquater zytostatischer Therapie in Kombination mit einem radikalen operativen Vorgehen (heutzutage ganz überwiegend gelenkerhaltend möglich) liegen die Überlebensquoten bei über 50 %. Im mittleren und höheren Lebensalter handelt es sich meistens um ein Chondrosarkom oder ein Plasmozytom. z
Skelettmetastasen
Diese treten überwiegend im mittleren und höheren Lebensalter auf. Häufigste Ursache ist ein hypernephroides Nierenzellkarzinom, ein Bronchialkarzinom, ein Mammakarzinom, ein Prostatakarzinom sowie ein Schilddrüsenkarzinom. Häufigste Lokalisationen sind die thorakale und lumbale Wirbelsäule, der Schenkelhals und das proximale Femur.
schwerden, verstärkt bei körperlicher Belastung; meist keine nennenswerte Funktionseinschränkung. Röntgen. Für die jeweilige Störung typischer Befund. Labordiagnostik. In aller Regel unauffällig. z
Begutachtungskriterien
Erfassung einer evtl. bestehenden lokalen Funktionseinschränkung; Überprüfung auf mögliche sekundär arthrotische Veränderungen, die sich auch auf die Geh- und Stehfähigkeit auswirken können. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Tumorfreiheit bzw. Stadium einer Remission nach operativer oder zytostatischer Behandlung? Ausreichende Stabilität und Funktionalität der betroffenen Skelettabschnitte? Notwendigkeit und Ausmaß einer orthetischen Versorgung? Ausreichende Gehstrecke gegeben?
Knöcherne Störungen im Kindes- und Jugendalter heilen meist ohne wesentliche bleibende Folgen aus (Ausnahmen: Epiphyseolyse des Hüftkopfes, M. Perthes; vgl. 7 Kap. 7.4.2) und beeinträchtigen das körperliche Restleistungsvermögen in aller Regel allenfalls geringgradig qualitativ. Im mittleren Lebensalter steht die aseptische Hüftkopfnekrose (vgl. 7 Kap. 7.4.2), im höheren Lebensalter der Morbus Ahlbäck (vgl. 7 Kap. 7.4.3) im Vordergrund mit bleibender, teilweise deutlicher Beeinträchtigung des Leistungsvermögens.
z
z
z
Begutachtungskriterien
Sozialmedizinische Beurteilung
Im Falle einer tumorösen Erkrankung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter, auch nach der operativen Intervention (alloplastischer Gelenkersatz im Bereich der unteren Extremitäten, evtl. Umkehrplastik nach Borgreve mit anschließender orthetischer Versorgung, Amputation) noch langwierige, meist sehr aggressive zytostatische Behandlung erforderlich. Während dieses Zeitraumes ist von einer wesentlichen körperlichen Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht auszugehen. Im Stadium der Remission wird die körperliche Belastbarkeit von der Funktionalität der betroffenen Extremität sowie dem Ausmaß einer möglichen bleibenden Defektsituation bestimmt. Bei einer metastatischen Tumorabsiedelung im Bereich des Skeletts wird das Restleistungsvermögen zusätzlich von der Grunderkrankung mitbestimmt; in vielen Fällen ist von einem aufgehobenen Leistungsvermögen auszugehen.
7
7.5.6
7
Aseptische Knochennekrosen sind lokalisierte, v. a. durchblutungsbedingte Störungen des knöchernen Skeletts mit Manifestation in unterschiedlichen Lebensepochen.
7
z Diagnostik Klinische Untersuchung. Uncharakteristische lokale Be-
Aseptische Knochennekrosen
Krankheitsbilder im Kindes-, Jugendund Adoleszentenalter
Störungen des Knochenwachstums im Bereich der Epiphysen bei Kindern und Jugendlichen (vgl. . Tab. 7.18) können als reine Ossifikationsstörung (sog. aseptische Osteochondrose) u. U. mit begleitender Knochennekrose, seltener auch mit einer Knorpelnekrose (Osteochondronekrose) einhergehen. Als Ursache wird ein vorübergehend gestörtes Gleichgewicht zwischen lokaler Belastung und Belastbarkeit (Durchblutungsstörung? Vermehrte Aktivität? Übersteigertes Körpergewicht? Anomalie des Knorpel- und Kollagenstoffwechsels?) vermutet. Die Beschwerden sind belastungsabhängig und treten daher vor allem im Bereich der unteren Extremitäten auf. Frühdiagnose nur im MRT. Die Veränderungen im Röntgenbild folgen den Schmerzen 3–4 Monate später: zuerst Aufhellung, dann ein Nebeneinander von Verdichtungsund Auflockerungszonen (Fragmentation, Reparation). Im weiteren Verlauf kommt es zu eventuell über Jahre andauernden Umbauvorgängen der Epiphyse mit sekundärer Deformierung. Im Bereich der oberen Extremitäten aufgrund meist fehlender axialer Beanspruchung lediglich Beobachtung, Sportpause, temporäre Schonung; im Bereich der unteren Extremitäten strengere Schonung, evtl. über längere Zeit axiale Entlastung.
193 7.5 · Kombinationsschäden und Systemerkrankungen
. Tab. 7.18 Aseptische Knochennekrosen im Kindes- und Jugendalter
. Tab. 7.19 Aseptische Knochennekrosen im Erwachsenenalter
Obere Extremitäten
Lokalisation
Ätiologie
Humeruskopf
vor allem bei längerdauernder systemischer Kortikoidtherapie
Os lunatum
ständige Mikrotraumen (z. B. Arbeiten mit Pressluftwerkzeugen) Minusvariante der Elle? Gefäßanomalie?
Femurkopf
alimentäre Störungen (Fettstoffwechsel, Alkoholmissbrauch, Diabetes u. a.) nach längerdauernder systemischer Kortikoidtherapie
Talus
posttraumatisch
Thorax, Wirbelsäule, Becken
Untere Extremitäten
Proximaler Humerus, Capitulum humeri (Morbus Panner), Speichenköpfchen, Olekranon, Ulnaköpfchen, Os lunatum (Morbus Kienböck), Os naviculare, Metakarpalköpfchen, Basis der Phalangen, Endphalanx V. Sternales Ende der Klavikula, sternales Rippenende (Tietze-Syndrom), Grundund Deckplatten der Wirbelkörper von BWS und oberer LWS (Morbus Scheuermann), Crista iliaca, Os sacrum, Synchondrose Sitzbein/Schambein, Symphyse, Sitzbeinapophyse, Spina iliaca anterior inferior. Hüftkopf (Morbus Perthes), Trochanter major, innere Tibiametaphyse, Tuberositas tibiae (Morbus Osgood-Schlatter), Patella (Morbus Sinding-Larsen), Apophyse des Innenknöchels, Apophyse des Außenknöchels, Apophyse des Kalkaneus (Haglund-Exostose), Os naviculare pedis (Morbus Köhler I), Köpfchen MFK II (Morbus Köhler II), Os metatarsale V.
Spätestens mit Abschluss der Skelettreife sind die Wachstumsstörungen ausgeheilt, evtl. unter Hinterlassung einer anatomischen Deformierung oder gar einer Gelenkinkongruenz (o Morbus Perthes); in Einzelfällen Entwicklung einer Arthrose als Spätfolge mit dann typischen Belastungsarthralgien und Funktionseinschränkungen; unter diesen Gesichtspunkten können dann auch qualitative Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit verbleiben. Dies gilt es insbesondere bereits im Jugendalter bei der Berufswahl zu berücksichtigen. z
Krankheitsbilder im Erwachsenenalter
Ätiologie: Arterielle Durchblutungsstörungen mit nachfolgender knöcherner Infarzierung; aufgrund der Zusammensinterung des nekrotischen Bezirkes sekundäre Auswirkungen auf angrenzende Gelenke mit möglichem Einbruch des Knorpelüberzuges und Ausbildung einer Sekundärarthrose möglich. Lokalisation: vgl. . Tab. 7.19.
7.5.7
Skelettmissbildungen
Einige angeborene Missbildungen des knöchernen Skeletts sind durchaus häufig; z. B. beträgt die Inzidenz einer kongenitalen Hüftpfannendysplasie 2 %, die eines kongenitalen Klumpfußes 0,4 %. Da erhebliche sekundäre Spätschäden zu erwarten sind, erfolgt hier bereits im Säug-
lings- und Kleinkindesalter ein systematisches Screening sowie eine intensive konservative, z. T. auch operativ-korrigierende Therapie. Andere Krankheitsbilder werden im späteren Leben ohne Behandlung kompensiert bzw. können unter funktionellen Gesichtspunkten nicht zufriedenstellend verbessert werden. In vielen Fällen lässt sich aber der Funktionsverlust durch eine adäquate apparatetechnische Versorgung in Grenzen halten. z
Allgemeines
Der Untersuchungsgang richtet sich nach der betroffenen Körperregion (vgl. 7 Kap. 7.1 bis 7.4). Dabei sind sowohl die verwendeten Hilfsmittel als auch die individuelle Kompensationsfähigkeit zu berücksichtigen. Komplexe Behinderungen erfordern einen großen orthopädischfunktionellen Sachverstand, um die limitierenden Befunde klar herauszuarbeiten und zu bewerten. z Systemerkrankungen Osteogenesis imperfecta
(Glasknochenkrankheit).
Erbliche Störung der Knochen- und Zahnbildung mit Knochenbrüchigkeit und Schwerhörigkeit. Vier unterschiedliche Formen mit autosomal-rezessivem bzw. autosomal-dominantem Erbgang. Bei den nicht frühzeitig letalen Formen bleibende Verbiegungen von fehlverheilten Frakturen, Sekundärarthrosen und Minderwuchs. Nach der Pubertät bessert sich die Knochenbrüchigkeit. In Abhängigkeit von den funktionellen Defiziten bestehen erhebliche qualitative und quantitative Einschränkungen des Leistungsvermögens. MARFAN-Syndrom (Arachnodaktylie). Autosomal domi-
nant erbliche Bindegewebsstörung verbunden mit Hochwuchs, langen und dünnen Extremitäten, progredienter Kyphoskoliose, Spinnenfingern, Augenlinsenektopie, Mitralklappenprolaps, Aortenaneurysmen. Kardiovaskuläre
7
194
7
Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
Komplikationen sind die häufigste Todesursache. Zumeist besteht seit der Kindheit ein aufgehobenes Leistungsvermögen.
z
7 Chondrodysplasien. Erbliche Störungen der enchon-
7
dralen Ossifikation. Zahlreiche verschiedene Formen. Achondroplasie mit dysproportioniertem Minderwuchs: Größe bis 130 cm, kurze Extremitäten, langer Rumpf, großer Kopf. Spondyloepiphysäre Dysplasie mit Befall der Wachstumsfugen im Bereich der Wirbelsäule, Minderwuchs, Rundrücken. Multiple epiphysäre Dysplasie mit Befall der Wachstumsfugen der unteren Extremitäten und Sekundärarthrosen. Meist resultieren erhebliche qualitative motorische Einschränkungen und eine frühzeitige quantitative Leistungsminderung. Die Intelligenz ist nicht beeinträchtigt.
7
Mukopolysaccharidosen. Gruppe von fünf Stoffwech-
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7 7 7
Exostosen. Qualitative Einschränkungen resultieren zumeist aus einer Minderbelastbarkeit des Kniegelenkes.
selstörungen (Hurler, Hunter, Sanfilippo, MorquioBrailsford, Maroteaux-Lamy), die mit polytopen Dystrophien der Wirbelsäule und Gelenke und oft mit einer geistigen Behinderung einhergehen. In der Regel besteht seit der Kindheit ein aufgehobenes Leistungsvermögen. multiplex congenita. Multiple, oft symmetrische Gelenkkontrakturen mit im Verlauf des Wachstums auftretenden Deformitäten von Wirbelsäule und Gliedmaßen (die Gelenke wirken wie ausgestopft): Streckluxation der Kniegelenke, Hüftgelenksluxation, Streckkontraktur der Ellenbogengelenke, Adduktions-/ Innenrotationskontraktur der Schultergelenke, Klumpoder Schaukelfüße. In der Regel besteht seit der Kindheit ein aufgehobenes Leistungsvermögen. Die Intelligenz ist nicht beeinträchtigt.
Lokalisierte Krankheitsbilder im Bereich der oberen Extremität Dysmelien. Amelie = Fehlen einer Extremität, Perome-
lie = Fehlen eines Extremitätenabschnittes, Phokomelie = intersegmentaler Defekt (z. B. Hand am Schultergürtel). Prothetische Versorgung ab dem 1. Lebensjahr mit intensiver Schulung notwendig. Leistungsbeurteilung individuell nach dem Ausmaß des Defektes und der funktionellen Kompensation. Klavikulaaplasie (kleidokraniale Dysplasie). Partielle oder komplette Fehlanlage des Schlüsselbeines. Hypermobilität des Schultergürtels: Die Schultern können vor der Brust zusammengeführt werden. Im Allgemeinen keine Therapie, da Beschwerdefreiheit. Wegen der Instabilität des Schultergürtels kein schweres Heben und Tragen, keine Überkopfarbeiten. Sprengelsche Deformität. Schulterblatthochstand mit unterentwickelter Schultergürtelmuskulatur, oft kombiniert mit Fehlbildungen von HWS und BWS. Die funktionellen Auswirkungen sind i. d. R. gering.
Arthrogryposis
7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7
EHLERS-DANLOS-Syndrom. Unterschieden werden elf Ty-
Radioulnare Synostose. Meist angeborene knöcherne Verbindung von proximaler Elle und Speiche; auch posttraumatisch als sog. Brückenkallus. Aufhebung der Unterarmdrehung (Pronation) mit Ausweichbewegungen im Schulter- und Ellenbogengelenk sowie kompensatorischer Hypermobilität des homolateralen Handgelenkes. Operative Korrektur nur bei limitierter Anpassungsfähigkeit. Es resultiert lediglich eine qualitative Beeinträchtigung der Armfunktion.
pen unterschiedlicher Heredität mit kongenitaler allgemeiner Bindegewebsschwäche, Hypermobilität sämtlicher Körpergelenke, Hyperlaxität und Verletzlichkeit der Haut, Weichteilverkalkungen, Osteopenie. Das körperliche Leistungsvermögen wird begrenzt durch die Stabilität der betroffenen Gelenke und durch die nicht seltene Skoliose. In der Regel bestehen erhebliche qualitative Einschränkungen.
Madelungsche Deformität. Kongenitale Entwicklungsstörung der distalen Radiusepiphyse mit konsekutiver Ulnar- und Volarabweichung der Hand und bleibender Bewegungseinschränkung des Handgelenkes, die auch durch eine operative (kosmetische) Stellungskorrektur der Hand nicht gebessert wird. Frühzeitige Entwicklung einer Radiokarpalgelenksarthrose. Deutliche qualitative Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit gegeben.
Multiple kartilaginäre Exostosen. Überschießende Neubildung der Spongiosa vor allem im metaphysären kniegelenksnahen Bereich mit Druckschädigung der umgebenden Weichteile. Das Risiko einer malignen Entartung (Chondrosarkom) nach dem 20. Lebensjahr wird mit etwa 20 % angegeben. Operative Abtragung beeinträchtigender
Klumphand. Angeborener Defekt des Radius, seltener der Ulna, mit nachfolgender Verkürzung des Unterarmes und Abweichung der Hand. Konservative redressierende Behandlung im Säuglingsalter, operative Korrektur im 1. Lebensjahr. Es resultiert eine bleibende Behinderung der Handgelenks- und evtl. auch der Handfunktion, an die
195 Literatur
sich der Betroffene im Laufe des Lebens oft erstaunlich gut adaptiert. Spalthand. Krebsscherenartiges Erscheinungsbild (kosmetisches Problem), dabei gute Funktion beim Spitzgriff und in der Feinmotorik der Finger. Syndaktylie, Polydaktylie. Verwachsung eines oder
mehrerer Finger bzw. Anlage eines zusätzlichen Fingers. Unter kosmetischen und funktionellen Gesichtspunkten sollte bereits im Kleinkindesalter operiert werden. In aller Regel verbleiben keine wesentlichen Beeinträchtigungen. z
Lokalisierte Krankheitsbilder im Bereich der unteren Extremität Proximaler fokaler Femurdefekt (PFFD). Proximale lon-
gitudinale Fehlbildung unterschiedlichen Ausmaßes. Bei geringer Ausprägung genügt ein Beinlängenausgleich am Schuhwerk. In schweren Fällen mit Hypoplasie oder Aplasie der Fibula ist i. d. R. eine orthetische/prothetische Versorgung erforderlich. Bei ausgeprägter Mobilitätsbeeinträchtigung Einschränkung auf überwiegend sitzende Tätigkeiten ohne längeres Stehen und/oder Gehen. Kongenitale Kniegelenksluxation. Dislokation der Ti-
bia nach ventral und proximal auf Grund eines angeboren fehlenden vorderen Kreuzbandes. Frühe geschlossene Reposition und Retention, seltener operatives Vorgehen. Meist bleibendes Beugedefizit und Entwicklung einer vorzeitigen Gonarthrose. In der Regel orthetische Versorgung erforderlich. Anzustreben ist eine Tätigkeit in überwiegend sitzender Körperhaltung. Tibiaaplasie, Tibiahypoplasie. Durch das Fehlen der Ti-
bia entsteht eine erhebliche Varusfehlstellung des Unterschenkels. Evtl. ist eine operative Fibulaunterstellung mit dann belastungsfähiger Situation möglich, meist aber eine orthetische Versorgung mit Kniestabiliserung bei oft fehlendem oder geschwächtem Kniestreckapparat erforderlich. Eine überwiegend sitzende Tätigkeit ist anzustreben.
Recklinghausen. Varusdeformität des Unterschenkels, bei der es auf Grund von Spontanfrakturen mit schlechter Heilungstendenz zur Ausbildung einer Pseudarthrose kommt. Häufig Entwicklung einer progredienten kurzbogigen Skoliose. Orthetische Versorgung des Unterschenkels bis zum 5.–6. Lebensjahr, dann stabile osteosynthetische Versorgung der Tibia. Das körperliche Leistungsvermögen wird v. a. durch die Skoliose und durch die neurologischen Folgen der Grunderkrankung limitiert. Klumpfuß. Vgl. 7 Kap. 7.4.4. Syndaktylie, Polydaktylie. Verwachsung einer oder
mehrerer Zehen bzw. Anlage eines zusätzlichen Zehs. Operative Korrektur unter kosmetischen Gesichtspunkten bzw. zur Ermöglichung einer normalen Schuhversorgung. Kein bleibendes Funktionsdefizit.
Literatur 1
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6 7
8 9
Fibulaaplasie, Fibulahypoplasie. Häufigster longitudi-
naler Defekt der unteren Extremität, evtl. mit ausgeprägter Beinverkürzung und Fehlanlage des Fußes. Klinisch besteht eine Unterschenkelantekurvation mit Valgusstellung des Fußes. In schweren Fällen Syme-Amputation mit danach belastungsfähiger Prothese. In leichteren Fällen zunächst orthetische Versorgung und später aufwändige Korrektur- und Verlängerungsosteotomien. Auch hier ist eine überwiegend sitzende Tätigkeit erforderlich.
10 11 12
13 14
Crus varum congenitum (kongenitale Unterschenkelpseudarthrose). Grunderkrankung: Neurofibromatosis
Baumgartner R, Botta P: Amputationen und Prothesenversorgung an der unteren Extremität. Stuttgart: Enke Verlag, 2. Auflage, 1995 Baumgartner R, Botta P: Amputationen und Prothesenversorgung an der oberen Extremität. Stuttgart: Enke Verlag, 2. Auflage, 1998 Bengel J, Koch U (Hrsg.): Grundlagen der Rehabilitationswissenschaften. Berlin: Springer Verlag, 2000 Buckup K: Klinische Tests an Knochen, Gelenken und Muskeln. Stuttgart; New York: Thieme Verlag, 1995 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): Versorgungsmedizin-Verordnung - Versorgungsmedizinische Grundsätze, 53107 Bonn, Stand: Januar 2009 Delbrück H, Haupt E (Hrsg.): Rehabilitationsmedizin. München; Wien; Baltimore: Verlag Urban & Schwarzenberg, 2. Auflage, 1998 Deutsche Rentenversicherung: Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung – Leistungsfähigkeit bei Bandscheiben- und bandscheibenassoziierten Erkrankungen. Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.). Berlin, Juni 2009. www.deutsche-rentenversicherung.de Ehrlich GE: Pain is real; fibromyalgia isn’t (editorial). J Rheumatol 2003; 30: 1666–1667 Frisch H: Programmierte Untersuchung des Bewegungsapparates. Berlin; Heidelberg: Springer Verlag, 6. Auflage, 1995 Greenspan A: Skelettradiologie. München; Jena: Urban & Fischer, 3. Auflage, 2002 Hadler NM: »Fibromyalgia» and the medcalization of misery (editorial). J Rheumatol 2003; 30: 1668–1670 Hald HJ, Danz B, Schwab R, Burmeister K, Bahren W: Radiologische Wirbelsäulenveränderungen bei asymptomatischen jungen Männern. Rofo Fortschr Geb Roentgenstr Neuen Bildgeb Verfahren 163 (1): 4 – 8, 1995 Hasenbring M, Hallner D, Klasen B: Psychologische Mechanismen der Schmerzchronifizierung. Schmerz 2001, 15, 442–447 Häuser W: Fibromyalgiasyndrom. Leitlinie zu einer Fiktion? Schmerz 2008, 22: 239-240
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196
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Kapitel 7 · Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems
15 Heisel J, Jerosch J: Rehabilitation nach Hüft- und Knieendoprothese. Deutscher Ärzte-Verlag Köln, 2007 16 Heisel J: Diagnostik und Behandlungsstrategien beim Fibromyalgie-Syndrom. In: Imhoff AB (Hrsg.) Fortbildung Orthopädie 2. Darmstadt: Steinkopff Verlag, 1999, 4 17 Heisel J: Entzündliche Gelenkerkrankungen. Bücherei des Orthopäden, Band 58. Stuttgart: Enke Verlag, 1992 18 Heisel J: Rehabilitation des Hüftgelenkes. In: Stahl C, Zeidler H, Koebke J, Lorenz R (Hrsg.) Klinische Arthrologie. Landsberg/Lech: Ecomed Verlagsgesellschaft, 2002 19 Hohmann D, Uhlig R: Orthopädische Technik. Stuttgart: Enke Verlag, 7. Auflage, 1982 20 Jerosch J, Castro WHM (Hrsg.): Orthopädisch-traumatologische Gelenkdiagnostik. Stuttgart: Enke Verlag, 1995 21 Jerosch J, Heisel J: Endoprothesenschule – Rehabilitations- und Betreuungskonzepte für die ärztliche Praxis. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag, 1996 22 Karsdorp P, Vlaeyen WS: Chronic pain: avoidance or endurance? European Journal of Pain vol 13 iss 6, 551–553 4, 2009 23 Lühmann D, Müller VE, Raspe H: Präention von Rückenschmerzen. Expertise im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung und der Akademie für Manuelle Medizin, Universität Münster. Abschlussbericht, 2004 24 Müller W, Lautenschläger J: Die generalisierte Tendomyopathie (GTM). Teil I: Klinik, Verlauf und Differentialdiagnose. Z Rheumatol 49: 11, 1990 25 Müller W, Lautenschläger J: Die generalisierte Tendomyopathie (GTM). Teil II: Pathogenese und Therapie. Z Rheumatol 49: 22, 1990 26 Niethard FU: Kinderorthopädie. Stuttgart; New York: Thieme Verlag, 1997 27 Rompe G, Erlenkämper A, Schiltenwolf M, Hollo D: Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane. Thieme Verlag. 5. Auflage. 2009 28 Schiltenwolf M, Henningsen P: Muskuloskelettale Schmerzen. Deutscher Ärzteverlag. 2006 29 Schwerdtfeger A, Heisel J: Klinische und sozialmedizinische Spätergebnisse nach monosegmentaler lumbaler Bandscheibenoperation (5 Jahre poststationär). Orth Praxis 37: 791 – 793, 2001 30 Schwerdtfeger A, Heisel J: Langzeiteffizienz einer AHB nach Bandscheibenoperation. Orth Praxis 33: 441 – 444, 1977 31 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, VDR (Hrsg.): Sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Stuttgart; Jena; New York: G. Fischer, 5. Auflage, 1995 32 Wirth CF, Bischoff HP: Praxis der Orthopädie. Stuttgart: Thieme Verlag, 3. Auflage, 2000 33 Wolfe F, Smythe HA, Yunus MB, Bennett RM, Bombardier C, Goldenberg DL, Tugwell P, Campbell SM, Abeles M, Clark P: The American College of Rheumatology 1990 criteria for the classification of fibromyalgia: report of the multicenter criteria committee. Arthritis Rheum 1990, 33: 160-172 34 Wolfe F: Stop using the ACR criteria in the clinic (editorial). J Rheumatol 2003; 30: 1671-1672
197
Entzündlich-rheumatische Erkrankungen Wolfgang Miehle, Sabine Horn, Anette Schulz
8.1
Allgemeines – 198
8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4
Sozialmedizinische Bedeutung – 198 Diagnostik – 198 Begutachtungskriterien – 199 Sozialmedizinische Beurteilung – 200
8.2
Krankheitsbilder – 200
8.2.1 8.2.2 8.2.3
Polyarthritiden – 200 Spondarthritiden – 203 Kollagenosen – 209
Literatur – 214
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
8
198
8 8 8
Kapitel 8 · Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
Die entzündlich-rheumatischen Erkrankungen manifestieren sich am Stütz- und Bewegungsapparat und knüpfen insoweit an das vorige Kapitel an. Gemeinsam ist ihnen ein immunologischer Prozess, der zahlreiche weitere Organe mit einbeziehen kann, was das Spektrum möglicher Krankheitserscheinungen und -folgen beträchtlich erweitert.
. Tab. 8.1 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation 2009
8 8.1
Allgemeines
8 8 8 8
Aus dem vielfältigen Symptomenspektrum der »rheumatischen« Krankheitsbilder ergeben sich Querbezüge zu fast allen Fachkapiteln dieses Buches. Für die Begutachtung ist es entscheidend, die jeweils funktionslimitierenden Befunde klar herauszuarbeiten und die Beurteilung darauf aufzubauen.
Sozialmedizinische Bedeutung
8
8.1.1
8
Man unterscheidet drei große Gruppen entzündlichrheumatischer Erkrankungen: 4 die entzündlichen Gelenkerkrankungen (Polyarthritiden), 4 die entzündlichen Erkrankungen der Wirbelsäule und einzelner Gelenke (Spondarthritiden), 4 die entzündlich-rheumatischen Erkrankungen der Gefäße und des Bindegewebes (Vaskulitiden und Kollagenosen).
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In Deutschland erkranken pro Jahr 20–30/100.000 Männer und 40–60/100.000 Frauen neu an Polyarthritiden. Die Häufigkeit in der erwachsenen Gesamtbevölkerung Deutschlands wird mit 0,5 % bis 0,8 % angegeben [33]. 1.423 EM-Rentenzugänge im Jahr 2009 beruhten auf einer Polyarthritis, das entspricht 0,3 % aller Erwerbsminderungs(EM)-Rentenzugänge. Das Durchschnittsalter bei Berentung lag bei 52,6 Jahren. Für eine klinisch relevante Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew) wird in Europa eine Häufigkeit von 0,5 % angenommen. Im Jahr 2009 gingen 626 EM-Rentenzugänge auf eine Spondarthritis zurück bei einem Durchschnittsalter bei Rentenbeginn von 52,9 Jahren. Die Prävalenz des Lupus erythematodes, der sozialmedizinisch bedeutendsten Erkrankung unter den Kollagenosen, liegt bei 0,1 % der Bevölkerung. 651 EM-Rentenzugänge im Jahr 2009 wurden verursacht durch entzündlich-rheumatische Erkrankungen der Gefäße und des Bindegewebes. Das Durchschnittsalter bei Rentenbeginn betrug 48,8 Jahre. . Tab. 8.1 zeigt die im Jahr 2009 erbrachten medizinischen Rehabilitationsleistungen wegen entzündlich-rheumatischer Erkrankungen.
Männer
Frauen
Gesamt
Polyarthritiden
1.922
4.196
6.118
Spondarthritiden
2.777
1.738
4.515
Kollagenosen
411
1.445
1.856
Quelle: Statistik der Deutschen Rentenversicherung, Rehabilitation 2009
Die sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen wird erschwert durch die sehr variablen Verläufe, das unterschiedliche Ansprechen auf therapeutische Maßnahmen, den individuellen Umgang der Betroffenen mit Schmerzen und die enge Verzahnung von Funktionsstörungen am Bewegungsapparat und an inneren Organen.
8.1.2
Diagnostik
Ausgangspunkt der Diagnostik ist eine breit angelegte internistische Untersuchung, an die sich ein rheumatologischer Status anschließt. Die allgemeinen Hinweise zur Begutachtung in 7 Kap. 5 und die orthopädischen Untersuchungstechniken aus 7 Kap. 7 werden als bekannt vorausgesetzt. z
Anamnese
Neben Familien- und Eigenanamnese sind folgende Aspekte zu erfragen: Allgemeinsymptome wie Müdigkeit, Fieber, Gewichtsabnahme; Symptome am Bewegungsapparat wie Morgensteife, Gelenkschmerzen, -schwellungen, Schmerzen und Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule; Symptome durch Manifestation an anderen Organsystemen wie Magen-Darm-Trakt, Nieren, Lunge, an der Haut, den Augen, dem Zentralnervensystem sowie psychische Symptome. Im Vordergrund steht die Schmerzanamnese: Ausprägung, Art und Lokalisation des Schmerzes: artikulär, extraartikulär, ossär, ubiquitär; Abhängigkeit von Tageszeiten: Morgensteife, nächtliche Schmerzen; Beeinflussung durch: Ruhe, Bewegung, Belastung und Medikamente; Krankheitsbeginn: »donnernd« oder schleichend; mon-, olig- oder polyartikulär; Krankheitsverlauf : durchgehend, chronisch rezidivierend, schubweise mit spontanen oder therapieinduzierten Remissionen. Therapie, Therapieerfolge und -misserfolge: medikamentös, operativ, physikalisch; Beeinträchtigungen von Funktionen und Aktivitäten in Alltag und Beruf.
199 8.1 · Allgemeines
z
Körperliche Untersuchung
Wirbelsäule, Gelenke und Weichteile werden systematisch »von Kopf bis Fuß« untersucht (Inspektion, Palpation, Funktionsprüfung). Zu achten ist auf Schwellungen, ihre Kontur (spindel- oder knötchenförmig, daktylitisch) und Konsistenz (sulzig, weich, fluktuierend, derb, knöchern), ihren Bezug zu Gelenken (intra-/interartikulär), Sehnen, Sehnenscheiden und Schleimbeuteln. Bei jeder Arthralgie (subjektiv empfundener Gelenkschmerz) ist eine sorgfältige Untersuchung auf klinische Hinweise für eine Arthritis (Gelenkentzündung) erforderlich. Die Arthritis geht mit Schmerzen, Schwellung, Rötung, Überwärmung und Bewegungseinschränkungen einher, gelegentlich auch mit Ergussbildung. Bewegungsketten, z. B. Hand-, Ellbogenund Schultergelenk der gleichen Seite, müssen sorgfältig analysiert werden. Daneben wird ein internistischer Status erhoben. z
Laborwerte
Laborchemische Hinweise auf eine Systementzündung erhält man durch unspezifische Entzündungszeichen wie Blutsenkung (BSG), C-reaktives Protein (CRP) und Elektrophorese. Fachspezifisch – vgl. spezielle Krankheitsbilder – wird dann nachgehakt [Rheumafaktoren, verschiedene Auto-Antikörper (z. B. Antikörper gegen cyclische citrullinierte Peptide (anti-CCP), genetische Marker sowie ggf. Histologie/Zytologie]. Fast alle entzündlich-rheumatischen Erkrankungen bieten aber in der Frühphase kein eindeutiges diagnosespezifisches Laborprofil.
z
Subjektive Allgemeinsymptome wie z. B. Schwäche, Müdigkeit oder Schmerz können die Lebensqualität drastisch senken, sind aber schwierig zu beurteilen. Typischerweise finden sich bei vielen Kollagenosen eine gesteigerte Ermüdbarkeit, Abgeschlagenheit, myalgiforme Schmerzen und Leistungsminderung. Ähnliche, somatisch schwer einzuordnende Symptome treten auch bei anderen rheumatischen Krankheiten auf und lassen sich nur durch eine genaue Tagesablaufs- und Freizeitanamnese sowie Verhaltensbeobachtungen neben dem Untersuchungsgang objektivieren. Je nach Krankheitsbild sind sie unterschiedlich beeinflussbar. z
Bildgebende Verfahren
Konventionelles Röntgen, Sonographie, Computertomographie, Kernspintomographie und Skelettszintigraphie haben jeweils eine spezifische diagnostische Validität; vgl. hierzu 7 Kap. 7. Hervorzuheben ist die Kernspintomographie zum Nachweis initialer Erosionen, zur optimalen Abbildung des Rückenmarks in der Sagittalebene, zur Aktivitätsbeurteilung von entzündlichem Pannusgewebe und zur Darstellung des hyalinen Gelenkknorpels. Die Skelettszintigraphie weist Regionen mit beschleunigtem knöchernem Umbau nach und kann bei unklaren Arthralgien helfen, Arthritiden auszuschließen.
8.1.3
Begutachtungskriterien
Die meisten entzündlich-rheumatischen Erkrankungen beeinträchtigen Struktur, Funktion, Aktivität und Partizipation. Infolge ihres individuell variablen Verlaufes entziehen sie sich jedoch einer schematischen Beurteilung. Viele Betroffene sind typische Schmerzpatienten mit allen damit verbundenen Problemen bei der Begutachtung; vgl. 7 Kap. 26.
Befallsmuster von Wirbelsäule und Gelenken
Die funktionalen Auswirkungen entzündlich-rheumatischer Manifestationen im Bereich der Wirbelsäule und der peripheren Gelenke werden durch Lokalisation und Anzahl der betroffenen Gelenke oder Abschnitte bestimmt. Das Befallsmuster von Wirbelsäule und Gelenken ist sowohl diagnostisch wegweisend als auch für die sozialmedizinische Beurteilung bedeutungsvoll. Sind beispielsweise Bewegungsketten der oberen (Schulter, Ellenbogen, Hand) bzw. unteren (Hüfte, Knie, Sprunggelenke) Extremitäten oder bei einer Sp.a. (Spondylitis ankylosans) neben den ISG-Gelenken ein oder mehrere Wirbelsäulenabschnitte betroffen, können sich die Funktionsstörungen wechselseitig negativ beeinflussen. z
z
Allgemeinsymptome
Viszerale Manifestationen
Viszerale Manifestationen sind obligat beim systemischen Lupus erythematodes und bei der progressiv systemischen Sklerose, fakultativ bei der chronischen Polyarthritis, der Spondylitis ankylosans oder bei Borreliosen. Sie fehlen bei vielen Spondarthritiden oder reaktiven Arthritiden. z
Beurteilung im Quer- und Längsschnitt
Im Verlauf einer jahrelangen Erkrankung erfasst die Begutachtung immer nur einen Querschnittsbefund, der durch eine retrospektive und prospektive Längsschnittbetrachtung zu ergänzen ist. So ist die entzündliche Aktivität zum Zeitpunkt der Begutachtung allein wenig aussagekräftig; sie wird es aber dann, wenn sie über Jahre persistiert und dies weiterhin zu erwarten ist. Mit Ausnahme fortgeschrittener Fälle mit irreversiblen Destruktionen ist auch bei Funktionsdefiziten zu unterscheiden, ob diese Resultat einer längeren Krankheitsentwicklung oder eine Momentaufnahme der aktuellen (sub)akuten Krankheitssituation sind. Therapie und Prognose entzündlich-rheumatischer Erkrankungen haben sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Durch ihre rasche entzündungshemmende und destruktionsverhindernde Wirkung spielen Methot-
8
200
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Kapitel 8 · Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
rexat (MTX) und biotechnologisch hergestellte Substanzen (sog. Biologica) wie TNFα- oder Interleukin-6-Hemmer [47, 48] in der Behandlung eine weitaus größere Rolle als die sog. Basistherapeutika früherer Jahre. Nur die Berücksichtigung der aktuellen therapeutischen Möglichkeiten erlaubt hier eine sachgerechte Beurteilung.
8.1.4
Sozialmedizinische Beurteilung
8
Zusammenfassend beruht die sozialmedizinische Beurteilung entzündlich-rheumatischer Krankheiten auf den Puzzle-Teilen: »Ausmaß der Schädigungen und Funktionsstörungen der betroffenen Gelenke und/oder Wirbelsäulenabschnitte«, »Ausmaß der Schädigungen und Funktionsstörungen innerer Organe, Nerven oder Sinnesorgane bei Manifestationen außerhalb des Bewegungsapparates«, »Würdigung des bisherigen Verlaufs«, »individuelle Prognoseerstellung« und »Ausmaß der Beeinträchtigung durch den Schmerz«. Für die sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben sind unter anderem folgende Kriterien zu beachten: 4 Arbeitszeit und Arbeitsorganisation; z. B. keine Frühschicht bei lang anhaltender Morgensteife, keine Nachtschicht bei chronischen Schmerzen mit gestörtem Schlaf 4 Arbeitsschwere und Arbeitshaltung; z. B. keine körperlich schweren Tätigkeiten, überwiegend sitzende Tätigkeit bei Befall der Gelenke der unteren Extremitäten, Berücksichtigung technischer Hilfen (z. B. Arthrodesenstuhl, Stehpult) 4 Bewegungs- und Haltungsapparat; z. B Gebrauchsfähigkeit der Hände, Gang- und Standsicherheit, Bücken 4 Witterungseinflüsse; z. B. keine Belastung durch Kälte, Nässe, Hitze, UV-Exposition 4 Aufmerksamkeit und Konzentration; z. B. keine überdurchschnittlichen Ansprüche an das Konzentrationsvermögen bei chronischen Schmerzen
8
z
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8 8 8 8 8
onsleistung mit ihrem multimodalen Behandlungskonzept dazu beitragen, Patienten im Erwerbsleben zu halten. Voraussetzung dafür sind konzeptgeschulte Teams (Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Sozialarbeiter usw.) und eine suffiziente Nachbehandlung. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben können in Form von innerbetrieblicher Umsetzung, Qualifizierungsmaßnahmen, aber auch ergonomischen Arbeitsplatzanpassungen erforderlich werden.
8.2
Krankheitsbilder
8.2.1
Polyarthritiden
Zu den entzündlich-rheumatischen Gelenkerkrankungen gehören die rheumatoide Arthritis (RA) und die juvenile idiopathische Arthritis (JIA, früher M. STILL).
Rheumatoide Arthritis (RA) Die rheumatoide Arthritis ist eine entzündlich-systemische Bindegewebserkrankung unklarer Ätiologie und teilerforschter Pathogenese. Sie manifestiert sich vorwiegend an den Gelenken, involviert als Systemerkrankung auch Sehnenscheiden, Bursen, Blutgefäße, Augen, seröse Häute (Polyserositis) und innere Organe. Bei der polyätiologischen Entstehung der chronischen Polyarthritis spielen genetische, autoimmunologische und infektiöse Faktoren eine entscheidende Rolle [10]. z
Diagnostik
Bei der Diagnostik einer rheumatoiden Arthritis waren bisher die hierfür maßgeblichen ACR-Kriterien . Tab. 8.2) zu berücksichtigen. Diese Klassifikation beruht aber auf Daten von Patienten mit siebenjähriger Krankheitsdauer und wurde deshalb zu Gunsten der neuen ACR/ EULAR-Kriterien 2010 verlassen, die eine wesentlich frühere Diagnosestellung (. Tab. 8.3) und damit auch eine frühe Behandlung ermöglichen.
Leistungen zur Teilhabe
Die meisten entzündlich-rheumatischen Krankheiten beginnen vor dem 45. Lebensjahr. Bei 25–30 % der an einer chronischen Polyarthritis Erkrankten besteht bereits nach 4–6 Jahren eine volle oder teilweise Erwerbsminderung [38]. Ein klar definiertes Ziel ist es, diese meist jungen Menschen in der familiären und beruflichen Aufbauphase so lange wie möglich im Erwerbsleben zu halten. Dabei können sowohl medizinische Rehabilitationen als auch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben indiziert sein. Medizinische Rehabilitation. Insbesondere in frühen Krankheitsphasen kann eine medizinische Rehabilitati-
Anamnese. Eine sorgfältige Anamnese besitzt für die Diagnose der RA einen hohen Stellenwert. Körperliche Untersuchung. Durch die Inspektion können Gelenkdeformierungen, Wirbelsäulenfehlhaltungen oder -formen, Veränderungen der Haut (DD z. B. Psoriasis) und der Augen (z. B. Iritis, Konjunktivitis, Episkleritis), Schwellungen der Sehnen, Sehnenscheiden, Bursen und Ganglien (z. B. Baker-Zyste) objektiviert werden. Finden sich Rötung, Schwellung, verstrichenes »Bergund-Tal-Relief« (z. B. der Metakarpophalangealgelenke?), charakteristische Fußsohlenbeschwielungen?
8
201 8.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 8.2 ACR-Kriterien zur Diagnose der rheumatoiden Arthritis
. Tab. 8.3 ACR/Eular-Kriterien 2010 zur Diagnose der rheumatoiden Arthritis (RA) [2]
Kriterium
Definition
Kriterium
Definition
1. Morgensteife
Morgensteife in einem Gelenk von mindestens einer Stunde Dauer bis zum vollständigen Abklingen
1. Gelenkbeteiligung
Je nach Art und Zahl der betroffenen Gelenke
0 bis 5 Punkte
Fluktuierende Kapselschwellung (nicht knöcherne Verdickung) in mindestens 3 Gelenkregionen, objektiv beobachtet. Die 14 möglichen Gelenkregionen sind: proximale Interphalangealgelenke, Metakarpophalangealgelenke, Hand-, Ellenbogen-, Knie-, Sprunggelenke und Metatarsophalangealgelenke
2. Serologische Parameter
Rheumafaktor und antiCCP negativ Rheumafaktor oder antiCCP niedrig positiv Rheumafaktor oder antiCCP hoch positiv
0 Punkte
2. Arthritis in 3 oder mehr Gelenkregionen
3. Akutphasenreaktion
CRP und BSR normal CRP oder BSR erhöht
0 Punkte 1 Punkt
4. Dauer der Arthritis
Beschwerden, die 6 Wochen oder länger bestehen
1 Punkt
3. Arthritis an Hand- oder Fingergelenken
Befall mindestens eines Hand-, Metakarpophalangeal- oder proximalen Interphalangealgelenkes
4. Symmetrische Arthritis
Gleichzeitiger beidseitiger Befall derselben Gelenkregion
5. Rheumaknoten
Subkutane Knoten über Knochenvorsprüngen oder gelenknahen Streckseiten
6. Rheumafaktornachweis
Jegliche Methode, deren positiver Rheumafaktornachweis < 5 % bei einer normalen Kontrollgruppe liegt
7. Radiologische Veränderungen
Typische Röntgenveränderungen in der dorsopalmaren Handaufnahme mit gelenknaher Osteoporose und (oder) Erosionen der betroffenen Gelenke. Arthrotische Veränderungen allein reichen nicht aus.
Vier der 7 Kriterien müssen zur Klassifikation erfüllt sein, die Kriterien 1–4 müssen mindestens 6 Wochen lang bestehen. Nach ARNETT et al. [3]
Dem »diagnostischen Händedruck« (Gaenslen-Zeichen) an Händen und Füßen folgen die Messung der groben Kraft und die Prüfung und Beschreibung der Feinmotorik der Hände. Bei den Funktionsprüfungen der Hand sind Kraft- und Präzisionsgriffe, Fingerkuppen-Hohlhand-Abstand, Faustschluss und Knopftest durchzuführen. Danach werden systematisch Gelenk für Gelenk, die Wirbelsäule und die Weichteile untersucht. Aktive/passive Beweglichkeit, Tonus, Hyper- oder Hypotrophie der Muskulatur, Gelenkstabilität, Erguss werden beschrieben. Wichtig ist auch die Untersuchung von Sehnen und Sehnenscheiden – es gibt »reine« Sehnen(scheiden)verläufe der RA. Ein spezieller Blick gilt den Kiefergelenken, die nicht nur prodromal von Bedeutung sind, sondern über eine Temporomandibulararthritis erkranken können, was
2 Punkte 3 Punkte
Es ergibt sich eine Skala von 0–10 Punkten. Bei einem Score von 6 und mehr wird die Diagnose RA gestellt.
zu Kauschmerzen und/oder einer verkleinerten Mundöffnung führen kann. Begleitende periphere Kompressionssyndrome (z. B. Karpaltunnelsyndrom) werden durch EMG/ENG und klinisch z. B. durch das Phalensche, Tinelsche, das Flaschen-Zeichen untersucht. Bildgebende Verfahren. Nach wie vor dominiert das konventionelle Röntgen: z. B. Hände in 2 Ebenen d. p. und in 25° Supination oder 45° Pronation. Die Kernspintomographie wird für Weichteilprozesse (Aktivität eines Pannusgewebes, frühe Knochenödeme, frühe Erosionen), die Computertomographie bei knöchernen Veränderungen (obere HWS) eingesetzt. Sehr aussagekräftig ist bei Baker-Zysten, Sehnenscheidenentzündungen, Schulterund Hüftgelenken die Ultraschalluntersuchung. Labor. BSG, CRP, Rheumafaktor und anti-CCP [8] müs-
sen nach aktueller Klassifikation zur Diagnosestellung bestimmt werden. Antinukleäre Antikörper (ANA), Antikörper gegen DNA (anti-DNA) oder gegen Mitochondrien (AMA), extrahierbare Antikörper (ENA), wie SS-A, SS-B, die auch auf ein sekundäres Sjögren-Syndrom hinweisen können, sind dagegen eher für die Differenzialdiagnose oder die Verlaufsbeurteilung nützlich. Prognostisch günstig sind niedrige Rheumafaktoren und ein niedrigpersistierendes Entzündungsniveau sowie der Nachweis von HLA-DR2; prognostisch ungünstig sind ein initial hoher IgM-Rheumafaktor, persistierend hohe Enzündungszeichen, die Allele des HLA-DR4/DR1 (0401, 0404, 0408 und 0101), insbesondere wenn homozygot vorhanden, und aszendierende oder persistierend hohe antinukleäre Antikörper.
202
8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8
Kapitel 8 · Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
z Begutachtungskriterien Schmerzen. Neben den Funktionsstörungen stehen bei
der RA meist die Schmerzen im Vordergrund. Liegen Funktionseinschränkungen an Wirbelsäule und Gelenken vor, muss bei der Untersuchung unterschieden werden, ob sie allein schmerzreflektorisch oder bereits durch ossär destruierende Prozesse verursacht werden. Gelenkbefallsmuster. Diagnostisch wie funktionell spielt die Hand des chronischen Polyarthritikers eine bedeutende Rolle. Der symmetrische Befall beider Handgelenke ist typisch und kommt bei anderen systemischen Arthritiden nur sehr selten vor. Sehr häufig erkranken – ebenfalls symmetrisch – die Metakarpophalangealgelenke (MCP) und proximalen Interphalangealgelenke (PIP). Häufig – gerade initial – wird die Beteiligung der Zehengrund- und -mittelgelenke übersehen. In absteigender Häufigkeit sind Knie-, Ellbogen-, Sprung- und Hüftgelenke befallen. Zu beachten – wenn auch selten – sind die Temporomandibulargelenke. Achsenbeteiligung. In 60–70 % persistierend aktiver
Verläufe kommt es zu einer Arthritis der Atlantookzipital- und Atlantoaxialgelenke. Prognostisch relevant sind die ventrale (25–40 %) und die seltenere (0,9–3,7 %) vertikale Dislokation (pseudobasiläre Impression) von Atlas und Dens, deren Stabilität, Mobilität und die Weite des Rückenmarkkanals. Typische Folgen sind hartnäckige Nacken- und Hinterkopfschmerzen, Nackensteife, Schädigungen kaudaler Hirnnerven sowie vegetativer und sensibler Bahnen, zervikale Wurzelsyndrome und Symptomatik i. S. e. vertebrobasilären Insuffizienz. Im Bereich von HWK 3–7 treten Diszitis, Spondylodiszitis, Spondylarthritis, Step-ladder-Dislokation eventuell mit der Folge einer zervikalen Myelopathie und häufig therapiebedingt eine Osteoporose auf [23]. Extraartikuläre und viszerale Manifestationen. Die ex-
8
traartikulären und viszeralen Manifestationen sind teilweise vaskulitisch, teilweise nichtvaskulitisch verursacht. Der Rheumatologe sucht nach subkutanen oder pulmonalen Rheumaknoten (12–15 %), digitalen Nekrosen, nach einer Pleuritis oder Perikarditis, einer sekundären Nieren-Amyloidose (5–8 %), Lungenfibrosen oder Gangrän (1–2 %). Nichtvaskulitische periphere Nervenkompressionssyndrome wie das Karpaltunnelsyndrom oder Tarsaltunnelsyndrom lassen sich in 45 %, zervikale Myelopathien in 20 % objektivieren [10].
8
Verlauf. Spontanremissionen sind sehr selten, therapeu-
8 8 8
8
tische häufiger. Heute wird in der internistischen Rheumatologie so früh und so aggressiv wie möglich (nötig)
behandelt. Gelingt das, kommt es nicht zu anhaltenden Zerstörungen der Gelenk- oder Bindegewebsstrukturen. Bei der Behandlung orientiert man sich am DAS28 (disease activity score), wobei der »grüne« Bereich des DAS (fehlende oder niedrige Krankheitsaktivität) zwischen 0 und 3.2 liegt. Der »gelbe« Bereich (mittlere Krankheitsaktivität) wird durch Werte zwischen 3.2 und 5.1 gekennzeichnet. DAS-Werte von 5.1 und darüber liegen im »roten« Bereich (hohe Krankheitsaktivität). Therapieziel bei der Behandlung einer rheumatoiden Arthritis sind DAS-Werte im »grünen«, besser noch im »tiefgrünen« Bereich (0–2.6). Werden solche Werte dauerhaft erreicht, ist die Erkrankung auch im Hinblick auf die langfristige Prognose gut kontrolliert und ein Fortschreiten von entzündlichen Gelenkveränderungen nicht zu erwarten. Folgende Parameter fließen in den DAS28 ein: 4 Anzahl der druckschmerzhaften Gelenke (0–28; Messung an 28 definierten Gelenken) 4 Anzahl der geschwollenen Gelenke (0–28) 4 Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (mm/h) 4 Einschätzungen von Krankheitszustand/Krankheitsaktivität durch den Patienten (0–100 mm VAS) Der DAS28 wird dann nach einer Formel mit einer Berechnungshilfe errechnet [15]. Die Behandlung erfolgt neben einer möglichen Therapie mit nicht steroidalen Antirheumatika (NSAR) und bedarfsweise einem Glukokorticoid mit DMARDs (Disease modifying antirheumatic Drugs) nach einem therapieerfolgs- und zeitgesteuerten Schema. Üblich sind dabei MTX, MTX und Leflunamid oder MTX und TNFα- Inhibitor. Früh gegeben, wirken Methotrexat und »Biologicals« wie TNFα-Hemmer und Interleukin-6-Hemmer am besten [47, 48]. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Wie in 7 Kap. 8.1.3 dargelegt, ist eine Betrachtung im Querschnitt und Längsschnitt erforderlich. Bei der Querschnittsbetrachtung einer RA werden die Befunde auf den verschiedenen Ebenen (humoral, bildgebend, funktionserfassend usw.) festgelegt. Entscheidenden Anteil an der sozialmedizinischen Beurteilung eines RA-Patienten haben die Einordnung des Spontanverlaufs, die retrospektive und aktuelle Bewertung des Entzündungsniveaus (persistierend hoch, niedrig, schwankend), das Gelenkbefallsmuster (Bewegungskette, Gebrauchshand, obere/untere Extremitätengelenke), das Mitbetroffensein der oberen Halswirbelsäule und mögliche viszerale Manifestationen (Vaskulitiden). Medizinische Rehabilitation. Menschen mit RA haben einen hohen und frühzeitigen Bedarf an Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, da sie einem hohen Risiko
203 8.2 · Krankheitsbilder
dauerhafter Einschränkungen von Funktionen und Aktivitäten im Alltag sowie der sozialen Teilhabe ausgesetzt sind. Da viele Betroffene noch im Erwerbsleben stehen, sollte bei anhaltenden Funktionsstörungen schnell eine medizinische Rehabilitationsleistung eingeleitet werden. Das multimodale Therapiekonzept der medizinischen Rehabilitation ist für die RA besonders geeignet, weil neben der Behandlung der Grunderkrankung und der Funktionsstörungen häufig eine Erprobung ergonomischer Hilfsmittel oder auch eine Arbeitsplatzerprobung erforderlich ist, so dass Leistungen zur medizinisichen Rehabilitation und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ineinandergreifen. Nach endoprothetischem Gelenkersatz großer Gelenke ist eine Anschlussrehabilitation obligat. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben können erforderlich sein, wenn beispielsweise vorher ausgeübte schwere oder mittelschwere körperliche Tätigkeiten oder Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an die Feinmotorik auf Grund von Funktionsstörungen der Wirbelsäule oder Gelenke nicht mehr ausgeübt werden können. Erwerbsminderung. Bei früh einsetzender erfolgreicher Therapie gelingt es meist, das Leistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten, überwiegend im Sitzen in geschlossenen Räumen in Tagesschicht, zu erhalten. Zusätzliche qualitative Einschränkungen ergeben sich bei dem typischen Befall der Finger- und Zehen-Gelenke für Arbeiten, die überdurchschnittliche Ansprüche an die Feinmotorik oder die Handkraft/den Festgriff stellen, für Tätigkeiten auf unebenen Böden, Leitern und Gerüsten. Ist die entzündliche Aktivität trotz adäquater Therapie ständig hoch, bestehen Kontraindikationen für eine effektive Therapie, ist die Handfunktion stark eingeschränkt oder steht die Gelenkdestruktion im Vordergrund, so dass bereits mehrere große wie kleine Gelenke endoprothetisch ersetzt werden mussten, kann das Leistungsvermögen auf weniger als drei Stunden absinken.
Juvenile idiopathische Arthritis (JIA) Nach neuester Nomenklatur sind juvenile idiopathische Arthritiden als Krankheiten definiert, die bei Kindern unter 16 Jahren zu einer ärztlich diagnostizierten Gelenkschwellung von über 6 Wochen Dauer führen, die nicht mechanisch induziert ist [29]. Im Übergang zum Erwachsenenalter und später differieren die Subtypen. Drei von ihnen – die seropositive juvenile Arthritis, die juvenile idiopathische Arthritis psoriatica und die mit Enthesitiden verlaufende JIA – finden im Erwachsenenalter Äquivalente. Andere Verlaufsformen, wie die systemische Arthritis, andere Arthritiden und die an wenigen Gelenken
persistierende Oligarthritis spielen in der Beurteilung im Erwachsenenalter keine entscheidende Rolle. Die Prävalenz aktiver juveniler Arthritiden im Erwachsenenalter liegt zwischen 0,00011 und 0,0005 % [25]; letzteres entspräche in Deutschland etwa 2.000 Erkrankten. Früher nahm man an, dass 80–90 % im Erwachsenenalter beschwerdefrei werden. Arbeiten der letzten Jahre zeigen jedoch, dass jeder zweite Erwachsene noch aktiv erkrankt ist [12, 24]. Die Langzeitprognose wird durch Wachstumsstörungen, Osteopenie, Osteoporose, Visusminderung nach Iritis und durch persistierende Arthritiden und Sekundärarthrosen bestimmt. Funktionell ist etwa jeder 10. Erwachsene mit JIA deutlich beeinträchtigt, bevorzugt Patienten mit polyartikulärem Verlauf [13]. Sekundäre Koxarthrosen erfordern häufig eine frühzeitige endoprothetische Versorgung [28]. Während allgemeine Wachstumsstörungen an Bedeutung verlieren, finden sich lokale Wachstumsstörungen (z. B. Mikrognathie) noch relativ häufig. Im Mittelpunkt stehen die Langzeitschäden der Augen. Häufige, nicht selten foudroyante (Irido-)Zyklitiden führen bei 15– 50 % der Betroffenen zu Sehminderungen [20].
8.2.2
Spondarthritiden
Unter den Spondarthritiden (syn. Spondylarthropathien) wird eine größere Gruppe rheumatischer Erkrankungen zusammengefasst, deren gemeinsames Bindeglied die häufige Mitbeteiligung der Wirbelsäule ist und bei denen kein Rheumafaktor nachgewiesen werden kann. Dazu zählen: 4 Spondylitis ankylosans (M. Bechterew), 4 Arthritis psoriatica, 4 reaktive Arthritiden, 4 Morbus Reiter, 4 enteropathische Arthritiden (bei M. Crohn und Colitis ulcerosa), 4 juvenile Oligoarthritis Typ II, 4 undifferenzierte Spondarthritiden. Die inzwischen von der ESSG (European Arthropathie Study Group) und ASAS (Assessment of SpondyloArthritis international Society) entwickelte neue Klassifikation (. Tab. 8.4) gestattet eine frühzeitige Diagnosestellung und gewährleistet damit auch einen schnellen Therapiebeginn.
Spondylitis ankylosans (Sp.a.) Die Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew, ankylosierende Spondylitis, AS) verläuft wechselnd progredient und ist nach heutigem Stand der Medizin nicht heilbar. Sie kommt schließlich von selbst zur Ruhe, was in jedem
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Kapitel 8 · Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
8
. Tab. 8.4 Klassifikationskriterien der ESSG (European Spondylarthropathy Study Group) für Spondylarthropathien
. Tab. 8.5 Modifizierte New-York-Kriterien zur Diagnose der Spondylitis ankylosans
8
A. Hauptkriterien
A. Diagnose
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Entweder
Oder
Entzündlicher Rückenschmerz
Asmmetrische Arthritis der unteren Extremität
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und B. Nebenkriterien
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mindestens eines oder mehrere der nachfolgenden Nebenkriterien
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5 Positive Familiananmnese für M. Bechterew, Psoriasis, Uveitis, reaktive Arthritis, M. CROHN, Colitis ulcerosa
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Aktuell oder anamnestisch 5 Psoriasis 5 CED 5 Alternierender Gesäßschmerz 5 Enthesiopathie (Fersenschmerz, Achillessehen-, Plantaraponeurosen-Insertionsschmerz) 5 Nicht- gonorrhoische Urethritis oder Zervizitis oder akute Diarrhoe jeweils innerhalb eines Monats vor Beginn der Arthritis 5 Sakroiliitis (bilateral Grad 2–4 oder unilateral Grad 3–4)
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Sind ein Hauptkriterium und eines oder mehrere Nebenkriterien erfüllt, wird die Diagnose Spondarthropathie gestellt.
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z
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Radiologische Kriterien: 5 Beidseitige Sakroiliitis, Grad II–IV 5 Einseitige Sakroiliitis, Grad III–IV
B. Klassifikation Definitive Spondylitis ankylosans: 5 Einseitige Sakroiliitis, Stadium III oder IV, 5 bzw. bilaterale Sakroiliitis, Stadium II–IV + ein klinisches Kriterium
Wahrscheinliche Spondylitis ankylosans: 1. Wenn alle klinischen Kriterien erfüllt sind oder 2. einseitige (III, IV) oder bilaterale Sakroiliitis (II–IV)
Nach van der Linden et al., 1984 [45]
Stadium der Erkrankung möglich ist. Diagnostisch werden neben den oben angeführten Kriterien der ESSG am häufigsten die modifizierten New-York-Kriterien genutzt (. Tab. 8.5). Das früher angenommene Verhältnis Männer zu Frauen von 10:1 wurde infolge besserer diagnostischer Möglichkeiten auf 4:1 korrigiert, wobei möglicherweise weiterhin die Erkrankungshäufigkeit bei Frauen unterschätzt wird [32, 34]. Kontrovers wird beurteilt, ob die Prognose bei Frauen günstiger ist als bei Männern. Schwere Verläufe gibt es bei beiden Geschlechtern, eine periphere Gelenkbeteiligung ist bei Frauen 3–4mal häufiger als bei Männern.
8
Klinische Kriterien: 1. Tieflokalisierte Kreuzschmerzen und -steifigkeit von ≥ 3 Monaten, die nicht durch Ruhe, sondern durch Bewegung vermindert werden 2. Bewegungseinschränkungen der Lendenwirbelsäule in der sagittalen und frontalen Ebene 3. Alters- und geschlechtsadaptiert verminderte Atembreite
Diagnostik
Leitsymptom ist der entzündliche Rückenschmerz. Die Diagnose entzündlicher Rückenschmerz wird gestellt, wenn vier der nachfolgenden fünf Kriterien erfüllt sind: 4 Beginn vor dem 40. Lebensjahr 4 Schleichender Beschwerdebeginn 4 Dauer ≥ 3 Monate 4 Morgensteife über mindestens 30 Minuten 4 Besserung durch Bewegung [9, 27, 33] Bei den modifizierten New-York-Kriterien ergibt sich die Diagnose aus der Verbindung von klinischen und radiologischen Befunden.
Anamnese. Typisch sind dumpf empfundene Kreuzschmerzen mit Ausstrahlung in die Darmbeinschaufeln und zur Hinterseite der Oberschenkel bis zur Kniekehle. Die Schmerzen treiben die Betroffenen nachts oder frühmorgens aus dem Bett, sie bessern sich durch Bewegung und verstärken sich durch Husten, Niesen, Pressen und Erschütterungen. Oft nicht vom Schmerz zu trennen ist eine morgendliche Steife der Lendenwirbelsäule. Vor den Kreuzschmerzen können Arthralgien, Arthritiden oder Gelenkergüsse auftreten, vorwiegend in Form von Monoder Oligarthritiden der Knie-, Sprung-, Hüft- oder selten der Schultergelenke. Gezielte Fragen erfassen frühere Iridozyklitiden, Fersenschmerzen, Schmerzen an den Übergängen vom Sternum zu den Rippen und dem Rippenknorpel. Wichtig ist auch die Frage nach Spondarthritiden in der Familie. Körperlicher Befund. Das Mennellsche Zeichen signa-
lisiert einen Verschiebeschmerz zwischen Os ilium und Os sacrum, das Vorlaufzeichen weist auf eine einseitige Hyper- oder Hypomobilität im Kreuzbein-Darmbeingelenk hin. Die Bewegungsmaße von HWS (Rotation, Seitneigung, Ante-/Retroversion, Kinn-Sternum-Abstand und Hinterhaupt-Wand-Abstand), BWS (Ott) und LWS (Schober, Macrae und Wright) und die thorakolum-
205 8.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 8.6 Stadieneinteilung der Spondylitis ankylosans n. Ott und Wurm Stadium
Klinik
Röntgen
Funktion
I
Bewegung bessert den Schmerz. MENNELLsches Zeichen pathologisch. Insertionsschmerzen.
Iliosakrale Arthritis
Beginnende Funktionseinschränkung der Wirbelsäule durch nicht fixierte Fehlhaltungen.
II
SCHOBER, OTT und MACRAE pathologisch. Abgeflachte Lordose der LWS. Hyperkyphose der oberen BWS.
Iliosakrale Arthritis. Kastenwirbel (Spondylitis anterior).
Versteifung eines Wirbelsäulenabschnittes. Differenz zwischen Wirbelsäulenbewegungen mit u. ohne Belastung weist auf Reserven hin.
III
Kinn-Sternum- und HinterhauptWand-Abstand vergrößern sich. Alle Messzeichen pathologisch.
Iliosakrale Arthritis. Ein bis zwei überbrückende Syndesmophyten (Spondylitis anterior)
Knöcherne Thoraxcompliance reduziert. Wirbelsäule bis auf die HWS versteift und funktionslos.
IV
Fußballbauch. Bügelbrettrücken. Hüft-, Knie-, Schulterkontrakturen. »Pseudo-PARKINSON«-Gang.
Partielle/komplette ISG-Ankylose. Mehrere überbrückende ventrale und laterale Syndesmophyten (Bambusstab).
Wirbelsäulenbeweglichkeit funktionell vollständig aufgehoben.
bale Rotation bei fixiertem Becken werden in 7 Kap. 7.12 ausführlicher dargestellt. Zu achten ist auf Thoraxkompressionsschmerz, Klopfschmerz einzelner Wirbelkörper sowie auf die Atembreite, die bei pathologischem Ausfall durch eine Lungenfunktionsmessung zu ergänzen ist. Labor. Die Entzündungsparameter (BSG, CRP) sind sel-
ten so hoch wie im Rahmen der rheumatoiden Arthritis. Als sensitives Akute-Phase-Protein hat sich das Haptoglobin herausgestellt. Das HLA-B27 gilt zwar als genetischer Marker, beweist aber nicht die Diagnose und kommt auch bei Gesunden vor. Auch der Krankheitsverlauf hängt nicht vom HLA-B27 ab. Bildgebende Verfahren .
Eine zunehmend verwendete Methode gerade in der Frühdiagnostik der AS ist die Kernspintomographie, die mit der exzellenten Darstellung von Knorpelalterationen, subchondralen Knochenmarködemen und der Möglichkeit der Graduierung der Entzündungsaktivität häufig die Frühdiagnose einer Iliosakralgelenksarthritis gestattet. Das konventionelle Röntgen bleibt zur Verlaufsdokumentation schon aus Kostengründen die Methode der Wahl. Das gilt insbesondere für Manifestationen an der Wirbelsäule wie Spondylitis anterior, Diszitis, Spondylodiszitis, Syndesmophyten, Mixtaosteophyten usw.
rücksichtigen, die sich aus dem variablen Krankheitsverlauf ergeben: Arthritiden. Weit häufiger als bei einer »Wirbelsäulen-
krankheit« vermutet, entwickeln sich Arthritiden der stammnahen Gelenke (Hüften, Knie, Schultern; in 30– 50 %), aber auch der kleinen peripheren Gelenke (Finger, Zehen, Hand, Ellbogen; in 8–12 %). Diese peripheren Arthritiden ähneln der rheumatoiden Arthritis, verlaufen jedoch milder und weniger destruktiv. Eine Bewegungseinschränkung der Schulter-, Hüft- oder Kniegelenke beraubt den Bechterew-Patienten im Endstadium mit gebeugter, versteifter Wirbelsäule und eingeschränktem Heppschem Blickwinkel der letzten Möglichkeit, sich aufzurichten und seinem Gegenüber in die Augen zu schauen. Enthesitis. Allen Spondarthritiden eigen sind Entzün-
dungen der Sehnen-, Band- und Kapselinsertionen. Prädilektionsorte sind die Ligg. interspinalia der Halswirbelsäule, Insertionsstellen an Scham- und Sitzbein, an der Achillessehne und der Plantarfaszie. Diese Enthesitiden bestimmen im Rahmen einiger AS-Verläufe das Schmerzgeschehen und legen das »Schmerzniveau« fest. Die Sehnenansätze sind druckdolent, aber auch in Ruhe und ohne äußere Einflüsse sehr schmerzhaft. Augen. Initial erkranken Vorderkammer (Iritis) und Zi-
z
Begutachtungskriterien
Den typischen Verlauf der AS zeigt die Stadieneinteilung in . Tab. 8.6. Im Verlauf können an der Wirbelsäule Komplikationen wie axiale Osteoporose, Wirbelkörperfrakturen und Pseudoarthrosen auftreten. Letztere besitzen ein erhebliches Schmerzpotential. Darüber hinaus sind im konkreten Einzelfall zahlreiche weitere Kriterien zu be-
liarkörper (Iridozyklitis) eines Auges in fast 100 % einseitig. Im Verlauf wechseln HLA-B27-positive Patienten in ca. 60 % zwischen beiden Augen. Prognostisch sind die Häufigkeit der Iritisrezidive pro Jahr und ihre Folgen (hintere Synechien) relevant. Lungen. Die Entzündung der Kostovertebral- und Kos-
tosternalgelenke führt zu einer restriktiven Ventilations-
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Kapitel 8 · Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
störung unterschiedlicher Schwere. Extrem selten sind kavernöse Oberlappenfibrosen. Sie können zystoid oder diffus konfiguriert und mit Aspergillus und/oder Mykobakterien besiedelt sein. Herz. Etwa 2 bis 4 % aller Patienten mit Spondylitis anky-
losans leiden unter einer mesaortitisch induzierten Aorteninsuffizienz, einem AV-Block ersten Grades und Herzrhythmusstörungen. Amyloidose. Eine über Jahrzehnte persistierende hohe Entzündungsaktivität führt in bis zu 8,5 % zur sekundären Amyloidose [18]. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung bei der AS orientiert sich am Verlauf, an Ausmaß und Art der Einsteifung der Wirbelsäule, der Entzündungsaktivität, dem Mitbefall peripherer Gelenke und den daraus resultierenden Funktionsstörungen, sowie an Begleit- oder Folgeerkrankungen. Daneben ist zu berücksichtigen, ob die therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. Die Therapie besteht im Wesentlichen aus Physiotherapie und Medikation. Eingesetzt werden meist gut wirksame nicht steroidale Antirheumatika und inzwischen als »Basistherapeutikum« (DMARD = Disease modifying antirheumatic Drug) TNF-alpha-Inhibitoren, die gerade bei der AS häufig sehr schnell und effektiv wirken. Die Entzündungsaktivität geht zurück, die Verknöcherungen schreiten allerdings trotzdem fort.
Sitzen, mit Gelegenheit zum Haltungswechsel erhalten. Zu einer Leistungsminderung kann es kommen, wenn die Entzündungsaktivität trotz ausgeschöpfter Therapie anhält, wenn Kontraindikationen für eine adäquate Therapie (z. B. alte Tbc) vorliegen oder wenn die Wirbelsäule langstreckig in ungünstiger Haltung eingesteift ist. Daneben bestimmen die Funktionsstörungen mitbefallener peripherer Gelenke und der Augen sowie häufig auch eine Einschränkung der Lungenfunktion die Leistungsfähigkeit.
Arthritis psoriatica Die Arthritis psoriatica ist eine rheumafaktor-negative Systemarthritis, die vor (10–15 %), gleichzeitig mit (15– 20 %) oder nach (65–80 %) einer Psoriasis auftreten kann. Die Prävalenz der Psoriasis liegt bei 2–5 % [11], wovon jeder 12. bis 15. an einer Arthritis erkrankt (Prävalenz: 0,13–0,17 %) [43]. Für die Diagnose einer Arthritis psoriatica sine psoriase sind spezifische, anderen Arthritiden mit Ausnahme des Morbus Reiter nicht eigene bildgebende Befunde erforderlich. z
Charakteristisch sind der meist asymmetrische Befall der Finger- und Zehengelenke einschließlich distaler Interphalangealgelenke im Strahl und die Veränderungen im Röntgenbild. In bis zu 40 % der Fälle ist die Wirbelsäule mitbetroffen. Autoimmunphänomene und viszerale Manifestationen sind viel seltener als bei der RA. z
Medizinische Rehabilitation. Da die Sp.a. typischerweise
vor dem 40. Lebensjahr beginnt, kann es bereits frühzeitig zu einer Gefährdung der Leistungsfähigkeit kommen, so dass eine medizinische Rehabilitation indiziert ist. Das multimodale Therapiekonzept der medizinischen Rehabilitation ist bei der Sp.a. besonders effektiv, weil die physikalische Therapie einen entscheidenden Therapiebaustein darstellt und die Therapiemotivation der Betroffenen überdurchschnittlich hoch ist. Nach endoprothetischem Gelenkersatz großer Gelenke ist eine Anschlussrehabilitation obligat. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben können er-
forderlich sein, wenn beispielsweise vorher ausgeübte schwere oder mittelschwere körperliche Tätigkeiten oder Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an die Feinmotorik auf Grund von Funktionsstörungen der Wirbelsäule oder Gelenke nicht mehr ausgeübt werden können. Erwerbsminderung. Unter adäquater Therapie bleibt bei den meisten Betroffenen das Leistungsvermögen zumindest für körperlich leichte Tätigkeiten überwiegend im
Diagnostik
Begutachtungskriterien
Der Gutachter muss zwei Krankheitsbilder (Arthritis und Psoriasis) beurteilen, in manchen Fällen auch drei, wenn eine Spondylarthritis dazu kommt. Schmerz. Zu differenzieren ist die Schmerzgenese. Die
Psoriasisarthritis verläuft sehr häufig mit Arthralgien, ohne dass eine Arthritis vorliegt. Die Mitreaktion von peri- und interartikulären Geweben (Daktylitis, Wurstzehen, Wurstfinger) und die Enthesitis von vorderem Schambein, großen Trochanteren, Achillessehnen usw. stellen ein eigenes, nichtarthrogenes Schmerzpotential dar. Enthesitische Reaktionen an den Dornfortsätzen der Halswirbelsäule, eventuell begleitet von Spondarthritiden, weisen auf eine bipolare Achsenmanifestation (Halswirbelsäule und Iliosakralgelenke) hin. Gelenkbefallsmuster. Verlaufsform (. Tab. 8.7) und Destruktionspotential spielen eine entscheidende Rolle. Mutilierende Verläufe (Windmühlenhände) beeinträchtigen Gelenkstrukturen und -funktionen erheblich. In abgeschwächter Form gilt dies auch für die symmetrischen olig- oder polyartikulären Verläufe. Abhängig von den
207 8.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 8.7 Verlaufsformen der Arthritis psoriatica
. Tab. 8.8 Häufige Erreger reaktiver Arthritiden
Verlaufsformen
Häufigkeit
Brucellen
Brucellen-Arthritis
1. Arthritis mutilans mit rapid-aggressivem Destruktionspotential
2–5 %
Spirochäten (Borrelia burgdorferi)
Lyme-Arthritis
2. Olig- oder Polyarthritis mit Betonung distaler Interphalangealgelenke mit mittlerem bis deutlichem Destruktionspotential
15–25 %
Streptokokken
Rheumatisches Fieber, Streptokokken-Arthritis REITER-Syndrom
3. Symmetrische Polyarthritis mit mittlerem bis deutlichem Destruktionspotential
25–35 %
Salmonellen, Shigellen, Chlamydien, Mykoplasmen, Gonokokken Yersinien
Yersinien-Arthritis
4. Asymmetrische Polyarthritis mit mildem bis mittlerem Destruktionspotential
40–55 %
Rötelnviren
Röteln-Arthritis
Hepatitis B und C
Arthralgien, Arthritiden
5. Axiale Manifestation (iliosakrale Arthritis oder Spondarthritis)
25–30 %
Die Verlaufsformen überschneiden sich (Mehrfachnennungen). Eine axiale Mitbeteiligung ist bei allen Verläufen möglich.
jeweils betroffenen Gelenken und Bewegungsketten und im Fall der Mutilation ist die Prognose schlechter als bei der RA, im Fall der symmetrisch polyartikulär Erkrankten ähnlich schlecht. Dagegen erfordern pauci- oder oligartikuläre Arthritiden mit mildem bis mäßigem Destruktionspotential eventuell nur funktionsirrelevanter Gelenke ein kritisches Abwägen. Achsenbeteiligung. Die iliosakrale Arthritis im Rahmen einer Arthritis psoriatica verläuft in der Regel milder und schmerzärmer als die der Spondylitis ankylosans. Das gilt auch für die Wirbelsäulenmanifestationen. Wie im Rahmen anderer Spondarthritiden erkranken häufig auch Synchondrosen (manubriosternal, symphysär) und kostovertebrale Gelenke. Psoriasis. Häufig muss der internistische Rheumatologe die Frage nach der sozialmedizinischen Einschätzung der Psoriasis mitbeantworten. In Zweifelsfällen sollte jedoch ein dermatologisches Gutachten erstellt werden; vgl. hierzu 7 Kap. 20. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Bei der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung sind die Variabilität der Entzündungsaktivität (z. B. Remissionsphasen), das Befallsmuster (z. B. ausschließlich distale Finger- und Zehengelenke, Oligarthritis, symmetrische Polyarthritis, Achsenbeteiligung), das Ausmaß der Destruktionen (z. B. mutilierende Arthritis) und der Einfluss der Psoriasis (Art und Ausmaß) zu berücksichtigen. Daneben muss geprüft werden, ob die therapeutischen Optionen genutzt wurden. Medikamentös werden bei der Psoriasisarthritis nicht steroidale Antirheumatika eingesetzt
und als DMARDs Methotrexat, Sulfasalazin Leflunomid, Ciclosporin und TNF-alpha Blocker [4]. Medizinische Rehabilitationen oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben können erforderlich sein. Medizinische Rehabilitation. Eine Indikation für eine
medizinische Rehabilitation kann sich sowohl aus der Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankung als auch aus der Hauterkrankung ergeben. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden er-
forderlich, wenn beispielsweise vorher ausgeübte schwere oder mittelschwere körperliche Tätigkeiten oder Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an die Feinmotorik auf Grund von Funktionsstörungen der Wirbelsäule oder Gelenke nicht mehr ausgeübt werden können. Erwerbsminderung. Die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung folgt den Kriterien wie bei RA oder Sp.a., wobei die Hautveränderungen gesondert berücksichtigt werden müssen. Zu einer auch quantitativen Leistungsminderung kommt es bei den aggressiven mutilierenden Verläufen.
Reaktive Arthritiden Reaktive Arthritiden treten nach bakteriellen oder viralen Primärinfektionen auf. Ihre Verknüpfung mit HLA-B27 und die fakultative axiale Manifestation begründen die Einordnung zu den Spondarthritiden. z
Nach gastrointestinalen und urogenitalen Infektionen
Neben den in . Tab. 8.8 aufgeführten Erregern sind auch Meningokokken, Treponema pallidum, Parasiten (Toxoplasmen) sowie Impfungen (Röteln) in der Lage, Arthritiden zu induzieren. Die Primärinfektion ist oft asymptomatisch, was die Diagnose erschwert.
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Kapitel 8 · Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
Urogenitale Infektionen werden antibiotisch behandelt, was aber keinen Einfluss auf die Entwicklung einer reaktiven Arthritis (30–45 %) hat. Arthritiden nach gastrointestinalen Infektionen limitieren sich nach 4–6 Monaten und werden in weniger als 20 % chronisch. Die Chronizität scheint an HLA-B27 gekoppelt zu sein. Typisch sind der »donnernde« Beginn und die nur in ca. 2/3 der Fälle bestehende Korrelation mit HLA-B27. Gewichttragende Gelenke (Knie-, Sprunggelenk, Vorfuß) erkranken dominierend. Viele reaktive Arthritiden limitieren sich selbst nach einigen Monaten. Und nicht zuletzt: Nichts wird leichter »konstruiert« als eine reaktive Arthritis, wenn der zeitliche Zusammenhang (zwei bis maximal acht Wochen) zwischen den einzelnen Symptomen nicht beachtet wird. Eine heute extrem selten gewordene Sonderform der reaktiven Arthritis nach urogenitalen oder gastroenteralen Infektionen stellt der M. Reiter dar mit der Symptomtrias Oligoarthritis, Konjunktivitis und Urethritis, bei dem sich in 12–26 % der Fälle im Verlauf eine Spondarthritis entwickelt. Selbstlimitierende Verläufe reaktiver Arthritiden spielen sozialmedizinisch keine Rolle. Bei den chronisch-rezidivierenden Verläufen sind Rezidivintervalle und -dauer maßgebend. Lediglich die durchgehend chronischen Erkrankungen, häufig eine Mischung von Arthralgien und Arthritiden, führen zu Strukturschäden und Funktionsdefiziten, die das Leistungsvermögen einschränken können. z
Nach Borrelieninfektionen
Bei der Lyme-Borreliose entstehen stadienabhängig im Verlauf der Zeit Symptome an der Haut, den Gelenken, der Muskulatur, den Augen und dem ZNS. »Den Spontanverlauf« der Lyme-Borreliose gibt es nicht. Zwischen den einzelnen Stadien gibt es Überschneidungen. Auch können ein oder zwei Stadien symptomlos durchlaufen werden. Erst spät wird die Krankheit dann klinisch manifest. Die Diagnose der Lyme-Arthritis ist ausschließlich durch die Kombination von klinischen Befunden, anamnestischen Daten und Labordaten möglich, aber nicht durch isolierte Laborbefunde (»endemische« Durchseuchung mit Borrelien-tragenden Zecken!). Den Erreger in der Kultur zu isolieren, gelingt bei der Lyme-Borreliose meist nicht. Mit der PCR (Polymerase-Ketten-Reaktion) wird versucht, den Erreger in Synovia, Liquor und bioptischen Hautstanzen nachzuweisen. IgM-Antikörper treten vor IgG-Antikörpern auf. Letztere persistieren nicht selten auf mittelhohem Niveau. Dennoch sind sie eher als Durchseuchungs- denn als Ätiopathogenesetiter zu interpretieren. Positive IgM- und IgG-Titer im Serum (ELISA) müssen immer im Immunoblot abgesichert werden.
Bereits im Stadium II können heftige Arthralgien und Myalgien auftreten. Die (unbehandelte) Lyme-Borreliose entwickelt sich dann im Stadium III zur Lyme-Arthritis, einer rezidivierenden Olig- oder Monarthritis (Kniegelenk!), die häufig von daktylitischen Finger- und Zehenschwellungen sowie Enthesitiden begleitet ist. Prognostisch bedeutsam sind etwa 10 % aller LymeArthritiden, die chronisch werden und bei denen sich Erosionen nachweisen lassen. Dauerhafte, sehr schwere Gelenkschäden entstehen selten. Prognostisch von großer Relevanz sind Neuroborreliosen, die sich als subakute Enzephalopathie, Leukoenzephalitis und axonale Polyneuropathie manifestieren, vgl. 7 Kap. 23.3.2. Neuroborreliosen stehen in ihrer Symptomatik (radikulärer Schmerz, Parästhesien) ebenso wie das sog. »Post-Lyme-Syndrom« [5] nicht selten in der Nähe des »Fibromyalgie-Syndroms« und des »Chronic Fatigue Syndroms«, können andererseits aber auch dem zerebralen systemischen Lupus erythematodes mit neuropsychiatrischen Symptomen ähneln. Während – adäquat behandelt – der Löwenanteil der Lyme-Borreliosen ausheilt, werden chronische Lyme-Arthritiden und Neuroborreliosen, flankiert von Arthritiden und Arthralgien sowie Myalgien, nicht selten zum Gegenstand sozialmedizinischer Betrachtungen. Auch bei ihnen gilt es, sich mit dem Problem der Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Leistungsschwäche auseinander zu setzen.
Enteropathische Spondarthritiden Die Beziehung zwischen Darmentzündungen und Spondarthritiden reicht von den reaktiven Arthritiden nach Infektionen (z. B. Yersinien) über die Hypothese, dass Klebsiellen bei der Spondylitis ankylosans ursächlich eine Rolle spielen [7], bis zum Morbus Crohn und zu mikroskopischen Entzündungen von Ileum oder Colon [6]. Auch bei der Colitis ulcerosa finden sich Haut- und Schleimhautläsionen (15,9 %), Augenläsionen (9,7 %) und Gelenk- bzw. Wirbelsäulenmanifestationen (39 %) [31]. Die Koinzidenz einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (CED) mit einer AS ist 100–200mal häufiger, als es einem zufälligen Zusammentreffen entspräche [35]. Diagnostische Kriterien der chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen finden sich in 7 Kap. 16 und für die Spondarthritiden in 7 Kap. 8.3. Für die Begutachtung ist von Bedeutung, welches der beiden Krankheitsbilder jeweils dominiert. Überwiegt das gastrointestinale Geschehen, ist zur Begutachtung immer ein Gastroenterologe zu Rat zu ziehen. Häufig findet sich parallel zu den CED eine blande verlaufende Spondarthritis (diskrete Sakroiliitis und Funktionseinschränkung der Lendenwirbelsäule). Andererseits kann sich bei koinzidentell schlechterem Verlauf die Schwere beider Krankheiten nicht nur addieren, sondern potenzieren.
8
209 8.2 · Krankheitsbilder
8.2.3
Kollagenosen
Systemischer Lupus erythematodes (SLE) Der systemische Lupus erythematodes (SLE) ist eine schubweise verlaufende, chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung mit obligater viszeraler Beteiligung. Charakteristisch ist der Nachweis von Autoantikörpern gegen Zellkernbestandteile. Die Ätiologie ist unbekannt. Frauen erkranken 5–7mal häufiger als Männer [19]. Das Prädilektionsalter liegt zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr, ein zweiter Erkrankungsgipfel in der 5. bis 7. Lebensdekade. Das Krankheitsbild ist extrem variabel. z
Diagnostik
Die häufigsten Symptome des systemischen Lupus erythematodes (SLE) im Verlauf zeigt . Tab. 8.9. Die Erkrankung kann schleichend oder hochakut beginnen. Sie verläuft zumeist in Schüben. Nahezu alle Organe können involviert und die Symptome zu unterschiedlichen Zeitpunkten manifest werden. Entsprechend schwierig sind die Diagnose und die Festlegung eindeutiger Spontanverläufe. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Verlaufsformen mittelfristig ändern. Dennoch hat die wissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren – nicht zuletzt spezifischer Therapieansätze wegen – erhebliche Anstrengungen unternommen, um »SLE-Subsets« (= spezielle Spontanverläufe) herauszuarbeiten. Als für die sozialmedizinische Begutachtung (meist) nicht relevant können der medikamenteninduzierte SLE und der diskoide LE (er entwickelt sich nur in ca. 5 % aller Fälle zum systemischen Lupus erythematodes) ausgeklammert werden. Dagegen müssen charakteristische Spontanverläufe, das primäre Antiphospholipidantikörper-Syndrom und der subakut kutane LE genauer aufgeschlüsselt werden. Das sekundäre Antiphospholipidantikörper-Syndrom im Rahmen des systemischen Lupus erythematodes ist durch den Nachweis von Lupusantikoagulans und Antiphospholipidantikörpern, arterielle und venöse Thromben, rezidivierende Aborte und eine Thrombozytopenie gekennzeichnet. Die Abgrenzung vom primären Antiphospholipidantikörpersyndrom gründet sich auf das Fehlen von Symptomen, die beim SLE sehr häufig sind, wie Arthritiden, Polyserositiden, Hautmanifestationen (diskoider LE, Schmetterlingserythem), eine Lymphopenie sowie Anti-ds-DNA- (und ENA-)Antikörper. Erschwerend für die prognostische Einschätzung ist, dass sich die Verlaufsform des SLE in kurzen, aber auch in mittelfristig bis langen Zeiträumen ändern kann. . Tab. 8.9 zeigt, dass die schweren bis sehr schweren Organmanifestationen, einschließlich des Lupus mit neuropsychiatrischen Symptomen, die funktionelle Defizite verursachen,
. Tab. 8.9 Häufigste Symptome des systemischen Lupus erythematodes zu Beginn und im Verlauf der Erkrankung > 50 – < 85
Prozent
Allgemeinsymptome
70/85
Arthralgien
75/85
Arthritiden
62/74
Erytheme
48/70
Nephritiden
44/77
< 49 – 30
Prozent
Photosensitivität
29/45
ZNS-Beteiligung
21/47
RAYNAUD-Symptomatik
26/46
Pulmonale Erkrankungen
20/37
Schleimhautulzerationen
15/39
< 30
Prozent
Augen, Lymphadenopathie
25/32
Peri-Myokarditis, Thrombozytopenie
20/29
Nach Schröder et. al., 2000 [36] und Hiepe, 2001 [17]
nur in maximal 50 % der Fälle auftreten, während sonst unspezifische Symptome im Vordergrund stehen, was das frühzeitige Stellen einer Diagnose und die Leistungsbeurteilung erschwert. Die vielfältigen Symptome des SLE sind in . Tab. 8.10 dargestellt. z Begutachtungskriterien Allgemeinsymptome. Sozialmedizinisch schwer fass-
bare Symptome wie Abgeschlagenheit, gesteigerte Ermüdbarkeit und Leistungsinsuffizienz bestehen i. d. R. nicht nur im Arbeitsleben – sie ziehen sich auch durch Urlaube oder Freizeitaktivitäten. Sie trotzen häufig ärztlichen Behandlungsmaßnahmen und persistieren über lange Erkrankungsverläufe. Trotz hoher Motivation ist die Symptomatik nicht durch Willensanstrengung zu überwinden. Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen ergeben sich durch das beim SLE nicht seltene sekundäre Sjögren-Syndrom (z. B. Lesen, Bildschirmarbeit, Sprechen), die Folgen eines sekundären Antiphospholipidantikörper-Syndroms (z. B. Thrombosen, Abortrsisiko usw.) und die häufigen bakteriellen, viralen, mykotischen und parasitären Infektionen (z. B. gehäufte Arbeitsunfähigkeitszeiten). Auch beim SLE hat der Zeitpunkt der Begutachtung Relevanz. Je später im Verlauf, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Folgekrankheiten. Proteinurien, Hypertonie und koronare Herzerkrankungen (vor allem
210
8
Kapitel 8 · Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
. Tab. 8.10 Klassifkationskriterien der ARA (American Rheumatology Association) von 1982 für den systemischen Lupus erythematodes Schmetterlingserythem
fixiertes Erythem, das flach oder erhaben im Bereich der Wangen, meist unter Aussparung der nasolabialen Falten lokalisiert ist
Diskoide Hautveränderungen
erythematöse, erhabene Hautflecken mit adhärenten keratotischen Anteilen und follikulärem Verschluss; atrophische Narben können in älteren Läsionen auftreten
Photosensitivität
vom Patienten anamnestisch angegebene Hautrötungen, die infolge einer ungewöhnlichen Reaktion auf Sonnenlicht auftreten
Orale Ulzerationen
durch einen Arzt festgestellte orale oder nasopharyngeale Ulkusbildungen, gewöhnlich schmerzlos
8
Arthritis
nichterosive Arthritis mit dem Befall von zwei oder mehr peripheren Gelenken, charakterisiert durch Steife, Schwellung oder Gelenkerguss
8
Serositis
5 Pleuritis-typische Anamnese für einen Pleuraschmerz oder ein Reiben, das auskultatorisch durch einen Arzt festgestellt wird, oder Nachweis eines Pleuraergusses oder 5 Perikarditis – gesichert durch ein EKG oder durch ein Reibegeräusch oder durch den Nachweis eines perikardialen Ergusses
Nierenerkrankung
5 persistierende Proteinurie von mehr als 0,5 g/d oder > 3+, wenn eine Quantifizierung nicht durchgeführt wird, oder 5 zelluläre Zylinder, Erythrozyten-, Hämoglobin-, granuläre, tubuläre oder gemischte Zylinder
Neurologische Erkrankung
5 Krampfanfall ohne offensichtliche Medikamenteninduktion und nach Ausschluss einer metabolischen Stoffwechselstörung 5 Psychose – ohne offensichtliche Medikamenteninduktion und nach Ausschluss einer metabolischen Stoffwechselstörung
Hämatologische Erkrankung
5 5 5 5
hämolytische Anämie – mit Retikulozytose oder Leukopenie < 4.000/μl – zwei oder mehrmaliger Nachweis oder Lymphopenie < 1.500/μl bei zwei oder mehr Untersuchungen oder Thrombozytopenie < 100.000/μl ohne die Einnahme eines möglicherweise ursächlichen Medikamentes
Immunologische Erkrankung
5 5 5 5
positiver LE-Zell-Test oder Anti-DNA: Ak gegen native dsDNA in einem erhöhten Titer oder Anti-Sm: Nachweis von Ak gegen Sm-Antigene oder falsch positiver serologischer Test für Syphilis *, positiv mehr als 6 Monate lang, gesichert über einen Treponema-pallidum-Immobilisationstest oder Fluoreszenz-Treponema-Ak-Absorptionstest
8 8 8
8 8 8 8 8 8 8 8
* Mittlerweile ist bekannt, dass die falsch positive Syphilisreaktion bei LE-Patienten auf Antiphospholipid-Ak zurückzuführen ist. Die Sensitivität spezifischer Tests (ELISA) auf Antiphospholipid-Ak ist höher als die der Syphilistests. Ihr Nachweis sollte als gleichwertig spezifisch gelten. Nach Tan et. al. [41]
8 Antinukleäre Antikörper
8 8
Nachweis eines erhöhten antinukleären Antikörpertiters in der Immunfluoreszenz oder einem gleichwertigen Test zu einem bestimmten Zeitpunkt, ohne Zusammenhang zu einem Medikament, das mit einem sog. medikamentös induzierten Lupussyndrom assoziiert sein kann.
Wenn mindestens vier der elf Kriterien positiv sind, kann die Diagnose SLE gestellt werden. Quelle: Nach Tan et al. [41]
8 8 8 8 8 8
nach langdauernder – auch low-dose – GlukokortikoidTherapie) sind zu beachten [21, 30]. Gelenke. Nahezu 85 % der Arthritiden verlaufen nicht
destruierend, 15 % führen zu RA-ähnlichen Bildern (Deviation der Langfinger, Deformationen), die letztlich auch fassbare funktionelle Einschränkungen mit sich bringen. Nieren. Lupus-Nephritiden sind WHO-graduiert und führen – bioptisch objektiviert – zu unterschiedlichen Organschäden, Funktionsstörungen und Prognosen.
Haut. Der subakut kutane LE ist durch eine ausgeprägte Dermatitis und Photosensitivität charakterisiert. Betroffen sind häufig das Gesicht, der Körperstamm und die Arme. Der Nachweis von SS-A- und SS-B-Antikörpern gelingt meist. Für den systemischen Lupus erythematodes typische Marker (wie z. B. Antikörper gegen ds-DNA) finden sich in weniger als 50 % der Fälle. Viszerale Manifestationen (Polyserositiden, Nephritiden) sind deutlich seltener und verlaufen milder. Verlauf. Wir erfassen heute den Verlauf des milden systemischen Lupus erythematodes (immunologische Diag-
211 8.2 · Krankheitsbilder
nostik) zunehmend besser. Auch haben sich die therapeutischen Möglichkeiten erheblich verbessert. Therapeutisch eingesetzt werden Immunsuppressiva, Glukokortikoide und Zytostatika. Insofern wundert es nicht, dass die Fünfjahresüberlebensrate 1995 noch < 50 % – im Jahr 2000 dagegen > 90 % liegt. Allerdings ist zwischen der frühen Letalität schwerer unbeherrschbarer SLE-Verläufe und der Spätmortalität (Krankheits- und Therapiefolgen; [21]) zu differenzieren. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Neben den o. g. Begutachtungskriterien sind für die sozialmedizinische Beurteilung des SLE die prognostischen Parameter zu berücksichtigen. Hierzu zählen insbesondere Nieren-, ZNS-Beteiligung, KHK und Infektionsneigung. Die sozialmedizinische Beurteilung kann sich nicht allein auf die diagnostischen Kriterien und die zum Zeitpunkt der Begutachtung objektivierten Funktions- und Aktivitätsstörungen stützen, sie ergibt sich vielmehr aus der zusammenfassenden Retrospektive, Erfolg oder Misserfolg medikamentöser Therapie und prognostischen Faktoren. Funktionsstörungen an den Gelenken sind seltener zu berücksichtigen als Störungen der Nierenfunktion, die Häufigkeit von Infektionen im Verlauf, Folgen thromboembolischer Ereignisse, eine ZNS-Beteiligung oder eine KHK.
SJÖGREN-Syndrom Das primäre Sjögren-Syndrom (Sicca-Syndrom) ist eine chronische Autoimmunerkrankung exokriner Drüsen mit den Leitsymptomen Xerostomie und Keratokonjunktivitis sicca. In ca. 20 % der Fälle erkranken extraglanduläre Organe. Außerdem besteht ein erhöhtes Risiko, an einem malignen Lymphom zu erkranken. Das sekundäre Sjögren-Syndrom begleitet häufig die rheumatoide Arthritis, den systemischen Lupus erythematodes, die progressiv-systemische Sklerose sowie autoimmune Hepatitiden und Thyreoiditiden. Primäres und sekundäres SjögrenSyndrom sind etwa gleich häufig. Die Ursache der Erkrankung ist unbekannt. Frauen erkranken neunmal häufiger als Männer. z
Diagnostik
Es dominieren glanduläre Symptome, die durch den Funktionsverlust exokriner (Augen, Mund, Vagina) und endokriner Drüsen (Pankreas) hervorgerufen werden. Die dominierenden Erscheinungen sind Mundtrockenheit und Augentrockenheit. Daneben spielen extraglanduläre Manifestationen und Symptome eine Rolle wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Leistungsinsuffizienz, Myalgien, Arthralgien, Raynaud-Phänomen. Diagnostisch unterstützend sind viele Kriteriensets, von denen einer angeführt wird (. Tab. 8.11).
. Tab. 8.11 Diagnostische Kriterien des SJÖGREN-Syndroms 1. Okuläre Symptome: Trockene Augen (≥ 3 Monate) oder Fremdkörpergefühl oder Benutzen künstlicher Tränen > 3mal täglich 2. Orale Symptome: Trockener Mund (≥ 3 Monate) oder Speicheldrüsenschwellung als Erwachsener oder Notwendigkeit des Trinkens beim Genuss trockener Speisen 3. Augenbefunde: SCHIRMER-Testa (≤ 5 mm in 5 min) oder VANBIJSTERVELD-Scoreb 4. Histopathologie (Lippenspeicheldrüsenbiopsie): FokusScorec ≥ 1 5. Speicheldrüsenmanifestation: Speicheldrüsenszintigraphie pathologisch oder Parotissialographie pathologisch oder Speichelflussmessung unstimuliert ≤ 1,5 ml in 15 Minutend 6. Autoantikörper: Anti-SS-A-(Ro-) oder Anti-SS-B-(La)-Antikörper oder ANA positiv 5 Ein sicheres primäres SJÖGREN-Syndrom wird angenommen, wenn mindestens 4 Kriterien, davon mindestens eines der Kriterien 4 und 6 (Kriterium 6 nur SS-A oder SS-B) positiv sind. 5 Das sichere sekundäre SJÖGREN-Syndrom erfordert den Nachweis von Kriterium 1 oder 2 und zwei weitere positive Kriterien (nur 3, 4 oder 5). Ausschlusskriterien 5 Lymphome, AIDS, Sarkoidose, Graft-versus-host-Reaktion, Sialadenose, Einnahme von Antidepressiva, Antiparkinsonmitteln, Neuroleptika oder Parasympathomimetika a. SCHIRMER-Test: Filterpapierstreifen in die untere Konjunktivalfalte legen und 5 min belassen. Pathologisch bei < 5 mm Befeuchtung. b. VAN-BIJSTERVELD-Score: Semiquantitative Bestimmung epithelialer Defekte durch Anfärbung der Bindehaut und Hornhaut mit Bengalrosa. Es wird eine Punktbewertung mit maximal 9 Punkten für jedes Auge zugrunde gelegt. Ein pathologischer Ausfall besteht bei mehr als 4 Punkten. c. Ein Fokus ist eine Agglomeration von mindestens 50 mononukleären Zellen; der Fokus-Score wird definiert als die Anzahl von Foci pro 4 mm2 Drüsengewebe. d. Dieses Kriterium ist bei älteren Patienten auszuschließen. Nach Vitali et al. [46]
z Begutachtungskriterien Keratokonjunktivitis. Die verminderte Tränensekretion
führt zu Sehstörungen mit Schleiersehen, Fremdkörpergefühl, Augenrötung, Juckreiz, Lichtscheu, Unverträglichkeit von Kontaktlinsen und Problemen beim Lesen, Fernsehen und Bildschirmarbeit. Nachts ist die Tränenproduktion geringer, was die Beschwerden verstärkt. Als Komplikationen treten Blepharitis und Hornhautulcera auf. Xerostomie. Die Mundtrockenheit führt zu Schluckstö-
rungen, Sprechproblemen, Mundgeruch, Geschmackstörungen, Karies, Zahnfleisch- und Schleimhautentzündungen, Soor und Rhagaden.
8
212
8
Kapitel 8 · Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
Allgemeinsymptome. Wie beim systemischen Lupus
z
erythematodes sind Müdigkeit, Abgeschlagenheit und ein allgemeiner Leistungsabfall häufig.
Können antinukleäre Antikörper (ANA) nicht nachgewiesen werden, ist die Diagnose einer PSS unwahrscheinlich. Diagnostisch wegweisend sind Scl-70 (in 20–70 % bei diffuser PSS), Zentromer-Antikörper (in 20–40 % bei initialer PSS und 80 % bei CREST), PM-Scl (in 25–75 % bei PM-PSS Overlap), U1-RNAP und U2-RNP (in 20–30 % bei limitierter PSS) und SS-A bzw. SS-B (in 60–90 % beim sekundären Sjögren-Syndrom) [10].
8 Gelenkbeteiligung. Beim
8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8
sekundären Sjögren-Syndrom dominieren die Symptome der jeweiligen Grunderkrankung. Das primäre Sjögren-Syndrom entwickelt in 10–20 % eine milde erosive Arthritis, die oft über längere Zeiträume stationär verläuft. In 30 % der Fälle finden sich jedoch persistierende hochaktive Krankheitsverläufe mit Organkomplikationen [39].
z
Sozialmedizinische Beurteilung
Das Sicca-Syndrom beeinträchtigt zahlreiche berufliche und Alltagsaktivitäten. Tränen- und/oder Speichelflüssigkeit müssen regelmäßig substituiert werden. Die Betroffenen müssen häufig trinken, regelmäßig Medikamente (Augentropfen, künstlicher Speichel) verwenden, Entwässerndes meiden (Alkohol, Kaffee, Tee, Diuretika). Sie vertragen Luftzug, trockene/heiße/kalte Luft, Staub und Rauch nicht. Die Xerostomie stört bei Nahrungsaufnahme und Kommunikation (Sprechen). Arbeiten in Großraumbüros, in zugigen Räumen, in Küchen (Dämpfe), in Hitze/ Kälte, mit Staubexposition sind beim Sicca-Syndrom ungeeignet, ebenso Sprechberufe wie Verkäufer, Lehrer, Dozent sowie Berufe mit überwiegender Bildschirmtätigkeit.
z
Diagnostik
Begutachtungskriterien
Bei der Vielfalt möglicher Krankheitserscheinungen ist eine systematische Bestandsaufnahme erforderlich, auf der die gutachterliche Beurteilung aufbaut. Es bestehen zahlreiche Querverbindungen zu anderen Kapiteln dieses Buches. Haut. Die Indurationen können je nach Lokalisation, Ausdehnung und Dicke funktional unbedeutend sein oder zu schwersten Behinderungen führen. Das nahezu obligate Raynaud-Syndrom führt zu »Rattenbissnekrosen« an Finger- und Zehenkuppen, die nur unter Substanzverlust (Fingerverkürzung) heilen. Beim CREST-Syndrom (Calcinosis, Raynaud, Esophagus, Sklerodermie, Teleangiektasie), einer Sonderform der limitierten Sklerodermie, finden sich Weichteilverkalkungen, am häufigsten an den Radialseiten der Finger und am Ellenbogen.
Progressiv-systemische Sklerose (PSS) Unter dem Oberbegriff Sklerodermie werden die progressiv-systemische Sklerose (PSS), die zirkumskripte Sklerodermie und sog. Overlap-Syndrome gesehen. Die Ätiologie ist ungeklärt. Im Mittelpunkt der Pathogenese stehen ein veränderter Bindegewebsstoffwechsel sowie ein gestörtes Gefäß- und Immunsystem. Die limitierte Verlaufsform beginnt mit einem ödematösen Stadium (»puffy fingers«), das im Verlauf von Jahren in ein induratives Stadium mit Verdickung und Verhärtung der Haut, Madonnenfingern, dermatogenen Kontrakturen, Mikrostomie und Tabaksbeutelmund übergeht. Bei der diffusen Verlaufsform sind diese Veränderungen in den ersten Monaten und Jahren rasch progredient, und die Patienten haben ein hohes Risiko, Organmanifestationen zu entwickeln [14]. Bei den generalisierten Sklerodermien werden drei Verlaufsformen unterschieden. Beim Typ I sind Akren und Hände bis zum Handgelenk befallen, beim Typ II geht die Ausdehnung der Veränderungen über die Handgelenke hinaus nach proximal und beim Typ III findet sich eine Stammsklerodermie. Eine Sonderform des Typ I ist das CREST-Syndrom mit einer guten Prognose [16].
Gelenke. Nahezu alle Sklerodermie-Patienten leiden un-
ter Morgensteife, Arthralgien und Arthritiden, die jedoch nur in 10–15 % zu Gelenkerosionen führen. Weitaus häufiger als arthrogene sind dermatogene Kontrakturen die Ursache für ein Bewegungsdefizit. Ösophagus. Leitsymptome einer Ösophagusmotilitätsstörung sind Schluckstörungen, Sodbrennen und Dysphagie. Sie werden am besten durch ein Ösophagusfunktionsszintigramm objektiviert. Lunge. Interstitielle Pneumonitis und fibrosierende Alveolitis sind durch die Röntgen-Thoraxaufnahme, eine hochauflösende CT-Technik und Lungenfunktionsuntersuchungen objektivierbar. Die bronchoalveoläre Lavage kann zwischen beiden Verläufen differenzieren und ist für die Aktivitätsbeurteilung relevant. Eine pulmonale Hypertonie tritt häufig in späten Verlaufsphasen der limitierten kutanen PSS auf [40]. Nieren. Maligne Hypertonie und (terminale) Nierenin-
suffizienz sind auch heute noch ein Risiko für PSS-Patienten, auch wenn sich ihre Prognose durch den Einsatz von ACE-Hemmern verbessert hat.
213 8.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 8.12 Symptome bei (Dermato)Polymyositis Muskelschwäche Proximale untere Extremität
94–96 %
Proximale obere Extremität
70 %
Distale Muskulatur
32 %
Halsmuskulatur
60 %
Dysphagie
27 %
Gesichtsmuskulatur
3–5 %
Muskelschmerzen
58 %
Muskelatrophie
62 %
Herz. Myokardfibrosen (in bis zu 50 %) sind die Ursache
für meist tachykarde Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz und Perikardergüsse. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Die sozialmedizinische Beurteilung des Leistungsvermögens sowie der Rehabilitationsbedürftigkeit (medizinisch und beruflich) ergeben sich aus den konkreten Befunden des Einzelfalls sowie der Verlaufsform. Bei einem isolierten CREST-Syndrom ohne wesentliche Defekte an den Fingern ist die Leistungsfähigkeit für körperlich leichte Tätigkeiten meist erhalten. Bei systemischen Sklerosen des Typs II und III mit dermatogenen Fingerkontrakturen und/oder ausgeprägten Funktionsstörungen von Herz und Niere sinkt das quantitative Leistungsvermögen unter drei Stunden.
(Dermato)Polymyositis Für die heterogenen Gruppen der seltenen »myositischen Syndrome« gibt es keine allgemein gültige Klassifikation. Zu den häufigsten entzündlichen Systemerkrankungen der Skelettmuskulatur gehören die Polymyositis und die (Dermato)Polymyositis (mit charakteristischen Hautveränderungen). z
Diagnostik
Leitsymptom ist die symmetrische, vorwiegend proximale Muskelschwäche des Beckens und/oder Schultergürtels. Der Beginn kann foudroyant oder auch schleichend sein. . Tab. 8.12 zeigt die am häufigsten betroffenen Muskelgruppen. Nicht immer sind unspezifische Entzündungszeichen und/oder Autoantikörper nachweisbar. Die Muskelbiopsie aus dem M. vastus lateralis sollte nicht am Ende der Bemühungen stehen [26]. z Begutachtungskriterien Allgemeinsymptome. Häufige Allgemeinsymptome sind
Fieber, Arthralgien, Arthritiden und als Resultat vas-
kulitischer Abläufe intestinale, pulmonale und kardiale Mitreaktionen. Besonders letztere führen in fast 70 % zu Klappenfunktionsstörungen (Mitralklappenprolaps), Tachyarrhythmien und Kardiomyopathien [42]. Muskulatur. In der Regel ist die Muskulatur der limitierende Faktor für das Leistungsvermögen. Muskelschmerzen werden als »extremer Muskelkater« geschildert. Geklagt wird anfangs über eine rasche Ermüdbarkeit z. B. beim Wandern. Im weiteren Verlauf wird es schwierig, sich von einem Stuhl oder aus der Hocke aufzurichten, Treppen zu steigen oder die Wäsche aufzuhängen. Kopfbeuger und -strecker erkranken häufig, auch eine Dysphagie kann sich entwickeln. Die Myositis wird durch erhöhte Myoglobinwerte und Muskelenzyme (CK, Aldolase, ASAT, ALAT, LDH) nachgewiesen. Zumeist wird die CK als Aktivitätsparameter genutzt. Die Muskelkraft ist standardisiert messbar: Die Skala reicht von 5 (volles Bewegungsausmaß gegen Widerstand) bis 0 (vollständige Lähmung, keine Kontraktion). Muskelatrophie und -ödem werden durch Kernspintomographie und Computertomographie erfasst. Myopathische Aktionspotentiale objektiviert das Elektromyogramm. Hautbefunde. Die kutanen Befunde der Dermatomyositis manifestieren sich als »Gottrons sign«: Papeln ähnelnde violette Rötungen, die häufig über den Metakarpophalangealgelenken lokalisiert sind. Am Decolleté, den Streckseiten der Arme und Beine entwickeln sich häufig symmetrisch flächenhafte Erytheme oder heliotrope Exantheme. Verlauf. Spontanverläufe der (Dermato)Polymyositis sind nur wenig untersucht, da in der Regel eine Behandlung mit Glukokortikoiden und Immunsuppressiva erfolgt. Immer liegt ein Verlauf über mehrere Jahre – mit einem Aktivitätsmaximum in den ersten fünf Jahren – vor. Etwa ein Fünftel aller Fälle verläuft über 10 Jahre. Prognostisch ungünstig sind der Nachweis von Anti-Jo1-Antikörpern und Anti-SRP-Antikörpern. Während für die Polymyositis kein erhöhtes Malignomrisiko besteht, scheint die Dermatomyositis ein deutlich erhöhtes Risiko zu haben [22, 49]. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Leistungen zur Teilhabe machen in aktiven Phasen keinen Sinn und können eher schaden. In inaktiven, klinisch ruhigen Abschnitten dagegen sind sie indiziert. Bei der sozialmedizinischen Begutachtung sind Allgemeinsymptome (z. B. Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust) ebenso zu beachten wie die speziellen muskulären Symptome (z. B. Muskelschwäche und -schmerzen). Einen wichtigen Stel-
8
214
Kapitel 8 · Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
. Tab. 8.13 Symptome bei Mischkollagenosen
8 8 8 8
> 80 %
Arthralgien, Arthritiden, RAYNAUD-Phänomen
6
60–70 %
Diffuse Handschwellungen, Lungenveränderungen (Pleuritis), Myositiden, Ösophagusmotilitätsstörungen
7
20–40 %
(Poly)Serositis, Fieber, PSS-ähnliche Hautveränderungen, Lymphadenopathie
< 15 %
Hepatomegalie, Nierenmanifestationen, neurologische Symptome
8
lenwert besitzt der Zeitpunkt der Begutachtung im Rahmen der Längsschnittbetrachtung.
8
Mischkollagenose
8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8
Die Mischkollagenose (mixed connective tissue disease, MCTD) ist ein unscharf und uneinheitlich abgegrenztes Krankheitsbild [44]. Als Sharp-Syndrom [37] beschrieben wurde wohl die milde Verlaufsform dessen, was heute als Mischkollagenose bezeichnet wird. Etwa in 65 bis 85 % aller in der Literatur beschriebenen Verläufe entwickeln sich Mischkollagenosen zu einem spezifischen Krankheitsbild [1]. Die Symptomatik ist recht vielgestaltig (. Tab. 8.13). Letztlich sind es die Mischung und Ausprägung von Symptomen und Befunden, die eine Mischkollagenose einordnen lassen. Diagnostisch ist die häufige Verknüpfung des Nachweises von HLA-DR4 und hochtitriger U1-snRNP von Bedeutung. Die klinischen Zeichen der Mischkollagenose wie Müdigkeit, Gewichtsabnahme, Raynaud-Syndrom, diffuse Schwellungen der Hände/Finger, Fingerspitzen-Ulzera, Hautsymptome der progressiv-systemischen Sklerose und/oder des SLE treten selten alle gleichzeitig auf und der Gutachter wird immer wieder mit der »Kollagenosenmüdigkeit« als vorherrschendem Symptom konfrontiert. Im Gegensatz zur Müdigkeit bei somatoformen Schmerzstörungen beruht diese aber auf einer breiteren empirischen Basis.
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Literatur
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8
217
Hämatologische und immunologische Krankheiten Volker König
9.1
Allgemeines – 218
9.2
Benigne Erkrankungen – 218
9.2.1 9.2.2 9.2.3
Erkrankungen der Erythrozyten, Anämien – 218 Erkrankungen der weißen Blutzellen – 220 Erkrankungen der Thrombozyten, hämorrhagische Diathesen – 221
9.3
Maligne Erkrankungen – 223
9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5 9.3.6 9.3.7 9.3.8 9.3.9 9.3.10
Allgemeines – 223 Myelodysplastische Syndrome (MDS) – 226 Akute myeloische Leukämien (AML) – 228 Akute lymphatische Leukämien (ALL) – 229 Chronische myeloische Leukämien (CML) – 231 Chronische lymphatische Leukämie vom B-Zell-Typ (B-CLL) Kleinzelliges lymphozytisches B-Zell-Lymphom (SLL) – 232 Maligne Lymphome – 233 Multiples Myelom (MM) – 237 Polycythaemia vera (PV) – 238 Essentielle Thrombozythämie (ET) – 239
9.4
Stammzelltransplantation (SZT) – 240
9.4.1
Spezifische therapiebedingte Schädigungen und Beeinträchtigungen – 241 Begutachtungskriterien, Zielkriterien – 243 Sozialmedizinische Beurteilung – 243
9.4.2 9.4.3
Literatur – 244
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
9
9 9 9 9 9 9
218
Kapitel 9 · Hämatologische und immunologische Krankheiten
9.1
Allgemeines
Das Blut erfüllt Transport-, Gerinnungs- und Abwehrfunktionen, vermittelt durch Blutzellen und -plasma. Die zellulären Bestandteile (Erythro-, Leuko- und Thrombozyten) werden im Knochenmark aus hämatopoetischen Stammzellen gebildet; Syntheseort der plasmatischen Gerinnung ist die Leber. Blutzellen und Gerinnungsfaktoren unterliegen einem ständigen Umsatz im Körper. Störungen dieses Systems beeinträchtigen die o. g. Funktionen und wirken sich letztlich auf den Gesamtorganismus aus. z
Sozialmedizinische Bedeutung
9
Hämatologische Erkrankungen sind weit verbreitet, aber nur selten sozialmedizinisch relevant für die Rentenversicherung, denn in den meisten Fällen handelt es sich um benigne Formen (z. B. Anämien), die therapeutisch gut zu beeinflussen sind. Bedeutsam sind in erster Linie maligne Formen bzw. Erkrankungen, deren Therapie schwierig und/oder mit gravierenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) belastet ist. Die Vielfalt der Krankheitsbilder macht an dieser Stelle eine Beschränkung auf die Wichtigsten erforderlich. Eine klare Abgrenzung zwischen benignen und malignen Systemerkrankungen ist nicht immer möglich, da es im Verlauf benigner Erkrankungen zu Transformationen kommen kann. Aus arbeitsmedizinischer Sicht wichtig ist, dass hämatologische Erkrankungen bei beruflicher Exposition gegenüber Benzol bei Überschreiten entsprechender Grenzwerte als Berufskrankheit anerkennungsfähig sind. Dies trifft zu auf folgende Erkrankungen: myelodysplastisches Syndrom (MDS: 7 Kap. 9.3.2), aplastische Anämie (SAA und VSAA: 7 Kap. 9.2.2), akute Leukämie (AML und ALL: 7 Kap. 9.3.3 und Kap. 9.3.4), chronische lymphatische Leukämie (CLL: 7 Kap. 9.3.6), Non-Hodgkin-Lymphom (NHL: 7 Kap. 9.3.7) (BK-Nr. 1318) [4, 18].
9
9.2
Benigne Erkrankungen
9
9.2.1
Erkrankungen der Erythrozyten, Anämien
9 9 9 9 9 9 9 9 9
9 9 9 9 9
Anämie (Blutarmut) bedeutet eine Verringerung der Sauerstofftransportkapazität des Blutes, entweder durch Verminderung der Anzahl der Erythrozyten und/oder Verminderung des roten Blutfarbstoffes (Hämoglobin). Folge ist eine Störung der sauerstoffabhängigen Energieerzeugung in den Mitochondrien der Zellen im gesamten Körper. Die Ursachen für Anämien sind vielfältig.
Formen Sozialmedizinisch relevante Formen sind in . Tab. 9.1 dargestellt.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Die systemischen Auswirkungen einer Anämie können auf der Ebene der Körperstrukturen und -funktionen durch Schädigung der Sauerstofftransportfunktion des Blutes alle Organe betreffen und zu folgenden funktionellen Einschränkungen führen: 4 Ermüdbarkeit, Abgeschlagenheit, Muskelschwäche 4 verminderte Leistungsfähigkeit, Störung der allgemeinen Ausdauerleistung 4 Atemnot 4 verminderte Konzentrationsfähigkeit, Merkfähigkeitsstörungen 4 Schwindel, Ohrensausen 4 Schmerzen (Kopf, Glieder, Herz) 4 Kälteüberempfindlichkeit In Abhängigkeit vom Ausmaß der Funktionseinschränkungen können Aktivitäten und Teilhabe der Betroffenen beeinträchtigt sein.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die Basisdiagnostik verschafft einen Überblick über die aktuell bestehende Situation und bildet die Grundlage für evtl. notwendige weitere Untersuchungen in Abhängigkeit von der jeweiligen Fragestellung. Zur Basisdiagnostik zählen: Anamnese, körperliche Untersuchung. Labor: CRP, Blutbild (Hämoglobinwert, Erythrozyten-, Thrombozytenzahl), Differentialblutbild inkl. Retikulozyten, Hämolyseparameter (LDH, Bilirubin, Haptoglobin, Fragmentozyten), Gerinnungsparameter, ggfs. Knochenmarkzytologie u. -histologie. Ein erweitertes Screening ist erforderlich, wenn Subtypen von Anämien differenziert werden müssen. In der Regel kann in der Begutachtungssituation auf extern erhobene Befunde zurückgegriffen werden.
Begutachtungskriterien, Zielkriterien 4 Kardiorespiratorische und muskuläre Belastbarkeit 4 Knochenmarkfunktion/Erythropoese 4 Krankheitsaktivität/Frequenz und Auslöser hämolytischer Krisen 4 Transfusionsfrequenz/Ausmaß der resultierenden Eisenüberladung/Komorbiditäten 4 Notwendigkeit einer medikamentösen Dauerbehandlung mit potentiellen Nebenwirkungen
219 9.2 · Benigne Erkrankungen
. Tab. 9.1 Formen und Ursachen von Anämien Formen und Ursachen
Beispiel
Behandlungsoptionen
Verlust von Erythrozyten (z. B. infolge chronischer Blutung)
Ulcusblutung
Substitution von Erythrozytenkonzentraten ggf. auch Eisen
Störung der Erythropoese (Stammzellschädigung)
Aplastische Anämie 7 Kap. 9.2.2 Anämie bei Myelodysplasie
Je nach Ausprägungsgrad der Erkrankung: 5 Substitution von Erythrozytenkonzentraten 5 Stammzelltransplantation
Erhöhter Verbrauch von Erythrozyten (z. B. infolge Hämolyse)
Hämolytische Anämien: 5 Kugelzellanämie (hereditäre Sphärozytose) 5 Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel (Favismus) 5 Autoimmunhämolyse (AIHA) 5 medikamentös induzierte Autoimmunhämolyse
Substitution von Erythrozytenkonzentraten Expositionsprophylaxe Steroide Weglassen des Medikaments
Gestörte/fehlerhafte Hämoglobinbzw. Hämsynthese
5 5 5 5
Substratmangel
z. B. infolge 5 Eisenmangels 5 Vitamin-B-12-Mangels 5 Folsäuremangels
Substitution von 5 Eisen 5 Vitamin B 12 5 Folsäure
Sekundäre Anämien
z. B. infolge Niereninsuffizienz
Substitution von Erythropoetin ggfs. auch Erythrozytenkonzentrate
Thalassämie Sichelzellanämie Hämoglobinopathie sideroblastische Anämie
Sozialmedizinische Beurteilung Sozialmedizinisch von Bedeutung ist die Abgrenzung reversibler von nicht reversiblen Störungen. Sofern die Ursache einer Anämie auf einer chronischen Blutung oder einem Substratmangel (Vitamin B12, Eisen, Folsäure) beruht, kann sie durch die Substitution des entsprechenden Faktors therapeutisch beeinflusst werden. Beeinflussbar sind auch die hämolytischen Anämien, wenn das auslösende Agens (z. B. Medikament oder Fava-Bohne) bekannt ist und durch eine Expositionsprophylaxe hämolytische Krisen vermieden werden können. Bei irreversiblen Störungen sind Fragen der Anpassung des Patienten an die Anämie, Häufigkeit und Ausmaß hämolytischer Krisen, der Bedarf an Bluttransfusionen und die daraus resultierende mögliche Eisenüberladung des Organismus mit Schäden u. a. an Herz, Leber, Pankreas und Hypophyse von Bedeutung und müssen bei der sozialmedizinischen Beurteilung berücksichtigt werden. Gleiches gilt für Organschäden und Funktionsstörungen, die im Rahmen von rezidivierenden Hämolysen auftreten können (z. B. Splenomegalie). Nicht selten treten Anämien im Kontext anderer Erkrankungen auf wie z. B. bei der Niereninsuffizienz. Bei der Feststellung des Leistungsvermögens müssen dann die weiteren – aus der Grunderkrankung bzw. Komorbidität
Ggfs. Substitution von Erythrozytenkonzentraten
resultierenden – Funktionsstörungen entsprechend berücksichtigt werden. Das gilt insbesondere für Anämien, denen eine Schädigung der hämatopoetischen Stammzellen zugrunde liegt. Hier ist nicht nur die Bildung und Regeneration von Erythrozyten behindert, sondern auch die der Leuko- und Thrombozyten (vgl. 7 Kap. 9.2.2.) Sofern wegen einer chronischen Anämie in regelmäßigen Abständen Bluttransfusionen erforderlich sind, besteht im Regelfall ein Leistungsvermögen von weniger als 6 Stunden pro Tag, besonders wenn der Beruf erhöhte körperliche bzw. psychomentale Anforderungen stellt. Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit infolge der chronischen Anämie und/oder einer Kardiomyopathie (siehe auch 7 Kap. 13) infolge Eisenüberladung lassen sich durch ergometrische Untersuchungen bestimmen. Substitutionsbedingte Leberfunktionsstörungen, ein sekundärer Diabetes mellitus oder Störungen anderer endokriner Drüsen werden durch entsprechende Laboruntersuchungen festgestellt und sind bei der sozialmedizinischen Beurteilung zu berücksichtigen. Neuropsychologische Defizite lassen sich durch geeignete Testverfahren aufdecken. Die Adaptationsspanne bei chronischer Anämie ist außerordentlich breit. Besteht keine Transfusionsbedürftigkeit, so kann selbst bei relativ niedrigen Hämoglobinwerten ein Leistungsvermögen von
9
220
Kapitel 9 · Hämatologische und immunologische Krankheiten
. Tab. 9.2 Einteilung und Diagnosekriterien der aplastischen Anämie: 2 von 3 Kriterien müssen erfüllt sein [23]
9
Zellreihe
Mäßig schwere aplastische Anämie (MAA)
schwere aplastische Anämie (SAA)
sehr schwere aplastische Anämie (VSAA)
Granulozyten
2,1
leichte
70–80
120–135
0,35–0,50
70–80
70–80
1,6–2,1
mittelschwere
50–70
135–150
0,5–1,0
50–70
50–70
1,2–1,6
schwere
< 50
> 150
> 1,0
< 50
< 50
< 1,2
Gasaustauschstörung
Blutgasanalyse
CO-Diffusionskapazität
pO2 Ruhe und Belastung Soll = Grenzwert (ULMER)
pCO2 (mmHg)
Einatemzugmethode (ml/min × mmHg) % Soll
keine
> Soll
< 45
> 80
leichte
< 5 mmHg unter Soll
< 45–50
65–80
mittelschwere
5–10 mmHg unter Soll
< 50–60
50–65
schwere
> 10 mmHg unter Soll
> 60
< 50
Nach Nowak und Kroidl, 2009 [16]
tion sind die Patientenschulung mit Aufklärung über die Ursache der Erkrankung, das Erlernen von Übungen zur Vermeidung bzw. zur Verlangsamung der Entstehung einer steroidbedingten Osteoporose, das Erlernen der Einschätzung der Belastbarkeit und ggf. das Erlernen des Umgangs mit Sauerstoffinhalation und das Wissen um ungünstige Umgebungsbedingungen wie Höhenaufenthalte und Flugreisen. Ebenso sollten atemarbeitssparende und hustenreizreduzierende Atemtechniken erlernt werden. Bei fortgeschrittener Sarkoidose und bei Pneumokoniosen kann auch begleitend eine obstruktive Ventilationsstörung bestehen. Den kombinierten Ventilationsstörungen wird dann in der Atemphysiotherapie besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Bei bestehender Insuffizienz der Atempumpe kann zusätzlich eine nichtinvasive Beatmung erforderlich sein und während der Rehabilitation eingewöhnt und trainiert werden. Für Patienten mit schon deutlicher Hypoxämie ist eine medizinische Rehabilitation in Höhenlagen (über 1.200 m) nicht zu empfehlen. Bei Patienten mit Mukoviszidose ist Seeklima in Anbetracht der solehaltigen Luft (hyperosmolares Aerosol im Bereich der Brandungszone) günstig. Bei beeinträchtigtem Leistungsvermögen kann bei Versicherten mit einem vorhandenen Arbeitsplatz die stufenweise Wiedereingliederung in Frage kommen. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Bei Verdacht auf das Vorliegen einer Pneumokoniose ist eine Meldung an die Berufsgenossenschaft vorzunehmen.
Entsprechend muss hier auch, wie bei allen anderen diffusen parenchymatösen Lungenerkrankungen, auf die Arbeitsplatzverhältnisse bei der Wiedereingliederung Rücksicht genommen werden. Hier bietet sich die Rücksprache mit den zuständigen Betriebsärzten an. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben können den Verbleib im Arbeitsleben unterstützen. z
Erwerbsminderung
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit hängt im Wesentlichen von den Einschränkungen der Lungenfunktion ab, ebenso die Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Begleitende Lungenerkrankungen oder auch Folgeerkrankungen (wie z. B. Cor pulmonale, Tuberkulose, Spontanpneumothorax, Bronchialkarzinom und Stauungslunge bei Linksherzinsuffizienz) können ebenfalls zu erheblicher Einschränkung der Leistungsfähigkeit führen und müssen bei der Minderung der Erwerbsfähigkeit berücksichtigt werden. Darüber hinaus kann das verbleibende Leistungsvermögen durch Arbeitsbedingungen wie Wechselschicht, Nachtschicht, Nässe, Überstunden oder Umwelteinflüsse ungünstig beeinflusst werden.
357 15.2 · Krankheitsbilder
15.2.4
Lungentuberkulose und andere infektiöse Lungenerkrankungen
Klassifikationen und Stadieneinteilungen Die Tuberkulose ist eine meldepflichtige Infektionskrankheit, hervorgerufen durch Tröpfcheninfektion mit Mykobakterium tuberkulosis. In Deutschland werden ca. 6.000 neue Erkrankungsfälle pro Jahr registriert, entsprechend einer Erkrankungsrate von 7,3 auf 100.000 Einwohner. Der bestehende Trend zur Abnahme der Erkrankungshäufigkeit setzte sich in den vergangenen Jahren weiter fort. Die Erkrankungsrate bei in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund ist mehr als fünfmal so hoch. Ersterkrankungen, die früher häufig zur Erwerbsminderungsrente führten, sind Dank der erfolgreichen Chemotherapie und der konsequenten Behandlung meistens in spätestens neun bis zwölf Monaten ausgeheilt. Die Rezidivquote liegt unter 1 %. Komorbidität mit Alkoholabhängigkeit, AIDS, Infektionen und Reaktivierungen mit multiresistenten Keimen sowie mit atypischen Mykobakterien stellen vermehrte Anforderungen an die Behandlung, kommen aber nicht sehr häufig vor. Die Hospitalisierung beträgt in den meisten Fällen heute nur noch ein bis zwei Monate, kann allerdings bei Begleiterkrankungen (wie Diabetes mellitus, Lebererkrankungen, Arteriosklerose oder Alkoholabhängigkeit) auch länger dauern. Üblicherweise wird heute ein Patient mit Lungentuberkulose nach vier Wochen in ambulante Behandlung unter Fortführung der Chemotherapie, radiologischer und Sputumkontrolle entlassen. Außer bei Patienten mit Fieber, Hämoptoen, radiologisch erkennbarem Fortschreiten der Erkrankung, bei Fortbestehen der Ausscheidung von Tuberkelbakterien trotz korrekter Chemotherapie sowie bei Patienten mit Zeichen einer respiratorischen Insuffizienz oder pulmonalen Hypertonie besteht längstens drei Wochen nach Entlassung aus der stationären Behandlung unter ambulanter Chemotherapie wieder Arbeitsfähigkeit. Pneumonien sind entzündliche Erkrankungen des Lungenparenchyms mit Exsudation in das Alveolarlumen. Die Ursachen für Pneumonien sind vielfältig; es werden bakterielle, virale, mykoplasmatische und mykotische Pneumonien sowie Pneumonien durch chemische und physikalische Reize unterschieden. In der Regel haben sie einen akuten Beginn und heilen vollständig aus, sie können jedoch auch tödlich verlaufen oder selten einen chronischen Verlauf mit bleibendem Gewebeumbau und Funktionsverlust der Lunge nehmen. In seltenen Fällen kann es auch zur Abszessbildung und zur Ausbildung von Kavitationen als Hinweis auf Nekrosebildung und Einschmelzung kommen. Dieses ist häufig bei Staphylokokken-, Klebsiellen-, Pseudomonasund anaeroben Infektionen der Fall. Hier entscheidet der
radiologische Verlauf über die verbleibenden strukturellen Schäden, wie z. B. Entwicklung von Pleuraverschwartungen. Dies ist insbesondere bei zusätzlich bestehendem Pleuraerguss bzw. bei der Entwicklung eines Pleuraempyems der Fall.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Die Tuberkulose ist nach dem Infektionsschutzgesetz eine meldepflichtige Erkrankung. Für die Personen, die beruflich in Schulen oder Kindergärten tätig sind oder auch beruflich Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben, wird vom Gesundheitsamt ein Berufsausübungsverbot ausgesprochen. Dieses darf unter antituberkulöser Therapie frühestens nach drei Wochen aufgehoben werden. Hierzu gibt es Empfehlungen vom Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK) und vom Robert-Koch-Institut (RKI). Bei pneumonischen Erkrankungen ist im Akutstadium der Erkrankung Arbeitsunfähigkeit gegeben. Insbesondere bestehen Einschränkungen der Aktivitäten und der Teilhabe in allen Bereichen. Bei chronischen Stadien hängt die Beeinträchtigung im Wesentlichen von der Art der Begleiterkrankungen und dem Ausmaß einer Störung der Lungenfunktion ab.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die spezielle Diagnostik bei Tuberkulose besteht neben dem klinischen Bild und den Röntgenbefunden im mikrobiellen Nachweis von Tuberkelbakterien, der mikroskopisch, kulturell und im Nukleinsäure-Nachweistest mittels PCR durchgeführt wird. Nach Einleitung der antituberkulösen Therapie wird bis zur Sputumkonversion der bakteriologische Verlauf beobachtet und anschließend vorwiegend die radiologische Kontrolluntersuchung bzw. Lungenfunktionsdiagnostik zur Verlaufsbeobachtung herangezogen.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien Im Rahmen der Begutachtung werden die Beeinträchtigungen durch die Erkrankung und deren Folgeschäden beurteilt. Diese können sich sowohl im Sinne einer restriktiven als auch obstruktiven oder gemischten Ventilationsstörung äußern und zur respiratorischen Insuffizienz oder pulmonalen Hypertonie führen. Ebenso können Begleiterkrankungen, wie chronische Bronchitis, AIDS, alkoholbedingte Erkrankungen oder Reaktivierungen, aber auch geringe Compliance bei der Medikamenteneinnahme eine wesentliche Rolle bei der Begutachtung spielen. Häufig hängt der Schweregrad der Folgeschäden der Erkrankung von diesen zusätzlichen Faktoren ab.
15
358
15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15
Kapitel 15 · Krankheiten der Atmungsorgane
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z
Medizinische Rehabilitation
Rehabilitationsleistungen sind nur dann erforderlich, wenn durch eine abgelaufene Tuberkulose eine geschädigte Lunge, z. B. mit Bronchiektasen, chronischer Bronchitis oder auch anderen Begleiterkrankungen, besteht. Bei der Pneumonie liegt häufig – oft auch bei jüngeren Patienten – nach der klinischen Genesung eine zum Teil über Monate andauernde Leistungseinschränkung vor. Hier ist eine Rehabilitationsleistung indiziert mit dem Ziel, die körperliche Leistungsfähigkeit wieder gezielt aufzubauen. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Berufsfördernde Leistungen sind nur selten einzuleiten, können aber bei deutlich eingeschränkter Lungenfunktion, bei besonders staubbelasteten Arbeitsplätzen, wegen möglicher Begleiterkrankungen (z. B. chronische Bronchitis) oder bei besonders ungünstigen Arbeitsbedingungen (Wechselschicht, Nachtschicht, Nässe, Überstunden oder Umwelteinflüsse) erforderlich sein. z
Erwerbsminderung
Das verbliebene Leistungsvermögen kann durch Lungenfunktionsuntersuchungen und spiroergometrische Belastungsuntersuchung erst nach Beendigung des akuten Krankheitsgeschehens und Abschluss der Teilhabeleistungen abschließend beurteilt werden. Die Leistungsfähigkeit hängt in erster Linie von der verbliebenen kardiopulmalen Funktion ab, wobei die Beurteilungskriterien denjenigen der nicht-tuberkulösen Lungenkrankheiten entsprechen. 15.2.5
Bronchialkarzinom, Lungenmetastasen und Pleuramesotheliom
Klassifikationen und Stadieneinteilungen Die Bronchialkarzinome machen etwa 20 % aller Karzinome des Menschen aus. Die Ätiologie ist unterschiedlich. Nur etwa 2 % der Patienten mit Bronchialkarzinom sind lebenslange Nichtraucher. Den Hauptrisikofaktor für die Entstehung eines Bronchialkarzinoms stellt in mehr als 85 % der Fälle das Zigarettenrauchen in Abhängigkeit von Menge und Dauer dar. Das Risiko, an einem Bronchialkarzinom zu erkranken, nimmt ab dem Genuss von 20 Packyears Zigaretten deutlich zu. Ein Packyear entspricht dem Genuss von 20 Zigaretten pro Tag und Jahr. Etwa 8 % der Bronchialkarzinome entstehen durch Einfluss berufsbedingter Schadstoffe, wie z. B. Arsen, Asbest, Bis(chlormethyl)-Äther, Chrom, Teer, Senfgas, Nickel, ionisierende Strahlen. Die Latenzzeiten bis zur Entwicklung eines Bronchialkarzinoms betragen zwischen 3 und 30 Jahren. Aufgrund der häufigen Asbestexposition in den 60er und 70er Jahren wird mit einer deutlichen Zunahme
des Pleuramesothelioms in den nächsten zehn bis 15 Jahren zu rechnen sein. Der am häufigsten vorkommende Tumor ist das Plattenepithelkarzinom mit 35 bis 40 % der bösartigen Lungentumoren. Bei ca. 25 % der Fälle liegt ein kleinzelliges Bronchialkarzinom vor, welches sich durch besonders kurze Tumorverdoppelungszeiten auszeichnet und häufig bei seiner Entdeckung schon Fernmetastasen gesetzt hat. Das Adenokarzinom tritt mit 15 % etwa gleich häufig wie das großzellige Karzinom auf. Bei dieser Tumorart dominieren die Frauen mit einem Verhältnis von 6 : 1. Die klinische Symptomatik besteht in Abhängigkeit vom Tumorstadium in Husten, Atemnot, Gewichtsabnahme, Thoraxschmerz, Hämoptysen, Leistungsabfall und Heiserkeit. Die Diagnose wird durch Röntgenuntersuchung, Bronchoskopie und Biopsie gesichert. Die Prognose des Bronchialkarzinoms ist abhängig vom Tumortyp, Tumorstadium und der damit verbundenen Operabilität. Die Überlebensrate nach fünf Jahren beträgt etwa 5 %. Kleinzellige Bronchialkarzinome werden infolge der häufig schon bei Diagnosestellung vorhandenen Fernmetastasen zytostatisch behandelt. Bei dem nichtkleinzelligen Bronchialkarzinom ist häufig ein chirurgisches und strahlentherapeutisches Vorgehen indiziert. Die alleinige Strahlentherapie wird häufig als palliative Maßnahme eingesetzt. Als Folge der Strahlentherapie muss mit einer Strahlenpneumonitis der Restlunge gerechnet werden, die wiederum zu erheblicher Funktionseinschränkung führen kann.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Die Beeinträchtigungen durch Karzinome der Atmungsorgane können vielfältig sein. Husten, Auswurf, Hämoptoe und Atemnot führen zur Einschränkung der Mobilität und Kommunikation sowie zu Einschränkungen der Aufgaben und Anforderungen des täglichen und beruflichen Lebens. Häusliches Leben und interpersonelle Aktionen und Beziehungen können besonders durch die psychosozialen Probleme mit der Erkrankung und der meist infausten Prognose erheblich gestört sein. Nach Diagnosestellung und Therapieeinleitung fortgesetzter Nikotinkonsum verschlechtert als wesentlicher persönlicher Kontextfaktor die Prognose der Erkrankung erheblich.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Eine spezielle Diagnostik wird vorwiegend im Rahmen der Primärdiagnosestellung und des Staging vorgenommen. Hier kann auch eventuell aufgrund der histologischen Untersuchung eine gewisse Sachaufklärung erfolgen, wobei häufig die ausführliche und vor allem berufliche Anamnese schon wegweisend sein kann. Das Ausmaß der Begleiterkrankungen hat ebenfalls einen nicht uner-
359 15.2 · Krankheitsbilder
heblichen Einfluss auf das Ausmaß des verbleibenden Leistungsvermögens.
können Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (vgl. 7 Kap. 1.1.2) sinnvoll sein.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
z
Das Ausmaß der klinischen Symptomatik stellt neben dem Allgemeinbefinden ein wesentliches Begutachtungskriterium dar. Das Allgemeinbefinden wird in Deutschland nach dem Karnofsky-Index oder international häufig nach dem ECOG-Status (Eastern Cooperative Oncology Group Performance Status) beurteilt. Funktionseinschränkungen als Folge der Tumorerkrankung oder der Tumortherapie betreffen die kardiopulmonale Leistungsfähigkeit. Die Folgen einer Bestrahlungstherapie können als Strahlenpneumonitis eine fibrosierende Lungenerkrankung mit ausgeprägter restriktiver Ventilationsstörung nach sich ziehen. Dies kann eine reduzierte Thoraxbeweglichkeit und häufig auch schmerzinduzierte ausgeprägte Verspannungen der Rumpf- und Thoraxmuskulatur nach sich ziehen. Psychosoziale Probleme müssen ebenfalls in die Leistungsbeurteilung mit einbezogen werden (siehe auch 7 Kap. 10).
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z
Medizinische Rehabilitation
Nach Operation, Bestrahlung oder antineoplastischer Therapie und bei erheblichen Funktionseinschränkungen körperlicher oder seelischer Art ist eine medizinische Rehabilitation indiziert. Eine Rehabilitationsleistung sollte erst nach abgeschlossener Akutbehandlung (Operation, Strahlentherapie) vorgenommen werden. Vielfach befinden sich die Patienten nach Abschluss der Primärtherapie in einem schlechten körperlichen und psychischen Zustand, der durch die Ermittlung des Karnofsky-Index objektiviert wird. Bereits während der Primärbehandlung ist zu überlegen, ob eine Anschlussrehabilitation (AHB) durchgeführt werden soll. Für die Rehabilitationsfähigkeit sind die perspektivische Überlebensdauer (Tumorprognose, Allgemeinzustand, Karnofsky-Index), ggf. die kardiopulmonale Leistungsbreite, das Alter und das Ausmaß der therapeutischen Intervention entscheidend. Neben der medikamentösen Therapie kommt der Atemtherapie sowie der psychischen und psychosozialen Beratung besondere Bedeutung zu. Bei beeinträchtigtem Leistungsvermögen kann bei Versicherten mit einem vorhandenen Arbeitsplatz die stufenweise Wiedereingliederung in Frage kommen. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Die Arbeitsunfähigkeit durch die Erkrankung kann – auch therapiebedingt – protrahiert bestehen und damit die Rückkehr an den Arbeitsplatz erschweren. In Abhängigkeit vom Ausmaß der bestehenden Störungen
Erwerbsminderung
Die Beurteilung des Leistungsvermögens orientiert sich nicht in erster Linie an der malignen Diagnose, sondern an den erkrankungs- und therapiebedingten Beeinträchtigungen. In vielen Fallen liegt in Abhängigkeit von Tumorstadium und Ausprägung vorhandener Funktionsstörungen eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit vor. 15.2.6
Folgen operativer Eingriffe inklusive Lungentransplantation
Thoraxchirurgische Eingriffe können diagnostische oder therapeutische Gründe haben. Immer bedeuten sie aber die Verletzung der Integrität der Thoraxwand und der Pleura parietalis oder der Pleura visceralis sowie des Lungengewebes. Die Resektion von Lungengewebe kann in unterschiedlicher Ausdehnung als Keil- oder Segmentresektion, Lobektomie oder Pneumonektomie notwendig sein. Die Lungentransplantation wird als Einzellungenoder Doppellungentransplantation mit oder ohne gleichzeitige Herztransplantation vorgenommen. Diese Beeinträchtigungen hängen wesentlich vom Ausmaß des Funktionsverlustes ab. Postoperativ ist in jedem Fall, sei es durch Segmentresektion, Lobektomie oder Pneumonektomie, mit einer Funktionseinbuße zu rechnen, die nicht nur durch den Verlust des reduzierten Lungenparenchyms bestimmt wird, sondern auch durch die sich postoperativ entwickelnden narbigen Veränderungen der Pleura und der Thoraxwandmuskulatur. Schmerzen und Atemnot in Ruhe oder unter Belastung können die Folge sein. Dementsprechend kann die Mobilität eingeschränkt sein. Nach einer Lungentransplantation kommt es infolge der erforderlichen Immunsuppression zur Vermeidung der Abstoßungsreaktion gehäuft zu Infekten. Häufiger auftretende akute Abstoßungsreaktionen können die Langzeitergebnisse hinsichtlich Lebensqualität und Letalität erheblich beeinflussen. Das Ausmaß der Einschränkung der Lungenfunktion kann durch die lungenfunktionsdiagnostischen Methoden wie Spirometrie, Ganzkörperplethysmografie und Blutgasanalyse in Ruhe und unter Belastung ermittelt werden. Wegen der ausgeprägten und langanhaltenden Schmerzsymptomatik nach thoraxchirurgischen Eingriffen sollte eine abschließende Beurteilung der funktionellen Veränderungen frühestens ein Jahr nach Abschluss der Operation vorgenommen werden. Zur Beurteilung des klinischen Schweregrades einer nach Lungentransplantation sich entwickelnden Bronchiolitis obliterans wird neben der progredienten Atemnot die Ein-Sekun-
15
360
Kapitel 15 · Krankheiten der Atmungsorgane
15
denkapazität (FEV1) und ihre Veränderung gegenüber dem Ausgangswert beurteilt.
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z
15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung
Nach größeren Eingriffen, wie Lobektomie oder Pneumonektomie, aber auch nach Lungentransplantation, ist eine Anschlussrehabilitation (AHB) sinnvoll. Neben der medikamentösen Therapie bedarf die physikalische Atemtherapie besonderer Beachtung mit frühzeitigem postoperativen Beginn noch im Akutkrankenhaus und Fortsetzung und Intensivierung in einer pneumologischen Rehabilitationseinrichtung. Die medizinische Rehabilitation umfasst ferner physikalische Schmerztherapie (Narbenschmerz, Verspannungen, Par- und Dysästhesien), Prophylaxe der Deformierung des Thorax durch schrumpfenden Fibrothorax, Prophylaxe reaktiver Wirbelsäulendeformation, Atemgymnastik durch Ökonomisierung von Atemtechnik und Hustendynamik, dosierte körperliche Belastung und konditionierende Trainings- und Bewegungstherapie. Insbesondere bei Tumorkranken ist eine psycho-soziale Betreuung wichtig. Eine stufenweise Wiedereingliederung bietet sich als Einstieg in das Arbeitsleben nach erfolgreicher Rehabilitation an. Nach Pneumonektomie kann meist nur noch leichte körperliche Arbeit verrichtet werden. Es entwickelt sich bei etwa 60 % der Patienten ein Cor pulmonale. Nach Lobektomie ist in der Regel die quantitative Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt, allerdings entwickeln auch hier etwa 20 % der Patienten innerhalb von 10 Jahren ein Cor pulmonale, insbesondere, wenn eine entsprechende Vorschädigung der übrigen Lunge bestanden hat. Nach Lungentransplantation muss auf jeden Fall auf die hohe Infektanfälligkeit Rücksicht genommen werden. Die kardiopulmonale Funktionsdiagnostik lässt die Beurteilung der Schwere der Arbeit zu, wobei in den meisten Fällen nur noch leichte körperliche Arbeit möglich sein wird.
15.2.7
Schlafbezogene Atmungsstörungen
Die schlafbezogenen Atmungsstörungen werden nach der Internationalen Klassifikation der Schlafstörungen (ICSD-2) eingeteilt in zentrale Schlafapnoesyndrome, obstruktive Schlafapnoesyndrome, schlafbezogene Hypoventilations-/Hypoxämie-Syndrome und schlafbezogene Hypoventilation/Hypoxämie durch körperliche Erkrankungen. Eine komplette Obstruktion der oberen Atemwege wird bei einer Dauer von mehr als 10 Sekunden als Apnoe definiert. Die Anzahl der während einer Stunde Schlaf auftretenden Apnoen und Hypopnoen wird als Apnoe-Hypopnoe-Index (AHI) bezeichnet. Verbunden mit den rezidivierend auftretenden Apnoen und den da-
mit einhergehenden O2-Desaturationen kommt es bei Terminierung der Apnoe zu einer im EEG registrierbaren Mikroarousal-Reaktion. Die Diagnosesicherung erfolgt durch polysomnografische Erfassung des Funktionszustandes des zentralen Nervensystems, der Atmung und der Herzkreislaufparameter mittels Ableitung von EEG, EOG, EMG, Atemfluss, Atemanstrengung, Sauerstoffsättigung und EKG im Schlaflabor während des Nachtschlafes. Die Kriterien der Schweregrade sind wie folgt definiert: 4 Leicht, verbunden mit leichter Schläfrigkeit am Tage oder leichter Insomie. Der größte Teil der habituellen Schlafperiode ist frei von respiratorischen Störungen. Die Apnoeepisoden sind verbunden mit geringer Sauerstoffentsättigung oder gutartigen kardialen Arrythmien. 4 Mittel, verbunden mit mittelschwerer Schläfrigkeit oder mittelschwerer Insomnie. Kann verbunden sein mit mäßiger Sauerstoffentsättigung oder geringen kardialen Arrythmien. 4 Schwer, verbunden mit schwerer Schläfrigkeit am Tage oder schwerer Insomnie. Der größte Teil der habituellen Schlafperioden zeigt respiratorische Störungen, schwere Sauerstoffentsättigung und mäßige bis schwere kardiale Arrythmien. Es können Anzeichen vorliegen von damit verbundenem kardialen oder pulmonalen Versagen. Als Folge der schlafbezogenen Atmungsstörung können Störungen der Funktion des Schlafes, des Bewusstseins, der psychischen Energie und des Antriebs, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und höherer kognitiver Funktionen und die Störung der bewussten sinnlichen Wahrnehmung sowie des Herz-Kreislaufsystems vorkommen. Hierdurch ergibt sich die Einschränkung vielfältiger Aktivitäten und Teilhabe, wie Lernen und Wissensanwendung, das Übernehmen allgemeiner Aufgaben und Anforderungen, die Einschränkung der Kommunikation, des häuslichen Lebens und vor allem der allgemeinen interpersonellen Interaktionen und der Rückzug aus dem Gemeinschaftsleben. Die schlafmedizinische Anamnese mit dem Einsatz der Epworth-Sleepiness-Scale sowie eine polysomnografische Untersuchung und ggf. der Einsatz des multiplen Schlaflatenztests (MSLT) oder Multiplen Wachbleibetests (MWT) sind nicht nur diagnoseweisend, sondern dienen auch der Festlegung des Schweregrades der Erkrankung. Normalerweise besteht die Therapie in der nasalen Überdruckbeatmung (n-CPAP), wodurch eine hohe Erfolgsrate von mehr als 80 % erreicht wird. Allerdings sollte bei Durchführung der Therapie auch die Compliance der Anwendung dieser nächtlichen Beatmungstherapie berücksichtigt werden. Objektivieren lässt sich diese durch den Nachweis von Gebrauchsstunden, die im Gerät registriert
361 Literatur
werden. Zielkriterium ist neben der Anzahl der Apnoen und dem Ausmaß der Entsättigungen auch die Einschränkung der Vigilanz am Tage. Dieses kann mit dem MSLT oder MWT oder anderen einfachen Vigilanz-Tests ermittelt werden. z
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung
Durch die therapeutischen Maßnahmen (insbesondere die nasale CPAP-Therapie) kann die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit rasch und nachhaltig gebessert werden, sodass häufig eine Erwerbsminderungsrente vermieden werden kann. Bei schon manifesten Folgeschäden oder Begleiterkrankungen bestimmen diese im Wesentlichen das verbliebene Leistungsvermögen. Die nasale Überdruckbeatmung ist nicht nur eine sehr effektive, sondern auch zumutbare Therapie. Bei Problemen mit der Akzeptanz der Therapie kann in Einzelfällen im Rahmen von Rehabilitationsleistungen versucht werden, diese mit langsamer Gewöhnung an das Tragen der Maske und eventuell psychotherapeutischer Intervention zu verbessern. Bei der häufig als Risikofaktor bestehenden Adipositas ist eine Umstellung der Ernährung dringend indiziert und kann während der Rehabilitationsleistung initiiert werden unter Begleitung entsprechender ernährungsmedizinischer Schulungsmaßnahmen. Patienten mit schlafbezogenen Atmungsstörungen sollten auch unter der Therapie in Nachtschichten nicht mehr eingesetzt werden, da der durch die Therapie wiedererlangte zirkadiane Rhythmus hierdurch erneut gestört wird. Besteht trotz ausreichender CPAP-Therapie die Tagesmüdigkeit fort, sind andere Ursachen hierfür ausgeschlossen und bestätigen dies entsprechende Vigilanz- und Leistungstests, sind Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit und mit einer möglichen Eigen- und Fremdgefährdung risikoreich und sollten nicht mehr ausgeführt werden. Hier sind neben dem Führen von Fahrzeugen oder Baumaschinen das Bedienen von anderen Maschinen, Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten sowie Arbeiten mit Absturzgefahr zu nennen. Für Berufskraftfahrer, insbesondere mit Personenbeförderung, ist nach erfolgreicher Therapieeinleitung eine engmaschige regelmäßige Kontrolle in ein- bzw. halbjährigen Abständen zu fordern.
Literatur 1 2
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15
363
Krankheiten des Verdauungssystems Christoph Reichel, Eberhard Zillessen (16.1, 16.2.1–2, 16.2.4–5); Gerd Oehler (16.2.3)
16.1
Allgemeines – 364
16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.1.4 16.1.5
Sozialmedizinische Bedeutung – 364 Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF – 364 Diagnostik – 364 Begutachtungskriterien – 365 Sozialmedizinische Beurteilung – 368
16.2
Krankheitsbilder – 369
16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 16.2.5
Erkrankungen von Ösophagus, Magen und Duodenum – 369 Erkrankungen von Dünn-, Dick- und Mastdarm – 371 Krankheiten der Leber und Gallenwege – 376 Krankheiten des Pankreas – 384 Folgen operativer Eingriffe – 386
Literatur – 388
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
16
16
364
Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
16.1
Allgemeines Christoph Reichel, Eberhard Zillessen
16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16
16.1.1
Sozialmedizinische Bedeutung
Bei den Rentenzugängen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sind im Jahr 2009 nicht-maligne Krankheiten des Verdauungssystems (ICD-10 K00–93) mit 1,9 % und bösartige Krankheiten der Verdauungsorgane (ICD-10 C15–26) mit 3,0 % beteiligt. Die am häufigsten vertretenen Diagnosen sind Rektum-Karzinom (C20), alkoholische Leberkrankheit (K70), Kolon-Karzinom (C18), gefolgt von Magen-Karzinom (C16), Pankreas-Karzinom (C25), Leber-Fibrose und Zirrhose (K74) und Morbus Crohn (Crohn-Krankheit, K50) ([13], . Tab. 16.1). Bei stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind im Jahr 2009 nicht-maligne Krankheiten des Verdauungssystems (ICD-10 K00–93) mit 1,3 % und bösartige Krankheiten der Verdauungsorgane (ICD-10 C15– 26) mit 3,2 % beteiligt. Im Bereich der medizinischen Rehabilitation sind die am häufigsten vertretenen Diagnosen bösartige Neubildungen von Kolon (C18), Rektum (C20) und Magen (C16), gefolgt von Morbus Crohn (K50), bösartigen Neubildungen des Pankreas (C25), Divertikulose (K57) und Colitis ulcerosa (K51) ([12], . Tab. 16.1). Ambulante Rehabilitationsleistungen werden bei gastroenterologischen Krankheiten nur wenig in Anspruch genommen. Eine zunehmende Bedeutung in der sozialmedizinischen Begutachtung weist die Gruppe der Patienten mit Funktionsstörungen des Verdauungssystems als Folge von therapeutischen Maßnahmen im Bereich des Gastrointestinaltraktes z. B. bei onkologisch erkrankten Patienten auf. Da sich diese Entwicklung in den ICD-basierten Zahlen, die häufig nur die Erstdiagnose wiedergeben, nicht abbildet, ist es erstrebenswert, dass die derzeitige Diagnosenverschlüsselung durch eine an funktionellen Beeinträchtigungen orientierte – ICF-basierte – Verschlüsselung ergänzt wird. Art und Ausmaß der funktionellen Beeinträchtigungen des Gastrointestinaltraktes könnten so besser abgebildet und die tatsächliche Bedeutung gastroenterologischer Expertise in der Sozialmedizin besser beurteilt werden.
16 16.1.2
16 16 16
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) stellt eine einheitliche Sprache für sozialmedizinische Fragestellungen dar. Im ICF-Kapitel »Mit dem Verdauungs-, Stoffwechsel und
endokrinen System in Zusammenhang stehende Strukturen« werden die Strukturen der Speiseröhre, des Magens, des Darms (Dünn-, Dick- und Enddarm) sowie die Strukturen von Bauchspeicheldrüse, Leber und Gallenwegen aufgeführt. An Körperfunktionen werden Nahrungsaufnahme, Verdauungsfunktionen, Nahrungsmittelassimilation, Defäkationsfunktionen, Aufrechterhaltung des Körpergewichtes und die mit dem Verdauungssystem verbundenen Empfindungen aufgelistet [46]. Der Einsatz von ICF-basierten Assessmentinstrumenten zur transparenten Beurteilung und umfassenden Dokumentation von Funktionen des Verdauungstraktes befindet sich erst im Aufbau. Wesentliche Impulse zur Vereinheitlichung der Beurteilung von Funktionen des Verdauungstraktes auf der Basis der ICF gehen zurzeit von der gastroenterologischen Rehabilitationsmedizin aus und werden die Bedeutung dieses Faches betonen. Für chronisch entzündliche Darmkrankheiten wird derzeit ein Core Set entwickelt [17, 29]. Auf der Basis dieser Core Set-Entwicklung könnte die Entwicklung diagnosespezifischer Assessmentinstrumente zu den einzelnen ICF-Domänen wie Aktivitäten und Partizipation vorangetrieben werden.
16.1.3
Diagnostik
Neben der häufig notwendigen Komplettierung der gastroenterologischen Diagnostik kommt der physikalischrehabilitativen sowie der berufsbezogenen Leistungsdiagnostik (z. B. Assessmentverfahren) bei sozialmedizinischen Fragestellungen eine zunehmende Bedeutung zu [43]. Eine sozialmedizinisch vollständige Diagnostik wird sich an den international anerkannten Diagnoseleitlinien und den Begutachtungskriterien (7 Kap. 16.1.4) orientieren. Leitliniengerechte Diagnostik und Therapie dienen der Qualitätssicherung von klinischer Behandlung und sozialmedizinischer Begutachtung und damit dem Gleichbehandlungsgrundsatz. So sollten neben einer genauen Erhebung des Schweregrades der Erkrankung möglichst anhand von allgemein in der Gastroenterologie anerkannten transparenten und nachvollziebaren Scores [Child Pugh Score, Model of Endstage Liver Disease Score (MELD) oder Crohn’s Disease Activity Index (CDAI)] auch die Ergebnisse von weitergehenden diagnostischen Verfahren zur Sicherung der Diagnose – wie zum Beispiel von endoskopischen Verfahren – für den Gutachter zugänglich sein. Ebenso sind Informationen über Therapien und deren Erfolg eine wichtige Voraussetzung für die Beurteilung von krankheitsbedingten Funktionseinschränkungen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die derzeit verwendeten
16
365 16.1 · Allgemeines
. Tab. 16.1 Stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und Erwerbsminderungsrenten bei Krankheiten des Verdauungssystems, Deutsche Rentenversicherung, 2009 ICD-10-Nr.
Diagnose
Stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
Erwerbsminderungsrenten
Frauen
Männer
Frauen
Männer
12.379
14.263
1.740
3.334
Magen
1.674
2.377
309
580
C18
Kolon
5.365
4.973
422
623
C20
Rektum
2.504
3.491
357
764
C15–26
Bösartige Neubildungen der Verdauungsorgane
C16
davon:
C25
Pankreas
K00–93
(Nicht-maligne) Krankheiten des Verdauungssystems
K50
davon:
CROHN-Krankheit
970
796
269
412
5.083
5.462
1.216
2.066
1.303
927
263
153
K51
Colitis ulcerosa
784
880
99
106
K57
Divertikulose
804
885
37
58
K70
Alkoholische Leberkrankheit
69
156
252
820
K74
Leber-Fibrose und Zirrhose
117
123
157
263
K86
Sonstige Pankreas-Krankheiten
178
553
65
206
17.462
19.725
2.956
5.400
C15–26 + K00–93
Summe Krankheiten des Verdauungssystems
A00–Z99
Summe aller Indikationen
37.187 410.513
419.309
8.356 80.702
829.822
90.427 171.129
* Ambulante Rehabilitationsleistungen werden bei gastroenterologischen Krankheiten nur wenig in Anspruch genommen. Quelle: Deutsche Rentenversicherung – Statistik; Rentenzugang [13], Rehabilitation [12]
Scores zwar eine aktuelle Einschätzung der Erkrankungsaktivität ermöglichen, aber nur bedingt für die Bearbeitung sozialmedizinischer Fragestellungen einsetzbar sind. Analysen der im CDAI verwendeten Parameter zum Beispiel zeigen, dass im Wesentlichen Körperfunktionen und -strukturen, im geringen Maße auch Umweltfaktoren, berücksichtigt werden. Für die sozialmedizinische Beurteilung können Assessmentverfahren eingesetzt werden, die der standardisierten Erhebung wichtiger Komponenten wie Aktivitäten und Partizipation des Erkrankten dienen [z. B. »Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster« (AVEM)]. Dabei werden auch personbezogene Faktoren berücksichtigt. Derartige Verfahren finden in der Gastroenterologie, z. B. bei Personen mit Morbus Crohn, zunehmend Eingang [21, 32]. Zur Verwendbarkeit von Fragebögen in der sozialmedizinischen Begutachtung siehe auch 7 Kap. 27.2.
16.1.4
Begutachtungskriterien
Die zur sozialmedizinschen Beurteilung herangezogenen Begutachtungskriterien sind die Grundlage, um die Auswirkungen gastroenterologischer Erkrankungen auf die Leistungsfähigkeit differenziert einzuschätzen. Folgende Merkmalsbereiche können zur Einschätzung der krankheitsbedingt zu erwartenden Einschränkung der Leistungsfähigkeit herangezogen werden: 1. Der objektiv feststellbare Krankheitsschweregrad (z. B. Entzündungsausmaß und -intensität, Organfunktionsminderung) 2. Das subjektiv angegebene Beschwerdeausmaß (z. B. Mattigkeit, Schmerzen, Durchfall) 3. Zusätzliche Krankheitskomplikationen (z. B. Ösophagusvarizen bei Leberzirrhose, Skleritis bei chronisch entzündlicher Darmkrankheit) 4. Krankheitsverarbeitung (z. B. negative Selbstwirksamkeitsüberzeugung).
366
16
Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
. Tab. 16.2 Vier Krankheitsmerkmalsbereiche in unterschiedlicher Ausprägung bei Leberzirrhose
16
Krankheitsschwere (Scores)
Subjektive Beschwerden (HADS)
Komplikation
16
keine/leicht
Child A MELD < 9 Punkte
-
z. B. Schluckstörung nach Varizenligatur
16
mittel
Child B MELD ≥ 9, < 15 Punkte
leichte depressive Verstimmung und/oder Ängstlichkeit
latente Enzephalopathie (psychometrische Messung)
schwer
Child B plus weitere Risikofaktoren MELD ≥ 15 Punkte
ausgeprägte depressive Verstimmung und/ oder Ängstlichkeit
16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16
Arbeitsbezogenes Coping
Risikoverhaltensmuster nach AVEM Risikoverhaltensmuster nach AVEM
HADS: Hospital Anxiety and Depression Scale AVEM: Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster [21] Child: C HILD PUGH Klassifikation MELD: Model for Endstage Liver Disease Modifiziert nach Tittor und Lux [44]
Neben den aufgeführten Krankheitsmerkmalsbereichen muss bei der Begutachtung deren individuelle Ausprägung berücksichtigt werden. Dies kann je nach Erkrankung rein deskriptiv, aber auch mittels standardisierter Assessment-Verfahren oder unter Verwendung von Aktivitätsscores erfolgen. . Tab. 16.2 beschreibt dieses Vorgehen exemplarisch für die Situation bei der Beurteilung von Patienten mit Leberzirrhose. Auf der Grundlage dieser Vorgehensweise wurde die Pilotversion eines computergestützen Leistungsfähigkeitsmodells bzw. Expertensystems (DataEngine ADL 2.2.1998 [44]) entwickelt. Exemplarisch konnte dabei gezeigt werden, dass vermeintlich komplizierte gutachterliche und häufig intransparente Beurteilungen prinzipiell standardisiert werden können. Allerdings hat sich das Instrument in dieser Form noch nicht als praxistauglich erwiesen. In der Praxis werden routinemäßig folgende Begutachtungskriterien herangezogen: Mit dem Verdauungssystem verbundene Empfindungen. Aufstoßen, Sodbrennen, Völlegefühl, Übelkeit, Er-
brechen, ein unangenehmer Druck oder Schmerzen im Epigastrium sind Symptome des oberen Verdauungstraktes. Sie werden von 20–30 % der Bevölkerung zeitweilig geklagt und erlauben keinen Rückschluss auf die Grunderkrankung. Kurzzeitige oder gelegentliche Beschwerden werden symptomatisch behandelt. Alarmsymptome wie starke Schmerzen, wiederholtes Erbrechen, Blutungszeichen oder Gewichtsabnahme erfordern eine weitere Abklärung. Für die sozialmedizinische Beurteilung sind Ursache, Dauer, Auslöser und Therapierbarkeit maßgebend. Je nach Auslösemechanismus dyspeptischer Beschwerden kann die physische oder psychische Belastbarkeit eingeschränkt sein. Eine mangelnde Belastbarkeit für Stress
und für lange oder unregelmäßige Arbeitszeiten ist zu prüfen. Zwanghaftes Aufstoßen kann die Eignung für Publikumsverkehr einschränken. Durchfall. Eine Diarrhö besteht, wenn zwei der drei folgenden Kriterien erfüllt sind: Stuhlfrequenz > 3/d, Stuhlgewicht > 200 g/d, Konsistenz ungeformt wässrig. Dies lässt sich durch eine Stuhlvisite objektivieren und durch die Messung von Stuhlgewicht und Stuhlfett ergänzen. Defizite von Spurenelementen, Vitaminen oder Elektrolyten kennzeichnen eine Malabsorption. Entzündungszeichen (Fieber, Blut- oder Schleimbeimengung, BSG, Blutbild, Serumeisen, Akutphase-Proteine) beschreiben die Aktivität einer entzündlichen Diarrhö. Durchfall ist nicht selten eine Folge postoperativer Veränderungen, vgl. . Tab. 16.3. Angaben zur Stuhlfrequenz, Stuhlbeschaffenheit und Stuhlkonsistenz allein sind sozialmedizinisch unzureichend. Die Symptomatik ist im Hinblick auf Aktivitätseinschränkungen funktionsbezogen zu hinterfragen nach Tagesrhythmus, Störung der Nachtruhe, Vorhersagbarkeit, imperativem Stuhldrang, Unterdrückbarkeit der Defäkation, Flatulenz, störenden Darmgeräuschen, Schwäche- oder Schwindelzuständen, Auslösemomenten (z. B. Angst, Stress, Nahrungsmittel) und Dauer sowie nach einer Kombination mit den anderen hier beschriebenen Leitsymptomen [48]. Aktivitäts- und Teilhabeeinschränkungen können sich durch die Notwendigkeit ergeben, jederzeit schnell eine freie Toilette zu erreichen, was bei einer kontinuierlichen Präsenzpflicht (beispielsweise als Aufsichtsperson) oder bei Publikumsverkehr problematisch wäre. Stuhlinkontinenz. Sie ist selbst in der Sprechstunde des Gastroenterologen das »heimliche Symptom«. Nach un-
367 16.1 · Allgemeines
. Tab. 16.3 Ursachen postoperativer Durchfälle Operation
Pathophysiologie
Nachweis
Therapie
Prognose
Vagotomie mit Drainage-OP
Sturzentleerung des Magens
klinisch, evtl. röntgenologisch
häufige kleine Mahlzeiten
Besserungstendenz, Verhaltensanpassung
Magenresektion, Gastrektomie
Früh-Dumping infolge zu rascher Magen-Dünndarm-Passage
klinisch
häufige kleine Mahlzeiten, evtl. Umwandlungs-OP
meist gut behandelbar. Neigung zu Tachykardien und Kollaps kann bleiben
Blind loop mit bakterieller Überwucherung
H2-Atemtest
antibiotische Therapie
Rezidivneigung bei i. d. R. erneutem Ansprechen
Maldigestion infolge Pankreasinsuffizienz durch aufgehobene Duodenalpassage
Steatorrhö
häufige kleine Mahlzeiten, Fermentsubstitution
oft gut behandelbar, Untergewicht und Schwäche können bleiben
Pankreasresektion
Maldigestion infolge Pankreasinsuffizienz, evtl. verstärkt durch aufgehobene Duodenalpassage
Pankreas-Elastase im Stuhl, evtl. Funktionsteste
Fermentsubstitution
unter Dauerbehandlung meist gut kupierbar. Oft ist die Alkoholkarenz entscheidend.
Kurzdarmsyndrom
Malabsorption bei Resektion von 70–80 % oder von spezialisierten Dünndarmanteilen
Anamnese, OPBericht
je nach Ausmaß Kost, Magensäureblockade, MCT-Fette, Pankreatin u. a., ggf. dauerhafte parenterale Ernährung
Besserung binnen zwei Jahren ist noch möglich. Leistungsvermögen oft dauerhaft eingeschränkt.
Resektion von terminalem Ileum, Valvula BAUHINI, Zökum
Gallensäurenverlust-Syndrom durch mangelnde Rückresorption
ex juvantibus, evtl. Steatorrhönachweis
Colestyramin, bei Steatorrhö MCT-Fette
unter Dauerbehandlung meist gut kupierbar
Hemikolektomie rechts
Bakterielle Dünndarmüberwucherung infolge Wegfall der Barriere mit Motilitätsstörung
H2-Atemtest
antibiotische Therapie
Rezidivneigung bei i. d. R. erneutem Ansprechen
Kolektomie
Ausfall der Kolonfunktion mit Ileostoma oder ileoanalem Pouch
Anamnese, OPBericht, Endoskopie bei V. a. Pouchitis
Kost, Versuch mit Loperamid, medikamentöse Therapie der Pouchitis
Besserungstendenz im ersten postoperativen Jahr. Die Stuhlmenge bleibt aber vermehrt.
willkürlichen Stuhlabgängen oder Schmieren muss man routinemäßig fragen. Eine strukturierte Inkontinenzanamnese z. B. nach Keller und Jostarndt ist zur Quantifizierung hilfreich, vgl. . Tab. 16.4. Untersuchungsziele sind die Klärung der Pathophysiologie und der ursächlichen Krankheiten, um mögliche Behandlungsansätze zu finden [37]. Über die bei Durchfall beschriebenen Aktivitätseinschränkungen hinaus scheiden bei Stuhlinkontinenz schwere körperliche Arbeiten mit häufigem Bücken, Heben oder Tragen von Lasten aus. Sowohl der eingeschränkte Aktionsradius als auch das häufig vorhandene Schamgefühl verursachen eine Partizipationsstörung. Bauchschmerz. Bauchschmerzen sind häufig inkonstant
und bei der Untersuchung nicht reproduzierbar. Sie erfordern eine exakte Anamnese und den Versuch, die subjek-
tiven Beschwerden mit den objektiven Befunden in Einklang zu bringen, vgl. 7 Kap. 26. Schmerzskalen können dabei hilfreich sein. Eine konsequente Schmerztherapie ist bei der chronischen Pankreatitis, beim Morbus Crohn und beim Tumorschmerz zu fordern. Schwere oder Überkopfarbeit, Belastbarkeit für Stress oder Schichtarbeit können eingeschränkt sein. Nicht selten ist durch chronisch rezidivierenden Bauchschmerz die berufliche Belastbarkeit quantitativ begrenzt. Untergewicht, Schwäche. Das Körpergewicht in Relation zur Größe lässt sich mit dem Body-Mass-Index (BMI, kg/m2), die körperliche Belastbarkeit mit der Ergometrie (Puls-Watt-Kapazität, PWC) quantifizieren. Wichtiger als das aktuelle Gewicht ist sein Verlauf. Bei Untergewicht ist zu klären, ob eine mangelnGewichtsabnahme,
16
368
16
Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
. Tab. 16.4 Graduierung der Stuhlinkontinenz Symptom
0 Punkte
1 Punkt
2 Punkte
Stuhlfrequenz
> 3 pro Tag
2–3 pro Tag
0–1 pro Tag
Stuhlkonsistenz
überwiegend flüssig
überwiegend breiig
überwiegend fest
Stuhldrangregistrierung
regelhaft nicht oder zu spät
unsicher
immer rechtzeitig und sicher
16
Warnungsperiode
gar nicht
Sekunden
Minuten
Diskrimination (Luft, flüssig, fest)
gar nicht
unsicher
sicher
16
Pflegebedarf (Salben, Vorlagen)
ständig
gelegentlich
nein
Symptom
0 Punkte
3 Punkte
6 Punkte
Stuhlschmieren
ständig
gelegentlich
nein
Inkontinenz f. Winde
ständig
gelegentlich
nein
Inkontinenz f. dünnen Stuhl
ständig
gelegentlich
nein
Inkontinenz f. festen Stuhl
ständig
gelegentlich
nein
36–31 Punkte:
30–24 Punkte:
23–12 Punkte:
11–0 Punkte:
Grad 0
Grad I
Grad II
Grad III
»Komplette Kontinenz«
»Feinverschmutzung«
»Grobverschmutzung«
»Komplette Inkontinenz«
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16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16
Nach KELLER und JOSTARNDT, zitiert bei [50]
de Kalorienzufuhr oder eine Fehlverarbeitung der zugeführten Energie vorliegen. Die Höhe der Kalorienzufuhr ist aus den Angaben des Probanden oft nicht ausreichend sicher zu entnehmen und bedarf der subtilen Erhebung der Kalorienbilanz. Das Körpergewicht bzw. die mit dem Untergewicht verbundene Schwäche ist ein wesentlicher Parameter für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit. Vermehrte Ermüdbarkeit. Sie steht im Vordergrund bei
den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, postoperativ nach komplizierten Verläufen, nach einer antineoplastischen Therapie oder bei chronischer Anämie mit Hämoglobin-Werten < 10 g/dl. Auch ein Eisenmangel z. B. aufgrund von Blutverlusten im Rahmen von Operationen kann für die Ermüdbarkeit ursächlich sein. Im Einzelfall sind erstaunliche Adaptationen von Ausdauer und Kraft möglich. Für die sozialmedizinische Beurteilung ist von Bedeutung, ob die Ursachen der Ermüdbarkeit vorübergehend bzw. kompensierbar oder dauerhaft bzw. nicht kompensierbar sind, sodass eine (qualitative oder quantitative) Leistungsminderung resultiert. Bei persistierender vermehrter Ermüdbarkeit kann oft mittels sportlicher Aktivitäten das Befinden der Patienten gebessert werden. Auch Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen mit entzündlicher Aktivität profitieren von einem angepassten Aufbautraining oder einer Eisensubstitution.
Stabilität der Bauchwand. Die Stabilität der Bauchwand nach operativen Eingriffen, bei Neigung zur Hernienbildung oder nach Anlage eines Enterostomas ist schwierig zu beurteilen. Zu beachten sind die Empfehlung des Operateurs, der Zustand der Bauchmuskulatur, der Lokalbefund und früher aufgetretene Hernien. Üblich ist die Empfehlung, nach größeren Bauchschnitten mit Durchtrennung der Bauchwand diese drei Monate lang nicht durch Anspannungen wie Heben und Tragen von Lasten zu beanspruchen [19].
16.1.5
Sozialmedizinische Beurteilung
Bei der sozialmedizinischen Beurteilung gastroenterologischer Erkrankungen sind der zeitliche Verlauf sowie Häufigkeit und Dauer von Krankheitsschüben, aber auch weitere Faktoren (z. B. Entzündungsaktivität) für die Leistungsbeurteilung relevant [8, 32]. Grundsätzlich sollen die oben aufgeführten Beurteilungskriterien transparent und nachvollziehbar dargestellt werden. Durch Ergebnisse von Screeninginstrumenten kann die sozialmedizinische Beurteilung ergänzt werden. Hier können z. B. Fragebögen zur Erkennung besonderer beruflicher Problemlagen oder zur Feststellung des Bedarfs für berufsbezogene Behandlungsangebote in der medizinischen Rehabilitation herangezogen werden [7, 41]. Ähnliche Wege werden bereits bei psychosomatischen Fragestellungen mit einer von der Fachgesellschaft konsentier-
369 16.2 · Krankheitsbilder
ten psychosomatischen Basisdokumentation teilweise mit Erfolg beschritten. Für die Beurteilung entsprechender Fragestellungen bei gastroenterologischen Krankheiten ist die Evidenz noch zu klären. Die Ursachen für eine Leistungsbeeinträchtigung bei Krankheiten der Verdauungsorgane können vielschichtig sein. Eine gestörte Bereitstellung von biochemischer Energie, aber auch systemische Wirkungen von Entzündungsvorgängen oder eine herabgesetzte Wahrnehmungsschwelle für intestinale Empfindungen können im Vordergrund stehen. Meistens sind mehrere leistungsassoziierte Organsysteme tangiert. Im Vordergrund der sozialmedizinischen Relevanz stehen die anamnestischen Angaben zur gastroenterologischen Symptomatik. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist die Verhaltensabhängigkeit vieler Krankheiten des Verdauungssystems von Alkoholmissbrauch und Über- bzw. Fehlernährung sowie bei den chronischen Virushepatitiden eine Koinzidenz mit der i.v.-Drogenabhängigkeit. Ein Rehabilitationsbedarf wird bei Magen-Darm-Erkrankungen häufig verkannt oder erst dann festgestellt, wenn das Leistungsvermögen in Frage steht (Rentenantrag) bzw. operative Eingriffe notwendig geworden sind. 16.2
Krankheitsbilder
16.2.1
Erkrankungen von Ösophagus, Magen und Duodenum Christoph Reichel, Eberhard Zillessen
Refluxkrankheit. Ein wiederholter Rückfluss von saurem Mageninhalt in die Speiseröhre führt zu einer chronischen Ösophagitis. Der endoskopische und histologische Befund ist nach Savary-Miller, MUSE, Los Angeles- oder AFPScore zu dokumentieren. In ca. 60 % gelingt trotz typischer Beschwerden kein endoskopischer Nachweis; dann sind eine Langzeit-pH-Metrie und Ösophagus-Manometrie angezeigt. Nach Beschwerdestärke und -dauer unterscheiden sich die endoskopisch-positive und die endoskopischnegative Refluxkrankheit nicht. Komplikationen sind die peptische Ösophagusstenose, ein Ösophagusulkus, bronchopulmonale Komplikationen und die Entwicklung eines Endobrachyösophagus (Barrett-Syndrom) als Präkanzerose. Behandelt wird mit Protonenpumpenhemmern, im seltenen Fall der Unverträglichkeit mit H2-Antagonisten. Bei Therapieversagen oder Komplikationen gilt die laparoskopische Fundoplikatio als Standard, alternativ ist die offene Antirefluxoperation zu nennen. Sozialmedizinisch wird die Refluxkrankheit selten relevant. Gelegentlich führen Dysphagien nach Fundoplikatio zu persistierenden Leistungseinschränkungen. Der
Reflux kann durch Betätigen der Bauchpresse (Heben und Tragen schwerer Lasten) und bei Arbeiten in gebückter Haltung verstärkt werden. Häufiges Aufstoßen kann bei Publikumsverkehr belasten. Stress und ein wechselnder Tagesrhythmus (Nachtschicht) können die subjektiven Beschwerden verstärken. Achalasie. Die Achalasie ist eine seltene neuromuskuläre
Erkrankung mit fehlender Erschlaffung des unteren Ösophagussphinkters beim Schlucken. Die Inzidenz liegt bei 1/100.000 pro Jahr mit einem Manifestationsalter meistens zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr. Typische Beschwerden sind Dysphagie, Regurgitation, Thoraxschmerzen, Gewichtsverlust und bronchopulmonale Symptome infolge Aspiration. Mit der Ösophagusmanometrie wird die Diagnose gesichert und von anderen Motilitätsstörungen abgegrenzt. Endoskopisch sollte eine mechanische Kardiastenose z. B. durch ein Karzinom ausgeschlossen werden. Therapie der Wahl war bis vor wenigen Jahren die pneumatische Dilatation des unteren Ösophagussphinkters, die in etwa 70 % erfolgreich ist. Die Injektion von Botulinustoxin hat in der Kurzzeitbeobachtung ähnliche Erfolgsraten, aber nur 30–68 % der Patienten sind nach zwei Jahren noch in der Remission. Beide Behandlungsarten können mehrfach wiederholt werden. Versagt die Dilatations- bzw. Injektionsbehandlung, kommt eine distale Myotomie nach Gottstein und Heller in Betracht mit dem Risiko einer Refluxösophagitis. Die Mehrzahl dieser Patienten kann von ihren Beschwerden befreit werden; bei ihnen ergeben sich sozialmedizinisch keine Einschränkungen. Bei jedem 3. bis 4. Patienten können sich Einschränkungen aus einem verminderten Kräftezustand, der Gefahr einer Regurgitation oder durch Komplikationen ergeben. Ösophaguskarzinom. In Deutschland erkranken jähr-
lich ca. 4.000 Menschen an einem Ösophaguskarzinom, Männer achtmal häufiger als Frauen. Risikofaktoren sind Rauchen, Konsum hochprozentiger alkoholischer Getränke und ein Barrett-Syndrom. Altersgipfel ist das sechste Lebensjahrzehnt. Zu ca. 90 % handelt es sich um ein Plattenepithelkarzinom. Therapie der Wahl ist – wenn möglich – die Ösophagusresektion unter Mitnahme der regionalen Lymphknoten. In Abhängigkeit von der Tumorausdehnung und -histologie erfolgt eine neoadjuvante oder adjuvante Radio- bzw. Radio-Chemotherapie. Als Ersatzorgan werden der Magen oder ein Koloninterponat, selten ein Jejunuminterponat gewählt. Die relative 5-Jahres-Überlebensrate liegt unter 10 %. Das Plattenepithelkarzinom spricht auch auf eine alleinige Strahlentherapie an. Bei fortgeschrittenen Tumoren bieten Strahlentherapie, Endoprothesen (»Stents«) und die perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) palliative Behandlungsmöglichkeiten.
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370
16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16
Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
Postoperative Aktivitätseinschränkungen ergeben sich aus den Folgen der Thorakotomie, von Komplikationen an den Anastomosen, saurem Reflux oder Retention des Mageninhalts. Beschwerden bestehen in Schmerzen und Unwohlsein, Durchfall, Dyspepsie und Dysphagie. Nach Magenhochzug sind Arbeiten mit häufigem Bücken wegen der fehlenden Refluxbarriere ungeeignet. Postoperativ besteht ein hoher Rehabilitationsbedarf. Im Vordergrund stehen die Adaptation und die Optimierung der Ernährungssituation. Darüber hinaus resultiert häufig aus der belastenden Diagnose ein hoher psychoonkologischer und psychosozialer Rehabilitationsbedarf. Reizmagen (funktionelle Verdauungsstörung). Zwei Drittel der Patienten, die wegen dyspeptischer Beschwerden den Arzt aufsuchen, leiden an einem sogenannten »Reizmagen-Syndrom«. Unter diesem Begriff ist eine ganze Reihe von Beschwerden des Oberbauchs zusammengefasst, die nicht oder nicht hinreichend durch eine organische Erkrankung erklärt werden können. In einigen Fällen ist das Reizmagensyndrom mit anderen Störungen vergesellschaftet (z. B. Reizdarmsyndrom, Refluxkrankheit oder auch mit vegetativen Symptomen wie Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen). Sozialmedizinisch relevante Leistungseinschränkungen ergeben sich aus dem Reizmagensyndrom nicht. Ein Teil der Patienten spricht auf eine symptomatische Behandlung mit Antazida wie Protonenpumpenhemmern an. Zugunsten langfristiger psychotherapeutischer Konzepte sollten die Patienten aber nicht auf organische Ersatzdiagnosen (»Gastritis«) fixiert werden. Magenentleerungsstörungen. Eine verzögerte Magenentleerung kommt vor bei »Reizmagen«, Ulcus pepticum, Magentumoren, medikamentös ausgelöst (Psychopharmaka, Vagolytika) und nach einer Vagotomie. Eine gastrale Neuropathie im Rahmen der autonomen Polyneuropathie kann zudem beim Diabetes mellitus die Blutzuckereinstellung erschweren. Typische Beschwerden sind Übelkeit, Völlegefühl und Erbrechen. Die Diagnose erfolgt sonographisch, szintigraphisch oder mit dem 13C-Oktanoat-Atemtest. Röntgen-Aufnahmen und Endoskopie erfassen primäre Motilitätsstörungen nicht. Die Manometrie ist bisher unzureichend standardisiert und ohne therapeutische Konsequenzen. Ist eine ursächliche Behandlung nicht möglich, kommen Therapieversuche mit Prokinetika in Betracht. Eventuell ist eine Drainageoperation erforderlich. Die sozialmedizinischen Konsequenzen sind uneinheitlich. Sie müssen die jeweilige Grundkrankheit berücksichtigen und ergeben sich in Analogie zu ulkusbedingten oder postoperativen Störungen.
Chronische Gastritis und Duodenitis. Die nosologi-
sche Einordnung dieser Krankheitsbilder basiert auf der endoskopisch-bioptischen Diagnostik. Nach der SydneyKlassifikation unterscheidet man neben seltenen Sonderformen wie der lymphozytären, granulomatösen, eosinophilen oder Crohn-Gastritis drei Typen: Typ A (Autoimmungastritis): Sie führt zur Atrophie der Magenschleimhaut und zur perniziösen Anämie. Häufig sind Belegzell-Antikörper nachweisbar. Die Krankheit ist selten, noch seltener ist eine maligne Entartung. Typ B (Erregerinduzierte Gastritis): Erreger ist in ca. 90 % der Fälle Helicobacter pylori. Betroffen sind 30–70 % der Bevölkerung. Therapie der Wahl ist die Eradikation des Erregers. Die chronische Gastritis B ist ein Kofaktor für die Ulkusgenese. Es gibt auch eine positive Korrelation zum Magenkarzinom und insbesondere den MALT-Lymphomen (vg. 7 Kap. 9.3.7). Typ C (Chemisch-toxisch induzierte Gastritis): Die häufigsten Ursachen sind nichtsteroidale Antirheumatika oder ein Gallereflux. Erstere führen gehäuft zu hämorrhagischen Erosionen und akuten, leicht blutenden Ulcera ventriculi sive duodeni. Angesichts der heutigen Behandlungsmöglichkeiten kommt den meisten Formen der chronischen Gastritis aus sozialmedizinischer Sicht eine nur geringe Bedeutung zu. Ulkuskrankheit. Mit
den Protonenpumpenhemmern sowie den unterschiedlichen Eradikationsschemata beim Helicobacter pylori-Nachweis sind sehr effektive Therapieansätze vorhanden. Daher gibt es heute weniger Ulkuskranke als früher. Diese können binnen 7–10 Tagen ambulant und mit geringem Rezidivrisiko behandelt und in den meisten Fällen definitiv geheilt werden. Operiert wird nur noch in Ausnahmefällen und bei Komplikationen wie Ulkusperforation, unstillbarer Blutung, narbiger Stenose und (seltenem) medikamentös therapierefraktärem Verlauf. Das Ulcus pepticum ist als Akutkrankheit noch relevant, die chronischen Verläufe sind selten geworden. So gingen von 1990 bis 2000 die medizinischen Rehabilitationsleistungen durch die Rentenversicherung von jährlich 5.913 auf 767 zurück mit weiter abnehmender Tendenz. Im Jahr 2009 wurden noch 336 stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation auf Grund einer Ulkuskrankheit (ICD-10 K25–28) durchgeführt. Hauptrisiko für ein kompliziertes Ulcus pepticum ist heute die Einnahme nichtsteroidaler Antirheumatika (NSAR). In einer großen Fallkontrollstudie erhöhte auch low-dose-Azetylsalizylsäure (ASS) das Risiko für eine Ulkusblutung mit einem relativen Risiko von 2,3fach (75 mg/d) bis 3,9fach (300 mg/d). Die Mehrzahl der zahlreichen Studien ergab für low-dose-ASS gegenüber Placebo jedoch keine Signifikanz. Ibuprofen und wahrscheinlich die COX-2-Inhibitoren haben das geringste Blutungs-
371 16.2 · Krankheitsbilder
risiko. Beim Einsatz von COX-2-Inhibitoren sind jedoch die Kontraindikationen zu beachten. Eine Ulkusprophylaxe ist mit Protonenpumpenhemmern oder in zweiter Linie mit Misoprostol möglich. Magenkarzinom. An einem Magenkrebs erkranken in Deutschland jährlich knapp 20.000 Menschen, das sind 4–5 % aller Krebserkrankungen. Die Inzidenz ist rückläufig, Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Histologisch überwiegen im Magen die Adenokarzinome. Eine Besonderheit stellen seltenere, von der Mucosaschleimhaut ausgehende (Mucosa assoziierte) MALT-Lymphome dar, die größtenteils zu den Non-Hodgkin-Lymphomen gerechnet werden. Die Prognose des Magenkarzinoms ist abhängig von der histologischen Zuordnung und vom Tumorstadium. Die 5-Jahres-Überlebensrate beträgt beim mukosalen Frühkarzinom über 90 %, beim fortgeschrittenen Magenkarzinom 15–20 % (zu den MALT-Lymphomen vgl. 7 Kap. 9.3.7). Mit Ausnahme der Non-Hodgkin-Lymphome des Magens besteht die Therapie der Wahl in der partiellen oder totalen Gastrektomie, manchmal begleitet von einer antineoplastischen Behandlung. In Abhängigkeit vom Ausmaß der durchgeführten Operation und den Korrektivmaßnahmen können funktionelle Einschränkungen auftreten: übermäßige Gewichtsabnahme, Verlust des Hungergefühls, Dysphagie und Dyspepsie, DumpingSyndrome, Durchfall und eine Pankreasfehlregulation mit exokriner Insuffizienz sowie Steatorrhö (7 Kap. 16.2.4). Langfristig besteht ein erhöhtes Osteoporoserisiko. Bei einer gleichzeitig adjuvant durchgeführten zytostatischen Therapie können – zeitlich begrenzt – zusätzlich Inappetenz, Übelkeit und Erbrechen auftreten. Rehabilitationsbedarf ergibt sich aus den Störungen der Nahrungsaufnahme und -verwertung sowie unter psychoonkologischen und psychosozialen Aspekten. 16.2.2
Erkrankungen von Dünn-, Dick- und Mastdarm Christoph Reichel, Eberhard Zillessen
z
Malassimilationssyndrome
Parasitäre Darmerkrankungen, Morbus Whipple, HIVEnteropathie, bakterielle Überbesiedlung des Dünndarms und die Zöliakie/Sprue können eine längerfristige Resorptionsstörung verursachen. Zöliakie. Die Sprue ist eine Gluten-Intoleranz mit einer Prävalenz in Deutschland bei Kindern von 1 : 1.000 und bei Erwachsenen von 1 : 5.000. Leitsymptome sind Untergewicht und Durchfall, manchmal nur 1–2 voluminö-
se Stuhlentleerungen pro Tag, bei Kindern auch Wachstumsverzögerung. Erwachsene fallen oft erst durch eine Osteoporose oder Eisenmangelanämie auf. Diagnostisch entscheidend ist die Biopsie aus dem distalen Duodenum. Sensitivität und Spezifität der Gliadin-Antikörper im Serum sind wesentlich weniger aussagefähig. Retikulin- und Endomysium-Antikörper (RA, EMA) sind hingegen sehr spezifisch und sensitiv. Allerdings sollte bei negativem Befund von Gliadin-Antikörpern ein IgA-Mangel ausgeschlossen werden. Eine konsequent glutenfreie Kost beseitigt die Symptome wie Durchfall und Gewichtsabnahme und die Folgen von Ernährungsdefiziten. Bis dahin kann Arbeitsunfähigkeit bestehen. In der Regel resultiert keine langfristige Einschränkung des Leistungsvermögens. Der Aufwand für die Lebensmittelzubereitung und -beschaffung ist erhöht. z
Nahrungsmittelintoleranzen
Etwa 20–45 % der Bevölkerung klagen über Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Toxische Reaktionen sind dosisabhängig und werden durch Verunreinigungen, Bakterientoxine und zahlreiche Pharmaka ausgelöst. Bei den nichttoxischen Unverträglichkeiten handelt es sich meist um einen Disaccharidase-Mangel oder eine Nahrungsmittelallergie. Nicht selten bestehen Überschneidungen mit funktionellen Darmstörungen. Auch können Nahrungsmittelintoleranzen ein Symptom psychischer Störungen wie einer Orthorexie sein. In der Regel ergeben sich aus sozialmedizinischer Sicht keine wesentlichen Leistungseinschränkungen. Kohlenhydratintoleranz. Die häufigste Form ist der
Laktasemangel, der unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Typisch sind phasen- oder anfallsweise auftretende Durchfälle mit krampfartigen Bauchschmerzen. Gewichtsabnahme und Schwäche sind seltener. Bei Kohlenhydratintoleranzen können Belastungsteste (H2-Atemtest) oder ein neuerdings auch kommerziell erhältlicher Gentest die Diagnose sichern helfen. Nahrungsmittelallergien. Nur ca. 2–5 % aller Nahrungsmittelintoleranzen sind auf eine Allergie zurückzuführen. Häufig betroffen sind Kinder, einen zweiten Altersgipfel gibt es in der zweiten bis vierten Lebensdekade [30, 36]. Allergologische Testverfahren wie der Hauttest und auch die Messung von spezifischem IgE im Serum (RAST) haben wegen des hohen Anteils falschnegativer und falschpositiver Resultate nur begrenzte Bedeutung für die Diagnostik [5]. Immer noch spielen Anamnese, Ernährungstagebuch und eventuell eine standardisierte orale Provokation eine größere Rolle als darmspezifische Tests. Eine spezielle allergologische Biopsiediagnostik, die endoskopisch gesteuerte Darmlavage mit Messung der Mediatorenausschüt-
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Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
. Tab. 16.5 Definition des Reizdarm-Syndroms
16
Rom III Kriterien
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Abdominale Schmerzen oder Unwohlsein an mindestens 3 Tagen pro Monat in den letzten 3 Monaten. Beginn vor mindestens 6 Monaten, Assoziation mit mindestens zwei der folgenden Symptome: 1. Besserung nach Defäkation 2. Auftreten assoziiert mit Änderung der Stuhlfrequenz 3. Auftreten assoziiert mit Änderung der Stuhlkonsistenz/form.
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Unterstützende Kriterien
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Stuhlfrequenz ≤ 3x / Woche Stuhlfrequenz > 3x / Woche Abnorme Stuhlkonsistenz (hart / klumpig) Abnorme Stuhlkonsistenz (weich / wässrig) Massives Pressen beim Stuhlgang Imperativer Stuhlgang Gefühl der inkompletten Entleerung, Schleimabgang, Blähungen. Der Ausschluss organischer Ursachen wird vorausgesetzt.
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Nach Truninger [45]
16 16
tung oder intraluminale Provokationstests haben sich nicht als Routineverfahren durchgesetzt. In der Regel lässt sich das auslösende Agens meiden. Für die Begutachtung sind diese Krankheiten selten relevant.
16
z
Entleerungsstörung vorliegt, da viele Menschen tägliche Stuhlentleerungen oder unrealistische Stuhlmengen erwarten. »Normal« sind drei Stuhlentleerungen pro Tag bis zu drei Stuhlentleerungen pro Woche. Die Stuhltätigkeit von 99 % aller Untersuchten liegt innerhalb dieser Grenzen. Dennoch klagt jeder dritte bis vierte Erwachsene über Obstipation, mehrheitlich Frauen. Die Symptome sind durchaus unterschiedlich: Sie reichen von nicht erfüllten Erwartungen, verbunden mit Ängstlichkeit, über Völlegefühl, Klagen über Blähungen und Flatulenz, quälende Defäkation mit Pressen bis zu Bauchschmerzen mit Tenesmen und analem Defäkationsschmerz. Eine Obstipation ist häufig Teilaspekt des Reizdarm-Syndroms oder eines noch nicht diagnostizierten kolorektalen Karzinoms. Auch nach Ausschluss dieser Krankheiten ist beim Verdacht auf Defäkationsstörungen eine weiterführende Diagnostik sinnvoll, da eine adäquate Therapie analer und rektaler Erkrankungen oder einer mangelnden Analsphinkterrelaxation (Outlet-Obstruction) die alltägliche Behinderung vermindern kann. Medizinische Rehabilitation kann hier angezeigt sein. Insbesondere wäre hier eine engere Verzahnung zwischen diagnostizierenden und behandelnden Zentren mit spezialisierten Rehabilitationseinrichtungen sinnvoll. z
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Typisch sind der jahrelange Verlauf, die dramatische, oft bildhafte Beschwerdeschilderung, die Diskrepanz zum guten Allgemein- und Ernährungszustand, der Wechsel von Durchfall mit Obstipation, das Fehlen nächtlicher Durchfälle, das Fehlen pathologischer Laborbefunde und die Kombination mit multiplen Unverträglichkeiten und vegetativen Störungen. Die »Rom III Kriterien« (. Tab. 16.5) erleichtern die Diagnose des Reizdarm-Syndroms (RDS). Basierend auf der vorherrschenden Stuhlkonsistenz werden vier RDS-Subtypen unterschieden: mit prädominanter Obstipation, mit prädominanter Diarrhö, gemischter Typ, unspezifischer Typ [45]. Die Assoziation mit psychischen Belastungen, Depression, Schlafproblemen und Analgetikagebrauch ist hoch. Eine sorgfältige Diagnostik sollte zügig zum Abschluss gebracht werden, um die Betroffenen nicht durch immer neue Raritätensuche auf eine organische Genese zu fixieren. Eine psychologische Exploration kann sinnvoll sein, um Auslösemomente zu finden. Ersatzdiagnosen (»Pilze«, »Allergie«) und Scheinmedikationen sind kontraproduktiv. z
16 16
Reizdarm
Chronische Obstipation
Der Übergang von der Befindlichkeitsstörung zur behindernden Krankheit ist fließend. Viele Betroffene werden zwar vielfältig beraten, aber es erfolgt oft keine kausale Diagnostik. Zunächst ist anamnestisch zu klären, ob eine
Hämorrhoidaler Symptomenkomplex
Zum hämorrhoidalen Symptomenkomplex gehören: Hämorrhoiden, (Peri-)Analvenenthrombose, Marisken, Anal- oder Rektumprolaps, Kryptitis und Papillitis, Analrhagaden, -erosionen oder -fissur, periproktitischer Abszess oder Fisteln. Typische Symptome sind Stuhlschmieren, Analjucken oder Analschmerz, Nässen oder Blutungen. Seitens der Patienten verhindert oft Schamgefühl die rechtzeitige Diagnose, seitens der Ärzte werden leider immer noch leichtfertige Vermutungsdiagnosen (»Hämorrhoiden«) ohne proktologische Diagnostik gestellt und unkritisch topische Medikamente verordnet. Insgesamt sind die Behandlungsmöglichkeiten gut. Für die oft quälende chronische Analfissur bietet die Injektion von Botulinustoxin eine mögliche Alternative zur Operation. Sozialmedizinisch können Hämorrhoiden III. und IV. Grades, ein Rektumprolaps und anale bzw. perianale Fisteln bedeutsam werden, wenn operative Behandlungsergebnisse unbefriedigend geblieben sind und falscher Stuhldrang, Analschmerzen oder Sitzbeschwerden persistieren. Gefürchtetste Komplikation ist die Stuhlinkontinenz (7 Kap. 16.1.4). Zum Anus als Kontinenzorgan vgl. 7 Kap. 16.1.4, zu Malignomen siehe weiter unten. z
Divertikulose und Divertikulitis
Kolondivertikel sind heute die häufigste Dickdarmerkrankung. Während in den ersten 40 Lebensjahren nur
373 16.2 · Krankheitsbilder
1 % der Bevölkerung Divertikelträger sind, werden es im folgenden Jahrzehnt 5 % und im Alter 30–80 %. Nur etwa 10 % der Divertikelträger werden symptomatisch, so dass man von einer Divertikelkrankheit sprechen darf. Symptome sind dann (Unter-)Bauchschmerzen, insbesondere Tenesmen, Stuhlunregelmäßigkeiten, auch Durchfall. Die Abgrenzung zu funktionellen Störungen ist angesichts der Häufigkeit des Divertikelbefundes schwierig und die Anzahl zunächst nicht erkannter Divertikulitiden dürfte hoch sein. Dies könnte eine Ursache für die relativ häufigen Operationen aufgrund akuter Komplikationen einer retrospektiv länger bestehenden rezidivierenden Divertikulitis sein. Behandlungsbedürftigkeit ergibt sich in der Regel bei Komplikationen. Dauerhafte Leistungseinbußen sind selten und meistens Folge von Komplikationen. z
Benigne Neoplasien
Mit zunehmendem Lebensalter treten Veränderungen an der Dickdarmschleimhaut auf (adenomatöse Polypen, seltener Hamartome), die als Präkanzerose gelten. Sie verursachen in der Regel keine Beschwerden und können im Rahmen einer Vorsorgekoloskopie – die in Deutschland ab dem 55. Lebensjahr zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse in Anspruch genommen werden kann – identifiziert und bioptisch entfernt werden. Aus sozialmedizinischer Sicht ergibt sich aus einer Polypektomie keine Einschränkung der Leistungsfähigkeit. Eine Kontrolluntersuchung nach fünf Jahren wird empfohlen.
sich die chirurgische Intervention auf einen kleinen Darmabschnitt beschränken oder auch zu ausgedehnten Darmresektionen (Hemikolektomien) führen. Dabei lässt sich manchmal die Anlage eines künstlichen Darmausganges (Stoma) nicht vermeiden. Bei fortgeschrittenem Krebsleiden werden regional befallene Lymphknoten und angrenzende Strukturen entfernt. In Abhängigkeit vom Tumorstadium kann eine adjuvante antineoplastische Therapie bzw. eine Strahlentherapie erforderlich werden. Funktionseinschränkungen können sich bei den Betroffenen aus den Folgen (7 Kap. 16.2.5) der durchgeführten Behandlung ergeben: Sie treten insbesondere nach tiefen anterioren Anastomosen oder nach posteriorer Rektotomie bei Rektumtumoren auf. Die häufigsten Spätfolgen sind urologische Komplikationen [Störungen der Blasenentleerung, Urethrastrikturen (7 Kap. 18)] und Störungen der Sexualfunktion. Auch eine Stuhlinkontinenz kann eine Komplikation der tiefen Rektumresektion sein (7 Kap. 16.1.4). Aus der antineoplastischen Behandlung können funktionseinschränkende Nebenwirkungen resultieren. Die im fortgeschrittenen Tumorstadium oft eingesetzten Oxaliplatin-haltigen Chemotherapien können eine periphere Polyneuropathie zur Folge haben (7 Kap. 23.2.5), die sich in den Monaten nach Beendigung der Therapie zwar zurückbilden können, aber nicht selten dauerhaft persistieren mit dann fehlenden therapeutischen Optionen. Zu unterscheiden sind: Kolorektales Karzinom. Hier gilt zumeist die Adenom-
z
Maligne Tumoren
Trotz der Häufigkeit des Auftretens von Darmkrebs wird die Vorsorgekoloskopie in Deutschland von nur etwa 10 % der anspruchsberechtigten Bevölkerung in Anspruch genommen. Aktuell ist Darmkrebs bei beiden Geschlechtern der zweithäufigste maligne Tumor und auch die zweithäufigste Krebstodesursache. Jährlich erkranken etwa 36.000 Frauen und über 37.000 Männer. Die Heilungsaussichten sind abhängig vom Tumorstadium bei Diagnosestellung. Im Frühstadium ist der Behandlungsansatz kurativ. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt derzeit zwischen 53 und 63 % [34]. Es gibt verschiedene Risikofaktoren, die die Entstehung von Darmkrebs begünstigen. Von Bedeutung ist die Lebens- und Ernährungsweise: Negativ wirken sich z. B. Übergewicht, Bewegungsmangel, häufiger Konsum von Fleisch und tierischen Fetten und ballaststoffarme Kost aus. Ebenso besteht ein erhöhtes Risiko bei langjährigem Verlauf einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung. In etwa 10–15 % sind genetische Faktoren an der Entstehung von Darmkrebs beteiligt. Therapie der Wahl ist die Resektion des Tumors. Je nach Tumorart, Lokalisation und Tumorstadium kann
Karzinom-Sequenz. Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei rund 70 Jahren [34]. Verwandte ersten Grades haben ein erhöhtes Risiko. Außer genetischen Faktoren spielen Lebens- und Ernährungsweise eine Rolle. Als Primärprävention werden faserreiche, fleisch- und fettarme Kost sowie körperliche Bewegung empfohlen. Zu den Operationsfolgen siehe 7 Kap. 16.2.5. Familiäre adenomatöse Polyposis (FAP). Hereditäre
kolorektale Karzinome machen ca. 5 % aller kolorektalen Karzinome aus. Die klassische familiäre adenomatöse Polyposis prädisponiert zu mulitilokulärem Kolonkarziom. Risikopersonen sollten ab dem 10. Lebensjahr regelmäßig endoskopiert werden. Mit Bestätigung einer klassischen FAP ist die Indikation zu einer kontinenzerhaltenden Proktokolektomie gegeben. Je nach Operationsmethode verbleibt die Notwendigkeit einer jährlichen endoskopischen Rektum- oder Pouchkontrolle. Das Risiko für Duodenalkarzinome bei der FAP ist hoch, 10 % der FAPPatienten versterben daran [4]. Daher wird empfohlen, ab dem 30. Lebensjahr alle drei Jahre die Papillenregion endoskopisch zu inspizieren.
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Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
Hereditäres non-polypöses Kolonkarzinom (Hereditary Non-Polyposis Colorectal Cancer, HNPCC). Hereditäre
non-polypöse Kolonkarzinome treten im Median im 46. Lebensjahr und vorwiegend im rechten Kolon auf. Ab dem 25. Lebensjahr ist eine jährliche Koloskopie angezeigt. Auch extraintestinale maligne Tumoren finden sich gehäuft. Karzinom nach Colitis ulcerosa. Patienten mit Colitis ulcerosa haben ein erhöhtes Karzinomrisiko, abhängig von Ausdehnung, Manifestationsalter, Aktivität und Dauer der Erkrankung. Mortalität und Letalität am Karzinom nach Colitis ulcerosa können durch eine regelmäßige koloskopische Überwachung gesenkt werden. Eine gleichzeitige primär sklerosierende Cholangitis erhöht das Risiko für ein kolorektales Karzinom um den Faktor drei bis fünf. Beim Morbus Crohn des Kolons ist das Risiko für ein kolorektales Karzinom zwar auch erhöht, die Datenlage für die Empfehlung eines Screening-Programms aber zu uneinheitlich. Analkarzinom. Karzinome zwischen dem Oberrand der Puborektalisschlinge und der Linea anocutanea werden als Analkarzinome bezeichnet. Sie stellen unter den Kolonkarzinomen eine Besonderheit dar. Daran erkranken in Deutschland jährlich etwa 1.000 Menschen mit einem Altersgipfel im sechsten und siebten Lebensjahrzehnt. Überwiegend handelt es sich um Plattenepithelkarzinome. Als Risikofaktoren gelten Immunosuppression, Bestrahlung im Analbereich, chronische (Virus-)Infektionen und mechanische Beanspruchungen. Auch die Sexualhygiene ist von Bedeutung. Symptome sind peranale Blutung, Defäkationsschmerz, Fremdkörpergefühl, Obstipation oder Pruritus ani. Standardtherapie ist nicht die operative Tumorresektion, sondern eine kombinierte Radio-Chemotherapie. Damit werden stadienabhängige 5-Jahres-Überlebensraten von bis zu 90 % erzielt bei Erhaltung des Schließmuskels. Sozialmedizinisch relevant können Stuhlinkontinenz, Wundheilungsstörungen oder Durchfälle als Bestrahlungsfolge werden sowie Analschmerzen beim Sitzen. Bei weit fortgeschrittenen Tumoren kann ein Kolostoma erforderlich sein. z
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen
Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen sind nicht sehr häufig, sie können aber sozialmedizinisch bedeutsam sein wegen des frühen Manifestationsalters, der erheblichen Beeinträchtigungen und des schubweisen chronischen Verlaufs. Beim Morbus Crohn wurden Verzögerungen der Schul- und Berufsausbildung (10–23 %), krankheitsbedingte Arbeitsplatz- oder Berufswechsel (8–13 %), Reduktion der Arbeitszeit (8–24 %) und Berentungen wegen Erwerbsminderung (bis 16 %) beschrieben. Patien-
ten mit Morbus Crohn und Colitis ulcerosa waren nach Studien häufiger und länger arbeitsunfähig und arbeitslos als Patienten bzw. Rehabilitanden mit anderen gastroenterologischen und Stoffwechselkrankheiten oder andere Kontrollgruppen. Bei der Colitis ulcerosa ist die soziale Beeinträchtigung insgesamt geringer und die erfragte Lebensqualität besser als beim Morbus Crohn. Die medizinische Rehabilitation kann über die Vermittlung einer besseren Krankheitsbewältigung hierauf einen günstigen Einfluss nehmen. Die Häufigkeit und Dauer der entzündlichen Schübe kennzeichnen die Schwere der Erkrankung. Nach Möglichkeit sollte nicht während eines akuten Schubes, sondern nach dessen Abklingen begutachtet werden, um mittel- bis langfristige Aktivitätseinschränkungen zu erfassen. Dabei sind sowohl intestinale als auch extraintestinale Krankheitsmanifestationen zu berücksichtigen. Zu beachten sind außerdem die Operationsfolgen und die Nebenwirkungen einer langfristigen Behandlung mit Glukokortikoiden oder anderen Medikamenten. Psychosoziale Faktoren haben einen großen Einfluss auf die Lebensqualität, wahrscheinlich auch auf den Krankheitsverlauf. Sie werden von den Betroffenen als nahezu gleichermaßen belastend erlebt wie die somatischen Symptome. Tabu- und Schamzonen sind häufig tangiert und in das subjektive Erleben der Patienten einbezogen. Fisteln, ein Ileo- oder Kolostoma, Stuhlinkontinenz oder Ängste vor einem schweren Verlauf, vor Kontrolldiagnostik, vor Abhängigkeit von Ärzten wie Medikamenten oder vor einem Karzinom können soziale Isolierung verursachen. Aktivitätsindizes wie der Crohn’s Disease Activity Index (CDAI) nach Best oder der Colitis-Aktivitäts-Index (CAI) nach Rachmilewitz beschreiben vorrangig Körperfunktionen und Körperstrukturen sowie CED assoziierte extraintestinale Manifestationen [32]. Sie wurden als klinische Entscheidungshilfe und zur Effektivitätskontrolle für Therapiestudien entwickelt. In einer eigenen Studie korrelieren sie gut mit dem klinischen Rehabilitationserfolg, waren aber nicht mit dem berufsbezogenen Rehabilitationserfolg assoziiert. Auf der anderen Seite waren Parameter wie ein erhöhtes C-reaktives Protein und der Body Mass Index bei Morbus Crohn-Rehabilitanden mit dem beruflichen Rehabilitationserfolg assoziiert [33]. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass der Umsetzungsgrad von Therapieleitlinien bei Patienten mit Morbus Crohn gering zu sein scheint. Hier konnte gezeigt werden, dass Rehabilitation zu einer signifikant mehr leitliniengerechten Pharmakotherapie beitragen kann [31, 33]. Zur Erfassung von Leistungsvermögen und Rehabilitationsbedürftigkeit hat Seger [38] eine Tabelle mit fließenden Übergängen angegeben, in welche die Arbeitsunfähigkeitszeiten, Symptome, psychische, berufliche und soziale Beeinträchtigungen, Krankheitsbewältigung, Belastungen durch Diagnostik, Befunde, Entzündungs-
375 16.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 16.6 Rehabilitationsbedarf und Leistungsvermögen bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen Reha-Bedarf
Niedrig
Mittel
Hoch
Leistungsvermögen
Hoch
Mittel
Niedrig
AU-Zeiten
Selten, kurz
Öfter und länger
Häufig, lang andauernd
Arztbesuche
Gelegentlich Hausarzt
Hausarzt, Facharzt, ggf. Krankenhaus
Häufig, in kurzen Abständen
Stuhlgang
Geformt, Frequenz normal
Breiig bis flüssig, oft blutig, 3–10mal/d
Flüssig, schleimig, eitrig, blutig, > 10mal/d
Körpergewicht
Konstant
Abnehmend
Deutlich abnehmend
Kontinenz
Erhalten
Gestört
Erheblich gestört bis aufgehoben
Abdominalschmerz
Selten oder fehlend, im Allgemeinen erträglich
Mehrmals im Jahr kurzzeitig, deutliche Intensitätszunahme bis zur Grenze des Erträglichen
Täglich bis wöchentlich mehrfach, langanhaltend, tageszeitunabhängig, erhebliche Beeinträchtigung der Aktivität
Psychische Beeinträchtigungen
Keine oder diskrete psychische Mitbeteiligung
Deutliche Hinweise auf psychische Begleiterkrankungen
Nachgewiesene, manifeste psychogene bzw. psychiatrische Erkrankungen
Berufliche Beeinträchtigungen
Keine bzw. geringe
Nachlassende Leistungsfähigkeit, Rücksicht durch Kollegen erforderlich, erste Gespräche mit Vorgesetzten wegen nachlassender Arbeitsleistung, Arbeitsplatzumsetzung
Arbeitsplatzverlust
Soziale Beeinträchtigungen
Keine bzw. gering
Beziehungs- und Akzeptanzprobleme im Wechselspiel zur Umwelt
Wiederholte oder ständige Beziehungsprobleme im Familien-, Kollegen- und Freundeskreis
Krankheitsbewältigung
Problemlos
Probleme in der Krankheits- und Krankheitsfolgenverarbeitung und -bewältigung
Fehlende Krankheitskenntnis, -einsicht und -bewältigungsstrategien mit Problemverfestigung
Diagnostik
Keine oder gelegentlich
Öfters Kontrollen durch Hausarzt, zunehmend fachärztliche Diagnostik
Häufige, wiederholte Untersuchungen, zunehmend invasive Diagnostik
Befunde
Gering, leicht, angedeutet, in Remission
Zunehmend anormal
Ausgeprägt, hochgradig, schwer, ausgedehnt
Entzündungsaktivität und -ausbreitung
Gering, lokal
Mäßig, multilokulär, großflächig, aber noch umschrieben
Deutlich, ausgedehnt, diffus, anatomische Grenzen überschreitend
Systemische Begleiterscheinungen
Keine bzw. geringe
Durch Therapie begrenztes Auftreten von Begleitsymptomen an Augen, Haut, Gelenken, Leber, Gallenwegen, Nieren, Blut, durch Grundleiden oder als Therapiefolgen
Heftige, schwer therapierbare Gelenkschmerzen, eingeschränkte Beweglichkeit, hartnäckige Fisteln, Stuhlinkontinenz, wechselnd häufige Adhäsionsbeschwerden
Verlauf
Stabil, in Remission
Wechselnd
Instabil
Operationsfolgen
Keine
Narben, Fisteln
Verwachsungsbeschwerden, Inkontinenz, Fisteln, schwere Resorptionsstörungen, Z. n. mehrfachen Resektionen
Stoma
Kontinente Irrigation, regelmäßige, planbare Beutelwechsel, Stuhl- bzw. Flüssigkeitsabsonderungen werden komplett aufgefangen
Fehler bzw. Teilkorrektur der Irrigation, technischen Versorgung, Stomapflege, Beutelwechsel meist vorhersehbar
Fehlende Kenntnisse der Irrigation, der technischen Versorgungsmöglichkeiten, der Stomapflege, Beutelwechsel nicht planbar, häufige Beutelwechsel wegen großer Flüssigkeitsmengen
Modifiziert nach: Sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung, 5. Auflage 1995, Seite 291 [38]
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Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
aktivität, systemische Begleiterscheinungen, Verlauf und Operationsfolgen (einschließlich Stoma) eingehen (. Tab. 16.6). Differenzierte Aussagen zu Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben und Rehabilitationsbedürftigkeit enthalten die Leitlinien zur sozialmedizinischen Begutachtung der Deutschen Rentenversicherung [9, 11].
Jahren war die Kolektomierate mit 24 % vergleichsweise hoch. Erwerbstätig waren nach 10 Jahren Krankheitsverlauf noch 93 %.
16.2.3
Krankheiten der Leber und Gallenwege
Morbus CROHN. Der Morbus Crohn beginnt am häufig-
sten zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr. Krankheitseinflüsse auf die wichtige Sozialisationsphase der Verselbständigung und beruflichen wie familiären Entwicklung sind daher ausgeprägter als bei der Colitis ulcerosa. Für neue Schübe gibt es keine prädiktiven Faktoren. Das Krankheitsbild wird beherrscht durch abdominelle Schmerzen. Durchfall ist nicht obligat. Gewichtsabnahme, Fieber, Anämie und Arthritiden sind häufiger als bei der Colitis ulcerosa. Bis zu 80 % der Patienten müssen im Verlauf wegen Stenosen und Fisteln operiert werden. Infolge von Resorptionsstörungen treten häufig Gallen- und Nierensteine auf. Die mögliche Beteiligung aller Abschnitte des Verdauungstraktes macht es notwendig, dass initial ein vollständiger gastroenterologischer Status mit Endoskopie des Verdauungstraktes erfolgt, im Einzelfall ergänzt durch andere bildgebende Verfahren. Der physikalische abdominelle Befund (Stenosegeräusche, Abwehrspannung, Resistenzen) ist richtungweisend. Die Sonographie kann befallene Darmabschnitte, entzündliche Infiltrate und Abszesse aufzeigen. In der Kopenhagen-Studie waren im Jahr der Diagnose nur 37 % voll arbeitsfähig, nach 10 Jahren Krankheitsverlauf aber 75 % vollschichtig leistungsfähig [28]. Nach den ersten zwei Krankheitsjahren besteht eine Tendenz zum milderen Krankheitsverlauf mit weniger Hospitalisationen, seltenerer Operationsfrequenz und weniger Arbeitsausfällen [39]. Colitis ulcerosa. Das Manifestationsalter liegt bei der Colitis ulcerosa durchschnittlich später als beim Morbus Crohn. Ganz im Vordergrund stehen die Durchfälle, die im Schub blutig werden. Eine wichtige Differenzialdiagnose zu Beginn der Erkrankung sind infektiöse Proktokolitiden. Fieberschübe, Arthritiden bzw. Arthralgien, Gewichtsabnahme und Bauchschmerzen können hinzutreten. Eine Stuhlinkontinenz wird oft nur während der Durchfallperioden manifest. Serologische Entzündungszeichen (BSG, Blutbild) folgen oft erst spät. An weitere extraintestinale Symptome (Augen, Gallengänge, Haut) ist zu denken. Zum Risiko eines kolorektalen Karzinoms siehe dieses Kapitel weiter oben und zur primär sklerosierenden Cholangitis als Begleitkrankheit vgl. dieses Kapitel weiter unten. In der Kopenhagen-Studie hatten 90 % der Betroffenen über einen Beobachtungszeitraum von 25 Jahren einen intermittierenden Verlauf [22]. Für Schübe und Remissionen gab es keine prädiktiven Faktoren. Nach 10
Gerd Oehler
Sozialmedizinische Bedeutung Etwa 1,3 % der Berentungen wegen Erwerbsminderung im Jahr 2009 (N = rund 2.200, ICD-10-Nr. B15–19, C22, K70– 77) betraf Personen mit einer Lebererkrankung. Insbesondere handelt es sich um Patienten mit einer fortgeschrittenen Leberzirrhose. Es wird geschätzt, dass in Deutschland 2–2,5 Millionen Menschen unter einer Leberzirrhose leiden. Gallenwegserkrankungen (ICD-10-Nr. C23–24, K80– 83) führten im Jahr 2009 in weniger als 200 Fällen zu einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (= 0,1 % aller Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit). Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe werden relativ wenig in Anspruch genommen (N = rund 2.700, ICD-10-Nr. B15–19, C22–24, K70–77, K80–83 im Jahr 2009), das entspricht 0,3% aller stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation).
Diagnostik z
Anamnese
Die Erhebung der Vorgeschichte und das Erkennen der subjektiven Symptome erfordert bei Leberkranken besonderes Geschick, da die Beschwerden häufig über lange Zeit uncharakteristisch sind und wichtige Ursachen bzw. Begleitreaktionen (Alkoholismus, Virushepatitis) von vielen Patienten verschleiert bzw. nicht im Zusammenhang mit der Leberkrankheit gesehen werden. z
Körperliche Untersuchung
Bei der direkten Untersuchung lassen sich in frühen Stadien außer einer vergrößerten Leber meistens keine charakteristischen Befunde erheben. In jedem Falle sind Leberhautzeichen zu beachten. Diese kennzeichnen meistens ein fortgeschrittenes Krankheitsstadium. Bei der klinischen Untersuchung lassen sich dann eine Milzvergrößerung und auch Aszites nachweisen. z
Labordiagnostik
Grundsätzlich können mit der Labordiagnostik folgende Fragen beantwortet werden: 4 Integrität der Hepatozyten, 4 biliäre Exkretion, 4 hepatische Syntheseleistung, 4 spezifische Kriterien.
377 16.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 16.7 Grading Grad
1
2
Verbal
Minimal
Mild/ geringgradig
. Tab. 16.8 Staging Analoger HAI*Score
Histologische Merkmale
1–3
Geringe portale Entzündungszellinfiltration, keine oder minimale azinäre Parenchymzelluntergänge oder Entzündungszellinfiltrate, keine Grenzzonenhepatitis
4–8
Geringe oder mäßige portale Entzündungszellinfiltration, geringe, fokale Grenzzonenhepatitis, einzelne parenchymatöse Einzelzellnekrosen, keine Gruppennekrosen
3
Mäßig/ mittelgradig
9–12
Erhebliche (mäßige bis schwere) portale Entzündungszellinfiltration, erhebliche Grenzzonenhepatitis, zahlreiche azinäre Einzelzellnekrosen, evtl. einzelne Gruppennekrosen, keine Brücken- oder panlobulären Nekrosen
4
Schwer/ hochgradig
13–18
Schwere portale Entzündungszellinfiltration und Grenzzonenhepatitis, schwere azinäre Entzündung mit Gruppennekrosen und eventuell Brücken- und panlobulären Nekrosen
Score
Verbal
Histologische Merkmale
0
Keine Fibrose
Keine Faservermehrung
1
Milde/geringgradige Fibrose
Portale Faservermehrung, keine Septen
2
Mäßige/ mittelgradige Fibrose
Inkomplette oder komplette porto-portale Fasersepten*, erhaltene Architektur
3
Schwere/ hochgradige Fibrose
Septenbildende Faservermehrung mit Architekturstörung**, kein Anhalt für kompletten zirrhotischen Umbau
4
Zirrhose
Wahrscheinlicher*** oder definitiver zirrhotischer Umbau
* unabhängig von Zahl und Breite der Septen ** zum Beispiel porto-zentrale Septen, Verschiebung der portalen/azinären Architektur (portal-zentralvenöser Abstand) *** zum Beispiel ohne definitiven Nachweis vollständig bindegewebig separierter Pseudolobuli, aber aufgrund indirekter Zeichen (zum Beispiel fragmentierte, »herausgebrochene« Pseudolobuli) anzunehmen [14, 18]
Kettenreaktion (PCR) eingesetzt, die nicht nur den qualitativen Nachweis der Virusvermehrung, sondern heute auch das Ausmaß der Virämie (quantitative PCR) erfasst. Alpha-Fetoprotein ist ein Marker für ein hepatobiliäres Karzinom, jedoch nicht spezifisch, d. h. ein normaler Wert schließt einen Tumor nicht aus, ein erhöhter Wert kann auch unspezifisch z. B. im Zusammenhang mit einer Leberzirrhose auftreten.
* HAI: histologischer Aktivitätsindex
z
Die Zellintegrität wird an Hand der Transaminasen (GOT, GPT und GLDH) erfasst. Die biliäre Exkretion wird mit Gamma-GT, alkalischer Phosphatase und Bilirubin ermittelt. Die Gamma-GT ist nicht cholestasespezifisch, sondern ein sensibler klinisch-chemischer Indikator für verschiedene Schädigungen (insbesondere auch bei Alkoholkonsum). Die hepatische Syntheseleistung wird durch Bestimmung von Gerinnungsfaktoren, Cholinesterase und Gesamt-Eiweiß erfasst. Spezielle Fragen werden durch Antikörper [antimitochondriale Antikörper (AMA), antinukleäre Faktoren (ANA)] abgeklärt. Die Diagnostik der Virushepatitis erfolgt mit serologischen Testverfahren zum Nachweis von Antikörpern (u. a. HA-AK IgG und IgM, HBs-Ak, HBcAk, HC-Ak) bzw. Antigenen (HBs-Ag, HBe-Ag). Zur Feststellung der Virusreplikation wird die Polymerase-
Leberpunktion, Leberbiopsie
Alle Methoden zur Gewinnung von Lebergewebe (»Leberblindpunktion«, sonographisch assistierte Leberpunktion, Laparoskopie und Mini-Laparoskie) sind invasive, mit einem Risiko belastete Eingriffe und daher nicht duldungspflichtig. Ungeachtet dessen ist ein möglichst aktueller histologischer Befund für die sozialmedizinische Begutachtung von entscheidender Bedeutung. Für die feingewebliche Diagnostik von Lebererkrankungen wird ein Grading und Staging herangezogen. Das Grading beschreibt dabei die nekroinflammatorische Aktivität an Hand der Infiltration der periportalen Felder (Entzündungsgrad, . Tab. 16.7). Das Staging beurteilt das Ausmaß der Leberfibrose an Hand des Fibrosierungsgrades (. Tab. 16.8). z
Bildgebende Verfahren
Die Sonographie liefert wertvolle Informationen zur Morphologie der Leber. Das Vollbild der Leberzirrhose ist so-
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Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
nographisch hinreichend sicher zu diagnostizieren, insbesondere bei Zeichen der portalen Hypertension, d. h. Splenomegalie, portosystemische Kollateralenbildung, pathologischer Pfortaderfluss und Aszites. Computertomographie und Magnetresonanztomographie können in der Regel keine zusätzlichen Informationen liefern. Für die Differenzialdiagnose fokaler Leberläsionen (Hämangiom, Adenom, Fokal Noduläre Hyperplasie, Leberzellkarzinom, Metastase) liefern diese Untersuchungsmethoden aber häufig richtungsweisende Hinweise. Als neuere Methode findet das sogenannte Fibroscan Verbreitung. Es handelt sich im Prinzip um ein sonographisches Verfahren, das den Fibrosegrad und eventuell den Übergang in eine Zirrhose erfasst. z
Endoskopische Methoden
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Die obere Intestinoskopie dient vor allem der Aufdeckung von Ösophagus- oder Magenfundus-Varizen. Auch hier handelt es sich um eine invasive Methode, die im Rahmen der Begutachtung vom Patienten nicht akzeptiert werden muss. Gleiches gilt für die Endoskopisch-RetrogradeCholangio-Pankreatikographie (ERCP). Meistens lassen sich aber zeitnah erhobene Befunde bei der Begutachtung heranziehen.
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z
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Psychometrie
Die Leistungsfähigkeit im differenzierten Beruf wird sehr häufig eingeschränkt durch die hepatische Enzephalopathie, die vor allem bei Leberzirrhose erhebliche Auswirkungen auf die Reaktionsfähigkeit und auf die Aufmerksamkeit haben kann. Im latenten Stadium finden sich bei diesen Patienten klinisch keine Auffälligkeiten. Es ist daher zu empfehlen, mit speziellen Testverfahren (Wiener Determinationsgerät, Zahlenverbindungstest, Liniennachfahrtest) eventuelle Defizite aufzudecken. Ein neueres Verfahren, die Flimmerfrequenzanalyse, ist bisher spezialisierten Zentren vorbehalten. Eine hepatische Enzephalopathie kann die Fähigkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs beeinträchtigen.
Diffuse Lebererkrankungen z
Fettleber
Die Fettleber geht mit einer weitgehend symptomlosen Lebervergrößerung einher. Bei der histologischen Untersuchung sind mehr als 50 % der Hepatozyten mit Fett weitgehend ausgefüllt. Laborchemisch findet sich meistens eine Erhöhung der Gamma-GT. Zu unterscheiden sind eine alkoholbedingte Fettleber bzw. Fettleberhepatitis (ASH) und eine nicht-alkoholbedingte Fettleberhepatitis (NASH). Während bei der alkoholischen Fettleber der überhöhte Alkoholkonsum ätiologisch ganz im Vordergrund steht, ist die nicht-alkoholi-
sche Fettleber insbesondere eine Begleiterscheinung der Übergewichtigkeit, des Diabetes mellitus bzw. einer Fettstoffwechselstörung. Somit bestehen zwischen der Fettleber und dem metabolischen Syndrom (7 Kap. 12.2.2) zahlreiche Überschneidungen. Bei Fettleberschäden sind Lebensstilmodifikationen – wie beim metabolischen Syndrom – der entscheidende therapeutische Ansatz. Spezifische sozialmedizinische Beurteilung. Eine so-
zialmedizinisch relevante Leistungsminderung ist mit der Fettleber und auch mit der Fettleberhepatitis nicht verbunden. Sowohl der alkoholische als auch der nichtalkoholische Fettleberschaden kann in eine Leberzirrhose übergehen. Die sozialmedizinischen Konsequenzen gleichen dann denen der übrigen Zirrhoseformen. z
Virusinfektionen
Als Auslöser einer infektiösen chronischen Hepatitis spielen die viralen Infektionen die größte Rolle. Während bei der Hepatitis A und E chronische Verlaufsformen nicht bekannt sind, gehen etwa 10 % der akuten Hepatitis B-Erkrankungen und 60–80 % der Hepatitis C-Fälle in chronische Krankheitsstadien über. Die Hepatitis D kann als Co- oder Superinfektion bei Hepatitis B-Infektionen vorkommen. Die Übertragung der Hepatitis B erfolgt überwiegend durch sexuelle Kontakte, aber auch durch Kontamination mit infektiösem Blut bzw. Plasma (intravenöser Drogenabusus). Wegen der hohen Dichte an infektiösem Material in Körperflüssigkeiten ist die Übertragung relativ leicht möglich. Es sind aktive und passive Schutzimpfungen der Hepatitis B etabliert. Leider werden die Hochrisikogruppen durch die Impfmaßnahmen häufig nicht erreicht. Durch die systematische Impfung des Gesundheitspersonals (aktive Schutzimpfung mit gentechnologisch hergestelltem Hepatitis-B-Oberflächenantigen) sind neu aufgetretene Berufskrankheiten an Hepatitis B selten geworden. Gutachterlich sind häufig Krankheitsfolgen nach länger zurückliegender Infektion zu bearbeiten. Die akute Infektion mit Hepatitis C verläuft überwiegend klinisch unbemerkt (»kommt auf leisen Sohlen«). Die Chronifizierungsrate ist sehr hoch, ein längerfristiger Übergang in eine Leberzirrhose und auch die Entwicklung eines hepatozellulären Karzinoms ist nicht selten. Die Hepatitis C-Übertragung erfolgt durch Blut bzw. Blutprodukte sowie durch intensiven Körperkontakt, wobei allerdings die Übertragung z. B. subpartal oder auch sexuell bei weitem nicht so häufig vorkommt wie bei der Hepatitis B. Die chronische Virushepatitis kann zu wechselnden Transaminasenerhöhungen führen. Namentlich bei der Hepatitis C können längerfristig normale Transamina-
379 16.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 16.9 Bewertung der Viruslast Hepatitis B Niedrige Viruslast
< 2 x 105 Copies/ml
Mittlere Viruslast
2 x 105 – 2 x 107 Copies/ml
Hohe Viruslast
> 2 x 107 Copies/ml
Hepatitis C Niedrige Viruslast:
< 800.000 IE/ml
Hohe Viruslast:
> 800.000 IE/ml
sen bestehen, obwohl bereits erhebliche morphologische Veränderungen in der Leber vorhanden sind. Aus diesem Grund gibt nur das histologische Bild der Leber eindeutig Auskunft über das Stadium einer chronischen Virushepatitis. Die Bewertung erfolgt an Hand des weiter oben beschriebenen Grading und Staging. Bei fehlender Histologie wird der Entzündungsgrad (»Grading«) näherungsweise durch die Transaminasenaktivität erfasst. Der Fibrosegrad (»Staging«) wird zunehmend im Fibroscan wiedergegeben. Große Bedeutung – auch für die Therapieentscheidungen – hat der Nachweis der Viruslast. Zur Bewertung der Viruslast siehe . Tab. 16.9. Die Viruslast wird sowohl bei der Hepatitis B (DNS) als auch bei der Hepatitis C (RNS) mittels der hochempfindlichen PCR ermittelt. Die therapeutischen Möglichkeiten der chronischen Hepatitis B bzw. C haben sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Bei der Hepatitis B ist neben der Interferon-Therapie die wirksame Nucleot(s)id-Therapie eingeführt worden (Adefovir, Tenovovir, Entecavir). Bei der Hepatitis C ist weiterhin die Interferon-RibavirinKombinationstherapie führend. Neuere Ansätze bemühen sich um eine responsegesteuerte Therapie, d. h. um die Variation der Therapiedauer und der Dosierung an Hand des primären Ansprechens. Die erheblichen Therapienebenwirkungen können das Leistungsvermögen der Betroffenen kurzfristig und oft auch längerfristig erheblich beeinträchtigen. Spezifische sozialmedizinische Beurteilung. Eine chronische Hepatitis mit konstant hoher entzündlicher Aktivität (Grading 3–4) bedingt eine Leistungsminderung für körperlich mittelschwere und schwere Tätigkeiten. Neben den objektiven Parametern ist immer auch das subjektive Beschwerdeausmaß zu berücksichtigen (vorzeitige Erschöpfbarkeit, Müdigkeit, Antriebsschwäche, depressive Grundstimmung, Juckreiz). Eine Plausibilitätsprüfung kann an Hand der Darstellung von Tagesablauf, Freizeitverhalten und Prüfung der Dauerbelastbarkeit z. B. durch Spiro- und Ergometrie erfolgen. Zum Ausschluss einer
psychischen Störung kann eine fachärztliche Begutachtung erforderlich werden. In . Abb. 16.1 zeigt ein Flussdiagramm die möglichen Beurteilungen der Leistungsfähigkeit bei Personen mit chronischer Hepatitis [10]. Nebenwirkungen der antiviralen Therapie sind bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. Meistens wird damit eine zeitlich begrenzte Arbeitsunfähigkeit ausgelöst. Teilhabe am Arbeitsleben. Umschulungsmaßnahmen
spielen bei der chronischen Virushepatitis oft eine große Rolle, wenn festzustellen ist, dass der Patient unter den Bedingungen einer anhaltenden Virusinfektion in der aktuellen beruflichen Situation überfordert ist. Tätigkeiten im medizinischen Bereich mit hohem Übertragungsrisiko sind auszuschließen, wenn bei Hepatitis B oder C eine Viruslast von mehr als 103 Copies/ml nachgewiesen wird. z
Autoimmune Leber- und Gallenwegserkrankungen
Hierzu zählen die Autoimmunhepatitis, die primär biliäre Zirrhose (PBC) und die primär sklerosierende Cholangitis (PSC). Die Erkrankungen gehen mit dem Auftreten erhöhter Transaminasen und spezifischer Antikörper einher. Die chronische Autoimmunhepatitis betrifft vor allem Frauen. Häufig werden extrahepatische Manifestationen an Gelenken, Haut und Schilddrüse gefunden. Therapeutisch wird mit immunsuppressiven Medikamenten (Kortikoide, Azathioprin) behandelt. Auch die primär biliäre Zirrhose und die primär sklerosierende Cholangitis werden zu den immunologisch ausgelösten Erkrankungen des Leber-Galle-Systems gerechnet. Während die primär biliäre Zirrhose (PBC) vor allem bei Frauen auftritt, überwiegen bei der primär sklerosierenden Cholangitis (PSC) die Männer. Bei beiden Erkrankungen kommt es infolge entzündlicher Veränderungen an den kleinen (PBC) bzw. an den größeren (PSC) Gallengängen zu mehr oder weniger schwergradigen Lebererkrankungen bis hin zum Vollbild der Zirrhose. Die Behandlung der PBC und der PSC erfolgt mit Ursodesoxycholsäure. Im Endstadium ist nicht selten eine Lebertransplantation erforderlich. Spezifische sozialmedizinische Beurteilung. Die Be-
urteilung der Leistungsfähigkeit richtet sich wie bei den chronischen Virushepatitiden nach dem Ausmaß der Leberschädigung und der Auswirkung der meist unspezifischen Beschwerden auf die tägliche Aktivität und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. . Abb. 16.2 gibt einen Überblick über die sozialmedizinische Einschätzung der Leistungsfähigkeit bei Autoimmunhepatitis.
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380
Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
. Abb. 16.1 Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben bei chronischer Hepatitis [10] (typischer Ablauf, keine Einzelfallbeschreibung)
Person mit chronischer Hepatitis
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Ausprägung der Leberkrankheit [Konjugations-, Synthese-, Exkretionsleistung) subjektives Beschwerdeausmaß Tagesablauf, Freizeitverhalten körperliche Dauerbelastbarkeit therapeutische Möglichkeiten Nebenwirkungen von Therapien Gefährdung anderer im Rahmen der Berufsausübung Suchtproblematik
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bei viraler Hepatitis: ausmaß der Virusreplikation, Genotyp, Verträglichkeit der Medikation
16 körperlich leichte Arbeit
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bei Hepatitis B oder C mit > 103 Copies/ml keine Tätigkeit im medizinischen Bereich mit hohem Übertragungsrisiko
bei chronischer Müdigkeit
hohe entzündliche Aktivität (Grading 3−4) + signifikant erhöhte Transaminasenaktivität
je nach neurologischpsychiatrischer Begutachtung
körperlich leichte Arbeit
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Leistungsfähigkeit 3 bis 6 h
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Leistungsfähigkeit 6 h und mehr
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körperlich mittelschwere Arbeit
Medizinische Rehabilitation bei Autoimmunhepatitis.
Bei den immunologisch ausgelösten Leberschäden sind Leistungen zur Rehabilitation häufig besonders wirksam. Sie dienen dann auch der Überwachung und eventuell Neugestaltung der immunsupprimierenden Therapie. z
Leberzirrhose
Chronische Leberkrankheiten können nach langjährigem Verlauf in eine Leberzirrhose münden. Die Leber verliert ihren normalen Läppchenaufbau, es kommt zur Durchsetzung der Leber mit Bindegewebe. Äußerlich erkennbar ist ein knotiger Umbau mit zunehmendem Verlust an wirksamem Parenchym. Durch die strukturellen Veränderungen in der Leber wird der Blutfluss über die Pfortader mehr oder weniger blockiert. Es kommt zum Pfortaderhochdruck mit gefürchteten Folgen wie Vergrößerung der Milz (Splenomegalie) und Bildung von Ösophagusvarizen. Durch Ruptur der Varizen treten lebensbedrohliche Blutungen auf. Die Blutungsgefahr aus den Varizen kann durch lokale Maßnahmen (Sklerosierung, Ligatur) und/oder medikamentös (Betablocker) reduziert werden. Die Vergrößerung der
Leistungsfähigkeit unter 3 h
Milz wirkt sich auf das Blutbild aus (Thrombozytopenie, Leukozytopenie). Durch die anatomischen Veränderungen der Leber kommt es zum Austritt von Flüssigkeit in den Bauchraum (Aszites). Aufgrund der Reduzierung des wirksamen Parenchyms der Leber ist die Synthese wichtiger Proteine eingeschränkt. Hierzu zählen Cholinesterase, Albumin und Gerinnungsfaktoren. Letzteres begründet eine gesteigerte Blutungsgefahr. Die gestörte Entgiftungsfunktion der Leber äußert sich in einer Erhöhung des Ammoniakspiegels im Blut. Dies wiederum ist einer der Gründe für die leberbedingte Einschränkung der Hirnleistung (hepatische Enzephalopathie). Es besteht aber keine strenge Korrelation zwischen der Höhe des Ammoniakspiegels und dem Ausmaß der Enzephalopathie. Spezifische sozialmedizinische Beurteilung. Es ist all-
gemein üblich, die Leberzirrhose nach dem Child-PughSchema in drei Stadien einzuteilen (. Tab. 16.10). Liegt eine kompensierte Leberzirrhose Child A vor (normale Gerinnungswerte und Serumalbumin, sowie
381 16.2 · Krankheitsbilder
. Abb. 16.2 Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben bei Autoimmunhepatitis (AIH) [10] (typischer Ablauf, keine Einzelfallbeschreibung)
Person mit Autoimmunhepatitis
In Abhängigkeit von Ausmaß von Symptomatik und Leberschädigung Auswirkungen der Beschwerden auf Aktivitäten und Teilhabe Nebenwirkungen und Verlauf einer immunsuppressiven Medikation Funktionsstörungen einbezogener anderer Organe (Gelenke, Schilddrüse, Haut)
Therapie
fehlender Therapieerfolg Therapieerfolg
körperlich leichte Arbeit
körperlich mittelschwere oder schwere Arbeit
Leistungsfähigkeit 6 h und mehr
Leistungsfähigkeit 3 bis unter 6 h oder unter 3 h
. Tab. 16.10 Schema zur Klassifizierung der Leberzirrhose nach Child [25] Child A
Child B
Child C
Bilirubin < 2 mg/dl
Bilirubin 2–3 mg/dl
Bilirubin > 3 mg/dl
Albumin > 3,5 g/dl
Albumin 3–3,5 g/dl
Albumin < 3 g/dl
Kein Aszites
Behandelbarer Aszites
Aszites
Keine Enzephalopathie
Beeinflussbare Enzephalopathie
Enzephalopathie
Guter Ernährungszustand
Reduzierter Ernährungszustand
Schlechter Ernährungszustand
höchstens geringe Transaminasenerhöhungen) mit sonographisch nachweisbarem Pfortaderhochdruck ohne Aszitesbildung, können körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten ausgeübt werden. Bei der Leberzirrhose im Stadium Child B hängt das Leistungsvermögen davon ab, in wieweit eine Rückbildung in das Stadium Child A möglich ist. Bei irreversiblem Child B-Stadium und im Child C-Stadium liegt die Leistungsfähigkeit im Allgemeinen unter 3 Stunden täglich.
Therapiewechsel
Arbeitsunfähigkeit oder Leistungsfähigkeit unter 6 h
Es ist zu berücksichtigen, dass alkoholbedingte Zirrhosen sich unter Alkoholkarenz völlig stabilisieren können. Für berufliche Tätigkeiten mit hoher Anforderung an die Konzentrationsfähigkeit (auch z. B. mit der Notwendigkeit, zeitlich ausgedehnt ein Kraftfahrzeug zu führen) kann die Enzephalopathie zum entscheidenden limitierenden Aspekt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass frühe Stadien der Enzephalopathie (minimale Enzephalopathie) bei der klinischen Untersuchung nicht unbedingt auffallen und eventuell nur mit differenzierten psychometrischen Tests erfasst werden können. . Abb. 16.3 gibt einen Überblick über die sozialmedinische Einschätzung der Leistungsfähigkeit bei Leberzirrhose. Medizinische Rehabilitation bei Leberzirrhose. Rehabilitationsleistungen sind in allen Zirrhose-Stadien angezeigt und sehr wirksam. Unter stationären Bedingungen gelingt es, eine angemessene Ernährung z. B. mit Kontrolle der Proteinzufuhr zu etablieren. Durch Hirnleistungstraining können bei minimaler Enzephalopathie Verbesserungen erreicht werden. z
Speicherkrankheiten
Hierzu zählen die Hämochromatose und die WilsonKrankheit (Morbus Wilson). Die Hämochromatose ist
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382
Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
Person mit Leberzirrhose
16 16 16 16
Child A Fibrosegrad 4, keine Koagulopathie, Serum-Albumin normal, Transaminasenaktivität gering erhöht, sonografisch portale Hypertension, kein Aszites
Child B mit Rückbildung in Child A (kompensierte portale Hypertension, AszitesReversibilität, Rückbildung Gerinnungsstörung und Enzephalopathie)
Child B irreversibel oder Child C
. Abb. 16.3 Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben bei Leberzirrhose [10] (typischer Ablauf, keine Einzelfallbeschreibung)
16 16
körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten
+ Ösophagusvarizen
+ Ösophagusvarizenblutung
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keine Tätigkeit mit intraabdomineller Druckerhöhung
INR 1,7 −2,3, TPZ 40−70%, Thrombozyten: < 50.000
+ ÖsophagusvarizenRezidivblutung keine Arbeiten mit erhöhter Verletzungsgefahr
16 16
Leistungsfähigkeit 6 h und mehr
Leistungsfähigkeit unter 3 h
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wesentlich häufiger als die Wilson-Krankheit. Bei der Hämochromatose kommt es in Folge einer gesteigerten Eisenresorption aus dem Darm zu einer Eisenüberladung der inneren Organe. Neben der Leber sind auch Gelenke, Herz und endokrine Organe betroffen. Unbehandelt entwickelt sich die Hämochromatose zur Leberzirrhose und nicht selten zum Leberkrebs. Bei der Wilson-Krankheit handelt es sich um eine Ausscheidungsstörung für Kupfer, das in der Leber, aber auch im Nervensystem abgelagert wird. Während in den Laboruntersuchungen bei der Hämochromatose die Werte für Eisen und Ferritin erhöht sind, findet man bei der Wilson-Erkrankung einen erniedrigten Gesamt-Kupferwert im Serum und eine Erhöhung des freien Kupfers. Die Behandlung der Hämochromatose erfolgt mit Aderlässen (bei sekundären Eisenüberladungskrankheiten mit Desferal bzw. mit dem seit kurzem eingeführten, oral applizierten Desferasirox). Die Wilson-Krankheit wird mit dem Chelatbildner D-Penicillamin (bzw. bei Unverträglichkeit mit Trientine) behandelt. In der Langzeittherapie kann Zink eingesetzt werden.
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Spezifische sozialmedizinische Beurteilung. Bei der
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Hämochromatose steigt das Risiko mit dem Ausmaß der Eisenbelastung. Im präzirrhotischen Stadium ist die Be-
lastbarkeit für körperlich leichte und mittelschwere Arbeiten nicht wesentlich eingeschränkt. Bei der Wilson-Krankheit sind neben der Lebermanifestation Auswirkungen auf andere Organsysteme (insbesondere auf das Zentralnervensystem) zu berücksichtigen. Medizinische Rehabilitation bei Hämochromatose und Morbus Wilson. Rehabilitationsleistungen kommen in
den verschiedenen Stadien der Speicherkrankheiten in Frage. Die spezifische Therapie kann fortgesetzt und eventuell gesteuert werden. Eine eisenreduzierte Diät ist nicht erforderlich. Bei der Wilson-Erkrankung kann eine Schulung hinsichtlich kupferreduzierter Ernährungsweise sinnvoll sein.
Lebertransplantation Nach einer Lebertransplantation muss zunächst eine Rekonvaleszenz von mindestens sechs Monaten abgewartet werden, bevor die Leistungsfähigkeit beurteilt werden kann. Dabei sind die Leistungsfähigkeit der Transplantatleber, Komplikationen durch Abstoßungsreaktionen und Nebenwirkungen der erforderlichen Dauermedikation mit Immunsuppressiva zu berücksichtigen. Bei komplikationslosem Verlauf können körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten verrichtet werden. Tätigkeiten mit gesteigertem Infektionsrisiko kommen
383 16.2 · Krankheitsbilder
nicht mehr in Frage. Während in der Frühphase (sechs Monate postoperativ) noch eine gesteigerte Infektanfälligkeit anzunehmen ist, unterscheidet sich in der Phase der Erhaltungstherapie das Infektionsrisiko nicht wesentlich von dem der Normalbevölkerung. Es besteht daher auch keine Notwendigkeit, Menschenansammlungen (Kino, Konzert, Kaufhaus) oder Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu vermeiden. Für die sozialmedizinische Beurteilung ist daher bedeutsam, dass die Wegefähigkeit nicht eingeschränkt ist. Patienten mit Lebertransplantation sollten im Rahmen der Anschlussrehabilitation (AHB) rehabilitiert werden. Späterer Rehabilitationsbedarf richtet sich nach dem Verlauf im Einzelfall.
Fokale Leberläsionen Hepatozelluläre Karzinome (HCC). In Deutschland er-
kranken etwa 6.000 Menschen pro Jahr an einem hepatozellulären Karzinom (HCC, Leberkrebs; Angaben der Deutschen Krebsgesellschaft), am häufigsten zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr. Das Verhältnis Männer : Frauen beträgt 2 : 1. Die Leberzirrhose stellt den Hauptrisikofaktor für das HCC dar; in über 90 % entsteht es in einer zirrhotisch umgebauten Leber. Deren Ursache kann vielfältig sein und z. B. auf einer chronischen Virushepatitis B und C, auf einer Hämochromatose oder auf einem nutritiv-toxischen Umbau basieren. In Abhängigkeit von der Tumorlokalisation und -ausdehnung sowie dem Stadium der Lebergrunderkrankung kommen verschiedene Therapieansätze zur Anwendung: Bei einer nicht zirrhotischen Leber besteht die Therapie der Wahl in der Leberteilresektion. Bei nicht operablen Tumoren haben sich verschiedene minimal-invasive Verfahren der Tumor-Ablation bewährt. Sowohl die Leberteilresektion als auch manche Ablationsverfahren (perkutane Ethanolinjektion = PEI, radiofrequenzinduzierte Thermotherapie = RFITT) werden, insbesondere wenn der Tumor nicht größer als 3 cm ist, mit kurativer Zielsetzung eingesetzt. Das gilt auch für die in Einzelfällen bei HCC durchgeführte Lebertransplantation. Als palliative Maßname wird die transarterielle Chemoembolisation (TACE, über versorgende Äste der A. hepatica propria) oder auch die medikamentöse (orale) Therapie mit Tyrosinkinase-Inhibitoren (Sorafenib) durchgeführt. Sie verlängern das Überleben allerdings nur um wenige Monate. Die Prognose ist bei großen Tumoren schlecht, die mittlere Überlebensdauer nach Diagnosestellung beträgt ca. sechs Monate. Bei kleineren HCC beträgt die mittlere Überlebensdauer nach 1, 2 und 3 Jahren 81%, 56 % und 28 % [26].
Lebermetastasen. Lebermetastasen treten im Rahmen
extrahepatischer Tumorerkrankungen auf. Sie sind die häufigste Form maligner Lebertumoren und signalisieren ein fortgeschrittenes Tumorstadium. Die Behandlung und Prognose von Lebermetastasen hängt von deren Anzahl und Größe, von der Art und Ausbreitung des Ursprungstumors sowie vom allgemeinen gesundheitlichen Zustand des Betroffenen ab. Solitäre Metastasen sind eher selten. Sofern vorhanden, können sie in Abwesenheit weiterer Metastasen mit kurativer Zielsetzung reseziert werden. Meistens treten im Rahmen der Grunderkrankung multiple Lebermetastasen auf. Bei manchen Tumorentitäten (sehr selten, z. B. beim Hodenkarzinom) sprechen Metastasen auf eine systemische Chemotherapie an. Die übrigen vielfältigen Behandlungsmöglichkeiten von Leberfiliae (wie z. B. die Chemoembolisation, die laserinduzierte interstitielle Thermotherapie LITT oder die Kryo- bzw. Thermotherapie) führen eher zu unbefriedigenden Therapieergebnissen und haben palliativen Charakter.
Krankheiten der Gallenblase und der Gallenwege z
Gallenwegserkrankungen
Sozialmedizinische Bedeutung haben lediglich die primär biliäre Zirrhose (PBC), die im Frühstadium als chronisch nicht eitrige destruierende Cholangitis (CNDC) auftritt, bzw. die primär sklerosierende Cholangitis (PSC). Letztere tritt gehäuft zusammen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (insbesondere Colitis ulcerosa) auf. Bei dieser Konstellation sind häufig umfassende Rehabilitationsleistungen angezeigt. Spezifische sozialmedizinische Beurteilung. Bei PBC
kann es durch Ikterus und ausgeprägten Juckreiz mit imperativem Drang zum Kratzen zu einer Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit mit daraus folgender Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit kommen. Darüber hinaus gelten die Beurteilungskriterien, wie sie bei den Stadien Child A–C der Leberzirrhose genannt sind. Für die Leistungsbeurteilung bei PSC sind vorrangig Dauer und Ausmaß der Cholestase unter Einschluss der klinischen Symptomatik zu berücksichtigen, ggf. auch die Folgen der Malabsorption. Wenn ein Pruritus therapeutisch nicht zu beeinflussen ist, dann kann – unabhängig vom Auftreten einer Leberzirrhose – eine Minderung der Dauerbelastbarkeit auch für eine körperlich leichte Tätigkeit resultieren. z
Cholelithiasis
Im Durchschnitt haben 10–15 % der Bevölkerung Gallensteine, im 7. Lebensjahrzehnt sind es 46 %. Symptomatisch werden Gallensteine bei 25 % der Träger. Gefürchtete
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Komplikationen sind Verschlussikterus, eitrige Cholangitis sowie akute oder rezidivierende Pankreatitis. Die Behandlungsmöglichkeiten wie Litholyse, endoskopische oder operative Therapie sind fortgeschritten, so dass dauerhafte Leistungseinschränkungen im Erwerbsleben nur ausnahmsweise vorkommen.
Monaten auszugehen. Strahlentherapie und Chemotherapie sind palliative Maßnahmen.
z
Chronische Pankreaserkrankungen sind relativ selten (Inzidenz 2–9/100.000), haben aber eine hohe sozialmedizinische Relevanz. Zusätzlich zu den in 7 Kap. 16.1.4 beschriebenen Leitsymptomen wie Durchfall, Bauchschmerz oder Schwäche leiden an der Bauchspeicheldrüse Erkrankte oft auch unter Rückenschmerzen. Weitere Symptome ergeben sich infolge der exokrinen (s. u.) bzw. endokrinen Insuffizienz mit der Ausbildung eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus (7 Kap. 12.2.1).
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Postcholezystektomie-Syndrom
Als Postcholezystektomie-Syndrom werden verschiedene Beschwerden zusammengefasst: Operationsfolgen, intraoperativ unbehandelte Befunde an Gallenwegen oder Nachbarorganen und trotz Cholezystektomie fortbestehende funktionelle Beschwerden. Je nach Intensität der prä- und postoperativen Diagnostik überwiegen die letzteren. Keinesfalls kann eine Leistungseinschränkung allein mit einem Postcholezystektomie-Syndrom begründet werden.
16.2.4
Krankheiten des Pankreas Christoph Reichel, Eberhard Zillessen
z
z
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Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
Funktionelle Hyperbilirubinämie
Eine Reihe angeborener Enzymdefekte führt zu unkonjugierten sowie konjugierten Hyperbilirubinämien als Folge von Glukuronidierungs- oder Exkretionsstörungen von Bilirubin. Am häufigsten ist das Gilbert-Syndrom, das 3–7 % der Bevölkerung betrifft. Es handelt sich möglicherweise nicht um ein einheitliches Syndrom. Bisher wurde ein autosomal-dominanter Erbgang mit variabler Penetranz angenommen. Pathogenetisch liegen Veränderungen der UDP-Glukuronyltransferase zu Grunde. Die Hyperbilirubinämie steigt nach Infektionen durch Fasten oder Stress, bei Frauen oft prämenstruell an. Normale Laborbefunde hinsichtlich Hämatopoese, Hämolyse und Lebererkrankungen sind typisch. Provokations- und Induktionstests sind in der Regel verzichtbar. Bilirubinwerte im Serum von 3–5 mg/dl werden selten überschritten. Es ist fraglich, ob dem Gilbert-Syndrom überhaupt Symptome zugeordnet werden können. Die Prognose ist gut, eine Therapie nicht erforderlich. Leistungsvermögen sowie Lebenserwartung entsprechen der Normalpopulation. z
Cholangiozelluläre Karzinome
In Deutschland erkranken etwa 5.000 Menschen pro Jahr an einem cholangiozellulären Karzinom, das entspricht 0,5 % aller malignen Tumoren. Wichtigster Risikofaktor für das Gallenblasenkarzinom sind Gallensteine, für das Gallenwegskarzinom die primär sklerosierende Cholangitis. Therapie der Wahl ist die komplette operative Resektion. Sie ist aber nur in den frühen Stadien bzw. bei lokal begrenzten Tumoren (z. B. Gallenblase) möglich. Nur dann (selten, in etwa 30 % der Fälle) besteht eine kurative Zielsetzung. Im Allgemeinen erfolgt die Diagnosestellung im fortgeschrittenen Stadium, so dass diese Tumorentität prognostisch sehr ungünstig ist. Bei nichtresektablen Tumoren ist von einer mittleren Überlebenszeit von 6–8
Diagnostik Bei der klinischen Untersuchung ist auf Mangelerschei-
nungen, Minderung der Muskelmasse und -kraft zu achten. Eine Kombination der chronischen Pankreatitis mit anderen toxischen Krankheiten (Polyneuropathie, Leberzirrhose, organische Hirnschäden), mit der peptischen Ulkuskrankheit und mit unfallbedingten Verletzungen ist häufig [3]. Die Labordiagnostik beschreibt über Fermentanstiege (Serum-Amylase, -Lipase) die Gewebsnekrosen, mittels der Bestimmung von Stuhlelastase oder Stuhlfettausscheidung die exokrine Insuffizienz. Der sensitivere PankreozyminSekretin-Test kommt in der Routinediagnostik nur noch selten zum Einsatz. Orlistat, ein selektiver Lipasehemmer, kann eine Steatorrhö vortäuschen. Blutzuckerbestimmung, das HbA1c und ein oraler Glukosetoleranztest klären die endokrine Insuffizienz. Auf einen Alkoholabusus lässt sich indirekt über die Bestimmung von Gamma-GT, Triglyceride und MCV schließen. Bei der Tumorsuche ist das CA 19-9 im Serum zwar sensitiv, aber nicht sehr spezifisch. Die bildgebenden Verfahren spielen für die Artdiagnose, die Prognose, bei Komplikationen und für die Therapieplanung heute eine wesentliche Rolle: Sonographie, Spiral-CT und MRT (einschl. MRCP) haben die sensitivere ERCP für diagnostische Fragestellungen mehr und mehr verdrängt. z Begutachtungskriterien Schmerzen. Rezidivierende akute
Pankreatitisschübe und die chronische Pankreatitis führen zu intermittierenden und chronischen abdominellen Schmerzzuständen, die sich durch Nahrungszufuhr verstärken können. Der zeitliche Verlauf und die Intensität dieser Schmerzepisoden, welche zu häufigen Arbeitsunfähigkeitszeiten führen können, sind ein wesentliches Kriterium für die Leistungsbeurteilung.
385 16.2 · Krankheitsbilder
Ernährungszustand. Der Ernährungs- und Kräftezu-
stand ist bei der chronischen Pankreatitis häufig limitierend für das Leistungsvermögen; vgl. hierzu auch 7 Kap. 16.1.4. Exokrine Pankreasinsuffizenz (. Tab. 16.11) .
. Tab. 16.11 Ursachen einer exokrinen Pankreasinsuffizienz 5 Chronische Pankreatitis 5 Z. n. akuter, ausgedehnt nekrotisierender Pankreatitis 5 Pankreaskarzinom
Limitierend ist die Fettverdauung. Gewichtsabnahme, Schwäche, Durchfälle, Fettstühle und die Folgen einer Malabsorption fettlöslicher Vitamine wie Nachtblindheit (Vitamin A-Mangel), Osteoporose und Osteomalazie (Vitamin D-Mangel) oder seltener Gerinnungsstörungen (Vitamin K-Mangel) sind zu berücksichtigen. Eine Malalimentation nach Gastrektomie oder bei Alkoholabusus verschlechtert das klinische Bild. Die Substitution mit Pankreasenzymen muss in ausreichender Dosierung lebenslang beibehalten werden.
5 Stenose des Ductus pankreaticus
Endokrine Pankreasinsuffizienz. Sie manifestiert sich
5 Mukoviszidose (Diagnose in der Kindheit)
durch einen insulinpflichtigen Diabetes mellitus (pankreopriver D. m.), der infolge unregelmäßiger Nahrungsaufnahme und Maldigestion instabil bzw. schwierig einzustellen ist; vgl. hierzu auch 7 Kap. 12.2.1.
5 ZOLLINGER-ELLISON-Syndrom (Gastrinom, selten)
z
Sozialmedizinische Beurteilung
Einschränkungen ergeben sich individuell aus dem Gewichts- und Kräfteverlust, durch die Schmerzsymptomatik, möglicherweise durch einen insulinbedürftigen pankreopriven Diabetes mellitus. Es können dann Tätigkeiten mit Eigen- oder Fremdgefährdung, Absturzgefahr, Fahrund Steuertätigkeiten, Montage- und Schichtarbeit (insbesondere Dreifach-Schichtwechsel) nicht mehr ausgeführt werden. Generell sind die Einschränkungen für körperliche Arbeit häufig. Alkoholnahe Berufe wie Kellner, Gastwirt, Winzer oder Brauereiarbeiter sind zu meiden. Eine medizinische Rehabilitation kann zur Behebung von Stoffwechseldefiziten beitragen, eine adäquate Therapie einleiten und den Patienten hierfür schulen, ein Muskelaufbautraining beginnen und das Suchtverhalten beeinflussen. Akute Pankreatitis. Die Verlaufsformen der akuten
Pankreatitis reichen vom interstitiellen Ödem mit minimalen Fettgewebsnekrosen (ödematöse Pankreatitis) bis hin zu großen, konfluierenden Nekrosen und Blutungen (hämorrhagisch-nekrotisierende Pankreatitis). Ursachen sind Alkoholabusus, Gallensteine (biliäre Pankreatitis), aber auch Schock, Trauma, Medikamente, Hyperlipidämie, Hyperkalzämie oder Infektionen. Nicht selten bleibt die Ursache ungeklärt. Die Letalität ist mit 6 % hoch; sie steigt auf 10 % im Falle steriler und auf 15 % bei infizierten Nekrosen an [23]. Die Therapie bedarf einer Abstimmung zwischen intensivmedizinischen, internistischen, endoskopischen und chirurgischen Methoden. Operati-
5 Z. n. Resektionen des Pankreas 5 Magen-, Duodenal- oder Gallenwegsoperationen, die zu einer pankreatikobiliären Asynchronie führen, z. B. durch eine beschleunigte Passage oder aufgehobene Duodenalpassage 5 Kongenitaler Lipasemangel (sehr selten) 5 Genetische Pankreatitis (Varianten im Zystische-FibroseGen und andere hereditäre Pankreatitiden) 5 Tropische Pankreatitis
5 Sekundär bei systemischen Erkrankungen wie Lupus erythematodes, Hypertriglyceridämie, evtl. Hyperparathyreoidismus 5 Autoimmune Pankreatitis 5 Idiopathische Pankreatitis
onen erfolgen zur Drainage, als Resektion oder Nekrosektomie. Die biliäre Pankreatitis erfordert eine Sanierung der Gallenwege. Die erhebliche Leistungsschwäche nach Intensiv- oder operativer Behandlung bedarf häufig einer Anschlussrehabilitation. Sozialmedizinisch besonders relevant ist die akute alkoholtoxische Pankreatitis, da es sich hierbei in der Regel um den (ersten?) Schub einer chronischen Pankreatitis handelt. Dauerhafte Alkoholkarenz ist somit bereits ab diesem Zeitpunkt geboten und ein erstrebenswertes Rehabilitationsziel. Chronische Pankreatitis. Die chronische Pankreatitis verläuft schleichend progredient oder in rezidivierenden akuten Schüben. Die klinisch stumme Verlaufsform wird erst durch die Pankreasinsuffizienz auffällig. In ca. 70– 80 % liegt ein chronischer Alkoholabusus zugrunde, wobei keine Schwellendosis angegeben werden kann [2, 47]. Täglich 40 g Äthanol (2 Flaschen Bier) können als Ursache ausreichen. Jede vierte chronische Pankreatitis ist nicht alkoholinduziert. In letzter Zeit konnten genetische Risikofaktoren wie Varianten im Zystischen-Fibrose-Gen und seltenere Formen der hereditären Pankreatitis identifiziert werden. Weitere Ursachen können Stenosen des Ductus pankreaticus und die tropische Pankreatitis sein. Aber auch im Rahmen von systemischen Erkrankungen wie Lupus erythematodes, Hypertriglyceridämie und evtl. im
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Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
Rahmen eines Hyperparathyreoidismus kann eine akute oder chronische Pankreatitis auftreten. Die autoimmune und idiopathische Pankreatitis runden die vielschichtige Differentialdiagnose ab. Die Malalimentation mit Eiweißmangel und die Resorptionsstörung der fettlöslichen Vitamine prädisponieren zu Osteoporose und -malazie, seltener zu Ödemen, hämorrhagischer Diathese und Nachtblindheit. Die Patienten wirken oft vorgealtert. Infolge postprandialer Schmerzen kann eine sekundäre Anorexie auftreten. Viele dieser Patienten bedürfen einer dauerhaften und ausreichenden Schmerztherapie [27]. Nach 10jähriger Beobachtung wurden nur 47 % der Patienten mit chronischer Pankreatitis schmerzfrei [24]. Alkoholkarenz hatte weder Einfluss auf die Schmerzen noch auf die Progredienz der exokrinen Insuffizienz, verzögerte aber das Auftreten einer endokrinen Insuffizienz. Nach durchschnittlich 10jährigem Verlauf waren 15 % der Patienten arbeitslos und 25 % berentet, davon 11 % aufgrund ihrer Pankreatitis. Arbeitslose Patienten mit chronischer Pankreatitis waren zu 87 % alkoholabhängig. Wegen der hohen und frühzeitigen Gefährdung des erwerbsbezogenen Leistungsvermögens und wegen der komplexen somatischen wie psychosozialen Problematik ist der Rehabilitationsbedarf bei diesen Patienten sehr hoch [3, 35]. Pankreaskarzinom. Etwa 3 % aller Krebserkrankungen in Deutschland sind Pankreaskarzinome. Jährlich erkranken etwa 6.600 Frauen und 6.300 Männer [34]. Das mittlere Erkrankungsalter liegt mit 74 (Frauen) bzw. 67 Jahren (Männer) jeweils höher als für Malignome insgesamt. Die Überlebenszeit nach Diagnosestellung beträgt in der Regel nur wenige Monate. Als Risikofaktoren werden Rauchen und ein erhöhter Konsum an tierischen Fetten diskutiert. Die chronische Pankreatitis gilt als prädisponierende Erkrankung. Pankreasmalignome sind zu über 90 % Adenokarzinome, ganz überwiegend duktale exokrine Tumore. Deutlich seltener sind die azinären Tumore, Zystadenokarzinome und endokrinen Tumore. Ca. 70 % sind im Pankreaskopf lokalisiert. Insgesamt werden sie zumeist spät diagnostiziert und nur zu unter 5 % operativ geheilt. Die häufigsten Symptome sind Gewichtsverlust, Schmerzen (auch Rückenschmerzen), Ikterus, Dyspepsie und eine Diabetesmanifestation. Bei resektablen Tumoren ist die Operation Therapie der Wahl. Fortschritte einer adjuvanten wie palliativen Chemotherapie sind in den letzten Jahren zu verzeichnen. Während die technischen Möglichkeiten für eine Früherkennung (Sonographie, CT, ERCP, MRCP, PET) heute weit fortgeschritten sind, fehlen geeignete Marker für ein Screening [6]. Laborchemische Tumormarker sind erst bei größeren Tumoren sensitiv, das CA 19-9 ist zudem nicht sehr spezifisch.
Sozialmedizinische Einschränkungen ergeben sich aus den Folgen der Operation, einer begleitenden Chemotherapie und den psychischen Belastungen. Wegen der sehr hohen Rezidivraten auch nach R0-Resektion sollte die erwartete Leistungsfähigkeit zurückhaltend eingeschätzt werden. Ein inoperabler Tumor bei der Erstdiagnose, das Rezidiv nach Operation oder Metastasen bereits bei der Diagnose lassen eine baldige Aufhebung des Leistungsvermögens wegen allgemeiner körperlicher Schwäche erwarten.
16.2.5
Folgen operativer Eingriffe Christoph Reichel, Eberhard Zillessen
Vagotomie und Magenresektion. Durch pharmakologi-
sche und endoskopische Behandlungsmöglichkeiten der peptischen Ulkuskrankheit konnte die Anzahl erforderlicher Operationen des Magens deutlich reduziert werden. Die früher mit einer Vagotomie (Durchtrennung verschiedener Äste des N. Vagus) angestrebte Verminderung der Magensekretion, die zugleich häufig die Motilität der Oberbauchorgane negativ beeinflusste, wird heutzutage einfacher und besser mit Protonenpumpenhemmern erreicht. Operative Eingriffe am Magen sind weiterhin erforderlich bei Krankheitskomplikationen wie gastrointestinaler Blutung, Perforation oder Magenausgangsstenose. Je nach Grunderkrankung und Operationstechnik können Folgeerscheinungen auftreten, die sich in Gewichtsverlust, Erbrechen, Schmerzen und verschiedenen Darmstörungen äußern. Funktionsstörungen nach Magenresektion werden unter dem Begriff »Postresektionssyndrom« (englisch »Postgastrektomiesyndrom«) zusammengefasst, wobei der Begriff der Gastrektomie im Englischen weiter gefasst ist als im deutschen Sprachgebrauch. Dumping-Syndrom. Das Frühdumping-Syndrom ent-
steht durch ein rasches Einströmen von Ingesta aus dem Magen in den Dünndarm mit osmotischen und Dehnungseffekten, welche Kreislauf- und hormonelle Dysregulationen auslösen. Etwa 5–30 min postprandial kommt es zu Übelkeit, Hitzegefühl mit Schwitzen, Blutdruckabfall, Tachykardie, Aufstoßen, Völlegefühl, Erbrechen und Durchfällen. Das Spätdumping-Syndrom entsteht durch eine Hypoglykämie, die durch kohlenhydratinduzierte überschießende Insulinsekretion ausgelöst wird. Es ist seltener und verläuft meist weniger schwer. Die Beschwerden treten 60–180 min postprandial auf: Schwächegefühl, Kaltschweißigkeit, Müdigkeit, Hungergefühl, Somnolenz und Bewusstlosigkeit. Wichtig sind häufige kleine Mahlzeiten, ferner werden Resorptionsverzögerer wie Acar-
387 16.2 · Krankheitsbilder
bose und Guar eingesetzt, schlussendlich eine Umwandlungsoperation. Bei unzureichend behandeltem Dumping-Syndrom treten Tachykardien und Kollapszustände auf. Daher sind Tätigkeiten mit dem Risiko der Eigen- und Fremdgefährdung (Berufskraftfahrer), auf Leitern und Gerüsten, mit Absturzgefahr, an schnell laufenden und ungeschützten Maschinen, mit besonderen Anforderungen an Konzentration, Reaktionsvermögen und Ausdauer nicht durchführbar. Gastrektomie. Häufigster Grund für eine Gastrektomie (»totale Magenresektion«) ist ein Magenkarzinom. Ein Teil der Beschwerden ist Folge der Operationsradikalität mit Lymphadenektomie und der Entfernung benachbarter Organe oder Organteile. Die Beschwerden umfassen Appetitlosigkeit, Druck und Völlegefühl im Epigastrium, gehäuftes Luftaufstoßen, von der Nahrungsaufnahme abhängige Schmerzen, Sodbrennen, Schluckbeschwerden, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Früh- und SpätdumpingSyndrom sowie Untergewicht in bis zu 90 %. Dabei haben sich nur die Häufigkeit des Dumping-Syndroms und die der galligen Ösophagitis als abhängig vom gewählten Operationsverfahren erwiesen. Die metabolischen Folgen münden in Malnutrition (20–50 %), Osteomalazie (15–30 %) und Anämie (30–60 %). Zugrunde liegen eine wahrscheinliche Pankreasdysfunktion, eine Störung des enterohormonalen Zusammenspiels, eine beschleunigte Dünndarmpassage, eine bakterielle Besiedelung des oberen Intestinaltraktes, infolgedessen eine unzureichende Resorption fettlöslicher Vitamine sowie Resorptionsstörungen für Eisen und Vitamin B12. Eine sorgfältige Befunddokumentation ist erforderlich, angefangen mit dem OP-Bericht. Die obere Endoskopie ergibt oft behandlungsbedürftige pathologische Befunde. Die Beeinflussbarkeit vieler gastrektomiebedingter Beschwerden durch eine medizinische Rehabilitation ist mehrfach belegt. Die sozialmedizinischen Einschränkungen entsprechen denen nach Magenteilresektion und betreffen vorwiegend die körperliche und zeitliche Belastbarkeit. Die Möglichkeit für die Einnahme von Zwischenmahlzeiten muss bestehen. Folgen nach Magenresektion. Je nach operativer Entfernung oder Verlegung von Magen- oder Darmanteilen können sich Stenosen entwickeln, die zu krampfartigen Oberbauchschmerzen und schwallartigem Galleerbrechen eine halbe bis mehrere Stunden nach dem Essen führen können. Nach Magenresektion kann im Rahmen einer via falsa in die zuführende Schlinge gelangter Mageninhalt Völlegefühl verursachen, das sich nach Erbrechen von mit Galle vermischter Ingesta bessert. Nicht selten ist ein duodenogastraler Reflux nach Magenresektion, der von
morgendlichem Galleerbrechen begleitet sein kann, einhergehend mit epigastrischen Schmerzen. Verwachsungen. Jede Bauchoperation und jede Peritonitis hinterlässt Verwachsungen, die zu Schmerzen, Motilitätsstörungen, Subileus und Ileus führen können. Obwohl allgemein als Komplikation nach abdominalchirurgischen Eingriffen bekannt, gibt es bis heute keine diagnostischen und therapeutischen Standards für Verwachsungen. Der Überlappungsbereich zu somatoformen Störungen (siehe Reizdarm 7 Kap. 16.2.2) scheint groß zu sein. Mitunter bessert eine laparoskopische Adhäsiolyse nach sorgfältiger Indikationsstellung die Beschwerden. Nur nach wiederholten oder raumgreifenden Eingriffen, nach einer ausgedehnten Peritonitis oder nach mehrfachem Ileus können sich aus sozialmedizinischer Sicht Leistungseinschränkungen ergeben. Kurzdarmsyndrom. Ein
Kurzdarmsyndrom entsteht nach Entfernung ausgedehnter (etwa 50–80 %) bzw. hochspezialisierter Teile des Dünndarms, deren Funktion nicht von anderen Darmabschnitten übernommen wird. Im Vordergrund stehen Durchfall und Gewichtsabnahme. Nach anfänglicher parenteraler Ernährung ist in den meisten Fällen eine orale Ernährung mit nährstoffdefinierten Diäten, MCT-Fetten, Magensäureblockade, Substitution von Pankreasfermenten, Glutamin und Wachstumshormonen, Cholylsarcosin und Octreotid möglich. Postoperativ beginnt man mit isotoner Sondenkost parallel zur totalen parenteralen Ernährung. Es folgt ein systematischer Kostaufbau, der während einer anschließenden Rehabilitation geleistet werden kann. Bis zu zwei Jahre postoperativ ist noch eine Besserung der resorptiven Funktionen zu erwarten, weshalb eine befristete Leistungseinschränkung sinnvoll sein kann.
Kolonresektion. Resektionen selbst großer Anteile des
Dickdarms (Hemikolektomie) werden gut toleriert, solange der verbliebene Darm eine normale Resorptionskapazität aufweist. Eine Anastomoseninsuffizienz mit Fisteln oder Abszessbildung bzw. eine Stenose sind der endoskopischen oder erneuten chirurgischen Therapie zugänglich. Nach Resektion der Ileozökalklappe kann es zur bakteriellen Dünndarmbesiedlung und zum Gallensäurenverlustsyndrom kommen. Kolektomie. Kontinenzerhaltende Kolektomien können als subtotale Kolektomie mit ileorektaler Anastomose, als totale Proktokolektomie mit ileoanaler Anastomose oder mit Ileumpouch durchgeführt werden. Das Operationsverfahren richtet sich nach der Grundkrankheit und nach den technischen Möglichkeiten. Bei der ileorektalen Anastomose bleibt die Kontinenz erhalten und das Risiko von
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Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
Blasen- oder sexuellen Störungen ist gering. Allerdings wird die Rektumschleimhaut nicht selten zum Ausgangspunkt erneuter Adenome bzw. Kolitisschübe. Nach Entfernung des Rektums entfällt dessen Kontinenzfunktion. Die ileoanale Anastomose ohne Pouch führt daher oft zu Inkontinenz und perianalen Hautproblemen. Eine Alternative ist die ileoanale Pouch-Anastomose, mit der die Mehrzahl der Patienten kontinent ist. Probleme sind die operative Komplikationsrate von ca. 30 %, die anfängliche Inkontinenz vorwiegend bei Nacht, lokale Komplikationen im kleinen Becken in Form von Störungen der Sexualfunktion, der Blasenentleerung und am Dünndarm sowie das Risiko der unspezifischen »Pouchitis«. Sowohl bei der Ileorektostomie als auch beim ileoanalen Pouch ist langfristig mit 4–7 Stuhlentleerungen pro Tag zu rechnen. Zur Beurteilung von Durchfällen und Kräftezustand vgl. 7 Kap. 16.1.4. Ileostoma und Kolostoma. Die sozialmedizinischen
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Einschränkungen durch ein Enterostoma werden oft überschätzt. Ein gut platziertes und gepflegtes Kolostoma führt kaum zu einer sozialen oder beruflichen Einschränkung. Am ehesten belästigen Geräusche. Es ist auch kein hygienisches Problem, da ein Stoma in der Regel sorgfältiger gereinigt und gepflegt wird als der Anus. Im Vordergrund stehen Akzeptanzprobleme, pflegerische Probleme oder lokale Komplikationen. Für die Akzeptanz spielt die Grundkrankheit eine wichtige Rolle. Während ein Patient nach kompliziertem Verlauf einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung sich befreit fühlen kann, wird das Stoma des Tumorpatienten zum Symbol für die Lebensbedrohung. Der psychischen Belastung und der subjektiv erlebten Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit kommt bei der Begutachtung eine erhebliche Bedeutung zu. Die medizinische Rehabilitation bietet kompetente Stomatherapie und Hilfe zur Krankheitsbewältigung an. In der Beurteilung des Leistungsvermögens scheidet wegen der Prolapsgefahr Schwerarbeit aus, weiterhin Heben und Tragen von > 10 kg, Arbeiten in überwiegend gebückter Haltung, mit Wechselschicht, wenn dadurch Irrigationsabstände variiert werden müssen, Arbeitsplätze mit großer Hitzeentwicklung (z. B. Hochofen), wenn Schwitzen die Klebehaftung beeinträchtigt, Tätigkeiten, die die Benutzung einer Toilette über längere Zeit unmöglich machen, eventuell auch Akkord- oder Bandarbeit. Auch die Ausübung von Tätigkeiten mit Publikumsverkehr kann wegen auftretender Darmgeräusche und ggf. Gerüche eingeschränkt sein. Operative Eingriffe an der Leber. Zu operativen Eingriffen an der Leber siehe die Abschnitte zu Lebertransplantation und fokalen Leberläsionen/malignen Lebererkrankungen in 7 Kap. 16.2.3.
Gallenblase und Gallenwege. Als Frühkomplikationen
nach operativen Eingriffen an den Gallenwegen können eine Gallengangsleckage, Blutung oder akute Pankreatitis auftreten. Residual- oder Rezidivsteine sowie Gangstrikturen bedürfen der erneuten endoskopischen oder operativen Intervention, langfristig sind sie aus sozialmedizinischer Sicht wenig relevant. Zu Bauchwandhernien siehe 7 Kap. 16.1.4. Postcholezystektomie-Syndrom. Hierzu werden unterschiedliche Beschwerden wie Operationsfolgen, intraoperativ unbehandelte Befunde an Gallenwegen oder Nachbarorganen und trotz Cholezystektomie fortbestehende Beschwerden gezählt, die aus sozialmedizinischer Sicht allein nicht zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit führen.
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Kapitel 16 · Krankheiten des Verdauungssystems
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391
Krankheiten der Niere Emanuel Fritschka
17.1
Allgemeines – 392
17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.1.5
Sozialmedizinische Bedeutung – 392 Diagnostik – 394 Krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF – 396 Begutachtungskriterien – 397 Sozialmedizinische Beurteilung – 398
17.2
Krankheitsbilder – 400
17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5 17.2.6
Glomeruläre Erkrankungen – 401 Interstitielle Erkrankungen – 401 Tubuläre Erkrankungen – 401 Vaskuläre Erkrankungen – 403 Hereditäre Nierenerkrankungen – 403 Nierenbeteiligung bei Allgemeinerkrankungen – 404
17.3
Nierenersatztherapie – 405
17.3.1 17.3.2 17.3.3
Hämodialyse – 405 Peritonealdialyse – 407 Nierentransplantation – 408
Literatur – 409
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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392
Kapitel 17 · Krankheiten der Niere
17.1
Allgemeines
Krankheiten der Niere sind häufig und betreffen rund 10 % der Bevölkerung. Sie sind in der Regel progressiv und gehen mit einer typischen Abnahme der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit einher, die die Teilhabe am Erwerbsleben bedrohen. Dieses Kapitel befasst sich mit renoparenchymatösen Erkrankungen, also mit Störungen der Nierenfunktion, welche die Harnbildung, den Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalt, die Regulation von Blutdruck (Renin, Angiotensin) und Blutbildung (Erythropoetin) sowie den Kalzium-Phosphat-Stoffwechsel (Vitamin D) betreffen. Erkrankungen der ableitenden Harnwege und die Nierentumoren folgen in 7 Kap. 18. Die häufigsten Ursachen für chronische Nierenerkrankungen sind Diabetes mellitus und Gefäßerkrankungen. Mit der Zunahme von chronischen Erkrankungen wie Übergewicht, Diabetes mellitus und von Gefäßerkrankungen steigen jährlich die Zahlen von terminaler Niereninsuffizienz und chronischer Nierenersatztherapie wie Hämodialyse, Peritoneadialyse und von Patienten auf der Warteliste zur Nierentransplantation. Chronische Nierenerkrankungen im Prädiaylsestadium sind meist charakterisiert durch einen Abfall der Nierenleistung für mehr als drei Monate, oft verbunden mit Eiweißverlust im Urin. Chronische Nierenerkrankungen Eine chronische Nierenerkrankung besteht, wenn 1. ein Nierenschaden vorliegt und/oder 2. die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) für mehr als 3 Monate weniger als 60 ml/min/1.73 m2 beträgt. Die Diagnose »Nierenschaden« erfolgt anhand 4 pathologischer Veränderungen serologischer Nieren-Parameter, 4 pathologischer Urinbefunde, 4 auffälliger Befunde bei der Bildgebung.
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Nierenerkrankungen werden heute mit abnehmender Nierenleistung (gemessen anhand der Kreatinin-Clearance) in fünf Stadien eingeteilt (. Tab. 17.1). Die frühere Einteilung in kompensierte oder dekompensierte Niereninsuffizienz ist inzwischen überholt. Die Niereninsuffizienz wird oft erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Nierenfunktionsstörung diagnostiziert. Im Stadium 3 war nach einer neueren Untersuchung nur 12 % der Männer und 6 % der Frauen bewusst, dass sie eine Nierenkrankheit hatten, im Stadium 4 wussten nur 42 % der Betroffenen von ihrer Erkrankung [4]. Die meisten Nierenerkrankungen sind progredient und weisen oft eine charakteristische Abnahme der GFR pro Jahr auf. Eine frühestmögliche Intervention ist daher an-
gezeigt, um rechtzeitig einer Verschlechterung bis hin zur Dialysepflicht vorzubeugen oder sie zu verzögern. Zahlreiche beeinflussbare Risikofaktoren, wie Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen, beschleunigen zusätzlich den jährlichen Abfall der Nierenleistung. Eine Nierenmitbeteiligung kommt nach einer Erhebung in Deutschland bei Herzerkrankungen in 23 %, bei Bluthochdruck in 23 % und bei Diabetes mellitus in 15 % vor (Daten Disease Managementprogramm Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein 2008). Die häufigsten Ursachen für terminale Niereninsuffizienz in Deutschland sind in . Tab. 17.2 aufgeführt. Klassische Folgen von Nierenerkrankungen sind Leistungseinbußen durch anämie- und urämiebedingte muskuläre Schwäche, Belastungsdyspnoe, Überwässerung mit Oedemen, Appetitilosigkeit mit Malnutrition, polyneuropathiebedingte Schmerzen und unruhige Beine (restless legs syndrom). Psychische Störungen wie Müdigkeit, Konzentrationsschwäche und Depression sind häufig. Renale Osteopathie, Myopathie und Polyneuropathie schränken mit fortschreitender Niereninsuffizienz die Leistungsfähigkeit weiter ein. Begleitfaktoren wie akzelerierte Atherosklerose, Hypertonie, Überfunktion der Nebenschilddrüsen, Elektrolytstörungen, Azidose, Störungen des Immunsystems und erhöhte Verletzlichkeit der Haut können das Leistungsvermögungen zusätzlich beeinträchtigen und führen letztlich zu einer erhöhten Sterblichkeit. Für Nierenkranke ist daher das Risiko, vorzeitig zu sterben, 16-fach höher als dialysepflichtig zu werden. Die häufigsten Todesursachen von Dialysepatienten sind Herzinsuffizienz, Rhythmusstörungen und Herzinfarkt sowie Infekte, oft als Folge einer renalen Hypertonie und Linksherzhypertrophie. Eine rechtzeitige Rehabilitationsleistung zum Erhalt der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben in einer darauf spezialisierten Reha-Einrichtung sollte so früh wie möglich erwogen werden. Sollte der Kreatininwert z. B. schon über 3.0 mg/dl gestiegen sein, so ist nach eigenen Untersuchungen das Risiko für eine vorzeitige Berentung und damit für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben in den nächsten 1.000 Tagen im Vergleich zu nierenkranken Patienten mit einem Kreatininwert noch unter 3.0 mg/dl bereits signifikant erhöht [29].
17.1.1
Sozialmedizinische Bedeutung
Mit der Verschlechterung der Nierenleistung können sich Einschränkungen bei der Arbeitsschwere, Arbeitshaltung, Arbeitsorganisation und bei der psychischen Leistungsfähigkeit entwickeln, die die Erwerbsfähigkeit bedrohen. Normale Kreatinin-Werte schließen einen Nierenscha-
393 17.1 · Allgemeines
. Tab. 17.1 Stadien der chronischen Niereninsuffizienz in Abhängigkeit von der Kreatinin-Clearance bestimmt als glomeruläre Filtrationsrate (GFR) Kreatinin-Clearance GFR (ml/min/1.73 m2)
Prävalenz in %
ICD-10
1
Nierenschaden mit normaler GFR
≥ 90
1,78
N18.1
2
Nierenschaden mit geringer GFR-Abnahme
60–89
3,24
N18.2
3
Nierenschaden mit moderater GFR-Abnahme
30–59
7,69
N18.3
4
Nierenschaden mit ausgeprägter GFR-Abnahme
15–29
0,35
N18.4
5
Terminales Nierenversagen mit Diaylsepflicht
< 15
0,25
N18.5
Quelle: National Kidney Foundation Guidelines [27], US Renal Data System [28], Coresh et al. [4] Die GFR wurde mit der Modification of diet in renal disease (MDRD)-Formel berechnet [27].
. Tab. 17.2 Diagnoseverteilung bei terminaler Niereninsuffizienz (Prävalenz) Diagnose
Anteil in %
1
Diabetes mellitus Typ 2
24
2
Diabetes mellitus Typ 1
3
Glomerulonephritis
19
4
Vaskuläre Nephropathie
17
5
Interstiitielle Nephritis
12
6
Unbekannt
10
7
Zystennieren
7
8
Verschiedene
4
9
Systemerkrankungen z. B. Kollagenosen
3
Hereditäre Nierenerkrankungen
1
10
4
Quelle: U.Frei, H.-J Schober-Halstenberg, Nierenersatztherapie in Deutschland 2006/2007 http://www.bundesverband-niere.de/files/QuaSi-Niere-Bericht_2006-2007.pdf [6]
den nicht aus. Nach Ausfall von 50 % der normalen Nierenfunktion können die Serum-Kreatininwerte durchaus noch im oberen Normbereich liegen. Schwere Nierenerkrankungen mit ausgeprägter Proteinurie können mit noch normalen Nierenfunktionswerten einhergehen. Die erforderlichen Interventionen setzen bei vielen Patienten oft erst bei ausgeprägten Symptomen bzw. bei fortgeschrittener Nierenschädigung ein. Der Urinstatus sollte als Routinediagnostik bereits bei Jüngeren eingesetzt werden, um grobe Aufälligkeiten in der Urinzusammensetzung frühzeitig feststellen zu können. Die Prävalenz der Mikroalbuminurie wird für die Allgemeinbevölkerung mit 6 % bei Männern und mit 10 % bei Frauen angegeben [18]. Da Diabetiker mit über 30 %
den größten Anteil der Dialysepatienten ausmachen [6, 1], sind frühzeitige Nierenfunktionsuntersuchungen gerade bei diesen Patienten angezeigt. Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen haben eine deutlich erhöhte Morbidität und Mortalität, vor allem an Herz-Kreislauferkrankungen. Diese sind durch eine Reihe von Einflussfaktoren bedingt, die der Prävention und den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation z. B. durch Schulungsmodule zugänglich sind [7, 8, 9, 10, 11, 12, 13]. Nierenkranke weisen meist ein Bündel an begleitenden Risikofaktoren auf, wie z. B. renale Hypertonie, Mikroalbuminurie, Fettstoffwechselstörungen, Störungen des Vitamin D-, Calcium- und Phosphathaushalts mit Steigerung der Gefäßsteifigkeit, Koronarsklerose und eventueller Ausbildung einer renalen Osteopathie. Weitere Störungen betreffen bei fortgeschrittener Erkrankung Wasser- und Elektrolyt- sowie Säure-Basenhaushalt und die Blutbildung (Erythropoetinmangel). Viele Patienten mit Nierenerkankungen leiden unter begleitenden psychischen Störungen wie Depression, Müdigkeit und Störungen der Konzentration und Aufmerksamkeit, die einer besonderen Diagnostik und Therapie bedürfen. Rehabilitationsziele liegen besonders bei frühzeitigen Reha-Leistungen in bestmöglichem und langfristigem Erhalt der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit; sie sind abhängig vom Stadium der Nierenerkrankung, von bestehender Dialysepflicht oder von der Transplantatfunktion. Einige Rehabilitationsziele sind in . Tab. 17.3 abgebildet: Im Jahr 2009 wurden durch die Deutsche Rentenversicherung bei Nierenerkrankungen (N00–N19, N25–N29, Z49, Z94.0) 1.310 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und sonstige Leistungen zur Teilhabe abgeschlossen. Diese Leistungen betrafen 809 Männer und 501 Frauen. Es wurden 2009 alleine bei der Diagnose N18 (chronische Niereninsuffizienz) 1.290 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bewilligt. Ferner wurden in 2009 66 Leis-
17
394
Kapitel 17 · Krankheiten der Niere
17
. Tab. 17.3 Rehabilitationsziele bei chronischen Nierenerkrankungen
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1
Verminderung der physischen und psychischen Beeinträchtigungen (functioning)
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2
Verbesserung des positiven und negativen Leistungsbildes (activities)
3
Verbesserung der sozialen Integration (partizipation)
4
Anhebung der Lebensqualität der Patienten
5
Verhaltensmedizinische Intervention zum besseren Umgang mit der Erkrankung
6
Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, der Motivation und der Überzeugung, die Krankheit bewältigen zu können
7
Aufbau gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen und nierenverträglicher Ernährung
8
Stressabbau und Entspannung
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9
Therapie seelischer Reaktionen auf die chronische Nierenerkrankung
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10
Berufliche Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) initiieren
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tungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bei an der Diagnose N18 erkrankten Versicherten durchgeführt.
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17.1.2
Diagnostik
Vom Gutachter sind aktuelle Unterlagen des Patienten zu Diagnostik, Therapie und Verlauf einzubeziehen. Der allgemeine Ablauf einer Begutachtung (7 Kap. 5) wird bei Nierenkranken durch die folgenden speziellen Aspekte ergänzt. z
Anamnese
Nierenkrankheiten haben häufig eine jahrelange Vorgeschichte mit allmählich wachsender Funktionsstörung und treten oft in Kombination mit anderen Begleit- und Folgeerkrankungen auf. Im Rahmen einer sozialmedizinischen Begutachtung muss daher der Krankheitsverlauf anhand von Anamnese und Vorbefunden rekonstruiert werden. Hinweise auf eine Berufskrankheit z. B. durch Blei, Chrom, Quecksilber, Lösungsmittel oder Kohlenwasserstoffe sind vom Gutachter zu dokumentieren und dem Auftraggeber mitzuteilen. Bei Diabetikern wird neben der Dauer der Diabeteserkrankung besonders die positive Familienanamnese für Hypertonie und für diabetische Nephropathie vermerkt. Ebenso ist das Vorhandensein einer Retinopathie als weiterer Risikofaktor von Interesse.
Familiäre Erkrankungen. Autosomal dominant oder re-
zessiv vererbte polyzystische Nierenerkrankungen (ADPKD, ARPKD), die juvenile Nephronophthise (autosomal rezessiv), die medulläre Nierenerkrankung (Erwachsene, autosomal dominant), eine hereditäre Nephritis (AlportSyndrom) oder seltene Krankheiten wie Tuberöse Sklerose (Morbus Bourneville-Pringle), von Hippel-LindauSyndrom (in 75 % Zystennieren) oder ein Fabry-Syndrom (α-Galaktosidase-A-Mangel) sind mitunter bekannt und anamnestisch zu erfahren. Begleiterkrankungen. Hypertonie, Linksherzhypertrophie, KHK, Arteriosklerose, Schlaganfall; Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Gicht; Steinleiden; Autoimmunerkrankungen (Lupus erythematodes, Morbus Wegener, Vaskulitiden und andere Kollagenosen); Amyloidose z. B. bei Colitis; persistierende Viruserkrankungen wie Hepatitis und HIV; Streptokokkeninfektionen (Scharlach, Tonsillektomie, Zahnkrankheiten); paraneoplastische Nierenschäden, maligne Lymphome und monoklonale Gammopathien kommen als System- oder Begleitkrankheiten vor und müssen von toxischen Schäden durch Chemotherapien, Schwermetalle, Lösungsmittel, Medikamente usw. differenziert werden. Beschwerden. Häufig sind Koliken und Makrohämaturie
bei Zystennieren; Ödeme bei Eiweißverlust durch Proteinurie; extrarenale Symptome wie Knochen-, Gelenks- und Muskelschmerzen; Leistungsabfall, Müdigkeit, schlechter Appetit bei zunehmender Niereninsuffizienz; Übelkeit, gastrointestinale Beschwerden und Luftnot bei präterminaler Niereninsuffizienz. Hinzu kommen polyneuropathische Beschwerden; Erbrechen mit Elektrolytstörungen; Kopfschmerz und Sehstörungen bei Bluthochdruck; übermäßiger Durst infolge Polyurie; Nykturie, Pollakisurie; schäumender Urin; ein auffälliger Gewichtsverlauf bei Exsikkose oder Wassereinlagerung bzw. Ödemen; Kratzeffekte und Hautjucken bei Urämie oder allergischer Vaskulitis sowie Fieber bei verschiedenen Systemerkrankungen weisen auf eine Nierenkrankheit hin. Eine Belastungsdyspnoe kann bei Anämie oder Überwässerung bzw. beim reno-pulmonalen Syndrom (Morbus Wegener) oder Asthma bronchiale mit Eosinophilie (Churg-StraussSyndrom) auffallen. Medikamente. Zahlreiche Medikamente können bei chronischem Gebrauch Nierenschäden hervorrufen, unter anderem Analgetika, Antirheumatika, Goldverbindungen, D-Penicillamin. z
Körperliche Untersuchung
Zu achten ist auf Ernährungszustand, Ödeme, Klopfschmerz der Nierenlager und Zeichen wie Sattelnase
395 17.1 · Allgemeines
(M. Wegener), Minderwuchs, Dysplasien, Augenschäden (Skleritis, Katarakt), Hautveränderungen (Petechien, braune Färbung bei Analgetikanephropathie), Zahnstatus, Mundsoor bei Immunsuppression, Gichttophi, Schwerhörigkeit bei Alport-Syndrom. Große Zystennieren lassen sich eventuell tasten. Erkrankungen von Herz, Kreislauf, Lunge, Gastrointestinaltrakt, Leber, Milz und Lymphknoten sowie des Zentralnervensystems und des Stütz- und Bewegungssystems im Zusammenhang mit Nierenerkrankungen müssen beachtet werden. Auf folgende renale Risikofaktoren ist besonders auch bei Diabetikern zu achten: 4 Bluthochdruck 4 Erhöhter Body-Mass-Index 4 Tabakkonsum 4 Albuminausscheidungsrate 4 Hyperlipidämie – hohe LDL-Werte; – niedrige HDLWerte 4 Hyperglykämie z
Labordiagnostik
Wichtig ist es, den Verlauf der Laborbefunde zu rekonstruieren, z. B. den Kreatininverlauf der letzten Jahre (stabil oder progredient?). Im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung sollte in erster Linie auf die Ergebnisse vorangegangener Untersuchungen zurückgegriffen werden, wie sie nachfolgend aufgeführt werden. Blut. Blutbild, Kreatinin, Harnstoff, Glukose, Kalium,
Kalzium, Phosphat, Harnsäure, Blutgase, Gesamt-Eiweiß, Elektrophorese. Bei Diabetikern sind Blutzucker und HbA1c-Konzentration zusätzlich wichtig. Typische nephrologische Laborbefunde wie Kollagenoseparameter, C3/C4, C3-Nephritisfaktor, anti-Basalmembranantikörper, IgA im Serum etc. sollten zusätzlich mitgebracht werden. Die Nierenfunktion lässt sich über das Serum-Kreatinin nur ungenau abschätzen. Daher wird empfohlen, diese nach der MDRD-Formel in die glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) umzurechnen (siehe . Abb. 17.1). Viele Labore geben inzwischen mit dem Kreatininwert die errechnete (eGFR) nach der MDRD-Formel an [19]. Bei einem leicht erhöhten Serum-Kreatininwert von 1,4 mg/dl kann danach die GFR bereits um ca. 30–50 % vermindert sein. Immunologie: Komplementfaktoren, ANA, ANCA, anti-Basalmembran-AK, ssDNA, Cardiolipin-Ak sind bei V. a. Systemerkrankungen und bei unklaren Glomerulonephritiden zusätzlich heranzuziehen. Urin. Urinstatus (Streifentests): Nachweis von Erythrozyten und Leukozyten. Sediment: Geformte Urinbestandteile wie Zylinder und Kristalle.
GFR (mg/dl) = 186 × SerumCr −1,154 × Alter −0,203 × (1,212 falls schwarze Hautfarbe) × (0,742 falls Frau) GFR (μmol/l) = 32788 × SerumCr −1,154 × Alter −0,203 × (1,212 falls schwarze Hautfarbe) × (0,742 falls Frau) Die Formel sollte nicht bei akutem Nierenversagen verwendet werden.
. Abb. 17.1 Berechnung der GFR mit der MDRD-Formel für GFR in mg/dl bei chronischer Niereninsuffizienz Quelle: Levey AS. Ann Intern Med (1999);130(6) 461–7016 Am J Kidney Dis 2002 (39) (2 suppl 1): S1–266 Am J Kidney Dis 2008 (51)(2) 346
Quantitative Zellausscheidung, z. B. Addis-Count: Hier gilt eine Erythrozyturie über 3.000/min als pathologisch. Phasenkontrast-Mikroskopie: Akanthozyten (deformierte Erythrozyten) bei glomerulärer Schädigung. Bakteriologie: Uricult. 24-Stunden-Urin: Bei Steinträgern lassen sich Oxalate, Kalzium, Phosphat, Harnsäure nachweisen. Auch Schwermetalle wie Blei lassen sich im Urin nachweisen. Proteinurie: Eine Proteinurie ab 250 mg/24 h mit üblichen Teststreifen sollte weiter abgeklärt werden, da sie auf eine Schädigung der glomerulären Basalmembran hinweist. Eine Mikroalbuminurie besteht ab 30 mg/24 h und ist durch spezielle Teststreifen (z. B. Mikraltest, Albustix) nachweisbar. Eine Proteinurie ab 3,5 g/24 h definiert ein nephrotisches Syndrom. Die Differenzierung der Urineiweiße durch Gelelektrophorese oder Nephelometrie gibt weiteren Aufschluss über einen glomerulären bzw. tubulären Schaden. Ein Marker für tubuläre Schäden sind auch das alpha1- und das β2-Mikroglobulin. Es besteht ein Zusammenhang zwischen systolischem Blutdruck und Albuminausscheidung, der beachtet werden sollte. z
Bildgebende Verfahren
Sie dienen in erster Linie der klinischen Diagnostik und Therapiekontrolle und ergänzen die körperliche Untersuchung. Nierensonographie: Nierengröße, Parenchymbreite, Zysten, Aufstau, Tumoren, Steine. Farbduplex-Sonographie: Nachweis einer intra- oder extrarenalen arteriellen oder venösen Durchblutungsstörung. Intravenöses Urogramm: Nachweis von Abflussstörungen. Nierenszintigraphie: Bei einseitiger Schrumpfniere Messung der Restnierenleistung. Angio-NMR: Nachweis einer Nierenarterienstenose z. B. bei Verdacht auf renovaskuläre Hypertonie oder Niereninfarkte. Angiographie: Diagnostik und Therapie (PTA, Stent) einer Nierenarterienstenose (Goldstandard).
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z
Kapitel 17 · Krankheiten der Niere
Nierenbiopsie
Bei potentiell therapierbaren Nierenkranken bzw. bei Abfall der Transplantat-Funktion durch Abstoßung oder bei Verdacht auf rekurrierende Erkrankungen sollte durch den behandelnden Nephrologen zur histologischen Diagnosesicherung und zur Abschätzung der Prognose eine Nierenbiopsie durchgeführt werden. Bei Verdacht auf Berufskrankheiten z. B. sekundäre Glomerulonephritis bei Hepatitis C kann die Biopsie ebenfalls erforderlich sein. Eine Biopsie ist nur bei noch gut erhaltener Nierengröße möglich und sollte daher nicht zu spät durchgeführt werden. Bei funktionellen Einzelnieren ist die Biopsie wegen des Komplikationsrisikos kontraindiziert. Im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung ist eine Nierenbiopsie nicht angezeigt. 17.1.3
Krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
. Tab. 17.4 Häufige Störungen der physischen und psychischen Körperfunktionen bei Nierenkranken 5 Gestörte Entgiftungsleistung der Niere 5 Störungen der Konzentrationsfähigkeit des Primärharns 5 Störungen des Wasserhaushaltes 5 Störungen des Mineralhaushaltes und des Vit. D Stoffwechsels 5 Störungen der Elektrolytbilanz 5 Verminderte Blutbildungsfunktionen 5 Störungen der Blutdruckregulation 5 Störungen der Funktion der Nebenschilddrüsen 5 Gestörte Muskelfunktion (Schwäche, Krampfneigung, restless legs syndrom) 5 Störungen der peripheren Nervenfunktionen 5 Störungen der Säure-Basenfunktion 5 Störungen des Appetits
Die Gesundheitsprobleme sind gekennzeichnet durch den aktuellen Status von Körperfunktionen und Körperstrukturen, Aktivitäten und Teilhabe sowie deren Beeinträchtigungen. Strukturen und Funktionen sind zu überprüfen und zu beschreiben in Bezug auf: mentale Funktionen, Sinnesfunktionen, Schmerzempfindungen, kardiopulmonale Funktionen, Funktionen des hämatologischen und immunologischen Systems, Funktionen des Verdauungssystems, des Stoffwechsels und des endokrinen Systems, Funktionen des Urogenitalsystems, des Stütz- und Bewegungsapparats sowie der Haut und Hautanhangsgebilde. . Tab. 17.4 stellt häufige Störungen der physischen und psychischen Körperfunktionen bei Nierenkranken dar. Aktivitäten und Teilhabe sind in folgenden Bereichen zu überprüfen und zu beschreiben: Lernen- und Wissensanwendung in Bezug auf die Nierenerkrankung. Bewältigung allgemeiner Aufgaben und Anforderungen beruflich und sozial. Mobilität einschließlich Tragen, Bewegen und Handhaben von Gegenständen, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, Arbeit, Beschäftigung und Bildung, Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben. Hinsichtlich Kontextfaktoren sind insbesondere sich auf die Teilhabe günstig oder ungünstig auswirkende Einflüsse folgender Bereiche zu überprüfen und zu beschreiben: Produkte, Ausrüstungen und Technologien, natürliche Umwelt einschließlich klimatischer Faktoren. Für Nierenkranke sind dies Lebenspartnerschaften und Heimdialysetechnik mit ihren Problemen sowie Umweltfaktoren wie Kälte, Nässe und starke Temperaturgegen-
5 Störungen der Integrität der Haut 5 Herabsetzung der Gerinnungsfunktionen einschließlich der Blutplättchen 5 Störungen des Ernährungszustandes bis zur Kachexie 5 Störungen des Eiweißhaushaltes 5 Störungen der Immunfunktionen 5 Störungen des Knochenauf- und -abbaus 5 Seelische Funktionsstörungen einschließlich Depressionen 5 Verminderte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne 5 Verminderung der geistigen Leistungsfähigkeit
sätze, aber auch Infektionsgefährdung bei herabgesetzter Immunität. In der Prognosebeurteilung wird der weitere Verlauf der geschilderten Gesundheitsprobleme unter Berücksichtigung der kurativ-medizinischen Versorgung eingeschätzt. Dabei sind die Kontextfaktoren zu berücksichtigen. Als Interventionsmöglichkeiten werden medizinische, berufliche, gesellschaftliche, private und speziell auf die Kontextfaktoren abzielende Interventionen aufgeführt, die geeignet erscheinen, die Prognose zu verbessern. In Abhängigkeit von Alter und Leistungsfähigkeit sind Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu prüfen. Insbesondere sind hier Möglichkeiten der Prävention, der Kuration, der Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln, der unterschiedlichen Leistungen zur Teilhabe für behinderte Menschen, der Pflege und der Möglichkeiten des
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397 17.1 · Allgemeines
. Tab. 17.5 Handlungsempfehlungen bei den Stadien der Niereninsuffizienz Stadium
GFR
Nierenschaden und Funktionsverlust
Optionen
ICD-10
1
≥ 90
Nierenschaden mit normaler GFR
Kontrollen, Risikominimierung
N18.1
2
60–89
geringgradiger Funktionsverlust
Diagnostik
N18.2
3
30–59
mittelschwerer Funktionsverlust
Therapie der Komplikationen
N18.3
4
15–29
schwerer Funktionsverlust
Dialysevorbereitung
N18.4
5
< 15
Nierenversagen
Dialyse, Nierentransplantation
N18.5
Quelle: [27] National Kidney Foundation. K/DOQI clinical practice guidelines for chronic kidney disease: evaluation, classification and stratification. Am J Kidney Dis 2002;39:Suppl 1:S1–S266
Engagements in Selbsthilfegruppen (z. B. Diaylseselbsthilfegruppen) zu berücksichtigen.
17.1.4
Begutachtungskriterien
Das gemeinsame Schicksal aller schweren Nierenerkrankungen ist die akute bzw. chronische Niereninsuffizienz. Die akute Niereninsuffizienz spielt in der sozialmedizinischen Begutachtung außer bei z. B. Berufskrankheiten (z. B. Hantavirusinfektion, Intoxikationen etc.) oder Arbeitsunfällen eine geringere Rolle und bleibt im Folgenden daher außer Betracht. Von einer chronischen Niereninsuffizienz spricht man, wenn die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) länger als drei Monate unter 60 ml/min liegt oder wenn das Serum-Kreatinin länger als drei Monate über 1,5 mg/dl (Männer) bzw. über 1,3 mg/dl (Frauen) liegt [21]. Die MDRD-Formel ist für eine GFR über 60 ml/min/1.73 m2 weniger geeignet als im Bereich unter 60 ml/min/1.73 m2. Kreatinin. Früher wurde die körperliche Leistungsfähig-
keit allein abhängig vom Serum-Kreatinin angegeben: unter 2 mg/dl keine Einschränkung (mit Ausnahmen), bei 2–5 mg/dl leichte und mittelschwere Arbeit ganztags, bei 5–10 mg/dl nur leichte Arbeit ganztags und mittelschwere halbtags. Dieses Schema vereinfacht die komplexen pathophysiologischen Zusammenhänge und ist auch abhängig von Zahl und Ausmaß der Begleiterkrankungen. Glomeruläre Filtrationsrate. Anhand der GFR lassen sich fünf Stadien der Niereninsuffizienz unterscheiden (. Tab. 17.5) [27]). Bei normaler GFR stehen als Handlungsempfehlungen im Vordergrund die Diagnose und Therapie der Grunderkrankung mit dem Ziel einer Ausheilung oder wenigstens Verlangsamung der Progression. In den Folgestadien sind die Abschätzung der Progression und die Therapie von Komplikationen das vorrangige Ziel. Bei einer GFR unter 30 ml/min müssen Vorbereitungen für eine Nierenersatztherapie (Shuntanlage) getroffen
werden. Dialysepflicht besteht ab einer GFR von 10–15 ml/ min bzw. ab einem Kreatininwert von ca. 10 mg/dl in Verbindung mit einer entsprechenden Klinik. Anämie. Die renale Anämie setzt die Kapazität des kardiovaskulären Systems herab [14, 15, 16, 17, 23]. Beginnend ab einem Hb-Wert von 14–11 g/dl sinkt die körperliche Belastbarkeit, was sich bei Werten unter 11 g/dl verstärkt. Therapeutisch wird Erythropoetin zur Erythrozytenneubildung eingesetzt mit dem Ziel, den Hb-Wert bei 11–12 g/dl zu stabilisieren. Bei Überschreiten höherer HbWerte ist das ebenfalls steigende Risiko für Schlaganfälle individuell zu berücksichtigen. Die Substitution mit Erythropoietin über einen Hb von 11 g/dl zur reinen Steigerung der Lebensqualität ist nicht mehr üblich. Kardiovaskuläres System. Bluthochdruck ist der Haupt-
risikofaktor für chronische Nierenerkrankungen. Eine hochdruck- und anämiebedingte Linksherzhypertrophie und -insuffizienz, koronare Herzkrankheit, Mitral- und Trikuspidalinsuffizienz sind bei Dialysepatienten häufig. Das Herzzeitvolumen ist durch Anämie, Hypervolämie und großes Shuntvolumen in Ruhe erhöht und steigt unter Belastungen unzureichend an. Daraus resultiert eine eingeschränkte kardiale Belastbarkeit, die aber auch vom Trainingszustand abhängt [11, 13, 15, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 32]. Die spiroergometrisch erfasste kardio-pulmonale Leistungsfähigkeit von Dialysepatienten liegt etwa bei 50 % der altersgleichen gesunden Kontrollpersonen. Malnutrition. Bei Niereninsuffizienz ab einem Kreati-
ninwert von 3 mg/dl nehmen der Appetit und die Protein- und Energieaufnahme oft ab. Weitere begünstigende Faktoren sind Azidose, Insulinresistenz, Wachstumshormonresistenz und proinflammatorische Zytokine. Hieraus resultiert in einigen Fällen eine sog. Protein-Energie-Malnutrition (PEM). Sie wird besonders auch bei Dialysepatienten beobachtet und schränkt die körperliche Leistungsfähigkeit weiter ein.
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17
Kapitel 17 · Krankheiten der Niere
Elektrolytstörungen. Kaliumverluste z. B. bei Analge-
17
tikanephropathie oder Diuretikaabusus können durch kaliumreiche Lebensmittel oder medikamentös ausgeglichen werden. Eine Hyperkaliämie kann durch die Nierenerkrankung, durch falsche Diät und medikamentös verursacht sein. Eine Hyperphosphatämie verschlechtert die renale Osteopathie. Ein sekundärer Hyperparathyreoidismus bedarf der gezielten nephrologischen Behandlung, eine Hypokalzämie der Vitamin-D-Substitution.
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Azidose. Die Störung der renalen Säureelimination führt
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zur metabolischen Azidose, die eine Hyperkaliämie begünstigt und längerfristig die renale Grunderkrankung und die renale Osteopathie nachteilig beeinflusst. Die Azidose sollte medikamentös durch Bikarbonat ausgeglichen werden. Osteopathie. Die renale Osteopathie entsteht infolge vermehrter Stimulation der Nebenschilddrüsen durch Vitamin-D-Mangel, Hypokalzämie und Hyperphosphatämie. Eine Parathormonerhöhung ist bereits ab einer GFR von 60 ml/min nachweisbar. Folgen des sekundären Hyperparathyreoidismus sind Störungen des Knochenumsatzes (Fibroosteoklasie, Typ I), der Mineralisation (Osteoidose, Typ II) oder beides (Typ III) sowie der Knochenstruktur (Spongiosaumbau, Osteopenie, Osteosklerose). Die Rarefizierung der Trabekel ist im 3D-Mikro-CT darstellbar. Die knöchernen Umbauprozesse führen bei terminaler Niereninsuffizienz zu Knochenschmerzen, Spontanfrakturen und Wirbelsäulendeformierungen. Bei schwerem sekundärem Hyperparathyreoidismus entstehen vaskuläre, periartikuläre und viszerale Kalzifikationen mit Hautulzera und Gewebsnekrosen (Kalziphylaxie), Sehnenrupturen und proximal betonte Myopathien der unteren Extremitäten. Zudem bestehen Korrelationen zwischen Störungen des Kalziumhaushaltes und der Entwicklung einer koronaren Herzerkrankung. In Einzelfällen beherrscht die Osteopathie das klinische Bild; sie sollte jedoch heute durch adäquate Prophylaxe und Therapie in den meisten Fällen vermeidbar sein. Neuromuskuläre Faktoren. Schwere Polyneuropathien mit progredienten, von distal aufsteigenden Lähmungen werden bei Niereninsuffizienten kaum noch beobachtet. Dagegen kommen gemischt polyneuropathisch-myopathische Fälle mit einer Atrophie des Fasertyps II der Muskelfibrillen und reduzierter Muskelkraft vor. Bei der Ergometrie fällt die rasche Ermüdung der Beinmuskulatur vor Erreichen der kardiopulmonalen Leistungsgrenze auf. Als Ursachen kommen urämisch-toxische Schädigungen, gestörter Vitamin-D-Metabolismus, Hyperparathyreoidismus, Osteomalazie, reduzierte Sauerstoffversorgung bei Anämie, kardiopulmonale Einschränkungen, arterielle
Verschlusskrankheit und vaskuläre Erkrankungen in Betracht. Körperliche Inaktivität und Begleiterkrankungen verstärken den Muskelabbau. Die Muskelkraft von Dialysepatienten liegt bei 50–80 % und die spiroergometrische Leistungsfähigkeit bei etwa 50 % der altersgleichen gesunden Kontrollpersonen. Leistungsfähigkeit. Konzentrationsfähigkeit, Gedächtnisleistung und Aufmerksamkeitsspanne können messbar eingeschränkt sein. Verlangsamungen, Störungen der Reaktionszeit und der Reizschwelle sowie der Reizdiskriminierung sind ebenfalls möglich. Obwohl sich diese Befunde unter Erythropoetingabe tendenziell bessern können, sind große individuelle Unterschiede möglich [22]. Für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit sind daher sowohl medizinische als auch psychologische Untersuchungen erforderlich [24, 26].
Geistige
17.1.5 z
Sozialmedizinische Beurteilung
Leistungen zur Teilhabe
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation können genutzt werden, um die Progression von Nierenerkrankungen zu bremsen [7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 29]. So tritt beim Diabetes mellitus 10–15 Jahre nach Erkrankungsbeginn bei 20 % (Diabetes mellitus Typ 2) bis 40 % (Diabetes mellitus Typ 1) der Patienten eine Mikroalbuminurie auf, deren Fortschreiten zur Proteinurie und Dialysepflicht führt. Indiziert sind konsequente Blutdruckeinstellung auf ca. 120/85 mmHg, diätetische Einstellung, Gewichtsoptimierung und körperliche Aktivitäten. Bei nicht-diabetischen Patienten mit bereits eingeschränkter Nierenleistung kann durch geeignete Therapie und präventive Maßnahmen im Mittel der Eintritt einer Dialysepflicht um mindestens drei Jahre hinausgeschoben werden [10, 12, 13, 30]. Der multidisziplinäre Ansatz im Rahmen eines Gesundheitstrainingsprogrammes für Nierenkranke kann nachweislich zu einer Besserung der Langzeitnierenfunktion und der renalen Risikofaktoren beitragen [8, 9, 12, 30]. Ein kontinuierliches körperliches Ausdauertraining verbessert auch bei niereninsuffizienten Menschen den aeroben Stoffwechsel und die Glukoseutilisation und verhindert den katabolen Muskelabbau. Nach eigenen Untersuchungen führt ein Herz-Kreislauftraining bereits nach vier Wochen zu einer signifikanten Zunahme der Belastbarkeit und der maximalen Sauerstoffaufnahme bei Nierenkranken im Prädialysestadium, bei Dialysepatienten und bei Nierentransplantierten [10]. Ein sechsmonatiges Nachsorgeprogramm führte bei Dialysepatienten zu einer deutlichen Rückbildung der Muskelatrophie mit einem Zuwachs an Muskelfasern des M. vastus lateralis um 29 %.
399 17.1 · Allgemeines
Parallel dazu nahmen die maximale VO2 um 48 % sowie Belastungszeit (+ 29 %) und Muskelkraft signifikant zu [23, 24]. Rechtzeitige Rehabilitationsleistungen zum Erhalt der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben sind nicht erst bei langer Arbeitsunfähigkeit und drohender Erwerbsminderung sinnvoll [11, 14, 15, 29]. Durch Gesundheitstraining kann im Einzelfall die Teilhabe am Arbeitsleben bis zur Transplantation erhalten bleiben [12, 29]. Eine Wiederherstellung des Leistungsvermögens zumindest für Teilzeittätigkeit ist je nach Alter und Begleiterkrankungen bei vielen Dialysepatienten möglich [10]. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind zu erwägen, wenn die bisherigen Tätigkeiten in Nässe-, Kälte, starken Temperaturgegensätzen oder mit Infektionsgefährdungen verbunden sind. z
den sind (Wassersport, Wintersport), sind zu vermeiden. Dies gilt auch für Dialysepatienten unabhängig davon, dass sie durch den Zeitbedarf für die Dialyse zeitlich eingeschränkt sein können. Ein hohes Maß an sozialen Aktivitäten weist auf ein erhaltenes Restleistungsvermögen hin, das im Erwerbsleben eingesetzt werden kann. Ausbildung. Ist eine chronische Nierenerkrankung be-
reits bekannt, z. B. bei familiären Zystennieren, sollten Berufswahl und Berufsausbildung auf die langfristig absehbare Dialysepflichtigkeit hin ausgerichtet werden. Berufe mit mittelschweren oder schweren körperlichen Belastungen sollten nicht ergriffen werden, da früher oder später eine krankheitsbedingte Aufgabe der Tätigkeit zu erwarten ist. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben können dann in Betracht kommen.
Erwerbsminderung
Die Leistungsfähigkeit hängt ab von Alter, Trainingszustand, Dauer und Stadium der Nierenerkrankung sowie den Begleiterkrankungen. Nierenerkrankungen ohne Dialysepflicht führen zu qualitativen Einschränkungen. Zeitweilig kann Arbeitsunfähigkeit bestehen. Nierenmissbildungen mit normaler Nierenfunktion wie Ren mobilis oder Nierenzysten ohne Abflusshindernis führen nicht zu einer Leistungsminderung. Bei schwerer Niereninsuffizienz (Kreatinin 8–10 mg/dl) ist die Leistungsfähigkeit durch die Auswirkungen der Grunderkrankung, Hypertonie, Elektrolytstörungen, metabolische Azidose, Polyneuropathie und Eiweißverluste nur noch in wenigen Fällen für leichte Tätigkeiten erhalten. Die dialysepflichtige Nierenerkrankung führt nicht zwangsläufig zu einer Aufgabe der Berufstätigkeit. Die Arbeit eines Dialysepatienten sollte körperlich nicht schwer sein und nicht in ungünstigen Witterungsverhältnissen durchgeführt werden müssen. Tätigkeiten mit ständig wechselnden und entfernten Einsatzorten sind meistens unvereinbar mit der Dialysebehandlung. Nach einer Nierentransplantation ist eine Stabilisierungsphase abzuwarten. Die meisten Komplikationen treten im ersten Jahr nach der Transplantation auf. Bei stabiler Transplantatfunktion können zumindest leichte körperliche Arbeiten über sechs Stunden und mehr verrichtet werden. Arbeiten mit erhöhtem Infektionsrisiko sowie Nachtarbeit sollten unter immunsuppressiver Therapie gemieden werden. Weitere Einschränkungen können sich durch fortbestehende Begleiterkrankungen, beispielsweise in Form einer schwer einstellbaren arteriellen Hypertonie oder Osteoporose bestehen. Soziale Aktivitäten. Bei Nierenerkrankungen ohne Dialysepflicht sind Ausdauersportarten empfehlenswert. Sportarten, die mit Nässe- und Kälteexposition verbun-
Fahrtüchtigkeit. Wer unter einer schweren Nierenin-
suffizienz mit erheblicher Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens und beträchtlicher Einschränkung der Leistungsfähigkeit leidet, ist nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung [2] nicht in der Lage, den Anforderungen zum Führen eines Kraftfahrzeuges der Gruppen 1 (Klassen A, A1, B, BE, M, L, T) und 2 (Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und Personengastbeförderung) gerecht zu werden (http://www.fahrerlaubnisrecht. de/Begutachtungsleitlinien.htm). Arbeitszeit. Bei chronischer Niereninsuffizienz sollte
Nachtarbeit vermieden werden, insbesondere bei bestehender Komorbidität beispielsweise durch Hypertonie mit nächtlichen Blutdruckspitzen. Arbeiten unter Zeitdruck können durch rascher einsetzende Ermüdung unter bislang gut tolerierter Arbeitsbelastung erschwert sein. In den meisten Dialyseeinrichtungen kann die Zeit der Dialysebehandlung auf die Arbeitszeiten des Patienten abgestimmt werden. Der Dialysebeginn kann auf Nachmittags- und Abendstunden oder in die Nachtstunden gelegt werden. Die Ruhephase nach Ende der Dialyse kann mit dem Nachtschlaf verbunden werden. Am Folgetag kann die Arbeit in gewohntem Umfang aufgenommen werden. Ist die Dialyse lediglich während der vereinbarten Arbeitszeit möglich, besteht für deren Dauer, die Zeit der Anfahrt zur Dialyseeinrichtung und für die nach der Dialyse erforderliche Ruhezeit Arbeitsunfähigkeit. Arbeitsschwere. Mit zunehmender Niereninsuffizienz
sinkt die körperliche Belastbarkeit, so dass leichte bis mittelschwere und später nur noch leichte körperliche Arbeiten verrichtet werden können. Das Heben und Tragen von schweren Lasten ist bei renaler Osteopathie einzuschränken. Arbeiten mit hoher mentaler Belastung oder überdurchschnittlichen Anforderungen an Dauerkonzentra-
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Kapitel 17 · Krankheiten der Niere
tion oder Reaktionsvermögen werden mit zunehmender Niereninsuffizienz einzuschränken sein.
. Tab. 17.6 Beispiele nephrotoxischer und nierenschädlicher Verbindungen
Infektionsgefährdung. Die tätigkeitsbezogene Infektionsgefährdung sollte bei allen chronisch Nierenkranken und in erhöhtem Maße bei immunsupprimierten Transplantatempfängern beachtet werden, wenn beispielsweise Arbeiten in Müllwerken, Schlachthöfen, Abdeckereien, Klärwerken oder Tierpflege sowie in der Landwirtschaft oder in Gärtnereibetrieben verrichtet werden. Diese Arbeiten gehören meistens nicht zu den körperlich leichten oder leicht bis mittelschweren Arbeiten. Außerdem schützt der professionelle Umgang mit Infektionsmaterial vor Infektionen, so dass eigentlich auch keine Einschränkungen bei immungeschwächten Personen bestehen. Allerdings kann sich durch das Tragen von persönlicher Schutzausrüstung beim Arbeiten mit biologischen Arbeitsstoffen die Arbeitsschwere erhöhen und dadurch die Belastungsgrenze erreicht oder überschritten werden. Niereninsuffiziente oder Nierentransplantierte mit stabiler Transplantatfunktion müssen durchschnittlichen Publikumsverkehr ebenso wenig meiden wie die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu Spitzenzeiten. Gelegentlich ist das passagere Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes empfehlenswert. Die Hygieneanforderungen am Arbeitsplatz sind genauso hoch wie zu Hause.
Arzneimittel
Tubulotoxisch: Aminoglykoside (Gentamycin, Streptomycin), Amphotericin B, Cisplatin, Forscarnet, jodhaltige Kontrastmittel, Lithium Tubuloobstruktiv: Methotrexat, Aciclovir, Sulfonamide Vaskulär: Cyclosporin, Mitomycin, Thiazide, Interferon Interstitiell: Aciclovir, NSAIDs, Sulfonamide, Rifampicin, Penicillin G, Ampicillin, Allopurinol
(Schwer-) Metalle
Blei Cadmium Quecksilber Arsen Nickel, Chrom, Uran und Gold
Halogenierte Kohlenwasserstoffe
Trichlorethen Tetrachlorethen Hexachlorbutadien Chloroform Dioxine
Zytostatika
Cisplatin Methotrexat Mitomycin D
Weitere Verbindungen
Andere Lösungsmittel (Toluol, Nitroverbindungen, Perchlorethylen) Bleifreies Benzin Glykol Röntgenkontrastmittel Narkosemittel Herbizide Mykotoxine (Aflatoxin B)
17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17
Arbeiten in Kälte, Nässe und unter großen Temperaturschwankungen. Arbeiten in Kälte, Nässe und unter
großen Temperaturschwankungen können den körpereigenen Infektionsschutz beeinträchtigen. Bei chronischer Niereninsuffizienz oder nach Transplantation sollten diese potentiellen Risikofaktoren auch während der Arbeit vermieden werden. Die mit diesen Belastungsfaktoren verbundenen Arbeiten sind meistens nicht als körperlich leichte Arbeiten einzustufen und bereits dadurch aus medizinischer Sicht bedenklich. Gefährdet sind Arbeiter im Hoch-, Tief- und Straßenbau, in der Landwirtschaft oder in der Seefahrt. Nephrotoxische Substanzen. Eine Exposition gegenüber nephrotoxischen Substanzen kann nicht nur in der Arbeitswelt vorkommen, sondern auch im Alltag. Bekannte nephrotoxische Verbindungen sind in . Tab. 17.6 aufgelistet. Bei Niereninsuffizienz können entsprechend den berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen und anderen Vorschriften zu Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit arbeitsmedizinische Bedenken gegen den Einsatz an Arbeitsplätzen bestehen, die mit einer Gefährdung durch nephrotoxische Verbindungen einhergehen können.
Quelle: Fritschka, E., Mahlmeister, J. [9] (http://www.uni-ulm.de/ nephrologie/cme186.pdf )
17.2
Krankheitsbilder
Eine Systematik der Nierenerkrankungen findet sich in . Tab. 17.7. Beschrieben werden im Nachfolgenden Krankheitsbilder, die bei chronischem Verlauf zur Niereninsuffizienz, bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz zur Dialysebedürftigkeit oder Nierentransplantation führen können. Die Diagnosenverteilung bei Nierenersatztherapie zeigt . Tab. 17.2. Bei der Inzidenz führt die diabetische Nephropathie, gefolgt von Glomerulonephritis, vaskulärer Nephropathie und interstitieller Nephritis. Bei der Prävalenz ist das diabetische Spätsyndrom wegen seiner höheren Sterblichkeit dagegen unterrepräsentiert. Die Nierenersatztherapie unterliegt bei allen Nierenkrankheiten dem gleichen Vorgehen und den gleichen sozialmedizinischen Beurteilungskriterien und wird daher in 7 Kap. 17.3 zusammenfassend dargestellt.
401 17.2 · Krankheitsbilder
17.2.1
Glomeruläre Erkrankungen
Primäre Glomerulonephritiden (GN) werden von sekundären unterschieden, die im Rahmen von Tumoren oder Systemerkrankungen auftreten. Therapierbarkeit und Prognose sind sehr unterschiedlich. Rapid progressive Verläufe werden ebenso beobachtet wie stationäre, z. B. bei minimal change Glomerulonephritis. Glomerulonephritiden sind histologisch definiert. Eine Nierenbiopsie ist in frühen Stadien indiziert, da nur so Therapiebedürftigkeit und spätere Rekurrenz der Erkrankung im Transplantat zu beurteilen sind. Der Verlauf lässt sich anhand von Nierenfunktion und Urinbefunden beurteilen. Charakteristisch ist das nephritische Harnsediment: Mikrohämaturie mit Akanthozyten (deformierten Erythrozyten) und eine Proteinurie unterschiedlichen Ausmaßes. Ein nephrotisches Syndrom liegt vor, wenn eine massive Eiweißausscheidung von > 3,5 g/24 h zusammen mit weiteren klinischen Symptomen wie Eiweißmangel, peripheren Ödemen und Hyperlipidämie besteht. Bei akuten Verläufen werden weitere bedrohliche Zustände wie ein renopulmonales Syndrom, z. B. beim Goodpasture-Syndrom, oder massive Überwässerung beobachtet. z
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung
Die Beurteilung des Leistungsvermögens baut auf der histologischen Diagnose, der Progressionsrate der Nierenerkrankung, der Nierenfunktion, der Blutdruckeinstellung und dem Ausmaß renaler (z. B. nephrotisches Syndrom) und extrarenaler (Herz, Kreislauf, Lunge, Skelett, Muskulatur) Komplikationen auf. Bei alleiniger Nierenerkrankung mit stabilem Verlauf und ohne wesentliche Komplikationen bleibt unter der Behandlung meist das Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr erhalten. Bei Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie siehe 7 Kap. 17.3.
17.2.2
Interstitielle Erkrankungen
Akute interstitielle Nierenerkrankungen entstehen bei bakteriellen oder viralen Infektionen (Hantavirus) oder infolge allergischer Reaktionen u. a. auch auf Arzneimittel. Nach jahrelanger Einnahme von sogenannten Mischanalgetika bzw. phenazetinhaltigen (Metabolit: Paracetamol) frei verkäuflichen Schmerzmitteln und bei chronischer Intoxikation durch Blei, Kadmium, Gold, Wismut, Thallium oder Arsen kann sich eine chronische interstitielle Nephropathie entwickeln. Selten ist die granulomatöse interstitielle Nephritis bei Morbus Boeck. Ein Sonderfall ist die hypokaliämische Nephropathie. Bei der chroni-
schen GN finden sich interstitielle Vernarbungen, welche die Prognose verschlechtern. Kreatininanstieg, evtl. ein erhöhtes Serum-IgE, Erythrozyten, Leukozyten und selten Eosinophile im Sediment weisen zusammen mit den tubulären Proteinen (meist < 1 g/24 h) auf die Diagnose hin. Bei Infektionen positiver Urikult. Akute interstitielle Nierenerkrankungen heilen häufig folgenlos aus, können aber auch zur Dialysepflicht führen. Chronische bakterielle interstitielle Nephritiden führen in Abhängigkeit von der Grunderkrankung oft zu einer schubweisen Verschlechterung der Nierenfunktion. Behandelbare Ursachen wie Reflux oder obstruktive Uropathie (vgl. 7 Kap. 18) sind zu beheben, solange die Proteinurie bei Erwachsenen < 1,5 g/24 h beträgt. Immunologische Erkankungen wie der Lupus erythematodes können ebenfalls zur interstitiellen Nephritis führen. Die seltene Urogenitaltuberkulose mit »steriler« Leukozyturie erfordert eine vierfache Initialtherapie über 2 bis 4 Monate und eine zweifache tuberkulostatische Erhaltungstherapie bis zu 12 Monaten. z
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung
Rezidivierende Harnwegsinfektionen, Flankenschmerzen, Kopfschmerzen, subfebrile Temperaturen und Abgeschlagenheit können zu Arbeitsunfähigkeitszeiten führen. Bei einer Urogenitaltuberkulose unter tuberkulostatischer Therapie kann monatelange Arbeitsunfähigkeit vorliegen. Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit über 12 Monate und überdauernde Beeinträchtigungen gehen in die Beurteilung des Leistungsvermögens ein. Leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten können über sechs Stunden und mehr verrichtet werden. Feuchtarbeiten sowie Arbeiten in Nässe, Kälte, Hitze oder unter großen Temperaturschwankungen erhöhen die Arbeitsschwere und sollten vermieden werden. Medizinische Bedenken können bei Nachtarbeit sowie bei Arbeiten unter erhöhter Infektionsgefährdung vorliegen. Die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung richtet sich nach den Folgen der Nierenfunktionsstörung; bei Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie siehe 7 Kap. 17.3.
17.2.3
Tubuläre Erkrankungen
Chronische Intoxikationen mit organischen Lösungsmitteln oder Schwermetallen (Quecksilber, Blei) verursachen tubuläre Schäden. Auch nephrotoxische Medikamente wie Cyclosporin, Cisplatin oder Methotrexat kommen als Auslöser in Betracht. Selten sind die angeborenen tubulären Syndrome wie das Fanconi-Syndrom mit renalem Phosphat- und Magnesiumverlust, renal-tubulärer Azidose, Hypophosphatämie und Osteomalazie. Eine tubuläre Obstruktion entsteht bei der Myelomniere durch
17
402
17 17
Kapitel 17 · Krankheiten der Niere
. Tab. 17.7 Systematik der Nierenerkrankungen Akut
Chronisch
Glomerulär
Akute Glomerulonephritis (GN) Poststreptokokken GN GN bei anderen bakt. Infektionen, z. B. Endokarditis
Rapid progressive GN Typ I, II, III (RPGN) Nephrotisches Syndrom bei minimal change GN Fokal segmental-sklerosierende GN (FSGS) Membranöse GN Membranoproliferative GN (MPGN) IgA-Nephropathie Fibrilläre GN-immunotaktoide GN Diabetische Nephropathie (selten) Immunotaktoide GN Amyloidose
Vaskulär
Hämolytisch-urämisches Syndrom Niereninfarkt, Nierenvenenthrombose Prärenales Nierenversagen, z. B. Dehydratation, Schock Akute pulmo-renale Syndrome
Benigne und maligne Nephrosklerose Diabetische Glomerulosklerose Nierenarterienstenosen ANCA-assoziierte Vaskulitiden: 5 WEGENERsche Granulomatose 5 Churg-Strauss-Syndrom 5 Polyarteriitis nodosa 5 Mikroskopische Polyangitis Immunkomplexbedingte Vaskulitiden: 5 Purpura Schönlein-Henoch, 5 Kryoglobulinämie, 5 Systemischer Lupus erythematodes (SLE) Vaskulitis durch Antibasalmembran-Antikörper
Interstitiell
Akute interstitielle Nephritis durch Pharmaka, Infektionen Immunologische Erkrankungen, z. B. SJÖGRENSyndrom
Analgetikanephropathie Chronische Pyelonephritis Granulomatöse Nephritis, z. B. bei Sarkoidose, Tbc
Tubulär
Akutes Nierenversagen (ANV)
Obstruktive Nephropathie Abstoßungsreaktion nach Transplantation Multiples Myelom Renal tubuläre Azidose (RTA)
17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17
Hereditäre Erkrankungen
17 17 17 17 17 17 17 17 17
Ausscheidung von Leichtketten und bei der Urat-Nephropathie (Tumorlyse-Syndrom) durch Präzipitation von Harnsäurekristallen. Bei der Bleinephropathie kommt es zur verminderten tubulären Harnsäuresekretion. Die renale tubuläre Azidose (RTA) ist eine heterogene Gruppe von Störungen mit verminderter Ausscheidung von fixen Säuren bei normaler Anionenlücke. Die proximale RTA (Typ II) entsteht durch Fanconi-Syndrom, Schwermetallvergiftung, Aminoglykosidantibiotika, altes Tetrazyklin, Paraproteinämie (Myelom) und Immunerkrankungen
Zystische Nierenerkrankungen: 5 Polyzystische Nieren (ADPKP, ARPKD) 5 Markschwammnieren 5 Nephronophthisekomplex Erkrankungen der Glomeruli: 5 Hereditäre Nephritis (ALPORT-Syndrom) 5 Kongenitales nephrotisches Syndrom 5 FABRY-Syndrom 5 Nail-Patella-Syndrom Erkrankungen der Tubuli: 5 VON HIPPEL-LINDAU-Syndrom 5 M. BOURNEVILLE-PRINGLE (tuberöse Sklerose)
(SLE). Die distale RTA (Typ I, III) findet man bei Problemen der Ammoniogenese (Ketoazidose) und des NH3Transfers (Analgetikanephropatie) oder bei H+-Ionen-Sekretionsdefekten (hereditäre RTA). Der Typ IV geht mit einer Hypokaliämie einher. Auch die chronische Transplantatabstoßung ist meist mit einer tubulären Schädigung verbunden. Störungen des proximalen Tubulus führen zu Azidose, tubulärer Proteinurie und Fanconi-Syndrom. Bei Störungen des distalen Tubulus findet man eine Azidose, Hypo-
403 17.2 · Krankheitsbilder
natriämie und Hyperkaliämie. Bei medullären Störungen ist die Konzentration des Urins vermindert. Zur Überwachung bei toxischen Schäden eignen sich tubuläre Marker wie β2-Mikroglobulin. z
Hereditäre Nierenerkrankungen
Mit Ausnahme der autosomal dominanten polyzystischen Nierenerkrankung (ADPKD) sind hereditäre Nierenkrankheiten selten; vgl. . Tab. 17.2 und . Tab. 17.7.
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung
Die Beurteilung des Leistungsvermögens richtet sich nach den Folgen des Nierenfunktonsverlusts und den damit verbundenen körperlichen und psychischen Störungen, die bereits oben beschrieben wurden. Die Ergebnisse arbeitsmedizinischer Gefährdungsuntersuchungen können die Beurteilung des Leistungsvermögens abrunden.
17.2.4
Vaskuläre Erkrankungen
Zu unterscheiden sind Mikro- und Makroangiopathien und bei letzteren die arteriellen von den venösen Erkrankungen. Mikroangiopathien im engeren Sinne sind das hämolytisch-urämische Syndrom und andere Autoimmunerkrankungen wie Sklerodermie oder Morbus Wegener. Die Panarteriitis nodosa befällt die mittleren Arterien. Zu den Makroangiopathien zählen die Arteriosklerose mit Nierenarterienstenosen und Niereninfarkten durch Cholesterinembolien sowie die gefürchtete Nierenvenenthrombose mit großer Proteinurie. Vaskuläre Schäden sind auch Zusatzbefunde bei anderen renoparenchymatösen Erkrankungen, die mit Bluthochdruck einhergehen. Bluthochdruck ist der Hauptrisikofaktor für chronische Nierenerkrankungen. Die optimale Einstellung auf Werte unter 130/85 mmHg führt zu einem bestmöglichen Erhalt der Nierenfunktion. Bei fast allen Nierenerkrankungen steigt der Blutdruck mit der Zeit an. Infolge eingeschränkter Natriumausscheidung mit kompensatorischer Drucknatriurese und Stimulation des Renin-Aldosteronsystems entfällt die nächtliche Blutdruckabsenkung (> 10 %). ACE-Hemmer, AT1-Rezeptorantagonisten und Renininhibitoren führen zu einer teilweise blutdruckunabhängigen Nephroprotektion. Eine angemessene Blutdruckeinstellung ist bei Nierenkranken durch eine antihypertensive Kombinationstherapie möglich, die ein Diuretikum einschließen sollte. z
17.2.5
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung
Die Blutdruckeinstellung kann sich schwierig gestalten und die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Bei ungenügender Blutdruckeinstellung sollte Nachtschichtarbeit vermieden werden, da es hierdurch zu einer Störung des Blutdrucktagesprofils kommt. Die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung richtet sich nach den Folgen der Nierenfunktionsstörungen; bei Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie siehe 7 Kap. 17.3.
z
Autosomal dominante polyzystische Nierenerkrankung (ADPKD)
Sie geht einher mit großen, multizystisch veränderten Nieren, Leberzysten, arterieller Hypertonie und terminaler Niereninsuffizienz meist zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr. Bei der ADPKD 1 (ca. 85 %) besteht ein Gendefekt auf dem kurzen Arm des Chromosoms 16 (Bildung von Polycystin, einem Membranprotein), bei der ADPKD 2 ein Defekt von Chromosom 4. Beschwerden entstehen durch Verdrängungseffekte bei großen Zystennieren, Zysteninfekte oder Einblutungen. Extrarenale Manifestationen umfassen u. a. Kolondivertikulose, Herzklappenanomalien und Hirngefäßaneurysmen. Progostisch ungünstig sind PDK 1-Gen, junges Alter bei Diagnosestellung, männliches Geschlecht, Hypertonie mit Linksherzhypertrophie, rezidivierende Makrohämaturie und Harnwegsinfekte bei Männern. Körperlich schwere Arbeiten, Zwangshaltung und Infektionsgefährdung durch Kälte, Nässe und Temperaturschwankungen sind zu vermeiden, ebenso Sportarten mit Körperkontakt. Bei Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie siehe 7 Kap. 17.3 z
Andere hereditäre Erkrankungen
Die autosomal rezessive polyzystische Nierenerkrankung (ARPKD) ist eine Erkrankung des frühen Kindesalters; nur wenige Kinder erreichen das 2. Lebensjahrzehnt. Die autosomal rezessive juvenile Nephronophthise mit oder ohne Augenbeteiligung (Retinitis pigmentosa) ist eine der häufigsten Ursachen der Niereninsuffizienz vor dem Erwachsenenalter. Hierbei entstehen Zysten im MarkRinden-Grenzbereich und eine interstitielle Fibrose. Die autosomal dominante Form der medullären zystischen Nierenerkrankung manifestiert sich im Erwachsenenalter. Das Alport-Syndrom ist eine vorwiegend X-chromosomal vererbte hereditäre Nephritis, der eine Störung der Bildung von Typ IV-Kollagen mit Defekten der glomerulären Basalmembran zugrundeliegt. Typisch sind Mikro-, seltener Makrohämaturie, Proteinurie, Niereninsuffizienz, Innenohrschwerhörigkeit, Sehstörungen und periphere Neuropathie. Dialysepflicht wird meist im Alter von 35 Jahren erreicht. Sozialmedizinisch sind bei diesen recht vielgestaltigen Krankheitsbildern neben den typischen Einschränkungen für Nierenkranke zusätzlich die extrarenalen Manifestationen wie Schwerhörigkeit, Katarakt, Makulaveränderungen, Retinitis pigmentosa, Polyneuropathie usw. zu
17
404
17
Kapitel 17 · Krankheiten der Niere
. Tab. 17.8 Stadien der diabetischen Nephropathie Stadium
17
Albuminausscheidung (mg/l)
Nierenschädigung mit normaler Nierenfunktion
17 17 17 17 17
Kreatinin-Clearance (ml/min)
Anmerkungen
> 90
S-Kreatinin normal
1a. Mikroalbuminämie
20–200
Blutdruck normal oder erhöht
1b. Makroalbuminämie
> 200
Dyslipidämie, raschere Progression von KHK, AVK, Retinopathie und Neuropathie
Nierenschädigung mit Niereninsuffizienz
S-Kreatinin normal oder erhöht
2. leichtgradig
> 200
60–89
3. mäßiggradig
Abnehmend
30–59
4. hochgradig
15–29
5. terminal
< 15
17
Quelle: Nationale Versorgungsleitlinie diabetische Nephropathie, 2010 [3]
17
berücksichtigen; vgl. hierzu die 7 Kap. 21 und 22, 23. Bei Nierenersatztherapie siehe 7 Kap. 17.3.
17 17.2.6
17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17
Nierenbeteiligung bei Allgemeinerkrankungen
Bei zahlreichen Erkrankungen sind die Nieren involviert: Diabetische Nephropathie, Plasmozytom, Leukämie, Amyloidose, obstruktive Erkrankungen (Morbus Ormond, Retroperitonealfibrose), chronische Virusinfektionen wie die Hepatitis B (membranöse GN), chronische Harnwegsinfekte und Pyelonephritiden (Schrumpfniere). Ein Abfall der Nierenleistung wird auch bei der chronischen Herzinsuffizienz beobachtet. Die sozialmedizinische Beurteilung richtet sich jeweils nach der Grunderkrankung und den funktionslimitierenden Befunden. Oft handelt es sich um weit fortgeschrittene Krankheitsbilder mit zahlreichen Organschäden, die sich auch durch eine Nierenersatztherapie oder Transplantation nicht mehr beheben lassen. Diabetische Nephropathie. Die diabetische Nierenerkrankung ist der häufigste Grund für eine Dialysepflicht. Durch die Deutsche Diabetesgesellschaft wurde kürzlich eine Neuklassifikation der Stadien der diabetischen Nephropathie vorgenommen (siehe . Tab. 17.8), die sich auf die Kreatinin-Clearance anstatt auf das Serum-Kreatinin stützt. Patienten mit diabetischer Nierenerkrankung sollten frühzeitig einer Rehabilitationsleistung zugeführt werden. Indikationen zur medizinischen Rehabilitation bestehen nach akuten stationär behandlungsbedürftigen Erkrankungen wie größeren chirurgischen Eingriffen (Trans-
Hypertonie, Dyslipidämie, Hypoglykämie-Neigung, raschere Progression von KHK, AVK, Retinopathie und Neuropathie, Anämie-Entwicklung, Störung des Knochenstoffwechsels
plantation, Amputationen) und schweren Komplikationen wie Myokardinfarkt und Schlaganfall in Form einer Anschlussrehabilitation (AHB), ferner bei ausgeprägtem Risikoprofil, bei ausgeprägten Wundheilungsstörungen oder bei besonderem Schulungsbedarf (z. B. bei ausgeprägten Complianceproblemen). Die Rehabilitationsziele sollten unter gemeinsamer nephrologischer und diabetologischer Führung angestrebt werden. Erstellung eines nachhaltigen und individuellen Therapieplans (Insulin, Ernährung, Selbstkontrolle, Sport), Anpassung der Medikation an den Grad der Nierenleistungseinschränkung unter Beachtung von Interaktionen. Besondere Aspekte betreffen Patienten nach Nieren-Pankreastransplantation in Hinsicht auf reduzierten Allgemein- und/oder Ernährungszustand sowie behandlungsbedürftige Begleit- und Folgeerkrankungen, vor allem im Herz-Kreislaufsystem und am Skelettapparat, sowie therapiebedürftige seelische Reaktionen. Spezielle Schulungsprogramme (wie z. B. ein Nieren- oder Hypertonieschulungsprogramm sollen den Umgang mit dem Transplantat vereinfachen und die Transplantatüberlebenszeit verlängern. Generell kommt dem Gesundheitstraining bei Diabetikern mit Nephropathie besondere Bedeutung zu. Neben der etablierten Diabetesschulung ist zur Verbesserung der Prognose zusätzlich ein spezielles Nierenschulungsprogramm zur Verbesserung des Selbstmanagements zu empfehlen. Die evidenzbasierten Module, welche von der DRV-Bund publiziert wurden [5], lassen sich so gut mit einem speziellen multidisziplinären Schulungsprogramm kombinieren, dessen medizinische, psychologische und ökonomische Langzeitwirkungen dokumentiert sind [8, 30]. Die sozialmedizinische Begutachtung entspricht der anderer Nierenkranker, wobei zusätzlich die Empfehlun-
17
405 17.3 · Nierenersatztherapie
gen für diabetische Begleiterkrankungen (7 Kap. 12) zu berücksichtigen sind.
. Tab. 17.9 Chronische Nierenersatztherapie in Deutschland Alle Patienten in chronischer Nierenersatztherapie
17.3
Nierenersatztherapie
Die Zahl der Dialysepatienten steigt jährlich um etwa 7 %, davon sind bis zu 50 % Diabetiker; vgl. . Tab. 17.2 und . Tab. 17.9. In Deutschland betrug 2005 nach Angaben von Quasi Niere die Prävalenz von Dialysepatienten 769 pro Mio. Einwohner und 288 pro Mio. für Nierentransplantierte. Dies entsprach 63.427 Dialysepatienten und 23.724 Nierentransplantierten. Seit 1995 ist die Zahl der Dialysepatienten um 53 % gestiegen, die der Nierentransplantierten um 78 %. Die terminale Niereninsuffizienz ist für die Patienten ein Schicksalsschlag, der Aktivitäten und Teilhabe radikal ändert. Ein gesundheitsökonomischer Gesichtspunkt ist, dass bereits rund 50.000 Dialysepatienten in Deutschland etwa 8 % des Gesundheitsbudgets verbrauchen. Präventive Strategien zur Vermeidung oder Verschiebung des Zeitpunktes der Dialysepflicht sind daher dringend erforderlich.
17.3.1
Hämodialyse
Bei der Hämodialyse wird das Blut durch ein Kapillarsystem aus semipermeablen Kunststoffmembranen (Dialysator) gepumpt, welches von einer Elektrolytlösung mit ähnlicher Zusammensetzung wie das Plasma (Dialysat) umspült wird. Die Permeabilität der Dialysemembran sowie die osmotische und hydrostatische Druckdifferenz zwischen Blut und Dialysat bestimmen den Flüssigkeitsentzug und den Austausch niedermolekularer Substanzen. Das Blut muss mit ca. 200–300 ml/min zirkulieren, was eine arteriovenöse Fistel (Shunt) als Zugang erfordert. Das Dialysat fließt im Gegenstrom mit ca. 500 ml/min und wird in seiner Zusammensetzung dem Dialysebedarf angepasst. Ein Standardmaß für die Reinigungsleistung der Dialyse ist der Kt/V-Wert, der das Verhältnis der Behandlungsdauer zum Umfang, in dem bestimmte Gift- und Abbaustoffe des Stoffwechsels aus dem Blut entfernt werden, beschreibt. Dabei ist K die Clearanceleistung des Dialysators, die über die Reduktion des Harnstoffgehaltes des Blutes vor und nach der Dialyse bestimmt wird, t die effektive Dialysezeit in Minuten und V das Verteilungsvolumen des Harnstoffs im Körper, das mit rund 60 % der Körpermasse angesetzt werden kann. Bei einer adäquaten Hämodialyse liegt der Kt/V-Wert über 1,2 pro Sitzung, was einem wöchentlichen Kt/V-Wert von 3,6–4,8 entspricht. Kt/V-Werte unter 1,2 werden als qualitativ unzureichend eingestuft und sind mit erhöhter Mortalität verbunden.
Anzahl
Prävalenz pro Mio
Bestand am 31.12.2001
91.718
1.114
Gesamtzahl Diaylsepatienten
66.508
808
Hämodialyse
63.307
Peritonealdialyse
3.201
Transplantatnachsorge
25.210
306
Neuaufnahmen in chronische Nierenersatztherapie
Anzahl
Inzidenz
Neuaufnahmen gesamt
17.548
213
Hämodialyse
16.241
Peritonealdialyse
1.067
Nierentransplantation
2.776
Abgänge im Jahr 2001
Anzahl
Verstorbene Patienten
12.130
9/106
Inzidenz
Quelle: QUASI Niere, Report 2006/7: http://www.bundesverbandniere.de/files/QuaSi-Niere-Bericht_2006-2007.pdf
Bei unzureichender Dialysequalität z. B. aufgrund von Shuntproblemen kann die Leistungsfähigkeit durch Urämietoxine herabgesetzt werden, was bei der sozialmedizinischen Beurteilung zu berücksichtigen ist. z
Spezielle Diagnostik
Anamnese: Grunderkrankung; Dialysebeginn, -dauer, -verfahren, -frequenz, -schicht; Shuntanlage wann und wo; dialyseassoziierte Beschwerden wie Hypotonie, Juckreiz, Polyneuropathie, Gelenksbeschwerden; Probleme mit der Trinkmenge; Stand der Transplantationsvorbereitung; Platz auf der Warteliste; Angaben zum Körpergewicht nach Dialyse (Trockengewicht). Untersuchung: Kratzeffekte und Einblutungen an der Haut; Shuntstenosen; Herzgeräusche; Nachweise von extraossären Verkalkungen (Herzklappen, Koronargefäße) bei Hyperphosphatämie; Überwässerungszeichen; Ernährungszustand; Pulsstatus; neurologischer Befund (Polyneuropathie). Labor: In der Regel bringen Dialysepatienten aktuelle Laborwerte zur Begutachtung mit, so dass eine Blutabnahme selten erforderlich ist. z
Spezifische Begutachtungskriterien
Allgemeinzustand: Er wird beeinflusst durch die Dauer der Dialysepflicht, durch Begleiterkrankungen, Ernährungszustand (Dialysekachexie) und körperlichen Trainingszustand. Chronische Infektionsquellen können oft behoben werden (Zahnsanierung). Urämieparameter: Sie werden gemäß den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesaus-
406
Kapitel 17 · Krankheiten der Niere
V. cephalica antebrachii
17 Shunt
17 17 Blutfluß
17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17
A. radialis . Abb. 17.2 Dialyse-Shunt (Cimino-Fistel) [33]
schuss (in Kraft getreten am: 03.10.2007) durch Wahl des Dialysators, des Blut- und Dialysatflusses und der Dialysezeit eingestellt (siehe auch http://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/45/). Der Kt/V-Wert korreliert mit der Mortalität der Dialysepatienten. Komplikationen: Hypotonie, Hypertonie und Herzrhythmusstörungen (Hyperkaliämie); schlechte Dialysequalität bei Rezirkulationsproblemen am Shunt; Überwässerung durch hohe Flüssigkeitszufuhr bei ungenügender oder fehlender Restdiurese; Probleme des Dialysezugangs nach wiederholter Shuntanlage (siehe . Abb. 17.2). Anzahl der wöchentlichen Hämodialysebehandlung, Uhrzeiten von Beginn und Ende der Dialysebehandlungen, Dauer der Ruhephase nach Dialyseende, Mobilität zwischen den Dialyseterminen, berufliche und private Reiseaktivitäten mit Nutzung von Dialyseterminen am Zielort sowie Umstellung beruflicher Aktivitäten als Dialysepatient ergeben sich aus den medizinischen Unterlagen und aus der Anamnese. Durchschnittlich sind wöchentlich drei Hämodialysetermine über jeweils vier bis fünf Stunden notwendig. Die Dialyseeinrichtungen bieten Dialysen in den Nachmittags- und Abendstunden. Das hat für die Patienten den Vorteil, dass die Ruhephase in die Nachtstunden verlegt werden kann, so dass tags darauf die Tätigkeit wieder aufgenommen werden kann. Falls die Hämodialyse lediglich während der vereinbarten Arbeitszeit möglich ist, besteht für deren Dauer, die Zeit der Anfahrt zur Dialyseeinrichtung und für die nach der Dialyse erforderliche Ruhezeit Arbeitsunfähigkeit. Die Verträglichkeit der Hämodialyse ist individuell unterschiedlich. Einige Patienten fühlen sich direkt nach Dialyseende relativ fit und können noch am selben Tag die Tätigkeit fortsetzen. Andere haben nach der Dialyse einen Blutdruckabfall, leiden unter Übelkeit, fühlen sich schwach und können nur an dialysefreien Tagen arbeiten. Manche Patienten können selbst an dialysefreien Tagen nicht mehr arbeiten.
Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung [2] gehen davon aus, dass wer wegen einer Niereninsuffizienz in ständiger Dialysebehandlung steht nur unter besonderen Bedingungen in der Lage ist, den gestellten Anforderungen zum Führen eines Kraftfahrzeuges der Gruppe 1 (Klassen A, A1, B, BE, M, L, T) gerecht zu werden. Die Annahme, ein Betroffener könnte sich sicher beim Führen eines Kraftfahrzeuges im Straßenverkehr verhalten, setzt eine entsprechende positive Begutachtung voraus und ist außerdem mit der Bedingung einer ständigen ärztlichen Betreuung und Kontrolle verbunden. Wenn die Anforderungen in Gruppe 1 nicht erfüllt sind, liegen sie in der Gruppe 2 nicht vor. Ein positives nephrologisch-verkehrsmedizinisches Gutachten würde beispielsweise bei einem Antrag auf Kfz-Hilfe zu erwarten sein. z Spezielle sozialmedizinische Beurteilung z z Leistungen zur Teilhabe
Auch Dialysepatienten können Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wahrnehmen. Zu den Rehabilitationszielen gehören beispielsweise die Überprüfung der körperlichen Leistungsfähigkeit nach der Dialyse, die Herz-Kreislauf-Belastbarkeit, Beeinflussbarkeit der Müdigkeit in Abhängigkeit der Dialysemethode. Die Dialyseverfahren können optimiert werden, beispielsweise durch Umstellung von einer schnellen auf eine langsamere Dialyse. Arbeitstherapie und Belastungserprobung sind im Rahmen der medizinischen Rehabilitation möglich. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, beispielsweise in Form von Berufsfindung und Arbeitserprobung, können von Dialysepatienten in Anspruch genommen werden. z z Erwerbsminderung
Für jüngere Dialysepatienten ohne wesentliche Begleitund Folgeerkrankungen können leichte Tätigkeiten meist über sechs Stunden möglich sein, falls keine Dialysekomplikationen vorliegen. Ältere, multimorbide Patienten adaptieren sich schlechter an die Dialyse und haben eine höhere Komplikationsrate, so dass häufig eine quantitative Leistungsminderung vorliegt [32]. Der Zeitbedarf für die Dialyse von durchschnittlich dreimal pro Woche über jeweils 4 bis 5 Stunden, die Anfahrtszeit zur Dialyseeinrichtung und die Dauer der Ruhephase nach der Dialyse können mit der Arbeitszeit kollidieren, wenn die Dialyse ausschließlich während der Arbeitszeit regelmäßig an mehreren Arbeitstagen in der Woche wahrgenommen werden muss. Für eine 5-TageArbeitswoche kann das tägliche Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr aus sozialmedizinischer Sicht nicht mehr angenommen werden. Bei Hämodialysebehandlungen in den Spät-, Abend- oder Nachtstunden muss diese Einschränkung nicht bestehen, wenn die Dialyseverträglichkeit gut ist und am Morgen nach der Dia-
407 17.3 · Nierenersatztherapie
lysebehandlung keine wesentlichen Beeinträchtigungen bestehen. Dies trifft auch für Patienten zu, die eine Heimdialyse nutzen können. Zeiten der Arbeitsunfähigkeit können dem Arbeitsunfähigkeitsregister der Krankenkasse entnommen werden, das zusätzlich die Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen enthält.
17.3.2
Peritonealdialyse
Bei der Peritonealdialyse (PD) dient das Bauchfell als Dialysator, in das ca. 2 Liter Dialysatflüssigkeit über einen Katheter instilliert und ausgelassen werden. Bei der kontinuierlichen ambulanten Peritonealdialyse (CAPD) tauscht der Patient in Eigenregie alle 4 bis 6 Stunden die Dialysatflüssigkeit aus (sogenannte Beutelwechsel). Die Wechselintervalle werden vom Nephrologen vorgegeben. Die Beutelwechsel können zu Hause wie auch bei der Arbeit vorgenommen werden. Der Flüssigkeitswechsel dauert etwa 40 Minuten. Der Patient bleibt mobil. Die zyklisch kontinuierliche Peritonealdialyse (CCPD) ist die am häufigsten angewendete Methode der apparativen Peritonealdialyse (APD). Ein programmierbares Gerät (PD-Cycler) steuert während des Schlafs in der Nacht Flüssigkeitsvolumen, Verweildauer und Ein- sowie Auslaufzeiten der Dialyseflüssigkeit. Dabei werden 10 bis 15 Liter Dialysat umgesetzt. Am Tage werden 1,5 bis 2 Liter alle 4 bis 6 Stunden vom Patienten selbst gesteuert. Eine regelmäßige Beurteilung von Sitz, Durchgängigkeit und Infektionsschutz am Katheterausgang (Exit) durch Fachpersonal ist erforderlich. Der wöchentliche Kt/V-Wert sollte bei der CAPD über 2,0 (CCPD > 2,1) und die minimale tägliche Ultrafiltration über 1000 ml liegen. Von Vorteil ist die einfachere Handhabung ohne fremde Hilfe (Heimdialyse). Nachteilig ist die schlechtere Dialysequalität, die durch eine längere Behandlungsdauer ausgeglichen werden muss. Die Permeabilität des Bauchfells nimmt mit der Zeit ab, so dass sich das Verfahren in der Regel nur für eine gewisse Zeit, gelegentlich als Brücke bis zur Transplantation eignet. Probleme können durch Hernien entstehen. Rezidivierende Peritonitiden sind heute zurückgegangen und im Durchschnitt alle 15– 20 Monate zu erwarten. Ein erhöhter Eiweißverlust kann vorliegen. Das Serum-Albumin sollte über 3,5 g/dl liegen. Bei der intermittierende Peritonealdialyse (IPD) wird 3 bis 4-mal wöchentlich die Peritonealdialyse unter fraktioniertem Einsatz von 30 bis 40 Liter Spülflüssigkeit in einer Dialyseeinrichtung über etwa 8 Stunden durchgeführt. Die Methode ähnelt im Aufwand der Hämodialyse. Mit der Tidal-Peritonealdialyse werden die Abläufe einer IPD modifiziert. Dabei wird nur ein Teil des Dialysat eines Waschzyklus abgelassen und durch neue Spülflüssigkeit des nächsten Waschzyklus ergänzt. Dadurch bleibt
das Bauchfell während der gesamten Dialysedauer von 8 Stunden im Kontakt mit dem Dialysat. Die nächtliche intermittierende Peritonealdialyse (NIPD) kann täglich zu Hause während des Schlafs durchgeführt werden, wobei mit dem PD-Cycler in 8 Stunden etwa 20 Liter Dialysat umgesetzt werden. z
Spezielle Diagnostik
Anamnese: Verfahren: CAPD, CCPD, IPD; Hygiene beim Dialysatwechel zu Hause und am Arbeitsplatz; Probleme bei der selbständigen Durchführung, z. B. Flussprobleme beim Auslauf. Die Restnierenfunktion bleibt oft länger erhalten und ist zu erfragen. Untersuchung: Wie bei der Hämodialyse, zusätzlich Überprüfung der Katheteraustrittsstelle (Exit-Infektionen); korrekte Lokalisation der Katheterspitze im kleinen Becken; Umbilikal- oder Inguinalhernien; Ödeme, Pleuraerguss, Perikarderguss. Labor: Besonderes Augenmerk ist auf den Phosphatspiegel zu richten, da die Phosphatclearance bei der CAPD gelegentlich unzureichend ist. Eine Hyperglykämie wird durch hochprozentiges glukosehaltiges Dialysat begünstigt. z
Spezifische Begutachtungskriterien
Allgemeinzustand: Wie bei der Hämodialyse; zusätzlich Anzeichen für Proteinmangel durch Eiweißverlust; gelegentlich auch Adipositas, begünstigt durch kalorienreiche CAPD-Flüssigkeit. Urämieparameter: Der Kt/V-Wert sollte über 2,0/Woche (ohne Einrechnung der Nierenrestfunktion > 1,7/Woche) liegen und wird vom Nephrologen mitgeteilt; er hängt vom Funktionszustand des Peritoneums ab. Komplikationen: Peritonitis meist durch Infektionen über die Bauchdecke oder hämatogen, aber auch als Folge einer Divertikulitis oder Cholezystitis; Katheterkomplikationen durch Dislokation oder Verstopfung. z Spezielle sozialmedizinische Beurteilung z z Leistungen zur Teilhabe
Siehe Ausführungen zur Hämodialyse. z z Erwerbsminderung
Die Beurteilung des Leistungsvermögens entspricht der bei Hämodialysepatienten. Überwiegend leichte körperliche Arbeiten ohne Nachtschicht können über 6 Stunden und mehr möglich sein. Schweres Heben und Tragen ist zur Prophylaxe einer Hernienbildung zu vermeiden, ebenso anhaltendes Arbeiten im Hocken. Der Beutelwechsel erfordert ein hygienisches Umfeld am Arbeitsplatz wie zu Hause. Die Anzahl der Beutelwechsel während der Arbeit und die dazu benötigte Zeit müssen gutachterlich bewertet werden. Der geschulte CAPD-Patient trägt selbst die Verantwortung für seine Behandlung und muss physisch und psychisch handlungsfähig sein. Andererseits können Partner bei eingeschränkter Selbstversorgung angelernt
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Kapitel 17 · Krankheiten der Niere
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werden. Bei der nächtlichen CCPD, die in speziellen Fällen indiziert ist, werden die Beutel maschinell gewechselt, so dass ein Beutelwechsel während der Arbeitszeit meist entfallen kann.
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Nierentransplantation
Nierentransplantationen werden mittels postmortaler oder Lebendspende durchgeführt. Die Transplantatniere wird in die rechte oder linke Fossa iliaca gebettet mit kurzstreckigem Anschluss des Harnleiters an die Harnblase und der Arterie und Vene an die Iliakalgefäße. Abstoßungsepisoden treten überwiegend im ersten Jahr nach Transplantation auf. Darüber hinaus hängt die Langzeitprognose entscheidend vom Blutdruckverhalten ab und wird durch chronisch überhöhte Blutdruckwerte deutlich verschlechtert. Die notwendige Langzeiteinnahme von Immunsuppressiva, insbesondere von Kortison, kann zu Komplikationen wie Infektionen oder Knochenschäden (aseptische Hüftkopfnekrose) beitragen. Immunsuppression: Kortikosteroide, Ciclosporin A (CYA) + Mycophenolatmofetil (MMF); gelegentlich auch Azathioprin als Alternative zu MMF; alternativ Sirolimus + CYA + Kortison. Nach sechs bis neun Monaten wird bei stabiler Transplantatfunktion eine Zweierkombination angestrebt: CYA + Prednisolon, CYA + MMF, Tacrolimus + Prednisolon, Tacrolimus + MMF. Im Einzelnen werden in der Transplantationsmedizin eingesetzt: 4 Calcineurininhibitoren (Ciclosporin und Tacrolimus) hemmen die Aktivierung von T-Zellen. 4 Antimetabolite (Azathioprin und Mycophenalat) hemmen die Vermehrung der T-Zellen. 4 m-TOR-Inhibitoren (Sirolimus und Everolimus) hemmen die Vermehrung von T- und B-Zellen. 4 Antikörper (Basiliximab, Daclizumab) gegen die Aktivierung von T-Zellen. 4 Kortison (plasmatischer Rezeptor, Wirkung auf Lymphozyten). Lebendspende und ABO-inkompatible Transplantationen haben in den letzten Jahren zugenommen und haben somit den Mangel an Spenderorganen etwas abgemildert. z
Spezielle Diagnostik
Anamnese: Ätiologie der Nierengrunderkrankung; Zeitpunkt der letzten Transplantation; Transplantatkomplikationen, Gründe der Explantation; Komplikationen durch verzögerte Funktionsaufnahme; Abstoßungsreaktionen, Infektionen, Harnabflussstörungen, Lymphozelen, Urinome, Transplantatarterienstenosen; Wechsel der Immunsuppressiva; Probleme durch die Nierengrunder-
krankung; Hypertonie; Proteinurie; rezidivierende Harnwegsinfekte. Untersuchung: Palpation des Transplantates: Konsistenz, Größe, Druckschmerz; Strömungsgeräusch über der Transplantatarterie; Störungen der peripheren Durchblutung; AVK; Temperatur. Ansonsten Untersuchung wie bei anderen Nierenkranken mit besonderem Augenmerk auf die Funktion der Hüftgelenke und andere muskuloskelettale Befunde. Psychische Verfassung. Labor: Einsichtnahme in nephrologische Laboruntersuchungen, Medikamentenspiegel der Immunsuppressiva, CMV-Serologie. z
Spezifische Begutachtungskriterien
Allgemeinzustand: Erholung des körperlichen und seelischen Zustandes nach der Transplantation; Ernährungszustand; Cushing-Syndrom; steroidinduzierter Diabetes; Pankreasfunktion unter Immunsuppression; Muskelatrophien; Ödeme; Belastungsdyspnoe; kardiopulmonale Belastbarkeit; Begleit- und Folgeerkrankungen; Alkohol; Osteoporose; Hüftkopfnekrosen; ausreichende Rehabilitation. Transplantatfunktion: Kreatinin-Clearance; Proteinurie, Bakteriurie; Infektionen. Transplantatsonographie: Ein Anstieg des Widerstandsindex (RI) im Verlauf weist auf einen pathologischen Gefäßwiderstand bei Abstoßungsreaktionen hin; zusätzlich Transplantatgröße und -struktur, Abflussstörungen, Lymphozelen. Immunsuppression: Therapieschema; Medikamentenspiegel im therapeutischen Bereich; Rescuetherapie bei chronischem Transplantatversagen; Insulindosierung nach PankreasNieren-Transplantation oder nach einer Inselzelltransplantation; Medikamentencompliance, unkompensiert gebliebene Medikamentennebenwirkungen. z Spezielle sozialmedizinische Beurteilung z z Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe
Eine medizinische Rehabilitation ist sowohl bei Komplikationen nach kürzlich erfolgter Transplantation wie auch bei stabilem Transplantatverlauf mit Begleit- und Folgeerkrankungen zu überlegen, um die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu erhalten. Insbesondere kommt sie in Frage bei Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus und/oder ausgeprägtem Risikprofil trotz Standardtherapie, schwer einstellbarer Hypertonie, mit Folgeerkrankungen an Herz und Gefäßen, Herzinsuffizienz, Zustand nach Amputationen oder ausgeprägter psychosozialer Problematik. Die Rehabilitationsleistung sollte in einer spezialisierten Rehabilitationseinrichtung ambulant oder stationär unter nephrologischer, evtl. auch diabetologischer Leitung erfolgen [3]. Die nephrologische Rehabilitation umfasst generell den somatischen, edukativen, psychologischen und beruflich/sozialen Bereich. Die körperliche Leistungsfähigkeit lässt sich auch nach Nierentransplantation durch geeignete Trainingsprogramme und gesund-
409 Literatur
heitsförderlichen Lebensstil deutlich steigern. Spezielle Schulungsprogramme (wie z. B. Nieren- oder Hypertonieschulung) dienen der Beeinflussung von Risikofaktoren (auch Vermeidung von Infektionen). Die Funktionsdauer des Transplantats kann durch angemessenes Selbstmanagement so deutlich verlängert werden. Auch therapiebedürftige seelische Reaktionen z. B. nach Organspende (bei Lebend- und Leichenspende) sind zu berücksichtigen.
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z z Erwerbsminderung
Nach einer Nierentransplantation nimmt die körperliche Leistungsfähigkeit bei stabiler Transplantatfunktion rasch zu. Parallel dazu geht die Anämie zurück. Erreicht wird eine Leistungsfähigkeit von ca. 70 % altersgleicher Nierengesunder. Bei stabilem Verlauf können nach einem Jahr meist leichte bis mittelschwere Arbeiten über sechs Stunden und mehr verrichtet werden. Arbeitsschwere, Arbeitshaltung und Arbeitsorganisation sollen an den Nierentransplantierten angepasst sein. Mittelschwere und schwere körperliche Arbeiten scheiden für Nierentransplantierte aus. Überdurchschnittlicher Publikumsverkehr und Arbeiten mit erhöhter Infektionsgefährdung sind wegen der Immunsuppression zu vermeiden. Lasten über 15 kg sind postoperativ nicht zu heben. Kälte, Nässe und Arbeitsplätze mit Temperaturwechsel sind wie bei anderen Nierenpatienten zu vermeiden. Beim Bekanntwerden einer Nierentransplantation, beispielsweise im Rahmen einer Rentenkontrolle, kann etwa 12 Monate nach Nierentransplantation untersucht werden, ob sich das Leistungsvermögen stabil gebessert hat. Dabei werden neben einer Besserung von Nierenretentionswerten durch eine gute Transplantatfunktion auch die Verträglichkeit der immunsuppressiven Therapie sowie die Entwicklung von Begleitkrankheiten, hinzugetretene Neuerkrankungen und Folgen von Infektionen analysiert. Das Leistungsvermögen nach Nierentransplantation bleibt bei Patienten mit multiplen Organschäden wie beim diabetischen Spätsyndrom meist quantitativ eingeschränkt.
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Literatur
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Kapitel 17 · Krankheiten der Niere
20 Kettner-Melsheimer A, Weiss B, Huber W: Physical work load capacity in chronic renal disease. Int J Art Org 10: 23–30, 1987 21 Kidney Disease Outcomes Quality Initiative, K/DOQI: Clinical Practice Guidelines on Chronic Kidney Disease: Evaluation, Classification, and Stratification. Part 1. Executive Summary. Work Group and Evidence Review Team Membership. Am J Kidney Diseases 30 (2 Pt 1): 17–31, 2002 22 Klang B, Clyne N: Well-Being and functional ability in uremic patients before and after having started dialysis treatment. Scand J Caring Sci 11: 159–166, 1997 23 Kouidi E, Albani M, Natsis K, Megalopoulos A, Gigis P, GuibaTziampiri O, Tourkantonis A, Deligiannis A: The effect of exercise training on muscle atrophy in haemodialysis patients. Nephrol Dial Transplant 13: 685–699, 1998 24 Kouidi E, Iacovides A, Iordanidis P, Vassiliou S, Deligiannis A, Ierodiakonu C, Tourkantonis A: Exercise renal rehabilitation program: Psychosozial effects. Nephron 77: 152–158, 1997 25 Lange H, Bode JC, Janssen J, Thüroff J, Tücke M: Ergometrische Untersuchungen von Dialysepatienten bei unterschiedlicher Hämoglobinkonzentration. In: Dittrich P (Hrsg.): Aktuelle Probleme der Dialyseverfahren und Niereninsuffizienz, S. 100–111. Friedberg: Bindernagel, 1975. 26 McKee DC, Burnett GB, Raft DD, Batten PG, Bain KP: Longitudinal study of neuropsychological functioning in patients on chronic hemodialysis: A preliminary report. J Psychosom Res 26: 511–518, 1982 27 National Kidney Foundation. K/DOQI clinical practice guidelines for chronic kidney disease: evaluation, classification and stratification. Am J Kidney Dis 2002; 39: Suppl 1: S1–S266 28 Renal Data System. USRDS: 2006 annual data report: atlas of endstage renal disease in the United States. Bethesda, MD: National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Disease, 2006 (accessed 10, 2009, at http://www.usrds.org/reference_2006.htm) 29 Sabariego C, Grill E, Brach M, Fritschka E, Mahlmeister J, Stucki G: Incremental cost-effectivness analysis of a multidisciplinary renal education programme for patients with chronic renal disease. Disabil Rehabil. 2010; 32(5):392–401 30 Sabariego C, Grill E, Brach M, Fritschka E, Mahlmeister J, Stucki G: Incremental cost-effectivness analysis of a multidisciplinary renal education programme for patients with chronic renal disease. Disabil Rehabil. 2010; 32(5):392–401 31 Tews HP, Schreiber WK, Huber W, Zelt J, Ritz E: Vocational rehabilitation in dialyzed patients. A cross-sectional study. Nephron 26: 130–136, 1980 32 Wybitul K, Loeffler HD, Tilly S, Keller E: Beurteilung der Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit von chronisch hämodialysepflichtigen Patienten im Vergleich zu Normalpersonen. Nieren- und Hochdruckkrankheiten 16: 17–24, 1987 33 Schmidt, Dieter: Anlage, Komplikationen und Pflege des Shunt. 1. Teil: Medizinische und pflegerische Grundlagen. Die Schwester Der Pfleger 39 (2000), H. 6: 482–486, 2000
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Urologische Erkrankungen Winfried Vahlensieck, Olaf Sawal, Horst Hoffmann
18.1
Allgemeines – 412
18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5
Sozialmedizinische Bedeutung – 412 Diagnostik – 412 Krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF – 413 Begutachtungskriterien – 414 Sozialmedizinische Beurteilung – 414
18.2
Krankheitsbilder – 415
18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5 18.2.6 18.2.7 18.2.8
Harnsteine – 415 Urogenitalinfektionen – 416 Harninkontinenz – 418 Harnblasenentleerungsstörungen – 420 Nierentumoren – 421 Harnblasenkarzinom – 422 Prostatakarzinom – 424 Hodentumoren – 426
Literatur – 428
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 18 · Urologische Erkrankungen
Dieses Kapitel stellt nur eine Auswahl der häufigsten für die Begutachtung relevanten urologischen Krankheitsbilder dar: Harnsteinleiden, Urogenitalinfektionen, Harninkontinenz, Harnblasenentleerungsstörungen, Nieren-, Harnblasen-, Prostata- und Hodentumoren. Natürlich können auch Funktionsstörungen bei anderen urologischen Erkrankungen wie z. B. nach Geschlechtsumwandlung einen Rehabilitationsbedarf oder Einschränkungen des Leistungsvermögens im Erwerbsleben auslösen. Dem Gutachter sollte es jedoch möglich sein, auch bei hier nicht aufgeführten Erkrankungen zu einer analogen Bewertung zu kommen.
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18.1
Allgemeines
18.1.1
Sozialmedizinische Bedeutung
Harnsteine haben bei einer Prävalenz von 4,7 % und einer in den letzten 10 Jahren auf das dreifache angestiegenen Inzidenz von 1,47 % den Charakter einer Volkskrankheit. Harnwegsinfektionen (HWI) treten bei ca.10–20 % aller Frauen auf. Je nach dem Ort der Untersuchung und der Zusammensetzung des Patientenguts (Allgemeinarzt oder urologische Praxis) werden bei diesen Frauen bei 20–50 % häufige Rezidive (≥ 3-mal jährlich oder ≥ 2-mal/Halbjahr) beobachtet. Auch Angaben zum Anteil von komplizierten Infektionen schwanken je nach Untersuchung (bis zu 50 % bei ambulanten Patienten im Erwachsenenalter in der urologischen Praxis). Aus dem zunehmenden Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung in Deutschland resultieren zunehmende sozio-ökonomische Probleme der Harninkontinenz. Blasenfunktionsstörungen mit oder ohne Harninkontinenz sind die häufigsten Alterskrankheiten in den westlichen Industrieländern. Von den in Deutschland mit einer behandlungs- oder versorgungsbedürftigen Harninkontinenz lebenden vier Millionen Menschen sind mehr als zwei Millionen älter als 60 Jahre. Neurogene Harnblasenentleerungsstörungen (NBE) können bei lumbalem Diskusprolaps (1–5 % NBE), multipler Sklerose (75 %) und anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Parkinson (37–71 %), Querschnittslähmung (100 %) und Diabetes mellitus auftreten. Prostatakarzinome stehen an erster Stelle der Krebsneuerkrankungen bei Männern (15 %, 58.570/230.500 aller Krebsneuerkrankungen 2004), Harnblasenkarzinome an 4. (9 %) und Tumoren der Nieren und ableitenden Harnwege an 6. Stelle (5 %). Hodentumoren sind die häufigsten Tumoren des Mannes zwischen 25 und 45 Jahren. Prostatakrebs stellt die dritthäufigste Krebstodesursache beim Mann dar (11.135 Tote 2004). Harnblasenkarzinome liegen an 8. Stelle der Krebsneuerkankungen bei Frauen (4 %, 7.340/206.000 aller
Krebsneuerkrankungen 2004), Nierentumoren an 10. Stelle (3 %). Im Jahr 2009 wurden durch die Deutsche Rentenversicherung bei urologischen Erkrankungen (C60–C68 und N20–N51) insgesamt 40.159 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und sonstige Leistungen zur Teilhabe abgeschlossen. Diese Leistungen betrafen 35.574 Männer und 4.585 Frauen. Davon entfielen 34.621 Leistungen auf maligne Erkrankungen bei Männern, 25.894 allein auf das Prostata-Karzinom. Es wurden 2009 bei urologischen Erkrankungen (C60–C68 und N20–N51) 1.885 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bewilligt, davon allein 634 bei der Diagnose C61 (Bösartige Neubildung der Prostata).
18.1.2
Diagnostik
Nieren, ableitende Harnwege und Harnblase können ohne Hilfsmittel nur eingeschränkt untersucht und beurteilt werden. Im Rahmen einer Begutachtung muss man daher häufig auf die Ergebnisse technischer Untersuchungen zurückgreifen. Im Folgenden werden die für die sozialmedizinische Beurteilung relevanten Diagnoseverfahren kurz dargestellt. z
Anamnese
Vorerkrankungen, Operationen sowie durchgeführte Therapien und deren Folgen. Aktuelle Beschwerden: Allgemeinbefinden (Müdigkeit, Gewichtsverlust), Schmerzen, Miktionsstörungen (Frequenz, Harnstrahlqualität, Beschwerden), Hämaturie, Erektionsstörungen, Krankheitsverarbeitung; Schmerzprotokoll bei chronischen Schmerzen; Miktionsprotokoll (Miktionstagebuch) und Leidensdruckbewertung (VAS = Visuelle Analogskala 0–10) bei Harnspeicher- oder Harnentleerungsstörungen, Gebrauch von Inkontinenzartikeln am Tag und in der Nacht, Hilfsmitteln wie z. B. Penisklemmen oder Harnableitungssystemen. Situationsbedingte Beeinträchtigung in Alltag und Beruf, Kompensationsmöglichkeiten und Hemmnisse. z
Körperliche Untersuchung
Abdomen, Nierenlager, Genitale; digitale rektale Untersuchung/Examination (DRU, DRE); vaginale Inspektion und Palpation, Hustentest; fachrelevante neurologische Untersuchung: Analreflex, Bulbocavernosusreflex, perianale Sensibilität; Stabilität von Operationsnarben. z
Labordiagnostik
Blut: Diagnoseangepasste hämatologische und klinischchemische Laboruntersuchungen; Tumormarker: bei Hodentumoren β-HCG, AFP, LDH, PLAP, beim Prostatakar-
413 18.1 · Allgemeines
. Tab. 18.1 1-Stunden-PAD-Test nach Empfehlung der ICS 1990 5 Harnblase nicht entleeren lassen. Vorlage wiegen, einlegen. 5 15 min sitzen und 500 ml natriumarme Flüssigkeit innerhalb von 15 min trinken. 5 30 min gehen und Treppen steigen. 5 15 min Aktivität: 10 mal sitzen und aufstehen, 10 mal kräftig husten, 1 min auf der Stelle laufen, 5 mal bücken und Gegenstände vom Fußboden aufheben, 1 min die Hände unter laufendem Wasser waschen. 5 Vorlage entfernen, wiegen. Harnblase leeren und die Menge notieren. 5 Bei trockener Vorlage Test wiederholen.
zinom PSA, fPSA; Blutgasanalyse bei Darminterponaten im Harntrakt oder renal tubulärer Azidose; Urinstatus, Urinkultur bei pathologischem Urinstatus und/oder klinischem Infektverdacht; Urinzytologie bei (V. a.) urothelialem Karzinom; spezielle Diagnostik bei (rezidivierenden) Urogenitalinfektionen, interstitieller Zystitis, Harnsteinen und unklarer Hämaturie (z. B. Kaliumchloridtest oder Erythrozytenmorphologie). z
Vorlagen-(PAD)-Test
Zur Quantifizierung einer Harninkontinenz nach den Richtlinien der International Continence Society (ICS) oder als 24-h-Vorlagentest mit Bestimmung der Tagesund Nachtportion; . Tab. 18.1. z
Bildgebende Verfahren
Sonographie: Oberbauchorgane, Nieren, Harnblase und Harnblasenwanddicke, Prostata, Restharn, Retroperitoneum, Skrotalorgane, transrektal, perineal, transvaginal; Dopplersonographie: Nieren-, Penis- und Hodengefäße. Röntgen: Leeraufnahme, Ausscheidungsurographie; Fisteldarstellung; (Miktions-)Zystographie; laterale Zystographie mit oder ohne Kettchen; Pouchographie; retrograde Urethrographie und Ureteropyelographie. CT, PETCT und NMR: Lokalisationsdiagnostik bei Tumoren und Entzündungen. Nierenszintigraphie: Funktionelle Beurteilung des oberen Harntraktes. Knochenszintigraphie: Ausschluss von Knochenmetastasen, Entzündungsszintigrafie: bei unklaren Infektionen. z
Uroflowmetrie und (video-)urodynamische Untersuchung
Bei Harninkontinenz sowie sonstigen Harnspeicher- und Harnblasenentleerungsstörungen. Zystometrie mit erstem und starkem Harndrang, maximaler und funktioneller Harnblasenkapazität, Detrusorfunktion während der
Füllphase mit Provokationstests, Druck-Flussmessung während der Entleerungsphase; Valsalva Leakpoint Pressure; Beckenboden-EMG; Urethra-Druckprofil in Ruhe und bei Stress (Bestimmung der Drucktransmission). z
(Fluoreszenz-)Endoskopie
Beurteilung der Morphologie und Funktion des Harntraktes. 18.1.3
Krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) stellt Krankheiten in einem umfassenden bio-psycho-sozialen Modell dar (siehe auch 7 Kap. 4.2) und unterstützt die sozialmedizinische Betrachtung von Gesundheitsstörungen. Im ICF-Kapitel „Mit dem Urogenital- und dem Reproduktionssystem im Zusammenhang stehende Strukturen» werden die Strukturen der ableitenden Harnwege, des Beckenbodens und der Geschlechtsorgane aufgeführt. An Körperfunktionen werden Harnbildungsfunktionen, Miktionsfunktionen und mit der Harnbildung und –ausscheidung verbundene Empfindungen aufgelistet. Urologische Erkrankungen können Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe) betreffen, insbesondere in Hinsicht auf Mobilität (z. B. bei ausgeprägter Urge-Symptomatik), Selbstversorgung (z. B. bei Notwendigkeit der Katheterisierung infolge Harnentleerungsstörung), interpersonelle Interaktionen (z. B. durch Geruchsbelästigung infolge Harninkontinenz) und Beziehungen (z. B. bei intimen Beziehungen durch Erektionsstörungen nach OP eines Prostata-Karzinoms), bei Arbeit und Beschäftigung (z. B. in Außendiensttätigkeiten bei notwendigem Beutelwechsel eines Harnableitungssystems nach OP eines Harnblasenkarzinoms) und im Gemeinschaftsleben (z. B. bei Veranstaltungen mit großem Publikum durch häufige Toilettengänge oder Geruchsbelästigung infolge Harninkontinenz). Harninkontinenz (z. B. bei Neoblase) oder Harnentleerungsstörungen, die verstärkt während der Nacht auftreten, können Störungen des Tag/Nachtrhythmus und Tagesmüdigkeit mit vermindertem Konzentrationsvermögen nach sich ziehen, die besonders für Tätigkeiten mit Verantwortung für Menschen und Maschinen relevant sein kann. Daraus können sich auch Einschränkungen der mentalen Funktionen, vornehmlich der psychischen Energie und des Antriebs ergeben. Die Ausprägung von Einschränkungen hängt auch von persönlichen und Umweltfaktoren ab.
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Kapitel 18 · Urologische Erkrankungen
18.1.4
Begutachtungskriterien
Harninkontinenz. Abhängig vom Ausmaß des Urinverlusts kann ein Uringeruch trotz flüssigkeitsabsorbierender Vorlagen den Patienten und seine Umgebung im Privatleben wie am Arbeitsplatz (Publikumsverkehr) beeinträchtigen. Häufig kommt es zur Ausgrenzung und sozialen Isolation. Der permanente Urinkontakt der Haut kann zu Entzündungen und Dekubitalulzera am Unterleib führen. Unvorhersehbare Harninkontinenzepisoden begünstigen Unsicherheit und Vermeidungsverhalten. Eine (postoperative) Harninkontinenz wird oft als Rückfall in die Kindheit erlebt und stört das Selbstwertgefühl z. T. massiv. Harnentleerungsstörungen. Alle Störungen der Harn-
entleerung (Harnblase, Nieren, Harnleiter) können durch Harnrückstau zu aufsteigenden Infektionen und zu einoder beidseitigen Nierenschäden führen, wenn sie nicht behoben oder mittels geeigneter Harnableitungssysteme umgangen werden. Operative Eingriffe zur Sanierung der Entleerungsstörungen können selbst Funktionsstörungen hinterlassen. Die Funktion von Harnableitungssystemen kann zu Beeinträchtigungen im Alltag und Beruf sowie zu Komplikationen führen. Infektionsrisiko. Anatomische Normabweichungen im
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Urogenitaltrakt können die Infektionshäufigkeit fördern. Allein aufgrund der anatomischen Verhältnisse lässt sich das Infektionsrisiko prospektiv nur schwer abschätzen. Retrospektiv geben dagegen die Häufigkeit und Schwere aufgetretener Infektionen und der Therapiebedarf konkrete Anhaltspunkte. Der unkritische Einsatz von Antibiotika kann durch Resistenzentwicklung zu schwieriger zu therapierenden Infektionen führen. Chronische Schmerzen und Missempfindungen. Siehe 7 Kap. 26. Im urologischen Bereich sind hier insbesondere die z. T. unerträglichen Schmerzen nach intravesikaler oder systemischer Chemotherapie, bei interstitieller Zystitis, chronischer Prostatitis und Genitalneuralgien, postoperativ persistierende Wundschmerzen sowie häufig rezidivierende Koliken zu nennen. Die sozialmedizinische Beurteilung von Schmerzzuständen ist extrem schwierig. Ein Schmerzprotokoll (Visuelle Analogskala = VAS) im Tagesverlauf über mehrere Tage hilft nur bei der individuellen Einschätzung der Schmerzausprägung des einzelnen Patienten und lässt keine vergleichenden Rückschlüsse auf andere Patienten zu. Weiterhin sollte, wenn Schmerzen gutachterlich in die Bewertung einfließen sollen, möglichst ein entsprechendes morphologisches Korrelat vorhanden sein.
Operationsfolgen. Je nach operativem Zugangsweg – transurethral, transureteral, pyelocaliceal, nephroskopisch, laparoskopisch, transskrotal, transperitoneal, retroperitoneal oder thorakoabdominal – können Komplikationen und Folgezustände wie Perforationen, Fisteln, Strikturen, Störungen der Harnblasenentleerung, Lymphödeme, Nervenläsionen, Funktionsstörungen des MagenDarmtrakts, Harninkontinenz und chronische Schmerzen auftreten, deren Auswirkungen auf das Leistungsvermögen bei Persistenz im Erwerbsleben zu berücksichtigen sind. Permanente Störungen des Elektrolyt- und SäureBasen-Haushaltes. Permanente Störungen des Elek-
trolyt- und Säure-Basen-Haushaltes können sich bei Darminterponaten im Harntrakt und/oder Nierenfunktionsstörungen ergeben. Niereninsuffizienz. Siehe 7 Kap. 17. Hier ist insbeson-
dere immer zu prüfen, ob die Beseitigung einer Obstruktion des ableitenden Harntrakts zu einer Verbesserung oder zumindest Stabilisierung der Nierenfunktion führen kann. Akute oder chronische somato-psychische Belastungsreaktionen. Siehe 7 Kap. 24.
18.1.5
Sozialmedizinische Beurteilung
Hygienische Probleme. Urologische Erkrankungen können erhebliche Probleme der Alltagshygiene nach sich ziehen: Verschmutzte Kleidung oder Wäsche; häufiger Gang zur Toilette; Verwendung von Harninkontinenzartikeln oder Urinableitungssystemen, deren Wechsel bzw. Pflege einen geeigneten Ort mit Waschgelegenheit und Abfalleimer mit Deckel erfordert. Der korrekte Gebrauch von Kontinenzartikeln verhindert häufig Geruchsbelästigungen und Hautirritationen. Die vorgeschriebenen hygienischen Anforderungen an Toiletten in Arbeitsstätten sind für den Wechsel von Kleidung oder Inkontinenzartikeln ausreichend. Für den Beutelwechsel bei Harnableitungssystemen sind keine besonderen Hygienemaßnahmen erforderlich. Eine Selbstkatheterisierung ist dagegen aufwändiger, weil sie unter sterilen Bedingungen zu erfolgen hat. Falls die Selbstkatheterisierung liegend durchgeführt werden muss, ist ein Raum mit Liege notwendig. Die durchschnittlich benötigte Zeit und die Intervalle für eine Selbstkatheterisierung sollten erfasst werden. In der Regel sind arbeitsübliche Pausen ausreichend. Imperativer Harndrang mit oder ohne Dranginkontinenz kann in Einzelfällen die Mobilität beeinträchtigen. Insgesamt können die Mobilität und Teilhabe am Erwerbsleben durch die ge-
415 18.2 · Krankheitsbilder
nannten Situationen beeinträchtigt sein, z. B. bei Außendienst- und Reisetätigkeiten (Toilette), Verarbeitung von Lebensmitteln (Sauberkeit), Publikumsverkehr (repräsentatives Auftreten, soziale Akzeptanz) oder Arbeiten ohne Möglichkeit der Pause bei Bedarf zur Harnentleerung. Die Einschränkungen je nach klinischer Symptomatik bzw. Form der Harnableitung und Arbeitsbedingungen sollten präzise erfasst werden, bevor qualitative Einschränkungen in der Begutachtung festgelegt werden.
Schmerzen. Die Bewertung erfolgt je nach Ausprägung
(Schmerzprotokoll). Neben den Selbstangaben können objektive Befunde wie Verhaltensveränderungen, Konzentrationsprobleme, sozialer Rückzug oder eine intensive Therapie zur Schmerzcoupierung ergänzend als Bewertungskriterien herangezogen werden. Die Fahrtauglichkeit (Arbeiten mit Lenken, Fahren und Steuern) oder konzentriertes Arbeiten können vorübergehend oder permanent durch die Einnahme von Analgetika beeinträchtigt sein.
Kälte, Nässe und starke Temperaturschwankungen.
Kälte, Nässe und starke Temperaturschwankungen erhöhen das Risiko aufsteigender Harnwegsinfektionen. Das Tragen der persönlichen Schutzausrüstung kann die Arbeitsschwere erhöhen und bei Harninkontinenz zusätzlich beeinträchtigen. Ebenso können diese klimatischen Bedingungen am Arbeitsplatz für Personen mit Harnableitungssystemen ungünstig sein. Arbeitsschwere und Organisation. Alle Operationen mit Durchtrennung der Bauchdecke ziehen in der Regel für 3–6 Monate neuromuskuläre Störungen nach sich. Die Bauchdeckenbelastbarkeit für Heben, Tragen oder Bücken ist während dieser Zeit vermindert. Anschließend besteht meist (keine permanente Schwächung der Bauchdecke durch Ileumkonduit oder Pouch) eine Belastbarkeit wie vor der Operation. Dauerhafte Schäden am MuskelNervensystem müssen individuell beurteilt werden. Bei Harnableitungen und Darminterponaten oder nach radikaler Prostatektomie ist in der Regel das körperliche Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten über sechs Stunden und mehr gegeben. Eine persistierende neuromuskuläre Bauchwandschwäche oder Narbenbrüche begründen eine Einschränkung auf leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Arbeiten ohne häufiges Betätigen der Bauchpresse etwa beim Bücken, Heben, Klettern, Arbeiten auf Leitern oder Überkopfarbeiten. Bei ausgedehnten Bauchwandbrüchen ist eine operative Revision anzustreben, aber nicht immer erfolgreich. Eine Neubewertung des Leistungsvermögens kann nach erfolgter Hernienrevison angezeigt sein. In Einzelfällen kann das Leistungsvermögen nach erfolgloser oder nicht möglicher Operation aufgehoben sein. Mobilität. Die Mobilität ist nach Operationen am Uro-
genitaltrakt in der Regel nicht eingeschränkt. Ausnahmen sind Nervenverletzungen (z. B. Peronäusparese) oder ausgeprägte Lymphödeme der unteren Extremität. Imperativer Harndrang mit hoher Miktionsfrequenz bei verminderter Blasenkapazität und sehr starke Schmerzen können die Mobilität deutlich einschränken. Die Benutzung öffentlicher Nahverkehrsmittel ohne Toiletten kann im Einzelfall beeinträchtigt sein.
18.2
Krankheitsbilder
18.2.1
Harnsteine
Harnsteine entstehen durch Übersättigung des Urins mit steinbildenden Bestandteilen. Ursachen sind konzentrierter Urin bei geringer Trinkmenge und/oder eine vermehrte Ausscheidung schwer löslicher Substanzen, eine verminderte Ausscheidung von Kristallisationsinhibitoren, genetische Faktoren sowie Missbildungen und Harnwegsinfektionen. Die Zusammensetzung der Harnsteine ist wie folgt: 70 % Kalziumoxalat, 12 % Kalziumphosphat und andere Infektsteine, 13 % Harnsäure, 1 % Zystinsteine, 4 % ohne Hauptbestandteil. Konkremente bis zu einem Durchmesser von 3–4 mm gehen in bis zu 80 % spontan ab, was durch kontinuierliche Spasmoanalgesie und Bewegung gefördert wird. Tritt dies nicht auf, ist bei tiefsitzenden Harnsteinen eine Entfernung mittels Ureteroskopie möglich, bei höher sitzenden Harnleiter- oder Nierensteinen werden ESWL (extrakorporale Stoßwellen-Lithotripsie) und endoskopische Verfahren wie Ureterorenoskopie oder perkutane Nephrolitholapaxie alleine oder kombiniert eingesetzt. Offene Eingriffe wie Pyelolithotomie, Ureterolithotomie und Nephrektomie sind bei komplizierten Harnsteinleiden oder zur Beseitigung von Abflussstörungen selten erforderlich. In jedem Fall ist eine vollständige Sanierung anzustreben, da Restkonkremente und nicht abgeheilte Pyelonephritiden die Bildung von Rezidivsteinen begünstigen. Zur Rezidivprophylaxe muss bei allen Harnsteinarten die Trinkmenge auf 2,5 l/d erhöht werden, bei Zystinsteinen bis 5 l/d. Bei Infektsteinen wird der Urin in Verbindung mit einer Infektsanierung angesäuert. Bei Kalziumoxalat-, Harnsäure- und Zystinsteinen wird der Urin durch geeignete Heilwässer, Alkalizitrate oder Bikarbonat auf einen alkalischen pH-Wert eingestellt. Diätetisch werden die Aufnahme von Kalzium und Oxalat (Kalziumsteine), Purinen (Harnsäuresteine) bzw. Proteinen (Zystinsteine) in vernünftigem Maße eingeschränkt; dabei darf die Kalziumzufuhr zur Osteoporoseprophylaxe nicht unter 1 g/d absinken (WHO-Empfehlung). Medikamen-
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Kapitel 18 · Urologische Erkrankungen
tös kommen u. a. Allopurinol (Harnsäuresteine), Thiazide oder Amilorid (Kalziumsteine) und Ascorbinsäure, α-Mercaptopropionylglycin oder Captopril (Zystinsteine) zum Einsatz. z
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Siehe 7 Kap. 18.1.3, 18.1.4 und 18.1.5. z
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung
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Siehe 7 Kap. 18.1.2. Intensive Abklärung bei Risikopatienten (≥ 25 %) (≥ 3 Steine/3 Jahre, Infektsteine, Harnsäuresteine, Kinder, genetische bzw. Stoffwechselstörungen, Einzelniere, residuale Fragmente > 3 Monate post Therapie) gemäß S2-Leitlinien zu Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis.
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z
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Wird die Rezidivprophylaxe (s. u.) eingehalten, kann je nach Harnsteinleiden eine Rezidivfreiheit bei 50–80 % der Patienten oder zumindest eine starke Reduzierung der Rezidivhäufigkeit erreicht werden. Unzureichend behandelte Harnsteine können zu Hypertonie, chronischer Pyelonephritis und Niereninsuffizienz (7 Kap. 17) führen. Chronische Urinfisteln nach operativen Eingriffen sind selten und führen zum komplizierten Verlauf bis hin zur Nephrektomie. Chronische Schmerzen durch Nierenveränderungen und Therapie kommen in Einzelfällen vor.
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Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
z Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z z Medizinische Rehabilitation
z z Erwerbsminderung
Nach einmaliger Harnsteinbildung oder Harnsteinrezidiven mit Zeitabständen von mehreren Jahren besteht keine Einschränkung des Leistungsvermögens. Evtl. bestehende Nierenfunktionseinschränkungen sind nach 7 Kap. 17 zu bewerten, chronisch rezidivierende Harnwegsinfektionen als Ursache rezidivierender Harnsteine nach 7 Kap. 18.2.2 und chronische Schmerzen je nach Ausprägungsgrad (Schmerzprotokoll). Eine hohe Harnsteinrezidivrate kann gelegentlich zu psychischen Belastungsreaktionen führen.
18.2.2
Urogenitalinfektionen
Sozialmedizinisch relevant sind insbesondere Folgen schwerer Verläufe komplizierter Harnwegsinfektionen wie Pyelonephritis und Urosepsis, chronische Prostatitis und interstitielle Zystitis (IC). Harnwegsinfektionen. Harnwegsinfektionen
werden stadienangepasst antibiotisch behandelt. Ursachen komplizierter Infektionen werden operativ saniert, falls möglich.
Prostatitis. Die Prostatitis wird nach dem National Institute of Health in vier Stadien eingeteilt: 4 I akute bakterielle Prostatitis, 4 II chronische bakterielle Prostatitis, 4 III chronisches Beckenschmerzsyndrom (III a mit Leukozyturie, III b ohne), 4 IV asymptomatische Prostatitis (in der Regel nicht therapiebedürftig).
Bei Rezidivharnsteinen und Risikoerststeinen ist eine ursächliche metabolische Abklärung vorzugsweise im Rahmen einer medizinischen Rehabilitation indiziert. Ziele sind die gezielte Patientenschulung in Hinsicht auf Trinkverhalten, Einhaltung der spezifischen Diät und Gewichtsreduktion sowie, wenn indiziert, die Einleitung einer medikamentösen Rezidivprophylaxe.
Typisch sind Schmerzen bei Bewegung, im Sitzen und bei der Miktion. Bei einer bakteriellen Prostatitis wird 4–6 Wochen lang antibiotisch behandelt (NIH Stadium I und II), bei den nicht-bakteriellen symptomatischen Formen erfolgt eine symptomatische, multimodale Behandlung unter anderem mit Schmerztherapie und Psychotherapie sowie ggf. ein antibiotischer Therapieversuch.
z z Teilhabe am Arbeitsleben
Interstitielle Zystitis. Die interstitielle Zystitis (IC) [auch
Im Einzelfall können bei häufigen Koliken oder chronischen Dauerschmerzen die Fahreignung oder Tätigkeiten mit hoher Konzentration und Verantwortung beeinträchtigt sein. Die Arbeitsabläufe sollten eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr von 2,5–5 l/d zur Steigerung der Diurese ermöglichen. Für häufigere Toilettengänge kann die persönliche Verteilzeit genutzt werden. Hitzearbeit sollte vermieden werden.
bladder pain syndrome (BPS) oder painful bladder syndrome (PBS)] ist eine chronische Entzündung der Harnblasenwand unklarer Ursache mit einer Vermehrung von Makrophagen und Nervenendungen in der Muskelwand der Harnblase. Charakteristisch sind massive Blasenschmerzen und eine Miktionsfrequenz bis zu 100/d, was zu einem auf Miktion und Schmerz ausgerichteten Leben führen kann. Bei etwa zwei Dritteln der Patienten können die Beschwerden mit Analgetika, Myotonolytika, Schleimhautprotektiva u. a. ausreichend gelindert werden.
417 18.2 · Krankheitsbilder
z
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
z z Teilhabe am Arbeitsleben
Siehe 7 Kap. 18.1.2.
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben können vereinzelt angezeigt sein, um einen geeigneten Arbeitsplatz zu erlangen, wenn beispielsweise die bisherige Hitzearbeit oder Feuchtarbeit aus medizinischer Sicht gemieden werden sollten.
z
z z Erwerbsminderung
Siehe 7 Kap. 18.1.3, 18.1.4 und 18.1.5. z
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
Rezidivierende akute unkomplizierte Harnwegsinfektionen heilen folgenlos aus, können aber bei Rezidiven immer wieder zur vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit führen. Chronische rezidivierende Zystitiden oder Urethritiden können in seltenen Fällen eine Schrumpfharnblase, Harnstauungsnieren und Verschlussunfähigkeit der Ostien mit Refluxbildung sowie konsekutive Niereninsuffizienz auslösen. Die chronische Pyelonephritis kann zu chronischen Schmerzen, renaler Hypertonie mit dem Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen wie Herzinfarkt oder apoplektischer Insult und zur Niereninsuffizienz bzw. Urämie führen. In 15–20 % sind Urogenitalinfektionen (Mit-)Ursache einer Dialyse; siehe auch 7 Kap. 17. Häufig auftretende Rezidive bei Prostatitis können zu einer Urge-Symptomatik und zum chronischen Beckenschmerz (CPPS, chronisches Beckenschmerz-Syndrom) führen. Der Verlauf bei interstitieller Zystitis ist undulierend, 5–10 % der Patienten werden schließlich wegen einer Schrumpfharnblase zystektomiert. Zu beurteilen sind dann die Beeinträchtigungen und Komplikationen durch die Harnableitungssysteme (z. B. orthotope Ersatzblase, Blasenaugmentation oder Ileumkonduit). z Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z z Medizinische Rehabilitation
Blasenentleerungsstörungen, chronische Schmerzsyndrome und schwerwiegende Komplikationen wie Sepsis in Folge von Urogenitalinfektionen stellen Indikationen für eine medizinische Rehabilitation dar. Rehabilitationsziele sind Verringerung der Infektrezidivrate, Schmerzverringerung, Vermeidung von Infektharnsteinen, Niereninsuffizienz, Sepsis und Tod sowie die Verbesserung der körpereigenen Immunabwehr. Die Rehabilitation bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen nach erfolgloser ambulanter Rezidivprophylaxe führt über 1 Jahr bei 47 % der Patienten zur Infektfreiheit. Durch eine stationäre Rehabilitation bei interstitieller Zystitis kann bei 75 % der Betroffenen eine Besserung erreicht werden, die bei 50 % auch über mehrere Monate anhält.
Bei chronisch rezidivierenden Harnwegsinfektionen ggf. mit Infektsteinbildung können auch weiterhin körperlich schwere Tätigkeiten sechs Stunden und mehr ausgeübt werden. Bei persistierenden Dauerbeschwerden können leichte bis mittelschwere Tätigkeiten über sechs Stunden und mehr verrichtet werden. Nach Zystektomie mit Harnableitung ist analog zu 7 Kap. 18.1.3, 18.1.4 und 18.1.5 zu verfahren. Eine Niereninsuffizienz ist analog zu 7 Kap. 17 zu bewerten. Einzelfallabhängig sind die Notwendigkeit zur regelmäßigen Flüssigkeitsaufnahme (> 2 l/d) und je nach Miktionsfrequenz zum häufigeren Aufsuchen einer Toilette zu erwähnen. Auch bei hoher Miktionsfrequenz wird durch Toilettengänge meist die persönliche Verteilzeit (10 %) nicht überschritten. Zugluft-, Nässe- und Kälteexposition sind bei Patienten mit chronisch rezidivierenden Harnwegsinfektionen zu vermeiden (Schutzkleidung). Bei einer chronischen Prostatitis sind auch bei hoher Rezidivrate in der Regel körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung sechs Stunden und mehr möglich. Bei die Lebensqualität wesentlich beeinträchtigenden Schmerzen beträgt die Leistungsfähigkeit unter 3 Stunden. Bei therapieresistenten psychosomatischen Störungen ist eine fachübergreifende Beurteilung (Urologe und Psychiater) erforderlich. Bei interstitieller Zystitis muss zur Feststellung einer zumindest leichten körperlichen Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben von sechs Stunden und mehr eine Verminderung der Miktionshäufigkeit (≤ 30/d) und der Schmerzen (in einen erträglichen Bereich) vorliegen. Hierbei sollte der Einsatz von Analgetika bei der sozialmedizinischen Beurteilung mit berücksichtigt werden. In Einzelfällen (lange Sitzungen, Lehrtätigkeit mit festem Stundenschlüssel etc.) muss auch schon bei Miktionshäufigkeiten > 8 bis ≤ 30/d auf andere Tätigkeiten verwiesen werden. Auch muss die Ausprägung von in 40 % der Fälle auftretenden Begleiterkrankungen mit berücksichtigt werden. Der Aktionsradius ist bei einer Miktionshäufigkeit von 60 und mehr/d deutlich eingeschränkt, so dass ein aufgehobenes Leistungsvermögen resultiert.
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Kapitel 18 · Urologische Erkrankungen
18.2.3
Harninkontinenz
Die Harninkontinenz ist eine Störung der Harnspeicherund Harnentleerungsphase. Sie ist definiert durch das Fehlen oder die Verringerung der Fähigkeit, Urin willkürlich zurückzuhalten und den Zeitpunkt der Entleerung selbst zu bestimmen. z
Klassifikationen und Stadieneinteilungen
Folgende Formen der Harninkontinenz werden unterschieden: Belastungsinkontinenz (früher auch Stressinkontinenz) (60 %): unwillkürlicher Harnverlust bei Druckerhöhung im Abdomen (= Stress) durch körperliche Anstrengung (Lachen, Husten, Pressen und Heben schwerer Lasten) ohne Harndrang. Ursachen: Adipositas; Bindegewebsschwäche; insuffizienter Verschlussapparat nach Geburten, Operationen, Verletzungen von Harnblasenhals und/oder der Harnröhre; Medikamente (α-Blocker, Psychopharmaka); Muskelatrophie (Östrogenmangel). Die klassische Schweregradeinteilung der Belastungsinkontinenz ist die Einteilung nach Ingelman-Sundberg, siehe . Tab. 18.2. Es existiert eine Reihe weiterer Einteilungen der Harninkontinenz, wobei auch Versuche unternommen wurden, die Klassifikation der Belastungsinkontinenz nach Ingelman-Sundberg und die Einteilung nach dem Umfang des Urinverlustes zusammenzuführen; Beispiel siehe . Tab. 18.3. Therapie: konservativ durch Kontinenztraining, Miktions- und Toilettentraining; Elektrotherapie, Biofeedbacktherapie; medikamentös durch Hormontherapie, Duloxetin, α-Sympathomimetika. Bei persistierender Harninkontinenz Grad II–III trotz konservativer Therapie > 6 Monate bei Stressharninkontinenz oder > 1 Jahr nach Beckenchirurgie sowie bei der Harninkontinenz Grad IV ist eine operative Therapie indiziert: Injektionstechniken, ProAct, urethrale Schlingen oder alloplastischer Sphinkter beim Mann; Injektionstechniken, alloplastische transvaginale oder transobturatorische Bänder, Kolposuspension, autologe abdominal-vaginale Schlingen, Beckenbodenrekonstruktion oder alloplastischer Sphinkter bei der Frau. Operative Harnableitung bei therapierefraktären, ausgeprägten Fällen. Dranginkontinenz (OABL) = Urge-Inkontinenz (overactive bladder with leakage) (25 %) (bei nicht neurogener Hyperaktivität): unwillkürlicher Urinabgang mit imperativem Harndrang; sensorisch bei verminderter Reizschwelle (bereits bei geringer Harnblasenfüllung wird ein Harndrang wahrgenommen); motorisch mit ungewollten Detrusorkontraktionen durch insuffiziente hemmende Nervenimpulse. Ursachen: Detrusorveränderungen, Harnwegsinfektionen, Innervationsstörungen, Medika-
. Tab. 18.2 Einteilung des Schweregrades der Belastungsharninkontinenz Schweregrad
Definition
Belastungsinkontinenz I. Grades
Urinverlust beim Husten, Niesen, Pressen und Lachen
Belastungsinkontinez II. Grades
Urinverlust beim Heben, Laufen und Treppensteigen
Belastungsinkontinenz III. Grades
Urinverlust im Stehen ohne körperliche Belastung
Nach: Ingelman-Sundberg [15]
mente: β-Sympathomimetika, Obstruktion (Prostatahyperplasie, Tumor, Harnsteine), Östrogenmangel. Therapie: konservativ durch Kontinenztraining, Miktions- und Toilettentraining; Elektrotherapie (kutan, transvaginal, intravesikal; sakrale Neuromodulation durch Harnblasenschrittmacher oder periphere Neurostimulation); medikamentös durch Hormontherapie, Anticholinergika (oral oder intravesikal); Injektionen von Botulinumtoxin; EMDA (Electromotive-Drug-Administration). Operative Harnableitung bei therapierefraktären, ausgeprägten Fällen. Mischformen aus Belastungs- und Dranginkontinenz (15 %): Therapie: Je nach Schwerpunkt der Beschwer-
desymptomatik individueller Therapieansatz der o.g. Formen, mit Therapie der Dranginkontinenz beginnend. Reflexinkontinenz (bei neurogener Hyperaktivität): unwillkürlicher Urinabgang aus der Harnröhre durch Verlust der Kontrolle über den Miktionsreflex oder unkontrollierte, reflektorische Detrusorkontraktionen, ohne dass der Patient einen Harndrang empfindet. Ursachen: Hirnfunktionsstörungen (supraspinale Reflex-Harninkontinenz), Rückenmarkserkrankungen = upper motor neuron lesions (spinale Reflex-Harninkontinenz). Therapie: abhängig von den Befunden der Funktionsdiagnostik (Urodynamik), idealerweise in Inkontinenz- bzw. Kontinenzzentren. Überlaufinkontinenz (bei chronischer Harnretention): unwillkürlicher Urinabgang bei Harnblasenüberfüllung (Harnblasendruck liegt über Harnröhrenverschlussdruck). Ursachen: hypoaktiver Detrusor (Medikamente: Tranquilizer, myogene Hypokontraktilität, neurogene Hyporeflexie), hyposensitive Harnblase (Alkoholabusus, Diabetes mellitus, Neurolues, Sakralmarkschaden, Urämie), subvesikale Obstruktion (benigne Prostatahyperplasie, Harnröhrenstriktur, Prostatakarzinom). Therapie: ursächliche Behandlung der Entleerungsstörung (z. B. operative Behebung der subvesikalen Obstruktion, Cholinergika bei hypotonem Detrusor), Harnblasenschrittmacher, steriler Selbstkatheterismus.
419 18.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 18.3 Schweregrad der Belastungsharninkontinenz Schweregrad
Anamnese
Vorlagen-Test
Urodynamik
I
sporadisch
Geringer Urinabgang im Stehen und bei der Arbeit, beim Husten, Niesen, Pressen etc.
Urinverlust: < 10 ml/h Vorlagen: ≤ 1 pro Tag
Guter bis ausreichender Harnröhrenverschlussdruck
II
belastend
Urinabgang bereits im Sitzen, beim Husten etc.
Urinverlust: ≥ 10–25 ml/h Vorlagen: 1–2 pro Tag
Pathologisches Urethradruckprofil mit überwiegend positivem Stressprofil
III
schwer
Urinabgang beim Umhergehen
Urinverlust: > 25–50 ml/h Vorlagen: 2–3 pro Tag
Pathologisches Urethradruckprofil mit verringerter Drucktransmission im Stresstest
IV
absolut
Urinabgang bereits im Liegen
Urinverlust: > 50 ml/h Vorlagen: > 4–5 pro Tag
Ein Harnröhrenverschlussdruck lässt sich nicht mehr aufbauen
Gesellschaft für Inkontinenzhilfe – heute Deutsche Kontinenzgesellschaft, abgewandelt nach Ingelman-Sundberg [15]
Extraurethrale Inkontinenz: Urinabgang aufgrund angeborener oder erworbener Umgehung des anatomisch-physiologischen Sphinkterapparates. Ursachen: angeboren, Beckenchirurgie, Strahlenschaden (Fistelbildung). Therapie: operative Rekonstruktion physiologischer Verhältnisse oder Harnableitungssysteme Enuresis (nocturna): Einnässen im Schlaf nach dem 5. Lebensjahr während mindestens zwei Nächten im Monat ohne Tagessymptome oder Harnwegsinfektion. Ursachen: abnorme Trink- und Miktionsgewohnheiten, ADH-Mangel, Entwicklungsverzögerung des Zentralnervensystems, psychosozialer Stress.
wohl für die Einteilung des Schweregrades der Harninkontinenz als auch der benötigten Produkte zur Inkontinenzversorgung (beispielhaft in . Tab. 18.4). Dabei bleibt unberücksichtigt, ob unwillkürlicher Harnabgang kalkulierbar (z. B. bei Belastungsinkontinenz) oder unkalkulierbar (z. B. bei Reflexharninkontinenz) ist, was jedoch unterschiedliche Einschränkungen in Beruf und Alltag nach sich ziehen kann. Für die sozialmedizinische Beurteilung reicht die quantitative Feststellung des Urinverlustes nicht aus; die Identifizierung der Harninkontinenzform anhand der Ergebnisse der Funktionsdiagnostik ist unerlässlich, da Verlauf und Therapieoptionen stark differieren. z
. Tab. 18.4 Neue DKG-Klassifikation der Harninkontinenz Urinverlust pro Attacke
ProduktKapazität
Saugvolumen pro 4 h
TröpfelInkontinenz
< 50 ml
< 150 ml
150 ml
Grad 1
50–100 ml
< 300 ml
300 ml
Grad 2
100–250 ml
300–750 ml
750 ml
Grad 3
> 250 ml
> 750 ml
> 750 ml
Siehe 7 Kap. 18.1.3, 18.1.4 und 18.1.5. z
Aufgrund der Komplexität der verschiedenen Krankheitsbilder ist eine einheitliche Schweregradeinteilung der Harninkontinenz nur mit Abstrichen möglich. Hierbei wird in erster Linie die Menge des Urinverlustes (mittels Vorlagen-Auswiegens) als Kriterium herangezogen, so-
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung
Siehe 7 Kap. 18.1.2. z
Nach MELCHIOR und DE GEETER, Gesellschaft für Inkontinenzhilfe (GIH) – heute Deutsche Kontinenzgesellschaft 2002 [17]. Die Saugkapazität von Produkten für die Inkontinenzversorgung, Rücknässen, Hüftumfang bei Windelhosen etc. sind ergänzend zu definieren.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
Unmittelbar im Anschluss an eine Harninkontinenzoperation liegen die Erfolgsraten um 90 % oder besser, fallen aber mit zunehmendem Abstand zur Operation ab (20–60 % Rezidive nach fünf Jahren). Die Besserungsrate der konservativen Therapie liegt nach 4–6 Monaten bei der Belastungsinkontinenz Grad I–II und bei Dranginkontinenz zwischen 50 und 80 %. Eine operativ bedingte Harninkontinenz (z. B. nach Wertheim-OP oder radikaler Prostatektomie) ist bis zum Ablauf von fünf Jahren noch zu bessern (≤1 Vorlage/d ein Jahr nach radikaler Prostatektomie: 90–95 %). Danach ist in der Regel von einer irreversiblen Schädigung des Kontinenzapparates auszugehen.
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Kapitel 18 · Urologische Erkrankungen
Harnblasenentleerungsstörungen
z Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z z Medizinische Rehabilitation
18.2.4
Bei kompliziertem Verlauf und erheblichen Funktionseinschränkungen besteht nach Harninkontinenzoperationen eine Indikation zur medizinischen Rehabilitation. Auch in anderen komplizierten Konstellationen (z. B. anhaltende höhergradige Harninkontinenz, quälende Urge-Inkontinenz trotz adäquater Therapieversuche, Kontraindikationen gegen Erfolg versprechende Therapien) kann eine medizinische Rehabilitation indiziert sein. Mögliche psychische Beeinträchtigungen sollten Berücksichtigung finden. Die Rehabilitation beinhaltet u. a. folgende Module: Schulung im Umgang mit Hilfsmitteln (Produkte der Inkontinenzversorgung, Konen, Pessare); Optimierung der medikamentösen Therapie; Beckenbodengymnastik bei der Frau und Kontinenztraining beim Mann mit Erlernen eines Eigenübungsprogramms, Übungen zur Muskelrelaxation, Miktions- und Toilettentraining, Biofeedback bei schwerer Harninkontinenz (> 200 g Urinverlust/24h im PAD-Test); Elektrotherapie (mit Extern-, Vaginal- oder Analelektroden als Praxis- oder Heimelektrostimulationsgerät) bei unzureichender Sphinkterkontrolle.
Harnblasenentleerungsstörungen durch eine mechanische subvesikale Obstruktion treten z. B. bei benigner Prostatahyperplasie, Harnröhrenstriktur oder Harnröhrenstein auf. Außerdem kann eine Dyskoordination zwischen Sphinkter und Harnblase (neurogen z. B. bei Multipler Sklerose oder Myelomeningozele, nicht neurogen bei anerzogenem Fehlverhalten) vorliegen. Harnblasenentleerungsstörungen bei Detrusor-Hypo- oder Akontraktilität sind entweder myogen, neurogen, psychogen oder habituell verursacht. Zur Harninkontinenz als kombinierte Harnspeicher- und Entleerungsstörung siehe 7 Kap. 18.2.3. Eine mechanische Obstruktion wird operativ saniert. Bei hypotonem Detrusor erfolgt der sterile Selbstkatheterismus oder die Anlage eines transurethralen bzw. suprapubischen Dauerkatheters. Bei einer Schrumpfharnblase bleibt nur die operative Harnblasenaugmentation oder Harnableitung. Als invasive Verfahren sind sakrale Neuromodulation, Sphinkterinzision, Vesikostomie, Neoblasenanlage oder eine supravesikale Harnableitung (z. B. Ileumkonduit, Pouch bzw. Ureterosigmoideostomie) zu nennen.
z z Teilhabe am Arbeitsleben
Die meisten von Harninkontinenz Betroffenen können ihre Tätigkeit weiter ausüben. Ein Arbeitsplatzwechsel kann erforderlich sein, wenn die bisher körperlich schwere oder mittelschwere Arbeit nicht mehr verrichtet werden kann.
z
Siehe 7 Kap. 18.1.3, 18.1.4 und 18.1.5. z
z z Erwerbsminderung
Urinverlust wird bei Harninkontinenz durch Arbeitsschwere und Arbeitshaltung begünstigt, die über die Bauchmuskelanspannung den intraabdominellen Druck auf die gefüllte Blase erhöhen. Bis zum Inkontinenzgrad I sind i. d. R. mittelschwere und bis zu Grad II leichte körperliche Arbeiten über sechs Stunden und mehr möglich. Die Grade III und IV sind individuell zu beurteilen, jedoch sind die Betroffenen meist nicht mehr in der Lage, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuführen. Art, Dauer und Ort der Tätigkeit spielen eine Rolle, z. B. bei Lebensmittelverarbeitung, Publikumsverkehr, Außendiensttätigkeiten, Heimarbeit. Auch nach guter Besserung der Harninkontinenz sollten keine körperliche Tätigkeiten mit Betätigung der Bauchpresse wie häufiges Bücken, Knien, Hocken, Überkopfarbeit, auf Leitern und Gerüsten, Hebe- und Tragearbeiten ohne Hilfsmittel über 10 kg durchgeführt werden. Werden Vorlagen benutzt, muss die räumliche und zeitliche Gelegenheit zum Vorlagenwechsel gegeben sein. Kälte und Nässeexposition sind zu vermeiden. Nach operativen Maßnahmen kann sich der Grad der Harninkontinenz bessern.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung
Siehe 7 Kap. 18.1.2. z
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
Durch die Behandlung wird i. d. R. eine gute Blasenentleerung bei akzeptablen Druckwerten (< 60 cm H2O) erreicht. Bei unzureichender Harnableitung oder manuellem Auspressen der Harnblase kann der Reflux zu aszendierenden Harnwegsinfektionen bis hin zur (terminalen) Niereninsuffizienz führen. Therapie der Wahl bei Harnblasenentleerungsstörungen, die nicht kausal zu therapieren sind, ist der sterile Selbstkatheterismus. In Einzelfällen lassen Kontraindikationen oder technische Probleme nur einen Dauerkatheter zu. Dann besteht zwar eine gute Harnblasenentleerung, allerdings können Beschwerden oder Komplikationen durch den Katheter auftreten. Bei einer Harnableitung mittels Neoblase, Mainz Pouch I/II oder Ileumkonduit entsprechen die Krankheits- und Behandlungsfolgen den Eingriffen beim Harnblasenkarzinom (siehe 7 Kap. 18.2.6).
421 18.2 · Krankheitsbilder
z Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z z Medizinische Rehabilitation
Eine medizinische Rehabilitation ist nach ausgedehnten Eingriffen wie Pouch oder Konduit indiziert, da viele Parallelen zum Z. n. Zystektomie wegen Harnblasenkarzinom bestehen. Als spezielle Therapieverfahren kommen je nach klinischer Situation die medikamentöse Steigerung des Detrusortonus (z. B. mit oralen Parasympathicomimetika), eine medikamentöse Tonusverminderung der Harnröhrenmuskulatur, Miktionstraining, intravesikale Elektrotherapie, Erlernen des intermittierenden aseptischen (Selbst-)Katheterismus, Dauerkatheter (am besten suprapubisch), Stomaversorgung, Stomatraining (IleumKonduit) und das Erlernen des Umgangs mit dem Neuromodulator in Frage. Ein manuelles Auspressen der Harnblase sollte dabei nicht erfolgen. z z Teilhabe am Arbeitsleben
Wenn die bisher körperlich schwere oder mittelschwere Arbeit nicht mehr verrichtet werden kann (z. B. bei suprapubischer Harnableitung, Stoma oder Neoblase) oder die geforderte Mobilität nicht mehr möglich ist (aufgrund regelmäßig notwendiger Katheterisierung) können Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben angezeigt sein, um einen geeigneten Arbeitsplatz zu erlangen. z z Erwerbsminderung
Mit einer funktionierenden Harnableitung sind leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten sechs Stunden und mehr möglich. Bei Neoblase, Pouch, Stoma oder sakraler Neuromodulation ist meist eine Beschränkung auf leichte Arbeiten ratsam. Bei Selbstkatheterismus und Stomaversorgung muss eine entsprechende Infrastruktur auch am Arbeitsplatz vorhanden sein (siehe 7 Kap. 18.1.4). Die Mobilität kann wegen der Harnentleerung bei Außendiensttätigkeiten eingeschränkt sein. Zu vermeiden sind Überkopfarbeiten, mehr als leichtes Heben und Tragen, häufiges Hocken, Bücken, Knien, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie eine ständige Nässe- und Kälteexposition ohne Schutzkleidung.
18.2.5
Nierentumoren
Raucher haben gegenüber Nichtrauchern ein zweifach erhöhtes Risiko, an einem Nierenzellkarzinom zu erkranken. Die Risikofaktoren für Nierenbecken- (7–18 % aller Nierentumoren) und Harnleiterkarzinome sind dieselben wie beim Harnblasenurothelkarzinom (siehe 7 Kap. 18.2.6). Therapie: Bei der Tumornephrektomie wegen Nierenzellkarzinom werden Tumorniere, Gerota’sche Fettkapsel und anhaftendes Peritoneum en bloc entfernt, optional auch die Nebenniere und paraaortale bzw. parakavale Lymphknoten. Hierbei kann es links zur Verletzung der A. lienalis bzw. der Milz mit Splenektomie kommen. In frühen Stadien (cT1, Tumor < 4 cm) und bei funktioneller und/oder anatomischer Einzelniere sollte eine partielle Nephrektomie erfolgen oder in Zentren eine laparoskopische Tumornephrektomie oder Teilresektion. Eine palliative Nephrektomie erfolgt bei fortgeschrittenem Primärtumor mit Blutung, Harnstauung, Schmerzen oder vor (Immun-) Chemotherapie. Oft ist bei Metastasierung eine Operation sinnvoll. Die Embolisation der A. renalis wird palliativ bei Inoperabilität angewandt. Die perkutane Radiofrequenzablation oder Kryoablation bei Tumoren < 3 cm ist noch nicht abschließend bewertbar. Eine adjuvante Chemotherapie [Bevacizumab (Antikörper) plus Interferon; Pazopanib, Sunitinib, Sorafenib (Multikinaseinhibitoren); Everolimus, Temsirolimus (mTOR-Inhibitoren)] kann beim fortgeschrittenen Nierenzellkarzinom (N+, M1) hinsichtlich des progressionsfreien Zeitraumes (PFS) erfolgreich sein. Risiken und Nebenwirkungen, welche sich durchaus negativ auf die Lebensqualität auswirken können, sollten dabei nicht unterschätzt werden. Beim Urothelkarzinom von Nierenbecken und Harnleiter ist die radikale retro- oder transperitoneale Nephro-Ureterektomie mit Resektion einer Blasenwand-Manschette (Vermeidung von bis zu 17 % Harnleiterstumpfrezidiven) sowie retroperitonealer Lymphadenektomie das Standardverfahren. Optional wird eine Radiotherapie und adjuvante, ggf. induktive Chemotherapie, besonders bei organüberschreitenden Nierenbecken- und Harnleitertumoren durchgeführt. Organerhaltende Operationen sind die Ausnahme, v. a. bei funktionellen und/oder anatomischen Einzelnieren. z
Risikofaktoren für das Nierenzellkarzinom sind von-Hippel-Lindau-Erkrankung, familiäres Nierenzellkarzinom (autosomal-dominant), zunehmendes Lebensalter, Übergewicht bei Frauen, verringerte Trinkmenge, erhöhter Alkoholkonsum, fettreiche und gemüse- bzw. obstarme Kost, chronisch eingeschränkte Nierenfunktion (5,8 % bei Dialysepatienten, die Nierenzysten entwickeln), Schmerzmittelmissbrauch, langjähriger Diuretika- und Laxantiengebrauch und die erworbene zystische Nierenerkrankung.
Klassifikationen und Stadieneinteilungen
Die Einteilung erfolgt nach der WHO-Klassifikation, Stadium I bis IV, und beim metastasierten Nierenzellkarzinom auch nach den Motzer-Kriterien. z
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Siehe 7 Kap. 18.1.3, 18.1.4 und 18.1.5.
18
422
z
Kapitel 18 · Urologische Erkrankungen
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung
18
Siehe 7 Kap. 18.1.2.
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z
18
Die Fünf-Jahres-Überlebensrate beim Nierenzellkarzinom sinkt von 86 % (pT1–2) über 64 % (pT3 a) und 41 % (pT3 b) auf 16 % (pT4). Bei Lymphknoten- und/oder Fernmetastasen liegt sie insgesamt unter 10 %. Der nicht in die Gefäßwand infiltrierend wachsende Thrombus der Vena cava unterhalb des Zwerchfells hat ohne Metastasierung (pT3bpN0M0) eine relativ gute Prognose mit einer FünfJahres-Überlebensrate bis zu 69 %. Die Fünf-Jahres-Überlebensrate beim Urothelkarzinom von Nierenbecken und Harnleiter sinkt von 82–100 % (pTa) über 82–95 % (pT1), 72–86 % (pT2), 33–60 % (pT3) auf 0–38 % (pT4). Patienten mit Lymphknotenmetastasen versterben zu > 90 % innerhalb von fünf Jahren an ihrem Tumorleiden. Nach Nephroureterektomie können temporäre Miktionsstörungen durch die Entfernung der Harnblasenmanschette mit vorübergehender Kapazitätsminderung auftreten.
18 18 18 18 18 18 18
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
18
z Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z z Medizinische Rehabilitation
18
Die Indikationsstellung zur Rehabilitation entspricht der bei anderen Tumorerkrankungen: Eine medizinische Rehabilitation ist indiziert nach Operation, Bestrahlung oder antineoplastischer Therapie unter der Voraussetzung, dass Funktionseinschränkungen körperlicher oder seelischer Art vorliegen. Inhalte der Rehabilitation sind Ernährungsberatung bei Darmfunktionsstörungen (Obstipation, Flatulenz etc.) oder eingeschränkter Nierenfunktion (Kreatinin > 2 mg/dl); Impfung nach akzidenteller Splenektomie, gezielte Behandlung von postoperativen Miktionsstörungen und neuromuskulären Ausfällen; Behandlung von Chemotherapiefolgen; Schulungen zur Optimierung des Trinkverhaltens nach Nierenverlust; Angebot psychosozialer und psychoonkologischer Unterstützung zur Krankheitsverarbeitung und Neu-Orientierung.
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z z Teilhabe am Arbeitsleben
In Abhängigkeit vom Ausmaß der durch die Tumorerkrankung oder deren Therapie aufgetretenen Funktionsstörungen sind u. U. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich, um einen Arbeitsplatz zu erhalten oder zu erlangen. z z Erwerbsminderung
Der Verlust einer Niere bleibt folgenlos, wenn die verbliebene Niere gesund ist; andernfalls wird das Leistungs-
vermögen durch die Niereninsuffizienz limitiert (siehe 7 Kap. 17). Nach einer akzidentellen Splenektomie besteht trotz Impfung ein erhöhtes Risiko für schwer verlaufende Infektionen (OPSI-Syndrom – overwhelming postsplenectomy infection syndrome); dann sind Kälte und Nässe zu vermeiden (Schutzkleidung). Die Operationsnarbe kann zu neuromuskulärer Bauchwandschwäche und Hernien führen (siehe 7 Kap. 18.1.4). Miktionsstörungen infolge Resektion einer Blasenwand-Manschette bilden sich i. d. R. im Verlauf einiger Monate folgenlos zurück, bei fortbestehenden Störungen siehe auch 7 Kap. 18.2.3 und 18.2.4. Bei einem ausgedehnten Tumor (T4) und bei Lymphknoten- oder Fernmetastasen ist der Allgemeinzustand häufig so stark reduziert, dass ein Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden auf Dauer besteht.
18.2.6
Harnblasenkarzinom
Das Urothelkarzinom (93 % Harnblase, 3 % Harnleiter und 4 % Nierenbecken) ist nach dem Prostatakarzinom der zweithäufigste urologische Tumor. Das Urothelkarzinom ist eine Systemerkrankung des Urothels, kann also den gesamten ableitenden Harntrakt betreffen. Dem Carcinoma in situ ist besondere Bedeutung beizumessen, da es einen hohen Malignitätsgrad hat und ein hohes Rezidivrisiko im gesamten ableitenden Harntrakt beinhaltet. Risikofaktoren sind Alter, chemische Substanzen (z. B. Benzidin, Cyclophosphamid, Phenazetin und Nitrosamine), Bilharziose, chronische Harnwegsinfektionen (z. B. bei Harnsteinleiden oder Fremdkörpern wie Dauerkatheter), chronisch interstitielle Nephritis (Phenazetinniere), Geschlecht und Zigarettenkonsum. Harntransportstörungen mit verlängerter Urinverweilzeit (Restharnbildung) können zu Urothelkarzinomen führen. Therapie: Die transurethrale Elektroresektion (TUR) und/oder Laserkoagulation der Harnblase erfolgt bei oberflächlichem Harnblasenkarzinom (pTa-pT1, G1-G2), mit anschließender Instillationsbehandlung (topische Zytostatika oder Immuntherapie mit BCG) bei intermediärem (multilokulär, pTa-pT1, G1-G2, > 3 cm) oder hohem (pT1, G3, Cis, rasches Rezidiv) Rezidivrisiko. Eine radikale Zysto-Prostato-Vesikulektomie mit regionaler Lymphadenektomie (LA) wird bei hohem primären Malignitätsgrad (G3) oder hoher Rezidivrate bei pT1, ab pT2 bei jedem Grading durchgeführt. Harnableitung, meist mit Darmanteilen: Ureterocutaneostomie, Ileum-Konduit (Bricker-Blase, ileokutane Anastomose, feuchtes Urostoma analog zum Anus praeter), Mainz-Pouch I (kutaner intermittierender Selbstkatheterismus) und Mainz-Pouch II (Urin-Kot-Kloake, kontrollierte Urinentleerung über den Darm), Neoblase (z. B.
423 18.2 · Krankheitsbilder
Ileumneoblase) mit kontrollierter Urinentleerung über die Harnröhre). OP-Zugang: transurethral endoskopisch (TUR), offen chirurgisch ausschließlich abdominal. Chemotherapie und Strahlentherapie zeigen bisher bei adjuvantem Einsatz keinen Vorteil hinsichtlich der FünfJahres-Überlebensrate; bei metastasierenden Tumoren kann eine Chemotherapie (Gemcitabin und Cisplatin) palliativ sinnvoll sein. Sie führt meist zu einer Verlängerung des progessionsfreien Intervalls. z
Klassifikationen, Stadieneinteilung
Die Einteilung der Tumorstadien erfolgt nach der TNMKlassifikation. z
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Siehe 7 Kap. 18.1.3, 18.1.4 und 18.1.5. z
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung
Siehe 7 Kap. 18.1.2. Harnblasenkarzinome können mit beruflichen Belastungsfaktoren in Zusammenhang stehen. Der begründete Verdacht auf eine Berufskrankheit sollte dem Versicherten anlässlich der Begutachtung mitgeteilt werden. Eine Berufskrankheitenanzeige durch den behandelnden Arzt muss nach § 202 SGB VII erfolgen. Bei langjährigen Produktionsarbeiten in der Aluminiumindustrie, (petro-) chemischen Industrie, Kunststoff-, Textil-, Farb- und Druckindustrie, in der gummiverarbeitenden Industrie, beim Umgang mit Asphalt, Teer, Kohle, Koks oder mit radioaktiven Isotopen können sich Verdachtsmomente für eine berufsbedingte Karzinomerkrankung ergeben. Bei Friseuren, Kammerjägern oder Landwirten könnte ein Blasenkarzinom durch verwendete Arbeitsstoffe begünstigt worden sein. Bei berechtigtem Verdacht auf eine berufsbedingte Tumorerkrankung erfolgt ein Hinweis an den Patienten und im Gutachten an den Auftraggeber, sofern noch nicht bekannt. z
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
Prognose je nach TNM-Stadium: Bei pTa–pT2 liegt die Fünf-Jahres-Überlebensrate zwischen 75 und 100 %. Bei pT3 sinkt sie auf bis zu 25 %, bei pT4 auf 24 %. Die Prognose verschlechtert sich erheblich bei positiven Lymphknoten: bei N1 25 %, bei N3 und/oder M1 0–5 % Fünf-JahresÜberlebensraten. Schmerzhafte Dranginkontinenz: Bei notwendiger intravesikaler Chemotherapie bei Z. n. TUR-Blase kann es zu einer sehr schmerzhaften Dranginkontinenz kommen. Harninkontinenz bei Neoblase tritt häufig in der Nacht auf, verstärkt durch den Mangel an sensorischem
Feedback im Gehirn, Verminderung des Muskeltonus der Beckenmuskulatur nachts, erhöhte Wassersekretion der Neoblase im Vergleich zur körpereigenen Harnblase und Ausscheidung eines hyperosmolaren Urins während der Nacht, bedingt durch erhöhte ADH-Sekretion. Harnkontinenz stellt sich am Tag in 80 % nach 3–6 Monaten durch gezielte Trainingsmaßnahmen ein. Die nächtliche Harninkontinenz ist in diesem Zeitraum bei zwei Drittel der Patienten beseitigt. Die Neoblase weist nach 3–6 Monaten in der Regel eine Kapazität von 300 ml (Speicherkapazität für 3–4 Stunden Urinproduktion) auf und kann restharnfrei entleert werden. Hyperkontinenz bei Neoblase mit der Notwendigkeit des Selbstkatheterismus tritt bei 10–15 % der Männer und bei 50 % der Frauen mit Anstieg auf 70 % im Verlauf auf. Mögliche Darmfunktionsstörungen sind Kurzdarmsyndrom, Durchfälle durch 50–80 cm Jejunumresektion oder Resektion von Dickdarmanteilen zur Bildung eines Pouches bzw. einer Neoblase und Defäkationsstörungen bei Mainz-Pouch II (Kot-Urin-Kloake mit Durchfällen und gehäufter Stuhlfrequenz). Die Darmschleimproduktion verursacht besonders bei Ileumneoblase eine erhöhte Infektionsrate. Da bei Darminterponaten im Harntrakt mit verlängerter Urinverweildauer (Ersatzblase, Pouch) ein gehäuftes Auftreten von Darmschleimhauttumoren zu erwarten ist, empfehlen sich ab dem dritten postoperativen Jahr regelmäßige endoskopische Kontrollen zumindest einmal jährlich. Nierenfunktionsstörungen und Pyelonephritiden
können bei postoperativen Harnstauungsnieren wie z. B. durch Harnleiterimplantationsstenosen verursacht werden. Stoffwechselstörungen: Als wesentliche Stoffwechselstörung kann eine metabolische Azidose bei Ileumneoblase und Mainz-Pouch I bzw. II, seltener beim IleumKonduit, auftreten. Infolge einer Dünndarmresektion (terminales Ileum) kann nach 2–3 Jahren ein Vitamin-B12- und Folsäuremangel beobachtet werden, der substituiert werden muss. z Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z z Medizinische Rehabilitation
Die Indikationsstellung zur Rehabilitation entspricht der bei anderen Tumorerkrankungen, vgl. 7 Kap. 10.8.2; zur Rehabilitation der Harninkontinenz siehe 7 Kap. 18.2.3. Patienten mit Ersatzblase oder Pouch sollen die veränderte Körperfunktion zu akzeptieren lernen. Psychosoziale/ psychoonkologische Unterstützung ist (auch zur Verarbeitung der Tumorproblematik) anzubieten. Patienten mit einer Neoblase sollen den Umgang mit der Neoblase erlernen. Sie entleeren diese in 2–3stündigen Abständen im Sitzen durch Bauchpresse. Patienten mit Ileum-Konduit oder Pouch sollen erlernen, sich selbst mit dem Sto-
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Kapitel 18 · Urologische Erkrankungen
masystem bzw. durch Selbstkatheterismus zu versorgen. Sie sollen ferner durch eigenständige Beurteilung und Verlaufskontrolle lernen, sich anbahnende Komplikationen frühzeitig selbst zu erkennen. Die Stoffwechsellage (metabolische Azidose, Vitamin-B12-Mangel) wird durch Alkalizitrate, Bikarbonate, geeignete bikarbonatreiche Mineralwässer und Vitamintherapie stabil eingestellt. Darmmotilitätsstörungen [Neoblase, Mainz-Pouch I bzw. II, Durchfälle, (Sub-)Ileus] sind nach ca. ein bis drei Monaten durch gezielte Ernährungsberatung und entsprechende Pharmakotherapie in der Regel beseitigt. Manchmal lösen erst im Verlauf auftretende Verwachsungen später Darmprobleme wie z. B. einen Subileus aus. Chemotherapiefolgen wie z. B. Chemozystitis werden gezielt behandelt. z z Teilhabe am Arbeitsleben
In Abhängigkeit vom Ausmaß der durch die Tumorerkrankung oder deren Therapie aufgetretenen Funktionsstörungen sind u. U Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich, um einen Arbeitsplatz zu erhalten oder zu erlangen; siehe auch 7 Kap. 10.8.2. Bei Urothelkarzinomen ist der Verbleib im früheren Beruf (z. B. Friseur) zu prüfen. z z Erwerbsminderung
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Nach TUR Harnblase ohne anschließende Instillationstherapie besteht ca. sechs Wochen nach TUR in der Regel eine uneingeschränkte Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Bei intravesikaler Chemotherapie kann, ausgelöst durch eine Chemozystitis, eine deutlich längere Arbeitsunfähigkeit resultieren. Bei Patienten mit Chemozystitis nach TUR sowie Instillationstherapie und Ausbildung einer Schrumpfharnblase (Kapazität 50–100 ml) mit entsprechender Beschwerdesymptomatik (Algurie, Pollakisurie) besteht ein Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden. Bei Neoblase, Ileum-Konduit oder Mainz-Pouch I bzw. II besteht bei normalem Krankheitsverlauf (s. o) eine Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben für leichte körperliche Arbeiten von sechs Stunden und mehr. Mit der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit kann postoperativ innerhalb von sechs Monaten gerechnet werden. Bei Neoblase, Ileum-Konduit, Mainz-Pouch I bzw. II sollten keine körperlichen Arbeiten, die zur Erhöhung des Bauchinnendruckes (Bauchpresse) führen, wie z. B. häufiges Bücken und Knien oder Hebe- und Tragearbeiten ohne Hilfsmittel, ausgeübt werden. Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie Überkopfarbeiten (dadurch erhöhte Gefahr der Harninkontinenzverstärkung bei Neoblase und Pouch sowie des Stomaprolapses bzw. vorzeitige Lösung des Auffangsystems bei Mainz Pouch I bzw. IleumKonduit) sollten vermieden werden. Bei Neoblase sollte
keine Nachtarbeit oder Nachtschichttätigkeit ausgeführt werden, da wegen der ungünstigen Biorhythmik die nächtliche Harninkontinenz verstärkt wird. Die bei Neoblase häufig zu beobachtende nächtliche Harninkontinenz kann durch gestörten Nachtschlaf das Konzentrationsvermögen beeinträchtigen. Bei Ersatzblase, Ileum-Konduit und Mainz Pouch I muss in Toilettenräumen die Möglichkeit zur Entleerung, Erneuerung des Stomasystems bzw. zum Selbstkatheterismus ca. alle zwei bis drei Stunden gegeben sein (zumindest Ablagemöglichkeit und Abfalleimer mit Deckel in der Kabine – und zwar auch auf Herrentoiletten – sowie ein Waschbecken). Ein Behinderten-WC erfüllt alle diese Anforderungen. Regelmäßige Flüssigkeitsaufnahme (ca. 2,5–3 l/d) über den Tag verteilt muss bei Neoblase und Pouch möglich sein. Die üblichen Hygieneanforderungen an Toilettenräume sind ausreichend. Bezüglich persistierender Harninkontinenz wird auf 7 Kap. 18.2.3 verwiesen. Wenn bei jüngeren Patienten durch spätere Operationen (z. B. alloplastischer Sphinkter, Bauchdeckenhernienverschluss) Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben erwartet werden kann, ist der Zeitpunkt der Überprüfung des Leistungsvermögens anzugeben. Bei Patienten mit Mainz Pouch II kann es in Ausnahmefällen zu therapeutisch nicht beeinflussbaren Defäkationsstörungen (Durchfällen) im halbstündlichen bis stündlichen Rhythmus, gegebenenfalls mit begleitender Stuhlinkontinenz kommen. In diesen Fällen liegt ein Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden vor. In den Tumorstadien T4 und/oder N+ und/oder M1 ist die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben in der Regel auf weniger als drei Stunden eingeschränkt. Das durchschnittliche Überleben beträgt 14–16 Monate.
18.2.7
Prostatakarzinom
In den westlichen Industrieländern ist das Prostatakarzinom (PCA) der häufigste Tumor des Mannes. Nur ein Fünftel bis ein Drittel aller Tumoren wird klinisch manifest. Risikofaktoren sind ethnische Einflüsse (schwarze Amerikaner erkranken 30 mal häufiger als Japaner), familiäre Häufung, Rauchen, fettreiche Ernährung, Übergewicht, Konsum von Milchprodukten sowie wenig Obst und Gemüse (Mangel an Phytoöstrogenen, Faserstoffen, Spurenelementen, Vitaminen, Lektinen und anderen immunmodulierenden pflanzlichen Substanzen). Watchful waiting vor allem bei älteren Patienten mit einer Lebenserwartung < 7 Jahre und Active Surveillance bei lokal begrenztem Tumorstadium mit niedrigem Risiko (PSA < 10 ng/ml, Gleason Score < 7).
425 18.2 · Krankheitsbilder
Therapie: Die radikale Prostatektomie (RPE) wird in den klinischen Stadien T1–T3N0M0 bei zu erwartender Mindestlebenserwartung ohne Tumor von 10 und mehr Jahren und nicht metastasiertem Stadium (cT1–3cN0cM0), retropubisch mit regionaler Lymphknotenausräumung (LA), perineal ohne LA oder laparoskopisch (roboterassistiert) mit oder ohne LA durchgeführt. Auch Patienten mit histologisch kapselüberschreitendem PCA oder einer isolierten Lymphknotenmetastase profitieren von der RPE. Eine Radiotherapie erfolgt alternativ und/oder bei erhöhter Komorbidität als externe Bestrahlung, Brachytherapie mit Afterloading oder Seedimplantation mit hochselektiver Indikation, Brachytherapie plus externe Bestrahlung bei organbegrenztem Tumor, bei Lokalrezidiv oder bei Knochenmetastasen. Eine adjuvante Nachbestrahlung kann bei lokal fortgeschrittenem Tumor diskutiert werden. Eine (intermittierende) Androgendeprivation ist primär bei generalisiertem, lymphogen oder ossär metastasiertem Prostatakarzinom, hoher Komorbidität oder hohem Alter bzw. sekundär beim Rezidiv nach RPE oder Strahlentherapie indiziert. Eine adjuvante Androgenblockade kann bei lokal fortgeschrittenem Tumor diskutiert werden. Medikamentös werden GnRH-Analoga, GnRHAntagonisten und/oder Antiandrogene verabreicht. Dabei sollte durch die Medikamente das Kastrationsniveau erreicht werden. Operativ erfolgt als Alternative eine subkapsuläre Orchiektomie. Chemotherapie (Docetaxel), Bisphosphonate, Bestrahlung, radioaktive Nuklide oder Schmerztherapie bei M1 oder refraktärem Verlauf. z
Klassifikationen, Stadieneinteilung
Die Einteilung der Tumorstadien erfolgt nach der TNMKlassifikation. z
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Siehe 7 Kap. 18.1.3, 18.1.4 und 18.1.5. z
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung
Siehe 7 Kap. 18.1.2. z
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
Die Zehn-Jahres-Überlebensrate bei lokal begrenztem Prostatakarzinom (pT2pN0M0G 1–2) liegt nach RPE bei 75–92 %, nach Strahlentherapie bei 41–70 %. Bei G3-Tumoren besteht nach fünf Jahren eine Progresswahrscheinlichkeit von 50 %. Die Zehn-Jahres-Überlebensraten bei PCA mit organüberschreitendem Wachstum nach RPE betragen im Stadium pT3pN0M0 60 % und im Stadium pT3pN1M0 50–60 %. Durch sofortige Nachbestrahlung oder antiandrogene Therapie bei lokal fortgeschrittenem Tumor konnte bisher
keine verbesserte Überlebensrate gegenüber der alleinigen Operation nachgewiesen werden, jedoch fanden sich weniger Lokalrezidive und eine Progressverzögerung. Unter Androgendeprivation bei lymphogen und/oder ossär metastasierten Tumoren lassen sich 43 % komplette Remissionen (PSA < 4 ng/ml) neun Monate nach Therapiebeginn beobachten. Etwa 20 % haben trotz Therapie einen Progress (Hormonunempfindlichkeit), die durchschnittliche Ansprechdauer auf den Androgenentzug beträgt 18–24 Monate, die mittlere Überlebenszeit 30 Monate. Eine Harninkontinenz durch Schädigung urethraler Verschlussmechanismen und/oder Detrusorhyperreflexie tritt initial nach RPE bei 25–90 % der Patienten auf. Nach 6–12 Monaten sind noch 2–23 % der radikal prostatektomierten Patienten inkontinent, und zwar mit Anschlussheilbehandlung nach einem Jahr 5 %, ohne 19 %. Strikturen (auch radiogen) müssen ggf. operativ saniert werden. Defäkationsstörungen, selten auch Stuhlinkontinenz (7–14 %), vor allem nach perinealer RPE, bilden sich mit der Zeit durch Kontinenztraining meist zurück. Eine Harninkontinenz findet man nach Bestrahlung bei 0,4–12 % der Patienten. Radiogene Zystitis (12–17 %), Prostatitis, Proktitis (< 5 %) und/oder Dermatitis sind in der Regel nach 3–6 Monaten abgeklungen und nehmen selten gravierende Verläufe bis hin zum Anus praeter und/oder zur hohen Harnableitung. Eine Androgendeprivation kann zu Schwäche, Anämie, androgenopriver Osteoporose, Diarrhö, Gynäkomastie, Hepatotoxizität, Hitzewallungen, Impotenz, Leistungsverminderung durch Muskelabbau, Libidoverlust, psychischen Störungen (Depressivität) und thromboembolischen Komplikationen führen. Eine den Patienten belastende, aber für die sozialmedizinische Beurteilung nur marginal wichtige erektile Dysfunktion tritt nach Operation je nach Technik (Nerverhalt) bei 20–90 %, nach Strahlentherapie nach längerem Verlauf bei bis zu 50 % und unter effektiver Hormonblockade bei nahezu 100 % der Fälle auf. z Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z z Medizinische Rehabilitation
Die Indikationsstellung zur Rehabilitation entspricht der bei anderen Tumorerkrankungen, vgl. 7 Kap. 10.8.2. Die Rehabilitation der Harninkontinenz erfolgt wie unter 7 Kap. 18.2.3 beschrieben, die Beurteilung des Operationserfolges erfolgt durch PSA-Kontrolle (rapider PSAAbfall 4–6 Wochen postoperativ spricht zunächst für Radikalität). Bei nicht erreichter Radikalität werden weitere Therapieoptionen (z. B. Androgendeprivation oder Strahlentherapie) eingeleitet oder empfohlen.
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Kapitel 18 · Urologische Erkrankungen
z z Teilhabe am Arbeitsleben
In Abhängigkeit vom Ausmaß der durch die Tumorerkrankung oder deren Therapie aufgetretenen Funktionsstörungen sind u. U. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich, um einen Arbeitsplatz zu erhalten oder zu erlangen. z z Erwerbsminderung
Nach PRE ist nach Beseitigung postoperativer Funktionsstörungen eine mittelschwere bis gelegentlich schwere körperliche Tätigkeit über sechs Stunden und mehr möglich. Nach alleiniger Strahlentherapie (perkutan und/oder Brachytherapie) ohne Zusatztherapie (Androgendeprivation) ist, außer bei schwerer Strahlenzystitis bzw. -proktitis, keine Einschränkung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu erwarten. Mit einer Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit kann 2–6 Monate postoperativ bzw. nach Therapieende gerechnet werden. Patienten nach RPE sollten keine körperlichen Arbeiten verrichten, die zur Erhöhung des Bauchinnendruckes (Bauchpresse) führen, wie z. B. häufiges Bücken und Knien oder überwiegende Hebe- und Tragearbeiten. Auf überwiegende Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie Überkopfarbeiten (dadurch erhöhte Gefahr der Harninkontinenzverstärkung) sollte ebenfalls verzichtet werden. Bei persistierender Harninkontinenz wird auf die Beurteilung in 7 Kap. 18.2.3 verwiesen. Wenn bei jüngeren Patienten durch spätere Operationen (alloplastischer Sphinkter) Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben erwartet werden kann, ist der Zeitpunkt der Überprüfung des Leistungvermögens anzugeben. Bei einem primär generalisiert lymphogen oder ossär metastasierten Prostatakarzinom mit ausgeprägten Beschwerden und Schmerzen sowie der Gefahr von Spontanfrakturen und schlechter Prognose ist von einem aufgehobenen Leistungsvermögen auszugehen. Bei lokalem Tumorprogress, der nicht erfolgreich mit Strahlentherapie und/oder Androgenblockade behandelt werden kann, und bei systemischem Tumorprogress ohne Ansprechen auf Androgenblockade liegt eine Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben von weniger als drei Stunden vor. Bei Ansprechen der Androgendeprivation kann bei 50 % der Patienten bis zu fünf Jahren der Progress verhindert werden. Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit richtet sich in diesen Fällen auch nach der Stärke der Nebenwirkungen (allgemeine Leistungsminderung, Hitzewallungen, Muskel- und Knochenabbau, Schweißausbrüche). In der Regel sind leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Arbeiten ohne zeitliche Einschränkung möglich. Es sollten keine Kälte- bzw. Nässeexposition oder große Temperaturschwankungen auftreten. Bei starken Hitzewallungen unter antiandrogener Therapie trotz Medikation (Cyproteronacetat, Medroxyprogesteron, Venla-
faxin) sind gegebenenfalls Tätigkeiten mit Publikumsverkehr und Hitzeexposition auszuschließen.
18.2.8
Hodentumoren
Hodentumoren kommen typischerweise im Jugend- und frühen Erwachsenenalter vor. Risikofaktoren sind positive Familienanamnese (14 %), hohe Schulbildung, sitzende Tätigkeit, kontralateraler Hodentumor (5 %), Maldescensus testis, Hodenatrophie, intersexuelle Fehlbildung und Mumpsorchitis. Histologisch unterschieden werden Seminome und Nicht-Seminome (Teratokarzinome, embryonale Karzinome und Chorionkarzinome). Zum Zeitpunkt der Diagnose sind 49 % auf den Hoden begrenzt, 38 % haben retroperitoneale, mediastinale oder supraklavikuläre Lymphknotenmetastasen und 13 % Fernmetastasen vorzugsweise in Lunge, Leber, Knochen oder Gehirn. Therapie: Primärtherapie ist bei allen Hodentumoren (außer bei vital bedrohlicher Metastasierung – hier erfolgt die primäre Chemotherapie) die inguinale Semicastratio (in Zentren auch organerhaltender Eingriff) mit Biopsie des kontralateralen Hodens zum Ausschluss einer testikulären intraepithelialen Neoplasie. Die retroperitoneale, wenn möglich nervenerhaltende Lymphadenektomie (RLA) erfolgt primär oder sekundär nach Chemotherapie bei Residualtumor. Weitere Therapieoptionen sind: Chemotherapie (Mono- oder Polychemotherapie), primär oder sekundär; Strahlentherapie (Linearbeschleuniger) parailiakal – paraaortal – parakaval (BWK 11–LWK 4), primär oder sekundär; abwartendes Verhalten (Wait and see bzw. Surveillancestrategie) im Stadium I oder im Stadium II nach RLA oder Chemotherapie (70 % der Patienten benötigen nur eine der sekundären Therapieoptionen). Sekundäre Standardtherapie beim Seminom: Strahlentherapie oder Surveillance (Stadium I), Chemotherapie (Stadium II oder III). Sekundäre Standardtherapie beim Nichtseminom: Retroperitoneale nervenschonende Lymphknotenausräumung oder Polychemotherapie oder Surveillancestrategie (letztere ebenfalls gut begründbar, verursacht aber hohe Kosten und führt zu starken Belastungsreaktionen beim Patienten) (Stadium I), Chemotherapie und RLA von Residualtumoren (Stadium II), Chemotherapie (Stadium III). z
Klassifikationen, Stadieneinteilung
Die TNM- und die Lugano-Klassifikation (. Tab. 18.5) werden neuerdings durch die Einteilung der International Germ Cell Cancer Collaborative Group (IGCCCG, 1997) ersetzt, die besser mit der Prognose korreliert (. Tab. 18.6). Die alten Klassifikationen werden oft parallel weiter benutzt.
427 18.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 18.5 Historische Lugano-Klassifikation der Hodentumoren I
Tumor auf den Hoden beschränkt, keine Fernmetastasen
II
Retroperitoneale Lymphknotenmetastasen unterhalb des Zwerchfells
III
z
II A
Metastasendurchmesser < 2 cm
II B
Metastasendurchmesser 2–5 cm
II C
Metastasendurchmesser > 5 cm
Lymphknotenmetastasen auch oberhalb des Zwerchfells (d. h. mediastinal, supraklavikulär) sowie Fernmetastasen
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Siehe 7 Kap. 18.1.3, 18.1.4 und 18.1.5. z
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung
. Tab. 18.6 Prognose von Hodentumoren »Günstige Prognose»
58 % des analysierten Patientenkollektivs
Ereignisfreies Überleben 89 % Gesamtüberleben 92 %
Nichtseminome
Gonadaler oder retroperitonealer Primärtumor und „günstige» Markerkonstellation und keine extrapulmonalen Organmetastasen
AFP < 1.000 ng/ml HCG < 5.000 U/l LDH < 1,5facher oberer Normalwert
Seminome
Jegliche Primärlokalisation und keine extrapulmonalen Organmetastasen
Normales AFP Jedes HCG, jede LDH
»Intermediäre Prognose»
28 % des analysierten Patientenkollektivs
Ereignisfreies Überleben 75 % Gesamtüberleben 80 %
Nichtseminome
Gonadaler oder retroperitonealer Primärtumor und „intermediäre» Markerkonstellation und keine extrapulmonalen Organmetastasen
AFP 1.000–10.000 ng/ ml HCG 5.000–50.000 U/l LDH 1,5–10facher oberer Normalwert
Seminome
Jegliche Primärlokalisation und extrapulmonale Organmetastasen
Normales AFP Jedes HCG, jede LDH
»Schlechte Prognose«
16 % des analysierten Patientenkollektivs
Ereignisfreies Überleben 41 % Gesamtüberleben 48 %
Nichtseminome
Extragonadaler mediastinaler Primärtumor oder „ungünstige» Markerkonstellation oder extrapulmonale Organmetastasen
AFP > 10.000 ng/ml HCG > 50.000 U/l LDH > 10facher oberer Normalwert
Seminome
Keine
Keine
Siehe 7 Kap. 18.1.2. z
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
Stadienunabhängig werden 94 % der Hodentumorpatienten geheilt. Hodentumorpatienten sind hochmotiviert und zeigen eine gute Verarbeitung der Tumorproblematik, mit Ausnahme von Patienten, die eine Surveillancestrategie befolgen. Diese Patienten weisen die höchste psychische Morbidität (Damokles-Schwert-Syndrom) auf, da 15–30 % ein Rezidiv oder einen Progress erleiden. Nach nicht nervenschonender RLA im Sinne der Radikalität können Ejakulationsstörungen auftreten. Eine Strahlentherapie kann zu gastrointestinalen (Ulkusinzidenz: 2–6 %), hämatologischen, kardialen (selten, entfällt bei Verzicht auf eine prophylaktische Mediastinalbestrahlung) Nebenwirkungen, Keimepithelschädigungen (in der Regel 30 Wochen nach Therapie abgeklungen) oder einer Dermatitis führen. Nach Chemotherapie (besonders nach Cis-Platin) können gastrointestinale Störungen, Infektionen, Kardiomyopathie, Lungenfibrose, Myelosuppression, Nephrotoxizität, periphere sensorische Neuropathie (Störung der Exterozeption, insbesondere der Kälteempfindlichkeit, Kribbelparästhesien), ZNS-Schädigungen und Hochfrequenzhörverlust auftreten. Diese Schäden sind i. d. R. nach 12 Monaten abgeklungen. Nach Chemotherapie und hier vor allem nach Hochdosisbehandlung können durch die Langzeittoxizität (ab dem 91. Tag) andauernde Einschränkungen bestehen bleiben. Wichtige Nebenwirkungen der Chemotherapie bei Hodentumoren sind:
Nach den Kriterien der IGCCCG (International Germ Cell Cancer Collaborative Group), 1997
4 Nierenfunktionsstörungen: 100 %, i. d. R. leichte Funktionsstörung mit einer GFR > 60 ml/min und einem Kreatinin 2 cm bis ≤ 5 cm
T3
> 5 cm
T4 T4a T4b T4c T4d
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Befall der Thoraxwand oder der Haut Befall der Thoraxwand Ödem, Ulzeration oder Satellitenmetastasen der Haut Vorliegen von T4a und T4b Inflammatorisches Karzinom
pT1 mic
Mikroinvasion = Eindringen von Karzinomzellen über die Basalmembran hinaus ≤ 0,1 cm
N pN (sn) pN pN1mi
Klinischer Befund Lymphknoten Sentinel-Node-Biopsie, Anzahl ist anzugeben, z. B. 0/2 LK (sn) Resektion von mind. 10 LK, Anzahl ist anzugeben, z. B. 1/12 LK Mikrometastasen ≤ 2 mm Axilla-Lymphknoten
Mammaria-Lymphknoten
tumorfrei
1–3 LK befallen
4–9 LK befallen
≥ 10 LK befallen
tumorfrei oder nicht untersucht
pN0
pN1a
pN2a
pN3a
nur histologisch befallen
pN1b
pN1c
pN3b
pN3b
klinischer o. makroskop. Befall
pN2b
pN3b
pN3b
pN3b
pN3c: Befall supraklavikulärer Lymphknoten pN3a: Befall infraklavikulärer Lymphknoten
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Tumor ≤ 2 cm im größten Durchmesser ≤ 0,5 cm > 0,5 cm bis ≤ 1 cm > 1 cm bis ≤ 2 cm
MX
Fernmetastasen wurden nicht untersucht
MO
Keine Fernmetastasen
M1
Fernmetastasen: OSS, PUL, HEP etc.
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Kontextfaktoren ein. Die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit und damit die Erwartungen an Fähigkeiten nach einer Krebserkrankung unterliegen gesellschaftlichen Normen. In der Beurteilung des Mammakarzinoms hat sich dabei ein deutlicher Wandel vollzogen. Ressourcen und verbliebenen Fähigkeiten wird als Ausdruck funktionaler Gesundheit zunehmend mehr Beachtung geschenkt.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Zum Zeitpunkt einer Begutachtung ist die Primärbehandlung in der Regel abgeschlossen (6 bis 8 Monate). Das Gutachten zieht Bilanz des bisherigen Verlaufs, bezieht den aktuellen Befund ein und beurteilt auf dieser Grundlage die absehbare Entwicklung sowohl der Erkrankung als auch der resultierenden Einschränkungen und Fähigkeiten. Prognostische Faktoren sind dabei eingeschlossen. Für die aktuelle Einschätzung des Krebsleidens werden
Befunde der behandelnden Ärzte, Krankenhäuser, Psychotherapeuten, Nachsorgedokumente und Reha-Entlassungsberichte herangezogen. Aus dem primären Staging sollten vorliegen: Röntgen-Thorax, Oberbauchsonographie, Skelettszintigraphie und die gynäkologische Untersuchung, sowie als Labor: Blutbild, Leberwerte, CEA, CA 15-3. Bildgebende Verfahren der Mamma sind: Mammographie beidseits, Mammasonographie und ggf. Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT). Spezielle Fragestellungen werden mit geeigneten diagnostischen Verfahren abgeklärt: konventionelles Röntgen (Knochen), CT der Abdominal- oder Thoraxorgane oder MRT Schädel. Die reguläre regelmäßige Nachsorge ist auf den Lokalbefund fokussiert.
443 19.3 · Maligne Erkrankungen
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien 4 Bisheriger Krankheitsverlauf: Erstdiagnose sowie bisher durchgeführte Behandlungen und deren Folgestörungen, bei Rezidiven und Metastasen der Zeitraum bis zum Wiederauftreten und Art der Therapie (komplette oder partielle Remission? Non-Responder?), stationäre Aufenthalte, Tumornachsorge zuletzt wann? 4 Relevante Vor- und Begleiterkrankungen, onkologische Familienanamnese 4 Aktueller Allgemein- und Kräftezustand inkl. BMI, vegetative Anamnese, körperlicher Befund: Thoraxund Abdominalorgane (Lunge, Leber) und Stütz- und Bewegungsapparat (Wirbelsäule, große Gelenke, Gehstützen?), ausgeprägte körperliche Schwäche z. B. bei Metastasierung, Kachexie? 4 Aktuelle Beschwerden: Art, Lokalisation, Häufigkeit und Dauer, Beeinflussbarkeit durch Medikamente? Durch Verhalten? In welchen Situationen, bei welchen Belastungen? Ausmaß der Beeinträchtigung in Alltag und Freizeit, bei beruflicher Tätigkeit 4 Lymphödem (siehe auch 7 Kap. 14.2.2 Erkrankungen der Lymphgefäße): Anzahl entfernter LK? Welche Region(en) nachbestrahlt? Rezidivtherapie? Seit wann Ödem? Belastungsabhängig? Schweregefühl, Beschwerden? Erysipel, wenn ja wie oft? Inspektion und Palpation: Brustwand, Axilla und Lymphabflussgebiete, pathologische Befunde: Narben, Verdickung, Radioderm? Kissenförmige Ödeme Handrücken, Ellenbogen, Innenseite Ober- und Unterarm, Axilla oder Thoraxwand? Armumfänge: vergleichende Umfangsmessung beider Arme (am hängenden Arm: zum Beispiel Mitte des Oberarms, gemessen in der Mitte zwischen Akromion und Olekranon; Mitte des Unterarms, gemessen zwischen Olekranon und Handgelenk, am Handgelenk und an der Mittelhand). Umfangsdifferenzen bis zu 1 cm zugunsten der dominanten Seite sind normal. Bisherige Therapie: Lymphdrainage, Kompressionsbestrumpfung? Konsequente Anwendung? Entstauungsübungen und Verhaltensregeln bekannt? 4 Schulter-Arm-Bereich: anamnestisch Vorschädigungen der Schulter? Operationen? Beweglichkeit eingeschränkt seit wann? Schmerzhaft? Inspektorisch: Schon- und Fehlhaltung? Ungehindertes An- und Ausziehen? Muskelatrophien? Palpatorisch: Schmerzangaben wo genau? Messung nach Neutral0-Methode (siehe auch 7 Kap. 7.1.2 Bewegungssystem Diagnostik). Funktionsgriffe: Schürzen- und Nackengriff. Kraft in der Hand: z. B. gekreuzter Handgriff. Fingerbeweglichkeit, Händigkeit. Therapie: Pharma-
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kotherapie inkl. Dosierung, physikalische Therapie, Krankengymnastik? Neurologische Störungen: Missempfindungen durch OP (geringgradige Parästhesien Innenseite Oberarm relativ häufig), Schmerzen, Plexusaffektionen bis zu Paresen (bei Neu-Auftreten an Tumorprogress denken), chemotherapiebedingte Polyneuropathie, Gebrauchsfähigkeit der Hände (Tastsinn), Gehfähigkeit. Rückläufig? Persistierend? Geschmack, Geruch (Maß der Beeinträchtigung? Gewichtsabnahme?) Ausgeprägte klimakterische Beschwerden durch Hormontherapie: Hitzewallungen, Unruhe, Schlafstörungen, Scheidentrockenheit, sexuelle Inappetenz, Blasenprobleme Psyche: subjektive Krankheitssicht, Bewältigungsmuster, Lebensphase, Unterstützung – stabilisierend oder dysfunktional? Depressive Symptome, Stimmungslabilität. Mangelnde Konzentrationsfähigkeit, anhaltende Erschöpfung (»Fatigue-Syndrom«) siehe auch 7 Kap. 10.5. Anbindung an Arzt, Brustzentrum, (Krebs)Beratungsstelle (z. B. ambulante psychosoziale Krebsberatungsstellen), begleitende Psychotherapie, psychiatrische medikamentöse Behandlung? Bei ca. der Hälfte der Mammakarzinompatientinnen ist psychosozialer Unterstützungsbedarf anzunehmen. Andere Komplikationen/persistierende Nebenwirkungen therapeutischer Maßnahmen wie Knochenmarksdepression, kardiale Symptome, selten z. B. pulmonale oder mediastinale Strahlenfolgen
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung Nach Abschluss der Primärtherapie ist bei den meisten Mammakarzinompatientinnen mit einer weitgehenden Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit zu rechnen. Vor einer Begutachtung sollte ausreichend Zeit zur Rekonvaleszenz und z. B. eine stationäre Rehabilitation nach den weitreichenden – häufig jedoch nur vorübergehenden – Folgen der Therapien abgewartet werden. So kann der erreichbare Kompensationszustand besser eingeschätzt werden. Eine noch laufende Herceptintherapie steht der Begutachtung nicht im Wege (kardiale Nebenwirkungen beachten). Bei symptomfreien Patientinnen, die nach der Sentinel-Node-Methode operiert wurden, bestehen aufgrund der Lymphsituation keine qualitativen Einschränkungen mehr. Nach kompletter Axilladissektion und/oder Radiatio der Axilla sind wegen des Lymphödem-Risikos Arbeiten mit einer starken Beanspruchung des betroffenen Armes und der Hand zu vermeiden, vor allem im ersten Jahr nach der Therapie. Dieselben Einschränkungen gelten für leichtere Lymphödemformen Stadium I nach der AWMFLeitlinie »Diagnostik und Therapie der Lymphödeme« [2] (siehe auch 7 Kap. 14.2.2). Mit der betroffenen Extremi-
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Kapitel 19 · Gynäkologische Erkrankungen
tät sollen nicht ausgeführt werden: schweres Heben und Tragen (auch zeitweise), überwiegend mittelschwere und monotone leichte manuelle Tätigkeiten, längerdauernde Überkopfarbeit und Armvorhalt ohne Möglichkeit zum Haltungs- oder Lagerungswechsel; keine starke Hitze-, Kälte- und Nässeeinwirkung und keine Tätigkeiten mit erhöhter Verletzungsgefahr (wenn nicht durch Schutzvorrichtung vermeidbar). Bei vorhandenem Lymphödem im Stadium II oder III ist auch zeitweise mittelschwere Tätigkeit nicht zumutbar, vermieden werden sollten zudem Tätigkeiten, bei denen eine abschnürende Kleidung notwendig ist oder Schulterriemen auf der Schulter der betroffenen Seite aufgelegt werden müssen [3]. Bei kontinuierlich notwendiger Armbestrumpfung mit Handschuh ist das Leistungsvermögen für manuelle Tätigkeiten eingeschränkt. Ein Thoraxwandödem tritt häufig nur passager zeitnah zur Operation auf und führt isoliert nicht zu dauerhaften Einschränkungen. Persistierende Bewegungseinschränkungen des betroffenen Arms, Schmerzen, Narbenstrikturen und Muskelatrophien können Alltagsverrichtungen und Arbeitsabläufe stark behindern. Bei einer persistierenden Einschränkung der Schulterbeweglichkeit kann bei einem Bewegungsausmaß zwischen 90 und 180 Grad für Abduktion und Anteversion von einer Leistungsfähigkeit von sechs Stunden und mehr für körperlich leichte Tätigkeiten ausgegangen werden. Durchführbar sind Tätigkeiten mit gelegentlich bis zeitweisem Arbeiten über Schulterhöhe und mit gelegentlich bis zeitweise erforderlichem Tragen, Heben und Bewegen von mittelschweren bis schweren Lasten. Bei einem Bewegungsausmaß zwischen 90 und 45 Grad und deutlicher Einschränkung der Rotationsbewegungen können leichte Arbeiten noch durchgeführt werden, allerdings ohne jegliche Überkopf- oder Armvorhaltearbeiten und ohne Abstützung. Tätigkeiten am Schreibtisch können hiermit aber noch durchgeführt werden, da der Arm sich in einer Flexionsstellung unter 45 Grad befindet und abgelegt werden kann. Bei einem Bewegungsausmaß von maximal 45° in Anteversion und Abduktion treten bereits Schmerzen beim Ablegen des Armes auf einer Stuhllehne oder bei einer Greifbewegung nach circa 30 cm entfernt liegenden Gegenständen auf, so dass mit dem betroffenen Arm keine wesentliche Tätigkeit mehr ausgeführt werden kann. Zusätzlich vermindert ein gestörter Bewegungsablauf des Schulter-Armbereichs den Lymphabfluss und fördert damit ein Lymphödem. Bei komplexen Bildern und vorbestehender Komorbidität der Schulter ist eine orthopädische Zusatzbegutachtung sinnvoll. Neurologische Störungen sind nach ihrer Ausprägung zu beurteilen, ausgeprägte Paresen durch Plexusaffektion können bis hin zur funktionellen Einhändigkeit führen. Bei störenden Missempfindungen der Axilla oder des Oberarmes sollten monotone Belastungen vermieden
werden. Anhaltende Schmerzen sind nach den Kriterien der Schmerzbegutachtung zu beurteilen (siehe 7 Kap. 26). Die als Nebenwirkung zytostatischer Therapien auftretenden peripheren Polyneuropathien sind ggf. fachspezifisch neurologisch zu bewerten, vor allem wenn qualitative Einschränkungen der Kraft und Greiffunktion der Hände und die Fähigkeit zu PC-Arbeit überprüft werden sollen. Bei Neuropathien der unteren Extremitäten können die Gehfähigkeit in unebenem Gelände, die Arbeit auf Leitern etc. beeinträchtigt sein. Internistische kardiale und pulmonale Störungen sind fachspezifisch abzuklären. Eine Metastasierung führt nicht zwangsläufig zur dauerhaften und vollständigen Leistungsminderung. Hier bestimmen Lokalisation und therapeutisches Ansprechen der Metastasen, die psychosozialen Rahmenbedingungen und Ressourcen sowie die Beschwerden durch Krankheit und Therapie das individuelle Bild. Die subjektive psychische Belastung durch die Karzinomdiagnose ist ein wesentlicher bestimmender Faktor für die weitere Erwerbsprognose. Für Frauen hat das Mammakarzinom noch eine zusätzliche Bedeutung für das Selbstwertgefühl und das weibliche Körperbild. z
Medizinische Rehabilitation
Ca. 50 % der Mammakarzinompatientinnen nutzen die Möglichkeit von Rehabilitationsleistungen – mit steigendem AHB-Anteil. Zu den wichtigsten Aufgaben einer onkologischen Rehabilitation gehört die Stärkung individueller Ressourcen im salutogenetischen Sinn. Die spezifischen somatischen Therapieziele richten sich nach den vorrangigen Funktionsstörungen und können bei vielen der oben beschriebenen Einschränkungen eine Verbesserung bewirken, vor allem bei schmerzhafter Bewegungseinschränkung und Ödemen. Auch das veränderte Körperbild wird durch Wahrnehmungs- und Bewegungsübungen verbessert. Ein messbarer positiver Einfluss ist durch moderates Kraft- und Ausdauertraining auf körperliche Schwäche und depressive Stimmung nachgewiesen. Patientinnen werden in der Rehabilitation zu einer nachhaltigen Veränderung ihres Bewegungsverhaltens motiviert. Der psychoedukative Anteil der Rehabilitation umfasst Vortrags- und Schulungsprogramme zu Krankheitsinformation, Ödemprophylaxe, psychosozialer Unterstützung, gesunderhaltenden Faktoren wie Entspannung, Ernährung und Bewegung. Spezielle psychoonkologische Einzel- und Gruppentherapien und Entspannungstraining sowie Kreativtherapien sind integrativer Bestandteil zur Krankheitsbewältigung. Gruppenarbeit mit gleichbetroffenen Frauen nutzt geschlechtsspezifische Kommunikationsmuster zur gegenseitigen sozialen Unterstützung. Sozialer Isolation wird vorgebeugt. Bei ausgeprägten psychischen Störungen kann eine psychosomatische Rehabilitation indiziert sein.
445 19.3 · Maligne Erkrankungen
z
Teilhabe am Arbeitsleben
Bei der Mehrzahl asymptomatischer Frauen ist nicht von vornherein eine andere berufliche Tätigkeit anzustreben. Oft zeigt erst ein Arbeitsversuch die konkreten Hindernisse am Arbeitsplatz und die Grenzen der individuellen Belastbarkeit. Bestehen bereits Ödeme oder Schmerzen und Bewegungseinschränkungen des Armes, der Hand oder der Schulter oder treten sie unter Belastung neu auf, hat dies Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit. Bei Büroarbeitsplätzen reichen in der Regel kurze Pausen, Lockerungs- und Entstauungsübungen. Mechanische Schreibmaschinen waren oft ein Problem, PC-Tastaturen sind es seltener. Bei neuropathischen Störungen der Hand ist die grobe Kraft möglicherweise mehr eingeschränkt als die Feinmotorik. PC-Bedienung der Maus kann auf z. B. Linkshändigkeit trainiert werden. Oft gibt es geeignete Arbeitshilfen wie eine Fönaufhängung bei Friseurinnen. Angehörige von Pflegeberufen sollten für schwere Tätigkeiten im Team arbeiten, hier könnte eine innerbetriebliche Umbesetzung – so möglich – angestrebt werden, in anderen Fällen z. B. eine Anpassungsqualifizierung für organisatorische Aufgaben. Fließbandarbeiterinnen oder Kassiererinnen belasten häufig nur einen Arm, was sich durch Veränderungen am Arbeitsplatz mitunter korrigieren lässt. Schwieriger wird es bei Köchinnen, Serviererinnen, Reinigungskräften oder Tätigkeiten im Handwerk oder in der Landwirtschaft. z
Erwerbsminderung
Eine zeitlich begrenzte quantitative Einschränkung des Leistungsvermögens auf 3 bis unter 6 Stunden kann durch stärkere somatische Funktionseinschränkungen oder überdurchschnittlich lang andauernde Schwäche und mangelnde Belastbarkeit begründet sein. Auch die psychomentale Belastbarkeit kann bei depressiver Verarbeitung und Anpassungsstörungen zeitlich begrenzt sein. Überprüft werden sollten zuvor therapeutische Optionen wie eine ambulante Psychotherapie, ggf. auch eine unterstützende psychopharmakologische Medikation sowie eine (psychosomatische) Rehabilitation. Tumorbedingte Schwächezustände bei fortgeschrittener Erkrankung und Metastasierung gehen mit einem dauerhaft aufgehobenen Leistungsvermögen einher. Auch schwere Lymphödeme und starke Bewegungseinschränkungen mit Schmerzen im betroffenen Arm ohne Besserungstendenz können die Leistungsfähigkeit erheblich reduzieren oder völlig aufheben, wenn weitere qualitative Einschränkungen hinzukommen.
19.3.2
Korpuskarzinom (Endometriumkarzinom)
Der Erkrankungsgipfel des Korpuskarzinoms liegt nach der erwerbsaktiven Phase über dem 70. Lebensjahr, nur etwa 15 % der Patientinnen sind prämenopausal. Die Inzidenz beträgt 20/100.000 Frauen mit ca. 11.700 Neuerkrankungen/Jahr in Deutschland. Eine diagnostische Abrasio bei Blutungsstörungen ermöglicht die meist frühzeitige Diagnose. Für die T1-Stadien wird eine Fünf-Jahres-Überlebensrate bis zu 90 % angegeben. Durchgeführt wird eine Hysterektomie mit Adnektomie beidseits und je nach Stadium pelvine oder aortale Lymphknotenentfernung. Ab T2-Stadien wird die operative Technik dem Zervixbefall angepasst. Häufig werden adjuvante Kontaktbestrahlungen des Scheidenendes angeschlossen, perkutane Radiatio der Abdominal- und Beckenregionen erfolgt bei erweiterter Indikation.
Klassifikation und Stadieneinteilung Die Stadieneinteilung wird nach dem TNM-System vorgenommen, histologisch handelt es sich meist um östrogenabhängige, endometrioide Adenokarzinome. Prognostisch und therapeutisch wichtigstes Kriterium ist die genaue Ausdehnung (pT1 nur Korpus, pT2 mit Zervixbefall) und Myometriuminfiltration (auf Endometrium beschränkt = pT1a, unter 50 % Infiltration = pT1b, über 50 % = pT1c), weiterhin das Grading, Gefäß- und Lymphgefäßeinbruch sowie ggf. Tumornachweis in paraaortalen Lymphknoten.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Für erweiterte Eingriffe siehe unter Zervixkarzinom, 7 Kap. 19.3.4.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Siehe OP-Bericht, Krankenhausentlassbriefe, Nachsorgeberichte und aktuelle gynäkologische Untersuchung, ggf. Zusatzbefunde Proktologie, Urologie.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien 4 Ausmaß der Lymphknotenentfernung und parametraner Gewebsanteile? Bestimmt erheblich die postoperative Morbidität und evtl. Funktionseinschränkungen (siehe unter Zervixkarzinom, 7 Kap. 19.3.4) 4 Bauchdeckenschmerz/Adhäsionsbeschwerden: siehe 7 Kap. 19.2.5. 4 Darm- oder Blasensymptomatik, Ureter? Strahlenproktitis bzw. -zystitis? 4 Vita sexualis? Scheidenverkürzung, -stenose? Hormonausfallssymptome?
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4 Krankheitsbewältigung, psychische Belastung? 4 Komorbiditäten: Adipositas, Diabetes mellitus, Hypertonie
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung Nach kurativer und komplikationsfreier Behandlung wird zumeist das volle Leistungsvermögen wieder erreicht. Bei den seltener notwendigen ausgedehnten Eingriffen treffen die unter Zervixkarzinom beschriebenen Einschränkungen zu. z
Medizinische Rehabilitation
Rehabilitative Maßnahmen beschleunigen den Heilungsprozess, verbessern Narbenstörungen und die Krankheitsverarbeitung. Günstiger Einfluss kann auf Komorbiditäten wie Adipositas und Diabetes genommen werden, Bewegungsmangel entgegengewirkt werden. z
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Kapitel 19 · Gynäkologische Erkrankungen
Teilhabe am Arbeitsleben
Für erweiterte Eingriffe siehe unter Zervixkarzinom, 7 Kap. 19.3.4.
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Für erweiterte Eingriffe siehe unter Zervixkarzinom, 7 Kap 19.3.4.
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Erwerbsminderung
19.3.3
Ovarialkarzinom
Das Ovarialkarzinom zählt zu den malignen epithelialen Tumoren und tritt mit einer Inzidenz von 14/100.000 Frauen in der Mehrzahl postmenopausal auf, ca. 9.660 Neuerkrankungen/Jahr. Es hat von allen Genitalkarzinomen die ungünstigste Prognose, da Frühsymptome fehlen und über zwei Drittel der Fälle erst in den Stadien T3 und T4 diagnostiziert werden. Im Stadium pT1a mit günstigem Grading ist eine einseitige Adnektomie möglich. In allen anderen Stadien ist die Radikaloperation mit dem Ziel der weitestgehenden Tumorresektion notwendig (inneres Genitale, betroffener Darm, Lymphknoten, Netz). Prognostisch entscheidend ist die Größe des postoperativen Resttumors, über 2 cm beträgt die Fünf-Jahres-Überlebensrate nur ca. 10 %. Als Standard schließt sich eine adjuvante Polychemotherapie mit platin- und taxolhaltigen Substanzen für sechs Zyklen an. In der Folge kommen als Palliativtherapie andere Chemotherapeutika in Frage, dann ggf. als Monotherapien. Borderline-Tumoren (nicht-invasive Tumoren mit potentieller Malignität) des Ovars werden nach Ausdehnung und Proliferationsgrad bewertet und behandelt. Für Keimzell- und Stromatumoren (Chorionkarzinom, malignes Teratom u. a.) sowie Ovarialmetastasen anderer Tumoren gelten eigene therapeutische Bedingungen.
Klassifikation und Stadieneinteilung Das Stadium pT1a nach dem TNM-System beschreibt intrakapsuläres Karzinomwachstum an einem Ovar, pT1b beidseits. Ist die Ovaroberfläche erreicht (ab pT1c), muss von einer peritonealen Ausbreitung ausgegangen werden; pT2 bedeutet Lokalisation von Tumor innerhalb, pT3 außerhalb des kleinen Beckens.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Operationsfolgen entsprechen der Entfernung des inneren Genitale und der Größe der peritonealen Wundflächen. Die Anlage eines Anus praeter bei Darmresektion ist häufig auf Dauer, gelegentlich erfolgt auch eine Ableitung des Urins durch ein Stoma. Der Umgang mit dem Stoma muss erlernt und akzeptiert werden und stellt eine starke Irritation der körperlichen Integrität dar. Neurologische Folgeschäden nach Chemotherapie besonders an Händen und Füßen sind teilweise außerordentlich störend und behindernd. Die bedrohliche Diagnose bei fortgeschrittenem Primärbefund erfordert darüber hinaus große psychomentale Anpassungsleistungen und Umstellung der Lebensziele. Körperliche Belastbarkeit und psychomentale Ausdauer sind nach OP und während der Chemotherapie stark eingeschränkt. Im rezidivfreien Intervall sind nach entsprechender Stabilisierung die Möglichkeiten zur Teilhabe wieder normalisiert. Je nach Verlauf besteht jedoch auch Unterstützungs- und in der Palliativsituation Pflegebedarf.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Siehe OP-Berichte und Krankenhausentlassbriefe, gynäkologische Untersuchung, vaginaler und abdominaler Ultraschall, Tumormarker CA 12-5 als Verlaufskontrolle nach Therapien.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien 4 Allgemeines siehe Mammakarzinom (7 Kap. 19.3.1), Krankheitsverlauf und Therapien, Prognose? 4 Postoperative Folgen aufgrund der häufig ausgedehnten intraperitonealen Eingriffe, längerandauernd. Weiteres siehe unter Folgen gynäkologischer OPs, 7 Kap. 19.2.5. 4 Blasen- und Darmstörungen? Anus praeter? 4 Seltener Lymphödeme, da eher geringe Anzahl Lymphknoten zu Stagingzwecken 4 Folgen platinhaltiger Chemotherapie, z. B. Polyneuropathien
447 19.3 · Maligne Erkrankungen
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung Die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit ist erst nach abgeschlossener adjuvanter Therapie und zusätzlicher Erholungszeit zu erwarten, hier also nicht vor Ablauf von 9 bis 12 Monaten nach Primärbehandlung. Bei günstigem Verlauf werden wieder leichte bis mittelschwere Arbeiten über sechs Stunden möglich, ggf. in Verbindung mit qualitativen Einschränkungen. Bei Polyneuropathien ist auf die Gebrauchsfähigkeit der Hände und auf Tätigkeiten ohne Absturzgefahr (Füße) zu achten. z
Medizinische Rehabilitation
Eine spezifische medizinische Rehabilitationsleistung verbessert die körperlich-vegetative Leistungsfähigkeit, die Funktionsstörungen der Beckenorgane sowie an Händen und Füßen. Auch aus psycho-onkologischer Sicht ist Rehabilitation erfolgversprechend, siehe unter Mammakarzinom, 7 Kap. 19.3.1. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Anpassungsqualifizierung an körperlich leichtere bzw. den Einschränkungen angepasste Tätigkeiten können sinnvoll sein. z
Erwerbsminderung
Bei Tumorprogression, prolongierter Erschöpfung, mangelnder Regenerationsfähigkeit (Alter, Therapiefolgen) und inkurablem Rezidiv kann die erwerbsbezogene Leistungsfähigkeit teilweise gemindert oder aufgehoben sein.
metrien und Vaginalmanschette vorgenommen (OP nach Piver I bis III, früher nachWertheim-Meigs). Die Ovarektomie ist bei nicht östrogenabhängigem Plattenepithelkarzinom nicht erforderlich. Eine postoperative Radiatio, meist kombiniert als abdominale und vaginale Therapie, ergänzt die Operation je nach Histologie. Bei primär nicht operablen Befunden oder bei Kontraindikationen zur Operation kann mit kombinierter vaginaler und abdominaler Radiatio als Behandlungsregime beim strahlensensiblen Plattenepithelkarzinom eine Teil- und Vollremission, sogar dauerhafte Heilung erreicht werden. Therapieregimes mit platinhaltiger Chemotherapie verbessern die Strahlensensitivität. Rezidive können operativ, strahlentherapeutisch oder systemisch behandelt werden.
Klassifikation und Stadieneinteilung Zervixdysplasien entwickeln sich aus Vorstufen CIN I bis III (Cervicale Intraepitheliale Neoplasien) meist langsam über Jahre. 80 % der Zervixkarzinome sind Plattenepithel-, die anderen Adenokarzinome. Stadium T1 beschreibt den Befall ausschließlich der Zervix, davon T1a mit 5 mm Eindringtiefe, T1a1 bis max. 3 mm Tiefen- und 7 mm Oberflächenausdehnung, bis 5 mm Tiefe T1a2, darüber T1b. Bei T2 ist Infiltration des Umgebungsgewebes der Zervix nachgewiesen, T3 ausgedehnt auf Beckenwand und untere Scheide. Risikofaktoren sind lymphovaskulärer Befall und Grading G3.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF 19.3.4
Zervixkarzinom
Die Inzidenz des Zervixkarzinoms in Deutschland beträgt 15/100.000 Frauen, ca. 6.190 Neuerkrankungen/Jahr. Es gibt zwei Altersgipfel zwischen dem 35. und dem 54. und nach dem 65. Lebensjahr. Ätiologisch ist eine zuvor durchgemachte Infektion mit high-risk HPV (HumanPapilloma-Virus) erwiesen. Hier setzt die neu entwickelte Impfung für junge Mädchen vor Aufnahme sexueller Aktivitäten an. Das zytologische Screening auf Zervixdysplasien im Rahmen der Krebsfrüherkennungsuntersuchung (Pap-Test) hat eine hohe Sensitivität und Spezifität. Bei auffälligen Befunden erfolgt eine Abklärung mittels Biopsie oder Konisation. Bei optimalem chirurgischen Vorgehen und ohne Lymphknotenbefall ist von einer guten Prognose auszugehen (bis zu 90 % Fünf-Jahres-Überlebensrate). In frühen Stadien ist Organerhalt oder eine einfache Hysterektomie möglich. In den Stadien T1a2 bis T2b wird je nach Ausgangshistologie eine unterschiedlich stark erweiterte Hysterektomie mit pelviner und teilweise paraaortaler Lymphonodektomie unter Mitnahme von Para-
Funktions- und Strukturebene sind je nach Ausdehnung der Operation wenig bis sehr stark beeinflusst: Narbenstörungen, Becken- und Rückenschmerzen, Blasen- und Darmfunktionsstörungen sowie Lymphödem der Beine und Scheidenverkürzung. Die Radiatio verstärkt vor allem das Lymphproblem und Scheidenstenosen, kann auch erhebliche Strahlenreaktionen an Blase und Darm nach sich ziehen. Chemotherapien verursachen zusätzliche kurz- oder längerfristige Schädigungen. Die psychische Anpassungsleistung erfordert eine Auseinandersetzung mit der Karzinomdiagnose sowie eine Neubewertung von Lebenszielen, Sexualität und Partnerschaft. Körperliche Ausdauer und allgemeine Leistungsfähigkeit hängen von der Therapieintensität ab, die die posttherapeutische Morbidität bestimmt. Auch wenn die Krankheitsprognose oft positiv ist, kann die Teilhabe am sozialen Leben und Erwerbsleben aufgrund der Einschränkungen einschneidend verändert sein. Vor allem die Vita Sexualis ist aufgrund der veränderten Anatomie eingeschränkt. Kontextfaktoren sind soziale Bedingungen und Lebensstil (schon bei der Entstehung des Zervixkarzinoms), individuelle und gesellschaftliche Ressourcen.
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Kapitel 19 · Gynäkologische Erkrankungen
Tabuisierung gynäkologischer Themen erschweren die Krankheitsverabeitung und tragen zur Isolation bzw. zum sozialen Rückzug bei.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Siehe OP-Berichte und Krankenhausentlassbriefe, Nachsorgeberichte, aktuelle gynäkologische Untersuchung, vaginaler und abdominaler Ultraschall, evt. Tumormarker SCC bei Plattenepithelkarzinomen, CEA/CA 125 bei Adenokarzinomen als Verlaufskontrolle nach Therapien, nur bei spezieller Fragestellung (Rezidivverdacht) bildgebende Verfahren wie MRT Becken.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien 4 Allgemeines: siehe auch Mammakarzinom (7 Kap. 19.3.1), Krankheitsverlauf und Therapien 4 Lymphödeme der unteren Extremitäten und/oder der Genitalregion? Seit wann? Belastungsabhängig? Reversibel? Kombination mit venöser Insuffizienz? Erysipel? Inspektion und Palpation: Ödem Bauchdecke? Mons Pubis? Beinumfänge: Messung 10 cm und 20 cm oberhalb des inneren Kniegelenkspaltes, sowie 15 cm darunter, am Unterschenkel und am Knöchel. Bisherige Therapie: Lymphdrainage? Kompressionsbestrumpfung? Compliance? Verhaltensregeln bekannt? Verträglichkeit im Genitalbereich? (siehe auch 7 Kap. 14.2.2 Erkrankungen der Lymphgefäße) 4 Blasenfunktionsstörungen (bis zu 50 %) aufgrund der Denervierung der Blase (in der Folge hohe Restharnmengen, mangelnde Sensibilität der Blase, Harninkontinenz), Harnwegsinfekte 4 radiogene Darmfunktionsstörungen (Durchfälle, imperativer Stuhldrang) 4 Operations- und strahlenbedingte Scheidenverkürzungen und -verklebungen? 4 Bauchdeckenschmerz/Adhäsionsbeschwerden: siehe unter 7 Kap. 19.2.5 4 Klimakterische Beschwerden? 4 Schwerwiegende Operations- und Strahlenfolgen: Fisteln der ableitenden Harnwege oder des Darmes mit der Scheide, Ureterstenosen? 4 Psyche: Bewältigung, Unterstützungsbedarf? Partnerschaft?
ßen Eingriffen möglich. Nach einer Wertheim-Operation bzw. Piver II oder III, vor allem auch bei zusätzlicher kombinierter Nachbestrahlung, ist mit erheblichen und teilweise dauerhaften Funktionseinschränkungen zu rechnen. Bei Vorliegen von Lymphödemen der unteren Körperhälfte schränkt sich das Leistungsvermögen qualitativ ein auf leichte Tätigkeiten in wechselnden Körperhaltungen, unter Vermeidung von Temperaturextremen und Nässeschutz. Bei Behandlungsfolgen wie z. B. Harn- oder Stuhlentleerungsstörungen oder Inkontinenz sowie bei Komplikationen wie Fisteln ist nach Schwere der Beeinträchtigung zu beurteilen. z
Medizinische Rehabilitation
Rehabilitationsleistungen sind erfolgversprechend und können sowohl die Narbenbeschwerden, die lokale Symptomatik wie auch ein Lymphödem günstig beeinflussen. Intensive komplexe entstauende Lymphtherapie mit manueller Lymphdrainage, Kompressionsbestrumpfung nach Maß und Entstauungsübungen sind indiziert, evtl. Gewichtsreduktion. Copingstrategien können eingeübt werden, individuell anzusprechen ist der Umgang mit Sexualität. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Besonders körperlich einseitig stehende Tätigkeiten sind nach radikalen Beckenoperationen problematisch. Betriebliche Regelung mit Umbesetzung auf Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung kann z. B. bei Verkäuferinnen angestrebt werden. In anderen Fällen sind Anpassungsqualifizierung oder je nach persönlicher Voraussetzungen der Patientin eine berufliche Umorientierung indiziert. z
Erwerbsminderung
Ein zeitlicher Umfang von 3 bis unter 6 Stunden für leichte körperliche Tätigkeit kann bei stärkeren Lymphödemen der unteren Extremitäten dauerhaft ein realistisches Restleistungsvermögen sein. Auch rasche Erschöpfbarkeit und depressive Verarbeitung begründen u. U. ein quantitativ eingeschränktes Leistungsbild, dann jedoch zunächst befristet. Bei lokal weit fortgeschrittenen oder disseminierten Zervixkarzinomen und nicht kurativ behandelbaren Rezidiven ist in der Regel von einem aufgehobenen Leistungsvermögen auszugehen.
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung Viele Patientinnen stehen bei Diagnose noch im Erwerbsleben. Nach kurativer Behandlung und ausreichend langer posttherapeutischer Erholungszeit (je nach erforderlicher Operationstechnik und evtl. Radiatio mehrere Monate) sind viele Tätigkeiten wieder zumutbar. Leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne ständiges Stehen und ohne Zwangshaltungen (im Bücken) sind meist auch nach gro-
19.3.5
Vaginal- und Vulvakarzinom
Das Vaginalkarzinom ist mit einer Inzidenz von 0,2/100.000 sehr selten und wird wenn möglich operativ behandelt. Beim Vulvakarzinom (Inzidenz 2/100.000) liegt der Altersdurchschnitt bei 70 Jahren, sodass rentenrelevante
449 Literatur
Fragestellungen selten sind. Neben lokaler operativer Sanierung wird Strahlentherapie adjuvant oder alternativ zur Lymphknotenentfernung eingesetzt. Posttherapeutische Narben und Lymphödeme schränken teilweise dauerhaft längeres Sitzen ein, besonders zusätzliche Lymphödeme der Beine können das Leistungsvermögen stark beeinträchtigen oder aufheben.
Literatur 1
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451
Hauterkrankungen Norbert Buhles
20.1
Allgemeines – 452
20.1.1 20.1.2 20.1.3 20.1.4
Sozialmedizinische Bedeutung – 452 Diagnostik – 452 Begutachtungskriterien – 453 Sozialmedizinische Beurteilung – 454
20.2
Ekzemerkrankungen – 455
20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.2.4 20.2.5 20.2.6
Konstitutionell bedingte Ekzemformen – 456 Allergisches (Kontakt-)Ekzem – 456 Toxisch-kumulatives (Kontakt-)Ekzem – 457 Primär mikrobielle Ekzeme – 458 (Dys-)seborrhoisches Ekzem – 458 Gewerbedermatosen – 458
20.3
Psoriasis und andere nicht-infektiöse entzündliche Hauterkrankungen – 459
20.3.1 20.3.2 20.3.3
Psoriasis – 459 Parapsoriasis-Gruppe – 460 Weitere chronisch entzündliche Dermatosen – 460
20.4
Infektionsbedingte Hauterkrankungen – 462
20.4.1 20.4.2
Erysipel – 462 Mykose – 462
20.5
Hauttumoren – 462 Literatur – 463
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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452
Kapitel 20 · Hauterkrankungen
20.1
Allgemeines
20.1.2
20.1.1
Sozialmedizinische Bedeutung
In der Dermatologie und Allergologie existiert eine breite Palette von Testverfahren und Funktionsproben, um Funktionsdefizite und Strukturveränderungen sowie immunologische Reaktionen der Haut diagnostizieren zu können (. Tab. 20.1 und . Tab. 20.2). Näheres ist bei den einzelnen Krankheitsbildern nachzulesen [1]. Gerade bei langwierigen Krankheitsverläufen sollte erwartet werden können, dass für die Begutachtung die Funktionsergebnisse vorangegangener Untersuchungen bereitgestellt werden.
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Zu den sozialmedizinisch begutachtungsrelevanten Hauterkrankungen der Erwachsenen zählen vor allem die Ekzemerkrankungen (ICD L20–L30) und die verschiedenen Formen der Psoriasis (ICD L40). Ekzemerkrankungen führten 2009 zu 2.970 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die Deutsche Rentenversicherung. Die Psoriasis stellte im gleichen Zeitraum bei 4.554 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation die Hauptindikation. Leistungsminderung durch Ekzemerkrankungen führten 2009 zu 128 Renten wegen Erwerbminderung. Aufgrund der Psoriasis erhielten 218 Versicherte eine Rente wegen Erwerbsminderung. Bei bösartigen Neubildungen (ICD C43–C44) wurden 2.084 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durchgeführt und 353 Renten wegen Erwerbsminderung registriert. Akut entzündliche Hauterkrankungen lassen sich meist therapeutisch beherrschen und führen nur selten zu leistungsmindernden Folgeschäden. Allerdings können schwere Verläufe oder chronische Entzündungen zu einer Leistungsminderung führen und zu Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung oder in nicht geringem Umfang der gesetzlichen Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften, BG) führen. Berufsbedingte Ekzeme stellen nach statistischen Daten der BG etwa ein Drittel aller Verdachtsmeldungen von Berufskrankheiten. Der Umstand, dass viele Hauterkrankungen berufsbedingt sind und dadurch sich die Leistungspflicht für die BG ergibt, erklärt u. a. die verhältnismäßig geringe Zahl von Leistungen zur medizinischer Rehabilitation durch die Deutsche Rentenversicherung. Renten wegen Erwerbsminderung durch nicht-tumoröse Hauterkrankungen kommen dann zum Tragen, wenn funktionale Einschränkungen sich an der Haut von Händen und Füßen manifestieren. Seltener sind Hauterkrankungen des gesamten Integumentes (Erythrodermie) oder unbedeckter Körperpartien durch entstellende und/ oder therapieresistente Hautveränderungen mit qualitativer und quantitativer Leistungsminderung. Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit spielen bei der Prävention von Hautkrankheiten im Arbeitsleben eine große Rolle. Arbeitgeber stehen in der gesetzlichen Pflicht, durch geeignete Maßnahmen Hauterkrankungen im Zusammenhang mit der vergebenen Arbeit vorzubeugen, beispielsweise durch das Bereitstellen von Hautschutz und Hautschutzmitteln. Mangelhafte arbeitsmedizinische Versorgung kann ein Risiko für die Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz sein, ohne dass damit gleichzeitig eine Leistungsminderung bei vermeidbaren Hauterkrankungen vorliegt.
z
Diagnostik
Anamnese
Wichtig ist in der Anamneseerhebung, dass die geschilderten Symptome (bspw. Juckreiz) bezüglich ihrer Dauer und Intensität festgehalten werden. Pruritus lässt sich in ähnlicher Weise wie der Schmerz in einem Range von 0–10 gewichten. Beispielsweise kann bei nicht vorhandenen weiteren klinischen Symptomen (wie z. B. Kratzspuren) und negativen Allergietestergebnissen die Messung des Sebumgehaltes der Haut (Sebumetrie) im Bereich der Funktionsdiagnostik bei einer Sebostase (verminderter Fettschutzfilm in entsprechender Region) Juckreiz-Phämomene erklären helfen. z
Hautfunktionsdiagnostik
So helfen uns bei der Hautfunktionsdiagnostik u. a. folgende Tests in der klinischen Einordnung von Symptom und Befund (. Tab. 20.1): Der Alkaliresistenztest (nach Burkhardt) konfrontiert das Hautorgan mit 0,5 normaler NaOH-Lösung über definierte Einwirkzeiten zumeist im Bereich der Innenseite des Unterarmes und gibt eine Aussage über die veranlagungsbedingte Hautempfindlichkeit. Alkalieinwirkung führt bei verminderter Hornschichtqualität infolge herabgesetzter Pufferkapazität schneller und ausgeprägter zu Hautrötung und Ekzembildung als bei gesunder Haut, d. h. die Hautoberfläche »laugt schneller aus«. Dieses Phänomen ist häufiger mit atopischer Disposition assoziiert. Der Nitrazingelbtest (nach Suter) beurteilt die Barrierefunktion der Hornschicht. Trotz klinisch unauffälliger Haut bleibt nach abgelaufenen Ekzemen infolge minderwertiger Hornschicht für Wochen eine unspezifische Empfindlichkeitssteigerung der Haut bestehen. Feine Hornrisse (bevor ein Ekzem sichtbar wird) werden durch die wässrige einprozentrige Nitrazinlösung sichtbar. Erneute ungeschützte Hautbelastungen bei noch vorhandener Barrierestörung führen zu Ekzemrezidiven, die erhöhte Durchlässigkeit der Hornschicht begünstigt die Entstehung von Kontaktallergien. Der Nikotin-Benzylester-Test hilft uns bei der Unterscheidung von Betroffenen mit und ohne Atopie-Disposi-
453 20.1 · Allgemeines
. Tab. 20.1 Funktionsproben der Haut
. Tab. 20.2 Allergie-Testverfahren
5 Alkaliresistenztest
in vivo
in vitro
5 Nitrazingelbtest (nach SUTER)
Epikutan-Test
PRIST (Gesamt-IgE)
5 Nikotinsäure-Benzylester-Test
Foto-Patch-Test
RAST (spezifisches IgE)
5 Corneo-, pH-, Sebu- und Evaporimetrie
Prick-Test
LymphozytentransformationsTests
Scratch-Test
Durchfluss-Zytometrie
5 Lichttreppe (modifiziert nach Wucherpfennig)
tion der Haut. Atopiker reagieren auf eine lokale Applikation von Nikotinsäureester mit einem primären Abblassen der Haut oder zumindest mit fehlender Hautrötung (sog. paradoxe Gefäßreaktion) über mindestens 5 Minuten. Die Verfahren der Corneo-, pH-, Sebu- und Evaporimetrie sind im Rahmen der Hautschutzfilmmessung hilfreich in der Bewertung des jeweiligen Anteils an Feuchtigkeit, Säuregrad, Fettgehalt und Wasserbindungskapazität des Integumentes. Die Lichttreppe (modifiziert nach Wucherpfennig) ist ein modernes und in der Diagnostik ebenso wie in der Therapieplanung (bspw. UV-Therapie) wichtiges Instrument, welches die genuine oder introgene Induktion von Intoleranzerscheinungen gegen verschiedene Sorten von UV-Licht (in der Regel wird unterteilt in UVB- und/oder UVA-Intoleranz) betroffener Patienten messen kann.
20.1.3
Begutachtungskriterien
Ursache. Aus der Ursache einer Hauterkrankung können sich für die sozialmedizinische Beurteilung rehabilitative Aspekte ergeben. Bei Gefährdung der Erwerbsfähigkeit entscheidet der Rentenversicherungsträger über die RehaBedürftigkeit. Lokalisation. Die Lokalisation (bspw. in unbedeckten
Regionen wie Gesicht, Hände) ist neben der Größe der veränderten Hautareale für die Begutachtung relevant, da hiermit unterschiedliche Beeinträchtigungen im Alltagsleben und im Beruf verbunden sein können. Beeinträchtigung der Barrierefunktion. Die Haut bildet
im positiven Sinne eine Barriere gegenüber schädigenden äußeren Einwirkungen wie beispielsweise Austrocknung, Infektionen, allergisierenden oder toxischen Substanzen, thermischen Einflüssen oder Nässe. Bei zahlreichen Hautkrankheiten ist die Barrierefunktion der Haut gestört, die aber durch geeignete Schutzvorkehrungen wiederhergestellt oder kompensiert werden kann [2, 7]. Pruritus. Quälender Juckreiz kann so stark ausgeprägt sein, dass die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt
Intrakutan-Tests
ist, erhebliche Schlafstörungen vorliegen und mitunter schwere psychische Belastungsreaktionen auftreten, die einzeln oder insgesamt das Leistungsvermögen nicht nur im Berufsleben beeinträchtigen, sondern besonders im Alltag. Symptomatisch weist die Haut Kratzspuren und Hautverletzungen auf, die durch Hautinfektionen kompliziert werden können. Psychosoziale Aspekte. In der sozialmedizinischen Be-
urteilung des Leistungsvermögens ist in Einzelfällen zu beachten, ob bei schwerwiegenden Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes durch eine Hauterkrankung psychische Belastungen vorhanden sind, mit denen eine Leistungsminderung einhergeht. Die Beurteilung des Erscheinungsbildes eines Menschen liegt im Ermessen des Betrachters, die Beurteilung einer Leistungsminderung muss sich dagegen an objektiv festgestellten Funktionsdefiziten ausrichten. Diagnoseschema und Aktivitätsindex. Für Diagnose
und Befundbeschreibung von Hauterkrankungen werden teilweise krankheitsbezogene Diagnoseschemen oder Aktivitätsindizes verwendet. Mit den Aktivitätsindizes können Behandlungsstategien bestimmt und Behandlungserfolge vermittelt werden. Bei Neurodermitis wird das Severity Scoring of Atopic Dermatitis (SCORAD) angewendet. Eine Psoriasis kann nach dem Psoriasis Activity and Severity Index (PASI) eingeschätzt werden. SCORAD: Mit dem SCORAD kann der klinischen Schweregrad einer atopischen Dermatitis festgelegt werden. Er umfasst die dermatologischen Symptome Erythem, Ödem/Papelbildung, Nässen/Krustenbildung, Exkoriation, Lichenifikation und Trockenheit, die flächenhafte Ausdehnung sowie anhand einer visuellen Analogskala Pruritus und Schlaflosigkeit als subjektive Symptome. Ein SCORAD-Index von 1 bis 25 Punkten entspricht einer leichten Form der Neurodermistis, eine mittelschwere Form liegt bei 26 bis 50 Punkten vor und ab 51 Punkten eine schwere Dermatitis. PASI: Der Psoriasis Area and Severity Index wurde zur Dokumentation der Fläche und des Schweregrades der
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Kapitel 20 · Hauterkrankungen
Hautläsionen für Wirksamkeitsstudien von Retinoiden bei Patienten mit Psoriasis vom Plaquetyp entwickelt. Individuelle Beeinträchtigungen durch die Psoriasis werden nicht dokumentiert. Die Indizes können zwischen 0 und 72 Punkten variieren. Ein Index unter 10 Punkten entspricht einer leichten Psoriasisform. Laut S3-Leitlinie sind Patienten mit einem PASI > 10, einer BSA (»Body SURFACE AEREA«) über 10 und einem DLQI (Dermatologischer Lebensqualitätsindex) > 10 als zumindest mittelschwer erkrankte Patienten anzusehen (»rule of 10«) [8].
20.1.4 z
Sozialmedizinische Beurteilung
Leistungsbeurteilung
Hauterkrankungen können entsprechend der Ätiologie, der Lokalisation und der Ausdehnung das Leistungsvermögen unterschiedlich beeinträchtigen. Psychische Beeinträchtigungen oder Organkomplikationen müssen berücksichtigt werden. Das Erfassen des Erkrankungsverlaufs gibt Hinweise auf Hautkrankheit fördernde und verhindernde Einflussfaktoren und auf eine therapeutische Beeinflussbarkeit. Veränderungen im Verhalten gegenüber hautschädigenden Noxen oder Gefahrensituationen sollten mit der Anamnese zu erfahren sein. Jede Beurteilung des Leistungsvermögens bei chronisch-progredienten und bei chronisch-rezidivierenden Krankheiten muss Erkrankungszeiträume in der Vergangenheit berücksichtigen. Das gilt für Hautkrankheiten ebenso, auch wenn der aktuelle Hautbefund blande sein sollte. Aktivitätsindizes sind kein gesichertes, weil nicht ausreichendes Maß für die sozialmedizinische Beurteilung des Leistungsvermögens. Hautveränderungen in den Handinnenflächen oder an den Fingergelenken sollten besonders beachtet werden, wenn hieraus eine Beeinträchtigung der Handfunktion resultiert. Die uneingeschränkte Handfunktion ist eine wesentliche Voraussetzung, um unter den sogenannten üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten zu können. Risse in den Handflächen können die Handfunktion für manuelle Feinarbeiten beeinträchtigen oder das Anwenden von beruflich erforderlichen Handdesinfektionslösungen erschweren. Überdurchschnittliche Verschmutzungen der Hände müssen teilweise ausgeschlossen werden. Hohe Anforderungen an die Handhygiene und Händedesinfektion bleiben bei starken Veränderungen im Handbereich oft unerreichbar, so dass Leistungen zur Teilhabe unter Umständen erforderlich werden. Die sozialmedizinische Begutachtung wird sich bei Hauterkrankungen punktuell damit auseinandersetzen, ob Hautschutzmaßnahmen zur Verfügung stehen und genutzt werden. Es hat sich gezeigt, dass alleiniges Empfehlen von
Hautschutzpräparaten bei Hautkrankheiten häufig nicht ausreicht [7]. Besser ist das Aufstellen eines individuellen Hautschutzplans, der die Verordnung einer Hautschutzsalbe oder das Tragen von Schutzhandschuhen umfasst sowie das Anwenden von Wasch- und Pflegemitteln, deren Verträglichkeit und Wirksamkeit individuell getestet wurde. Erst nach dem Abheilen der Hautveränderungen und einer Testung der Schutzmittel unter Arbeitskarenz kann ein Arbeitsversuch mit Hautschutz empfohlen werden, beispielsweise in Form des tätigkeitsgeprüften Hautschutztests (TGH) [11]. Fällt er nach mehrmaliger vollschichtiger Belastung unter (Reha-) klinischer Kontrolle normal aus, bestehen keine medizinischen Bedenken gegen einen Tätigkeitsversuch am Arbeitplatz; fällt der Test pathologisch aus, ist die Fortsetzung der bisherigen Arbeit unter unveränderten Belastungsbedingungen in Frage zu stellen [2]. Neben dem zeitlichen, quantitativen Umfang der Leistungsfähigkeit muss das qualitative Leistungsvermögen differenziert beschrieben werden. Dazu gehören beispielsweise die beruflichen Belastungsfaktoren, die zu meiden sind, damit die Hauterkrankung und die damit verbundenen Folgen nicht oder nur in einem geringeren Umfang fortbestehen. Beispielsweise kann festgelegt werden, dass die Hautverschmutzung nur unterdurchschnittlich sein soll oder Feuchtarbeiten auszuschließen sind. Im Einzelfall wird zu beurteilen sein, ob durch Hautschutzmaßnahmen das Hantieren mit Werkstücken möglich oder beeinträchtigt sein könnte. Aus dem positiven und negativen Leistungsvermögen erhält der Rentenversicherungsträger wichtige Informationen, die bei Anträgen auf Leistungen zur Teilhabe oder auf Rente wegen Erwerbsminderung beachtet werden. z
Reha-Indikation
Wesentliche Kriterien für die Beurteilung des Reha-Bedarfs von Hautkranken sind neben der Ausprägung der klinischen Erscheinungsmerkmale, die für die häufigsten Reha-Diagnosen genau gewichtet werden können (SCORAD bei Neurodermitis, PASI bei Psoriasis), die Häufigkeit von Rezidiven chronischer Hauterkrankungen trotz ausreichender Therapie, von stationär behandlungspflichtigen Exazerbationen und das Vorliegen besonderer Risikofaktoren für Rezidive durch berufliche Belastungsfaktoren wie Irritantien, Allergene, Infektionsgefährdung, psychische und/oder soziale Belastungen. Reha-Bedarf in Abhängigkeit von individuellen Faktoren sowie der beruflichen und sozialen Umstände liegt für Hauterkrankungen beispielsweise vor: 4 bei chronisch-rezidivierenden Verlaufsformen mit nur kürzeren symptomfreien Intervallen, 4 bei Ausdehnung auf eine größere Körperoberfläche und/oder bei Lokalisation in sichtbaren Körperregionen,
455 20.2 · Ekzemerkrankungen
4 wenn ein therapeutischer Effekt oder die Optimierung der Behandlung mit dem Ziel der möglichst vollständigen Rückbildung nur mit Mitteln der Rehabilitation zu erreichen ist, 4 bei Komorbidität mit anderen Erkrankungen (bspw. Atopiesyndrom, arthritische Begleiterkrankung bei Psoriasis usw.), die auch bei weniger ausgeprägten Hauterscheinungen einen interdisziplinären RehaBehandlungsansatz zeigen, 4 bei lang andauernden oder häufig wiederkehrenden Arbeitsunfähigkeitszeiten infolge der Hauterkrankung mit erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit. Bei chronischen, kurativ-medizinisch behandelbaren Hauterkrankungen mit geringer Ausprägung sowie bei ambulant behandelbaren Erscheinungsbildern mit nur wenigen Schüben pro Jahr, die auf Lokaltherapie gut ansprechen, sowie bei nachgewiesener Allergie und möglicher, aber nicht erfolgter Allergiekarenz ist der Reha-Bedarf besonders kritisch zu beurteilen. Risikofaktoren können auch bei geringer Ausprägung der Erkrankung einen Reha-Bedarf ergeben, insbesondere wenn Schulungsmaßnahmen erforderlich sind, um Faktoren, die die Ausprägung der Erkrankung negativ beeinflussen, vorzubeugen und deren Wirkung abzuschwächen.
20.2
Ekzemerkrankungen
Im angloamerikanischen Sprachgebrauch werden Ekzem und Dermatitis synonym benutzt, während im klassischen Sinne die Dermatitis für die akuten und das Ekzem für die subakuten und chronischen Formen der gleichen Entität stehen [1]. Ursachen. Ekzeme lassen sich einteilen in (1) atopisches
Ekzem (Neurodermitis, endogenes Ekzem, atopische Dermatitis), (2) allergisches (Kontakt-)Ekzem, (3) toxisch-kumulatives (Kontakt-)Ekzem, (4) primär mikrobielle oder sekundär mikrobiell überlagerte Ekzeme und in das (5) (dys-)seborrhoische Ekzem. Diese Unterscheidung hat diagnostische, therapeutische und sozialmedizinische Konsequenzen. Lassen sich die Ursachen oder Auslöser eines toxischen, allergischen oder mikrobiellen Ekzems beispielsweise durch geeignete Schutzvorkehrungen oder einen Arbeitsplatzwechsel vollständig ausschalten, so ist das Problem aus der Welt. Wenn nicht, bietet die Edukation im Rahmen der Leistung zur medizinischen Rehabilitation in Kombination mit einer krankheitsphasengerechten Therapie die Chance, die Leistungsfähigkeit des Versicherten zu erhalten.
Lokalisation. Ekzeme treten bevorzugt in bestimm-
ten Körperregionen auf. Sie können nacheinander oder phasenweise auftreten. Im Bereich des behaarten Kopfes sind scharf begrenzte (plaquesförmige) und schuppende Ekzemformen ähnlich häufig zu finden wie nässende Varianten, die häufig sekundär mikrobiell infiziert sind. Bei der Neurodermitis finden sich für jeden sichtbar eingerissene Ohrläppchen und Mundwinkel sowie hellrosafarbene massiv juckende fein lamellös schuppende Lidekzeme (Ober- wie Unterlider) bzw. bis hin zur Pustulation neigende periorbiculäre und periorale Varianten, während die (dys-)seborrhoischen Ekzeme dort als hellrosa bis gelblich und speckig glänzende, mit fettiger Schuppung einhergehende, scharf begrenzte, die Haargrenze überschreitende Veränderungen mit Lokalisation im Bereich der Stirn und der Gesichtsmitte zu finden sind. Morphologie. Infolge unterschiedlicher Akuität, Haut-
struktur und -textur entstehen verschiedene klinische Bilder: Dyshidrotisch aussehende Ekzeme bevorzugt im Bereich der Leistenhaut von Handflächen und Fußsohlen bzw. an dem Übergang zwischen Leistenhaut und Felderhaut. Nummuläre (münzförmige, flächige) Formen findet man bevorzugt an Stamm und Extremitäten. Lichenoide Ekzeme (polygonale kleine dermale Knötchen mit »glänzender« Oberfläche) bevorzugt an Unterarm inkl. Handgelenk bzw. Unterschenkel inkl. Sprunggelenk und Fußrücken. Keratotisch-rhagadiforme Bilder treten bevorzugt an den Handflächen, Fußsohlen sowie der volaren Seiten der Finger, inkl. der Fingerbeeren, sowie der plantaren Seiten der Zehen und Zehenspitzen auf. Akuität. Aus dem klinischen Bild können Akuität und Chronizität der Ekzemerkrankung zuordnet werden: Nässende, bläschenbildende, durch Kratzspuren und Auslöffelung der Oberhaut bis hin zur Blutung (Artefakte) geprägte Hautveränderungen dürfen als (hoch-)akut eingestuft werden. Das andere Extrem ist die, meist in der Leder- und Oberhaut verdickte und grob gefältelt wirkende (lichenifizierte), meist schmutzig braun aussehende und kaum schuppende Haut. Hier handelt es sich um eine sehr starke, subjektiv (Juckreiz!) belastende, jedoch jede Akuität vermissende Chronifizierung des Ekzems. Zwischen diesen Polen finden sich scharf begrenzte, teilweise papulös streuende, teilweise rhagadiforme und hyperkeratotisch-schuppende Varianten, die man als subakut bzw. exanthematisch oder auch rezidivierend (anamnestisch) einstufen muss.
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456
Kapitel 20 · Hauterkrankungen
20.2.1
Konstitutionell bedingte Ekzemformen
Die konstitutionell bedingten Ekzemformen im Sinne des endogenen bzw. sebostatisches Ekzems bilden die Hauptindikationsgruppe bei den Ekzemerkrankungen für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung (2009 über 2.900 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation). Sozialmedizinisch bedeutsam ist hier, dass schubweise Verläufe mit sehr unterschiedlichen, manchmal gänzlich unbekannten bzw. nicht genau zu eruierenden Auslösern auftreten können. Bei diesen Ekzemen ist die Eliminierung aufgrund der Unkenntnis des nächsten Auslösers nicht möglich. Das endogene Ekzem (Neurodermitis constitutionalis, atopische Dermatitis) wird zumeist aus einer familiär belasteten Disposition heraus erklärt (Neurodermitis, Asthma, Rhinitis, Nahrungsmittelunverträglichkeiten). Besonders in den ersten 30 Lebensjahren (man vergesse allerdings auch nicht den Gipfel im 3. Drittel des Lebens) treten diese chronisch rezidivierenden Hautveränderungen polytop lokalisiert, oligomorph im klinischen Bild und polygen vererbt auf. Irritationen an beruflich exponierten Hautregionen in Feucht- und Schmutzberufen können zur Erstmanifestation eines atopischen Ekzems führen. Der rehabilitative Bedarf ergibt sich aus der Notwendigkeit zum Training bezüglich der phasengerechten (teilweise auch antimikrobiellen) Lokal- und Systemtherapie, beispielsweise in Verbindung mit der Schulung des Kratzstopps und der Verbesserung des Auslösererkennens. Als Sonderform wird gelegentlich ein »Drei-PhasenEkzem« erwähnt, das auf Hornstein zurückgeht (Jahrestagung Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin [1989], Düsseldorf), der darunter die (1) atopische Hautdisposition, (2) toxisch degenerative Hautschädigungen und (3) konsekutive Entstehung von allergischen Kontaktreaktionen zusammenfasst (Erläuterung von (2) und (3) siehe unten). Zollner et al. verweisen auf die hohe Assoziationsrate der atopischen Dermatitis zum exogen allergischen Asthma bronchiale (bis 50 %), zur Rhinokonjunktivitis (bis 80 %) und zu Nahrungsmittelunverträglichkeitsreaktionen (bis 8 % bei Kindern und bis 2 % bei Erwachsenen). In einer »Allergikerkarriere« – auch genannt »The Atopic March« – können diese assoziierten Erkrankungen zeitgleich bzw. auch zeitlich unabhängig bei der gleichen Person anzutreffen sein [14]. So wird klar, dass selbst zu unterschiedlichen Jahreszeiten bei derselben Person mit atopischer Disposition unterschiedliche Funktionsstörungen im Vordergrund stehen können. Denkbar ist bei einem Neurodermitiker mit klinisch relevanter Gräserpollenallergie im Sinne des
Heuschnupfens, dass im ersten Halbjahr eines Jahres die Symptomatik des Heuschnupfens mit »Grippegefühlen«, Durchschlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Mattigkeit, seröser oder obstruktiver Irritation der Schleimhäute der oberen Luftwege, Miterkrankung der Nebenhöhlen bis zu »Allgemeinstörungen« wie Glieder- und Kopfschmerzen relevant sind. Im Herbst kann die Neurodermitis mit ihrer gestörten Hautbarrierefunktion, dem massiven Juckreiz und daraus resultierenden Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie ggf. sozialem Rückzugsverhalten bei Befall der sichtbaren Haut (Gesicht, Hals) bzw. Funktionsstörungen des Greifens, des Haltens oder des Öffnens von Gefäßen bei Handekzemen relevant sein [6]. Die Barrierefunktion der Haut ist beim Ekzem strukturell gestört und ermöglicht dadurch sekundäre mikrobielle Infektionen, die die Hauterkrankung komplizieren. Am häufigsten sind bakterielle oder mykotische Sekundärerkrankungen. Fatal kann sich eine Superinfektion durch Staphylococcus aureus bei Neurodermitis auswirken. Staphylococcus aureus wirkt als »Superantigen« und löst einen erneuten Teufelskreis mit Beeinträchtigungen durch Fieberschübe, massiven Juckreiz, Lymphknotenschwellungen und in seltensten Fällen auch Septikämien aus. Akut gefährlich ist das Ekzema herpeticatum (Herpes-simplex-Virus) für Neurodermitiker. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Die Aktivität und Teilhabe kann durch Juckreizkrisen, Schlaflosigkeit, Aufkratzen der Haut mit konsekutiver mikrobieller Infektion erheblich beeinträchtigt sein. Häufiges Händewaschen und zusätzliches Einwirken von Kontaktallergenen können eine Ekzemkrankheit verschlechtern. Dies muss gegebenenfalls bei Tätigkeiten in Kranken- und Pflegebereichen berücksichtigt werden, ebenso bei Tätigkeiten mit hohen Belastungen der Haut durch Staub, Öle, Wasser oder mechanischen Hautabrieb. Die Teilhabe (Partizipation) am sozialen Leben und am Arbeitsleben kann beeinträchtigt und durch zusätzlich gefährdende Umweltfaktoren (beispielweise Kontaktallergene) negativ beeinflusst werden mit Auslösung erneuter Erkrankungsschübe oder Erhöhung des Krankheitsschweregrades. Depressive Reaktionen können sich beispielsweise durch die kosmetische Entstellung in sichtbaren Hautarealen einstellen. Anamnestische Angaben zu einer psychiatrischen Mitbehandlung sollten nicht fehlen.
20.2.2
Allergisches (Kontakt-)Ekzem
Das allergische Kontaktekzem charakterisiert sich durch einerseits definitionsgemäße klinische Manifestation schon bei Kontakt mit unterschwellig geringen Dosen, die keine toxische Wirkung ausüben. Andererseits kann es
457 20.2 · Ekzemerkrankungen
wegen der »allergologischen Systemerkrankung« gerade bei der Kontaktsensibilisierung sehr schnell zu Streureaktionen in nicht mit den Allergenen in Berührung gekommenen Hautarealen (bis hin zu Schleimhautarealen: Schwellung der Mundschleimhaut und Zunge, Reaktion im Sinne von Konjunktivitis und Rhinitis) kommen. Die Bereitschaft, bei Kontakt mit potentiellen Allergenen eine Sensibilisierung zu erleiden, ist genetisch geprägt. Nicht nur, dass der Gehalt an Allergenen in Materialien relevant ist, auch die Konstitution des Einzelnen ist bedeutsam. Ein klassisches Beispiel hierfür sind Euro-Münzen mit Nickelgehalt, von denen die Ein- und Zwei-Euro-Münzen zwei verschiedene Metalllegierungen im inneren Kern und im äußeren Rand enthalten. Leidet jemand an Hyperhidrosis der Hände, entsteht durch den salzigen Schweiß in Verbindung mit dem »Bi-Metall« ein galvanischer Strom. Dieses »galvanische Element« ist in der Lage, die wenigen vorhandenen Nickel-Ionen zu lösen und somit in die Haut zu transportieren, wenn häufiger und intensiver Münzkontakt (beispielsweise Kassierer) vorliegt. Tatsächlich kann eine bestehende Nickelallergie einen Hautbefund (typischerweise Handekzem) rezidivierend und nachhaltig verschlimmern. Die Konsequenz daraus ist im präventiven Sinne, die Hyperhidrosis des Betroffenen zu mindern, um das qualitative Leistungsvermögen zu verbessern. Dies funktioniert durch aluminiumhydroxidhaltige Topika und/oder Leitungswasseriontophorese [13]. Ein anderes Beispiel für die Problematik von Allergenen und deren Verstecke ist die zunehmende modische Tendenz, sich mit »Henna« tätowieren zu lassen. Die reine Hennasubstanz ist nicht allergen. Damit aber (überwiegend europäische) Urlauber sich im Orient schnell eine Henna-Tätowierung gut sichtbar auf die Haut bringen lassen können, wird zur Intensivierung dem Henna Paraphenylendiamin (PPD) hinzugefügt. Die Sensibilisierung erfolgt über diesen »Verstärker«, wie er auch aus Paraphenylendiamin-Sensibilisierungen bei Friseurinnen durch mittlerweile in Europa verbotene Haarfärbemittel bekannt ist. Eine einmal erworbene Sensibilisierung besteht in der Regel ein Leben lang, wobei die klinische Reaktionsbereitschaft auf Allergene phasenweise sehr unterschiedlich sein kann. Beispielsweise kann in klinisch stummen Phasen selbst eine Reaktion im epikutanen Patch-Test nach zehnmaligem Abriss der Hornhaut (Stratum corneum) im Sinne der Typ-IV-Allergie falsch-negativ ausfallen. Ekzemauslöser sind außer durch Hautkontakt per ingestationem et inhalationem möglich. Ätiopathogenetische Aufklärung ergibt sich aus dem Ergebnis der verschiedenen Allergie-Tests (7 Kap. 20.1.1). Aus Erfahrungen insbesondere mit fotoallergischen Patienten weiß man, dass die Ekzembereitschaft grund-
sätzlich nach Kontaktsensibilisierungen persistieren kann ohne erneuten Kontakt mit dem Allergen. So können Patienten allein durch Sonnenbestrahlung (ohne FotoAllergen) regelmäßig in den ehemals betroffenen Hautregionen neu erkranken. Das weist darauf hin, dass die Ekzemreaktion in der Karenz persistiert (Empfindlichkeitsekzem nach Carrie). Während bei der subtoxisch degenerativen Form des Ekzems grundsätzlich die Ekzemheilung noch möglich ist, wenn die irritative Schädigung der Epidermis durch geeignete Reha-Maßnahmen lange genug unterbrochen wurde und eine phasengerechte antiekzematöse Therapie erfolgt ist, kann dagegen die chronische kontaktallergische Variante des Ekzems trotz Allergenkarenz klinisch persistieren. Daher ist ein suffizienter tätigkeitsgeprüfter Hautschutzplan in der Phase des toxisch-degenerativen Handekzems wichtig, um ein Zwei-Phasen-Ekzem in Verbindung mit den oben genannten Folgen vermeiden zu helfen.
20.2.3
Toxisch-kumulatives (Kontakt-)Ekzem
Toxische Ekzemformen entwickeln sich nach Applikation bestimmter Konzentrationen definierter Stoffe praktisch obligat, sobald das Hautorgan diesen ausgesetzt ist. Dadurch sind die Hautveränderungen zumeist scharf begrenzt und auf die Einwirkung und Intensität der schädigenden Noxe bezogen lokalisiert. Streureaktionen finden sich praktisch nicht. Je nach Lokalisation und dort vorhandener »Hauttextur« finden sich jedoch typische klinische Bilder (Ödem, Exsudation, Vesikulation, hochrote Haut). Die (sub-)toxisch degenerativen Ekzemerkrankungen, sogenannte Abnutzungsdermatosen, finden sich viel häufiger und sind sozialmedizinisch relevanter als die eine Akut-Therapie erfordernden toxischen Ekzemformen. Diese Ekzeme basieren auf einer Hautabnutzung bei chronischen unterschwelligen Schädigungsformen. Die insbesondere den Hautschutzfilm im Sinne der Entfettung zerstörenden Mechanismen führen langsam zum Ekzem. Dabei können bereits Leitungswasser als »Noxe«, alkalische Seifen und oberflächenaktive Stoffe die Haut schädigen. Wiederholen sich diese schädigenden Ereignisse über einen engen Zeitraum beispeilsweise infolge von Überstunden im Service oder Fehlen von Erholungsphasen durch Siebentagewochenarbeit in Saisonbetrieben, können daraus Störungen der Alkaliresistenz (. Tab. 20.1) entstehen. Die Reaktionsbereitschaft der Haut nimmt zu, Entzündungen heilen unvollständig ab. Die Haut regeneriert sich nicht mehr in arbeitsfreien Zeiten. Es entstehen Schuppung, artifizielle Kratzstellen und Exsudationen. Der Patient mit der Veranlagung zur Sebostase (Verminderung
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458
Kapitel 20 · Hauterkrankungen
20
von Menge oder Qualität des Fettschutzfilmes) oder zur Ichthyosis oder zur Neurodermitis ist stärker anfällig. Neben Tätigkeiten mit Hautverschmutzung, mit Feuchtarbeiten oder mit häufigem Händewaschen sind auch Tätigkeiten in trockenen Arbeitsbereichen, beispielsweise in Buchbindereien, Verwaltungen und Archiven, ekzemgefährdend. Eine zusätzliche Gefahr besteht in der Entwicklung eines sekundären allergischen Kontaktekzems (Zwei-Phasen-Ekzem). Dabei werden die Allergene durch die gestörte Hautbarriere »besser« dem Immunsystem präsentiert und lösen somit eher eine Sensibilisierung aus. Typisches Beispiel hierfür ist der Friseurberuf mit seiner toxisch-degenerativen Anfangs-Dermatose und der folgenden Kontaktsensibilisierung auf Inhaltsstoffe von Shampoos und Haarfärbemitteln. Ein weiterer Gefahrenbereich ist der Krankenpflegeberuf mit häufiger Entfettung des Hautschutzfilmes durch Waschungen sowie Desinfektionsmaßnahmen und konsekutive Latexsensibilisierung über das subtoxisch-degenerative entzündliche Hautorgan.
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20.2.4
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Primär mikrobielle Ekzeme
Die Störung der dermo-epidermalen Schutzfunktion ist auch Ursache der primär mikrobiell verursachten Ekzeme »nicht-allergischer Art«, die sich bevorzugt im Bereich der (unteren) Extremitäten, aber auch am Stamm als nummuläre Formen klinisch zeigen. Die Therapie besteht in der Beseitigung der schädigenden Faktoren als Ekzemursache. Beispiele sind: Versorgung von Patienten mit stauungsbedingten Ekzemen durch entsprechende Kompressionsverbände, basistherapeutische rückfettende Maßnahmen bei Funktionsstörungen im Bereich des Hautschutzfilms.
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20.2.5
(Dys-)seborrhoisches Ekzem
Während das »konstitutionell-atopische Ekzem« (7 Kap. 20.2.1) eher bei Patienten auftritt, die eine Verminderung des Fettschutzfilmes im Gesamtanteil des Hautschutzfilmes aufweisen, befindet sich in der klassischen Vorstellung der Ekzeme das seborrhoische Ekzem am anderen Ende (d. h. mit erhöhter Sebumproduktion). Typischerweise findet sich die Lokalisation dort, wo der Sebumanteil in der Haut relativ hoch ist (Kopfbereich, vordere und hintere Schweißrinne des Stammes). Wie schon in der Einführung zu den Ekzemen erläutert, ist die klinische Ausprägung meistens »farblich zart« und speckig glänzend vorstellbar. Die moderne Zeit der »Klimaanlagen« hat zu einer gewissen Wandlung des klinischen Eindruckes geführt, so dass teilweise auch die Ekzeme bei
Patienten auftreten, die zwar offensichtlich Seborrhoiker sind, jedoch erst dann Ekzeme manifestieren, wenn diese Hautareale (bspw. durch trockene Luft) entfettet wurden ([dys-]seborrhoisches Ekzem).
20.2.6
Gewerbedermatosen
Zu den sogenannten Gewerbe- oder Berufsdermatosen werden Hauterkankungen gerechnet, die im Zusammenhang mit einer Arbeit stehen. Demgegenüber kann man die sog. Freizeitdermatosen stellen, von denen ein Vertreter beispielsweise die Whirlpool-Dermatitis ist. Gewerbeoder Berufsdermatosen dürfen begrifflich nicht mit dem Rechtsbegriff der »Berufskrankheit« (SGB VII) gleichgesetzt oder verwechselt werden. In der Regel ergeben sich leistungsrechtliche Konsequenzen nach der Feststellung einer »Berufskrankheit« gemäß Ziffer 5101 oder 5102 der Berufskrankheitenverordnung (BKV) für die Unfallversicherungsträger. Der wichtigste Tatbestand für eine Berufskrankheit im Fach »Haut« liegt in der BK-Nummer 5101 (nach der in der Anlage für Berufskrankheitenverordnung [BKV vom 15.09.2002] aufgeführten Berufskrankheitenliste): »Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder seien können« [9]. Gewerbedermatosen führen seit ca. 10 Jahren die Liste der BK-Meldungen im berufsgenossenschaftlichen Bereich an und sind auch für andere Träger der sozialen Sicherung (GKV, DRV) aufgrund ihrer hohen Prävalenz bedeutsam. So liegt die Prävalenz der gewerblichen Handekzeme in der BRD bei mehr als 6 % [5], wobei weibliche Erwerbstätige fast doppelt so häufig betroffen sind wie männliche. Arbeitsbedingte Hauterkrankungen entwickeln sich dann, wenn der Hautwiderstand durch die Kraft der Schädigungsfaktoren überwunden wird. In der Regel entsteht der Hautschaden durch chemische, biologische, und/oder physikalische Kräfte. Dabei handelt es sich in über 90 % um Hautkontaktreaktionen. Der Rest sind solche Hauterkrankungen wie Öl- und Chlorakne, chemisch bedingte Leukoderme, Infektionen, Kontakturtikaria (Latex) oder entsprechende Streureaktionen. Das Ausmaß der psychosozialen Probleme wird durch häufige Rezidive verstärkt. Die Einengung der manuellen Fähigkeiten, die fehlende Akzeptanz durch Kollegen oder die Firma, das Infektionsrisiko und weitere Probleme aufgrund des ggf. abstoßenden Aussehens können einen Teufelskreis der Ausgrenzung bilden. Bekannt ist das hohe Risiko für Atopiker, an Gewerbedermatosen zu erkranken. Dieses wird durch Arbeiten
459 210.3 · Psoriasis und andere nicht-infektiöse entzündliche Hauterkrankungen
im Feuchtbereich (definiert als mehr als zwei Stunden Wasser- oder Handschuhkontakt oder mehr als 20faches Händewaschen pro Schicht) zusätzlich verstärkt. Die Entwicklung eines »Drei-Phasen-Ekzems« (7 Kap. 20.2.1) gefährdet den Verbleib im beruflichen Tätigkeitsfeld und verschlechtert die Prognose für die Teilhabe am Arbeitsleben. Im Sinne einer tertiären Prävention können Betroffene während stationärer Leistungen zur Teilhabe mit einem suffizienten integrierten Hautschutzplan ausgestattet werden. Dieser kann als Grundlage für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dienen. Der Erhalt des Arbeitsplatzes ist bei etwa zwei Drittel der Versicherten möglich. Ggf. ist frühzeitig eine Eignungstestung bzw. Arbeitserprobung durchzuführen. Die Realisierung solcher Projekte erfordert erfahrungsgemäß auch im dermatologischen Fach ein gut geschultes interdisziplinär arbeitendes Team (Dermatologe/Allergologe, Ergotherapeut, sozialpädagogisch-psychologisches Know-how) [2, 5, 7, 11, 13]. Schäden durch berufliche/gewerbliche UV-Expositionen (d. h. Hauttumore) rücken mehr und mehr in den gewerbedermatologischen Fokus. 20.3
Psoriasis und andere nicht-infektiöse entzündliche Hauterkrankungen
20.3.1
Psoriasis
In Deutschland haben 2 bis 3 % der Bevölkerung eine Psoriasis. Diese nicht-infektiöse Hauterkrankung ist bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig. Sie manifestiert sich meist im 2. und 3. Lebensjahrzehnt, kommt aber in allen Altersklassen vor. Zwei genetische Untergruppen unterscheiden sich in Manifestationsrisiko und Altersverteilung. Die bevorzugte Lokalisation der geröteten und grob lamellös schuppenden Herde der chronisch stationären Formen sind Knie und Ellenbogengelenkstreckseiten, Kreuzbeinregion, Fingerknöchel, Nabel, Afterfalte sowie Stirn-Haar-Grenzregion. Sehr häufig zeigen die Fingernägel multiple Tüpfel und schmutzig braune Verfärbungen, das sogenannte Ölfleck-Phänomen. Diagnostisch wegweisend sind: Kerzenfleckphänomen, Phänomen des letzten Häutchens, des blutigen Taus (Auspitz-Phänomen) und die isomorphen Reizphänomene nach physikalischer Belastung des Hautorganes (Koebner-Zeichen) beispielsweise nach Verletzungen und operativen Eingriffen am Ort der Gewebe-Zerstörung [4]. Die Psoriasis gilt als häufige, durch exogene und endogene Stimuli provozierbare, akut exanthematisch oder chronisch stationär verlaufende Dermatose mit genetischer Disposition. Das klassische Bild wird als streckseitig
betont, isoliert oder generalisiert auftretend, durch meist symmetrisch stark infiltrierten Schuppenherd auf scharf begrenzten erythematösen Plaques gekennzeichnet. Gelenkbeteiligung ist möglich. Bei der Anamnese sollte auf Umstände geachtet werden, die beim Auftreten eines Krankheitsschubes bemerkt wurden. Psoriasisschübe können beispielsweise durch banale Infektionskrankheiten, Medikamente, Stoffwechselstörungen oder Stressoren ausgelöst werden. Ebenso ist auf die Darstellung der Behandlung zu achten, die sich bei akut-exanthematischen und chronisch-plaqueförmigen Psoriasisverlaufsformen unterscheidet. Bei einer Psoriasis mit Erythrodermie und Pustulosis generalisata sowie bei einer Flächenausdehnung von mehr als 25 Prozent der Körperoberfläche ist eine akut-stationäre Behandlung angezeigt. Grob geschätzt entspricht die Handfläche etwa 1 Prozent der Körperoberfläche. Weitere Indikationen können schwere Psoriasis und internistische Erkrankungen, Psoriasis vulgaris und -arthritis, schwere Komplikationen und ambulant therapierefraktäre Formen, unzureichende ambulante Möglichkeiten, eine starke psychische und physische Behinderung durch die Psoriasis bei Aktivitäten des täglichen Lebens und die Einleitung gezielter Therapieverfahren sein [8]. Während die akut-exanthematischen Formen aufgrund der Brisanz des Krankheitsbildes in der Regel eine stationäre Akutbehandlung erforderlich machen, sind die chronisch stationären Verlaufsformen die Domäne der Rehabilitation, zumal bei diesen Formen am häufigsten auch weitere Stigmata vorzufinden sind, beispielsweise Nagelbefall, Stirn-Haargrenzen-Betroffenheit, Befall an frei getragenen Körperstellen wie Hände, retroauriculär, behaarter Kopf. Hier gilt es, Fixierungen von Partizipationsstörungen im Berufsleben entgegenzuwirken. Andererseits werden durch die berufliche Belastung bestimmte Hautregionen (Feuchtarbeit, verschmutzende und hautbelastende Tätigkeiten) »geköbnert«, d. h. eine unspezifische Hautreizung löst die typischen Hauterscheinungen einer an anderer Stelle bereits manifesten Hauterkrankung aus (isomorpher Reizeffekt). Nur ganz selten kann ein kausaler Zusammenhang zwischen Beruf und Psoriasis hergestellt werden, beispielsweise wenn sich durch die berufliche Tätigkeit die Psoriasis richtungsgebend verschlimmert hat und daher eine Berufskrankheit vorliegt. Aufgrund der Problematik einer sicheren Krankheitsverlaufseinschätzung muss im Einzelfall davon ausgegangen werden, dass es in der Krankheitsbiographie des Betroffenen sowohl Spontanremissionen als auch Erythrodermien (Befall vom Scheitel bis zur Sohle) geben kann. In letzterem Falle kann sich daraus ein aufgehobenes Leistungsvermögen ergeben, das zeitlich befristet sein kann. Die seronegative Gelenkbeteiligung ist mit 5 bis 12 % die häufigste Komorbidität bei Psoriasispatienten. Wäh-
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rend für die kutanen Spielarten der Psoriasis (inklusive der pustulösen Variante [siehe unten]) die lokaltherapeutische Palette durch immer suffizientere systemtherapeutische Möglichkeiten (Fumarsäure, Methotrexat, Acitretin) ergänzt wurde, ist die Therapie der Psoriasis arthropathica weiterhin unbefriedigend. Ansätze zur Behandlung von Haut- und Gelenken bietet die Therapie mit modernen, aber nicht unumstrittenen TNF-α-Antikörpern, die als Biologika oder synonym als Biologicals, Biologics und teilweise als Biological response modifier (BRM) bezeichnet werden. Des Weiteren siehe auch Psoriasis arthropathica (7 Kap. 8).
schwerwiegende psychische Reaktionen, unter Umständen gekoppelt mit sozialem Rückzug, können das Leistungsvermögen qualitativ und quantitativ zusätzlich oder ausschließlich beeinträchtigen. Sozialmedizinische Bedenken können beispielsweise bestehen bei großem Publikumsverkehr oder in Bereichen, in denen hohe hygienische Anforderungen an die Haut gestellt werden. Die Indikation für eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation ist zu prüfen.
z
Diese sowohl klinisch als auch prognostisch sehr heterogenen Krankheitsbilder reichen von selbstlimitierenden, passageren, klinisch den Varizellen ähnelnden Bildern (Pityriasis lichenoides et varioliformis akuta Mucha-Habermann) bis hin zu den Prä-Mykosiden (obligatorische Vorstufen des T-Zell-Lymphoms der Haut). Für die chronischen Formen und die Prä-Mykoside ergibt sich häufig ein Reha-Bedarf.
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Pustulöse Formen
Pusteln können bei der Schuppenflechte das gesamte Integument befallen (inkl. massiver Belastung des Organismus) oder auch hartnäckige Handflächen- oder Fußsohlenprobleme auslösen. Die Psoriasis-Pustel ist definitionsgemäß steril. Die Gefährdungen der Arbeitsfähigkeit, der Störung der Fortbewegung und der Greiffunktion im Berufs- und Alltagsleben sind evident. Neben der gutachterlichen Beurteilung im Sinne der (befristeten) vollen Erwerbsminderung ist hier ein klarer rehabilitativer Ansatz vorhanden. z
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Kapitel 20 · Hauterkrankungen
20.3.2
20.3.3
Parapsoriasis-Gruppe
Weitere chronisch entzündliche Dermatosen
Sozialmedizinische Beurteilung
Die bei den speziellen Krankheitsbildern beschriebenen morphologisch sichtbaren Veränderungen stören die Leistungsfähigkeit je nach Lokalisation unterschiedlich. Beim Befall der Fußsohlen kann die Gehfähigkeit, beim Befall der Handflächen kann die Greiffunktion, bei exanthematischem Befall der Schlaf und in der Folge die Konzentrationsfähigkeit gestört sein. Beeinträchtigungen der Partizipation können sich der Berufsausübung (Handbefall), bei der Haushaltsführung, beim Sport (frei getragene Hautareale) und im Bereich der Selbstsicherheit (Rückzugstendenz) und der sozialen Kompetenz (Ehepartner, Familie) ergeben. Das Leistungsvermögen für Tätigkeiten im Service und Lebensmittelbereich, bei handwerklichen, pflegerischen und körperlich schweren Arbeiten kann durch Psoriasis qualitativ wie quantitativ eingeschränkt sein. Bei absehbar langwierigen und therapieresistenten Veränderungen beispielsweise im Handbereich kann die Handfunktion soweit beeinträchtigt sein, dass eine quantitative und auch zeitlich befristete Minderung des Leistungsvermögens festgestellt werden muss. Ebenso sind schwerwiegende Hautveränderungen an den Fußsohlen zu beachten, die die Laufbelastbarkeit beeinträchtigen oder das Tragen von Sicherheitsschuhen an bestimmten Arbeitsplätzen. Die funktionalen Einschränkungen am Arbeitsplatz sollten plausibel mit den funktionalen Beeinträchtigungen im Alltag und in der Freizeit korrespondieren. Manifeste und
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Urtikaria (Nesselsucht)
Die chronische Urtikaria (Nesselsucht) tritt häufig als chronisch rezidivierende Form auf. Dabei bedeutet chronisch in diesem Zusammenhang bereits eine Krankheitsphase von länger als sechs Wochen oder rezidivierende Quaddelschübe. Während die akuten urtikariellen Exantheme sich ätiopathogenetisch klären lassen, beispielsweise als allergische oder Intoleranzreaktionen auf Infekte, Medikamente, Nahrungsmittel, ist die Ätiologie bei der chronischen und chronisch rezidivierenden Urtikaria häufig ungeklärt. Juckreiz, Unberechenbarkeit des Auftretens der Effloreszenzen an frei getragenen Körperregionen oder Schlaflosigkeit können Aktivitäten und Teilhabe im Alltagsleben beeinträchtigen und zusätzlich das Leistungsvermögen im Erwerbsleben einschränken. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in dematologischen Reha-Einrichtungen bieten die Möglichkeit, die Therapie zu optimieren, individuelle Krankheitsbewältigungsmethoden (inkl. diätetischer Ansätze) zu erlernen, sozialer Desintegration entgegenzuwirken und das Leistungsvermögen qualitativ wie quantitativ zu stabilisieren. z
Lichen ruber planus
Diese subakut oder chronisch verlaufende entzündliche, nicht kontagiöse papulöse Hauterkrankung geht meist mit starkem Juckreiz und oft mit Schleimhautbeteiligung einher. Die Morbidität beträgt etwa 0,2 Prozent. Bei mehr als
461 210.3 · Psoriasis und andere nicht-infektiöse entzündliche Hauterkrankungen
zwei Drittel der Patienten tritt sie zwischen dem 3. und 6. Lebensjahrzehnt auf. Die Ätiologie des Lichen ruber planus (L. r. p.) ist ungeklärt. Auslöser können Infekte, Autoimmunphänomene, möglicherweise auch psychische Komponenten sein. Klinisch ist der L. r. p. durch aggregierte Papeln mit milchig weißer Zeichnung auf der Oberfläche und glänzende randständige Säume (Wickham-Phänomen) charakterisiert. Die exanthematische Form des L. r. p. findet sich bevorzugt an den Beugeseiten der Handgelenke und Unterarme, glutäal, in der Knöchelregion und dem Genitale. Andere Formen treten bevorzugt in der Flanken- und Abdominalregion auf. Starker Eruptionsdruck führt über das Exanthem bis hin zur sekundären Erythrodermie. Neben der Genitalschleimhaut ist auch die Mundschleimhaut mit Wangen- und Zungen-Region, vergesellschaftet mit Veränderungen des Lippenrots, betroffen (fakultative Präkanzerose). Die Behandlung des fast unstillbaren Juckreizes besonders im Genital-, Anal- und Extremitätenbereich erfordert oftmals große dermato-therapeutische Erfahrung. Die Therapie muss individuell, flexibel und krankheitsphasengerecht variiert werden. Reha-Bedarf ergibt sich bei ausgedehntem Befall oder massivem Pruritus (Kratzstopp-Training), bei psychosomatischen Beschwerden oder nach Ausschöpfen aller ambulanten dermatologischen Behandlungen.
Haut des Gesichts betroffen und entstellt (Sclerodermia en coup de sabre). Psychische Reaktionen sind möglich, die sich im Alltag wie im Beruf bemerkbar machen können. Im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium mit zahlreichen Folgen ist das Leistungsvermögen auf Dauer aufgehoben. z
Der chronisch diskoide Lupus erythematodes ist die überwiegend kutane Variante des systemischen Lupus erythematodes. Die Erkrankung selbst bedingt eine lokale Atrophie der Haut, was neben der Änderung des äußeren Erscheinungsbildes zur verstärkten Vulnerabilität in den betroffenen Regionen führt. Es besteht eine Intoleranz gegenüber UV-Licht sowie eine Unverträglichkeit gegenüber Hitze, Kälte und Temperaturwechseln. Damit sind die wesentlichen qualitativen Einschränkungen genannt, die beachtet werden sollten. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation können angezeigt sein, nicht zuletzt um Krankheitsakzeptanz und Therapieeinsicht zu fördern. Immunsuppressiva und Kortikosteroide haben sich bewährt, um die funktionalen Einschränkungen zu minimieren. Endzustände mit Bewegungseinschränkungen infolge der straffen Hautatrophie und trophischen Ulzerationen lassen sich dadurch zeitlich verzögern. z
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Vaskulitiden
Eine Vaskulitis der Haut kann isoliert oder in Kombination mit anderen Organerkrankungen auftreten. An der Haut entsteht aufgrund einer Gefäßentzündung je nach Lokalisation, Ausdehnung und Tiefe eine Purpura bis hin zum Gangrän an den Akren. Die dermatologische Behandlung umfasst systemisch verabreichte Kortikosteroide, Antikoagulantien und gegebenenfalls Immunsuppressiva. Die Behandlung wird ergänzt durch Patientenschulung, damit phasengerechte, symptombezogene und gangrän-prophylaktische Maßnahmen erlernt werden. Qualitative Einschränkungen im Leistungsvermögen können sich beispielsweise für Tätigkeiten mit Feuchtarbeit, Kälteexposition oder mit hohen hygienischen Anforderungen an die Handhygiene ergeben, ebenso für manuelles Arbeiten mit kleinen Werkstücken, die besonderes Tastgefühl erfordern. Sklerodermie
Kutane Folgen durch Autoimmunerkrankungen finden sich bei der systemischen Sklerodermie von der RaynaudSymptomatik bis hin zu Kalkeinlagerungen. Die zirkumskripte Sklerodermie zeigt sich bei schwerem Verlauf mit dermatogenen Kontrakturen und dermatogener »Einmauerung« des Skelettes bis hin zur Reduktion des thorakalen Exkursionsvermögens. In seltenen Fällen ist die
Dermatomyositis
Die Dermatomyositis ist eine dermatologisch-rheumatische Entzündung des Hautorganes und der Muskulatur. Die kutanen Symptome äußern sich typischerweise in einer zartrosafarbenen bis lividen Rötung und in einer Hautentzündung. Im extrakutanen (muskulären) Bereich fällt eine Muskelschwäche durch das Fehlen der Gesichtsmimik und durch ein »depressives« Erscheinungsbild auf. Die kutanen Symptome lassen sich meistens gut durch immunsuppressive Interna behandeln. Tätigkeiten mit hoher Sonnenlichteinstrahlung sollten gemieden werden, weil die Erkrankung durch eine Lichtempfindlichkeit begünstigt wird. Weitere Einschränkungen können sich gegebenenfalls durch die muskulären Funktionseinschränkungen ergeben. Sofern diese in der dermatologischen Begutachtung nicht offensichlich sind, kann eine Fachbegutachtung empfohlen werden. z
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Chronisch diskoider Lupus erythematodes
Blasenbildende Erkrankungen
Bei plötzlichem Auftreten schlaffer Blasen oder großflächiger Erosionen der Haut oder/und der Schleimhäute (Mundhöhle), die bereits durch leichten Druck am integumentalen (stammbetont) und im intertriginösen (hautfaltenbetont) Bereich entstehen, kann differentialdiagnostisch eine Autoimmunerkrankung aus der Pemphigus- und Pemphigoid-Gruppe vorliegen. In diesen Fällen ist eine dermatologische Langzeitbehandlung mit morbo-
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Kapitel 20 · Hauterkrankungen
statisch-immunsuppressiver Therapie zu erwarten. RehaBedarf kann sich bereits bei den ersten Therapieschritten im Akutbereich abzeichnen. Bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden Patienten geschult im Umgang mit neuen Systemtherapien, den Gefahren durch Komplikationen und der Prävention von mikrobiellen Sekundärerkrankungen, Narbenbildung und Schleimhautbefall. z
Keratosen/Ichthyosen
Erworbene wie erbliche Palmoplantarkeratosen beeinträchtigen durch die starke Schweißsekretion bei Xerosis. Das Leistungsvermögen kann qualitativ eingeschränkt sein durch Rhagaden an Hand- und Fußsohlen, durch Sensibilitätsstörungen an den Händen und durch Greifeinschränkungen sowie Beeinträchtigung des Laufens und der Geh- und Stehsicherheit. Die Verhornungsstörungen bei Ichthyosen können durch Sekundärinfektionen oder durch degenerative und allergische Ekzematisation zu Komplikationen beim Leistungsvermögen führen. Die qualitativen Einschränkungen resultieren vor allem aus den Beeinträchtigungen der Handfunktion infolge der Strukturveränderungen und den erforderlichen Hautschutzmaßnahmen. Psychische Belastungsreaktionen sind möglich. Reha-Bedarf sollte frühzeitig geprüft werden.
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20.4
Infektionsbedingte Hauterkrankungen
20.4.1
Erysipel
Das Erysipel ist eine akute Infektionskrankheit, die durch beta-hämolysierende Streptokokken verursacht wird. Ulzera, Rhagaden oder erosive Mykosen in der Haut dienen als Eintrittspforten. Die Erreger breiten sich lymphogen nicht nur in der Haut aus. Die Bakterien können im Gewebe persistieren und zu weiteren Erysipelen als zyklische Infektion führen. Rezidive und konsekutive Reduktion des Lymphabflusses führen zu bleibenden Verdickungen und Zirkulationsstörungen der Extremitäten. Gesichtserysipele können zu Komplikationen durch die Verbindung zum zentralen Nervensystem (Vena angularis mit Begleitlymphgefäßen) führen, die durch eine gezielte Antibiotikabehandlung vermeidbar sind. Unmittelbarer Reha-Bedarf ergibt sich nach der Akutbehandlung des Erysipels nicht, möglicherweise aber aus der Komorbidität (beispielsweise Diabetes mellitus).
20.4.2
Mykose
Pilzerkrankungen sind bis auf seltene (z. B. Blastomykosen) Systemerkrankungen heilbar. Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens sind nicht zu erwarten. Ein unmittelbarer Reha-Bedarf besteht nicht, möglicherweise aber bei einer Komorbidität durch beispielsweise Neurodermitis, HIV oder Autoimmunerkrankungen. Bei Systemmykosen können schwerwiegende Hautdefekte bis hin zu tiefen ulzerösen Schleimhautgranulomen auftreten. Die Therapie ist schwierig.
20.5
Hauttumoren
Gutartige Tumoren der Haut sowie Präkanzerosen sind nicht mit nennenswerten funktionalen Problemen verbunden. Bösartige Neubildungen der Haut (Basaliome, Karzinome, maligne Melanome, Lymphome und Sarkome) führen oftmals zu Folgen, die das Leistungsvermögen einschränken. Die Inzidenz der malignen Hauttumoren liegt bei 250/100.000 Einwohner. Zu den häufigsten bösartigen Neubildungen der Haut zählen die Basaliome. Basaliome metastasieren selten, können aber durch örtlich destruktives Wachstum (»Ulcus terebrans«) zum Beispiel im Kopfbereich zu entstellenden Gewebszerstörungen führen. Plattenepithelkarzinome (Spindelzellkarzinome) neigen vor allem in lymph- und blutgefäßreichen Regionen zur Metastasierung (Unterlippe, Genitale). Die Zahl der Neuerkrankungen am malignen Melanom steigt in den letzten Jahrzehnten stetig an. Am häufigsten erkranken Personen im mittleren Lebensalter. Maligne Melanome metastasieren frühzeitig. z
Leistungen zur Teilhabe
Die Indikation für die stationäre Rehabilitation von Hauttumoren und Lymphomen der Haut (bspw. Mycosis fungoides als T-Zell-Lymphom) orientiert sich an drei sozialmedizinischen Kriterien [3]: 4 Defekt/Fähigkeitsstörung z. B. durch Lymphödem und Juckreiz beim T-Zell-Lymphom 4 Funktionelle Störung z. B. des Gehens, des Greifens usw. nach Tumor-Exstirpation 4 Soziale Desintegration, z. B. infolge Arbeitsplatzverlust, Entstellung durch tumoröse Hautveränderungen. Neben Leistungen zur Teilhabe nach § 15 SGB VI gibt es für die onkologische Reha-Indikation darüber hinaus die Möglichkeit der Gewährung einer Nachsorge-Maßnahme nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI mit dem Ziel, die durch
463 Literatur
die Erkrankung oder die Therapie bedingten körperlichen, seelischen, sozialen und beruflichen Behinderungen positiv zu beeinflussen [12]. z
Sozialmedizinische Beurteilung
Bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit sind sowohl die körperlichen als auch die seelischen Komponenten zu beachten. Ebenso zu berücksichtigen sind Begleiterkrankungen. Die Kontextfaktoren in Alltag und Berufsleben sind individuell und detailliert aufzuzeigen und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben sind zu prüfen (siehe auch 7 Kap. 10).
Literatur 1
2
3 4 5
6 7 8 9
10 11 12 13
14
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20
465
Augenkrankheiten Ralph Lorenz
21.1
Allgemeines – 466
21.1.1 21.1.2 21.1.3
Sozialmedizinische Bedeutung – 466 Diagnostik – 467 Beurteilungs- und Zielkriterien – 469
21.2
Krankheitsbilder – 472
21.2.1 21.2.2 21.2.3
Erkrankungen der vorderen Augenabschnitte – 472 Erkrankungen der hinteren Augenabschnitte – 475 Weitere (neuro-)ophthalmologische Erkrankungen – 478
21.3
Sozialmedizinische Beurteilung – 480
21.3.1 21.3.2 21.3.3
Medizinische Rehabilitation – 481 Teilhabe am Arbeitsleben – 481 Erwerbsminderung – 482
Literatur – 483
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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466
Kapitel 21 · Augenkrankheiten
21.1
Allgemeines
Die Augen sind unser wichtigstes Sinnesorgan. Wir erhalten ca. 80 % aller sensorischen Eindrücke über das Sehsystem. Die visuelle Wahrnehmung umfasst verschiedene Teilleistungen wie die Fern- und Nahsehschärfe, die damit verbundene Akkomodation, das Binokularsehen bis hin zur Stereopsis, das Gesichtsfeld bzw. Blickfeld bei Augen- und/oder Kopfbewegungen, das Farbunterscheidungsvermögen sowie die Adaptation auf unterschiedliche Beleuchtungsverhältnisse. Darüber hinaus spielen komplexe zentrale Vorgänge zur Weiterverarbeitung und Nutzung visueller Informationen eine wichtige Rolle. Die Anforderungen an das Sehvermögen und auch dessen Belastungen sind in den letzten Jahrzehnten in unserer modernen Mobilitäts- und Informationsgesellschaft unzweifelhaft gestiegen. So sind z. B. Beeinträchtigungen des Sehens durch das sog. »office eye syndrom«, eine Form des trockenen Auges, oder Asthenopien durch latentes Schielen oder un- und falsch korrigierte refraktive Fehler erst durch die heutigen Arbeitsbedingungen am Bildschirm mitverursacht bzw. werden manifest. Andererseits hat die rasante technologische Entwicklung aber auch zu deutlichen Verbesserungen in der Versorgung Sehbehinderter mit elektronischen Hilfsmitteln wie Bildschirmlesegeräten, Videosystemen und elektronischen Vorlesehilfen geführt und hilft auch Menschen in Ausbildung oder Umschulung durch das E-Learning [23], funktionelle Defizite auszugleichen. Darüberhinaus ist es in der Augenheilkunde gelungen, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen sowohl auf operativem Gebiet, aber auch in Diagnostik und medikamentöser Therapie sehr schnell in die alltägliche Behandlung umzusetzen. Beispielhaft seien hier nur die verbesserte Diagnostik bei Glaukom (Grüner Star) mittels moderner bildgebender Systeme zur Beurteilung der Nervenfaserschicht der Netzhaut und des Sehnervenkopfes [GDx zur Messung der retinalen Ganglienzellschicht, Heidelberg Retina Tomograph (HRT) zur Papillendiagnostik bei Glaukom], die Therapie des Keratokonus mittels crosslinking oder auch die Behandlung der exsudativen altersassoziierten Makuladegeneration (AMD) mittels intravitrealer Injektion von Anti-Vascular-Endothelial-Growth-Factor-(A-VEGF)Substanzen genannt. Auch die chirurgische Rehabilitation bei Katarakt (Grauer Star) durch Implantation moderner intraokularer Linsen ist inzwischen so weit optimiert, dass die postoperativen visuellen Ergebnisse z. T. die vor Erkrankung bestehende Sehschärfe übertreffen können. In diesem Zusammenhang dürfen auch die Möglichkeiten der refraktiven Chirurgie wie Laser-in-situ-Keratomileusis (Lasik), intracamerale Linse (ICL) oder refraktiver Linsenaus-
tausch nicht unerwähnt bleiben. Alle diese chirurgischen Verfahren können insbesondere bei hochgradigen Refraktionsfehlern des Auges zu beeindruckenden Verbesserungen der Leistungsfähigkeit des Sehsystems führen. Während also für Erkrankungen, die das Auge und auch seine Anhangsgebilde (extraokulare Muskeln, Lider, ableitende Tränenwege etc.) selbst betreffen, heute eine umfassende medizinische Hilfe möglich ist, gilt dies für Sehschädigungen durch Erkrankungen entlang Sehnerv, Sehbahn und übergeordneten visuellen Zentren durch Schädel-Hirn-Trauma, Hirntumore, vaskuläre Erkrankungen oder Entzündungen (MS) nur eingeschränkt. Auch kann das Auge häufig durch Allgemeinerkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus, Schilddrüsenfunktionsstörungen, rheumatische Erkrankungen oder systemische Infektionskrankheiten mitbetroffen sein. Hier steht neben der ophthalmologischen Therapie aber die Behandlung der Grunderkrankung im Vordergrund.
21.1.1
Sozialmedizinische Bedeutung
Laut Angaben des statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2007 in Deutschland 348.442 Menschen als blind oder sehbehindert nach Art der schwersten Behinderung erfasst. Vor allem sind hier ältere Menschen betroffen, die Gruppe der Erwerbstätigen stellt weniger als ein Drittel. Nach der Statistik der Deutschen Rentenversicherung Bund gab es 2009 wegen visueller Defizite insgesamt 1.518 Neuzugänge bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Ursächlich dominierend waren bei den Betroffenen die Erkrankungen der hinteren Augenabschnitte (Netz-Aderhaut, Sehnerv). Etwa 10.000 Menschen jährlich erleiden in Deutschland eine Neuerblindung. Bei der Altersgruppe bis 39 Jahren ist die Optikusatrophie, bei den 40–79-jährigen die diabetische Retinopathie und bei den über 80-jährigen die AMD die häufigste Ursache. 70 % aller blinden Menschen sind über 60 Jahre alt. Von den ca. 35.000 Blinden im erwerbsfähigen Alter (20–60 Jahre) sind ca. 30 % berufstätig. Die wichtigsten Tätigkeitsfelder mit insgesamt 50 % der Beschäftigten sind medizinische Berufe wie Masseure und Physiotherapeuten sowie die Telekommunikation. Im Vordergrund steht bei Augenerkrankungen die medizinische Akut- und Dauerversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Medizinische Rehabilitationsleistungen im eigentlichen Sinne werden nur vereinzelt z. B. bei chronischer Iridozyklitis/Uveitis durchgeführt. Hier listet die GBE (Gesundheitsberichterstattung des Bundes) für 2008 insgesamt nur 509 Fälle von stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bei Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde auf. Die Hauptkosten entstehen jedoch bei der
467 21.1 · Allgemeines
Versorgung sehbehinderter Menschen mit vergrößernden Sehhilfen im Rahmen der Heil- und Hilfsmittelrichtlinien durch die GKV. Hilfe für sehbehinderte Kinder und berufstätige Erwachsene im Rahmen schulischer Ausund Weiterbildung sowie Umschulungen werden durch die entsprechenden Sozialleistungsträger geleistet. Allein über die Deutsche Rentenversicherung wurden 2009 bei Erkrankungen der Augen 1.447 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben finanziert, überwiegend wegen des Diagnosekomplexes Sehstörungen und Blindheit.
21.1.2
Diagnostik
Bevor die eigentlichen gutachterlich relevanten Untersuchungen beginnen, sollte sich der Augenarzt zunächst den aktuellen Krankheitsverlauf und die damit verbundenen Probleme im täglichen Leben und ggf. bei der Berufstätigkeit schildern lassen. Erst danach muss akribisch die augenärztlich relevante Anamnese hinsichtlich der früheren Augenvorgeschichte (insbesondere Refraktionsfehler, Strabismus, alte Verletzungen), aber auch der familiären Vorbelastung (hereditäre Erkrankungen wie tapetoretinale Dystrophien) und allgemeinen Erkrankungen (Diabetes, Hypertonus, rheumatoide Arthritis) sowie neurologischen Erkrankungen (Z. n. Apoplex, MS) erhoben werden. Danach erfolgt die äußere Inspektion des Auges zur Beurteilung der Lidsituation sowie der Lage der Bulbi in der Orbita. Die Spaltlampenmikroskopie erlaubt die Beurteilung von Bindehaut, Sklera, Hornhaut, Vorderkammer, Iris, Linse und vorderem Glaskörper und unter zu Hilfenahme eines Gonioskops des Kammerwinkels. Die Funduskopie in diagnostischer Mydriasis ermöglicht dann die Beurteilung des hinteren Glaskörpers, der Netz- und Aderhautstrukturen sowie des Sehnervenkopfes. Je nach Fragestellung sind weitere Zusatzuntersuchungen obligat bzw. fakultativ durchzuführen.
Sehschärfe – Visus Die Prüfung der Sehschärfe für die Ferne und die Nähe ist neben der später noch zu erläuternden Gesichtsfeldprüfung die mit Abstand entscheidendste Untersuchung der Funktionsfähigkeit des Sehorgans. Da hier die bestmögliche (korrigierte) Sehschärfe erfasst werden soll, ist schon im Vorfeld auf eine exakte Prüfung der vorhandenen Sehhilfen (Fern-, Nah-, Bifokal-, Gleit-, Prismenbrille und/oder Kontaktlinsen) zu achten. Die einfache Übernahme und Akzeptanz der mitgebrachten Sehhilfen wird der gutachterlichen Anforderung nicht gerecht. Ggf. muss der Untersucher neben der objektiven Refraktion am automatischen oder manuellen Refraktometer auch eine Refraktionierung in Cycloplegie, d. h. unter Ausschaltung der Akkomodation durchführen. Hier ist natürlich auch
das Kriterium der objektiven und subjektiven Verträglichkeit von Sehhilfen zu beachten. Probleme ergeben sich beispielsweise bei hoher Ametropie, Anisometropie oder hohen auch postoperativen Astigmatismen z. B. nach Keratoplastik sowie bei Kontaktlinsenunverträglichkeit. Für die Prüfung der Sehschärfe ist somit die mon- und binokular objektiv korrekte und auch subjektiv verträgliche Sehhilfe heranzuziehen. Mit Sehschärfe oder Visus bezeichnet man die Fähigkeit des menschlichen Auges, unter Tageslichtbedingungen zwei Objekte als getrennt wahrzunehmen (minimum separabile). Für die gutachterliche Sehschärfenprüfung muss gemäß der internationalen Normen EN ISO 8596 und 8597 – übernommen in der DIN 58220 Teil 3 (Gutachten), Teil 5 (allgemeine Sehtests) und Teil 6 (Straßenverkehr, FeV) – untersucht werden [4, 5]. Der mit ggf. notwendiger Sehhilfe ermittelte Visuswert ist die letzte gemäß den Kriterien noch erkannte Visusstufe und wird in Dezimalzahlen angegeben. Angaben wie »teilweise erkannt« oder »p, pp« für partiell erkannt sind bei der Begutachtung nicht zulässig. Die beidäugige Sehschärfe wird als die des besseren Auges und beim schwächeren Auge dessen einäugige Sehschärfe gewertet. Bei bestimmten Erkrankungen wie Schielamblyopie, Nystagmus und hohen Ametropien kann es zu großen Diskrepanzen zwischen Fern- und Nahvisus oder auch Unterschieden bei Prüfung mit Einzeloptotypen im Vergleich zur Lesesehschärfe (minimum legibile) kommen. Hier ist ein Zwischenwert zu wählen, der bevorzugt den Nahvisus berücksichtigt [DOG (Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft)-Empfehlung 1981]. In diesen Zusammenhang fällt auch die Bestimmung der Akkomodationsbreite. Die Fähigkeit des menschlichen Auges, sich auf unterschiedliche Sehabstände, insbesondere den Nahbereich, einzustellen, verschlechtert sich naturgesetzlich mit zunehmendem Alter kontinuierlich (Duane-Kurve). Dies ist bei allen gutachterlichen Prüfungen im Nahbereich (z. B. Perimetrie, Farbtest) und nicht nur bei der Sehschärfenprüfung durch entsprechenden Zusatz von Plusgläsern zu kompensieren.
Binokularität – Motilität – Stereosehen Unter Binokularsehen wird das Simultansehen beider Augen abgestuft nach Binokularsehen ohne Fusion, Binokularsehen mit Fusion (binokulares Einfachsehen) und Binokularsehen mit Stereopsis als höchster Qualitätsstufe zusammengefasst. Die Stereosehschärfe gehört zu den Übersehschärfen (hyperacuity) und ist im täglichen Leben vor allem beim Führen von Fahrzeugen und bei bestimmten Berufen z. B. im Bereich der Feinmechanik aber auch in der Medizin von großer Bedeutung. Auch beim »verschärften Sehtest« bei der Fahreignungsbegutachtung der Klassen C, D und Fahrgastbeförderung wird ein Ste-
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468
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Kapitel 21 · Augenkrankheiten
reotest verlangt. Anders als bei der Sehschärfenprüfung sind die Testverfahren nicht optimal standardisiert. Zur Anwendung kommen einfache Treffversuche wie z. B. die Begegnung zweier mit ausgestreckten Armen gehaltener Gegenstände. Für eine genauere auch in Auflösungswinkelgraden abgestufte Untersuchung werden dagegen der Titmustest (Fliege, Tiere, Ringe) mit Polarisationsbrillenvorsatz oder randomisierte Punktmuster (Randot, TNO, Lang) verwendet. Sozialmedizinische Bedeutung haben Störungen des Binokularsehens, welche durch Störungen der Augenmuskelzusammenarbeit verursacht werden. Bei etwa 5–7 % der Bevölkerung besteht eine manifeste Form des Schielens (Strabismus). Zusätzlich lässt sich bei etwa 70 % der Bevölkerung ein latentes Schielen (Heterophorie) nachweisen. Bei den manifesten Schielformen sollte man auch im Hinblick auf die spätere gutachterliche Bedeutung zwischen dem meist erworbenen paretischen (Lähmungs-) Schielen und dem angeborenen kindlichen Schielen wie kongenitales Schielsyndrom, Mikrostrabismus, (Teil-) akkomodatives Schielen und normosensorischem Spätschielen unterscheiden. In der Begutachtung spielen dabei neben möglichen begleitenden mon- oder binokularen Sehschärfeverlusten wie der Schielamblyopie (-schwachsichtigkeit) und der Einschränkung der Stereopsis vor allem etwaige vorhandene Doppelbildwahrnehmungen eine Rolle. Doppelbilder treten vor allem beim paretischen Schielen der Erwachsenen auf, während sie beim kindlichen Schielen durch Suppression und Exklusion des Bildes des schielenden Auges eher seltener sind. Untersucht wird zunächst gemäß den subjektiven Angaben des Prüflings nach monokularen (z. B. durch irreguläre Abbildungszustände von Hornhaut und Linse) oder eindeutig binokularen Doppelbildern, welche bei Abdeckung eines Auges verschwinden. Zur Objektivierung der Angaben dienen Prismenkompensationstests, der Abdecktest sowie die Untersuchung der Motilität im freien Raum. Entscheidend für die gutachterliche Beurteilung sind die Prüfung der monokularen Bewegungen, das Doppelbildschema in den neun Hauptblickrichtungen sowie der Bereich des binokularen Einfachsehens an der Tangentenskala nach Harms [22].
Gesichtsfeld (GF) Neben der Prüfung der Sehschärfe ist die Untersuchung des monokularen und binokularen Gesichtsfelds die entscheidende Bewertungsgrundlage für das Ausmaß einer Sehbehinderung. Während die Sehschärfe ein Maß für die räumliche Auflösung darstellt, prüft die Perimetrie die Lichtunterschiedsempfindlichkeit des Sehsystems zentral und peripher. Die Lichtunterschiedsempfindlichkeit ist im Bereich der Zapfen der Netzhautmitte am höchsten und fällt zur Peripherie im Bereich der Stäbchen ab.
Zur gutachterlichen Beurteilung sollte ausschließlich die manuelle kinetische Perimetrie am Perimeter nach Goldmann verwendet werden. Die Gesichtsfeldaußengrenzen betragen normalerweise temporal 90°, unten 70°, nasal und oben 60°. Die heutzutage für die klinische Routine meist eingesetzte computergesteuerte statische Perimetrie bestimmt mit einem festen Raster von Prüfpunkten die Wahrnehmungsschwelle für Lichtstimuli ortsständig. Sie kann vor allem zur Darstellung relativer oder kleiner absoluter Skotome im zentralen Gesichtsfeld, welche z. B. starke Schwierigkeiten bei flüssigem Lesen verursachen, eingesetzt werden und kann die Aussagekraft der manuell-kinetischen Perimetrie zumindest ergänzen. Während einseitige Gesichtsfeldeinschränkungen meist vom Partnerauge gut kompensiert werden, führen beidseitige Einschränkungen oder gar Fehlen bzw. komplette Amaurose des Partnerauges zu deutlich höheren Beeinträchtigungen des Sehvermögens. Besonders bedeutsam sind binokulare Ausfälle in den beiden unteren Gesichtsfeldquadranten.
Farbensehen Farbsinnstörungen sind in der Bevölkerung relativ häufig und betreffen aufgrund ihres x-chromosomal-rezessiven Erbganges (Ausnahme: Achromatopsie, autosomal-dominant) in der Regel das männliche Geschlecht. Ca. 8 % aller Männer sind betroffen, wobei die Grünschwäche (Deuteranomalie) vor Grünblindheit (Deuteranopie), Rotblindheit (Protanopie) und Rotschwäche (Protanomalie) am häufigsten vorkommt. Erworbene Farbsinnstörungen entstehen auch monokular bei verschiedenen Erkrankungen des Sehnerven oder der Netzhaut, haben aber durch den funktionellen Schaden der Grunderkrankung eher untergeordnete Bedeutung. Als orientierende Prüfverfahren im klinischen und Praxisalltag werden die pseudoisochromatischen Farbtafeln nach Ishihara oder Velhagen sowie die Farblegetests PANEL-D-15 oder Farnsworth-Munssell 100 Hue verwendet. Die gutachterliche Untersuchung muss dagegen an Spektralfarbentestgeräten gemäß DIN 6160 [6] wie z. B. dem Anomaloskop nach Nagel oder dem Heidelberger Allfarbenanomaloskop durchgeführt werden. Aus den vom Prüfling eingestellten Mischungsverhältnissen von Rot und Grün um die Referenzfarbe Gelb zu erhalten, errechnet sich dann der Anomaliequotient (AQ) und die Einstellbreite. Der normale AQ liegt zwischen 0,7 und 1,4. Deuteranomale haben einen AQ über 1,7 und Protanomale < 0,6. Nur für letztere gibt es zumindest in der FeV ein eindeutiges Ausschlusskriterium für die Führerscheinklasse D und Fahrgastbeförderung.
469 21.1 · Allgemeines
Adaptation, Dämmerungssehen, Blendung Unter Adaptation versteht man die Fähigkeit des menschlichen Sehsystems, sich auf unterschiedliche Leuchtdichteverhältnisse einzustellen. Gesteuert wird die Adaptation über die Pupillenreaktion, die photochemische Adaptation über den Auf- und Abbau der Sehpigmente in Zapfen und Stäbchen der Netzhaut sowie die neuronale Adaptation in den rezeptiven Feldern von Netzhaut und visuellem Cortex. Man unterscheidet das photopische (Tageslicht-) Sehen bei Leuchtdichten ab 10 cd/m2 vom mesopischen (Dämmerungs-) Sehen bei Leuchtdichten zwischen 0,01 und 10 cd/m2 und skotopischen (Nacht-) Sehen bei Leuchtdichten unter 0,01 cd/m2. Unter mesopischen Bedingungen wie z. B. nächtlichem Autofahren (Leuchtdichte um 0,1 cd/m2) ist auch bei Normalsichtigen die Sehschärfe schon um die Hälfte reduziert. Blendung entsteht durch Leuchtdichteintensitäten, die das örtliche und zeitliche Adaptationsvermögen des Sehsystems soweit beeinträchtigen, dass die visuelle Wahrnehmung gestört wird. Ursache für ein vermindertes Dämmerungssehvermögen und eine erhöhte Blendung sind generell das zunehmende Alter eines Menschen, aber auch refraktive Probleme (»falsche Brille« oder unkorrigierte Ametropien). Organische Ursachen können Trübungen der brechenden Medien wie Hornhautnarben (z. B. auch nach Lasik), eine beginnende Katarakt (aber auch eine reizfreie Pseudophakie) oder auch Netzhauterkrankungen sein. Untersucht werden das Dämmerungssehvermögen und die Blendung für gutachterliche Zwecke ausschließlich an Geräten, die von der DOG für geeignet erachtet werden. Genannt sei hier das Mesoptometer nach Aulhorn [7, 14]. Mit diesem Gerät lassen sich z. B. die von der DOG zwar geforderten, in der aktuellen FeV aber nicht mehr zwingend vorgeschriebenen Messungen des Kontrastsehens unter Dämmerungssehbedingungen mit und ohne Blendung vornehmen. Bei ausgeprägten Formen kann es zu sozialmedizinisch relevanten Orientierungsschwierigkeiten im Dunkeln kommen.
Kritische Würdigung der Untersuchungsergebnisse der erläuterten Tests und Untersuchungsverfahren: Wie bei allen psycho-physischen Testverfahren beruhen die Ergebnisse der oben erläuterten Untersuchungen zum größten Teil auf den subjektiven Angaben und der Mitarbeit des Untersuchten. Um die Validität der Untersuchungsergebnisse zu überprüfen, kann man bei zweifelhaften Angaben zur Sehschärfe z. B. eine absteigende Visusprüfung durchführen oder haploskopische Trennverfahren einsetzen, die zur Verwechslung für den Untersuchten hinsichtlich
seines geprüften Auges führen. Zusätzlich kann als objektives Verfahren der optokinetische Nystagmus oder die Ableitung visuell evozierter Potentiale (Visus-VECP) eingesetzt werden. Bei Gesichtsfelduntersuchungen ist vor allem auf die strikte Fixationskontrolle zu achten. Darüberhinaus können Plausibilitätsfragen mit der Möglichkeit falsch-positiver oder falsch-negativer Antworten am statischen Perimeter Hinweise auf eine Simulation oder Dissimulation geben. Eine Änderung des Prüfabstands bei GF-Kontollen im freien Raum kann ebenso zur Verwirrung des Prüflings beitragen. Auch das objektive Verhalten des Untersuchten im Untersuchungsraum kann Hinweise auf tatsächliche oder nur vorgegebene Funktionsminderungen geben. Dagegen sind Binokularstörungen mit Doppelbildern in der Regel durch die orthoptische Untersuchung eindeutig zuzuordnen und quantitativ zu messen. Die Prismenkompensationstests sind vom Probanden meist nicht willentlich beeinflussbar. Beim Stereosehtest darf keine seitliche Bewegung erfolgen, da auch sonst monokular fälschlich positive Ergebnisse erzielt werden können. Bei Farbflecktests werden zur Plausibilitätsprüfung auch für Farbgestörte eindeutig erkennbare Probetafeln verwendet. Lediglich bei Störungen des Dämmerungs- und Nachtsehens muss man sich neben dem objektiven organischen Befund z. T. noch auf eingehendere elektrophysiologische Untersuchungen wie ERG (Elektroretinogramm) oder EOG (Elektrokulogramm) zur Beurteilung der Stäbchen- und Zapfenfunktion der Netzhaut stützen. Entscheidend ist einerseits, dass die Untersuchungen strikt nach den von der DOG vorgegebenen Kriterien mit von der DOG zugelassenen Geräten durchgeführt werden [7, 14]. Zum anderen muss jede Funktionsminderung durch ein funktionelles (Amblyopie) oder morphologisches Korrelat erklärbar sein. Im Zweifelsfall müssen zusätzlich bildgebende Verfahren wie Fluoreszenzangiographie (FAG) der Netz- und Aderhaut, Okuläre Cohärenz Pachymetrie (OCP) zur Messung der HH-Dicke, Okuläre Cohärenz Tomographie (OCT) zwecks Schnittbildes der Netzhaut, Heidelberg Retina Tomograph (HRT) zur Papillendiagnostik bei Glaukom, GDx (Messung der retinalen Ganglienzellschicht), Hornhauttopographie, CT oder MRT hinzugezogen werden.
21.1.3
Beurteilungs- und Zielkriterien
Die Einteilung nach Pape [29] (. Tab. 21.1) und die etwas differenziertere Einteilung der WHO (. Tab. 21.2) erlauben die Beurteilung der Sehfunktion allein nach dem Ausmaß des Visusverlusts.
21
470
21
Kapitel 21 · Augenkrankheiten
. Tab. 21.1 Stufen der Sehbeeinträchtigung (Pape)
I
21 21 21
II b
III
21 21
21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21
gleich oder geringer als:
Mäßige beidseitige Sehschädigung:
0 – leichte oder keine Sehbeeinträchtigung
höher als:
6/18
Bds. 0,4 – 0,9
3/10 (0,3)
Sehbehinderung:
20/70
Hochgradige Sehbehinderung:
1 – mittelschwere Sehbeeinträchtigung
Bds. 0,03 – 0,05
V
Sehschärfe mit bestmöglicher Korrektur (in Ferne)
Gröbere einseitige Sehschädigung:
Bds. 0,06 – 0,3
IV
21
Stufen
Visus mindestens 1,0 / 0,3 und weniger oder einseitige Aphakie
21
21
Volle Sehtüchtigkeit: Visus mindestens 1,0 / 0,5
II a
. Tab. 21.2 Stufen der Sehbeeinträchtigung (in Anlehnung an die WHO, Quelle: ICD-10-GM, Version 2010, DIMDI)
Blindheit oder der Blindheit gleichzustellen: Visus am besseren Auge 0,02 oder weniger
Von Bedeutung ist zunächst die Gruppe IIa nach Pape. Der wesentliche Verlust betrifft hier das Stereosehen. Die »funktionelle« Einäugigkeit darf aber keinesfalls gleichermaßen bewertet werden wie der tatsächliche vollständige Verlust eines Auges. Zusätzlich ist auch für die Beurteilung der privaten und ggf. beruflichen Konsequenzen die Unterscheidung zwischen angeborenen und erworbenen einseitigen Visusschwächen mit fehlendem Stereosehen sinnvoll, da hier unterschiedliche Kompensationsmechanismen zum Ausgleich des Funktionsverlustes existieren. Die mäßige beidseitige Sehbehinderung mit Visus bds. 0,4–0,9 (Gruppe IIb nach Pape) bedeutet noch keine Sehbehinderung, führt aber doch zu messbaren Einschränkungen der Leistungsfähigkeit bei den zunehmenden visuellen Anforderungen in Beruf, Straßenverkehr und Informationstechnologie auch im privaten Bereich. Als sehbehindert werden alle Personen der Gruppe III nach Pape sowie Stufe 1 und 2 nach WHO mit einem Visus von bds. 0,06–0,3 eingestuft. Die Lesefähigkeit der Betroffenen ist dabei ohne Zuhilfenahme spezieller optischer Hilfsmittel sehr eingeschränkt. Jedoch haben sich durch Verbesserungen insbesondere auf dem Gebiet der Informationstechnologien deutlich mehr persönliche und berufliche Unterstützungsmöglichkeiten entwickelt. Die Gruppe der hochgradig sehbehinderten Menschen (IV nach Pape, 3 nach WHO) hat nur noch ein Sehvermögen von bds. 0,03–0,05. Als blind werden diejenigen Personen bezeichnet, deren Sehschärfe am besseren Auge 0,02 (1/50 1m-Visus) oder weniger beträgt (Gruppe V nach Pape bzw. 4 und 5 nach WHO).
2 – schwere Sehbeeinträchtigung
3 – hochgradige Sehbehinderung
4 – Blindheit
6/18
6/60
3/10 (0.3)
1/10 (0.1)
20/70
20/200
6/60
3/60
1/10 (0.1)
1/20 (0.05)
20/200
20/400
3/60
1/60 (Fingerzählen 1 m)
1/20 (0.05)
1/50 (0.02)
20/400
5/300 (20/1200)
1/60 (Fingerzählen 1 m)
Lichtscheinwahrnehmung
1/50 (0.02) 5/300 5 – Blindheit
keine Lichtscheinwahrnehmung
9
unbestimmt oder nicht näher bezeichnet
Eine einer Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 (1/50) oder weniger gleichzusetzende Sehbehinderung liegt bei folgenden Fallgruppen vor: a. bei einer Einengung des Gesichtfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, b. bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, c. bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze
471 21.1 · Allgemeines
d.
e.
f.
g.
des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist, bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt, bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
Blind ist auch der behinderte Mensch mit einem nachgewiesenen vollständigen Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit), nicht aber mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen [5].
Besondere Anforderungen im Straßenverkehr, in der Arbeitsmedizin und zur Berufseignung z
Fahrerlaubnisverordnung (FeV)
Die Anforderungen an das Sehvermögen im Straßenverkehr werden in der Anlage 6 der FeV/FeV ÄndV [8, 10, 11] wiedergegeben. z
Berufsgenossenschaftlicher Grundsatz: Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten G25
Hier wird die Eignung des Einzelnen für innerbetriebliche Tätigkeiten geregelt, um Unfälle oder Gesundheitsgefahren für die Betroffenen oder Dritte zu verhindern. Darunter fallen zahlreiche beruflich zu führende Fahrzeuge, Arbeitsplätze und Tätigkeiten [13] wie alle Kraftfahrzeuge, Gabelstapler, Kräne, Bagger, Förderbänder und Seilbahnen sowie Maschinensteuerung. z
Berufsgenossenschaftlicher Grundsatz: Bildschirmarbeitsplätze G37
Die Untersuchung gemäß dem berufsgenossenschaftlichen Grundsatz G37 soll allen Arbeitnehmern an Bildschirmgeräten angeboten werden. Die Auswahl der zu Untersuchenden wird in den entsprechenden Verwaltungsvorschriften BGI 504–537 sowie VBG 2005 [42] beschrieben. Die Untersuchungen sollen vor Aufnahme der Tätigkeit, danach in bestimmten zeitlichen Interval-
len aber auch jederzeit bei Beschwerden des Versicherten erfolgen. Ziel ist es, durch die entsprechenden Vorsorgeuntersuchungen und ggf. Weiterbehandlung durch den Augenarzt eine Früherkennung spezifisch ophthalmologischer Probleme wie un- oder falsch korrigierter Refraktionsfehler, beginnende Presbyopie oder dekompensierte Phorie mit folgenden asthenopischen Beschwerden zu ermöglichen. Dadurch kann dann sowohl die refraktive Versorgung der Versicherten, aber auch ggf. die Ergonomie des Bildschirmarbeitsplatzes (Bildschirmart, -größe, Arbeitsabstand, Lichtquellen etc.) verbessert und den individuellen Bedüfnissen angepasst werden. Darüber hinaus können auch notwendige Maßnahmen beim Sicca-Syndrom (Office eye syndrom) wie Verbesserung der Raumklimatisierung oder auch Umstellungen bei Kontaktlinsenträgern veranlasst werden. Dauernde gesundheitliche Bedenken kommen allenfalls dann in Frage, wenn durch Erkrankungen der Netzhautmitte nur noch ein Restgesichtfeld von weniger als 4° erhalten ist, da dann z. B. Silbenerfassungen nicht mehr möglich sind [1]. Befristete gesundheitliche Bedenken kommen bei Erkrankungen in Betracht, die operativ oder konservativ behandelt werden können und das zu erwartende Sehvermögen die Bildschirmtätigkeit wieder ermöglicht. Hierzu gehören die Katarakt mit erforderlicher Operation, Hornhautdegenerationen vor Keratoplastik, Glaskörpereinblutungen vor notwendiger Vitrektomie, aber auch ausgeprägte Augenmuskelstörungen vor Strabismuschirurgie. z
Schiffs-, Flug-, und Bahnverkehr
Hier gelten eigene Gesetze, Verordnungen und Richtlinien zur Beurteilung des Sehvermögens und der Tauglichkeit. Darunter fallen das Seemannsgesetz, die Verordnung über die Seediensttauglichkeit, die Seelotsenuntersuchungsverordnung, das Binnenschifferpatent, die deutsche Fassung der JAR-FCL3 (Joint Aviation Requirements-Flight Crew Licence) sowie eine interne Konzernrichtlinie der Deutschen Bahn [22].
Sonstige berufliche Tätigkeit Außerhalb der genannten Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und Tauglichkeitsvorschriften gibt Pape [29, 30] eine Darstellung des Einflusses von reduzierten Sehfunktionen auf die berufliche Eignung. Es existieren jedoch keinesfalls allgemeingültige Regelungen zu den Eignungsvoraussetzungen, da sich die Anforderungen für identische Berufe je nach individueller Ausgestaltung des Arbeitsplatzes stark unterscheiden. Die Sehschärfe ist aber auch hier das wichtigste Beurteilungskriterium, so dass für eine Übersicht wiederum die Tabelle von Pape (. Tab. 21.1) bzw. die Einstufung der WHO (. Tab. 21.2) herangezogen werden kann.
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Kapitel 21 · Augenkrankheiten
Für Gruppe I nach Pape gelten allenfalls die o. g. Tauglichkeitsvorschriften als Grundlage für fehlende berufliche Eignungen oder Beschränkungen. Für Gruppe IIa mit einer einseitigen Visusminderung ist vor allem der Verlust des Stereosehens relevant (funktionelle Einäugigkeit). Zu unterscheiden sind sicherlich die angeborene oder frühkindlich erworbene Einäugigkeit von einem erst später im Berufsleben eingetretenen Funktionsverlust. Erstere zieht geringere Auswirkungen nach sich als letztere. Zum einen spielt hier die Art des gewählten Berufs (in Kenntnis des frühen funktionellen Defizits), aber auch das Ausmaß der im jungen Alter noch besseren Akkomodation als Hilfe bei der Tiefenbeurteilung eine Rolle. Die Gewöhnung an eine spät erworbene Einäugigkeit tritt allerdings relativ schnell schon nach wenigen Wochen ein. Günstig sind hier alle beruflichen Tätigkeiten, in denen zusätzlich der Tastsinn zu Hilfe genommen werden kann. Dagegen sind Tätigkeiten, die ein gutes Stereosehen voraussetzen, wie die Bearbeitung von feinen Oberflächen z. B. als Dreher oder Werkzeugmacher, aber auch die Ausübung von Berufen wie Feinmechaniker, Zahntechniker oder Uhrmacher nur noch eingeschränkt möglich. Auch Tätigkeiten im Baugewerbe auf Gerüsten bedingen eine erhöhte Gefährdung. Jedoch gibt es hier kein eindeutiges Ausschlusskriterium, insbesondere wenn bei angeborener Einäugigkeit die berufliche Tätigkeit bisher ohne Probleme ausgeübt werden konnte. Ein genereller Ausschluss von Einäugigen aus Produktionsberufen sollte deshalb unterlassen werden. Sofern keine gesetzlichen Vorschriften dagegen sprechen, ist auch bei erworbener Einäugigkeit immer ein Arbeitsversuch auch am alten Arbeitsplatz ggf. unter verbesserten Schutzmaßnahmen für das gesunde Auge sinnvoll. Bei Funktionsminderungen gemäß Gruppe IIb ist vor allem eine Minderung der Arbeitsgeschwindigkeit bei der visuellen Kontrolle verschiedener Arbeitsvorgänge zu erwarten. Dies ist bei der Ausgestaltung und Einrichtung des Arbeitsplatzes zu berücksichtigen. Auch die Taktzeiten z. B. in der industriellen Produktion müssen dies mit einplanen. Ansonsten sollten hier keine generellen Ausschlüsse erfolgen. Relevante Einschränkungen ergeben sich jedoch sicherlich bei Betroffenen der Gruppe III nach Pape bzw. Stufen 1 und 2 nach WHO. Diese Personen können nicht mehr eigenständig am motorisierten Straßenverkehr teilnehmen, eine Lesefähigkeit ist nur noch mit vergrößernden Sehhilfen zu erreichen. Sie profitieren jedoch am meisten von der zunehmenden Zahl an Bildschirmarbeitsplätzen, welche individuell auf die jeweilige Sehbehinderung eingerichtet werden können. Dadurch können insbesondere Büroarbeiten im kaufmännischen Bereich oder in der Verwaltung noch ausreichend gut ausgeführt werden. Für Tätigkeiten in der industriellen Produktion
gilt dies dagegen eher nicht. Allenfalls hochstandardisierte, sich ständig wiederholende Tätigkeiten mit gröberen Werkstücken oder in der Montage mit guter taktiler Kontrolle sind noch ausübbar. Dagegen sind klassische Berufsbilder wie Gärtner, Bäcker oder auch Physiotherapeut durchaus für Menschen mit dieser Schwerbehinderung geeignet. Für Personen mit hochgradiger Sehbehinderung bzw. Erblindung gemäß Gruppe IV und V nach Pape bzw. 3–5 nach WHO kann allenfalls noch ein Einsatz als Telefonist oder Phonotypist (unter Zuhilfenahme ggf. von Spracherkennungssoftware und Brailleschrift am PC) sowie als Masseur in Erwägung gezogen werden. Einschränkungen des Gesichtsfeldes als eigenständige oder zusätzliche Behinderung sind allenfalls bei Arbeiten auf Gerüsten wie z. B. als Maurer oder auch Dachdecker oder im Rahmen der Aufsichtspflicht bei sozialen Berufen relevant. Ausfälle in der unteren Gesichtsfeldhälfte sind dabei schwerwiegender. Beidseitige konzentrische Einschränkungen auf 30° (entsprechend einer Visusminderung auf 0,3) gelten als Grenzbefund z. B. bei Erziehern oder Heimbetreuern. Bei kongenitalem Strabismus ist vor allem die Amblyopie durch Suppression und folgende Einäugigkeit (s. o.) relevant. Das latente Schielen (Heterophorie) ist ein wesentlicher Faktor bei der Beurteilung von Asthenopie (»angestrengtem Sehen«) bei Bildschirmtätigkeiten. Hier sind den Betroffenen die vorhandenen optischen (Prismenkompensation), aber auch chirurgischen (Schieloperation) Therapiemöglichkeiten zu erläutern. Bei erworbenen Doppelbildern ist immer die Suppression und mögliche Exklusion abzuwarten. Farbsinnstörungen sind in den allermeisten Fällen angeboren und sollten deshalb schon bei der Berufswahl berücksichtigt werden. Es gibt zwar seitens der Innungen oder Berufsgenossenschaften keine eindeutigen Ausschlusskriterien, aber bei Berufen im Malerhandwerk, der Elektrobranche, in Textil- oder Druckereiberufen ergeben sich zumindest für Protanope oder Deuteranope (Dichromaten) Einschränkungen, während Protanomale oder Deuteranomale (anomale Trichromaten) die Tätigkeiten häufig ohne Schwierigkeiten ausüben können. 21.2
Krankheitsbilder
21.2.1
Erkrankungen der vorderen Augenabschnitte
Dieses Kapitel enthält Ausführungen zu ausgewählten Augenkrankheiten mit großer Relevanz für die sozialmedizinische Begutachtung.
473 21.2 · Krankheitsbilder
Sicca-Syndrom Wiewohl das Syndrom des »trockenen Auges« – bei entsprechender Berufstätigkeit im Rahmen des »Sick Building Syndroms« auch »office eye syndrom« genannt – in der täglichen augenärztlichen Praxis eine zunehmende Bedeutung gewinnt – ca. 20 % der Patienten einer durchschnittlichen Augenarztpraxis leiden am trockenen Auge –, führt es jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen z. B. durch die Entwicklung therapierefraktärer Epitheliopathien mit Erosionen und Hornhautnarben zu dauerhaften, auch gutachterlich relevanten visuellen Einschränkungen, z. B. auch Unverträglichkeit von Kontaktlinsen. Die Betroffenen klagen neben dem Trockenheitsgefühl auch über Brennen, Juckreiz, Druckgefühl und zum Teil auch überschießendes reaktives Tränen. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von altersbedingten Veränderungen über hormonelle Umstellungen (Klimakterium), Medikamentennebenwirkungen (Beta-Blocker, Zytostatika) bis hin zu klimatischen Einflüssen (Klimaanlagen) und Umwelteinflüssen (Staub, Ozon). Auch internistische und vor allem rheumatische und dermatologische Grunderkrankungen (Sjögren-Syndrom, Lupus erythematodes, Sklerodermie) gehen häufig mit einem Sicca-Syndrom einher. Zur Diagnostik dient neben der Spaltlampenmikroskopie die Messung der Break-up-time oder auch der Schirmer-Test. Klinisch wird das trockene Auge gemäß der Klassifikation nach Höh [17] basierend auf der Anzahl und Ausprägung sog. lidkantenparalleler Falten (LIPCOF) in 4 Stadien eingeteilt. Überraschenderweise korrelieren die subjektiven Symptome der Patienten jedoch keineswegs immer mit den klinischen Befunden. So haben manche Patienten trotz ausgeprägter objektiver Sicca-Zeichen keinerlei oder nur mildeste Beschwerden und sehen keinerlei Notwendigkeit für die Verwendung von Tränenersatzmitteln, während andere Patienten mit kaum erkennbaren Befunden dramatische Symptome bis hin zu unerträglichen Schmerzen und Sehstörungen äußern. Eine subjektive Überlagerung der Symptomatik ist dann nicht immer auszuschließen. Die Beurteilung sollte sich hier deshalb allein nach dem objektiven Befund richten. Zusätzlich müssen die subjektiven Angaben des Patienten hinsichtlich seiner visuellen Funktion, seinem subjektiven Beschwerdebild, seiner Beeinträchtigung durch die nötige (Tropfen-)Therapie und ggf. sein berufliches, speziell klimatisches Umfeld mit berücksichtigt werden. Bei der großen Zahl an Therapieoptionen (neben Filmbildnern auch lokale Zytostatika, Tränenkanal-Plugs) und der Möglichkeit, das klimatische und ergonomische Arbeitsumfeld zu verbessern, erscheint eine berufliche Einschränkung jedoch eher selten gerechtfertigt. Problematisch kann ggf. der dauerhafte oder gar ausschließliche Einsatz an Bildschirmarbeitsplätzen sein, da dort durch die zusätzlich bestehende und nachgewiesene reduzierte Lidschlagfre-
quenz bei schweren Sicca-Syndromen tatsächlich keine stabile visuelle Leistungsfähigkeit erreicht werden kann.
Keratokonus Bei dieser ein- oder beidseitigen häufig progredienten Form eines irregulären Astigmatismus, verursacht durch eine Störung im Kollagenstoffwechsel der Hornhaut, entstehen mannigfaltige visuelle Störungen von einfachen Bildverzerrungen und gestörtem Dämmerungs- und Kontrastsehen bis hin zur Wahrnehmung monokularer Doppelbilder und hochgradiger Visusminderung. Betroffen sind in Deutschland ca. 40.000 Menschen (0,5 Promille der Bevölkerung) mit einem gehäuften Auftreten zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Die Stadieneinteilung erfolgt nach Krumeich [21] in 4 Stadien abhängig vom Hornhautradius und der Hornhautdicke. Während im Stadium 1 manchmal noch eine Brillenkorrektur möglich ist, sollten bei fortschreitendem Verlauf formstabile (harte) hochgasdurchlässige, z. T. auch spezielle Keratokonuslinsen angepasst werden. Ca. 80 % der Betroffenen kann damit geholfen werden. Problematisch sind Fälle mit schneller Progredienz auch mit häufiger Änderung der Kontaktlinsenparameter, aber auch Patienten, die unter rezidivierenden, z. T. schmerzhaften Epithelschäden leiden. Sollte dann bei beidseitiger Erkrankung keine Kontaktlinsenkorrektur möglich sein, besteht unter Umständen sofortige Fahruntauglichkeit und bei fehlender Korrekturmöglichkeit mit einer Brille zusätzlich auch eine deutliche Einschränkung hinsichtlich der beruflichen Leistungsfähigkeit. Im Tagesverlauf kann die visuelle Leistung stark schwanken, es kommt zu häufigen Reizerscheinungen mit Rötung und Tränenfluss. Bei dauerhafter Kontaktlinsenunverträglichkeit, schneller Progredienz und/ oder Absinken der bestkorrigierten Sehschärfe auf < 0,3 stehen verschiedene weitere therapeutische Verfahren zur Verfügung. Ein Verfahren stellt hierbei die cross-linking Therapie mit Riboflavin und UVA-Licht zur Verbesserung und Stabilisierung des Kollagens der Hornhaut dar. Diese Methode kann aber nur bei einer Hornhautmindestdicke von 400 mm, also im Stadium 1 und 2 nach Krumeich angewandt werden und erreicht maximal eine Stabilisierung des vorliegenden Befundes. Ein weiteres chirurgisches Verfahren in diesen beiden Stadien ist die circuläre Keratotomie, die den Keratokonus ebenfalls zum Stillstand bringen kann. Im Stadium 3 kann eine tiefe lamelläre Keratoplastik mit Erhalt der innersten eigenen Hornhautschicht den Keratokonus heilen. Ab Stadium 4 ist dann nur noch die perforierende Keratoplastik möglich, welche allerdings weiterhin mit einem hohen postoperativen Astigmatismus einhergehen kann. Dies betrifft ca. 20 % der Erkrankten. Das Leistungsvermögen im Erwerbsleben orientiert sich an der funktionellen Einschränkung, also der bestmöglichen Sehschärfe mit Korrektur (vor allem
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Kapitel 21 · Augenkrankheiten
Kontaktlinse, aber auch Brille trotz nicht optimaler Korrigierbarkeit des Astigmatismus). Außerdem spielt die durchschnittlich täglich mögliche Tragezeit einer Kontaktlinse eine Rolle. Die Bewertung der Kontaktlinsenverträglichkeit ergibt sich nicht ausschließlich aus den subjektiven Angaben des Untersuchten, sondern auch aus dem objektiven augenärztlichen Befund. Entscheidend ist der aktuell mon- und binokular zu erzielende Visus. Jedoch müssen hier die oben schon erwähnten starken Visusschwankungen und ein möglicherweise zusätzlich belastendes klimatisches Umfeld in die Beurteilung der Leistungsfähigkeit mit einfließen.
Hornhauterkrankungen mit Keratoplastik Nicht nur beim Keratokonus, sondern auch bei anderen Hornhauterkrankungen wie bullöser Epitheliopathie und Hornhautnarben unterschiedlicher Ätiologie kann durch eine Hornhautverpflanzung eine funktionelle Verbesserung erreicht werden. Ein vorher eingetrübtes oder strukturell und damit funktionell verändertes optisches Medium wird durch ein klares Transplantat ersetzt und damit per se eine bessere visuelle Funktion erreicht. Je nach Ergebnis und Refraktionsverhältnissen muss aber weiterhin mit z. T. starken Brillengläsern zum Ausgleich von sphärischen und/oder astigmatischen Brechungsfehlern oder auch Kontaktlinsen gearbeitet werden. Auch besteht in den meisten Fällen die Notwendigkeit, über einen längeren Zeitraum lokale Steroide und Tränenfilmbilder sowie systemisch auch Zytostatika zur Verhinderung einer Transplantatabstoßung einzusetzen. Die Operierten sind zumindest in den ersten postoperativen Wochen in ihrer körperlichen Belastbarkeit eingeschränkt und die visuelle Leistung stabilisiert sich häufig erst nach mehreren Monaten, auch verursacht durch instabile Refraktionsverhältnisse, welche zu Änderungen der Brillen- oder Kontaktlinsenwerte führen. Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit sollte allein die bestmöglich erreichte Sehschärfe mit entsprechender optischer Korrektur (u. U. auch Kontaktlinse) berücksichtigen und erst erfolgen, wenn die akute postoperative Behandlungsphase beendet ist und keine gravierenden Entzündungs- und/oder Abstoßungsreaktionen mehr zu erwarten sind.
Katarakt, Aphakie, Pseudophakie Eine meist beidseitige Trübung der Augenlinse entsteht in der Regel im höheren Lebensalter, kann jedoch auch ohne andersartige Ursachen bei jüngeren noch berufstätigen Menschen z. T. auch nur einseitig auftreten. Darüberhinaus gibt es Katarakte als Sekundärfolgen anderer ophthalmologischer und allgemeiner Grunderkrankungen wie z. B. bei chronischer Iridozyklitis, als Traumafolge oder bei länger dauernder systemischer Steroidtherapie. Eine Katarakt führt allgemein zu einer schleichenden – manch-
mal gar nicht so bewussten – Sehverschlechterung. Diese umfasst zunächst Verminderung von Kontrast- und Dämmerungssehschärfe, erhöhte Blendung bis hin zum messbaren Abfall der Sehschärfe. Die Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ergibt sich bei noch nicht operierter Katarakt aus der erreichbaren Sehschärfe mit bester Korrektur. Hier ist vor allem auf die mögliche Myopisierung bei Kernkatarakt (plötzlich wieder Lesen ohne Brille möglich) und auch eine Anisometropie bei ungleichen Linsenbefunden zu achten. Die Indikation zur Kataraktoperation wird in der Regel ab einem Abfall der Sehschärfe auf = 3) Die motorische Funktionsstufe ist unterhalb der neurologischen Funktionsstufe vorhanden und die Mehrheit der Schlüsselmuskeln unterhalb der neurologischen Funktionsstufe wurde mit einer Muskelstufe von 3 oder mehr bewertet
E = normal
Motorische und sensible Funktionsfähigkeit sind normal
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Kraft bei mind. 50 % unter Kraftgrad 3 (< 3) Die motorische Funktionsstufe ist unterhalb der neurologischen Funktionsstufe vorhanden und die Mehrheit der Schlüsselmuskeln unterhalb der neurologischen Funktionsstufe wurde mit weniger als Stufe 3 bewertet
Den Verlauf nach einer akuten Paraplegie zeigt . Tab. 23.6, wobei die Prognose einer Querschnittlähmung etwas vereinfacht dargestellt wird.
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Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
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Große sozialmedizinische Bedeutung haben die bei der Mehrzahl der Betroffenen auftretenden Schmerzen, Parästhesien, Dysästhesien und die Allodynie. Etwa 25 % aller Personen mit einer Querschnittlähmung leiden an starken Schmerzen [78]. Diese Schmerzen lassen sich selten monokausal als Folge der neurologischen Schädigung, sondern viel besser in einem bio-psycho-sozialen Modell interpretieren. Zu den drei psychosozialen Schlüsselvariablen gehören personbezogen die Einstellung und Bewertung der eigenen Schmerzen und die Coping-Strategie sowie der soziale Kontext. Als negativ hat sich in einer Reihe von Untersuchungen eine sog. katastrophisierende Haltung gezeigt [117], die durch exzessiv negative und dramatische Äußerungen bezüglich der eigenen Schmerzen gekennzeichnet ist. Unter den positiven Strategien hat sich das Durchhaltevermögen (»task persistence«) als die einzige Strategie gezeigt, die mit einer besseren Langzeitprognose korrelierte [86].
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5% D C
45 % D 5% E
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Nach Lidal, Huyn und Biering-Sorensen [67]
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung Bei der sozialmedizinischen Beurteilung kommt es sehr auf die Berücksichtigung des Kontextes an: Es gibt Patienten mit hohen Querschnittlähmungen, die berufstätig sind, und es gibt Patienten mit inkompletten Paraplegien, die nicht aus einem katastrophisierenden Schmerzerleben hinausfinden und daher nicht ins Arbeitsleben zurückkehren. Obwohl die sozialen Systeme der USA und Deutschlands nicht zu vergleichen sind, gibt eine Untersuchung aus den USA, die 20.143 Patienten mit einer Querschnittlähmung einschloss, wichtige Erkenntnisse zu den Determinanten der Rückkehr ins Arbeitsleben [83]. Hier einige Ergebnisse: 4 Die Beschäftigungsrate war bei den 27-jährigen mit 36 % am höchsten. 4 Wer keine Arbeit hat, hat schlechte Chancen, wieder in die Arbeit zurückzukehren. 4 Die Art und Höhe der Paraplegie erklärt nur einen Teil der beruflichen Prognose: 27 % der 25–30-jährigen mit einer Tetraparese waren berufstätig, 40 % in dieser Altersgruppe mit einer inkompletten Querschnittlähmung waren berufstätig. 4 Je höher die Berufsausbildung, desto besser die Chance im Arbeitsleben zu bleiben. 4 Die Investition in eine berufliche Qualifikation lohnt sich: Bei einer Ausbildung von 4 Jahren betrug der Zuwachs 10 Arbeitsjahre. 4 Arbeitslosigkeit verringert die wahrscheinliche zukünftige Lebensarbeitszeit um 30–50 %. Der Kontext »In Arbeit« oder »Arbeitslosigkeit« hat einen ebenso großen Einfluss auf die zukünftige Teilhabe am Arbeitsleben wie das Ausmaß der neurologischen Schäden. z
Positives Leistungsvermögen
Für die meisten Personen mit Paraparese kommt nur eine überwiegend sitzende Tätigkeit in Frage. Wenn ein Proband vor dem Unfall gearbeitet hat, sollte man prü-
513 23.2 · Krankheitsbilder
fen, ob nicht durch ergonomische Hilfen etc. der Arbeitsplatz umgestaltet werden kann. Bei motivierten Patienten und Unterstützung durch den Arbeitgeber können selbst schwer beeinträchtigte, jedoch motivierte Betroffene weiter arbeiten. Eine positive Einstellung kann helfen, u. U. schwerste Einschränkungen zu kompensieren. z
Negatives Leistungsvermögen
Aufgaben mit hohen Anforderungen an die Mobilität kommen fast nie infrage. Es gibt allerdings Personen mit einer Querschnittlähmung, die erfolgreich im Außendienst tätig sind. Nicht infrage kommen Tätigkeiten, die keine Veränderung der Körperposition erlauben, keine Pausen zum Selbstkatheterisieren bieten oder die Überwindungen von Barrieren erfordern. Bei Personen mit starken Schmerzen ist die quantitative Leistungsfähigkeit oft erniedrigt. z
Medizinische Rehabilitation
Im Anschluss an die akutmedizinische Behandlung ist eine neurologische Rehabilitation in einer spezialisierten Abteilung oder einem Querschnittzentrum mit neurourologischer, orthopädischer und psychosozialer Betreuung erforderlich. Deutschland verfügt über ein gutes Versorgungssystem an Paraplegie-Zentren und jeder Patient mit einer kompletten Paraplegie sollte zunächst in einem solchen Zentrum behandelt werden. Wichtig ist von Anfang an, nicht nur die Motorik, sondern auch den persönlichen Kontext der Personen mit einer Querschnittlähmung zu berücksichtigen. Schmerz ist ein Hauptproblem. Wenn man ihn auf den Begriff des »neuropathischen Schmerzes« reduziert, übersieht man die sozialen und psychologischen Faktoren. Bei Versicherten mit länger zurückliegenden Rückenmarkläsionen ist zu prüfen, ob durch Spastik, Gelenk- und Muskelbeschwerden sowie Kontrakturen Aktivitätsbeeinträchtigungen vorliegen, die durch eine neurologische Rehabilitationsbehandlung verbessert werden können. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Patienten mit einer frischen Querschnittlähmung, die nicht mehr im bisherigen Beruf arbeiten können, sollten in ein Zentrum eingewiesen werden, das für Paraplegie-Patienten spezialisiert ist und das gesamte Spektrum von der medizinisch-beruflichen Rehabilitation Phase II bis zur Umschulung anbietet. Wichtig ist, dass die Patienten mit chronischen Schmerzen eine psychologische Betreuung auch bis nach Rückkehr an den Arbeitsplatz erhalten können. Es gilt die Regel: Viel in die Teilhabe am Arbeitsleben investieren, die Kosten werden durch eine längere Lebensarbeitszeit mehr als ausgeglichen. Für das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 und die Fahrgastbeförderung besteht nach der Begutach-
tungs-Leitlinie zur Kraftfahrereignung bei relevanten motorischen Beeinträchtigungen keine Eignung. z
Erwerbsminderung
Bei hohem zervikalem Querschnitt ist zwar meist von einem aufgehobenen Leistungsvermögen auszugehen, es gibt jedoch Personen, die erfolgreich im Arbeitsleben verbleiben, z. B. mit einer Arbeitsassistenz. Wenn schwere Komplikationen autonomer Funktionen vorliegen, ist in der Regel eine Erwerbstätigkeit nicht mehr möglich. Angesichts der zahlreichen technischen Hilfsmittel, der Steuerung der Umgebung über einen Computer, stehen auch für Personen mit einer Tetraparese mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als noch vor Jahren. Bei der Frage der Erwerbsminderung kommt es darauf an, den Kontext genauso zu berücksichtigen wie die Schädigungen oder Beeinträchtigungen. Quantitativ sind Personen leistungsgemindert, die an hartnäckigen Schmerzen und Missempfindungen leiden, die Dekubitalulcera aufweisen oder davon bedroht sind und Personen, die psychologisch aus der »Katastrophenreaktion« nicht herausfinden. Personen mit einer Paraparese und erhaltener Rumpfkontrolle können sitzende Tätigkeiten verrichten. In wie weit das quantitative Leistungsvermögen bei Querschnitt im thorakalen Bereich mit Paraparese eingeschränkt ist, hängt wesentlich von der Dauer der Sitzfähigkeit und eventuellen Komplikationen ab. 23.2.4
Nicht-traumatische spinale Erkrankungen Peter Frommelt, Ottmar Leidner
Klassifikationen und Stadieneinteilungen Die nicht-traumatischen spinalen Erkrankungen stellen eine heterogene Gruppe von Krankheiten dar. Das Manifestationsalter, die klinische Symptomatik und die funktionalen Folgen sind sehr unterschiedlich. Daher gibt es auch keine einheitlichen krankheitsübergreifenden Assessmentinstrumente für die nicht-traumatischen spinalen Erkrankungen. Nicht-traumatische spinale Erkrankungen: 4 Hereditäre spinale Erkrankungen: spastische Spinalparalyse 4 Erkrankungen der Liquorzirkulation: Chiari-Malformationen und Syringomyelie 4 Entzündliche spinale Erkrankungen: Myelitis, Abzesse 4 Vaskuläre spinale Erkrankungen: spinale Ischämien, vaskuläre Malformationen 4 Spinale Tumoren
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
4 Degenerative Erkrankungen: zervikale Myelopathie 4 Metabolische spinale Erkrankungen: Vit B 12-Hypovitaminosen u. a.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen Die wichtigsten Schädigungen bei spinalen Erkrankungen sind spastische Para- oder Tetraparesen, spastisch-ataktische Gangstörungen, sensible Ausfälle und sensible Reizerscheinungen sowie Störungen der Blasen- und seltener der Mastdarmfunktionen. Bei einigen Erkrankungen wie der spastischen Spinalparalyse entwickeln sich die Symptome langsam, und viele Erkrankte bleiben trotz erheblicher Gangstörungen lange im Arbeitsleben. Bei anderen, wie bei der Myelitis, kann es zu einer akuten Querschnittlähmung kommen. Häufig geschilderte Schädigungen von Funktionen und Beeinträchtigungen der Aktivitäten sind: Unsicheres Gehen mit gehäuftem Stolpern oder Stürzen, Kraftverlust beim Gehen oder Treppensteigen und sensible Missempfindungen. Bei der Syringomyelie findet man heute selten das klassische zentrale Rückenmarkssyndrom mit der dissoziierten Empfindungsstörung. Sehr viel häufiger sind sensible Reizerscheinungen und Schmerzen ohne motorische Ausfälle. Die Entstehung dieser sensiblen Symptome und Schmerzen ist ungeklärt, was nicht dazu veranlassen sollte, sie als rein psychogen zu interpretieren. Für die Schmerzen bei den nicht-traumatischen Rückenmarkserkrankungen gelten die Überlegungen, die oben zur traumatischen Querschnittsymptomatik gemacht wurden.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Zur sozialmedizinischen Beurteilung sind die Anamnese und die klinische Untersuchung von zentraler Bedeutung. Bei der klinischen Untersuchung sollte man die Zeit für eine 10 m-Gehstrecke messen, in gewohntem Gangtempo mit üblichen Hilfsmitteln. Blasenstörungen sind hoch tabuisiert und werden dem Gutachter allenfalls dann spontan berichtet, wenn es sich um Inkontinenzformen handelt. Für die Nierenfunktion bedrohlicher sind jedoch die restharnbildenden »Hochdruck«-Störungen, insbesondere die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, die nicht selten über Jahre vesikoureteralen Reflux und rezidivierende Harnwegsinfektionen hervorruft, ohne adäquater Diagnostik und Therapie zugeführt zu werden. Aktive Exploration von Starthemmung, Doppelentleerungen und Dysurie ist das anamnestische Minimalprogramm. Sexualfunktionsstörungen müssen für sozialmedizinische Begutachtung nicht eingehend exploriert werden, können aber wichtige Hinweise auf das Schädigungsausmaß und psychosoziale Folgen bringen. Die wichtigste technische Untersuchung – sieht man von der Liquordiagnostik bei der Myelitis ab – ist die Bild-
gebung mit der MRT. Die neurophysiologische Diagnostik mit z. B. somatosensorisch evozierten Potentialen hat für eine Funktionsdiagnostik kaum eine Bedeutung, obwohl sie in fast allen Begutachtungen durchgeführt wird. Da spinale Erkrankungen auch die Bahnen des autonomen Nervensystems betreffen können, sollte man eine Prüfung der Blasenfunktion, mindestens durch RestharnBestimmung, nicht vergessen. Bei Störungen der Liquorzirkulation wie bei der Syringomyelie und der Chiari I-Malformation sind Untersuchungen der Liquorzirkulation mit der MRT in speziellen Zentren erforderlich. Bei den spinalen Tumorerkrankungen, Gefäßmalformationen und der zervikalen Myelopathie wird man in der Regel die Neurochirurgie einbeziehen. Eine psychologisch-psychiatrische Diagnostik zur Frage der Coping-Strategien bei Schmerzen ist bei über der Hälfte der Patienten erforderlich.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien Bei den spinalen Erkrankungen sind zunächst die Beeinträchtigungen des Gehens, Treppensteigens, der motorischen Ausdauer und des Gleichgewichts einzuschätzen. Weiter ist zu berücksichtigen, wie die Begutachteten durch Schmerzen, Par- und Dysästhesien beeinträchtigt sind und ob Blasenentleerungsstörungen vorliegen.
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung Da die Gehfähigkeit und alle mit der Lokomotion verbundenen Aktivitäten beeinträchtigt sein können, sollte geprüft werden, ob die Fähigkeit zum Erreichen des Arbeitsplatzes (7 Kap. 1.2.1) eingeschränkt ist. Leicht unterschätzt werden die Beeinträchtigungen aufgrund der erhöhten neuro-muskulären Ermüdbarkeit. Einige Betroffenen können zwar kurze Strecken im Wechsel zum Sitzen ohne Schwierigkeiten gehen, sie sind jedoch nicht imstande, mehrere Stunden auf den Beinen zu stehen oder zu gehen. Eine große Schwierigkeit bieten Personen mit einer Syringomyelie und Chiari I-Malformation, bei denen Symptome auftreten, die nicht der klassischen Syndromlehre entsprechen. Es gibt verschiedene ungeprüfte Hypothesen, die sich auf Störungen der Liquorpulsation beziehen, um die Schmerzen und schmerzhaften Missempfindungen neurologisch zu erklären. Das mit der ICF vertretene bio-psycho-soziale Modell ist am ehesten geeignet, die Schmerzen und sensiblen Missempfindungen zu erklären. Eine Reduktion auf den Begriff des neuropathischen Schmerzes wird der Komplexität der Funktionsbeeinträchtigung nicht gerecht [86]. Das quantitative Leistungsvermögen kann durch die Schmerzen/Parästhesien und durch die Immobilität verringert sein.
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z
Medizinische Rehabilitation
Für viele der Patienten mit einer nicht-traumatischen spinalen Erkrankung ist die Zeitspanne von vier Jahren zwischen Rehabilitationsleistungen zu lang. Jährliche oder zweijährliche Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind oft notwendig, um die Mobilität zu erhalten. Die psychologische Behandlung ist genau so wichtig wie die der sensomotorischen Beeinträchtigungen. Für manche Patienten mit einer spastischen Gangstörung kann eine Hippotherapie (Reittherapie) hilfreich sein, darauf sollte ggf. bei der Auswahl der Einrichtung geachtet werden. Für Versicherte mit einer Syringomyelie sollte eine Klinik gewählt werden, die für diese Patienten spezialisiert ist. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Es ist jeweils zu prüfen, ob durch Mobilitätshilfen und durch eine innerbetriebliche Umsetzung der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Dazu ein Beispiel: Ein Meister, der an verschiedenen Berufsschulen Schüler betreut, erhielt von der Rentenversicherung einen elektrogetriebenen Roller, auf dem er steht und fährt. Damit kann er wieder die verschiedenen Arbeitsplätze erreichen. z
Erwerbsminderung
Die neuromuskuläre Ermüdung bei einer spastischen Gangstörung kann so ausgeprägt sein, dass das quantitative Leistungsvermögen auf unter sechs Stunden reduziert ist oder auch das Erreichen des Arbeitsplatzes (7 Kap. 1.2.1) nicht möglich ist. Soweit die genannte neuromuskuläre Ermüdung dies erforderlich macht, sollte der Gutachter möglichst konkrete Vorschläge zur flexiblen Arbeitsgestaltung einschließlich Arbeitsorganisation und Pausenbedarf machen. Weiterhin können Blasen- und Mastdarmstörungen und chronische Schmerzen zu einer dauerhaften Minderung des Leistungsvermögens führen. 23.2.5
Polyneuropathien und periphere Nervenläsionen
Der zeitliche Verlauf kann unterschiedlich sein: 1. Akut, Erreichen des Erkrankungsgipfels in 4 Wochen wie beim Guillain-Barré-Syndrom 2. Subakut, Erreichen des Erkrankungsgipfels in 4–8 Wochen 3. Chronisch, benötigt mindestens 8 Wochen, um sich zu entwickeln Die Ausfallerscheinungen können sein: 1. Überwiegend sensibel (z. B. bei diabetischer distal symmetrischer Polyneuropathie) 2. Rein motorisch (z. B. bei akuten axonalen Neuropathien) 3. Sensomotorisch (z. B. bei den Charcot-MarieTooth (CMT)-Neuropathien 4. Autonom (bei verschiedenen anderen Neuropathien, selten reine autonome Neuropathie) Die zugrundliegende Pathologie lässt sich in drei Formen untergliedern: 4 Axonale Schädigungen (z. B. bei Diabetes mellitus, Alkohol, Urämie, Mangelerkrankungen oder paraneoplastisch, toxisch oder hereditär bedingt) 4 Demyelinisierende Schädigungen (Formen: Guillain-Barré-Syndrom, Chronisch entzündliche demyelisierende Neuropathie (CIPD), CharcotMarie-Tooth-Neuropathie bzw. HMSN) 4 Gemischte Schädigungen
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen In der Kategorie der Funktionen sind die häufigsten Schädigungen: 4 sensibel: Schmerzen, sensible Störungen in Form von Dysästhesien, Parästhesien, Lagesinnstörungen, 4 autonom: trophische Störungen, z. B. bei diabetischer Neuropathie, 4 motorisch: Lähmungen, Störungen der posturalen Kontrolle, ataktisch-unsicherer Gang.
Peter Frommelt, Ottmar Leidner
Klassifikationen und Stadieneinteilungen Es gibt verschiedene Formen peripherer Nervenerkrankungen: 1. Mononeuropathien 2. Multiple Mononeuropathien (Mononeuritis multiplex) 3. Symmetrische Polyneuropathien 4. Plexopathien (z. B. traumatische Läsion des Plexus brachialis, neuralgische Schulteramyotrophie, Plexus lumbosakralis-Neuritis) 5. Radikulopathien 6. Polyradikuloneuropathien
In den Kategorien der Aktivitäten und Funktionen ist die Mobilität am häufigsten beeinträchtigt. Bei Schädigungen in den oberen Gliedmaßen treten entsprechende Beeinträchtigungen der Geschicklichkeit in der Verwendung von Werkzeugen oder anderen Objekten auf. Hartnäckige Schmerzen oder Missempfindungen können Personen in ihrer gesamten Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Es gibt wenige Arbeiten zu den Auswirkungen von Polyneuropathien auf Aktivitäten und Teilhabe. Liedberg und Vrethem [68] fanden bei 72 % der Patienten mit einer Polyneuropathie Einschränkungen in beruflichen und häuslichen Aktivitäten. Diejenigen mit Schmerzen waren erheblich mehr beeinträchtigt.
23
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Entscheidend sind die Anamnese und das Bild der klinischen Untersuchung. An zweiter Stelle steht die neurophysiologische Untersuchung. »Bescheidener ist der Beitrag der Labordiagnostik« [87]. Die wichtigsten Untersuchungsinstrumente bei den Polyneuropathien sind die Ohren zum Anhören der Anamnese und die Stimmgabel zur Prüfung des Vibrationsempfindens an den Füßen. Nicht zur Routineuntersuchung gehören Liquoruntersuchungen (außer bei akuter und rezidivierender PNP), Haut- und Nervenbiopsien und die MR-Bildgebung von Wurzeln oder peripheren Nerven. Bei Verdacht auf eine Neuroborreliose sollte eine Liquor-Diagnostik einbezogen werden. Trotz umfangreicher Diagnostik bleiben etwa 20 % aller Polyneuropathien diagnostisch ungeklärt.
23
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
23
Bei der Begutachtung von Polyneuropathien und peripheren Neuropathien sollte der Gutachter prüfen, ob eine ausreichende Diagnostik zum Ausschluss von behandelbaren Ursachen durchgeführt wurde. Bei Mononeuropathien wie der des N. medianus (Carpaltunnelsyndrom) oder des N. ulnaris sollten mögliche repetitive Belastungen der Nerven am Arbeitsplatz exploriert werden. Bei der Begutachtung sollte auch geprüft werden, ob durch Hilfsmittel, wie Orthesen oder Schuhversorgungen, die Mobilität möglichst lange erhalten werden kann. Zu bedenken ist auch, dass bei schweren sensiblen und motorischen Störungen die Bedienung von Brems- und Gaspedalen im Auto eingeschränkt sein kann. Bei der Begutachtung der motorischen Ausdauer sollte man bedenken, dass die herkömmliche Prüfung der Muskelkraft mit der MRC-Gradierung (siehe 7 Kap. 23.1.2) keine Vorhersage der Ausdauerkraft von Muskeln erlaubt. Versicherte, die ein Guillain-Barré-Syndrom klinisch ohne Ausfälle überstanden haben, bemerken oft Monate später noch Einschränkungen in der muskulären Ausdauer. Medikamente wie Carbamazepin, Gabapentin, Pregabalin und trizyklische Antidepressiva sowie physikalische Anwendungen können die neuropathischen Schmerzen lindern. Bei chronischen Schmerzen ist eine rein somatische Behandlung unzureichend und sollte durch eine psychologische Schmerztherapie ergänzt werden. Eine Pharmakotherapie mit Opiaten ist bei neuropathischen Schmerzen nur sehr selten vertretbar, die ungewünschten Wirkungen werden oft unterschätzt [3].
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Spezifische sozialmedizinische Beurteilung Die rein motorischen oder sensiblen Funktionsschäden sind leichter zu beurteilen als die Beeinträchtigungen durch Schmerzen und Missempfindungen. Es gibt Perso-
nen mit einer hereditären Neuropathie, die trotz ausgeprägter Atrophie von Muskeln ganztags berufstätig sind. Andererseits gibt es Personen mit rein sensiblen Neuropathien, bei denen die Leistungsfähigkeit reduziert oder aufgehoben ist. In der Regel wird man bei einer Polyneuropathie oder einer Mononeuropathie von einer verminderten muskulären Leistung ausgehen, also keine schweren Arbeiten mehr zumuten. Auch Arbeiten auf Gerüsten und Leitern oder mit andersartiger Absturzgefahr kommen in der Regel nicht infrage. Das quantitative Leistungsvermögen wird a) durch die neuromuskuläre Ausdauer und b) durch die Schmerzen/Missempfindungen bestimmt. Bei einer Minderung des quantitativen Leistungsvermögens und einem vorhandenen Arbeitsplatz kann eine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit dazu beitragen, dass die Betroffenen länger im Arbeitsleben verbleiben. Personen mit Neuropathien sind in ihrer Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben häufig eingeschränkt in folgenden Tätigkeiten: 4 Waldarbeiten und andere Arbeiten mit erhöhter Verletzungsgefahr, 4 Berufskraftfahren, Bedienen von Baugeräten, 4 Tätigkeiten auf dem Bau o. ä. mit unebenem Grund, Kälte und Nässe, 4 Tätigkeiten, die besonderes manuelles Geschick verlangen, z. B. Dreher, auch Einschränkungen bei der Bedienung von Tastaturen. z
Medizinische Rehabilitation
Bei akuten Polyneuropathien wie dem Guillain-BarréSyndrom (GBS) ist nach einer akut-neurologischen stationären Behandlung meist eine Anschlussrehabilitation anzustreben [82]. Die Prognose ist zwar insgesamt günstig, dennoch gibt es protrahierte Rekonvaleszenzen mit einer stationären Rehabilitationsdauer von mehreren Monaten (und einer dann erfolgreichen Rückkehr in die Arbeit). Bei den diabetischen Neuropathien steht die Behandlung des Diabetes mellitus im Vordergrund. Liegen Beeinträchtigungen auf Grund der Neuropathie (z. B. starke Schmerzen, Gangunsicherheit, Sensibilitätseinbußen) vor, kann eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation indiziert sein. In dem Stadium eines Diabetes mellitus, in dem die Polyneuropathien zu Schädigungen führen, muss man auch mit anderen neurologischen Komplikationen des Diabetes mellitus rechnen, wie kognitiven Beeinträchtigungen durch mikrovaskuläre zerebrale Durchblutungsstörungen. Bei alkoholtoxischen Polyneuropathien steht die Suchtbehandlung vor der neurologischen Rehabilitation. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen/Missempfindungen ist eine Rehabilitationseinrichtung zu wählen, die über eine ausgewiesene psychologische Schmerztherapie verfügt.
517 23.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 23.7 Expanded Disability Status Score (EDSS) 0.0
Normale neurologische Untersuchung (Grad 0 in allen funktionellen Systemen)
1.0
Keine Behinderung, minimale Abnormität in einem funktionellen System (ein FS Grad 1, davon ausgenommen ist Grad 1 im FS Psyche/Mentale Funktionen)
1.5
Keine Behinderung, minimale Abnormität in mehr als einem FS (mehr als ein FS Grad 1, davon ausgenommen ist Grad 1 im FS Psyche/Mentale Funktionen)
2.0
Minimale Behinderung in einem FS (ein FS Grad 2, andere 0 oder 1)
2.5
Minimale Behinderung in zwei FS (zwei FS Grad 2, andere 0 oder 1)
3.0
Mäßiggradige Behinderung in einem FS (ein FS Grad 3, andere 0 oder 1) oder leichte Behinderung in drei oder vier FS (3 oder 4 FS Grad 2, andere 0 oder 1), aber voll gehfähig
3.5
Voll gehfähig, aber mit mäßiger Behinderung in einem FS (Grad 3) und ein oder zwei FS Grad 2; oder zwei FS Grad 3; oder fünf FS Grad 2 (andere 0 oder 1)
4.0
Gehfähig ohne Hilfe und Rast für mindestens 500 m. Aktiv während ca. 12 Stunden pro Tag trotz relativ schwerer Behinderung (ein FS Grad 4, übrige 0 oder 1)
4.5
Gehfähig ohne Hilfe und Rast für mindestens 300 m. Ganztägig arbeitsfähig. Gewisse Einschränkung der Aktivität, benötigt minimale Hilfe, relativ schwere Behinderung (ein FS Grad 4, übrige 0 oder 1)
5.0
Gehfähig ohne Hilfe und Rast für etwa 200 m. Behinderung schwer genug, um tägliche Aktivität zu beeinträchtigen (z. B. ganztägig zu arbeiten ohne besondere Vorkehrungen). Ein FS Grad 5, übrige 0 oder 1; oder Kombination niedrigerer Grade, die aber über die für Stufe 4.0 geltenden Angaben hinausgehen
5.5
Gehfähig ohne Hilfe und Rast für etwa 100 m. Behinderung schwer genug, um normale tägliche Aktivität unmöglich zu machen (FS Äquivalente wie Stufe 5.0)
6.0
Bedarf intermittierend, oder auf einer Seite konstant, der Unterstützung (Krücke, Stock, Schiene), um etwa 100 m ohne Rast zu gehen. FS-Äquivalente: Kombinationen von mehr als zwei FS Grad 3 plus
6.5
Benötigt konstant beidseits Hilfsmittel (Krücke, Stock, Schiene), um etwa 20 m ohne Rast zu gehen (FS-Äquivalente wie 6.0)
7.0
Unfähig, selbst mit Hilfe, mehr als 5 m zu gehen. Weitgehend an den Rollstuhl gebunden. Bewegt den Rollstuhl selbst und transferiert ohne Hilfe (FS-Äquivalente: Kombinationen von mehr als zwei FS Grad 4 plus, selten Pyramidenbahn Grad 5 allein)
7.5
Unfähig, mehr als ein paar Schritte zu tun. An den Rollstuhl gebunden. Benötigt Hilfe für Transfer. Bewegt Rollstuhl selbst, aber vermag nicht den ganzen Tag im Rollstuhl zu verbringen. Benötigt eventuell motorisierten Rollstuhl (FSÄquivalente wie 7.0)
8.0
Weitgehend an Bett oder Rollstuhl gebunden; pflegt sich weitgehend selbstständig. Meist guter Gebrauch der Arme (FS-Äquivalente: Kombinationen meist von Grad 4 plus in mehreren Systemen)
8.5
Weitgehend ans Bett gebunden, auch während des Tages. Einigermaßen nützlicher Gebrauch der Arme, einige Selbstpflege möglich (FS-Äquivalente wie 8.0)
9.0
Hilfloser Patient im Bett. Kann essen und kommunizieren (FS-Äquivalente sind Kombinationen, meist Grad 4 plus)
9.5
Gänzlich hilfloser Patient. Unfähig zu essen, zu schlucken oder zu kommunizieren (FS-Äquivalente sind Kombinationen von fast lauter Grad 4 plus
10.0
Tod infolge MS
Nach KURTZKE [61]
z
Teilhabe am Arbeitsleben
Eine besondere Gruppe unter den Patienten sind die mit einer hereditären Neuropathie. Sie können sich mit einer oft schon weitgehend atrophierten Muskulatur der Beine erstaunlich gut fortbewegen. Diese Personen sind gefährdet, ihre noch in geringem Umfang vorhandene und neurogen umgebaute Muskulatur zu überfordern. Diese und andere Versicherte mit chronischen Neuropathien benö-
tigen eine Beratung hinsichtlich ergonomischer und Mobilitätshilfen. Bei Fortschreiten des neuromuskulären Kraftverlusts ist an weitere Hilfen zu denken: 4 Arbeitsassistenz, 4 Kraftfahrzeughilfe, 4 Umschulung,
23
518
Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
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4 soweit möglich Umsetzung am Arbeitsplatz, ggf. verbunden mit Zusatzqualifizierung.
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Erwerbsminderung
Je schwerer die sensomotorischen Ausfälle, desto eher ist das quantitative Leistungsvermögen aufgehoben oder reduziert. Wenn ein Versicherter in der Postakutphase nach einem Guillain-Barré-Syndrom noch nicht ohne Hilfsmittel oder Hilfsperson gehen kann, so kann man von einem aufgehobenen Leistungsvermögen zunächst für einen begrenzten Zeitraum ausgehen. Wenn nach 2 Jahren keine Besserung eingetreten ist, wird man eine dauerhafte Einschränkung annehmen. Wenn bei einer diabetischen Polyneuropathie schon ein diabetisches Fußsyndrom aufgetreten ist, ist die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben aufgehoben (siehe 7 Kap. 12). Für Personen mit mittelschweren Funktions- und Aktivitätseinschränkungen und einer Minderung des quantitativen Leistungsvermögens auf 3 bis unter 6 Stunden kann bei erhaltenem Arbeitsplatz eine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit den Verbleib im Arbeitsleben ermöglichen. Zu berücksichtigen sind die Anforderungen an die freie Gehstrecke bzw. die Fähigkeit, den Arbeitsplatz zu erreichen (siehe 7 Kap. 1.2.1).
23.2.6
Multiple Sklerose Peter Frommelt, Ottmar Leidner
Klassifikationen und Stadieneinteilungen Die Encephalomyelitis disseminata gilt in Nord- und Mitteleuropa als die häufigste neurologische Erkrankung des frühen und mittleren Erwachsenenalters. Die Erkrankung manifestiert sich durch vielfältige klinische Erscheinungsformen. Bei etwa 90 % der Betroffenen findet sich zunächst ein schubförmiger Krankheitsverlauf. Bei 10 % ist der Verlauf primär chronisch-progredient; dazu gehört auch die Sonderform des progredienten zerebellären Syndroms. Zur Dokumentation des Verlaufs ist international die Kurtzke-Skala, EDSS (Expanded Disability Status Score) gebräuchlich (. Tab. 23.7). Die Angaben der Grade beziehen sich auf die Untersuchung der funktionellen Systeme (FS). Die Konstruktvalidität des EDSS lässt sich anzweifeln, da Funktionen und Aktivitäten in einer Skala vermengt werden und es handelt sich um eine OrdinalSkalierung, bei der die Abstände keinesfalls gleich sind, wie die numerischen Skalen suggerieren.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen Hervorzuheben sind unter den Funktionsstörungen die Einschränkungen in der Mobilität, dem Handgebrauch und der Blasenfunktionen. Etwa 75 % der an MS Erkrankten klagt über eine abnorme Ermüdbarkeit und bei ca. 50 % bestehen Einschränkungen in mentalen Funktionen. Bemerkenswert ist der hohe Anteil (70 %) von Patienten, die leichte oder schwere (23 %) depressive Symptome aufweisen [48]. Bei fast der Hälfte aller Patienten mit einer MS bestehen Einschränkungen in kognitiven Fähigkeiten wie der Konzentration, der Umstellung, des Gedächtnisses und in exekutiven Funktionen, dazu gehören Planung und Umsichtigkeit [45]. Unter den positiven Kontextfaktoren wurde in der Studie von Holper und Mitarbeitern bei 97 % die Unterstützung durch die Familie hervorgehoben. Am häufigsten unter den negativen Umweltfaktoren wurde die Hitze genannt.
Spezielle Diagnostik und Sachaufklärung Grundlage ist die neurologisch-psychiatrische Anamnese und Untersuchung, die ggf. durch eine (neuro-)psychologische Einschätzung zu ergänzen ist. Die Beurteilung der Sehfähigkeit kann zusätzlich eine augenärztliche und neurovisuelle Untersuchung erforderlich machen. Zur Zuordnung von Beschwerden und Krankheitsaktivität können evozierte Potentiale, Liquordiagnostik und MRT beitragen, auch im Rahmen der neuen McDonald-Kriterien [18]. Für die Leistungseinschätzung sind sie meist entbehrlich.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien . Tab. 23.8 gibt eine Übersicht über die Faktoren, die den Krankheitsverlauf beeinflussen. Weiterhin sollte man bei der Begutachtung folgende Aspekte berücksichtigen: 4 Wie sind körperliche und psychische Energie und Belastbarkeit? 4 Liegt eine depressive Störung vor? 4 Welche Einstellungen, welche Hoffnung, welche positiven Persönlichkeitszüge bringt der Begutachtete mit? 4 Liegen Einschränkungen in der Aufmerksamkeit, im Gedächtnis und im Problemlösen vor? 4 Gibt es medizinische Komplikationen, z. B. von Seiten der Blasenfunktion? 4 Welche fördernden oder hinderlichen Kontextfaktoren bestehen? 4 Kann die Person Hitze vertragen? Ein narrativer Zugang, bei dem der Proband mit einer MS aus seiner Sicht den Verlauf schildert, ist am ehesten geeignet, den persongebundenen Kontext und natürlich auch den Kontext von Familie und Beruf zu verstehen.
519 23.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 23.8 Faktoren, die den Krankheitsverlauf bei Multipler Sklerose beeinflussen Prognostisch eher günstig
Prognostisch eher ungünstig
Monosymptomatischer Beginn
Polysymptomatischer Beginn
Rein sensible Symptome
Motorische und zerebelläre Symptome
Kurze Schübe
Lang dauernde Schübe
Gute Rückbildung der Schübe
Schlechte Rückbildung der Schübe
Erkrankung vor dem 35. Lebensjahr
Späterer Beginn der Erkrankung
Keine intrathekale IgGProduktion
Intrathekale IgG-Produktion
Initial geringe Anzahl von Läsionen im MRT
Große Anzahl von MRTLäsionen
initiieren oder ob die Schwierigkeit darin liegt, die notwendige Energie zum Erledigen einer Aufgabe aufzubringen. Eine evidenzbasierte Therapie gibt es bisher nicht [109]. Bei der sozialmedizinischen Beurteilung im Einzelfall nützen epidemiologische Daten zum Verlauf der MS wenig. Viele Betroffene möchten im Arbeitsleben verbleiben und die Ermüdbarkeit verbunden mit Nachlassen von Konzentration und Aufmerksamkeit sowie Nachlassen der körperlichen Ausdauer sind die begrenzenden Faktoren der Leistungsfähigkeit. Wenn bei einer Minderung des quantitativen Leistungsvermögens auf 3 bis unter 6 Stunden die Möglichkeit zur Reduzierung der täglichen Arbeitszeit besteht, bedeutet dies für viele Personen mit einer MS eine große Erleichterung und verlängert den Verbleib im Erwerbsleben. z
Nach Rieckmann und Mäurer [90]
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung Bei etwa 90 % der Betroffenen findet sich zunächst ein schubförmiger Krankheitsverlauf. Innerhalb von ein bis zwei Monaten bildet sich die Symptomatik bei der Mehrzahl der Schübe zurück. Ein neurologisches Defizit, das länger als 6 Monate andauert, bleibt meistens bestehen, jedoch kann bei etwa 10 % der Betroffenen auch noch nach 6 Monaten mit einer Besserung gerechnet werden. Nach einer durchschnittlichen Krankheitsdauer von 10 bis 15 Jahren gehen etwa 50 % der schubförmigen Verläufe in die sekundär progrediente Verlaufsform über. Während die motorischen Einschränkungen offensichtlich und daher in der sozialmedizinischen Beurteilung wenig problematisch sind, lassen sich die Beeinträchtigungen durch die pathologische Ermüdbarkeit, meist als Fatigue bezeichnet, oft nur schwer erfassen. Fatigue wird definiert als ein subjektiver Mangel an physischer oder mentaler Energie, der vom Betroffenen oder einer Bezugsperson wahrgenommen wird und der mit den Aktivitäten des täglichen Lebens interferiert [56]. Nach den Erfahrungen der Autoren ist die abnorme Ermüdbarkeit die Folge einer MS, die für die Leistungsbeurteilung das größte Gewicht hat. Das Problem liegt darin, dass sie sich nicht objektiv messen lässt, sondern – wie die Definition oben beschreibt – subjektiv ist. Beide, die körperliche (»periphere«) Ermüdung – z. B. durch Wärme beim UhthoffPhänomen – und die neurogene (»zentrale«), lassen sich klinisch nicht voneinander trennen. Es gibt eine Reihe von Skalen, um eine Vergleichbarkeit von Fatigue zu ermöglichen. In keiner dieser Skalen wird unterschieden, ob der Patient Schwierigkeiten hat, eine anstrengende Aufgabe zu
Positives Leistungsvermögen
Für die Beurteilung der Anforderungen des Arbeitsplatzes sind bei Versicherten mit Encephalomyelitis disseminata neben körperlicher Beanspruchung und Arbeitsorganisation vor allem die Erfordernisse an die psychomentale Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Arbeitsschwere sind abhängig vom Krankheitsverlauf leichte, in einigen Fällen auch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten zumutbar. Die Tätigkeiten sollten in Tagesschicht vorwiegend im Sitzen und in klimatisierten Räumen ausgeübt werden. z
Negatives Leistungsvermögen
Die Beeinträchtigungen von Funktionen und Aktivitäten sind individuell sehr verschieden, daher lassen sich keine schematischen gutachterlichen Empfehlungen geben. Für folgende Tätigkeiten ist das qualitative Leistungsvermögen häufig eingeschränkt: 4 Körperlich mittelschwere und schwere Arbeiten, 4 Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, wenn Gleichgewichtsstörungen vorliegen, 4 Arbeiten in Hitze (gelegentlich auch in Kälte oder wechselnder Temperatur), 4 Tätigkeiten mit hoher psychischer Belastung (man denke an die Häufigkeit depressiver Störungen in dieser Gruppe von Probanden), 4 Tätigkeiten unter ständigem Zeitdruck, dazu gehören auch Tätigkeiten, die körperlich leicht sind, wie in einem Call-Center, 4 die Leistungsfähigkeit bei Berufskraftfahrern muss individuell eingeschätzt werden, es gibt Kraftfahrer mit geringen Einschränkungen und nicht wesentlich erhöhtem Unfallrisiko. Wenn es gelegentlich sensible Symptome gibt, ist dies kein Grund, die Leistungsfähigkeit zu verneinen, wenn Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit nicht eingeschränkt sind.
23
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
23
Tätigkeiten in Räumen mit erhöhter Temperatur oder Tätigkeiten im Freien bei Sonneneinstrahlung können zu einer Verschlechterung der körperlichen Kraft und des Sehvermögens führen (Uhthoff-Phänomen). Daher sollte man prüfen, ob ein klimatisch ungünstiger Kontextfaktor vorliegt. Nicht selten sind Patienten mit einer MS in ihrer visuellen Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Bei einer Retrobulbärneuritis verbleiben oft Einschränkungen, wie ein vermindertes Kontrastsehen oder eine visuelle Ermüdbarkeit, die sich in einer einfachen Visusprüfung nicht manifestieren. Die Betroffenen sind eingeschränkt, ganztägig am Bildschirm zu arbeiten. Manchmal sind ergonomische Anpassungen hilfreich. Das quantitative Leistungsvermögen ist häufig reduziert auf eine unter 6-stündige tägliche Arbeitszeit.
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z
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Medizinische Rehabilitation
Im Krankheitsschub ist primär eine akutmedizinische ambulante oder stationäre Behandlung notwendig. Im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt kann eine neurologische Rehabilitationsbehandlung als Anschlussrehabilitation (AHB) erforderlich sein. Auch im schubfreien Intervall beziehungsweise bei progredientem Verlauf kommt rehabilitativen Leistungen zur Reduktion vorhandener Defizite und zum Erhalt des Restleistungsvermögens eine wesentliche Bedeutung zu [107]. Sofern eine immunmodulatorische Behandlung indiziert ist, sollte diese vor Beginn der Rehabilitationsleistung eingeleitet werden. Die Wirksamkeit der Neurorehabilitation für Patienten mit MS ist belegt [54, 107]. Die Rehabilitation wirkt über eine Verbesserung von Kompensationsstrategien, die Vermittlung von Coping-Strategien sowie durch Training und Konditionssteigerung. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Vorrangig ist zu prüfen, ob durch Hilfsmittel, Arbeitshilfen oder Gestaltung des Arbeitsplatzes ein Verbleiben am selben Arbeitsplatz oder im gleichen Berufsfeld möglich ist. Ist der Versicherte nicht mehr imstande, in seinem bisherigen Beruf zu arbeiten, so sollte zunächst versucht werden, ein verwandtes Berufsfeld zu finden. Die persönliche Neigung zu einer anderen Tätigkeit und die Selbstüberzeugung, erfolgreich eine neue Arbeit aufzunehmen, sind prognostisch günstig für den Erfolg. Nach Möglichkeit sollen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben am Wohnort oder in Wohnortnähe erbracht werden. Aus- und Weiterbildungen können direkt in Betrieben bzw. in enger Kooperation mit diesen durchgeführt werden, die Praxisnähe ist im Sinne einer beruflichen Eingliederung vielversprechend. Wenn es nach Art oder Schwere der Behinderung oder zur Sicherung des Erfolges erforderlich ist, werden die Leistungen auch in
entsprechenden Einrichtungen, wie z. B. Berufsförderungswerken, durchgeführt. Bei Vorliegen erheblicher Gangstörungen können Leistungen der Kraftfahrzeughilfe erforderlich werden. Sollten zusätzlich Sehstörungen vorliegen, so können Beförderungshilfen im Rahmen der Kraftfahrzeughilfe in Erwägung gezogen werden. Bei MS-bedingten Sehstörungen, wie Diplopie oder vermindertem Kontrastsehen sind manchmal ergonomische Bildschirmanpassungen sinnvoll, überwiegende Bildschirmtätigkeit ist in der Regel nicht mehr möglich. Wegen der Hitzeempfindlichkeit (Uhthoff-Phänomen) ist manchmal eine Umsetzung unumgänglich. Es sei darauf hingewiesen, dass der Arbeitgeber nach der Arbeitsstättenverordnung für ein gesundheitlich zuträgliches Raumklima zu sorgen hat. Von großer Bedeutung für den Erhalt der Leistungsfähigkeit sind Flexibilität der Arbeitszeit, die Möglichkeit einer variablen Gestaltung der Arbeitsabläufe sowie ggf. erforderlicher Pausen. Die vorzeitige Erschöpfbarkeit ist, wie schon betont, eine kardinale Funktionseinschränkung bei der Multiplen Sklerose. z
Erwerbsminderung
Die epidemiologischen Daten lassen für den Einzelfall keine Prognose zur Erwerbsminderung zu. Bei Personen mit einer Multiplen Sklerose kann die Teilhabe am Erwerbsleben oft dadurch erhalten werden, dass sie die tägliche Arbeitszeit reduzieren, wenn sensomotorische oder mentale Funktionseinbußen zu Überforderung führen. Bei einer festgestellten Leistungsminderung auf 3 bis unter 6 Stunden besteht Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, um den Einkommensverlust auszugleichen. Das beugt oft dem Arbeitsplatzverlust vor. Psychologische Tests können Hinweise auf eine erhöhte Ermüdbarkeit geben, ihre ökologische Validität für die Ermüdbarkeit im beruflichen Alltag ist bisher nicht nachgewiesen. Die Einschätzung des quantitativen Leistungsvermögens kann nie auf einem Testwert beruhen, allerdings kann ein Testergebnis ein Mosaikstein eines gutachterlichen Gesamtbilds sein. Nach einem MS-Schub ist oft eine Erholungsphase von Wochen oder wenigen Monaten notwendig. Unter Berücksichtigung des bisherigen Verlaufs ist bei bislang rein schubförmig verlaufener MS mit annähernd vollständigen Remissionen zu beachten, ob nicht eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit im Sinne des SGB V vorliegt. Eine abschließende Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben sollte erst erfolgen, wenn funktionale Verbesserungen nicht mehr zu erwarten sind.
521 23.2 · Krankheitsbilder
23.2.7
Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems Peter Frommelt, Ottmar Leidner
Klassifikationen und Stadieneinteilungen Da es seit 2000 keine generelle Meldepflicht für Meningitiden und Enzephalitiden mehr gibt, sind keine aktuellen epidemiologischen Daten in Deutschland vorhanden. Bei entzündlichen Erkrankungen des ZNS wurden im Jahr 2009 849 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung abgeschlossen [15]. Die infektiösen Erkrankungen des ZNS werden nach den Erregern klassifiziert: bakteriell, viral, mykotisch, parasitär. Aufgrund der Heterogenität der Erkrankungen gibt es keine für entzündliche ZNS-Erkrankungen gebräuchlichen Skalen. Virale Meningoenzephalitiden sind häufiger als bakterielle Meningitiden. Ein besonderes Problem stellt die Neuroborreliose dar, da sie wahrscheinlich überdiagnostiziert wird. Es ist umstritten, ob es nach ausreichender Antibiotika-Therapie ein sog. »Post-Lyme-Syndrom« gibt [52]. Die Beschwerden von Patienten, die überzeugt sind, an einer chronischen Borreliose zu leiden, sind subjektiv real – nur sind sie nicht allein biomedizinisch, sondern im biographischen und sozialen Kontext zu interpretieren.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen Nach einer bakteriellen Meningitis bestehen bei bis zu einem Drittel der Betroffenen langanhaltende neurologische Ausfälle. Bei der Meningokokken-Meningitis behalten etwa 15 % der Betroffenen eine Hörminderung oder fokale neurologische Ausfälle wie eine Hemiparese oder ein Aphasie. Bei etwa einem Drittel bleiben kognitive Ausfälle, mehr noch bei den Patienten mit einer Pneumokokken- als nach einer Meningokokken-Meningitis. Die kognitiven Einschränkungen scheinen sich auch nach Jahren nicht wesentlich zu bessern [95]. Bei einer Herpes-Enzephalitis steht oft die Schädigung von Gedächtnisfunktionen im Vordergrund, oft verbunden mit einer Temporallappenepilepsie. Eine neurologisch oder durch Tests schwer fassbare, jedoch häufige und stark beeinträchtigende Folge von Meningoenzephalitiden ist eine langanhaltende Minderung der psychischen und körperlichen Energie.
Spezielle Diagnostik und Sachaufklärung Wenn die Probanden zur sozialmedizinischen Begutachtung kommen, ist in der Regel die Diagnostik bereits abgeschlossen. Wo Zweifel an der Diagnose bestehen oder wo der Gutachter Hinweise hat, dass ein entzündlicher Prozess, wie bei einer chronischen Meningitis, nicht abgeschlossen ist, sollte eine neurologische Diagnostik ver-
anlasst werden. Dies gilt auch für differentialdiagnostische Fragen wie die einer Meningeosis carcinomatosa. Bei der Frage der Neuroborreliose gibt es häufig in den Vorbefunden widersprüchliche Auffassungen und der Gutachter sollte sich bei der Übernahme einer Diagnose an den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie orientieren [18]. Bei der Begutachtung der eher »weichen« Symptome nach einer Meningoenzephalitis kann die stationäre Aufnahme in eine Rehabilitationsklinik auch durch eine Belastungserprobung ein klareres Bild der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ergeben als eine ambulante Diagnostik.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien und spezifische sozialmedizinische Beurteilung In den ersten beiden Monaten nach einer Meningoenzephalitis ist häufig noch keine valide sozialmedizinische Beurteilung möglich, da die Rekonvaleszenz noch nicht abgeschlossen ist. Die Begutachtung sollte besonders auf die Belastbarkeit hinzielen, die sich am besten in Arbeitsoder Belastungserprobungen feststellen lässt. Auch die neuropsychologischen Belastungstests sind methodisch fragwürdig, da die Korrelation mit realen Arbeitsbedingungen bisher nicht untersucht wurde. Auch wenn der Begriff der »Pseudoneurasthenie« in der Nervenheilkunde aus der Mode gekommen ist, beschreibt er doch treffend die Mischung aus Ermüdbarkeit, Reizbarkeit, allgemeiner Erschöpfbarkeit, die Personen nach einer Meningoenzephalitis erleben. Es gibt empirische Hinweise, dass neuroimmunologische Faktoren eine Rolle spielen – postinfektiöse Erschöpfbarkeit stellt wohl ein typisches biopsycho-soziales Problem dar [9]. z
Medizinische Rehabilitation
Neurologisch finden sich bei den meisten Betroffenen keine fokalen Ausfälle. Man sollte jedoch gezielt die oft mindestens so gravierenden oben erwähnten »pseudoneurasthenischen« Symptome beachten. Nach Abklingen der Akutsymptomatik kann oft die Notwendigkeit für eine medizinische Rehabilitation gegeben sein. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Die Erfahrung zeigt, dass sich nicht wenige Patienten nach der Erholung der körperlichen Funktionen überschätzen. Daher sollte die Dauer der Arbeitsunfähigkeit nicht zu knapp bemessen werden, und Zeiträume von drei bis sechs Monaten nach dem Ereignis sind in der Regel als Rekonvaleszenz erforderlich. Die Rückkehr in das Arbeitsleben kann stufenweise erfolgen. In den ersten Monaten sollten die Probanden nicht in Nachtschichten eingesetzt werden. Bei schweren neuropsychologischen Schädigungen, wie bei einer amnestischen Störung nach
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
einer Herpes-Enzephalitis, ist in Einzelfällen eine neuropsychologische Betreuung und Begleitung bei der Rückkehr in das Arbeitsleben erforderlich. Es kann nützlicher sein, die Neuropsychologen an den Arbeitsplatz und nicht den Versicherten zum Neuropsychologen zu schicken. z
Erwerbsminderung
Nur bei schweren entzündlichen Erkrankungen, wie der tuberkulösen oder der Herpes-Simplex-Enzephalitis wird die Leistungsfähigkeit für das Erwerbsleben ganz aufgehoben sein. Häufig allerdings ist das quantitative Leistungsvermögen vorübergehend reduziert.
23 23.2.8
23 23
PARKINSON-Syndrom und andere Bewegungsstörungen Peter Frommelt, Ottmar Leidner
Klassifikationen und Stadieneinteilungen
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Phasen sind in der sozialmedizinischen Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung nur selten von Relevanz und werden daher hier nicht erörtert. Die Prognosestudien sind recht heterogen, wobei einige prognostische Faktoren sich herausschälen lassen [70]: 4 Die motorischen Befunde zu Beginn sind Prädiktoren für den weiteren Verlauf. 4 Das Fehlen von Tremor zu Beginn der Erkrankung ist prognostisch eher ungünstig. 4 Ein höheres Alter bei Beginn ist prognostisch ungünstiger. 4 Kognitive Einschränkungen zu Beginn sind prognostisch ungünstiger sowohl hinsichtlich der mentalen als auch der motorischen Funktionen. 4 Geschlecht und familiäre Vorgeschichte haben keine Bedeutung.
Zu den häufigsten Bewegungsstörungen gehören primäres Parkinson-Syndrom, essenzieller Tremor und Dystonien. Andere Parkinson-Syndrome, wie die vaskulären Parkinson-Syndrome, auch Lower-body Parkinsonism genannt, oder die verwandte Progressive Supranukleäre Blickparese (Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom) sind in der sozialmedizinischen Begutachtung sehr selten und werden daher nicht berücksichtigt. Primäres PARKINSON-Syndrom. Vier motorische Kardinal-
symptome kennzeichnen das primäre Parkinson-Syndrom: 1. Ruhetremor bei 70–90 % der Patienten, 2. Bradykinese bei 80–90 % der Patienten, dazu gehört auch die Dysarthrophonie, 3. Rigidität bei > 90 %, 4. Posturale Instabilität. Etwa 20 % der Betroffenen erkranken vor dem 50. Lebensjahr. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 50 bis 60 Jahren. Die Parkinson-Syndrome verschiedener Ätiologie verlaufen mit Ausnahme der medikamentös induzierten Formen in der Regel progredient. Die medikamentöse Therapie kann die Symptome lindern; ob der gesamte Verlauf beeinflusst wird, ist offen. In der Mehrzahl sind die Betroffenen nach 10 Jahren Krankheitsverlauf erheblich in ihrer Selbstständigkeit im Alltag beeinträchtigt. Die Lebenserwartung ist etwa 10 Jahre geringer als in der Allgemeinbevölkerung. Die Lebenserwartung eines Patienten, der mit 25–39 Jahren erkrankt, liegt bei durchschnittlich 38 weiteren Jahren [111]. Die Komplikationen im späteren Krankheitsverlauf sind motorische wie Fluktuationen und Dystonien sowie neuropsychiatrische Symptome wie Psychosen und demenzielle Entwicklungen. Diese späten
Dystonien. Dystonien sind gekennzeichnet durch unwillkürliche Anspannungen von Muskelgruppen, die meist zu langsamen, oft verdrehenden Bewegungen in den Gliedmaßen oder zur unwillkürlichen Anspannung von Larynxund Pharynxmuskeln führen. Man unterscheidet auf eine Körperregion beschränkte fokale, von segmentalen mit zwei aneinandergrenzenden betroffenen Regionen und generalisierte Dystonien. Die häufigste fokale Dystonie, die zervikale Dystonie, hat eine Prävalenz von etwa 6/100.000 in der Bevölkerung. Die generalisierten idiopathischen Dystonien, die seit der Kindheit bestehen, werden oft fälschlich als spastische Störungen bezeichnet. Daher wird auch die notwendige Prüfung, ob eine Dopa-responsive Dystonie vorliegt, unterlassen. Personen mit generalisierten Dystonien sind oft schwer in ihrer Mobilität und damit in der Teilhabe am öffentlichen und Berufsleben beeinträchtigt. Leider werden viele dieser Personen trotz ihrer guten Intelligenz nicht hinreichend gefördert und unterstützt, um am allgemeinen Arbeitsleben teilzunehmen. Eine besondere Form der Dystonien sind die aufgabenspezifischen Dystonien, die durch berufliche Beanspruchung ausgelöst werden können. Dazu gehören der Schreibkrampf oder die Musiker-Dystonien, bei denen es zu einem Verlust der Feinbeweglichkeit durch Kokontraktionen kommt. Es gibt einige Untersuchungen zur Auswirkung einer Dystonie auf die Berufstätigkeit. Eine Arbeit von Molho et al. [77] zeigte, dass die Dystonie bei 53 % negative Auswirkungen hatte: 31 % reduzierten die tägliche Arbeitszeit, 19 % verloren ihre Arbeit. Ein negativer Prädiktor waren Nackenschmerzen. Eine lokale Therapie mit Botulinumtoxin brachte eine entscheidende Verbesserung der beruflichen Prognose. Andere Arbeiten fanden, dass diejenigen mit einer zervikalen Dystonie am meisten Schwierigkeiten hatten, im Beruf zu bleiben, die keinen sensorischen Trick (»geste antagoniste«) zur Verfügung hatten [98]. Fo-
523 23.2 · Krankheitsbilder
kale Dystonien sprechen häufig gut auf eine – nicht duldungspflichtige – Botulinumtoxin-Therapie an.
. Tab. 23.9 Nicht-motorische Funktionseinschränkungen beim primären PARKINSON-Syndrom
Essenzieller Tremor. Der essenzielle Tremor gehört zu
Kategorie
Symptome
Kommentare
Mentale Funktionen
5 Depression (50 %) 5 Angst 5 Kognitive Funktionen (bis 50 %) 5 Psychose (15–40 % bei Patienten, die PARKINSONMedikamente einnehmen) 5 Verwirrtheitszustände
Neuropsychiatrische Symptome können die Funktionsfähigkeit in gleichem Ausmaß wie die motorischen Schädigungen beeinträchtigen. Kognitive Einschränkungen können schon früh im Verlauf auftreten.
ImpulsKontrollStörungen
5 Zwanghaftigkeit 5 Pathologisches Spielen 5 Kaufzwang
Etwas häufiger als in der Bevölkerung
Autonome Störungen
5 Dysphagie 5 Hypersalvation 5 Gastrointestinale Motilität vermindert 5 Blasenstörungen, Pollakisurie 5 Sexuelle Störungen
Schon früh können autonome Störungen auftreten.
Sensorische/ Sensible Störungen
5 Riechstörungen (70–100 %) 5 Parästhesien und Schmerzen
Riechstörungen sind ein früher Marker, bessern sich nicht unter PARKINSON-Therapie.
Sonstige
5 Ermüdbarkeit
den häufigsten neurologischen Erkrankungen. Das Kennzeichen ist ein Halte- und Aktionstremor meist der Arme und des Kopfes. Bei emotionaler Anspannung nimmt der Tremor, wie andere zentrale Bewegungsstörungen, zu.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die klinischen Kriterien für eine Parkinson-Krankheit sind [64]: Bradykinese (sollte geprüft werden durch tippende oder Klavierspielbewegungen der Finger, den Daumen die Fingerkuppen berühren lassen oder ähnliche schnelle Wechselbewegungen) plus zumindest ein weiteres Symptom aus der Liste: 4 Rigidität, 4 4–6 Hz Ruhetremor, 4 posturale Instabilität, die nicht visuell, vestibulär oder durch periphere propriozeptive Störungen erklärt ist. Die Diagnose einer Parkinsonerkrankung ist nicht einfach zu stellen, da sie schleichend beginnt und es eine breite Differenzialdiagnose gibt. Daher sollte vor der sozialmedizinischen Begutachtung eine fachärztliche Untersuchung erfolgt sein. Sowohl bei Parkinson-Patienten als auch bei Patienten mit Dystonie und essenziellem Tremor sind bei sorgfältiger Indikationsstellung die Erfolge von tiefer Hirnstimulation bemerkenswert. Allerdings dürfte es sich nur ausnahmsweise um Personen handeln, die wieder in die Arbeit zurückkehren. Die Verwechslung von essenziellem Tremor und Parkinson-Tremor ist auch bei erfahrenen Neurologen möglich, da beide nicht immer lehrbuchartig erscheinen und mancher depressive Patient mit einem essenziellen Tremor sich so langsam und gebunden bewegt, dass eine Parkinson-Erkrankung möglich erscheint.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen und Begutachtungskriterien Primäres PARKINSON-Syndrom. Beim Parkinson-Syndrom prägen neben den motorischen Kardinalsymptomen Rigor, Tremor, Akinese und posturale Instabilität mit forschreitendem Verlauf zunehmend vegetative und sensorische Symptome, Schlafstörungen und kognitive Störungen das Krankheitsbild. Besonders Schmerzen, Schlafstörungen und Depressionen beeinträchtigen die Lebensqualität erheblich. Die folgende . Tab. 23.9 gibt eine Übersicht über nicht-motorische Einschränkungen bei Personen mit einer Parkinson-Krankheit.
Dystonie. Bei den Dystonien ist der soziale Kontext zu
berücksichtigen. Personen mit einer Dystonie stoßen häufig auf soziale Vorurteile und fühlen sich stigmatisiert. Eine Studie zur Einstellung von fremden Beobachtern ergab, dass Personen mit einer Dystonie als weniger attraktiv, weniger vertrauenswürdig und als schwach im Selbstvertrauen angesehen wurden [93].
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung M. PARKINSON. Patienten zu Beginn einer Parkinson-
Krankheit können und wollen oft im Beruf verbleiben. Ein wesentliches Hindernis sind die kognitiven und emotionalen, besonders depressiven, Beeinträchtigungen. Eine Parkinson-Erkrankung bedeutet auch eine erhöhte subjektive Anstrengung bei alltäglichen Verrichtungen, es
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
fehlt die »Leichtigkeit des Seins«. Viele Betroffene ermüden rascher, sind von den gleichen Aufgaben, die sie vor der Erkrankung ohne Mühe erledigen konnten, erschöpft. Daher liegt oft eine quantitative Einschränkung des Leistungsvermögens vor und eine Reihe von Patienten kann den Verbleib im Arbeitsleben durch eine Reduktion der täglichen Arbeitszeit verlängern. Essenzieller Tremor. Bei essenziellem Tremor ist vor al-
lem die manuelle Funktionsfähigkeit eingeschränkt. Bei einem Tremor der Stimme kann ein ständiger Kundenkontakt schwierig werden. Dystonie. Die Personen mit einer Dystonie sind eine sehr
heterogene Gruppe. Bei der häufigen zervikalen Dystonie sind Überwachungs- und Steuertätigkeiten oft problematisch. Eine Dystonie ist im sozialen Kontext oft dadurch ein Problem, dass der ständig verkrampfende Körper auf stigmatisierende Reaktionen der Umwelt trifft. Ein ständiger Kontakt mit Kunden setzt ein sehr stabiles Selbstvertrauen des Betroffenen voraus. Für viele Personen mit einer Dystonie kann es hilfreich sein, Arbeitsabläufe variabel zu gestalten und ggf. Pausen einzulegen, um zu entspannen. Bei Patienten mit beschäftigungsinduzierten Dystonien, wie den Musikern oder beim Schreibkrampf, sollte man eine andere berufliche Tätigkeit erwägen, was Künstler in der Regel vor schwere Herausforderungen stellt. z
Medizinische Rehabilitation
Auch wenn die motorischen Einschränkungen nur gering ausgeprägt sind, sollte frühzeitig eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation in Erwägung gezogen werden [23]. Die ambulante therapeutische Versorgung reicht oft nicht aus, um neben den motorischen die kognitiven, emotionalen und informativen Aspekte bei der Erkrankung zu berücksichtigen. Die Diagnose der Erkrankung löst bei vielen Betroffenen Unsicherheit und Ängste aus, sich falsch zu verhalten. Personen mit neurologisch bedingten Bewegungsstörungen bedürfen des »Empowerment«, einer kognitiven und emotionalen Stärkung. Für die emotionalen und kognitiven Probleme gibt es im ambulanten Bereich für diese Personen nur ein sehr eingeschränktes neuropsychologisches Therapieangebot. Bei der Auswahl einer Rehabilitationseinrichtung sollte darauf geachtet werden, dass ein psychoedukatives Programm, wie z. B. das von Ellgring und Mitarbeitern, angeboten wird [27]. Es gibt spezielle Therapieprogramme für Patienten mit aufgabenspezifischen Dystonien, die jedoch nicht in allen neurologischen Rehabilitationseinrichtungen angeboten werden [4]. Für Musiker mit Dystonien gibt es einige Spezialzentren in Deutschland, die zur sozialmedizinischen
Begutachtung und zur Frage der Prognose herangezogen werden können. Eine psychosomatische Klinik sollte nur nach ausdrücklicher Zustimmung des Versicherten gewählt werden, da die Einstufung als »psychisch« oft als Kränkung und Ungerechtigkeit empfunden wird. Die Tatsache, dass sich extrapyramidal-motorische Funktionen bei emotionaler Belastung verschlechtern, ist nicht als Ausdruck einer weitgehenden Psychogenese der Symptome zu interpretieren. Bei der sozialmedizinischen Beurteilung von Personen mit Bewegungsstörungen ist der soziale Kontext zu beachten. Bei Unverständnis von Arbeitskollegen und Vorgesetzten können sich die motorischen Funktionen emotional vermittelt erheblich verschlechtern. Das Untersuchungszimmer ist daher ein unwirklicher Kontext, man sollte nicht von dem Befund, der dort erhoben wird, ohne weiteres auf die motorischen Funktionen am Arbeitsplatz schließen. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Bei Personen mit extrapyramidalen Bewegungsstörungen sollte geprüft werden, ob ergonomische Anpassungen am Arbeitsplatz die Tätigkeit erleichtern können. Bei Einschränkungen der Mobilität sind Mobilitäts- oder Kraftfahrzeughilfen zu prüfen. Fahrzeuge der Gruppe 2 nach den Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung (über 3,5 t, Fahrgastbeförderung) können in der Regel nicht mehr gelenkt werden, wenn eine gravierende extrapyramidale Symptomatik vorliegt. Bei Dystonien geht es darum, die undifferenzierte Kokontraktion von Muskeln nicht durch Bewegungen zu provozieren. Wenn nun der kontralaterale Arm eingesetzt wird, um den betroffenen zu schonen, kann sich die Dystonie auch auf diese Seite ausbreiten. z
Erwerbsminderung
Die Selbstüberzeugung des Probanden, ob er sich weiter die Arbeit zutraut, ggf. sogar trotz erheblicher Behinderung, beeinflusst wesentlich die weitere berufliche Tätigkeit. Das Konzept der Selbstwirksamkeit, self-efficacy, besagt, dass das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, ein Ziel zu erreichen, ein entscheidender Prädiktor für die tatsächliche Zielerreichung ist [30]. Es sollte erwogen werden, ob bei einer Minderung des quantitativen Leistungsvermögens durch eine Reduktion der Arbeitszeit ein Ausscheiden aus dem Arbeitsleben verzögert werden kann. Positives Leistungsvermögen. Allein wegen der verstärkten subjektiven Anstrengung wird in der Regel nur eine leichte Tätigkeit im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen möglich sein.
525 23.2 · Krankheitsbilder
Negatives Leistungsvermögen. Bei Parkinson-Patien-
ten kommen Tätigkeiten mit erhöhter Anforderung an die Mobilität und die Gleichgewichtskontrolle nicht infrage. Dazu gehören Arbeiten auf Gerüsten und auf Baugelände, auch Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an Reaktionsvermögen, Vigilanz und an wechselnde Aufmerksamkeit, wie z. B. Berufskraftfahrer mit Fahrzeugen der Gruppe 2, Arbeit in einer Rettungsleitstelle oder Disponent in einer großen Spedition. 23.2.9
Systematrophien Peter Frommelt, Ottmar Leidner
Klassifikationen und Stadieneinteilungen Hier findet sich ein breites Spektrum neurologischer Erkrankungen, darunter hereditäre Krankheiten wie die Chorea Huntington oder hereditäre Ataxien (. Tab. 23.10). Das Erkrankungsalter und die Phänomenologie können selbst bei hereditären neurologischen Krankheiten erheblich variieren, daher sollte die Begutachtung stets den individuellen Verlauf in Betracht ziehen.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen Degenerative Systematrophien können je nach Typ, Verlauf und Schweregrad fast alle kognitiven, emotionalen, sensorischen und motorischen Funktionen und daraus resultierend alle Aktivitäten und jede Form von Partizipation betreffen [14].
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung In der Regel dürfte bei der Begutachtung die neurologische Diagnostik schon vorliegen. Auf einige Besonderheiten bei der Diagnosestellung sei hingewiesen. Degenerative Ataxien: Bei der Untersuchung ist zu prüfen, ob sich die ataktischen Störungen auch auf die Hände und die Artikulation erstrecken. Schon eine geringe Ataxie der Hände kann zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Bedienung von Tastaturen oder bei Schreiben von Hand führen. M. Huntington: Nicht wenige Erkrankte zeigen eine Anosognosie und sehen die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz nicht. Daher sollte man auf eine Fremdanamnese Wert legen. Multisystematrophie: Die Differentialdiagnose zu hypokinetisch-rigiden Bewegungserkrankungen ist nicht immer einfach. Die Diagnose wird in der Regel erst dann zu stellen sein, wenn sich die Beteiligung mehrerer Systeme schon manifestiert hat. Damit ist die Leistungsfähigkeit schon als schwer beeinträchtigt anzusehen. Motoneuronerkrankung: Bei der Diagnose wird man eine fachärztlich neurologische Untersuchung vorausset-
. Tab. 23.10 Degenerative Erkrankungen des ZNS Hauptgruppen
Formen/Prävalenz
Degenerative Ataxien einschließlich spinozerebellärer Ataxien
5 Rezessive: u. a. FRIEDREICHAtaxie 5 Spinozerebelläre Ataxien 5 Episodische Ataxien
M. HUNTINGTON
4–7/100.000
Multisystematrophie
4,4/100.000
Motoneuronerkrankung
3–8/100.000
Postpolio-MotoneuronSyndrom
Ca. 40 % aller PoliomyelitisErkrankten
Spinale Muskelatrophien Spastische Spinalparalyse
etwa 3–6/100.000
Demenzerkrankungen
5 M. ALZHEIMER 5 Frontotemporale Demenz 5 LEWY-KörperchenDemenz
zen müssen. Die Diagnose erfordert nach internationalem Konsens die Erfüllung der sog. El Escorial-Kriterien [115]. Verläufe, wie bei dem Physiker Hawkins, der über Jahre berufstätig blieb, allerdings mit zahlreichen Hilfsmitteln und Hilfspersonen, sind in der Praxis selten, jedoch sollte man den Betroffenen durch Hilfsmittel und Assistenzpersonal die Chance geben, solange wie möglich im Arbeitsleben zu verbleiben. Postpolio-Motoneuron-Syndrom: Der Begriff des Postpolio-Syndroms oder die neuere Formulierung »Postpolio-Motoneuron-Syndrom« bezeichnet mindestens 15 Jahre nach einer Polioerkrankung auftretende Paresen in früher manifest betroffenen und nicht-betroffenen Muskelgruppen [39]. Weitere Symptome sind eine neuromuskuläre Ermüdbarkeit und Schmerzen. Die Ursache ist ein erneuter Verlust von motorischen Vorderhornzellen, daher die Bezeichnung Postpolio-Motoneuron-Syndrom. Spinale Muskelatrophien: Diese heterogene Gruppe von Erkrankungen mit Schwerpunkt auf den motorischen Vorderhornzellen, bei denen motorische Ausfälle, jedoch keine sensiblen oder autonomen Symptome auftreten, zeigt unterschiedliche Verläufe. Spastische Spinalparalyse: Das klinische Merkmal dieser oft hereditären Erkrankungen ist eine langsam fortschreitende paraspastische Gangstörung. Demenzen: In den Kriterien für die Diagnose einer Demenz ist schon definiert, dass eine Erwerbstätigkeit nicht mehr gegeben ist. Es liegen Schädigungen in mehreren kognitiven Bereichen vor, die zu Beeinträchtigungen der Alltagsaktivitäten führen. In der Differenzialdiagnose ist an die sog. »Pseudodemenz« bei schwer depressiv erkrankten Personen zu denken.
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
Krankheitsspezifische Begutachtung, Zielkriterien Viele Patienten mit systemischen neurologischen Erkrankungen haben sehr gute Adaptationsstrategien entwickelt, haben eine positive Lebensphilosophie und möchten trotz Einschränkungen so lang wie möglich im Arbeitsleben verbleiben. Daher sollte man z. B. einem Versicherten mit einer spastischen Spinalparalyse und eingeschränkter Wegefähigkeit (siehe 7 Kap. 1.2) durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dazu verhelfen, den Arbeitsplatz zu erreichen und damit im Erwerbsleben verbleiben zu können. Oft kann durch eine flexible Handhabung der Arbeitszeit, ggf. mit der Möglichkeit individueller Pausen (z. B. zum Ausruhen auf einer Liege) ein Arbeitstag bewältigt werden. Die Ermüdbarkeit begrenzt, z. B. bei PostPolio-Motoneuron-Syndrom, die Leistungsfähigkeit oft stärker als die Einschränkung durch Paresen.
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung
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Angesichts der Heterogenität der Erkrankungen ist nur eine individuelle Betrachtungsweise möglich. Der Gutachter sollte sich u. a. folgende Fragen stellen: 4 Wie ist das psychische und physische Energieniveau? 4 Wie weit reicht die Mobilität? 4 Wie weit geht die manuelle Geschicklichkeit? 4 Wie ist die geistige Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit? z
Medizinische Rehabilitation
Bei den langsam progredienten Erkrankungen wie den spinalen Muskelatrophien, der spastischen Spinalparalyse und dem Postpolio-Motoneuron-Syndrom sind neurologische Rehabilitationsleistungen oft erfolgreich, um Komplikationen zu verhindern und den Versicherten zu zeigen, wie sie möglichst ökonomisch mit den verbliebenen neuromuskulären Reserven umgehen können. Bei einer Reihe von Versicherten sind auch Orthesen nützlich, daher sollte eine orthopädische Mitbehandlung möglich sein. Viele der Betroffenen benötigen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in kürzeren Abständen als der gesetzlichen Vierjahresfrist, um im Arbeitsleben verbleiben zu können. Eine ambulante Therapie, z. B. im Rahmen der Heil- und Hilfsmittelverordnung, kann diese komplexe Rehabilitation nicht ersetzen. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Bei den Versicherten sollte, auch in Abstimmung mit Arbeitsmedizinern oder dem Betriebsarzt, geprüft werden, ob durch Mobilitäts- oder Kraftfahrzeughilfen, ergonomische Anpassung oder auch durch eine persönliche Assistenz der Verbleib im Arbeitsleben langfristig ermöglicht werden kann.
z
Erwerbsminderung
Bei Erkrankungen wie der Chorea Huntington oder Demenzerkrankungen dürfte es selten Zweifel am Vorliegen eines aufgehobenen erwerbsbezogenen Leistungsvermögens geben. Bei anderen Erkrankungen lassen sich nur auf den Einzelfall bezogene Einschätzungen abgeben.
Krankheiten im Bereich der neuromuskulären Synapse und des Muskels (Myopathien)
23.2.10
Peter Frommelt, Ottmar Leidner
Klassifikationen und Stadieneinteilungen Die Muskelerkrankungen lassen sich in folgende Hauptgruppen einteilen: 4 Gruppe der Muskeldystrophien: 5 progressive Muskeldystrophien, 5 Myotonien, 5 periodische Paralysen, 5 distale Myopathien, 5 kongenitale Myopathien, 4 metabolische und toxische Myopathien, 4 entzündliche Muskelerkrankungen, 4 Erkrankungen des neuromuskulären Übergangs. Neben den definierten Muskelerkrankungen sind in der Begutachtung häufig unspezifische Muskelsymptome wie Muskelschmerzen und Krämpfe zu bewerten. Die Diagnostik und Differenzialdiagnostik der Myopathien und Erkrankungen des neuromuskulären Übergangs erfordern in der Regel eine fachneurologische Untersuchung. Es gibt in Deutschland eine Reihe von Referenzzentren für Muskelerkrankungen und es gibt ein gutes Informationsangebot für Betroffene durch die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke (DGM). Die Muskelkraft wird nach der MRC-Skalierung (0–5) eingestuft (siehe . Tab. 23.1). Eine einheitliche Schweregradklassifikation kann es bei der Unterschiedlichkeit der Muskelerkrankungen nicht geben. Eine Orientierung zum Ausmaß der motorischen Beeinträchtigungen gibt . Tab. 23.11. Bei einer Reihe von Muskelerkrankungen können myokardiale Veränderungen auftreten. Häufig ist eine Herzbeteiligung bei der Myotonen Dystrophie, den Muskeldystrophien Typ Becker und Duchenne sowie bei den mitochondrialen Myopathien. Für die mitochondrialen Myopathien ist eine Intoleranz gegenüber Anstrengung verbunden mit Muskelschmerzen kennzeichnend. Nicht selten werden in der Begutachtung Muskelschmerzen und Muskelkrämpfe geschildert. Auf die umstrittene Diagnose der Fibromyalgie wird in 7 Kap. 7.5.3 eingegangen. Etwa 25 % gesunder Personen haben min-
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. Tab. 23.11 Ausmaß der motorischen Beeinträchtigungen (Skala von Vignos nach Berlit [6]) Behinderungspunkte
Motorische Leistungsfähigkeit
0
Normale motorische Aktivität
1
Normaler Gang, Behinderung beim Rennen
2
Leichte Beeinträchtigung der Körperhaltung oder des Gangs; Treppensteigen ohne Geländerhilfe
3
Treppensteigen nur mit Geländerhilfe; Schwäche im Schultergürtel, z. B. beim Kämmen
4
Gehen ohne Hilfe; Treppensteigen nicht möglich; Heben von Gegenständen über die Schulterhöhe nicht möglich
5
Gehen ohne Hilfe; Aufstehen aus dem Sitzen nicht möglich
6
Gehen nur mit Schienen und Hilfsmitteln; Anheben der Arme bis zur Horizontalen nicht möglich
7
Gehunfähig; sitzt aufrecht, Essen und Trinken selbstständig
8
Sitzt aufrecht; Essen und Trinken nicht selbstständig
9
Sitzen ohne Stütze und Hilfe nicht möglich; Essen und Trinken nicht selbstständig
10
Bettlägerig
destens einmal im Monat Muskelkrämpfe oder benignes Faszikulieren von Muskeln. Ein episodischer Muskelschmerz, besonders nach Belastung, ist ein häufiges Merkmal von Myopathien aufgrund von Störungen des Energiestoffwechsels (wie Mitochondriopathien) oder durch Ischämie (wie bei der Dermatomyositis). »Ein dauerhafter Muskelschmerz, der nicht durch Muskeltraining hervorgerufen wird, ist selten organischer Ursache« [44].
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen Die krankheitsspezifischen Beeinträchtigungen bei den Muskelerkrankungen sind sehr variabel, sie reichen von okulären Funktionsstörungen bei der Myasthenia gravis bis zu Funktionsstörungen, die weit über die Muskeln hinausgehen, wie bei der Myotonen Dystrophie oder den mitochondrialen Erkrankungen. Die häufigsten Einschränkungen in den Aktivitäten bestehen in den Funktionen des Tragens, Bewegens und Handhabens und der Mobilität: Bei der Myasthenia gravis sind neben der muskulä-
ren Ermüdung die Funktionseinschränkungen abhängig von der Hauptmanifestation, bei den okulären Formen ist es die Diplopie, bei Beteiligung der oropharyngealen Muskulatur das Essen und das Trinken. Bei Personen mit einer Myotonen Dystrophie sind sowohl emotionale als auch kognitive Veränderungen häufiger als bei anderen Muskeldystrophien vorhanden. Häufig sind Apathie sowie eine stark erhöhte Ermüdbarkeit. Die Schwerpunktsetzung der Gutachter, welche Funktionseinschränkungen von besonderer Bedeutung sind, stimmt häufig nicht mit derjenigen der Betroffenen überein. So ist aus der Sicht von Personen mit einer fazialen Parese die Unfähigkeit, lächeln zu können, oft die schlimmste Beeinträchtigung, da »die Leute denken, ich sei ganz schlechter Stimmung«.
Spezielle Diagnostik und Sachaufklärung Die diagnostische Abklärung von Muskelerkrankungen und muskulären Symptomen sollte der Begutachtung vorausgegangen sein. Ohne eine solche Abklärung ist keine sozialmedizinische Beurteilung möglich, z. B. in Hinsicht auf eine kardiale Mitbeteiligung. Die Prüfung der Muskulatur sollte sich nicht auf die Kraftprüfung einzelner Muskelgruppen beschränken, sondern sollte auch Alltagsbewegungen prüfen: Kämmen, eine Flasche aus einem Regal über der Kopfhöhe ergreifen, den Drehverschluss einer Flasche öffnen, sich aus dem Liegen ohne Abstützen aufrichten, sich aus der Hocke aufrichten, einen Stuhl besteigen. Welche Gehstrecke ist in welcher Zeit möglich?
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien Bei der Begutachtung sollten möglichst alle neurologischen Vorbefunde und evtl. internistische Befunde vorliegen. Folgende Fragen sind an die Vorbefunde zu stellen: 4 Wie lautet die genaue Diagnose und ist diese evtl. molekulargenetisch gesichert? 4 Wie ist die Familienanamnese? 4 Wie sind die Laborbefunde, z. B. CPK, Acetylcholinrezeptor-Antikörper? 4 Wie ist der Befund der Elektromyografie und Elektroneurografie? 4 Welcher kardiologische Befund liegt vor? 4 Gibt es Zeichen einer systemischen Erkrankung, z. B. Mitochondriopathie? 4 Ist die Frage einer exogen-toxischen Myopathie geklärt worden? 4 Gibt es eine Bildgebung der Muskulatur, z. B. MRT? In der Begutachtung wird man auf folgende Aspekte achten: 4 Muskelfunktionen 4 Hilfsmittel, Kompensationsstrategien
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
4 Orthopädische Komplikationen, Kontraktionen, Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit 4 Einschränkungen der kardialen Belastbarkeit 4 Einschränkungen der Fähigkeiten, zu lernen und das Wissen anzuwenden. 4 Personbezogener Kontext: z. B. Einstellungen, Resilienz, Optimismus oder Niedergeschlagenheit, Mutlosigkeit, Resignation 4 Externer Kontext: Hilfsmittel, ergonomische Anpassungen, soziale Unterstützung oder auch Barrieren wie Stigmatisierung, physische Hindernisse oder Fehlen sozialer Dienste
auf den Markt gekommen, die eine schnelle Beweglichkeit auch für Personen mit sehr eingeschränkter Gehstrecke ermöglichen. Dazu gehören elektrogetriebene Roller. Ein Patient mit einer Gliedergürteldystrophie, der kaum 50 m gehen kann, ist durch eine solche Gehhilfe imstande, sich in Gebäuden schneller als ein normaler Fußgänger zu bewegen. Myopathien erfordern auf Grund ihres progredienten Verlaufs oft vorzeitige Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (aus gesundheitlichen Gründen Unterschreitung der in § 12 SGB VI benannten 4-Jahres-Frist). z
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z
Positives und negatives Leistungsvermögen
Angesichts der Heterogenität von Myopathien lassen sich keine allgemeinen Aussagen zur Leistungsfähigkeit der Betroffenen machen. Bei Personen mit einer okulären Myasthenie kommen beispielsweise Bildschirmarbeiten nur zeitweise in Frage, bei einem Patienten mit einer Gliedergürteldystrophie kann ein Bildschirmarbeitsplatz, vielleicht auch als TeleArbeitsplatz, die Ideallösung sein. Der sehr häufigen abnormen Ermüdbarkeit sollte durch die Möglichkeit von zusätzlichen Pausen Rechnung getragen werden und zum möglichst langfristigen Erhalt der Teilhabe am Arbeitsleben sollte bei gemindertem Leistungsvermögen frühzeitig an eine Reduktion der täglichen Arbeitszeit auf unter 6 Stunden gedacht werden. So ist es vielen Personen mit einer neuromuskulären Erkrankung möglich, den Arbeitsplatz zu behalten. z
Medizinische Rehabilitation
Eine rein ambulante Therapie ist bei Myopathien oft unzulänglich, da die Therapeuten nicht hinreichend mit den speziellen Problemen der unterschiedlichen Erkrankungen vertraut sind. Die Frage, ob man ein Widerstandstraining durchführen soll, wird kontrovers diskutiert. Die meisten Experten empfehlen ein dosiertes Krafttraining, bei dem die subjektive Belastung in dem Bereich einer deutlich fühlbaren Erschöpfung liegt. Das ist auf der 10-teiligen Borg-Skala zwischen 2 (leicht) und 3 (mäßig) [81]. Viele Versicherte haben das Bedürfnis, mehr über ihre Erkrankung und das Selbstmanagement zu erfahren. Die Rehabilitation – sei sie ambulant oder stationär – setzt ein Team voraus, das mit Muskelerkrankungen spezielle Erfahrungen besitzt. Günstig ist eine Einrichtung, in der die Fachgebiete Neurologie und Orthopädie gemeinsam vertreten sind. Häufig kann durch Anpassung von Orthesen und Gehhilfen oder die Vermittlung von ergonomischen Hilfen die Mobilität langfristig erhalten bleiben. In den letzten Jahren sind einige nützliche Mobilitätshilfen
Teilhabe am Arbeitsleben
Viele Patienten mit einer Myopathie sind im Vergleich zu Personen, denen die Diagnose einer Fibromyalgie zugeschrieben wird, stark gewillt, im Arbeitsleben zu verbleiben, und erhoffen sich durch die sozialmedizinische Begutachtung auch Hinweise, wie ihnen der Verbleib gelingen kann. Zu den Hilfen, die der Gutachter erwägen sollte, gehören u. a.: 4 Ergonomische Arbeitsplatzhilfen; das können beispielsweise Lagerungshilfen für den Unterarm sein, um die Schultermuskulatur zu entlasten. Die ergonomische Anpassung sollte stets im Betrieb erfolgen, da selbst kleine Veränderungen Auswirkungen auf die betrieblichen Arbeitsabläufe haben können. 4 Mobilitätshilfen, Kraftfahrzeughilfen 4 Zusatzqualifikation, Umschulung 4 Persönliche Assistenz, z. B. Arbeitsassistenz bei schwer beeinträchtigten Personen 4 Telearbeitsplatz. Obwohl diese Arbeitsplätze technisch sehr gute Lösungen darstellen, können sie eine zusätzliche soziale Isolation für Personen bedeuten, deren soziale Kontakte durch die eingeschränkte Mobilität sowieso schon beeinträchtigt sind. Durchgängig berichten Personen mit einer neuromuskulären Erkrankung, dass für sie die Einstellungen der sozialen Umwelt eine viel größere Hürde darstellen, als die physischen Kontextbarrieren. »Die physischen Barrieren waren nicht das Problem (...) Die sozialen Einstellungen waren die größten Hindernisse in meinem Leben« [1]. z
Erwerbsminderung
Das Ziel ist es, dem Wunsch des Versicherten, im Arbeitsleben zu verbleiben, solange nachzukommen, wie es ohne Gefährdung der Gesundheit möglich ist. Oft liegt eine quantitative Einschränkung des Leistungsvermögens vor. Mit einer Reduktion der Arbeitszeit kann es gelingen, den Zeitpunkt des aufgehobenen erwerbsbezogenen Leistungsvermögens hinauszuzögern.
529 23.2 · Krankheitsbilder
23.2.11
Epilepsie
Ulrich Specht
Epilepsien sind häufig (Prävalenz ca. 0,5–0,8 %). Sie variieren erheblich in Bezug auf Art, Häufigkeit und Schwere der Anfälle sowie ihre Prognose. Das erschwert eine angemessene sozialmedizinische Beurteilung.
Klassifikation der Anfälle und Epilepsien Die dichotome Anfallsklassifikation unterscheidet generalisierte Anfälle unter initialem Einbezug beider Hemisphären von fokalen („partiellen») Anfällen, siehe . Tab. 23.12. Für die sozialmedizinische Beurteilung ist die Schwere von Anfällen, also Kategorien der Funktionen und Aktivitäten in der ICF, von größerer Wichtigkeit als die Pathophysiologie (s. unten). Für Therapie und Prognose wichtiger als die Anfallsform(en) ist das Epilepsie-Syndrom. Man unterscheidet in Analogie zur Anfallsklassifikation fokale von generalisierten Epilepsien sowie bezüglich der Ätiologie idiopathische (vorwiegend genetisch determinierte) von symptomatischen (nachgewiesene zerebrale Grunderkrankung wie z. B. Malformationen, Hippocampussklerose, Schädel-Hirn-Trauma) bzw. kryptogenen (Grunderkrankung vermutet, aber nicht nachweisbar) Epilepsien [84]. Die Begriffe „zerebrales Anfallsleiden» oder „hirnorganische Anfälle» sollten aus dem Vokabular gestrichen werden. Der Begriff Epilepsie ist reserviert für Personen mit wiederholten epileptischen Anfällen. Der Begriff der psychogenen Anfälle ist mit dem Terminus »dissoziative Anfälle» präzisiert worden, da auch bei epileptischen Anfällen psychologische Auslösemechanismen vorliegen können.
Diagnostik Entscheidender Baustein ist eine präzise Anfallsanamnese mit Fremd- und v. a. Selbstbeschreibung der Anfallsabläufe. Wesentliche apparative Untersuchungen sind das Elektroenzephalogramm (EEG), das durch den Nachweis epilepsietypischer Potentiale (z. B. Spikes, Spike-waveKomplexe) die Diagnose stützt, und die MRT des Kopfes als wichtigste Methode zum Nachweis einer symptomatischen Ätiologie der Epilepsie. Negative Befunde bei beiden Verfahren schließen eine Epilepsie nicht aus.
Sozialmedizinische Beurteilungskriterien Voraussetzung für die Schweregrad-Klassifikation von Anfällen nach den berufsgenossenschaftlichen Empfehlungen (BG-Information 585; [2, 14]) ist eine genaue Anfallsbeschreibung der betroffenen Person, aber auch eines Zeugen (Selbst- und Fremdbeschreibung), die ohne jeglichen Jargon mit minutiöser Detaildarstellung erfolgen sollte. Folgende Fragen sollte der Gutachter stellen:
. Tab. 23.12 Vereinfachte und verkürzte Klassifikation epileptischer Anfälle [84] 1
Fokale Anfälle
1.1
Einfach fokale Anfälle („einfach» = Bewusstsein erhalten)
1.1.1
Mit somatosensorischen Symptomen (= Aura), z. B. Kribbeln, Geräusche, epigastrisches Unwohlsein
1.1.2
Mit motorischen Symptomen, z. B. klonische Anfälle (rhythmische Zuckungen)
1.1.3
Mit autonomen Symptomen, z. B. Schwitzen, Erröten
1.2
Komplexe fokale Anfälle („komplex» = Bewusstsein gestört)
1.2.1
Psychomotorische Anfälle (mit Automatismen: unwillkürliche Bewegungen wie Nesteln, Schmatzen)
1.3
Fokale Anfälle, die in einen generalisierten tonisch-klonischen Anfall (s. 2.3) übergehen
2
Generalisierte Anfälle
2.1
Absencen (Innehalten und Areaktivität für Sekunden)
2.2
Myoklonische Anfälle (bilateral-synchrone Zuckung der Arme, singulär oder in kurzen Salven)
2.3
Tonisch-klonische Anfälle („Grand mal»; zunächst Versteifung, dann Zuckungen aller Extremitäten; fakultativ Zungen-/Wangenbiss oder Einnässen)
1. Wird eine Aura (»Vorgefühl») berichtet? Wie konstant tritt sie auf, wie lange ist sie, kann und wird sie effektiv und konsequent genutzt, um sich vor den Folgen eines Anfalles zu schützen? 2. Ist die motorische Kontrolle über Gliedmaßen eingeschränkt, z. B. durch Zuckungen oder Verkrampfungen? 3. Ist das Bewusstsein gestört? 4. Stürzt die Person? 5. Kommt es im Rahmen einer Bewusstseinsstörung – während oder nach einem Anfall – zu nicht-situationsangemessenen Verhaltensweisen, wie z. B. Greifbewegungen oder Umherlaufen? 6. Wie lange dauert es, bis die Person nach einem Anfall wieder voll einsatzfähig ist? 7. Gibt es eine feste tageszeitliche Bindung der Anfälle (z. B. nur im Schlaf oder in der ersten Stunde nach dem Aufwachen), so dass Anfälle nur außerhalb der Arbeits- und Wegezeiten auftreten? 8. Gibt es vorhersehbare und sicher vermeidbare Auslöser für Anfälle (sehr selten!)? Durch Kombination der wichtigsten arbeitsmedizinischen Merkmale von Anfällen (1.–5.) gelangt man zu fünf
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530
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in ihrem Schweregrad zunehmenden Gefährdungskategorien, denen die Anfälle einer Person zugeordnet werden können: 4 0: nur isolierte Auren 4 A: nur Störung der Willkürmotorik 4 B: Bewusstseinsstörung (ohne Sturz oder unangemessene Handlungen) 4 C: Sturz 4 D: Bewusstseinsstörung mit unangemessenen Handlungen (Die Gefährdungskategorien werden in einem Lehr-Video mit Anfallsbeispielen erläutert [24].) Folgende Aspekte sind bei der Einschätzung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben weiterhin zu beachten: Protektive Faktoren
Wenn alle Anfälle eines Patienten durch eine ausreichend lange Aura eingeleitet werden und er die Aura nachweislich, zuverlässig und wirksam durch Schutzverhalten nutzt, kann die Einstufung in eine geringe Gefährdungskategorie (A oder B) erfolgen. Feste Schlafbindung und vermeidbare Anfallsauslöser sind ebenfalls protektiv nutzbar. Häufigkeit der Anfälle
23
Die Anfallsfrequenz wird in fünf Stufen gegliedert: „langfristig anfallsfrei» (> 5 Jahre ohne Medikation); »mittelfristig anfallsfrei«; maximal 2 Anfälle pro Jahr; 3 bis 11 Anfälle pro Jahr; 12 und mehr Anfälle pro Jahr. Als »mittelfristig anfallsfrei« gelten nicht nur Personen, die unter Medikation länger als zwei Jahre oder nach epilepsiechirurgischem Eingriff mehr als ein Jahr anfallsfrei sind, sondern – in Anlehnung an die Führerscheinregelungen (www.bast.de) – auch Personen, die länger als drei Jahre nur aus dem Schlaf heraus Anfälle hatten, und Personen, die nur (noch) Anfälle ohne Bewusstseinsstörung und ohne arbeitsmedizinisch relevante Symptome haben, also z. B. isolierte sensible Auren.
23
z
23
Wesentliche Eignungsfragen (z. B. Entscheidung bei beruflicher Erstausbildung) sollten erst bei einem stabilen, optimierten Therapiestand entschieden und somit vertagt werden, bis der Effekt anstehender relevanter Therapiemaßnahmen (z. B. Epilepsiechirurgie) absehbar ist. Zu beurteilen ist auch das Krankheits-Selbstmanagement des Betroffenen. Etwa ein Drittel der Epilepsiepatienten zeigt keine ausreichende und somit den Therapieerfolg gefährdende Compliance bzw. Adhärenz bei der medikamentösen Therapie [97]. Auch beim Erkennen und Vermeiden individueller Anfallsprovokationsfaktoren oder der Ver-
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23 23 23 23
minderung anfallsbezogener Risiken wie etwa Ertrinken (Badewanne!) oder Verletzungen benötigen viele Betroffene Unterstützung oder Beratung. Es sollte geklärt werden, ob für diese Personen eine spezialisierte medizinische Rehabilitationsleistung erforderlich ist [96]. z
Stand der Therapie und Krankheits-Selbstmanagement
Schichtarbeit
Verschiebungen des Schlaf-Wach-Rhythmus können Anfälle begünstigen. Regelhaft ist dies bei idiopathischen generalisierten Epilepsien der Fall, so dass hier generell Nachtschichten auszuschließen sind. Bei anderen Epilepsieformen kann im Einzelfall Nachtschicht dann bejaht werden, wenn die bisherigen Erfahrungen gezeigt haben, dass ein Schlafdefizit nicht zur Anfallsprovokation führt. z
z
z
23
Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
Psychische und kognitive Beeinträchtigungen
Auch wenn das Zerrbild der »epileptischen Wesensänderung» der Vergangenheit angehört, so ist eine psychiatrische Komorbidität – z. B. Depressionen und Angsterkrankungen – bei Personen mit v. a. chronifizierter Epilepsie häufig. Wichtig ist es, sie frühzeitig zu diagnostizieren und adäquat zu behandeln, denn sie beeinflussen die Erwerbsfähigkeitsprognose wesentlich stärker als die Epilepsie selbst. Ähnliches gilt für kognitive Leistungsstörungen. Hierbei können vorschnelle kausale Zuschreibungen („die Medikamente») vermieden werden, wenn alle vier infrage kommenden Einflussbereiche berücksichtigt werden: Lage und Ausdehnung einer Hirnläsion; Häufigkeit, Art und Ursprungsort der Anfälle (manchmal auch „nur» häufige epilepsietypische EEG-Aktivität ohne sichtbare Anfälle); die antiepileptische Medikation (Substanz, Mono- vs. Kombinationstherapie, Höhe der Dosierung); psychoreaktive oder andere psychische bzw. Persönlichkeitsfaktoren (z. B. Selbstunsicherheit, Depression). z
Barrieren
Mangelnder Informationsstand zusammen mit ungünstigen Einstellungen von Arbeitgebern, Angehörigen, Arbeitsvermittlern, Betriebsärzten, beratenden Diensten und auch Betroffenen selbst über berufliche Einsatzmöglichkeiten führen dazu, dass das Risiko anfallsbedingter Unfälle und deren Folgen regelhaft überschätzt werden, mit der Folge entsprechend unangemessener Restriktionen und erheblich reduzierter Beschäftigungschancen [102].
Spezielle sozialmedizinische Beurteilung z
Verlauf und Prognose
Epilepsien werden mit spezifischen Medikamenten in individuell zugeschnittener Dosierung behandelt, wodurch 70 bis 80 % der Betroffenen anhaltend anfallsfrei werden, häufig ohne relevante Nebenwirkungen. Abhängig vom Epilepsiesyndrom kann nach jahrelanger Anfallsfreiheit
531 23.2 · Krankheitsbilder
bei etwa zwei Dritteln die Medikation schrittweise abgesetzt werden. Bei pharmakoresistenter fokaler Epilepsie bietet die Epilepsiechirurgie vielfach eine erfolgversprechende Option [84]. Leider können trotz Anfallsfreiheit Funktions- und Aktivitätseinschränkungen sowie Barrieren (s. o.) verbleiben. z
Berufliche Möglichkeiten
Für mehr als 50 Berufe liegen in der o. g. BG-Information 585 Ausarbeitungen vor [2]. Bei den Berufen, für die keine Entscheidungspfade ausgearbeitet sind, gilt es gleichermaßen vorzugehen. Zunächst muss – wie oben skizziert – geklärt werden, welche Gefährdungen vom Anfall ausgehen (Gefährdungskategorien) und diese dann mit den Risiken der (Arbeits-)Umgebung abgeglichen werden. Es ist zu empfehlen, sich eine detaillierte Tätigkeits- und Arbeitsplatzbeschreibung zu verschaffen. Entgegen hartnäckiger Fehlinformationen ist Bildschirmarbeit für praktisch alle Epilepsiekranken möglich [103]. Manchmal sind nur bestimmte Tätigkeiten aus einem Tätigkeitsspektrum risikobehaftet. Diese sollte der Gutachter benennen. Fundierte Empfehlungen können Spezialeinrichtungen zur Epilepsierehabilitation geben. Als Informationsquelle für die sozialmedizinische Stellungnahme ist der PESOS-Fragebogen zu Funktionen, Aktivitäten, Teilhabe und zur subjektiven Lebensqualität hilfreich. Dieser umfasst zwölf Bereiche, u. a. Arbeit, Ausbildung, Anfallsformen, Aktivitäten des täglichen Lebens, soziale Beziehungen, Stigma, epilepsiespezifische Angst [74]. z
Spezialsituation: erster Anfall
Bei Patienten mit einem epileptischen Erstanfall ist es vordringlich, mögliche Grunderkrankungen oder Anfallsauslöser zu eruieren und nach Möglichkeit zu eliminieren. Zwischen 20 und 70 % erleiden ein Rezidiv (und haben damit eine Epilepsie entwickelt), zwei Drittel davon innerhalb eines Jahres. Bei bestimmten Befundkonstellationen kommt bereits nach einem Erstereignis eine medikamentöse Prophylaxe infrage. Sozialmedizinisch steht eine befristete Gefährdungsminderung im Vordergrund, bis die mittelfristige Prognose geklärt ist. z
Rehabilitation bei Epilepsie
Die drei Hauptziele der Rehabilitation von Personen mit einer Epilepsie sind: 4 Stärkung des Selbstmanagements einschließlich der Kontrolle über Anfälle, 4 Verbesserung der sozialen und beruflichen Teilhabe, 4 Verbesserung der subjektiven Lebensqualität.
Die rehabilitativen Hilfen für Anfallskranke haben sich in den vergangenen 10–15 Jahren deutlich verbessert. Hierzu tragen v. a. Epilepsie-Ambulanzen, Schwerpunktpraxen sowie in einigen Bundesländern etablierte EpilepsieBeratungsstellen bei (www.dgfe.info). Für verschiedene Zielgruppen wurden psycho-edukative Gruppenschulungsprogramme entwickelt, von denen „MOSES» (Modulares Schulungsprogramm Epilepsie) das am breitesten im ambulanten wie stationären Sektor eingesetzte ist [91]. Es enthält neun Module, deren Inhalte vom emotionalen Coping über Informationen zu Diagnostik, Therapie und Prognose, Selbstkontrolle von Anfällen bis zu psychosozialen Aspekten reichen. Einige Personen mit komplexen Funktions- und Aktivitätseinschränkungen bedürfen eines Spektrums an rehabilitativer Unterstützung, die ambulant nicht durchführbar ist. Dazu gehören u. a. Versicherte, deren Leistungsvermögen reduziert oder unklar ist, oder junge Erwachsene, die aufgrund der Epilepsie in ihrer Selbstständigkeitsentwicklung verzögert sind. Eine weitere Zielgruppe sind Versicherte nach einem epilepsiechirurgischen Eingriff. Es gibt in Deutschland spezielle Zentren für die Epilepsie-Rehabilitation, die auch Leistungen zur medizinisch-beruflichen Rehabilitation einschließen. Interventionen umfassen dort neben medizinisch-epileptologischer Therapie neuropsychologische, ergotherapeutische und psychotherapeutische Angebote, Sporttherapie, soziale und sozialrechtliche Beratung sowie weitere interdisziplinäre Beratung und Schulung (www.izepilepsie.de). z
Erwerbsminderung
Personen mit einer Epilepsie haben prinzipiell ein normales zeitliches Leistungsvermögen. Sehr selten gibt es Anfallsmerkmale, die die Erwerbsfähigkeit infrage stellen (sofern keine realistische Chance auf Besserung besteht). Dies sind zum einen häufige Anfälle mit einem hohen peri-iktalen zeitlichen Betreuungsaufwand, z. B. infolge langer postiktaler Umdämmerung oder bei Anfällen mit erheblichem anhaltendem Bewegungsdrang. Zum anderen sind es Patienten mit hoher anfallsbedingter Gefährdung (häufige Anfälle mit Sturz und/oder Verletzungsgefahr) bzw. der regelhaften Notwendigkeit medizinischer Hilfe, z. B. bei habituellen Anfallsserien, die pharmakologisch unterbrochen werden müssen. Bei solchen Patienten sollte vor einer Berentungsentscheidung eine stationäre Klärung möglicher Therapieoptionen in einer Epilepsiefachklinik erfolgen. Wesentlich häufiger als die Epilepsie schränken psychische und kognitive Beeinträchtigungen die Erwerbsfähigkeit ein, wobei sie erst nach adäquaten Behandlungsversuchen (z. B. Depressionstherapie, Absetzen kognitiv beeinträchtigender Antiepileptika) bzw. Rehabilitations-
23
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
leistungen in die abschließende gutachterliche Beurteilung einfließen sollten.
23.2.12
Narkolepsie
Ulrich Specht
Die Narkolepsie zählt zu den Schlafstörungen; sie ist eine relativ seltene Krankheit (Prävalenz: 0,025–0,05 %). Sie beginnt am häufigsten im jungen Erwachsenenalter, die Ätiologie umfasst genetische und exogene Faktoren.
23
Symptomatik und krankheitsbedingte Beeinträchtigungen
23
Häufigstes (ca. 95 %) Symptom ist die exzessive, willentlich nicht oder kaum zur unterdrückende Tagesschläfrigkeit mit Sekunden bis Stunden dauernden Einschlafattacken. Sie werden meist durch Vorzeichen (z. B. Gähnen, „schwere» Augenlider) eingeleitet und treten oft in monotonen Situationen auf. Bei der Kataplexie (affektiver Tonusverlust; bei ca. 90 %) kommt es – ausgelöst durch eine heftige Gefühlsregung wie Lachen, Stolz oder Überraschung – zu einem plötzlichen, in der Regel bilateralen Verlust des Haltemuskeltonus für Sekunden bis wenige Minuten, bei dem Patienten stürzen können. Bei je 40–50 % kommt es beim Übergang zwischen Wachen und Schlafen zu einer Bewegungs- und Sprechunfähigkeit für Sekunden bis Minuten, die als Schlaflähmung bezeichnet wird, und/oder zu – meist visuellen – »hypnagogen« Halluzinationen. Außerhalb der klassischen Symptomtetrade sind Narkolepsie-Patienten nicht selten durch einen gestörten Nachtschlaf beeinträchtigt [40, 75]. Die Tagesschläfrigkeit ist die wesentliche Quelle psychosozialer Schwierigkeiten, zu denen eine erhöhte Unfallgefährdung, häufige Depressivität und Arbeitslosigkeit, Befürchtung vor dem Auftreten peinlicher Situationen, Selbstunsicherheit und sozialer Rückzug beitragen [40, 75].
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Spezielle Diagnostik
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Die Erstdiagnostik umfasst eine gezielte Anamnese der Kernsymptome Tagesschläfrigkeit und Kataplexie, die Symptom-Dokumentation durch Schlaffragebögen, eine Nachtschlaf-Polygraphie und ggf. zusätzlich ein multipler Schlaf-Latenz-Test (verkürzte REM-Schlaf-Latenz) sowie bei Verdacht auf sekundäre Narkolepsie eine Magnetresonanztomographie des Kopfes. Diagnoseunterstützend sind der Nachweis einer erniedrigten Hypokretin 1-Konzentration im Liquor und des Antigens DQB1-0602 aus dem HLA-System im Serum [40].
Sozialmedizinische Beurteilung Die Narkolepsie ist eine lebenslange Erkrankung. Die Therapie ist symptomatisch. Nicht-medikamentöse („Coping»-)Maßnahmen beinhalten u. a. eine Besserung der Schlafhygiene (z. B. geplante Tagschlafphasen). Medikamentös kommen im Wesentlichen die Stimulantien Modafinil, Natrium-Oxybat (BtM-pflichtig; hilft auch bei Kataplexie) und Methylphenidat (BtM-pflichtig) zum Einsatz. Kataplexien, Schlaflähmungen unf hypnagoge Halluzinationen werden mit Natrium-Oxybat oder Antidepressiva (z. B. Clomiprazmin, SSRI) behandelt. Qualitatives Leistungsbild: Für die sozialmedizinische Beurteilung steht die Tagesschläfrigkeit im Vordergrund. In jedem Fall zu vermeiden sind Tätigkeiten im Schichtdienst (Beeinträchtigung des schon ohnehin gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus) sowie monotone Tätigkeiten (Verstärkung der Einschlafneigung). Bei persistierenden Kataplexien sind Sturzrisiken zu berücksichtigen, ähnlich wie für epileptische Anfälle mit Sturz beschrieben [2]. Neuropsycho- und -physiologische Untersuchungen (v. a. Tests zur geteilten Aufmerksamkeit und Vigilanz; „Maintenance of Wakefulness Test») sind für die Beurteilung der Auswirkungen der Tagesschläfrigkeit – insbesondere als Verlaufsuntersuchung – hilfreich [58]. Das gilt auch für die Einschätzung der Kraftfahrereignung. Hier wird insbesondere nach einem Verkehrsunfall eine einjährige Fahrpause empfohlen, während der eine Symptombesserung durch Medikation und Anwendung von Copingstrategien – als wichtigstem Unfall-Präventionsinstrument – zu dokumentieren ist. Bei Zweifeln in Bezug auf die Fahreignung ist eine Fahrsimulator-Untersuchung oder eine Fahrprobe mit Fahrlehrer sinnvoll. Die Fahrerlaubnis für Kfz der Gruppe 2 gilt als dauerhaft ausgeschlossen [59]. Die quantitative Leistungsfähigkeit ist nur selten – bei sehr ausgeprägter, therapeutisch nicht ausreichend beeinflussbarer Symptomatik – i. S. einer vollen Erwerbsminderung eingeschränkt [58]. Bei unklaren Situationen kann eine medizinische Belastungserprobung im Rahmen einer medizinischen Rehabilitationsleistung hilfreich sein. Spezifische Rehabilitationsverfahren sind nicht bekannt. Bei gutachterlichen Fragestellungen sollte möglichst ein mit Narkolepsie erfahrener Gutachter einbezogen werden.
533 23.2 · Krankheitsbilder
23.2.13
Migräne und andere anfallsartig auftretende Kopfschmerzen
. Tab. 23.13 Häufigste Kopfschmerzformen Kopfschmerz
Peter Frommelt, Ottmar Leidner
Klassifikationen und Stadieneinteilungen
Lebenszeitprävalenz in der Bevölkerung
Idiopathische Kopfschmerzen
In der Neurologie ist die Kopfschmerzklassifikation der International Headache Society (IHS) gebräuchlich. Im Internet ist die aktuelle Fassung abrufbar unter http://ihsclassification.org/de/. . Tab. 23.13 zeigt die häufigsten Kopfschmerzformen. Der Kopfschmerz vom Spannungstyp (KST) wird in drei Formen unterschieden: 4 Sporadisch auftretender episodischer KST, weniger als 12 Tage pro Jahr 4 Häufig auftretender episodischer KST, 12 bis 180 Tage pro Jahr 4 Chronischer KST, mehr als 15 Tage pro Monat.
Migräne ohne Aura
9%
Migräne mit Aura
6%
Kopfschmerz vom Spannungstyp
episodisch 66 %, chronisch 3 %
Clusterkopfschmerz und andere trigeminoautonome Kopfschmerzen
0,1 %
Andere primäre Kopfschmerzformen
5%
Kopfschmerz nach Schädel-HirnTrauma
4%
Die traditionelle Annahme, dass der Spannungskopfschmerz auf einer Verspannung und Ischämie der Nackenmuskulatur beruhe, findet wissenschaftlich keine Bestätigung. Man findet eine erhöhte myofasziale Schmerzsensitivität ohne strukturelle Veränderungen in Nackenmuskeln [5]. Weiterhin vermutet man als Pathomechanismus eine erhöhte zerebrale Sensitivität nozizeptiver Neurone. Etwa 25 % der Frauen mit einer Migräne haben vier oder mehr schwere Attacken im Monat, etwa 35 % eine bis vier Attacken. Etwa 50 % aller Migräne-Attacken sind so stark, dass die Betroffenen sich hinlegen müssen. Etwa 30 % aller Personen mit einer Migräne sind durch die Attacken für einen Tag im Vierteljahr arbeitsunfähig. Personen mit Spannungskopfschmerzen in Dänemark hatten dreifach soviel Arbeitsunfähigkeitszeiten wie Personen mit einer Migräne [5]. Als trigeminoautonome Kopfschmerzen werden attackenweise auftretende Schmerzen mit autonomen Begleitsymptomen wie der Clusterkopfschmerz bezeichnet. Die klassische Trigeminusneuralgie wird von der symptomatischen Form unterschieden.
Kopfschmerz durch Gefäßstörungen
1%
Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch
3%
Kopfschmerzen durch nichtvaskuläre intrakranielle Störungen, z. B. Tumoren
0,5 %
Kopfschmerz bei Erkrankungen der Nase/Sinus
15 %
Kopfschmerzen bei Erkrankungen der Augen
3%
Symptomatische Kopfschmerzerkrankungen
Nach Evers et al. [28]
derung, 39 % eine 30–40 %ige Minderung und 44 % nur eine geringe Leistungsminderung. Am stärksten waren die Einschränkungen bei mentaler Anstrengung, 87 % schilderten sie und 50 % berichteten, dass die Interaktion mit Arbeitskollegen während ihrer Kopfschmerzattacken beeinträchtigt sei.
Spezielle Diagnostik und Sachaufklärung Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen Eine italienische Arbeitsgruppe befragte in Rom 250 Arbeiter einer Modefirma hinsichtlich Kopfschmerzen und damit verbundener Einschränkung der Arbeitsleistung [11]. 19 % der Arbeiter hatten mehr als ein Mal im Monat Kopfschmerzen und 13 % mehr als drei Mal. 4 % waren wegen der Kopfschmerzen einmal aus der Arbeit weggeblieben. Die meisten berichteten, trotz der Kopfschmerzen in die Arbeit gegangen zu sein. Diejenigen mit einer Migräne schilderten die Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit so: 50 % erlebten eine mindestens 50 %ige Leistungsmin-
»Die sorgfältige Anamnese ist Voraussetzung für die richtige Diagnose. Die neurologische und internistische Untersuchung sowie die apparativen Zusatzuntersuchungen dienen im Einzelfall nur zum Ausschluss beziehungsweise zum Nachweis von symptomatischen Kopfschmerzen« [28]. Eine Indikation zur Bildgebung des Gehirns mit einem MRT besteht dann, wenn Besonderheiten vorliegen. Dazu gehören 4 Migräne oder Spannungskopfschmerzen mit atypischen Symptomen oder atypischem Verlauf, 4 jede Migräne mit hemiplegischer Aura,
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534
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
4 Änderung des Schmerzcharakters oder der Frequenz und Stärke, 4 erstes Auftreten einer Migräne nach dem 40. Lebensjahr, 4 wenn Auffälligkeiten im neurologischen oder internistischen Befund vorliegen. Hilfreich für den Gutachter sind Aufzeichnungen der Betroffenen, z. B. in Form eines Kopfschmerztagebuchs. Ein Tagebuch kann auch den »Migraineuren« helfen, Zusammenhänge zwischen Kontext und Kopfschmerz zu erkennen.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien Es besteht eine enge Beziehung zwischen dem Kopfschmerz und Depressivität oder Angst. Daher sollte der Untersucher auf die depressiven Zwischentöne achten, selten wird der seelische Schmerz als das primäre Symptom geschildert, der körperliche Schmerz gilt als legal, der seelische als illegal. In naturalistischen Studien von Personen mit unterschiedlichen Kopfschmerzen, so eine Studie mit 223 Patienten, waren 34 % frei von psychischen Störungen, bei 21 % bestand eine Depression, bei 13 % eine Angststörung und bei 32 % eine gemischte Störung aus Angst und Depression. Die Patienten mit den psychischen Symptomen litten mehr und waren mehr im Alltag beeinträchtigt [46]. Diese Zahlen entsprechen der alltäglichen klinischen Erfahrung. Die Kriterien der IHS für den Spannungskopfschmerz sind klar definiert, und ein Kriterium ist die fehlende Verstärkung des Schmerzes bei leichter körperlicher Anstrengung, wie in der nachfolgenden Übersicht ersichtlich.
Diagnostische Kriterien des Spannungskopfschmerzes nach der Klassifikation der International Headache Society A. Wenigstens 10 Episoden, die die Kriterien B bis D erfüllen. Maximal an 15 Tagen im Monat B. Kopfschmerzdauer zwischen 30 Minuten und 7 Tagen C. Der Kopfschmerz weist mindestens zwei der folgenden Charakteristika auf: 1. Beidseitig 2. Drückender, beengender, nicht pulsierender Schmerz 3. Intensität leicht bis mittel 4. Keine Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten wie Gehen oder Treppensteigen 6
23
D. Beide folgenden Merkmale sind erfüllt: 1. Keine Übelkeit oder Erbrechen, Appetitlosigkeit möglich, bei chronischem Verlauf auch Übelkeit 2. Überempfindlichkeit gegen Lärm oder Licht, nicht jedoch beide E. Nicht auf eine andere Krankheit zurückzuführender Kopfschmerz
Ein wichtiger Aspekt in der Sachaufklärung ist die Frage nach dem vorangegangenen Medikamentenkonsum. Der chronisch medikamenteninduzierte Kopfschmerz (MIKS) ist ein chronischer Kopfschmerz, der an über 15 Tagen im Monat auftritt und mit einer Einnahme von Schmerzmitteln über 15 Tage seit mindestens 3 Monaten verbunden ist. Alle Kopfschmerzmittel, Analgetika, Ergotamine, Triptane können zu einem MIKS führen. Triptane führen bei 20 % der Patienten zu einer Zunahme der MigräneAttacken [53]. Bei der Verordnung von Medikamenten gegen Kopfschmerzen sollte darauf geachtet werden, dass an nicht mehr als 12 Tagen im Monat Schmerzmittel eingenommen werden. Der Entzug sollte nur bei günstigen sozialen Voraussetzungen und einem nicht länger als zwei Jahren bestehenden MIKS ambulant durchgeführt werden. Es ist mit erheblichen Entzugssymptomen zu rechnen. In der sozialmedizinischen Aufklärung ist der soziale Kontext sowohl familiär als auch beruflich wichtig.
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z
Positives Leistungsvermögen
Die Leistungseinbußen während Kopfschmerzen, sowohl der Migräne als auch der vom Spannungstyp, sind gut dokumentiert. Die Annahme, dass die Migräne zu stärkeren Beeinträchtigungen als der Kopfschmerz vom Spannungstyp führt, ist in der Literatur nicht bestätigt und es scheint weniger die Art des Kopfschmerzes als die Intensität die Einschränkung der Leistungsfähigkeit zu beeinflussen [104]. Kopfschmerzen gehören nicht zu den »harten« neurologischen Erkrankungen, daher ist der Begutachter manchmal geneigt, die Auswirkungen von Kopfschmerzen auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu unterschätzen. Die aktuelle Literatur belegt das Ausmaß von Disability bei Kopfschmerzen, so haben Personen mit einem chronischen Spannungskopfschmerz 7-fach häufiger Einschränkungen in allen Lebensbereichen als Kontrollpersonen [50]. Dort, wo sie auf ein Arbeitsklima und eine Arbeitsorganisation treffen, die bei Kopfschmerzattacken eine Reduktion der Arbeitsleistung oder einen Rückzug erlauben, können Personen mit Kopfschmerzen leichte bis schwere Arbeiten ohne wesentliche Einschränkungen verrichten. Eine Ausnahme sind Überwachungstätigkei-
535 23.2 · Krankheitsbilder
ten ohne Vertretungsmöglichkeit. Eine flexible Arbeitszeit mit Arbeitszeitkonten stellt einen fördernden Kontext für diese Personen dar. Es sollte stets auch eine ergonomische Anpassung erwogen werden, z. B. die Möglichkeit, sich vom Lärm und der Unruhe der Umgebung abschotten zu können. Hierzu sollte ein Arbeitsmediziner oder Betriebsarzt einbezogen werden. z
Negatives Leistungsvermögen
Die Trigger für Kopfschmerzen sind individuell sehr unterschiedlich. Wesentlich ist die Einstellung und Deutung der Arbeitssituation durch den Versicherten selbst. Die Wahrnehmung des Arbeitsplatzes als laut, hektisch und das Gefühl, ständig unter Druck zu stehen, wird Symptome anders beeinflussen als die Wahrnehmung von Stress als belebend und von Lärm als normale Kulisse. Das Repertoire von subjektiven Bewertungen der Arbeitssituation ist oft wichtiger als die objektiven Gegebenheiten. Bei der Einschätzung des Leistungsvermögens ist der Zusammenhang von Kopfschmerzen mit Depression zu beachten. Das Hauptaugenmerk des Gutachters sollte darauf gerichtet sein, ob die zu begutachtende Person die notwendigen therapeutischen Hilfen erhält, die ihr ermöglichen, trotz Kopfschmerzattacken am Arbeits- und sozialen Leben teilzuhaben. Dazu gibt es neben den klassischen kognitiv-behavioralen Ansätzen aus der Richtung einer achtsamkeitsbasierten Therapie Erfolg versprechende Ansätze [79, 113]. z
Medizinische Rehabilitation
Leistungen zur Rehabilitation sind dort notwendig, wo die ambulante Therapie nicht ausreicht oder nicht zum Erfolg geführt hat und die Teilhabe am Arbeitsleben gefährdet ist. Zur ambulanten Behandlung gehören Pharmaka genauso wie die weitaus seltener angebotenen psychologischen Verfahren, wie kognitiv-behaviorale oder achtsamkeitsbasierte Therapien. Entspannungsverfahren sind inzwischen verbreitet verfügbar und können eine gute Ergänzung zur medikamentösen Therapie sein. Die Indikation für eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation besteht bei chronischen Verläufen mit längerer und/ oder häufiger Arbeitsunfähigkeit, Verläufen mit ungünstiger Krankheitsbewältigung und sozialem Rückzug sowie Verläufen mit Entwicklung einer manifesten psychischen Komorbidität einschließlich eines schädlichen Medikamentengebrauchs. z
. Tab. 23.14 Relative Häufigkeitsverteilung primärer Gehirntumoren im Erwachsenenalter
Teilhabe am Arbeitsleben
Am häufigsten sind Veränderungen in der Arbeitsorganisation und im sozialen Kontext erforderlich. Eine Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Möglichkeit, sich für eine Stunde in einem Ruheraum hinzulegen, sind eigent-
Tumorhistologie
Häufigkeit (%)
Altersgipfel (Jahre)
Glioblastome
30
40–60
Astrozytome
20
30–50
Meningeome
20
40–50
Hypophysentumoren
1–10
35–40
Intrakranielle Schwannome
5–8
35–45
Zerebrale Lymphome
1–3
50–60
Ependymome
2
30–40
Oligodendrogliome
1–2
30–50
Medulloblastome
1
20–30
Tumoren der Pinealisregion
1
20–30
Plexuspapillome
0,5
20–25
Andere
Ca. 10
Nach Schlegel [94]
lich einfach umzusetzende Maßnahmen, jedoch von der Arbeitsplatzsituation abhängig. Mehr Autonomie in der Arbeitseinteilung und Arbeitszeit kann die Folgen einer Kopfschmerzerkrankung erheblich reduzieren. Die rein physikalischen Maßnahmen, wie Reduktion des Lärmpegels oder ein Einzelbüro, können manchmal nützlich sein. Die Bedeutung der physischen negativen Kontextbedingungen wird eher überschätzt, die der sozialen Kontextbedingungen unterschätzt. z
Erwerbsminderung
Vor einer Einschätzung eines verminderten quantitativen Leistungsvermögens gilt die Regel der Rehabilitation vor Rente. Ein aufgehobenes Leistungsvermögen ist selten und liegt dann vor, wenn gravierende psychische oder andere somatische Einschränkungen gleichzeitig vorliegen. 23.2.14
Hirntumoren
Peter Frommelt, Ottmar Leidner
Klassifikationen und Stadieneinteilungen Bei Hirntumoren sind primäre, vom ortsständigen Gewebe ausgehende Tumoren von sekundären, metastasierenden Tumoren anderer Herkunft zu unterscheiden. Die häufigsten primären Gehirntumoren im Erwachsenenalter sind in . Tab. 23.14 dargestellt. 2/3 der Tumoren sind gutartig, 1/3 nimmt einen malignen Verlauf. Aufgrund ihrer Lage im knöchernen Hirnschädel sind jedoch alle Tumorformen potentiell schädigend, da
23
536
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
das Gehirn ihrem Wachstum, sei es infiltrierend oder verdrängend, nicht ausweichen kann. Nach der World Health Organisation (WHO) erfolgt auf histologischer Grundlage eine Klassifikation der Tumoren des Zentralen Nervensystems in vier Grade [69]: 4 Grad I: benigne, 4 Grad II: semibenigne, 4 Grad III: semimaligne, 4 Grad IV: maligne. Die Gradeinteilung besitzt prognostische Bedeutung. Die wichtigsten therapeutischen Prinzipien sind Operation, Bestrahlung und Chemotherapie. Je nach Tumorart und Stadium kommen Einzelverfahren oder Kombinationsbehandlungen zur Anwendung, wobei diese speziellen Tumorzentren vorbehalten sind.
23
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen
23
23
Angesichts der Variabilität von Hirntumoren lassen sich keine allgemeinen Aussagen über die Häufigkeit von bestimmten Beeinträchtigungen von Funktionen und Aktivitäten machen. Hinsichtlich der Funktionsfähigkeit ist auch das bei hirneigenen Tumoren häufige Auftreten einer symptomatischen Epilepsie zu beachten. Zu den Funktionsbeeinträchtigungen gehören nicht nur die sichtbaren motorischen Beeinträchtigungen, sondern noch häufiger die Beeinträchtigungen psychomentaler Funktionen einschließlich Energie, Ausdauer und Affektivität. In der Regel ist die vor der Diagnose bestehende seelisch-körperliche Energie erst nach einem Jahr annähernd wieder erreicht.
23
Spezielle Diagnostik und Sachaufklärung
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23 23 23 23 23
Die Diagnostik von Hirntumoren sollte vor der Begutachtung abgeschlossen sein. Bei langsam wachsenden Tumoren ist zu beachten, dass aufgrund der eindrucksvollen Plastizität des ZNS die Funktionsbeeinträchtigungen viel geringer sind, als man es nach den oft massiven Befunden in der Bildgebung erwarten würde. Da sich Ermüdbarkeit in der Untersuchungssituation nicht manifestiert, sollte danach gefragt werden. Bei Personen mit einer symptomatischen Epilepsie sollte eine EEG-Kontrolle erfolgen und es sollte eine Einstufung des Gefährdungsgrades durch die Anfälle erfolgen (siehe hierzu 7 Kap. 23.2.12).
23
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
23
Bei der Begutachtung von Hirntumoren ist die Einschätzung der neuropsychologischen und emotionalen Beeinträchtigungen genauso wichtig wie die der neurologischen Ausfälle.
23
Einzubeziehen ist auch die subjektive Einschätzung. Ein Proband, der sich die Arbeit zutraut, der voller Hoffnung ist, hat objektiv größere Chancen, in die Arbeit zurückzukehren als jemand, der weniger neurologische Ausfälle hat, jedoch verbittert ist und sich sozial zurückzieht. Nicht der Tumor sollte im Mittelpunkt der Begutachtung stehen, sondern die Person, die vom Tumor betroffen ist.
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z
Positives Leistungsvermögen
Die Beurteilung kann nur individuell erfolgen, allgemeine Richtlinien lassen sich nicht festlegen. Ein Hirntumor selbst ist auch kein Hindernis, mittelschwere Tätigkeiten zu verrichten, solange die motorischen Funktionen intakt sind. Man sollte im Rahmen einer Belastungserprobung mit dem Probanden zusammen die Grenzen der Belastbarkeit austesten. Bezüglich der besonderen Einschränkungen bei epileptischen Anfällen sei auf 7 Kap. 23.2.11 verwiesen. z
Negatives Leistungsvermögen
Die Aussagen zum positiven Leistungsvermögen lassen sich auf das negative übertragen. Eine symptomatische Epilepsie kann je nach Form zu unterschiedlichen Einschränkungen führen. Wegen der oft eingeschränkten posturalen Kontrolle, die ein multisensorischer Prozess ist, sollten Personen nach einer Hirntumoroperation in der Regel nicht in der Höhe auf Gerüsten oder Leitern arbeiten. Bei Personen mit einem Akustikusneurinom und Hörminderung kommen Tätigkeiten, die an das Richtungshören gebunden sind, z. B. an Autobahnen, nicht in Frage. Bei Personen mit einem Olfaktoriusmeningeom ist der Verlust des Geruchsvermögens ein Hinderungsgrund für eine Tätigkeit als Koch oder in einem Labor mit möglichem Gasaustritt. z
Medizinische Rehabilitation
Neben Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bei Hirntumoren nach § 15 SGB VI mit dem übergreifenden Ziel einer möglichst dauerhaften Eingliederung in das Erwerbsleben können Rehabilitationsleistungen von der Deutschen Rentenversicherung auch nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI für einen erweiterten Personenkreis (Rentenbezieher, Angehörige von Versicherten oder Rentenbeziehern) erbracht werden. Die onkologische Rehabilitation zielt auf die positive Beeinflussung der durch die Krankheit oder deren Therapie bedingten körperlichen, seelischen, sozialen oder beruflichen Beeinträchtigungen. Grundsätzlich sollte bei Personen mit Beeinträchtigungen wegen eines Hirntumors bei vorliegender Rehabilitationsfähigkeit eine Rehabilitationsleistung durchgeführt werden. Eine Rehabilitationseinrichtung mit neuro-
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logischem Schwerpunkt ist angezeigt, wenn neurologische Ausfälle und neuropsychologische Defizite vorherrschen. Nach einer Operation eines Hirntumors ist die Durchführung als Anschlussrehabilitation (AHB) möglich.
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Teilhabe am Arbeitsleben
Je nach Art und Schwere der Beeinträchtigungen kommen umfassende Hilfen in Betracht, z. B. in Form einer leidensgerechten Arbeitsplatzausstattung, Mobilitäts- und Kraftfahrzeughilfen, Arbeitsassistenz, beruflichen Bildungsmaßnahmen als Fort- und Weiterbildung mit Teilbzw. Anschlussqualifikation, sowie in begründeten Einzelfällen auch als qualifizierende Umschulung. Im Vorfeld von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ist aufgrund der hohen Varianz im Krankheitsverlauf von Hirntumoren oft eine weitere sozialmedizinische Überprüfung des Leistungsvermögens betroffener Personen im Rahmen von Leistungen zur medizinisch-beruflichen Belastungserprobung (Phase II) sowie Maßnahmen der Eignungsfeststellung (Berufsfindung und Arbeitserprobung) notwendig. z
Erwerbsminderung
Viele Personen mit einem Hirntumor möchten unbedingt im Arbeitsleben verbleiben, daher sollte geprüft werden, ob nicht bei festgestellter Leistungsminderung durch eine Reduktion der Arbeitszeit der tumorbedingten allgemeinen Schwäche Rechenschaft getragen werden kann. Wenn die Tumorerkrankung fortschreitet und die Funktionseinschränkungen den Alltag dominieren, ist in der Regel eine Berentung notwendig.
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
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Kapitel 23 · Neurologische Erkrankungen
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Hilfreiche Links www.dgsm.de (Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin) www.dng-ev.de (Deutsche Narkolepsiegesellschaft e.V.)
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Psychische und Verhaltensstörungen Klaus Foerster, Wolfgang Weig, Katja Fischer (24.1); Wolfgang Weig, Katja Fischer (24.2.1, 24.2.2, 24.2.6 bis 24.2.8); Klaus Foerster, Katja Fischer (24.2.3 bis 24.2.5)
24.1
Allgemeines – 542
24.1.1 24.1.2 24.1.3 24.1.4 24.1.5
Sozialmedizinische Bedeutung – 542 Klassifikationen – 543 Diagnostik – 543 Begutachtungskriterien – 547 Sozialmedizinische Beurteilung – 548
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Krankheitsbilder – 550
24.2.1
Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen – 550 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen – 553 Affektive Störungen – 558 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen – 563 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren – 569 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen – 572 Intelligenzstörung – 575 Entwicklungsstörungen – 576
24.2.2 24.2.3 24.2.4 24.2.5 24.2.6 24.2.7 24.2.8
Literatur – 577
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
Psychische und Verhaltensstörungen können sich – mehr noch als andere Erkrankungen, die primär körperliche Funktionen beeinträchtigen – auf Aktivitäten und Teilhabe der Betroffenen auswirken. Neben den krankheitsbedingten Störungen von Aktivitäten und Teilhabe kommt häufig als negativer Kontextfaktor eine ablehnende Haltung in der Gesellschaft gegenüber Menschen mit psychischen Störungen hinzu. Dieses Kapitel enthält Ausführungen zu den psychischen und Verhaltensstörungen mit der größten Relevanz für die sozialmedizinische Begutachtung (ohne substanzgebundene Abhängigkeitskrankheiten: vgl. 7 Kap. 25).
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24.1
Allgemeines Klaus Foerster, Wolfgang Weig, Katja Fischer
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Für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit bei psychischen und Verhaltensstörungen ist die Kenntnis der psychomentalen Anforderungen an bestimmten Arbeitsplätzen bzw. in bestimmten Berufstätigkeiten sowie von Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von besonderer Bedeutung. Nur dann kann der Gutachter die Frage adäquat beantworten, inwieweit die Leistungsfähigkeit des Probanden für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit bzw. für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes beeinträchtigt ist. Da der allgemeine Arbeitsmarkt in der modernen Informations- und Mediengesellschaft zunehmend durch Berufsbilder mit regelmäßiger bis fast ausschließlicher Beanspruchung psychischer Funktionen geprägt ist, hat die gutachterliche Beurteilung letzterer einen herausragenden Stellenwert erlangt.
24.1.1
Sozialmedizinische Bedeutung
Nicht nur die Arbeitsunfähigkeitszeiten, sondern auch der Anteil von Rehabilitationsleistungen und Renten wegen Erwerbsminderung im Zusammenhang mit psychischen Störungen haben in den letzten Jahren nahezu kontinuierlich zugenommen. Im Jahr 2009 wurden nach der Statistik der Deutschen Rentenversicherung etwa 19,2 % der stationären medizinischen Rehabilitationsleistungen wegen psychischer Störungen als Erstdiagnose durchgeführt. Damit steht diese Diagnosegruppe an zweiter Stelle nach den Rehabilitationsleistungen wegen Krankheiten des Muskel-SkelettSystems (ca. 33,3 %) gefolgt von den Neubildungen (ca. 19,1 %). Für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bei psychischen Störungen (ohne Abhängigkeitserkrankungen) wurden von der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 2009 fast 680 Mio. Euro ausgegeben.
Bei den Erwerbsminderungsrenten führen psychische Störungen inzwischen die Statistik der Deutschen Rentenversicherung an. Im Jahr 2009 erfolgte von ca. 170.000 Neuberentungen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bereits etwa ein Drittel (über 56.000) wegen psychischer Störungen (ohne Abhängigkeitserkrankungen). Parallel zu den skizzierten Entwicklungen steigt der Bedarf an psychiatrisch-psychotherapeutischen Begutachtungen. Inzwischen wird etwa ein Drittel der sozialmedizinischen Begutachtungen für die Rentenversicherungsträger wegen psychischer Störungen durchgeführt. Die Prognose psychischer Störungen konnte unter anderem durch die Weiterentwicklung der medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten und eine adäquatere ambulante Versorgung der Betroffenen verbessert werden, aber auch eine verstärkte Information über psychische Störungen in der Öffentlichkeit sowie die Schaffung eines patientenorientierten therapeutischen Milieus in psychiatrischpsychotherapeutischen und psychosomatischen Einrichtungen haben dazu beigetragen. In der medizinischen und beruflichen Rehabilitation von Versicherten mit psychischen Störungen wurden die Behandlungsmöglichkeiten erweitert, differenziert und flexibilisiert. Neue Konzepte, zum Beispiel für die Rehabilitation seltenerer, jedoch sozialmedizinisch relevanter Störungsbilder und für die Reha-Nachsorge wurden entwickelt. Derzeit stehen in der Bundesrepublik Deutschland nahezu 16.000 Behandlungsplätze für die psychosomatisch-psychotherapeutische Rehabilitation zur Verfügung. Einrichtungen der Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen sowie der Rehabilitation psychisch kranker Menschen in spezialisierten Einrichtungen (RPK), die medizinische und berufliche Rehabilitationsleistungen eng miteinander verknüpfen, ergänzen das Angebotsspektrum. Sozialmedizinische Gutachten sind auch eine Entscheidungsgrundlage für die Bewilligung von Rehabilitationsleistungen durch den Rentenversicherungsträger – und dies nicht nur im Rahmen von Rentenantragsverfahren. Um eine entsprechende Empfehlung abgeben zu können, muss der Gutachter daher sowohl die Möglichkeiten der Krankenbehandlung, als auch das Spektrum der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für Versicherte mit psychischen Störungen kennen. Ziel der Krankenbehandlung ist bei psychischen Störungen die möglichst weitgehende Rückbildung der das Erleben und Verhalten prägenden Symptomatik, verbunden mit der Erreichung eines Zustandsbildes von Kompensation und seelischer Stabilisierung. Bei Leistungen zur Teilhabe im Sinne einer medizinischen oder beruflichen Rehabilitation steht hingegen die Auseinandersetzung mit der Erkrankung, ihren Fol-
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gen und/oder der daraus resultierenden Behinderung im Vordergrund. Beeinträchtigungen der Teilhabe sollen gemindert oder vermieden werden, indem der betroffenen Person Selbstwirksamkeitserfahrungen vermittelt werden und sie in ihrer Kompetenz zur Wahrnehmung und Nutzung vorhandener Ressourcen gestärkt wird. Der Fokus der Rehabilitation in der Rentenversicherung besteht in medizinischer, psychologischer, pädagogischer und beruflicher Unterstützung, um eine betroffene Person trotz des Bestehens einer oder gar mehrerer Erkrankungen beziehungsweise Behinderungen zu befähigen, am Erwerbsleben teilzuhaben und ein möglichst »normales« Alltagsleben zu führen.
24.1.2
Klassifikationen
Im Folgenden werden die im deutschen Sprachraum gebräuchlichsten diagnostischen Klassifikationen und diagnoseübergreifenden Instrumente zur Befunddokumentation bei psychischen Störungen sowie die bei psychischen Störungen relevantesten Komponenten der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, WHO, 2001) [42] vorgestellt.
Diagnostische Klassifikationen Die diagnostische Einteilung der psychischen und Verhaltensstörungen erfolgt im deutschen Sprachraum überwiegend nach der ICD-10-GM [12], der deutschen Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases and Health related Problems, German Modification). Das von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebene Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen (DSM-IV) [1] stellt eine alternative Klassifikation dar, die mit ihrem höheren Detaillierungsgrad überwiegend für wissenschaftliche Zwecke genutzt wird. Die diagnostische Einteilung erfolgt hierbei entlang von fünf Achsen, die teilweise wiederum in mehrere diagnostische Kategorien unterteilt sind (Achse I und II).
Die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD-2) [3] stellt ein weiteres diagnostisches – allerdings schulenspezifisches – Instrument dar, das aus vier psychodynamischen und einer deskriptiven Achse besteht und eine differenzierte Beschreibung der Psychodynamik eines Probanden und ihrer Auswirkungen auf Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen erlaubt. Es existiert eine Fülle weiterer Erhebungs- und Dokumentationsinstrumente, die sich unter anderem hinsichtlich diagnostischer Spezifität und Sensitivität, Erfassungsmodus (Selbst-, Fremdrating), Durchführungsaufwand sowie Validität und Reliabilität unterscheiden (vgl. 7 Kap. 24.1.3, Testpsychologische Untersuchungen).
ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) Die Auswirkungen psychischer Störungen auf einzelne psychische Funktionen, aber auch auf Aktivitäten und Teilhabe können mit Hilfe der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) verschlüsselt und standardisiert erfasst werden (siehe auch 7 Kap. 4.2). Bei der Strukturierung und Beschreibung eines psychischen Befundes sowie des qualitativen Leistungsvermögens im Erwerbsleben kann die Verwendung der ICF mit ihrem hohen Detaillierungsgrad durchaus hilfreich sein, in der Praxis steht einer regelhaften Verschlüsselung psychischer Zustände anhand der ICF unter anderem der damit verbundene erhebliche Aufwand entgegen. Die Möglichkeiten, mittels der ICF das quantitative Leistungsvermögen bei psychischen Störungen sowie sozialmedizinische Aussagen zur Prognose zu operationalisieren, sind trotz bestehender wissenschaftlicher Ansätze noch beschränkt. Die nachfolgende . Tab. 24.1 listet die für psychische Störungen besonders relevanten Funktionen nach der ICF auf. Die zahlreichen für die Begutachtung bei psychischen Störungen relevanten Komponenten der Aktivitäten und Teilhabe, wie beispielsweise zu Wissensanwendung und Kommunikation, sind der ICF zu entnehmen.
24.1.3
Diagnoseübergreifende Instrumente zur Befunddokumentation Mit Hilfe des von der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie entwickelten sog. AMDP-Systems [2] können anamnestische Angaben, körperlicher Befund und Psychopathologie bei Menschen mit psychischen Störungen standardisiert erfasst werden. Außerdem ist hier eine Differenzierung nach der Methode der Informationsgewinnung (Selbst- vs. Fremdeinschätzung) vorgesehen.
Diagnostik
Kernstück der psychiatrischen Diagnostik ist die Erhebung eines ausführlichen psychischen Befundes. Der psychische Befund beschreibt das Querschnittsbild der seelischen Verfassung des Probanden zum Untersuchungszeitpunkt und stützt sich auf die Beobachtung des Verhaltens sowie das vom Probanden berichtete Erleben. Der Befund muss in möglichst differenzierter Form erhoben und dokumentiert werden. Dies kann z. B. durch die Verwendung des Manuals zur Dokumentation psychiatrischer Befunde der AMDP (siehe 7 Kap. 24.1.2) unterstützt werden, das
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544
Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
24
. Tab. 24.1 Bei psychischen Störungen besonders relevante Funktionen nach der ICF
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Globale mentale Funktionen:
Spezifische mentale Funktionen:
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Funktionen des Bewusstseins
Funktionen der Aufmerksamkeit
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Funktionen der Orientierung
Funktionen des Gedächtnisses
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Funktionen der Intelligenz
Psychomotorische Funktionen
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Globale psychosoziale Funktionen
Emotionale Funktionen
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Funktionen von Temperament und Persönlichkeit
Funktionen der Wahrnehmung
Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs
Funktionen des Denkens
Funktionen des Schlafes
Höhere kognitive Funktionen
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Kognitiv-sprachliche Funktionen
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Das Rechnen betreffende Funktionen
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Mentale Funktionen, die die Durchführung komplexer Bewegungshandlungen betreffen
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Die Selbstwahrnehmung und die Zeitwahrnehmung betreffende Funktionen Auszug aus der ICF (Stand Oktober 2005)
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– wenn möglich – durch weitere Kategorien ergänzt werden sollte. Die im Arbeitskreis operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD, 7 Kap. 24.1.2) entwickelten Achsen stellen ein differenziertes Modell zur Erfassung relevanter psychischer Dimensionen dar, das mit dem diagnostischen System der ICD-10 kompatibel ist. z
Anamnese
Zur Erfassung und Einordnung von psychischen und Verhaltensstörungen ist eine ausführliche Anamneseerhebung unabdingbar. Die biografische Anamnese kann primär aus den Spontanangaben entnommen werden. Häufig wird die spontane Darstellung den Anforderungen an die gutachterliche Sachaufklärung jedoch nicht genügen, so dass der Sachverständige zusätzlich gezielt und detailliert explorieren muss. Neben der Eigenanamnese kann auch die Erhebung einer Fremdanamnese weitere wichtige Aufschlüsse über die diagnostische Einordnung und auch zur Leistungsfähigkeit von Versicherten geben. Dabei sind
die jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen (Schweigepflicht, Datenschutz) zu beachten. Verdeutlichung und Aggravation sowie – seltener – Simulation und Dissimulation können auch in der Begutachtung von Versicherten mit psychischen oder Verhaltensstörungen eine Rolle spielen. Die Identifikation derartiger Antwortverzerrungen stellt erhebliche Anforderungen an die diagnostischen Fähigkeiten des Gutachters (siehe auch 7 Kap. 27.2). z
Körperliche Untersuchung
Zu jeder psychiatrischen Begutachtung gehört ein körperlicher Untersuchungsbefund. Hier können sich Hinweise auf behandelbare und prinzipiell reversible körperliche Erkrankungen als Ursache für die psychischen bzw. Verhaltensstörungen ergeben. Bei Hinweisen auf erhebliche körperliche Erkrankungen wird eine zusätzliche Begutachtung auf dem jeweiligen Fachgebiet dann erforderlich werden, wenn hieraus leistungsrelevante Ergebnisse zu erwarten sind. z
Psychischer Befund
Der psychische Befund ist Grundlage jeder Begutachtung von Versicherten mit psychischen und Verhaltensstörungen. Ein psychiatrisches Gutachten, in dem der Abschnitt »Psychischer Befund« fehlt, ist unbrauchbar. Die Feststellung von Einschränkungen im Leistungsvermögen ist ohne eine im Querschnittsbefund oder im Verlauf eindeutig zu beschreibende psychopathologische Symptomatik nicht begründbar. Der psychische Befund ist in möglichst differenzierter Form zu erheben und zu dokumentieren. Hierzu gehört sowohl die Schilderung des Ersteindrucks in der Gutachtensituation als auch eine ausführliche Beschreibung der Persönlichkeit des Betroffenen, die der Individualität des Probanden gerecht werden muss und zugleich hinsichtlich der Gegenübertragung zu kontrollieren ist. Diese deskriptive Darstellung darf keine wertenden oder deutenden Elemente enthalten und sollte dem Leser des Gutachtens eine bündige und bildhafte Vorstellung des Untersuchten vermitteln. Rein anamnestische Angaben gehören nicht zum psychischen Befund. Folgende Bereiche sind für die Beurteilung des quantitativen und qualitativen Leistungsvermögens, der Prognose, der Behandlungs- und Rehabilitationsbedürftigkeit sowie der Rehabilitationsfähigkeit von Interesse. z z Bewusstsein
Das Bewusstsein kann als Zustand der Bewusstheit bezüglich des Selbst und der Umwelt definiert werden, verbunden mit der Fähigkeit zu situativ adäquaten Reaktionen. Quantitative Bewusstseinsstörungen bzw. Bewusstseinsverminderung gehen auf eine beeinträchtigte Vigilanz (Wachheit) zurück und deuten in der Regel auf eine or-
545 24.1 · Allgemeines
ganische Genese hin. Verschiedene Schweregrade werden unterschieden: Benommenheit, Somnolenz, Sopor und Koma. Bei den qualitativen Bewusstseinsstörungen ist die Vigilanz unbeeinträchtigt, es liegen jedoch Veränderungen im Sinne von Bewusstseinstrübung (mit mangelnder Klarheit von Denken und Handeln), Bewusstseinseinengung oder Bewusstseinserweiterung (z. B. unter Drogeneinfluss) vor. Anhaltende Bewusstseinsstörungen schließen eine Erwerbstätigkeit aus.
Gedächtnisstörungen werden bereits im Rahmen der Anamneseerhebung deutlich; dies gilt insbesondere für Störungen des Altgedächtnisses. Störungen des Frischgedächtnisses beeinträchtigen die Leistungsfähigkeit in der Regel so erheblich, dass eine Erwerbstätigkeit gar nicht mehr möglich ist. Auch auf der qualitativen Ebene können sich Einschränkungen ergeben. Zur Objektivierung können standardisierte testpsychologische Verfahren ergänzend angewandt werden, die bei entsprechenden Hinweisen eine Plausibilitätsprüfung beinhalten sollten.
z z Orientierung
Die Orientierung zu Zeit, Ort, Situation und zur eigenen Person ist immer zu prüfen. Andauernde Orientierungsstörungen bedingen in aller Regel eine Aufhebung des Leistungsvermögens. z z Auffassung, Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, Gedächtnis
Auffassung wird als Fähigkeit verstanden, Wahrnehmungen in ihrer Bedeutung zu begreifen, diese sinnvoll miteinander zu verbinden und in den persönlichen Erfahrungsbereich einzubauen. Bei der Erfassung der Aufmerksamkeit kann zwischen Fokussierung, Beibehaltung und Verschiebung der Aufmerksamkeit differenziert werden, wobei dies im Rahmen der Exploration und Verhaltensbeobachtung sowie durch zusätzliche neuropsychologische Verfahren erfolgen kann. Konzentrationsfähigkeit bezeichnet das Vermögen, sich über eine längere Zeitspanne ausschließlich mit einer bestimmten Aufgabe zu befassen und ablenkende Außenreize weitgehend auszublenden. Störungen von Auffassung, Aufmerksamkeit und Konzentration bzw. auch ein vorzeitiges Nachlassen von Aufmerksamkeit und Konzentration (rasche Ermüdung) wirken sich in der Regel auf Güte und Tempo der zu leistenden Arbeit aus. Je nach Ausprägungsgrad ergeben sich Einschränkungen der quantitativen und qualitativen Leistungsfähigkeit. Gedächtnis bezieht sich auf die Fähigkeit der Speicherung und des zielgerichteten Abrufs von Informationen. Dabei bezeichnet Merkfähigkeit die Fähigkeit, sich neue Eindrücke über eine Zeit von ca. zehn Minuten zu merken. Bei leichten Störungen der Merkfähigkeit können von drei einmal dargebotenen und vom Probanden wiederholten Zahlen oder Begriffen nur noch eine oder zwei spontan erinnert werden. Bei schweren Merkfähigkeitsstörungen können die drei Zahlen oder Begriffe nach zehn Minuten auch mit Hilfestellung nicht mehr benannt werden. Gedächtnis meint die Fähigkeit, Eindrücke oder Erfahrungen längerfristig (länger als ca. zehn Minuten) zu speichern bzw. Erlerntes aus dem Gedächtnis abzurufen. Das Gedächtnis kann auf der Zeitachse in ganz grober Einteilung differenziert werden in Frischgedächtnis (bis etwa sechzig Minuten) und Altgedächtnis (Erinnerung an weiter zurückliegende Erfahrungen).
z z Formales Denken
Die Denkabläufe können gestört sein in Bezug auf Geschwindigkeit (z. B. Denkverlangsamung), Kontrolle (z. B. Gedankendrängen), Organisation (z. B. Inkohärenz/Zerfahrenheit) und Produktivität (z. B. Grübeln). Formale Denkstörungen sind immer ein Zeichen für eine gravierende psychische Störung und beeinflussen die kognitiven Fähigkeiten des Probanden. Sowohl bei schizophrenen Störungen als auch bei affektiven Erkrankungen können formale Denkstörungen erhebliche Einschränkungen sowohl der quantitativen als auch der qualitativen Leistungsfähigkeit nach sich ziehen. z z Inhaltliches Denken
Störungen des inhaltlichen Denkens (z. B. Wahnphänomene, Zwänge, Ängste) sind in ihren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit im Einzelfall zu betrachten. Derartige Phänomene, sofern sie isoliert auftreten, müssen das Leistungsvermögen nicht zwingend beeinträchtigen. Je nach Ausprägungsgrad kann es jedoch – insbesondere bei starker affektiver Beteiligung – zu Einschränkungen der quantitativen und qualitativen Leistungsfähigkeit kommen. z z Wahrnehmung
Wahrnehmungsstörungen können sich auf einzelne oder mehrere Sinnesqualitäten (akustische, optische, taktile, olfaktorische, gustatorische) beziehen. Auf das Vorhandensein von Sinnestäuschungen wie beispielsweise akustischen Halluzinationen kann zwar oft nur indirekt via Verhaltensbeobachtung geschlossen werden, sie werden jedoch auch vom psychiatrisch weniger erfahrenen Gutachter leicht als pathologisch identifiziert. Sinnestäuschungen sind ein typisches Symptom schizophrener Störungen, treten aber durchaus auch bei anderen psychischen Störungen, vor allem bei organischen oder symptomatischen Psychosen und beim Delir auf. Illusionen unterscheiden sich von Halluzinationen dadurch, dass bei ihnen ein real existentes Objekt als etwas anderes verkannt wird, während Halluzinationen einer realen Grundlage völlig entbehren.
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546
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
z z Ich-Erleben
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Ich-Störungen werden von den Betroffenen häufig nicht spontan berichtet und müssen bei entsprechenden Hinweisen gezielt erfragt werden. Sie beziehen sich auf ein – vom Betroffenen oft auf Außeneinflüsse projiziertes – verändertes Erleben der eigenen Identität und der Grenze zwischen Ich und Umwelt. Beispiele sind Derealisation, Depersonalisation, Gedankenausbreitung und Gedankenentzug. Solche Phänomene kommen nicht nur bei Schizophrenien vor, sondern beispielsweise auch nach schweren psychischen Traumata (Derealisation, Depersonalisation). Leichter ausgeprägte Ich-Störungen können durchaus mit der Ausübung einer einfacher strukturierten Erwerbstätigkeit ohne hohe Anforderungen an die sozioemotionale Belastbarkeit vereinbar sein, schwere Ich-Störungen schließen dies hingegen aus.
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z z Affektivität
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Störungen der Affektivität, zu denen Veränderungen von Gefühlen, Stimmungen und Emotionalität sowie Einschränkungen von Schwingungsfähigkeit oder Befindlichkeit zählen, können sich sowohl auf das quantitative als auch auf das qualitative Leistungsvermögen auswirken. Das quantitative Leistungsvermögen kann insbesondere bei schwerer Depressivität, Ängstlichkeit oder erheblichen Insuffizienzgefühlen eingeschränkt sein, wobei Diskrepanzen zwischen subjektiver Bewertung und gutachterlich festgestellter Leistungsfähigkeit nicht selten sind. Bei mäßiger Ausprägung der jeweiligen Symptomatik oder beispielsweise bei hypomanischen Zustandsbildern können bereits qualitative Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens im Erwerbsleben vorliegen. Störungen der Affektivität – z. B. im Rahmen von Zwangskrankheiten oder bei einer Agoraphobie – müssen sich nicht immer im unmittelbaren Querschnittsbefund äußern, sondern sind gelegentlich erst über eine differenzierte Längsschnittbetrachtung erfassbar.
eine Tätigkeit gar nicht erst aufgenommen werden kann und damit die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben aufgehoben ist. z
Weitere relevante psychische Dimensionen
Für die Einschätzung der Leistungsfähigkeit können darüber hinaus zusätzliche Kategorien innerhalb des psychischen Befundes von Bedeutung sein. z z Flexibilität
Flexibilität bedeutet die Fähigkeit, sich bei wechselnden Anforderungen geistig umstellen zu können. Damit gemeint ist auch die Fähigkeit, bei Problemlösungen einen Strategiewechsel zu vollziehen. Höheres Alter allein bedingt keine Minderung der Flexibilität. z z Krankheitsverständnis, Selbsterleben, Sozialverhalten
Bei fast allen psychischen Störungen spielen das Krankheitsverständnis und das Selbsterleben der Betroffenen für Behandlungsmotivation und Prognose eine wichtige Rolle und müssen daher detailliert beschrieben werden. Neben dem subjektiven Krankheitserleben und der Krankheitseinsicht können auch Introspektionsfähigkeit, Psychogeneseverständnis und Veränderungsmotivation sowie – möglicherweise fixierte – Einstellungen und persönliche Grundhaltungen einen wichtigen Beitrag zur Beurteilung des Leistungsvermögens liefern. Das Gleiche gilt für die Einschätzung eines möglicherweise vorhandenen sogenannten sekundären Krankheitsgewinnes oder eine eventuell bestehende Regressionsneigung. Zu bedenken sind auch die verfügbaren persönlichen Ressourcen, beispielsweise in Form von Leistungsanspruch, Pflichtgefühl, Durchsetzungsvermögen, Selbstwirksamkeitserwartung und Konfliktfähigkeit. Das Sozialverhalten – und hier insbesondere der (anhaltende) soziale Rückzug – kann Hinweise auf eine bereits eingetretene Chronifizierung der psychischen Störung geben.
z z Antrieb
Das Antriebsniveau ist in der Gutachtensituation am ehesten an der spontanen Psychomotorik, dem Ausdrucksverhalten erkennbar. Störungen des Antriebs bzw. der Intentionalität manifestieren sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Untersuchungssituation, entsprechende Hinweise können sich aus Anamnese und Fremdanamnese ergeben. Das Vorhandensein eines ausreichenden Antriebs ist Voraussetzung dafür, dass ein Mensch überhaupt zur Erfüllung gezielter Aufgaben in der Lage ist. Bei bestimmten psychischen Erkrankungen (z. B. demenzielle Abbauprozesse, Psychosen) sind Störungen des Antriebs häufig und können eine Minderung der qualitativen Leistungsfähigkeit bedingen. Es finden sich aber auch Antriebsstörungen von derartiger Ausprägung, dass
z
Testpsychologische Untersuchungen
Als Ergänzung zur Erhebung des psychischen Befundes stehen testpsychologische Verfahren zur Verfügung. Eine testpsychologische Untersuchung ist nur dann erforderlich, wenn sich aus ihrem Ergebnis zusätzliche Hinweise für die Beantwortung der gutachtlichen Beweisfragen ergeben. Im Rahmen der Begutachtung für die Rentenversicherung werden sie primär eingesetzt zur 4 Evaluierung bzw. Quantifizierung bestimmter Störungsbilder, 4 zur diagnoseunabhängigen Erfassung charakterlicher Grundstrukturen oder 4 zur Leistungsdiagnostik.
547 24.1 · Allgemeines
Grundsätzlich unterschieden werden muss zwischen Selbstbeurteilungsskalen, die der Proband ausfüllt, und Fremdbeurteilungsskalen, bei denen der Untersucher anhand einer standardisierten Methode vorgeht. Eine sinnvolle Durchführung und Auswertung testpsychologischer Untersuchungen ist immer an die Mitarbeit des Probanden gebunden. Insbesondere bei Selbstbeurteilungsinstrumenten ohne Plausibilitätskontrolle ist eine negative Antwortverzerrung auf der Basis mangelnder Mitarbeit gutachterlich nur schwer aufzudecken. Mittels des Einsatzes solcher Instrumente ist zwar eine Objektivierung im Sinne der standardisierten Erfassung von Befunden zu erzielen, nicht jedoch der Nachweis der krankheitsbedingten Genese der Befunde. In diesem Zusammenhang gewinnen Instrumente zur Beschwerdenvalidierung im Rahmen einer neuropsychologischen Untersuchung zunehmend an Bedeutung, die vor allem bei Zweifeln bezüglich vom Probanden geschilderter kognitiver Störungen, Gedächtnisprobleme oder Störungen der Wahrnehmung eingesetzt werden sollten. Beschwerdenvalidierungsinventarien sind entweder bereits integrierte Bestandteile bestimmter Testverfahren (z. B. zur Reaktionsgeschwindigkeit) oder es handelt sich um eigenständige Untersuchungen (siehe auch 7 Kap. 27.2). Die Auswahl der testpsychologischen bzw. apparativen Untersuchungen ist abhängig von der jeweiligen Fragestellung. Die drei primären Gütekriterien standardisierter Testverfahren – Objektivität, Reliabilität, Validität – müssen erfüllt sein. Entscheidend für die Anwendung ist die kritische Gewichtung, Interpretation und Wertung der ermittelten Testergebnisse im Zusammenhang mit den übrigen Befunden einschließlich der Beobachtung des konkreten Verhaltens in der Untersuchungssituation. Neben verschiedenen Screening-Methoden zur orientierenden Prüfung sind auch umfassende, modular aufgebaute Testsysteme im Einsatz, die z. T. an größeren Probandengruppen normiert wurden. Die meisten Verfahren liegen mittlerweile in computergestützter Version vor. Bei spezifischen Fragestellungen muss ggf. auf eine neuropsychologische Zusatzbegutachtung zurückgegriffen werden. Eine standardisierte Befunderhebung und ein statistischer Vergleich mit unterschiedlichen Bezugsgruppen sind u. a. für folgende Bereiche möglich: 4 Gedächtnis (verbale, visuell-räumliche, numerale Merkfähigkeit; Wiedererkennung-Reproduktionsleistung; Spanne des Arbeitsgedächtnisses, Langzeitgedächtnis) 4 Wahrnehmung und Visomotorik 4 Denk- und Problemlösefähigkeit 4 Umstellungsfähigkeit als kognitiver Stil, Interferenzfreiheit, Verarbeitungskapazität, Bearbeitungsgeschwindigkeit z. B. bei geistiger Tempoarbeit
4 Allgemeines Wissen, verbales (= kristallines, überwiegend bildungsabhängiges) intellektuelles Leistungsniveau 4 Allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit 4 Einstellung und Interessen, Überzeugung und Krankheitsbewältigungsstil 4 Persönlichkeitsfaktoren und -strukturen, Selbstkonzept 4 Angst und Depressivität
24.1.4
Begutachtungskriterien
Begutachtungskriterien für die Belange der gesetzlichen Rentenversicherung müssen in besonderem Maße die Funktionen und Aktivitäten einbeziehen, die für die Teilhabe am Erwerbsleben wesentlich sind. Eine umfassende und klar abgrenzende Darlegung der Begutachtungskriterien, ihres Zusammenwirkens und ihrer Bewertung im Einzelfall ist bei psychischen und Verhaltensstörungen im Vergleich zu somatischen Erkrankungen oft erheblich schwieriger. Zudem sind motivationale Komponenten auf Seiten des Probanden einzukalkulieren sowie erhöhte Anforderungen an die gutachterliche Kompetenz und vergleichende Objektivität bei der Einschätzung der Ausprägung der Begutachtungskriterien und des daraus resultierenden Leistungsvermögens. Die Überführung der in der Gutachtensituation verfügbaren Informationen in eine sozialmedizinische Beurteilung bleibt trotz aller Hilfsmittel die Aufgabe des fachlich und gutachterlich erfahrenen Arztes, daran haben auch ICF-basierte Assessment-Instrumente nichts Grundlegendes geändert. Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit anhand der Begutachtungskriterien sollte sich möglichst weitgehend aus dem psychischen Befund ableiten, der unter anderem direkt oder indirekt gewonnene Erkenntnisse über kognitive, amnestische, affektiv-emotionale, psychomotorische sowie integrative und komplexe psychische Funktionen (z. B. Umstellungsfähigkeit, Selbstwertgefühl, Motivation, Problemlösefähigkeit, Selbstwirksamkeitserwartung) beinhaltet. Die sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben kann sich jedoch nicht nur auf den aktuellen psychischen Befund stützen, sondern muss in der Zusammenschau aller erhobenen Befunde und Informationen erfolgen. Auch Persönlichkeitsfaktoren bzw. personbezogene Kontextfaktoren spielen für die gutachterliche Beurteilung eine wichtige Rolle. Als Beispiele seien hier Aspekte der Krankheits- und Alltagsbewältigung, der sozialen Kompetenz und der sozialen Integration genannt. Psychische und somatische Komorbidität müssen selbstverständlich ebenfalls in der Beurteilung der Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden. Die ICF kann bei der »Übersetzung« von psychischem Befund und weite-
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548
Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
Mentale Funktionen (Psychopathologie)
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Fähigkeiten /Aktivitäten
Kontext/Partizipation (Erfüllung von Rollenerwartungen + Einbezogensein in eine Lebenssituat.)
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Bewusstsein
1. Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen
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Orientierung
2. Fähigkeit zur Planung und Strukturierung von Aufgaben
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Mnestik
3. Flexibilität und Umstellungsfähigkeit
Arzt/Ärztin
Auffassung
4. Fachliche Kompetenz
Bäcker/in
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Aufmerksamkeit und Konzentration
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Architekt/in
Bauarbeiter/in
6. Durchhaltefähigkeit Fernfahrer/in
Formales Denken 7. Selbstbehauptungsfähigkeit Inhaltliches Denken
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5. Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit
Altenpfleger/in
Ich-Störungen
8. Kontaktfähigkeit zu Dritten
Klempner/in
9. Gruppenfähigkeit
Zwänge, Phobien und Befürchtungen
10. Fähigkeit zu familiären Beziehungen
Affekt
11. Fähigkeit zu außerberuflichen Aktivitäten
Antrieb Einstellung und Erleben
Fließbandarbeiter/in
12. Fähigkeit zur Selbstpflege
Postzusteller/in Sachbearbeiter/in Verkäufer/in u. a.
13. Wegefähigkeit
Psychophysiologie . Abb. 24.1 Begutachtungskriterien nach Mini-ICF-P, Linden et al. [28]
24 24 24 24 24 24 24 24 24 24
ren Informationen in Fähigkeitsdimensionen und letztlich in die Beurteilung der Leistungsfähigkeit eine wertvolle Unterstützung bieten [28]. Die Begutachtungskriterien bei psychischen und Verhaltensstörungen beziehen sich auf bedeutsame Fähigkeiten bzw. Aktivitäten, die der . Abb. 24.1 zu entnehmen sind; exemplarisch wird hier die Durchhaltefähigkeit im Hinblick auf die Beeinflussung durch die individuelle Psychopathologie und hinsichtlich der Auswirkungen auf verschiedene Berufstätigkeiten dargestellt. Die Ausprägung der Begutachtungskriterien ergibt sich zwar primär aus Anamnese und psychischem Befund, es sollten jedoch alle in der Gutachtensituation verfügbaren Informationen im Hinblick auf die Begutachtungskriterien bewertet werden. Nicht alle der aufgeführten Fähigkeitsdimensionen sind für jede denkbare Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gleich relevant. Während beispielsweise Durchhaltefähigkeit eine Grundvoraussetzung jeder regulären Vollzeittätigkeit darstellt, existieren durchaus Tätigkeiten, bei deren Ausübung Gruppenfähigkeit oder Entscheidungs-
und Urteilsfähigkeit nicht von ausschlaggebender Bedeutung sind. Die gutachterliche Beurteilung erfordert daher immer auch die Kenntnis der individuellen Arbeitsplatzanforderungen, um den Abgleich mit den vorhandenen Ressourcen des Probanden vornehmen zu können.
24.1.5
Sozialmedizinische Beurteilung
Maßgebend für die Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben ist – wie in anderen Fachgebieten auch – nicht allein die Diagnose, sondern die konkrete Symptomatik mit ihren Auswirkungen auf Alltagsgestaltung und berufliche Anforderungen. Ohne auffälligen psychopathologischen Befund ist eine Leistungsminderung meist nicht zu begründen. Sofern psychopathologische Symptome festgestellt werden, ist abgesehen von wenigen Ausnahmen (z. B. posttraumatische Belastungsstörung nach schwerem Unfall/Überfall am Arbeitsplatz) zu erwarten, dass diese sich nicht nur hinsichtlich der Teilhabe am Erwerbsleben auswirken, sondern auch mit Beeinträchti-
549 24.1 · Allgemeines
gungen in Privatsphäre und Freizeitgestaltung einhergehen. Generell gilt, dass psychische Beeinträchtigungen im Hinblick auf die Leistungen der Rentenversicherung nur dann relevant sind, wenn sie sich auf die berufliche Leistungsfähigkeit auswirken. Die Möglichkeiten von Krankenbehandlung und Rehabilitation bei psychischen und Verhaltensstörungen müssen dem Gutachter vertraut sein, damit er sie in seine prognostische Einschätzung aufnehmen kann. Dies ist umso wichtiger, als häufig jüngere Menschen von schwer wiegenden psychischen Störungen betroffen sind. Ihre dauerhafte soziale Integration und Lebensplanung hängt unter anderem von einer suffizienten Akutbehandlung sowie einer gelungenen Rehabilitation einschließlich Nachsorge und beruflicher (Wieder-) Eingliederung ab. Neben der medizinischen Rehabilitation stellen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben einen weiteren wichtigen Baustein im Leistungsspektrum der gesetzlichen Rentenversicherung dar. Die Auswahl der Leistung richtet sich nach individuellem Unterstützungsbedarf und Belastbarkeit des Rehabilitanden, wobei Hilfen zur Erhaltung und Erlangung eines Arbeitsplatzes wie beispielsweise Trainingsmaßnahmen und aufwändigere Maßnahmen der beruflichen Bildung (Qualifizierungsmaßnahmen, z. B. Umschulungen) mit zusammen über 55 % den Hauptanteil der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ausmachen. Berufsvorbereitende Maßnahmen, die Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit (Gründungszuschuss), Leistungen an Arbeitgeber sowie Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen ergänzen das Leistungsangebot [11]. Bei der Entscheidung über die Bewilligung einer Qualifizierungsmaßnahme (Anpassung, Umschulung, Weiterbildung) muss bei Menschen mit psychischen Störungen die individuelle Belastbarkeit im Hinblick auf die Erfolg versprechende Durchführung stets berücksichtigt werden. Eine Umschulung ist mit relativ hohen Anforderungen an die kognitive Leistungsfähigkeit und die emotionale Belastbarkeit verbunden und setzt daher eine gute psychische Stabilisierung voraus. Sofern Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Frage kommen, sollte möglichst auf vorhandene berufliche Erfahrungen und persönliche Ressourcen des Betroffenen zurückgegriffen werden; Hilfen zur Erhaltung und Erlangung eines Arbeitsplatzes sind hier oft sinnvoller als aufwändige Qualifizierungsmaßnahmen. z
Verdeutlichung, Aggravation, Simulation, Dissimulation
In der Begutachtung von Menschen mit psychischen oder Verhaltensstörungen stellt sich das Problem von Verdeutlichung, Aggravation, Simulation und Dissimulation bei der Begutachtung nicht selten in besonderer Weise (siehe auch 7 Kap. 27.2).
Bei der Verdeutlichung handelt es sich um eine häufig anzutreffende Betonung vorhandener Beschwerden durch den Probanden aus der Motivation heraus, den Gutachter von der Existenz der Beschwerden zu überzeugen. Bei der Aggravation handelt es sich um die besondere Betonung subjektiv vorhandener Beeinträchtigungen und Beschwerden, nicht jedoch um eine bewusste Falschaussage. Aggravation ist in der sozialmedizinischen Begutachtung häufig und in der Regel ohne weiteres zu erkennen. Bei der Simulation handelt es sich dagegen um die bewusste Vortäuschung nicht vorhandener körperlicher oder psychischer Krankheitssymptome sowie das absichtliche, gezielte Erzeugen von Krankheitserscheinungen. Wie häufig Simulationen bei Begutachtungen tatsächlich vorkommen, ist nicht bekannt. Hinweise auf Simulationen können die folgenden sein [17, 18]: 4 Zwischen den häufig massiven subjektiven Beschwerdeschilderungen und dem Verhalten des Betroffenen in der Untersuchungssituation besteht eine auffällige Diskrepanz. 4 Die subjektiv geschilderte Intensität der Beschwerden steht in einem Missverhältnis zur Vagheit der Schilderungen der einzelnen Symptome. 4 Angaben zum Krankheitsverlauf sind nicht präzisierbar. 4 Das Ausmaß der geschilderten Beschwerden steht nicht in Übereinstimmung mit einer entsprechenden Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe. 4 Ungeachtet der Angabe schwerer subjektiver Beeinträchtigungen erweist sich das psychosoziale Funktionsniveau des Betroffenen bei der Alltagsbewältigung als weitgehend intakt. 4 Das Vorbringen der Klagen wirkt appellativ oder demonstrativ. 4 In der Gegenübertragungssituation entsteht die Empfindung des Unechten, des Falschen. 4 Die Angaben des Probanden weichen erheblich von fremdanamnestischen Informationen ab. GLATZEL [19] nennt weitere Aspekte: In der Exploration das Ausweichen in nicht-sprachliche Ausdrucksformen, Beantwortung einer Frage mit langer Verzögerung, Wechsel des Themas durch den Patienten, Formulierung von Aussagen mit sorgfältiger Ambivalenz, möglicherweise Abbruch der Beziehung, wobei in diesem Abbruch nochmals alle »Symptome« in Wort und Gestik dramatisch zur Darstellung gebracht werden. Seltener als Aggravation und Simulation ist die Dissimulation in der Begutachtungssituation, definiert als Verharmlosung bzw. Herunterspielen vorhandener Symptome durch den Probanden. Ursächlich liegt hier meist ein psychischer Abwehrprozess zugrunde, der der Vermeidung von Scham-, Schuld- und Angstgefühlen dient.
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
Auch die Sorge um den trotz einer schwer wiegenden psychischen Erkrankung noch erhaltenen Arbeitsplatz oder um den Rückhalt durch das soziale Umfeld kann dazu führen, dass Betroffene die psychische Symptomatik vor dem Gutachter zu verbergen suchen. Auch der Begriff der »zumutbaren Willensanspannung« [18] ist im Kontext der Begutachtung bei psychischen und Verhaltensstörungen von besonderer Bedeutung. Die Frage an den Gutachter lautet hier, ob der Proband trotz der psychischen Symptomatik mit zumutbarer Willensanstrengung in der Lage ist, innerhalb von sechs Monaten (juristisch festgelegte Frist) die Hemmungen zu überwinden, die einer Arbeitsaufnahme entgegen stehen. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht immer leicht und erfordert umfassende sowohl fachliche als auch gutachterliche Erfahrung. Wenn der Gutachter davon überzeugt ist, dass die Frage zu verneinen ist, wird eine Minderung der Leistungsfähigkeit bei dem Probanden anzunehmen sein.
24.2
Krankheitsbilder
24.2.1
Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen Wolfgang Weig, Katja Fischer
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Psychische Störungen infolge einer definierten körperlichen Erkrankung werden in Abschnitt F00–F09 der ICD-10 als organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen bezeichnet [12]. Alle organischen psychischen Störungen beruhen auf zerebralen Funktionsstörungen, die auf hirneigene oder auf systemische Erkrankungen mit zerebraler Beteiligung zurückgeführt werden können. Letztere treten als symptomatische Störungen im Gefolge einer Erkrankung anderer Organsysteme (z. B. hepatische Enzephalopathie bei Leberzirrhose) auf. Der Anteil der organischen, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen an allen wegen psychischer Störungen (ohne Abhängigkeitserkrankungen) von der gesetzlichen Rentenversicherung durchgeführten stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation betrug im Jahr 2009 nur etwa 1 %, ihr Anteil an allen Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Störungen lag unter 6 %. Dieser relativ geringe Anteil dürfte einerseits in der Altersstruktur begründet sein: Vielfach sind von Störungen aus dieser Gruppe eher ältere Menschen betroffen, die bereits aus dem aktiven Erwerbsleben ausgeschieden sind. Andererseits wird eine symptomatische psychische Störung – obwohl die Erwerbsfähigkeit maßgeblich beeinträchtigend – häufig nur als Nebenbefund verschlüsselt, als »Berentungsdiagnose« findet sich dann die zugrundeliegende Krankheit, beispielsweise ein Schädel-HirnTrauma oder eine Leberzirrhose.
. Tab. 24.2 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (ICD-10-GM) F00
Demenz bei ALZHEIMER-Krankheit
F01
Vaskuläre Demenz
F02
Demenz bei andernorts klassifizierten Krankheiten
F03
Nicht näher bezeichnete Demenz
F04
Organisches amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
F05
Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
F06
Andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit
F07
Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
F09
Nicht näher bezeichnete organische oder symptomatische psychische Störung
Klassifikation Nach der ICD-10 werden vier psychopathologische Syndrome unterschieden: Demenz, amnestisches Syndrom, Delir sowie Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen; hinzu kommt eine Restkategorie anderer oder nicht näher bezeichneter psychischer Störungen (vgl. . Tab. 24.2). Ausgenommen sind psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1); vgl. hierzu 7 Kap. 25. Alle organisch bedingten psychischen Störungen sind primär durch ihre Psychopathologie definiert. Darüber hinaus erfordern die Diagnosen Delir, amnestische Störung und organische Persönlichkeitsstörung (Wesensänderung) den Nachweis einer adäquaten Grunderkrankung, wogegen dieser bei der Demenz und den anderen organischen psychischen Störungen einschließlich der leichten kognitiven Störung nicht zwingend und auch nicht immer möglich ist. Hier ist die Diagnose auch dann gerechtfertigt, wenn ein eindeutiger Nachweis der organischen Grunderkrankung nicht gelingt und das klinische Bild den diagnostischen Kriterien entspricht.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die Diagnostik organischer psychischer Störungen verläuft zweigleisig. Einerseits ist das psychopathologische Syndrom einzugrenzen, andererseits die auslösende körperliche Erkrankung nachzuweisen. z
Psychische Diagnostik
Eine organische psychische Störung wird nach psychopathologischen Kriterien diagnostiziert. Besondere Bedeutung kommt der Fremdanamnese zu, da entsprechende
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Veränderungen etwa bei einer Demenz den Bezugspersonen häufig stärker auffallen als dem Betroffenen selbst. Von den psychopathometrischen Verfahren eignen sich der Mini Mental Status Test (MMST), der Syndrom-Kurztest (SKT) und der Uhren-Zeichentest als Screening zum Nachweis bzw. Ausschluss einer Demenz, einer amnestischen Störung oder eines Delirs. Das Strukturierte Interview für die Diagnose einer Demenz (SIDAM) und das Nürnberger Altersinventar (NAI) beinhalten eine multidimensionale Demenzdiagnostik und eignen sich zur weiteren Differenzierung der Demenz vom AlzheimerTyp, der Multiinfarkt-Demenz sowie von Demenzen anderer Ätiologie. Neuropsychologische Testbatterien wie die des CERAD (Consortium to Establish a Registry for Alzheimer´s Disease) mit 8 Untertests erlauben eine subtilere Diagnostik. Verlaufsbeobachtung und Testwiederholung helfen bei der Diagnosesicherung und bei der Beurteilung der Prozessdynamik. z
Somatische Diagnostik
Psychopathologie und Psychopathometrie belegen meist hinreichend genau die organische Verursachung einer psychischen Störung. Sie besagen aber – mit seltenen Ausnahmen – nichts über die zugrunde liegende körperliche Erkrankung. Bei jedem Verdacht auf eine im engeren Sinne organisch verursachte psychische Störung ist daher eine somatische Diagnostik notwendig, die hauptsächlich neurologische (siehe 7 Kap. 22) und internistische Krankheitsbilder umfasst. Umgekehrt finden sich bei Patienten mit gravierenden körperlichen Erkrankungen nicht selten organische psychische Störungen, die im Rahmen einer Begutachtung nicht übersehen werden dürfen.
Begutachtungskriterien Bekanntlich sind Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Partizipation zwingende Diagnosekriterien für die Demenz, das organische amnestische Syndrom und die organische Persönlichkeitsstörung. Organische psychische Störungen wirken sich in Abhängigkeit von Krankheitsstadium und -schwere mehr oder weniger stark auf alle unter 7 Kap. 24.1.4 genannten Begutachtungskriterien aus.
Sozialmedizinische Beurteilung bei einzelnen Störungen Die sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben bei organischen psychischen Störungen ist unter anderem von der Schwere und Dauer der Symptomatik, der Art der Grunderkrankung und nicht zuletzt von der Reversibilität der Funktionseinschränkungen abhängig.
z
Demenz (F00–F03)
Die Demenz ist charakterisiert durch eine meist chronisch fortschreitende Abnahme von Gedächtnis (erst Arbeitsgedächtnis, dann Langzeitgedächtnis) und kognitiven Fähigkeiten wie Urteils- und Planungsfähigkeit, Organisations- und Informationsverarbeitung. Hinzu kommen Störungen der Affektkontrolle, des Antriebs und des Sozialverhaltens, die durch mindestens eines der Symptome emotionale Labilität, Reizbarkeit, Apathie oder Vergröberung des Sozialverhaltens gekennzeichnet sind. Auch sogenannte Werkzeugstörungen (z. B. Aphasie, Agnosie, Apraxie) können vorliegen. Eine Bewusstseinstrübung muss ausgeschlossen werden. Für die Diagnose wird eine Beeinträchtigung der täglichen Aktivitäten durch Gedächtnisverlust und Abnahme kognitiver Fähigkeiten sowie eine Mindestdauer der Symptomatik von 6 Monaten gefordert. Zusätzliche Symptome – etwa Wahn, Halluzinationen oder depressive Verstimmung – sollen registriert werden. Dabei ist darauf zu achten, dass bei der Demenz wie auch bei anderen organisch begründeten psychischen Störungen vielfältige psychopathologische Symptome auftreten und vordergründig andere psychische Erkrankungen (wie Schizophrenie, Depression, Angststörung) imitieren können. Eine wichtige Differenzialdiagnose ist die Pseudodemenz bei schweren Depressionen, die durch Denkhemmung und Antriebsverminderung eine Demenz vortäuschen kann. Diagnostisch entscheidend sind die charakteristischen demenziellen Symptome, die bei den anderen Erkrankungen fehlen. Häufigere und bekannte Ursachen sind beispielsweise: Morbus Alzheimer, vaskuläre Demenz, Demenz ausgelöst durch internistische und neurologische Erkrankungen (z. B. HIV, Morbus Parkinson); schließlich verbleiben »nicht näher bezeichnete Demenzen«, womit die ICD-10 solche meint, die auf einer bisher unbekannten oder nicht andernorts klassifizierten Erkrankung beruhen. Demenzen weisen eine sehr deutliche Altersabhängigkeit auf und sind vor Vollendung des 60. Lebensjahres selten. Die Prävalenz liegt zwischen dem 65. und 69. Lebensjahr bei etwa 1,5 % und verdoppelt sich etwa alle fünf Altersjahre. Bei über 90jährigen beträgt die Prävalenz über 30 %. Mehr als zwei Drittel der an einer Demenz erkrankten Personen sind Frauen, bedingt durch ein höheres Erkrankungsrisiko einerseits und eine längere Lebenserwartung andererseits [5]. Trotz gewisser Erfolge der neueren Antidementiva ist eine langfristig wirksame Behandlung nicht bekannt. Bei einer leichten Demenz hängt das Leistungsvermögen stark von Kontextfaktoren ab: In einer übersichtlichen, stabilen Umgebung mit hilfreichen Bezugspersonen können alltägliche Verrichtungen und leichte Erwerbstätigkeiten ohne besondere Anforderungen an die kognitiven Funktionen oft noch selbständig ausgeübt werden.
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
Dagegen führen ungünstige Umgebungsbedingungen rasch zur Dekompensation. Personen mit einem hohen prämorbiden Leistungs- und Anspruchsniveau, z. B. in akademischen Berufen und in verantwortungsvollen Positionen, sind ihren Aufgaben häufig schon bei einer leichten kognitiven Beeinträchtigung nicht mehr gewachsen. Selbstbeobachtung und depressive Reaktion auf die erlebte Insuffizienz verschlechtern die Situation in einer therapeutisch kaum zu beeinflussenden Weise. In diesen Fällen kann eine Minderung des zeitlichen Leistungsvermögens für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vorliegen. Bei mittelschwer bis schwer ausgeprägten Formen der Demenz ist von einer Aufhebung des Leistungsvermögens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen. Eine Rehabilitation mit dem Ziel der beruflichen Wiedereingliederung wird hier nicht erfolgversprechend durchzuführen sein. Rehabilitationskonzepte zielen insbesondere darauf ab, durch den Erhalt der Alltagskompetenzen hinsichtlich Selbstversorgung das Eintreten von Pflegebedürftigkeit aufzuschieben. z
Organisches amnestisches Syndrom (F04)
Hierbei treten relevante Störungen des Kurzzeitgedächtnisses auf, verbunden mit Beeinträchtigungen des Langzeitgedächtnisses bei typischerweise intaktem Immediatgedächtnis (der unmittelbaren Wiedergabe, geprüft zum Beispiel durch Zahlen nachsprechen). Andere Symptome einer Demenz sowie eine Bewusstseinstrübung fehlen. Ein objektiver und/oder anamnestischer Nachweis einer adäquaten Gehirnerkrankung, beispielsweise einer traumatischen Hirnverletzung, wird gefordert. Häufig, aber nicht immer, sind zusätzliche Merkmale wie Konfabulationen und ein Mangel an Einsichtsfähigkeit vorhanden (sogenanntes Korsakow-Syndrom). Amnestische Syndrome durch Alkohol oder psychotrope Substanzen werden gesondert klassifiziert. Die Prognose des organischen amnestischen Syndroms hängt von der Dauer des Bestehens der Symptomatik und der Grunderkrankung ab. Bei einem bereits länger bestehenden und schwerer ausgeprägten amnestischen Syndrom wird in der Regel eine dauerhafte Aufhebung des Leistungsvermögens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt festzustellen sein. z
Delir (F05)
Leitsymptom des Delirs ist die Bewusstseinstrübung, d. h. eine verminderte Klarheit der Umgebungswahrnehmung, verbunden mit einer Beeinträchtigung von kognitiven Fähigkeiten, Psychomotorik und Schlaf-Wach-Rhythmus. Hinzu kommen affektive und Wahrnehmungsstörungen (v. a. optische Halluzinationen), die Symptomatik verläuft fluktuierend. Häufigste Ursache ist das Alkoholentzugssyndrom (siehe 7 Kap. 25.2.1). Delirien können aber auch beispielsweise im Rahmen eines Schlaganfalls, bei
subduralem Hämatom, akuter Pankreatitis, Medikamentenüberdosierungen und sonstigen akuten Intoxikationen auftreten. Delirien verlaufen in aller Regel kurzfristig reversibel und haben – abhängig von der Grunderkrankung – eine eher günstige Prognose. Eine differenzierte sozialmedizinische Beurteilung ist erst nach Abklingen des Delirs bzw. bei protrahiertem Verlauf sinnvoll und richtet sich vorwiegend nach den Folgen der Grunderkrankung. Ein Delir muss in aller Regel akutstationär behandelt werden, Rehabilitationsfähigkeit ist nicht gegeben. z
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen auf organischer Grundlage (F07)
Psychische Störungen, die vordergründig dem Bild einer Persönlichkeitsstörung (siehe 7 Kap. 24.2.6) entsprechen, kommen auch bei somatisch definierten Hirnerkrankungen vor. Sie sind meist gekennzeichnet durch emotionale Labilität und inadäquaten Affekt (z. B. Euphorie), sowie Reizbarkeit oder Apathie. Denken und Sprechen sind häufig durch Umständlichkeit, Zähflüssigkeit und Begriffsunschärfe gekennzeichnet. Eine Behandlung ist nur symptomatisch durch psychopharmakologische Interventionen und angemessene Betreuung möglich. Verlauf und Prognose hängen von der Grunderkrankung ab. Organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen führen weniger über eine kognitive Beeinträchtigung als über häufige soziale Konflikte zu einer nur schwer beeinflussbaren Teilhabestörung. Tätigkeiten ohne nennenswerte Anforderungen an Kommunikation, Flexibilität und Teamarbeit können mitunter noch längere Zeit ausgeführt werden. z
Andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit (F06)
Psychopathologische Syndrome, die im Gewand anderer Störungsbilder wie Schizophrenie, affektive Störungen oder neurotische Störungen auftreten, können eine organische Ursache haben. Namentlich aufgeführt werden die Halluzinose, die katatone Störung, wahnhafte Störung, affektive Störung, Angststörung, dissoziative Störung und emotional labile (asthenische) Störungen. Die Diagnose kann hier nur durch den objektiven Nachweis einer adäquaten primären oder sekundären cerebralen Funktionsstörung gestellt werden. Wiederum werden durch Alkohol und andere psychotrope Substanzen verursachte Störungen abgegrenzt und gesondert behandelt (siehe 7 Kap. 25). Eine Sonderstellung im Rahmen der anderen psychischen Störungen nimmt die leichte kognitive Störung (F06.7) ein. Störungen des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit oder Konzentration, des Denkens, der Sprache und der visuell-räumlichen Funktion, die in ihrem Schwe-
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regrad unterhalb der Schwelle der Diagnose einer Demenz, eines organischen amnestischen Syndroms oder eines Delirs bleiben, werden hier diagnostisch eingeordnet. Die Beurteilung des Leistungsvermögens orientiert sich am Ausmaß der psychopathologischen Auffälligkeiten. Bei umschriebener Symptomatik kann hier eine Rehabilitationsleistung der Rentenversicherung in Frage kommen, um kompensatorische Fähigkeiten zu unterstützen und vorhandene Ressourcen im Hinblick auf den Verbleib im Erwerbsleben zu nutzen. 24.2.2
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen Wolfgang Weig, Katja Fischer
Aus der Gruppe der schizophrenen, schizotypen und wahnhaften Störungen kommt der Schizophrenie wegen ihres Auftretens in jüngerem Lebensalter, wegen ihres häufig chronischen Verlaufs sowie wegen der volkswirtschaftlichen Auswirkungen sozialmedizinisch die größte Bedeutung zu. Der Anteil der schizophrenen, schizotypen und wahnhaften Störungen an allen wegen psychischer Störungen (ohne Abhängigkeitserkrankungen) von der gesetzlichen Rentenversicherung durchgeführten stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation lag im Jahr 2009 zwar nur bei etwa 1,7 %, ihr Anteil an allen Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Störungen betrug jedoch immerhin etwa 14,4 %.
Klassifikationen Die ICD-10 fasst unter F20–F29 die verschiedenen Formen der Schizophrenie mit den schizotypen und wahnhaften Störungen zusammen (vgl. . Tab. 24.3). Neben der Schizophrenie im engeren Sinne sind hier einerseits solche psychischen Störungen definiert, die der Schizophrenie psychopathologisch ähnlich und verwandt sind, die Diagnosekriterien der Schizophrenie jedoch nicht erfüllen (unter anderem »unterschwellige Störungen«). Andererseits ist hier auch die schizoaffektive Störung mit gleichzeitig oder zumindest in derselben Krankheitsepisode vorhandenen eindeutig schizophrenen wie auch eindeutig affektiven Symptomen subsummiert [12]. Der Begriff der Schizophrenie wurde von Eugen Bleuler [6] eingeführt. Eine erste operationale Beschreibung der für die Schizophrenie charakteristischen Symptome findet sich in den »Symptomen ersten und zweiten Ranges« bei Kurt Schneider. Traditionell wird die Schizophrenie in psychopathologisch definierte Subtypen eingeteilt. Dabei werden die paranoide Schizophrenie (Vorherrschen sog. »produktiver« bzw. »positiver« Symptome wie Wahn oder Halluzinationen), die hebephrene Schizophrenie (vorwiegend verflachter und inadäquater Affekt)
. Tab. 24.3 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen F20
Schizophrenie
F21
Schizotype Störung
F22
Anhaltende wahnhafte Störungen
F23
Akute vorübergehende psychotische Störungen
F24
Induzierte wahnhafte Störung
F25
Schizoaffektive Störungen
F28
Sonstige nichtorganische psychotische Störungen
F29
Nicht näher bezeichnete nichtorganische Psychose
sowie die katatone Schizophrenie (vorwiegend psychomotorische Störungen wie sinnlose motorische Aktivität, Haltungsstereotypien, Negativismus, kataleptische Starre, Stupor) unterschieden. Des Weiteren werden in der ICD-10 postschizophrene Depressionen, schizophrenes Residuum mit vorwiegender »Negativsymptomatik« (siehe unten) und Schizophrenia simplex aufgeführt (bei der sich schleichend Persönlichkeitsveränderungen und Negativsymptomatik entwickeln, ohne dass jemals »produktive Symptome« auftreten). Die Aussagekraft der Einteilung in diese Subtypen ist umstritten, prädiktiver Wert und sozialmedizinische Relevanz sind wohl eher als gering einzuschätzen. Lediglich der Feststellung eines schizophrenen Residuums kommt in diesem Zusammenhang Bedeutung zu. Zusätzlich zur genannten Symptomatik finden neuerdings auch spezifische kognitive Störungen bei Schizophrenie besondere Beachtung, u. a. der sogenannten Exekutivfunktionen, die das vorausschauende Planungs- und Handlungsvermögen betreffen [31].
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die Diagnose der schizophrenen, schizotypen und wahnhaften Störungen stützt sich auf die Psychopathologie, wichtig ist die Abgrenzung zu organischen Hirnerkrankungen sowie substanzinduzierten Störungen. Eine sorgfältige Abgrenzung ist auch gegenüber affektiven Störungen notwendig: Definitionsgemäß sind Phänomene wie Wahn und Denkstörungen der affektiven Störung zuzuordnen, wenn sie im Rahmen ihres Verlaufes auftreten und in ihren Inhalten der Grundstimmung folgen (Katathymie). Wegen der günstigeren Prognose affektiver Störungen ist diese Unterscheidung bedeutsam. Die Differenzialdiagnose setzt eine sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung voraus, ergänzt durch ein EEG sowie ggf. durch laborchemische und bildgebende Diagnostik (CCT, MRT).
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
Begutachtungskriterien Bei Versicherten mit schizophrenen, schizotypen und wahnhaften Störungen finden sich in unterschiedlichem Ausmaß und Dauer Störungen des Denkens, der Wahrnehmung und kognitiver Fähigkeiten sowie des Affekts und des Antriebs. Diese psychopathologischen Auffälligkeiten mit ihren Auswirkungen auf Aktivitäten und Teilhabe sind für die Beurteilung sowohl des qualitativen als auch des quantitativen Leistungsvermögens maßgeblich. Schizophrene, schizotype und wahnhafte Störungen können sich in Abhängigkeit von Krankheitsschwere und -verlauf mehr oder weniger stark auf alle unter 7 Kap. 24.1.4 genannten Begutachtungskriterien auswirken. Auch in hinsichtlich der Grundkrankheit symptomfreien oder -armen Intervallen können durch Reaktionsbildungen der Betroffenen oder ihrer Umgebung Beeinträchtigungen der Aktivitäten bzw. der Teilhabe resultieren. Die soziale Integration und die Vermeidung emotionaler Überforderungen sowie Behandlung und Behandlungscompliance spielen für den Verlauf der meisten dieser Störungen eine wichtige Rolle.
Sozialmedizinische Beurteilung bei einzelnen Störungen z Schizophrenie (F20) z z Symptomatik
Für die Diagnose Schizophrenie spricht das Vorliegen bestimmter Symptome (siehe . Tab. 24.4) kontinuierlich über mindestens einen Monat hinweg. Die sichere Beurteilung der Symptome ist schwierig und sollte dem psychiatrisch Erfahrenen vorbehalten bleiben. Falsch positive Beurteilungen kommen durch die Verkennung kulturell oder subkulturell beeinflusster Ausdrucksweisen, realer Beeinträchtigungserlebnisse, übersteigerter Affekte z. B. im Rahmen einer manischen Episode oder auch geminderter Intelligenz vor. z z Verlauf
Der Verlauf der Schizophrenie ist durch verschiedene Langzeitstudien auf Kohortenebene relativ gut untersucht [30]. Die sozialen Auswirkungen der Schizophrenie folgen der altbekannten »Drittelregel«: ein Drittel ungünstige Verläufe mit Ausprägung einer schwerwiegenden Behinderung, ein Drittel wechselnde Verläufe mit zeitweiligen Krankheitsepisoden und wiederholter Rehospitalisierung, aber Aufrechterhaltung eines zumindest zeitweise ausreichenden sozialen Funktionsniveaus, ein Drittel günstige Verläufe mit nur geringer Beeinträchtigung der sozialen Teilhabe. Bereits vor der ersten klinischen Manifestation und der Inanspruchnahme spezifischer Hilfesysteme können über mehrere Jahre zunächst unspezifische Symptome bestehen (»Prodromalphase«), die nicht selten als Motivationsschwierigkeiten oder pubertäre Problema-
. Tab. 24.4 Pathognomonische Symptome für Schizophrenie 1.
Eines der Merkmale:
1.1
Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug, Gedankenausbreitung
1.2
Kontrollwahn; Beeinflussungswahn; Gefühl des Gemachten; Wahnwahrnehmung
1.3
Kommentierende oder dialogische (bei K. SCHNEIDER auch imperative) Stimmen
1.4
Anhaltender kulturell unangemessener, bizarrer Wahn
2.
Zwei der Merkmale:
2.1
Anhaltende Halluzinationen (täglich während eines Monats)
2.2
Neologismen, Gedankenabreißen, Zerfahrenheit
2.3
Katatone Symptome
2.4
»Negativsymptome« wie Apathie, Affektverflachung
3.
Ausschlusskriterien:
3.1
Affektive Grundstörung
3.2
Organische oder substanzinduzierte Ursache
tik missdeutet werden. Der langfristige Verlauf der Erkrankung ist allerdings individuell sehr variabel und nur schwer vorhersagbar. Als günstige prognostische Faktoren erwiesen sich 4 weibliches Geschlecht, 4 höheres Alter bei der Ersterkrankung (mit dem Geschlecht korreliert), 4 affektive Symptome, 4 situative Auslöser der Erstmanifestation [20] 4 ungestörte prämorbide Persönlichkeit, gute prämorbide soziale Anpassung, 4 günstige soziale Rahmenbedingungen, 4 Vorliegen einer partnerschaftlichen Bindung und 4 ungestörte sexuelle Entwicklung vor der Erkrankung. Ungünstige Prognosefaktoren sind hingegen 4 ein schleichender Beginn schon zu Anfang der Erkrankung, 4 überwiegende Negativsymptomatik, 4 akustische Halluzinationen, 4 ein längeres Prodromalstadium und 4 ein anhaltender Suchtmittelkonsum. Die Prognose der Schizophrenie ist darüber hinaus getrübt durch die bei dieser Krankheit gegebene hohe Suizidgefahr. Die Suizidmortalität schizophrener Patienten liegt um das 20 bis 50fache höher als in der Allgemeinbevölkerung.
555 24.2 · Krankheitsbilder
z z Epidemiologie
Die Lebenszeitprävalenz der Erkrankung wird international weitgehend übereinstimmend in der Größenordnung von etwa 1 % angegeben. Das durchschnittliche Ersterkrankungsalter liegt bei Männern bei 21, bei Frauen bei 26 Jahren. Das Intelligenzniveau und andere psychische oder körperliche Erkrankungen beeinflussen das Schizophrenierisiko nicht. z z Ätiologie
Ätiologie und Pathogenese der Schizophrenie sind zwar bis heute nicht vollständig aufgeklärt, jedoch erscheint ein bio-psycho-soziales Erklärungsmodell am besten zutreffend. Eine Fülle von Befunden deutet darauf hin, dass genetische Faktoren für die Entstehung der Erkrankung große Bedeutung haben. Daneben gibt es Hinweise, dass embryonale, peri- und postnatale subtile Hirnschädigungen einerseits, andererseits aber auch psychosoziale Einflussfaktoren wie eine ungünstige Familienstruktur, frühe Traumatisierungen etc. zu einer erhöhten Vulnerabilität beitragen, die sich neurobiologisch in Strukturen/Funktionen des Gehirns, aber auch psychologisch beschreiben lässt. Unter dem Einfluss äußerer Stressoren und bei Versagen von Copingstrategien kommt es dann zu akuten psychotischen Dekompensationen. Die vielfältig miteinander interagierenden Einflüsse wurden in dem »Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Kompetenzmodell« zusammengefasst [44]. Die aktuelle biologische Forschung zu Entstehung und Verlauf der schizophrenen Symptomatik konzentriert sich vor allem auf die Ebene der Biochemie des Hirnstoffwechsels, wobei derzeit die Vorstellung eines »Ungleichgewichtes der Neurotransmitter« mit einem relativen Überwiegen des Dopamineinflusses führend ist. z z Komorbidität
Der Vorrang rein deskriptiver atheoretischer Diagnosen in der ICD-10 führt zu der Tendenz, Symptome getrennt voneinander zu sehen und viel häufiger als bisher üblich Komorbiditäten zu verschlüsseln. Die Einführung von Fallpauschalen zur Leistungsabrechnung in der Krankenversorgung hat diesen Trend dadurch verstärkt, dass die Leistungsvergütung u. a. von der Zahl der Diagnosen abhängt. Unter Komorbidität im eigentlichen Sinn ist nur das Auftreten von zwei oder mehr unabhängigen Diagnosen zu verstehen, deren Kriterien jeweils vollständig erfüllt sind. Dabei können beide Diagnosen wirklich zufällig gleichzeitig auftreten (z. B. Schizophrenie und emotional instabile Persönlichkeitsstörungen) oder es kann ein Zusammenhang insofern bestehen, als das Vorliegen der einen Störung das Auftreten der anderen begünstigt oder beiden gleichermaßen innere oder äußere konstellierende
Faktoren zu Grunde liegen. Hiervon zu unterscheiden ist das Auftreten einer symptomatischen Störung als unmittelbare Folge oder Begleiterscheinung eines einheitlichen Krankheitsbildes, die nicht mit einer Zweitdiagnose zu bewerten ist. Schließlich sind in diesem Zusammenhang unerwünschte Wirkungen der Therapie – unerwartet und mehr oder weniger unvermeidbar oder als Folge therapeutischer Fehlentscheidungen – zu berücksichtigen. Im Fach Psychiatrie geht es dabei nicht ausschließlich um unerwünschte Medikamentenwirkungen, sondern auch um negative Effekte von Psychotherapie und um Milieuschäden bei Hospitalisierung. All das sollte differenziert beschrieben und nicht unreflektiert in Diagnosekonvolute übersetzt werden. Bezogen auf die Schizophrenie heißt das, dass sowohl affektive Symptome im Rahmen der Schizophrenie als auch für Schizophrenie markante Symptome wie Wahn bei affektiven Störungen vorkommen und eine sorgfältige Differenzialdiagnose erfordern. Von Komorbidität kann hier keine Rede sein. Ebenso ist per definitionem die Komorbidität einer Schizophrenie mit einer organisch begründeten psychischen Störung weitgehend ausgeschlossen – die Symptome wären hier anders einzuordnen. Dagegen kommt die Komorbidität der Schizophrenie mit schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit von psychotropen Substanzen, insbesondere Alkohol, Cannabis, Opiaten sowie der gemischten Einnahme verschiedener psychotroper Substanzen (Polytoxikomanie) häufiger vor, wobei in den letzten Jahren eine Zunahme beobachtet wird. Dies dürfte auf den leichteren Zugang zu Drogen, aber auch auf die Entwurzelung und Überforderung mancher Patienten in Zeiten der Deinstitutionalisierung zurückzuführen seien. Unterschiedliche Theorien über den Zusammenhang zwischen (primärer) Schizophrenie und (sekundärem) Substanzmissbrauch wurden diskutiert, etwa im Sinne eines missglückten Selbstbehandlungsversuches von Symptomen der Schizophrenie oder des Versuches der Antagonisierung der Neuroleptika. Die Doppeldiagnose Psychose und Sucht stellt eine schwerwiegende Komplikation der Erkrankung dar und verschlechtert die Prognose. Sie erfordert zur wirksamen Behandlung komplexe Therapieansätze unter Berücksichtigung beider Komponenten. Auch die Komorbidität der Schizophrenie mit Persönlichkeitsstörungen wird beobachtet, wobei die Abgrenzung insbesondere bei nur diskret ausgeprägter oder fehlender schizophrener Positivsymptomatik schwierig sein kann. Auch hier ist mit zusätzlichen Komplikationen und einer Verschlechterung der Prognose zu rechnen. z z Behandlung
Neben kaum zu beeinflussenden genetischen Bedingungen und Umweltfaktoren entscheidet die frühzeitig einge-
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
leitete, konsequent durchgeführte und optimal individuell angepasste Therapie über den Langzeitverlauf und die sozialen Auswirkungen der chronischen Krankheit Schizophrenie. Als erwiesen kann gelten, dass die konsequente medikamentöse neuroleptische Behandlung in individuell angepasster Dosierung, d. h. unter möglichst weitgehender Vermeidung relevanter unerwünschter Nebenwirkungen, die Basis jeder Schizophreniebehandlung ist. Mit Ausnahme der nach Ausschöpfung aller Strategien wie Wechsel der Wirksubstanz, Dosisanpassung und Kombinationstherapie verbleibenden relativ geringen Zahl von Nonrespondern profitieren die meisten Patienten deutlich von der neuroleptischen Therapie. Die sogenannten atypischen Neuroleptika (»Neuroleptika der zweiten Generation«) scheinen in Bezug auf Compliance und Prognose aufgrund günstigerer Wirkungs-Nebenwirkungsrelation, besserer subjektiver Verträglichkeit und günstigerer Wirkung auf die Negativsymptomatik für viele Patienten vorteilhaft, wenngleich eine absolute Überlegenheit gegenüber den Antipsychotika der ersten Generation (wie z. B. Haloperidol) nicht belegt ist. Neuroleptika wirken günstig auf die produktive, in wesentlich geringerem Umfang auf die negative Symptomatik. Durch Studien ist hinreichend belegt, dass die Kombination mit psychosozialen Therapieverfahren und zwar insbesondere einer gezielten bewältigungsorientierten Verhaltenstherapie, psychoedukativen Trainingsprogrammen, Einbezug der relevanten Bezugspersonen im Sinne einer psychoedukativ orientierten Angehörigenbetreuung sowie Soziotherapie günstigere Ergebnisse bringt als die medikamentöse Behandlung alleine. Soziotherapie wird hier nicht in dem engen Sinne verstanden, wie sie ursprünglich im SGB V als ambulantes Behandlungsangebot definiert wurde, sondern umfasst alle von sozialen Rahmenbedingungen und Alltagshandlungen ausgehenden Therapieformen, wie Milieugestaltung, Casemanagement und Ergotherapie. Dagegen konnte ein günstiger Einfluss tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapie bei Schizophrenie nicht belegt werden [7]. z z Medizinische Rehabilitation
Während früher bei schwereren Verlaufsformen der Schizophrenie langfristige oder sogar dauerhafte Hospitalisierung die Regel war, ist die mittlere Verweildauer in stationärer Behandlung während einer akuten schizophrenen Episode inzwischen auf deutlich unter 40 Tage zurückgegangen. In vielen Fällen reicht diese Zeit nicht aus, um Krankheitsbewältigung zu ermöglichen, psychoedukative Verfahren wirksam werden zu lassen und eine berufliche Wiedereingliederung vorzubereiten. Für viele Betroffene ist eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere auch an beruflicher Tätigkeit ohne besondere Rehabilitationsmaßnahmen nicht möglich.
Zur Erfüllung des komplexen Rehabilitationsbedarfs insbesondere von Menschen mit einer schizophrenen Störung wurde darüber hinaus ein eigener Einrichtungstyp – die Rehabilitationseinrichtung für psychisch kranke und behinderte Menschen (RPK) – geschaffen. In diesen Einrichtungen wird die erforderliche medizinische, berufliche und ergänzende psychosoziale Rehabilitation als einheitliche Leistung erbracht, unter Vermeidung des Wechsels von Bezugspersonen und Konzepten. Die Kosten werden je nach gesetzlicher Zuständigkeit im Einzelfall auf der Basis der Gemeinsamen Empfehlungsvereinbarung [9] von den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit übernommen. In der Bundesrepublik Deutschland existiert inzwischen ein Netz von RPK-Einrichtungen, das allerdings noch regionale Lücken aufweist. Die Maßnahmedauer beträgt durchschnittlich 1,5 Jahre für den gesamten Rehabilitationsverlauf. Die Rehabilitation kann in etwa 70 % der Fälle erfolgreich abgeschlossen werden im Sinne einer Verbesserung der Krankheitsbewältigung, der Ermöglichung eines selbständigen Lebens, aber auch der Vermittlung in eine angemessene berufliche Tätigkeit (http://www.bagrpk.de/auswertung/download/090205_ bag_basisdokumentation_katamnese_2001_2007.pdf ). Dass neben der primär anzustrebenden Eingliederung im allgemeinen Arbeitsmarkt vermehrt auch Alternativen wie Integrationsbetriebe oder besondere Werkstätten für psychisch behinderte Menschen in Anspruch genommen werden müssen, hängt weniger vom erreichten Funktionsniveau der Rehabilitationsteilnehmer ab, als vielmehr von den heutigen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes, in dem bei struktureller Arbeitslosigkeit ein Verdrängungswettbewerb herrscht. Durch die immer noch verbreitete Stigmatisierung, die mit der Diagnose Schizophrenie verbunden ist, wird die Einstellung betroffener Menschen auch bei gegebener guter Leistungsfähigkeit nicht selten verhindert. Integrationsbemühungen bei Abschluss der Rehabilitationsleistung und langfristigen, gegebenenfalls lebenslangen psychosozialen Begleitmaßnahmen kommt hier große Bedeutung zu [40, 41]. Bei ausreichender psychischer Stabilität und Belastbarkeit, Mitwirkungsfähigkeit und Krankheitseinsicht kann die medizinische Rehabilitation von Menschen mit einer Schizophrenie auch in einer weniger spezialisierten Einrichtung (Einrichtung der psychosomatisch-psychotherapeutischen Rehabilitation) erfolgen. Diese Rehabilitationseinrichtungen müssen allerdings über einen entsprechenden Behandlungsschwerpunkt verfügen, um das erforderliche therapeutische Milieu und die entsprechenden professionellen Kompetenzen sowie die spezifischen rehabilitativen Behandlungsmodule anbieten zu können. Darüber hinaus sind in neuerer Zeit mancherorts besondere Angebote für die Rehabilitation komorbid
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an Schizophrenie und Substanzabhängigkeit erkrankter Menschen entstanden. Auskunft über Möglichkeiten psychiatrischer Rehabilitation in der jeweiligen Region erteilen unter anderem sozialpsychiatrische Verbünde und sozialpsychiatrische Dienste vor Ort sowie für die RPK-Einrichtungen auf Bundesebene die Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation für psychisch kranke Menschen (BAG-RPK, www. bag-rpk.de).
z z Sozialmedizinische Beurteilung
zialmedizinische Bedeutung der Erkrankung ist hoch, was sich schon aus den enormen volkswirtschaftlichen Kosten ergibt. Für die sozialmedizinische Beurteilung ist die Erkenntnis bedeutsam, dass die Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe aufgrund einer Schizophrenie stärker vom Ausmaß der – oft länger andauernden – Negativsymptomatik abhängig ist, als von der vordergründig eindrucksvolleren Positivsymptomatik. Prognostische Kriterien für den Ausgang der Krankheit liegen zwar vor (s. o.), bieten aber keine ausreichende Sicherheit im Einzelfall. Einschränkungen des Funktionsniveaus müssen daher individuell ermittelt werden, wobei die ICF eine wertvolle Orientierungshilfe bieten kann. Das Ausmaß der individuellen Behinderung ist auch zeitlich variabel und stark von äußeren Faktoren wie Reaktion der Umgebung, äußere Unterstützung, angemessene Anforderungen (Überforderung wirkt sich ebenso schädlich aus wie Unterforderung) und nicht zuletzt von der Qualität der Behandlung und Rehabilitation abhängig. Daher sollte die Beurteilung in angemessenen Zeitabständen (spätestens alle drei Jahre) wiederholt werden. Eine konkret auf die Anforderungen des Erwerbslebens abgestellte handlungsorientierte Diagnostik in Form einer strukturierten Arbeitsdiagnostik oder eine Belastungserprobung an einem konkreten Arbeitsplatz können Aufschluss über das Ausmaß der beruflichen Integrationsfähigkeit bieten. Fatal ist der Kurzschluss Schizophrenie = dauernde und vollständige Erwerbsminderung, der in der Vergangenheit zu einer fast automatischen Berentung nach Diagnosestellung führte. Ein Großteil der an Schizophrenie erkrankten Menschen bleibt langfristig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder wenigstens in speziellen »Nischen« bis hin zur Werkstatt für psychisch behinderte Menschen erwerbsfähig, wenn hinreichend auf die individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse eingegangen wird. Gerade für an Schizophrenie erkrankte Menschen ist der Grundsatz Rehabilitation vor Rente nicht nur volkswirtschaftlich sinnvoll, sondern im Sinne angemessener Anforderungen, Förderung basaler Fähigkeiten und Stärkung des Selbstwerterlebens in sich auch therapeutisch bedeutsam. Unter der Voraussetzung adäquater Behandlung und günstiger Kontextfaktoren ist das quantitative Leistungsvermögen vieler an Schizophrenie erkrankter Menschen nicht gravierend reduziert. Qualitative Einschränkungen sind jedoch bei den meisten Betroffenen zu beachten (s. o. Teilhabe am Arbeitsleben).
Die Schizophrenie ist eine schwerwiegende, meist chronisch verlaufende Erkrankung, die bei einem Großteil der Betroffenen zu deutlichen und längerfristigen Funktionseinbußen in den Bereichen kognitive Leistung, emotionale Stabilität und Kommunikationsfähigkeit führt und dadurch die soziale Teilhabe erheblich gefährdet. Die so-
Außer der Schizophrenie sind noch die schizoaffektiven Störungen im Rahmen der Leistungen der Rentenversicherung von größerer sozialmedizinischer Bedeutung. Als schizoaffektive Störungen bezeichnet man Krankheitsbil-
z z Teilhabe am Arbeitsleben
Für die meisten Menschen mit einer Schizophrenie sind nicht zuletzt wegen ihres oft jüngeren Alters der Zugang bzw. der Erhalt der Teilhabe am Arbeitsleben ein zentrales Anliegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der soziale Status – der infolge einer schizophrenen Erkrankung ohnehin gefährdet ist – in hohem Maße aus der Stellung im Erwerbsleben herleitet. Vor diesem Hintergrund trifft man daher einerseits bei vielen Betroffenen auf eine gute Motivation hinichtlich rehabilitativer Maßnahmen, andererseits ist aber auch mit teilweise krankheitsbedingten Fehleinschätzungen bezüglich der eigenen Belastbarkeit zu rechnen. Letztere können bei unkritischer Prüfung der Rehabilitationsfähigkeit und -prognose dazu führen, dass das avisierte Rehabilitationsziel nicht erreicht wird, verbunden mit einer erheblichen Frustration und Belastung des betroffenen Menschen. Unrealistische Teilhabe-Ziele oder Wünsche nach Umschulung sollten daher nicht einfach übernommen, sondern mit dem betroffenen Menschen und ggf. seinen Bezugspersonen detailliert erörtert werden. Günstige Rahmenbedingungen für eine Erwerbstätigkeit von Menschen mit einer Schizophrenie sind sachbezogene Tätigkeiten in einem übersichtlichen organisatorischen Rahmen ohne überdurchschnittlichen Zeitdruck, ohne häufigen Publikumsverkehr, ohne besondere Anforderungen an Kommunikation und Teamarbeit und mit ausreichenden Pausen. Reisetätigkeiten und Schichtdienst sind aufgrund der damit verbundenen Anforderungen an Flexibilität und Umstellungsvermögen eher als ungünstig zu beurteilen. Neben den RPK-Einrichtungen (s. o.) bieten auch andere Einrichtungen Leistungen der beruflichen Rehabilitation für an Schizophrenie erkrankte Menschen an, beispielsweise Berufsbildungswerke, Berufsförderungswerke, berufliche Trainingszentren und freie Initiativen.
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Schizoaffektive Störungen (F25)
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
der mit gleichzeitigem Auftreten schizophrenietypischer Symptome und solcher, die für eine affektive Störung im Sinne einer depressiven oder manischen Episode charakteristisch sind. Unterschieden werden bipolare, rein schizodepressive und (selten) rein schizomanische Verläufe. Aufgrund der unterschiedlichen Prognose ist die Differenzialdiagnose zu schizophrenen und affektiven Störungen – beispielsweise zur postschizophrenen Depression – besonders wichtig. Den schizoaffektiven Störungen stehen einige atypische schizophrenieähnliche Syndrome wie die von Leonhard beschriebenen zykloiden Psychosen nahe. Die Prognose schizoaffektiver Störungen ist gegenüber der Schizophrenie deutlich günstiger. Die Unterscheidung hat auch Bedeutung für die Behandlung, weil hier beispielsweise eine Phasenprophylaxe mit Lithium oder anderen Substanzen in Betracht kommt. Sozialmedizinisch ergibt sich aus der besseren Prognose ein noch größeres Rehabilitationspotential und die Feststellung eines aufgehobenen Leistungsvermögens im Erwerbsleben kommt seltener vor als bei der Schizophrenie. z
Anhaltende wahnhafte Störungen (F22)
Die anhaltenden wahnhaften Störungen sind seltener, therapeutisch schwer beeinflussbar und gehen mit einem chronischen Wahn oder Wahnsystem einher, die häufig nur bestimmte abgegrenzte Lebensbereiche (z. B. die Wohnungsnachbarn) betreffen. Die von dieser Störung betroffenen Menschen sind daher in den anderen Bereichen oft nicht gravierend beeinträchtigt.
24.2.3
Affektive Störungen Klaus Foerster, Katja Fischer
Affektive Störungen sind nicht nur im Bereich der Krankenbehandlung, sondern auch in der Rehabilitation der Rentenversicherung und bei den Erwerbsminderungsrenten von großer sozialmedizinischer Bedeutung. Bei den von der Rentenversicherung im Jahr 2009 wegen psychischer Störungen (ohne Abhängigkeitserkrankungen) durchgeführten stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden als Erst-Diagnose affektive Störungen (F30–F39) bei Männern mit 44,5 % und bei Frauen mit 50,8 % am häufigsten genannt. Auch in der Statistik der Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Störungen werden bei beiden Geschlechtern affektive Störungen am häufigsten als Diagnose angegeben, wobei die depressiven Störungen die weitaus größte Bedeutung besitzen. Manische Episoden spielen für die o. g. Statistiken keine Rolle, während bipolare Störungen (mit manischen und depressiven oder mehreren manischen Episoden) wiederum häufiger als Begründung für Rehabilitation und Erwerbsminderungsrente genannt werden.
. Tab. 24.5 Affektive Störungen F30
Manische Episode
F31
Bipolare affektive Störung
F32
Depressive Episode
F33
Rezidivierende depressive Störung
F34
Anhaltende affektive Störungen (Zyklothymia, Dysthymia)
F38
Andere affektive Störungen
F39
Nicht näher bezeichnete affektive Störung
Klassifikation ICD-10 und DSM-IV klassifizieren affektive Störungen anhand der Kategorien Symptomatik, Schweregrad und Verlauf (vgl. . Tab. 24.5). Die Dichotomisierung nach ätiopathogenetischen Hypothesen zwischen endogenen und neurotischen bzw. psychoreaktiven Depressionen wurde verlassen. Damit änderte sich auch die Bedeutung der Begriffe Dysthymie und Zyklothymie. Bei den bipolaren affektiven Störungen wird nach der Schwere der manischen Symptomatik eine Bipolar-I-Störung (mit leichten/ mittelgradigen/schweren manischen Episoden) von einer Bipolar-II-Störung (mit lediglich hypomanischen Episoden) unterschieden. Bipolar-II-Störungen werden in der ICD-10 mit F31.8 (»Sonstige bipolare affektive Störungen«) verschlüsselt. Das Auftreten ausschließlich manischer Episoden ist selten und wird ebenfalls den sonstigen bipolaren affektiven Störungen zugerechnet. Im sozialmedizinischen Gutachten sollten ausschließlich die Terminologie und Operationalisierung der ICD-10 verwendet werden.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Das Hauptsymptom affektiver Störungen ist eine Veränderung der Stimmung. Bei der Diagnostik der affektiven Störungen kommt daher der Erfassung der Psychopathologie die größte Bedeutung zu, wobei erst anamnestische Angaben zum bisherigen Krankheitsverlauf bzw. Gesundheitszustand die differenzierte Einordnung nach ICD-10 erlauben. Auch bei den affektiven Störungen ist die differenzialdiagnostische Abgrenzung wichtig, insbesondere zu organischen Hirnerkrankungen. Eine Depression mit entsprechendem Antriebsmangel und (temporärer) Verlangsamung kognitiver Prozesse (»Pseudodemenz«) kann als demenzielles Syndrom verkannt werden, mit möglicherweise gravierenden Folgen für Behandlung und Prognose. Ferner ist zu berücksichtigen, dass depressive Syndrome häufig als komorbide Symptome im Rahmen anderer psychischer oder auch körperlicher Störungen zusätzlich auftreten. Eine manische Symptomatik kann wiederum auch bei einem Frontalhirnsyndrom (z. B. bei
559 24.2 · Krankheitsbilder
einem Hirntumor oder nach einer Hirnverletzung) auftreten und ist diesbezüglich abzugrenzen. Nicht zuletzt sollte auch an das mögliche Vorliegen einer affektiven Symptomatik im Rahmen einer schizophrenen Störung gedacht werden, beispielsweise bei einer schizoaffektiven Störung oder einer postschizophrenen Depression. Wahnphänomene sind als differenzialdiagnostisches Kriterium nicht zuverlässig, da sie auch bei schweren Depressionen und Manien auftreten können, wobei die Wahninhalte hier der jeweiligen Stimmungsauslenkung entsprechen (z. B. Schuldwahn). Die Differenzialdiagnose erfordert neben einer sorgfältigen Erhebung von psychischem Befund und Anamnese eine körperliche Untersuchung, ergänzt durch ein EEG sowie ggf. durch laborchemische und bildgebende Diagnostik (CCT, MRT).
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Begutachtungskriterien Bei Versicherten mit affektiven Störungen finden sich in unterschiedlichem Ausmaß und Dauer Veränderungen der Stimmung und des Antriebs sowie Beeinträchtigungen kognitiver und kommunikativer Fähigkeiten. Affektive Störungen können sich in Abhängigkeit von Krankheitsschwere und -verlauf mehr oder weniger stark auf alle unter 7 Kap. 24.1.4 genannten Begutachtungskriterien auswirken. Bei rezidivierend und episodisch auftretenden affektiven Störungen können das qualitative oder sogar das quantitative Leistungsvermögen durch negative Reaktionsbildungen der Betroffenen zusätzlich beeinträchtigt werden. In diesen Fällen ist eine Unterstützung zur Krankheitsbewältigung beispielsweise im Rahmen einer Rehabilitation zu erwägen. Mit Hilfe adäquater Behandlung und außerhalb akuter Episoden ist die Leistungsfähigkeit der meisten Menschen mit einer affektiven Störung jedoch nicht gravierend beeinträchtigt. Bei der Begutachtung sind im Einzelnen folgende Aspekte zu berücksichtigen: 4 Ausprägungsgrad der Symptomatik nach ICD-10: Bei der Feststellung der Ausprägung z. B. einer depressiven Symptomatik muss unbedingt zwischen den Angaben des Probanden und den erhobenen Befunden bzw. dem in der Untersuchungssituation beobachteten Verhalten differenziert werden. Berichtet ein Patient, dass er »depressiv« sei, so ist dies nicht unkritisch in eine Diagnose zu übersetzen, sondern anhand der diagnostischen Kriterien der ICD-10 zu überprüfen. Noch wichtiger ist die detaillierte Beschreibung dessen, was der Proband krankheitsbedingt nicht mehr vermag und wozu er noch in der Lage ist. Dies setzt eine detaillierte Anamnese und einen entsprechenden psychischen Befund voraus. Auf manische Störungen treffen im Prinzip die gleichen Grundregeln zu, nur sind die entsprechenden Begrifflichkeiten nicht in dem Maße umgangssprachlich in
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Gebrauch und werden auch von Betroffenen oft nicht spontan berichtet. Differenzialdiagnostische Erörterung mit der Frage, im Rahmen welcher Situation, Erkrankung, Störung oder Persönlichkeitsauffälligkeit die affektive Symptomatik zu verstehen ist. Verlauf mit der Frage nach der Häufigkeit von Episoden, einer vollständigen oder unvollständigen Remission oder der Entwicklung einer chronifizierten Symptomatik. Patienten mit rasch aufeinander folgenden Episoden können erheblich beeinträchtigt sein, vor allem wenn ein »rapid cycling« vorliegt, d. h. wenn mindestens vier Krankheitsepisoden pro Jahr auftreten. Bisherige Behandlung: Fachärztliche und psychotherapeutische Behandlung sind hinsichtlich Behandlungsdauer und -frequenz sowie medikamentöser Maßnahmen detailliert zu erfragen und bezüglich der Berücksichtigung der einschlägigen Leitlinien zu überprüfen. Leider wird häufig – vor allem bei nicht fachärztlicher Behandlung – die erforderliche medikamentöse (z. B. antidepressive) Therapie nicht in ausreichender Dosierung und über einen ausreichend langen Zeitraum durchgeführt. Suizidalität bedeutet ein erhebliches Risiko vor allem bei depressiven Episoden bzw. Störungen. Bei unipolar verlaufenden Störungen wird von einer Suizidmortalität von 15 % bei einmal hospitalisierten Patienten ausgegangen, bei bipolar erkrankten Patienten von einer solchen von 15 bis 30 %.
Sozialmedizinische Beurteilung bei einzelnen Störungen z
Depressive Störungen (F32, F33, F34.1)
Der Begriff »Depression« wird im umgangssprachlichen Sinn heute nahezu inflationär für vielfältige Befindlichkeitsstörungen gebraucht. Davon abzugrenzen ist ein krankhaft depressiver Zustand, der früher auch als Melancholie bezeichnet wurde. Nicht jede Niedergeschlagenheit, jede Verstimmung oder jedes Unwohlsein bedeutet, dass der betreffende Mensch »depressiv« ist. Auch die Trauer ist eine normale menschliche Reaktion auf einen schwerwiegenden Verlust oder Schicksalsschlag und keine Depression im psychopathologischen Sinn; es sei denn, es kommt hierbei zu einer besonders akzentuierten Ausprägung oder einem ungewöhnlichen Verlauf. Die ICD-10 unterscheidet leichte, mittelgradige und schwere depressive Episoden sowie die Dysthymia. z z Psychische Symptome
Kennzeichnend für eine Depression ist die melancholische Gestimmtheit, beschrieben als »erlebte Leblosigkeit« oder als »Gefühl der Gefühllosigkeit«. Die Patienten sind
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
in ihrer Fähigkeit zu affektiven Regungen erheblich eingeschränkt und herabgestimmt. Sie fühlen sich bedrückt, niedergeschlagen, schwermütig, resigniert oder trostlos. Typische Symptome sind Freudlosigkeit, Interesselosigkeit, Energielosigkeit und reduzierte Aufmerksamkeit. Die Patienten klagen über mangelndes Selbstwertgefühl, über eine negative Selbsteinschätzung und über Unsicherheit. Das Denken kann verlangsamt bzw. gehemmt, umständlich und mühsam sein bis hin zur Ideenarmut mit Konzentrationsstörungen. Stehen diese Symptome im Vordergrund, so kann sich bei älteren Patienten das Problem der differenzialdiagnostischen Abgrenzung zu einem demenziellen Syndrom ergeben. Häufig finden sich Ängste, oft auf das gesamte Leben bezogen. In schweren Fällen kann das Gefühl einer völligen Perspektiv- oder Hoffnungslosigkeit bestehen. Dies ist stets ein sehr ernst zu nehmendes Symptom, da es zur suizidalen Gefährdung führen kann. In ausgeprägten Fällen können zusätzlich Wahninhalte auftreten, typisch sind ein Schuldwahn oder ein Verarmungswahn.
pressiven Episode können außerdem psychotische Symptome wie Wahn, Halluzinationen und/oder depressiver Stupor auftreten. z z Rezidivierende depressive Störung (F33)
Diese Störung ist charakterisiert durch wiederholte depressive Episoden, wobei diese entsprechend der jeweiligen Ausprägung als leicht, mittelgradig oder schwer beschrieben werden (s. o.). Manische oder hypomanische Symptome treten nicht auf. z z Dysthymia (F34.1)
Hierbei handelt es sich um eine chronische, wenigstens mehrere Jahre andauernde depressive Verstimmung, die weder schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug ist, um die Kriterien einer schweren, mittelgradigen oder leichten rezidivierenden depressiven Störung (F33.–) zu erfüllen. Frühere Bezeichnungen der Dysthymia waren: depressive Neurose, neurotische Depression, depressive Persönlichkeit.
z z Somatische Symptome
z z Verlauf
Eine Depression geht mit vielfältigen körperlichen Beeinträchtigungen einher. Typisch sind Schlafstörungen, Appetitstörungen mit Gewichtsverlust, eingeschränkte oder aufgehobene Libido, rasche Ermüdbarkeit sowie Druckgefühl im Kopf, über der Brust oder über dem Leib. Das »somatische Syndrom«, auch als »vital«, »biologisch« oder »melancholisch« bezeichnet, ist in der ICD-10 folgendermaßen definiert: Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust.
Depressive Störungen verlaufen häufig in Episoden, die nach einem mehr oder weniger symptomfreien Intervall rezidivieren können. Die Dauer einzelner Episoden variiert in einer Größenordnung von Wochen bis Monaten. Angesichts dieser Schwankungsbreite ist eine Vorhersage des Verlaufs für psychopathologisch abgrenzbare Gruppen oder gar für Einzelfälle kaum möglich. Insgesamt ist die Prognose bei adäquater Behandlung jedoch gut. Die Dysthymia zeichnet sich dagegen durch über Jahre anhaltende, fluktuierende depressive Verläufe leichterer Ausprägung ohne abgrenzbare Remissionsphasen aus. Depressive Episoden und Dysthymia können auch gemeinsam auftreten. Die Verlaufsbeurteilung einer depressiven Störung erfolgt retrospektiv, wobei Beginn, Ersterkrankungsalter, Phasenzahl, Phasendauer, Intervalldauer sowie Remissionsgrad zu berücksichtigen sind.
z z Depressive Episode (F32)
Der Schweregrad wird anhand von Kernsymptomen und Zusatzsymptomen beurteilt: Kernsymptome sind gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Verminderung des Antriebs mit Ermüdbarkeit. Zusatzsymptome sind verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Suizidgedanken oder Suizidhandlungen, Schlafstörungen, verminderter Appetit. Bei einer leichten depressiven Episode liegen zwei Kernsymptome und mindestens zwei Zusatzsymptome vor. Bei einer mittelgradigen depressiven Episode sind zwei Kernsymptome und mindestens drei, besser vier Zusatzsymptome zu fordern. Bei der schweren depressiven Episode werden drei Kernsymptome und mindestens vier Zusatzsymptome verlangt, von denen einige besonders ausgeprägt sein sollten. Im Rahmen einer schweren de-
z z Epidemiologie
Depressive Störungen sind mit einer Prävalenz von 15 bis 30 % in der Erwachsenenbevölkerung neben den Angststörungen die häufigsten psychischen Erkrankungen. Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer. z z Ätiologie
Zumeist liegt depressiven Störungen eine multifaktorielle Genese zugrunde. Genetische Faktoren, Veränderungen auf den Ebenen der Neurotransmitter und der Hormonregulation (z. B. Schilddrüse) und psychosoziale Faktoren wirken im Sinne eines bio-psycho-sozialen Bedingungsgefüges zusammen.
561 24.2 · Krankheitsbilder
z z Behandlung
z z Sozialmedizinische Beurteilung
Bei leichterer Ausprägung der depressiven Symptomatik und guter sozialer Einbindung kann die ambulante Behandlung durch den Hausarzt ausreichend sein. Dabei kommt neben stützenden Gesprächen im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung auch eine medikamentös-antidepressive Therapie in Betracht. Letztere ist unbedingt leitliniengerecht durchzuführen, das heißt in ausreichender Dosierung und über einen angemessen langen Zeitraum. Viele Therapieversuche scheitern an der Missachtung dieser Grundsätze und gefährden damit auch die Compliance bezüglich der Behandlung. Patienten mit einer schweren depressiven Störung, psychotischer Symptomatik, Therapieresistenz oder schwer einschätzbarer Suizidalität sollten ambulant fachärztlich oder stationär in einem Fachkrankenhaus bzw. einer psychiatrischen Fachabteilung behandelt werden. Hier kann die Therapie bedarfsgerecht durch Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Ergotherapie, Soziotherapie, Physio- und Bewegungstherapie sowie weitere körperorientierte nichtmedikamentöse Verfahren (z. B. Elektrokrampftherapie, Lichttherapie, transkranielle Magnetstimulation) ergänzt werden.
Bei einer mittelgradig oder schwer ausgeprägten depressiven Symptomatik ist zunächst von Arbeitsunfähigkeit auszugehen. Bei vollständiger Remission bestehen im Intervall zwischen zwei depressiven Episoden meist keine ausgeprägteren Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Teilhabe, wobei die Prognose umso besser ist, je stabiler die Primärpersönlichkeit des Betroffenen ist, je weniger Episoden auftreten und je weniger schwer diese ausgeprägt sind. Bei den rezidivierenden depressiven Störungen und bei der Dysthymia kann es jedoch zu einer qualitativen und quantitativen Einschränkung der Leistungsfähigkeit kommen. Den Aspekten der Krankheitsbewältigung, der sozialen Unterstützung sowie der Komorbidität ist hier besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Eine Komorbidität depressiver Störungen mit anderen psychischen Störungen kann zu einer Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit führen, die ohne eine solche Komorbidität nicht auftreten würde. Als Faustregel kann gelten, dass die Wiederherstellung einer vollen beruflichen Leistungsfähigkeit kaum zu erwarten ist, wenn folgende Faktoren gemeinsam vorliegen: 4 mittelschwer bis schwer ausgeprägte depressive Symptomatik, 4 chronifizierter Verlauf, 4 erfolglose Behandlungsversuche im ambulanten und stationären Rahmen in unterschiedlichen therapeutischen Settings bei ausreichend langer und ausreichend hoher Dosierung der antidepressiven Medikation mit Wechsel des Medikamentes sowie 4 erfolglose Rehabilitationsbehandlung.
z z Medizinische Rehabilitation
Rehabilitationsbedürftigkeit kann beispielsweise bei erschwerter Krankheitsbewältigung und rezidivierenden depressiven Episoden bestehen. Auch bei der Dysthymia kann sich je nach Ausprägung und Dauer der Symptomatik Rehabilitationsbedürftigkeit ergeben, wenn die individuellen Kompensationsmöglichkeiten unter den Alltags- und beruflichen Anforderungen versagen und mehr als nur einzelne qualitative Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens im Erwerbsleben drohen. Eine akute mittelgradige bis schwere depressive Episode schließt Rehabilitationsfähigkeit aus. z z Teilhabe am Arbeitsleben
Aufgrund der Vielgestaltigkeit depressiver Störungen sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Arbeitsleben nur individuell abzuschätzen. In der Mehrzahl der Fälle sind bei adäquater Therapie, niedriger Episodenfrequenz und günstiger Krankheitsbewältigung keine Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich. Sofern depressive Episoden bzw. Verschlechterungen einer Dysthymia im Kontext beruflicher Überforderung auftreten, kommen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Betracht. Bei entsprechender Belastbarkeit können diese auch in Form qualifizierender Maßnahmen z. B. in einem Berufstrainingszentrum (BTZ) oder einem Berufsförderungswerk (BFW) durchgeführt werden.
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Bipolare affektive Störungen und Zyklothymia (F30, F31, F34.0)
Die bipolare affektive Störung ist durch wiederholte (wenigstens zwei) Krankheitsepisoden charakterisiert, in denen Stimmung und Aktivitätsniveau deutlich gestört sind, entweder in Richtung einer Manie, einer Hypomanie oder in Richtung einer depressiven Symptomatik (s. o.). Frühere Bezeichnungen waren: manisch-depressive Psychose, manisch-depressive Erkrankung. z z Manische Episode (F30.1–F30.9, F31.1–F31.21, F31.8)
Kernsymptom der Manie ist die abnorme und anhaltend gehobene expansive oder reizbare Stimmungslage. Folgende Symptome kommen hinzu: gesteigertes Selbstwertgefühl oder Größenideen, vermindertes Schlafbedürfnis, starker Rededrang, Ideenflucht und die subjektive Erfahrung des Gedankenjagens, Steigerung zielgerichteter Aktivitäten, verbunden mit psychomotorischer Unruhe. Bei manischen Zuständen können auch psychotische Symptome i. S. eines Größenwahns auftreten.
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
z z Hypomanie (F30.0, F31.0)
Leichtere Ausprägung eines manischen Zustandes. Psychotische Symptome finden sich hier nicht. z z Zyklothymia (F34.0)
Bei der zu den anhaltenden affektiven Störungen gehö-
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renden Zyklothymia liegt eine andauernde Instabilität der Stimmung mit zahlreichen Perioden depressiver und/ oder gehobener Stimmung vor. Die Ausprägung der jeweiligen Stimmungsauslenkungen ist vergleichsweise gering und erfüllt nicht die diagnostischen Kriterien einer depressiven bzw. manischen Episode. Die Instabilität der Stimmung hat üblicherweise einen chronischen Verlauf. In Anbetracht der leichten Ausprägung der Symptomatik bestehen keine größeren Einschränkungen im Alltag, häufig erfolgt auch keine ärztliche Behandlung. Frühere Bezeichnungen waren: zyklothyme Persönlichkeit, zykloide Persönlichkeit, affektive Persönlichkeit.
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z z Verlauf
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Bipolare affektive Störungen treten episodisch und rezidivierend auf, beginnen meist früher und verlaufen schwerer als monopolar depressive Störungen. Die Dauer einzelner Episoden variiert in einer Größenordnung von Wochen bis Monaten. Von einem »rapid cycling« spricht man, wenn mindestens vier Episoden pro Jahr auftreten. Eine Vorhersage des Verlaufs für psychopathologisch abgrenzbare Gruppen oder gar für Einzelfälle ist kaum möglich. Die Verlaufsbeurteilung einer bipolaren affektiven Störung erfolgt retrospektiv, wobei Beginn, Ersterkrankungsalter, Phasenzahl, Phasendauer, Intervalldauer sowie Remissionsgrad zu berücksichtigen sind. Die Zyklothymia ist dagegen durch jahrelang anhaltende, fluktuierende Verläufe mit leichteren Stimmungsauslenkungen ohne abgrenzbare Remissionsphasen gekennzeichnet. z z Epidemiologie
Das Lebenszeitrisiko für bipolare affektive Störungen beträgt 1 bis 2 %, beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen. Etwa 5 bis 15 % der an einer bipolaren affektiven Störung erkrankten Menschen entwickeln ein »rapid cycling«. Unipolare Manien sind mit ca. 5 % der affektiven Störungen selten. z z Ätiologie
Die Ätiologie bipolarer affektiver Störungen und der Zyklothymia folgt ebenso einem bio-psycho-sozialen Entstehungsmodell wie bei den depressiven Störungen (s. o.). z z Behandlung
Die Behandlung erfolgt in Abhängigkeit von der Ausprägung der Symptomatik stationär psychiatrisch oder ambulant, wobei auch hier eine fachärztliche Behandlung
vorzuziehen ist. Die medikamentöse Therapie muss häufig auch eine besondere Rezidivprophylaxe umfassen und ist entsprechend zu überwachen. Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Psychoedukation sowie weitere Behandlungsmodule werden entsprechend dem individuellen Bedarf eingesetzt. Während (hypo-) manischer Episoden ist die krankheitsbedingt häufig herabgesetzte Compliance zu berücksichtigen. z z Medizinische Rehabilitation
Rehabilitationsbedürftigkeit kann sich bei bipolaren affektiven Störungen in der Folge einer Häufung schwerer und lang andauernder Episoden ergeben, die mit einer erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit verbunden ist. Allerdings muss in diesen Fällen die Rehabilitationsfähigkeit sorgfältig geprüft werden, um Überforderungen zu vermeiden und neuerlichen Exazerbationen vorzubeugen. Die Rehabilitation sollte in einer Einrichtung durchgeführt werden, die über einen entsprechenden Behandlungsschwerpunkt verfügt. Krankheitsbewältigung und Unterstützung beim Abgleich von Belastungen und Belastbarkeit im Alltag sowie Anleitung zum Erkennen von beginnenden Exazerbationen stehen im Mittelpunkt der Rehabilitation. Die Zyklothymia führt aufgrund der relativ leicht ausgeprägten Symptomatik nur in Einzelfällen zu Rehabilitationsbedürftigkeit. z z Teilhabe am Arbeitsleben
Auch bei den bipolaren affektiven Störungen sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Arbeitsleben nur individuell abzuschätzen. Bei adäquater Therapie ggf. einschließlich Phasenprophylaxe, bei niedriger Episodenfrequenz und günstiger Krankheitsbewältigung sind meist keine Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich. Sofern Krankheitsepisoden im Kontext beruflicher Überforderung auftreten, kommen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Betracht. Diese können zunächst z. B. in Form von Trainingsmaßnahmen erfolgen, bevor umfangreichere qualifizierende Maßnahmen in Erwägung gezogen werden. z z Sozialmedizinische Beurteilung
In manischen Zuständen ist Arbeitsunfähigkeit gegeben, bei schwerer Ausprägung kann in Einzelfällen sogar die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung zur Unterstützung bei der Regelung gesundheitlicher, finanzieller oder behördlicher Angelegenheiten notwendig werden. Damit sollen die negativen Konsequenzen erheblicher Selbstüberschätzung wie z. B. massive Überschuldung, Verlust von Wohnung oder Arbeitsplatz begrenzt werden. Dauerhafte Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit sind in den meisten Fällen bei bipolaren affektiven Störungen nicht zu erwarten, es sei denn, es besteht ein
563 24.2 · Krankheitsbilder
ungewöhnlicher Verlauf mit langfristigem Persistieren der manischen bzw. depressiven Symptomatik oder ein »rapid cycling«. Letzteres ist mit einer ungünstigen Prognose verbunden und kann zur Aufhebung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben führen. Hypomanien können durch ihre mitreißende Antriebssteigerung und in einem günstigen Umfeld durchaus positive Züge aufweisen, führen aber auch nicht selten zu Konflikten in Partnerschaft und Gesellschaft. Sie sind in der Regel nicht mit Arbeitsunfähigkeit oder einer dauerhaften Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit verbunden. 24.2.4
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen Klaus Foerster, Katja Fischer
In diesem Abschnitt der ICD-10 werden unterschiedliche Störungen wegen ihrer historischen Verbindung zum Neurosenkonzept zusammengefasst; vgl. . Tab. 24.6. Dementsprechend erscheint hier noch das Adjektiv »neurotisch«, obwohl das Neurosenkonzept als Organisationsprinzip in der ICD-10 bekanntlich nicht beibehalten wurde. Der Anteil der wegen neurotischer, Belastungs- und somatoformer Störungen durchgeführten stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation an allen medizinischen Rehabilitationen wegen psychischer Störungen (ohne Abhängigkeitserkrankungen) betrug im Jahr 2009 bei den Männern 43,5 % und bei den Frauen 41,5 %. In der Statistik der Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Störungen (ohne Abhängigkeitserkrankungen) beträgt der Anteil von Diagnosen aus dieser Gruppe 24,9 % und wird diesbezüglich nur noch von den affektiven Störungen übertroffen.
Klassifikation Die ICD-10 fasst unter neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen im weiteren Sinne psychoreaktive Störungen zusammen, wobei solche mit überwiegender psychischer Symptomatik und solche, die sich primär in körperlichen Beschwerden äußern, unterschieden werden können. Die Einteilung erfolgt anhand der vorherrschenden Symptomatik (z. B. Phobie, Zwangsstörung) bzw. der Entstehung (z. B. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen).
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen sind durch jeweils typische Schwerpunktsymptome (z. B. phobische Ängste, Zwangssymptome) gekennzeichnet. Bei der Diagnostik ist daher die Erfassung der Psychopathologie wesentlich, ergänzt durch anamnestische Angaben
. Tab. 24.6 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen F40
Phobische Störungen
F41
Andere Angststörungen
F42
Zwangsstörung
F43
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
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Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen)
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Somatoforme Störungen
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Andere neurotische Störungen
zum bisherigen Krankheitsverlauf und durch die biografische Anamnese, die zum Verständnis der Entwicklung bestimmter Störungsbilder erheblich beitragen kann, sei es aus lerntheoretischem oder aus psychodynamischem Blickwinkel. Bei den somatoformen und den dissoziativen Störungen, die durch körperliche Beschwerden ohne ausreichende, die Symptomatik erklärende körperliche Befunde gekennzeichnet sind, kann die erforderliche Abgrenzung gegenüber somatischen Krankheiten mitunter Probleme bereiten. Erschwerend kommt die vor allem bei Probanden mit einer somatoformen Störung krankheitsbedingt vorhandene und oft vehement vertretene Überzeugung vom Vorliegen einer (ausschließlich) körperlichen Ursache ihrer Beschwerden hinzu. Hier ist insbesondere vor dem übermäßigen und unkritischen Einsatz invasiver diagnostischer Verfahren zu warnen, der gravierende gesundheitliche Folgen für die Betroffenen haben kann und auch ökonomisch nicht vertretbar ist. Eine iatrogene Fixierung auf ein rein somatisch orientiertes Krankheitskonzept kann dadurch begünstigt und die Erarbeitung einer Behandlungscompliance bezüglich psychotherapeutischer Ansätze verhindert werden. Die sorgfältige Differenzialdiagnostik ist bei diesen Probanden sehr zeitaufwändig und erfordert große gutachterliche Erfahrung.
Begutachtungskriterien Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen können sich je nach typischer Symptomatik, Ausprägung und Dauer der Symptome sowie Krankheitsbewältigung und sozialem Kontext auf einzelne, mehrere oder alle unter 7 Kap. 24.1.4 genannten erwerbsrelevanten Begutachtungskriterien bei psychischen Störungen auswirken. Während eine isolierte Spinnenphobie im Rahmen einer Bürotätigkeit kaum mit Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit verbunden sein dürfte, kann eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung schwerer Ausprägung zu erheblichen Beeinträchtigungen hinsichtlich der meisten Begutachtungskriterien führen, einschließlich der Fähigkeit, den Arbeitsplatz zu erreichen. In solchen
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
Fällen ist von einer erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit auszugehen. Eine vermehrte Zuwendung von Bezugspersonen kann sich gerade bei neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen im Sinne eines sekundären Krankheitsgewinns symptomverstärkend auswirken und regressive Neigungen fördern. So kann beispielsweise die ständige Begleitung eines Menschen mit einer Agoraphobie durch einen Angehörigen zu einer Fixierung oder sogar Zunahme seiner Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Teilhabe führen. Die Erhebung der sozialen Anamnese dient u. a. der Erfassung von Ressourcen und Barrieren im Hinblick auf Krankheitsbewältigung und Teilhabe am Alltags- und Erwerbsleben und sollte daher auch die Frage nach dem Umgang von Bezugspersonen mit dem betroffenen Versicherten und seiner Krankheit beinhalten. Art und Umfang der bisherigen Behandlung können einen wichtigen Hinweis auf die Motivation und Motivierbarkeit für eine adäquate Behandlung und Rehabilitation geben. Erhebliche und anhaltende Beschwerden, die bislang nicht oder nicht adäquat behandelt worden sind, müssen differenziert betrachtet werden. Einerseits kommt dies störungsbedingt vor (wie bei den somatoformen Störungen häufig), andererseits kann auch ein sekundärer Krankheitsgewinn zugrunde liegen, sei es in Form des Erhalts persönlicher Zuwendung oder einer Existenzsicherung (Erwerbsminderungsrente). Die früher weit verbreitete Auffassung in Fachkreisen, dass neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen möglichst ausschließlich psychotherapeutisch behandelt werden sollten, ist von einem polypragmatischen Vorgehen abgelöst worden, mit parallelem oder konsekutivem Einsatz von psychotherapeutischen Verfahren, medikamentöser Therapie und weiteren Behandlungselementen je nach individuellem Störungsbild und Bedarf. Für die meisten der Störungen ist eine ambulante psychotherapeutische Behandlung ausreichend.
Sozialmedizinische Beurteilung bei einzelnen Störungen z
Phobische und andere Angststörungen (F40, F41)
Diese Störungen sind durch ausgeprägte Angstreaktionen bei gleichzeitigem Fehlen akuter realer Gefahr oder Bedrohung gekennzeichnet. Angsterkrankungen – darunter insbesondere die phobischen Störungen – gehören zu den häufigsten psychischen Störungen überhaupt. Der spontane Verlauf ist in der Mehrzahl der Fälle ungünstig. Bei der erstmaligen Diagnose zeigen die meisten Angststörungen bereits eine erhebliche Chronifizierung. Angststörungen führen zu einer hohen Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems. Psychische Komorbidität ist häufig, vor allem die Entwicklung einer depressiven Symptomatik und eines schädlichen Gebrauchs bzw. einer Ab-
hängigkeit von psychotropen Substanzen (v. a. Tranquilizer). z z Phobische Störung (F40)
Bei einer Phobie wird die Angst ausschließlich oder überwiegend vor einem umschriebenen Objekt oder einer umschriebenen Situation erlebt. Dabei wird hauptsächlich differenziert zwischen der Agoraphobie mit dem Auftreten der Angst beispielsweise in Menschenmengen, auf öffentlichen Plätzen oder bei Reisen (mit oder ohne begleitende Panikstörung, s. u.), der sozialen Phobie, bei der die Angst auf bestimmte soziale Situationen beschränkt ist, und den spezifischen isolierten Phobien, die auf ganz spezifische Situationen oder ein spezifisches Objekt beschränkt sind. Die Situation wird unter starker Angst ertragen oder völlig vermieden. z z Andere Angststörungen (F41)
Hier ist das Hauptsymptom eine Angst, die nicht auf bestimmte Umgebungssituationen begrenzt ist. Dabei ist unter anderem die Panikstörung mit heftigen, unvorhersehbar auftretenden Angstanfällen und weitgehend angstfreien Zeiträumen zwischen den Attacken von der generalisierten Angststörung zu differenzieren. Die generalisierte Angststörung wurde früher auch als »Angstneurose« bezeichnet. Sie ist durch eine generalisierte und anhaltende Angst gekennzeichnet, wobei vielfältige Befürchtungen, Sorgen und Vorahnungen das Erleben und Verhalten der betroffenen Menschen dominieren. »Angst und depressive Störung, gemischt« (F41.2) gehört ebenfalls in diese Gruppe und ist eine Störung mit gleichzeitigem Bestehen von Angst und Depression, wobei keine der beiden so stark ausgeprägt sein darf, dass eine entsprechende einzelne Diagnose gerechtfertigt ist. Sowohl die phobischen Störungen als auch die anderen Angststörungen können episodisch auftreten oder persistieren. Angststörungen werden häufig nicht korrekt diagnostiziert und unter anderem aufgrund der oft eindrucksvollen körperlichen Begleiterscheinungen der Angst (z. B. Herzklopfen, Schweißausbruch, Zittern) nicht als psychische Störungen erkannt. Eine daraufhin ausschließlich organmedizinisch ausgerichtete Behandlung kann zur Chronifizierung beitragen. z z Sozialmedizinische Beurteilung
Je nach Schweregrad und Verlauf können Angststörungen erhebliche sozialmedizinische Auswirkungen haben. Spezifische Phobien sind dabei in der Regel mit deutlich geringeren Einschränkungen für die Lebensführung verbunden, während Agoraphobien und Panikstörungen als bedeutsamer anzusehen sind. Die soziale Phobie kann je nach Grad der Generalisierung ebenfalls zu erheblichen Einschränkungen führen.
565 24.2 · Krankheitsbilder
Bei allen Angststörungen erhebt sich vordringlich die Frage nach der korrekten Diagnose und der konsequenten Therapie. Bei den meisten Patienten mit Angststörungen ist eine Kombinationstherapie aus verhaltenstherapeutisch orientiertem Vorgehen und Pharmakotherapie im ambulanten Setting indiziert. Stationäre Behandlungen kommen bei schweren Beeinträchtigungen und bei zusätzlicher Komorbidität in Betracht. Sofern gravierende und anhaltende Beeinträchtigungen hinsichtlich der Teilhabe am Erwerbsleben drohen oder bereits bestehen, kommt auch eine psychosomatisch-psychotherapeutische Rehabilitation seitens der Rentenversicherung in Frage. Dabei kann die Ausprägung der Symptomatik die Durchführung im stationären Setting erfordern; die Auswahl eines stärker verhaltenstherapeutischen oder psychodynamischen Rehabilitationskonzeptes richtet sich nach dem individuellen Bedarf. In Einzelfällen können auch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich werden, beispielsweise bei bestimmten arbeitsplatzbezogenen Angststörungen, die trotz angemessener Therapie nicht ausreichend kompensiert werden können. Die Frage nach den Voraussetzungen für die Feststellung einer zeitlichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit lässt sich für die Angststörungen nicht generell und allgemein verbindlich beantworten, da die Erscheinungsformen sehr vielgestaltig sein können. Zu berücksichtigen sind die folgenden Parameter: 4 Art, Schwere, Dauer und Verlauf (Chronifizierungsgrad) der Symptomatik 4 Auslösesituationen/Generalisierung bei spezifischen Phobien 4 Komorbidität 4 Prämorbide Persönlichkeit Vom sozialmedizinischen Gutachter ist zu verlangen, dass er die genannten Aspekte im Einzelnen exploriert, in seinem Gutachten darstellt und in ihrer sozialmedizinischen Relevanz bewertet. Berentungen auf Zeit sind nicht als aufschiebende »Kompromisslösung« bei gutachterlicher Unsicherheit bezüglich der Prognose anzusehen, da diese Zeit leider meist nicht für eine sinnvolle Behandlung genutzt und dadurch der Chronifizierung Vorschub geleistet wird. z
werden. Inhaltlich geht es meist um aggressive Vorstellungen oder um Vorstellungen, die mit Schmutz und Verunreinigung zusammenhängen. Die tatsächliche Umsetzung eigener aggressiv getönter Zwangsgedanken wird von den Betroffenen zwar gefürchtet und nicht selten durch ritualisiertes Verhalten im Sinne von Zwangshandlungen bekämpft, kommt jedoch kaum vor. Zwangshandlungen sind sich ständig wiederholende Stereotypien, meist bezogen auf Waschen oder Reinigen, Kontrollieren, Wiederholen oder Zählen. Die Zwangshandlungen dienen dazu, Anspannung oder Angst zu reduzieren. Differenzialdiagnostisch sind vor allem schizophrene Psychosen, depressive Störungen und organische psychische Störungen auszuschließen. Sozialmedizinische Beurteilung. Zwangsstörungen müs-
sen von zwanghaften Phänomenen des täglichen Lebens unterschieden werden, die weit verbreitet sind und denen kein Krankheitswert zukommt. Abzugrenzen ist auch die anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung, die in der Regel nicht mit Einbußen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben verbunden ist und für bestimmte berufliche Tätigkeiten sogar prädestinieren kann. Leichtgradige Zwangsstörungen beeinträchtigen das Leistungsvermögen im Erwerbsleben ebenfalls meist nicht erheblich und können höchstens im Einzelfall zu bestimmten qualitativen Einschränkungen (z. B. hinsichtlich der Daueraufmerksamkeit) führen. Ausgeprägte Zwangsstörungen können hingegen eine quantitative Leistungsminderung bedingen, wenn die Zwangshandlungen besonders ausgeprägt sind und den Tagesablauf bestimmen oder wenn Zwangsgedanken die kognitiven Fähigkeiten (z. B. Aufmerksamkeit und Konzentration) erheblich und andauernd beeinträchtigen. Ein aufgehobenes Leistungsvermögen sollte in der Regel erst dann festgestellt werden, wenn mindestens zwei konsequente, auch stationäre Behandlungen ohne Erfolg geblieben sind, wobei die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Maßnahmen am besten belegt ist, ggf. alleine oder in Kombination mit der Gabe eines selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers (SSRI). Bei entsprechender Ausprägung der Zwangsstörung und gegebener Rehabilitationsfähigkeit sollte auch eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation in Betracht gezogen werden.
Zwangsstörungen (F42)
Zwangsstörungen zählen zu den häufigen psychischen Störungen, ihr Verlauf ist in der Regel chronisch. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen. Die Zwangsstörung ist charakterisiert durch wiederkehrende Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen. Zwangsgedanken sind Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die sich dem Patienten gegen seinen Willen aufdrängen und die fast immer als sinnlos und quälend erlebt
z
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) z z Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1)
Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entsteht als verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalen Ausmaßes, die bei fast jedem Menschen eine entsprechende Reaktion hervorrufen
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
würde. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (flash backs) vor dem Hintergrund eines Gefühls der emotionalen Stumpfheit, Gleichgültigkeit sowie der Vermeidung von Aktivitäten, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen können. Daneben besteht ein Zustand vegetativer Übererregbarkeit. Sozialer Rückzug ist häufig. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle klingt die Störung ab und hält selten länger als 6 Monate an. Sehr selten kann es zu einem chronischen Verlauf und Übergang in eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) kommen. Sozialmedizinische Beurteilung. Bei Vorliegen der typischen psychopathologischen Symptomatik und unter Beachtung der Vorgeschichte eines schweren Traumas ist die Diagnosestellung nicht schwer. Die Gefahr einer Retraumatisierung im Rahmen der Begutachtung ist bei Anwendung einer sensiblen und subtilen Explorationstechnik, die diese Patienten nicht unnötig belastet, nicht gegeben. Der Gutachter sollte sich bei Hinweisen auf eine PTBS nicht zur unkritischen Übernahme der Diagnose aus Vorbefunden hinreißen lassen, sondern sich immer selbst von der Symptomatik und der Erfüllung der diagnostischen Kriterien überzeugen. In manchen Fällen sind bei sorgfältiger Exploration weder ein adäquates Trauma noch die psychopathologische Symptomatik auszumachen, um die Diagnose einer PTBS zu stellen, was gerade im Hinblick auf damit möglicherweise verbundene Entschädigungserwartungen von Bedeutung sein kann. Meist bestehen bei einer PTBS nur vorübergehende qualitative Einbußen der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben, vor allem bei Konfrontation mit angstbesetzten Orten oder angstauslösenden Situationen. In den seltenen Fällen mit chronischem Verlauf, verbunden mit sozialem Rückzug und Antriebsmangel, kann es zu einer quantitativen Einschränkung der Leistungsfähigkeit durch eine PTBS kommen. Hier sollte durch eine medizinische Rehabilitation in einer Einrichtung mit entsprechendem Behandlungsschwerpunkt versucht werden, das Leistungsvermögen im Erwerbsleben zu erhalten bzw. wiederherzustellen, da eine Berentung den sozialen Rückzug weiter verstärken würde. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wie beispielsweise die Unterstützung einer innerbetrieblichen Weiterqualifizierung und Umsetzung können indiziert sein, wenn die Traumatisierung arbeitsplatzbezogen erfolgt ist und ein Verbleib am bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr möglich ist. Dies kann z. B. bei Bankangestellten im Schalterdienst nach Überfall-Ereignissen oder U-Bahn-Fahrern nach Unfällen mit Suizidanten zutreffen.
z z Anpassungsstörungen (F43.2)
Anpassungsstörungen können nach entscheidenden Lebensveränderungen, nach einem belastenden Lebensereignis oder auch nach schweren körperlichen Erkrankungen oder Operationen auftreten. Die Symptomatik ist sehr variabel, meist finden sich depressive Syndrome, Ängste oder eine Mischung verschiedener Symptome wie Ängste, Sorgen, Anspannung, Ärger, depressive Störungen und Verbitterung. Bei der Diagnose zu berücksichtigen sind die folgenden Parameter: Art und Ausprägung der Symptome, belastendes Ereignis, prämorbide Persönlichkeit und Verlauf. Definitionsgemäß halten die Symptome nicht länger als 6 Monate an, abgesehen von der längeren depressiven Reaktion, die jedoch nicht länger als 2 Jahre dauert. Zu bedenken ist allerdings, dass es aus klinischer und gutachterlicher Erfahrung eine ganze Reihe von Patienten gibt, deren Symptomatik auch länger als 2 Jahre besteht und die früher in der deutschsprachigen Psychiatrie und Psychotherapie als Entwicklungen beschrieben wurden. Diese Verläufe sind nach ICD-10 schwer zu klassifizieren; am ehesten bietet sich an, sie nach der konkreten Symptomatik, beispielsweise als Dysthymia (F34.1) oder Angst und depressive Störung, gemischt (F 41.2), zu verschlüsseln. Sozialmedizinische Beurteilung. In Anbetracht des in
der Regel günstigen Verlaufes, der insbesondere durch ambulante Psychotherapie unterstützt werden kann, kommt es üblicherweise nicht zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit. Allerdings muss mit der Möglichkeit der Entwicklung einer zusätzlichen psychischen Störung gerechnet werden, sei es eine depressive Störung oder eine Angststörung, woraus eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit auch im quantitativen Bereich resultieren kann. Dies gilt vor allem dann, wenn schwierige Lebenssituationen nicht oder nur geringfügig veränderbar sind und die therapeutische Unterstützung bei der Bewältigung im Wesentlichen auf die Akzeptanz des Unabänderlichen beschränkt ist. Entscheidend für die sozialmedizinische Beurteilung sind Grad und Ausmaß der konkreten psychopathologischen Symptomatik, die Behandlungsanamnese sowie der Verlauf mit der Klärung, ob die Symptome chronifiziert sind. Leistungen zur Teilhabe kommen bei drohender oder bereits eingetretener Chronifizierung – vor allem auch bei psychischer Komorbidität – in Betracht. z
Dissoziative Störungen (F44)
Die dissoziativen Störungen wurden früher auch als hysterische Störungen bezeichnet. In Anbetracht der problematischen Bedeutung, die das Wort »hysterisch« in der Umgangssprache erhalten hat, sollte dieser Begriff im klinischen und gutachtlichen Kontext nicht mehr verwendet
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werden. Ätiologisch werden dissoziative Störungen (früher z. T. auch als Konversionsstörungen bezeichnet) in Verbindung mit traumatisierenden Ereignissen, ungelösten Konflikten oder gestörten Beziehungen gesehen. Symptomatologisch äußern sie sich beispielsweise durch motorische, sensorische und sensible Funktionsstörungen, durch nicht-epileptische Anfälle, durch sexuelle Begleitsymptome oder durch die Desintegration psychischer Funktionen (z. B. dissoziative Amnesie). Es besteht eine hohe Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen und somatoformen Störungen. Der Schweregrad ist sehr variabel, der Verlauf kann episodenhaft oder chronisch sein. z z Sozialmedizinische Beurteilung
In Anbetracht der sehr variablen Symptomatik im psychischen und/oder körperlichen Bereich, der häufigen Kombination mit weiteren psychischen Störungen und des wechselhaften Verlaufes ist es nicht möglich, allgemein verbindliche Richtlinien anzugeben. Zu berücksichtigen sind die folgenden Aspekte: prämorbide Persönlichkeit, ggf. Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung; Komorbidität mit sonstigen psychischen Störungen; Symptomatik; Verlauf und Behandlungsanamnese. Da die meisten Konversionsstörungen mit einer Symptomatik einhergehen, die zunächst an eine neurologische Verursachung denken lässt, vergeht oft viel Zeit mit somatischer Diagnostik und Therapieversuchen, bevor die korrekte Diagnose gestellt wird. Dazu trägt auch die krankheitsbedingt bei den Betroffenen häufig vorhandene Negierung bis Verleugnung psychischer Probleme oder Konflikte bei. Bei anhaltender massiver Ausprägung der Störung kann es zu einer dauerhaften quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkung kommen. Eine solche Feststellung sollte allerdings immer erst nach mindestens zwei konsequenten Behandlungsversuchen in stationärem Rahmen erfolgen. z
heitverständnis fehlt. Bei etwa zwei Dritteln liegt eine Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen vor, oft mit einer depressiven Symptomatik. Der Verlauf ist häufig chronisch, was zusammen mit dem fehlenden Psychogeneseverständnis der Betroffenen zu langen »Patientenkarrieren« mit immer wiederholten körperlichen Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen führt. Die Patienten zeigen eine ausgeprägte Inanspruchnahme medizinischer Dienste, wobei sie dort nicht selten als problematisch und sogar als unangenehm erlebt werden. Differenzialdiagnostisch ist zu bedenken, dass selbstverständlich auch Patienten mit somatoformen Störungen zusätzliche körperliche Krankheiten entwickeln können, die einer entsprechenden Diagnostik und Therapie bedürfen. Verändern sich die Beschwerden oder werden neue körperliche Beschwerden geschildert, ist abzuwägen, inwieweit körperliche Untersuchungen zu wiederholen sind. Die Behandlung von Patienten mit somatoformen Störungen ist oft schwierig und langwierig. Sie kann nur erfolgversprechend sein, wenn es gelingt, ein therapeutisches Vertrauensverhältnis aufzubauen und dem Patienten behutsam ein bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis nahezubringen. Patienten mit somatoformen Störungen werden häufig – nicht zuletzt aufgrund der häufigen Chronifizierung mit erheblicher Beeinträchtigung der Teilhabe – in der psychosomatischen Rehabilitation behandelt, mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Dabei sprechen folgende Faktoren für einen langfristigen Behandlungserfolg (über drei bis fünf Jahre): kein Rentenwunsch, geringe Anzahl ärztlicher Behandlungen, kürzere Zeiten der Arbeitsunfähigkeit [35]. Aus sozialmedizinischer Perspektive ist die anhaltende Schmerzstörung (F45.4) die wichtigste aus der Gruppe der somatoformen Störungen, die in diesem Buch wegen ihrer erheblichen sozialmedizinischen Bedeutung in 7 Kap. 26 gesondert erörtert wird.
Somatoforme Störungen (F45)
Diese Störungen sind dadurch definiert, dass vom Patienten wiederholt körperliche Symptome beschrieben werden, verbunden mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen, trotz wiederholter negativer Befunde und der Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Frühere Bezeichnungen sind funktionelle Syndrome, psychovegetative Dystonie, psychovegetatives Syndrom oder Erschöpfungszustand. Somatoforme Störungen sind in der allgemeinärztlichen Versorgung und in Allgemeinkrankenhäusern sehr häufig, in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung sind hingegen oft nur Fälle mit erheblicher Chronifizierung und/oder psychischer Komorbidität anzutreffen. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass den meisten der Patienten ein psychosomatisches Krank-
z z Somatisierungsstörung (F45.0)
Für diese Störung gelten folgende diagnostische Leitlinien: (1) Mindestens zwei Jahre anhaltende multiple und unterschiedliche körperliche Symptome, für die keine ausreichende somatische Erklärung gefunden wurde; (2) hartnäckige Weigerung, den Rat oder die Versicherung mehrerer Ärzte anzunehmen, dass für die Symptome keine körperliche Erklärung zu finden ist; (3) eine gewisse Beeinträchtigung familiärer und sozialer Funktionen durch die Art der Symptome und das daraus resultierende Verhalten. Bezüglich der Symptomatik wird in den ICD-Forschungskriterien, die eine präzise Erfassung der vielfältigen Symptome ermöglichen, gefordert, dass sechs oder mehr Symptome aus der folgenden Liste vorliegen müssen, dabei Symptome aus mindestens zwei der genannten Gruppen:
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
z z Sozialmedizinische Beurteilung
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4 Gastrointestinale Symptome: Bauchschmerzen, Übelkeit, Gefühl von Überblähung, schlechter Geschmack im Mund oder extrem belegte Zunge, Klagen über Erbrechen oder Regurgitation von Speisen, Klagen über häufigen Durchfall oder Austreten von Flüssigkeit aus dem Anus. 4 Kardiovaskuläre Symptome: Atemlosigkeit ohne Anstrengung, Brustschmerzen. 4 Urogenitale Symptome: Dysurie oder Klagen über die Miktionshäufigkeit, unangenehme Empfindungen im oder um den Genitalbereich, Klagen über ungewöhnlichen oder verstärkten vaginalen Ausfluss. 4 Haut- und Schmerzsymptome: Klagen über Fleckigkeit oder Farbveränderungen der Haut, Schmerzen in den Gliedern, Extremitäten oder Gelenken, unangenehme Taubheit oder Kribbelgefühl.
In Anbetracht der Häufigkeit, der Chronizität, der ausgeprägten Inanspruchnahme medizinischer Dienste, der psychosozialen Beeinträchtigung und des subjektiven Leidensdruckes haben diese Störungen ein erhebliches sozialmedizinisches Gewicht, unabhängig davon, wie sie letztlich bezeichnet werden. Dies ist deshalb zu betonen, weil für die sozialmedizinische Beurteilung nicht die diagnostische Zuordnung entscheidend ist, sondern Art und Ausmaß der konkreten Symptomatik und der Verlauf mit der Frage nach Chronifizierung und resultierenden konkreten Beeinträchtigungen der Teilhabe an Lebensbereichen. Bei den somatoformen Störungen liegen definitionsgemäß keine körperlichen Störungen vor, die eine Leistungsminderung bewirken könnten. Daher muss sich die Beurteilung auf die psychopathologische Symptomatik beziehen.
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z z Undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1)
z z Testdiagnostik.
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Nach ICD-10 ist das Vorliegen einer solchen Störung zu erwägen, wenn zahlreiche, unterschiedliche und hartnäckige körperliche Beschwerden vorliegen, jedoch das vollständige und typische klinische Bild der Somatisierungsstörung nicht erfüllt ist. Aufgrund der Unschärfe ihrer Operationalisierung ist diese diagnostische Kategorie im Hinblick auf die Verwendung in Gutachten problematisch.
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z z Hypochondrische Störung (F45.2)
Neben der Anamneseerhebung und der detaillierten Exploration können auch testpsychologische Verfahren wie z. B. das Screening für Somatoforme Störungen (SOMS) [34] zur diagnostischen Erfassung einer somatoformen Störung beitragen. Eine Möglichkeit, den Schweregrad einer psychischen und funktionellen körperlichen Symptomatik einzuschätzen, ist die Verwendung des Beeinträchtigungsschwere-Scores nach Schepank (BSS) [36]. Dabei wird die Beeinträchtigung eines Menschen als Punktwert auf einer Skala dokumentiert, die von 0 Punkten – völlig gesund und normal – bis 12 Punkte – extrem psychogen gestört – reicht. Alle erfassbaren Symptome werden danach beurteilt, inwiefern der betreffende Proband durch sie effektiv beeinträchtigt ist. Die subjektiv leidvolle und/ oder objektiv registrierbare Auswirkung der Störung wird in drei Subkategorien in jeweils fünf Stufen von 0 bis 4 gewichtet: 4 Körperlicher Leidens- und/oder Beeinträchtigungsgrad 4 Psychischer Leidens- und/oder Beeinträchtigungsgrad 4 Auswirkungen auf die sozial kommunikativen Bezüge
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Bei dieser Störung ist das vorherrschende Kennzeichen die beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer oder an mehreren schweren und fortschreitenden körperlichen Krankheiten zu leiden, manifestiert durch anhaltende subjektive körperliche Beschwerden oder durch die ständige Beschäftigung mit der eigenen körperlichen Erscheinung. Bei der hypochondrischen Störung liegt gemäß ICD-10 der Akzent mehr auf der Krankheit und den befürchteten Folgen als auf einzelnen Symptomen wie bei der Somatisierungsstörung. Zusätzlich bestehen häufig depressive und Angst-Symptome, die ggf. als komorbide Diagnose verschlüsselt werden müssen. Abzugrenzen ist immer eine wahnhafte Störung mit Körpersymptomen. Der Verlauf ist meist chronisch und wechselhaft.
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z z Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3)
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Die Symptomatik dieser Störungen bezieht sich beispielsweise auf Symptome des kardiovaskulären Systems, des oberen und/oder unteren Gastrointestinaltraktes, des respiratorischen Systems und – seltener – des urogenitalen Systems und wird von den Patienten so geschildert, als ob sie auf körperlichen Krankheiten eines Organs oder eines Organsystems beruhte. Beispiele: kardiovaskuläres System (»Herzneurose«), respiratorisches System (»psychogene Hyperventilation und Singultus«), gastrointestinales System (»Magenneurose«, »nervöser Durchfall«).
Eine derartig quantifizierende Darstellung allein genügt jedoch nicht, entscheidend für die Beurteilung des Leistungsvermögens sind die individuellen, konkret benennbaren Beeinträchtigungen des Probanden in Bezug auf die Teilhabe am Erwerbsleben. Neben Art und Ausmaß der Symptome ist der Verlauf entscheidend zu berücksichtigen. Dabei sollten folgende Aspekte Berücksichtigung finden [17]: 4 Psychische Komorbidität (Persönlichkeitsstörung, Problematik im Umgang mit psychotropen Substanzen, geringfügige hirnorganisch bedingte Beeinträchtigungen)
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4 Mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik oder längerfristige Remission 4 Ausgeprägter »Krankheitsgewinn« 4 Verlust der sozialen Integration (Ehescheidung, Arbeitsplatzverlust, sozialer Rückzug) 4 Unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und stationärer Behandlungsmaßnahmen auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz 4 Gescheiterte Rehabilitationsmaßnahmen
gung, Schwindel, Schlafstörungen und weitere unspezifische Symptome, die spontan oder auch im Anschluss an belastende Ereignisse auftreten können. Es findet sich ein Überlappungsbereich insbesondere zu den somatoformen Störungen, weshalb die Abgrenzung nicht einfach ist. Die Diagnose wird selten gestellt, synonym wird der Begriff »Erschöpfungssyndrom« verwendet. Eine quantitative Leistungsminderung lässt sich mit einer Neurasthenie nicht ausreichend begründen, qualitative Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens (z. B. Konzentrationsprobleme) kommen jedoch vor.
Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Probanden mit funktionellen körperlichen Symptomen ist häufig schwierig, umstritten und mit einem gewissen Ermessensspielraum belastet, wodurch auch unterschiedliche gutachterliche Standpunkte begründet werden können. Das bei allen sozialmedizinischen Begutachtungen mögliche Problem der Abgrenzung einer manifesten psychischen Störung von willentlich beeinflusster Aggravation und Simulation ist bei Probanden mit somatoformen Beschwerdebildern nicht selten und bei der Begutachtung zu berücksichtigen (vgl. 7 Kap. 27). Dabei sollte der sozialmedizinische Gutachter obsolete und nicht definierte Begriffe wie Rentenneurose, Begehrensneurose, Sozialneurose und ähnliche Formulierungen keinesfalls verwenden. Im Übrigen gibt es bislang keine Belege dafür, dass eine Berentung zu einer Besserung der psychopathologischen Symptomatik führt; die Ergebnisse empirischer Studien [16, 37] legen vielmehr nahe, dass die Bewilligung bzw. Versagung einer Erwerbsminderungsrente keinen Einfluss auf das Weiterbestehen der festgestellten psychischen bzw. psychopathologischen Symptome haben wird. Eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation ist vor allem bei den Patienten mit einer somatoformen Störung angezeigt, die trotz adäquater ambulanter Behandlung einschließlich Psychotherapie gravierende Beeinträchtigungen der Teilhabe aufweisen. Patienten mit einer somatoformen Störung ohne ausreichendes Psychogeneseverständnis und psychotherapeutische Vorerfahrung sind für eine psychosomatisch-psychotherapeutischen Rehabilitation schwerer zu motivieren. Bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit durch die somatoforme Störung sollte hier versucht werden, dem Patienten eine Rehabilitation in einer Einrichtung anzubieten, die in ihrem Konzept körperliche und psychische Aspekte gleichermaßen berücksichtigt.
z z Spezielle Syndrome
z Andere neurotische Störungen (F48) z z Neurasthenie (F48.0)
Sie ist definiert durch anhaltende Klagen über gesteigerte Ermüdbarkeit nach geistiger oder körperlicher Anstren-
In den letzten Jahren ist eine Reihe vermeintlich neuer, moderner Beschwerdebilder, Störungen und Begriffe formuliert worden, deren Zustandekommen schädlichen Umwelteinflüssen zugeschrieben wird: Multiple Chemical Sensitivity (MCS), neuerdings bezeichnet als Idiopathic Environmental Intolerances (IEI); Sick Building Syndrom (SBS); Chronic Fatigue Syndrom (CFS); FibromyalgieSyndrom. Auf die Besonderheiten der sozialmedizinischen Begutachtung bei diesen sogenannten Umwelterkrankungen wird in 7 Kap. 27 ausführlicher eingegangen. Das Fibromyalgie-Syndrom wird im 7 Kap. 7.5.3 erörtert. Von Bedeutung sind diese Beschwerdekomplexe durch die überaus häufige Assoziation bzw. Überschneidung mit psychischen Störungen, insbesondere den somatoformen Störungen. Ungeachtet der Ursache vorhandener Beschwerden und Symptome gilt es auch hier, die daraus resultierenden Beeinträchtigungen der Teilhabe am Erwerbsleben gutachterlich differenziert darzulegen. 24.2.5
Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren Klaus Foerster, Katja Fischer
Störungen aus dieser Gruppe tragen nur zu einem kleinen Teil zu den Berentungen wegen Erwerbsminderung aufgrund psychischer Störungen bei und auch ihr Anteil an den stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bei psychischen Störungen (ohne Abhängigkeitserkrankungen) ist mit 2,7 % im Jahr 2009 relativ gering. Nicht selten ergeben sich jedoch im Kontext solcher Störungen besondere gutachtliche Probleme.
Klassifikation Von den in Abschnitt F50–F59 der ICD-10 klassifizierten Störungen (. Tab. 24.7) sind vor allem die Essstörungen (F50) von Relevanz für die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit. Die übrigen Störungen aus diesem Ka-
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
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. Tab. 24.7 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren
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F50
Essstörungen
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Nichtorganische Schlafstörungen
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Sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit
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F53
Psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett, andernorts nicht klassifiziert
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Psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten
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F55
Schädlicher Gebrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen
F59
Nicht näher bezeichnete Verhaltensauffälligkeit bei körperlichen Störungen und Faktoren
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pitel sind diesbezüglich kaum von Bedeutung, sie können der Tabelle 24.7 entnommen werden.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung
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Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren sind durch typische Verhaltensund Erlebensweisen charakterisiert, die mit körperlichen Auswirkungen einhergehen oder solche zur Folge haben. Neben der Erfassung des psychischen Befundes und der spezifischen Anamnese ist bei der Diagnostik daher auch eine sorgfältige somatomedizinische Untersuchung erforderlich, insbesondere im Hinblick auf die Differenzialdiagnose körperlicher Krankheiten, denen die hier zusammengefassten Störungsbilder ähneln können. Einerseits können diese Störungen die Symptome körperlicher Krankheiten (z. B. bösartige Tumore mit Kachexie) imitieren, andererseits können sie mit zunehmender Dauer körperliche Störungen verursachen (z. B. Hormonstörungen, Refluxösophagitis, Karies). Gutachterlich ist dabei auch zu berücksichtigen, dass gerade bei Essstörungen die Symptomatik bzw. das gestörte Essverhalten häufig verheimlicht oder verleugnet werden. Hier ist eine gezielte, jedoch einfühlsame und von vorbehaltlosem Verständnis geprägte Explorationstechnik hilfreich. Die Dissimulationsneigung in Bezug auf das (extrem niedrige oder hohe) Körpergewicht vieler Betroffener darf den Gutachter nicht von der notwendigen Überprüfung desselben und der körperlichen Leistungsfähigkeit abhalten.
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Begutachtungskriterien
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Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren können sich je nach Symptomatik, Ausprägung und Dauer der Symptome sowie Krankheitsbewältigung und sozialem Kontext auf einzelne, mehrere oder alle unter 7 Kap. 24.1.4 genannten erwerbsrelevanten Begutach-
tungskriterien bei psychischen Störungen auswirken. Bei chronisch verlaufender Anorexie ist nicht nur mit einem zunehmenden Verlust der körperlichen Leistungsfähigkeit, sondern auch mit mangelernährungsbedingten kognitiven Beeinträchtigungen zu rechnen.
Sozialmedizinische Beurteilung bei einzelnen Störungen z
Essstörungen (F50)
Die Anorexia nervosa und die Bulimia nervosa sind durch schwere Störungen des Essverhaltens gekennzeichnet. Sie haben folgende Gemeinsamkeiten: 4 Vorliegen einer Körperschemastörung 4 Störungen der proprio- und enterozeptiven sowie der emotionalen Wahrnehmung 4 Ein ausgeprägtes Gefühl eigener Unzulänglichkeit Zu den Essstörungen gerechnet wird außerdem die psychogene Hyperphagie mit Essattacken und Adipositas, auch bezeichnet als Binge Eating Disorder (BED). Der Begriff stammt aus den USA, wo diese Störung recht häufig diagnostiziert wird (DSM-IV: 307.50). In der ICD-10 findet sie sich allerdings nicht. Die Adipositas ist in der ICD-10 zwar unter der Ziffer E66 in Kapitel IV (Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten) aufgeführt. Aber auch bei extremer Adipositas ist ein gestörtes Essverhalten häufig zu eruieren, ggf. verknüpft mit weiteren psychischen Auffälligkeiten bis hin zu einer manifesten psychischen Komorbidität (z. B. Depression, Persönlichkeitsstörung). Als ätiologisch relevante Faktoren für die Essstörungen werden biologische Aspekte (Neurotransmitter, Neuropeptide), sozio-kulturelle Einflüsse (z. B. rigoroses Schlankheitsideal) und unspezifische persönliche Belastungsfaktoren diskutiert [13]. Bei der Diagnose von Essstörungen sind differenzialdiagnostisch somatische und psychische Erkrankungen auszuschließen, die mit Appetitlosigkeit und Gewichtsreduzierung einhergehen können, beispielsweise schwere, konsumierende körperliche Erkrankungen oder eine ausgeprägte depressive Symptomatik. Bei der Bulimia nervosa und der psychogenen Hyperphagie sind Erkrankungen abzugrenzen, die mit Appetitsteigerungen einhergehen können, wie etwa Diabetes mellitus oder Hyperthyreose. z z Anorexia nervosa (F50.0)
Die Hauptsymptome der Anorexia nervosa sind ein selbst herbeigeführter und aufrecht erhaltener Gewichtsverlust (z. B. durch Fasten, exzessives Sporttreiben, Laxantienund Diuretikaabusus, induziertes Erbrechen), eine große Angst vor Gewichtszunahme und eine deutliche Störung der Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körperumfanges. Als Grenze für das Untergewicht bei Anorexie gilt
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ein Body-Mass-Index (BMI) von 17,5 oder weniger (vgl. . Abb. 12.1). Neben dieser diagnostischen Festlegung sind zur Bestimmung des minimalen Normalgewichts auch der individuelle Körperbau und die Gewichtsentwicklung des Probanden zu berücksichtigen. Auf der Symptomebene finden sich des Weiteren die Symptome einer endokrinen Störung im Bereich der HypothalamusHypophysen-Gonadenachse, die sich bei Frauen als Amenorrhoe manifestiert. Die übrigen körperlichen Zeichen und Symptome sind dem Hungern und der daraus resultierenden Mangelernährung zuzuschreiben. Somit kann es zu ausgeprägten körperlichen Störungen kommen, beispielsweise einer Anämie, einer reduzierten Nierenfunktion, zu kardiovaskulären Störungen und zu einer Osteoporose. Die Anorexia nervosa wird in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend häufiger festgestellt, wobei überwiegend junge Frauen betroffen sind (Frauen:Männer = 12:1). Sie gehört zu den psychischen Störungen mit der höchsten Mortalität [13]. Aufgrund von Langzeitstudien mit Kollektiven von behandelten Patienten ergibt sich nach einem Verlauf von 10 bis 20 Jahren eine Mortalität von 10 bis 20 %. Eine Zusammenfassung dieser Studien ergab, dass sich bei der Hälfte der Patienten eine teilweise Besserung einstellt, ein Viertel der Patienten bleibt chronisch krank in ungebessertem Zustand und bei einem Viertel der Patienten klingt die Erkrankung ab [21]. z z Bulimia nervosa (F50.2)
Die Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch Essattacken, durch Verhaltensweisen, die einer Gewichtszunahme entgegensteuern und durch eine übertriebene Beschäftigung mit dem Körpergewicht und der Figur. Die Störung kann sich nach einer Anorexia nervosa entwickeln und umgekehrt. Es gibt auch Verläufe, bei denen im Rahmen einer Anorexia nervosa zusätzlich Essattacken auftreten (bulimischer Typ der Anorexia nervosa). 90 % der Betroffenen sind Frauen. Die Patientinnen wenden meist mehrere Methoden an, um die Folgen der Essattacken zu verhindern. Am häufigsten ist selbstinduziertes Erbrechen. Daneben ist der Missbrauch von Laxantien und Diuretika häufig. Gelegentlich werden Appetitzügler oder Schilddrüsenpräparate eingenommen. Aufgrund des wiederholten Erbrechens kann es unter anderem zu Elektrolytstörungen mit körperlichen Komplikationen kommen. Nach einer Verlaufszeit zwischen 5 und 10 Jahren weisen 50 % der ursprünglich diagnostizierten Patienten die Kriterien für eine Bulimie nicht mehr auf, während bei 20 % die Kriterien nach wie vor gegeben sind. Ein Drittel der gebesserten Patienten wird allerdings innerhalb von vier Jahren nach einer Behandlung wieder rückfällig [21]. Eine bestehende Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen oder Impulskontrollstörungen verschlechtert die
Prognose ebenso wie regelmäßiges Erbrechen oder das gewohnheitsmäßige Verwenden von Abführmitteln. z z Psychogene Hyperphagie (Binge Eating Disorder)
Diese Essstörung geht wie die Bulimia nervosa mit Heißhungerattacken einher, allerdings ohne gegensteuernde Maßnahmen wie induziertes Erbrechen oder Laxantienmissbrauch. Diese Verhaltensstörung führt daher meist zu erheblichem Übergewicht. Bei den Patienten finden sich häufig begleitende psychopathologische Symptome, wobei depressive Symptome und sozialer Rückzug am häufigsten auftreten. Entsprechend dem Übergewicht können auch körperliche Folgekomplikationen bestehen (vgl. 7 Kap. 12), die dazu führen, dass diese Patienten nicht vom psychiatrischen, sondern vom internistischen Sachverständigen begutachtet werden. Der Psychiater wird dann allenfalls um ein Zusatzgutachten gebeten. z z Sozialmedizinische Beurteilung
Typisch für Patientinnen mit Anorexia nervosa und auch mit Bulimia nervosa ist die subjektiv gute körperliche Leistungsfähigkeit und eine oft ausgeprägte Leistungsorientierung. Dementsprechend sind die Patientinnen häufig gar nicht oder nur rudimentär krankheitseinsichtig und demonstrieren ihre subjektiv gute Leistungsfähigkeit auch nach außen. Erhebliche Einschränkungen können sich ergeben, wenn der Body-Mass-Index bei der Anorexia nervosa deutlich unter 17,5 sinkt und/oder wenn bereits körperliche Komplikationen eingetreten sind, die ihrerseits zu einer Reduzierung der Leistungsfähigkeit führen können. Auch bei der Bulimia nervosa wird die Leistungsfähigkeit vor allem durch körperliche Komplikationen eingeschränkt. Sowohl die Anorexie wie die Bulimie sind sehr ernsthafte Erkrankungen, die in Abhängigkeit von Gewichtszustand, körperlichen Komplikationen (z. B. Elektrolytentgleisungen), Compliance und Krankheitsbewältigung häufig einer stationären Krankenbehandlung und/oder einer Rehabilitation bedürfen. Dabei sollte ein störungsspezifisches Behandlungskonzept zum Einsatz kommen. Sinnvoll ist bei vielen dieser Patientinnen eine initiale stationäre Behandlungsphase, gefolgt von einer ambulanten Psychotherapie und der Teilnahme an Selbsthilfegruppen. Leider besteht jedoch oft eine erhebliche Ambivalenz gegenüber der Behandlung. Bei langjährigem, chronischem Verlauf einer Anorexie oder Bulimie können sowohl die körperlichen Komplikationen wie auch Verhaltensauffälligkeiten, insbesondere ein sozialer Rückzug oder eine zusätzliche depressive Symptomatik zu Einschränkungen des Leistungsvermögens führen. Allgemein gültige Regeln lassen sich in Anbetracht der großen Variabilität der Verläufe nicht nennen. Bei der Begutachtung sind speziell folgende Aspekte zu berücksichtigen:
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
4 Komorbidität, vor allem mit Persönlichkeitsstörungen und Impulskontrollstörungen 4 Depressive Symptome 4 Verhaltensauffälligkeiten (Beziehungsstörungen, Kontaktprobleme, Rückzug) Bei entsprechendem Schweregrad der Grunderkrankung, chronischem Verlauf und zusätzlichen Komplikationen kann sowohl eine qualitative als auch eine quantitative Einschränkung der Leistungsfähigkeit resultieren. 24.2.6
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Wolfgang Weig, Katja Fischer
In der aktuellen Fachdiskussion finden Persönlichkeitsstörungen zunehmende Beachtung und es wird über eine Zunahme in der Klientel psychiatrischer Versorgungseinrichtungen berichtet. Von den im Jahr 2009 wegen psychischer Störungen (ohne Abhängigkeitserkrankungen) von der Rentenversicherung durchgeführten stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wurden bei Männern 4,9 % und bei Frauen 2,5 % mit Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen als Erstdiagnose begründet. Persönlichkeitsstörungen wurden im Jahr 2009 in etwa 6,9 % der Fälle als Erstdiagnose in der Statistik der Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Störungen (ohne Abhängigkeitserkrankungen) angegeben. Persönlichkeitsstörungen werden definiert als »dauerhafte innere Erfahrens- oder Verhaltensmuster des Betroffenen, die insgesamt deutlich von den kulturell erwarteten Normen abweichen und Leidensdruck beim Betroffenen und/oder nachteiligen Einfluss auf die soziale Umwelt hervorrufen«. Schon diese Definition weist auf eine grundsätzliche Schwierigkeit hin: Die Diagnose »Persönlichkeitsstörung« ist weniger von objektiv zu erhebenden psychopathologischen oder anderen Symptomen abhängig, sondern vielmehr von soziokulturellen Normen bzw. der Abweichung davon und vom Leidensdruck der Betroffenen in ihrer sozialen Umgebung, also letztlich von wandelbaren und im Kern höchst subjektiven Variablen. Es verwundert daher nicht, dass Reliabilität und Validität der Konstrukte zu Persönlichkeitsstörungen im Vergleich zu anderen psychiatrischen Diagnosen relativ schlecht sind. Die Grenze zu einfach auffälligem oder als störend empfundenem Verhalten, das nicht als krankhaft zu bezeichnen ist, zu exzentrischen Wesenszügen, aber auch zu kriminellem Verhalten ist schwer zu ziehen. Nicht zuletzt kann die Begrifflichkeit von totalitären politischen oder religiösen Systemen missbraucht werden, um abweichende Meinungen zu diskriminieren. Andererseits lassen Alltagserfahrungen und klinische Beobachtungen keinen
Zweifel daran, dass es Menschen gibt, die die Kriterien der Persönlichkeitsstörung erfüllen und die aufgrund ihrer Einstellungen und Verhaltensmuster in einem Ausmaß in Konflikt mit ihrer sozialen Umgebung geraten, dass der Krankheitscharakter der Störung jedenfalls bei Anlegen eines sozialen Krankheitsbegriffs offensichtlich ist. Gesicherte Erkenntnisse zur Ursache von Persönlichkeitsstörungen liegen nicht vor. Diverse Einzelergebnisse zu genetischen Bedingungsfaktoren, eher unterschwelligen biologischen Befunden, Beeinträchtigungen in der Familiengeschichte und im sozialen Umfeld und psychischen Traumatisierungen in der Vorgeschichte ergeben kein einheitliches Bild [14]. Die Angabe der Prävalenzraten zu Persönlichkeitsstörungen in verschiedenen Studien aus den USA und aus Deutschland differiert zwischen 5 und 18 %, überwiegend wird eine etwas größere Häufigkeit bei Frauen gegenüber Männern angenommen. Nach diesen Studien tritt die Persönlichkeitsstörung in der Regel in etwa mit der Pubertät (12.–13. Lebensjahr) hervor und nimmt dann im Laufe des Lebens insbesondere ab dem 40. Lebensjahr allmählich ab, was möglicherweise lediglich als eine Abschwächung des Verhaltens, nicht als eine eigentliche Heilung der Persönlichkeitsstörung zu interpretieren ist. Auch für die einzelnen Typen der Persönlichkeitsstörungen differieren die Prävalenzangaben in relativ weiten Grenzen. Am häufigsten wurden anankastische und abhängige Persönlichkeitsstörungen mit jeweils mehr als 6 %, BorderlinePersönlichkeitsstörungen mit 4,6 % und histrionische Persönlichkeitsstörungen sowie antisoziale Persönlichkeitsstörungen mit je 3 % gefunden [8].
Klassifikationen Grundsätzlich werden bei der Operationalisierung von Persönlichkeitsstörungen dimensionale Modelle (z. B. das »Big-Five-Modell« [38]) von kategorialen Modellen mit der Definition abgegrenzter Typen unterschieden. Das diagnostische und statistische Manual (DSM) der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft (APA) integriert dimensionale und kategoriale Ansätze zu Prototypen. Die ICD-10 hat sich an diesem Modell der Prototypen orientiert. Den aktuellen Stand der Klassifikation der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen nach ICD-10 zeigt . Tab. 24.8. DSM-IV und ICD-10 sind bezüglich der in ihnen definierten Persönlichkeitsstörungen nicht vollkommen deckungsgleich. Im DSM-IV werden die verschiedenen Persönlichkeitsstörungen in drei Cluster (Hauptgruppen) eingeteilt: Cluster A (»sonderbare und exzentrische Personen«) umfasst die paranoide, die schizoide und die schizotypische Persönlichkeitsstörung. Gemeinsam ist diesen Störungen eine Neigung zum Misstrauen und zu paranoiden Vorstellungen, Mangel an zwischenmenschlichen Kontak-
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ten und ausgesprochene Affektarmut bis zur Gefühlskälte sowie das Auftreten von seltsamem und exzentrischem Verhalten. Die Störungen sind nicht mit der Schizophrenie zu verwechseln! Cluster B umfasst die histrionische (früher: »hysterische«), narzisstische, dissoziale und die emotional instabile Persönlichkeitsstörung mit ihren beiden Unterformen des Borderline-Typus und des impulsiven Typus. Die zusammenfassende Beschreibung der Personen mit solchen Störungen lautet »dramatisch, emotional oder launisch«. Beschrieben werden Störungen der Impulsivität, Tendenzen zur Selbstbeschädigung, wenig ausgeprägtes Selbstwertgefühl, schneller Wechsel von Idealisierung und Entwertung von nahestehenden Personen und Probleme in der Regulierung von Nähe und Distanz zu anderen Menschen. Vor allem bei der dissozialen (oder antisozialen) Persönlichkeit besteht die Gefahr, jedwedes kriminelle Verhalten als pathologisch im Sinne einer psychischen Störung zu interpretieren und damit zu exkulpieren. Cluster C schließlich umfasst die ängstlich-vermeidende (oder selbstunsichere), die abhängige, die anankastische (zwanghafte) und die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung mit dem gemeinsamen Charakter des Ängstlichen und Furchtsamen. Menschen mit derartigen Persönlichkeitsstörungen sind leicht verletzbar, andauernd angespannt und besorgt, entwickeln Gefühle von Hilflosigkeit und Abhängigkeit, neigen zu massiven Trennungsängsten, zu übermäßiger Gewissenhaftigkeit und mangelnder Flexibilität. Diese Gruppeneinteilung ist nicht unwidersprochen geblieben. Mischungen der einzelnen Persönlichkeitsstörungen und Gruppen kommen vor und sind nach ICD-10 mit F61.0 (kombinierte Persönlichkeitsstörungen) gesondert zu verschlüsseln. In diesem Abschnitt folgen Ausführungen zu den für die Begutachtung in der Rentenversicherung relevantesten Formen von Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, den spezifischen und kombinierten Persönlichkeitsstörungen, den andauernden Persönlichkeitsänderungen nach Extrembelastung und nach psychischer Krankheit sowie den abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (z. B. pathologisches Spielen).
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die Diagnose von Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen erfolgt in der Exploration, in der langfristigen Verhaltensbeobachtung und durch die Erhebung einer ausführlichen Anamnese mit der Herausarbeitung immer wiederkehrender Verhaltensmuster, die die entsprechende Störung erkennen lassen. Fremdanamnestische Hinweise sind oft hilfreich. Zur verbesserten Operationalisierung der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen wurden Erhebungsinstrumente eingeführt, von denen derzeit das
. Tab. 24.8 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F60
Spezifische Persönlichkeitsstörungen
F61
Kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen
F62
Andauernde Persönlichkeitsänderungen, nicht Folge einer Schädigung oder Krankheit des Gehirns
F63
Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle
F64
Störungen der Geschlechtsidentität
F65
Störungen der Sexualpräferenz
F66
Psychische und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung
F68
Andere Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen
F69
Nicht näher bezeichnete Persönlichkeits- und Verhaltensstörung
»Strukturierte Klinische Interview für Persönlichkeitsstörungen« (SKID-II) in Deutschland am weitesten verbreitet ist. Weitere gebräuchliche Erhebungsinstrumente sind die International Personality Disorder Examination (IPDE) und das Minnesota Multiphasic Personality Inventory 2 (MMPI-2). Bei der IPDE handelt es sich ebenfalls um ein strukturiertes Interview, sie ist das offizielle Instrument der WHO zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen. Nach einem freien Einleitungsteil, der der Erfassung der individuellen Lebens- und Krankheitsgeschichte dient, folgen die strukturierten Fragen. Das MMPI-2 ist eine Selbstrating-Fragebogenuntersuchung, die auch Items zur Erfassung von Verfälschungstendenzen einschließt. Beide Verfahren sind in deutscher Übersetzung verfügbar. Die Selbsteinschätzung z. B. im Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI) allein ist für eine genauere differenzialdiagnostische Zuordnung nicht ausreichend. Differenzialdiagnostisch sind Persönlichkeitsstörungen unter anderem von auf Persönlichkeit und Verhalten bezogenen Symptomen anderer Störungen, beispielsweise bei der Schizophrenie oder bei affektiven Störungen, abzugrenzen. Dies kann insbesondere bei bezüglich letztgenannter Störungen unterschwelliger Symptomausprägung schwierig sein, z. B. im Beginn einer Exazerbation oder im Rahmen eines Vorläufersyndroms bei der Schizophrenie. Wichtig ist auch die Abgrenzung von organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (organischen Wesensänderungen), für die die Psychopathologie Hinweise liefert, die aber nur durch eine entsprechende organische Diagnostik zum Nachweis oder Ausschluss zugrundeliegender morphologischer oder funktioneller Hirnveränderungen abschließend gelingt (siehe 7 Kap. 24.2.1). Eigenständige Impulskontrollstörungen im engeren Sinne sind ebenfalls von symptomatischen Beeinträchti-
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
gungen der Impulskontrolle bei anderen psychischen Störungen wie der Schizophrenie, der Manie oder auch organischen psychischen Störungen zu differenzieren.
tiger Einfluss dieses Therapieansatzes konnte nachgewiesen werden. Auch medikamentöse Behandlungsstrategien brachten gewisse Erfolge. Insgesamt ist die Therapieforschung zu Persönlichkeitsstörungen noch defizitär.
Begutachtungskriterien Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen können sich je nach typischer Symptomatik und Ausprägung sowie in Abhängigkeit von Krankheitseinsicht und sozialem Kontext auf einzelne, mehrere oder alle unter 7 Kap. 24.1.4 genannten erwerbsrelevanten Begutachtungskriterien bei psychischen Störungen auswirken. Manche spezifischen Persönlichkeitsakzentuierungen oder leicht ausgeprägten Persönlichkeitsstörungen können die Betroffenen sogar für die Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten prädestinieren, während schwere unbehandelte und chronifizierte Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben in der Regel erheblich beeinträchtigen. Der Leidensdruck kann bei diesen Patienten unterschiedlich stark ausgeprägt sein und die Beeinträchtigungen der Teilhabe entstehen häufig nicht so sehr durch die eigentliche Symptomatik, sondern in erheblichem Maße durch die negativen Reaktionen des sozialen Umfeldes auf diese. Noch deutlicher wird die Wechselwirkung zwischen Symptomatik und sozialer Reaktion bei den Störungen der Impulskontrolle wie beispielsweise dem pathologischen Spielen und bei Störungen der Geschlechtsidentität und der Sexualpräferenz. Letztere sind zwar als Krankheiten anerkannt, besitzen jedoch teilweise auch forensische Bedeutung, z. B. die Pädophilie (ICD10: F65.4). Im privaten Bereich fallen die Besonderheiten und Beeinträchtigungen von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen mitunter deshalb nicht auf, weil sie komplementär strukturierte Bezugspersonen gefunden haben, die ihre Beeinträchtigungen ausgleichen. In diesem Kontext können fremdanamnestische Angaben von Bezugspersonen wertvolle diagnostische Hinweise geben. Art und Umfang der bisherigen Behandlung können einen wichtigen Hinweis auf die Motivation und Motivierbarkeit für eine adäquate, in der Regel psychotherapeutische Interventionen einschließende Behandlung und Rehabilitation geben. Nicht selten ist das Krankheitsverständnis bei den Betroffenen nur rudimentär vorhanden und muss erst erarbeitet werden. Für die meisten der Störungen ist eine ambulante psychotherapeutische Behandlung ausreichend, die allerdings in Anbetracht des definitionsgemäß längeren Verlaufs von Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen meist langfristig erfolgen muss. Für Persönlichkeitsstörungen wurden in den unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen Behandlungsansätze entwickelt. Eine gewisse Spezifität beansprucht die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung (dialektisch-behaviourale Therapie, DBT) der BorderlinePersönlichkeitsstörungen nach Linehan [29]. Ein güns-
Sozialmedizinische Beurteilung bei einzelnen Störungen z
Spezifische, kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen (F60, F61)
In der sozialmedizinischen Begutachtung für die Rentenversicherung spielen Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen als Erstdiagnose zwar keine überragende Rolle, aber immerhin wurden im Jahr 2009 3.516 Personen wegen dieser Diagnosen (F60, F61) berentet. Die Zahl derjenigen, bei denen im Rentenverfahren eine Persönlichkeitsstörung als Zweit- oder Drittdiagnose genannt wird, dürfte deutlich höher sein. Die oben beschriebenen Probleme und psychosozialen Wechselwirkungen lassen pauschale Empfehlungen zur Beurteilung der Erwerbsfähigkeit von Personen mit einer Persönlichkeitsstörung nicht zu. Einschränkungen des Funktionsniveaus und Auswirkungen auf die Fähigkeit zur sozialen Teilhabe müssen individuell beurteilt werden, wobei die ICF wiederum eine gute Orientierungshilfe bietet (siehe 7 Kap. 24.1.2). Dabei wird man davon ausgehen können, dass am ehesten bei Persönlichkeitsstörungen der Gruppe B mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit zu rechnen ist, bei Störungen der Gruppe A kann eher der Konflikt mit Bezugspersonen, in der Gruppe C eher das nicht zu überwindende subjektive Gefühl der Hilflosigkeit zu Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit führen. z
Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung und andauernde Persönlichkeitsänderung nach psychischer Krankheit (F 62.0, F 62.1)
Hierbei handelt es sich um andauernde (mindestens über zwei Jahre bestehende) und schwerwiegende Persönlichkeitsänderungen, die unmittelbar auf eine Extrembelastung (Konzentrationslager, Folter, Katastrophen, anhaltende lebensbedrohliche Situationen) oder auf eine klinisch abgeklungene schwerwiegende psychische Erkrankung in der Vorgeschichte zurückzuführen sind. Derartige Störungen sind selten, der Versuch einer Psychotherapie ist gerechtfertigt. Bei ausgeprägter Symptomatik ist die Leistungsfähigkeit auch in zeitlicher Hinsicht aufgehoben. z
Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F63)
Hierunter fallen das pathologische Spielen, die pathologische Brandstiftung (Pyromanie), das pathologische Stehlen (Kleptomanie), die Trichotillomanie (unwiderstehlicher Impuls, sich selbst die Haare auszureißen) so-
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wie sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle. Es handelt sich um eher seltene Störungen, deren Symptomatik im Extremfall jedoch den gesamten Tagesablauf der Betroffenen dominieren kann. Dann ist auch mit einer erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit zu rechnen. Es existieren psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsstrategien. In den letzten Jahren wird auch ein pathologischer Gebrauch von Computer und Internet zunehmend in der Fachöffentlichkeit als eigenständige Diagnose diskutiert, wobei die Zuordnung zu den Impulskontrollstörungen oder zu den Abhängigkeitserkrankungen (siehe auch 7 Kap. 25) noch unklar ist. Betroffen sind hiervon vor allem junge Menschen, vorwiegend Männer. Mittlerweile existieren erste Behandlungs- und Rehabilitationskonzepte für diese Störung und dem Besuch spezifischer Selbsthilfegruppen wird große Bedeutung beigemessen. Störungen der Geschlechtsidentität (F64), Störungen der Sexualpräferenz (F65) sowie psychische und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung (F66) spielen für die Begutachtung im Auftrag der Rentenversicherung keine bedeutsame Rolle.
24.2.7
Intelligenzstörung Wolfgang Weig, Katja Fischer
Unter Intelligenzstörung (vgl. . Tab. 24.9) versteht die ICD-10 eine angeborene oder (früh) erworbene globale Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit im Sinne des schwierigen und in der psychologischen Forschung nicht einheitlich definierten Konstruktes der Intelligenz. Die Häufigkeit von niedriger Intelligenz und Intelligenzminderung in der Bevölkerung wird in der Literatur unterschiedlich angegeben, man geht jedoch von einer Prävalenz von bis zu zehn Prozent aus. Sie manifestieren sich in der Regel bis zum fünfzehnten Lebensjahr. Abzugrenzen ist die Demenz, bei der durch ein krankhaftes Ereignis im Laufe des Lebens ein vorher höheres intellektuelles Niveau verloren geht. Schwerere Grade der Intelligenzminderung sind i. d. R. organisch begründet. Mögliche Ursachen sind genetische (chromosomale) Aberrationen, embryonale, fetale, perinatale oder frühkindliche Hirnschädigungen, metabolische oder endokrine Störungen. In etwa 70 % der Fälle bleibt die Ätiologie unklar. Bei grenzwertig geringer Intelligenz und leichter Intelligenzminderung sind auch Normvarianten aufgrund der im Wesentlichen genetisch bedingten Verteilungskurve der Intelligenz und Milieuschäden durch frühkindliche Deprivation und geringe Förderung in Betracht zu ziehen.
. Tab. 24.9 Intelligenzstörung F70
Leichte Intelligenzminderung
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Mittelgradige Intelligenzminderung
F72
Schwere Intelligenzminderung
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Schwerste Intelligenzminderung
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Dissoziierte Intelligenzstörung
F78
Andere Intelligenzminderung
F79
Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung
Klassifikationen Anhand des Intelligenzquotienten (IQ) unterscheidet man niedrige Intelligenz (IQ 70–84) sowie leichte (IQ 50–69), mittelgradige (IQ 35–49), schwere (IQ 20–34) und schwerste (IQ unter 20) Intelligenzminderungen. In der ICD-10 kann mit der vierten Stelle zusätzlich das Ausmaß diagnosebezogener Verhaltensstörungen kodiert werden. Eine unterschiedlich ausgeprägte Intelligenzminderung in verschiedenen Bereichen (Differenz mindestens 15 IQPunkte, z. B. zwischen Verbal- und Handlungs-IQ) wird als dissoziierte Intelligenzstörung bezeichnet.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die Diagnose kann definitionsgemäß nur aufgrund eines adäquat durchgeführten und sorgfältig normierten Intelligenztestes gestellt werden. Am bekanntesten ist in Deutschland der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest, der in einer Version für Erwachsene (HAWIE) und einer für den Einsatz bei Kindern (HAWIK) vorliegt. Zur Messung des wenig sprachgebundenen abstrakt logischen Denkens hat sich der Raven-Matritzentest bewährt. Bei sehr niedrigem Intelligenzniveau sind diese Standardtests ungeeignet und teilweise auch nicht durchführbar, hier wurden Spezialverfahren entwickelt. Zusätzlich zur Feststellung der Intelligenzminderung, ihres Ausmaßes und ggf. ihrer Struktur ist mittels Anamnese und psychiatrischer Untersuchung nach Komplikationen und Komorbiditäten zu suchen. Psychische Komorbidität tritt bei Menschen mit einer Intelligenzminderung etwa drei bis viermal so häufig auf wie in der Allgemeinbevölkerung [4]. Diese zusätzlichen psychischen Störungen nehmen jedoch aufgrund der Intelligenzminderung eine besondere Färbung an und können diagnostische und therapeutische Probleme aufwerfen. Besonders gilt dies für die Komorbidität von Intelligenzminderung und Schizophrenie. Eine sorgfältige körperliche Abklärung dient der Aufdeckung möglicher Ursachen und der Erfassung somatischer Komorbiditäten. Häufig ist die Kombination einer schweren Intelligenzminderung mit körperlichen, insbesondere neurologischen Erkrankungen und Behinderun-
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
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gen aufgrund genetischer Defekte oder von Hirnveränderungen.
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Begutachtungskriterien
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Intelligenzminderungen können sich je nach ihrer Ausprägung und dem Vorhandensein zusätzlicher Verhaltensauffälligkeiten und Komorbiditäten auf einzelne, mehrere oder alle unter 7 Kap. 24.1.4 genannten erwerbsrelevanten Begutachtungskriterien bei psychischen Störungen auswirken. Die individuelle Kompensationsfähigkeit bezüglich der Intelligenzminderung hängt dabei auch von der sozialen Integration und der frühestmöglich einsetzenden und spezifischen Förderung vorhandener Ressourcen ab.
Sozialmedizinische Beurteilung Die isolierte Intelligenzminderung ist zwar keine behandlungsbedürftige Krankheit, sie führt aber abhängig vom Schweregrad und den Anforderungen der Umgebung zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Behinderung. Leichtere Behinderungsgrade (IQ etwa 50–80) werden dabei als Lernbehinderung, schwerere Behinderungsgrade (IQ etwa 30–55) als geistige Behinderung bezeichnet. Schwere und schwerste Intelligenzminderungen schließen eine Bildbarkeit auch in Sonderschulen aus und führen zu lebenslanger Pflegebedürftigkeit. Die bestmögliche Förderung intellektuell behinderter Menschen ohne begleitende psychische Störung ist Aufgabe der Heil- beziehungsweise Sonderpädagogik, wobei nach Möglichkeit integrative Konzepte zu bevorzugen sind. Eine Intelligenzminderung bleibt im Wesentlichen konstant. Eine kausale Therapie ist in aller Regel nicht möglich. Durch geeignete Förderung können Trainingseffekte erzielt und vorhandene Fähigkeiten optimal genutzt werden. Im Vordergrund stehen Maßnahmen der Rehabilitation einschließlich der Sonder- oder Heilpädagogik und der Integration. Es besteht ein Versorgungssystem für intelligenzgeminderte Menschen, das sich auf die Werkstätten für behinderte Menschen und besondere Wohnformen für diesen Personenkreis stützt. Die sozialen Auswirkungen einer Intelligenzminderung hängen vom Schweregrad, den Komplikationen und dem erreichten Rehabilitationserfolg ab: Während bei grenzwertig niedriger Intelligenz und leichter Intelligenzminderung selbständige soziale Teilhabe gelingen kann und die Beschäftigung mit einfachen Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt denkbar ist, führen das Auftreten von nicht ausreichend beherrschbaren Komplikationen sowie mittelschwere und schwere Intelligenzminderung regelmäßig zur Hilfsbedürftigkeit. In diesen Fällen ist jedoch immer die Möglichkeit zur Eingliederung in eine Werkstatt für behinderte Menschen zu prüfen. Bei sehr schweren und schwersten Intelligenzminderungen
besteht in der Regel umfassende und dauernde Pflegebedürftigkeit [33].
24.2.8
Entwicklungsstörungen Wolfgang Weig, Katja Fischer
Unter dem Begriff Entwicklungsstörungen werden Minderleistungen in einem oder mehreren Lernbereichen (Teilleistungsschwächen) zusammengefasst, die im Kleinkindes- oder Kindesalter beginnen, auf einer Reifungsstörung des zentralen Nervensystems beruhen und einen kontinuierlichen Verlauf zeigen. Dabei ist die allgemeine Intelligenz normal. Unterschieden werden umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache sowie umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten wie Lese- und Rechtschreibstörungen (LRS, früher Legasthenie) oder Rechenstörungen (Akalkulie) sowie umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen. Spezielle Förderprogramme für Menschen mit Teilleistungsschwächen sind von pädagogischer Seite entwickelt worden, das Wissen um derartige Störungen und die angemessene Berücksichtigung bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit können entlasten. Teilleistungsstörungen führen zu gewissen Einschränkungen in der Berufswahl und den zu erwartenden Fertigkeiten, darüber hinaus gehende sozialmedizinische Probleme ergeben sich nicht. Von den Teilleistungsstörungen zu unterscheiden sind tiefgreifende Entwicklungsstörungen, insbesondere der Autismus (F84). Dabei entwickeln sich vor dem dritten Lebensjahr schwere Störungen der Sprache, der sozialen Interaktion und Kommunikation. Nach dem Stand der Forschung ist davon auszugehen, dass autistische Störungen weitgehend genetisch begründet sind. Durch Frühfördermaßnahmen und intensive ambulante und mobile Hilfen, notfalls Aufnahme in betreuende Institutionen, konnte die soziale Eingliederung gebessert werden. Frühkindlich autistische Menschen bleiben jedoch in der Regel auch im Erwachsenenalter auffällig, nur etwa zwei bis drei Prozent werden symptomfrei, etwa vierzig Prozent entwickeln leichte bis mittelschwere Auffälligkeiten. Bei den übrigen Betroffenen ist die Prognose ungünstig und sie bleiben lebenslang auf Hilfe angewiesen.
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Literatur 1
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24
578
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Kapitel 24 · Psychische und Verhaltensstörungen
42 Weltgesundheitsorganisation, WHO: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Hrsg. Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), Köln, 2004 43 Winckler P, Foerster K: Zum Problem der »zumutbaren Willensanspannung« in der sozialmedizinischen Begutachtung. Med Sach 92: 120–124, 1996 44 Zubin J, Spring B: Vulnerability – a new view of schizophrenia. J Abnorm Psychol 86: 103–126, 1977
579
Sucht und suchtähnliche Erkrankungen Caspar Friedrich Sieveking
25.1
Allgemeines – 580
25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4
Sozialmedizinische Bedeutung – 580 Diagnostik – 580 Begutachtungskriterien – 583 Sozialmedizinische Beurteilung – 586
25.2
Krankheitsbilder – 586
25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.2.4 25.2.5
Alkoholabhängigkeit – 586 Drogenabhängigkeit und multipler Substanzgebrauch – 591 Medikamentenabhängigkeit – 592 Nikotinabhängigkeit – 594 Pathologisches Glücksspiel und pathologischer PC-Gebrauch – 595
Literatur – 596
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
25
25 25 25 25 25 25 25 25 25 25
580
Kapitel 25 · Sucht und suchtähnliche Erkrankungen
25.1
Allgemeines
Für das Verständnis der Entstehung und für die Behandlung der Suchterkrankungen hat sich das von Engel [9] postulierte und von der Rehabilitationsmedizin als Paradigma adaptierte [4] bio-psycho-soziale Krankheitsmodell bewährt. Sowohl die ursächlichen Faktoren als auch die resultierenden Beeinträchtigungen einer Suchtkrankheit können sich auf allen drei Ebenen des Krankheitsgeschehens – der biologischen, der psychischen und der sozialen Ebene – manifestieren und stehen in Wechselwirkung miteinander. Dies spiegelt sich auch in der Komplexität der rehabilitativen Suchtbehandlung und der sozialmedizinischen Beurteilung von Abhängigkeitskrankheiten wieder. Der Begriff »Sucht« wird nach wie vor sehr viel verwandt, sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch in der medizinischen Alltagssprache und in Institutionen der »Sucht«krankenhilfe. In diesem Kapitel wird der Begriff »Sucht« gleichbedeutend mit »Abhängigkeit« entsprechend der Definition der ICD-10 (7 Kap. V, Kategorie F10–F19) [8] verwandt.
25
25.1.1
25
Die Datenlage zur Suchtproblematik ist nach wie vor unsicher, uneinheitlich und wird zunehmend kritisch beurteilt. In den Statistiken werden die Krankheitsbilder unterschiedlich definiert und voneinander abgegrenzt und die relative Häufigkeit auf unterschiedliche Grundgesamtheiten bezogen. Die Zahlen der . Tab. 25.1 sind daher mit Vorsicht zu betrachten, lassen jedoch folgende Schlüsse zu: 4 Suchtkrankheiten gehören zu den relativ häufigen Krankheiten. Sie sind mit hoher Morbidität und Mortalität verbunden. Sie verursachen enorme Kosten für das Gesundheitswesen und die Sozialversicherungen. Dies ist insofern besonders bemerkenswert, als bei Suchtkrankheiten im Unterschied zu den meisten anderen chronischen Krankheiten das schädigende Agens durch erfolgreiche Behandlung vollständig beseitigt werden kann und damit gewissermaßen eine kausale Behandlung der Folgekrankheiten möglich ist. 4 Tabakabhängigkeit hat die höchste Inzidenz aller Suchterkrankungen, Tabak ist mehr als alle anderen Suchtmittel an der Verursachung von erhöhter Morbidität, Mortalität und Krankheitskosten beteiligt. Im Unterschied zu den Folgeschäden gilt jedoch die Tabakabhängigkeit selbst bisher nicht als Begründung für Leistungseinschränkungen, Erwerbsminderung
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Sozialmedizinische Bedeutung
4
4
4 4 4
oder Rehabilitationsleistungen. Insofern ist ihre direkte sozialmedizinische Bedeutung gering. Die weitaus größte sozialmedizinische Bedeutung hat die Alkoholabhängigkeit. Aufgrund der weiten Verbreitung des riskanten Alkoholkonsums, der Toxizität des Alkohols, der häufigen Leistungseinschränkungen und der häufigen Beeinträchtigungen der Teilhabe durch unkontrollierten Alkoholkonsum ist die Alkoholabhängigkeit von allen Suchtkrankheiten weitaus am häufigsten Anlass zu einer Rehabilitationsmaßnahme. Alkoholabhängigkeit ist eine der häufigsten (bei Männern die dritthäufigste) zur Erwerbsminderungsrente führenden Diagnosen. Die Medikamentenabhängigkeit ist zwar etwa so häufig wie die Alkoholabhängigkeit, führt jedoch selten als Erstdiagnose zur Rehabilitation. Über sonstige Folgen existieren keine gesicherten Daten. Die Drogenabhängigkeit ist für die Rehabilitation und die sozialmedizinische Begutachtung eher von untergeordneter Bedeutung. Das Problem der Glücksspielsucht (und des pathologischen PC-Gebrauches) gewinnt offenbar an Bedeutung. Bei den Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit muss berücksichtigt werden, dass die meist zitierten Zahlen aus der Reha- und Rentenstatistik der Deutschen Rentenversicherung nur auf die Berentungen wegen der Erstdiagnose Abhängigkeitserkrankung (z. B. ca. 7.000 Rentenzugänge wg. Alkoholabhängigkeit in 2009) Bezug nehmen. Ein weitaus größerer Teil von Berentungen erfolgt jedoch wegen typischer Begleit- und Folgeerkrankungen (z. B. bei Alkoholabhängigkeit, vgl. . Tab. 25.8).
25.1.2
Diagnostik
Die ICD-10 [8] verlangt für die Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms die Einnahme einer Substanz, die psychotrop ist und ein Abhängigkeitspotential besitzt (. Tab. 25.2). Damit scheiden sogenannte »nicht stoffgebundene Süchte« (wie z. B. Spielsucht) sowie Schäden durch unsachgemäße Einnahme nicht psychotroper Substanzen (wie z. B. Laxantien oder peripher wirkende Analgetika) und Psychopharmaka ohne nachgewiesenes Abhängigkeitspotential (z. B. Antidepressiva) aus der Definition der Abhängigkeit nach ICD-10 aus. Die ICD-10 kennt keinen Unterschied zwischen legalen Suchtmitteln und illegalen Drogen. Sie unterscheidet lediglich aufgrund der chemisch-pharmakologischen Eigenschaften der Suchtmittel. Für die sozialmedizinische Beurteilung ist von großer Bedeutung, dass die Sucht bzw. die Abhängigkeit nicht das
25
581 24.2 · Allgemeines
. Tab. 25.1 Prävalenz und Folgen des Suchtmittelkonsums Tabak
Alkohol
Riskanter Konsum
16,6 Mio
5,9 Mio
Abhängigkeit
3,8 Mio
1,3 Mio
Mortalität
110.000 bis 140.000
Krankheitskosten €
21 Mrd
Leistungen der DRV zur med. Reha 2009
Medikamente
Cannabis
Sonstige illegale Drogen
2,4 Mio
0,6 Mio
1,4 Mio
0,2 Mio
0,15 Mio
42.000 (einschl. Alk. + Tabak: 74.000)
?
?
1.500 (registrierte Rauschgifttote)
24 Mrd
?
?
?
Ca. 32.000
Ca. 300
Ca. 1.900
Ca. 4.800
Multipler Substanzgebrauch
Pathol. Glücksspiel
0,2 Mio
Ca. 8.300
Ca. 950
Quelle: Jahrbuch Sucht 2009 [6]; Reha- und Rentenstatistik 2009 der Deutschen Rentenversicherung
. Tab. 25.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen nach ICD-10 [8] F10
Störungen durch Alkohol
F11
Störungen durch Opioide
F12
Störungen durch Cannabinoide
F13
Störungen durch Sedativa und Hypnotika
F14
Störungen durch Kokain
F15
Störungen durch andere Stimulanzien einschließlich Koffein
. Tab. 25.3 Klinische Erscheinungsbilder der psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10–F19) nach ICD-10 F1z.0
Akute Intoxikation
F1z.1
Schädlicher Gebrauch
F1z.2
Abhängigkeitssyndrom
F1z.3
Entzugssyndrom
F1z.4
Entzugssyndrom mit Delir
F1z.5
Psychotische Störung
F16
Störungen durch Halluzinogene
F1z.6
Amnestisches Syndrom
F17
Störungen durch Tabak
F1z.7
F18
Störungen durch flüchtige Lösungsmittel
Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung
F19
Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen
F1z.8
Sonstige psychische und Verhaltensstörungen
F1z.9
Nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörungen
einzige und auch nicht das häufigste klinische Erscheinungsbild des Suchtmittelkonsums ist (vgl. . Tab. 25.3). Je nach Pharmakologie des Suchtmittels treten häufig schädliche Folgen eines Suchtmittelkonsums auf, ohne dass es zu einer Entwicklung einer Suchterkrankung gekommen sein muss. Die ICD-10 hat an die Stelle des Missbrauchs den Begriff des schädlichen Konsums gesetzt, der sich nicht am Konsummuster, sondern an den Folgen orientiert und den Nachweis einer körperlichen oder psychischen Schädigung voraussetzt (vgl. . Tab. 25.4). In Anbetracht der Vielfalt der möglichen Gesundheitsschäden durch Suchtmittelkonsum stellen sich im
Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung generell folgende Fragen (. Tab. 25.5): Erst nach Beantwortung dieser Fragen lässt sich letztlich die sozialmedizinisch relevante Entscheidung treffen, ob die festgestellten Störungen gegebenenfalls eine aktuelle, vorübergehende Arbeitsunfähigkeit bedingen, unter Einhaltung von Suchtmittelabstinenz jedoch besserungsfähig sind, oder ob eine dauerhafte oder sogar irreversible Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu befürchten oder bereits eingetreten ist. Der sozialmedizinischen Begutachtung kommt daher in vielen Fällen eine
582
Kapitel 25 · Sucht und suchtähnliche Erkrankungen
25
. Tab. 25.4 Kriterien des schädlichen Gebrauchs und der Abhängigkeit nach ICD-10 [8]
. Tab. 25.6 Diagnostik zur sozialmedizinischen Beurteilung von Suchterkrankungen
25
F1z.1 schädlicher Gebrauch
Diagnostik der Abhängigkeit
Anamnese des Suchtmittelkonsums; Kriterien der ICD (. Tab. 25.4); suchtmittelspezifische Zusatzinstrumente; biologische Marker des aktuellen bzw. chronischen Suchtmittelkonsums; Intoxikationserscheinungen, Entzugsphänomene; Verlauf der Suchterkrankung; Erfolg bisheriger Behandlungen.
Psychische Diagnostik
Psychische und Verhaltensstörungen; Komorbidität; psychosomatische Störungen; Hirnleistungsstörungen; Selbstverwirklichung und Selbstwertgefühl; Beziehungsgestaltung; Krankheitseinsicht und -verarbeitung; Motivation.
Somatische Diagnostik
Folgeschäden, bes.: innere Organsysteme, zentrales Nervensystem, peripheres Nervensystem; Begleiterkrankungen.
Soziale Diagnostik
Arbeit und berufliche Beziehungen; Familie und partnerschaftliche Beziehungen; soziale Kompetenzen.
25 25
Ein Konsummuster psychotroper Substanzen, das zu einer Gesundheitsschädigung führt. Diese kann eine körperliche Störung, etwa eine Hepatitis durch Selbstinjektion von Substanzen sein oder eine psychische Störung, z. B. eine depressive Episode nach massivem Alkoholkonsum.
F1z.2 Abhängigkeitssyndrom
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…irgendwann während des letzten Jahres drei oder mehr der folgenden Kriterien gleichzeitig…: 5 Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren. 5 Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums. 5 Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums. 5 Nachweis einer Toleranz 5 Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen. 5 Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen
. Tab. 25.5 Sozialmedizinische »Checkliste« bei Verdacht auf schädlichen Suchtmittelkonsum 5 Kann es sich bei der Gesundheitsstörung um die Folge von Suchtmittelkonsum handeln?
25
5 Lässt sich durch Eigen- und Fremdanamnese oder weitere medizinische Befunde ein gesundheitlich relevanter Suchtmittelkonsum nachweisen oder wahrscheinlich machen?
25
5 Bestehen Hinweise auf eine Abhängigkeit?
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5 Handelt es sich um eine akute oder um eine chronische Gesundheitsstörung? 5 Besteht eine Aussicht auf Besserung der Gesundheitsstörung durch Reduktion des Suchtmittelkonsums bzw. durch Abstinenz? 5 Welche Möglichkeiten einer stufenweisen Beeinflussung des Suchtmittelkonsums sind bereits versucht worden bzw. müssen als nächstes veranlasst werden? 5 Folgt daraus, dass es sich um eine besserungsfähige Leistungsminderung handeln könnte, oder ist ein Dauerzustand anzunehmen?
wegweisende Bedeutung bei der Einleitung und Durchführung notwendiger Behandlungsschritte zu. Die Diagnostik einer Suchterkrankung betrifft nicht nur die Abhängigkeit selbst, sondern den gesamten Organismus in ganzheitlichem Sinne, d. h. diejenigen körperlichen und seelischen Gegebenheiten in ihrem sozia-
len Kontext, die sowohl als Entstehungsbedingungen der Suchterkrankungen infrage kommen, wie auch von ihren Folgen betroffen sein können. Dabei sind ursächliche Faktoren, Folgezustände und unabhängige Begleitumstände nicht immer eindeutig zu differenzieren. Zu untersuchen sind die verschiedenen betroffenen Organsysteme und psychischen Qualitäten, jeweils auf der Ebene der Schädigungen von Strukturen und Funktionen, der dadurch beeinträchtigten Aktivitäten sowie der eingeschränkten Teilhabe, insbesondere der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Zu beachten sind jedoch auch die zur Verfügung stehenden Kompensationsmöglichkeiten und Ressourcen.
Diagnostik der Abhängigkeit Die Diagnostik der Abhängigkeit orientiert sich an der Anamnese des Suchtmittelkonsums, an den Kriterien der ICD-10 sowie an biologischen Markern und Symptomen (vgl. . Tab. 25.6).
Psychische Diagnostik Die psychische Diagnostik erfordert in der Regel eine fachärztliche Untersuchung. Sie ermöglicht ein besseres Verständnis der individuellen Ausprägung der Suchterkrankung, lässt Zusammenhänge psychischer und somatischer Störungen erkennen, lässt das Ausmaß psychisch bedingter Leistungsminderung beurteilen und gibt außerordentlich wichtige Hinweise auf die Grenzen der Beeinflussbarkeit der Störungen, die psychotherapeutischen Veränderungsmöglichkeiten und auf die Prognose. Bei
583 24.2 · Allgemeines
Verdacht auf Hirnleistungsstörungen sind häufig eine ausführliche testpsychologische Untersuchung und eine neurologische Untersuchung, gegebenenfalls mit bildgebender Diagnostik erforderlich. Unter psychischer Komorbidität werden psychische Erkrankungen verstanden, die nicht direkte Folge des Suchtmittelkonsums sind, sondern zusätzlich zur Suchterkrankung bestehen, allerdings den Suchtmittelkonsum mehr oder weniger stark beeinflussen können, z. B. Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, depressive Syndrome, Angststörungen oder somatoforme Störungen.
Somatische Diagnostik Eine körperliche Untersuchung und eine laborchemische Basisuntersuchung (z. B. Blutbild, Leberenzyme) gehören standardmäßig zur Diagnostik einer Suchterkrankung. Die Notwendigkeit weiterer fachärztlicher Untersuchungen ergibt sich aus den anamnestisch angegebenen Beschwerden und Leistungseinschränkungen sowie aus den zu erwartenden, für das konsumierte Suchtmittel typischen somatischen Folgeschäden. Meistens wird es sich dabei um internistische und neurologische Untersuchungen handeln. Auch die Diagnostik vermeintlich unabhängiger, z. B. orthopädischer Erkrankungen sollte in Zusammenhang mit der Diagnostik der Suchterkrankung erfolgen. Häufig gewinnen diese Begleiterkrankungen im Licht der psychischen Diagnostik einer Suchterkrankung eine völlig andere sozialmedizinische Bedeutung.
Kontextfaktoren Die eingehende Erhebung von Kontextfaktoren ist von erheblicher Bedeutung sowohl für das Verständnis der Entwicklung und der Aufrechterhaltung einer Suchterkrankung als auch für die Beurteilung der Folgen und Leistungseinschränkungen sowie der Veränderungsmöglichkeiten. Eine wichtige Quelle dafür ist der Sozialbericht.
25.1.3
Begutachtungskriterien
Die akute Intoxikation (F1■.0) und die Entzugssyndrome (F1■.3/4) sind naturgemäß kurzzeitige, vorübergehende Störungen, die je nach Pharmakologie des Suchtmittels leichte Befindlichkeitsstörungen oder schwerere Beeinträchtigungen mit Arbeitsunfähigkeit bis hin zu vital bedrohlichen, intensivbehandlungspflichtigen Krankheitszuständen hervorrufen können. Zum Teil sind diese Störungen als diagnostischer Hinweis auf eine Abhängigkeit von Bedeutung (s. u.). Der schädliche Gebrauch (F1■.1) setzt definitionsgemäß eine körperliche oder psychische Gesundheitsschä-
digung durch Suchtmittelkonsum voraus, die durchaus zu einer aktuellen bzw. dauerhaften Leistungsminderung bzw. zu eingeschränkter Partizipation führen kann, auch ohne dass ein Abhängigkeitssyndrom besteht. Das Ausmaß und die Dauer der Beeinträchtigung hängen von der Ausprägung der Folgeschäden (s. u.) ab.
Leistungsminderung durch die Abhängigkeit Die Beurteilung des Leistungsvermögens von Suchtmittelkonsumenten hat vier Einflussgrößen zu berücksichtigen: (1) die Abhängigkeit selbst, (2) die Folgeerkrankungen, (3) die Begleiterkrankungen (Komorbidität) und (4) die Kontextfaktoren, hier insbesondere die berufstypischen und arbeitplatzspezifischen Anforderungen an den Versicherten. Die Abhängigkeit (F1■.2) an und für sich, d. h. ohne leistungsrelevante Folgeschädigung, kann zwar je nach Art des Suchmittels bei akuter Intoxikation und Steuerungsunfähigkeit sowie bei aktuellem Entzugssyndrom eine Arbeitsunfähigkeit bedingen. Sie begründet in der Regel jedoch keine dauerhafte Leistungsminderung, da von einem Abhängigen erwartet werden kann, dass er sich – mit oder ohne professionelle Hilfe – in die Lage versetzt, Abstinenz einhalten und dadurch seine Arbeitsfähigkeit wiederherstellen zu können. Die Annahme professioneller Hilfe kann von dem Versicherten mit Hinweis auf seine Mitwirkungspflicht (§ 63 SGB I, § 51 SGB V, §125 SGB III) verlangt werden, und zwar von der Rentenversicherung im Hinblick auf drohende oder eingetretene Erwerbsminderung und von der Krankenkasse bei längerer oder wiederholter Arbeitsunfähigkeit als Folge von Suchtmittelkonsum, ebenso von den Arbeitsagenturen bei alkoholbedingt eingeschränkter Vermittelbarkeit. Solche »unter äußerem Druck« veranlassten Rehabilitationsmaßnahmen werden zumeist stationär durchgeführt und können durchaus erfolgreich sein. Eine dauerhafte Leistungsminderung entwickelt sich zumeist erst im Zusammenhang mit dem Auftreten von Folgeerkrankungen und -störungen. Nach einer Entwöhnungsbehandlung ist – bei Fehlen leistungsrelevanter Folge- oder Begleitschäden – in der Regel von Arbeits- und Erwerbsfähigkeit auszugehen. Dies gilt ebenfalls für nicht regulär abgeschlossene Behandlungen, die durchaus auch erfolgreich sein können. Rückfälligkeit ist als erneuter Ausbruch der Symptomatik der Suchtkrankheit zu sehen und führt in der Regel zu einem weiteren Behandlungsangebot.
Abhängigkeit als Sicherheitsrisiko In einigen Berufen ist eine Suchterkrankung unabhängig davon, ob aktuell konsumiert wird oder nicht, als Sicherheitsrisiko anzusehen, und zwar allein schon wegen der bestehenden Rückfallgefahr und der damit verbundenen
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Kapitel 25 · Sucht und suchtähnliche Erkrankungen
verminderten Steuerungsfähigkeit. Hierzu gehören z. B. Berufskraftfahrer, Lokomotivführer oder Piloten. Zu unterscheiden sind dabei das Sicherheitsrisiko für den Abhängigen selbst und das Risiko für die Allgemeinheit. Für die sozialmedizinische Beurteilung ist das Risiko der Berufsausübung für den Versicherten selbst zu beachten, das der Gutachter anhand seines Eindrucks von dessen Abstinenzfähigkeit einzuschätzen hat. Nach einer mit günstiger Abstinenzprognose abgeschlossenen Therapie und bei Fehlen sonstiger relevanter einschränkender Störungen ist davon auszugehen, dass der Suchtkranke fähig ist, z. B. ein Kraftfahrzeug suchtmittelfrei zu führen, und damit als Berufskraftfahrer arbeits- und erwerbsfähig ist. Im Rahmen einer sozialmedizinischen Begutachtung für die Rentenversicherung ist das qualitative und quantitative Leistungsvermögen im Erwerbsleben zu beurteilen. Die Prüfung der Eignung und des Risikos für die Allgemeinheit obliegt anderen Institutionen (z. B. Arbeitgeber, Straßenverkehrsamt, TÜV, Bahnarzt, Polizeiarzt etc.). Die Kriterien der Beurteilung der Eignung sind in der Regel wesentlich strenger als diejenigen der Beurteilung der Fähigkeit. Sie sind von den Interessen der Allgemeinheit bestimmt. So wird beispielsweise von den Straßenverkehrsämtern bei der Prüfung der Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges ein besonderer Nachweis der Abstinenzfähigkeit verlangt [3]. Abhängige müssen in der Regel nach erfolgreicher Therapie eine einjährige Abstinenzzeit durch Nachweis einer Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe und ärztlicher Kontrolle der einschlägigen Laborwerte glaubhaft machen. Im Rahmen eines kommerziellen Dienstleistungsangebotes wie z. B. einer Personenbeförderung ein Höchstmaß an Sicherheit für die Allgemeinheit durch regelmäßige ärztliche Untersuchungen der Bediensteten anhand spezieller Kriterien zu gewährleisten, ist nicht Sache des sozialmedizinischen Gutachters bei der Beurteilung des Leistungsvermögens für die Rentenversicherung, sondern ist Sache des Dienstleistungsunternehmens und des von ihm beauftragten medizinischen Dienstes bzw. der Aufsichtsbehörde. Beispielsweise lässt die Deutsche Bahn AG die Diensttauglichkeit eines Lokomotivführers durch einen eigenen ärztlichen Dienst prüfen. Wird hierbei eine Abhängigkeit festgestellt, so wird der Bedienstete in der Regel aus Sicherheitsgründen nach Durchführung einer Therapie noch für ein Jahr in einen weniger sicherheitsrelevanten Arbeitsbereich versetzt. Das heißt, er ist für diese Zeit nicht geeignet, eine Lokomotive zu führen, ist jedoch nicht dienstunfähig. Ein aktuell abstinenter suchtkranker Berufskraftfahrer, bei dem z. B. am Ende einer Entwöhnungsbehandlung mit guter Abstinenzprognose zu rechnen ist, ist als Kraft-
fahrer arbeits- und erwerbsfähig zu beurteilen. Ist jedoch der Führerschein eingezogen und dem Betroffenen aufgrund seiner Abhängigkeit vom Straßenverkehrsamt eine Sperre auferlegt worden, so ist die vorübergehende Verweisbarkeit in eine andere Tätigkeit durch den Arbeitgeber (z. B. Tätigkeit als Beifahrer) zu prüfen.
Rückfallgefährdung durch besondere Arbeitsbedingungen Nicht selten wird von Suchtkranken vorgebracht, sie seien zwar in ihrem Beruf leistungsfähig, die Arbeitsbedingungen seien jedoch rückfallgefährdend. Es stellt sich dabei die Frage der Arbeits- und Berufsfähigkeit. Eine Rückfallgefährdung durch Arbeitsbedingungen kann dadurch gegeben sein, dass eine Tätigkeit mit der Einnahme von Suchtmitteln verbunden ist oder zumindest eine besondere »Griffnähe« zum Suchtmittel beinhaltet; Näheres siehe bei der Darstellung der einzelnen Suchtkrankheiten. In diesen Fällen sind je nach individuellen Gegebenheiten die Möglichkeit der Veränderung der Arbeitsbedingungen, der Verweisbarkeit in eine andere Tätigkeit oder die Hilfestellung für einen Wechsel der Berufstätigkeit durch berufsfördernde Maßnahmen zu prüfen. Eine erhöhte Rückfallgefahr durch die Arbeitsbedingungen kann auch dadurch bedingt sein, dass ein Missverhältnis zwischen der psychomentalen Belastbarkeit einerseits und den Arbeitsanforderungen andererseits besteht. Suchtkranke weisen oft eine weniger elastische psychische und vegetative Reaktionsbereitschaft auf Stressanforderungen auf. Nicht selten bestehen bei ihnen gleichzeitig erhöhte Leistungsanforderungen an sich selbst und eine geringe Frustrationstoleranz, d. h. sie können sich eigene Fehler schlecht verzeihen und Kritik bzw. ausbleibende Belohnung und Anerkennung schlecht aushalten. In vielen Fällen wird dann versucht, das Versagensgefühl durch die Konstruktion einer »Mobbingsituation« zu mildern und eine Lösung in der medizinischen Anerkennung einer Leistungsunfähigkeit zu finden. In einer solchen Situation zumindest tendenziell eine bessere Ausbalancierung der Fähigkeiten des Arbeitnehmers einerseits und der Arbeitsanforderungen andererseits zu erreichen, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Rehabilitation. Dabei gilt es, auf der Seite des Arbeitnehmers die Selbsteinschätzung der eigenen Stärken und Schwächen, die Akzeptanz der Grenzen der Leistungsfähigkeit und die Selbstsicherheit im mitmenschlichen Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten zu bessern. Zugleich ist jedoch auch zu prüfen, inwieweit Einfluss auf die Arbeitsbedingungen genommen werden kann und sollte, um dem durch seine Suchtkrankheit behinderten
585 24.2 · Allgemeines
Arbeitnehmer die Teilhabe am Arbeitsleben zu erleichtern. Dazu gehört die Überprüfung von: z
Arbeitsorganisation
Es ist davon auszugehen, dass bei Suchtkranken der jahrelange Konsum psychotroper Substanzen zu einer längerfristig anhaltenden Störung der vegetativen Regulation zwischen Spannung und Entspannung im zirkadianen Rhythmus führt. Bestimmte Formen der Arbeitsorganisation wie z. B. Wechselschicht einschließlich Nachtdienst, die erhöhte Anforderungen an die psychovegetative Regulationsfähigkeit stellen, können eine erhöhte Rückfallgefahr beinhalten. Ihre Zumutbarkeit für Suchtkranke ist im Einzelfall zu prüfen. Ähnliches trifft für Tätigkeiten mit ständig wechselndem Einsatzort und häufiger Reisetätigkeit zu. z
Arbeitsanforderungen
Aus ähnlichen Gründen ist gegebenenfalls individuell zu prüfen, inwieweit Anforderungen unter besonderem Zeitdruck oder mit besonderen emotionalen Belastungen (z. B. Tätigkeiten im Rettungsdienst) oder im Umgang mit Aggressivität (z. B. Tätigkeiten in Justizvollzugsanstalten oder bei der Polizei) einen Suchtkranken – auch ohne Nachweis sonstiger psychischer Erkrankungen – überfordern können und nach Möglichkeit zu mildern sind. z
men. Viele Fachklinken verfügen über spezielle Angebote für Therapiewiederholer. Es gibt aber auch Fälle, in denen ein Abhängiger nur bei dauernder Unterbringung in geschützter oder kontrollierender Umgebung in der Lage ist, Abstinenz einzuhalten. Zum einen trifft dies zu für Fälle mit fortgeschrittenem hirnorganischen Psychosyndrom, wobei die eingeschränkten mentalen Fähigkeiten keine ausreichende Krankheitseinsicht und Abstinenzmotivation ermöglichen, zum anderen auch für Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen, bei denen trotz erhaltener intellektueller Leistungsfähigkeit und Einsichtsfähigkeit eine derart eingeschränkte Frustrationstoleranz besteht, dass auf die Regulation der emotionalen Befindlichkeit durch das Suchtmittel nicht verzichtet werden kann. In solchen Fällen ist eine Leistungsminderung im Erwerbsleben festzustellen.
Beziehungen am Arbeitsplatz
Vermeintliche Mobbingsituationen, denen sich Suchtkranke am Arbeitsplatz ausgesetzt fühlen, resultieren häufig nicht nur aus Fehlleistungen der Vergangenheit, sondern auch aus gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen, für die zum einen die Beziehungsschwierigkeiten vieler Suchtkranker, zum anderen auch Vorurteile der Kollegen und Vorgesetzten verantwortlich sind. Für den Erhalt der Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz kann es von entscheidender Bedeutung sein, in dieser Hinsicht auf beiden Seiten zu einer Haltungsänderung beizutragen.
Leistungsunfähigkeit aufgrund von Abstinenzunfähigkeit Rückfälligkeit ist ein Symptom der Abhängigkeit, mit dessen Auftreten in jedem Stadium der Krankheit, zu rechnen ist. Im Allgemeinen wird auch bei rezidivierender Rückfälligkeit davon ausgegangen, dass ein Abhängiger sich gegebenenfalls durch wiederholte Behandlungsmaßnahmen in die Lage versetzen kann, Abstinenz einzuhalten und seine Leistungsfähigkeit zu erhalten. Auch wiederholte Rückfälle werden daher in der Regel – solange keine gravierenden Folge- oder Begleiterkrankungen eingetreten sind – nicht als Begründung für eine verminderte Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben angesehen, sondern zum Anlass erneuter rehabilitativer Hilfsangebote genom-
Leistungsminderung durch Folge- und Begleiterkrankungen Die Unterscheidung zwischen Folge- und Begleiterkrankungen hat erhebliche Bedeutung für die Behandlungsplanung z. B. im Rahmen der Rehabilitation, für die Prognose und für die sozialmedizinische Beurteilung. Je nach Art des konsumierten Suchtmittels sind unterschiedliche Folgeschäden auf biologischer und psychosozialer Ebene zu erwarten, deren gründliche Untersuchung durch jeweils zuständige Fachärzte in vielen Fällen von erheblicher Bedeutung für die sozialmedizinische Beurteilung ist, da die Leistungsfähigkeit der Suchtkranken meistens durch das Ausmaß der Folgeschäden limitiert ist. Die Behandlung der Folgekrankheiten besteht in der Regel vor allem in der Behandlung der Suchterkrankung selbst und hat bei erfolgreicher Behandlung, d. h. längerfristiger Aufrechterhaltung von Suchtmittelabstinenz, oftmals eine relativ günstige Prognose, denn die Ursache suchtmittelbedingter Schäden lässt sich im Unterschied zu vielen anderen Störungen vollständig beseitigen. Die spürbare Besserung der Symptome stärkt dabei die Abstinenzmotivation. Nicht selten sind Suchtkranke zusätzlich von Begleitkrankheiten betroffen, die nicht in ursächlichem Zusammenhang zum Suchtmittelkonsum stehen. Auch wenn diese Krankheiten von Suchtkranken oft in den Vordergrund gestellt werden, da sie ihre Suchtkrankheit verbergen oder nicht wahrhaben wollen, sind sie doch genauestens, gegebenenfalls fachärztlich, zu untersuchen. Diese Krankheiten können je nach Ausprägung durchaus leistungslimitierend sein. Sie können auch zum Suchtmittelkonsum veranlassen und Rückfälligkeit fördern. Sie sind daher auch im Rahmen der medizinischen Rehabilitation Suchtkranker mitzubehandeln.
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Kapitel 25 · Sucht und suchtähnliche Erkrankungen
Begleiterkrankungen lassen sich zwar auch oft unter abstinenten Bedingungen leichter und wirksamer behandeln. Bei vielen Begleiterkrankungen verschlechtern sich jedoch auch die Symptome unter Abstinenz, da das Suchtmittel zur Unterdrückung der Symptome eingesetzt wurde bzw. die Wahrnehmung der Symptome verhinderte. In diesen Fällen ist konsequente Mitbehandlung der Begleiterkrankungen von großer Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Abstinenz, um die Gefahr von Rückfällen als »Selbstbehandlungsversuch« zu reduzieren.
Einfluss der Kontextfaktoren Die Arbeitsbedingungen, die familiären und partnerschaftlichen Beziehungen, die Wohnungssituation sowie die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und Selbstverwirklichung sind von großer Bedeutung für den Verlauf von Suchterkrankungen. Sie können sowohl als subjektive oder objektive Defizite zur Aufrechterhaltung des Suchtverhaltens beitragen wie auch als Ressourcen die Abstinenzhaltung stabilisieren. Für die sozialmedizinische Beurteilung sind vor allem die Arbeitsbedingungen von Bedeutung. Hierbei geht es nicht nur um die Frage, inwieweit die konkreten Leistungsanforderungen am Arbeitsplatz in angemessenem Verhältnis zur Leistungsfähigkeit des Versicherten stehen, sondern auch um die Einschätzung, inwieweit die Bedingungen der Leistungserbringung rückfallfördernde Belastungen oder rückfallhemmende Ressourcen darstellen. Zufriedenstellende Arbeitsbedingungen haben einen wesentlichen Einfluss auf die Motivation im Hinblick auf Lebensmut, Abstinenzhaltung und die Bereitschaft, seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Das heißt nicht, dass die bei Suchtkranken häufig anzutreffende fehlende Anpassungsbereitschaft bzw. Anpassungsfähigkeit den Kontextbedingungen angelastet werden soll. Der Sozialmediziner sollte sich bei der Begutachtung Suchtkranker bewusst sein, dass die Feststellung der Aufhebung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben, zu der er nicht selten vom Versicherten, von Angehörigen, vom Arbeitgeber oder anderen Institutionen gedrängt wird, zwar eine medizinisch gerechtfertigte Entlastung herbeiführen kann, jedoch zugleich auch die Einschränkung der Partizipation des Betroffenen festschreibt und damit unter Umständen die Rückfallgefahr erhöhen kann. Es sollten daher immer auch die Möglichkeiten der Nutzung einer Restleistungsfähigkeit durch Einflussnahme auf den Arbeitsprozess, Feststellung einer partiellen oder zeitlich begrenzten Leistungsminderung und durch berufsfördernde Leistungen geprüft werden.
25.1.4
Sozialmedizinische Beurteilung
Bei der sozialmedizinischen Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass das Ausmaß der Beeinträchtigung durch eine Suchterkrankung weniger durch die Abhängigkeit selbst als durch die Folgeschäden bestimmt wird. Störungen auf der Ebene der Organstrukturen und -funktionen, der Aktivitäten und der Partizipation können sowohl Ursache als auch Folge der Suchtentwicklung sein. Bei einer Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten oder Drogen ist die Indikation zu einer Entwöhnungsbehandlung als medizinische Rehabilitationsmaßnahme gegeben. Allerdings ist die Feststellung bereits eingetretener Schäden neben der Beurteilung der Motivation und der sozialen Begleitumstände von entscheidender Bedeutung bei der Wahl zwischen ambulanter, teilstationärer und stationärer Rehabilitation und bei der Auswahl der geeigneten Behandlungseinrichtung (. Tab. 25.10). Der Erfolg der Rehabilitationsmaßnahmen bei Suchtkranken hängt wesentlich davon ab, ob es bereits während der Maßnahme gelingt, konkrete Schritte der Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben einzuleiten. Hierzu dienen eine auf die berufliche Re-Integration ausgerichtete Arbeitstherapie, die Möglichkeit von Belastungserprobungen, die Ableistung berufsbezogener Praktika sowie die Vermittlung in eine sogenannte Adaption. Diese erfolgt in speziellen Einrichtungen, die nach erfolgter Entwöhnungsbehandlung Hilfen zur weiteren beruflichen und sozialen Reintegration bieten und damit das vor allem unmittelbar nach Entlassung aus der Therapie hohe Rückfallrisiko reduzieren. Kritisch zu sehen ist der häufige Wunsch arbeitsloser Suchtkranker, in einen sozialen (z. B. Altenpflege oder Suchtkrankenhilfe) Beruf umzuschulen. Zwar ist das Bestreben, gerade in einem Bereich, in dem in der Vergangenheit unter Hilflosigkeit und Versagen gelitten wurde, sich zum Fachmann und Helfer zu machen, nachvollziehbar und im geeigneten Fall durchaus zu unterstützen. Auf der anderen Seite ist zu prüfen, inwieweit Suchtkranke bei der ihnen eigenen Schwierigkeit der Grenzziehung sich innerlich nicht in professioneller Weise vom Leiden der ihnen Anvertrauten abgrenzen können und sich dadurch überfordern und einer erhöhten Rückfallgefahr aussetzen.
25.2
Krankheitsbilder
25.2.1
Alkoholabhängigkeit
Klassifikation und Stadieneinteilung Aus epidemiologischer Sicht werden die Häufigkeit und das Ausmaß von Folgeschäden der Alkoholabhängigkeit weniger vom Konsummuster und der Abhängigkeit be-
587 25.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 25.7 Alkoholkonsum der erwachsenen Bevölkerung 2001 (18–59 Jahre)
. Tab. 25.8 Die wichtigsten Alkoholfolgeschäden
Grenzwerte Männer
Grenzwerte Frauen
Anteil der Bevölkerung
Abstinenz
0 g/d
0 g/d
7–12 %
Pankreas
Akute und chronische Pankreatitis
Risikoarmer Konsum
< 30 g/d
< 20 g/d
Ca. 75 %
Oberer Verdauungstrakt
Riskanter Konsum
30–60 g/d
20–40 g/d
10–12 %
Gefährlicher Konsum
60–120 g/d
40–80 g/d
3–5 %
Zahnschäden, Schleimhautatrophie, Cheilosis, Parotitis; Pharynx- und Ösophaguskarzinome; Refluxösophagitis, BARRET-Ulkus, Ösophagusvarizen, -blutung, Magenulcera, Gastritis, MalloryWeiss-Syndrom
Herz-KreislaufSystem
Hochkonsum
> 120 g/d
Dilatative Kardiomyopathie, Herzrhythmusstörungen, Endokarditis, arterielle Hypertonie
Blutbildung
Anämie, Leukopenie, Thrombopenie
Stoffwechsel
Metabolisches Syndrom, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus; Hämochromatose; Porphyrie
Endokrines System
Hyperöstrogenismus, sexuelle Störungen
Atemwege
Infektanfälligkeit, Tuberkulose
Bewegungsapparat
Myopathie, DUPUYTRENsche Kontrakturen, Osteopathie
Peripheres Nervensystem
Polyneuropathie
Zentralnervensystem
Toxische Enzephalopathie, toxische Kleinhirnatrophie, Opticusneuritis, Epilepsie
Psyche
Hirnorganisches Psychosyndrom: Intelligenzminderung, amnestisches Syndrom, affektive Nivellierung; paranoide Syndrome; affektive Störungen; Persönlichkeitsveränderungen
Embryonalentwicklung
Alkoholembryopathie
> 80 g/d
0,5–0,9 %
stimmt, sondern von der durchschnittlich aufgenommenen Alkoholmenge. Mit Blick auf die Primärprävention werden folgende Risikogruppen unterschieden: Die wichtigsten klinischen Erscheinungsbilder (siehe . Tab. 25.3) der psychischen und Verhaltensstörungen durch Alkoholkonsum, die z. T. auch ohne Abhängigkeit auftreten können, sind 4 die akute Alkoholintoxikation, 4 das Alkoholentzugssyndrom, 4 der schädliche Alkoholkonsum und 4 das Abhängigkeitssyndrom selbst.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Akute Alkoholintoxikation
Die akute Alkoholintoxikation (F10.0) kann mit unterschiedlich schweren körperlichen und psychischen Störungen verbunden sein. Diese akuten Funktionsausfälle sind ein vorübergehender Zustand und bedingen je nach klinischem Schweregrad und zeitlichem Abstand zum Arbeitsbeginn allenfalls eine Arbeitsunfähigkeit. z
Alkoholische Fettleber und Hepatitis (akut, chronisch); alkoholische Leberzirrhose (kompensiert, dekompensiert), ZIEVE-Syndrom
Konsumverhalten
Quelle: Suchtmedizinische Reihe Band 1 [5]
z
Leber
Alkoholentzugssyndrom
Die Symptomatik des Alkoholentzugssyndroms (F10.3 oder F10.4) kann sich äußern in vegetativen Exzitationen mit internistischen und neurologischen Störungen jeden Schweregrades, psychotischen Phänomenen und zerebralen Krampfanfällen. In der Regel sind daher bei Auftreten von Entzugserscheinungen eine Krankschreibung und die Einleitung einer angemessenen Behandlung (qualifizierte Entzugsbehandlung, medizinische Rehabilitation) erforderlich.
z
Schädlicher Alkoholkonsum
Schädlicher Alkoholkonsum wird nach ICD 10 dann mit F10.1 kodiert, wenn nachweislich körperliche oder psychische Schäden oder Funktionsstörungen durch Alkoholkonsum eingetreten sind, ohne dass die diagnostischen Kriterien einer Alkoholabhängigkeit erfüllt sind. Von allen Suchtmitteln weist Alkohol die vielfältigsten körperlichen und psychischen Schädigungsmöglichkeiten durch chronischen Konsum auf. Es gibt kaum ein Organ, eine Struktur oder eine Funktion des menschlichen Organismus, die nicht durch anhaltenden Alkoholkonsum geschädigt werden können (. Tab. 25.8). Die sozialmedizinische Beurteilung der Folgeschäden durch Alkoholkonsum ergibt sich aus der fachspezifischen Diagnostik
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Kapitel 25 · Sucht und suchtähnliche Erkrankungen
der betroffenen Organsysteme und wird in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches abgehandelt. Die häufigsten Alkoholfolgeschäden, die auch bei abstinenter Lebensführung fortbestehen und mit dauerhafter Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben verbunden sein können, sind Leberzirrhose, chronische Pankreatitis, Kardiomyopathie, Blutbildungsstörungen, Stoffwechselstörungen, Krebserkrankungen, Polyneuropathie, toxische Enzephalopathie und hirnorganisches Psychosyndrom, Persönlichkeitsveränderungen. Die Erkennung einer alkoholtoxischen Genese einer Krankheit ist von erheblicher sozialmedizinischer Bedeutung: Sie eröffnet Erfolg versprechende Behandlungsmöglichkeiten und verbessert damit in der Regel die Prognose der Erkrankung. Die meisten Menschen mit Alkoholproblemen wenden sich allerdings nicht primär an eine Institution der Suchtkrankenhilfe, sondern suchen aufgrund von Folgeund Begleiterkrankungen jene Ärzte auf, die mit der medizinischen Grundversorgung oder der sozialmedizinischen Beurteilung befasst sind. Diesen kommt daher eine Schlüsselrolle in der Prävention alkoholbedingter Folgeschäden zu. Die Indikation zur medizinischen Rehabilitation von Patienten mit schädlichem Alkoholkonsum, die nicht alkoholabhängig sind, richtet sich nach dem Ausmaß der psychischen und körperlichen Folgeerkrankungen. Ein fortgesetzter Alkoholkonsum trotz Aufklärung über eine bereits bekannte alkoholtoxische Schädigung ist allerdings ein Merkmal der Abhängigkeit (s. u.) und sollte zur Einleitung einer Rehabilitationsmaßnahme veranlassen. z
Alkoholabhängigkeit
Die grundlegende Beeinträchtigung durch die Alkoholabhängigkeit besteht darin, dass die betroffene Person nicht mehr in der Lage ist, ihren Alkoholkonsum entsprechend ihren körperlichen, psychischen und sozialen Gegebenheiten und Anforderungen zu steuern. Dadurch kommt es zu charakteristischen körperlichen und psychischen Folgeschäden (vgl. . Tab. 25.8). Auf der Ebene der Funktionen können Störungen eintreten 4 des Stoffwechsels und der Funktion der inneren Organe, 4 des Denkens, der emotionalen Stabilität, des Selbstwertgefühls, der Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit und der Selbsteinschätzung (sog. Ich-Strukturen). Die Aktivitäten können gestört sein im Zusammenhang 4 mit Schule, Ausbildung und Arbeit, 4 mit der Selbstversorgung, der Körperhygiene und anderer Aktivitäten des täglichen Lebens,
4 mit der Pflege sozialer Kontakte sowie der Nutzung medizinischer und kultureller Angebote. Die Teilhabe ist meistens ebenfalls erheblich beeinträchtigt, und zwar 4 an sozialen Beziehungen (Familie, Freunde, Bekannte), 4 an Ausbildung und Arbeit, 4 an angemessenen Wohnbedingungen, 4 an Erholung, Freizeit und Kultur sowie am wirtschaftlichen Leben. Die persönlichen und umweltbedingten Kontextfaktoren können zur Chronifizierung des Problems beitragen, können jedoch auch wichtige Ressourcen bei der Lösung sein.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die Diagnose der Alkoholabhängigkeit hat nach den Kriterien der ICD-10 (siehe . Tab. 25.4) zu erfolgen. Im Wesentlichen beruht die Diagnose auf den anamnestischen Angaben des zu Begutachtenden und seiner Bezugspersonen. Glaubwürdige anamnestische Daten sind allerdings nur zu erhalten, wenn eine vertrauensvolle Gesprächsbereitschaft erreicht werden konnte, eine gewisse Einsicht des Betroffenen in die Problematik besteht und die Bereitschaft zur Kooperation gegeben ist. Da diese Bedingungen oft erst das Ergebnis einer motivierenden Therapie sind und in der Begutachtungssituation nicht vorausgesetzt werden können, sollten möglichst viele »objektive« Befunde hinzugezogen werden, auch wenn durch diese Befunde oft nur der schädliche Alkoholkonsum, nicht jedoch die Abhängigkeit nachzuweisen ist. Zu den wichtigsten ärztlich beobachtbaren Hinweisen auf das Vorliegen einer Abhängigkeit gehört die Feststellung eines körperlichen Entzugssyndroms, insbesondere von deliranten Entzugserscheinungen und von Entzugskrampfanfällen, das Eintreten einer Toleranzentwicklung sowie fortgesetzter Alkoholkonsum trotz Nachweises schädlicher Folgen. Einige Laborwerte, insbesondere das Mittlere korpuskuläre Volumen (MCV) der Erythrozyten und das Carbohydrate Deficient Transferrin (CDT) sowie (mit geringerer Spezifität) die γ-GT weisen auf längerfristig hochdosierten Alkoholkonsum hin und können damit auch als Beleg für die toxische Genese von Folgeschäden verwendet werden. Sie können jedoch allein nicht als Nachweis einer Abhängigkeit dienen, da die Menge des Konsums nur ein untergeordnetes Kriterium der Abhängigkeit darstellt. Die Laborwerte, wie auch das Ethylglucuronid (ETG) sind allerdings bei der Kontrolle von Alkoholabstinenz von Bedeutung. Der einfachste und kürzeste Test ist der sogenannte CAGE-Test (. Tab. 25.9), der lediglich aus vier Fragen be-
589 25.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 25.9 CAGE-Test zur Erfassung problematischen Alkoholkonsums Cut down
Haben Sie (erfolglos) versucht, Ihren Alkoholkonsum zu reduzieren?
Annoyed
Haben Sie sich geärgert, weil Ihr Trinkverhalten von anderen kritisiert wurde?
Guilty
Haben Sie Schuldgefühle wegen Ihres Trinkens?
Eye-opener
Haben Sie Alkohol benutzt, um morgens »in Gang« zu kommen?
steht und als ein erster Screening-Test zur Ermittlung von problematischem Alkoholkonsum dient. Er kann z. B. in Wartezimmern von Arztpraxen, Gesundheitsämtern und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens ausgelegt werden und den Klienten zu einer Selbstbeurteilung anregen. Im deutschen Sprachraum ist der von Feuerlein et al. [10] entwickelte MALT-Test am besten validiert. Er ist für sozialmedizinische Zwecke gut geeignet, da er neben einem Selbstbeurteilungsteil (S-Teil) mit 24 Items auch einen Fremdbeurteilungsteil (F-Teil) mit 7 Items enthält, in den medizinische Befunde des Arztes und Aussagen von Bezugspersonen eingehen können.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien Bei der Begutachtung von Alkoholabhängigkeit ist zu unterscheiden 4 die Begutachtung der Alkoholabhängigkeit selbst, 4 die Begutachtung der Folgeschäden des Alkoholkonsums und 4 die Begutachtung von sonstigen Begleiterkrankungen. Sofern keine Alkoholfolgeschäden eingetreten sind, bedingt die Alkoholabhängigkeit selbst in der Regel keine dauerhafte Leistungsminderung, sondern veranlasst zur Einleitung einer abstinenzorientierten Rehabilitationsmaßnahme. Bei regulärer Absolvierung einer solchen Maßnahme ist von Arbeits- und Erwerbsfähigkeit auszugehen. Im Einzelfall können allerdings besondere Umstände der Berufstätigkeit und des Arbeitsplatzes eine Rolle spielen: 4 In Berufen, in denen die krankheitsbedingte Rückfallgefahr ein besonderes Sicherheitsrisiko für den Betroffenen oder für die Allgemeinheit darstellt, können sich Einschränkungen der Partizipation des Versicherten ergeben, die für die sozialmedizinische
Begutachtung relevant sein und zu berufsfördernden Maßnahmen Anlass geben können, z. B. bei Berufskraftfahrern, Lokomotivführern, Piloten und anderen besonders sicherheitssensiblen Berufen (s.o.). 4 Einige Berufe bedingen eine besondere »Griffnähe« zum Alkohol. Hierzu gehören Tätigkeiten in der Alkohol- und Getränkeproduktion und in der Gastronomie. In diesen Fällen kann aus den Arbeitsbedingungen resultieren, dass die Versicherten ihre bisherige Tätigkeit nicht mehr ohne erhöhte Gesundheitsgefahr durchführen können. Daraus muss jedoch keineswegs immer die Notwendigkeit eines Berufswechsels folgen. Gerade für Köche lassen sich erfahrungsgemäß häufig Tätigkeitsbereiche finden, in denen auf die Verarbeitung von Alkohol gänzlich verzichtet werden kann oder sogar muss, z. B. als Koch in einer Rehabilitationseinrichtung. 4 Zu prüfen ist ferner, inwieweit in der Vergangenheit Alkoholkonsum und Rückfälligkeit in Zusammenhang mit einer relativen Überforderung durch die konkreten Arbeitsbedingungen standen (s. Arbeitsorganisation, Arbeitsanforderungen, Beziehungen am Arbeitsplatz), inwieweit auf diese Bedingungen Einfluss genommen werden kann oder ein Wechsel des Arbeitsplatzes angezeigt ist. Lässt sich eine solche Entscheidung mit der Abhängigkeitserkrankung begründen, resultiert daraus zwar keine Leistungsminderung, da die Leistungsfähigkeit unter anderen Bedingungen nicht eingeschränkt ist. Bei krankheitsbedingter Aufgabe eines Arbeitsplatzes lässt sich jedoch eine Sperre des Arbeitslosengeldes vermeiden. Auch nach regulär durchgeführter Rehabilitation ist auf die Dauer mit Rückfälligkeit zu rechnen. Diese ist ein Symptom der Krankheit. Ein Rückfall bedeutet nicht, dass die Behandlung erfolglos war, sondern gibt Anlass zu weiteren Hilfsmaßnahmen, zum Beispiel einer spezifischen Wiederholungsbehandlung, die an den Ergebnissen der vorausgegangenen Behandlung ansetzt. Auch längere Abstinenzintervalle zwischen Rückfällen sind als Behandlungserfolg anzusehen und machen erneute Behandlungen gesundheitlich und wirtschaftlich sinnvoll. Erst wenn wiederholte Behandlungen mit unterschiedlichen Mitteln keine längeren Abstinenzphasen erreichen, muss eine längerfristige Abstinenzunfähigkeit mit Aufhebung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben angenommen werden. In diesen Fällen kann die Einrichtung einer Betreuung bzw. die Unterbringung in einer beschützenden Einrichtung hilfreich sein. Oftmals stehen Begleiterkrankungen im Vordergrund und sind nicht selten Anlass für einen Rentenantrag. In einer umfassenden Rehabilitationsmaßnahme kann sich dann herausstellen, dass die vermeintlich alkoholunab-
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Kapitel 25 · Sucht und suchtähnliche Erkrankungen
hängige Erkrankung doch in engem Zusammenhang zum Alkoholkonsum steht oder der Verschiebung der Problematik dient: Es kann sein, dass der Betroffene seine Suchterkrankung nicht wahrhaben will und in einen weniger schambesetzten Leidensbereich ausweicht, oder die Abhängigkeit und die Begleiterkrankungen haben die gleichen Wurzeln oder Faktoren der Chronifizierung, die durch angemessene Behandlung beeinflussbar sind, z. B. die Neigung zu Selbstüberforderung oder relative Überforderung durch überlastende Arbeitsplatzbedingungen. Es resultiert daraus, dass auch diejenigen leistungsmindernden Gesundheitsstörungen, die nicht kausal auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind, mit einer bestehenden Alkoholabhängigkeit in Zusammenhang betrachtet und behandelt werden müssen. Dies ist allein schon deshalb angebracht, weil viele körperliche und psychische Erkrankungen, auch wenn sie nicht durch Alkohol hervorgerufen wurden, sich unter abstinenten Bedingungen wesentlich besser behandeln lassen (z. B. Diabetes, Hypertonie, Epilepsie etc.). Im Rahmen einer solchen ganzheitlichen Behandlung kann sich gelegentlich auch eine überraschende Besserung der Prognose der Begleiterkrankungen ergeben. Umgekehrt kann eine erfolgreiche Behandlung von Begleiterkrankungen die Rückfallgefahr vermindern, wenn der Alkohol zur Linderung der Symptome der Begleiterkrankungen eingesetzt wurde.
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z
Medizinische Rehabilitation
Eine medizinische Rehabilitation kann niedrigfrequent ambulant, kombiniert ambulant und stationär, ganztägig ambulant und stationär erfolgen (vgl. . Tab. 25.10). Die stationäre Entwöhnungsbehandlung umfasst ein multimodales Behandlungskonzept, das neben Psychotherapie auch ärztliche, pflegerische, ergotherapeutische und bewegungstherapeutische Behandlungselemente sowie spezielle auf berufliche Reintegration zielende Maßnahmen enthält. Dieser Ansatz gilt auch für die ambulante Rehabilitation, auch wenn dort die zusätzlichen Therapieangebote nicht so umfassend sind. Katamnestische Untersuchungen zeigen, dass abstinenzorientierte Rehabilitationsmaßnahmen bei Alkoholabhängigkeit – je nach Berechnungsmethode – in 40 bis 80 % erfolgreich sind (Abstinenz nach einem Jahr). z
Teilhabe am Arbeitsleben
Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Alkoholabhängigen nicht nur der fortgesetzte Alkoholkonsum zu einer zunehmenden Einschränkung der Partizipation führt, sondern dass umgekehrt die Einschränkung der Partizipation, insbesondere auch der Teilhabe am Arbeitsleben mit einer erhöhten Rückfallgefahr verbunden ist.
. Tab. 25.10 Indikationen für eine ambulante oder stationäre Suchtrehabilitation Für eine ambulante Rehabilitation sprechen: 5 ein guter Gesundheitszustand 5 Abstinenzfähigkeit auch zwischen den Behandlungsterminen 5 eine gute Behandlungsdisziplin 5 ein stabilisierender sozialer Rahmen am Heimatort (Familie, Partnerschaft, Beruf, stabiles Wohnumfeld) Für eine stationäre Rehabilitation sprechen: 5 gravierende Folge- und Begleiterkrankungen 5 geringe Abstinenzerfahrung bzw. vergebliche Abstinenzversuche 5 eine noch mangelhaft ausgeprägte Krankheitseinsicht und Behandlungsdisziplin 5 ein eher nicht abstinenzfördernder sozialer Hintergrund
Auf der anderen Seite kann eine Überforderung des Alkoholabhängigen am Arbeitsplatz ohne Rücksicht auf eingetretene Leistungseinschränkungen auch Anlass zur Rückfälligkeit geben. Es ist im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung daher nicht nur erforderlich, das negative Leistungsvermögen zu dokumentieren, sondern es ist – auch um des Behandlungsziels der Abstinenz willen – wichtig, die verbliebenen Ressourcen zu erfassen und den Rehabilitanden dabei zu unterstützen, diese auf dem Arbeitsmarkt zu nutzen. Wenn qualitative Leistungseinschränkungen die Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit beeinträchtigen, erfolgt daher die Prüfung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Bei schwierigen sozialen Bedingungen, insbesondere längerer Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und fehlendem Rückhalt durch Angehörige, sind zusätzliche Rehabilitationsmaßnahmen (z. B. Adaption) zu erwägen, um Hilfestellung bei der beruflichen und sozialen Reintegration zu geben. z
Erwerbsminderung
Bei fortgesetztem Alkoholkonsum ist mit einer rapiden Verschlimmerung der körperlichen, psychischen und sozialen Folgeschäden zu rechnen. Daraus resultiert eine ungünstige Prognose bezüglich Morbidität, Mortalität und Erwerbsminderung. Andererseits ist die Prognose alkoholbedingter Folgeschäden unter alkoholabstinenten Bedingungen relativ gut. Daher können Leistungseinschränkungen durch alkoholbedingte Folgeerkrankungen in der Regel erst nach sichergestellter Abstinenz von mindestens sechs Monaten beurteilt werden. Auch die wech-
591 25.2 · Krankheitsbilder
selseitige Beeinflussung der Sucht und der Begleiterkrankungen ist zu berücksichtigen. 25.2.2
Drogenabhängigkeit und multipler Substanzgebrauch
Klassifikation und Stadieneinteilung Unter dem Begriff Drogenabhängigkeit werden im deutschen Sprachraum Abhängigkeiten von illegalen Drogen zusammengefasst. Die gesonderte Betrachtung dieser Suchterkrankungen ist in den speziellen Kontextbedingungen (Beschaffungskriminalität, Subkultur), Krankheitsfolgen und Rehabilitationsmethoden begründet. Nach ICD-10 sind folgende Abhängigkeiten von illegalen Drogen zu klassifizieren: F11 (Opioide), F12 (Cannabinoide), F14 (Kokain), F15 (Stimulanzien), F16 (Halluzinogene). Wenn die Abhängigkeit von mehreren Suchtmitteln abzugrenzen und zu identifizieren ist, sollten diese gesondert kodiert werden (z. B. F102 Alkoholabhängigkeit und F112 Opioidabhängigkeit). Die Diagnose F19 (multipler Substanzgebrauch) sollte nur gewählt werden, wenn die Substanzaufnahme chaotisch und wahllos verläuft oder wenn verschiedene Suchtmittel untrennbar vermischt werden.
gen begünstigen ihrerseits den Suchtmittelkonsum und die Rückfälligkeit. Neuerdings rückt der verbreitete Konsum von Cannabis bei Jugendlichen wieder mehr in den Blickpunkt. In den meisten Fällen handelt es sich um vorübergehenden Cannabiskonsum in Zusammenhang mit Problemen der Adoleszenz. Wenn keine psychischen oder sozialen Beeinträchtigungen aus der Kindheit bestehen, wird der Cannabiskonsum meist beim Übergang zum Erwachsenenalter eingestellt. Die Folgeschäden durch Cannabiskonsum werden oft unterschätzt. 10–20 % der Konsumenten werden abhängig. Die weiteren psychischen Folgeschäden bestehen vor allem in der Entwicklung depressiver Störungen, eines amotivationalen Syndroms und kognitiver Störungen. Als Folgeerkrankung oder Komorbidität kommt es teilweise auch zu schizophrenen Psychosen.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die Diagnose wird anhand der Kriterien der ICD-10 gestellt. Zur Objektivierung der Angaben über aktuellen Drogenkonsum können laborchemische Untersuchungen aus Urin-, Blut-, Speichel- oder Haarproben durchgeführt werden. Die typischen Folgeschäden werden durch entsprechende körperliche und psychische Diagnostik erfasst.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
Zum einen sind prämorbide Störungen zu beachten wie z. B. Entwicklungsstörungen, Intelligenzminderung und schwere Persönlichkeitsstörungen, die die Entwicklung der Suchterkrankung begünstigt haben können und die auch bei dauerhafter Abstinenz weiterhin die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen können. Zum anderen ist mit Folgeerkrankungen zu rechnen. Hierzu gehören neben somatischen Folgen wie Infektionskrankheiten (Hepatitis B und C, HIV, Tuberkulose) und Unterernährung vor allem auch psychische Schäden in Form schwerer Persönlichkeitsveränderungen. Letztlich resultiert ein Mischbild aus vorbestehenden psychischen Defiziten und suchtbedingten Persönlichkeitsveränderungen mit der Folge von Hirnleistungsstörungen, insbesondere Störungen der Wahrnehmung, der Konzentration und der Merkfähigkeit, sowie Einstellungs- und Verhaltensauffälligkeiten, Teilnahmslosigkeit und Inaktivität. Gravierend sind die sozialen Folgen mit einer weitgehenden Beeinträchtigung der Partizipation in allen Lebensbereichen bis hin zur Straffälligkeit und Inhaftierung. Diese wiegt umso schwerer, als die jugendlichen Suchtkranken oft nicht über die Ressource der Erfahrung einer befriedigenden Sozialisation verfügen. Diese sozialen Fol-
Grundsätzlich wird in der sozialmedizinischen Beurteilung der Drogenabhängigkeit ähnlich verfahren wie bei Alkohol- und Medikamentenabhängigen. Die Kriterien zur Beurteilung einer Leistungseinschränkung ergeben sich vor allem aus vorbestehenden und begleitenden Erkrankungen sowie aus Folgeschäden.
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z
Medizinische Rehabilitation
Die Diagnose einer Drogenabhängigkeit begründet die Indikation zu einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme. Die Rehabilitation Drogenabhängiger erfolgt ganz überwiegend unter stationären Bedingungen. Die sozialmedizinische Herausforderung der Drogenabhängigkeit besteht im jüngeren Alter der Konsumenten, den ungünstigeren psychosozialen Bedingungen und in der schlechteren Prognose (. Tab. 25.11). z
Teilhabe am Arbeitsleben
Dabei ist die Integration in das Erwerbsleben sehr weitgehend davon abhängig, ob es bereits in der medizinischen Rehabilitation gelingt, die Partizipation zu fördern. Dies geschieht durch Einbeziehung in Arbeits- und Lebensprojekte sowie durch Vermittlung in adaptive Maßnahmen,
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Kapitel 25 · Sucht und suchtähnliche Erkrankungen
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. Tab. 25.11 Unterschiedliche Rahmenbedingungen bei Opiat- und Alkoholabhängigen
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5 Der Anteil der unter 30jährigen Patienten liegt bei Opiatabhängigen über 60 %, bei Alkoholikern unter 10 %.
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5 Der Anteil der Patienten ohne abgeschlossene Ausbildung und der Anteil der Arbeitslosen sind bei Opiatabhängigen doppelt so hoch wie bei Alkoholabhängigen.
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5 Sozial eingebunden in Familie oder Partnerschaft sind mehr als doppelt so viele Alkoholiker im Vergleich zu Opiatabhängigen.
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5 Therapieabbrüche und Rückfälle sind bei Opiatabhängigen doppelt so häufig.
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. Tab. 25.12 Abhängigkeit von Medikamenten nach ICD-10 F11
Psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide Beispiele: Kodein und Kombinationen mit Kodein; zentral wirksame Analgetika, z. B. Pethidin, Pentazocin, Tilidon, Levomethadon, Buprenorphin, Tramadol u. a.
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Psychische und Verhaltensstörungen durch Sedativa und Hypnotika Beispiele: Benzodiazepine (auch als Muskelrelaxantien), Barbiturate, Zopiclon u. a.
F15
Psychische und Verhaltensstörungen durch andere Stimulanzien, einschließlich Koffein Beispiele: Appetitzügler (z. B. Norpseudoephedrin), Psychoanaleptika, Methylphenidat, Kombinationen mit Koffein
Quelle: Jahrbuch Sucht 2009 [6]
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die nach Abschluss der Drogenentwöhnung die Hilfe bei der beruflichen und sozialen Reintegration zum Ziel haben und besonders bei Drogenabhängigen die Prognose entscheidend beeinflussen. z
Erwerbsminderung
Die Schädigung durch Drogenkonsum kann die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben erheblich beeinträchtigen. Drogenabhängige haben jedoch altersbedingt meistens keinen Rentenanspruch bei gesundheitlich bedingter Leistungsminderung.
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. Tab. 25.13 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die Rentenversicherung
25.2.3
Medikamentenabhängigkeit
Klassifikation und Stadieneinteilung Unter dem Begriff Medikamentenabhängigkeit werden die Abhängigkeitserkrankungen von jenen in der ICD-10 aufgeführten Suchtmitteln (. Tab. 25.12) zusammengefasst, die als Arzneimittel verordnet werden. Zu beachten ist, dass zahlreiche relativ harmlose Medikamente wie z. B. Sekretolytika und einfache, peripher wirksame Schmerzmittel wie Paracetamol dadurch zu Medikamenten mit Suchtpotential gemacht werden, dass sie mit Kodein bzw. Koffein in einer Arznei kombiniert werden. Den Hauptanteil der Medikamentenabhängigen bilden die Benzodiazepinabhängigen, gefolgt von den Schmerzmittelabhängigen, während eine Abhängigkeit von stimulierenden Medikamenten in der Suchtkrankenhilfe nur selten diagnostiziert wird. Neuerdings werden an Stelle der Benzodiazepine häufig die sog. »Z-Drugs« (Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon) verordnet, denen ein geringeres Abhängigkeitspotential zugeschrieben wird. Es kann sich jedoch auch bei diesen Substanzen eine Abhängigkeit entwickeln und Anlass für eine Rehabilitationsmaßnahme sein. Mit F11.2 und F15.2 werden nicht nur Medikamentenabhängigkeiten, sondern auch Abhängigkeiten von illega-
Alkohol
Medik. (F132)
Drogen
Mehrfach
Männer
69 %
Unter 1 %
21 %
10 %
Frauen
79 %
2%
13 %
6%
Quelle: Jahrbuch Sucht 2009 [6]
len Drogen der gleichen pharmakochemischen Substanzklassen klassifiziert, da die ICD-10 nicht zwischen legalen und illegalen Suchtmitteln unterscheidet (vgl. . Tab. 25.2) Die missbräuchliche Anwendung von Medikamenten ohne psychotrope Wirkung, z. B. Laxantien, Diuretika, Anabolika und peripher wirksame Schmerzmittel, sowie von Psychopharmaka ohne nachgewiesenes Suchtpotential (z. B. Antidepressiva) wird nach ICD-10 nicht als Abhängigkeit diagnostiziert, sondern als »Missbrauch von Substanzen, die keine Abhängigkeit hervorrufen« (F55). Der Missbrauch dieser Substanzen steht in der Regel in Zusammenhang mit somatoformen Störungen oder Essstörungen und fällt daher in den Bereich psychosomatischer Erkrankungen (s. 7 Kap. 24). Die Prävalenz der Medikamentenabhängigkeit ist ähnlich hoch wie die der Alkoholabhängigkeit (vgl. . Tab. 25.1). Dem entspricht jedoch in keiner Weise der Anteil der Medikamentenabhängigen bei der Inanspruchnahme professioneller Hilfe (. Tab. 25.13). Bilden bei der Alkohol- und Drogenabhängigkeit die Männer den weit überwiegenden Anteil, so sind es bei der Medikamentenabhängigkeit die Frauen. Untersuchungen der Krankenkassen haben gezeigt, dass Benzodiazepine häufig älteren Frauen im Rahmen geriatrischer Versorgung verordnet werden. In die Rehabilitation und die so-
593 25.2 · Krankheitsbilder
. Tab. 25.14 Besonderheiten der Medikamentenabhängigkeit 5 Häufige iatrogene Verursachung durch unsachgemäße ärztliche Verordnung [10]. Die Patienten gehen davon aus, dass die ärztliche Verordnung ihrer Gesundheit dient [12], und tun sich deshalb besonders schwer, die Diagnose einer Suchterkrankung zu akzeptieren. 5 Entwicklung von Medikamentensucht bei Angehörigen der medizinischen Berufe, die gelegentlich – bei leichter Verfügbarkeit – Medikamente wie Alkohol oder andere Drogen einsetzen. 5 Häufige Komorbidität, die zur Verordnung und Einnahme der Suchtmittel veranlasst, insbesondere Schlafstörungen, Angststörungen, Schmerzsyndrome, Persönlichkeitsstörungen, Somatisierungsstörungen. 5 Low-dose-dependency, besonders bei Benzodiazepinabhängigkeit. 5 Reboundeffekte beim Absetzen und besonders lang anhaltende psychovegetative Entzugssyndrome, die ähnliche Beschwerden verursachen wie die komorbide Störung, die zum Suchtmittelkonsum veranlasste.
zialmedizinische Begutachtung gelangen jedoch eher jüngere Frauen mit psychischer Komorbidität (siehe . Tab. 25.14). Viele Medikamentenabhängige werden in der psychosomatischen Rehabilitation behandelt, weil eine psychische Komorbidität besteht bzw. die Abhängigkeitserkrankung nicht erkannt wird.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Intoxikationserscheinungen bzw. Residualeffekte durch die Einnahme lang wirksamer Substanzen werden häufig verkannt. Typischerweise treten Müdigkeit (Hangover), Konzentrationsstörungen, Beeinträchtigungen des Reaktionsvermögens und Bewegungs- bzw. Gleichgewichtsstörungen auf. Mit einer erhöhten Unfallgefahr und Verkehrsgefährdung besonders bei älteren Menschen ist zu rechnen. Diese Störungen können auch bei längerfristigem Konsum im niedrigen Dosisbereich auftreten. Organische Folgeschäden treten vergleichsweise selten auf, häufiger psychische Folgestörungen wie z. B. Persönlichkeitsveränderungen und Hirnleistungsstörungen, die oft schwer von den primären komorbiden Störungen und den Absetzphänomenen zu unterscheiden sind. Ein besonderes Problem der Medikamentenabhängigkeit besteht darin, dass beim Absetzen der Medikamente oft noch über einen Zeitraum von Wochen und Monaten Entzugsphänomene und Reboundeffekte auftreten können, welche die Beschwerden und Störungen, die ursprünglich zur Medikamenteneinnahme führten, wieder auftreten lassen und verstärken. Ferner kann der langzeitige Gebrauch dieser Medikamente auch zu psychischen
Veränderungen und Störungen führen, so dass letztlich ein Zustand schwerer mentaler, affektiver, psychovegetativer und schmerzhafter Beeinträchtigung resultieren kann, bei dem Ursache, Wirkung und Begleitstörungen des Medikamentenkonsums nicht mehr sicher zu differenzieren sind. Im Vergleich zur Alkohol- und Drogenabhängigkeit hat die Medikamentenabhängigkeit in sehr viel geringerem Maße eine Einschränkung der Partizipation zur Folge. Zum einen fallen die Betroffenen selten »aus der Rolle« und werden daher seltener von der Umwelt als suchtkrank erkannt. Zum anderen ergibt sich aus der Alters- und Geschlechtsverteilung, dass für viele Medikamentenabhängige sich die Frage der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben nicht mehr stellt.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die Diagnose wird anhand der ICD-10-Kriterien (vgl. . Tab. 25.4) gestellt. Jede über vier Wochen hinausgehende Einnahme von Medikamenten mit Suchtpotential muss an die Entwicklung einer Abhängigkeit denken lassen. Eine Toleranzentwicklung mit eigenmächtiger Dosissteigerung ist ein besonders deutliches Zeichen der Abhängigkeit, jedoch findet sich gerade bei den Benzodiazepinen häufiger eine Abhängigkeit im Niedrigdosisbereich (»low-dose-dependency«), die ebenfalls zu erheblichen Absetzphänomenen und Folgestörungen führen kann. Gelegentlich kann bereits die Anamnese Hinweise auf einen zweckentfremdeten Einsatz der Medikamente ergeben, wenn zum Beispiel Schmerzmittel nicht nur bei Schmerzen, sondern auch als Rauschmittel, zur Verstärkung von Alkoholeffekten oder zur Entspannung in Konfliktsituationen und zur Leistungssteigerung eingesetzt werden. Für die Screening-Diagnostik von Medikamentenabhängigkeit stehen Fragebogeninstrumente zur Verfügung: Severity of Dependence Scale (SDS) mit 5 Fragen [11] und der Kurzfragebogen zum Medikamentenmissbrauch (KMM) mit 11 Fragen [13]. Aufgrund der überwiegend ärztlichen Verordnung, der häufigen Niedrigdosisabhängigkeit und der selteneren organischen Folgeschäden ist oft schwer zwischen Missbrauch bzw. schädlichem Konsum und Abhängigkeit nach ICD-10 zu unterscheiden. Zur speziellen Diagnostik bei Verdacht auf Medikamentenabhängigkeit vgl. . Tab. 25.15. Vorbestehende andere Suchtmittelprobleme, insbesondere Alkohol- und Drogenabhängigkeit, prädisponieren in besonderer Weise zur Entwicklung einer Medikamentenabhängigkeit, so dass bei diesen Personen die Verordnung von Medikamenten mit Suchtpotential in der Regel kontraindiziert ist und bei längerfristiger Einnahme dieser Medikamente von der Entwicklung einer mehrfa-
25
594
Kapitel 25 · Sucht und suchtähnliche Erkrankungen
25
. Tab. 25.15 Spezielle Diagnostik bei Verdacht auf Medikamentenabhängigkeit
25
5 Anamnese des Medikamentenkonsums: Suchtpotential der Medikamente, Dosis und Dauer der Einnahme, Dosissteigerungen (nicht notwendig)
25
5 Nachweis durch Drogenscreening 5 Intoxikationserscheinungen bzw. Residualeffekte
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5 Absetzphänomene bzw. Reboundeffekte 5 Begleiterkrankungen, die zur Verordnung von Suchtmitteln veranlassen können, insbesondere Schlafstörungen, Schmerzsyndrome, Somatisierungsstörungen, Angst- und andere psychische Störungen
25 25 25
5 Zweckentfremdeter Einsatz der Medikamente als Rauschmittel, Aufputschmittel, Beruhigungsmittel oder zur Konfliktharmonisierung
25
5 Psychische Störungen als Folge des langzeitigen Medikamentenkonsums
25
5 Andere Suchtmittelprobleme, insbesondere Alkohol und Drogen
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5 Besondere Verfügbarkeit der Medikamente für medizinische Berufe
25 25 25 25 25 25 25 25 25 25 25 25 25
chen Abhängigkeit auszugehen ist. Diese Suchtkranken setzen Medikamente häufig zur Selbstbehandlung von Entzugsbeschwerden und Befindlichkeitsstörungen ein, wenn sie vermeiden wollen, durch Suchtmittelkonsum leistungsunfähig zu werden und unangenehm aufzufallen.
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien Entzugssyndrome sind bei Medikamentenabhängigkeit für den Betroffenen besonders quälend und lang anhaltend. Diese Beschwerden bessern sich häufig erst im Rahmen einer langzeitigen Rehabilitationsmaßnahme. Im Unterschied zu Alkohol- und Drogenabhängigen verhalten sich Medikamentenabhängige oft lange Zeit unauffällig und erfüllen formal ihre Leistungsanforderungen. Sie entwickeln selten suchtmittelbedingte organische Folgeschäden. Dennoch ist längerfristig mit schweren psychischen Folgeschäden und der Gefahr einer Leistungsminderung im Erwerbsleben zu rechnen, wenn nicht Suchtmittelabstinenz erreicht wird.
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z
Medizinische Rehabilitation
Die Feststellung einer Medikamentenabhängigkeit begründet die Indikation einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme. Aufgrund der häufigen Komorbidität erfolgt diese überwiegend stationär. Die Komplexität des Krankheitsbildes erfordert die interdisziplinäre Kooperation von Psychiatern, Organmedi-
zinern, Psychotherapeuten und gelegentlich Schmerztherapeuten. Dabei kann sich in der psychotherapeutischen und sozialtherapeutischen Behandlung erweisen, dass das Suchtmittel gar nicht so sehr zur Behandlung einer komorbiden Störung diente, sondern zur Linderung verleugneter psychosozialer Probleme. Bei Einnahme von medikamentösen Suchtmitteln zur Behandlung von komorbiden Störungen ist die Prognose hinsichtlich der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben wesentlich von einer suffizienten alternativen suchtmittelfreien Behandlung der komorbiden Störungen abhängig. z
Teilhabe am Arbeitsleben
Bei Medikamentenabhängigen besteht gelegentlich aufgrund von besonderen Arbeitsbedingungen eine erhöhte Rückfallgefahr, beispielsweise bei Angehörigen medizinischer Berufe, die am Arbeitsplatz ständig mit den von ihnen bevorzugten Suchtmitteln zu tun haben, oder Personen, die durch Schichtdienst oder angstbesetzte Tätigkeiten einer besonderen psychovegetativen Belastung ausgesetzt sind. In diesen Fällen ist die Indikation von Hilfen bzw. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu prüfen. Dabei ist keineswegs immer ein Berufswechsel erforderlich. z
Erwerbsminderung
Auch bei längerfristiger Suchtmittelfreiheit resultiert oft ein Folgezustand mit verminderter Stresstoleranz, der zur Verminderung der Rückfallgefahr eine Anpassung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsanforderungen erforderlich macht. Zur Feststellung qualitativer und quantitativer Leistungseinschränkungen ist eine neurologische und psychiatrische Diagnostik sowie eine eingehende testpsychologische Untersuchung nach mehrmonatiger Abstinenz erforderlich.
25.2.4
Nikotinabhängigkeit
Klassifikation und Stadieneinteilung Rauchen ist in den Industriestaaten das größte einzelne vermeidbare Gesundheitsrisiko [1]. Nicht alle Tabakkonsumenten sind abhängige Raucher. Legt man die Kriterien der ICD-10 zugrunde, wird bei 70–80 % der Raucher eine Tabakabhängigkeit diagnostiziert [1]. Etwa 17 % der Raucher sind stark abhängig und benötigen für eine Entwöhnung im Allgemeinen professionelle Hilfe [1]. Entscheidender Wirkstoff für die Entwicklung der Abhängigkeit ist das Nikotin.
595 25.2 · Krankheitsbilder
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Der Tabakkonsum selbst führt auch bei ausgeprägter Abhängigkeit nicht zu einer Leistungsminderung, sondern wirkt zumindest bei mentalen Anforderungen in niedriger Dosis eher anregend und leistungssteigernd, in höherer Dosis beruhigend und entspannend. Die enorme Bedeutung des Tabakkonsums für die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ergibt sich aus den körperlichen Folgeschäden, vor allem Herz-Kreislauferkrankungen (Arteriosklerose, arterielle Verschlusskrankheit, koronare Herzkrankheit, zerebrale Insulte), Atemwegserkrankungen und Krebserkrankungen. Ihre Begutachtung ist in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches dargestellt.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Die Diagnose wird entsprechend den Kriterien der ICD10 gestellt. Zur Beurteilung des Schweregrades der Abhängigkeit eignet sich der Fagerstrøm-Test mit sechs Fragen [2].
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z
Medizinische Rehabilitation, Teilhabe am Erwerbsleben und Erwerbsminderung
Die Tabakabhängigkeit selbst gilt nicht als Indikation für Leistungen zur Teilhabe und begründet keine Leistungsminderung im Erwerbsleben. Die Tabakabhängigkeit bzw. der schädliche Tabakkonsum haben über die verursachten Folgeerkrankungen eine sozialmedizinische Bedeutung, die oftmals immer noch unterschätzt wird. Immerhin gehören Angebote von Hilfen zur Tabakentwöhnung heutzutage zum Standard der stationären Rehabilitation. Zur Behandlung der Tabakabhängigkeit existieren anerkannte Leitlinien [1, 2]. Bewährt hat sich vor allem ein standardisiertes verhaltenstherapeutisches Entwöhnungsprogramm, wobei eine zusätzliche Behandlung des Nikotinentzugs mit medikamentöser Nikotinsubstitution oder eine begleitende Behandlung mit bestimmten Antidepressiva (vor allem Bupropion) die Erfolgsaussichten der Tabakentwöhnung erhöhen. Auch während einer Entwöhnungsbehandlung von anderen Suchtmitteln kann eine Tabakentwöhnung erfolgreich durchgeführt werden und verbessert sogar deren Prognose.
25.2.5
Pathologisches Glücksspiel und pathologischer PC-Gebrauch
Klassifikation und Stadieneinteilung Pathologisches Glücksspiel und pathologischer PC-Gebrauch weisen Ähnlichkeiten mit Suchtkrankheiten auf, gelten aber als eigenständige Krankheitsbilder. In der ICD-10 werden sie von stoffgebundenen Abhängigkeiten abgegrenzt. F63.0 klassifiziert das pathologische (Glücks) spiel als abnorme Gewohnheit beziehungsweise Störung der Impulskontrolle. Pathologischer PC-Gebrauch ist in der ICD noch nicht explizit aufgeführt. Er wird zum Teil unter der gleichen Rubrik (F63.9) kodiert, z. T. auch als Persönlichkeitsstörung (F68.8) von suchtähnlichen Krankheiten abgegrenzt. Durch den seit 01.01.2008 geltenden Glücksspielstaatsvertrag werden zwar die Glücksspielanbieter zu einem verstärkten Schutz der Glücksspieler verpflichtet; die gewerblichen Geldspielautomaten, die bei 80 % der Behandlungsfälle eine vorrangige Rolle spielen, fallen jedoch nicht unter das Glücksspielmonopol. Es sind vorwiegend Männer mit einem Altersschwerpunkt um 30 Jahre betroffen. Die Prävalenz für Deutschland wird auf 0,5 %, d.h. mehr als 250 000 Personen geschätzt. Durch die Verbreitung und Weiterentwicklung neuer Techniken und Medien ist mit einer weiteren Zunahme zu rechnen.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Typisch für die Glücksspielsucht sind eine hohe Verschuldung, erhöhte Suizidtendenz und häufige Delinquenz. Nicht selten besteht eine Komorbidität mit anderen Störungen, insbesondere Substanzmittelabhängigkeit, depressive Störungen und Persönlichkeitsstörungen. Bei Letzteren dominieren narzisstische und depressiv-selbstunsichere Störungen. Beim pathologischen PC-Gebrauch ist zumeist das Zeitmanagement defizitär. Dabei treten negative körperliche (z. B. gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus, Rückenbeschwerden), psychische (z. B. Essstörungen, depressive Störungen, soziale Ängstlichkeit) und soziale (Nicht-Einhalten von Pausen- und Arbeitszeiten, Arbeitsplatzverlust, völliger sozialer Rückzug) Folgen auf. Es besteht eine hohe Komorbidität mit depressiven und Persönlichkeitsstörungen sowie mit stoffgebundenen Suchterkrankungen, insbesondere Alkohol-, Tabak- und Cannabisabhängigkeit.
Spezielle Diagnostik, Sachaufklärung Zur Screening-Diagnostik der Glücksspielsucht dient der CCCC-Questionnaire mit 4 Fragen: 4 Ich kann mit dem Glücksspielen erst aufhören, wenn ich kein Geld mehr habe!
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25 25 25 25 25 25 25
Kapitel 25 · Sucht und suchtähnliche Erkrankungen
4 Verlieren ist eine persönliche Niederlage, die ich wettmachen möchte! 4 Ich denke oft an das Glücksspielen und verspüre einen inneren Spieldrang! 4 Zur Geldbeschaffung habe ich schon andere Menschen belogen und betrogen! Zum »Kurzfragebogen zum Glücksspielverhalten«(KFG) mit 20 Fragen siehe Petry [14]. Als Hinweis auf pathologischen PC-Gebrauch gilt eine schul- oder berufsfremde PC-Aktivität von über 30 Stunden/Woche, die Teil des überdauernden Identitätserlebens in Verbindung mit Immersionserleben geworden ist [15]. Die erweiterte Diagnostik erstreckt sich auf die Erfassung der oben genannten körperlichen, psychischen und sozialen Folge- und Begleitstörungen.
25
Krankheitsspezifische Begutachtungskriterien, Zielkriterien
25 25
Schweregrad der Störung, Behandlungs- und Rehabilitationsindikation sowie sozialmedizinische Beurteilungskriterien ergeben sich vor allem aus der Diagnostik der körperlichen, psychischen sozialen Folgeschäden.
25
Spezifische sozialmedizinische Beurteilung z
25
Medizinische Rehabilitation
25
Die Diagnose eines pathologischen Glücksspiels begründet in der Regel eine Rehabilitationsleistung. Entsprechend den Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger für die medizinische Rehabilitation bei pathologischem Glücksspielen (2001) erfolgt sie durch die Rentenversicherung, wenn die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben erheblich gefährdet oder bereits gemindert ist und eine positive Erwerbsprognose besteht. Die Krankenkasse ist zuständig, wenn es gilt, drohende Behinderung und Pflegebedürftigkeit abzuwenden. Eine Trennung in »Entzugsbehandlung« und »Entwöhnung«, wie sie der Sucht-Vereinbarung zugrunde liegt, erfolgt nicht. Die Rehabilitation erfolgt in einer Suchtklinik, wenn zusätzlich eine substanzbezogene Sucht vorliegt oder die Psychopathologie eher suchtähnliche Züge aufweist. Sie erfolgt in einer psychosomatischen Klinik, wenn keine substanzbezogene Sucht besteht und eine psychosomatische Komorbidität festzustellen ist. Bei pathologischem PC-Gebrauch wird analog verfahren.
25
z
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25 25
Teilhabe am Arbeitsleben
Sowohl pathologisches Glücksspiel wie auch pathologischer PC-Gebrauch können die Teilhabe am Arbeitsleben erheblich gefährden und einschränken. Es kann zu Lohnpfändungen bei Verschuldung, zu Nichteinhaltung von Arbeitszeiten, zu verminderter Arbeitsleistung bei
körperlichen und psychischen Folge- und Begleiterkrankungen und zum Verlust des Arbeitsplatzes kommen. Dementsprechend sind oftmals Hilfen zur Wiedereingliederung angezeigt. Beim pathologischen PC-Gebrauch wird die verantwortungsvolle Nutzung über ein Ampel-Modell (Aufteilung in gesperrte, problematische und unproblematische Seiten) geregelt, eine absolute PC-Abstinenz ist nicht zielführend. z
Erwerbsminderung
Die Störung selbst bedingt in der Regel keine dauerhafte quantitative Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Schon aufgrund des meist jugendlichen Alters der Patienten ist von der Möglichkeit der Wiederherstellung der quantitativen Leistungsfähigkeit auszugehen, zumal sich die Teilhabe am Arbeitsleben günstig auf die Prognose der Störung auswirkt. Qualitative Leistungseinschränkungen beinhalten Tätigkeiten und Anforderungen, die eine erhöhte Rückfallgefahr bedingen.
Literatur 1
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (Hrsg.): Tabakabhängigkeit, Empfehlungen zur Therapie von Tabakabhängigkeit. AVP-Sonderheft Therapieempfehlungen. Düsseldorf: nexus GmbH, 2001 2 Batra A et al: Leitlinie Tabakentwöhnung, enthalten in Schmidt [16] 3 Bundesanstalt für Straßenwesen (Hrsg.): BegutachtungsLeitlinien zur Kraftfahrereignung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heft M 115. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW, Verlag für neue Wissenschaft GmbH, 2010 4 Delbrück H, Haupt E (Hrsg.): Rehabilitationsmedizin. München; Wien; Baltimore: Urban & Schwarzenberg, 1996 5 Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (Hrsg.): Alkoholabhängigkeit Suchtmedizinische Reihe Band 1, 2003 6 Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (Hrsg.): Jahrbuch Sucht 2009. Geesthacht: Neuland, 2009 7 Deutsche Rentenversicherung: Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung – Sozialmedizinische Beurteilung bei Abhängigkeitserkrankungen. Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.). Berlin, April 2010. www.deutsche-rentenversicherung.de 8 Dilling H et al (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Bern: Verlag Huber 6. Aufl. 2008 9 Engel GL: The need for a new medical model: A challenge for biomedicine. Science 196: 224–233, 1977 10 Feuerlein W, Küfner H, Ringer C, Antons K: Münchner Alkoholismustest MALT, Manual. Weinheim: Beltz, 1979 11 Gossop M et al: The Severity of Dependence Scale (SDS): psychometric properties of the SDS in English and Australian samples of heroin, cocaine and amphetamine users. Addiction, 90, 607–614, 1995 12 Jahnsen K, Glaeske G (Hrsg.): GEK-Arzneimittel-Report 2002. Sankt Augustin: Asgard-Verlag, 2002
597 Literatur
13 Kraus L et al: Epidemiologischer Suchtsurvey 2006, Repräsentativerhebung zum Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen in Bayern, IFT-Berichte Bd. 162, München, 2008 14 Petry J: Glücksspielsucht. Göttingen: Hogrefe-Verlag, 2003 15 Petry J: Im Spiel versunken und verloren. Göttingen: Hogrefe, 2009 16 Schmidt LG et al (Hrsg.): Evidenzbasierte Suchtmedizin. Köln: Deutscher Ärzteverlag, 2006 17 Soyka M, Küfner H: Alkoholismus – Missbrauch und Abhängigkeit. Stuttgart; New York: Georg Thieme Verlag, 2008
25
599
Schmerzsyndrome Bernhard Widder
26.1
Sozialmedizinische Bedeutung – 600
26.1.1 26.1.2 26.1.3
Begutachtung von Schmerzen – 600 Auswahl von Gutachtern – 600 Begutachtung bei Migrationshintergrund – 600
26.2
Nosologie – 600
26.2.1 26.2.2 26.2.3 26.2.4
Definition von Schmerzsyndromen – 600 Nozizeptiv-neuropathische Schmerzsyndrome – 602 Primär psychisch verursachte Schmerzsyndrome – 603 Schmerzsyndrome bei somatisch-psychischer Komorbidität – 603
26.3
Diagnostik – 604
26.3.1 26.3.2 26.3.3 26.3.4 26.3.5 26.3.6 26.3.7
Anamnese – 604 Fragebogen und Skalen – 606 Klinische Befunde – 608 Apparative Verfahren – 609 Medikamentenmonitoring – 609 Beschwerdenvalidierungstests – 610 Diagnosen – 610
26.4
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF – 610
26.5
Verlauf und Prognose – 610
26.5.1 26.5.2
Einflussfaktoren der Chronifizierung – 610 Erfassung des Chronifizierungsgrades – 610
26.6
Begutachtungskriterien – 612
26.6.1 26.6.2 26.6.3
»Konsistenzprüfung« der geklagten Beeinträchtigungen – 612 Prüfung der »willentlichen Steuerbarkeit« – 613 Gutachterliche Bewertung – 613
26.7
Sozialmedizinische Beurteilung – 613
26.7.1 26.7.2 26.7.3
Medizinische Rehabilitation – 613 Teilhabe am Arbeitsleben – 614 Erwerbsminderung – 614
26.8
Spezielle Krankheitsbilder – 615 Literatur – 616
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
26
26 26 26 26 26 26
600
Kapitel 26 · Schmerzsyndrome
26.1
Sozialmedizinische Bedeutung
Mit Schmerzen einhergehende Beschwerdebilder sind in Deutschland die häufigste Ursache für Rehabilitationsmaßnahmen und Berentungen wegen Erwerbsminderung. Gleichzeitig stellen sie auch die strittigsten Fälle dar. Bei rund zwei Dritteln der vor einem Sozialgericht zur Verhandlung kommenden Fälle des neurologisch-psychiatrischen Fachgebietes stehen Schmerzen im Vordergrund der Beschwerden [53], vergleichbare Verhältnisse finden sich im chirurgisch-orthopädischen Fachgebiet [29].
26.1.1
sprechende Kompetenz verfügt, dem Auftraggeber die Heranziehung eines psychiatrisch bzw. psychosomatisch weitergebildeten Facharztes zur Begutachtung vorschlagen. Dieser Gutachter soll zusätzlich über den aktuellen evidenzbasierten Wissensstand der Krankheitsbilder mit Leitsymptom »chronischer Schmerz« verfügen. Im Rahmen dieser Begutachtung können aufgrund ihrer speziellen Kompetenz ggf. auch Psychologen und psychologische Psychotherapeuten mit der Erstellung eines weiteren bzw. ergänzenden Gutachtens beauftragt werden (s. auch 7 Kap. 26.3.6).
Begutachtung von Schmerzen 26.1.3
26 26 26 26 26 26 26 26 26 26 26 26 26 26 26 26 26
Für die Begutachtung von Schmerzen liegen in Deutschland umfangreiche Empfehlungen vor, die von einer interdisziplinären Expertenkommission verschiedener medizinischer Fachgesellschaften erarbeitet und publiziert wurden. Sie finden sich als S2-Leitlinie 030/102 im Online Leitlinien-Register der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF). Die letzte Überarbeitung stammt aus dem Jahr 2007 [54]. Die folgenden Angaben beruhen in ihren wesentlichen Aspekten auf diesen Leitlinien.
26.1.2
Auswahl von Gutachtern
Nach Einschätzung der o. g. Expertenkommission stellt die Begutachtung von Schmerzen in der Regel eine primär ärztliche Aufgabe von interdisziplinärem Charakter dar, da bei deren diagnostischer Einschätzung sowohl körperliche als auch psychische Ursachen differenziert werden müssen. Der Begriff »schmerztherapeutisches Gutachten« sollte vermieden werden, da einerseits therapeutische Anliegen mit den gutachterlichen Aufgaben nicht in Einklang zu bringen sind und andererseits die Auswahl von Gutachtern sich nicht nur am Vorhandensein der ZusatzWeiterbildung »Spezielle Schmerztherapie« orientiert. Aus Gründen der Effizienz wird ein gestuftes Vorgehen empfohlen: 1. In einem ersten Schritt sollte durch geeignete Gutachter der Anteil der durch Schädigungen des Nervensystems und anderer Gewebearten erklärbaren Schmerzen beurteilt werden. Diese Gutachter sollten über Grundkenntnisse psychisch verursachter Schmerzen im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung verfügen und aufgrund dieser Kenntnis Aussagen machen, ob Anhaltspunkte für eine psychische Komorbidität vorliegen. 2. Ergeben sich Hinweise auf eine solche Komorbidität, sollte der Gutachter, soweit er nicht selbst über ent-
Begutachtung bei Migrationshintergrund
Das Verständnis von Schmerzen, ihrer Verursachung und der Umgang damit sind stark kulturspezifisch geprägt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Krankheit und Schmerz in anderen Kulturen teilweise in viel stärkerem Umfang als in Mitteleuropa ganzheitlich, zum Teil auch als von Gott kommende Strafe, empfunden werden, was erheblichen Einfluss auf die Bereitschaft zur »Willensanspannung« besitzt. Damit verknüpft ist in manchen Kulturkreisen nicht nur eine gewisse »Schicksalsergebenheit«, sondern auch eine passive Erwartungshaltung gegenüber dem Arzt. Auch werden Depressionen beispielsweise in bestimmten südosteuropäischen Kulturkreisen meistens als primär körperliche Störung erlebt, und der Betroffene verneint entschieden jede seelische Ursache [46, 48]. Letztlich spielt auch eine Rolle, dass Gastarbeiter der ersten Generation (Gleiches gilt für Aussiedler aus den östlichen Ländern) vor ihrer Erkrankung oft besonders leistungsbereit waren, einen hohen Arbeitseifer zeigten und ihre ganze körperliche und seelische Kraft für die soziale Besserstellung der nachfolgenden Generation bzw. der im Ursprungsland verbliebenen Angehörigen opferten. Es braucht dann relativ wenig, um dieses labile psychische Gleichgewicht zum Kippen zu bringen. So genügt häufig bereits ein Bagatelltrauma, um den Betroffenen schlagartig bewusst zu machen, dass sie jahrelang »über ihre Verhältnisse« gearbeitet und sich dabei verausgabt haben.
26.2
Nosologie
26.2.1
Definition von Schmerzsyndromen
Gemäß Internationaler Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) wird Schmerzempfindung als »unangenehmes Gefühl, das mögliche
601 26.2 · Nosologie
. Abb. 26.1 Einteilung von Schmerzen aus gutachterlicher Sicht
Schmerz
Nozizeptivneuropathischer Schmerz bei Schädigung des Nervensystems oder anderer Gewebearten
Nozizeptivneuropathischer Schmerz mit psychischer Komorbidität
Schmerz als (Leit-) Symptom einer psychischen Erkrankung
z Übliche Schmerzen Begleitsymptome einer Gewebeschädigung (z. B. Nervenläsion) z Außergewöhnliche Schmerzen z.B. CRPS, Thalamusschmerz, Stumpf- und Phantomschmerz
z. B. Lumboischialgie mit Nervenwurzelkompression, verschlimmert durch Komorbidität mit z. B. inadäquater Krankheitsbewältigung, Angst, depressiver Störung oder Suchterkrankung
Schmerz bei primär psychischen Erkrankungen (z. B. depressive Störungen, Angststörungen, Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen, im Einzelfall auch psychotische Störungen)
oder tatsächliche Schäden einer Körperstruktur anzeigt«, beschrieben. Von einem »chronischen Schmerzsyndrom« ist zu sprechen, wenn 1. Schmerz das Leitsymptom geklagter Beschwerden ist und 2. dieser Schmerz über einen längeren Zeitraum anhaltend ist. Zur Frage, ab wann ein »chronischer Schmerz« vorliegt, wird in der wissenschaftlichen Literatur keine klare Feststellung getroffen. Die International Association for the Study of Pain [26] geht von einer Chronifizierung aus, wenn der Schmerz über die normale Heilungszeit einer Erkrankung bzw. Schädigung hinaus besteht (»pain which has persisted beyond normal tissue healing time«), wobei die »normale« Heilungszeit etwas willkürlich mit 3 Monaten angenommen wird, andere Autoren nennen eine Schmerzdauer von 6 Monaten [60] als Kriterium. In der Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie für die Versorgung chronisch Schmerzkranker im Rahmen der vertragsärztlichen Leistungserbringung (gem. § 135 Abs. 2 SGB V) wird der Zeitbegriff ganz verlassen und chronischer Schmerz definiert als »Schmerz, der seine Warnund Leitfunktion verloren und eigenständigen Krankheitswert erlangt hat«. In der Mehrzahl der Fälle liegt bei Begutachtungen für die gesetzliche Rentenversicherung im Rahmen von Anträgen auf Rehabilitation oder Erwerbsminderungsrente bereits eine mehrmonatige Dauer der Beschwerden vor, so dass im Falle von Begutachtungen wegen Schmerzen meist von einem »chronischen Schmerzsyndrom« auszugehen ist. Mit Schmerzen einher gehende Krankheitsbilder finden sich in der ICD-10-Klassifikation an verschiedenen
Stellen. Diese Einteilung enthält allerdings zwei Schwachpunkte: 4 Die aufgeführten Diagnosen geben keine Informationen über das Ausmaß bestehender Funktionsstörungen, was in der gutachtlichen Situation von wesentlicher Bedeutung ist. Hierzu sind ergänzend die Kategorien der ICF-Klassifikation einzusetzen (s. 7 Kap. 26.4). 4 Die meisten ICD-10-Diagnosen beinhalten eine eindimensionale Klassifikation, wonach Schmerzen entweder als somatisch oder psychisch verursacht eingeteilt werden. Eine derartige Sichtweise ist letztlich jedoch weder für therapeutische noch für gutachtliche Belange angemessen. Mit der Einführung einer neuen Diagnose »Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren« (F45.41) in die ICD-10-GM 2009 wurde versucht, hier Abhilfe zu schaffen – auch im Hinblick auf eine Vergütung der frühzeitig erforderlichen multimodalen Behandlung einschließlich psychotherapeutischer Interventionen (s. 7 Kap. 26.2.4). Für Zwecke der Begutachtung haben Widder et al. [55] eine vereinfachte Klassifikation vorgeschlagen, die auch in die bereits genannten AWMF-Leitlinien Eingang gefunden hat (siehe . Abb. 26.1). Hierbei werden zwei Grundkategorien einer nozizeptiv-neuropathisch durch Gewebeschädigung bedingten und einer psychisch bedingten Schmerzsymptomatik sowie eine »Mischkategorie« mit Schmerzen bei somatisch-psychischer Komorbidität unterschieden. Bei Berücksichtigung dieser Einteilung ergeben sich in Bezug auf die ICD-10 die in . Tab. 26.1 dargestellten Konstellationen.
26
602
26
Kapitel 26 · Schmerzsyndrome
. Tab. 26.1 Zuordnung der häufigsten Schmerzsyndrome im ICD-10-System (nach Widder et al. [54]) Beschreibung
26
ICD-Diagnose
Nozizeptiv-neuropathischer Schmerz bei Gewebeschädigung
26
Üblicher Schmerz
ICD-Ziffer der Läsion
Außergewöhnlicher Schmerz
ICD-Ziffer der Läsion sowie ggf. G56.4 (Kausalgie)
26
Nozizeptiv-neuropathischer Schmerz mit psychischer Komorbidität
26 26 26 26 26 26 26 26
Maladaptives Verhalten (»Fehlverarbeitung«) bei Gewebeschädigung
F45.4 (Anhaltende Schmerzstörung, s. 7 Kap. 26.2.4)
Reaktive Depression in Folge einer Gewebeschädigung
ICD-Ziffer der Läsion und F43.2 (Anpassungsstörung), bei längerem Verlauf ggf. auch F34.1 (Dysthymie) oder F33 (Depressive Störung)
Gewebeschädigung bei psychischer Vorerkrankung
ICD-Ziffern der Läsion und der psychischen Vorerkrankung im Sinne der »Verschlimmerung«
Muskuläre Verspannungen aufgrund psychisch bedingter Stressreaktion
F54 (Funktionelles Schmerzsyndrom)
Schmerz als (Leit-)Symptom einer psychischen Erkrankung Schmerz im Rahmen einer depressiven Störung
F33 (Depressive Störung)
Schmerz im Rahmen einer psychoreaktiven Störung
Je nach Ursache und Ausprägung F43.1 (Posttraumatische Belastungsstörung) oder F43.2 (Anpassungsstörung)
Schmerz im Rahmen einer Angst- oder Panikstörung
F41 (Andere Angststörungen)
Schmerz als Ausdruck einer Konversionsreaktion
F44.6 (Dissoziative Empfindungsstörung), meist in gemischter Form mit anderen Symptomen (F44.7)
Schmerz im Rahmen einer Psychose
ICD-Ziffer der psychotischen Störung
Schmerz in Verbindung mit psychotropen Substanzen
Vor allem F1_.1 (Schädlicher Gebrauch) oder F1_.2 (Abhängigkeitssyndrom)
26 26 26 26 26 26 26 26 26 26 26
26.2.2
Nozizeptiv-neuropathische Schmerzsyndrome
auch dann andauern, wenn die Schädigung ausgeheilt ist, und dann z. B. zu einem »komplexen regionalen Schmerzsyndrom« (s. 7 Kap. 26.8.2) führen.
Klassifikation nach der Ursache
Klassifikation anhand der Funktionsstörung
Durch eine Schädigung des Nervensystems oder anderer Gewebearten begründete Schmerzsyndrome sind in zwei Gruppen mit jeweils typischer Ursache und typischem klinischen Bild zu unterteilen (siehe . Tab. 26.2): Nozizeptiver Schmerz aufgrund einer Reizung oder Schädigung der Nozizeptoren in Haut und Körpergewebe, Muskeln und Gelenken sowie in Eingeweiden. Periphere und zentrale neuronale Strukturen bleiben dabei intakt, werden bei längerer Dauer jedoch – überwiegend reversibel – sensibilisiert. Verschwindet die Schädigung, ist im Allgemeinen mit einer Restitution zu rechnen, sofern nicht psychische Einflussfaktoren für eine Aufrechterhaltung der Symptomatik sorgen. Neuropathischer Schmerz aufgrund einer mechanischen, metabolischen, toxischen oder entzündlichen Schädigung peripherer Nerven oder zentralvenöser Strukturen. Bedingt durch Degeneration schmerzhemmender Systeme können neuropathisch verursachte Schmerzen
In der Gutachtenliteratur des Sozialrechts werden aufgrund der nachweisbaren Funktionsstörungen zwei Untergruppen von Schmerzen definiert: »Übliche Schmerzen« als regelhaftes Begleitsymptom einer Nerven- oder sonstigen Gewebeschädigung. In der Begutachtungspraxis spielen diese nur eine untergeordnete Rolle. »Außergewöhnliche Schmerzen« stellen demgegenüber vor allem hohe Anforderungen an die Qualität der diagnostischen Abklärung, da sie ansonsten falsch eingeschätzt werden. Hierzu gehören z. B. Schmerzen nach Schädigung bestimmter Hirnstrukturen (»Thalamusschmerz«), bei Neuromen sowie nach Amputationen (»Phantomschmerz«), insbesondere jedoch auch das sog. »komplexe regionale Schmerzsyndrom« (CRPS).
603 26.2 · Nosologie
. Tab. 26.2 Charakteristika nozizeptiv und neuropathisch verursachter Schmerzsyndrome Ursache
Schmerzcharakter
Lokalisation
Besonderheiten
Nozizeptiv verursachte Schmerzsyndrome Schädigung in Knochen oder Weichteilen
Dumpf, drückend, pochend, bohrend
Gut lokalisierbar
Dauerschmerz, oft mit bewegungsabhängigem Durchbohrschmerz
Schädigung in Eingeweiden
Hell, spitz, schneidend, oft kolikartig
Schlecht lokalisierbar
Vegetative Begleitsymptome
Ischämie
Hell, pochend, intensiv
Extremitäten, auch viszeral möglich
Belastungsabhängig bzw. nach Nahrungsaufnahme
Neuropathisch verursachte Schmerzsyndrome Nervenschädigung
Einschießend, elektrisierend, brennend
Im Versorgungsgebiet der betroffenen Nervenstruktur
Mit neurologischen Ausfällen einhergehend, Dys-/Parästhesie, Hyperalgesie/-pathie, triggerbar
Deafferenzierungs-/ Phantomschmerz
Wie oben
Im Amputationsbereich (Organ/Extremität)
Häufig »freies« Intervall nach dem Trauma
Sympathisch unterhaltener Schmerz/ CRPS
Heiß, hell, brennend, lageabhängig
Neigung zur Ausbreitung
Mit komplexer Symptomatik einhergehend
26.2.3
Primär psychisch verursachte Schmerzsyndrome
Körperlich völlig unerklärbare Schmerzen stellen in der Gutachtensituation die Ausnahme dar. In der Regel besteht ein körperlich erklärbarer »Kern«, der das Ausmaß der geklagten Beschwerden jedoch nicht hinreichend erklärt (s. 7 Kap. 26.2.4). Darüber hinaus kann grundsätzlich jede psychische Störung mit Schmerzsensationen verbunden sein. Im Bereich depressiver Störungen wird dies durch die Begriffe der »larvierten« oder »somatisierten Depression« ausgedrückt. Aber auch Angst- und Panikstörungen sowie psychoreaktive Störungen wie posttraumatische Belastungsstörungen und Anpassungsstörungen gehen nicht selten mit körperlich nicht (hinreichend) erklärbaren Schmerzsyndromen einher. Schmerzsyndrome im Rahmen wahnhafter bzw. schizophrener Störungen sind in der Begutachtungssituation eher selten. 26.2.4
Schmerzsyndrome bei somatischpsychischer Komorbidität
In der Begutachtungspraxis chronischer Schmerzsyndrome stellt diese Gruppe den zahlenmäßig größten und auch gleichzeitig schwierigsten Anteil dar. Meist handelt es sich dabei um primär körperlich begründbare Schmerzen, die durch psychische Faktoren verstärkt werden und unabhängig vom Verlauf der körperlichen Schädigung fortbestehen.
Anhaltende Schmerzstörung Seit 2009 enthält die deutsche Version der ICD-10 bei somatoformen Störungen unter der Ziffer F45.4 eine Unterteilung in die »Anhaltende somatoforme Schmerzstörung« (F45.40), bei der psychosoziale Faktoren die Hauptrolle für die Schmerzsymptomatik spielen, und eine »Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren« (F45.41), bei denen psychische Faktoren zwar gleichermaßen bedeutsam sind, jedoch nicht die ursächliche Rolle für den Beginn der Symptomatik spielen. In der ansonsten überwiegend eindimensionalen ICD-10-Klassifikation stellen die anhaltenden Schmerzstörungen insofern eine Ausnahme dar, als die Definition ausdrücklich auf den mehrdimensionalen bio-psycho-sozialen Zusammenhang verweist (siehe . Tab. 26.3).
Sonstige Schmerzsyndrome mit psychischer Komorbidität Weitere Schmerzsyndrome mit psychischer Komorbidität sind gegenüber den o. g. anhaltenden Schmerzstörungen zahlenmäßig nur von untergeordneter Bedeutung. Reaktiv depressive Störungen. Reaktiv depressive Stö-
rungen nach schwereren Gewebeschäden gleich welcher Ursache sind diagnostisch den Anpassungsstörungen zuzurechnen. Bei sorgfältiger Exploration stellt die diagnostische Sicherung kaum je ein Problem dar, wobei die Abgrenzung gegenüber der posttraumatischen Belastungsstörung zu beachten ist. Komorbidität von psychischer Störung und Gewebeschädigung. Das zufällige Zusammentreffen einer
26
604
Kapitel 26 · Schmerzsyndrome
26
. Tab. 26.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Unterformen anhaltender Schmerzstörungen seit dem 01.01.2009 in der ICD-10-GM in Bezug auf das zugrunde liegende bio-psycho-soziale Konzept.
26
F45.4_ Anhaltende Schmerzstörung F45.40 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
F45.41 Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
Symptomatik
Die vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz, …
Im Vordergrund des klinischen Bildes stehen seit mindestens 6 Monaten bestehende Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen, …
Biologische Ebene
… der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht hinreichend erklärt werden kann.
… die ihren Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung haben.
Psychische Ebene
Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auf, denen die Hauptrolle für Beginn, Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen zukommt.
Psychischen Faktoren wird eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen, jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren Beginn.
Soziale Ebene
Die Folge ist meist eine beträchtlich gesteigerte persönliche oder medizinische Hilfe und Unterstützung.
Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
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Gewebeschädigung mit hierdurch bedingtem nozizeptiv-neuropathischem Schmerz bei bereits bestehender psychischer Störung (im Sinne einer »Vorschädigung« bzw. eines »Anlageleidens«) führt häufig zu einer Exazerbation sowohl der ursprünglichen psychischen Symptomatik als auch zu einer Erhöhung des Schmerzempfindens auf ein durch die bestehende Gewebeschädigung nicht erklärbares Niveau.
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Funktionelle Schmerzzustände. Hier liegt die Primärursache in intrapsychischen Vorgängen, die sekundär zu nachweisbaren muskulären Dysfunktionen und Spannungszuständen führen (Beispiel zervikales Beschleunigungstrauma, vgl. 7 Kap. 27.3.4).
26
26.3
Diagnostik
26
26.3.1
Anamnese
26
Angesichts des Fehlens geeigneter technischer Messmethoden zur Quantifizierung von Schmerzen (s. 7 Kap. 26.3.4) ist es Aufgabe des Gutachters, im Rahmen der Anamnese insbesondere Beeinträchtigungen im täglichen Leben und in der sozialen Partizipation sowie Schmerzentwicklung, Schmerzerleben und bisherige Behandlungsmaßnahmen eingehend zu erfragen (siehe . Tab. 26.4).
26
26 26 26 26
z
Arbeits-, Sozial- und Krankheitsanamnese
Eine detaillierte Erfassung der persönlichen Entwicklungsgeschichte einschließlich der erlebten Gesundheitsstörungen sollte selbstverständlicher Bestandteil jeder medizinischen Begutachtung sein. Im Hinblick auf mögliche psychische Komorbiditäten kommt jedoch Fragen nach der Arbeitsbiographie einschließlich besonderer psychischer und physischer Belastungen am Arbeitsplatz, der Dauer und Begründung für Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit sowie der Entwicklung der familiären Situation und assoziierter Belastungen eine besondere Bedeutung zu. z
Schmerzanamnese
Die Schmerzcharakteristika sowie deren Verlauf, Dauer und Abhängigkeit von bestimmten Situationen, Körperhaltungen und Tageszeiten geben wichtige Hinweise auf die Konsistenz der Beschwerden. So lassen z. B. Tag und Nacht gleich andauernde Schmerzen ohne jegliche Besserung oder Verschlechterung erhebliche Zweifel aufkommen, ob die geklagten Schmerzen tatsächlich in dieser Form vorhanden sind, ob es sich hier nicht um primär psychisch verursachte Schmerzen oder aber auch um eine negative Antwortverzerrung vor dem Hintergrund eines Rentenwunsches handelt. Gleiches gilt für die Angabe, dass die laufend eingenommenen Medikamente zu keiner – auch nicht vorübergehenden – Besserung führen. Umgekehrt sind berichtete Besserungen z. B. im Urlaub, während therapeutischer Maßnahmen und bei bestimmten Körperhaltungen wichtige Indizien für das tatsächli-
605 26.3 · Diagnostik
. Tab. 26.4 Anamnese bei der Begutachtung von Schmerzen (nach Widder et al. [54]) Anamnesepunkt
Beurteilungskriterien
Arbeits- und Sozialanamnese
Berufsausbildung mit/ohne Abschluss, Arbeitsbiographie, besondere psychische und physische Belastungen am Arbeitsplatz, Dauer von und Begründung für Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit, Entwicklung der familiären Situation und assoziierte Belastungen
Allgemeine Anamnese
Entwicklung der körperlichen und psychischen Erkrankungen aktuell und unter Einbeziehung früherer Lebensabschnitte einschließlich familiärer Belastungen – bei »kausalen« Fragestellungen außerdem Angaben zu Unfallereignissen und anderen ursächlichen Einwirkungen und zum Verlauf danach.
Spezielle Schmerzanamnese
Lokalisation, Häufigkeit und Charakter der Schmerzen; Abhängigkeit von verschiedenen Körperhaltungen, Tätigkeiten und Tageszeiten, Verlauf mit/ohne Remissionen Biographische Schmerzerfahrungen, körperliche/sexuelle Misshandlung, emotionale Vernachlässigung, chronische familiäre Disharmonie, Parentifizierung, mehrfache postoperative Schmerzsituationen, Schmerzmodell bei wichtigen Bezugspersonen
Behandlungsanamnese
Dauer, Intensität und Ergebnis bisheriger Behandlungsmaßnahmen, insbesondere Häufigkeit und Regelmäßigkeit von Arztbesuchen, Arztwechsel, Häufigkeit und Dauer der Einnahme von Medikamenten und von deren Nebenwirkungen, Intensität physiotherapeutischer Behandlungen, Einbringen eigener Bewältigungsstrategien; symptomverstärkende und -unterhaltende ärztliche Maßnahmen
Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens
Schlaf, Tagesablauf, Mobilität, Selbstversorgung, Haushaltsaktivitäten wie Kochen, Putzen, Waschen, Bügeln, Einkaufen, Gartenarbeit, erforderliche Ruhepausen, Fähigkeit zum Auto- und Radfahren
Einschränkungen der Partizipation in verschiedenen Lebensbereichen
Familienleben einschließlich Sexualität und schmerzbedingter Partnerprobleme; soziale Kontakte einschließlich Freundschaften und Besuche Freizeitbereich wie Sport, Hobbys, Vereinsleben, Halten von Haustieren, Urlaubsreisen Soziale Unterstützung und Qualität der Partnerbeziehung
Selbsteinschätzung
Eigene Einschätzung des positiven und negativen Leistungsvermögens (z. B. anhand der Diskussion von geläufigen Verweistätigkeiten mit geringer körperlicher Beanspruchung)
Fremdanamnese
Exploration von engen Familienmitgliedern, Freunden oder Bekannten – mit Einverständnis des Probanden
che Bestehen von Beeinträchtigungen, deren Relevanz auf diese Weise besser abschätzbar wird. z
Behandlungsanamnese
Die Erfragung bisheriger und aktueller Behandlungsstrategien ist von entscheidender Bedeutung für die nachfolgende Konsistenzprüfung (vgl. 7 Kap. 26.6.1), da es sich hierbei letztlich um den einzigen Parameter handelt, der anhand ärztlicher Unterlagen bzw. des Leistungsauszugs der Krankenkasse objektiv nachprüfbar ist. Der bisherige Verzicht auf die Nutzung jeglicher medikamentöser und nicht-medikamentöser Behandlungsangebote trotz beklagter massiver Schmerzen lässt die geschilderte Intensität letzterer nicht plausibel erscheinen. Es sollte für jedes einzelne Medikament detailliert erfragt werden, in welcher Dosierung es wie lange, wie oft und mit welchem Ergebnis eingenommen wurde. Der Abbruch einer medikamentösen Therapie bereits bei niedrigen Dosierungen nach wenigen Tagen aufgrund von geringgradigen Nebenwirkungen kann Hinweise auf das Ausmaß der Beeinträchtigung durch die dem Behandlungsversuch zugrun-
de liegenden Schmerzen geben. In ähnlichem Umfang gilt es, Arztkontakte, physiotherapeutische und psychotherapeutische Behandlungen sowie eigeninitiativ ergriffene Maßnahmen detailliert in ihrer Häufigkeit und in ihrem Nutzen zu erfassen. Da über diese Behandlungsmaßnahmen in den Akten häufig Berichte vorliegen, ergibt sich bei Diskrepanzen zwischen den schriftlichen Angaben und der persönlichen Schilderung in der Gutachtensituation die Möglichkeit, den Untersuchten damit zu konfrontieren. z
Aktivitäten des täglichen Lebens
Die detaillierte Erfassung der Aktivitäten des täglichen Lebens gehört zum Standardrepertoire der Begutachtung bei Schmerzen. In jedem Falle sollten dabei die übliche Tagesstrukturierung und der Ablauf eines konkreten Tages (z. B. gestern, vergangener Sonntag) abgefragt werden. Fragebögen können die Exploration vereinfachen, ersetzen jedoch nicht die eingehende Erörterung mit dem Untersuchten, warum und seit wann welche konkreten Tätigkeiten nicht mehr möglich sind. Auch soll nicht
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606
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Kapitel 26 · Schmerzsyndrome
unerwähnt bleiben, dass es Probanden gibt, die sich beispielsweise mit Hilfe einschlägiger Internetseiten auf eine solche Begutachtung vorbereiten und wissen, wie die Fragen beantwortet werden müssen, um die beantragte Leistung zu erhalten. Hier kann ggf. auch die Fremdanamnese (s. u.) zur Klärung beitragen. z
Soziale Partizipation
Die Exploration der Partizipation in verschiedenen Lebensbereichen gibt Hinweise auf die verbliebene Lebensqualität. Sie kann sich im Allgemeinen auf wenige Kernbereiche des Lebens konzentrieren, die auch einer fremdanamnestischen Überprüfung zugänglich sind. Familie und Partnerschaft. Wichtige Parameter sind hier
z. B. die Beschäftigung mit Kindern oder Enkeln, gegenseitige Familienbesuche sowie Familienfeiern. Der Gutachter sollte sich auch nicht scheuen, krankheitsbedingte Partnerprobleme anzusprechen. Die Reaktion des Probanden kann wichtige Hinweise darauf geben, inwieweit der Untersuchte seine Rollen in Familie und Partnerschaft noch erfüllen kann und in wieweit evtl. ein sekundärer Krankheitsgewinn vorliegt (vgl. 7 Kap. 26.6.2). Freizeit und Urlaub. Die Beschäftigung mit Hobbys und
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Vereinsaktivitäten – einschließlich möglicher Vorstandsposten – erscheint aufgrund des damit verbundenen motivationsgeleiteten Engagements von besonderer Bedeutung. Auch entsprechend vorbereiteten Probanden fällt es hier schwer, nicht vorhandene Beeinträchtigungen konsistent zu vertreten. Zur Erfassung des Freizeitbereichs gehört auch die Frage nach Haustieren und deren Versorgung. Die detaillierte Anamnese der letzten Urlaubsreisen gibt wichtige Hinweise zur Dauerbelastbarkeit (Dauer der Anreise, notwendige Pausen), zur Besserung unter therapeutischen Bedingungen (z. B. am warmen Strand) zur sozialen (Urlaub in der Gruppe) sowie zur physischen Belastbarkeit (z. B. Segelkurs, Bergwanderungen; Hitzebelastung in tropischen Ländern).
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Eigenanamnese der beruflichen Leistungsfähigkeit.
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Die Selbsteinschätzung der beruflichen Leistungsfähigkeit führt immer wieder zu überraschenden Ergebnissen. Eine engagierte, sachgerechte und differenzierte Diskussion der verbliebenen Fähigkeiten und der bestehenden Defizite stellt ein gewichtiges Indiz dar, dass die geklagten Beschwerden tatsächlich bestehen, während bei Probanden, die jede Art von Arbeit pauschal als unmöglich ablehnen, Zweifel aufkommen. Es bietet sich im Einzelfall an, mit dem Versicherten möglichst konkrete, an seinen speziellen Fall angepasste alternative Tätigkeiten zu erörtern.
z
Fremdanamnese
Insbesondere bei wenig kooperativen, sehr klagsamen Probanden ist der Wert der Fremdanamnese nicht hoch genug einzuschätzen. Die – selbstverständlich mit Einverständnis des zu Begutachtenden vorzunehmende – Exploration von Familienangehörigen oder Freunden ggf. auch in Abwesenheit des Probanden ist oft der einzige Weg, um Einblicke in das Alltagsleben des Betroffenen zu erhalten, und deckt Ungereimtheiten in der Schilderung von Beeinträchtigungen auf.
26.3.2
Fragebogen und Skalen
Selbsteinschätzungsskalen und Fragebogen zu bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen gehören zu jeder Begutachtung von Schmerzen. Von Sozialgerichten wird in jüngster Zeit ausdrücklich gefordert, dass »Schmerzgutachten« derartige Selbsteinschätzungsskalen und Fragebogen enthalten. Wie auch bildgebende Befunde und Methoden der Algesimetrie sollten ihre Ergebnisse jedoch nicht unkritisch übernommen werden, sondern in der Zusammenschau mit allen übrigen Unterlagen, anamnestischen Angaben und Befunden dazu dienen, die Konsistenz, das heißt, die Schlüssigkeit der geklagten Beschwerden zu beurteilen (s. 7 Kap. 26.6.1). Untersuchungen hierzu liegen u. a. von Chapman u. Brena [7] vor, die bei schwebenden Rentenverfahren eine erhebliche Inkonsistenz der Fragebogeneinschätzung fanden. Häuser beschrieb 2007 [20], dass Probanden mit Fibromyalgiesyndrom bei Rentenbegehren im Sozialgerichtsverfahren im Pain Disability Index (PDI) höhere Schmerzintensitäten als Patienten ohne Rentenbegehren angeben. Es ließ sich kein Zusammenhang zwischen den Ergebnissen von Fragebogen und der Rückkehr zum Arbeitsplatz bei chronischen Rückenschmerzpatienten nachweisen [35].
Die unkritische Übernahme subjektiv von Versicherten beschriebener Beeinträchtigungen aus Fragebogen und Selbsteinschätzungsskalen kann ein Gutachten wertlos machen.
Für die Selbsteinschätzung schmerzbedingter Funktionsbeeinträchtigungen steht inzwischen eine Fülle verschiedener Fragebogen zur Verfügung, die zu einem Großteil im Internet verfügbar sind (z. B. www.drk-schmerz-zentrum.de, www.dgss.de). Die derzeit differenzierteste Form stellt der von der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) entwickelte »Deutsche Schmerzfragebogen« dar, der neben einer ausführlichen Erfassung subjektiv empfundener Schmerzparameter und
26
607 26.3 · Diagnostik
. Tab. 26.5 Beispiel für den Aufbau eines »Schmerz-Tagebuchs« Uhrzeit Aktuelle Situation (Mehrfachnennungen möglich)
7–9
10–12
13–15
16–18
19–21
Nachtstunden
Schlafen, Ruhen Körperpflege Nahrungsaufnahme Arbeit (Beruf, Haushalt, Garten) Hobbies (Basteln, Stricken usw.) Sport, Spaziergänge Fernsehen, Lesen, Musik hören, Internet nutzen Besuche, Geselligkeit Einkaufen Arzt- und Therapeutenbesuche Sonstige Aktivitäten Schmerzstärke (0–10) Medikamenteneinnahme
des Krankheitsverlaufs verschiedene standardisierte »Schmerzskalen« enthält. Allerdings genügt es auch hier nicht, die Selbsteinschätzung des Versicherten einfach zu übernehmen. Vielmehr ist es Aufgabe des Sachverständigen, im Fragebogen geltend gemachte Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen konkret zu hinterfragen, sofern sich diese nicht auch schlüssig aus der Beobachtung im Rahmen der Begutachtungssituation ergeben. Selbsteinschätzungsskalen bzw. Fragebogen lassen sich bei der Begutachtung chronischer Schmerzen im Wesentlichen auf 6 Grundformen zurückführen.
Grundformen der bei der Begutachtung von Schmerzen verwendeten Fragebogen und Selbsteinschätzungsskalen 4 Fragebogen zur Schmerzlokalisation (z. B. »Schmerz-Zeichnung«) 4 Fragebogen zum Schmerzverlauf (z. B. »SchmerzTagebuch«) 4 Fragebogen zur Schmerzqualität (z. B. »SchmerzSimulationsskala«) 4 Fragebogen zur Schmerzstärke (z. B. »Numerische Rating-Skala«) 4 Fragebogen zu schmerzbedingten Beeinträchtigungen (z. B. »Pain Disability Index«) 4 Fragebogen zu psychischen Komorbiditäten (z. B. »Zung-Depressionsskala«)
Fragebogen zur Schmerzlokalisation Einen schnellen Überblick sowohl über die Lokalisation als insbesondere auch über die Einschätzung von Schmerzsyndromen als eher somatisch oder psychisch bedingt gibt die Einzeichnung der geklagten Schmerzen in ein Körperschema [39]. Körperlich begründbare Schmerzzustände resultieren erfahrungsgemäß in eher »spärlichen« Einzeichnungen, die den Verläufen bzw. Versorgungsgebieten segmentaler oder peripherer Nerven entsprechen, während bei somatoformen Schmerzstörungen häufig ein symmetrisches, »buntes« Bild zahlreicher Schmerzlokalisationen dargestellt wird.
Fragebogen zum Schmerzverlauf Zur Längsschnittbeurteilung einer Schmerzsymptomatik eignen sich vor allem sog. »Schmerz-Tagebücher«, die über den Tag hinweg die Schmerzstärke in Abhängigkeit von aktuellen Ruhe- oder Aktivitätsbedingungen und von der jeweiligen Medikation erfassen (siehe . Tab. 26.5). Es erscheint sinnvoll, Probanden zu bitten, die Woche vor dem Begutachtungstermin auf diese Weise zu dokumentieren und das »Schmerz-Tagebuch« zur Untersuchung mitzubringen.
Fragebogen zur Schmerzqualität Zur Verlaufsbeobachtung in der Schmerztherapie findet häufig die Abfrage schmerzbeschreibender Begriffe Anwendung. So unterscheidet z. B. die Schmerzemp-
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Kapitel 26 · Schmerzsyndrome
findungsskala (SES) [16] in 24 affektiv (grausam, heftig, mörderisch, schauderhaft, scheußlich, schwer, furchtbar, unerträglich usw.) und sensorisch (klopfend, pochend, hämmernd, schneidend, reißend, stechend) geprägte Adjektive. In der gutachtlichen Situation können derartige Skalen dazu dienen, Hinweise auf Schmerzursachen, aber auch auf mögliche negative Antwortverzerrungen (vgl. 7 Kap. 26.3.6) zu geben. Eine hohe Zahl angekreuzter »Schmerz-Adjektive« weist auf einen unkritischen Umgang mit Selbstangaben hin [33, 34].
Fragebogen zur Schmerzstärke Die einfachste Form der Selbsteinschätzung von Schmerzen beinhaltet eine von 0 (kein Schmerz) bis 10 (maximal vorstellbarer, unerträglichster Schmerz) gehende Skala, anhand derer aktuelle, frühere, maximal-minimale und/ oder durchschnittliche Schmerzstärken angegeben werden können (sog. Visuelle Analog-Skala VAS oder numerische Rating-Skala NRS). Insbesondere in Kombination mit einem Schmerz-Tagebuch ergibt die VAS/NRS einen Überblick über die Selbsteinschätzung des Schmerzverlaufs. Aber auch in der Begutachtungssituation stellt die aktuelle Schmerzstärken-Einschätzung einen wichtigen Parameter dar, wenn diese mit der Beobachtung korreliert wird.
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Fragebogen zu schmerzbedingten Beeinträchtigungen
26
Alle hier zur Verfügung stehenden Fragebogen versuchen in mehr oder weniger ausführlicher Form die schmerzbedingten Beeinträchtigungen im täglichen Leben zu erfassen. Am bekanntesten – und mit lediglich 7 Fragen sehr knapp – ist der Pain Disability Index (siehe . Tab. 26.6). Etwas detailliertere Fragen finden sich z. B. im »MoPOTest« (Measurement of Patient Outcome) [27]. Alternativ oder ergänzend sind Fragebogen einzusetzen, die – unabhängig von Schmerzen – ein Bild des gesamten Gesundheitszustandes bzw. der verbliebenen Lebensqualität vermitteln sollen. Am weitesten verbreitet ist hier der SF36 Short Form Health Survey [52] mit 36 Fragen, der in einer deutschen Übersetzung vorliegt [6]. Aussagen zur Lebensqualität vermitteln z. B. die »Fragen zur Lebenszufriedenheit« (FLZ) [23].
26 26 26 26 26 26 26 26 26 26
. Tab. 26.6 Auf einer 10-teiligen Skala (keine Beeinträchtigung bis völlige Beeinträchtigung) erfasste Lebensbereiche in der deutschen Übersetzung des Pain Disability Index (PDI) [12]
Als Screening-Instrument zur Identifikation depressiver Störungen sind mehrere Skalen gebräuchlich, die hinsichtlich der verwendeten Fragen erhebliche Ähnlichkeiten aufweisen. Zur Erfassung sowohl von Depressivität als auch von Angst ist die »Hospital Anxiety and Depression Scale« (HADS) einschließlich ihrer deutschen Version (HADS-D) am weitesten verbreitet [24]. Einen guten
Definition
Familiäre und häusliche Verpflichtungen
Hausarbeit und Tätigkeiten rund um das Haus bzw. die Wohnung, auch Gartenarbeiten
Erholung
Hobbies, Sport und Freizeitaktivitäten
Soziale Aktivitäten
Zusammensein mit Freunden und Bekannten, wie z. B. Feste, Theater- und Konzertbesuche, Essen gehen und andere soziale Aktivitäten
Beruf
Aktivitäten, die Teil des Berufs sind oder unmittelbar mit dem Beruf zu tun haben; einschl. Hausfrauen(männer)tätigkeit
Sexualleben
Häufigkeit und die Qualität des Sexuallebens
Selbstversorgung
Aktivitäten, die Selbständigkeit und Unabhängigkeit im Alltag ermöglichen, wie z. B. sich waschen und anziehen, Autofahren, ohne dabei auf fremde Hilfe angewiesen zu sein
Lebensnotwendige Tätigkeiten
Tätigkeiten wie Essen, Schlafen und Atmen
Überblick über die Persönlichkeitsstruktur gibt außerdem das »Freiburger Persönlichkeits-Inventar« (FPI).
Gängige Screening-Instrumente zur Identifikation von depressiven und Angststörungen 4 Allgemeine Depressionsskala (ADS) 4 Beck-Depressionsinventar (BDI) 4 Hamilton Depression Rating-Skala (Ham-D) 4 Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D) 4 Zung-Depressionsskala (ZDS)
26.3.3 z
Fragebogen zu psychischen Komorbiditäten
Lebensbereich
Klinische Befunde
Beobachtung
Die Beobachtung des Gangbildes und der Spontanmotorik im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung trägt unter anderem zur Prüfung der Konsistenz der Beschwerden bei (siehe . Tab. 26.7). Auch die Wahrnehmung des Verhaltens vor der Untersuchung im Warteraum und während der entlastenden Situation am Ende der Begutachtung kann diesbezüglich Hinweise geben. Erfahrungsgemäß ist es kaum möglich, ein eingeübtes und nicht auf tatsächlich vorhandenen Schmerzen basierendes Bewegungsmuster
609 26.3 · Diagnostik
über einen Zeitraum von mehr als einer Stunde mit rasch wechselnden Fragen und Eindrücken hinweg konsistent beizubehalten, so dass hier weniger dem Erscheinungsbild selbst als vielmehr Veränderungen im Verlauf Bedeutung zukommt. z
Körperliche Befunde
Die körperliche Untersuchung beinhaltet einen wesentlichen Baustein der Konsistenzprüfung, wenn hierbei bspw. Lähmungen und Bewegungseinschränkungen demonstriert werden, die anhand objektiver klinischer und apparativer Untersuchungsbefunde nicht nachvollzogen werden können. z
Klinische Befunde
Kriterien
Beobachtung
Gangbild vor/während/nach der Begutachtung, Spontanmotorik, Fähigkeit zum Stillsitzen, erforderliche Entlastungsbewegungen, Bewegungsmuster beim An- und Auskleiden
Erscheinungsbild
Körperhaltung, Körperpflege, Kleidung, Haartracht, Finger- und Zehennägel, Hand- und Fußverschwielung, Muskulatur, Körperbräune
Allgemeinbefund
Vor allem objektive Beweglichkeit, Druckschmerz
Neurologischer Befund
Hirnnerven, Motorik und Sensibilität, Reflexstatus, Koordination, Sprache
Psychischer Befund
Verhalten, Affektivität, Kontakt- und Rapportfähigkeit, Antrieb, Psychomotorik, formaler und inhaltlicher Denkablauf, Konzentrationsfähigkeit, Auffassungsvermögen, Wahrnehmung, Ich-Erleben, Erinnerungsund Merkfähigkeit
Erscheinungsbild
In die Hornhaut eingeschlossene Schmutzreste sowie Schwielen an Händen und auch Füßen sind lang anhaltende Indikatoren körperlicher Tätigkeit. Gleiches gilt für die Muskelmasse, die altersangepasste Hinweise auf die körperliche Aktivität gibt. Nicht zuletzt vermittelt der Zustand der Kleidung und insbesondere auch der Schuhe zusammen mit der Befragung des Kaufverhaltens einen Eindruck über die Konsistenz der gemachten Angaben. z
. Tab. 26.7 Zu erhebende klinische Befunde
Psychischer Befund
Der differenzierten Erhebung des psychischen Befundes (z. B. anhand der AMDP-Dokumentation) kommt eine hohe Bedeutung zu. Die Erfassung mittels Selbstbeurteilungsskalen ist zwar hilfreich, ersetzt jedoch nicht die eingehende Exploration. Die Art der Reaktion auf Fragen, die möglicherweise als provozierend erlebt werden können (z. B. zur Partnerschaft, zur Fahrtauglichkeit oder zu möglichen Verweisungsberufen) kann Aufschlüsse über die Affekt- und Impulskontrolle geben.
26.3.4
Apparative Verfahren
Da die körperlichen Befunde bei chronischen Schmerzsyndromen gemäß der o. g. Definition das Ausmaß der Beschwerden nicht oder nicht vollständig erklären können, tragen bildgebende Verfahren (CT, MRT, PET, SPECT), neurophysiologische Untersuchungstechniken (Elektromyographie, evozierte Potentiale, Elektroneurographie) sowie Laboruntersuchungen nur wenig zur Klärung der Frage bei, ob und wie stark jemand Schmerzen empfindet und dadurch beeinträchtigt ist. Die Hauptbedeutung apparativer Untersuchungen liegt daher darin, eine relevante körperlich begründbare Störung auszuschließen. Eine Ausnahme stellen komplexe regionale Schmerzsyndrome dar, bei denen der positive Nachweis typischer Veränderungen im Nativröntgenbild, der Drei-Phasen-Szintigra-
phie und/oder der MRT den klinischen Befund einer solchen Störung erhärten [13]. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass umgekehrt auch das Vorliegen pathologischer bildgebender Befunde letztlich keine belastbare Aussage über die Qualität und Quantität der Schmerzempfindung und die damit verbundene Funktionsstörung erlaubt. Auch die in jüngster Zeit zunehmend eingesetzte »Quantitative Sensorische Testung« (QST) mit Applikation verschiedener sensibler Reize [4] besitzt nach derzeitigem Kenntnisstand zur Beschwerdevalidierung im Rahmen von Begutachtungen keine wesentliche Bedeutung, da auch bei diesem Untersuchungsverfahren die Möglichkeit bewusster oder unbewusster negativer Antwortverzerrungen besteht. Ob zukünftig die Ableitung Schmerz-evozierter Potentiale eine Objektivierung der Schmerzempfindung ermöglicht [47], ist bislang nicht abschließend geklärt.
26.3.5
Medikamentenmonitoring
Die Bestimmung des Serumspiegels der aktuell als eingenommen genannten Medikamente kann einen wichtigen Beitrag zur Konsistenzprüfung der gemachten Angaben liefern. So beschreiben Walk und Wehking [51], dass bei annähernd 40 % untersuchter »Schmerzpatienten« in einer Rehabilitationsklinik keine messbaren Medika-
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Kapitel 26 · Schmerzsyndrome
mentenspiegel der verordneten Substanzen nachweisbar gewesen seien. Nahezu alle in der Schmerztherapie und Psychiatrie relevanten Medikamente sind heute ohne größere Probleme, meist mit der Methode der HochdruckFlüssigkeitschromatographie (HPLC), nachweisbar, die meisten größeren Labors bieten entsprechende Bestimmungen an. Bezüglich der Quantifizierung sind allerdings Unterschiede in der individuellen Verstoffwechselung von Medikamenten zu berücksichtigen, da genetische Mutationen zu Unterschieden in der Aktivität von CYP 450-Enzymen führen. So sagt ein nicht im therapeutischen Bereich liegender, zu niedriger Medikamentenspiegel nichts darüber aus, ob ein Medikament regelmäßig eingenommen wird oder nicht, da 5–10 % der Bevölkerung »ultrarapid metabolizer« sind [11]. Ein überhaupt nicht nachweisbarer Medikamentenspiegel im Blutserum schließt jedoch weitgehend aus, dass ein am Untersuchungstag – in Abhängigkeit von der Halbwertszeit auch am Tag zuvor – als eingenommen angegebenes Medikament auch tatsächlich eingenommen wurde.
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26.3.6
Beschwerdenvalidierungstests
Vgl. 7 Kap. 27.2.
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26.3.7
Diagnosen
26
Gemäß den Vorgaben der Sozialrechtsprechung haben sich die gestellten Diagnosen an ICD-10-Kriterien zu orientieren, wobei für gutachtliche Belange die Funktionsstörungen an entscheidender Stelle genannt werden sollten.
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26.4
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Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF
Im Rahmen der ICF-Klassifikation liegen für Rückenschmerzen und generalisierte Schmerzsyndrome sog. »Core Sets« mit Beschränkung der Items auf 24 Körperfunktionen und -strukturen sowie 27 bzw. 29 Parameter der Aktivitäten und Partizipation vor [8, 9]. In wesentlichem Umfang entsprechen diese den Parametern, die in den Leitlinien für die Begutachtung von Schmerzen enthalten sind (siehe . Tab. 26.8).
26.5
Verlauf und Prognose
26.5.1
Einflussfaktoren der Chronifizierung
Der Verlauf und die Prognose chronischer Schmerzsyndrome sind im Wesentlichen durch 3 Parameter gekennzeichnet. Chronifizierungsfaktoren. Je mehr Kontextfaktoren für
die Chronifizierung von Schmerzen erkennbar sind, umso schlechter ist im Allgemeinen die Prognose einzuschätzen (siehe . Tab. 26.9). Dauer der Symptomatik. Eine nicht unwesentliche, häufig jedoch weit überschätzte Bedeutung kommt der Beschwerdedauer und insbesondere auch der Dauer der Krankschreibung zu. Adäquate Therapiemaßnahmen. Sind Schmerzsyndro-
me erst einmal chronifiziert, sind sie einer »monomodalen«, ausschließlich somatisch ausgerichteten Therapie unzugänglich und erfordern eine umfassende, psychotherapeutische Interventionen einschließende Behandlung des maladaptiven, passiven Krankheitsverhaltens (vgl. 7 Kap. 26.7.1). Wurde bei längerer Krankheitsdauer keine geeignete »multimodale« Behandlung (u. a. physio- und psychotherapeutisch unter einem gemeinsamen ursachenorientierten Konzept mit ggf. ambulanter Weiterbehandlung) durchgeführt, ist dies gutachterlich zu berücksichtigen. Das Fehlen adäquater Therapiemaßnahmen kann einerseits Hinweise auf eine geringe Therapiemotivation des Probanden, andererseits aber auch auf iatrogen fehlgeleitete – meist einseitig somatisch orientierte – Therapieansätze geben [15, 32, 57].
26.5.2
Erfassung des Chronifizierungsgrades
Unabhängig von den o. g. Einschränkungen bezüglich der Begutachtung der Leistungsfähigkeit erscheint es insbesondere im Hinblick auf Rehabilitationsmaßnahmen sinnvoll, den individuellen Chronifizierungsgrad im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Krankheitskonzeptes zu erfassen. In Deutschland sind hierfür zwei Verfahren gängig. Schmerzgraduierung nach von Korff. Das durch von
Korff [49, 50] inaugurierte Modell graduiert chronische Schmerzen unter Berücksichtigung von Verlaufsmerkmalen, Schmerzintensität und Schmerzbeeinträchtigung. Die Einteilung wurde von Kohlmann u. Raspe [30, 31] weiterentwickelt.
611 26.5 · Verlauf und Prognose
. Tab. 26.8 Relevante Parameter der ICF-Klassifikation zur Erfassung von Funktionsbeeinträchtigungen bei Schmerzsyndromen [8, 9] Körperfunktionen und -strukturen Mentale Funktionen
Psychosoziale, psychomotorische, emotionale und höhere kognitive Funktionen; Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs, des Schlafes, der Aufmerksamkeit, des Denkens, der Selbstwahrnehmung
Sinnesfunktionen und Schmerz
Berührungs- und Tastsinn, Sinnesfunktionen bezüglich Temperatur und anderer Reize, Schmerz
Funktionen verschiedener Systeme
Funktionen des kardiovaskulären, gastrointestinalen und respiratorischen Systems
Funktionen des Urogenital- und reproduktiven Systems
Sexuelle Funktionen
Neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen
Funktionen der Gelenkbeweglichkeit, der Muskelkraft, des Muskeltonus, der Muskelausdauer und der Kontrolle von Willkürbewegungen
Aktivitäten und Partizipation Lernen und Wissensanwendung
Aufmerksamkeit fokussieren, Probleme lösen, Aneignen von Fertigkeiten, Entscheidungen treffen
Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
Aufgaben übernehmen, die tägliche Routine durchführen, mit Stress und anderen psychischen Anforderungen umgehen
Kommunikation
Fähigkeit zur Vermittlung und zum Empfang von gesprochenen, schriftlichen und nonverbalen Mitteilungen, Möglichkeiten zur Konversation und Diskussion
Mobilität
Elementare Körperpositionen wechseln, in einer Körperposition verbleiben, Gegenstände anheben und tragen, Gehen, sich auf andere Weise fortbewegen, Transportmittel benutzen, ein Fahrzeug fahren
Selbstversorgung
Sich waschen, kleiden, Körperpflege durchführen, auf seine Gesundheit achten
Häusliches Leben
Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs beschaffen, Vorbereitung von Mahlzeiten, Hausarbeiten erledigen, Haushaltsgegenstände pflegen, Anderen helfen
Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
Komplexe interpersonelle Interaktionen, Familienbeziehungen, intime Beziehungen
Bedeutende Lebensbereiche
Eine Arbeit erhalten, behalten und beenden
Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben
Gemeinschaftsleben, Erholung und Freizeit, Religion und Spiritualität, politisches Leben
. Tab. 26.9 Kontextfaktoren für die (weitere) Chronifizierung von Schmerzen [40, 41, 56] Arbeitsplatzfaktoren
Geringe Arbeitsplatzzufriedenheit, anhaltende Schwerarbeit, unergonomische Arbeitsplatzgestaltung, monotone Tätigkeiten am Arbeitsplatz, geringe berufliche Qualifikation, niedriges Einkommen Konflikte mit Vorgesetzten, Kränkungserlebnisse durch Arbeitskollegen, Verlust des Arbeitsplatzes
Soziodemographische Faktoren
Alter, weibliches Geschlecht, verheirateter Familienstatus, niedriges Bildungsniveau, niedriger Sozialstatus
Somatische Faktoren
Genetische Disposition, prädisponierende Erkrankungen, degenerative Veränderungen, Dauereinwirkung biomechanischer Stressoren
Psychosoziale Faktoren
Maladaptive kognitiv-affektive Krankheitsverarbeitung (Katastrophisieren, Hilf-/Hoffnungslosigkeit), biographische Belastungen, psychische Komorbiditäten (Somatisierungsstörung, Angsterkrankung, depressive Störung), Kompensationsansprüche, Angst und angstbedingtes Vermeidungsverhalten, psychische Stressoren im familiären Umfeld
Iatrogene Faktoren
Mangelnde ärztliche Deeskalation bei ängstlichen, »katastrophisierenden« Patienten, Somatisierung und Angstförderung durch »katastrophisierende« ärztliche Beratung, fehlende oder inadäquate Medikation in der Akutphase, Förderung passiver (regressiver) Therapiekonzepte, lange, unreflektierte Krankschreibung, übertriebener Einsatz diagnostischer Maßnahmen, Überschätzen unspezifischer somatischer Befunde, Unterschätzen psychischer Komorbidität, fehlende Beachtung psychosozialer Belastungsfaktoren, Präferenz und fehlerhafte Indikationsstellung invasiver und/oder suchtfördernder Therapien, inadäquate Therapie im weiteren Verlauf
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Kapitel 26 · Schmerzsyndrome
Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung (Mainz Pain Staging System, MPSS). In den meisten
deutschen Schmerzzentren ist auch das Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung [17] etabliert. Es besitzt den Vorteil, dass die Stadienzuordnung aus einem standardisierten Patientenfragebogen ermittelt werden kann [37] und die Validität des Modells bekannt ist [38]. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Chronifizierungsgrad III auch ausschließlich aufgrund der eigenen Angabe dauerhafter, multilokulärer Schmerzen, verbunden mit einem häufigen Wechsel des betreuenden Arztes, erreicht werden kann, ohne dass ausreichende therapeutische Maßnahmen erfolgt sind.
26.6
Begutachtungskriterien
In der medizinischen Versorgung gilt als selbstverständlicher Vertrauensgrundsatz, dass ein Patient, der über Beschwerden klagt, auch an solchen leidet. Tatsächlich sind vorgetäuschte Beschwerden im Behandlungssektor auch eher selten und dann am ehesten Ausdruck einer schwerwiegenden psychischen Störung. Im Rahmen von Begutachtungen spielen motivationsgeleitete Antwortverzerrungen jedoch durchaus eine Rolle. Daher wird hier eine zielgerichtete Sachermittlung gefordert, die eine sorgfältige Konsistenzprüfung von Befunden und Angaben aus unterschiedlichen Quellen einschließt. Bei einigen Gesundheitsstörungen, darunter auch der somatoformen Schmerzstörung, stellen sich Objektivierung und Validierung der subjektiven Angaben eines Probanden im Hinblick auf seine Leistungsfähigkeit besonders schwierig dar. Aus dieser Problematik darf der Gutachter jedoch nicht den Schluss ziehen, unkritisch die Bewertungen des Probanden zu übernehmen. Letzteres würde dazu führen, dass ein Proband, der sich aufgrund seiner Beschwerden nicht mehr für leistungsfähig hält, dies auch vom Gutachter – ohne Konsistenzprüfung – bescheinigt bekäme. Dies wird umso wahrscheinlicher in solchen Fällen vorkommen, in denen Probanden möglicherweise altersbedingt oder aufgrund ihrer Vorgeschichte auf dem heutigen Arbeitsmarkt keine realistische Chance auf einen neuen Arbeitsplatz haben. Wie von Stevens u. Foerster [44] bemerkt, ist es jedoch ein fundamentaler Irrtum zu glauben, es gäbe für die Beurteilung subjektiver Angaben ohne adäquaten körperlichen Befund keine objektiven Kriterien. Diese lassen sich vielmehr aus dem Vergleich zwischen dem Umfang der Beeinträchtigungen im außerberuflichen Umfeld mit dem Ausmaß der geklagten Beeinträchtigungen im beruflichen Bereich herausarbeiten [58].
Wer Schmerzen bei der Arbeit hat, hat diese üblicherweise auch bei anderen Aktivitäten des täglichen Lebens.
Die gutachterliche Beurteilung schmerzbedingter Funktionsbeeinträchtigungen beruht im Wesentlichen auf der Beantwortung von zwei Fragen: 4 Sind die geklagten Gesundheits- und damit verbundenen Funktionsstörungen »ohne vernünftigen Zweifel« nachweisbar (»Konsistenzprüfung«)? 4 Sind die nachgewiesenen Funktionsstörungen durch »zumutbare Willensanspannung« (zum Teil) überwindbar (Prüfung der willentlichen Steuerbarkeit)? 26.6.1
»Konsistenzprüfung« der geklagten Beeinträchtigungen
Im ersten Schritt hat der Sachverständige Stellung dazu zu nehmen, ob, aufgrund welcher Fakten und in welchem Umfang die vom Probanden geklagten Funktionsbeeinträchtigungen zur subjektiven Gewissheit des Gutachters bestehen. Diese Abklärung erfordert eine kritische Zusammenschau von Exploration, Untersuchungsbefunden, Verhaltensbeobachtung und Aktenlage. Zweifel am Ausmaß der geklagten Beschwerden können aufkommen, wenn die in . Tab. 26.10 genannten Kriterien erkennbar sind.
Die gutachterliche »Konsistenzprüfung« dient dazu, die vom Probanden gemachten Angaben zu Beeinträchtigungen im Alltags- und Berufsleben anhand objektiver Parameter der Untersuchung und Beobachtung zu erhärten (oder als nicht hinreichend nachweisbar abzulehnen).
Soweit aufgrund derartiger Beobachtungen eine Klärung des tatsächlichen Ausmaßes der Funktionsbeeinträchtigungen nicht möglich ist, sollte sich der Gutachter nicht scheuen, dies in seinem Gutachten klar auszudrücken. Die Unmöglichkeit einer sachgerechten Beurteilung führt im Rechtsstreit meist zur Ablehnung des Renten- oder Entschädigungsantrags, da die Beweis- bzw. Feststellungslast grundsätzlich beim Antragsteller liegt. Diese rechtliche Konsequenz darf jedoch auf das Gutachtenergebnis keinen Einfluss haben. Ebenso ist zu beachten, dass es einen Grundsatz des »in dubio pro aegroto« bei Begutachtungen nicht gibt.
613 26.7 · Sozialmedizinische Beurteilung
. Tab. 26.10 Hinweise auf nicht oder nicht in dem geklagten Umfang vorhandene Funktionsbeeinträchtigungen (»Konsistenzparameter«) [54] Diskrepanz zwischen Beschwerdeschilderung (einschließlich Selbsteinschätzung in Fragebogen) und körperlicher und/ oder psychischer Beeinträchtigung in der Untersuchungssituation Wechselhafte und unpräzis-ausweichende Schilderung der Beschwerden und des Krankheitsverlaufes Diskrepanzen zwischen eigenen Angaben und fremdanamnestischen Informationen (einschließlich Aktenlage) Fehlende Modulierbarkeit der beklagten Schmerzen Diskrepanz zwischen geschilderten Funktionsbeeinträchtigungen und zu eruierenden Aktivitäten des täglichen Lebens Fehlen angemessener Therapiemaßnahmen und/oder Eigenaktivitäten zur Schmerzlinderung trotz ausgeprägt beschriebener Beschwerden Fehlende sachliche Diskussion möglicher Verweisungstätigkeiten bei Begutachtungen zur beruflichen Leistungsfähigkeit Diskrepanz zwischen der Medikamentenanamnese und laborchemisch bestimmten Medikamentenspiegeln
26.6.2
Prüfung der »willentlichen Steuerbarkeit«
Lassen sich Funktionsbeeinträchtigungen zur Überzeugung des Gutachters nachweisen, gilt im zweiten Schritt zu klären, ob und inwieweit die geklagten Beschwerden bewusst oder bewusstseinsnah zur Durchsetzung eigener Wünsche (z. B. nach Versorgung, Zuwendung oder Entlastung von unangenehmen Pflichten) gegenüber Dritten eingesetzt werden (»sekundärer Krankheitsgewinn«), obwohl sie willentlich zu überwinden wären, oder ob die »Schmerzkrankheit« den Lebensablauf und die Lebensplanung soweit übernommen hat, dass eine Überwindbarkeit – willentlich und/oder durch Therapie – nicht mehr möglich erscheint. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine zunächst zweckgerichtet eingesetzte Schmerzsymptomatik sich im Rahmen einer Chronifizierung zunehmend verselbständigen kann und schließlich nicht mehr willentlich zu beeinflussen ist [1]. Allein die Tatsache lange andauernder Beschwerden schließt aber eine bewusstseinsnahe Steuerbarkeit nicht aus. Hinweise auf eine bestehende Steuerbarkeit der geklagten Beschwerden geben insbesondere zwei Kriterien: 4 Rückzug von unangenehmen Tätigkeiten (z. B. Beruf, Haushalt), jedoch nicht von den angenehmen Dingen des Lebens (z. B. Hobbys, Vereine, Haustiere, Urlaubsreisen), und/oder
4 Beibehalten von Führungs- und Kontrollfunktionen (z. B. Überwachung der Haushaltsarbeit von Angehörigen, Beibehaltung matriarchalischer/patriarchalischer Funktionen, Steuerung des Einkaufsverhaltens der Angehörigen) trotz erkennbaren Rückzugs von aktiven Tätigkeiten.
26.6.3
Gutachterliche Bewertung
Im abschließenden Schritt der gutachterlichen Würdigung sind letztlich lediglich vier Aussagen möglich: 4 Der Gutachter ist davon überzeugt, dass die geklagten Funktionsbeeinträchtigungen bestehen und willentlich oder durch Therapie nicht (mehr) überwunden werden können. Bei entsprechender Schwere der Beeinträchtigungen wird er eine dauerhafte Leistungsminderung feststellen. 4 Der Gutachter ist zwar davon überzeugt, dass die geklagten Funktionsbeeinträchtigungen bestehen, diese aber durch Therapie in absehbarer Zeit und in wesentlichem Umfang überwunden werden könnten. In Abhängigkeit vom Einzelfall führt dies zum Einsatz von Rehabilitationsmaßnahmen, ggf. auch zur Feststellung einer zeitlich befristeten Leistungsminderung. 4 Der Gutachter ist zwar davon überzeugt, dass die geklagten Funktionsbeeinträchtigungen bestehen, diese aber willentlich in wesentlichem Umfang überwunden werden könnten. Damit ist von einem erhaltenen Leistungsvermögen auszugehen. 4 Der Gutachter ist nicht davon überzeugt, dass die Funktionsbeeinträchtigungen in der geklagten oder anderen Form bestehen. In diesem Fall bleibt der Antragsteller den Nachweis für das Vorliegen der geltend gemachten Einschränkungen mit den o. g. Konsequenzen schuldig.
26.7
Sozialmedizinische Beurteilung
26.7.1
Medizinische Rehabilitation
Uni- vs. multimodale Therapie Eine unimodale Therapie durch einen Schmerztherapeuten oder Orthopäden mag zwar bei überwiegend körperlich erklärbaren, wenig chronifizierten Schmerzzuständen sinnvoll sein. Aufgrund der regelmäßig mehrdimensionalen bio-psycho-sozialen Ursache chronischer Schmerzen ist jedoch eine multimodale Therapie unter Einbeziehung schmerztherapeutisch geschulter Psychotherapeuten und Physiotherapeuten im Rahmen einer »rehabilitativen Komplexbehandlung« sowohl bei ambulanter als auch
26
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Kapitel 26 · Schmerzsyndrome
bei stationärer Rehabilitation zu fordern. Als grundlegende Regel kann dabei gelten, dass umso mehr Kompetenz im psychotherapeutischen Bereich zu fordern ist, je mehr die geklagten Schmerzen körperlich nicht erklärbar sind. Umgekehrt ist umso mehr somatische Kompetenz zu fordern, je mehr die Beschwerden körperlich erklärbar sind und/oder noch diagnostischer Handlungsbedarf besteht. Details hierzu finden sich bei Widder u. Frisch [56].
Ambulante vs. stationäre Rehabilitation
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Die Frage des stationären oder ambulanten Settings ist, sofern eine geeignete Intensität sowie ein multidisziplinärer Charakter der Behandlungsmaßnahmen gewährleistet sind, eher zweitrangig. Nach Widder und Frisch [56] sind stationäre Rehabilitationsmaßnahmen jedoch regelhaft bei folgenden Fallkonstellationen angezeigt: 4 Fehlschlagen ausreichender ambulanter Maßnahmen in Form von Physiotherapie, medikamentöser Therapie einschließlich des Einsatzes von schmerzmodulierender Komedikation wie Antidepressiva und Antiepileptika sowie der Psychotherapie zur Schmerz- und Stressbewältigung, 4 fehlende regionale Möglichkeiten einer geeigneten ambulanten bzw. ganztägig ambulanten Rehabilitation, 4 Aufrechterhaltung des chronischen Schmerzsyndroms in erheblichem Maße durch das soziale Umfeld des Betroffenen einschließlich der iatrogenen Prägung durch einen überfürsorglichen und/oder zum »Katastrophisieren« neigenden Arzt [57], 4 Erfordernis des Entzugs nach längerem Missbrauch von Opioiden und/oder auch »einfacher« Schmerzmittel, 4 komplexe Schmerzsyndrome mit bereits schwerer Chronifizierung (Stadien II–III nach Mainzer Stadienmodell) und/oder spezielle Krankheitsbilder (z. B. komplexe regionale Schmerzsyndrome) sowie erhebliche psychische Komorbidität.
26 26.7.2
Teilhabe am Arbeitsleben
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Da Schmerzsyndrome im Allgemeinen ein »Epiphänomen« einer körperlichen und/oder psychischen Störung und/oder psychosozialen Problematik darstellen, sollten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vor allem das Ziel verfolgen, die zugrunde liegenden Störfaktoren zu beseitigen bzw. zu mindern. Hierzu sei auf die entsprechenden Kapitel verwiesen. Ein besonderes Problem ergibt sich durch die Einnahme von Schmerzmedikamenten. Nicht selten wird von den betreuenden Ärzten geltend gemacht, aufgrund der erforderlichen Einnahme starker Schmerzmittel bestehe eine schwerwiegende Einschränkung des beruflichen
Leistungsvermögens, weswegen sich »per se« eine Rückkehr in das Arbeitsleben verbiete. Dies entspricht jedoch nicht dem wissenschaftlichen Kenntnisstand, wonach nach einer ausreichend langen Aufdosierungsphase und bei konstanter Dosierung im Regelfall nur noch minimale Einschränkungen vorliegen [45]. z
Kraftfahreignung
Während der Aufdosierungsphase von mit schwerwiegenderen zentralen Nebenwirkungen einher gehenden Medikamenten und in den ersten 14 Tagen danach besteht üblicherweise keine Kraftfahreignung. Sollten danach noch Zweifel bestehen, empfiehlt sich die Durchführung einer praktischen Fahrprobe unter Hinzuziehung eines geprüften Fahrlehrers. Verschiedene Institutionen und auch Rehabilitationseinrichtungen verfügen in jüngster Zeit auch zunehmend über Fahrsimulatoren. Testpsychologische Untersuchungen allein haben sich als nicht hinreichend zuverlässig erwiesen [19]. Soweit die Fahreignung von Fahrzeugen der Gruppe 2 (Kraftwagen > 3,5 to, Omnibusse) zu beurteilen ist, ist vom Gutachter eine verkehrsmedizinische Qualifikation zu fordern.
26.7.3
Erwerbsminderung
Qualitative Leistungseinschränkungen Die Beurteilung qualitativer Leistungseinschränkungen bei chronischen Schmerzen richtet sich nach den zugrunde liegenden körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen (siehe . Tab. 26.11).
Quantitative Leistungseinschränkungen Im zweiten Schritt gilt es, unter Berücksichtigung des erkennbaren positiven und negativen qualitativen Leistungsvermögens die Frage einer möglichen quantitativen Leistungseinschränkung zu klären. Diesem Punkt kommt entscheidende Bedeutung zu, da das Vorliegen »lediglich« qualitativer Leistungseinschränkungen nur unter besonderen Umständen zur Anerkennung einer Erwerbsminderung auf dem als Maßstab dienenden allgemeinen Arbeitsmarkt führt. Beweismaß ist die sachlich begründete Überzeugung, dass eine entsprechende Leistungseinschränkung vorliegt. Entsprechend der in . Abb. 26.1 vorgeschlagenen Einteilung ergeben sich dabei 3 unterschiedliche Formen der Beurteilung: Schmerz als Begleitsymptom einer Gewebeschädigung oder -erkrankung. Stehen körperlicher Befund (Organ-
pathologie) und Befinden (Schmerz) in kongruentem Verhältnis, bestimmt die mit dem fachbezogenen Befund verknüpfte Funktionsbeeinträchtigung die Beurteilung der Leistungsfähigkeit.
615 26.8 · Spezielle Krankheitsbilder
. Tab. 26.11 Mögliche Einflussgrößen auf das positive und negative Leistungsvermögen bei Vorliegen chronischer Schmerzen Mögliche Auswirkungen körperlicher Funktionseinschränkungen
Mögliche Auswirkungen psychischer Funktionseinschränkungen (einschließlich Medikamentennebenwirkungen)
Arbeitsschwere, Heben und Tragen von Lasten, Tätigkeiten im Stehen, Gehen und Sitzen, Tätigkeiten in Zwangshaltungen und mit häufigem Bücken, Überkopfarbeiten, Tätigkeiten in Kälte und Nässe, Erfordernis der Gebrauchsfähigkeit beider Hände Schicht- und Akkordtätigkeiten, Publikumsverkehr, Übernahme von Verantwortung, Anforderungen an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen sowie an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen
Schmerz bei Gewebeschädigung/-erkrankung mit psychischer Komorbidität. Besteht keine Kongruenz
zwischen Befund und Befinden, ist eine quantitative Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens im Allgemeinen nur dann zu diskutieren, wenn gleichzeitig ausgeprägte Einschränkungen im Alltagsleben und der sozialen Partizipation trotz ausreichender und angemessener Therapie nachweisbar sind. Dabei ist auch zu prüfen, ob im Einzelfall medikamentenbedingt Leistungseinschränkungen vorliegen, die möglicherweise durch eine Therapieoptimierung behoben werden können. Schmerz als Leitsymptom einer psychischen Erkrankung. Handelt es sich um eine Schmerzsymptomatik
ohne erkennbare Gewebeschädigung oder -erkrankung, orientiert sich die Einschätzung am Schweregrad der zugrunde liegenden psychischen Erkrankung (s. 7 Kap. 24).
26.8
. Tab. 26.12 Einteilung komplexer regionaler Schmerzsyndrome (CRPS) (nach Stanton-Hicks et al. [43])
Spezielle Krankheitsbilder
Im Gesamtkollektiv chronischer Schmerzsyndrome stellen chronische Rückenschmerzen den weitaus überwiegenden Anteil dar. Zu Besonderheiten deren Begutachtung sowie der Begutachtung des Fibromyalgiesyndroms sei auf 7 Kap. 7 (Krankheiten des Stütz- und Bewegungssystems) verwiesen. Details zur Begutachtung von Kopfschmerzen finden sich in 7 Kap. 23 (Neurologische Erkrankungen), zu chronischen Bauchschmerzen in 7 Kap. 19 (Gynäkologische Erkrankungen). Im Folgenden soll ergänzend auf die komplexen regionalen Schmerzsyndrome hingewiesen werden, die häufig gutachtliche Probleme beinhalten.
z
CRPS
Synonyme
Auslöser
Typ I
M. SUDECK, sympathische Reflexdystrophie
Meist nach schmerzhaften Traumen der distalen Extremitäten (z. B. Quetschungen, Frakturen) ohne offensichtliche Läsion größerer Nerven
Typ II
Kausalgie
Nach partiellen, klinisch und elektrophysiologisch nachweisbaren peripheren Nervenläsionen
Komplexe regionale Schmerzsyndrome
Komplexe regionale Schmerzsyndrome sind in der wissenschaftlichen Literatur seit vielen Jahren unter den Begriffen wie »Morbus Sudeck«, »sympathische Reflexdystrophie«, »Algodystrophie« und »Kausalgie« bekannt. Der von der International Association for the Study of Pain (IASP) vorgeschlagene, deskriptive Terminus [43] ersetzt die bislang oft unscharf benutzten Begriffe. Gutachtlich sind die »komplexen regionalen Schmerzsyndrome« vor allem deswegen von wesentlicher Bedeutung, weil das Ausmaß der damit verbundenen Beschwerden definitionsgemäß in krassem Missverhältnis zum Schweregrad des auslösenden Ereignisses steht [3] und zumindest beim Typ I (siehe . Tab. 26.12) keine Hinweise auf eine Läsion von (größeren) Nerven vorliegen. Auch hält sich die Lokalisation der Schmerzsyndrome nicht an das Versorgungsgebiet von Nerven, sondern zeigt eine Neigung zur Ausbreitung. Die Ursache dieser komplexen Schmerzsyndrome ist bis heute nicht eindeutig geklärt [2], was für gutachtliche Belange jedoch nur von untergeordneter Bedeutung ist. Die Diagnose stützt sich im Wesentlichen auf die typische Anamnese, vor allem jedoch auf die objektiven Begleitsymptome wie ödematöse Verquellung, Hautverfärbungen, Schweißsekretions-, Temperatur- und trophische Störungen (siehe . Tab. 26.13). Diese sind nicht zuletzt bei der Einschätzung motorischer Störungen von Bedeutung, die Neglect-artig imponieren können [14], bei Fehlen sonstiger charakteristischer Auffälligkeiten in der gutachtlichen Situation jedoch mit Zurückhaltung zu interpretieren sind. So sind bei schwerwiegenderen motorischen Funktionsstörungen stets auch trophische Störungen relevanten Ausmaßes zu erwarten (siehe . Tab. 26.14). Radiologische, szinti- und kernspintomographische Untersuchungen stützen die Diagnose, ergeben jedoch nur bei Schädigungen der distalen Extremitäten typische Befunde. Komplexe regionale Schmerzsyndrome können aber auch an anderen Stellen des Körpers auftreten.
26
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Kapitel 26 · Schmerzsyndrome
. Tab. 26.13 Symptomatik komplexer regionaler Schmerzsyndrome
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Schmerzen
5 Heftige, meist brennende oder bohrende Spontanschmerzen 5 Verstärkung der Schmerzen bei Bewegungen, Herabhängenlassen der Extremität, Berührungsreizen, Wärme- und/oder Kälteexposition
Sensible Störungen
5 Meist keine Hypästhesie oder Hypalgesie
Motorische Störungen
5 Kraftminderung insbesondere bei komplexen Bewegungen 5 Erhaltene Muskeleigenreflexe
Vegetative Störungen
5 Distale Extremität im Vergleich zur gesunden, normal temperierten Seite um mehr als 1 °C kälter oder wärmer 5 Rötlich-livide oder blaß-zyanotische Hautfarbe 5 Gestörte Schweißproduktion (Hyper- oder Hypohidrosis) 5 Ödem (insbesondere bei herabhängender Extremität)
Trophische Störungen
5 5 5 5
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Gestörtes Nagel- und Haarwachstum Hyperkeratose, Fibrosierung und/oder Atrophie der Haut Gelenkversteifungen, Sehnenverkürzungen und/oder Muskelatrophien Knochenstoffwechselstörung mit Demineralisation (Röntgen, Szintigraphie, MRT)
26 . Tab. 26.14 Einteilung des Schweregrades komplexer regionaler Schmerzsyndrome [3]
26 26 26
Grad
Symptomatik
I
Geringer Schmerz, geringe Funktionsstörung, kein hoher Analgetikabedarf, rasche Besserung bei Hochlagerung
II
Stärkere Schmerzen und Funktionsstörung, sofortige Besserung bei Immobilisation, protrahierter Verlauf
III
Ausgeprägte Schmerzen und Funktionsstörungen, keine Schmerzreduktion durch Immobilisation, ausgeprägte trophische Störungen
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Literatur 1
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2 3
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Kapitel 26 · Schmerzsyndrome
sche Begutachtung bei inadäquaten Befunden. Gustav Fischer, Ulm 1997, 16–25 59 Widder B: Sichtbarmachung einer Fiktion: die neue S3-Leitlinie Fibromyalgiesyndrom. Schmerz 2009; 23: 72–74 60 Willweber-Strumpf A, Zenz M, Bartz D: Epidemiologie chronischer Schmerzen. Eine Befragung in 5 Facharztpraxen in Bochum. Schmerz 2000; 14: 84–91
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Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen Wolfgang Hausotter (27.1, 27.3.1 bis 27.3.4); Thomas Merten (27.2); Ingo Fietze (27.3.5)
27.1
Sozialmedizinische Bedeutung – 620
27.2
Beschwerdenvalidierung – 620
27.2.1 27.2.2 27.2.3 27.2.4
Antwortverzerrungen in der Begutachtung – 620 Wichtige differenzialdiagnostische Erwägungen – 622 Methoden zur Erfassung negativer Antwortverzerrungen – 623 Darstellung im Gutachten und Beweislast – 623
27.3
Beschwerdebilder – 624
27.3.1 27.3.2 27.3.3 27.3.4 27.3.5
Schwindel – 624 Erhöhte Erschöpfbarkeit – 627 Umweltassoziierte Erkrankungen – 630 Zervikales Beschleunigungstrauma – 635 Schlafstörungen – 637
Literatur – 641
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
Einführung Wolfgang Hausotter
Im ersten Teil dieses Kapitels wird die Problematik der Begutachtung von im Einzelfall oft schwierig zu beurteilenden Symptomkomplexen aufgezeigt. Der Gutachter soll den zahlreichen und oft drängend vorgebrachten Beschwerden des Probanden gerecht werden, kann jedoch meist keine überprüfbare und nachvollziehbare körperliche Normabweichung nachweisen und in der Mehrzahl der Fälle auch keine schwerwiegende klassische psychische Erkrankung feststellen. Dementsprechend fallen die Beurteilungen oft sehr unterschiedlich aus, was zu langwierigen Kontroversen im Widerspruchsverfahren und vor dem Sozialgericht führen kann. Eine zusätzliche Problematik resultiert daraus, dass einzelne behandelnde Ärzte eine eigene »Expertenmeinung« bezüglich Ätiologie, Pathogenese und Behandlung verschiedener Symptomkomplexe vertreten, die oft erheblich von der wissenschaftlichen Medizin abweicht. Weitere Teile dieses Kapitels beschäftigen sich mit dem wichtigen Problem der Validierung der vorgebrachten Beschwerden im Rahmen der Begutachtung sowie der Beurteilung von Schlafstörungen.
27.1
Sozialmedizinische Bedeutung Wolfgang Hausotter
Die im Folgenden beschriebenen Symptomkomplexe sind zahlenmäßig für Rehabilitation und Erwerbsminderungsrente von eher geringer Bedeutung. Im Jahr 2009 wurde Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bei 71 Antragstellern auf Grund des Symptoms »Schwindel« (R42) anerkannt, bei 131 wegen »erhöhter Erschöpfbarkeit« (G93.3, R53), und bei 8 nach einem zervikalen Beschleunigungstrauma (S13.4). Dabei waren Männer und Frauen etwa gleich betroffen. Die Problematik der Begutachtung liegt im Einzelfall. Die Betroffenen machen meist erhebliche Beschwerden und Leistungseinschränkungen geltend, die schwer fassbar sind, sich dem objektiven Nachweis entziehen und häufig durch ein eigenwilliges Krankheitskonzept geprägt sind. Es existieren meist unterschiedliche Krankheitsmodelle zwischen Untersucher und Proband bzw. dessen behandelnden Ärzten, Rechtsvertretern und Selbsthilfegruppen. Die häufig zugrunde liegenden seelischen Störungen werden fast stets vom Probanden verdrängt und vehement verleugnet, ein den Beschwerden entsprechendes organisches Korrelat liegt meist nicht vor, und dem Gutachter fällt es dann oft schwer, zu einer plausiblen Diagnose zu kommen, gerade wenn eine tiefergehende psychiatrische Exploration nicht gelingt. Die Nähe zu zweckgerichteten Verhaltensweisen mit offenkundigem sekundärem Krankheitsgewinn ist oft sehr augenfällig.
Die medizinische Sachaufklärung ist dabei ausgesprochen schwierig und sozialmedizinische Beurteilungen, besonders im Rechtsmittelverfahren, können beträchtlich differieren. Für die Begutachtung hat die minutiöse Schilderung von Alltagsaktivitäten eine besondere Bedeutung, lässt sie doch am ehesten eine Einschätzung der Teilhabe zu. Offenkundige Inkonsistenzen zu den geltend gemachten Leistungseinschränkungen lassen Zweifel an deren Relevanz aufkommen. Auch die tatsächlich durchgeführte Therapie sollte erfragt werden, denn daraus können Rückschlüsse auf den Leidensdruck der Betroffenen gezogen werden. Lässt sich ein ausgeprägter sozialer Rückzug und eine entsprechende Beeinträchtigung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im Alltag plausibel machen, so wird man daraus eine relevante Leistungsminderung ableiten müssen. Die Rechtsprechung hat jedoch wegen der Simulationsnähe der Beschwerden besonders strenge Maßstäbe für die Plausibilität der sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit gefordert (vgl. 7 Kap. 27.2). Welche medizinische Fachrichtung ist für die Begutachtung dieser im weitesten Sinne »somatoformen« Störungen zuständig? Natürlich ist die Abklärung oder der Ausschluss einer evtl. zugrunde liegenden somatischen Störung vorrangig. Deshalb wird primär der für das jeweilige Beschwerdebild zuständige Facharzt (Orthopäde, Neurologe, HNO, Internist u. a.) betraut werden, falls nicht im Vorfeld der Begutachtung der somatische Befund bereits umfassend abgeklärt wurde. Danach sollte grundsätzlich der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit der Begutachtung beauftragt werden. Je nach Fragestellung kommt auch die Beauftragung des Facharztes für Psychosomatik und Psychotherapie in Betracht. Eine ausschließlich organmedizinische Begutachtung bei einem offensichtlich somatoform geprägten Beschwerdebild führt unweigerlich zu einer Fehlbeurteilung. 27.2
Beschwerdenvalidierung Thomas Merten
27.2.1
Antwortverzerrungen in der Begutachtung
Nach heute weitgehendem Konsens unter kritischen Gutachtern sind Antwortverzerrungen in der Begutachtung mit Regelmäßigkeit zu finden. Dies ergibt sich bereits aus dem in der Regel zu bejahenden sekundären Krankheitsgewinn, der einer Begutachtung immanent ist. Dieses Begehren einer Leistung ist natürlich per se keineswegs illegitim. Die Aufgabe des Gutachters besteht darin, Versicherte mit legitimen Ansprüchen von solchen zu trennen, deren Leistungsansprüche sachlich ungerechtfertigt sind.
621 27.2 · Beschwerdenvalidierung
In diesem Sinne kommt der Begutachtung eine äußerst wichtige regulative Funktion im System der Sozialversicherung zu.
Rolle des Gutachters Die Rolle des Gutachters erfordert den Einsatz geeigneter Methoden zur Erzielung einer hohen Entscheidungsgüte und ist mit dem Schutz Leistungsberechtigter in zweierlei Hinsicht verbunden. Einerseits ist hier die Gewähr für den Versicherten gemeint, Leistungen zu erhalten, wenn er zu deren Empfang berechtigt ist. Andererseits geht es um den Schutz vor Leistungsmissbrauch, der aufgrund beschränkter Ressourcen zwangsläufig zu Lasten der Leistungsberechtigten und zu Lasten der gesamten Versichertengemeinschaft gehen muss (vgl. auch Fabra [12]). Auf der Ebene der Medizin bzw. der klinischen Psychologie bedeutet dies, dass authentische Erkrankungen oder Störungen von nicht-authentischen abzugrenzen sind. Wo ein Gutachter dies nicht leistet, sei es aus weltanschaulichen Gründen, sei es aufgrund sozialpolitischer Erwägungen, sei es aufgrund eingeschränkter fachlicher Qualifikation, kann er seiner Rolle als sachverständiger und unabhängiger Berater bei der Entscheidungsfindung nicht gerecht werden. Hiermit im Zusammenhang steht die Paradoxie des versichertenfreundlichen Gutachters. Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Ansicht, dies sei jemand, der kulant, großzügig und unkritisch (und damit zugleich parteilich) die Interessen einzelner Versicherter gegen die Versicherungen vertritt, muss es sich im korrekten Sinne dieses Wortes um einen Sachverständigen handeln, der berechtigte Interessen der Versichertengemeinschaft insgesamt nicht sachlich ungerechtfertigten Ansprüchen einzelner Personen opfert.
Grundbegriffe Unter negativen Antwortverzerrungen (engl. negative response bias) wird hier das Verhalten einer untersuchten Person verstanden, den Untersucher durch ungenaue oder unvollständige Antworten oder durch die Demonstration von Symptomen oder eingeschränkten Testleistungen zu täuschen. Es werden also zu schlechte Leistungen, mehr oder schwerere Symptome präsentiert bzw. mehr oder schwerere Beschwerden geschildert, als tatsächlich vorliegen. Positive Antwortverzerrungen (Dissimulation) spielen hingegen in der sozialrechtlichen Begutachtung eine gänzlich untergeordnete Rolle. Unter dem Begriff der »Diagnostik der Beschwerdenvalidität« (oder Beschwerdenvalidierung) verstehen wir die Überprüfung der Authentizität oder Glaubhaftigkeit der durch eine Person dargestellten Symptome, der durch sie geschilderten Beschwerden und der Ergebnisse, die
diese Person in einer Leistungsüberprüfung (z. B. in psychologischen Testverfahren) erzielt. Wenn eine Person in einer psychologischen Testuntersuchung eine unzureichende Leistungsanstrengung entfaltet und aufgrund dessen Ergebnisse erreicht, die unterhalb des Niveaus liegen, zu dem sie eigentlich bei voller Leistungsmotivation in der Lage gewesen wäre, spricht man von suboptimalem Leistungsverhalten. Suboptimale Leistungsmotivation und andere Formen negativer Antwortverzerrungen können die Ergebnisse von psychologischen und/oder medizinischen Befunden ungültig machen. Gegenüber bedeutsamen negativen Antwortverzerrungen im oben besprochenen Sinne sind weniger schwere Verdeutlichungstendenzen abzugrenzen, die nicht als grob situationsinadäquat, in einem gewissen Sinne sogar situationsimmanent anzusehen sind und die die Gültigkeit von Beschwerdenschilderung und Befunderhebung nicht grundsätzlich in Frage stellen. Die Übergänge zu einer Aggravation sind fließend, eine exakte Abgrenzung kann im Einzelfall schwierig sein. Für solche Verdeutlichungstendenzen ist zu erwarten, dass erstens spezifische Maße zur Erkennung von negativen Antwortverzerrungen unauffällig ausfallen und zweitens es dem Gutachter gelingt, die authentischen Beschwerden oder Symptome von dieser Ausgestaltung abzugrenzen. In jedem Falle sollten im Befund diese Tendenzen beschrieben werden.
Formen und Auftretensweisen negativer Antwortverzerrungen Negative Antwortverzerrungen treten in unterschiedlicher Form in der Begutachtung auf (vgl. . Tab. 27.1). Ob es sich um eine Verdeutlichung, Aggravation oder Simulation handelt, ist häufig zunächst auf der Beobachtungsebene nicht zu klären. Gelegentlich kann eine solche Klärung im weiteren Begutachtungsverlauf erfolgen, sie muss aber oft auch aufgrund fehlender Information offen bleiben – dann sind verschiedene Hypothesen gleichberechtigt zu diskutieren. Dies sollte unter Bezug auf die objektiven Unsicherheiten in der Entscheidungsfindung im Gutachten ausdrücklich dargestellt werden, um nicht den Eindruck von Entscheidungssicherheit zu vermitteln, wo diese keineswegs vorliegt. Solche Unsicherheiten sind mit Regelmäßigkeit insbesondere dort zu erwarten, wo die Frage der Bewusstheit von negativen Antwortverzerrungen und innerpsychischer Prozesse generell diskutiert wird, die dem Beobachter nicht direkt zugänglich sind und die allenfalls von ihm erschlossen werden können. Das betrifft also die Frage der »Bewusstseinsnähe« von Verhaltens- und Befindlichkeitsstörungen, ihrer Dynamik und der ihnen zugrunde liegenden Motivation (siehe unten).
27
622
Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
27
. Tab. 27.1 Formen negativer Antwortverzerrungen und differentialdiagnostisch relevante Störungen
27
Verdeutlichung
Minder schwere Ausgestaltung oder Überhöhung in der Beschwerdenschilderung oder Symptompräsentation
27
Aggravation
Zielbestimmte Beschwerdenübertreibung und/oder -ausweitung; impliziert wird dabei, dass im Kern auch zum Begutachtungszeitpunkt authentische Beschwerden vorhanden sind
Simulation
Absichtliche, an einem Ziel ausgerichtete Vortäuschung von Symptomen oder fälschliche Schilderung von Beschwerden
Somatoforme und Konversionsstörungen
Psychische Störungen, in deren Mittelpunkt körperliche Beschwerden stehen, die sich nicht oder nicht hinreichend auf eine organische Erkrankung zurückführen lassen. Eine Aggravation oder Simulation muss für die Diagnosestellung ausgeschlossen werden
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Artifizielle Störung / selbstmanipulierte Störung
Zielgerichtete Vortäuschung oder Erzeugung von Symptomen oder Krankheiten mit einem primären Krankheitsgewinn; werden ebenfalls als psychische Störung aufgefasst
Persönlichkeitsstörungen, die zu eingeschränkter Anstrengungsbereitschaft, falschen Angaben oder anderem unkooperativem Verhalten führen Psychiatrische Erkrankungen im engeren Sinne oder psychopathologische Phänomene, die mit eingeschränkter Mitwirkung verbunden sind oder in deren Rahmen Motivationsprozesse selbst betroffen sind Situationsbedingte Faktoren, die zu unkooperativem Verhalten führen
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Auftretenshäufigkeit Angaben zur Häufigkeit negativer Antwortverzerrungen in der Begutachtung schwanken beträchtlich; sie wird meist dort unterschätzt, wo Antwortverzerrungen nicht untersucht werden. Wo mit empirisch entwickelten Methoden und klaren, wissenschaftlich begründbaren und nachvollziehbaren Kriterien gearbeitet wird, stellt sich heraus, dass eine substanzielle Anzahl von Begutachteten nicht ausreichend kooperativ ist und negative Antwortverzerrungen in einem solchen Ausmaß zeigt, dass eine sachgerechte Beurteilung der Leistungsfähigkeit nicht möglich ist. Geringe oder gänzlich fehlende objektive Erkrankungszeichen sind häufig mit stärkeren Beschwerden und stärkeren geltend gemachten Leistungseinschränkungen gekoppelt. Je mehr Symptome auf einer subjektiven Schilderung beruhen und schwer oder gar nicht auf der Befundebene angemessen abzubilden sind, desto eher ist mit negativen Ant-
wortverzerrungen zu rechnen. Entsprechend sind nach heute vorliegenden Schätzungen Antwortverzerrungen in höherem Ausmaß für triviale, fragliche oder sehr leichte Kopfverletzungen, für Distorsionstraumen der Halswirbelsäule, aber auch bei geltend gemachter posttraumatischer Belastungsstörung zu finden. Auch bei Versicherten mit Diagnosen wie anhaltende somatoforme Schmerzstörung, Fibromyalgie, chronisches Erschöpfungssyndrom und umweltassoziierte Erkrankungen ist die Möglichkeit negativer Antwortverzerrungen spezifisch und sachkundig zu untersuchen. 27.2.2
Wichtige differenzialdiagnostische Erwägungen
Unter den oben aufgezeigten Problemen verdienen zwei einer besonderen Hervorhebung und vertiefenden Darstellung.
Differenzierung zwischen Simulation, artifizieller Störung und somatoformer / Konversionsstörung Diese stellt eine besondere Herausforderung deshalb dar, weil die Unterscheidung zwischen den drei Kategorien allein auf einer Beurteilung von innerpsychischen Prozessen beruht, die dem Gutachter nicht direkt zugänglich sind. Hier stellt sich die Frage, ob die nicht-authentische Symptompräsentation oder die inadäquate Beschwerdenschilderung und die ihr zugrunde liegende Motivation dem Versicherten bewusst oder nicht bewusst ist (vgl. . Tab. 27.2). Diesbezügliche gutachtliche Beurteilungen sind häufig nicht ausreichend nachvollziehbar. De facto ist einzugestehen, dass in zahlreichen Fällen eine Beurteilung kaum mit ausreichender Sicherheit erfolgen kann. In solchen Fällen sollte genau dies expliziert werden; rein spekulative Schlüsse sollten in jedem Falle vermieden werden.
Differenzierung zwischen Simulation und Aggravation Milde Verzerrungstendenzen im Sinne einer Verdeutlichung, wie oben beschrieben, sollten eine gutachtliche Beurteilung nicht wesentlich behindern können. Wenn hingegen bedeutsame negative Antwortverzerrungen festgestellt werden, werden diese durch Gutachter in der Regel als Aggravation beschrieben. Diese Beschreibung unterstellt, häufig stillschweigend, dass ein realer, authentischer Kern an Beschwerden oder Symptomen zum Begutachtungszeitpunkt vorliegt. Eine solche Annahme ist aber häufig spekulativ; der Urteilsprozess wird in den wenigsten Fällen expliziert und damit nachvollziehbar gemacht. Wenn nicht klar ist, ob ein solcher realer Kern vorliegt,
623 27.2 · Beschwerdenvalidierung
Beschwerdenvalidierungstests (BVT)
. Tab. 27.2 Entscheidungsgrundlage Entscheidung
Präsentation nicht-authentischer Symptome
Motivation
Simulation/Aggravation
Bewusst
Bewusst
Artifizielle Störung
Bewusst
Unbewusst
Somatoforme und Konversionsstörungen
Unbewusst
Unbewusst
muss korrekterweise von einer Simulation oder Aggravation gesprochen werden und die Entscheidung zwischen beiden offen gelassen werden. 27.2.3
Methoden zur Erfassung negativer Antwortverzerrungen
Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung Grundlage und wichtigstes Mittel zur Prüfung der Authentizität ist eine Analyse der Konsistenz und Plausibilität, die Gutachter in jedem Fachgebiet leisten können. Hierzu werden Informationen, die aus verschiedenen Quellen stammen, miteinander abgeglichen und auf Stimmigkeit geprüft. Solche Informationen können folgenden Ursprungs sein: 4 Aktenlage, Vorinformationen, Erstschadensbericht 4 Beschwerdenvortrag, selbst geschilderte Funktionsstörungen und Einschränkungen 4 Eigene klinische Befunderhebung, Verhaltensbeobachtung 4 Ergebnisse von Tests und Fragebögen 4 Ergebnisse apparativer Untersuchungen 4 Kenntnisse oder Angaben über das tatsächliche Funktionsniveau im Alltag 4 Krankheits- und störungsbezogenes Wissen und Wissen über den üblichen zeitlichen Verlauf 4 Fremdanamnestische Angaben Konsistenz wird innerhalb und zwischen diesen Bereichen geprüft. Nicht jede Inkonsistenz ist unplausibel, nicht jede Konsistenz spricht automatisch für die Authentizität der Angaben. So wichtig die Konsistenzprüfung einerseits ist, liegt doch andererseits das Grundproblem darin, dass ihre Regeln schwer explizierbar sind, die diesbezüglichen Urteile damit gelegentlich beliebig ausfallen und nicht immer nachvollziehbar sind. Eine solide und profunde Konsistenzprüfung hängt sehr stark vom Gutachter und seiner individuellen fachlichen Qualifikation ab.
Die beste gegenwärtig verfügbare Klasse von Methoden, die eine Identifizierung negativer Antwortverzerrungen gestatten und empirisch sehr gut untersuchbar sind, wird als BVT bezeichnet. Diese Methoden wurden ursprünglich bei Wahrnehmungsstörungen eingesetzt, haben aber inzwischen eine besondere Bedeutung bei der Begutachtung geltend gemachter kognitiver Störungen erhalten. Unter bestimmten Bedingungen sind willentliche, zielgerichtete Manipulationen von Versicherten mathematisch begründet beweisbar. Neben einzelfallexperimentellen Anordnungen, die ein Gutachter fragestellungsspezifisch einsetzen kann (vgl. dazu Merten & Puhlmann [39]), sind standardisierte Verfahren verfügbar, wie beispielsweise der TOMM (Test of Memory Malingering) oder der Amsterdamer Kurzzeitgedächtnistest. Gutachter müssen für den Einsatz von BVT gut qualifiziert sein, um Fehlklassifikationen zu vermeiden. Ältere Tests, insbesondere der auch heute noch relativ weit verbreitete Fifteen Item Test von Rey, genügen nicht mehr den Qualitätsansprüchen, die an BVT zu stellen sind.
Fragebogendiagnostik Fragebogenergebnisse sind keinesfalls als Objektivierung von Beschwerden aufzufassen, denn sie beruhen ausschließlich auf den subjektiven Angaben des Versicherten. Es liegen jedoch spezifische Kontrollinstrumente und Skalen vor, die, ähnlich wie die BVT, Angaben zur Möglichkeit negativer Antwortverzerrungen machen. Ohne den Einsatz adäquater Kontrollskalen ist die Validität von Fragebogenergebnissen prinzipiell als ungeprüft zu betrachten.
27.2.4
Darstellung im Gutachten und Beweislast
Die Darstellung im Gutachten sollte sachlich und nachvollziehbar erfolgen. Angaben zu den Beschwerden und selbst erhobene Befunde sind sorgfältig zu trennen, Interpretationen und Deutungen sind als solche klar zu kennzeichnen. Auch für psychische Störungen ist eine Beschwerdenschilderung kein Symptomnachweis. Negative Antwortverzerrungen, wenn sie festgestellt werden, können dazu führen, dass Beurteilungen zur Leistungsfähigkeit nicht getroffen werden können; eine Aggravation kann damit zum Beweisführungshindernis werden. Auch im Rentenverfahren trägt der Versicherte die Beweislast; es ist nicht Aufgabe des Gutachters, Krankheiten als nachgewiesen darzustellen, wenn diese nicht mit ausreichender Sicherheit feststellbar sind. Statt eines uniform verwandten Textbausteins »Kein Hinweis auf Simulation
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Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
oder Aggravation«, sollte im Detail dargestellt werden, worauf ein solches Urteil beruht. Nur dann ist auch die Güte dieser Beurteilung erkennbar.
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27.3
Beschwerdebilder
27.3.1
Schwindel Wolfgang Hausotter
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Schwindel ist eine unangenehme Verzerrung der Raumund Bewegungswahrnehmung, verbunden mit Gleichgewichtsstörungen (siehe auch 7 Kap. 22). Es handelt sich um ein außerordentlich häufiges, vieldeutiges, oft wenig fassbares und unspezifisches Phänomen, hinter dem sich eine Fülle sehr unterschiedlicher Krankheitsbilder verbergen kann. Neurologen, HNO-Ärzte, Internisten, Orthopäden und Psychiater befassen sich mit diesem Phänomen. Schwindel ist nach Kopfschmerzen das zweithäufigste neurologische Symptom. Etwa 60 % der Patienten einer Allgemeinpraxis sollen über Schwindelsymptome klagen. Dabei wird in der Bevölkerung darunter oft nur ein »irgendwie komisches Gefühl« verstanden, welches sich meist sehr schwer präzise zuordnen lässt. Die Lebenszeitprävalenz für mittelstarken bis heftigen Schwindel liegt bei etwa 30 %. Zur Erhaltung einer normalen Raumorientierung und eines stabilen Gleichgewichts bedient sich der Körper dreier verschiedener Informationsquellen: 4 des visuellen Systems, 4 des Vestibularapparates und 4 der propriozeptiven Sensibilität über die peripheren Nerven und das Rückenmark. Fällt eine dieser Informationsquellen aus, so gelingt meist relativ rasch eine befriedigende zentrale Kompensation und die Gleichgewichtsfunktion ist im Allgemeinen nur gering beeinträchtigt. Sind aber weitere Informationszuflüsse gestört, so ergibt sich der Eindruck von Gleichgewichtsstörungen, die der Betroffene als »Schwindel« bezeichnet. Die zentrale Verarbeitung der eingehenden Afferenzen aus den drei Informationskanälen erfolgt im Bereich des Kleinhirns und des parieto-temporalen Kortex. Dort werden die eingehenden Informationen ständig miteinander und mit früheren Bewegungserfahrungen verglichen und verrechnet. Sofern erforderlich, erfolgen entsprechende motorische Antworten mit Beeinflussung des Muskeltonus und der Körperhaltung.
Klassifikation und Stadieneinteilungen Grundsätzlich ist die Anamnese bei der Abklärung von Schwindel von entscheidender Bedeutung. Drehschwindel, Liftgefühl sowie Lateropulsion sind als systematischer
Schwindel meist durch eine vestibuläre oder zentrale Läsion bedingt. Ungerichtetes Schwanken, Betrunkenheitsgefühl, Leeregefühl im Kopf, ein Gefühl der Benommenheit, Augenflimmern oder ein Schwarzwerden vor den Augen lassen an einen unsystematischen Schwindel unterschiedlicher Genese denken. Die Dauer des Schwindels ermöglicht eine weitere ätiologische Zuordnung. Nur Sekunden bestehende Attacken sprechen für einen Lagerungsschwindel, eine Dauer von mehreren Minuten lässt an eine vertebrobasiläre Insuffizienz denken, ein stundenlanger Schwindel an einen Morbus Menière und ein Schwindel, der über Tage anhält, an eine Neuritis vestibularis. Eine allgemeine Gangunsicherheit kann auf eine periphere Polyneuropathie oder eine Hinterstrangaffektion hinweisen. Sie nimmt bei Augenschluss oder in Dunkelheit bei Wegfall der optischen Kontrolle zu. Die Kombination mit Angst und Phobien oder auch ein situationsgebundener Schwindel, etwa auf Treppen und Brücken, legt einen psychogenen Schwindel nahe. Nach der Ätiologie kann man einen vestibulären, einen zentralen und einen somatoformen bzw. psychogenen Schwindel unterscheiden, wobei ungerichtete Gleichgewichtsstörungen bei verschiedenen Allgemeinerkrankungen zusätzlich zu berücksichtigen sind. z
Vestibulärer Schwindel
Zum Komplex des vestibulären Schwindels siehe 7 Kap. 22.2.2.
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Zentraler Schwindel
Als zentral bedingt werden sehr unterschiedliche Schwindelformen gewertet. Teils werden sie auf in der Bildgebung nachweisbare Läsionen im Bereich von Hirnstamm und Kleinhirn entzündlicher (z. B. Multiple Sklerose) oder vaskulärer Art (z. B. Hirnstamm- oder Kleinhirninsulte), teils aber auch auf eher diffuse Störungen (z. B. durch arterielle Hypertonie, Herzrhythmusstörungen, Orthostase, Anämie) zurückgeführt. Einzelne zentral-vestibuläre Schwindelformen lassen sich durch unterschiedliche Nystagmusformen (horizontal, vertikal, torsionell) differenzieren. Die »vertebro-basiläre Insuffizienz« kann als transiente ischämische Attacke des Hirnstamms aufgefasst werden, wobei mit diesem Begriff jedoch nicht selten unkritisch diagnostisch unklare, intermittierende Schwindelbeschwerden bezeichnet werden. Ein Kleinhirnbrückenwinkeltumor zeigt zu Beginn häufig uncharakteristische Schwindelsymptome. Bei der vestibulären Migräne kann Schwindel das einzige oder herausragende Symptom sein. Viele Manifestationen des zentralen Schwindels sind klinisch unbestimmt und entsprechen mehr einem »unsystematischen« Schwindel, wobei eine globale zerebrale
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Minderdurchblutung mit Gleichgewichtsstörungen anzunehmen ist. Eine enge Verknüpfung von vaskulärer Beeinträchtigung, Sehminderung, Angst (z. B. in Form von phobischem Schwindel), Regression und Verlust von Sicherheitsgefühlen ist für den häufigen »Altersschwindel« oder die »Alterstaumeligkeit« charakteristisch. z
Zervikogener Schwindel
Als umstritten gilt die Existenz eines »zervikogenen oder vertebragenen Schwindels«, bei dem eine Irritation der Rezeptoren für Raumorientierung, Haltungsregulation und Kopf-Rumpf-Koordination im Bereich der HWS postuliert wird. Die pathophysiologischen Kenntnisse in diesem Bereich sind immer noch mangelhaft, die Untersuchungsmethoden teilweise unspezifisch, nicht validiert und unzureichend standardisiert und es existiert eine erhebliche Begriffskonfusion, so dass von Brandt et al. [5] von einem »Glaubenskrieg« gesprochen wird. Es ist bis heute keine Schwindelform genau definiert, die auf eine HWS-Störung zurückzuführen ist. Die bislang vorgebrachten Befunde reichen im Sinne einer »evidence based medicine« nicht als Beleg für die Existenz eines HWSSchwindels aus [19]. Gutachtlich können sich hier erhebliche Probleme ergeben, vor allem in der Unfallbegutachtung. Die vor allem von rein organmedizinisch ausgerichteten Ärzten beispielsweise nach HWS-Schleudertrauma (vgl. 7 Kap. 27.3.4) getroffene Feststellung eines »vertebragenen Schwindels« stellt nicht selten eine Fehldiagnose dar, mit den Folgen einer Fixierung der Patienten auf eine ausschließlich somatische Beschwerdeursache, unterbleibender Diagnostik und Therapie auf psychiatrischpsychotherapeutischem Gebiet und auf Dauer frustraner Behandlung. In letzter Konsequenz wird von den Betroffenen oft nur noch die Berentung angestrebt. z
Somatoformer bzw. psychogener Schwindel
Ergibt sich bei der eingehenden körperlichen Untersuchung einschließlich gezielter Zusatzdiagnostik kein pathologischer Befund und sprechen psychopathologischer Befund, Persönlichkeitsstruktur, die biografische Anamnese sowie die auslösenden Begleitumstände mit psychosozialen Konfliktsituationen dafür, so ist an einen psychogenen bzw. somatoformen Schwindel zu denken. Eine weitergehende Exploration ist dann das entscheidende diagnostische Instrument. Psychopathologische Begleiterscheinungen wie Angststörungen, Agoraphobie, Vermeidungsverhalten, depressive Symptome und vorangegangene Belastungsund Konfliktsituationen und deren zeitlicher Zusammenhang sind zur Diagnosestellung essentiell, ebenso die Schilderung vegetativer Erscheinungen wie Herzrasen,
Mundtrockenheit, Schweißausbrüche, Hyperventilation und Leeregefühl im Kopf. Der psychogene Schwindel kann Symptom einer depressiven, phobischen, dissoziativen, Konversions-, Anpassungs- oder somatoformen Störung, einer Reaktion auf schwere Belastungen oder einer neurotischen Entwicklung sein. Im Sinne einer bizarren Leibgefühlsstörung kann er auch für eine schizophrene Psychose sprechen. Sehr oft sind organische Auslöser des Schwindels vorausgegangen und die psychoreaktiven Störungen überschneiden sich damit in vielfacher Weise. Die ursprünglich organisch bedingte Beeinträchtigung der Lebensqualität kann u. U. zur Entwicklung oder Dekompensation psychischer Störungen unterschiedlicher Art führen. Als Angstäquivalent kann Schwindel signalisieren, dass das seelische Gleichgewicht bedroht oder bereits dekompensiert ist. Auf den »Schwindel der Angstneurose« hatte bereits Freud hingewiesen. Schwindel kann sowohl als Affekt- als auch als Depressionsäquivalent gewertet werden. Bei allen Formen der Depression ist Schwindel als Symptom häufig. Die Klagen sind dabei stets diffus, unbestimmt und wenig präzise, oft auch eigenartig blass und wechselnd. Als Konversionsphänomen ist Schwindel im Sinne der »Übersetzung« früherer unbearbeiteter Konflikte in die Körpersprache ebenfalls nicht selten. Vielfältige Phobien sind mit der Empfindung »Schwindel« verknüpft. z
Phobischer Schwankschwindel
Der phobische Schwankschwindel wird nach dem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel als zweithäufigste Schwindelursache in der Neurologie gewertet. Charakteristisch ist die Kombination eines Schwankschwindels mit einer subjektiven – nicht objektiven – Stand- und Gangunsicherheit. Es kann auch ein Benommenheitsgefühl empfunden werden. Attackenartige Verschlechterungen sind möglich. Sie können beim selben Patienten mit oder ohne erkennbare Auslöser auftreten und – jedoch nicht obligat – mit begleitender Angst kombiniert sein. Die Erstmanifestation fällt häufig mit besonderen psychischen Belastungen oder Krankheitserlebnissen zusammen, kann aber auch als eine phobische Entwicklung nach abgeklungenem organischem vestibulären Schwindel auftreten. Die Altersverteilung wird von der Adoleszenz bis zum Senium mit einem Häufigkeitsgipfel in der vierten und fünften Dekade ohne Geschlechtspräferenz angenommen. In etwa 50 % der Fälle wird eine hohe Komorbidität mit Angst oder Panikerkrankungen sowie einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung beschrieben. Es gelten fünf Kriterien für die Diagnose [6]:
4 Die Patienten klagen über Schwankschwindel und subjektive Stand- und Gangunsicherheit bei nor-
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Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
malem neurologischem Befund und unauffälligem Gleichgewichtstest. Der Schwindel wird als eine fluktuierende Unsicherheit von Stand und Gang mit attackenartiger Fallangst ohne Sturz beschrieben, wobei Angst und vegetative Missempfindungen nicht obligat sind. Die Attacken treten oft in typischen Situationen auf, die auch als Auslöser anderer phobischer Syndrome bekannt sind, wie Aufenthalt auf Brücken, Auto fahren (besonders auf Autobahnen), große leere Räume oder Menschenansammlungen in Kaufhäusern. Die Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen wird meist als zwanghaft beschrieben, oft verbunden mit einer reaktiven depressiven Symptomatik. Der Beginn der Erkrankung kann auf eine organische vestibuläre Funktionsstörung wie eine Neuritis vestibularis zurückgehen, ebenso gut auf eine psychische Belastungssituation. Schwindel nach einem Schädel-Hirntrauma
Schwindel wird nach einem Schädel-Hirntrauma (vgl. 7 Kap. 23.2.2) häufig geklagt, wobei ein organisches Substrat zunächst sorgfältig diagnostisch abzuklären ist. Eine Perilymphfistel, eine Labyrinthkontusion, ein posttraumatischer Lagerungsschwindel u. a. sind möglich. Häufig entstehen aber Probleme in der Begutachtung von Probanden, bei denen sich nach nur leichten Verletzungen des Kopfes oder der Halswirbelsäule keinerlei somatisches Korrelat für die geklagten Beschwerden findet, diese aber hartnäckig und mit Tendenz zur Verschlimmerung vorgetragen werden. Polypragmatische Behandlungsmaßnahmen und ein einfaches Erklärungsmodell für den Schwindel seitens des behandelnden Arztes – »kommt alles vom Unfall« – fördern eine iatrogen bedingte somatische Fixierung und darüber hinaus auch ein eventuell vorhandenes Entschädigungsbegehren, welches für die Prognose der Beschwerden erhebliche Bedeutung hat. Unter diesem Eindruck sind die Betroffenen oft für eine ergänzende psychiatrisch-psychotherapeutische Diagnostik und eine multimodale Behandlung kaum mehr erreichbar. Eine besonders vulnerable Lebenssituation zum Zeitpunkt des Unfalls kann ausschlaggebend sein, so dass – bewusst oder unbewusst – eine ausgesprochen ungünstige weitere Entwicklung angestoßen wird. Kommen dann bei langwierigem Verlauf mit unterschiedlichen gutachtlichen Einschätzungen Enttäuschungen über die materielle Entschädigung hinzu, so wird die posttraumatische Symptomatik weiter fixiert, chronifiziert und im Sinne einer narzisstischen Kränkung erlebt. Der Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung ist dann oft die Folge.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Die objektivierbare organische Gleichgewichtsstörung beeinträchtigt Aktivitäten und Partizipation im beruflichen und im privaten Bereich, soweit Tätigkeiten in größerer Höhe, auf Leitern und Gerüsten, mit Absturzgefahr und mit Anforderungen an den Gleichgewichtssinn betroffen sind. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass auch der psychogene Schwindel zu entsprechenden Leistungseinschränkungen führen kann, wenn die Symptomatik sehr deutlich ist und sich ausgeprägte Ängste manifestiert haben. Kontextfaktoren kommt hier besondere Bedeutung zu.
Diagnostik und Sachaufklärung Das vieldeutige Symptom Schwindel erfordert grundsätzlich eine eingehende organische Abklärung auf allen oben genannten Fachgebieten einschließlich neurophysiologischer und bildgebender Diagnostik, wobei dem MRT u. a. zum Ausschluss einer Raumforderung im Kleinhirnbrückenwinkelbereich besondere Bedeutung zukommt. Möglichst frühzeitig sollte aber auch eine psychiatrische Exploration erfolgen, um seelische Faktoren zu erfassen. Wünschenswert ist es, dem Betroffenen von Anfang an die Möglichkeit einer seelischen Ursache als gleichwertig neben einer organischen Genese aufzuzeigen und nicht erst zuletzt, wenn man »nichts gefunden« hat. Psychosomatische Aspekte werden dann meist bereitwilliger akzeptiert, wenn sie dem Patienten nicht als »Verlegenheitsdiagnose« deklariert werden.
Begutachtungskriterien, Zielkriterien Das Symptom Schwindel kann einerseits auf einer Schädigung von Körperstrukturen (Gleichgewichtsorgan, zentral-vestibuläre Strukturen) beruhen, andererseits aber auch Ausdruck einer Schädigung von Körperfunktionen (einschließlich psychischer Funktionen) sein. Für die Einschätzung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ist die individuelle Genese der Symptomatik nachrangig. Die Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung ist daher nicht in erster Linie auf die Feststellung der Diagnose ausgerichtet, wenngleich diese im Hinblick auf prognostische Aussagen durchaus einbezogen werden muss. Vielmehr beziehen sich die Begutachtungskriterien hier vorrangig auf die Prüfung der trotz einer Gesundheitsstörung vorhandenen Funktionen und Aktivitäten, die für die Teilhabe am Erwerbsleben von Bedeutung sind. Abhängig von Art, Frequenz, Dauer und Ausmaß der Chronifizierung der Beschwerden können Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Teilhabe durch eine Schwindelsymptomatik die Bereiche Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben und interpersonelle Interaktionen betreffen. Bei einem psychogenen Schwindel sind auch Beeinträch-
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tigungen kognitiver, affektiv-emotionaler, psychomotorischer und komplex-integrativer Funktionen häufig. Personbezogene (z. B. eine vorbestehende Gehbehinderung) und umweltbezogene (z. B. soziale Unterstützung) Kontextfaktoren können positiv oder negativ modulierend wirken (vgl. 7 Kap. 24).
Sozialmedizinische Beurteilung Die Begutachtung muss sich stets am Einzelfall orientieren. Schwindel kann sich von leichten Befindlichkeitsstörungen bis hin zu schwerst behindernden Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen manifestieren. Entscheidend sind die funktionellen Auswirkungen auf den beruflichen und privaten Alltag. Besondere Aufmerksamkeit sollte der individuellen Nutzung der therapeutischen Möglichkeiten gewidmet werden. Hervorzuheben sind die Erfordernis einer gezielten Krankengymnastik mit Anleitung zu eigenen Übungen, die vom Arzt erfolgreich durchführbaren Bewegungsmanöver nach Brandt und Daroff gerade auch beim paroxysmalen Lagerungsschwindel und letztlich auch diverse medikamentöse Behandlungsmaßnahmen. Entscheidend ist die kritische Bewertung aller Fakten, die den Leidensdruck und die tatsächliche Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe transparent machen, darunter 4 die hinterfragten Behinderungen im privaten Alltag und im Berufsleben, 4 die durchgeführte ärztliche oder psychologisch-psychotherapeutische Behandlung einschließlich medikamentöser Therapiemaßnahmen und 4 die durchgeführten ambulanten/stationären Rehabilitationsmaßnahmen. Daraus wird man die Folgerungen für die sozialmedizinische Beurteilung ziehen. Eine schematische Beurteilung ist nicht möglich. Die Einschätzung des qualitativen und quantitativen Leistungsvermögens richtet sich vor allem nach den Fähigkeitseinschränkungen sowohl infolge der Grunderkrankung als auch der Komorbidität (z. B. einer sekundären depressiven Anpassungsstörung). Ein Labyrinthausfall wird im Allgemeinen zentral kompensiert, bei der Menière’schen Erkrankung hängt die Beurteilung von der Attackenfrequenz ab, ein paroxysmaler Lagerungsschwindel gilt grundsätzlich als benigne, der zentrale und der somatoforme Schwindel sind in ihrer Bedeutung abhängig von den zugrundeliegenden Störungen. Schließlich wird man auch den Längsschnitt des Verlaufs berücksichtigen. Grundsätzlich sollte versucht werden, die Angaben des Betroffenen – soweit möglich – im Rahmen der Untersuchung zu überprüfen, durch fremdanamnestische Aussagen zu ergänzen, mit den durchgeführten Therapiemaßnahmen
in Einklang zu bringen und hinsichtlich der Einschränkung der gesamten, auch außerberuflichen Gestaltungs- und Erlebnisfähigkeit zu bewerten. Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und in größeren Höhen mit Absturzgefahr sind auch bei psychogenem Schwindel dann nicht zumutbar, wenn die seelische Störung mit einer entsprechend starken Beeinträchtigung verbunden ist. Beim akuten Schwindel ist Arbeitsunfähigkeit für die genannten Beschäftigungen gerechtfertigt. Man wird im weiteren Verlauf den Erfolg entsprechender Behandlungsmaßnahmen abwarten. Bei länger anhaltendem Schwindel ist nach Ausschöpfung der ambulanten Therapiemaßnahmen eine stationäre Rehabilitation in einer Klinik zweckmäßig, die auch auf seelische Aspekte des Schwindels eingehen und ein entsprechendes Behandlungsangebot machen kann. Eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben ist dann erforderlich, wenn sich der Schwindel als therapieresistent erweist, die bisherige berufliche Tätigkeit dadurch schwerwiegend eingeschränkt wird und eine solche Leistung dem Betroffenen aller Voraussicht nach den Verbleib im Erwerbsleben ermöglicht. Bei gering bis mittelgradig ausgeprägtem Schwindel wird man leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Berücksichtigung der o. a. funktionellen Leistungseinschränkungen mehr als 6 Stunden täglich als zumutbar erachten können. Liegt ein Schwindel in schwerer Ausprägung vor, auch psychoreaktiver Genese, und ist eine erhebliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in allen Lebensbereichen plausibel zu machen, so wird man von einem aufgehobenen Leistungsvermögen ausgehen müssen. Entscheidend ist aber stets der Einzelfall mit überzeugendem Nachweis entsprechender Behinderungen gerade auch im privaten Bereich. Bei einem noch nicht chronifizierten Schwindel ist von einer zeitlich befristeten Leistungsminderung auszugehen. Von Bedeutung ist auch die Exploration der Teilnahme am Straßenverkehr. Fährt der Proband noch Auto und kam er damit alleine zur Untersuchung, wird man der Feststellung einer Leistungsminderung sehr skeptisch gegenüberstehen. Andererseits ist die Fahrt zum Arbeitsplatz manchmal ein entscheidender Faktor für eine berufliche Eingliederung.
27.3.2
Erhöhte Erschöpfbarkeit Wolfgang Hausotter
Beard beschrieb 1869 als »nervous exhaustion« ein Krankheitsbild mit erhöhter Erschöpfbarkeit, vorzeitiger Ermüdung und einer Fülle weiterer unspezifischer Befindlichkeitsstörungen. Es wurde in Europa als »Neurasthenie« rasch populär und hatte jahrzehntelang den Status einer »Modediagnose«.
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Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
Zwischen 1934 und 1957 wurden in den USA und in England mehrfach Erkrankungen beschrieben, die mit akuter allgemeiner Schwäche und leichtem Fieber, aber ohne neurologische Ausfälle einhergingen, wobei man damals eine »atypische Poliomyelitis« diskutierte. Ähnliche Krankheitssymptome traten zwischen 1950 und 1980 zum Teil epidemieartig auf – weshalb der Begriff »benigne epidemische myalgische Encephalomyelitis« geprägt wurde. 1984 wurden ähnliche Krankheitsbilder in der Region des Lake Tahoe in den USA beobachtet und zogen die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Das Epstein-BarrVirus oder ein Herpesvirus wurden lange als Ursache angenommen, was sich später nicht bestätigte. Seit 1988 wird das Krankheitsbild von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta als »Chronic Fatigue Syndrom (CFS)« oder chronisches Erschöpfungssyndrom bezeichnet. Es hat auch in Deutschland in den letzten 10 Jahren vermehrt Aufmerksamkeit gefunden, nicht zuletzt durch die Aktivitäten entsprechender Selbsthilfegruppen und selbst ernannter »Experten«, die vehement eine organische oder externe Ursache postulieren, eine seelische Verursachung strikt ablehnen und eine psychiatrische bzw. psychotherapeutische Diagnostik und Behandlung verhindern.
Definition und Diagnosekriterien
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Die Diagnose »chronisches Erschöpfungssyndrom« ist rein deskriptiv und entzieht sich einem Nachweis mit objektiven Methoden. Die 1988 von Fukuda et al. aus den CDC publizierten Diagnosekriterien für das Chronic Fatigue Syndrom wurden 1994 etwas modifiziert [15]:
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Hauptkriterien
Persistierende Müdigkeit oder leichte Erschöpfbarkeit für mindestens 6 Monate, welche 4 nicht durch eine andere Erkrankung erklärt werden kann, 4 neu aufgetreten ist, 4 nicht Folge einer chronischen Belastungssituation ist, 4 nicht deutlich durch Bettruhe zu beheben ist und 4 so ausgeprägt ist, dass die durchschnittliche Leistungsfähigkeit deutlich reduziert wird. z
Nebenkriterien
(mindestens vier Nebenkriterien sechs Monate anhaltend sind zu fordern) 4 Halsschmerzen, 4 schmerzhafte zervikale oder axilläre Lymphknoten, 4 Muskelschmerzen, 4 wandernde, nicht entzündliche Arthralgien, 4 neu aufgetretene Kopfschmerzen, 4 Konzentrations- und Kurzzeitgedächtnisstörungen,
4 keine Erholung durch Schlaf, 4 verlängerte (> 24 Stunden), generalisierte Müdigkeit nach früher tolerierten Beanspruchungen. z
Definition der Neurasthenie
In der ICD-10 werden für Neurasthenie (F48.0) als diagnostische Kriterien gesteigerte Ermüdbarkeit nach geistiger Anstrengung oder körperliche Schwäche und Erschöpfbarkeit nach geringsten physischen Belastungen, zusätzlich Muskelschmerzen, Schwindelgefühle, Spannungskopfschmerzen, Schlafstörungen, Reizbarkeit und andere Befindlichkeitsstörungen aufgeführt, die sich mit den Diagnosekriterien des CFS weitgehend decken. Es bleibt zu bedenken, dass chronische Müdigkeit eine der am häufigsten geäußerten Beschwerden in der Arztpraxis darstellt und sehr viele unterschiedliche körperliche und psychische Störungen damit einhergehen.
Epidemiologie Betroffen von CFS sind vor allem junge Menschen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Die Prävalenz wird sehr unterschiedlich angegeben, etwa 0,5 % der Allgemeinbevölkerung in Deutschland seien im Durchschnitt davon betroffen. Frauen seien etwa 1,5 bis 2 mal häufiger als Männer erkrankt [16]. Divergierende Zahlen beruhen nicht zuletzt auf den recht unscharfen diagnostischen Kriterien.
Ätiologie, Diagnostik, Therapie und Prognose z
Ätiologie
Die Diskussion über die Ursache des CFS wird immer noch sehr kontrovers geführt. Es ist durchaus umstritten, ob es sich überhaupt um eine abgrenzbare, eigenständige Krankheit handelt. An extremen Standpunkten wird einerseits eine rein somatische Genese vertreten, bisher vor allem gestützt auf immunologische Vorstellungen und Einzelbefunde. Eine Virusgenese wurde niemals belegt. Störungen der Hypophysen-Hypothalamus-Nebennieren-Achse, eine Imbalance der Neurotransmitter, Exposition mit Umweltgiften und neuerdings eine NO-Stoffwechselstörung werden immer wieder als Belege für eine organische Genese vorgebracht. Die moderne Neurobiologie hat ähnliche biochemische Veränderungen auch bei somatoformen und depressiven Störungen gefunden. Trotz einer Fülle von Einzelarbeiten, die den jeweiligen Standpunkt zu untermauern versuchen, besteht letztlich kein allgemeiner Konsens. Ein psychodynamisches Krankheitskonzept wertet ganz im Gegensatz dazu das CFS als rein psychogen bedingt. Kütemeyer [32] konnte überzeugend darlegen, dass das CFS als besondere Form der Angstneurose aufgefasst werden kann, wobei sie sich auf nachvollziehbare psychoanalytische Erwägungen von Sigmund Freud 1895 bezog.
629 27.3 · Beschwerdebilder
Schwäche und Fatigue können auch als symbolische Abwehrkonfigurationen interpretiert werden, die gleichermaßen Schuldentlastung, z. B. gegenüber Gewissensvorwürfen, wie Appell nach Hilfe anderer darstellen. Eine bestimmte psychische Disposition scheint eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen, da bei vielen CFS-Kranken in der Vorgeschichte psychosomatische Störungen ausgemacht werden konnten. Die psychosomatische Sichtweise wird auch dadurch gestützt, dass häufig bei eingehender Exploration psychodynamisch relevante Faktoren aus der Biografie zu eruieren sind, die sich zwanglos zeitlich mit dem Auftreten der Symptomatik verknüpfen lassen. Schließlich stellte Nix [42] die Frage, ob es sich hier nicht um eine willkürliche Klassifikation weit verbreiteter Beschwerden handelt, die begleitend bei organischen und häufig bei psychosomatisch erkrankten Patienten zu finden sind. Auch eine eindeutige Abgrenzung gegenüber alltäglichen Befindlichkeitsstörungen ist kaum möglich. Der Übergang zum »Burn-out-Syndrom«, bei welchem die Erschöpfung auf den beruflichen Bereich bezogen wird, ist fließend. z
Diagnostik
Bei diesem ätiologisch uneinheitlichen und in seiner Symptomatik vielgestaltigen Syndrom muss sich die Diagnostik primär auf den sicheren Ausschluss einer organisch fassbaren Erkrankung stützen, wie dies auch bereits in den angeführten Diagnosekriterien gefordert wird. Neben einer eingehenden Anamnese und einer sorgfältigen internistischen und neurologischen Untersuchung ist eine umfassende Labordiagnostik einschließlich immunologischer und endokrinologischer Einzeluntersuchungen erforderlich. Der sicheren Abgrenzung gegenüber anderen Erkrankungen kommt eine ganz entscheidende Bedeutung zu, letztlich bleibt das CFS eine Ausschlussdiagnose. Danach ist nachdrücklich eine psychiatrische Untersuchung mit eingehender biografischer Anamneseerhebung zu fordern, um den Betroffenen tatsächlich »ganzheitlich« im Sinne des bio-psycho-sozialen Krankheitskonzepts gerecht zu werden. Differentialdiagnostisch muss eine Fülle von Krankheitsbildern bzw. Ursachen erwogen werden, die mit chronischer Müdigkeit einhergehen können. Beispielsweise können ein Schlaf-Apnoe-Syndrom mit häufiger Tagesmüdigkeit (7 Kap. 27.3.5), eine Narkolepsie (7 Kap. 23.2.12) oder eine chronische Herzinsuffizienz (7 Kap. 13) ein CFS nahe legen. Eine umfassende Anamnese bezüglich des Gebrauchs psychotroper Substanzen und der Einnahme von Medikamenten mit sedierender Haupt- oder Nebenwirkung ist unverzichtbar. Eine Chemotherapie oder Radiatio bei Malignomen kann ebenfalls zu erhöhter Erschöpfbarkeit führen (7 Kap. 10 Onkologische Erkrankungen); eine durch ein Malignom selbst be-
dingte chronische Müdigkeit ist wissenschaftlich umstritten. Eine erhebliche vorzeitige Erschöpfbarkeit ist auch bei bis zu 70 % der an Multipler Sklerose Erkrankten zu verzeichnen und wird als »MS-Fatigue« bezeichnet. Hier ist der Nachweis der Grundkrankheit essentiell. Es besteht eine Komorbidität von 80 % mit Depressionen, von 50 % mit Angststörungen und eine häufige Verknüpfung mit Somatisierungsstörungen, Schlafstörungen und Abhängigkeitserkrankungen. z
Therapie
Therapeutisch gelten kognitive Verhaltenstherapie und gestuftes, allmählich aufbauendes körperliches Training als evidenzbasiert. Darüber hinaus werden positive Erfahrungen mit spezifischen Antidepressiva (SSRI) berichtet. Eine medizinische Rehabilitation in einer psychosomatischen Einrichtung sollte stets vor einer zu diskutierenden Berentung erfolgen. z
Prognose
Zum Verlauf der Erkrankung bestehen unterschiedliche Studienergebnisse, das reine CFS wird als eine sich selbst limitierende Krankheit mit günstiger Prognose angesehen, eine Komorbidität mit somatischen oder psychischen Erkrankungen, unter anderem auch mit Alkoholabhängigkeit, verschlechtert die Prognose. Sie ist auch stark von der Dauer und der Ausprägung der Beschwerden abhängig. Einzelne Untersuchungen gehen von einer sehr viel günstigeren Langzeitprognose bei eher problematischer Kurzzeitprognose aus.
Sozialmedizinische Beurteilung Die sozialmedizinische Begutachtung des CFS wird durch mehrere Faktoren ganz erheblich erschwert. Einerseits ist hier die Vehemenz zu nennen, mit der viele Betroffene und Selbsthilfegruppen auf einseitigen Vorstellungen zur Ätiologie der Beschwerden beharren und mit der eine rentenrelevante Leistungsminderung geltend gemacht wird. Andererseits stellen die wenig validen diagnostischen Kriterien und die oft kaum nachweisbaren und zudem nicht selten widersprüchlichen Befunde ein erhebliches Problem dar. Übereinstimmung besteht darin, dass viele Betroffene unter ihren Beschwerden erheblich leiden, eine Fülle von ärztlichen und paramedizinischen Untersuchungen über sich ergehen lassen und teilweise teuer für bestenfalls unwirksame Behandlungsmethoden (z. B. Ausleitung von Umweltgiften) bezahlen. Für die Begutachtung gilt, dass eine organische Erkrankung sicher ausgeschlossen werden muss. Ist dies im Vorfeld nicht erfolgt, sollte zunächst ein internistisches bzw. neurologisches Gutachten eingeholt werden. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass wiederholte Labordiagnostik mit in ihrer Aussagefähigkeit nicht all-
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Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
gemein anerkannten Laborparametern einer Chronifizierung der Beschwerden eher Vorschub leisten kann. Sofern kein adäquates organisches Korrelat der Beschwerden gefunden wurde, ist ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten angezeigt. Die Resultate testpsychologischer Diagnostik können nur in der Zusammenschau aller Befunde gewertet werden und sind keinesfalls unkritisch zur »Objektivierung« von Beschwerden einzusetzen. Die Testdurchführung ist grundsätzlich an die Motivation und Leistungsbereitschaft des Probanden gebunden und sollte daher stets mit Symptomvalidierungstests verknüpft werden (vgl. 7 Kap. 27.2). Grundsätzlich gelten die Kriterien der Begutachtung somatoformer Störungen, wobei der Gutachter stets auf den Einzelfall eingehen und versuchen muss, sich mosaiksteinartig ein Bild von der tatsächlich bestehenden Leistungsminderung in allen – auch den privaten – Alltagsbereichen zu machen. Nicht die Diagnose oder Mutmaßungen zur Ätiologie, sondern plausibel zu machende überdauernde Funktionseinschränkungen sind entscheidend. Das Leistungsvermögen bei erhöhter Erschöpfbarkeit ist sowohl intra- als auch interindividuell sehr unterschiedlich. Zwischen den Erschöpfungszuständen liegen immer wieder Phasen, in denen die Leistungsfähigkeit der Betroffenen kaum eingeschränkt ist und sie normal leben können. Diese Zeiträume sind von unterschiedlicher Dauer. Nur in wenigen Fällen wird von Dauermüdigkeit berichtet, extrem selten von ständiger Bettlägerigkeit. Der Beschreibung des Arbeitsplatzes kommt besondere Bedeutung zu, wobei leichte bis mittelschwere Tätigkeiten unter Vermeidung von überdurchschnittlichem Zeitdruck, Einzel- und Gruppenakkord, Fließbandarbeit sowie Vermeidung von Tätigkeiten mit besonderer Anforderung an die psychische Belastbarkeit ohne zeitliche Einschränkung im Allgemeinen zumutbar sind. Eine Berentung kann nicht nur eine Entlastung, sondern auch die Grundlage für eine weitere Chronifizierung darstellen, bedingt durch die quasi amtliche Bestätigung der Krankenrolle, mit allen Konsequenzen gegenüber der Umgebung. Der Umstand, dass eine Besserung der Symptomatik den Verlust der (Zeit-)Rente nach sich ziehen kann, hat gravierende Auswirkungen auf die Therapiemotivation, sei es auf bewusster oder unbewusster Ebene. Eine Berentung sollte daher nur in begründeten Ausnahmefällen erfolgen. Selbstverständlich müssen die Therapie- und Rehabilitationsmöglichkeiten ausgeschöpft sein, bevor dauerhafte Leistungsminderungen festgestellt werden können, und eine Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ist im Allgemeinen unmöglich, wenn wichtige therapeutische Optionen noch nicht ausreichend zum Einsatz gekommen sind. Ein mehrjähriger Verlauf und mindestens zwei »konsequen-
te« stationäre Behandlungsversuche seien zu fordern, bevor Erwerbsunfähigkeit anzunehmen sei [58]. Nach Konrad [29] gilt es zu prüfen, inwieweit die neurotische Symptomatik bereits die Organisation der Lebensführung, etwa die Gestaltung des Tagesablaufes übernommen hat, ob eine Einschränkung von Freizeitaktivitäten, Kontaktreduktion oder Interessenabsorption vorliegt und inwieweit eine realitätsverzerrende Wahrnehmung eingetreten ist. Defizite in der sozialen Kompetenz tangieren neben störungsbedingten Auswirkungen auf Haushaltsführung, Partnerschaft oder Familie auch den Aspekt der beruflichen Leistungsfähigkeit. Erst bei Nachweis einer derartigen psychopathologischen Entwicklung dürfte eine vollschichtige Erwerbstätigkeit nicht mehr erwartbar sein.
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Umweltassoziierte Erkrankungen Wolfgang Hausotter
Sogenannte »Umwelterkrankungen« sind seit dem Ende des letzten Jahrhunderts häufiger als Begründung von Anträgen auf Erwerbsminderungsrente zu verzeichnen. Sie sind durch variable Kombinationen unspezifischer Beschwerden mit Chronifizierungstendenz gekennzeichnet, die sich nicht mit einem ausschließlich toxikologischallergologischen Ansatz erklären lassen. Zwischen diesen diffus operationalisierten, auf Umwelteinflüsse projizierten Phänomenen wie zum Beispiel »MCS, Multiple Chemical Sensitivity« und »SBS, Sick Building Syndrom« und durch nachweisbare Umweltbelastungen (z. B. Asbest-, Dioxinbelastung) bei Exponierten verursachten und mit reproduzierbarer Symptomatik auftretenden Erkrankungen muss unterschieden werden. Eine erhebliche Problematik besteht darin, dass bei vielen von einer »Umwelterkrankung« Betroffenen ein Krankheitskonzept anzutreffen ist, das auf ausschließlich toxikologische Ursachen in Kombination mit einer genetisch bedingten »Überempfindlichkeit« fixiert ist und das teilweise iatrogen, durch Selbsthilfegruppen und durch das gesteigerte Medieninteresse am Thema gestützt wird. Dadurch wird jedoch die Aufnahme einer adäquaten multimodalen Behandlung einschließlich psychologischer Betreuung bzw. psychotherapeutischer Behandlung in vielen Fällen verhindert und die subjektiv zunehmenden Beeinträchtigungen können zu sozialem Rückzug und letztlich zur Stellung eines Antrags auf Erwerbsminderungsrente führen. Die »gefühlte« Umweltbelastung kann nicht als Indikator für tatsächliche schädliche Einwirkungen genommen werden. Im Vergleich zur Blütezeit der Industrialisierung ist die Bevölkerung heute deutlich wahrnehmbaren Schadstoffen wie z. B. Ruß in weit geringerem Ausmaß ausgesetzt. Das Spektrum angeschuldigter Substanzen hat sich von solchen mit eindeutig nachgewiesenem schädi-
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gendem Einfluss (z. B. Blei, DDT) zu solchen mit zumindest unklarem oder mutmaßlich schädigendem Einfluss auf die Gesundheit entwickelt. Bekanntermaßen sind es jedoch gerade die Aspekte der Unvorhersehbarkeit, Unkontrollierbarkeit und Unvermeidbarkeit, die die Ängste in der Bevölkerung vor Umwelteinflüssen schüren, nicht selten durch unsachliche Medienberichte forciert. Hinzu kommt der auch zunehmend wichtigere Aspekt der Entschädigung für vermeintlich oder tatsächlich erlittene Schädigungen. Die resultierenden Begutachtungsprobleme sind ganz erheblich und es besteht bei vielen Gutachtern eine beträchtliche Unsicherheit in der Beurteilung. Dieser Umstand wird nicht selten ausgenutzt, indem einseitig orientierte ärztliche Experten für »Umwelterkrankungen« die alleinige Beurteilungskompetenz derartiger Krankheitsbilder für sich in Anspruch nehmen. Eine im Jahr 2005 veröffentlichte Studie des RobertKoch-Institutes hat sich mit Verlauf und Prognose des MCS-Syndroms befasst. Die hypothesengeleitete Datenauswertung ergab für das MCS-Phänomen kein charakteristisches Symptommuster, keinen systematischen Zusammenhang zwischen geklagten Beschwerden und angeschuldigten Noxen, keinen Hinweis auf eine besondere genetische Prädisposition der MCS-Patienten und keinen Beleg für eine eindeutige Störung des olfaktorischen Systems oder eine neurogene Entzündung. Die standardisierte psychiatrische Diagnostik (CIDI) ergab hingegen, dass Umweltambulanzpatienten signifikant häufiger unter psychischen Störungen leiden als die vergleichbare Allgemeinbevölkerung und dass die psychischen Störungen bei den meisten Patienten den umweltbezogenen Beschwerden weit vorausgehen.
Mit Umweltfaktoren in Verbindung gebrachte Erkrankungen, kritische Diskussion und Gemeinsamkeiten Beispiele für umweltassoziierte Erkrankungen sind: 4 Intoxikationen durch organische Lösungsmittel oder Schwermetalle unter Alltagsbedingungen 4 Multiple Chemical Sensitivity / Idiopathic Environmental Intolerances 4 Sick Building Syndrom 4 Chronic Fatigue Syndrom 4 Amalgamintoxikation 4 Elektrosensibilität 4 Tonerüberempfindlichkeit Von den Vertretern des Konzepts der »Umwelterkrankungen« wird postuliert, dass kleinste Stoffmengen – weit unterhalb der maximalen Arbeitsplatz-Konzentrationen (MAK), wie sie in der Arbeitsmedizin definiert sind – bei bestimmten Personen Krankheitserscheinungen hervor-
rufen sollen, die insgesamt unspezifisch und wenig fassbar sind. Dabei handelt es sich ausdrücklich nicht um allergische Reaktionen. Manche Umweltmediziner zeigen sich hier sehr einseitig einem somatischen Krankheitskonzept verpflichtet und unterstützen die Patienten in ihrer Ablehnung gegenüber dem in diesen Fällen vorrangig anwendbaren bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell. Die Patienten sehen sich meist als Opfer äußerer chemischer Einwirkungen, auch wenn allgemein gesicherte Erkenntnisse dazu fehlen und Zusammenhänge im jeweiligen Einzelfall oft noch viel weniger nachweisbar sind. Dabei werden auch in der Umweltmedizin durchaus konträre Auffassungen vertreten. Im universitären Bereich der Hygieneinstitute und auch der großen klinischen Umweltambulanzen herrscht vor dem Hintergrund der aktuellen wissenschaftlichen Datenbasis eine kritischere Einstellung zu diesen Phänomenen vor. Im Bereich der Individualmedizin wird in vielen Einzelpraxen umweltmedizinisch orientierter Ärzte hingegen ein rein externalisierendes Krankheitskonzept unterstützt und eine entsprechend einseitig ausgerichtete Behandlung angeboten. Die als umweltassoziiert angesehenen Erkrankungen weisen sehr viele Gemeinsamkeiten auf, vor allem bezüglich der Vielfalt und Variabilität der Befindlichkeitsstörungen: 4 Vorzeitige Erschöpfbarkeit, Müdigkeit und allgemeines Schwächegefühl 4 Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen 4 Kopfschmerzen 4 Verschwommensehen 4 Muskel- und Gelenkschmerzen 4 Sensible Missempfindungen 4 Schlafstörungen 4 Angstgefühle 4 Darmstörungen 4 Atembeschwerden und vieles andere mehr Die einzelnen Umweltsyndrome stellen letztlich nur Varianten mit einer unterschiedlichen Gewichtung der oben genannten Kernsymptome dar. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sehr viele organische Ursachen diskutiert und enorme Mengen von Labordaten zur Erklärung herangezogen werden. Letztere sind meist widersprüchlich und werden – je nach Untersucher – unterschiedlich interpretiert. Es existieren auch keine allgemein akzeptierten Grenzwerte und Toleranzbereiche, ganz abgesehen von den oft unterschiedlichen Ergebnissen, die beim Biomonitoring dieser extrem niedrigen Substratmengen in biologischen Materialien und in der Umgebung sehr von der Qualität des Labors abhängen. Handelt es sich bei den Betroffenen um eine Gruppe von Menschen, beispielsweise um Kollegen, die im selben Gebäude arbeiten, so können sich die den vermeint-
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Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
lich schädigenden Umgebungsfaktoren zugeschriebenen Beschwerden und Ängste gegenseitig verstärken (Beispiel »Sick building syndrome«). Unter Toxikopie wird das Auftreten von Symptomen verstanden, die denen einer Vergiftung gleichen, ohne dass jedoch eine relevante Gifteinwirkung nachgewiesen werden konnte. Sie drückt sich in der Angst aus, chronisch vergiftet zu werden, in typischer Form z. B. durch Amalgam. Aus toxikologischer Sicht wird klar festgestellt, dass nicht allein das Vorhandensein einer Chemikalie zu einem Schaden führt, sondern dass es entscheidend von der Substratkonzentration und der Expositionsdauer abhängt, ob ein Schaden eintritt. Es sind auch keine erkennbaren Wirkungen zu erwarten, wenn eine Person gegenüber mehreren Substanzen exponiert ist, deren Konzentrationen jeweils unter der Wirkschwelle liegen. Damit sind Kombinationswirkungen, wie sie die Umweltmedizin als Erklärung postuliert, toxikologischerseits nicht begründbar.
Das ausgesprochen vielfältige und unspezifische Beschwerdebild der Betroffenen deckt sich weitgehend mit Beschwerdelisten, die aus der Psychiatrie für depressive oder somatoforme Störungen bekannt sind, z. B.: 4 Neurasthenie (F48.0) 4 Somatisierungsstörung (F45.0) 4 Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3) 4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4) 4 Hypochondrische Störung (F45.2) 4 Angststörungen (F41) 4 Wahnhafte Störungen (F22), z. B. Vergiftungswahn 4 Persönlichkeitsstörungen (F60–63) 4 Depressionen mit ihren vielfältigen Vitalstörungen
Abgrenzung von psychoreaktiven Faktoren
Einzelne Krankheitsbilder
Gerade die Abgrenzung von psychoreaktiven Faktoren ist die schwierigste Aufgabe bei der Beurteilung umweltassoziierter Krankheitsbilder. Die meisten Betroffenen lassen seelische Einflüsse nicht gelten und werden darin häufig von ihren behandelnden, umweltmedizinisch orientierten Ärzten unterstützt. Diese weisen zudem oft umfangreiche Laborergebnisse vor, deren praktische Wertigkeit unbewiesen oder zumindest schwer einzuschätzen ist. Die Erkrankten verstehen Laborwerte aber als Beweis einer körperlichen Erkrankung, auch wenn sie selbst am wenigsten in der Lage sind, deren tatsächliche Bedeutung zu erfassen. Entsprechend schwer – bis unmöglich – ist daher auch im Allgemeinen der Zugang zu aktuellen oder zurückliegenden psychischen Konflikten, die entweder strikt verneint werden oder deren Exploration von Anfang an als unzumutbar empfunden wird. All dies lässt oft eine adäquate Exploration unter psychodynamischen Gesichtspunkten nicht zu. Damit wird ein wichtiger therapeutischer Zugang langfristig verbaut und dem Patienten Schaden zugefügt. Wenn psychische Auffälligkeiten nicht zu übersehen sind, werden oft Ursache und Wirkung verwechselt. Die seelische Störung wird dann toxischen Umwelteinflüssen zugeschrieben, obgleich sie sich eben doch oft schon langfristig zurückverfolgen lässt. Nicht selten werden präexistente seelische Störungen auf Umwelteinflüsse projiziert, besonders, wenn diese in den Medien sehr eindrucksvoll präsentiert werden. Die Betroffenen finden damit für die ihnen unerklärlichen Beschwerden eine außerpsychische Erklärung, die zudem noch körperlich und nicht mit dem Makel einer psychischen Erkrankung behaftet ist.
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Organische Psychosyndrome, wie sie bei tatsächlichen Intoxikationen, etwa bei beruflicher Exposition, gefunden werden und die wissenschaftlich gut erforscht sind, finden sich im Zusammenhang mit »Umwelterkrankungen« nicht.
Intoxikation durch organische Lösungsmittel und Schwermetalle
Am häufigsten werden in der Umweltmedizin Einwirkungen organischer Lösungsmittel und Schwermetalle als Ursache von Befindlichkeitsstörungen geltend gemacht. Es existiert eine nahezu unübersehbare Fülle von aromatischen, auch halogenierten Kohlenwasserstoffen und organischen Phosphorverbindungen mit einer sehr breiten Verwendung als organische Lösungsmittel, Pestizide, Fungizide, Holzschutzmittel und Desinfektionsmittel. Auch PCP, Dioxin und einige Schwermetalle werden immer wieder – unter normalen Umweltbedingungen – als ursächlich für vielfältige Befindlichkeitsstörungen angesehen. Klinisch findet sich der eingangs erwähnte »Symptompool« mit einer Fülle ganz unterschiedlicher und uncharakteristischer Beschwerden. Gerade diese wenig fassbaren Befindlichkeitsstörungen geben oft Anlass zur Begutachtung im Rentenverfahren, wenn der Betroffene sich nicht mehr in der Lage fühlt, beruflich tätig zu sein. Ein Zusammenhang mit einer relevanten Exposition gegenüber Umweltgiften ist im Einzelfall kaum je beweisbar. z
Multiple Chemical Sensitivity
Das Krankheitsbild der »Vielfachen Chemikalienunverträglichkeit« (VCU) bzw. der »Multiple Chemical Sensitivity« (MCS), neuerdings als »Idiopathic Environmental Intolerances« (IEI) bezeichnet, wird in den USA wie folgt definiert:
633 27.3 · Beschwerdebilder
Multiple Chemical Sensitivity »Eine erworbene Störung, die charakterisiert ist durch multiple rezidivierende Symptome, vorzugsweise an mehreren Organsystemen, die als Antwort auf nachweisbare Expositionen gegenüber vielen chemisch miteinander nicht verwandten Stoffen bei Dosen auftreten, die weit unter denen liegen, die in der allgemeinen Bevölkerung für schädigend gehalten werden. Kein einziger allgemein akzeptierter Test von physiologischen Funktionen kann nachgewiesen werden, der mit diesen Symptomen korreliert.« [47]
Eine andere Krankheitsbeschreibung geht von einer erworbenen Störung mit multiplen rezidivierenden Beschwerden aus, die in Zusammenhang mit solchen Umwelteinflüssen gesehen werden, die von der Mehrheit der Bevölkerung problemlos vertragen werden und die durch keine bekannte medizinische oder psychische Störung erklärbar sind. Die Überempfindlichkeit erstreckt sich auf geringste Konzentrationen unterschiedlichster Chemikalien, die in Nahrungsmitteln, Konservierungsmitteln, Insektiziden, Lösungsmitteln, Farben, Duftstoffen, Kosmetika, Textilien, Möbeln, Tapeten, Fußbodenbelägen und vielen anderen alltäglichen Dingen enthalten sind. Bei minimalen Schwellenwerten dieser Substanzen sollen sich z. T. dramatische Symptome zeigen, ohne dass irgendein fassbarer Untersuchungsbefund vorliegt. Frauen sollen 2–3 mal häufiger erkranken als Männer. Hinsichtlich des Beschwerdebildes und der Beurteilung gelten die für die Intoxikation mit Lösungsmitteln angeführten Überlegungen. Eine Komorbidität mit psychischen Erkrankungen ist häufig. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Betroffenen liegen psychische Störungen vor. Neben psychotischen Erkrankungen mit umweltbezogenen Wahnsystemen werden Dysthymien, Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, somatoforme Störungen, aber auch eine Vielzahl anderer psychischer Krankheitsbilder gesehen. Ein rein somatisches Krankheitsmodell im Sinne einer »Vergiftung und Immunschwäche« wird auch hier nachdrücklich propagiert und verbaut den Zugang zu einer adäquaten Behandlung. Im somatischen Bereich ist eine solche jedenfalls in sinnvoller Form nicht möglich. z
Sick Building Syndrom
Laut Definition der WHO 1983 (nach Brede-Weisflog [7]) klagt ein mehr oder minder großer Personenkreis über unspezifische Beschwerden bzw. Befindlichkeitsstörungen – besonders Schleimhautreizungen von Augen, Nase und Rachen –, die vorzugsweise beim beruflichen Aufenthalt in Innenräumen von Gebäuden auftreten und sich beim Verlassen der Räume bessern oder verschwinden.
Auch Kopfschmerzen, rasche Ermüdbarkeit, Benommenheit, Konzentrationsstörungen, Schwindel, Übelkeit und Nasenbluten werden angegeben. Bemerkenswert ist, dass vor allem der Aufenthalt in Verwaltungs- und Büroräumen – so gut wie nie in Fabrikhallen mit gewöhnlich weitaus höheren Expositionen gegenüber toxischen Substanzen – verantwortlich gemacht wird. Es ist somit ganz überwiegend eine Erkrankung von Angestellten, sehr viel weniger von handwerklich Tätigen. Es existiert kein klares ätiologisches Konzept. Wurden früher vielfältige physikalische und chemische Faktoren, vor allem Klimaanlagen und das Raumklima angeschuldigt, sieht man heute das Betriebsklima als entscheidend ursächlich an. Eine quantitative oder gravierende qualitative Leistungsminderung im Erwerbsleben lässt sich hieraus nicht ableiten, es sei denn, es käme zu einer derart schweren seelischen Fehlentwicklung, die ihrerseits eigenständigen Krankheitswert erlangte und die Annahme einer Leistungsminderung rechtfertigte. z
Amalgam-Syndrom
Das Amalgam-Syndrom soll hier nur am Rande erwähnt werden. Ein Zusammenhang zwischen der Anzahl an Amalgamzahnfüllungen und der Beschwerdeintensität ist mittlerweile auch nach den Ergebnissen der Anfang 2008 veröffentlichten Münchner Amalgam-Studie [38] nicht erwiesen. z
Elektrosensibilität
Der Einfluss elektromagnetischer Wellen bzw. Felder auf den Menschen wird seit Jahren unter dem Schlagwort »Elektrosmog« diskutiert. Ihre ständige und selbstverständliche Gegenwart durch Funk und Fernsehen, Telefon, Notrufnetze, elektrische Leitungen, Satelliten u. a., auch im Haushalt in Form des Mikrowellenherdes ist uns heute kaum mehr bewusst, denn sie gehören zu unserem normalen Alltag. Dennoch sind einzelne Menschen davon überzeugt, genau auf diese Strahlen mit Krankheitserscheinungen zu reagieren. Besonders heftig umstritten ist dabei der Einfluss von Mobilfunk-Sendeanlagen und Handys. Ein wissenschaftlich gesicherter Beleg für eine organische Schädigung existiert bisher nicht. Die geltend gemachten Beschwerden entsprechen wiederum dem eingangs erwähnten »Symptompool«. Die Ursachenzuschreibung ist kulturellen Einflüssen unterworfen und hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Früher wurden eher »Erdstrahlen« und »Wasseradern« ursächlich für Beschwerden verantwortlich gemacht, während die Bedrohung in jüngster Zeit stärker auf zivilisatorische Begleiterscheinungen bezogen wird. Eine rentenrelevante Leistungsminderung liegt hier sicher nicht vor.
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Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
Tonerüberempfindlichkeit
Auf die Einwirkung von Tonerpartikeln aus Laserdruckern und Fotokopierern werden seitens der Patienten Kopfschmerzen, Dauerschnupfen, Atembeschwerden, Halsschmerzen, Reizhusten und Entzündungen der Nasennebenhöhlen zurückgeführt. Die aktuelle Studienlage legt nahe, dass bei Personen mit überempfindlichen Schleimhäuten der oberen und unteren Atemwege durch Tonerpartikel Irritationen ausgelöst werden können, da die Tonerstäube alveolengängig sind. Echte Allergien sind sehr selten. Ein sicherer Kausalzusammenhang zwischen diesen Emissionen und chronischen Atemwegserkrankungen oder Lungenfibrosen konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Experimentelle Studien und Tierversuche konnten jedoch eine kanzerogene Wirkung nicht ausschließen. Die aktuelle Datenlage lässt hier noch keine abschließende Beurteilung zu. Es gibt Hinweise darauf, dass diese Feinstäube genotoxisch wirken. Zu diesem Aspekt sind noch weitere Untersuchungen erforderlich. Entscheidend ist jedoch, dass bei Beachtung arbeitshygienischer Maßnahmen sowohl die Atemwegsirritationen als auch potentielle Gefährdungen verhindert werden können [53]. Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) schloss 2008 gesundheitliche Beeinträchtigungen wie Schleimhautbeschwerden und Reizungen des Atemtraktes durch Emissionen aus Büromaschinen nicht aus. Schwerwiegende Gesundheitsschäden seien jedoch nach den ärztlichen Daten nicht beobachtet worden [8].
Sozialmedizinische Beurteilung In der Begutachtung umweltassoziierter Erkrankungen gilt es, primär die uncharakteristischen Beschwerden entweder organisch zu erklären oder eine somatische Ursache auszuschließen. Daher ist auch hier die fundierte und seriöse organische Abklärung im Rahmen einer internistischen und ggf. toxikologischen Untersuchung vorrangig. Daran sollte sich eine psychiatrisch-psychosomatische Untersuchung anschließen. Häufig werden hierbei schwerwiegende seelische Störungen aufgedeckt, die durchaus eine relevante quantitative Leistungsminderung begründen können. Voraussetzung ist, dass sich der Betroffene in der Exploration öffnet und kooperiert. Die Begutachtung muss sich stets am Einzelfall orientieren. Ausschließlich unter somatischen Aspekten wird eine zeitliche Leistungsminderung im Erwerbsleben kaum je begründbar sein, ebenso wenig ein Kausalzusammenhang mit niedriger Schadstoffexposition. Falls keine Komorbidität der MCS mit einer relevanten seelischen Störung vorliegt, lässt sich eine Leistungsminderung im Erwerbsleben nicht ableiten. Bei ausgeprägten subjektiven Beschwerden kann aber ein deutlicher sozialer Rückzug erfolgen, der sich auch auf das Arbeitsleben auswirkt, welches häufig ohnehin für das Beschwerdebild (mit-)ver-
antwortlich gemacht wird. Diese ungünstige Entwicklung kann solche Ausmaße annehmen, dass tatsächlich gelegentlich das Vorliegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit konstatiert werden muss. Vor der Zuerkennung einer Erwerbsminderungsrente sollten die Möglichkeiten von Rehabilitationsmaßnahmen unbedingt ausgeschöpft werden. Die Rehabilitation ist auch bei sog. »Umwelterkrankungen« funktionsorientiert und final ausgerichtet. Das bedeutet, dass unabhängig von der angenommenen oder nachgewiesenen Ursache der Beschwerden eine multimodale Unterstützung des Copings von Funktionsbeeinträchtigungen angestrebt wird. Auf die Behandlung von Patienten mit »Umwelterkrankungen« spezialisierte Kliniken, die unkritisch die Vorstellungen ihrer Patienten hinsichtlich einer organischen Genese unterstützen und seelische Faktoren ablehnen, erfüllen nicht die Anforderungen hinsichtlich einer Erfolg versprechenden Rehabilitation. Das Beschwerdebild wird lediglich weiter fixiert und die schiere Unmöglichkeit der Vermeidung jedweder chemischen Substanzen im normalen Alltag kann letztlich zu einem endgültigen Rückzug aus dem sozialen und Berufsleben führen. Weder eine entsprechende Diagnose noch eine umfangreiche Zusammenstellung von Laborparametern sagt etwas über die Leistungsfähigkeit des Probanden aus. Entscheidend ist, welche Teilhabestörungen festgestellt werden. Die grundsätzlichen Probleme dabei sind: 4 Die Beschwerden sind nicht objektivierbar. 4 Es gibt keinen Konsens über Ätiologie und Pathogenese. 4 Es liegen keine kontrollierten Therapiestudien über mögliche Therapien vor. Im Gutachten sollen die objektiven Funktionseinschränkungen dargelegt werden. Eine ausführliche Exploration unter psychiatrischen Gesichtspunkten ist dabei stets erforderlich. Fassbare Befunde und diesbezügliche Vorstellungen der Antragsteller klaffen häufig auseinander. Diskussionen über die Diagnose mit dem Betroffenen und seiner Selbsthilfegruppe sind nicht zielführend und können die gutachterliche Untersuchung erheblich erschweren. Heftig geführte Kontroversen zwischen Medizinern mit unterschiedlichen Auffassungen zu den unter »Umwelterkrankungen« subsummierten Beschwerdebildern werden nicht selten auch vor Sozialgerichten ausgefochten. Man sollte sich hier als Gutachter keinesfalls hineinziehen lassen. Oft liegen eindeutige psychische Erkrankungen vor, die fehldiagnostiziert wurden. Es ist zu empfehlen, die vielfältigen, mit Umweltfaktoren in Zusammenhang gebrachten Krankheitsbilder, denen zumeist ein objektivierbares organisches Korrelat fehlt, nach den Kriterien für die funktionellen bzw. so-
635 27.3 · Beschwerdebilder
matoformen Störungen zu beurteilen. Sehr wertvoll ist es auch hier, sich minutiös den Tagesablauf von dem Probanden schildern zu lassen, um sich ein plastisches Bild von einer möglicherweise vorhandenen Leistungsminderung zu verschaffen. Die Erhebung der Fremdanamnese durch Familienangehörige ist – mit Zustimmung des Probanden – durchaus wertvoll, vor allem, wenn sie spontan ohne besondere häusliche Vorbereitung erfolgen kann. Grundsätzlich ist es für den Gutachter erforderlich, eine sachliche Haltung zu bewahren und zu einem unvoreingenommenen Umgang mit dem Probanden zu finden. Emotionsgeladene Gegenübertragungsreaktionen hinsichtlich der Vermittlung der eigenen Überzeugungen zur Genese der Beschwerden an den Probanden sind in der Gutachtensituation zu vermeiden.
27.3.4
Zervikales Beschleunigungstrauma Wolfgang Hausotter
Die gelegentlich noch als »Schleudertrauma« bezeichnete Distorsion der HWS bei einem Auffahrunfall hat in der kausalen Begutachtung für die Unfallversicherung durch ihre Häufigkeit enorme Bedeutung. Sofern eine entsprechende Kausalität der Schädigung ermittelt werden kann, ist die Zuständigkeit der Unfallversicherung für medizinische und eventuelle weitere Leistungen vorrangig gegeben. In der finalen Betrachtungsweise für die Rentenversicherung werden dagegen Befindlichkeitsstörungen und ggf. Funktionseinschränkungen im Hinblick auf die aktuelle Leistungsfähigkeit unabhängig von der konkreten Ursache bewertet. Als Erstgutachter sollte stets ein Orthopäde gewählt werden, um die Auswirkungen eventueller struktureller Schäden an der Wirbelsäule zu beurteilen. Werden Nervenwurzelreiz- oder Ausfallerscheinungen vermutet, ist der Neurologe auf Grund seiner Fachkompetenz und seiner diagnostischen Möglichkeiten unverzichtbar. Wird Schwindel oder Tinnitus geklagt, sollte der HNO-Arzt eingeschaltet werden. Häufig ergeben sich Diskrepanzen zwischen Art und Ausmaß der vorgebrachten Beschwerden und dem objektivierbaren Organbefund, so dass dann ein psychiatrisches Gutachten erforderlich wird. Bereits in der bahnbrechenden Publikation von Gay und Abbott [17], die »whiplash injury« auch in Europa zu einem feststehenden Begriff werden ließ, wird eine Prävalenz von 50 % für psychoneurotische Beschwerden bei den Betroffenen vermerkt.
Geltend gemachte Unfallfolgen Schwere knöcherne und diskoligamentäre Verletzungen und eindeutige radikuläre oder medulläre Läsionen nach Schädigungen der HWS sind einfach zu erfassen, da in den bildgebenden Verfahren objektivierbar, und stellen
meist keine gutachtlichen Probleme dar (vgl. 7 Kap. 7). Sie sollen daher hier nicht näher betrachtet werden. Sie müssen jedoch bei der Beurteilung ausgeschlossen bzw. in ihren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit adäquat bewertet werden. Der Begriff »Schleudertrauma« beschreibt lediglich einen Unfallmechanismus und keine ätiologisch begründete Diagnose. Die Klassifikation nach Erdmann hat eine lange Tradition, wird aber heute zunehmend kritisch gesehen, da keine klaren Abgrenzungskriterien der Gradeinteilung bestehen. Durch die Verfügbarkeit der MRT ist auch ein Wandel in der Frühdiagnostik und der späteren Begutachtung eingetreten. In . Tab. 27.3 ist die Klassifikation der HWS-Distorsion modifiziert nach Erdmann und der Leitlinie: Begutachtung der Halswirbelsäulendistorsion nach C.J.G. Lang et al. [33] dargestellt. Die Quebec Task Force-Klassifikation [50], die sich heute zunehmend durchgesetzt hat, unterteilt die HWSBeschleunigungsverletzung wie folgt: Grad I: Nackenschmerz Grad II: Nackenschmerz, Muskelhartspann, reduzierte HWS-Beweglichkeit Grad III: + neurologisches Defizit Grad IV: + radiologisch Fraktur oder Dislokation Bei etwa 15–20 % der Verletzten persistiert eine Beschwerdesymptomatik über mehr als 6 Monate und dies gerade bei leichten HWS-Distorsionen ohne strukturelle Schädigung. Ähnliches ist von leichten Schädel-Hirn-Traumen bekannt. Es wird über eine Fülle von Befindlichkeitsstörungen geklagt wie rasche Ermüdbarkeit, Tagesmüdigkeit, Schlafstörungen, Verminderung der Merk- und Konzentrationsfähigkeit, Schwindel, Ohrgeräusche, Geräuschüberempfindlichkeit, Reizbarkeit, Angst, verminderte subjektive Belastbarkeit u. a. Man spricht auch von pseudoneurasthenischen Beschwerden. Klinisch finden sich muskuläre Verspannungen der HWS, wie sie auch bei gesunden Menschen außerordentlich häufig vorkommen, mit entsprechender Bewegungseinschränkung des Kopfes, die natürlich auch von der Mitarbeit des Untersuchten abhängt. Die neurophysiologische Zusatzdiagnostik ergibt keine Normabweichung und in der bildgebenden Diagnostik zeigen sich meist altersentsprechende degenerative Veränderungen oder die »Steilstellung der HWS«, die häufig einem Artefakt bei der Röntgenaufnahme entspricht (der Patient soll die Schultern nach unten ziehen und aufrecht stehen, um die untersten Wirbel der HWS darstellen zu können!). Es lassen sich somit keine dem Ausmaß der Beschwerden entsprechenden Befunde erheben. Daher ist es gerechtfertigt, diese persistierenden Beschwerden unter dem Aspekt funktioneller oder somatoformer Störungen zu diskutieren.
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Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
. Tab. 27.3 Klassifikation der HWS-Distorsion modifiziert nach Erdmann [11] und Lang et al. [33] Kriterien
Grad I
Grad II
Grad III
Symptomatik
Schmerzen der Halsmuskulatur, Bewegungseinschränkung
Wie bei Grad I, ohne Intervall, Schmerzen im Mundbogen, Parästhesien der Arme
Zusätzlich Insuffizienz der Halsmuskulatur möglich, Brachialgien, Armparesen
Symptomfreies Intervall
Häufig, meist > 1 Stunde
Selten, meist 1 Jahr
Bettlägerigkeit
Meist nicht gegeben
Häufig
Sehr häufig
Dauer der Arbeitsunfähigkeit
0–4 Wochen
0–6 Wochen
Mehr als 6 Wochen
Anhaltspunkte für die MdE
Nein
Bis 10 %
Abhängig von der radikulären oder ggf. medullären Symptomatik
Neurostatus
Keine Ausfälle, evt. Bewegungseinschränkung der HWS
Keine Ausfälle, schmerzhafte Bewegungseinschränkung der HWS
Sensible und/oder motorische Reiz- und Ausfallerscheinungen
Morphologie
Distorsion, Dehnung und Zerrung des HWS-Weichteilmantels
Zusätzlich Gelenkkapseleinrisse, Muskelzerrungen, retropharyngeales Hämatom
Diskusblutung oder -riss, Bandruptur, Wirbelkörperfraktur, Luxation, Nerv-, Wurzel- Rückenmarksläsion
HWS-Röntgen
Unauffällig, evt. neu aufgetretene Steilstellung
Evt. neu aufgetretene Steilstellung, kyphotischer Knick
Fraktur, Fehlstellung, Aufklappbarkeit bei Funktionsaufnahme
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Es wurde eine Fülle von möglichen Ursachen der Befindlichkeitsstörungen diskutiert. Eine transiente Hirnstammdysfunktion lässt sich bei der Dauer der Crashphase von nur 1/10 Sekunde nicht als Erklärung heranziehen. Eine rein muskuläre Erklärung ist im Hinblick auf die übrigen Beschwerden nicht schlüssig. Gelegentlich zitierte »neurootologische« Befunde sind unspezifisch und finden sich auch bei ganz anderen Krankheitsbildern in ähnlicher Form. Es besteht hier auch die Gefahr der Überbewertung radiologischer Befunde, insbesondere einer postulierten Läsion der Ligamenta alaria, die heute überwiegend als Begründung derartiger Beschwerden abgelehnt wird. Neuropsychologische Leistungsdefizite haben sich in der Spätphase nach Distorsionen der HWS und als Dauerfolgen bisher nicht sichern lassen. In der Akutphase können solche vorübergehend bestehen, allerdings unter Berücksichtigung psychoreaktiver Störungen und möglicherweise in Abhängigkeit von Medikamenten, insbesondere Schmerzmitteln zu Beginn der Beschwerden. Es verbleiben daher seelische Störungen im weitesten Sinne als Erklärung für die nach einer HWS-Distorsion vorgebrachten Befindlichkeitsstörungen. Sie reichen von einer akuten Belastungsreaktion (F43.0), über Anpassungsstörungen (F43.2) bis hin zu einer – eher seltenen – posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1). Somatoforme Störungen verschiedenster Art, besonders eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4) werden ebenso beobachtet wie dissoziative oder Konversionsstörungen (F44) und nicht zuletzt die Entwicklung körper-
licher Störungen aus psychischen Gründen (F68.0), womit bereits auf das häufige Problem des Entschädigungsbegehrens und der Wiedergutmachungsvorstellungen zu verweisen ist, welches hier nicht vernachlässigt werden sollte. Auch darauf wiesen schon die ersten Publikationen zu diesem Thema hin.
Sozialmedizinische Beurteilung Für die Rentenversicherung ist das Vorliegen einer objektivierbaren und anhaltenden Funktionseinschränkung entscheidend. Eine Verletzung der Halswirbelsäule ist nur dann bewiesen, wenn sie morphologisch, d. h. mit bildgebenden Verfahren nachgewiesen ist. Allein auf Grund der Beschwerdeschilderung oder klinischer Befunde im Sinne von muskulären Verspannungen oder einer Bewegungseinschränkung ist eine angenommene Verletzung nicht zu beweisen. Die Symptomatik nach einer HWS-Distorsion unterscheidet sich nicht von der eines Zervikalsyndroms auf degenerativer Grundlage. Für die gesetzliche Rentenversicherung ist die bestehende Funktionseinschränkung entscheidend. Frühzeitig sollte, gerade bei Fehlen manifester körperlicher Befunde, die psychische Situation abgeklärt werden. Es ist bekannt, dass selbst Versicherte nach schweren Wirbelsäulentraumen und mit ausgeprägten degenerativen oder entzündlichen Wirbelsäulenerkrankungen ohne wesentliche Probleme beruflich wieder eingegliedert werden können, wenn der Wunsch dazu besteht. Fehlt diese Motivation und besteht ein entsprechender Krankheitsge-
637 27.3 · Beschwerdebilder
winn, so kann auch einer Rehabilitationsmaßnahme kein Erfolg beschieden sein. Sie ist daher nicht sinnvoll und verursacht zudem unnötige Kosten. Nach den »Anhaltspunkten für die Begutachtung der Halswirbelverletzungen« der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) [56] gilt: Wenn nach einem Unfall lang dauernde Verletzungsfolgen der HWS geltend gemacht werden, sind folgende Störungen zu diskutieren: 1. Nach Verletzungen vom Quebec Typ I und II: Bei länger dauernden Beschwerden eine somatoforme Störung 2. Unfallunabhängige bandscheibenbedingte degenerative Veränderungen der HWS 3. Folgen einer knöchernen oder diskoligamentären Verletzung 4. Neurologisches Defizit (Nervenwurzelirritation, medulläre Symptomatik, neurologische Folgen einer Gefäßverletzung) entsprechend Quebec Typ III 5. Aggravation oder Simulation (unter Umständen in Kombination mit 1 bis 4) Die Begutachtung wird sich auch hier an den Kriterien der Beurteilung somatoformer Störungen orientieren. 27.3.5
Schlafstörungen Ingo Fietze
Klassifikationen und Stadieneinteilungen Schlafstörungen sind eine Erkrankungsgruppe, die in einer internationalen Klassifikation, der ICSD-2, zusammengeführt sind. Die ca. 80 Schlafstörungen verteilen sich im Wesentlichen auf 6 Gruppen. In der ICD-10 sind zumindest die schlafbezogenen Atmungsstörungen (siehe 7 Kap. 15.2.7), die schlafbezogenen Bewegungsstörungen, die Narkolepsie (7 Kap. 23.2.12) und die Insomnie mit eigenen oder übergreifenden Diagnoseschlüsseln vertreten. Der Nicht erholsame Schlaf (NES), wie auch in der neuen S3-Leitlinie der DGSM (Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin) ausgeführt, ist das klinische Leitsymptom von Schlafstörungen. Er kann aber auch Folge einer Vielzahl von äußeren und inneren, den Schlaf beeinflussenden Umständen sein. Sind derartige Einflussfaktoren als primäre Ursache ausgeschlossen, dann kann eine Schlafstörung im engeren Sinne zugrunde liegen. Es ist daher wichtig, dass der Hausarzt oder der betreuende Facharzt, der Arbeitsmediziner oder der Gutachter auch an eine Schlafstörung denken und Betroffene identifizieren, für die der Einsatz apparativer Diagnostik durch Spezialisten mit der Zusatzbezeichnung Schlafmedizin erforderlich ist. In den meisten Fällen kann die Diagnose auch ohne Zuhilfenahme spezifischer apparati-
ver Diagnostik ausschließlich anamnestisch und klinisch gestellt werden. Auch die Betroffenen selbst können übrigens in vielen Fällen, soweit sie ausreichend informiert sind, durch Verhaltensänderung bereits zur Verbesserung beitragen und der Entwicklung einer manifesten Schlafstörung vorbeugen.
Spezifische krankheitsbedingte Beeinträchtigungen nach ICF Das aus dem Nicht erholsamen Schlaf resultierende chronische Schlafdefizit oder auch die extreme Müdigkeit können im Verlauf zunächst zu beträchtlichen kognitiven, später auch physischen Einschränkungen führen. Fähigkeiten zur Planung und Strukturierung von Aufgaben, Ausdauer, Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit und das Konzentrationsvermögen können betroffen sein. Auch körperlich anstrengende Aktivitäten werden letztendlich beeinträchtigt. Extreme Müdigkeit birgt durch Einschränkungen der Aufmerksamkeit und des Reaktionsvermögens das zusätzliche Risiko der Selbstgefährdung oder Gefährdung anderer Personen, z. B. im Straßenverkehr, und damit Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Teilhabe.
Diagnostik, Sachaufklärung Eine weiterführende Differentialdiagnostik und Therapie der vorliegenden Schlafstörung sollten durch einen Schlafmediziner erfolgen. Schlafmedizin ist eine Zusatzbezeichnung, die Neurologen, Psychiater, HNO-Ärzte, Internisten (meist Pneumologen) und Pädiater erwerben können. Die Versorgungsstruktur in Deutschland sieht so aus, dass es ausreichend Schlaflabore gibt, jedoch nur wenige schlafmedizinische Spezialsprechstunden. Diese sind meist an den Universitäten angesiedelt. Von einem Nicht erholsamen Schlaf Betroffene sollten an eine der Spezialambulanzen oder an schlafmedizinisch ausgebildete Internisten, Neurologen, Psychiater, HNO-Ärzte oder Pädiater überwiesen werden. Sie bahnen den Weg in ein Schlaflabor bzw. zu einer weiterführenden spezialisierten ambulanten schlafmedizinischen Betreuung oder mit einer Therapieempfehlung zurück zum behandelnden Arzt. In Abhängigkeit von Beschwerdebild und Verdachtsdiagnose ergeben sich unterschiedliche Diagnostik- und Behandlungspfade, die im Folgenden aufgeführt sind. z
Insomnie
Die Insomnie ist die häufigste Schlafstörung. Mehr als 1/3 der Bevölkerung kennen gelegentliche Schlafstörungen, ca. 10 % haben sie chronisch und ca. 4 % haben eine chronisch behandlungsbedürftige Insomnie. Die Pathogenese der Insomnie beruht auf einer Störung des zirkadianen Systems, der neuro-humoralen Schlaf-Wach-Regulation und/oder der Störung des Einflusses von Enzymen und Hormonen der Immunregula-
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Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
tion. Wir unterscheiden nach Verlauf die akute und die chronische, länger als 4 Wochen bestehende Insomnie, sowie nach der Art die Einschlaf- von der Durchschlafstörung und dem frühzeitigen morgendlichen Erwachen. Eine chronische Einschlafstörung liegt dann vor, wenn die Einschlaflatenz mehr als dreimal in der Woche über 30 Minuten liegt, eine Durchschlafstörung, wenn mehr als dreimal pro Woche das erneute Einschlafen nach nächtlichem Aufwachen länger als 30 Minuten dauert. Morgendliches Früherwachen ist die Unfähigkeit nach zeitigem Erwachen wieder einzuschlafen. Häufig sind Menschen von idiopathischer Insomnie betroffen, die schon als Kinder oder Jugendliche einen sensiblen/gestörten Schlaf hatten. Für den Beginn einer chronischen Schlafstörung braucht es bei diesen Personen nicht zwingend einen auslösenden Faktor. Der psychophysiologischen Insomnie liegt meist Stress als auslösender Faktor zugrunde. Aber auch hier braucht es eine besondere Empfänglichkeit für die Entwicklung einer Schlafstörung durch Stress. Prädisponierende Faktoren für die Entwicklung einer derartigen Insomnie sind jedoch bisher nicht bekannt. Andere Formen der Insomnie sind die paradoxe Insomnie (Fehlwahrnehmung des Schlafes), die durch Medikamente bedingte Insomnie und die Insomnie durch andere somatische oder psychische Erkrankungen.
z z Spezifische Therapie
Die Stufentherapie der Insomnie besteht in der Aufklärung und Umsetzung schlafhygienischer Maßnahmen, der kognitiven Verhaltenstherapie und bei Bedarf der medikamentösen Therapie. Ziel der Behandlung ist eine Stabilisierung des Schlaf-Wach-Rhythmus und die Verbesserung oder Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit. Gelingt die Therapie, dann ist sie bis zur Stabilisierung fortzuführen und dann ggf. auszuschleichen. Kognitive Verhaltenstherapie kann ebenso effektiv sein wie die medikamentöse Therapie, nur gibt es die in den Forschungen angewandten Praktiken in der Routine kaum. Es fehlen auch Langzeit-Studien zum Verlauf nach Beendigung dieser Therapie. Einmal erfolgreich therapierte Insomnie-Patienten können jederzeit erneut in eine Phase der Schlafstörung rutschen. Schließlich gibt es Patienten, die ein Leben lang Medikamente benötigen, um ein Mindestmaß an Schlaf zu bekommen und psychische Folgeerkrankungen zu vermeiden. Gelingt dies nicht oder nicht in ausreichendem Maße, was sehr oft der Fall ist, dann sind die Betroffenen deutlich beeinträchtigt. Es kommt zu einer Einschränkung der kognitiven und psychischen Leistungsfähigkeit, oft entwickelt sich zusätzlich eine Depression. Körperliche Folgeerkrankungen sind bisher nicht wissenschaftlich belegt, jedoch gibt es erste Hinweise auf Blutdruckanstieg, metabolische Veränderungen und sinkende Lebenserwartung.
z z Spezifische Diagnostik
Die Diagnostik der Insomnie erfolgt anamnestisch. Bei Durchschlafstörungen kann differentialdiagnostisch die Durchführung einer ambulanten Polygraphie zur Objektivierung von Atmungsstörungen und periodischer Beinbewegungen im Schlaf helfen. Zusätzlich empfehlen sich ein Schlaftagebuch und/oder eine Aktigraphie zum objektiven Vergleich von subjektiver und objektiver Schlafzeit. Spezifische Fragebögen wie z. B. ISI (Insomnia Severity Scale), PSQI (Pittsburgh Schlafqualitätsindex) oder MMST (Mini-Mental-Status-Test), allgemeine Fragebögen zur Lebensqualität und Fragebögen zu psychiatrischen Grunderkrankungen runden die Diagnostik ab. Weiterführende Labortests (Melatonin, Orexin) oder spezifische kognitive Leistungstests haben in der Routine noch keinen Stellenwert, können bei Bedarf oder bei gutachterlichen Fragestellungen aber zum Einsatz kommen (siehe Leitlinie S3). Genetische Untersuchungen gibt es bisher nicht. Bei anamnestischem Verdacht auf das Vorliegen einer zusätzlichen Schlafstörung (schlafbezogene Atmungsstörungen, Narkolepsie, Restless Legs Syndrom u. a.), bei auffälligem polygraphischem Befund oder bei Verdacht auf eine paradoxe Insomnie ergibt sich die Indikation für eine Untersuchung im Schlaflabor für mindestens zwei Nächte.
z
Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen
Selten ist der irreguläre Schlaf-Wach-Rhythmus, z. B. beim Autismus, oder das vorverlagerte oder verzögerte Schlafphasensyndrom. Letzteres geht über das Verhalten des Morgen- oder Abendtypen hinaus und beinhaltet die Unfähigkeit, zu normalen Zeiten (z. B. zwischen 22 und 24 Uhr) einzuschlafen. Genetisch bedingte Verschiebungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, der sog. inneren Uhr, sind eine Ursache. Häufiger sind das Jet Lag-Syndrom und das Schichtarbeiter-Syndrom. In Deutschland arbeiten ca. 20–22 % der Erwerbstätigen im Schichtdienst. Zirka 80 % der Schichtarbeiter kennen eine Schlafstörung oder die Tagesmüdigkeit, aber nur 4 % leiden an dem SchichtarbeiterSyndrom, ca. 10 % der Nachtschichtarbeiter. Das Schichtarbeiter-Syndrom liegt vor, wenn eine Insomnie oder Tagesmüdigkeit besteht, die Beschwerden für mindestens einen Monat in der Schichtarbeit auftreten, ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus feststellbar ist und die Beschwerden durch keine andere Erkrankung erklärt werden können. Zum klinischen Bild gehören Schlafprobleme und/ oder Tagesmüdigkeit, eine Schlafzeit von nur ein bis vier Stunden mit schlechter Schlafqualität, eine Minderung der Leistungsfähigkeit und ein Anhalten der Beschwerden auch nach Beendigung der Schichttätigkeit. Assoziierte
639 27.3 · Beschwerdebilder
Symptome sind zeitiges Einschlafen und morgendliches Früherwachen nach Frühschichten, Einschlafprobleme nach Abendschichten, Müdigkeit und Unachtsamkeit in der Nachtschicht und soziale Isolierung. Somatische Beschwerden betreffen das Herzkreislaufsystem und den Verdauungstrakt. Differentialdiagnostisch sind die Müdigkeit und Schläfrigkeit sowie insomnische Beschwerden u.a. abzugrenzen von anderen Schlafstörungen, schlechter Schlafhygiene, Medikamenten- und/oder Alkohol-Wirkung oder einer Depression. z z Spezifische Diagnostik
Diagnostisch werden Aktigraphie und Schlaftagebücher zur Abklärung eines gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus angewandt, der MSLT (Multiple Schlaflatenz Test) oder MWT (Multipler Wachhalte Test) zur Abklärung pathologischer Müdigkeit und die Polysomnographie zur Abklärung einer Schlafstörung und Ausschluss zusätzlicher Schlafstörungen.
zum Aufstehen, bei der RBD zeigt sich vermehrte phasische und intermittierend tonische EMG-Aktivität im REM-Schlaf bis hin zu unkoordinierten Bewegungen der Extremitäten bzw. des ganzen Körpers. Bei Vorliegen einer zusätzlichen Schlaferkrankung ist diese zunächst zu behandeln. Eine Epilepsie ist auszuschließen. z z Spezifische Therapie
Eine ursächliche Behandlung gibt es nicht. Schlafhygienische Maßnahmen wie abendliche Entspannungstechniken, Vermeidung von Schlafdefizit und Verzicht auf Alkohol sind hilfreich. Die symptomatische Behandlung beider Parasomnien erfolgt medikamentös mit einem Benzodiazepin, z. B. Clonazepam. Die Länge der Behandlung ist individuell zu gestalten und das Schlafmittel wegen der Abhängigkeitsgefahr dann langsam auszuschleichen. Zusätzlich sind die Schlaf- und Wohnbedingungen so zu gestalten, dass sich die Betroffenen nicht verletzen können.
z z Spezifische Therapie
Die Therapie besteht aus verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, der Optimierung der Arbeitsbedingungen in Zusammenarbeit mit dem Betriebsarzt und auch der gezielten Behandlung mit Chronotherapeutika (Melatonin, Licht), oder schlaffördernden Substanzen. z
Parasomnien
Schlafwandeln und die REM-Schlafverhaltensstörung (RBD) sind die beiden wesentlichen Parasomnien. Seltener sind die Alpträume, Schlafparalyse, Enuresis nocturna, die Katathrenie oder das Essen im Schlaf. Das Schlafwandeln ist ein bei Kindern häufiges Phänomen (17 % vom 8.–12. Lj) und im Erwachsenenalter nur noch selten (ca. 4 %). Hinsetzen im Schlaf, Aufstehen und Verrichten gewohnter Tätigkeiten wie Toilettengang und Gang zur Küche etc. können Erscheinungsformen sein. Während der Schlafwandler sich im Tiefschlaf motorisch entäußert, macht es der RBD-Patient im Traumschlaf. Hier sind die Bewegungen unkoordiniert mit einer höheren Gefahr der Selbstverletzung und der Verletzung anderer. Beiden Formen ist gemeinsam, dass soziale Unverträglichkeit, die Gefahr der Selbstverletzung oder die Verletzung des Partners/der Partnerin die Betroffenen zum Arzt führen. Selten ist der Schlaf nicht erholsam, aber oft liegen begleitende Schlafstörungen wie eine Schlafapnoe oder eine schlafbezogene Bewegungsstörung vor. z z Spezifische Diagnostik
Die Diagnosestellung erfolgt anamnestisch und mit Hilfe der Polysomnographie im Schlaflabor. Beim Schlafwandeln zeigt sich ein vermehrter Tiefschlaf mit langen einzelnen Phasen mit motorischen Entäußerungen bis hin
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Schlafbezogene Bewegungsstörungen
Selten sind es rhythmische Bewegungen wie Schaukeln des Kopfes (head rocking) oder des Körpers (body rocking), Beinkrämpfe oder Bruxismus, die zu einem Nicht erholsamen Schlaf führen. Häufiger sind es das Restless Legs Syndrom (ca. 5 % der Gesamtbevölkerung mit Zunahme im Alter und bei Frauen) und das Syndrom der periodischen Beinbewegungen (PLMD). z z Spezifische Diagnostik
Das RLS wird anamnestisch und mit Hilfe eines Fragebogens diagnostiziert. Das PLMD ist ggf. auch polysomnographisch zu ermitteln. Ca. 80 % der RLS-Patienten haben auch ein PLMD, dieses kann aber auch isoliert auftreten. Leitsymptome der schlafbezogenen Bewegungsstörungen sind: 1. Bewegungsdrang der Beine mit unangenehmem Gefühl in den Beinen 2. Beginn bzw. Zunahme während der Ruhezeiten oder bei Inaktivität 3. Linderung der Beschwerden durch Bewegung 4. Progression der Beschwerden in den Abendstunden oder nachts Insomnische Beschwerden sind das häufigste sekundäre Symptom. Differentialdiagnostisch gibt es ein primäres und ein sekundäres RLS, letzteres bei Urämie, Eisenmangel, Schwangerschaft und Polyneuropathie. Einem sekundären RLS können Erkrankungen wie Rheuma, Schilddrüsen-Erkrankungen, Diabetes mellitus, Amyloidose, Rückenmarkserkrankungen, neurodegenerative Erkran-
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640
Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
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kungen (Parkinson), Vit. B12/Folsäure-Mangel, COPD und Karzinome zu Grunde liegen.
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z z Spezifische Therapie
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Das primäre RLS wird medikamentös behandelt, mit LDopa oder Dopaminagonisten. Bei nicht-effektiver Therapie oder Augmentation können auch Psychopharmaka zum Einsatz kommen. Zusätzlich sind Verhaltensmaßnahmen möglich und der Einfluss von provozierenden Medikamenten wie z. B. SSRI, Antiemetika und Neuroleptika abzuklären. Das PLMD wird dann behandelt, wenn die periodischen Beinbewegungen Arousal-assoziiert sind und ein Nicht erholsamer Schlaf vorliegt. Die Behandlung ist analog der beim RLS. Gelegentlich muss auch der gestörte Schlaf medikamentös behandelt werden. z
z z Spezifische Therapie
Die medikamentöse Behandlung der Hypersomnie und der fakultativen Symptome sollte immer von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen begleitet sein, wie beispielsweise ein geplantes Einlegen von Schlafepisoden vor dem Verrichten wichtiger Tätigkeiten. Die medikamentöse Therapie erfolgt hauptsächlich mit einem Stimulanz für den Tag, z. B. Methylphenidat.
Begutachtungskriterien, Zielkriterien Die sozialmedizinische Beurteilung richtet sich nach den Auswirkungen der Schlafstörungen auf die Fähigkeiten und Aktivitäten. Hier sind besonders die kognitiven und psychischen Einschränkungen zu beachten. Zusätzlich müssen die mögliche Fremd- und Selbstgefährdung, ggf. auch die Fahrtauglichkeit bewertet werden.
Hypersomnie
Die extreme Müdigkeit (Hypersomnie) kann Folge eines Nicht erholsamen Schlafes sein, einer Schlaf-WachRhythmus-Störung, einer Schlafapnoe oder einer anderen Schlafstörung. Ist dies ausgeschlossen, sprechen wir von einer Hypersomnie zentralnervösen Ursprungs. Wir unterscheiden dabei im Wesentlichen die Narkolepsie mit und ohne Kataplexie (siehe 7 Kapitel 23.2.12) und die idiopathische Hypersomnie mit langer oder normaler Schlafzeit. Andere Hypersomnien sind das Kleine-LevinSyndrom, menstruationsbedingte Hypersomnien und die Narkolepsie bzw. Hypersomnie, die durch Medikamente oder auch durch andere Erkrankungen hervorgerufen werden. Hauptbefunde der idiopathischen Hypersomnie sind eine exzessive Tagesschläfrigkeit mit mehreren Episoden von ungewolltem Einschlafen am Tage und ein erschwertes frühmorgendliches Erwachen. Die Erkrankung beginnt meist in der Adoleszenz. Sie besteht lebenslang und führt bei moderaten bis schweren Formen zu erheblichen psychosozialen Konsequenzen im familiären Bereich, in Ausbildung und Beruf. Partnerverlust, sozialer Rückzug, schulisches und berufliches Versagen sind häufig, ähnlich wie bei der Narkolepsie. z z Spezifische Diagnostik
Die Diagnose einer Hypersomnie wird im Schlaflabor gestellt. Hier zeigen sich eine gute Schlafqualität mit normaler oder verlängerter Schlafzeit und im MSLT eine kurze Einschlafzeit von weniger als 8 Minuten und maximal ein SOREM (Einschlaf-REM-Periode). Weiterführende diagnostische Verfahren sind Daueraufmerksamkeitstests, neuropsychologische Aufmerksamkeitstests, die zerebrale Bildgebung und die Hypocretinbestimmung.
Sozialmedizinische Beurteilung Bei nicht erfolgreich behandelbaren Insomnien können sich qualitative Leistungseinschränkungen durch eine eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit und Beeinträchtigungen der Stimmung, des Gedächtnisses, der Geschicklichkeit, der Reaktionszeit, des Konzentrationsvermögens und der Ausdauer ergeben. Bei ausgeprägter Tagesmüdigkeit können auch Aktivitäten mit möglichen Gefahrenquellen beeinträchtigt sein. Sind die Symptome eines Schichtarbeiter-Syndroms nicht effektiv zu behandeln und das Schichtsystem nicht zu optimieren, ist der Betroffene aus dem Schichtdienst zu nehmen. Bei Parasomnien und Bewegungsstörungen ist keine sozialmedizinisch relevante Einschränkung des Leistungsvermögens zu erwarten. Narkolepsie und idiopathische Hypersomnie sind zwar selten, führen aber für die Betroffenen, insbesondere wenn die Behandlung nicht effektiv ist, meist zu einer Erwerbsminderung durch die extrem eingeschränkte Leistungsfähigkeit am Tage. Insgesamt sind Erwerbsminderungsrenten wegen Schlafstörungen (ohne Schlafapnoe) jedoch außerordentlich selten, 2009 wurden lediglich 69 Erwerbsminderungsrenten mit dieser Hauptdiagnose (G47–G47.1 u. G47.4–G47.9) neu bewilligt. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben deswegen kommen nur vereinzelt vor. Ein besonderes Thema stellt bei der Beurteilung von Schlafstörungen die Fahreignung dar. Nach der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) muss jeder Verkehrsteilnehmer seine Eignung zur Fahrzeugführung selbst prüfen (§ 2 Absatz 1 FeV). In der neuen Fassung von 06/2007 wird erstmalig von einer Fahruntauglichkeit bei Schlafstörungen mit Tagesschläfrigkeit ausgegangen. Ist die Schläfrigkeit bzw. deren Ursache effektiv behandelt, dann hat eine Überprüfung der Tagesschläfrigkeit stattzufinden.
641 Literatur
In den bisherigen Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung [49] sind die Vigilanzstörungen bei der obstruktiven Schlafapnoe erwähnt sowie anfallsartige Bewusstseinsverluste und Kataplexien z. B. bei der Narkolepsie. Schlafapnoe und Narkolepsie sind in der Tat die wesentlichen Ursachen für die pathologische Einschlafneigung am Tage, sofern andere extrinsische Faktoren (medikamentös bedingte Müdigkeit u. a.) und ein Schlafdefizit ausgeschlossen sind. Aber auch die Bewegungsstörungen, die Parasomnien und die Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen können eine pathologische Einschlafneigung am Tage verursachen. Eine chronische Insomnie verursacht in der Regel eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit mit kognitivem Leistungsdefizit, jedoch ohne die Fähigkeit einschlafen zu können. Nach den Expertenempfehlungen der AG Apnoe der DGSM [31] und des wissenschaftlichen Beirates der Deutschen Narkolepsie-Gesellschaft e.V. (DNG) [20] sind Patienten mit einer unbehandelten Tagesschläfrigkeit nicht fahrtauglich, können ihre Fahrtauglichkeit jedoch nach erfolgreicher Behandlung wiedererlangen [20, 31, 34]. Gleiches gilt für die anderen Formen von Schlafstörungen, die Müdigkeit bzw. Schläfrigkeit verursachen. Die Bundesanstalt für Straßenverkehr (BAST) arbeitet mit der DGSM zusammen an einer Umsetzungsempfehlung zur Beurteilung und Kontrolle der Tagesschläfrigkeit.
Literatur
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Kapitel 27 · Symptomkomplexe und ausgewählte Fragestellungen
37 Mayer G, Schulz H: Begutachtung der Narkolepsie. Der Medizinische Sachverständige 3: 92–96, 1999 38 Melchart D, Vogt S, Köhler W et al: Treatment of health complaints attributed to amalgam. J Dent Res 87: 349–353, 2008 39 Merten T, Puhlmann HU: Symptomvalidierungstestung (SVT) bei Verdacht auf eine Simulation oder Aggravation neurokognitiver Störungen: ein Fallbericht. Versicherungsmed 56: 67–71, 2004 40 Morschitzky H: Somatoforme Störungen. 2. Aufl. Springer, Wien, New York, 2007 41 Nasterlack M, Kraus T, Wrbitzky R: Multiple Chemical Sensitivity. Dtsch Ärztebl 99; A 2474–2483, 2002 42 Nix WA: Das Chronic-Fatigue-Syndrom – Ein neues Krankheitsbild? Nervenarzt 61: 390–396, 1990 43 Poeck K: Begutachtungs- und Rehabilitationsprobleme bei Halswirbelsäulenschäden – aus nervenärztlicher Sicht. Med Sach 97: 77–80, 2001 44 Poeck K: Kognitive Störungen nach traumatischer Distorsion der Halswirbelsäule? Dt Ärzteblatt 96: A 2596–2601, 1999 45 Poeck K: Wieweit können neurootologische Untersuchungen Schwindelphänomene nach HWS-Distorsion belegen? Med Sach 95: 181–186, 1999 46 Rühle K-H, Mayer G: Empfehlungen zur Begutachtung von SchlafWachstörungen und Tagesschläfrigkeit. Somnologie 2: 89–95, 1998 47 Runow KD: Klinische Ökologie. 2. Aufl. Hippokrates, Stuttgart, 1994 48 Schröter F: Methodik der Begutachtung beim »Schleudertrauma« der Halswirbelsäule. Med Sach 104: 70–78, 2008 49 Schubert W, Schneider W, Eisenmenger W, Stephan E (Hrsg.): Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung, Kommentar Kirschbaum Verlag Bonn, 2005 50 Spitzer WO, Skovron ML, Salmi LR et al: Scientific monograph of the Quebec Task force on Whiplash-Associated Disorders. Spine (Suppl.) 20: 1S–73S, 1995 51 Stadtland C, Nedopil N: Psychiatrische Begutachtung. In: Dörfler H, Eisenmenger W, Lippert HD. Wandl U (Hrsg.): Medizinische Gutachten. Springer, Heidelberg, 2008 52 Strupp M, Cnyrim C, Brandt T: Vertigo and Dizziness in Evidencebased Neurology – Management of Neurological Disorders. Ed. Candalise L. Blackwell Publishing, London, 2007 53 Suva, Abteilung Arbeitsmedizin und Abteilung Arbeitssicherheit Chemie: »Factsheet Gesundheitsgefährdung durch Laserdrucker, Kopiergeräte und Toner«, 2008 54 Thomann KD, Rauschmann M: Begutachtungs- und Rehabilitationsprobleme bei Halswirbelsäulenschäden – aus orthopädischer Sicht. Med Sach 97: 86–96, 2001 55 Thomann KD, Schröter F, Grosser V (Hrsg.): Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung. Elsevier Urban & Fischer, München Jena, 2009 56 Weber M, Badke A, Hausotter W: Anhaltspunkte für die Begutachtung der Halswirbelsäulenverletzungen. Mitteilungen und Nachrichten der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) Supplement 26: 11–26, 2004 57 Widder B, Hausotter W, Marx P, Tegenthoff M, Wallesch CW: Dauerhafte Muskelfunktionsstörung nach HWS-Schleudertrauma? Akt Neurol 29: 469–470, 2002 58 Wölk W: Zur Prüfung von Erwerbsunfähigkeit bei Neurosekranken mit Körpersymptomatik. Med Sach 91: 158–161, 1995
643
Medizinische Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen Carl-Peter Bauer
28.1
Allgemeines – 644
28.1.1 28.1.2
28.1.7
Rechtliche Rahmenbedingungen – 644 ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) – 645 Sozialmedizinische Bedeutung – 645 Ziele und Aufgaben der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen – 646 Einleitung der Rehabilitation – 646 Besonderheiten der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen – 647 Perspektiven der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen – 648
28.2
Krankheitsbilder – 649
28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4 28.2.5
Asthma bronchiale – 649 Adipositas mit Folgeerkrankungen – 650 Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) – 651 Diabetes mellitus – 652 Neurodermitis – 653
28.1.3 28.1.4 28.1.5 28.1.6
Literatur – 655
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 28 · Medizinische Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen
28.1
Allgemeines
Im Kindes- und Jugendalter auftretende chronische Krankheiten bzw. Krankheitsfolgen bleiben häufig im Erwachsenenalter bestehen und können die spätere Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben gefährden oder beeinträchtigen. Besondere Bedeutung gewinnt die Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen durch die Tatsache, dass die Kindheit und das Jugendalter als optimale Entwicklungs- und Lernphasen für gesundheitsförderndes Verhalten und Krankheitsbewältigungsstrategien zu betrachten sind. Dadurch kann einer sekundären Chronifizierung von Krankheiten entgegen gewirkt werden. Gesundheitsrelevante Verhaltensweisen, die in diesen Entwicklungsphasen aufgebaut werden können, haben große Chancen, langfristig beibehalten zu werden. Unter diesem Aspekt hat die gesetzliche Rentenversicherung ihre spezifischen und qualifizierten Rehabilitationsangebote für Kinder und Jugendliche ausgebaut und weiterentwickelt. So wurden im Jahr 2009 über die gesetzliche Rentenversicherung 36.254 Rehabilitationsleistungen bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt . Tab. 28.1 [5]. Als eine der Grundlagen für die Kinderrehabilitation dient heute das gemeinsame Rahmenkonzept der gesetzlichen Krankenkassen und der gesetzlichen Rentenversicherung für die Durchführung stationärer medizinischer Leistungen der Vorsorge und Rehabilitation für Kinder und Jugendliche, das 2008 neu überarbeitet und verabschiedet wurde [4]. Ergänzt wird dieses durch die Leitlinien für die Rehabilitation in der Kinder- und Jugendmedizin der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) [2].
Rechtliche Rahmenbedingungen
28
28.1.1
28
Für medizinische Rehabilitationsleistungen bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen besteht eine gleichrangige Zuständigkeit durch die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung.
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z
Kinderheilbehandlungen nach § 31 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI
Die Rentenversicherungsträger können medizinische Rehabilitationsleistungen nach § 31 Absatz 1, Satz 1, Nr. 4 SGB VI (sonstige Leistungen) für Kinder von Versicherten, Beziehern einer Rente wegen Alters, wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder für Bezieher einer Waisenrente erbringen, wenn hierdurch voraussichtlich eine erhebliche Gefährdung der Gesundheit beseitigt oder eine beeinträchtigte Gesundheit wesentlich gebessert oder
. Tab. 28.1 Kinder und Jugendliche in der stationären medizinischen Rehabilitation durch die Deutsche Rentenversicherung: Erstdiagnosen und Altersverteilung (Durchschnittalter) in 2009 [5] Erkrankung
Anzahl absolut
in %
Durchschnittsalter
Chronische und nicht näher bezeichnete Bronchitis
304
0,8
5,3
Asthma bronchiale
8.267
22,8
8,0
Sonstige Krankheiten der oberen Atemwege
408
1,1
7,7
Krankheiten des Atmungssystems (ohne akute Infektionen)
2.040
5,6
4,3
Deformitäten der Wirbelsäule und des Rückens
2.033
5,6
15,0
Entzündliche Polyarthropathien
167
0,5
12,5
Sonstige Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems/ Bindegewebes
290
0,8
16,1
Adipositas und sonstige Überernährung
7.325
20,2
13,4
Diabetes mellitus
605
1,7
11,8
Psychische und Verhaltensstörungen (ohne organische Störungen)
7.356
20,3
11,5
Krankheiten der Haut und der Unterhaut
2.994
8,3
7,3
Krankheiten des Verdauungssystems
195
0,5
13,2
Krankheiten der Niere und des Harnsystems
42
0,1
10,3
Krankheiten des Nervensystems
836
2,3
10,6
Bösartige Neubildungen
573
1,6
11,0
Sonstige Krankheiten
1.804
5,0
10,7
keine Aussage möglich
1.015
2,8
10,4
insgesamt
36.254
100
10,4
wiederhergestellt werden kann. Dem gesetzlichen Auftrag folgend können die Rentenversicherungsträger Rehabilitationsleistungen für Kinder und nicht selbst versicherte Jugendliche nur stationär erbringen.
645 28.1 · Allgemeines
z
Gemeinsame Richtlinien der Träger der Rentenversicherung nach § 31 SGB VI
Für Kinderrehabilitationen konkretisieren die gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung nach § 31 SGB VI (Kinderheilbehandlungsrichtlinien, KiHBRichtlinien) die Voraussetzungen und den Leistungsumfang. Von der Rentenversicherung erbrachte Rehabilitationsleistungen für Kinder und Jugendliche sind darauf ausgerichtet, ein späteres Erwerbsleben zu ermöglichen. Als Kinder im gesetzlichen Sinne können auch Jugendliche sowie junge Erwachsene bis zum 27. Lebensjahr eingestuft werden, wenn sie sich in einer Schul- oder Berufsausbildung befinden oder wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande sind, sich selbst zu unterhalten. z
Gesetzliche Regelungen durch das SGB IX
Am 01. Juli 2001 trat das SGB IX (neuntes Buch Sozialgesetzbuch Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) in Kraft, in dem behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder besonders berücksichtigt sind. Für die medizinische Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen sind insbesondere folgende Regelungen des SGB IX von Bedeutung: In § 1 SGB IX (Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft) wird betont, dass den besonderen Bedürfnissen behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder Rechnung zu tragen ist. Die Regelung des § 4 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe) Absatz 3 bezieht sich auf Leistungen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder, die so geplant und gestaltet werden, dass nach Möglichkeit Kinder nicht von ihrem sozialen Umfeld getrennt und gemeinsam mit nicht behinderten Kindern integrativ betreut werden können. Dabei sollen behinderte Kinder alters- und entwicklungsentsprechend an der Planung und Ausgestaltung der einzelnen Hilfen beteiligt und ihre Bezugspersonen intensiv in Planung und Gestaltung der Hilfen einbezogen werden. In § 54 SGB IX werden Haushalts- oder Betriebshilfe und Kinderbetreuungskosten geregelt.
Aktivitäten entwicklungsentsprechend sind und in welchem Umfang sie erwartet werden können (z. B. selbstständiges Essen, Laufen, Sprechen etc.). Die Beurteilung der Teilhabe unterscheidet sich ebenfalls altersabhängig vom Erwachsenen. Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bedeutet bei einem Kind neben der Integration in die Familie auch regelmäßige Besuche von Kinderhort, Kindergarten oder Schule (entsprechend seinem Leistungsvermögen und typgerecht). Weiterhin gehört zur Teilhabe auch ein regelhafter Freundeskreis, der das Erlernen sozialer Fähigkeiten fördert. Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bedeutet bei einem Jugendlichen auch z. B. die Chance auf einen optimalen Schulabschluss im Hinblick auf die bevorstehende Berufausbildung. Dementsprechend sind alters- und entwicklungsabhängige Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe zu bewerten, die sich besonders in folgenden Punkten zeigen: 4 In der Fortbewegung, in der allgemeinen körperlichen Beweglichkeit und Geschicklichkeit 4 Im Verhalten 4 In der Kommunikation 4 Im Bereich des Lernens und der Wissensanwendung 4 Im Umgang mit Stress und Emotionen 4 Ggf. in der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben bei Jugendlichen 4 In der Selbstversorgung 4 In der Mobilität (Fortbewegung in der Umgebung) 4 In der Bildung und Ausbildung (Kindergarten, Schule, Berufsausbildung) 4 In der Beschäftigung (Freizeit, Berufsausbildung) 4 In der sozialen Integration Dazu sind die altersabhängigen Kontextfaktoren, also alle Umwelt- und personbezogenen Faktoren, die Einfluss auf Funktionsfähigkeit bzw. funktionale Gesundheit der Person haben können, zu berücksichtigen.
28.1.3 28.1.2
ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health)
Die von der WHO 2001 verabschiedete ICF ist bisher für Erwachsene konzipiert [13, 15]. Eine Klassifikation speziell für Kinder und Jugendliche liegt in einer englischsprachigen Version (ICF-CY) seit 2007 vor, eine deutschsprachige Version wird derzeit vorbereitet. Bei einer solchen Kinderversion sind vor allem folgende Punkte zu beachten: Die Beurteilung der funktionalen Gesundheit eines Kindes muss die alters- bzw. entwicklungsgemäße Normalität berücksichtigen. So muss beachtet werden, welche
Sozialmedizinische Bedeutung
In früheren Jahrzehnten stellten Infektionskrankheiten das größte Gesundheitsproblem im Kindes- und Jugendalter dar. Durch Prävention und verbesserte Behandlungsmethoden ist es zu einem Rückgang gekommen. Dagegen ist eine deutliche Zunahme bei chronischen Erkrankungen wie Asthma bronchiale, Allergien, Neurodermitis oder Verhaltensstörungen zu verzeichnen. Eine besondere Problematik stellt die Adipositas bei Kindern und Jugendlichen mit ihren Folgeerkrankungen dar. Nach den Ergebnissen des Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert-Koch-Institutes aus dem Jahre 2007 (KiGGS) haben 42 % aller Kinder Zeichen einer
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646
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Kapitel 28 · Medizinische Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen
allergischen Sensibilisierung, 15 % leiden an Übergewicht bzw. Adipositas, 13,2 % an Neurodermitis, 4,7 % an Asthma und 30 % an einer allergischen Rhinokonjunktivitis mit einem deutlichen Risiko für ein späteres Asthma bronchiale [14]. Somit besteht bei ca. einem Drittel aller Kinder inzwischen ein chronisches Gesundheitsproblem bzw. ein deutlich erhöhtes Risiko für eine chronische Erkrankung, die im Erwachsenenalter zu einem eingeschränkten Leistungsvermögen und zu vermehrten Gesundheitskosten führen kann. Der Kinderheilkunde kommt hier eine besondere Aufgabe und der Politik eine besondere Verantwortung zu. Prävention und Rehabilitation gehen im Kindesalter ineinander über und bieten gemeinsam eine Chance, dieser Gesundheitsproblematik zu begegnen. 28.1.4
Ziele und Aufgaben der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen
Ziel der medizinischen Rehabilitationsleistungen für Kinder und Jugendliche der Deutschen Rentenversicherung ist es 4 den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen zu verbessern 4 bereits eingetretene Beeinträchtigungen der Aktivitäten weitestgehend zu reduzieren und Teilhabe – insbesondere eine spätere Erwerbstätigkeit – zu ermöglichen sowie 4 dem Auftreten dauerhafter Benachteiligungen vorzubeugen. Dabei kommt den individuellen kind- und umweltbezogenen Kontextfaktoren eine besondere Bedeutung zu. Kontextfaktoren, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken (Barrieren), sollen minimiert bzw. abgebaut werden. Darüber hinaus sollen Schutzfaktoren (Förderfaktoren) gestärkt und aufgebaut werden, die eine angemessene Krankheitsbewältigung des chronisch kranken Kindes und Jugendlichen unterstützen und fördern. Es sollen also trotz einer Krankheit oder krankheitsbedingter Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe möglichst optimale Bedingungen für die körperliche, geistige und psychische Entwicklung geschaffen werden. Hierzu gehört die Unterstützung individueller Ressourcen unter Berücksichtigung der im Einzelfall vorliegenden alters-, entwicklungs- und krankheitsspezifischen Konstellation. Weiterhin zählen das Training von noch vorhandenen Funktionen und die Ausbildung neuer Fertigkeiten zur Kompensation von eingeschränkten Funktionen zu wesentlichen Bestandteilen der medizinischen Rehabilitation. Wesentliche Bestandteile der medizinischen Rehabili-
tation von Kindern und Jugendlichen sind die Anleitung und Schulung zur Selbstkontrolle und zum eigenverantwortlichen Umgang mit der Erkrankung (Krankheitsmanagement), ggf. auch unter Einbeziehung der Bezugspersonen. Zum Aufgabenspektrum der Rehabilitation gehören auch die Vermittlung von allgemeinen und medizinischen Informationen und die Beratung der Kinder und Jugendlichen hinsichtlich des Umgangs mit der Krankheit im täglichen Leben und der Berufswahl, bei der neben Neigungen und Fähigkeiten auch die gesundheitliche Eignung zu berücksichtigen ist. Von wesentlicher Bedeutung ist auch die Beratung und Anleitung der Bezugspersonen zum adäquaten Umgang mit dem Rehabilitanden und den Folgen seiner Gesundheitsstörung. Weiterhin sind ggf. erforderliche Maßnahmen im Rahmen der Nachsorge und der Berufsberatung bzw. -findung sowie diagnostische und/oder therapeutische Maßnahmen anzuregen und zu planen. Bei Jugendlichen, die vor dem Eintritt ins Berufsleben stehen, sollte eine sozialmedizinische Stellungnahme zur Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben (medizinisch relevante berufliche Aspekte) abgegeben werden.
28.1.5 z
Einleitung der Rehabilitation
Zugang zur Rehabilitation
Der Weg in die Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen gemäß § 31 SGB VI führt über den Antrag des zugehörigen Versicherten bzw. Beziehers einer Rente. Der betreuende Arzt wird mit dem ärztlichen Befundbericht zum Antrag auf Kinderheilbehandlung in das Einleitungsverfahren eingebunden. z
Antragsprüfung und Zuweisung
Der Rentenversicherungsträger trifft die Entscheidung über Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Rehabilitationsleistung sowie über die geeignete Rehabilitationseinrichtung und die Mitaufnahme von Eltern bzw. Bezugspersonen. Dies gilt insbesondere für Anträge auf eine familienorientierte Rehabilitation (FOR), die eine Besonderheit in der Kinderrehabilitation darstellt. Sie kann indiziert sein bei schwerst chronisch kranken Kindern. Als sozialmedizinische Kriterien werden die Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und Rehabilitationsprognose geprüft. z
Rehabilitationsbedürftigkeit
Im Rahmen einer stationären Rehabilitation sollen Kinder und Jugendliche behandelt werden, bei denen Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe aufgrund einer chronischen Krankheit eingetreten sind oder bei denen dies zu befürchten ist. Die Beurteilung von Rehabilitationsbedürftigkeit erfolgt aus der zusammenfassen-
647 28.1 · Allgemeines
den Bewertung aller sozialmedizinisch relevanten Kriterien. Rehabilitationsbedürftigkeit kann z. B. angenommen werden, wenn die ambulante ärztliche Behandlung nicht ausreicht, um Schädigungen der Körperstrukturen und -funktionen mit daraus resultierenden Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe zu mindern oder zu beseitigen. Rehabilitationsbedürftigkeit kann auch vorliegen bei fehlender Krankheitsakzeptanz und unzureichendem Krankheitsmanagement oder wenn das soziale Umfeld einer Genesung entgegensteht. z
Rehabilitationsfähigkeit
Die Rehabilitationsfähigkeit muss im Kindes- und Jugendalter in Abhängigkeit vom Alter gesehen werden. Generell besteht bei Kindern im Vorschulalter bei Mitaufnahme einer Begleit- (Bezugs-)person eine Rehabilitationsfähigkeit. Für Kinder ohne Begleitpersonen (in der Regel im Schulalter) müssen die allgemeinen indikationsübergreifenden Kriterien erfüllt sein wie z. B. ausreichende körperliche und psychosoziale Belastbarkeit, Voraussetzungen für eine aktive, entwicklungsgemäße Mitarbeit an der Rehabilitation sowie soziale Integrationsfähigkeit (Gruppenfähigkeit). Keine Rehabilitationsfähigkeit im Sinne der Deutschen Rentenversicherung besteht für Kinder und Jugendliche daher bei schwerer geistiger Behinderung und/ oder fehlender Gruppenfähigkeit. Generell ist bei der Einschätzung der Gruppenfähigkeit bzw. der sozialen Integrationsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen die krankheits- und entwicklungsbedingte Variabilität und die Möglichkeit bzw. Bereitschaft zur Mitaufnahme einer Begleit- oder Bezugsperson zu berücksichtigen. Ein generelles Mindestalter als Voraussetzung für die Rehabilitationsfähigkeit besteht nicht. Bei akuten Erkrankungen und Krankheiten mit vorrangig akutmedizinischem Handlungsbedarf liegt keine Rehabilitationsfähigkeit vor. z
Rehabilitationsprognose
Bei der Beurteilung der Rehabilitationsprognose müssen die Schwere der (chronischen) Krankheit bzw. Behinderung sowie ihre Dauer, der bisherige Verlauf und die krankheitsaufrechterhaltenden Risikofaktoren berücksichtig werden. Eine negative Rehabilitationsprognose bei Kindern für den Bereich der Deutschen Rentenversicherung zeichnet sich durch den Bezug zum späteren Erwerbsleben dann ab, wenn eine spätere Erwerbsfähigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht (mehr) in Betracht zu ziehen ist.
28.1.6
z
Besonderheiten der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen
Rehabilitationsdauer
Grundsätzlich sind bei der Durchführung stationärer medizinischer Rehabilitationsleistungen die Besonderheiten im Kindes- und Jugendalter zu berücksichtigen. Sie bedingen in der Regel im Vergleich zu Erwachsenen eine längere Rehabilitationsdauer, um die festgelegten Rehabilitationsziele zu erreichen. Daher beträgt die Dauer einer Rehabilitationsleistung für Kinder und Jugendliche mindestens 4 Wochen, je nach Indikation und Besonderheiten im Einzelfall können sie auch für einen längeren Zeitraum erbracht werden. Es ist zu berücksichtigen, dass für Untersuchungs-, Behandlungs- und Lernprozesse bei Kindern in der Regel wesentlich mehr Zeit und Aufwand anzusetzen ist als bei Erwachsenen (z. B. Konzentration, Verständnis, Widerstand). Von entscheidender Bedeutung ist die Tatsache, dass nicht nur bei Vorliegen einer psychosomatischen Erkrankung in der Regel ein verhaltensmedizinisches Konzept anzuwenden ist. Dieses umfasst komplexe Lernstrategien mit dem Ziel, neue Fertigkeiten und Verhaltensweisen zu erlernen und Übungsphasen für deren Erprobung und Festigung sicherzustellen. Dabei wird das Rehabilitationskonzept – unter besonderer Beachtung des Bindungsverhaltens von Kindern als »Gruppenwesen« – auf altersbezogene Gruppenprozesse abgestimmt. Einen besonderen Aspekt stellt der während der Kinderrehabilitation stattfindende Schulunterricht (in der Regel ca. 2 Std. tgl.) dar, der integraler Bestandteil des Rehabilitationskonzeptes ist und in dessen Rahmen auch die Alltagserprobung stattfinden kann. Unter Berücksichtigung des für den Schulunterricht anzusetzenden Zeitbedarfes, der unterschiedlich verlaufenden Eingewöhnungsphasen (Stations- und Schulungsgruppen, Schulklasse), des für Kinder erforderlichen Freiraumes (altersgemäßes Spielbedürfnis) wird deutlich, dass bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen eine längere Rehabilitationsdauer anzusetzen ist. Zum anderen ist ausreichend Raum für altersund entwicklungsgerechte Freizeitaktivitäten außerhalb der therapeutischen Maßnahmen einzuplanen, da diese Eigenaktivitäten bei Kindern und Jugendlichen für die Motivation, das Erleben der eigenen Kompetenz und im Rahmen der sozialen Indikation eine wichtige Rolle spielen und in geeigneter Weise zu fördern sind. z
Wiederholung einer Kinderrehabilitation derselben Indikation
Für eine erneute Rehabilitationsleistung bei Kindern und Jugendlichen mit derselben Indikation kommt in der Regel eine Rehabilitationsdauer von 4 Wochen in Betracht. Hierbei sowie beim Intervall der Rehabilitationsleistun-
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28 28
Kapitel 28 · Medizinische Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen
gen sind entwicklungsspezifische Besonderheiten und indikationsbezogene therapeutische Notwendigkeiten zu berücksichtigen und Einzelfallprüfungen vorzunehmen. z
Begleit- bzw. Bezugsperson
28
Die Mitaufnahme einer Begleitperson im Rahmen einer stationären Kinderrehabilitation kommt nur in Betracht, wenn das Rehabilitationsziel bei einem rehabilitationsbedürftigen Kind aller Voraussicht nach nicht ohne deren Anwesenheit erreicht werden kann. Dieses kann sich aus dem Alter des Kindes ergeben, z. B. bei Kleinkindern bzw. Kindern im Vorschulalter. Hier kann die medizinische Rehabilitation in der Regel nur dann effektiv durchgeführt werden, wenn die Begleitperson – in der Regel die Bezugsperson – des Kindes anwesend ist. Falls aus sozialmedizinischer Sicht bei älteren Kindern die Mitaufnahme einer Bezugsperson zur Erreichung des Rehabilitationszieles erforderlich sein sollte, ist dies besonders zu begründen. Die Indikation hierfür kann in der Krankheit oder Behinderung des Kindes liegen, wenn eine intensive Schulung und Anleitung der Bezugsperson für den krankheitsadäquaten Umgang mit dem Kind erforderlich ist. Die Bezugsperson ist in der Regel bereits mit der Erkrankung und Betreuung des Kindes vertraut und erhält durch Schulungen und Beratungen während der Rehabilitation entscheidende und spezifische Hilfsangebote für die Weiterversorgung des Kindes. Im Einzelfall entscheidet die sozialmedizinische Beurteilung über das Vorliegen einer Indikation für die Mitaufnahme einer Begleitperson, ggf. auch für einen begrenzten Zeitraum. Vor allem bei chronischen Krankheiten von Kindern und Jugendlichen, deren Manifestation und Verlauf entscheidend durch person- und umweltbezogene Kontextfaktoren beeinflusst werden, ist eine aktive Mitwirkung der Rehabilitanden unter Einbeziehung der Bezugspersonen von ausschlaggebender Bedeutung. Schulungen von Bezugspersonen kommen in Betracht, wenn deren Mitwirkung für einen langfristigen Rehabilitationserfolg wesentlich ist.
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Schulunterricht
Während der medizinischen Rehabilitation erfolgt eine schulische Betreuung in Form eines wissenserhaltenden Stützunterrichtes in den Schwerpunktfächern. Der Schulunterricht ist einerseits bei der organisatorischen Planung zeitlich zu berücksichtigen, andererseits ist er als »Belastungserprobung« während der Rehabilitation zu werten und kann in diesem Zusammenhang auch schulpädagogische Anregungen für die nachbetreuenden Institutionen geben.
z
Ausbildung und Beruf
Die gesetzliche Rentenversicherung richtet an die medizinische Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen den Auftrag, nicht nur die allgemeine Leistungsfähigkeit der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu verbessern, sondern speziell optimale Voraussetzungen für eine spätere Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu schaffen. Wegen der besonderen Bedeutung beruflicher Fragestellungen im Jugendalter und der ggf. bestehenden krankheitsbedingten Einschränkungen bei der Berufswahl sind Informationen und Beratung zur beruflichen Orientierung ein wichtiger Bestandteil der Rehabilitation von Jugendlichen. Indikationsorientiert können Möglichkeiten und Grenzen der Berufswahl aufgezeigt werden, um zunächst ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass neben Interessen, Neigungen und Fähigkeiten auch die gesundheitliche Eignung berücksichtigt werden muss. Eine individuelle Berufsberatung für Jugendliche der Schulabgangsklassen kann auf Grundlage der in der Rehabilitationseinrichtung gewonnenen Erkenntnisse durch Berater der Agentur für Arbeit erfolgen. 28.1.7
Perspektiven der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen
Die positiven Effekte einer medizinischen Rehabilitation konnten bei Kindern und Jugendlichen vielfach nachgewiesen werden. Das gilt insbesondere für das Asthma bronchiale. Aufgrund der Bedeutung der medizinischen Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter – insbesondere als Teil eines Langzeitmanagements bei chronischen Erkrankungen – wird sie zunehmend als eigenständiger Bereich bei den Fachgesellschaften der verschiedenen Indikationsgebiete berücksichtigt. Aus diesem Grunde wurde in die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde auch ein eigenes Kapitel Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen aufgenommen [2]. Darüber hinaus ist die Kinderrehabilitation Teil der Disease-ManagementProgramme geworden. Bei Kindern und Jugendlichen betrifft dies das Asthma bronchiale und den Diabetes mellitus Typ 1. Für die Weiterentwicklung der Qualität der Kinderrehabilitation sind neben dem verabschiedeten BAR-Rahmenkonzept und den AWMF-Leitlinien [2, 4] die Einführung eines einheitlichen Qualitätssicherungsprogramms durch die Rentenversicherung sowie die Entwicklung von Therapiestandards durch die Rentenversicherung in Vorbereitung. Im Rahmen dieser Entwicklungsprozesse sind auch ambulante Versorgungsstrukturen einschließlich der Nachsorge in der Diskussion.
28
649 28.2 · Krankheitsbilder
28.2
Krankheitsbilder
Die Kinderrehabilitation umfasst prinzipiell alle chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Im Folgenden werden einige sozialmedizinisch relevante Krankheitsbilder in der Kinderrehabilitation besprochen.
. Tab. 28.2 Häufigkeit des Asthma bronchiale im Kindesund Jugendalter in Deutschland [14] Alter
Lebensprävalenz Asthma
Gesamt
4,7 (4,3–5,1)
0–2 Jahre
0,5 (0,3–0,9)
3–6 Jahre
2,7 (2,2–3,4)
7–10 Jahre
4,7 (4,0–5,5)
Klassifikationen und Stadieneinteilung
11–13 Jahre
7,0 (6,1–8,2)
Nach den Daten der KiGGS-Studie [14] kommt das Asthma bronchiale in Deutschland mit einer Häufigkeit von 4,7 bis 7 % im Schulalter (. Tab. 28.2) vor. Definiert ist das Asthma bronchiale als reversible Atemwegsobstruktion auf der Basis eines hyperreagiblen Bronchialsystems. Ursächlich für die Hyperreagibilität wird eine eosinophile Entzündung der Bronchien angesehen, die bei Kindern häufig auf eine Inhalationsallergie zurückzuführen ist. Neben der Inhalation von Allergenen können bei Kindern und Jugendlichen auch Infekte, körperliche Anstrengung, Wetterwechsel, psychische Belastungen etc. Auslöser von Exazerbationen sein. Das Krankheitsbild wird in vier Schweregrade eingeteilt. Daneben hat sich zur Verlaufsbeurteilung des Asthma bronchiale international die Bewertung in »kontrolliert«, »teilweise kontrolliert« oder »nicht kontrolliert« in Korrelation zu bestimmten Therapiestufen durchgesetzt (. Tab. 28.3) und wird jetzt auch in der aktuellen nationalen Versorgungsleitlinie dargestellt [10]. Die Therapie selbst richtet sich ebenfalls nach der neuen nationalen Versorgungsleitlinie [10].
14–17 Jahre
7,0 (6,0–8,0)
28.2.1
Asthma bronchiale
Diagnostik Ziel der Diagnostik ist die Feststellung des Schweregrades des Asthma bronchiale und die Abklärung von Auslösefaktoren, um die Therapiestrategie festzulegen. Die Erhebung der Anamnese ist dabei von wesentlicher Bedeutung. z
Ausmaß der Asthmakontrolle Charakteristika
kontrolliert
teilweise kontrolliert
unkontrolliert
Symptome tagsüber
keine (max. 2x/Woche)
mehr als 2x/ Woche
Eingeschränkte Belastbarkeit
keine
gelegentlich
Nächtliche Symptome/ Erwachen
keine
gelegentlich
Bedarf an Beta-2-Antagonisten/ Notfallmedikation
keine (max. 2x/Woche)
mehr als 2x/ Woche
Drei oder mehr der unter »teilweise kontrolliert« aufgeführten Angaben im Verlauf einer Woche
Lungenfunktion FEV1/PEF)
normal
P97) % (95 % KI)
3–6 Jahre
6,2 (5,4–7,1)
2,9 (2,3–3,6)
7–10 Jahre
9,0 (8,0–10,0)
6,4 (5,6–7,3)
11–13 Jahre
11,4 (10,1–12,9)
7,2 (6,1–8,3)
14–17 Jahre
8,6 (7,7–9,6)
8,5 (7,6–9,6)
Gesamt
8,7 (8,2–9,2)
6,3 (5,8–6,9)
Therapie Die Therapie richtet sich nach den sog. AWMF-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Rehabilitation und Prävention und hat folgende Inhalte [10]: 4 Medikamentöse Therapie 4 Physiotherapie 4 Sporttherapie 4 Psychologische Intervention 4 Patientenschulung 4 Hilfen zur Krankheitsbewältigung 4 Beratung inkl. Beratung zur beruflichen Orientierung der entsprechenden Altersgruppen
Indikation zur medizinischen Rehabilitation
28
. Tab. 28.4 Verbreitung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland [14]
Als Komorbidität des Asthma bronchiale treten häufig ein atopisches Ekzem, eine allergische Rhinokonjunktivitis, psychische Störungen sowie eine Adipositas auf.
Eine Indikation zur medizinischen Rehabilitation besteht, wenn das individuelle Therapieziel (kontrolliertes Asthma) nicht oder nur durch einen möglicherweise zu hohen Therapieaufwand (z. B. inadäquate Kortisondosis bzw. lang wirksame Beta-Mimetika etc.) ambulant erreicht werden konnte. Häufige Faktoren hierfür sind: 4 Schwere des Krankheitsbildes 4 Komorbidität 4 Eingeschränkte diagnostische und therapeutische Möglichkeiten vor Ort 4 Unzureichende Compliance 4 Psychosoziale Barrierefaktoren
28.2.2
Adipositas mit Folgeerkrankungen
Klassifikation und Stadieneinteilung Übergewicht bzw. Adipositas ist auf ein Missverhältnis zwischen Energieaufnahme und Energieverbrauch zurückzuführen. Definiert wird Übergewicht bzw. Adipositas mittels des Body-Mass-Index (BMI). Berechnet wird er nach folgender Formel: BMI = kg : m² Übergewicht liegt vor, wenn der BMI über der 90. Altersperzentile (P90 – P97) liegt und eine Adipositas bei Überschreiten der 97. Altersperzentile (P > 97). Von einer extremen Adipositas spricht man bei BMI-Werten über der 99. Altersperzentile [9, 17]. Nach den Erhebungen des Robert-Koch-Instituts (KiGG´s-Studie 2007) sind 15 % der Kinder- und Jugendlichen übergewichtig bzw. adipös (. Tab. 28.4 [14]).
Diagnostik z
Ursachen der Adipositas
Bei der Diagnostik sind kongenitale Ursachen (z. B. Prader-Willi-Syndrom), erworbene Krankheiten mit nachfolgender Adipositas (z. B. Hypothyreose, Cushingsyndrom etc.) von der primären »alimentären« Adipositas zu unterscheiden. Bei der Diagnostik der primären alimentären Adipositas müssen die Faktoren abgeklärt werden, die zur Manifestation beigetragen haben bzw. diese weiter unterhalten (z. B. psychosoziale, nutritive, behaviorale Faktoren). z
Komorbidität
Folgende Komorbiditäten sind abzuklären: 4 Metabolisches Syndrom 4 Orthopädische Erkrankung 4 Herz-Kreislauferkrankungen 4 Gastroenterologische Erkrankung 4 Respiratorische Störungen 4 Dermatologische Veränderungen 4 Psychische Störungen
Therapie Grundlage der Therapie sind die AWMF-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Rehabilitation und Prävention mit folgenden Inhalten [2]: 4 Reduktionskost 4 Ernährungsberatung 4 Medizinische Betreuung und Behandlung der Komorbiditäten 4 Psychologische Betreuung 4 Patientenschulung 4 Sport- und Physiotherapie 4 Schule und Beratung zur beruflichen Orientierung
Indikation zur stationären Rehabilitation Eine Indikation zur stationären Rehabilitation besteht, wenn
651 28.2 · Krankheitsbilder
4 Übergewicht in Verbindung mit anderen Risikofaktoren und anderen Krankheiten vorliegt, 4 die ambulante (leitliniengerechte) ärztliche Behandlung nicht ausreicht, um Schädigungen der Körperstrukturen und Körperfunktionen mit daraus resultierender Beeinträchtigung der Aktivitäten und Teilhabe zu beseitigen oder zu vermindern, 4 Leistungen zur Krankheitsbewältigung und zur Unterstützung des Krankheitsmanagements erforderlich sind. 28.2.3
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)
ADHS ist weltweit die häufigste Verhaltensstörung im Kindes- und Jugendalter. Etwa 5 % der Kinder und Jugendlichen sind in der Bundesrepublik Deutschland betroffen, Jungen häufiger als Mädchen (3:1). Von einer ADHS geht man aus, wenn sich ein Kind über einen Zeitraum von sechs Monaten oder länger in allen Lebensbereichen auffällig verhält bezüglich seiner Aufmerksamkeit, Impulsivität und Motorik. Diese Verhaltensweisen treten intelligenzunabhängig auf, werden aber oft von weiteren (komorbiden) Verhaltensweisen begleitet. Am häufigsten imponieren hierbei Störungen des Sozialverhaltens. Die störungsimmanenten Selbstkontroll- und Kompetenzdefizite führen oft zu Schwierigkeiten in den altersrelevanten Lebensbereichen Kindergarten, Schule, Verein, Beruf. Im persönlichen Umfeld treten gehäuft Krisen mit vertrauten Personen auf. Letztere vermögen die Mischung aus selbstunsicherer, kompetenzeingeschränkter Persönlichkeit und kompensatorischem Verhalten (in Form von läppischem Verhalten, Provokation oder Selbstdarstellung) meist nur schwer auszuhalten [6, 7].
Untergruppen (Subtypen) Die Klassifikation der ADHS geschieht nach DSM-IV oder ICD-10. Es wird in der ICD-10 unterschieden in: 4 F90.0 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung 4 F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens 4 F90.8 Sonstige hyperkinetische Störung (vorwiegend unaufmerksamer Typ) 4 F90.9 Hyperkinetische Störung, nicht näher bezeichnet Während die meisten Betroffenen Symptome in mehreren Kernbereichen zeigen, imponiert bei einigen hauptsächlich ein hervorstechendes Muster. Daher wird im DSM-IV differenziert nach: 4 314.00 AD(H)S – vorwiegend unaufmerksamer Typus
4 314.01 AD(H)S – vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typus 4 314.01 AD(H)S – Mischtypus
Diagnostik Die Diagnose einer ADHS ist Ergebnis eines hochkomplexen Vorgehens. Sie setzt sich zusammen aus einer Vielzahl einzelner Informationen, die mit den Kriterien der o. g. Klassifikationssysteme (DSM-IV oder ICD-10) abgeglichen werden müssen. Zum Einsatz kommen dabei Fragebögen (selbst- und fremdanamnestische Einschätzungen), EEG, Psychodiagnostik (u. a. Intelligenz, Aufmerksamkeit, Ausdauer, Wahrnehmung, Konzentration, Gedächtnis), psychiatrischer Befund, körperliche und neurologische Untersuchung, augenärztliche und HNO-ärztliche Untersuchung sowie Basislabor.
Differenzialdiagnose Im Rahmen der diagnostischen Abklärung sind phänomenologisch ähnliche psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters wie z. B. oppositionelle Störung, Depression, einfache Aufmerksamkeitsstörung, Interaktionsstörung mit einzelnen Erwachsenen, Störungen des Sozialverhaltens, Angst- und Zwangsstörungen, Anfallsleiden oder Tic-Störungen abzugrenzen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass auch altersgemäße Verhaltensweisen (Lärm und Motorik) bei sehr aktiven Kindern die Toleranz und Belastbarkeit von Erwachsenen in ähnlicher Weise fordern und teilweise deutlich überfordern.
Komorbidität Zu den beschriebenen Kernproblemen kommen oft zusätzliche begleitende Schwierigkeiten als Primär- oder Sekundärstörung hinzu. Insbesondere zählen hierzu: 4 Oppositionelle Verhaltensstörung 4 Dissoziale Verhaltensweisen 4 Soziale Unsicherheit 4 Mangelndes Selbstvertrauen 4 Entwicklungsbeeinträchtigungen 4 Angststörungen 4 Depressive Störungen 4 Lernstörungen und Teilleistungsschwächen 4 Leistungsprobleme in der Schule 4 Beziehungsprobleme mit Erwachsenen 4 Ablehnung durch Gleichaltrige
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652
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Kapitel 28 · Medizinische Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen
Therapie
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Aus dem Schweregrad der Störung, dem Grad der Chronifizierung und der Gesamtschau der psychosozialen Lebensumstände ergibt sich der individuelle Therapie- und Förderplan für das Kind und seine Bezugspersonen. Im Setting einer stationären Rehabilitation umfasst das Programm im Einzelnen folgende Punkte: 4 Verlässliche Verlaufskontrolle durch fremdanamnestische Dauerbeobachtung während 4–6 Wochen 4 Temporäre Trennung von potentiellen (Stress-) Faktoren am Heimatort 4 Strukturiertes Tagesangebot zur Erleichterung der Orientierung 4 Klare Stationsregeln und Verstärkung angemessenen Verhaltens 4 Wirkungsvolle Interaktionen und Verhaltensmodifikationen 4 Stationäre Begleitung bei Modifikation der Psychopharmaka 4 Psychoedukation und therapeutische Instruktionen für betroffene Eltern inkl. Kompetenzerhöhung durch Kurse zu positiver Erziehung 4 Angebot strukturierter Trainingsprogramme (THOP, MKT, Strategietraining) 4 Psychologisch-psychotherapeutischer Support 4 Abschlussempfehlung für weitergehende, nachsorgende Maßnahmen
Diabetes mellitus Typ 1 ist eine autoimmunologische Erkrankung und die am häufigsten im Kindes- und Jugendalter vorkommende Form. Derzeit wird die Zahl der an Diabetes mellitus erkrankten Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Deutschland nach den Ergebnissen der Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation der Universität Ulm (DPV 2008) mit 20.000 angegeben. Man geht von ca. 2.000 Neuerkrankungen pro Jahr aus.
Dieser multimodale Ansatz in der stationären Rehabilitation ist insbesondere für Kinder und Jugendliche mit komorbiden Diagnosen (s. o.) sinnvoll und förderlich. Eine weitgehend barrierefreie Teilhabe am alterstypischen Geschehen sowie eine (Wieder-) Herstellung adäquater Leistungsfähigkeit sind Standardziele einer jeden Rehabilitation, welche gerade bei Patienten mit ADHS mit diesem ganzheitlichen Ansatz hochwahrscheinlich zu erreichen sind.
Indikation zur medizinischen Rehabilitation Eine Indikation zur stationären Rehabilitation besteht, wenn 4 das individuelle Therapieziel ambulant nicht erreicht werden kann, 4 eine temporäre Trennung von häuslichen Triggerfaktoren strukturierend wirken soll.
28
28.2.4
28
Klassifikation
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Diabetes mellitus
Der Diabetes mellitus ist die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindes- und Jugendalter. Es wird unterschieden zwischen verschiedenen Formen:
z
Diabetes mellitus Typ 1
Diabetes mellitus Typ 2
Durch die Zunahme der Adipositas, bedingt durch einen zunehmend inaktiven Lebensstil und Fehlernährung, ist ein Anstieg der an Diabetes mellitus Typ 2 erkrankten Kinder und Jugendlichen zu erwarten. Genaue Daten über die Häufigkeit in Deutschland gibt es noch nicht. Die geschätzte Prävalenz wird in Risikogruppen (Adipositas) mit ca. 1 % angegeben (AGA, Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter). Betroffen sind v. a. Jugendliche. Ursache des Diabetes mellitus Typ 2 ist eine Insulinresistenz. z
Andere Diabetesformen
Weiterhin gibt es andere Diabetesformen, wie z. B. Diabetes bei Pankreaserkrankungen (zystische Fibrose), MODY-Diabetes und hormonell/medikamentös bedingte Diabeteserkrankungen. Mit Diabetes assoziierte Syndrome und konnataler Diabetes sind selten.
Diagnostik z
Diabetes mellitus Typ 1
Für die Güte der Stoffwechseleinstellung wird der Langzeitwert (HbA1c) herangezogen. Allerdings sollten zusätzlich die Blutzuckertagesprofile zur Beurteilung berücksichtigt werden, da Blutzuckerschwankungen nicht im HbA1c abgebildet werden. Niedrige HbA1c Werte können durch nächtliche Unterzuckerungen erkauft sein. Mit Diabetes mellitus Typ 1 assoziierte Erkrankungen sollten ausgeschlossen werden. Es wird eine jährliche Kontrolle der Schilddrüsenparameter und ein Antikörperscreening zum Ausschluss einer Zöliakie und Bestimmung der Blutfettwerte empfohlen. z
Diabetes mellitus Typ 2
Um einen Diabetes mellitus Typ 2 frühzeitig zu erfassen, wird bei Kindern und Jugendlichen mit Adipositas permagna, einer positiven Familienanamnese oder Zeichen einer Insulinresistenz eine Überprüfung des Glukosestoffwechsels mittels oGTT empfohlen. Wichtig ist die Erfassung von Begleiterkrankungen, wie z. B. Fettstoffwechselstörungen und arterielle Hypertonie. Ein umfassendes Laborscreening sollte durchgeführt und die Blutdruckwerte kontrolliert werden.
653 28.2 · Krankheitsbilder
Therapie Die Therapie erfolgt entsprechend der AWMF-Leitlinie für die Rehabilitation in der Kinder- und Jugendmedizin [2]. z
Diabetes mellitus Typ 1
Von zunehmender Bedeutung bezüglich der Prognose der Erkrankung ist die Einführung des eigenverantwortlichen Krankheitsmanagements als wesentliches Behandlungsziel. Dies wird erreicht durch intensive Schulungsmaßnahmen und die Vermittlung von Krankheitsbewältigungsstrategien bei zentraler Mitwirkung eines vollständigen Diabetes-Teams. Im Rahmen der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen haben Verhaltensübungen in Gruppen einen sehr hohen Stellenwert. Gefördert werden Motivation und Fähigkeit zum selbstständigen Umgang mit der Krankheit und Umsetzung des Gelernten im Alltag. Es kommt zu einem Erfahrungsaustausch und gegenseitigen Lernmöglichkeiten der Betroffenen, die sonst oft ohne Kontakt zu gleichaltrigen Kindern oder Jugendlichen mit Diabetes mellitus aufwachsen. Im Einzelnen umfasst die Therapie folgende Schwerpunkte: 4 Überprüfung der Stoffwechselsituation und falls erforderlich Anpassung bzw. Neueinstellung der Insulintherapie ggf. mit Insulinpumpentherapie 4 Schulung inkl. Ernährungsberatung mit möglichst selbstständiger Umsetzung in den Alltag 4 Sporttherapie 4 Trainingstherapie zur Körperwahrnehmung mit besonderem Schwerpunkt auf Hypoglykämiewahrnehmung 4 Hilfen zur Krankheitsbewältigung 4 Beratung inkl. Beratung zur beruflichen Orientierung im entsprechenden Alter 4 Ggf. psychotherapeutische Begleitung z
Diabetes mellitus Typ 2
Ziel bei Vorliegen eines Diabetes mellitus Typ 2 ist die Normalisierung der Glukosewerte zur Verhinderung der durch Diabetes mellitus Typ 2 verursachten Folgeerkrankungen. Durch die Rehabilitation soll eine lang anhaltende Änderung sowohl beim Ess- als auch Bewegungsverhalten mit dem langfristigen Ziel der Gewichtsreduktion analog der Ziele bei Adipositas erreicht werden. Bei unzureichendem Erfolg ist zusätzlich eine medikamentöse Therapie mit oralen Antidiabetika oder Insulin erforderlich. Im Einzelnen umfasst die Therapie folgende Schwerpunkte: 4 Gewichtsreduktion
. Tab. 28.5 Häufigkeit der Neurodermitis im Kindes- und Jugendalter in Deutschland [14] Alter
Lebensprävalenz Neurodermitis
Gesamt
13,2 (12,5–13,9)
0–2 Jahre
8,7 (7,6–10,0)
3–6 Jahre
13,3 (12,1–14,7)
7–10 Jahre
15,1 (13,9–16,4)
11–13 Jahre
14,8 (13,3–16,4)
14–17 Jahre
12,9 (11,6–14,3)
4 Schulung inkl. Ernährungsberatung mit möglichst selbstständiger Umsetzung in den Alltag 4 Sporttherapie 4 Ggf. medikamentöse Therapie 4 Hilfen zur Krankheitsbewältigung 4 Beratung inkl. Beratung zur beruflichen Orientierung im entsprechenden Alter
Indikation zur medizinischen Rehabilitation Eine Indikation zur stationären Rehabilitation besteht, wenn 4 die ambulante (leitliniengerechte) ärztliche Behandlung nicht ausreicht, das individuelle Therapieziel zu erreichen, 4 Folgeschäden der Krankheit drohen bzw. eingetreten sind, 4 Leistungen zur Krankheitsbewältigung und zur Unterstützung des Krankheitsmanagements erforderlich sind.
28.2.5
Neurodermitis
Klassifikation Die Neurodermitis stellt eine der häufigsten chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter dar. In Deutschland beträgt die Lebenszeitprävalenz für die Altersgruppe 0–17 Jahre 13,2 % (. Tab. 28.5). Die Erkrankung zählt zum sogenannten atopischen Formenkreis und dementsprechend besteht bei Kindern und Jugendlichen eine Assoziation zu nutritiven und inhalativen Allergien. Im frühen Kindesalter kann bei 30 bis 40 % der Betroffenen eine Nahrungsmittelallergie als Auslöser gefunden werden. Weitere Auslöser bzw. Triggerfaktoren werden in einer bakteriellen Besiedelung bzw. Superinfektion der Haut sowie in genetischen Faktoren (z. B. Filaggrinstörung) gesehen. Dazu können psychische Faktoren als Trigger der Erkrankung kommen [2, 8, 14].
28
654
Kapitel 28 · Medizinische Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen
. Abb. 28.1 SCORAD
28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28 28
Diagnostik Die Diagnostik ist ausgerichtet an der Bestimmung des Schweregrades der Erkrankung sowie der Erfassung von Auslösefaktoren und Komorbiditäten. Die Schweregradbestimmung erfolgt mittels eines Punktescores, der die Fläche der betroffenen Haut, den Entzündungsgrad sowie die Relevanz von Juckreiz und die Beeinträchtigung der Schlafqualität erfasst (z. B. SCORAD, . Abb. 28.1). Bei der Erfassung der Auslöser steht an erster Stelle die Allergiediagnostik, wobei im Kleinkindalter die Nahrungsmitteldiagnostik inkl. Provokationstestung eine spezielle Anforderung darstellt.
Als häufigste Komorbiditäten sind ein Asthma bronchiale und eine allergische Rhinokonjunktivitis abzuklären.
Therapie Die Therapie richtet sich nach den aktuellen AWMF-Leitlinien [2] mit folgenden Schwerpunkten: 4 Allergenkarenz nach Möglichkeit 4 Ernährungsberatung bei Nahrungsmittelallergie 4 Regelmäßige Hautpflege 4 Antientzündliche Therapie (vorwiegend topisch) der Haut in Abhängigkeit vom Schweregrad 4 Patientenschulung 4 Psychologische Betreuung 4 Hilfen zur Krankheitsbewältigung
655 Literatur
4 Beratung inkl. Beratung zur beruflichen Orientierung der entsprechenden Altersgruppen
Indikation zur medizinischen Rehabilitation Eine Indikation zur stationären Rehabilitation liegt vor, wenn 4 mit der ambulanten (leitliniengerechten) Behandlung das individuelle Therapieziel nicht erreicht werden konnte, 4 Folgeschäden der Erkrankung drohen bzw. eingetreten sind, 4 Leistungen zur Krankheitsbewältigung und zur Unterstützung des Krankheitsmanagements erforderlich sind.
Literatur 1
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15 Schuntermann MF: Einführung in die ICF – Grundkurs – Übungen – offene Fragen, 2. überarbeitete Auflage, Ecomed Medizin, Landsberg/Lech, 2007 16 Verband Deutscher Rentenversicherungen (VDR): Rahmenkonzept und indikationsspezifische Konzepte zur medizinischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen in der gesetzlichen Rentenversicherung, 1998 17 Wabitsch M: Adipositas. In: Lentze, Schaub, Schulte, Spranger (Hrsg.): Pädiatrie, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, 2001
28
657
Sozialmedizinisches Glossar
D. Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, DOI 10.1007/978-3-642-10251-6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Sozialmedizinisches Glossar
Sozialmedizinisches Glossar Der Inhalt des angefügten sozialmedizinischen Glossars stellt die unveränderte und ungekürzte Wiedergabe des Werkes »Sozialmedizinisches Glossar« dar, das in der Schrift der Deutschen Rentenversicherung, Band 81 (Auflage 2009), erschienen ist und herausgegeben wird von der Deutschen Rentenversicherung Bund. Hauptschriftleiter ist Dr. Axel Reimann. Das Sozialmedizinische Glossar wird regelmäßig aktualisiert und ist abrufbar unter www.deutsche-rentenversicherungbund.de. Abklärung der beruflichen Eignung Es handelt sich um eine Leistung, die im Rahmen eines Antrages auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur Abklärung der beruflichen Eignung, z. B. im 7 Berufsförderungswerk und 7 Berufsbildungswerk erbracht wird. Sie zielt darauf mögliche Tätigkeitsfelder unter Berücksichtigung der verbliebenen Fähigkeiten und Ressourcen (u. a. auch Bildungsstand, berufliche Vorkenntnisse) zu ermitteln und zu benennen. Die Leistungsdauer beträgt in Kombination mit einer 7 Arbeitserprobung (Maßnahmen zur praktischen Abklärung von beruflichen Fähigkeiten) in der Regel 10 bis 14 Tage, in Zusammenhang mit einer erweiterten Arbeitserprobung für psychisch behinderte Menschen 3 bis 6 Wochen. Absturzgefahr Absturzgefahr im arbeitsmedizinischen Sinne besteht bei einer Absturzhöhe von mehr als 1,00 m über dem Boden oder über einer anderen ausreichend breiten tragfähigen Fläche, außerdem an Öffnungen und Vertiefungen, durch die Personen abstürzen können. Die Absturzhöhe wird bei Verkehrswegen oder Arbeitsplätzen auf Flächen bis einschl. 60 Grad Neigung erst ab der Absturzkante gemessen, ansonsten bereits vom Arbeitsplatz oder Verkehrsweg. Das Abrutschen auf einer mehr als 60 Grad geneigten Fläche wird einem Abstürzen gleichgesetzt. Zur Absturzgefahr wird auch die Gefahr des Hinunterfallens oder Hineinstürzens in einen Gefahrenbereich gerechnet. 7 Eigen- und Fremdgefährdung Adaptation Bei länger andauernden Behinderungen oder Funktionsdefiziten kann eine physiologische Anpassung (Adaptation) an das Defizit oder eine 7 Kompensation der verloren gegangenen Funktion erreicht werden. Ebenfalls kann durch Adaptation an ein bestehendes Funktionsdefizit die zunächst bestehende Funktionseinbuße ausgeglichen werden. Bei der Begutachtung ist der vorhandene funktionelle Zustand zu beschreiben und zu berücksichtigen. Es ist nicht vom Defektzustand (z. B. einer Gliedmaßenamputation) auszugehen, sondern von der verbliebenen Gebrauchsfähigkeit. Durch Adaptation und Kompensation kann u. U. eine nahezu normale Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben gegeben sein. Der Begriff ist im Suchtbereich nicht mehr gebräuchlich, er ist dort durch den Begriff 7 Adaption ersetzt worden. Adaption Die Adaption ist ein Bestandteil der stationären / ganztägig ambulanten Rehabilitation von alkohol-, drogen- und medikamentenabhängigen Rehabilitanden. Sie findet im Anschluss an eine stationäre oder ganztägig ambulante Rehabilitation für eine bestimmte Gruppe von Rehabilitanden (insbesondere Wohnungs-, Arbeitslose oder Drogenabhängige) in einer Fachklinik für Suchtrehabilitation oder speziellen Adaptionseinrichtungen statt. Die therapeutischen Behandlungsangebote treten hier zugunsten einer Erprobung und Einübung eigenverantwortlicher Lebensführung und Anforderungen des Erwerbslebens unter realen Alltagsbedingungen zurück. Das Ziel ist die berufliche und soziale Wiedereingliederung. Adaption ist geeignet für
Menschen, die in einem gewissen Maß die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen und abstinenten Lebensführung mitbringen und weitere Trainingsmöglichkeiten für sich suchen. AHB-Verfahren Mit dem Begriff Anschlussrehabilitation (AHB), früher als Anschlussheilbehandlung bezeichnet, wird ein besonderes Verfahren der Renten- und Krankenversicherung zur Einleitung und Durchführung von ambulanten und/oder stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt gekennzeichnet. Für ausgewählte Indikationen, bei denen die nahtlose, zügige Versorgung aus medizinischer Sicht besonders dringlich erscheint, wird mit diesem Verfahren der organisatorische Rahmen dafür geschaffen, dass die nach Abschluss der Krankenhausbehandlung im Einzelfall erforderlichen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in unmittelbarem oder in engem zeitlichen Zusammenhang (in der Regel bis zu 14 Tagen nach Entlassung aus dem Krankenhaus) eingeleitet werden können. Das Verfahren entspricht dem gesetzlichen Auftrag zur engen Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger sowie der möglichst nahtlosen, zügigen Einleitung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. 7 Anschlussrehabilitation Akkordarbeit Akkordarbeit ist eine nach dem Leistungssystem mit Akkordlohn vergütete Arbeit. Im Gegensatz zum Zeitlohnsystem, in dem die Dauer der Arbeitszeit die Grundlage der Vergütung bildet, wird der Akkordlohn als Anreiz zur Erbringung einer hohen quantitativen Leistung innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit eingesetzt. Dabei wird nach Stück- und Zeitakkord sowie Einzel- und Gruppenakkord unterschieden. Stückakkord: Basislohn-Bemessungsgrundlage ist eine bestimmte Anzahl erarbeiteter Einheiten. Zeitakkord: Basislohn-Bemessungsgrundlage sind Vorgabezeiten, die nach standardisierten Regeln erhoben werden. Aktengutachten 7 Gutachten Aktivität Aktivität ist nach dem bio-psycho-sozialen Modell der Komponenten von Gesundheit, das der ICF zugrunde gelegt ist, die Durchführung einer Aufgabe oder Handlung (Aktion) durch einen Menschen. 7 Aktivität, Beeinträchtigung der Aktivität, Beeinträchtigung der Unter Beeinträchtigung der 7 Aktivität (im Sinne der ICF) sind Schwierigkeiten zu verstehen, die ein Mensch bei der Durchführung einer Aufgabe oder Handlung hat. Aktivitäten des täglichen Lebens »Aktivitäten des täglichen Lebens« (ATL; engl. activities of daily living, ADL) ist ein Fachbegriff für Aktivitäten, die sich auf die täglichen Verrichtungen beziehen und sich aus Grundbedürfnissen des Menschen ableiten. Zu den Grundbedürfnissen gehören Aktivitäten wie Essen, Baden, Körperpflege, An- und Auskleiden, Harn- und Stuhlkontrolle, Toilettenbenutzung, Bett- und Stuhltransfer, Mobilität, Treppensteigen. Der Begriff ist von sozialmedizinischer Bedeutung z. B. im Rahmen der Feststellung der 7 Rehabilitationsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit. Amtsermittlungspflicht 7 Untersuchungsgrundsatz
659 Sozialmedizinisches Glossar
Anforderungen, besondere Besondere Anforderungen sind Anforderungen im Rahmen einer Tätigkeit bzw. eines Arbeitsplatzes, die über das normale Maß hinausgehen, das von einem durchschnittlich leistungsfähigen Arbeitnehmer erfüllt werden kann. Es handelt sich um einen tätigkeitsbezogenen Begriff und nicht um einen Begriff zur sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Anforderungsprofil, tätigkeitsbezogenes Das tätigkeitsbezogene Anforderungsprofil ist die (strukturierte) Gesamtheit aller qualitativen und quantitativen Merkmale, die zur Ausübung einer genau definierten beruflichen Tätigkeit erforderlich sind. Es umfasst sowohl die körperlichen als auch die psychomentalen Anforderungen und berücksichtigt ggf. die Eingebundenheit in eine Arbeitsorganisation. In der Arbeitswelt ist ein tätigkeitsbezogenes Anforderungsprofil das Ergebnis einer Anforderungs- bzw. Arbeitsplatzanalyse bei deren Erstellung u. U. arbeitswissenschaftliche Verfahren eingesetzt werden. Im Abgleich mit 7 Fähigkeitsprofilen von Bewerbern kann dabei eine passgenaue Platzierung bei der Stellenbesetzung erreicht werden. Zur Feststellung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben ist die Beurteilung der physischen und psychischen Anforderungen einer beruflichen Tätigkeit sozialmedizinisch von Bedeutung. Anpassung 7 Adaptation Anschlussrehabilitation Anschlussrehabilitation ist eine ambulante und/oder stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation, wenn deren unmittelbarer Anschluss an eine Krankenhausbehandlung medizinisch notwendig ist und ein ursächlicher Zusammenhang zwischen beiden Leistungsarten besteht (d. h. wenn der akutmedizinischen Behandlung im Krankenhaus und der nachfolgenden Rehabilitation dieselbe Indikation zugrunde liegt). Der unmittelbare Anschluss gilt auch dann als gewahrt, wenn die Rehabilitation innerhalb von 14 Tagen nach Beendigung der Krankenhausbehandlung beginnt, es sei denn, die Einhaltung dieser Frist ist aus zwingenden medizinischen und/oder tatsächlichen Gründen nicht möglich; dabei soll ein Zeitraum von 6 Wochen nach Beendigung der Krankenhausbehandlung nicht überschritten werden. Zwingende tatsächliche Gründe in diesem Sinne liegen z. B. vor, wenn aus Kapazitätsgründen in der infrage kommenden Rehabilitationseinrichtung innerhalb von 14 Tagen kein Bett verfügbar ist; zwingende medizinische Gründe liegen z. B. dann vor, wenn der Beginn der Rehabilitation nach abgeschlossener Krankenhausbehandlung wegen einer neu auftretenden, behandlungsbedürftigen Erkrankung um einen Zeitraum von mehr als 14 Tagen hinausgezögert wird. Im Übrigen gelten hinsichtlich Gegenstand, Umfang und Ausführung der Anschlussrehabilitation die Vorschriften des Sozialgesetzbuches – Neuntes Buch – (SGB IX) für Leistungen zur Teilhabe, soweit sich aus den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts Abweichendes ergibt; die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Anschlussrehabilitation richten sich – wie insgesamt bei den Leistungen zur Teilhabe – nach den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen (§ 7 SGB IX). 7 AHB-Verfahren Anzeigepflicht (Berufskrankheit) Haben Ärzte oder Zahnärzte den begründeten Verdacht, dass bei Versicherten eine Berufskrankheit besteht, haben sie dies dem Unfallversicherungsträger oder der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stelle unverzüglich und in der für die Anzeige vorgeschriebenen Form anzuzeigen (§ 202 SGB VII). 7 Meldepflicht (nach Infektionsschutzgesetz) Arbeit, leichte Der Begriff »leichte Arbeit« findet im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsle-
ben Anwendung bei der Einteilung der körperlichen Arbeitsschwere (7 Arbeitsschwere, körperliche). Als leichte Arbeit werden Tätigkeiten bezeichnet wie Handhaben leichter Werkstücke und Handwerkszeuge, Tragen von weniger als 10 kg, Bedienen leichtgehender Steuerhebel und Kontroller oder ähnlicher mechanisch wirkender Einrichtungen und lang dauerndes Stehen oder ständiges Umhergehen (bei Dauerbelastung). Es können auch bis zu 5 % der Arbeitszeit (oder zweimal pro Stunde) mittelschwere Arbeitsanteile enthalten sein. Belastende Körperhaltungen (Zwangshaltungen, Haltearbeit) erhöhen die Arbeitsschwere um eine Stufe. Die Einteilung der körperlichen Arbeitsschwere erfolgt in Anlehnung an die REFA-Klassifizierung. 7 Arbeit, leichte bis mittelschwere; 7 Arbeit, mittelschwere, 7 Arbeit, schwere Arbeit, leichte bis mittelschwere Der Begriff »leichte bis mittelschwere Arbeit« findet im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben Anwendung bei der Einteilung der körperlichen Arbeitsschwere (7 Arbeitsschwere, körperliche). Bei leichter bis mittelschwerer Arbeit ist der Anteil mittelschwerer Arbeit auf höchsten 50 % begrenzt. Die Einteilung der körperlichen Arbeitsschwere erfolgt in Anlehnung an die REFA-Klassifizierung. 7 Arbeit, leichte; 7 Arbeit, mittelschwere; 7 Arbeit, schwere Arbeit, mittelschwere Der Begriff »mittelschwere Arbeit« findet im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben Anwendung bei der Einteilung der körperlichen Arbeitsschwere (7 Arbeitsschwere, körperliche). Als mittelschwere Arbeit werden Tätigkeiten bezeichnet wie Handhaben etwa 1 bis 3 kg schwergehender Steuereinrichtungen, unbelastetes Begehen von Treppen und Leitern (bei Dauerbelastung), Heben und Tragen mittelschwerer Lasten in der Ebene von 10 bis 15 Kilogramm oder Hantierungen, die den gleichen Kraftaufwand erfordern. Auch leichte Arbeiten mit zusätzlicher Ermüdung durch Haltearbeit mäßigen Grades sowie Arbeiten am Schleifstein, mit Bohrwinden und Handbohrmaschinen werden als mittelschwere Arbeit eingestuft werden. Es können auch bis zu 5 % der Arbeitszeit (oder zweimal pro Stunde) schwere Arbeitsanteile enthalten sein. Belastende Körperhaltungen (Haltearbeit, Zwangshaltungen) erhöhen die Arbeitsschwere um eine Stufe. Die Einteilung der körperlichen Arbeitsschwere erfolgt in Anlehnung an die REFA-Klassifizierung. 7 Arbeit, leichte; 7 Arbeit, leichte bis mittelschwere; 7 Arbeit, schwere Arbeit, schwere Der Begriff »schwere Arbeit« findet im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben Anwendung bei der Einteilung der körperlichen Arbeitsschwere (7 Arbeitsschwere, körperliche). Als schwere Arbeit werden Tätigkeiten bezeichnet wie Tragen von bis zu 40 kg schweren Lasten in der Ebene oder Steigen unter mittleren Lasten und Handhaben von Werkzeugen (über 3 kg Gewicht), auch von Kraftwerkzeugen mit starker Rückstoßwirkung, Schaufeln, Graben und Hacken. Auch mittelschwere Arbeiten in angespannter Körperhaltung, z. B. in gebückter, kniender oder liegender Stellung können als schwere Arbeit eingestuft werden. Belastende Körperhaltungen (Zwangshaltungen, Haltearbeit) erhöhen die Arbeitsschwere um eine Stufe.
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Sozialmedizinisches Glossar
Die Einteilung der körperlichen Arbeitsschwere erfolgt in Anlehnung an die REFA-Klassifizierung. 7 Arbeit, leichte; 7 Arbeit, leichte bis mittelschwere; 7 Arbeit, mittelschwere Arbeit, taktgebundene Taktgebundene Arbeit bezeichnet Arbeit, bei der das Arbeitstempo von außen vorgegeben wird und nicht individuell beeinflusst werden kann (z. B. Fließbandarbeit). 7 Arbeitsorganisation Arbeitsassistenz Die Arbeitsassistenz wird erbracht durch eine Person, die behinderte Menschen nach deren Anweisung bei der von ihnen zu erbringenden Arbeitsleistung durch Erledigung von Hilfstätigkeiten unterstützt. Sie übernimmt nicht die Hauptinhalte der Arbeitsleistung. Die Kosten für die Arbeitsassistenz können von den Rentenversicherungsträgern für längstens drei Jahre als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben übernommen werden, wenn dadurch ein Arbeitsplatz erlangt und eine berufliche Eingliederung erreicht werden kann (§ 33 Abs. 8 Nr. 3 SGB IX). Bei einer länger dauernden Notwendigkeit und zur Erhaltung eines Arbeitsplatzes ist die Zuständigkeit des Integrationsamtes gegeben (§ 102 Abs. 4 SGB IX). Arbeitsbelastung Die Arbeitsbelastung ist die Gesamtheit der erfassbaren Einflüsse im Arbeitssystem, die auf den Menschen einwirken (DIN 33400). Belastungsfaktoren bei der Arbeit ergeben sich aus zwei Einflussgrößen: Arbeitsplatzanforderungen und Arbeitsumfeld. 7 Belastung Arbeitserprobung Die Arbeitserprobung ist die praktische Abklärung von beruflichen Fähigkeiten im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 33 Abs. 4 SGB IX), die sowohl in Einrichtungen der medizinischen, medizinisch-beruflichen und beruflichen Rehabilitation durchgeführt wird. Ziel ist die Ermittlung der arbeitsrelevanten Leistungsfähigkeit und der sozialen Anpassungsfähigkeit unter Berücksichtigung einer besonderen Gefährdung durch Einwirkungen am Arbeitsplatz. 7 Abklärung der beruflichen Eignung; 7 Belastungserprobung Arbeitshilfen, technische Technische Arbeitshilfen sind technische Mittel, die Arbeitssicherheit gewährleisten, Arbeiten für behinderte Menschen ermöglichen oder Arbeitsbelastungen verringern sollen (z. B. spezielle Sitze). Technische Arbeitshilfen zur Berufsausübung werden eingesetzt, um einem Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen zu ermöglichen, eine Beschäftigung fortzusetzen oder einen neuen Arbeitsplatz einzunehmen. Die Förderung als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben ist möglich. Wenn technische Arbeitshilfen die Arbeitssicherheit gewährleisten oder die Arbeitsbedingungen verbessern sollen, ohne dass bereits eine Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt ist, ist hierfür der Arbeitsgeber zuständig, ggf. unterstützt durch das Integrationsamt. Arbeitsmarkt, allgemeiner Der Begriff ‚allgemeiner Arbeitsmarkt‘ 4 Bezeichnet aus volkswirtschaftlicher Sicht das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften. Es wird unterschieden nach einem 1. Arbeitsmarkt, der den betriebswirtschaftlich begründeten Bedarf nach Arbeitskräften (Arbeitsplatzangebote) von Unternehmen (Arbeitgeber) mit einer Nachfrage geeigneter freier Arbeitskräfte (Arbeitnehmer) zusammenführt und einem 2. (staatlich geförderten) Arbeitsmarkt, der über arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zusätzliche Anreize für Arbeitgeber schafft, Arbeitsplätze anzubieten, um damit einen Marktausgleich von Angebot und Nachfrage herbeizuführen.
4 Ist in der gesetzlichen Rentenversicherung als Maßstab für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit eines Versicherten von Bedeutung. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeit war unter dem Begriff »allgemeiner Arbeitsmarkt« der Arbeitsmarkt für ungelernte oder einfache angelernte Tätigkeiten mit einer Einarbeitungsdauer unter 3 Monaten zu verstehen. Diese Einschränkung gilt seit Inkrafttreten der Neufassung des § 43 SGB VI am 01.01.2001 nicht mehr. Durch die Neuregelung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI ab 01.01.2001 wird das zeitliche Leistungsvermögen unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes maßgebliches Entscheidungskriterium. Im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung ist »allgemeiner Arbeitsmarkt« nun so zu verstehen, dass er jede nur denkbare Erwerbstätigkeit außerhalb einer beschützenden Einrichtung umfasst, für die auf dem Arbeitsmarkt (in einer Vielzahl von Teilarbeitsmärkten) Angebot und Nachfrage bestehen, unabhängig von ihrer qualitativen Einordnung. Allerdings sind nur solche Tätigkeiten in Betracht zu ziehen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind. Der allgemeine Arbeitsmarkt umfasst sowohl alle abhängigen Beschäftigungen als auch »selbstständigen« Tätigkeiten. Der Begriff ‚allgemein‘ soll von Sonderbereichen – wie z. B. Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) – abgrenzen (s. SGB IX, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen). 4 Ist auch im SGB III von Bedeutung. Voraussetzung für Verfügbarkeit und Vermittlungsbemühungen ist, dass eine arbeitslose Person zumindest 3 Stunden täglich, bezogen auf eine wöchentliche Arbeitszeit von 5 Tagen eine zumutbare Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf. 4 Hat im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (SGB VII) Bedeutung bei der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). In diesem Zusammenhang bedeutet allgemeiner Arbeitsmarkt das gesamte Gebiet des allgemeinen Erwerbslebens. Arbeitsmarkt, verschlossener Der Begriff des verschlossenen Arbeitsmarktes hat in der gesetzlichen Rentenversicherung Bedeutung bei folgenden Fallkonstellationen: 1. Nach der Rechtsprechung zur konkreten Betrachtungsweise (Beschlüsse des BSG von 1969 und 1976) war für halb- bis untervollschichtig erwerbsfähige Versicherte (Recht der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bis zum 31.12.2000) von Bedeutung, ob ihnen innerhalb eines Jahres nach Rentenantragstellung ein zumutbarer Teilzeitarbeitsplatz vermittelt werden konnte; war dies nicht möglich, so wurde der Teilzeitarbeitsmarkt als praktisch verschlossen angesehen mit der Folge, dass ein Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente bestand. Die Grundsätze dieser Rechtsprechung gelten auch für die Renten wegen Erwerbsminderung nach dem ab 01.01.2001 geltenden Recht, und zwar bei der arbeitsmarktbedingten Rente (7 Rente, arbeitsmarktbedingte). Der Versicherte mit einem verbliebenen Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden täglich ist in diesen Fällen nicht nur teilweise, sondern voll erwerbsgemindert. 1. Gem. § 43 Abs. 3 SGB VI besteht bei einem quantitativen Leistungsvermögen von mindestens 6 Stunden täglich für eine Erwerbstätigkeit zu üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes grundsätzlich kein Rentenanspruch. Trotz eines verbliebenen quantitativen Leistungsvermögens von mindestens 6 Std. täglich kann aber ein denkbarer Einsatz zu arbeitsmarktüblichen Bedingungen zweifelhaft und u. U. der Arbeitsmarkt als verschlossen anzusehen sein.
661 Sozialmedizinisches Glossar
Der Begriff des verschlossenen Arbeitsmarktes hat sich im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu den sog. Katalog- und Seltenheitsfällen herausgebildet. In den dort einzeln bezeichneten Fällen wurde die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit gefordert, um im Einzelfall eine möglicherweise gegebene Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auszuschließen. Im Wesentlichen haben diese Grundsätze Eingang gefunden in den § 43 Abs. 3 SGB VI (in Kraft getreten ab 01.01.2001), und zwar durch das Merkmal der ‚üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes‘. Können selbst leichteste Tätigkeiten nur noch mit vielfältigen Einschränkungen verrichtet werden, sind Zweifel angebracht, ob dieses Leistungsvermögen noch zu den üblichen Bedingungen des allg. Arbeitsmarktes einsetzbar ist. Eine solche Fallgestaltung liegt z. B. bei einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen (7 Leistungseinschränkungen, Summierung ungewöhnlicher) oder einer spezifischen Leistungsbehinderung (7 Leistungsbehinderung, schwere spezifische) vor. Auch sonstige Einschränkungen, z. B. das Erfordernis zusätzlicher Pausen, können eine Beschäftigung unter Arbeitsbedingungen, wie sie in Betrieben regelmäßig üblich sind, ausschließen. In diesen Fällen muss der Rentenversicherungsträger eine konkret ausführbare Tätigkeit benennen. Für eine solche Verweisungstätigkeit müssen Arbeitsplätze in nennenswertem Umfang vorhanden sein. Die in zeitlicher Hinsicht erhaltene Erwerbsfähigkeit darf nicht an Tätigkeiten gemessen werden, die es nur sehr selten oder gar nicht gibt bzw. die nur bestimmten Personengruppen vorbehalten sind (z. B. Arbeitsplätze in Werkstätten für behinderte Menschen). Kann eine Verweisungstätigkeit nicht benannt werden, so gilt der Arbeitsmarkt als verschlossen und es ist volle Erwerbsminderung anzunehmen. Arbeitsorganisation Der Begriff der Arbeitsorganisation wird zum einen im Sinne der Ausgestaltung einer betrieblichen Einheit oder Organisation und zum anderen im Sinne der individuellen Fähigkeit zur strukturierten Erledigung von Arbeitsaufgaben verwendet. Hinsichtlich der individuellen Fähigkeit zur Arbeitsorganisation wird diese aber zugleich von den betrieblichen Gegebenheiten im Sinne von Vorgaben oder Freiheitsgraden beeinflusst. Unter sozialmedizinischen Gesichtspunkten werden unter dem Begriff Arbeitsorganisation Merkmale wie taktgebundene Arbeit, 7 Schichtarbeit und Arbeitspausen erfasst, die bei der sozialmedizinischen Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben bedeutsam sein können. 7 Pausen; 7 Arbeit, taktgebunden Arbeitspausen 7 Pausen Arbeitsschutz Arbeitsschutz ist ein umfassendes präventives Konzept zur Sicherheit und zum Gesundheitsschutz für Beschäftigte in allen Tätigkeitsbereichen bei der Arbeit (persönlich, technisch, medizinisch). Der Arbeitsschutz wird geregelt u. a. über das Arbeitsschutzgesetz und das Arbeitssicherheitsgesetz. Arbeitsschwere, körperliche Die körperliche Arbeitsschwere bezeichnet bei der sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ausschließlich die körperliche Belastung bei der Ausübung einer Tätigkeit. Die Arbeitsschwere wird u. a. definiert durch Kraftaufwand, Dauer und Häufigkeit der geforderten Verrichtungen. Unterschieden werden nach der 7 REFA-Klassifizierung z. B. leichte, leichte bis mittelschwere, mittelschwere und schwere Arbeit. 7 Arbeit, leichte; 7 Arbeit, leichte bis mittelschwere; 7 Arbeit, mittelschwere; 7 Arbeit, schwere
Arbeitstherapie Arbeitstherapie ist eine therapeutische Leistung im Rahmen einer medizinischen Rehabilitation (§ 26 SGB IX). Ziel der Arbeitstherapie ist die Förderung und Steigerung von vorhandenen oder zum Teil verloren gegangenen beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Zum Einsatz kommen komplexe, zielgerichtete Tätigkeiten aus dem Berufsleben oder das Training einzelner Arbeitsverrichtungen. Arbeitsunfähigkeit Nach § 92, Abs. 1, Satz 2, Nr. 7 SGB V (Richtlinie des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung [Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie] vom 1.12.2003, Änderung in Kraft getreten am 23.12.2006) besteht Arbeitsunfähigkeit in folgenden Fällen: Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn der Versicherte aufgrund von Krankheit seine zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann. Bei der Beurteilung ist darauf abzustellen, welche Bedingungen die bisherige Tätigkeit konkret geprägt haben. Arbeitsunfähigkeit liegt auch vor, wenn aufgrund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen. Arbeitsunfähigkeit besteht auch während einer stufenweisen Wiederaufnahme der Arbeit fort, durch die dem Versicherten die dauerhafte Wiedereingliederung in das Erwerbsleben durch eine schrittweise Heranführung an die volle Arbeitsbelastung ermöglicht werden soll. Ebenso gilt die befristete Eingliederung eines arbeitsunfähigen Versicherten in eine Werkstatt für behinderte Menschen nicht als Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit. Arbeitsunfähigkeit kann auch während einer Belastungserprobung und einer Arbeitstherapie bestehen. Arbeitslose sind arbeitsunfähig, wenn sie krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage sind, leichte Arbeiten in einem zeitlichen Umfang zu verrichten, für den sie sich bei der Agentur für Arbeit zur Verfügung gestellt haben. Dabei ist es unerheblich, welcher Tätigkeit der Versicherte vor der Arbeitslosigkeit nachging. Versicherte, bei denen nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit das Beschäftigungsverhältnis endet und die aktuell keinen anerkannten Ausbildungsberuf ausgeübt haben (Anoder Ungelernte), sind nur dann arbeitsunfähig, wenn sie die letzte oder eine ähnliche Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausüben können. Die Krankenkasse informiert den Vertragsarzt über das Ende der Beschäftigung und darüber, dass es sich um einen an- oder ungelernten Arbeitnehmer handelt und nennt ähnlich geartete Tätigkeiten. Beginnt während der Arbeitsunfähigkeit ein neues Beschäftigungsverhältnis, so beurteilt sich die Arbeitsunfähigkeit ab diesem Zeitpunkt nach dem Anforderungsprofil des neuen Arbeitsplatzes. Die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit setzt die Befragung des Versicherten durch den Arzt zur aktuell ausgeübten Tätigkeit und den damit verbundenen Anforderungen und Belastungen voraus. Das Ergebnis der Befragung ist bei der Beurteilung von Grund und Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen. Zwischen der Krankheit und der dadurch bedingten Unfähigkeit zur Fortsetzung der ausgeübten Tätigkeit muss ein kausaler Zusammenhang erkennbar sein. Bei Arbeitslosen bezieht sich die Befragung des Versicherten auch auf den zeitlichen Umfang, für den der Versicherte sich der Agentur für Arbeit zur Vermittlung zur Verfügung gestellt hat. Rentner können, wenn sie eine Erwerbstätigkeit ausüben, arbeitsunfähig nach Maßgabe dieser Richtlinien sein.
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Sozialmedizinisches Glossar
Für körperlich, geistig oder seelisch behinderte Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen oder in Blindenwerkstätten beschäftigt werden, gelten diese Richtlinien entsprechend. Für die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bei Durchführung medizinischer Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft gelten diese Richtlinien entsprechend. Sie gelten auch bei einer durch Krankheit erforderlichen Sterilisation oder einem unter den Voraussetzungen des § 218 a Abs. 1 StGB vorgenommenem Abbruch der Schwangerschaft (Beratungsregelung). Ist eine Dialysebehandlung lediglich während der vereinbarten Arbeitszeit möglich, besteht für deren Dauer, die Zeit der Anfahrt zur Dialyseeinrichtung und für die nach der Dialyse erforderliche Ruhezeit Arbeitsunfähigkeit. Dasselbe gilt für andere extrakorporale Aphereseverfahren. Die Bescheinigung für im Voraus feststehende Termine soll in Absprache mit dem Versicherten in einer für dessen Belange zweckmäßigen Form erfolgen. Ist ein für die Ausübung der Tätigkeit oder das Erreichen des Arbeitsplatzes erforderliches Hilfsmittel (z. B. Körperersatzstück) defekt, besteht Arbeitsunfähigkeit so lange, bis die Reparatur des Hilfsmittels beendet oder ein Ersatz des defekten Hilfsmittels erfolgt ist. Arbeitsunfall Der Arbeitsunfall ist ein zeitlich begrenztes, von außen einwirkendes, einen Körperschaden hervorrufendes Ereignis, das der Arbeitnehmer infolge einer versicherten Tätigkeit erleidet. Dazu gehört auch der so genannte 7 Wegeunfall (§ 8 SGB VII). Arbeitszeit Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz ist Arbeitszeit die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne Ruhepausen. Die Dauer der täglichen Arbeitszeit von Arbeitnehmern wird folgendermaßen festgelegt: Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf 8 Stunden nicht überschreiten. Sie kann auf bis zu 10 Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden täglich nicht überschritten werden. Davon abweichende Regelungen sind nur in den vom Arbeitszeitgesetz festgelegten Fällen, z. B. bei Nachtarbeit (7 Leistung) aufgrund von Tarifverträgen, bei gefährlichen Arbeiten, in außergewöhnlichen Fällen oder durch Bewilligung bzw. Ermächtigung, möglich. Flexible Arbeitszeit Arbeitszeit wird dann als flexibel bezeichnet, wenn es möglich ist, die Dauer und/oder Lage der Arbeitszeit individuell zu verändern. Armvorhalt Armvorhalt bezeichnet eine körperferne Armhaltung, bei der die Arme in den Ellenbogengelenken gestreckt nach vorn gehalten werden. Die Oberarme befinden sich dabei innerhalb eines Winkels von 30 Grad unter der Horizontalen in Schulterhöhe bis 60 Grad über der Horizontalen. 7 Zwangshaltungen Ärztliche Schweigepflicht 7 Schweigepflicht, ärztliche
Fragebögen und 7 EFL als Assessments eingesetzt. 7 Barthel-Index; 7 ERGOS; 7 IMBA; 7 MELBA Auf nicht absehbare Zeit Eine Erwerbsminderung ist grundsätzlich erst dann rentenrechtlich relevant, wenn sie »auf nicht absehbare Zeit« vorliegt (§ 43 SGB VI). Im Hinblick auf § 101 SGB VI ist hierunter ein Zeitraum von mindestens 6 Kalendermonaten zu verstehen (Rechtsprechung des Bundessozialgerichts), nach der genannten Vorschrift wird die Rente nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der Erwerbsminderung geleistet. Bei einer Erwerbsminderung von weniger als sechs Monaten Dauer kommt es daher nicht zu einer Rentenleistung. Im Gegensatz zum Rentenrecht wird bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende (§ 8 SGB II) der Ausdruck »auf absehbare Zeit außerstande« verwendet. Hier spielen nur die ab Zeitpunkt der Beurteilung – in der Zukunft liegenden – Monate eine Rolle; es ist zu prognostizieren, ob innerhalb der nächsten 6 Monate mit der Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit gerechnet werden kann. Aufklärungspflicht Die Pflicht zur Aufklärung des Patienten – Aufklärungspflicht – ist eine Berufspflicht des Arztes. Ärztliche Diagnostik und Behandlung erfolgen nur dann rechtmäßig, wenn zuvor der Patient über Art, Umfang, Verlauf, Risiko, Alternativen und Prognose rechtzeitig und umfassend aufgeklärt wurde und diesem Handeln zugestimmt hat. Ohne diese Einwilligung stellen invasive Diagnostik und Behandlung grundsätzlich eine strafbare Körperverletzung und einen Behandlungsfehler dar, wodurch die Haftung des Arztes auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung begründet wird. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, über seine Behandlung autonom zu bestimmen, ist ein zentrales Patientenrecht, das auf dem Gebot der Menschenwürde und den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit beruht. Man unterscheidet 4 die Diagnoseaufklärung, 4 die Verlaufsaufklärung über die Krankheitsentwicklung mit bzw. ohne die geplante Behandlung unter Einschluss der Erfolgs- und Misserfolgschancen und 4 die Risikoaufklärung über die typischen Risiken der Behandlung sowie – unter bestimmten Voraussetzungen – über Behandlungsalternativen. Die Aufklärung muss umso ausführlicher sein, je weniger dringlich der Eingriff und je größer die damit verbundenen Risiken sind. Für Untersuchungsmaßnahmen bei der Begutachtung gelten Aufklärungspflichten in Hinsicht auf eventuelle Risiken und auf die Erforderlichkeit der jeweiligen Untersuchungsmaßnahme. Außerdem hat der Gutachter ggf. über Freiwilligkeit der Teilnahme an der Untersuchung, auf gesetzliche Mitwirkungspflichten und im Einzelfall über Aspekte des Datenschutzes (z. B. wenn ein Versicherter der Verwertung von Einzeltatsachen im Gutachten widerspricht) aufzuklären. Es empfiehlt sich für den Gutachter, die erfolgte Aufklärung zu dokumentieren.
Ärztlicher Sachverständiger 7 Sachverständiger Assessment, Assessmentverfahren Als Assessment bezeichnet man im Allgemeinen den Prozess der Einschätzung und Beurteilung. Assessments werden durchgeführt, um einen Ist-Zustand zu analysieren und auf der Basis dieser Analyse Entscheidungen über aktuelle und/ oder zukünftige notwendige Maßnahmen/Interventionen zu treffen. Unter Assessmentverfahren werden quantitative, standardisierte Methoden (Messinstrumente, Tests oder Skalen) verstanden, um eine Beurteilung auf eine möglichst objektive und überprüfbare Basis zu stellen. In der Sozialmedizin werden z. B. Lungenfunktion, Ergometrie,
Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit beschreibt einen Zustand gerichteter Wachheit und dadurch bedingte Auffassungs- und Aktionsbereitschaft des Menschen. Auskunftspflicht des Arztes In § 100 SGB X wird der Arzt oder ein Angehöriger anderer Heilberufe zur Auskunft verpflichtet. Im Rahmen der Ermittlungen für eine beantragte oder laufende Sozialleistung, z. B. Leistungen zur Teilhabe, Rente wegen Erwerbsminderung, benötigt der Sozialleistungsträger Informationen über den Gesundheitszustand, bzw. den Krankheitsverlauf bei einem Versicherten. Zur sachgerechten Entscheidung ist daher der Zugang zu den Unterlagen
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und Erkenntnissen der behandelnden Ärzte und Angehörigen anderer Heilberufe von erheblicher Bedeutung. Die medizinische Auskunftspflicht besteht nicht generell oder pauschal, sondern im Einzelfall und auf Anforderung, und zwar soweit der Sozialleistungsträger zur Erledigung seiner Aufgabe darauf angewiesen ist. Stets muss durch den betroffenen Versicherten eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht erteilt sein. Die gleiche Auskunftspflicht ist gem. § 100 SGB X ausdrücklich auch für medizinische Einrichtungen wie Krankenhäuser und Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen festgelegt. 7 Schweigepflicht, ärztliche Barriere Barrieren sind Hindernisse bei der Ausübung von Aktivitäten und/oder Tätigkeiten. Barrieren im Sinne der 7 ICF sind 7 Kontextfaktoren, die sich negativ auf die 7 funktionale Gesundheit einer Person, insbesondere auf ihre Aktivitäten und Teilhabe auswirken, z. B. hohe Einstiege an öffentlichen Verkehrsmitteln für Gehbehinderte. 7 Barrierefrei Barrierefrei Die Nutzung von Gegenständen, Gebrauchsgütern und Objekten ist barrierefrei, wenn alle Menschen und somit auch alle Menschen mit Behinderungen sie uneingeschränkt nutzen können. Barrierefrei nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (§ 4 BGG) sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind. Barthel-Index Der Barthel-Index (BI) ist ein im Jahr 1965 von Barthel und Mahoney eingeführtes Instrument zur Einschätzung und Messung von Selbstversorgungsfähigkeiten im Alltag von Patienten mit neuromuskulären und muskuloskelettalen Erkrankungen. Es werden Kriterien in zehn Bereichen erfasst (Essen, Baden, Körperpflege, An- und Auskleiden, Stuhlkontrolle, Urinkontrolle, Toilettenbenutzung, Bett- und Stuhltransfer, Mobilität, Treppensteigen) und mit Punkten (0, 5, 10 oder 15) bewertet. Der zu vergebene Punktwert richtet sich nach dem Grad der Selbstständigkeit. Maximal können 100 Punkte erreicht werden. Ein Punktwert von 100 bedeutet, dass ein Patient kontinent ist, selbständig isst, sich an- und auskleiden kann, alleine von Bett und Stuhl aufstehen kann, sich waschen und baden kann, sowie auf ebenem Gelände gehen und Treppen steigen kann. 7 Aktivitäten des täglichen Lebens; 7 Assessment, Assessmentverfahren Beanspruchung »Beanspruchung« ist die zeitlich unmittelbare Reaktion eines Individuums auf eine einwirkende 7 Belastung. Im Unterschied zur Belastung ist die Beanspruchung immer an eine konkrete Person gebunden, d. h. sie ist abhängig von den individuellen Voraussetzungen der Person, einschließlich ihrer Bewältigungsstrategien. In diesem Sinn kann ein und dieselbe objektiv erfasste Belastung je nach Person zu einer unterschiedlichen Beanspruchung führen. 7 Belastungs- und Beanspruchungskonzept Befundbericht Ein (ärztlicher) Befundbericht für den Rentenversicherungsträger ist der Bericht eines Arztes in standardisierter Form, der nach Aktenlage, d. h. ohne aktuelle Untersuchung erstellt wird und u. a. über Diagnosen, Beschwerden, Funktionseinschränkungen und Therapie Auskunft gibt, aber keine gutachterlichen Bewertung enthalten soll und somit kein Gutachten darstellt. Begutachtung Die Begutachtung ist allgemein der Prozess der Ermittlung und/oder Erhebung von Befunden und deren fachliche Aus-
wertung und Beurteilung durch einen Sachverständigen. Sie ist ein wesentliches Element der (sozial-)medizinischen Sachaufklärung. Das Ergebnis der (sozial-)medizinischen Begutachtung durch einen (sozial-)medizinischen Sachverständigen kann ein 7 Gutachten oder eine sachverständige Aussage in anderer Form sein. Behinderte Menschen Mit dem SGB IX eingeführter Begriff anstelle des bisher verwendeten Begriffs »Behinderte«. Der Begriffswechsel soll deutlicher als bisher hervorheben, dass der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Nach dem SGB IX sind Menschen behindert (§ 2 SGB IX), wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. 7 Behinderung Behinderung Der Begriff der Behinderung ist nicht einheitlich geregelt. Nach den Vorgaben des SGB IX ist ein Mensch als behindert anzusehen, wenn eine Beeinträchtigung der 7 Teilhabe vorliegt. Der Behinderungsbegriff nach der 7 ICF ist weiter gefasst und beinhaltet jede Beeinträchtigung der 7 Körperfunktionen, 7 Körperstrukturen, 7 Aktivitäten und Teilhabe. Im Sinne des SGB IX sind Menschen behindert (§ 2 SGB IX), wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist. In der ICF wird jede Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit Behinderung genannt. Eine Behinderung ist das Ergebnis der negativen Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem (7 ICD) und den Kontextfaktoren auf die funktionale Gesundheit dieser Person, d. h. auf ihre Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten oder Teilhabe. Belastung Unter »Belastung« wird die Gesamtheit aller objektiv erfassbaren Einflüsse verstanden, die von außen auf den Menschen zukommen und physisch und/oder psychisch auf ihn einwirken. Im Arbeitsprozess können solche Einflüsse beispielsweise Anforderungen aus der Arbeitsaufgabe sowie den organisatorischen, sozialen und physikalischen Arbeitsbedingungen sein. Grundsätzlich ist der Begriff wertneutral, d. h. Belastungen sind in diesem Sinne, anders als im umgangssprachlichen Gebrauch, nicht negativ und sagen allein noch nichts über eine gesundheitliche Gefährdung aus. Eine Belastung wirkt sich nicht bei allen Menschen gleich aus. Verschiedene Menschen können durch die gleiche Belastung verschieden beansprucht werden. 7 Beanspruchung; 7 Belastungsund Beanspruchungskonzept Belastungen, inhalatorische Inhalatorische Belastungen sind Einwirkungen von Staub, Rauch, Gasen und/oder Aerosolen mit irritativer, toxischer oder allergisierender Wirkung auf die Atemwege, die auch im Rahmen der gesetzlich erlaubten Arbeits- und Schadstoffkonzentrationen belästigend, störend oder gesundheitsschädlich sein können. Belastungs- und Beanspruchungskonzept Das Belastungs- und Beanspruchungskonzept entstammt der Arbeitsphysiologie und ist die theoretische Grundlage für arbeitsmedizinische Forschungsfragen und Vorsorgemaßnahmen sowie gutachterliche Erwägungen. Das Konzept unterscheidet zwischen objektiv erfassbaren Belastungen in der Arbeit und dessen Wirkungen auf den Menschen (Beanspruchung), d. h. verschiedene Menschen können durch die gleiche Belastung verschieden beansprucht werden.
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Nach diesem Konzept sind in der sozialmedizinischen Begutachtung die Auswirkungen einer Krankheit dahingehend zu prüfen, ob bei einem Individuum im Vergleich zu anderen eine gleiche Belastung zu einer unterschiedlichen Beanspruchung führt. Hierbei wird das Ausmaß der Beanspruchung durch das individuelle Leistungsvermögen modelliert, das es zu bestimmen gilt. Belastungserprobung Die Belastungserprobung ist eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation (§ 26 SGB IX) und dient vor allem der Feststellung der körperlichen, geistigen und psychischen Belastbarkeit für eine spätere berufliche Bildungsmaßnahme oder Arbeitstätigkeit. Sie wird bei Bedarf zum Abschluss der medizinischen Rehabilitation überwiegend in so genannten Phase-II-Einrichtungen, aber auch in 7 Berufsförderungswerken durchgeführt und kann eine Vorstufe von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sein. 7 Rehabilitation, medizinisch-berufliche (Phase II) Berufsbildungswerk Berufsbildungswerke (BBW) sind Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation gemäß § 35 SGB IX. Sie dienen der beruflichen Erstausbildung und Eingliederung behinderter Jugendlicher, die neben der Berufsausbildung eine begleitende ärztliche, psychologische und pädagogische Betreuung benötigen. Darüber hinaus führen Berufsbildungswerke für behinderte Jugendliche Förderungslehrgänge durch und erbringen Leistungen zur 7 Abklärung der beruflichen Eignung und 7 Arbeitserprobung. 7 Berufsförderungswerk Berufsfähigkeit im Bergbau, verminderte Eine verminderte Berufsfähigkeit im Bergbau liegt vor, wenn weder die bisher ausgeübte knappschaftliche Beschäftigung (§ 134 SGB VI) noch eine andere, wirtschaftlich im Wesentlichen gleichwertige knappschaftliche Beschäftigung, die von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten ausgeübt wird, wegen Krankheit oder Behinderung ausgeübt werden kann (§ 45 SGB VI). 7 Berufsunfähigkeit Berufsfindung 7 Abklärung der beruflichen Eignung Berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation 7 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Berufsförderungswerk Berufsförderungswerke (BFW) sind Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation gemäß § 35 SGB IX. Sie erbringen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und dienen der beruflichen Qualifizierung und Integration erwachsener Menschen mit Behinderung, die ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben können und ausbildungsbegleitend eine Betreuung durch medizinische, psychologische und soziale Fachdienste benötigen. Darüber hinaus erbringen Berufsförderungswerke Leistungen zur Berufsvorbereitung, zur Abklärung der beruflichen Eignung und zur Arbeitserprobung. Im Rahmen ihrer Zuständigkeit können Leistungsträger z. B. Rentenversicherungsträger, Agenturen für Arbeit und Berufsgenossenschaften sein. Berufskrankheit Berufskrankheit ist eine Krankheit, die in der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) im Einzelnen aufgeführt sind (sog. Listenerkrankungen) und die der Versicherte infolge einer versicherten Tätigkeit erleidet. Als Berufskrankheiten werden in diese Berufskrankheiten-Liste (nur) solche Krankheiten aufgenommen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind, § 9 Abs. 1 SGB VII. Unter den besonderen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 SGB VII ist eine Krankheit,
die nicht in die Berufskrankheiten-Liste aufgenommen ist, wie eine Berufskrankheit anzuerkennen. Es reicht für den Versicherungsfall (= prinzipielle Anerkennung) aus, wenn die Krankheit als solche manifest oder zumindest pathologisch-anatomisch eindeutig identifizierbar ist. Für den Leistungsfall muss außerdem Arbeitsunfähigkeit oder Behandlungsbedürftigkeit oder eine MdE von mindestens 20 % hinzukommen. Der behandelnde Arzt ist nach § 202 SGB VII verpflichtet, einen begründeten Verdacht auf Berufskrankheit an die Berufsgenossenschaft zu melden. Anzeigepflichten haben auch Betriebsarzt, Arbeitgeber und Krankenkasse, wenn Anzeichen dafür bestehen, dass Mitarbeiter an einer Berufskrankheit leiden. Erkrankte können auch selbst die Berufsgenossenschaft informieren. 7 Minderung der Erwerbsfähigkeit Berufsschutz Berufsschutz ist bei der Feststellung der 7 Berufsunfähigkeit von Bedeutung und spielt daher nur noch bei der Anwendung von § 43 Abs. 2 SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung und ab 01.01.2001 gem. § 240 SGB VI für vor dem 02.01.1961 geborene Versicherte eine Rolle. Berufsschutz wird aus dem qualitativen Wert des bisherigen Berufes abgeleitet, der sich nach Art und Umfang der vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht nur vorübergehend versicherungspflichtig ausgeübten Tätigkeit und der dafür erforderlichen Qualifikation bemisst. Danach hat Berufsschutz, wer eine mindestens zweijährige Berufsausbildung erfolgreich abgeschlossen hat, diesen Beruf auch ausgeübt hat oder tarifrechtlich dem gleichgestellt war. Zur Einordnung beruflicher Tätigkeiten hat das Bundessozialgericht (BSG) ein Mehrstufenschema entwickelt. Bei der Prüfung, ob ein Rentenanspruch wegen Berufsunfähigkeit besteht, bildet der Berufsschutz die Grundlage für die Bestimmung der sozialen Zumutbarkeit alternativer Verweisungstätigkeiten und schränkt ggf. die Verweisungsbreite ein. Berufsunfähigkeit In der gesetzlichen Rentenversicherung kann seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zum 01.01.2001 ein Rentenanspruch aufgrund von Berufsunfähigkeit nur noch von denjenigen Versicherten geltend gemacht werden, die vor dem 02.01.1961 geboren wurden (§ 240 SGB VI – Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit). Der Begriff der Berufsunfähigkeit entspricht dabei im Wesentlichen dem Begriff des bis 31.12.2000 geltenden § 43 Abs. 2 SGB VI. Berufsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung ihren bisherigen versicherungspflichtigen Beruf nicht mehr mindestens 6 Stunden täglich ausüben können und die unter Berücksichtigung ihres sozialmedizinisch festgestellten Leistungsvermögens und der Qualität ihres bisherigen Berufs (7 Berufsschutz) nicht mehr auf eine ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechende zumutbare berufliche Tätigkeit verwiesen werden können. Sie verfügen allerdings noch über eine nur qualitativ eingeschränkte Erwerbsfähigkeit von mindestens 6 Stunden täglich, sodass eine Erwerbsminderung gem. § 43 SGB VI i. d. F. ab 01.01.2001 nicht besteht. Der Begriff der Berufsunfähigkeit ist auch im Bereich der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung – die von den Lebensversicherern auch als Zusatzversicherung angeboten wird – von Bedeutung. Berufsunfähigkeit im Sinne der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung kann vorliegen, wenn eine Krankheit, Körperverletzung oder ein Kräfteverfall ärztlich nachgewiesen ist und hieraus eine Beeinträchtigung der konkret zuletzt ausgeübten Tätigkeit voraussichtlich dauernd – mindestens aber 6 Monate ununterbrochen – von 50 % (alternativ je nach Versicherungsvertrag auch 25, 75 oder 100 %) abzuleiten ist. Besserung, wesentliche Eine »wesentliche Besserung« bedeutet im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung eine nicht nur geringfügige oder nicht nur kurzzeitige Steigerung der durch gesundheitliche
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Beeinträchtigungen geminderten Leistungsfähigkeit des Versicherten im Erwerbsleben. Eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit liegt dann nicht vor, wenn 4 nur eine Linderung des Leidens oder eine sonstige Erleichterung in den Lebensumständen erreicht wird oder 4 volle Erwerbsminderung bestehen bleibt. Für Versicherte in einer Werkstatt für behinderte Menschen gelten Sonderregelungen. In der gesetzlichen Unfallversicherung ist eine wesentliche Besserung dann eingetreten, wenn die Neueinschätzung der MdE (7 Minderung der Erwerbsfähigkeit) für die Unfallfolgen zu einer Verminderung um mehr als 5 % führt. Betreuung Betreuung (im Sinne von § 1896 ff BGB) ist der staatliche Beistand in Form von Rechtsfürsorge in Fällen, in denen ein Volljähriger aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann. Auf seinen Antrag oder von Amts wegen bestellt das Betreuungsgericht für ihn einen Betreuer. Den Antrag kann auch ein Geschäftsunfähiger stellen. Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist. Dazu können z. B. Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten oder Vertretung vor Behörden und Gerichten gehören. Die Notwendigkeit einer Betreuung wird in vom Betreuungsgericht festgelegten Abständen überprüft. 7 Geschäftsfähigkeit Bewältigung (Coping) Alle Bemühungen und Anstrengungen kognitiver Art und im Verhalten, die ein Mensch einsetzt, um mit Stress, Schmerz, Leiden, Krankheit und Behinderung umgehen zu können. Dabei können z. B. Eigenschaften wie Belastbarkeit, Ausdauer, Willenskraft, Kompetenz, Wissen, Selbstvertrauen und Anpassungsfähigkeit sowie das Verhalten der Umgebung der Person (Familie, Freunde, Arbeitsumfeld, Krankenhaus, etc.) helfen. Bildschirmarbeitsplatz Bildschirmarbeitsplätze sind gemäß § 2 der Bildschirmarbeitsverordnung (BildscharbV) Arbeitsplätze mit Bildschirmgerät, Software und Zubehör unter Einschluss der unmittelbaren Arbeitsumgebung, die von Beschäftigten gewöhnlich bei einem nicht unwesentlichen Teil ihrer normalen Arbeit benutzt werden. Als Bildschirmarbeitsplätze gelten nicht: 4 Bedienerplätze von Maschinen, in Fahrzeugen, in Verkehrsmitteln; 4 Bildschirmgeräte für die Öffentlichkeit; 4 ortsveränderliche Bildschirme, die nicht regelmäßig am Arbeitsplatz eingesetzt werden, wie Laptops, Notebooks, Rechenmaschinen, Registrierkassen; 4 Messwertanzeigen, die nur zur unmittelbaren Benutzung des Arbeitsmittels erforderlich sind; 4 Bildschirme zur Videoüberwachung; 4 spezielle Arbeitsplätze oder Behindertenarbeitsplätze, wenn der Gesundheitsschutz anders gesichert wird. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, Arbeitnehmer vor Aufnahme der Tätigkeit am Bildschirm sowie später in festgelegten Abständen und auf Verlangen des Arbeitnehmers auf seine Bildschirmtauglichkeit durch hierzu befugte Ärzte untersuchen zu lassen (§ 6 Abs. 1 BildscharbV). Wenn dieses Untersuchung ergibt, dass eine spezielle Sehhilfe für die Arbeit am Bildschirmgerät notwendig ist und eine normale Sehhilfe nicht ausreicht, muss der Arbeitgeber die spezielle Sehhilfe zur Verfügung stellen (§ 6 Abs. 2 BildscharbV).
Der Arbeitgeber hat die Tätigkeit der Beschäftigten so zu organisieren, dass die tägliche Arbeit an den Bildschirmgeräten regelmäßig durch andere Tätigkeiten oder durch Pausen unterbrochen wird, die jeweils die Belastung durch die Arbeit am Bildschirmgerät verringern (§ 5 BildscharbV). Bei diesen belastungsreduzierten Maßnahmen rangieren Pausenregelungen hinter der so genannten Mischarbeit, also der Unterbrechung der Arbeit durch andere Tätigkeiten. Bezüglich der Pausen sind Kurzpausen, im Sinne von bezahlten Arbeitsunterbrechungen bzw. Verteilzeiten, gemeint. Dabei werden aus arbeitswissenschaftlicher Sicht Phasen der Mischarbeit oder Kurzpausen mit einer Dauer von 5 bis 15 Minuten pro Arbeitsstunde am Bildschirmgerät empfohlen. Es handelt sich hier nicht um die im Arbeitszeitrecht geforderten Ruhepausen. Der Bildschirmarbeitsplatz muss ergonomisch gestaltet sein. So sind ausreichender Bewegungsraum, Blendfreiheit, ergonomisch Software, Sitzmöglichkeiten, die nicht die Einnahme von Zwangshaltungen begünstigt und Auflagemöglichkeit für die Hände bei der Arbeitsplatzausstattung zu gewährleisten. Wenn Sonderausstattungen aufgrund einer eingeschränkten Sitzfähigkeit erforderlich sind, können Leistungen zur Teilhabe durch den Rentenversicherungsträger in Betracht kommen. Bei schwerbehinderten Menschen mit beispielsweise hochgradiger Sehstörung kann die Zuständigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung bzw. ggf. des Integrationsamtes gegeben sein. Bio-psycho-soziales Modell Das »bio-psycho-soziale Modell« ist ein Modell zur Darstellung der wechselseitigen Beziehungen zwischen Krankheit und Behinderung und ihren Folgen. Gesundheit und Krankheit/Behinderung werden als Ergebnis eines Zusammenspiels und/oder gegenseitiger Beeinflussung körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren gesehen. Das bio-psycho-soziale Modell ist unter anderem Grundlage der 7 ICF. Dienstunfall Der Dienstunfall ist gemäß § 31 Beamtenversorgungsgesetz (BVG) ein auf äußere Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist. Zum Dienst gehören auch Dienstreisen, Dienstgänge und die dienstliche Tätigkeit am Bestimmungsort sowie die Teilnahme an dienstlichen Veranstaltungen. 7 Arbeitsunfall DMP DMP (Disease-Management-Programm) bezeichnet eine im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen entwickelte Organisationsform von medizinischer Behandlung, bei der die Behandlung von chronisch kranken Menschen strukturiert nach standardisierten Vorgaben erfolgt. Ziel ist die Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Menschen. Die Teilnahme an einem DMP ist freiwillig. Bisher wurden strukturierte Behandlungsprogramme für Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2, Mammakarzinom, koronare Herzkrankheit, chronisch obstruktive Lungenerkrankungen (COPD) und Asthma bronchiale entwickelt. DRG DRG (Diagnosis Related Groups = Diagnosebezogene Fallgruppen) bilden ein Klassifikationssystem, mit dem einzelne stationäre Behandlungsfälle anhand bestimmter Kriterien (Diagnose, Schweregrad, Alter, Komplikationen, Behandlungsdauer, Entlassungsgrund, u. ä.) zu Fallgruppen zusammengefasst werden. Es werden solche Behandlungsfälle zusammengefasst, die medizinisch ähnlich und hinsichtlich des Behandlungskostenaufwands möglichst homogen sind. Zum 01.01.2004 erfolgte die schrittweise Einführung der Abrechnung auf DRG-Basis für alle deutschen Krankenhäuser mit Ausnahme
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von Einrichtungen der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapeutischen Medizin (Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser [Fallpauschalengesetz FPG] vom 23.04.2002). EFL EFL (Evaluation funktioneller Leistungsfähigkeit) – z. B. nach Isernhagen – ist ein standardisiertes Verfahren zur Überprüfung der funktionell motorischen Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben mit arbeitsplatzbezogenen Testelementen. Mit dieser Methode ist eine detaillierte Erfassung und realitätsnah eine Beurteilung der körperlichen Fähigkeiten und Defizite möglich. Das System beinhaltet Beobachtungen der gesamten körperlichen Funktionskette unter Belastung und des Verhaltens des Probanden, eine Konsistenzbeurteilung (Prüfung der Stimmigkeit im Rahmen der gesamten Testbatterie und im Quervergleich zu klinischen Befunden und Ergebnissen der Befragung) sowie eine standardisierte Berichterstattung. 7 Assessment, Assessmentverfahren Eigen- und Fremdgefährdung Bei Erkrankungen wie z. B. Anfallsleiden, Schwindel, Synkopen und Blutungsneigung können Tätigkeiten mit Unfall- und Verletzungsgefahr (z. B. auf Leitern und Gerüsten, mit Starkstrom, an Maschinen ohne geeignete Schutzvorrichtung, Tätigkeiten im Personenbeförderungsverkehr) auch bei Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften zur Eigen- und/oder Fremdgefährdung führen. Bei der sozialmedizinischen Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben ist die konkrete Art der Gefährdung durch qualitative Einschränkungen im Einzelfall zu benennen. In der Psychiatrie bezeichnen »Selbstgefährdung« und »Fremdgefährdung« ein selbstverletzendes bis suizidales bzw. ein hochgradig fremdaggressives Verhalten, das gemäß § 1906 BGB Anlass zur Unterbringung des Patienten in einem psychiatrischen Krankenhaus sein kann. 7 Unfall- und Verletzungsgefahr Eingebrachtes Leiden Der Begriff »eingebrachtes Leiden« bezeichnet Gesundheitsstörungen/Beeinträchtigungen, die bereits bei Eintritt in das Versicherungsleben bestanden haben und somit »eingebracht« wurden. Es gibt keinen Ausschluss aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen sog. eingebrachter Leiden, es sei denn, dass bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von 5 Jahren der Versicherte voll erwerbsgemindert war. Wenn in einem solchen Fall die volle Erwerbsminderung ununterbrochen bestanden hat, kann nach einer Wartezeit von 20 Jahren ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung erlangt werden (§ 43 Abs. 6 SBG VI). 7 Voraussetzungen, versicherungsrechtliche Entwöhnung Bei einer Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenabhängigkeit können Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (Entwöhnung) durchgeführt werden. Diese umfassen ärztliche, psychotherapeutische, sozial- und arbeitstherapeutische Leistungen sowie Elemente des Gesundheitstrainings. Sie können ambulant, ganztägig ambulant oder stationär durchgeführt werden. Kostenträger sind in der Regel die Rentenversicherungsträger oder die Krankenkassen. Ziele der Entwöhnung sind Abstinenz vom Suchtmittel, körperliche und seelische Stabilisierung und Wiedereingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft. 7 Entzugsbehandlung Entzugsbehandlung Bei Vorliegen einer Alkohol-, Medikamentenoder Drogenabhängigkeit ist vor Beginn einer Entwöhnungsbehandlung der körperliche Entzug erforderlich. Dieser wird in der Regel stationär, zunehmend aber auch ambulant durchgeführt. Zuständige Kostenträger sind meistens die Krankenkassen. Neben der medizini-
schen Diagnostik und Behandlung der Entzugssymptomatik und der körperlichen Stabilisierung erfolgen auch motivierende Maßnahmen für eine weitere Behandlung (7 Entwöhnung). Erfolgsprognose (Reha) 7 Rehabilitationsprognose; 7 Reha-Motivation ERGOS ERGOS® ist eine geschützte Bezeichnung für ein computergestütztes Arbeitsplatzsimulationssystem zur Erfassung komplexer körperlicher Funktionen und Fähigkeiten. An verschiedenen Arbeitsstationen werden Leistungsdaten aus Arbeitsaufgaben wie beispielsweise Tragen, Arbeiten im Knien oder Überkopfarbeit erfasst und mit Anforderungsdaten einer Arbeitsplatzdatenbank EDV-gestützt verglichen. Es sind Verfahren zur Erfassung komplexer Funktionen und Fähigkeiten. Sie sind diagnoseunabhängig. 7 Assessment, Assessmentverfahren Ergotherapie Ergotherapie (Beschäftigungs- und Arbeitstherapie) ist ein 7 Heilmittel, durch das die Verbesserung, Wiederherstellung oder Kompensation beeinträchtigter Fähigkeiten ermöglicht werden soll. Ergotherapie begleitet, unterstützt und befähigt Menschen jeden Alters, die in ihren alltäglichen Fähigkeiten eingeschränkt oder von Einschränkungen bedroht sind, für sie bedeutungsvolle Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit in ihrer Umwelt durchführen zu können. Ziel der Ergotherapie ist es, dem Menschen eine größtmögliche Handlungsfähigkeit im Alltag, Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit Eine »erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit« ist gem. § 10 SGB VI – gesetzliche Rentenversicherung – eine der persönlichen Voraussetzungen zur Durchführung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben. Sie liegt vor, wenn nach ärztlicher Feststellung durch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die damit verbundenen Funktionseinschränkungen ohne die Leistungen zur Teilhabe innerhalb von 3 Jahren mit einer Minderung der Leistungsfähigkeit zu rechnen ist. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 10 SGB VI entspricht nicht dem Ausmaß der 7 Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI. Auch in anderen Bereichen findet sich – mit jeweils unterschiedlicher Definition – der Begriff "7 Minderung der Erwerbsfähigkeit". Ermüdung Ermüdung ist die reversible Herabsetzung der Funktionsfähigkeit eines Organs oder eines Organismus, die als Folge von Tätigkeiten auftritt. Die Herabsetzung der Funktionsfähigkeit bedeutet auch eine Verringerung der Anpassungsbereitschaft in der Reaktion von Organen oder Organsystemen, wobei sowohl das Leistungsverhalten als auch die physiologischen Funktionen in Betracht gezogen werden. Ermüdung tritt sowohl bei rein körperlicher Arbeit, wie statischer Haltearbeit, einseitiger oder dynamischer Muskelarbeit auf, aber auch bei mentaler Arbeit. Ermüdung am Arbeitsplatz kann zum einen zu einer erhöhten Verletzungsgefährdung führen, zum anderen bei der sozialmedizinischen Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben den entscheidenden Aspekt für die Feststellung zeitlicher Leistungseinschränkungen darstellen. Erwerbsbezogenes Leistungsvermögen 7 Leistungsvermögen im Erwerbsleben Erwerbsfähigkeit Erwerbsfähigkeit ist die Fähigkeit eines Versicherten, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm
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nach seinen Kenntnissen und körperlichen und geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bietet, einen Erwerb zu erzielen (hierzu zählt nicht der sog. besondere Arbeitsmarkt, z. B. WfbM). Erwerbsfähigkeit bedeutet im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung (SGB VI) die physische und psychische Leistungsfähigkeit, eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes in gewisser Regelmäßigkeit ausüben zu können. Nach § 8 SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende – ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. In der gesetzlichen Unfallversicherung wird bei den Versicherungsfällen Arbeitsunfall und Berufskrankheit die Erwerbsfähigkeit in Bezug auf ihre Minderung beurteilt. Diese richtet sich nach dem Umfang der sich aus den Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 SGB VII). 7 Werkstatt für behinderte Menschen Erwerbsfähigkeit, Abwenden einer wesentlichen Verschlechterung »Abwenden einer wesentlichen Verschlechterung« ist eine der in §10 SGB VI genannten persönlichen Voraussetzungen zur Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe bei bereits geminderter Erwerbsfähigkeit. Im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung bedeutet dieses: Durch die Leistungen zur Teilhabe kann eine weitere, nicht nur geringfügige oder nicht nur kurzzeitige Verschlechterung der Erwerbsfähigkeit eines Versicherten verhindert werden. Dabei kommt es nicht auf ein rentenrechtlich relevantes Absinken der Leistungsfähigkeit an. Erwerbsminderung In der gesetzlichen Rentenversicherung (SGB VI) ist Erwerbsminderung eine rentenrechtlich relevante Einschränkung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des ab 01.01.2001 geltenden § 43 SGB VI. Danach sind Versicherte teilweise erwerbsgemindert, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die in gleichem Sinne nicht mehr mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig sein können. Hiervon ist zu unterscheiden der Begriff der 7 Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach dem SGB VII – Gesetzliche Unfallversicherung –, dem Beamtenversorgungsgesetz (BeamtVG), bzw. der Grad der Behinderung (7 GdB) und der Grad der Schädigungsfolgen (7 GdS), die gem. SGB IX von den zuständigen Behörden festgestellt werden. 7 Erwerbsminderungsrente Erwerbsminderungsrente Eine Erwerbsminderungsrente kann in zwei Rentenarten geleistet werden, wenn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind: 1. Anspruch auf Rente wegen teilweiser 7 Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 SGB VI) besteht, wenn ein Versicherter aus gesundheitlichen Gründen auf nicht absehbare Zeit (d. h. mehr als 6 Monate) nur noch weniger als sechs Stunden pro Tag (innerhalb einer Fünftagewoche) arbeiten kann und wenn Leistungen zur Teilhabe nicht erfolgversprechend sind. Wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden pro Tag arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert und erhält auch keine Rente. Teilweise Erwerbsgeminderte (Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden pro Tag) erhalten keinen vollen Lohnersatz, weil sie mit dem ihnen verbliebenen Restleistungsvermögen grundsätzlich noch das zur Ergänzung der Rente notwendige Einkommen erarbeiten können. Deshalb ist die Rente wegen teilweiser
2.
Erwerbsminderung nur halb so hoch wie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Gelingt es dem teilweise Erwerbsgeminderten nicht, einen seinem Restleistungsvermögen entsprechenden (Teilzeit-) Arbeitsplatz zu erlangen, bzw. ist der Teilzeitarbeitsmarkt für ihn verschlossen, erhält er eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (7 Rente, arbeitsmarktbedingte). Sonderregelungen bestehen bei teilweiser Erwerbsminderung bei 7 Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) und verminderter Berufsfähigkeit für Bergleute im Bergbau (§ 45 SGB VI). Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 SGB VI) besteht, wenn ein Versicherter aus gesundheitlichen Gründen auf nicht absehbare Zeit nur noch weniger als drei Stunden pro Tag (innerhalb einer Fünftagewoche) erwerbstätig sein kann.
7 Berufsfähigkeit im Bergbau, verminderte; 7 Voraussetzungen, versicherungsrechtliche Erwerbsunfähigkeit Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit ist maßgebend für eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach dem bis 31.12.2000 geltenden § 44 SGB VI. Erwerbsunfähig sind danach Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder mehr als geringfügiges Arbeitseinkommen (im Jahr 2000: über 630 DM) monatlich zu erzielen oder die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (also z. B. nur in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen) tätig sein können. Ausgenommen von diesem Rentenanspruch sind Versicherte, die eine selbstständige Tätigkeit ausüben. Bestand am 31.12.2000 Anspruch auf eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, so besteht der jeweilige Anspruch längstens bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres weiter, solange die für die Bewilligung maßgebenden medizinischen Voraussetzungen weiterhin vorliegen. Bei Selbstständigen, die vom Anspruch der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gesetzlich ausgenommen waren, kann nach dem ab 01.01.2001 geltenden Recht (43 SGB VI) ein Rentenanspruch wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung gegeben sein. 7 Erwerbsminderungsrente Evidenz Das Wort Evidenz hat im Deutschen und im Englischen abweichende Bedeutungen. Der deutsche Sprachgebrauch lehnt sich an die lateinische Bedeutung des Begriffes evidens (augenscheinlich, offensichtlich, klar, unmittelbar einleuchtend) an und beschreibt somit einen Sachverhalt, der so offensichtlich (»evident«) ist, dass er keiner weiteren Erklärung bedarf. Der englische Begriff evidence (Nachweis, Beweis), wie er auch im Kontext der Evidenzbasierten Medizin (EbM) verwendet wird, beschreibt hingegen Fakten und Belege, die einen vermuteten, aber nicht bewiesenen (»nicht-evidenten«) Sachverhalt erhärten oder widerlegen. 7 Evidenzbasierte Medizin Evidenzbasierte Medizin Evidenzbasierte Medizin (Evidence based Medicine, EbM) stützt sich ausdrücklich und nachvollziehbar auf die Ergebnisse empirischer wissenschaftlicher Forschung. Aktuelle Informationen werden systematisch aufbereitet, um dem Arzt eine Hilfestellung für die tägliche Arbeit zu geben. Die individuelle klinische Expertise des Arztes wird verbunden mit der bestmöglichen externen 7 Evidenz. So sollen die Qualität der Behandlung kontinuierlich verbessert und unnötige Leistungen vermieden werden.
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Fähigkeitsprofil Ein Fähigkeitsprofil ist die strukturierte Darstellung aller tätigkeitsbezogenen Fähigkeiten. Im Einzelfall muss ein Abgleich mit dem 7 Anforderungsprofil (tätigkeitsbezogenes) erfolgen. Faktoren, personbezogene 7 Kontextfaktoren Fehlversorgung Fehlversorgung ist eine Form der durchgeführten oder unterlassenen Versorgung, die gemäß medizinischer 7 Evidenz oder nach Maßgabe der Erfahrung häufig zu einem Behandlungsschaden oder zu einem entgangenen Nutzen führt. Dabei lassen sich folgende Konstellationen unterscheiden: 1. Die Versorgung mit Leistungen, die an sich zwar bedarfsgerecht sind, aber nicht entsprechend anerkannter Qualitätskriterien fachgerecht erbracht wurden. 2. Die Unterlassung von indizierten und an sich bedarfsgerechten Leistungen. 3. Die Versorgung mit nicht bedarfsgerechten Leistungen.
fachübergreifender Frührehabilitation. 7 Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation Funktionale Gesundheit Eine Person gilt im Sinne der 7 ICF als funktional gesund, wenn – vor ihrem gesamten Lebenshintergrund (Konzept der Kontextfaktoren: Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren) – 1. ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereiches) und Körperstrukturen allgemein anerkannten (statistischen) Normen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen oder Körperstrukturen), 2. sie all das tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird (Konzept der Aktivitäten) und 3. sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder Körperstrukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen).
7 Evidenzbasierte Medizin Feuchtarbeit Tätigkeiten, bei denen die Beschäftigten einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit Arbeiten im feuchten Milieu ausführen oder flüssigkeitsdichte Handschuhe tragen oder häufig oder intensiv ihre Hände reinigen, werden als Feuchtarbeit bezeichnet. Fingergeschicklichkeit Fingergeschicklichkeit ist die Fähigkeit, genau koordinierte Bewegungen der Finger einer Hand oder beider Hände auszuführen, um klein dimensionierte Gegenstände zu greifen, zu halten, zu bewegen oder zu bearbeiten. Flexibilisierung der Rehabilitation Flexibilisierung der Rehabilitation bezeichnet die Möglichkeiten individueller und differenzierter Leistungserbringung hinsichtlich der Form (stationär, ambulant) und des zeitlichen Rahmens. Förderfaktor Förderfaktoren im Sinne der 7 ICF sind 7 Kontextfaktoren, die sich positiv auf die funktionale Gesundheit einer Person, insbesondere auf ihre Aktivitäten und Teilhabe auswirken. Förderfaktoren können z. B. soziale Unterstützung oder das Vorhandensein von Hilfsmitteln wie Orthesen sein. Früh-/Spätschicht Die Früh- und Spätschichten sind als Organisationsformen der 7 Schichtarbeit Bestandteile von Zweischichtsystemen bzw. Wechselschichtsystemen mit kontinuierlicher oder diskontinuierlicher 7 Arbeitszeit am Tage. Je nach Branche und Produktionsbedingungen gibt es viele Varianten von Organisationsformen der Schichtarbeit. Arbeiten innerhalb eines Zeitrahmens von 6–18 Uhr werden üblicherweise als Normalschicht bezeichnet. Frührehabilitation Frührehabilitation im Sinne des SGB V ist die frühzeitig einsetzende rehabilitationsmedizinische Behandlung von Patienten, die wegen eines akuten Gesundheitsproblems mit schwerer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit krankenhausbehandlungsbedürftig sind. Entscheidendes Abgrenzungskriterium der Frührehabilitation zur Rehabilitation ist also der erforderliche akutstationäre Behandlungsbedarf. Frührehabilitation wird in der Regel multiprofessionell von Fachkräften erbracht. Sie wird in der Praxis nicht einheitlich gegliedert, in der Regel wird unterschieden zwischen geriatrischer frührehabilitativer Komplexbehandlung, neurologischer-neurochirurgischer Frührehabilitation und
Funktionsdiagnose Die medizinische Diagnose wird ergänzt um die Beschreibung des zugehörigen Funktionszustandes, z. B. koronare Herzerkrankung mit guter kardialer Funktion. Funktionsfähigkeit Der Begriff »Funktionsfähigkeit«, wie er sich aus dem bio-psycho-sozialen Modell der Komponenten von Gesundheit ableitet, ist im Sinne der 7 ICF ein Oberbegriff für 7 Körperfunktionen und 7 Körperstrukturen, Aktivitäten und Teilhabe. Funktionsfähigkeit bezeichnet die positiven Aspekte der Wechselwirkung zwischen einer Person (mit einem Gesundheitsproblem) und ihren Kontextfaktoren (Umwelt- und personbezogene Faktoren). Dieser Begriff umfasst alle Aspekte der 7 funktionalen Gesundheit. GdB Der Grad der Behinderung (GdB) im Sinne des Schwerbehindertenrechts (SGB IX, Teil 2: Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen, §§ 68 ff. SGB IX) kennzeichnet das Ausmaß einer bestehenden Behinderung mit den daraus für den behinderten Menschen in sämtlichen Lebensbereichen resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist von dem Behinderungsbegriff des SGB IX (§ 2) auszugehen. Der Begriff des GdB ist final (d. h. auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrer Ursache) bezogen. Für die Ermittlung des GdB werden alle Auswirkungen einer länger als sechs Monate andauernden Funktionsbeeinträchtigung bemessen, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen, seelischen Zustand beruhen; regelwidrig ist ein Zustand dann, wenn er von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Physiologische Veränderungen im Alter werden nicht berücksichtigt. Der Grad der Behinderung wird nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (ab GdB 20, dann 30, 40 usw. bis 100). Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, wird der Gesamt-GdB unter Würdigung der Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit und unter Berücksichtigung ihrer ggf. wechselseitigen Beziehungen zueinander gebildet. Näheres: »Vorsorgungsmedizinische Grundsätze«, Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10.12.2008, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) 7 Schwerbehinderung. Aus dem GdB ist nicht auf Leistungsvoraussetzungen anderer Rechtsgebiete, z. B. das Ausmaß einer Leistungsminderung im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung, zu schließen.
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GdS GdS bezeichnet den Grad der Schädigungsfolgen. Als Schädigungsfolge wird im sozialen Entschädigungsrecht (SGB IX) jede Gesundheitsstörung bezeichnet, die im ursächlichen Zusammenhang (kausale Betrachtungsweise) mit einer Schädigung steht, die nach dem entsprechenden Gesetz zu berücksichtigen ist. Zum sozialen Entschädigungsrecht zählen heute v. a. die Ansprüche der Soldaten der Bundeswehr und der Zivildienstleistenden, der Opfer von Gewalttaten und der Menschen, die in Folge einer staatlich empfohlenen Impfung gesundheitliche Schädigungen erlitten haben. Die Auswirkungen der Schädigungen werden mit dem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) nach Zehnergraden von 10 bis 100 bemessen. Der GdS ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Aus dem GdS ist nicht auf das Ausmaß des Leistungsvermögens im Erwerbsleben zu schließen. Dieser Begriff wird nicht im SGB VII (Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle) verwandt. 7 Minderung der Erwerbsfähigkeit
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Recht der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ist eine auf Kosten der Gesundheit verrichtete Tätigkeit bei der Prüfung des Rentenanspruchs wegen Erwerbsminderung nicht zu berücksichtigen, sodass Erwerbsminderung ggf. anzunehmen ist.
Gebrauchsfähigkeit der Hand Für die sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben Aussagen zur Gebrauchsfähigkeit der Hand bzw. der Hände besondere Bedeutung. Neben der Angabe der Gebrauchshand muss differenziert werden, ob ein Spitzgriff, eine kräftige Opposition des Daumens, ein vollständiger Faustschluss, eine Kraftentwicklung, Feinmotorik, Koordination und Tastsinn vorhanden sind. 7 Leistungsbehinderung, schwere spezifische
Grad der Behinderung (GdB) 7 GdB
Gebrechlichkeit Veralteter Begriff für »körperliche oder geistige Gebrechen« von Kindern im Sinne der Reichsversicherungsordnung (§ 1262 RVO, § 1267 RVO) und des Angestelltenversicherungsgesetzes (§ 39 AVG, § 44 AVG). Der Tatbestand ist im Sozialgesetzbuch VI unter dem Begriff »Behinderung« neu gefasst worden. Behinderung von Kindern und Waisen im Sinne des § 48 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe d SGB VI ist gegeben, wenn diese wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten. In diesen Fällen kann Anspruch auf Halb- oder Vollwaisenrente längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres bestehen. Gehstrecke, zumutbar 7 Wegefähigkeit Gelegentlich Der Begriff »gelegentlich« findet im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben Anwendung in Verbindung mit bestimmten Tätigkeiten wie 7 Heben und Tragen, Bücken oder Bildschirmtätigkeit. Er umfasst einen Zeitumfang von bis zu 5 % der Arbeitszeit. 7 häufig
Gesundheitsbildung Gesundheitsbildung umfasst alle Anstrengungen, durch Informationen, Aufklärung und Kompetenzbildung die Themenbereiche Gesundheit und Heilung von Krankheiten bzw. den Umgang mit Krankheiten zu vermitteln. Durch Schulungen zur Gesundheitsbildung soll auch ein wichtiger Beitrag zur Vorbeugung von Krankheiten geleistet werden. Gesundheitsförderung Gesundheitsförderung ist ein Prozess, der Menschen dazu in die Lage versetzen soll, mehr Einfluss auf ihren Gesundheitszustand zu entwickeln und ihre Gesundheit aktiv zu verbessern.
Grundsicherung Der Begriff Grundsicherung wird verwendet bei der »Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung« (im Rahmen des SGB XII »Sozialhilfe«) und bei der »Grundsicherung für Arbeitsuchende« (im Rahmen des SGB II »Grundsicherung für Arbeitsuchende«). »Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung« kann nach den Regelungen der §§ 41-46 des zum 01.01.2005 in Kraft getretenen SGB XII »Sozialhilfe« (BGBl I S. 3022, Vorgängergesetz: Gesetz über eine bedarfsgerechte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – GSiG) geleistet werden. Es gilt der Nachrang der Sozialhilfe (§ 2 SGB XII); Leistungen nach dem SGB XII erhält nicht, wer sich vor allem mittels seiner Arbeitskraft, seines Einkommens oder Vermögens selbst helfen kann oder die erforderliche Leistung von anderen (insbesondere Angehörige, Träger anderer Sozialleistungen) erhält. Verpflichtungen anderer bleiben unberührt. Grundsicherung im Sinne dieses Gesetzes ist eine Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes, die Personen auf Antrag erhalten können, die 4 das 65. Lebensjahr vollendet haben, oder 4 das 18. Lebensjahr vollendet haben und die unabhängig von der Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert im Sinne das § 43 Absatz 2 SGB VI sind und bei denen es unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann.
Geschäftsfähigkeit Die Geschäftsfähigkeit ist die Fähigkeit, selbstständig wirksame rechtsgeschäftliche Willenserklärungen abgeben zu können oder zu empfangen. Geschäftsunfähig sind Minderjährige unter 7 Jahren und Personen, die sich in einem nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befinden, der die freie Willensbestimmung ausschließt (§ 104 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB). Für geschäftsunfähige Personen, die keinen gesetzlichen Vertreter haben, bestellt das Amtsgericht (Betreuungsgericht) einen Betreuer. 7 Betreuung
Die medizinischen Voraussetzungen des § 41 Absatz 1 Nr. 2 SGB XII prüft nach § 45 Absatz 1 SGB XII auf Ersuchen des zuständigen Trägers der Sozialhilfe der nach § 109 a SGB VI zuständige Träger der Rentenversicherung. Die Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung ist für den ersuchenden Träger der Sozialhilfe bindend. »Grundsicherung für Arbeitsuchende« nach § 1 Absatz 2 SGB II umfasst Leistungen 4 zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Eingliederung in Arbeit und 4 zur Sicherung des Lebensunterhaltes (nur unter der Voraussetzung, dass die Hilfebedürftigkeit nicht anderweitig beseitigt werden kann).
Gesundheit, auf Kosten der Auf Kosten der Gesundheit wird eine Tätigkeit dann ausgeübt, wenn mit dieser Tätigkeit eine unmittelbare Gefahr für die Gesundheit des Versicherten verbunden ist. Dies muss vom Gutachter sehr sorgfältig und nachvollziehbar begründet werden.
Eine Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes ist das Arbeitslosengeld II (§ 19 SGB II). Leistungsberechtigt sind, sofern keine Ausschlussgründe vorliegen, vor allem erwerbsfähige Hilfebedürftige (Personen, die das 15. Le-
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bensjahr vollendet haben und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die erwerbsfähig sind und hilfebedürftig sind). Erwerbsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die Feststellung, ob in diesem Sinne Erwerbsfähigkeit vorliegt, obliegt der zuständigen Agentur für Arbeit, ggf. unter Einbeziehung ihres Ärztlichen Dienstes. Gutachten Allgemein sind Gutachten das dokumentierte Ergebnis einer Begutachtung durch einen Sachverständigen, in dem die Fragen des Auftraggebers begründend beantwortet werden. Der Auftraggeber selbst verfügt nicht über die spezifischen Kenntnisse und fachlichen Erfahrungen, die er für seine Aufgabenerfüllung benötigt, und beauftragt deshalb zur Sachverhaltsklärung einen entsprechend 7 Sachverständigen. Wesentliches gemeinsames Merkmal eines jeden Gutachtens ist, dass es eine wissenschaftlich begründete Schlussfolgerung enthält, sodass es auch überprüft und nachvollzogen werden kann. Ein (sozial)medizinisches Gutachten ist insofern das Ergebnis der Anwendung medizinischer Erkenntnisse und Erfahrungen durch einen (sozial)medizinischen Sachverständigen auf einen Einzelfall bezogen. Im Bereich der Rentenversicherung sind besondere Qualitätskriterien des Gutachtens im Einzelnen formale und inhaltliche Gestaltung, medizinisch-wissenschaftliche Grundlagen, Verständlichkeit, Vollständigkeit und Transparenz und übergeordnet Plausibilität und Schlüssigkeit, Nachvollziehbarkeit und Neutralität. Eine produktbezogene Qualitätssicherung der Begutachtung (des Gutachtens) ergibt sich nur, wenn die Überprüfung der Qualitätskriterien auch für andere Sachverständige möglich ist. Gutachten nach persönlicher Untersuchung und Befragung beinhalten hierbei erhobene und bewertete Befunde und setzen sie in Bezug zu den in den Akten vorhandenen Angaben. Gutachten nach Aktenlage (Aktengutachten, Aktenlagegutachten), also nach einer Begutachtung ohne aktuelle persönliche Untersuchung und Befragung durch den Sachverständigen, können nur dann erstellt werden, wenn der Gutachter die Fragestellung (Beweisfragen) anhand der Aktenlage und ggf. ergänzend herbeigezogener Befunde beantwortet kann. Die qualitativen Anforderungen an Gutachten sind in allen Fällen gleich, es muss beim Sachverständigen der gleiche Grad der persönlichen Überzeugung erreicht werden, wie es bei einer Begutachtung mit persönlicher Untersuchung und Befragung möglich ist. Ein Gutachten muss für seinen Bestimmungszweck geeignet sein und die Fragen des Auftraggebers umfassend beantworten. Gutachter Ein Gutachter ist ein 7 Sachverständiger, der für einen Auftraggeber ein 7 Gutachten erstellt, mit dem er Kenntnisse und Erfahrungen vermittelt, über die der Auftraggeber selber nicht verfügt und die dieser für seine Aufgabenerfüllung (Entscheidungsfindung) benötigt. Aus der Natur der Sache heraus können nur der Gutachter und gegebenenfalls andere Sachverständige Kraft ihrer Sachkompetenz beurteilen, welche Ermittlungen erforderlich sind, um die ihm gestellten Fragen zu beantworten. Der ärztliche Gutachter hat die Funktion eines unabhängigen, unparteiischen und objektiven Sachverständigen zu erfüllen. Häufig Der Begriff »häufig« findet im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben Anwendung in Verbindung mit bestimmten Tätigkeiten wie 7 Heben und Tragen, Bücken oder Bildschirmtätigkeit.
Er umfasst einen Zeitumfang von 51 % bis 90 % der Arbeitszeit und deckt sich mit dem des anderweitig benutzten Begriffs »überwiegend«. 7 Gelegentlich; 7 Überwiegend Hautbelastungen, besondere Berufliche Tätigkeiten können zu besonderen Hautbelastungen führen wie z. B. Tätigkeiten unter Einwirkung von Schmutz, toxischen Substanzen oder Lösungsmitteln sowie Tätigkeiten, die zu Hautirritationen führen, eine häufige Hautreinigung erfordern oder im feuchten Milieu stattfinden. Bei einzelnen dermatologischen Krankheitsbildern sollten die zu Hautirritation führenden Arbeitshandlungen und Arbeitsstoffe differenziert beschrieben und bei der Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben bewertet werden. Heben und Tragen Der Begriff »Heben und Tragen« bezeichnet das Bewegen von Lasten in vertikaler (Heben und Senken) und horizontaler (Tragen) Richtung ohne technische Hilfsmittel. In der sozialmedizinischen Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben ist nach Art, Schwere (7 Arbeit, leichte; 7 Arbeit, leichte bis mittelschwere; 7 Arbeit, mittelschwere; 7 Arbeit, schwere), Häufigkeit (7 gelegentlich; 7 häufig) und Dauer zu differenzieren. Dabei spielen die Körperhaltung und die Händigkeit eine besondere Rolle. Heilmittel Unter Heilmittel versteht man ärztlich verordnete Maßnahmen der physikalischen Therapie (z. B. Krankengymnastik), der 7 Ergotherapie, der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie und der podologischen Therapie. Die Richtlinien über die Verordnung von Heilmitteln (so genannte Heilmittelrichtlinien) regeln die Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Hilfsmittel Hilfsmittel (im Sinne von § 31 SGB IX) umfassen die Hilfen, die unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls erforderlich sind, um den Erfolg einer Rehabilitation zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit sie nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind. Zu Hilfsmitteln zählen z. B. Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücke sowie orthopädische Hilfsmittel. Hitze Hitze ist störend hoch empfundene oder schädigende Temperatur. Die Einwirkung hängt von der Dauer und Art der Wärme (insbesondere Luftfeuchtigkeit), der Luftbewegung und der muskulären Belastung ab. Spezielle arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen sind für kurzzeitige Belastungen ab 35 Grad CNET (CNET: korrigierte normale Effektiv-Temperatur) bei körperlich leichter Arbeit, 33 Grad CNET bei körperlich mittelschwerer Arbeit, 30 Grad CNET bei körperlich schwerer Arbeit vorgeschrieben. Bei Dauerbelastung liegt die Grenze bei 32 Grad CNET für körperlich leichte Arbeit, bei 30 Grad CNET für körperlich mittelschwere Arbeit und bei 28 Grad CNET für körperlich schwere Arbeit. 7 Klimatische Bedingungen Hochgradig »Hochgradig« ist ein häufig benutzter Begriff z. B. zur Beschreibung der Ausprägung von Krankheitsfolgen und Funktionsstörungen. Der Begriff ist ebenso wie leicht- und mittelgradig allein nicht aussagefähig. Er ist bei der sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben nur zu verwenden und verständlich, wenn eine exakte Beschreibung von Funktionsstörungen oder Krankheitsfolgen vorliegt bzw. ein Bezug zu Messwerten hergestellt wird. Nur in Einzelfällen ist »hochgradig« festgelegt, z. B. liegt bei »hochgradiger« Sehbehinderung eine Sehschärfe von nicht mehr als 1/20 vor. 7 Mittelgradig; 7 Leichtgradig
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ICD ICD ist die Abkürzung für Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dient der Verschlüsselung von Diagnosen, Symptomen, abnormen Laborbefunden, Verletzungen und Vergiftungen, äußeren Ursachen von Morbidität u. Mortalität und auch von Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen. Die ICD ist weltweit die Basis für eine vergleichbare Todesursachenstatistik. Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) die deutsche Ausgabe (German Modification - GM) und gibt die jeweils aktuelle ICD-10-GM Version in Buchform bzw. zum Download aus dem Internet heraus (www.dimdi.de). ICF ICF ist die Abkürzung für Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health); sie wurde im Jahr 2001 von der WHO verabschiedet und ist die Nachfolgerin der Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen, ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps) der WHO von 1980. Die ICF ist eine Klassifikation, mit welcher ein festgestellter Zustand der funktionalen Gesundheit eines Menschen vor dem Hintergrund möglicher Barrieren, welche die Leistung oder Teilhabe erschweren oder unmöglich machen, oder Förderfaktoren, welche die Leistung oder Teilhabe trotz erheblicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen wiederherstellen oder unterstützen, standardisiert dokumentiert werden kann. Ein wichtiges Ziel der ICF ist es, eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung der funktionalen Gesundheit zur Verfügung zu stellen, um die Kommunikation zwischen Fachleuten im Gesundheits- und Sozialwesen sowie den Menschen mit Beeinträchtigungen ihrer Funktionsfähigkeit zu verbessern. Zudem stellt sie ein Verschlüsselungssystem für Gesundheitsinformationssysteme bereit. Es werden z. B. im Rahmen wissenschaftlicher Fragestellungen Datenvergleiche zwischen Ländern, Disziplinen im Gesundheitswesen, Gesundheitsdiensten sowie im Zeitverlauf ermöglicht. Die ICF besteht aus verschiedenen Komponenten, dazu gehören 7 Körperfunktionen, 7 Körperstrukturen, 7 Aktivität und 7 Teilhabe sowie 7 Kontextfaktoren, die sich aus Umweltfaktoren und personbezogenen Faktoren zusammensetzen. Die personbezogenen Faktoren sind wegen der weltweit großen soziokulturellen Unterschiede nicht klassifiziert. ICF-Kodes sind nur in Verbindung mit einem Beurteilungsmerkmal vollständig, der das Gesundheitsniveau angibt (z.B. den Schweregrad eines Problems); standardisierte Verfahren zur Operationalisierung der Beurteilungsmerkmale werden von der WHO derzeit jedoch noch nicht zur Verfügung gestellt. Bei der Entwicklung des SGB IX wurde die ICF besonders berücksichtigt, beispielsweise fand der Begriff der Teilhabe Eingang in die Sozialgesetzgebung. Für die Rehabilitation ist die ICF z. B. bei der Feststellung des Rehabilitationsbedarfs, bei der funktionalen Diagnostik, dem Reha-Management, der Interventionsplanung und der Evaluation rehabilitativer Leistungen nutzbar. Die ICF fördert mit der Verwendung des 7 bio-psycho-sozialen Modells der funktionalen Gesundheit die Einbeziehung der individuell wichtigen Kontextfaktoren in den Prozess der Rehabilitation und auch der sozialmedizinischen Begutachtung/Beurteilung. Für die Sozialmedizin von besonderer Bedeutung sind insbesondere noch folgende Aspekte:
4 Die ICF ist keine krankheitsspezifische Klassifikation, sondern mit ihr können auf die Funktionsfähigkeit bezogene Befunde und Symptome angegeben werden. 4 Die ICF ist kein Assessmentinstrument zur Feststellung der funktionalen Gesundheit, dazu bedarf es anderer standardisierter Methoden und Instrumente zur Beschreibung und Beurteilung der Körperfunktionen/-strukturen, der Aktivitäten und der Teilhabe. 4 Die ICF berücksichtigt grundsätzlich keine Krankheitsprognosen. 4 Die ICF definiert die Begriffe Leistung und Leistungsfähigkeit für eine weltweit mögliche Vergleichbarkeit anders als sie in der sozialmedizinischen Begutachtung/Beurteilung Verwendung finden müssen. Die deutsche Übersetzung von ICF steht auf der Internetseite des Deutschen Institutes für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) zur Verfügung (http://www.dimdi.de). 7 Bio-psychosoziales Modell ICIDH ICIDH ist die Abkürzung für Internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps) der WHO von 1980, Vorläuferin der 2001 von der WHO verabschiedeten 7 ICF. Im Freien Der Begriff »im Freien« findet Anwendung bei der sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben in Verbindung mit Tätigkeiten, die außerhalb von temperierten Räumen oder Werkhallen und auch in ungeheizten (offenen) Hallen verrichtet werden. IMBA IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) ist die Bezeichnung für ein Profilvergleichs- und Dokumentationsverfahren. Es vergleicht einerseits Arbeitsanforderungen an Arbeitsplätzen und andererseits Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen in mehreren Merkmalskategorien, einschließlich Körperhaltung, Körperfortbewegung und Körperteilbewegung, ergänzt durch komplexe physische und psychische Merkmale, aber auch Umgebungseinflüsse, Aspekte der Arbeitsorganisation sowie Arbeitssicherheit. Benutzt werden dafür verschiedene Verfahren der Datenbeschaffung wie z. B. Anamnese, klinische Untersuchung, technische Untersuchung und psychologische Testverfahren. 7 Assessment, Assessmentverfahren Integrierte Versorgung Krankenkassen können Verträge über eine Versorgung ihrer Versicherten abschließen, die verschiedene Leistungssektoren umfasst und die eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung beinhaltet (§ 140 a Absatz 1 SGB V). In den §§ 140 a-d SGB V sind seit 2004 die Vertragspartner und die Vertragsgestaltung, die Vergütung und die Finanzierung neu geregelt, mit dem Ziel eine bessere Versorgungsqualität zu gewährleisten. Vertragspartner auf der einen Seite sind die Krankenkassen und auf der anderen Seite die Leistungserbringer. Sie können Integrierte Versorgung (IV) vereinbaren, die entweder verschiedene Leistungssektoren übergreift (zum Beispiel Akutbehandlung / Rehabilitation / Nachsorge) oder interdisziplinärfachübergreifend (Hausarzt / Facharzt / Akutkrankenhaus / Apotheker) gestaltet ist. Die Rehabilitation durch die gesetzliche Rentenversicherung spielt bei einer sektorübergreifenden Versorgung eine wichtige Rolle. Oft zeigt sich bei einer ambulanten oder stationären Akutversorgung der Bedarf für eine anschließende medizinische Rehabilitation durch die Rentenversicherung. In diesen Fällen bedeuten integrierte, also aufeinander abgestimmte Versorgungsformen eine deutliche Verbesserung der Versorgungsqualität.
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Sozialmedizinisches Glossar
Kälte Kälte ist störend niedrig empfundene oder schädigende Temperatur. An Arbeitsplätzen mit stärkerer Luftbewegung und/oder hoher Luftfeuchtigkeit wird dem Körper in hohem Maße Wärme entzogen und der Kälteeffekt verstärkt. Bereits bei Temperaturen unterhalb von 15 Grad Celsius ist von Kälteeinwirkung auszugehen. Die Möglichkeit Schutzkleidung zu tragen, ist bei der sozialmedizinischen Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben zu berücksichtigen. Spezielle arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen sind an »tiefkalten« Arbeitsplätzen (ab -25 Grad Celsius) erforderlich. 7 Klimatische Bedingungen Klage 7 Sozialgerichtliches Verfahren Klassifikation therapeutischer Leistungen Die Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) ist ein umfassendes Verzeichnis repräsentativer therapeutischer Leistungen für die Rehabilitationsmedizin, das eine inhaltliche Definition der einzelnen Leistungseinheiten und eine Festlegung von Mindestanforderungen der Leistungserbringung enthält. Die KTL gilt für alle Bereiche der medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie ist ein Instrument der Qualitätssicherung und dient auch der statistischen Erfassung der therapeutischen Leistungen. Zur Dokumentation therapeutischer Leistungen im Entlassungsbericht ist die KTL verbindlich für alle Rentenversicherungsträger. Klimatische Bedingungen Klimatische Bedingungen werden bestimmt durch Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftgeschwindigkeit und Wärmestrahlung. Die Beurteilung der am Arbeitsplatz auftretenden thermischen Belastung ist weiterhin abhängig von der körperlichen Arbeitsschwere (Wärmeerzeugung durch Muskelarbeit und Erhöhung des Grundumsatzes), der Expositionsdauer und der getragenen Kleidung. Der Mensch ist in der Lage, durch verschiedene Regulationsmechanismen seine Körperinnentemperatur geänderten Klimabedingungen anzupassen. Diese Thermoregulation erfolgt über Durchblutung der Körperoberfläche, Leistung des Herz-Kreislaufsystems, Schweißproduktion und Muskelarbeit. Eine Belastung durch Klima ergibt sich, wenn die Wärmebilanz der Menschen durch die Thermoregulation nicht mehr ausgeglichen werden kann. Klimatischen Bedingungen und Tätigkeit sollten aufeinander abgestimmt sein. Die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV vom 12.08.2004, Anhang Anforderungen an Arbeitsstätten nach § 3 Abs. 1, Abschnitt 3.5 Raumtemperatur) enthält den Begriff »gesundheitlich zuträgliche Raumtemperatur«, ohne diesen bisher genauer definiert zu haben. 4 Die bisherigen Arbeitsstättenrichtlinien nennen folgende Mindesttemperaturwerte: 4 bei überwiegend sitzender Tätigkeit 19 Grad Celsius; 4 bei überwiegend nicht sitzender Tätigkeit 17 Grad Celsius; 4 bei schwerer körperlicher Arbeit 12 Grad Celsius; 4 in Büroräumen 20 Grad Celsius; In Verkaufsräumen 19 Grad Celsius. Die Raumtemperatur soll 26 Grad Celsius nicht überschreiten. 7 Hitze; 7 Kälte Kompensation Kompensation bedeutet Ausgleich. In der Medizin wird der Begriff v. a. für den Ausgleich einer mangelhaften Organfunktion durch Mobilisierung eigener funktioneller Reserven, durch Training oder durch Förderfaktoren wie z. B. Hilfsmittel und Medikamente verwendet.
1. 2. 3. 4.
Körperfunktionen und Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation, Umweltfaktoren, Personbezogene Faktoren.
Kontextfaktoren Kontextfaktoren sind im Sinne der 7 ICF alle Gegebenheiten des Lebenshintergrundes einer Person. Sie gliedern sich in sog. personbezogene Faktoren und in sog. Umweltfaktoren. Personbezogene Faktoren sind die Faktoren, die sich auf die betrachtete Person selbst beziehen und den spezifischen Hintergrund des Lebens und der Lebenserfüllung eines Menschen ausmachen, z. B. Altern und Lebenserfahrung. Sie umfassen Gegebenheiten, die nicht Bestandteil des Gesundheitsproblems oder Gesundheitszustandes sind. Die ICF sieht für diese Faktoren noch keine Klassifikation vor. Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und ihr Leben gestalten. Sie können positiv (7 Förderfaktoren) oder negativ (7 Barrieren) wirken. In der sozialmedizinischen Begutachtung ist zu prüfen, welche Kontextfaktoren einen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben. Orthesen können z. B. als Förderfaktoren angesehen werden, die fehlende Automatikschaltung im Pkw als Barriere. Personbezogene Faktoren können zusätzliche Informationen liefern. Konzentration Als Konzentration wird die Fähigkeit bezeichnet, die Aufmerksamkeit für eine bestimmte Zeitspanne einer Tätigkeit oder einem Thema zuwenden zu können. Körperfunktionen Körperfunktionen sind im Sinne der 7 ICF die physiologischen (einschließlich der psychologischen) Funktionen von Körpersystemen. 7 Schädigung Körperhaltungen, wechselnde Der Begriff »wechselnde Körperhaltungen« bezeichnet bei der sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben das Wechseln der typischen Körperhaltungen (Sitzen, Gehen, Stehen) bei der Arbeit. Das Erfordernis wechselnder Körperhaltungen während der Arbeit aus medizinischen Gründen ist in der Beurteilung nachvollziehbar darzustellen, ebenso die Art und Weise des Wechsels. Körperstrukturen Körperstrukturen sind im Sinne der 7 ICF anatomische Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile. 7 Schädigung Kraftfahreignung Die Begriffe Kraftfahreignung, Kraftfahrereignung und Kraftfahrtauglichkeit werden synonym verwendet. Geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat (§ 2 Straßenverkehrsgesetz – StVG). Die Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung-FeV vom 18.08.1998) regelt – entsprechend europäischem Recht – die Einteilung der Fahrerlaubnisklassen sowie deren Geltungsdauer und enthält detaillierte Mindestanforderungen an die Tauglichkeit der Fahrerlaubnisbewerber und Fahrerlaubnisinhaber. Für die Beurteilung liegen »Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung« vor, herausgegeben von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST, Februar 2000). Kraftfahrtauglichkeit 7 Kraftfahreigung
Komponente Komponenten sind in der 7 ICF die vier Teilklassifikationen:
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Kraftfahrzeughilfe Die Kraftfahrzeughilfe ist eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben, die darauf zielt, gesundheitsbedingte Beeinträchtigungen der Mobilität auszugleichen. Die Kraftfahrzeughilfe umfasst finanzielle Hilfen zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges, die Übernahme der Kosten für die behinderungsbedingt erforderliche Zusatzausstattung sowie zum Erlangen der Fahrerlaubnis. In besonderen Fällen können auch Zuschüsse für Beförderungsdienste geleistet werden. Versicherte haben Anspruch auf Kraftfahrzeughilfe, wenn sie wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht nur vorübergehend auf die Benutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen sind, um ihren Arbeitsort, den Ort der beruflichen und schulischen Ausbildung oder eine Werkstatt für behinderte Menschen zu erreichen. Die tatsächlichen Gegebenheiten des öffentlichen Verkehrs wie z. B. schlechte Verkehrsanbindungen sind hierbei nicht zu berücksichtigen. Kraftfahrzeughilfe wird z. B. von den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung, der Kriegsopferfürsorge und der Bundesagentur für Arbeit als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 33 Abs. 8 Nr. 1 SGB IX) nach Maßgabe der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung (KfzHV) erbracht. Krankenbehandlung Der Begriff Krankenbehandlung wird für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung in § 27 SGB V definiert. Er umfasst ambulante und stationäre Leistungen, die von der Krankenversicherung als deren wesentliche Leistungen erbracht werden: 1. ärztliche Behandlung inklusive Psychotherapie; 2. zahnärztliche Behandlung; 3. Versorgung mit Arznei, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln; 4. häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe; 5. Krankenhausbehandlung; 6. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und ergänzende Leistungen. Bei der sozialmedizinischen Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung ist zu prüfen, ob eine Krankenbehandlung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend oder vordringlich ist. KTL 7 Klassifikation therapeutischer Leistungen Lärm Lärm ist störender Schall, der zu Belästigung oder Gesundheitsstörungen führt. Bei der Beurteilung von Lärm sind insbesondere zwei unterschiedliche Aspekte zu berücksichtigen. Während sich die Arbeitsmedizin primär bei Gesunden um den Arbeitsschutz kümmert, ist in der Sozialmedizin die Wirkung von Lärm auf kranke oder behinderte Menschen, bei denen ggf. eine diesbezüglich erhöhte Beanspruchung (Überbeanspruchung) von Bedeutung. Aus arbeitsmedizinischer Sicht wird bei der Abschätzung des Risikos eines Gehörschadens davon ausgegangen, dass ein solches Risiko in der Regel bei Einhaltung eines Beurteilungspegels von