WILLIAM HARVEY
Kleine Jugendreihe
William Harvey
SOS
VOM HIMALAJA
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT
BERLIN 1955 ...
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WILLIAM HARVEY
Kleine Jugendreihe
William Harvey
SOS
VOM HIMALAJA
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT
BERLIN 1955
Die Nachdruckgenehmigung erteilte uns
freundlicherweise der Globus Verlag, Wien I.
Veröffentlicht 1955 im Verlag Kultur und Fortschritt.
Berlin ■ Printed in Germany ■ Alle Rechte vorbehalten • Best.-Nr.
3 ■ Umschlag und Illustrationen: H. Betcke –
Satz und Druck: (36) Tägliche Rundschau, Berlin W 8 285/119/55
1 „Versteht ihr das?“ Berti Gellner sah ziemlich ratlos seine beiden Gefährten an. Zwischen den Knien hielt er eine halbgeöffnete Konservenbüchse, die laut Beschriftung feinsten Stangenspargel enthalten sollte. Ein merkwürdiger Stangenspargel. Er bestand aus Kupfer und Guttapercha! Statt des Spargels befand sich näm lich eine dicke Rolle Leitungsdraht in der Konservendose. „Ein blöder Witz von der Firma – so etwas“, fand endlich Sepp Murauer die Sprache. „Man könnte schon sagen: fast ein Verbrechen, einer Expedition wie der unseren statt Lebensmit tel Kupferdraht in die Konservendose zu packen!“ „Es paßt zu allem, was bisher passiert ist“, meinte der dritte der Gruppe, Hans Bartels. Eine Weile schwiegen alle drei, starrten auf das Kupferkabel, das sich höhnisch um die Auf schrift „Stangenspargel“ ringelte, und jeder hing seinen Ge danken nach. Jetzt waren sie schon fast zwei Monate von zu Hause fort. Alle drei waren sie aus Tirol, in ihren Heimatorten und weit darüber hinaus bekannte Bergführer. Die Geschichte hatte im Herbst des vergangenen Jahres begonnen, bei allen
dreien, und seltsamerweise hatte jeder von ihnen das gleiche erlebt: Eines Tages waren Ausländer, der Sprache nach Amerikaner, erschienen und hatten den Bergführer zu einer Tour engagiert. Murauer war mit den Amerikanern auf dem Großglockner, Bartels auf dem Wilden Kaiser und Gellner in den Dolomiten gewesen. Die Herren zahlten gut und waren angenehme Berg gefährten. Dann, am Ende der Tour, wurde jedesmal dieselbe Frage gestellt: Ob der Bergführer nicht bei einer HimalajaExpodition mitmachen wolle? Eine solche sei nämlich geplant, und unter Umständen… Welcher Bergsteiger, der sein Herz am rechten Fleck hat, wä re für derartiges nicht zu haben? Natürlich wollten sie, der Gellner aus Marein, der Murauer-Sepp aus Höfen und der Bartels-Hans aus der Hinterglemm. Noch wußte keiner etwas von dem anderen, noch wußte keiner, wann die Expedition starten sollte und wie die ganze Sache überhaupt vor sich gehen wür de. Nur daß sie vorläufig strengstes Stillschweigen bewahren sollten, war ihnen von den amerikanischen Gästen noch einge schärft worden. Sie würden, sollte alles klappen, beizeiten ver ständigt werden und sollten sich jederzeit bereit halten. Ja, und viel Geld hatte man ihnen versprochen. Je Tag zehn Dollar und nach erfolgreicher Rückkehr tausend als Prämie. Dafür lohnt es sich schon, eine Weile hübsch den Mund zu halten. Und außer dem, wer weiß, vielleicht kam die ganze Sache gar nicht zu stande – und dann ist man der Blamierte, wenn man vorher den Mund zu voll genommen hat. Schließlich will man ja nicht als Prahlhans dastehen. Es ist wirklich am besten, man schweigt. Im Frühjahr dieses Jahres waren dann eines Tages die Ame rikaner wieder da. Gellner kam eben von einer Bergführerbe sprechung aus Innsbruck. Sie saßen in der Stube um den Tisch und waren schon sehr ungeduldig. „Es geht los, Meister“, sagte Collins, der allem Anschein nach der Chef des Unternehmens
war. „Verabschieden Sie sich von den Ihren und sagen Sie, dass wir eine Expedition nach Südamerika in die Anden vorha ben. Etwa ein halbes Jahr werden Sie ausbleiben.“ „Aber ich dachte, es geht nach Asien. Sprachen Sie nicht vom Himalaja?“ stotterte überrascht Berti Gellner. Collins legte die Hand auf den Mund und sah Gellner böse an. „Es ist niemand in der Nähe, der uns hören könnte“, beeilte. sich dieser zu versichern. „Sie wissen nur, daß wir in die Anden gehen, und sonst nichts. Vom Himalaja haben Sie nie etwas gehört! Verstanden? Schließlich kann man ja seine Pläne ändern, nicht wahr?“ Gellner verstand zwar gar nichts, und all das Getue kam ihm ziemlich albern vor. Aber Leute, die so viel Geld haben, sind meistens so. Also schwieg er, verabschiedete sich von seinen Eltern und Freunden und auch von Traudl und gab als sein Reiseziel, wie ihm aufgetragen, die Anden an. Man beneidete ihn im Dorf nicht wenig um diese Sache. Traudl war sogar richtig stolz auf ihn, wenn ihr auch ange sichts der langen Trennung, die nun bevorstand, ein wenig be klommen zumute war. Aber er würde seine Sache gut machen, ihr Berti, dessen war sie sicher, und recht viel Geld würde er heimbringen, und dann konnte man endlich ans Heiraten den ken… Daran dachte auch Gellner, als er von seinem Mädel Ab schied nahm. Freilich, bis dahin galt es mancherlei Gefahren zu überwinden – ob die Anden, ob vielleicht doch der Himalaja, jedenfalls würde es kein Honiglecken werden. Aber, daß der Berg ein gewaltiger, oft tückischer Widersacher des Menschen ist, daran war er, der blonde, sonnengebräunte Sohn der Berge, von Kindheit an gewöhnt. Der Berg vermochte ihn nicht zu schrecken, hatte ihn auch damals nicht geschreckt, als die Traudl – noch fast ein Kind, kaum dem kurzen Kinderkleid chen entwachsen – sich beim Beerenpflücken in der Wand ver
irrt hatte und er sie in einer dunklen Gewitternacht über Fels und Geröll heruntergeholt hatte auf seinen starken jungen Ar men. Ja, so einer war er, und die Traudl hatte schon recht, wenn sie ihm blindlings vertraute. Und so war also der Abschied der beiden jungen Menschen erfüllt von dem Glauben an eine neue beglückende Zukunft, die für das kurze Zwischenspiel sehn süchtigen Wartens reichlich entschädigen würde. Gern, allzu gern hätte Gellner dem Mädchen anvertraut, daß seine Reise – er zweifelte keinen Augenblick daran – auf den Himalaja füh ren sollte, das Sehnsuchtsziel aller Gipfelstürmer; aber er schwieg. Wozu sie ängstigen? Sie wußte ja, wie viele Opfer die Bergriesen zwischen Nepal und Tibet schon gefordert hatten. Vielleicht war es gut, daß Mister Collins Stillschweigen befoh len hatte… Und nach einem langen Abschiedskuß machte sich Berti Gellner auf den Weg. In New York trafen sich alle Expeditionsteilnehmer. Hans Bartels und Sepp Murauer waren auch schon da. Von ihnen erfuhr Gellner, daß es ihnen genauso ergangen war wie ihm selber. „Wozu die ganze Geheimnistuerei?“ fragten sie Collins. „Wenn wir in Indien starten, ist es immer noch Zeit, die Weltöffentlichkeit zu informieren“, meinte er knapp. Nun, schließlich war er der Chef und mußte ja wissen, was er wollte. Von New York an ging alles sehr schnell. Ein Flugzeug brach te sie schon nach zwei Tagen an die Westküste, ein anderes schließlich über den Pazifik. In Kalkutta lagen in einem Maga zin bereits das gesamte Gepäck und die Ausrüstung für die Expedition bereit. Hier protestierten die drei Tiroler Bergführer zum erstenmal. „Der Mount Everest ist nicht der Großglockner, meine Her ren“, sagte Gellner, der sich zum Sprecher machte. „Es ist nicht
nur selbstverständlich, daß wir die gesamte Ausrüstung erst einmal kontrollieren, sondern noch viel wichtiger, daß wir das ganze Unternehmen einmal genau durchsprechen. Bisher wis sen wir bloß, daß wir mit Ihnen eine Himalaja-Expedition un ternehmen sollen. Nun, der Himalaja ist groß, es wäre doch gut, zu wissen, wo wir uns hinwenden werden. Mister Collins meinte, dem Mount Everest sollte es an den Leib gehen. Stimmt das?“ Collins nickte. „Also, den höchsten Berg der Welt sollen wir mit Urnen besteigen. Ein Unternehmen, an dem bisher noch sämtliche Expeditionen gescheitert sind. Es ist dies eine Sache, bei der es auf Leben und Tod geht – da marschiert man nicht einfach drauflos wie auf einen beliebigen Teppenkogel in Tirol…“ Sie saßen einander auf der Terrasse des Hotels „Cullinan“ in Kalkutta gegenüber. Die drei Tiroler und die drei Amerikaner. Mister Collins, der die Leitung der Expedition innehatte, George Hunter, sein Stellvertreter, und schließlich Sam Grey steel, der jüngste von ihnen. Collins ließ eine lange Pause verstreichen, ehe er auf die Vorwürfe Gellners, die dieser ziemlich heftig herausgebracht hatte, antwortete: „Die Ausrüstung ist nach den letzten Erfah rungen zusammengestellt. Wir und unsere Freunde, die das Unternehmen finanzieren, haben das in zweijähriger Vorarbeit besorgt. Sie, meine Herren, brauchen sich überhaupt um nichts zu kümmern. Ich bin der Leiter der Expedition und habe für alles Vorsorge getroffen. Falls Sie irgendwelche besondere Wünsche zu Ihrer persönlichen Ausrüstung haben, bitte sehr, wir werden Ihnen alles beschaffen, was Sie brauchen.“ „Wozu brauchen Sie uns dann überhaupt?“ fragte Bartels gif tig, „Wir brauchen Ihre Bergerfahrung und Ihre Schultern zum Tragen“, antwortete Hunter statt Collins. „Wenn es Ihnen nicht paßt, können Sie ja immer noch zurücktreten.“
Das war natürlich ein merkwürdiger Ton vor Antritt einer schwierigen Fahrt. Es war auch sicherlich die merkwürdigste Expedition, die jemals dem „Thron der Götter“ zu Leibe rück te. Diese Feststellung mußten die drei Bergführer jeden Tag aufs neue machen. Das Gepäck war in Kalkutta auf Lastautos verladen worden, und wenige Tage später fuhr die Kolonne nordwärts. In Gaya, zwei Tagereisen näher der Grenze, fragten die Tiroler, wie das nun mit der Veröffentlichung über die Expedition wäre. Hier befand sich auch die letzte Station, von der aus es möglich war, Post aufzugeben. Konnte man nun bereits vom Start der Expedition und ihrem Ziel nach Hause schreiben? Mister Col lins zuckte die Achseln. Wenn sie wollten, sollten sie schrei ben. Später machte er sich sogar erbötig, die Briefe selber zur Post zu bringen. „Warum halten Sie die ganze Sache eigentlich so geheim?“ fragte Sepp Murauer. „Keine Zeitung schreibt etwas über uns, und wenn die Leute fragen, was wir oben in den Bergen wol len, geben Sie ausweichende Antworten. Wozu diese Geheim nistuerei? Wir haben doch nichts zu verbergen?“ „Ach, Boys, vielleicht bin ich abergläubisch“, versuchte Col lins zu scherzen. „Man soll doch eine Sache nicht verreden. Durchaus möglich, daß alle unsere Vorgänger deshalb geschei tert sind, weil sie vorher den Mund zu voll genommen haben. So etwas verdirbt den Göttern die Laune.“ Murauer blieb standhaft. „Sie, Mister Collins, und Ihre Freunde haben eine Menge Arbeit und Geld in dieses Unter nehmen gesteckt. So etwas tut man doch nicht einfach um einer Laune willen. Außerdem kennen wir Sie nun schon ein paar Wochen. Wenn es auch nicht lange ist, so genügt es doch im merhin, um festzustellen, daß Sie keineswegs so bescheiden sind, wie Sie uns vormachen wollen. Sie würden auch ganz
gern Ihren Namen in der Zeitung lesen, im Radio hören und Ihr Bild in den Illustrierten bewundern. Oder nicht?“ Die anderen Bergführer, die Zeugen dieses Gesprächs waren, nickten. .Collins hatte seinen leutseligen Tag. Er seufzte: „Ich sehe schon, ich muß euch reinen Wein einschenken, sonst gebt ihr keine Ruhe. Einmal muß es ja doch heraus…“ Und dann erzählte er, daß eine New-Yorker Seifenfirma die ganze Expedition finanziert und ausgerüstet habe. Aus Rekla megründen, versteht sich. Auf dem höchsten Berg der Welt, so lautete der Auftrag, sollte die Fahne des Overleen-Seifentrusts aufgepflanzt werden. Overleen-Seife über alles! Die ganze Welt würde davon sprechen. Die ganze Welt würde OverleenSeife kaufen. Aber bitte, immerhin mußte auch die Möglichkeit eines Scheiterns der Expedition ins Auge gefaßt werden, nicht wahr? Und ein Scheitern wäre doch keine sehr wirksame Reklame. Also – bis auf weiteres, das heißt bis zum endgültigen Erfolg, geschieht alles unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Dann aber, dann wird dafür die Reklamemaschine auf Hochtouren laufen. „Das versteht ihr doch?“ fragte Collins und blickte in die Runde. Die Bergführer nickten, doch war ihnen die ganze Geschichte, wie sie einander hinterher gestanden, nicht weniger geheuer als zuvor; aber das war mehr Gefühls- als Verstandessache. Man war nach Nepal gelangt, nach Gorkha. Von hier aus begann der eigentliche Marsch in die Berge. Bis hierher hatten Straßen geführt, von nun an hieß es, sich den Weg selber suchen. Der Ort lag bereits inmitten der himmelhoch aufragenden Gebirgsketten, eingebettet in einem Kranz von Sechstausendern. Das Verhältnis zwischen den drei Tirolern und den drei übrigen Expeditionsteilnehmern hatte sich nicht gebessert. Die
Tiroler bildeten eine gesonderte Gruppe, schliefen und aßen zusammen, ebenso die Amerikaner. Diese schienen auch gar keinen besonderen Wert auf eine nähere Bekanntschaft mit den Tirolern zu legen. Sie sprachen, wenn überhaupt, gerade nur das Notwendigste mit ihnen und verhielten sich höchst zurück haltend. „Ich kehre um“, meinte Hans Bartels und blickte fragend auf die beiden Gefährten. „Das ist keine Seilschaft, mit so etwas gehe ich nicht auf den Berg. Schließlich riskieren wir dabei doch unseren Kragen…“ Am folgenden Tag sollte der Aufbruch erfolgen. Auch Sepp Murauer und Berti Gellner hatten die letzten Tage ähnlichen Gedanken nachgesponnen. Umkehr schien das einzig Vernünftige. Schließlich, wenn sie auch für ihre Dienste gut bezahlt bekamen, hatten sie doch immerhin Anspruch, da sie die glei che Verantwortung trugen wie alle übrigen Expeditionsteil nehmer, auch gleich behandelt zu werden und nicht als eine Art besseres Tragtier. Zu dritt gingen sie zu Mister Collins. Der schüttelte den Kopf. „Was macht ihr für Sachen, Boys? Sicherlich, meine Kameraden sind etwas sonderbar und zugeknöpft. Aber das ist doch noch lange kein Grund zum Davon laufen. Ihr müßt sie erst einmal richtig kennenlernen. Ihr werdet selten bessere Bergkameraden finden.“ „Was sind das überhaupt für Leute?“ stieß Murauer hervor. „Wer sind sie, Mister Collins?“ Collins antwortete nicht sogleich. Er besah seine Fingernägel, als hätte er sie eben erst entdeckt, und meinte schließlich: ,,Ihr bekommt je Tag zehn Dollar. Das ist nicht wenig, rechnet euch aus, wieviel das in der Währung eures Landes ausmacht. Ich bin bereit, euch angesichts der Schwierigkeiten, die ihr zweifel los auf dieser Expedition mit uns haben werdet, diesen Betrag noch zu erhöhen. Also: fünfzehn Dollar je Tag and zweitau send als Erfolgsprämie bei der Heimkehr! So – aber jetzt kein
Wort mehr vom Umkehren.“ Aber es war nicht sosehr das Geld, das die drei Tiroler zum Bleiben veranlaßte; es war etwas anderes: Majestätisch wuchteten die Felsgiganten des Himalaja rings um sie, gewaltig, herausfordernd, lockend. Sie waren es, die die Herzen der drei gepackt hatten und nicht wieder freigeben wollten. Am nächsten Tag war Aufbruch. Seither war die Expedition sieben Tage unterwegs. Es zeigte sich, daß die Amerikaner bessere Bergsteiger wa ren, als die Tiroler gedacht hatten. Auch das Verhältnis besser te sich, und ab und zu kam es sogar zu unverbindlichen Gesprächen. Dennoch blieb eine gewisse Spannung bestehen, und ein richtiges Zusammengehörigkeitsgefühl wollte nicht auf kommen. Der Anstieg der ersten sieben Tage war keineswegs leicht gewesen. Das Gepäck war unverhältnismäßig umfangreich. Trä ger, wie sie sonst bei jeder Expedition üblich sind, waren nicht mitgenommen worden. Dazu waren die Tiroler da. Aber auch die Amerikaner packten mit an. Jeder Expeditionsteilnehmer hatte drei Rucksäcke zu je fünfundzwanzig Kilogramm zu tra gen. Da dies auf einmal unmöglich gewesen wäre, mußte die Gruppe jede Strecke des Weges dreimal zurücklegen, um das Gepäck mitzubekommen. Am siebenten Tag wurde Rast eingelegt. Die drei Amerikaner wohnten in einem großen Zelt, in welchem auch der Großteil des Gepäcks gelagert war. Die Bergführer hatten für sich ein Dreimannzelt. Hier hatten sie sich fest eingepackt, denn drau ßen pfiff ein eisiger Wind. Berti Gellner hatte aus seinem Rucksack eine Dose Spargel genommen und sie zur Feier des ersten Rasttages aufgemacht. Doch statt des erwarteten Spar gels fanden sie nun in der Dose – Kupferdraht! Murauer pfiff durch die Zähne. „Glaubt ihr an Zufall? Irgend etwas stimmt da nicht. Wie an
der ganzen Sache so vieles nicht stimmt. Wir wollen Mister Collins einmal diesen Spargel servieren. Bin gespannt, was er zu sagen hat.“ Doch Collins sagte gar nichts. Er nahm die geöffnete Dose, steckte sie in sein Gepäck und meinte: „Es ist üblich auf Expeditionen, sich an die Rationen zu halten, die ausgegeben werden. Bitte künftighin die Gepäckstücke, die wir euch anvertrauen, unbehelligt zu lassen. Morgen um fünf Uhr früh ist Aufbruch.“ Jetzt begann erst der eigentliche Aufstieg. Die Expedition nahm nun die Route, die seinerzeit der Engländer Leigh Mallo ry gewählt hatte. Wenige Schritte unter dem höchsten Gipfel der Erde wurden damals Mallory und sein Begleiter Irvine von einem Schneesturm überrascht. Beide fanden den Tod. Während Mallory und seine Leute jedoch den Anmarschweg von Tibet genommen hatten, kam die Collins-Expedition ausNepal; erst in 5300 Meter Höhe stieß sie auf dem Rongbukgletscher auf die Spuren vorhergegangener Expeditionen und die Reste verlassener Standlager. Bis dahin hatten die sechs Männer ihren Weg über Gletscher und Grate finden müssen, auf denen vor ihnen noch kein Mensch gegangen war. Am 24. Marschtag erreichten sie den Rand des östlichen Rongbukgletschers. Dieser Gletscher führt von 5000 Meter bis hinauf zu 7100 Meter, bis dicht unter den hoch aufwuchtenden Mount Everest. Von seinem Ende aus hieß es den Grat zu besteigen, der zum Gipfel führte. „Wir schalten hier drei Tage Rast ein, ehe es weitergeht“, ließ Collins verlauten. Es war auch in höchstem Maße notwendig. Die Strapazen des Aufstiegs hatten alle Expeditionsteilnehmer, da sie ja infolge des umständlichen Gepäcktransports den Weg praktisch dreimal zurückgelegt hatten, schwer mitgenommen. Es war ein strahlend schöner Tag. Trotz der beißenden Kälte,
das Thermometer zeigte minus 15 Grad, hatten sich die drei Tiroler, die bereits engste Freundschaft geschlossen hatten, im Windschutz des Zeltes ausgestreckt und blinzelten in die Son ne. „Man könnte glauben, wir sind auf der Pasterze“, brummte Bartels. Vor ihnen spannte sich der Gletscher in blendendem Weiß bis dicht unter die scharf profilierte Silhouette der Grate. Breit und wuchtig, wie der Nacken eines ruhenden Stiers, reckte sich der Gipfel des Mount Everest vor ihnen auf, umlagert von einer Schar niederer Trabanten. „Ob wir ihn holen werden?“ Niemand wußte, wer die Frage ausgesprochen hatte. Alle drei dachten das gleiche. Unzählige Menschenleben hatte dieser Berg bisher gefordert. Noch hatte keines Menschen Fuß den Gipfel betreten. Die drei schwiegen und schauten… „Werden wir die ersten sein?“ Die Frage blieb ohne Antwort. Vom Gipfel her kam ein eisiger Hauch. Auch die Amerikaner hatten sich im Freien gelagert. Der Luftzug trug von ihrem Zelt her den feinen Duft indischen Tees. Zugleich klapperte drüben ein Kochgeschirr. „Gehen wir uns Tee holen“, sagte Bartels und erhob sich. Sie nahmen ihre Eßschalen und gingen. Unterwegs zum Zelt der Amerikaner blieb Gellner plötzlich stehen. „Hört ihr etwas?“ Sie hielten an. Tatsächlich, jetzt hörten sie es alle. Ein feines, sausendes Geräusch in der Luft. „Ein Flugzeug, ein Düsenjäger!“ rief Murauer. „Unsinn, wo soll denn da ein Flugzeug herkommen?“ sagte Bartels. „So hört doch!“ Das Sausen wurde stärker und schwoll zu einem rauschenden
Grollen an, das von den Felswänden ringsum tausendfach wi derhallte. Jetzt sahen sie es silbrig aus dem Blau des Himmels niederstoßen. Es war tatsächlich ein Flugzeug. In geringer Hö he begann es zu kurven, als suchte es etwas. „Ob der uns meint?“ fragte Berti Gellner. Jetzt kam die Maschine noch niedriger. Bei den Amerikanern war es lebendig geworden. Greysteel hatte eine große orangefarbene Fahne entfaltet und schwenkte sie in weitem Bogen. Die beiden anderen, Collins und Hunter, beobachteten mit Gläsern vor den Augen den silbernen Vogel. Jetzt hatte dieser das Lager entdeckt. Er setzte zum Sturzflug an und zog einige niedrige Schleifen über den Zelten. Alle brüllten und winkten. Aus dem Flugzeug löste sich ein kleiner weißer Bausch und sank langsam zu Boden. „Er hat etwas abgeworfen!“ rief Bar tels. Der Fallschirm entfaltete sich und schwebte genau auf das Zelt der Tiroler zu. „Liegenlassen und nicht aufheben!“ rief Greysteel. „Ich komme es selbst holen.“ Das Flugzeug hatte unterdessen noch einige Schleifen gezo gen und war dann nach Süden abgeflogen. Greysteel hatte die Abwurfstelle erreicht, nestelte ein Paket vom Fallschirm und warf diesen den Tirolern zu. „Behaltet ihn, es ist gute Seide.“ Mit dem Paket vorschwand er im Zelt bei Collins, ohne zu sagen, was es enthielt. Murauer hob den Fallschirm auf und drehte ihn nach allen Seiten. Dann pfiff er, wie es seine Gewohnheit war, wenn er etwas merkwürdig fand. „Berti und Hans, kommt einmal her!“ Er hatte die Seide auseinandergefaltet und wies auf einen Stempel am unteren Rand: US Air Force. „Also ein Amerikaner. Ob den auch die Seifenfirma ge schickt hat? Mir gebt langsam ein Seifensieder auf!“ sagte Ber ti Gellner und ging, mit dem Eßgeschirr scheppernd, zum Zelt
der Amerikaner. Aus den drei Rasttagen waren unterdessen fünf geworden. Collins erklärte, daß es notwendig sei, einige Vermessungsar beiten zu erledigen. Er und seine Begleiter hantierten den gan zen Tag mit Theodoliten und anderen Meßinstrumenten, wäh rend die Tiroler zum Halten der Meßlatten und zu Lagerarbei ten herangezogen wurden. Jetzt zeigte sich auch, weshalb das Gepäck so unverhältnis mäßig umfangreich war. Sie hatten eine ganze Funkanlage mit Batterien heraufgeschleppt. Merkwürdigerweise gerade so, als ob man die Geräte bis hierherauf vor unberufenen Augen hatte verbergen wollen, waren sämtliche Geräte in Lebensmitteldo sen verpackt gewesen. Aus Keksdosen wurden Kurzwellen empfänger, die Batterien und die Sender ausgepackt, die Ge müsekonserven enthielten Kabel, und in den Thunfischdosen waren die Verrstärkerröhren. „Da denkt man, weiß Gott, was für eine Menge an Fresserei en man hier heraufgeschleppt hat, und dann stellt sich heraus, dass alles Bluff war! Das Essen wird knapp werden, Freunde“, orakelte Bartels. Doch seine Befürchtungen erwiesen sich als ungerechtfertigt. Das Flugzeug war abermals gekommen. Es hatte weitere Fallschirmladungen abgeworfen. Darunter auch Lebensmittel, wei tere technische Geräte und sogar ein komplettes Stromerzeu gungsaggregat mitsamt einigen Kanistern Treibstoff. In den Zeiten gab es seither elektrisches Licht. Im Lager entstand ein merkwürdiger Betrieb. Mister Hunter hockte den ganzen Tag hinter der Funkanlage. Mister Collins ging mit Bartels und Gellner weiter den Vermessungsarbeiten nach, während Greysteel hinter einer windgeschützten Felsnase einen Beobachtungsstand bezogen hatte, von dem aus er stän dig den Himmel mit dem Glas absuchte. Am sechsten Tag überflogen acht Flugzeuge das Lager. Sie
hielten sich aber nicht auf, zogen nicht einmal eine Schleife, sondern flogen stur ihren Kurs nach Norden. Nach ein paar Stunden kamen sie wieder zurück. Von diesem Tag an – die Expedition blieb weiterhin im Lager! – war ständig Bewegung im Luftraum. Flugzeuge kamen vom Süden, flogen nordwärts und kehrten nach einigen Stunden regelmäßig wieder zurück. Später flogen sie auch des Nachts, wenn es sternklar war, wobei sie aus roten und weißen Scheinwerfern Blinksignale zum Lager gaben. Regelmäßig jeden Vormittag kam das Versor gungsflugzeug und brachte Lebensmittel und frischen Brenn stoff. Die drei Tiroler hatten es längst aufgegeben, sich zu wundern. Hingegen wuchs ihre Unruhe. „Was wird da gespielt?“ fragte Bartels. „Einen Besen freß ich, wenn da nicht etwas faul an der ganzen Geschichte ist.“ „Brauchst keinen Besen zu fressen“, beschwichtigte ihn Mu rauer. „Aber worum geht es da wirklich? Man soll uns doch sagen, was da geschieht! Wie lange sollen wir noch dableiben? Wir sind zu einer Besteigung des Mount Everest engagiert worden und nicht, um hier zu diesem verrückten Theater Hausdiener zu spielen!“ Und eines Tages fragte Gellner Mister Collins rundheraus: „Wollen Sie uns nun nicht endlich reinen Wein einschenken? Was geht hier vor?“ Collins zuckte, wie es seine Gewohnheit war, die Achseln. „Wir stellen Messungen und Versuche an. Ein Nebenzweck unserer Expedition.“ „Und der Berg?“ „Der läuft uns nicht davon!“ „Was sind das für Vermessungen und Versuche?“ „Sie würden es nicht verstehen, auch wenn ich es Ihnen erklären wollte. Im übrigen werden wir hier rund vier Wochen
bleiben. Es ist besser so, wir gewöhnen uns damit an die Hö henluft. Gute Vorbereitung für die Erstbesteigung des Mount Everest!“ Collins lachte über diese offensichtlich als Witz ge meinte Feststellung. „… er läuft uns nicht davon, der Berg…“ Es war abends im Zelt der Tiroler, als sie nebeneinander la gen und über diese Worte Collins nachdachten. Wozu waren sie hierhergekommen? Der Traum ihres bergsteigerischen Le bens schien der Erfüllung nahe, als sie von zu Hause aufbra chen und dem Ruf in die Fremde folgten. Jetzt, nach beschwer lichem Anmarsch, hatten sie die unterste Stufe des Götterber ges erreicht – und jetzt auf einmal gab es ein Halt! Warum ging es nicht weiter? Die Amerikaner funkten und stellten Vermes sungen an. Schön, wenn man auch nicht verstand wozu, wenn sie einen auch über den Zweck im unklaren ließen, aber das Ziel – das Ziel war doch der Berg! Bisher hatten sie Glück gehabt mit dem Wetter wie keine Expedition vor ihnen. Jeden Morgen, wenn die Sonne sich hob, breitete sich eine großartige Bergwelt ragend und weitausho lend vor ihrem Blick. Es war totenstill. Geradeaus, genau im Westen, funkelte der schneeweiße Gipfel des Pumori, des klei nen Bruders des Mount Everest. Zwischen ihm und dem Lager stürzten von allen Seiten alle Wände gegen den Kessel des gro ßen Rongbukgletschers ab, der gleichsam mit erstarrten Wogen gegen die gewaltigen Mauern zurückschlug. Zu ihrer Rechten aber türmte sich mächtig, atemberaubend und unverrückbar die zyklopische Wucht des Mount Everest. Es war ihr Berg. Vom Lager aus hätten sie, wenn alles klappte, den Gipfel in neun Tagesleistungen bewältigen können. Statt dessen lagen sie hier fest. Warum ging es nicht weiter? Jeder weitere Tag, den sie im Lager zubrachten, machte diese Frage gewichtiger. Fast schien es, als wären die Amerikaner an der Besteigung des Gipfels
überhaupt nicht interessiert! Als wäre ihre Tätigkeit hier, das Funken und das Messen, der eigentliche Zweck ihrer Expedition! Warum aber sagte man es ihnen dann nicht? Die Antwort auf diese Frage sollten die drei Tiroler schneller erfahren, als sie annahmen. Über Nacht war Schlechtwetter hereingebrochen. Nach Ta gen ununterbrochenen Schönwetters meldete sich nun der Göt terberg zu Wort, gerade so, als wäre er erzürnt über das unverständliche Treiben, das die Eindringlinge hier zu seinen Füßen entfalteten. Noch am Abend war der Himmel wolkenlos und blank gewesen, dann in der Nacht war ein Wind aufgekommen. Als Berti Gellnet kurz vor Mitternacht die Seile des Zeltes nachzog, an denen der Wind zerrte, war ringsum tiefste, schauerliche Finsternis. Kein Stern war mehr zu sehen, und auch die Wolken in ihrer düsteren Wucht waren unsichtbar und dennoch spürbar in lastendem Druck. In dieser Nacht marschierte die Kälte in geschlossener Pha lanx gegen das Lager vor. Ihrer Hauptmacht voraus plänkelten wechselwirkende Windstöße um die Zelte. Sie trieben losen feinkörnigen Schnee durch die Ritzen und stießen heftig gegen die leinenen Wände. Ein Trommelfeuer körniger Eiskristalle folgte. Wer überhaupt schlafen konnte, wälzte sich unruhig in der bedrängten Enge, die meisten lagen wach. Dann umstellte der Frost mit drohendem Schweigen diesen weltverlorenen Posten. Vom eisigen Druck niedergezwungen, sank das Thermometer auf minus dreißig Grad. Um sechs Uhr früh machte sich jemand am Zelteingang der drei Tiroler zu schaffen. Längst lagen alle drei wach und lauschten dem wachsenden Geheul des Sturmes. Die Verschnürung des Eingangs wurde aufgerissen, eine Wolke eisigen Schnees wehte herein und überdeckte in Sekun denbruchteilen alles mit einem weißen Tuch. Collins schob
sich ins Zelt und zog hinter sich den Verschluß wieder zu. „Es geht los“, sagte er, noch immer atemlos vom Sturm. „Doch nicht jetzt auf den Berg?“ fragte Murauer bestürzt. Daß Collins nickte, mußten sie ahnen, sehen konnten sie ihn nicht. „Natürlich nicht auf den Mount Everest, aber ein gutes Stück hinauf. Ein Flugzeug ist abgestürzt. Die Besatzung lebt und gibt Notsignale. Sie liegen oben, irgendwo am Grat. Wenn wir sie nicht in den nächsten Stunden bergen, sind sie verloren.“ „Wir sollen sie holen?“ fragte Gellner. „Jetzt?“ Und er dach te an Traudl und kniff die Lippen schmal. „Hunter geht mit“, antwortete Collins. Die drei schwiegen. Bartels war der erste, der aus dem Schlafsack kroch und die Bergschuhe anzog. Gellner und Mu rauer folgten. Es war ein unerhörtes Wagnis; aber Menschen in Bergnot riefen – und solch ein Ruf war den drei Freunden ge bieterisches Signal. Da mußten alle Bedenken schweigen. „Ihr werdet die Sauerstoffmasken brauchen, es geht über sie bentausend! Und dann das Zelt und Proviant, falls es länger dauern sollte!“ schrie Collins in das Heulen des Sturmes. Gellner räusperte sich. „Eine Frage, Mister Collins. Wie wäre es, wenn Sie uns we nigstens jetzt sagen würden, was es mit unserer ganzen Expedi tion auf sich hat? Was ist das für ein abgestürztes Flugzeug? Es scheint, daß Sie und Ihre Kameraden keineswegs die Absicht hatten und haben, tatsächlich den Everest zu besteigen. Sie verfolgten von Anfang an ganz andere Ziele. Es wäre wohl an der Zeit, uns endlich mitzuteilen, was das für Ziele sind – jetzt, da wir unser Leben aufs Spiel setzen müssen…“ Alle drei hielten inne und schauten auf Collins. Dieser knipste die Taschenlampe an. „Ihr habt recht. Aber die Lage ist verdammt ernst. Es geht um Menschenleben. Holt erst einmal die abgestürzten Piloten,
dann werdet ihr alles erfahren. Doch jetzt flott, jede Minute ist kostbar.“ Eine halbe Stunde später waren die Tiroler marschbereit. Der Sturm hatte wohl nachgelassen, doch der Himmel war nach wie vor bedeckt. Auch George Hunter war bereit. Er hatte eine Kar te mit, auf welcher der vermutliche Absturzort, soweit er sich aus den Funkortungen hatte ermitteln lassen, eingezeichnet war: oben auf dem Grat, der zum Gipfel des Mount Everest führt. Auf jeden Fall hatte die Rettungsgruppe vom Gletscher aufzusteigen und annähernd zweitausend Meter Höhenunter schied zu überwinden. Der Aufstieg war schwierig. Zuerst war es noch über den Gletscher gegangen, vier Kilometer weit. Die vier waren vom Lager weg am Seil gegangen. Schon nach wenigen hundert Metern war das kleine Zelt, in dem Collins und Greysteel zu rückblieben, im Dunst verschwunden. Hunter ging an der Spitze. Nach zwei Stunden beschwerli chen Marsches über den Gletscher begann der Aufstieg in die Flanke. Der Fels lag schneefrei, blankgeblasen vom Sturm der vergangenen Nacht. Nur an wenigen Stellen hatte sich ewiger Firn festgenistet. Die schrägen Platten waren nicht sonderlich grif fig, jeder Schritt verlangte volle Aufmerksamkeit. Langsam, wie die Schnecken im Weinberg, kroch der Trupp aufwärts. An ein Gespräch war nicht zu denken. Als Schlußmann ging Berti Gellner. Er wußte, welche Schwierigkeiten die dünne Höhenluft dem Körper verursacht. Mit jedem Schritt spürte er deutlicher, wie der Atem kürzer wurde. Jeder Schritt wurde zu einer peinvollen Anstrengung. Doch gleichzeitig fühlte er, wie sein gestählter Körper sich der immer dünner werdenden Luft anpaßte: er vermehrte die roten Blutkörperchen, die Leib und Lunge als Sauerstoffträger durch eilen, und glich so die Kargheit des lebensnotwendigen Ele
ments aus. Jetzt schon die Sauerstoffmasken nehmen, in knapp sechstausend Meter Höhe, schien wenig ratsam. Dieses letzte Hilfsmittel mußte für später, wenn es noch schlechter gehen sollte, aufgehoben werden. Jede Stunde machten sie eine kurze Rast, stärkten sich mit einer Rippe Schokolade und konzen trierten Nahrungstabletten. Gegen Mittag preßten sie sich, in Zeltbahnen und Schlafsäcke gehüllt, in eine Felsspalte. Für Minuten riß die undurchdring liche Wolken- und Nebelsuppe auf und gab einen Blick nach dem Grat, den sie erstiegen, frei. Sie befanden sich etwa in der Höhe der Wand. Drohend lastete über ihnen der graue Schwall von Gestein. In diesem Augenblick löste sich, gerade über ih ren Köpfen, eine feurige rote Kugel, zischte weit hinaus und versank schließlich nach weitem Bogen im trüben Grau der Wolkenschicht unter ihnen. „Ein Notsignal!“ rief Hunter. „Das sind die Flieger!“ Er nahm aus seinem Gepäck eine riesige Signalpistole, hielt sie schräg in die Luft und drückte ab. Zwei rote Bälle zischten hoch. Nach kurzer Pause stiegen auch oben, dort, wo das erste Signal gekommen war, zwei rote Leuchtkugeln auf. „Sie haben uns verstanden!“ „Vor Einbruch der Dunkelheit werden wir schwerlich bei ih nen sein“, meinte Berti Gellner. Auch Murauer und Bartels schüttelten den Kopf. Hunter drängte zum Aufbruch. Verge bens rieten die Tiroler zu langsamerem Steigen. Je langsamer, desto leichter kann sich der Körper dem mit jedem Schritt ge ringer werdenden Druck und karger werdenden Sauerstoffge halt der Luft anpassen. Schnelles Steigen führt zu vorzeitiger Übermüdung und kann sogar den völligen Zusammenbruch herbeiführen. Die drei Tiroler waren geübte Bergsteiger. Sie kannten die Regeln, denen sich jeder zu unterwerfen hat, der auf den Gipfel will. Sosehr der Amerikaner auch trainiert war –
alpine Erfahrung schien er keine zu haben. Schon nach kurzer Zeit wurde er langsamer. Das war die Schwäche, die über ihn kam. Bläuliche Blässe überzog sein Gesicht, er schnappte nach Luft wie ein Fisch, der aufs Trockne kommt; die Umwelt ver schwamm vor seinen Augen, und die Hand fuhr an das rasend klopfende, überlastete Herz. „Aufpassen!“ rief Bartels, der als zweiter am Seil hinter Hun ter ging. Da war es auch schon geschehen. Der Amerikaner war gestürzt, seine Beine verloren den Halt, und sein Körper sackte über den Rand des schmalen Bandes, auf dem sie sich hochar beiteten. Die drei Tiroler waren fast gleichzeitig in die Knie gegangen. So gelang es ihnen, den Ruck des Seils, das Hunters Sturz auffing, auszuhalten. Nach bangen Minuten hatten sie den Amerikaner hochgezogen. Sie zwängten ihm das Mund stück des Sauerstoffgerätes zwischen die Lippen, und er sog in gierigen Zügen. Ein Weitersteigen kam nun nicht mehr in Fra ge. „Er muß sofort zurück ins Lager“, stellte Gellner fest. Er nahm Karte und Kompaß des Zusammengebrochenen an sich. „Einer von uns muß mit. Am besten ginge der Sepp.“ Es war spät geworden, Hunter hatte die Besinnung verloren. An einen Abstieg bei Nacht war nicht zu denken. Gellner, der als der erfahrenste von den dreien das Kommando übernom men hatte, gab Anweisungen, so gut es ging, ein Nachtlager zu richten. Etwas oberhalb ihres Standortes entdeckten sie einen kleinen, freien Vorsprung in der Wand, auf dem sie gerade ihr Zelt aufbauen konnten. Sie waren mit dem Einrichten des Lagerplatzes kaum zu En de gekommen, als die Nacht hereinbrach. Und mit der Nacht kam wiederum der Sturm. Sie lagen zu viert, eng aneinander gepreßt, den bewußtlosen Hunter in ihrer Mitte, und lauschten dem grauenhaften Wüten. Mit tausend Armen schien der Sturm nach dem kleinen Fetzen Stoff zu langen, den vermessene
Menschen in der Mitte der Wand, da, wo sie am steilsten ab fällt, gespannt hatten. Keiner von ihnen schloß ein Auge. Sie hatten sich angezogen in die Schlafsäcke gerollt, dennoch schnitt die Kälte durch Gummi, Seide und Daunen mit tausend Messern, als lägen sie nackt im Freien. Als der Morgen anbrach, zeigte ein jeder von ihnen Spuren des lautlosen Kampfes der vergangenen Nacht. Hunters Befin den hatte sich weiter verschlechtert. Berti Gellner fühlte sich ganz benommen, auch Murauer und Bartels waren träge und matt. Sie lagen noch apathisch da, als der Tag bereits weit vorge rückt war. Draußen wütete noch immer der Sturm. Gellner, jung, kräftig, durchtrainiert, war es, der sich als erster aufraffte: „Hier liegenbleiben, heißt zugrunde gehen! Wir müssen wei ter.“ „Zurück zum Lager“, sagte Bartels. „Nein, Murauer bringt den Amerikaner zurück. Du und ich, wir müssen weiter“, entschied Berti Gellner. „Oben sind Men schen in Bergnot!“ Auch Murauer war dafür, daß sie alle umkehren sollten. „Wenn einer diese Nacht im Freien am Grat zubringen mußte, können wir ihm sowieso nicht mehr helfen.“ Doch Gellner blieb fest. Schließlich gelang es ihm, seine Gefährten auf die Beine zu bringen. Kostbare Zeit war verlorengegangen. Fast eine weitere Stunde dauerte es, ehe sie das Zelt abgebrochen und sich marschbereit gemacht hatten. Murauer verschwand, den halbtoten Hunter über der Schulter, im Nebel. Gellner und Bartels stiegen weiter. Gegen Abend legte sich der Sturm, die Wolkendecke riß auf, und minutenlang sahen sie noch blauen Himmel und das blutende Rot, mit dem die scheidende Sonne die Ränder der Wolken überzog. Sie hatten die Höhe des Grates erreicht, der sich vor ihnen messerscharf im Ungewissen verlor. Dann brach die
Nacht herein. „Der Karte nach muß es da irgendwo sein“, stellte Bartels fest. Gellner hatte Hunter die Signalpistole abgenommen und feuer te nun einige Leuchtkugeln ab. Nichts, keine Antwort. „In der Dunkelheit weitergehen, hat wenig Sinn“, stellte Berti Gellner fest. Der Sturm hatte sich beinahe vollständig gelegt, Eine Stille, die fast fühlbar war, hatte sich herabgesenkt. Da –! Bartels hörte es zuerst. Drei langgezogene, kaum hörbare schrille Pfiffe, drei kurze und wieder drei lange. SOS! Und immer wieder! Auch Gellner vermochte es deut lich zu hören. Noch einmal schoß er einige Leuchtkugeln ab. Vorsichtig tastend – die Dunkelheit ließ kaum die Hand vor den Augen erkennen – schritten sie in der Richtung, aus der die Pfiffe kamen, voran. Von Zeit zu Zeit feuerte Gellner rote Kugeln ab. Doch niemand antwortete. Offenbar war den Verunglückten die Munition ausgegangen. Bartels blieb stehen, er packte seinen Freund am Arm. „Schau, Blinksignale! Dreimal lang, dreimal kurz, dreimal lang! Wir sind ihnen nahe!“ Das Pfeifen war lauter geworden, klang immer näher. Plötz lich löste sich vor ihnen aus dem Dunkel eine Gestalt, wankte einige Schritte auf sie zu und sackte vor ihnen zu Boden. Klir rend entfiel dem Zusammengebrochenen die brennende Ta schenlampe und flog in hohem Bogen gleich einer verblassen den Sternschnuppe in den Abgrund, ins Bodenlose. Gellner und Bartels beugten sich über den Geretteten. Er war bei Besinnung, doch total entkräftet. Während Bartels das Zelt aufbaute, bemühte sich Gellner um den Flieger. „Wo sind die anderen?“ fragte er immer wieder. Der Flieger schüttelte den Kopf. „Ich bin der einzige. Meine Kameraden sind mit der Maschine abgestürzt. Ich konnte ab
springen.“ Mehr war aus ihm nicht herauszubringen. Sie schleppten ihn ins Zelt. Bartels flößte ihm Tee ein. Es dauerte lange, ehe er in einen tiefen Schlaf versank. Gellner buchstabierte beim Schein der Taschenlampe die Beschriftung der Erkennungsmarke, die der Schlafende an einer Kette um sein Handgelenk trug: „Leutnant Irving Burnley.“ Am nächsten Morgen herrschte strahlend schönes Wetter, und die Temperatur stieg sogar geringfügig über null Grad. Es war das ideale Wetter zum Abstieg, doch mit Rücksicht auf die Erschöpfung des Leutnants wollten sie noch warten. Verpfle gung hatten sie noch für einige Tage. Sie lagen im Zelt in den Schlafsäcken, die Eingangsfalle, durch die die Sonne leuchtete weit geöffnet, und Leutnant Burnley erzählte zum x-tenmal seine Erlebnisse nach dem Absturz. Es waren schwere Stunden gewesen. Zuerst hatte ihn der Wind mit dem Fallschirm an die Steilwand geworfen, wo sich der Fallschirm an einer vorspringenden Felszacke verfing. Me ter um Meter hatte er sich dann an den Seilen des Fallschirms hochgearbeitet und war schließlich bis auf den Grat gelangt. Von hier aus hatte er mit dem tragbaren Funkgerät, das er beim Absprung mitgenommen hatte, so lange Notsignale gegeben, bis die Batterie versiegte. Bald ging auch die Notverpflegung zur Neige. Den fürchterlichen Sturm und die Nächte überstand er in einer Felsspalte, eingehüllt in die Seide des Fallschirmes. Über Nacht bildete sich durch die verdunstete Körperwärme rings um den Fallschirm ein eisiger Panzer. Das war seine Rettung. Ähnlich wie bei den Iglus der Eskimos wirkte der Eispanzer wärmeisolierend und schützte den Flieger vor dem Erfrieren. Gerade zur rechten Zeit war Hilfe gekommen. „Aber Murmeltier hat funktioniert“, meinte er, zufrieden abschließend. „Wer ist Murmeltier?“ fragte Bartels.
„Na, das seid doch ihr – eure Funkstelle!“ „Wußte ich gar nicht, was für einen schönen Namen wir haben!“ Gellner schüttelte den Kopf. „Nun, ihr habt aber eure Aufgabe glänzend erfüllt“, meinte der Leutnant. „Das ganze Unternehmen wäre ohne eure Arbeit gar nicht möglich gewesen. Verluste hatten wir bisher über haupt kaum. Und wenn wir nicht das Pech gehabt hätten, ange schossen zu werden, hätte auch der alte Himalaja meiner Ma schine nichts anhaben können. Aber so…“ Gellner und Bartels hatten sich aufgerichtet. Sollten sie jetzt des Rätsels Lösung erfahren, den Zweck der geheimnisvollen Mission? Sie wechselten einen kurzen Blick. „Erzählen Sie doch, wie es war“, drang Gellner in den Leut nant. „Hat einer von euch eine Zigarette? Die erste seit vier Ta gen…“ Bartels steckte dem Offizier eine Zigarette zwischen die Lip pen und zündete sie an. Minutenlang schloß Burnley die Au gen. Das Nikotin schien ihm nicht zu bekommen. Sepp Murauer hatte mit schier übermenschlichen Anstren gungen den beschwerlichen Abstieg und den Rückmarsch über den Gletscher in einem Zug zurückgelegt. George Hunter hatte sehr bald abermals das Bewußtsein verloren und hing ihm über die Schulter wie ein schwerer Sack. Murauer wußte, daß er keine Rast mehr machen durfte, denn dann wären auch seine Kräfte erlahmt. So zwang er sich, den Weg, zu dem er mit seinen Gefährten fast zwei Tage benötigt halte, in einem zurückzulegen. Nach neunstündigem, ununterbrochenem Marsch kam er erschöpft beim Standlager am Ausgang des Rongbukgletschers an. Collins und Greysteel hatten ihn von weitem durchs Glas kommen sehen und gingen ihm entgegen. In wenigen Worten hatte Murauer sie über das Vorgefallene informiert. Hunter
wurde im Zelt gebettet und verfiel bald in starkes Fieber. Auch Sepp Murauer war am Ende seiner Kraft. Sein Gepäck hatte er, als es ihm zu schwer geworden war, irgendwo zurückgelassen. Sturm, Eis und Fels hatten seine Kleider zerfetzt, jetzt saß er frierend neben der kargen Flamme des Spirituskochers und versuchte, sich zu wärmen. „In einigen Tagen werden Sie Ihren Rucksack holen können – falls ihn die Himalajamenschen nicht verschleppt haben“, scherzte Greysteel. Collins zeigte sich von seiner kamerad schaftlichsten Seite und stellte Murauer einen Anzug zur Ver fügung. Dankbar nahm dieser das Angebot an. Es war zwar nur ein leichter Cordanzug, wie ihn die Expeditionsteilnehmer getra gen hatten, als sie noch durch Indien gefahren waren, doch immerhin war er heil und schützte besser vor der Kälte als die zerfetzten Lumpen. Sepp Murauer räumte eben den Inhalt der Taschen aus sei nem ausgedienten Anzug in Collins’ Anzug, als er in einer Brusttasche des Cordanzugs Papier knistern hörte. Es waren Briefe. Murauer nahm sie heraus und wollte schon Collins rufen, als sein Blick auf die Umschläge fiel. „An Frau Walpurga Murauer, Höfen in Tirol, Austria“, war der oberste Brief adressiert! Murauer wurde plötzlich schwach in den Knien. Er zitterte und mußte sich setzen. Dieser Brief und die anderen Briefe – die seiner Kameraden – waren in Gaya, in Indien, geschrieben worden. Die letzten Briefe an die Angehörigen daheim! Darin hatten die Tiroler zum erstenmal mitgeteilt, wohin ihre Fahrt ging. Ja, Collins hatte es damals übernommen, die Briefe zur Post zu bringen. Und jetzt stellte sich heraus, daß sie gar nicht abgesandt worden waren! Murauer hatte die Schwäche überwunden. Er stand auf. Collins hockte in einem kleinen Neben-
zelt mit Greysteel hinter einem Funkgerät. Die beiden fuhren erschrocken hoch, als sie Murauers Geeicht sahen. Sepp Murauer hielt Collins die Briefe unter die Nase: „Kennen Sie diese Schreiben, Mister?“ Collins warf keinen Blick darauf und sah Murauer nur an. „Sie haben die Briefe seinerzeit in Gaya übernommen und wollten sie zur Post bringen. Sie haben diese Briefe unterschla gen!“ Collins sagte noch immer nichts. Greysteel manipulierte an seinem Gerät, als ginge ihn die ganze Sache nichts an, Jetzt war es mit Murauers Beherrschung vorbei, Er schnellte vor und stieß Collins die geballte Faust ins Gesicht. Doch die ser hatte ebenso schnell pariert. Ehe sich Murauer versah, lag er auf dem Boden und blutete aus der Nase und dem Mund. Noch einmal wollte er hoch, doch da traf ihn ein Kinnhaken, daß er das Bewußtsein verlor. Leutnant Burnley hatte sich erholt. Er paffte bereits die dritte Zigarette. „Schreiben Sie sich’s auf“, sagte er zu Bartels. „Für jede Zi garette, die Sie mir vorschießen, zahle ich Ihnen, wenn wir wieder unten sind, zehn Dollar, übrigens, einem solchen dum men Glimmstengel habe ich es zu danken, daß ich jetzt hier hocke, unter dem Gipfel des Mount Everest, siebentausend Meter hoch, statt bei einem Eisgekühlten im Kasino in Baar long. Sie wollten wissen, wie meine Maschine angeschossen wurde? Das ist rasch erzählt. Fünf Tage ging alles gut. Wir flogen dank eurer ausgezeichneten Funkleitung täglich unsere Einsätze, erledigten die Sache und kehrten wieder um. Schließlich scheinen die Chinesen drüben aber doch etwas spitzgekriegt zu haben. Am letzten Tag waren plötzlich Jäger da. Wir sahen sie von weitem im Anflug und machten uns aus dem Staube. Denn in Luftkämpfe sollten wir uns laut Auftrag nicht einlassen. Unbemerkt bleiben! war
die Parole. Ja, der Verband macht also kehrt, und ich greife nach den Glimmstengeln. Da passierte es: ein Stückchen Glut fällt mir durch den Kragen zwischen Hemd und Haut. Kennen Sie das Gefühl? Ich reiße die Jacke und das Hemd auf, dabei drücke ich die Steuerung – und ehe ich’s mich versehe, bin ich tausend Meter tiefer. Jetzt hieß es, nichts wie ‘rauf! Da waren aber die Chinesen auch schon hinter mir… Vom Verband sah ich gerade noch die silbernen Schweife am Horizont. Einer von den Gelben hängt sich mir an, spuckt ein bißchen was herüber, aber dann habe ich ihn doch abschütteln können. Allerdings, die Treibstofftanks hatten Löcher bekom men. Funker und Mechaniker schauten auf die Karte und auf die Treibstoffuhr. Die Rechnung wollte nicht aufgehen. Das heißt, sie ging auf. Gerade bis hundert Kilometer vor unserem Flugplatz. Immer noch besser, als in Tibet niedergehen, dachten wir und flogen weiter südwärts. Es muß aber doch ein Rechenfeh ler gewesen sein. Denn hier, über den Bergen, war der Sprit mit einemmal zu Ende. Es ging alles rascher, als ich dachte. Als die Motoren aussetzten und die Maschine stürzte, sprang ich. Die beiden anderen kamen nicht mehr rechtzeitig heraus.“ Der Leutnant tastete nach einer neuen Zigarette. Bartels und Gellner schwiegen. „Ja, und wenn ihr nicht gewesen wäret, dann lag ich jetzt wohl als Eiszapfen da“, knurrte der Flieger. „Was haben Sie denn über Tibet gemacht?“ fragte Bartels nach einer Weile. „Hat man euch nicht eingeweiht?“ Leutnant Burnley richtete sich erstaunt auf. Gellner sagte rasch: „Oh, doch, natürlich. Nur über die Art der Durchführung sind wir nicht ganz im Bilde. Schließlich sind wir auch keine Flie ger.“ Der Leutnant hatte sich wieder beruhigt. „Am ersten Tag war
es gar nicht angenehm. Da brachten wir Leute hinüber. Statt Bomben hockten uns je Maschine je zwei Mann im Bauch. War sehr schwierig, da wir nicht auf Lasten eingerichtet sind. Aber es ist doch ganz gut gegangen. Die Burschen sind dann mit dem Fallschirm ausgestiegen. Wie ich später hörte, haben sie aber Pech gehabt. Der größte Teil von ihnen wurde gleich nach der Landung geschnappt. – Na, und die folgenden Tage haben wir dann unsere Eier gelegt. Schön mitten in die Reis felder. Gute Dinger, die in zwei, drei Wochen, kurz vor der Ernte, wenn die Reisfelder trocken und dürr werden, zu bren nen anfangen…“ „Aber, aber…“, stotterte Bartels. „Was denn?“ fragte der Leutnant. „Ist denn Krieg?“ Leutnant Burnley richtete sich neuerdings auf und schaute verständnislos auf Bartels. „Wieso soll denn Krieg sein?“ „Sie sagten doch selbst, daß Sie Zeitzünderbomben über China abgeworfen haben…“ „Na und? Deswegen muß doch noch lange kein Krieg sein. Feinde bekämpft man eben schon vor dem Krieg, nicht?“ „Sie vernichten Reisfelder.“ „Andere Felder gibt’s da wenig.“ „Aber wozu denn überhaupt?“ „Großer Gott, was der Junge fragt! Ich bin doch kein Diplo mat. Ich bin Soldat und habe zu fliegen. Wohin ich fliege und was ich fliege, bestimmt das Kommando. Soll ich mir meinen Kopf darüber zerbrechen?“ „Was würden Sie sagen, Leutnant Burnley, wenn irgendwel che Flugzeuge über Ihrer Heimat, über den USA, über den Weizenfeldern des Mittelwestens Zeitzünderbomben werfen würden, und wenige Tage vor der Ernte brennen die Felder ab? Was würden Sie dazu sagen…?“ Bartels hatte sich in Erregung
gesprochen. Burnley knurrte etwas, schwieg und rauchte. Eine Weile schwiegen sie. Nach einer Weile fragte Gellner: „Und unsere Funkstelle hat sich bewährt?“ „Ausgezeichnet, das muß man euch lassen. Die Überquerung eines hohen Gebirgszugs – das müßt ihr verdammten Bergkraxler, die ihr vom Fliegen nichts versteht, einmal hören – ist keine einfache Sache. Man ist da sehr vom Wetter, vom Wind und von hunderterlei anderen Dingen abhängig. Meistens gibt es auch dicke Wolken und Nebel. Um da durchzufinden, brauchen wir, wie ein Schiff in Landnähe einen Leuchtturm, eben eine Funkstelle, die uns leitet und die uns mit Wettermel dungen und sonstigem versorgt. Bisher ist, wie uns unser Staf felkapitän erläuterte, der Himalaja nicht allzuoft überflogen worden. Eben weil es hier oben keinen richtigen Flugsiche rungsdienst gab. Andererseits verläuft hier über diese Berge die kürzeste Luftroute ins Herz Chinas. Grund genug, um Murmel tiere in Bewegung zu setzen. Ihr habt eure Sache gut gemacht, Murmeltiere…“ „Deshalb durften wir nicht schreiben!“ sagte Bartels nach denklich. „O Junge, deinen Scharfsinn möcht ich haben“, meinte der Leutnant und tastete nach der Zigarettenschachtel. Murauer erwachte durch einen stechenden Schmerz. Jemand schien ihm mit einem Messer die Stirn zu zerfleischen. Stöh nend schlug er die Augen auf. Er sah eine große Hand vor sei nem Gesicht, und zugleich ließ der Schmerz nach. „Höhenkollaps“, sagte Greysteel und tauchte den Lappen, den er von Murauers Stirn genommen hatte, in kaltes Wasser. „Kalte Umschläge und viel Ruhe.“ Murauer richtete sich auf. Schlagartig wurden ihm die Ereignisse, die seiner Bewußtlosigkeit vorausgegangen waren, wie der klar. „Wo ist Collins?“ fragte er.
„Der behandelt sein blaues Auge mit Kamillentee“, meinte Greysteel gleichmütig. „Sie haben ihn ordentlich zugerichtet. Er Sie auch. Sie brauchen Ruhe“, wiederholte er und drückte Murauer wieder aufs Lager. Ein neuerlicher Schwächeanfall überkam Murauer. In seinem Kopf summte und brummte es. Eine große Säge schien in Be wegung geraten zu sein, die unaufhörlich sägte. Ihre Zacken fraßen sich in splitterndes Holz. Doch es war kein Holz, es war ein großer Stapel Papier. Es war auch keine Säge, eine grellrote Briefmarke war es, die mit scharf gezahntem Rand den Stapel Papier durchschnitt. Briefe waren das, ein Bündel Briefe: An Walpurga Murauer. „Was ist mit den Briefen?“ Sepp Murauer fuhr auf. „Jetzt geben Sie doch schon endlich Ruhe. Ihre Briefe sind da.“ „Collins sollte sie doch aufgeben!“ „Ja, er hat es vergessen. Immerhin ist er Leiter einer Expedition und hat sicher den Kopf mit anderen Dingen voll gehabt.“ „So ein Schwein!“ „Aber, aber. Und noch lange kein Grund, ihn deswegen mit den Fäusten zu traktieren.“ „Meine Leute zu Hause…“ „… werden eben ein paar Wochen später erfahren, was war.“ „Er hat die Briefe absichtlich nicht aufgegeben. Diese ver dammte Expedition!“ „Ich sagte Ihnen doch bereits, Collins dürfte sie vergessen haben. Er wird sich bei Ihnen entschuldigen. Seien Sie doch nicht so komisch. Sie sind krank. Die dünne Luft, die Strapa zen – Sie haben einen Höhenkollaps, lieber Freund.“ Murauer versuchte klar zu denken. Es gelang ihm nicht. Schließlich fiel er von neuem in tiefen, bleiernen Schlaf. Es war spätabends, als er wieder aufwachte. Draußen heulte der Sturm. Der Druck um den Schädel war gewichen. Murauer vermochte wieder klar zu denken. Er hörte, wie sich neben ihm
Collins und Greysteel leise unterhielten. Er öffnete die Augen einen Spalt breit und schloß sie wieder. „Wenn es wahr ist, sitzen wir in der Patsche“, hörte er Greysteel sagen. „Nonsens, die dort sehen manchmal Gespenster. Die ver dammten Chinesen haben doch keine Leute, die sich herauf wagen könnten. Und außerdem weichen wir nicht ohne Auf trag.“ Greysteel hüstelte. „Schön, gut! Nur – in Kalkutta läßt es sich leichter Aufträge erteilen, als sie am Himalaja ausführen. Ge ben Sie mir noch einmal die Meldung.“ Papier raschelte. Greysteel las halblaut: „Vierzig Mann Infanterie und sechzig Träger auf dem Marsch. Träger ausgesuchte Leute, die bereits bei früheren Himalaja-Expeditionen dabei waren. Soldaten erklären, zu Übungen im Gebirge komman diert zu sein. Vorsicht. Unterschrift Falter.“ „Und Sie schließen daraus, daß die Chinesen von unserer Funkstelle Kenntnis haben. Daß sie mit vierzig Mann Infante rie kommen, um uns auszuheben. Greysteel, Sie sehen Gespen ster! Woher sollen die Chinesen das wissen? Und außerdem: Welch ein Wahnsinn wäre es, mit Truppen, die vielleicht ganz gute Soldaten, aber im Gebirge völlig ungeübt sind, hier heraufzuziehen! Sie kämen ja nicht einmal über dreitausend Meter!“ Murauer fühlte, daß die beiden Amerikaner ihn ansahen, und stellte sich tief schlafend. „Wie geht es ihm?“ fragte Collins. „Gemessen an Ihrem Schlage ganz gut. Jeder andere Schädel wäre nach einem solchen Hieb zum Teufel gegangen.“ „Es war ein Fehler von uns, diese Leute mitzunehmen“, meinte Collins nachdenklich. „Sie belasten uns nur. Und was soll aus ihnen werden, wenn das Unternehmen beendet ist?“ „Das Oberkommando hatte keine andere Wahl“, sagte Grey
steel. „Wir brauchten Träger und Helfer. Hätten Sie lieber Einge borene nehmen wollen – also jedenfalls uns feindlich gesinnte Leute? Man liebt uns nicht in diesen Weltgegenden…“ „Wir müssen achtgeben auf die drei Austrians…“ „… und ihnen endlich einmal sagen, worum es geht.“ „Das wird das klügste sein!“ Collins stand auf. „Im übrigen ist wirklich nicht einzusehen, weshalb die Burschen, wenn wir ihnen reinen Wein einschenken, nicht mitmachen sollten. Sie bekommen dafür bezahlt. Man kann ihnen in Aussicht stellen, daß das Oberkommando, falls sie sich bewähren, weitere Aufgaben für sie haben wird. Ja, es war sicherlich ein Fehler, daß wir die Leute nicht von Anfang an instruiert haben. So etwas schafft dann immer Mißverständnisse. Ich werde nochmals versuchen, mit Station Falter in Verbindung zu kommen. Viel leicht war es doch nur Hysterie.“ „Und wenn es stimmt, wenn wirklich eine chinesische: Expe dition kommt?“ „Dann heißt es für uns verschwinden!“ Collins verließ das Zelt. Greysteel machte beim Schein einer Karbidlampe Eintragungen in irgendwelche Bücher. Van Zeit zu Zeit blickte er auf Murauer, der so gut den Schlafenden mimte, daß er bald darauf wirklich noch einmal einschlief. „Das hier“, sagte Leutnant Burnley, „ist meine Braut.“ Das etwas zerdrückte Foto zeigte ein nichtssagend hübsches Mäd chengesicht mit einem Strahlenkranz blonder Locken. „Ihre Anschrift hab ich auf die Rückseite notiert“, erläuterte er weiter. „Ja, wir wissen bereits: Wenn Ihnen etwas zustößt, dann sollen wir sie aufsuchen und letzte Grüße bestellen. Das haben Sie uns jetzt zum fünftenmal erzählt. Aber so werden wir niemals über die Wand kommen“, fluchte Berti Gellner. - Am frühen Morgen waren sie aufgebrochen und hatten den
Abstieg angetreten. Die Lebensmittelvorräte gingen zur Neige. Sonst hätten sich die beiden Bergführer sicherlich noch weiter von dem Offizier überreden lassen und gewartet. Anfangs hatte er geklagt, daß er sich noch zu schwach fühle, dann hatte er Zahnschmerzen bekommen, am nächsten Tag war es eine Unpäßlichkeit, bis sich schließlich herausstellte, daß es einfach Angst war. Leutnant Burnley hatte Angst vor dem Abstieg. Bevor sie aufbrachen, hatte er eine Art mündlichen Testaments gemacht. Sooft der Weg kritisch wurde, blieb er stehen und wiederholte es mit Variationen. Der junge blonde Farmerssohn aus Florida, der Hochgebirge höchstens aus Hollywoodfilmen kannte, war von panischem Schrecken erfüllt, als ihm die beiden Tiroler bedeuteten, da gerade, kerzengerade hinunter gehe der Abstieg. Zur Vorsicht hatten sie ihn, obwohl strahlend schönes Wetter war und der Weg bekannt, ans Seil genommen. Dadurch wiederum kamen sie nur langsam vorwärts, und am Abend des ersten Abstiegta ges hatten sie gerade den Felsvorsprung erreicht, auf dem sie das Lager während der Sturmnacht beim Aufstieg bezogen hatten. Das Zelt wurde aufgebaut und das Nachtlager bezogen. Leutnant Burnley blickte sich um. Nirgendwo eine Menschenseele. Nirgendwo eine Bewegung, die aus eigenem Antrieb erfolgte. Jede sichtbare Regung war nur eine Folge des jagenden Windes: Wolken und aufgewirbelter Schnee. Kein Vogel schlug die Flügel, kein Baum oder Strauch beugte Stamm und Äste, um dann lebensbeharrend wieder zurückzuschlagen. Hier war der Mensch völlig allein. In diese Einsamkeit hatte ihn der Finger des Schicksals gestoßen, und er wäre hier wohl elendig zugrunde gegangen, wenn nicht… Ja, andere Menschen hatten ihn geborgen. Wie waren sie in diese Einsamkeit gekommen? Auch ein Fingerzeig des Schicksals? Leutnant Burnley dachte nach.
Soweit es ihn betraf, konnte er das Schicksal sehr genau verfolgen. Leutnant Burnleys Schicksal befand sich am Flieger horst Baarlog, im Dschungel Nordindiens, und verteilte Ein satzbefehle. Und weiter? Ein stiller Raum im Oberkommando mit Landkarten und faltigen Gesichtern. Hier ist China, meine Herren, und hier der kürzeste Luftweg. Er führt über den höchsten Gebirgszug der Welt, den Himalaja. Und dann hat das Schicksal – es trug sehr viel Gold auf der Kappe – mit dem Finger geschnippt, und eine Handvoll Menschen zogen in diese steinerne Urwelt und gaben Funksignale… Der höchste Gipfel der Welt? Uninteressant! Noch niemals von Menschen bestiegen? Der Teufel soll ihn holen! Was wir brauchen, ist Flugsicherung! Flugsicherung? Wozu? Zum Fliegen, Freunde. Wir fliegen nach China! Wozu? Wir setzen Agenten ab und legen Brandbomben… Der höchste Gipfel? „Wir fliegen darüber hinweg. Unser Ehr geiz gilt anderen Dingen…“ Leutnant Burnley saß und sinnierte. Wie sagte der .junge Bergführer: „Es ist doch kein Krieg!“ Durch die offene Zelttür flog sein Blick geradeaus auf das Hochland von Tibet. Graubraun verschwammen die grauen Berge am Horizont, langsam versanken ihre unförmigen Ge stalten in das tiefe Meer der Nacht, die flutgleich über ganz Asien rollte. Wohin das Auge schweifte, nichts als lebloser Fels, gefühlloser Stein, baumlose Wüste. Als einziges Zeichen winzigen Lebens drei Herzen, die in windiger Höhe unter dem Zelt in der Felswand schlugen. Drei Menschen, die in diese Wüste zogen, um – in blühendes Land Wüsten zu bringen, mit Feuer und Mord! Jawohl, so und nicht anders mußte man es nehmen! Leutnant Burnley saß starr und schaute, bis auch die letzte Si
louette von der undurchdringlichen Finsternis zugeschüttet wurde. Er fühlte sich ausgebrannt und verödet, als trüge er sel ber ein Stück steinerne Wüste in sich herum. Ehe er einschlief, beschloß er, nach seiner Rückkehr mit seinen Kameraden zu sprechen. Wie das wäre mit den Brandbomben und den Agen ten. Es ist doch kein Krieg… Es ist doch kein Krieg… Oder doch? „Kalter“ Krieg, wie man das nennt? Schöne Kälte – Agenten, Brandbomben, qualmende Ernten! Und sind chinesi sche Reisfelder Feinde der Vereinigten Staaten?… Verflucht und zugenäht… Greysteel und Collins schliefen noch, als Hunter, der nach dem Abstieg wieder seinen Dienst am Funkgerät versah, ins Zelt stürzte. „Station Falter hat sichere Nachricht. Die Militärexpedition gilt uns!“ Collins war mit einem Schlage hellwach. Er warf einen Blick auf Murauer, der gemeinsam mit ihnen im Zelt schlief. Doch der rührte sich noch nicht. „Suchen Sie mit dem Oberkommando Verbindung zu be kommen. Verlangen Sie Order!“ Hunter verschwand. Collins stand auf, rüttelte Greysteel wach und bedeutete ihm zu folgen. Im Funkzelt beugten sie sich über den Empfänger, an dem sich Hunter bemühte, eine Verbindung mit dem Oberkommando herzustellen. „Wie steht die Sache mit dem Tiroler?“ fragte Hunter zwi schendurch. „Vorläufig beigelegt“, antwortete Greysteel. „Collins hat ihn unverbindlich um Entschuldigung gebeten, und er tat das glei che.“ „Weiß er Bescheid?“ „Nein, gerade soviel, als er sich selber ausmalen kann.“ Endlich meldete sich das Oberkommando. Hunter gab durch: „Chinesische Militärexpedition im Anmarsch. Soll Lager
Murmeltier geräumt werden?“ Am anderen Ende war es still geworden. Collins sah deutlich vor sich, welchen Wellenschlag des Geschehens dieser Spruch auslösen würde. Der Funker wird den diensthabenden Offizier wachrütteln, ihm den Spruch zum Entschlüsseln geben. Denn die Funkverbindung mit Murmeltier geht als Geheime Kom mandosache. Der Offizier mit dem entschlüsselten Spruch wird die Leute vom Stab auf die Beine bringen. Doch diese haben es nicht eilig. Sie werden erst einmal frühstücken, dann die Morgenpost erledigen und dann erst sich vielleicht an den Spruch erinnern. „Es ist zwecklos, auf sofortige Antwort zu warten“, sagte Collins. Doch wider Erwarten begann das Oberkommando sich schon nach kürzester Zeit zu rühren. „Murmeltier muß unter allen Umständen noch für drei Tage gehalten werden. Drei wichtige Einsätze stehen noch bevor. Flugleitdienst sofort aufnehmen. – Wetterdurchgabe?“ Während Hunter sich an die Durchgabe des Wetterberichtes machte, verließen Collins und Greysteel das Zelt. Collins fluchte: „Drei Tage halten! Aber wie?“ Greysteel dachte nach. „Man müßte wissen, wie weit die Chinesen sind, Wenn sie noch vier Tagemärsche entfernt sind, bestünde keinerlei Anlaß zur Beunruhigung.“ „Und wenn nicht?“ Collins und Greysteel sahen einander an. „Sie werden auf Erkundung gehen, Greysteel. Soweit ich mich erinnere, ist der Aufstieg zum Gletscher die letzten Stunden sehr beschwerlich, man muß da eine Wand passieren. Der Pfad ist sehr schmal, es hat gerade ein Mann darauf Platz. Wenn die Chinesen hier durchwollen, so müssen sie wie auf einer Schnur aufgefädelt hintereinandergehen. Auf der einen Seite der Abgrund, auf der anderen die Felswand. Eine ideale Position…“
Greysteel schluckte. „Und dazu wollen Sie mich haben?“ „Natürlich, Freund, wen sonst?“ „Immerhin, es sind vierzig Mann…“ „Sie haben Zeit, es kann Ihnen keiner davonlaufen. In einer Viertelstunde kann alles erledigt sein, wenn Sie ruhig zielen.“ „Vierzig Mann wird man aber vermissen…“ „Sicherlich. Doch sie können ebensogut von einer Lawine abgeschnitten worden sein. Und bevor man sie sucht und findet, sind wir längst nicht mehr da. Im übrigen gilt das ja nur für den Fall der Fälle. Schauen Sie erst einmal, wo die Kerle überhaupt stecken und ob sie uns gefährlich werden können.“ Greysteel entfernte sich. „Sie können den Tiroler mitnehmen!“ rief Collins ihm nach. „Reden Sie unterwegs mit ihm, klären Sie ihn auf, was hier gespielt wird. Wenn er mitmachen will, kann er sich gleich bewähren!“ Wenig später marschierten Greysteel und Murauer gletsche rabwärts. „Wozu soll denn das Gewehr gut sein?“ fragte Murauer. „Für unterwegs, vielleicht können wir etwas schießen“, antwortete Greysteel trocken. Er hatte Angst vor dem Tiroler seit dessen Boxkampf mit Collins. Er trug die Waffe selbst, ob gleich es ihm nicht geringe Beschwerden verursachte, und be schloß, das „Reden“ mit dem Bergführer Collins zu überlassen. Nach sechsstündigem Marsch weitete sich das Gletschertal und gab einen erhebenden Anblick frei. Von hier aus übersah man die ganze Gipfelwelt des Himalajazuges. Jenseits der Sohle lief der Gletscher zu einem mehrere Kilometer langen Engpaß zusammen. Zu beiden Seiten schossen tausend Meter hoch die steilen Wände zum Grat, Die linke Wand war vollkommen glatt und unpassierbar. In der Mitte der rechten zog sich ein schmales Band, gerade daß ein Mann darauf schreiten konnte. „Was soll eigentlich unser Ausflug hierher?“ wollte Murauer wissen. „Wäre es nicht vernünftiger gewesen, zu sehen, was
Gellner und Bartels machen? Vielleicht haben sie Hilfe nötig?“ Greysteel antwortete nicht. Er hatte eine Erhebung am Rande des Engpasses erklommen und das Glas an die Augen gehoben. Von hier aus sah man kilometerweit in das Tal hinab, durch das der Anstieg zum Gletscher führte. Der Amerikaner hieß Mu rauer das Zelt aufstellen und das Essen bereiten. Seinen Beob achtungsposten verließ er nicht, ehe ihm die Dunkelheit vor dem Glas schwamm und er keine zehn Schritt weit sehen konn te. Am nächsten Morgen, lange vor Murauer, war Greysteel bereits wieder auf den Beinen und hatte Posten auf dem Felsen bezogen. Es war schneidend kalt, der Platz lag noch tief im Schatten, und die enge Schlucht herauf pfiff ein eisigkalter Wind. Gegen elf Uhr schien sich etwas, ganz am Ende des Aufstiegtales, zu rühren. Greysteel wischte das Glas sauber und sah noch einmal durch. Ohne Zweifel. Dort war eine Kolonne im Anmarsch. Die Entfernung mochte etwa acht Kilometer betra gen. Der Anstieg war steil und beschwerlich, er dürfte kaum weni ger als einen Tag in Anspruch nehmen, einen weiteren halben Tag würde das Passieren der Enge beanspruchen und dazu kä me noch ein Halbtagsmarsch bis zum Lager Murmeltier. Um unbemerkt zu entkommen, war es also bereits zu spät. Blieb also lediglich die Möglichkeit Nummer zwei. Dann hatte er noch einen ganzen Tag Zeit. Greysteel lag und beobachtete. Wie ein Wolf, der seine Beute belauert. Als es Abend wurde, konnte man die anmarschierende Ko lonne bereits mit bloßem Auge ausnehmen. „Nachschub für uns?“ fragte Murauer. „Ich weiß es nicht“, wich Greysteel aus. Gellner, Bartels und Leutnant Burnley waren im Lager Mur meltier eingetroffen. Hier hatten die beiden Tiroler etwas
Merkwürdiges erlebt. Nachdem Burnley und Collins einander begrüßt hatten, sagte Collins: „Sie befinden sich hier in einem Stützpunkt der Armee. Bis zu unserer Ablösung haben Sie sich als aktiver Teilnehmer dieses Unternehmens zu betrachten und meinen Befehlen Folge zu leisten. Das gilt auch für Sie beide!“ wandte er sich dann an die Bergführer. Gellner und Bartels waren so verblüfft, daß sie vorerst keine Antwort wußten. Später traten dann Ereignisse ein, die sie den Vorfall vorläufig vergessen ließen. Gegen Mittag wurde Motorenlärm hörbar. Minutenlang don nerte das Gletschertal vom Widerhall des Gedröhnes der Moto ren. Es war ein ganzer Flugzeugschwarm, der nordwärts zog. Bartels zählte an die fünfzig Maschinen. Wenige Stunden später kamen die Flugzeuge zurück, diesmal allerdings nicht wohlformiert in Staffeln wie beim Anflug, sondern aufgelöst und weit auseinander. Es sah ganz so aus, als wären sie in wilder Flucht begriffen. Hunter und Collins saßen indessen pausenlos am Funkgerät. „Sieht verdammt danach aus, als ob die Unseren Haare haben lassen müssen“, sagte Burnley und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen die Vorgänge am Himmel. Dann war wie der Stille eingekehrt. Collins und Hunter hatten mit schweiß nassen Gesichtern an den Geräten gesessen und keinen Blick auf das Geschehen am Himmel gerichtet. „Wollen wir jetzt mit ihnen reden?“ fragte Bartels. Berti Gellner winkte ab. „Laß dir Zeit, es ist besser, wir warten noch.“ „Das Oberkommando ist zufrieden“, rief Hunter von seinem Gerät. „Mit uns, natürlich. Die Kollegen in der Luft werden einen ordentlichen Anpfiff bekommen. Sie haben sich unge mein dumm verhalten. Wie können sie auch eine ganze Staffel Chinesen auf sich ziehen, wo der Auftrag doch war, die Aktion
völlig unbemerkt und unerkannt durchzuführen? Immerhin, in ganzen Provinzen brennt die Ernte!“ In diesem Augenblick klatschte es. Leutnant Burnley war mit wenigen Schritten bei Hunter ge wesen und hatte diesem eine Ohrfeige versetzt. „Dies für einst weilen, der Rest kommt später!“ Hunter war aufgesprungen: „Was erlauben Sie sich, Leut nant?“ „Den richtigen Ton, wie er solchen Kerlen gegenüber am Platz ist!“ Auch Collins war aufgesprungen und hatte Burnley an der Schulter zurückgerissen. „Sie sprechen mit Offizieren!“ „Oh“, sagte der Leutnant, „ich dachte – mit Gangstern!“ Mit einemmal entlud sich all die gestaute Wucht der Gedanken, die sich während der letzten Tage im Gehirn des jungen Fliegers angehäuft hatte. „Was heißt das – in ganzen Provinzen brennt die Ernte? Bis vor kurzem wußte ich es nicht, da ich selber noch nie in mei nem Leben Hunger gelitten habe. Die meisten meiner jungen Kameraden, die da fliegen, wissen es auch nicht. Sie werden kommandiert – und sie gehorchen. Aber Sie, Collins, und Sie, Hunter, Sie wissen genau, worum es geht. Sie weisen den Weg, den das Verderben nehmen soll – und Sie freuen sich noch darüber…“ Weiter kam er nicht. Hunter war auf ihn zugesprungen und drehte ihm nun mit einem Griff beide Hände auf den Rücken. „Höhenkollaps?“ fragte er schneidend und trat ihm dabei mit dem schwerbenagelten Bergschuh vor das Schienbein. Gellner und Bartels sprangen zu Hilfe. „Zurück!“ rief in diesem Augenblick Collins. Er hatte plötz lich eine Pistole in der Hand und brachte sie auf die beiden Tiroler in Anschlag. „Wollt wohl meutern, was? O nein, bei mir nicht! Los, geht in euer Zelt und verlaßt es nicht ohne mei
nen Auftrag!“ Er winkte mit dem Revolver. Bartels und Gellner gehorchten schweigend. Sie hörten, wie später Collins zu dem Flieger sag te: „Kommen Sie mit, wir sprechen da drüben. Wir sind da ungestörter…“ Nach einer Weile ging Hunter, der indessen auch eine Pistole aus seinem Zelt geholt und dann vor dem Zelt der Bergführer gestanden hatte, um sie in Schach zu halten, mit Collins und dem Flieger fort. Wenig später kamen Collins und Hunter allein zurück. Schweigend setzten sie sich sofort an die Sendegeräte, ohne auch nur noch einen Blick nach dem Zelt der Bergführer zu werfen. Als diese schließlich unaufgefordert das Zelt verließen, um das Abendessen zu bereiten, wurden sie daran nicht gehindert. Während Berti Gellner, reichlich erregt, den Tee kochte und die Büchsen öffnete, legte Bartels die Gedecke zurecht. Spät am Abend war der Platz des Fliegers noch immer leer. Collins und Hunter, die während der ganzen Zeit die Pistolen griffbe reit, bei sich hatten – sie hatten sie auch offen auf den Schlaf säcken liegen, als sie sich zurückzogen – , meinten, Burnley werde wohl etwas später kommen. Er sei Greysteel entgegen gegangen… Berti Gellner schüttelte nur den Kopf. In eine feine Sache war man da hineingeraten, pfui Teufel! Na, besonders stolz wurde die Traudl wohl nicht auf ihn sein können – wenn er überhaupt heil aus dieser Geschichte herauskam. Es sah verdammt drek kig aus. Greysteel war der erste auf den Beinen. Noch war es draußen Nacht. Als sie das Zelt abbrachen, wich gerade der sanfte grünblaue Schein, der in der Schleppe der Nacht über den Bergen ausgebreitet gelegen hatte. Gestaltlose Dämmerung durchdrang das Firmament, kühl und stumm sahen die Bergkolosse der
millionenfach erduldeten und noch millionenfach zu erdulden den Geburt des neuen Tages zu, des Tages, der sie aus dem schützenden Schoß der Finsternis schälte. Unmerklich, doch stetig gab das immer stärker anschwellende Licht das Geheimnis der Felsungeheuer preis. Wehrlos und nackt boten sich die Giganten dem tastenden Auge. Aber noch war ein Schweben der Ungewißheit, eine Unsi cherheit der letzten Kontur, ein zögerndes Warten auf Ruf und Erweckung. Da traf der erste Sonnenblitz den Gipfel. Der Fels, eben grau, blau und fremd, erwärmte sich in köstlichem Gelb und Gold. Die Wolkenschiffe hinter ihm erglommen rot. Dann flimmerte und funkelte die Sonne vollends über das östliche Gebirge und goß ihre Feuerlohe über den ganzen Umkreis. Eilends liefen die Schatten an den Wänden zu Tal, die matte Dämmerung sank in den Abgrund hinunter, hinab über die schaurigen Kare und Schluchten, bis der Mount Everest über und über von Glut übergossen war. Murauer hatte in tiefer Ergriffenheit das Wunder der Tagwerdung belauscht. Er, dessen Herz für die Dauer seines Le bens an Schrunden und Felsen gekettet war, vergaß für Minut en alles andere, wie unheilvoll es auch sein mochte; Greysteel hingegen hatte für die prangende Natur kein Auge. Er überließ es auch Murauer, das Lager abzubrechen und das Gepäck marschfertig zu richten. Greysteel lag wiederum auf seinem Beobachtungsfelsen und hatte das Glas vor den Augen. Das Gewehr lag griffbereit neben ihm. „Sie werden vorausgehen“, sagte er zu Murauer. „Melden Sie im Lager, daß eine starke Expedition im Anmarsch ist. Ich blei be hier und komme nach.“ Irgend etwas an Greysteels Ton ließ Murauer stutzig werden. Er zögerte und blickte nachdenklich auf die Waffe neben dem Amerikaner. „Worauf warten Sie noch – Sie sollen sich beeilen!“ bellte
Greysteel unwillig von seinem Beobachtungsstand herüber, ohne das Glas von den Augen zu lassen. „Mister Collins ist sehr interessiert an dieser Nachricht. Je früher er sie hat, desto günstiger ist es für unser Unternehmen.“ „Ich weiß nicht“, zögerte Murauer, „aber es sieht verdammt danach aus, als ob Sie, Mister Greysteel, befürchten, in eine Schießerei verwickelt zu werden. Soll ich nicht lieber bleiben und helfen?“ Zum erstenmal seit langem schaute Greysteel Murauer voll ins Gesicht. Was meinte dieser Tiroler? Hatte er gemerkt, wor um es ging? Wollte er tatsächlich mitmachen? Was ging in diesem kantigen Gebirgsschädel vor? „Sie haben recht, Murauer, es geht aufs Ganze“, sagte er, ei ner plötzlichen Eingebung folgend. „Ich wußte, daß man sich auf Sie und Ihre Kameraden wird verlassen können. Daß unser Unternehmen nicht dazu ausgezogen ist, den Mount Everest zu besteigen, haben Sie ja schon bemerkt. Sie sind auch viel zu vernünftig, als daß Sie sich hinters Licht führen ließen. Ja, un sere Aufgabe hier oben ist morgen abgeschlossen. Eine Aufga be von großer militärischer und politischer Bedeutung. Wie Sie sehen, sind wir aber nicht mehr allein. Chinesen sind im An marsch! Feinde…“ Feinde? dachte Murauer. Meine Feinde sind sie nicht. Wieso auch…? Im Lager der Militärexpedition war Aufbruch. Jetzt betrat der erste der langen Reihe das schmale Band, welches die senkrechte Wand entlangführte, der zweite folgte, der dritte. Mindestens fünf Stunden lang würde die Kolonne jetzt auf dem schmalen Pfad marschieren, zur Rechten einen bodenlosen Abgrund, zur Linken nackten Fels. „Na und?“ fragte Murauer. „Die Chinesen kommen. Ver wunderlich ist das ja nicht, wir sind schließlich in China.“ „Wenn man unsere Expedition entdeckt, kommen wir lebend
hier nicht mehr heraus!“ stieß jetzt Greysteel hervor. Murauer pfiff durch die Zähne. „Soll das heißen, daß wir etwas getan haben, was den Chinesen so sehr schadet?“ Greysteel zuckte die Achseln. „Wir haben nur unsere Pflicht erfüllt.“ Und Murauer dachte: Meine Pflicht ist es bestimmt nicht, den Chinesen zu schaden… Die lange Kolonne, etwa vierzig Mann – der Rest des Aufgebotes dürfte in einem unteren Lager zurückgeblieben sein – , befand sich nun auf dem schmalen Band. Samuel Greysteel legte das Glas zur Seite und langte nach dem Gewehr. Keiner konnte entkommen. Zuerst den letzten, dann den vorletzten, dann den ersten und den zweiten. Dann immer vorne und hinten je einen weg. Da nützt kein Laufen, da gibt es keine Deckung. Die Soldaten marschierten wie vor ei ner Zielscheibe. „Worin bestand Ihre Pflicht, Mister Greysteel?“ Der Dummkopf konnte das Fragen nicht lassen! Jetzt, in die sem Augenblick! Dafür war doch später Zeit. Also los! Grey steel zog das Gewehr an die Wange. Der erste saß im Ziel. Kimme, Korn, darüber ein kleines, zappelndes Insekt. Druck punkt nehmen… „Halt!“ Murauer hatte den Lauf des Gewehres gepackt und zu Boden gedrückt. „Was soll das? Sie wollen doch nicht auf die se Menschen schießen?“ „Idiot!“ zischte Greysteel und wollte das Gewehr wieder hochreißen. Murauer war aufgesprungen. Mit einem Fußtritt schleuderte er das Gewehr zur Seite. „Wollen Sie einen Mord begehen?!“ Auch Greysteel war hochgeschnellt. Sekundenlang fixierte er Murauer, dann schnellte seine Faust vor. Aber Murauer hatte sich geduckt, der Schlag ging ins Leere. Jetzt ging es hart auf hart. Murauer packte seinen Gegner bei den Beinen und brach
te ihn zu Fall. Ein Fausthieb landete in seine Niere, noch einer. Murauer warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Liegenden und preßte ihm die Kehle zusammen. Greysteel röchelte. Gerade noch zur rechten Zeit ließ der Bergführer los. Greysteel wankte hoch, sackte aber sofort wieder zusammen. „Gehen Sie, um Gottes willen, gehen Sie!“ stöhnte er. Murauer nahm das Gewehr auf, entlud es und schulterte sein Gepäck. Auch Greysteel erhob sich. Er nahm seinen Rucksack auf und trottete wimmernd, von Zeit zu Zeit nach seinem Hals tastend, hinter Murauer drein. „Wissen Sie, was Sie getan haben? Sie haben sich selbst an den Galgen gebracht. Jetzt ist es aussichtslos, zu entkommen. Das Gletschertal hat nur den einen Ein- und Ausgang. Wir sind gefangen wie in einer Mausefalle! Genügt Ihnen das?“ Murauer antwortete nicht. In Gedanken versunken, schritt er des Weges. Ohne Rast, über Mittag bis gegen Abend. Bis das Lager Murmeltier in Sicht kam. Als Murauer für einen Augen blick aufschaute, sah er links neben sich einen großen roten Fleck. Es war Blut. Und dann sah er noch etwas: Burnley – still, steif, tot. Die Operation führte die taktische Bezeichnung „Rössel sprung“. Vor und zurück, scharfe Schläge austeilend, nie greifbar, im Rücken des Feindes, das war das Wesen der vom Oberkommando ausgearbeiteten Operation. Sie gelang nur unvollkommen. In der ersten Phase der Operation war vorgesehen, über den ganzen Süden Chinas ein Netz von Agenten auszuwerfen: geschulte Kriminelle, die für Geld zu jeder Untat bereit waren. Sie wurden mittels Flugzeugen abgesetzt. Doch schon inner halb weniger Stunden nach der Landung saß der größte Teil dieser Agenten hinter Schloß und Riegel. Die Bevölkerung selbst hatte sie unschädlich gemacht. Einern kleinen Teil nur gelang es, sich zu verbergen und die „Arbeit“ aufzunehmen.
Mit ihren geheimen Funkgeräten setzten sie sich mit der Station Murmeltier in Verbindung. Die Agenten hatten als Deckbezeichnung Insektennamen. Da gab es einen Falter, eine Bie ne, die Ameise, den Hirschkäfer, die Motte und noch weitere. Station Murmeltier, im ewigen Eis des Himalaja, am Fuße des Götterberges, hatte eine dreifache Aufgabe: die Verbindung mit den Insekten herzustellen und an die Zentrale weiterzulei ten; den Flugwetterbericht an den Fliegerhorst Baarlog durch zugeben und die Flugzeuge bei schlechter Sicht durch Funkpei lung zu leiten. Nachdem der erste Teil der Operation nur unzureichend klappte, riß die Serie der Mißerfolge nicht mehr ab. Die Ma schen des Netzes waren zerrissen. Was blieb, waren einzelne Fäden. Doch auch sie schnitten immer noch tief in das Fleisch des armen Landes, das nach den Verwüstungen vieler Kriegs jähre zum erstenmal einer Ernte in Frieden entgegensah, Und gerade diesen Frieden, diesen Frieden des Aufbaues, wollte und will man dem neuen China nicht gönnen… Als die Felder zu brennen begannen, war die Operation schon lange vorbei. Die Bomben, die die Brände entfachten, waren Wochen zuvor geworfen worden. Wohl war es gelungen, einen großen Teil von ihnen aufzufinden und unschädlich zu machen, dennoch war der Schaden nicht gering. Doch weitaus größeres Unheil wurde in letzter Minute vermieden. Der größte Einsatz der Operation „Rösselsprung“ sollte wäh rend der letzten zwei Tage geleistet werden. Hunderte Flug zeuge schnellsten Typs sollten pausenlos, vom Wink der „In sekten“ über die Station Murmeltier dirigiert, ihre verderben bringende Last über den Feldern abladen. Um diese letzten zwei Tage, um diesen letzten Einsatz ging es dem amerikani schen Oberkommando, als es pausenlos Funksprüche nach der Station Murmeltier sandte, mit dem strengen Befehl: Aushal ten!
Die Lage in Murmeltier war jedoch unhaltbar geworden. Als hätte der Berg erkannt, was in seinen Schrunden getrieben wurde, nahm er fürchterliche Rache. Als Murauer und Grey steel wenige Schritte vom Lager entfernt bei dam großen Blut fleck haltmachten, lachten ringsum noch alle Gipfel in unge trübter Klarheit. Da glitt lautlos graues Gewölk um das Haupt ihres höchsten, über Grat und Flanke zog sich die Decke, ver hüllte das steinerne Riesenhaupt und verhüllte auch bald die Menschen dort unten. Als Murauer und Greysteel bei den Zelten ankamen, mußten sie sich bereits flach auf den Boden legen, um vom Orkan nicht weggeweht zu werden. Furchtbar wie der Berg war sein Zorn. Faustgroße Steine, kopfgroße Blöcke wurden, von den Morä nen und Halden aufgewirbelt, wie feiner Staub vom Sturm da vongetragen. Gleich furchtbaren Geschossen prasselten sie nieder, alles zermalmend, was nicht hierhergehörte. Die drei Zelte von Murmeltier hielten noch stand. Der Steinregen war über sie hinweggezogen; nur einzelne kleinere Stei ne waren in der Nähe niedergegangen. Zu viert saßen sie sich in dem Hauptzelt gegenüber, als Mu rauer und Greysteel, auf dem Bauch kriechend, durch den Ein gang kamen: Collins und Hunter, jeder mit einer Pistole in der Hand, und ihnen gegenüber die beiden Bergführer. Murauer richtete sich auf. Er mußte die Hände als Schalltrichter vor den Mund legen, um sich verständlich machen zu können. „Da draußen“, brüllte er, „da draußen liegt ein Toter!“ Collins und Hunter sahen kaum auf. „Burnley!“ brüllte Berti Gellner dem Bartels zu. Beide erho ben sich und schlüpften aus dem Zelt. Greysteel berichtete in knappen Worten von seinem Mißer folg. Acht Stunden nach dem Nachlassen des Sturmes können nun die Chinesen hier sein! Collins brüllte etwas, das niemand ver-
stand. Auch Hunter brüllte und Greysteel desgleichen. Alle drei brüllten, ohne einander zu verstehen. Sekundenlang ließ der Sturm nach. Collins benützte die Pau se. „Wir müssen weg!“ „Wann?“ „Sofort! Nur in einem solchen Wetter ist es möglich, am La ger der Chinesen vorbeizukommen, ohne daß wir entdeckt wer den!“ Da setzte der Orkan wieder ein. Alles, was Collins noch zu brüllen versuchte, ging unter im tosenden Geheul. Der untere Teil des Zelteinganges wurde gehoben. Ein merkwürdig steifer Körper schob sich herein. Das Gesicht wächsern, starr, die Augen offen, wirr und verklebt das Haar. Gellner hat te den Toten ins Zelt gebracht. Murauer und Bartels folgten. Sie betteten den Toten in die Mitte des Zeltes. Bartels drehte die Leiche um. Am Hinterkopf klaffte ein faustgroßes, blutver krustetes Loch. Das war der Fliegerleutnant Burnley, der es gewagt hatte, sich gegen ein niederträchtiges Verbrechen aufzulehnen. Gellner machte zu Collins eine Geste, daß er, Collins, Burnley ermordet habe. Collins zuckte mit den Achseln. Währenddes sen schwoll das Brüllen des Orkans zu einem unüberbietbaren Furioso an. Doch dann wurde es mit einem Schlag still. „Sie sind ein Mörder, Collins!“ war das erste, was Gellner in diese Stille hineinsagte. „Bedenken Sie – der Steinhagel. Es kann ebensogut ein Un fall gewesen sein“, versuchte Hunter einzulenken. „Wir fanden ihn vor dem Sturm tot auf“, sagte Murauer. Es klang eisig wie der Sturm um das Haupt des Götterberges. „Wozu habt ihr die Leiche ins Zelt gebracht? Wollt ihr neben ihr schlafen?“ fragte Hunter mit verkrampftem Grinsen. „Laßt uns vernünftig reden“, sagte Collins. „Sobald der Sturm
aufhört, haben wir die Chinesen am Hals. Es wird euch schwerfallen, euch von uns zu distanzieren. Die Unterschiede sind auch nicht allzu groß. Wenn wir hängen, hängt ihr mit. Es gibt nur einen Ausweg: gemeinsame Flucht! Alles, was bisher war, wollen wir nachher bereinigen, bis wir aus der Falle geschlüpft sind.“ „Burnley hatte recht“, sagte Bartels plötzlich. „Gangster seid ihr! Ganz gemeine Gangster und Mörder!“ „Kommt, wir wollen die Herrschaften unter sich lassen“, sag te Berti Gellner und kroch als erster aus dem Zelt. Murauer, der die ganze Zeit über das Gewehr schußbereit im Anschlag gehalten hatte und solcherart Collins und Hunter hinderte, mit ihren Pistolen zu argumentieren, kroch als letzter hinaus. Der Sturm war wieder stärker geworden. Auf allen vieren krie chend, erreichten Gellner und Bartels ihr Zelt. Doch Murauer fehlte. Was war mit ihm? Noch einmal zu rück? Waren die Amerikaner über ihn hergefallen? Als Gellner den Versuch machte, das Zelt zu verlassen, warf sich der Sturm ihm mit solcher Wucht entgegen, daß es ihm den Atem nahm. Jetzt hinauszuschlüpfen, war unmöglich. Man mußte warten, bis der Sturm nachließ. Doch er ließ nicht nach. Er wurde nur noch ärger. „Einen Tag müssen wir noch ausharren“, kritzelte Hunter auf einen Zettel und setzte hinzu: „Der nächste Tag mit Flugwet ter ist der letzte Einsatztag der ,Operation Rösselsprung’. Der letzte Tag ist der wichtigste. Deshalb müssen wir noch blei ben.“ Collins antwortete, ebenfalls auf einem Zettel – Worte wären im Sturmeswüten ertrunken –: „Nein, ich will mich nicht hän gen lassen!“ Hunter: „Geben Sie den Befehl zum Rückzug?“ Collins: „Ja.“
„Was geschieht mit den Tirolern?“ Collins malte ein Kreuz. Dazu schrieb er: „Können wir nicht mitnehmen. Wissen zuviel. Dürfen auch nicht den Chinesen in die Hände fallen.“ Hunter zerknüllte den Zettel, warf ihn hinter sich und nahm einen neuen. Er fragte: „Wie?“ Collins malte: „Erschießen, wenn sie schlafen.“ „Sie werden Wachen einteilen.“ „Wache muß beseitigt werden!“ Hunter warf den Zettel weg und nahm abermals einen neuen. „Genaue Anweisung?“ „Um drei Uhr früh zu dritt das Zelt umstellen. Schießen, bis sich nichts mehr regt. Anschließend Lager abbrechen. Alles, was nicht mitgenommen wird, vor allem die Geräte, in Glet scherspalten versenken. Anseilen. Am chinesischen Lager vor bei durch die Enge.“ Hunter malte darunter ein großes O. K. ebenso Greysteel. Vor dem Zelt, eng an die Erde gedrückt, lag Murauer, Es hatte ihm keine Ruhe gelassen, er war nochmals umgekehrt. Durch einen millimeterbreiten Spalt beobachtete er, was im Zelt geschah. Lesen, was auf die Zettel geschrieben wurde, konnte er nicht. Da warf Hunter den ersten Zettel weg. Der Papierknäuel rollte bis dicht zum Eingangsspalt, doch immer noch außer Greifweite des Bergführers. Irgendeine besondere Teufelei wurde da ausgebrütet, das konnte der Tiroler aus den Mienen lesen. Aber was? Den Zettel mußte er haben! Hunter warf eben den zweiten weg, er rollte dicht neben den ersten. Wie zu den Papierkugeln kommen? Murauers Hand tastete suchend den Boden rundum ab. Mit einem langen, dünnen Span die Papierkugeln so weit heranrol len, daß er sie mit der Hand erreichen kann – es muß versucht werden! Die schriftliche Unterhaltung war zu Ende. Der letzte Zettel
flog im Bogen zu seinen beiden Vorgängern. Ein Windstoß kam Murauer zu Hilfe. Er blähte das Zelt, hob es in der Mitte, so dass der Boden sekundenlang zum Rand abfiel. Die Zettel waren in greifbare Nähe gerutscht. Ein rascher Griff – und Mu rauer hatte sie! Lesen in der Finsternis war unmöglich. Der Bergführer kroch zu seinem Zelt. Auf halbem Wege kamen ihm die Kameraden entgegen. Und dann saßen sie beisammen und lasen beim flackernden Schein des Karbidlichts ihr Todesurteil. Mit unverminderter Heftigkeit orgelte der entfesselte Orkan und machte jedes gesprochene Wort schon von den Lippen weg unhörbar. Jeder blickte auf seine Uhr. Es war kurz nach zwei Uhr früh. Um drei Uhr wollten die Amerikaner kommen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Gellner suchte nach einem Bleistift. „Zu den Chinesen!“ schrieb er auf einen Zettel. Die beiden anderen nickten. In aller Eile wurde das Notwendigste gepackt. Das Zelt konn ten sie wegen des Sturmes nicht abbrechen. Die Finsternis war ihr Bundesgenosse. Sie löschten das Karbidlicht und schlüpften einer nach dem anderen hinaus. Der Orkan fiel mit seiner vol len Stärke über sie her. Erst versuchten sie, um schneller vor wärts zu kommen, gebückt zu marschieren, aber schon nach wenigen Metern ließ sich einer nach dem anderen flach auf dem geröllbedeckten Boden nieder. Weiter, weiter! Doch es war ein Kriechen, Zentimeter um Zentimeter. Wenn sie sich umwandten, sahen sie den Schein der Lampe aus dem Zelt Col lins’. Vierzig oder fünfzig Meter weit waren sie gekommen, da überschüttete sie der Sturm mit einer Ladung feiner, eisiger Kristalle. Es begann zu schneien. Binnen weniger Minuten war fußhoch eine weiße Decke über den Boden gebreitet. Würde man ihre Spuren sehen? Sie hatten sich angeseilt; vor
an kroch Gellner. Da plötzlich zuckte es auf. Unmittelbar vor ihnen - fünf-, sechsmal, dann neuerlich. Ein Blick auf die Uhr. Es war genau drei. Die Banditen schossen in das leere Zelt. Die drei Tiroler waren im Kreis gekrochen, sie waren wieder zum Lager zurückgekommen. Jetzt flammte drüben, wenige Meter vor ihnen, eine Taschenlampe auf. Noch ein paar Schüsse peitschten. Ihr Knall klang nicht lauter als leises Händeklat schen. Die Flüchtlinge preßten sich eng an den Boden. Der Schnee legte sich über sie und deckte sie zu. Was war drüben los? Hatten die Banditen schon entdeckt, daß das Zelt leer war? Würden sie aufbrechen oder erst nach ihnen suchen? In zwei Stunden brach der Morgen an – bis dahin mußten die Aus reißer außer Sicht sein. Auf dem Gletscher, auf dem man kilometerweit sehen konnte, war der Fluchtweg verschlossen. Man hätte sie abgeschossen wie die Hasen – wie weit könnten sie schon kommen in zwei Stunden? Blieb als einziger Ausweg nur: hinauf in die Wand! Mehr durch Ahnen als durch Hören und Fühlen verständigten sich die Bergführer. Als der Tag an brach, hatten sie einige hundert Meter erstiegen und in einer Felsspalte Zuflucht gefunden. Der Sturm hatte seine anfängliche Heftigkeit verloren. Dafür brachte er jetzt Wolken von Schnee. Die Felsspalte, in der die drei Bergführer Zuflucht gefunden hatten, war von einem me terdicken Schneewall verweht. Von Zeit zu Zeit stießen sie mit den Armen ein Loch durch die weiße Wand. Es war die einzige Verbindung zur Außenwelt, durch die sie Luft zum Atmen bekamen und sahen, daß die Nacht dem Tag gewichen war. In der Felsennische unter der Schneedecke war es warm, und. der Sturm konnte den dreien nichts anhaben, „Wie schaut es mit dem Proviant aus?“ Bartels stellte die Fra ge, die jeder Von ihnen von Anfang an, als es klargeworden war, daß sie hier längere Zeit festsitzen würden, für sich schon
gestellt hatte. Wie lange es noch dauern würde, daß sie hierbleiben mußten, hing vom Sturm ab: wie lange er noch wüten würde. Er konnte in einer Stunde vorbei sein, konnte aber auch Wochen dau ern… „Ja, wie schaut es mit dem Proviant, aus?“ Eine Überprüfung des Inhalts der Rucksäcke, die sie in aller Eile und nur mit dem Notwendigsten gepackt hatten, ergab, daß ein paar Konservendosen und eine Tafel Schokolade alles waren, was ihnen an Nahrungsmitteln zur Verfügung stand. Berti Gellner überlegte: „Zwei Möglichkeiten gibt es: entweder sofort hier heraus und durch den Sturm das Lager der Chinesen zu erreichen suchen oder noch ein, zwei Tage warten, bis das Wetter sich vielleicht beruhigt.“ „Wissen wir denn so sicher, ob die Chinesen noch da sind?“ fragte Murauer. „Was ist, wenn ihr Lager von dem Steinsturm gestern abend heimgesucht wurde? Dann ist von ihnen kein Mann mehr am Leben. Oder, wenn das Lager von einer Lawine verschüttet wurde – sofern die Expedition es nicht überhaupt vorgezogen hat, umzukehren.“ „Ob sie da sind oder nicht, wird sich zeigen“, meinte Gellner. „Auf jeden Fall ist es die einzige Möglichkeit, die überhaupt Aussicht für unsere Rettung bietet.“ Bartels brachte einen neuen Gesichtspunkt in die Debatte: „Was wird mit den Amerikanern sein? Es ist wenig wahr scheinlich, daß sie bei diesem Wetter wirklich fort sind. Sicher lich sind sie noch immer im alten Lager und warten so wie wir auf eine Besserung des Wetters. Sie können das um so eher, als sie noch das ganze Proviantlager haben. Wenn wir warten, bis das Wetter sich bessert, werden wir ihnen geradewegs in die Arme laufen.“ Lange berieten die drei. Schließlich wurde beschlossen, den
nächsten Tag abzuwarten. Länger zu bleiben, hatte keinen Zweck, da jeder weitere Tag des Wartens nur an den Kräften zehren würde. Durch das Schneeloch, das die Eingeschlossenen mit der Au ßenwelt verband, pfiff ein eisiger Luftstrom. Langsam wurde es dunkel vor der faustgroßen Öffnung. Die Nacht war hereingebrochen. Was würde der nächste Tag bringen? Die Amerikaner hatten nicht gewartet. Sie wußten, woran sie waren. Sie hatten lediglich die Wahl, den chinesischen Behörden in die Hände zu fallen oder den Kampf mit den Naturgewalten aufzunehmen. Sie wußten, was ihnen bevorstand, wenn sie vor ein Gericht gestellt würden; sie hatten schwere Verbrechen begangen – sie würden als Schwerverbrecher be handelt werden. Also zogen sie es vor, unter allen Umständen zu versuchen, sich durch Schnee und Sturm unbemerkt am La ger der chinesischen Expedition vorbeizustehlen und den Rückweg nach Indien zu gewinnen. Vielleicht, wenn das Wet ter sich besserte, würden die Ihren sie auch mit Flugzeugen suchen und unterstützen. Nach dem Überfall auf das Zelt der Tiroler – Collins allein hatte dabei drei Magazine abgefeuert – begaben sie sich in ihr Zelt und packten. Nachzusehen, ob von den Tirolern noch einer am Leben war, hielten sie für überflüssig. Auch daran, die Spuren ihres Verbrechens zu beseitigen, dachten sie nicht. Binnen weniger Minuten würde das Zelt vom Schnee zugedeckt sein: es würde mehr als ein Jahr vergehen, ehe im kommenden Frühling, nach der Schneeschmelze, die Spuren ihres Verbrechens wieder sichtbar werden könnten – doch bis dahin würde noch so man ches geschehen: Sturm, Steinschlag und Lawinen würden das ihre tun und gründlich aufräumen… „Es ist Wahnsinn, was wir da unternehmen!“ stöhnte Grey steel, als sie packten.
„Aber es muß sein. Oder willst du den Gelben in die Hände fallen, Idiot?“ Collins war wie ausgewechselt. Sein Ton und Benehmen war das eines Gangsterchefs geworden, und seine Gefährten standen ihm in nichts nach. „In acht Stunden können wir den Rand des Gletschers er reicht haben“, stellte Hunter fest. „Vor den Chinesen brauchen wir bei diesem Wetter keine Angst zu haben. Wir könnten ru hig durch ihr Lager marschieren, ohne daß uns jemand bemer ken würde.“ „Das Hauptproblem bleibt der schwierige Abstieg durch die Wand. Der Steig durch die Felswand ist schon bei schönem Wetter kein Vergnügen – jetzt wird er einfach unpassierbar sein“, sagte Greysteel. Collins fuhr auf. „Schätze, daß es klüger wäre, endlich das Maul zu halten! Es kommt darauf an, rasch zu handeln!“ Nachdem sie sämtliche Funkgeräte samt Zelten und Ausrü stung, die sie nicht mehr brauchten, in eine Spalte des Eises versenkt hatten, brachen sie auf. Es war ein schier aussichtslo ses Unterfangen. So wie die drei Tiroler, mußten auch sie sich bald flach auf den Boden niederlassen und konnten sich nur kriechend fortbewegen. Der Schnee lähmte jeden ihrer Schritte. Collins kroch als erster, dann folgte Hunter und zuletzt Greysteel. Schon nach einer Stunde waren alle drei vollkommen er schöpft. Collins hetzte weiter. An eine Verständigung war nicht zu denken. Als der Tag anbrach, ließ Greysteel sich hilflos in den Schnee fallen. „Ich kann nicht mehr!“ Collins zog statt aller Antwort die Pistole. „Lebend lassen wir dich nicht zurück!“ brüllte er dem Erschöpften ins Ohr. Das brachte Greysteel wieder auf die Beine. Es wurde Tag und wieder Nacht. Ohne Rast arbeiteten sich die drei weiter, unter
Aufbietung aller Kräfte, mit der Anstrengung der Verzweif lung. Am Morgen des folgenden Tages erreichten sie, nachdem sie eine zweistündige Pause in einem Schneeloch eingeschaltet hatten, den Ausgang des Rongbukgletschers. Vom Lager der chinesischen Expedition hatten sie nichts bemerkt. Vor ihnen lag die Passage der Felswand. Der Sturm tobte mit unverminderter Heftigkeit. Alle drei waren entkräftet, und apathisch. Collins bestieg als erster das schmale Felsband, am Seil die beiden anderen mehr schleppend als führend. Auf allen vieren kriechend, verloren sich ihre Schatten im immer dichter wer denden Gestöber des Schnees. Ihre Spuren verwehte der Wind. Bartels hatte zu fiebern begonnen. An einen Aufbruch mit dem Kranken war nicht zu denken. Der ganze Tag war verstri chen, die Nacht und der folgende Tag, die Konservendosen waren leer, die letzten Krümel des Hartbrots längst verzehrt. Die Rippe Schokolade, die Murauer besaß, wollten sie als letz te Reserve aufheben. Am dritten Tag legte sich der Sturm. Murauer und Gellner arbeiteten sich aus der Felsnische durch die inzwischen mehre re Meter hoch angewachsene Schneeschicht. Dann holten sie Bartels nach. Er konnte keinen Schritt gehen. Abwechselnd schleppten sie ihn auf den Schultern. Traudl! dachte Berti Gellner. Ob wir jemals… „Jetzt die Skier da haben!“ stöhnte Murauer. Aber sie hatten keine Skier, und jeder Schritt bedeutete schwerste Arbeit. Vollkommen entkräftet, brachen Gellner und Murauer nach mehreren Stunden zusammen. Bartels war schon lange nicht mehr bei Besinnung. Er sprach im Fieber. Ein Weiterkommen war ausgeschlossen. Der Himmel hatte sich wie zum Hohn mit strahlendstem Blau überzogen, die Gipfel ringsum strahlten in millionenfachem Glitzern. Sogar die nackten Felsen des Mount Everest hatten Weiß angelegt. Doch die drei waren nicht mehr
imstande, das herrliche Bild wahrzunehmen. Wo sie gerade
waren, hatten sie sich hingeworfen. Gellner war neben Murauer
gekrochen.
Bartels hatten sie in ihre Mitte genommen.
„Es geht zu Ende“, sagte Berti Gellner mit brüchiger Stimme. Deutlich stand das Bild seines Mädels daheim in Tirol vor sei nen Augen. Aus, aus… „Yes, Mister, das ist der Großvenediger“, delirierte Bartels. „Er ist zu Hause!“ Murauer legte seine Hand auf die Stirn des Fiebernden. „Bald werden wir alle dort sein…“ Das war das letzte, was Gellner hörte. Als er zu Murauer hinübersah, stellte er fest, daß auch er das Bewußtsein verloren hatte. Zwei Stunden, dachte er, und schloß die Augen; so lange dauert es, bis der Mensch erfriert. Erst wird man müde, bleiern müde und empfindungslos. Dann baut das Hirn seine Arbeit ab und langsam, unmerklich ein Körperteil nach dem anderen. Wie viele Menschen hatte ei in seinem Leben gesehen, die er froren waren. Zwei Stunden… Das war das letzte, was Berti Gellner dachte. Leutnant Kuo Mo hatte den dunklen Fleck als erster gesehen. Durch das Glas erkannte er drei regungslos zusammengebrochene Gestalten zum Greifen nahe. Trotzdem dauerte es eine Weile, ehe er und seine Leute sich bis zu dem drei Unbe kannten herangearbeitet hatten. Auf Bahren wurden die Tiroler ins Lager der Chinesen gebracht. Es dauerte Tage, ehe der erste von ihnen – es war Bartels, der seine Krankheit überstanden hatte – reif zur Vernehmung war. Tage dauerte es dann auch, ehe es den drei Tirolern gelungen war, ihre Retter davon zu überzeugen, daß sie unschuldig waren an dem unheilvollen Treiben der Amerikaner, daß sie sich dagegen sogar zur Wehr gesetzt hatten. Doch dann war alles klar: eine Gruppe Soldaten hatte den Lagerplatz der
Station Murmeltier entdeckt, das zerschossene Zelt, der Tiroler und die Leiche des Leutnants Burnley. Damit waren die Aussagen der drei Freunde vollinhaltlich bestätigt. Sie fanden gastfreundliche Aufnahme im Lager der Chinesen und wurden gepflegt und gehegt wie hohe Gäste. Als sie so weit wiederhergestellt waren, daß sie den Rückmarsch mit antreten konnten, stiegen sie an einem schönen Tag mit Leutnant Kuo Mo hinauf zum Grat, über den der Weg zum Mount Everest führt. Strahlend ia seiner majestätischen Wucht lag der Gigant vor ihnen. „Ob sie uns das alles glauben werden, wenn wir zu Hause un sere Erlebnisse erzählen?“ fragte Murauer. Gellner zuckte mit den Schultern, und Bartels meinte: „Ich werde gar nicht viel erzählen. Schließlich – einbilden dürfen wir uns darauf gar nichts! Wir haben uns von Anfang an wie dumme Jungen benommen. Warum ist uns das alles nicht vorher aufgefallen? Oder wollten wir von nichts etwas wissen, weil uns Collins 15 Dollar Tagesgage und zweitausend als Prämie versprochen hat?“ „Wir werden nicht nur erzählen, wir müssen es!“ sagte schließlich Berti Gellner. „Alle sollen die Wahrheit hören, um sich ein Urteil bilden zu können. Und es soll mir ja keiner sa gen, daß das nur die Politiker was angeht; das, was Leute wie Collins hier getrieben haben, ist – da mag man politisch eingestellt sein, wie man will – ein niederträchtiges Verbrechen an Millionen Menschen. Und so etwas gehört angeprangert!“ „Und der Mount Everest?“ „Vielleicht kommen wir wieder einmal hierher. Aber er wird fallen. Vielleicht sind seine Bezwinger ihm näher, als wir glauben…“ Er schaute zu Leutnant Kuo Mo hinüber, der ihn frohen Au ges betrachtete. Und Berti Gellner fühlte, wie ihm warm wurde unter diesem Blick.