RAMÓN DEL VALLE-INCLAN
SOMMERSONATE
AUS DEN ERINNERUNGEN DES MARQUIS VON BRADOMIN
Mit 10 Illustrationen von Regina d...
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RAMÓN DEL VALLE-INCLAN
SOMMERSONATE
AUS DEN ERINNERUNGEN DES MARQUIS VON BRADOMIN
Mit 10 Illustrationen von Regina de Vries
VERLAG DIE WAAGE ZÜRICH
AUS
DEM
SPANISCHEN INS DE UTSCHE ÜBERSETZT VON GERDA VON USLAR
COPYRIGHT © 1958 BY VE RLAG DIE WAAGE Z ÜR I CH TYPOGR APHIE KURT HAURI DR UCK CON2ETT & H UBE R, Z ÜRIC H S CAN BY P ÁR DUC
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200 2
SOMMERSONATE
I Ich wollte eine unglückliche Liebe vergessen und faßte darum den Plan, die Welt in romantischer Pilgerfahrt zu durchstreifen. Noch heute läßt der Gedanke an jene Reise mein Herz höher schlagen! Die Frau, die mir damals zum Erlebnis wurde, bedeutet in der Geschichte meines Lebens eine ebenso galante, grausame und ruhmreiche Erinnerung, wie in der Geschichte der Völker die griechische Thais und die französische Ninon, jene beiden großen Kurtisanen, die wohl schön waren, doch noch immer nicht so schön wie ihr Schicksal. Vielleicht das einzige Geschick, das unseren Neid verdient! Wäre ich als Frau geboren, so wäre mir vermutlich ein gleiches, wenn nicht ein größeres beschieden gewesen: dann hätte ich erreicht, was ich so nie erreichen werde. Denn die Frauen brauchen, um glücklich zu sein, nur alle Skrupel und Vorurteile über Bord zu werfen, und jene nie geborene Marquise von Bradomin hätte dies sicherlich getan. Mit Gottes Hilfe hätte ich es genau so gemacht wie die hübschen Marquisen von heute, die jeden Freitag zur Beichte gehen, nachdem sie die ganze Woche lang Tag für Tag gesündigt haben. Einige haben allerdings Buße getan, solange sie noch schön und verführerisch waren, und haben dabei ganz vergessen, daß es noch immer Zeit ist, sich in Zerknirschung zu üben, wenn man das Alter nahen fühlt. In jenen Tagen, da ich meine gefühlvolle Reise antrat, war ich noch jung, fühlte mich ein wenig als Dichter und hatte nicht viel Erfahrung im Kopfe, dafür aber einen unbezähmbaren Drang, immer Neues zu erleben. Ich glaubte vertrauensvoll an viele Dinge, die ich heute in Zweifel
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ziehe, und konnte es, frei von aller Skepsis, wie ich war, nicht erwarten, mein Leben in vollen Zügen zu genießen. Wenn ich es auch nicht eingestand, ja vielleicht nicht einmal wußte, so war ich glücklich, mit jener unbeschreiblichen Glückseligkeit, die einem Mann das Bewußtsein, alle Frauen lieben zu können, verleiht. Ich war nie ein Don Juan, aber ich habe doch eine leidenschaftliche, liebereiche Jugend gehabt; immer jedoch war dabei meine Liebe jünglingsfrisch und ursprünglich, von einer ausgeglichenen, zukunftsfreudigen Leidenschaftlichkeit, so daß es mir erspart blieb, jene kränkelnden Verfallsempfindungen der heutigen Generation mitzumachen. Noch heute, nach all den vielen sündenreichen Jahren, erlebe ich triumphale Morgenstunden und kann nur lächeln bei dem Gedanken, daß es auch für mich eine Zeit gab, in der ich mein Herz für tot beweinte und glaubte, es sei an Eifersucht, Wut und verzweifelter Liebe zugrunde gegangen. Bei aller Entschlossenheit, fremde Länder zu durchstreifen, wußte ich doch anfangs nicht recht, wohin ich meine Schritte lenken sollte. Dann folgte ich einer romantischen Eingebung und entschied mich für Mexiko. Wie der Widerhall eines homerischen Gesangs stieg in meiner Seele die Abenteurertradition meines Geschlechtes empor. Einer meiner Vorfahren, Gonzalo de Sandoval, hatte einst in jenen Ländern das Königreich Neugalicien gegründet, ein anderer war dort Generalinquisitor gewesen, und noch mein Großvater, der Marquis von Bradomin, hatte die Reste eines mexikanischen Familiengutes gerettet, das durch die Aktenbündel eines Prozesses zerfetzt worden war. Ohne noch lange zu überlegen, entschloß ich mich, den Ozean zu überqueren. Ich fühlte mich 8
angelockt von der geheimnisvollen Geschichte Mexikos mit seinen alten Dynastien und seinen grausamen Göttern. In London, wo ich seit dem Karlistenverrat von Vergara in freiwilliger Verbannung lebte, schiffte ich mich auf der Segelfregatte «La Dalila» ein, der gleichen, die später an den Küsten Yucatans unterging. Wie ein Abenteurer früherer Zeiten wollte ich mich in der Weite des alten Aztekenreiches verlieren, jenes Reiches, dessen Geschichte nie ganz erforscht werden wird, da sie für immer mit den Mumien seiner Könige begraben wurde. Da ruhen sie unter zyklopischen Bruchstücken alter Baudenkmäler, die uns von Kulturen, Religionen und Rassen sprechen, die einst waren und ihresgleichen nur im fernen, geheimnisvollen Orient haben.
II
Obgleich wir während der ganzen Überfahrt gutes Wetter hatten, kam ich doch kaum aus meiner Kajüte hervor und sprach mit keinem Menschen, da die Liebeskrankheit noch immer in mir wühlte. Zwar reiste ich, um zu vergessen; aber ich empfand meinen Kummer als so romantisch, daß ich mich doch nicht entschließen konnte, ihn ganz dem Vergessen anheimzugeben. Bestärkt wurde ich in dieser Haltung noch durch die Tatsache, daß ich mich auf einem englischen Schiff befand und die Schar der Mitreisenden sich nur aus Ketzern und Krämern zusammensetzte. Falsche Augen und safrangelbe Barte! Die angelsächsische Rasse ist für mich die verächtlichste der Welt. Wenn ich ihre grotesken, kindlichen Faustkämpfe
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an Bord der Fregatte mit ansah, überkam mich eine neue Nuance der Scham: die zoologische Scham. Wie anders war meine erste Seereise an Bord eines genuesischen Schiffes gewesen, das Reisende aus allen Teilen der Welt mit sich führte! Ich erinnere mich, daß ich bereits am dritten Tage mit einem neapolitanischen Prinzen Brüderschaft geschlossen hatte und daß es auf dem ganzen Schiff kein seekrankes junges Mädchen gab, dessen bleicher Stirn mit dem verwirrten Gelock meine Hand nicht als Stütze gedient hätte. Wieviel Vergnügen fand ich daran, mich in den Kreis der Männer zu mischen, die sich im Schatten der großen Sonnensegel zusammenfanden, hier mit den griechischen Kaufleuten mit rotem Fez und dünnem schwarzem Schnurrbart italienisch zu radebrechen, dort meine Zigarre an der Pfeife der armenischen Missionare anzuzünden! Da gab es Leute aller Art: Gauner, die aussahen wie Diplomaten, Sängerinnen mit ringbedeckten Fingern, weibische Priester, die einen sanften Moschusgeruch um sich verbreiteten, amerikanische Generäle, spanische Toreros, russische Juden und englische Lords. Es war eine exotische, bunt zusammengewürfelte Gesellschaft, die einen mit ihrem Kauderwelsch schwindeln machen konnte! Unser Schiff durchkreuzte die Wogen der östlichen Meere mit Kurs auf Jaffa, und ich reiste als Pilger ins Heilige Land. Oft hat der erwachende Morgen in den tropischen Wäldern, wo die heulenden Meerkatzen und die grünen Schwärme der Papageien die Sonne begrüßen, mich an die drei Decks jenes genuesischen Schiffes mit seinem unentwirrbaren Durcheinander von Menschentypen, Trachten und Sprachen erinnert, jedoch öfter, viel öfter noch mußte ich daran denken in den träge und träumerisch 10
hingebrachten Stunden, die mein Leben an Bord der «Dalila» ausmachten. Überall, wo ich auch hinblickte, rote, sommersprossige Gesichter, flachsblonde Haare und falsche Augen. Ketzer und Krämer auf der Kommandobrücke, Ketzer und Krämer im Speisesaal. Es war zum Verzweifeln! Aber ich trug es mit Geduld. Mein Herz war tot, so tot, daß nicht die Posaunen des Jüngsten Gerichts, ja nicht einmal ein paar Kastagnetten es hätten auferwecken können. Seit dieser Kummer über mich gekommen war, schien ich ein anderer Mensch: Ich kleidete mich in Schwarz, und in Gegenwart von Frauen, mochten ihre Augen auch noch so wenig hübsch sein, nahm ich die düstere Haltung eines Dichters an, der nur schmerzliche Totengesänge anzustimmen weiss. In der Einsamkeit meiner Kajüte stärkte ich meinen Geist mit langen Betrachtungen und machte mir klar, wie wenig Menschen im Alter von zwanzig Jahren das Glück haben, eine Untreue beweinen zu können, die auch der göttliche Petrarca besungen hätte. Um jenes lutherische Pack nicht sehen zu müssen, erschien ich kaum an Deck. Nur wenn die Sonne sich neigte, ließ ich mich am Heck nieder und verbrachte hier, wo kein Zudringlicher mich belästigte, meine Stunden damit, ins Kielwasser der Fregatte zu starren. Das Karibische Meer mit seinem wogenden smaragdgrünen Schoß, in den der Blick versank, zog mich mit unwiderstehlichem Zauber an wie die verräterischen grünen Augen jener Feen, die auf dem Grunde der Gewässer in Kristallpalästen wohnen. Immer dachte ich an meine erste Reise. Dort, weit hinten in der blauen Ferne, wo die glücklichen Stunden verschwimmen, gewahrte ich so etwas wie die nebelhaften Umrisse jener verflossenen 11
Freuden. Das vielstimmige Klagelied der Wogen erweckte in mir eine Welt der Erinnerungen: verschwimmende Gesichter, Widerhall fröhlichen Lachens, Gemurmel fremder Zungen, Händeklatschen und Fächerwinken, und zwischen all das hinein die lustig jodelnden Klänge der Volkslieder, die Lilly in der Offiziersmesse zu singen pflegte. Es war eine Auferstehung abgestorbener Gefühle, ein verblaßtes und doch so köstliches Bild der Vergangenheit, etwas Ätherisches, Schimmerndes, mit Goldstaub Bedecktes, so wie jene Heraufbeschwörung früherer Tage, die wir zuweilen in Träumen erleben.
III Der erste Hafen, den wir in Mexiko anliefen, war San Juan de Tuxtlan. Ich erinnere mich, daß es mitten am Vormittag war, als wir unter einer glühenden Sonne, die die Planken ausdörrte und den Teer schmelzen ließ, in dem Wasser, das wie poliertes Silber glänzte, Anker warfen. Indianische Ruderer, grünlich schimmernd wie antike Bronzefiguren, bestürmten von allen Seiten unser Schiff und holten aus dem Grund ihrer Boote exotische Waren hervor: geschnitzte Kokosnußschalen, Palmblattfächer und Schildpattstöcke, die sie demütig lächelnd wie Bettler den über die Reling gelehnten Passagieren hinhielten. Als ich meine Augen zu den Felsen am Ufer hinüberschweifen ließ, die ihr sonnenverbranntes Haupt aus den Wellen emporreckten, gewahrte ich Gruppen von nackten Knaben, die sich von dort ins Wasser hinabstürzten und weite Strecken hinausschwammen, wobei sie sich rufend und schreiend unterhielten. Einige von 12
ihnen saßen auf den Felsen, um aus2uruhen, andere kletterten noch höher hinauf, um ihre schlanken nackten Körper, die mich anmuteten wie Figuren von einem Fries des Parthenons, in der schräg auf sie herabbrennenden Sonne trocknen zu lassen. Um dem Mißbehagen, das mir das Leben an Bord verursachte, zu entfliehen, beschloß ich an Land zu gehen. Niemals werde ich die drei Stunden der Überfahrt von der Fregatte zum Strand vergessen! Ganz benommen von der Hitze liege ich die ganze Zeit über ausgestreckt im Boot, während der Besitzer, ein afrikanischer Neger, die Ruder mit einer verzweiflungsvollen Langsamkeit bewegt. Durch die halbgeschlossenen Lider sehe ich über mir die kohlschwarze Gestalt, die sich im ewig gleichen Takt der Ruder aufrichtet und vorbeugt. Zuweilen lächeln mir die riesigen Wulstlippen zu, dann flöten sie wieder eine jener religiösen Weisen, die so einschläfernd wirken. Es ist eine Musik, die sich nur aus drei klagenden Tönen zusammensetzt, die gleiche, mit der die Zauberer mancher wilder Volksstämme die Schlangen beschwören. Genau wie die Überfahrt muß jene Reise in die Unterwelt gewesen sein, die die abgestorbenen Seelen der Antike im Nachen Charons anzutreten hatten: eine brennende Sonne, weißlich schimmernde kalkige Horizonte, ein ruhiges, schweigendes Gewässer, das von keinem Windhauch berührt wird, und in der Luft die ganze Glut der Essen Vulkans. Als wir am Strand anlangten, erhob sich eine frische Brise, und das Meer, das noch Augenblicke zuvor dagelegen hatte wie eine riesige Bleiplatte, begann sich zu kräuseln. Nun würde die «Dalila» wohl auch bald die Anker lichten, um den Wind, der nach langen Tagen der 13
Stille gekommen war, auszunutzen. Mir blieben also nur wenige Stunden zur Besichtigung der indianischen Ortschaft. Von meinem Gang durch die sandigen Straßen von San Juan de Tuxtlan ist mir nur eine undeutliche, verschwommene Erinnerung geblieben, ähnlich wie von einer Bildermappe, die man während der Mittagsstunden eines schwülen Tages, lässig in der Hängematte liegend, durchblättert hat. Ja, mir scheint sogar, als könne diese Erinnerung ein wenig mehr Leben und Farbe gewinnen, wenn ich die Augen schließe. Dann verspüre ich plötzlich wieder jenen qualvollen Durst und schmecke den Staub auf der Zunge; ich sehe das langsame Kommen und Gehen der Indios, die wie Gespenster in große weiße Tücher gehüllt sind; ich höre die süße, weiche Stimme der Kreolinnen, deren Aufmachung mich an die unschuldsvolle Anmut klassischer Statuen erinnerte: aufgelöste Haare und nackte Schultern, die ein durchsichtiges Seidentuch kaum verhüllt. Selbst auf die Gefahr hin, daß die Fregatte die Segel hissen würde, mietete ich ein Pferd und machte mich auf den Weg nach den Ruinen von Tequil. Ein junger Indio diente mir als Führer. Die Hitze war unerträglich. Fast immer im Galopp legte ich weite Strecken der Tierra Caliente - der heißen Erde - zurück, vorüber an endlosen Agaven- und Zuckerrohrpflanzungen. Am Horizont zeichneten sich vulkanische Hügel ab, die mit dichtem grünlichschwarzem Gestrüpp bewachsen waren. In der Ebene reckten die Steineichen ihre Äste und bildeten eine Art riesiger Sonnenschirme. Indios, die im Kreise daruntersaßen, verzehrten ihr kärgliches, aus Maisfladen bestehendes Mahl. Wir folgten einem staubbedeckten rötlichen Pfad. Unermüdlich lief mein halbnackter Führer vor
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den Pferden her. Ohne auch nur ein einziges Mal zu rasten, langten wir in Tequil an. Dort, zwischen den Ruinen von Palästen, Pyramiden und riesigen Tempeln, wo staubige Sykomoren wachsen und große grüne Eidechsen hausen, erblickte ich zum erstenmal jene einzigartige Frau, die von ihren indianischen Dienern - Sklaven hätte ich beinahe gesagt! - mit dem süßen Namen «Niña Chole», Kindchen Chole1, genannt wurde. Auf mich wirkte sie wie die Salambo dieser Paläste. Sie war unterwegs nach San Juan de Tuxtlan und hielt hier, umgeben von ihren Dienern, im Schatten einer Pyramide Rast. Sie war eine bronzefarbene exotische Schönheit und besaß jene seltsame wiegende Anmut der Nomadenvölker und eine priesterlich-erhabene Gestalt von schlangenhafter Geschmeidigkeit. Wenn ich sie ansah, mußte ich an jene Prinzessinnen, die Sonnentöchter, denken, die in den indianischen Dichtungen in doppeltem Zauber erstrahlen : in priesterlichem und wollüstigem. Sie trug die Kleidung der Kreolinnen von Yucatán: einen weißen, mit bunter Seide bestickten Hipil, jenen indianischen Überwurf, der einer antiken Tunika ähnelt, und darunter einen Rock nach andalusischem Schnitt, der in diesen Ländern, die noch vor kurzem unter spanischer Herrschaft standen, mit der alten und echten Bezeichnung «Fustán» genannt wird. Das schwarze Haar fiel ihr offen herab, der Hipil wehte auf dem klassisch schönen Busen. Unglücklicherweise konnte ich ihr Gesicht nur die seltenen Male sehen, wenn sie sich zu mir herumwandte. Die Niña Chole aber hatte jene schöne götzenbildartige, starre Haltung, jene statische und geheiligte Ruhe der Mayas, dieser alten, vornehmen, geheimnisvollen Rasse, die aus 1
Cholo = Mischling von Weißen und Indianern.
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dem tiefsten Innern Assyriens gekommen scheint. Wenn ich aber auch ihr Gesicht nicht sehen konnte, so wurde ich entschädigt durch all das, was der Schleier nicht verdecken konnte, und hatte Muße, die Bewegungen der feingedrechselten zarten Schultern und die Linie des Nackens zu bewundern. Bei Gott, mir schien, als wehe von diesem Körper, den die glühende Sonne Mexikos gebräunt hatte, ein sehnsuchtsvoller Duft zu mir herüber, den ich einatmete, in mich hineintrank, an dem ich mich berauschte...! Nun führte ein indianischer Diener den Zelter dieser Salambo am Zügel herbei. Sie sprach ein paar Worte in seiner alten Sprache zu ihm und stieg lächelnd zu Pferde. Und jetzt, da ich sie so von vorn sah, zuckte mein Herz jäh zusammen. Sie hatte das Lächeln Lillys, Lillys, der Geliebten, der Verabscheuten! IV Ich hielt meine Mittagsruhe in einer einfachen Hütte, die inmitten der Ruinen errichtet war. Die Hängematte, in der ich schlummerte, war an dem Stamm einer riesigen Zeder befestigt, welche ihre schattigen Zweige über die Tür breitete. Langsam versank das ganze Land in das liebestrunkene, von leisen Seufzern erfüllte Schweigen einer glühenden Nachmittagsstunde. Die duftende, fruchtbare Brise der tropischen Sonnenuntergänge fächelte um meine Stirn. Das ganze weite Land erschauerte, als fühle es, daß seine hochzeitliche Stunde nahe, und hauchte aus seinem jungfräulichen Innern einen heißen Dunst aus wie eine kraftstrotzende, liebestrunkene, sehnsuchtsvolle Negerin.
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Ermüdet von dem langen Ritt, der Hitze und dem Staub schlief ich ein und träumte wie ein Araber, dem ein Traumbild vorgaukelt, er habe die Schwelle des Paradieses überschritten. Muß ich sagen, daß die sieben Huris, mit denen der Prophet mich beschenkte, sieben in Hipil und Fustán gekleidete Kreolinnen waren und daß sie alle das Lächeln Lillys und den Blick der Niña Chole hatten? Wirklich, diese Salambo der Paläste von Tequil begann meine Gedanken allzusehr zu beschäftigen! Ich bemerkte es mit Schrecken, denn ich war sicher, daß ich mich blind und toll in ihre schönen Augen verlieben würde, wenn ich das Unglück haben sollte, sie wiederzusehen. Glücklicherweise pflegen die Frauen, die uns so unverhofft gefangennehmen, nicht mehr als einmal in unserem Leben aufzutauchen. Sie gleiten vorüber wie Schatten, eingehüllt in das Geheimnis einer idealen Dämmerung. Wenn sie wiederkämen, würde der Zauber vielleicht verfliegen. Aber wozu wiederkommen, wenn doch schon einer ihrer Blicke genügt, um uns alle die tiefschmerzlichen Geheimnisse der Liebe zu offenbaren? O ihr romantischen Träumereien, arme Töchter des Ideals, die ihr in langen Reisestunden geboren werdet! Wer ist alt geworden und hat sein Herz noch nicht unter der Liebkosung eurer weißen Flügel erzittern gefühlt? Gar manche dieser Entzückungen bewahre ich in meiner Seele!... Noch heute, da meine Haare vorzeitig weiß geworden sind, kann ich mich nicht ohne Schwermut an das Antlitz einer Frau erinnern, die ich eines Morgens zwischen Urbino und Rom erblickte, damals, als ich in der Adelsgarde Seiner Heiligkeit diente: eine bleiche, ernste Traumgestalt, die in der Vergangenheit schwebt und über alle meine Jugenderinnerungen den heimlichen 18
Duft jener welken Blüten ausgießt, die Liebende zwischen Briefen und Haarlocken aufzubewahren pflegen und die auf dem Grunde irgendeines Kästchens das unschuldige Geheimnis der ersten Liebe zu hüten scheinen. Die Augen der Niña Chole hatten in meinem Herzen solch ferne Erinnerungen erweckt, die geisterleicht, weißschimmernd, wie vom Mondlicht überflutet, dort lebten. Jenes Lächeln, das Lächeln Lillys, hatte stürmische Sehnsüchte in meinem Blut geweckt und in meinem Geist den unbestimmten Drang nach Liebe erstehen lassen. Von neuer Jugendkraft durchströmt und glücklich, mit einer gewissen schwermütigen Glückseligkeit, seufzte ich der vergangenen Liebe nach, während ich mich gleichzeitig am Duft der ersten Rosen berauschte, die sich wieder um den alten Stamm zu ranken begannen. Das Herz, das so lange tot gewesen war, spürte, wie zugleich mit der Sehnsucht nach jenen alten Gefühlen eine Woge jugendfrischen Saftes in ihm aufstieg; es versank im Nebel der Vergangenheit und kostete den Zauber der Erinnerungen aus, jenes Glück des Sterbenden, der so viel und vieles geliebt hat. Ah, wie köstlich war dies Erschauern, das die erregte Einbildungskraft den Nerven mitteilte!... Und währenddessen breitete die Nacht ihren von leidenschaftlichen Versprechungen erfüllten Schatten über die weite Ebene aus, und Vögel mit langen Flügeln schwebten aus den Ruinen hervor. Ich tat ein paar Schritte und rief mit einer Stimme, die ein tausendfaches Echo in den Palästen wachrief, nach dem Indio, der mir als Führer diente. Er hatte den Falben bereits gesattelt und trat mit ihm hinter einem riesenhaften, aus rotem Stein gehauenen Götzenbild hervor. Ich stieg auf, und wir ritten davon. Am Horizont wetterleuchtete es. Ein
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leichter Meeres duft, ein Geruch nach Algen und Teer, mischte sich zuweilen in den betäubenden Dunst, der von den Feldern aufstieg, und weit hinten, auf dem dunklen Hintergrund des östlichen Himmels, hob sich der rötliche Schimmer eines brennenden Waldes ab. Die üppige, wilde Natur, in der noch immer die Hitze des Tages pulsierte, schien in den tiefen, keuchenden Schlaf eines befruchteten Raubtiers verfallen. Mir war, als atmete ich in diesem von hochzeitlichen Geräuschen erfüllten Schatten, in dem die Insekten zwischen hohen, schnellwachsenden, phantastisch geformten Gräsern tanzten, einen süßen, köstlichen, göttlichen Duft ein: den Duft, den die Reife des Sommers in die Kelche der Blumen und der Herzen gießt.
V Es war schon Nacht, als wir in San Juan de Tuxtlan anlangten. Ich stieg vom Pferde, warf dem Indio die Zügel hin und wanderte allein durch eine verlassene Straße zum Strand hinunter. Als ich die Meeresbrise in meinem Gesicht fühlte, spähte ich hinaus und fragte mich, ob die Fregatte wohl schon abgesegelt sei. So ging ich zweifelnd weiter, als ich plötzlich hinter mir das leichte Geräusch nackter Füße hörte. Ein Indio, in ein großes weißes Tuch gehüllt, näherte sich mir: «Hat der Herr nicht irgendeinen Auftrag für mich?» «Nein, nichts...» Der Indio scheint sich entfernen zu wollen. «Brauchen der Herr auch keinen Führer?» «Ich brauche nichts.» Düster vor sich hinmurmelnd, wickelt er sich noch
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fester in das Tuch, das ihm als Umhang dient, und verschwindet. Ich gehe weiter dem Strande zu. Plötzlich dringt die sanfte, demütige Stimme des Indios von neuem an mein Ohr. Ich wende den Kopf und entdecke ihn wenige Schritte hinter mir. Er kommt in vollem Lauf heran. Wie er mich erreicht hat, murmelt er: «Wirklich, Herr, wenn Sie sich hier in den Dünen verirren, werden Sie nicht wieder herausfinden...» Der Mensch beginnt mir lästig zu werden, und ich entschließe mich, ihm nicht zu antworten. Aber das ermutigt ihn offenbar, denn er heftet sich noch ein gutes Stück des Weges an meine Fersen. Einen Augenblick schweigt er, dann hebt er wieder in geheimnisvollem Ton an: «Soll ich den Herrn nicht vielleicht zu einem kleinen Mädchen führen?... Ein Geschöpfchen von fünfzehn Jahren, das hier ganz in der Nähe wohnt. Kommen Sie mit, Herr, Sie werden das Zuckertäubchen tanzen sehen! Es ist noch keinen Monat her, daß der Besitzer vom Rancho in Huaxila - der Nacho, wissen Sie! - sie zur Frau gemacht hat.» Plötzlich unterbricht er sich, tut einen katzenhaften Sprung und stellt sich vor mich hin in einer Haltung, als wolle er mir den Weg versperren: geduckt, den großen Hut wie einen Schild in der einen Hand; in der anderen, die wild nach hinten geschwungen ist, blitzt ein breites krummes Messer. Ich gestehe, daß ich zusammenschrak. Die Umgebung war so recht geeignet für einen solchen Überfall: sumpfige Dünen, umgeben von schwarzen Wasserlachen, in denen sich das Mondlicht spiegelte, und in der Ferne eine unheimlich aussehende Hütte, durch deren Spalten Licht schimmerte. Vielleicht hätte ich mich in diesem Augenblick ausrauben lassen, wenn der Spitz21
bube etwas weniger höflich gewesen wäre, wenn er gräßlich und drohend zu mir gesprochen hätte, wenn er geschworen hätte, mir die Eingeweide herauszureißen und mein Blut zu trinken. Aber an Stelle der kurzen, herrischen Aufforderung, die ich erwartete, hörte ich die sanft murmelnde Stimme des ewigen Sklaven: «Kommen Sie nicht näher, Freundchen, Sie könnten hier steckenbleiben!» Ihn hören und mich fassen war das Werk eines Augenblicks. Der Indio zog sich zurück wie eine Wildkatze und setzte zum Sprung an. Mir war, als fühlte ich das kalte Eisen schon in meinem Mark. Ich hatte Angst, hier durch einen elenden Dolchstich umzukommen, und fühlte mich auf einmal wieder stark und mutig. Bereit, es mit dem Banditen aufzunehmen, trat ich einen Schritt vor und schrie ihn an: «Pack dich fort, oder ich mache dich kalt!» Der Indio rührte sich nicht. Seine Sklavenstimme schien einen ironischen Klang anzunehmen: « Sie brauchen doch nicht zu sterben, mein edler Herr... Wenn Sie weitergehen wollen, legen Sie das Geld nur gleich hier auf den Stein. Aber schnell jetzt, schnell!» Wieder überkam mich die Furcht vor dem blitzenden Messer, aber ich murmelte entschlossen: «Das wollen wir gleich einmal sehen, du Bandit!» Ich trug keine Waffen bei mir, aber ich hatte in den Ruinen von Tequil einem Indio, der dort Jaguarfelle feilbot, seinen Wanderstock abgekauft, der mich durch die eigenartige Schnitzarbeit entzückte. Noch heute ist er in meinem Besitz: Er sieht aus wie das Szepter eines Negerkönigs, so phantastisch und zugleich so eigenartig und primitiv sind die darin eingeschnittenen Ornamente. Ich 22
stellte mich in Positur, packte den Stock fester, und mit leichten, schnellen Bewegungen, die einem berufsmäßigen Raufbold des siebzehnten Jahrhunderts Ehre gemacht hätten, ging ich dem Spitzbuben zu Leibe, der ebenfalls einen Ausfall machte und versuchte, mich von der Seite zu treffen. Zu meinem Glück fiel das Mondlicht voll auf ihn, so daß ich seine Absicht bemerken und ihr zuvorkommen konnte. Dunkel erinnere ich mich noch, daß ich versuchte, ihn zu entwaffnen, indem ich eine drohende Bewegung auf seinen Kopf zu machte und einen Schlag gegen seinen Arm führte, und daß der Indio mir mit der Gewandtheit des Wilden auswich und sich so stellte, daß das Licht nun auf mich fiel. Dann weiß ich nichts mehr. Nur eine quälende Erinnerung, wie ein Albdruck, ist mir geblieben: die vom Mondlicht bestrahlte Düne, der schwarze, weiche Sand, in dem die Füße keinen Halt finden, mein erlahmender Arm, mein sich trübender Blick und der Indio, der verschwindet, wiederkommt, mich angreift, sich duckt und springt, mit der besessenen Wildheit einer tollgewordenen Katze. Dann entfällt der Stock meiner Hand, eine dunkle Gestalt rast fliehend davon, ein blitzendes Messer saust über meinen Kopf und bleibt zuckend wie eine silberne Schlange in dem schwarzen, krummen Längsholz eines Kreuzes stecken, das aus zwei verkohlten Stämmen zusammengehauen ist... Einen Augenblick blieb ich entsetzt stehen, ohne mir klarwerden zu können, was eigentlich geschehen war. Wie durch einen dichten Nebel gewahrte ich, daß sich vorsichtig die Tür der Hütte öffnete und zwei Männer herauskamen, um den Strand abzusuchen. Ich befürchtete noch eine weitere derartige Begegnung und schlug eilends den Weg zum Meeresstrand ein. In dem Augenblick, da ich ankam, 23
stieß gerade ein Boot unserer Fregatte ab, um den Ersten Offizier an Bord zu bringen. Ich rief, und das Boot wendete, um auch mich noch aufzunehmen.
VI Nach unserer Ankunft an Bord der Fregatte ging ich in meine Kajüte, und da ich sehr müde war, begab ich mich sogleich zur Ruhe. Doch siehe da, kaum hatte ich das Licht gelöscht, als die nur halbeingeschläferten Nattern des Verlangens sich zu regen begannen! Den ganzen Tag über hatten sie in meinem Herzen geruht, stets bereit, ihre Giftzähne hineinzuschlagen. Gleichzeitig fühlte ich mich übermannt von einer tiefen Schwermut voller Verwirrung und geheimnisvoller Gefühle. Es war die Melancholie des Geschlechts, der Keim der großen menschlichen Traurigkeit! Wie ein zudringliches Insekt, das mit leichtem Flügelschlag immer wieder zu uns zurückkehrt, verfolgte mich die Erinnerung an die Niña Chole. Ihre indianische Schönheit, jener priesterliche Zauber, jene schlangenhafte Anmut, der unergründliche Blick, die wiegenden Hüften, das beunruhigende Lächeln, die winzigen Füßchen, die nackten Schultern, alles, was mein Geist erriet, alles, was meine Augen sahen, alles, alles war Öl auf das lodernde Feuer, das mich verzehrte. Ich stellte mir vor, wie die wundervollen jugendlichen Formen dieser bronzenen Venus unter den leichten Gewändern erblühten, wie sie, die zuerst verborgen waren, sich schwellend, frisch, üppig und duftend auftaten wie die Rosen in den Gärten der Tierra Caliente. So zwingend war die Macht dieser Erinnerung, daß ich für Augenblicke 24
glaubte, den sinnlich-süßen Duft zu atmen, der, wenn sie schritt, den sanftschwingenden Falten ihrer Gewänder entströmte. Langsam schloß mir die Müdigkeit die Augen; das eintönige, regelmäßige Glucksen des Wassers wiegte mich schließlich in einen fiebrigen, unruhigen Liebestraum, den ich wie ein Sinnbild meines Lebens empfand. Bei Morgengrauen erwachte ich mit bebenden Nerven, als hätte ich die Nacht in einem Wintergarten zwischen exotischen Pflanzen zugebracht, welche seltsam aufreizende, durchdringende Düfte verbreiteten. Über meinem Kopf ertönte ein Durcheinander von Stimmen, das Tappen nackter Füße und dazu ein geschäftiges Hin und Her. Das Deck wurde gewaschen. - Ich erhob mich und ging hinauf. Mit gierigen Lungen sog ich die Meeresbrise mit ihrem Geruch nach Teer und Algen ein. Zu dieser Morgenstunde war die Hitze noch ein Genuß. Ein wollüstiges Zittern schien in der Luft zu liegen, der Horizont lachte unter einer strahlenden Sonne. Eingehüllt in den rosenfarbenen Dunst, der sich mit dem beginnenden Tage über das blaue Meer hinlagerte, kam ein Boot heran. Es war so schlank, leicht und weiß, daß der klassische Vergleich mit einer Möwe oder einem Schwan vorzüglich paßte. Auf den Bänken saßen je sechs Ruderer. Ein Baldachin aus Segeltuch, der am Heck errichtet war, schützte eine weißgekleidete Gestalt vor den Sonnenstrahlen. - Als das Boot bei der Strickleiter der Fregatte anlangte, war ich schon da, wie getrieben von der unbestimmten Erwartung irgendeines großen Glükkes. Eine Frau saß am Steuer. Das Sonnendach ließ mich nur den Saum ihres Gewandes und die in weiße Atlasschühlein gehüllten königlich zarten Füße sehen, mein 25
Herz jedoch löste das Rätsel. Sie war es, die Salambo der Paläste von Tequil!... Ja, sie war es, zauberhafter denn je, nur leicht verhüllt von dem dünnen Seidenschleier. Da stand sie jetzt auf der Bank und stützte sich auf die Schultern eines Negers. Die schwellenden roten Lippen der Kreolin lächelten mit der beruhigenden Anmut einer Ägypterin oder Turkestanin. Ihre Augen, über denen der Schatten der Wimpern lag, hatten etwas Geheimnisvolles, Phantastisches, Exotisches, so daß man unwillkürlich der alten edlen Rassen gedenken mußte, die in fernen Zeiten in den Ländern der Sonne große Reiche gründeten... Nun schaukelte das Boot an der Seite unserer Fregatte. Halb erschrocken, halb belustigt hielt sich die Kreolin an den krausen Haaren des Riesen fest, der sie plötzlich hochhob und sich mit ihr auf die Leiter schwang. Sie lachten beide, während der salzige Gischt ihnen ins Gesicht spritzte. Auf Deck setzte der riesige Neger die Frau wieder ab und trat zu dem Bootsmann, mit dem er geheimnisvoll zu tuscheln hatte. Ich begab mich in die Messe: Hier mußten sie durchkommen ! Nie in meinem Leben hat mein Herz heftiger geschlagen. Ich erinnere mich noch ganz genau, daß die Messe völlig leer und ziemlich dunkel war. Auf den Scheiben tanzten die ersten Morgenlichter. Es vergingen einige Augenblicke. Plötzlich hörte ich Stimmen und Gelächter. Ein Sonnenstrahl, spielerischer, lebhafter und fröhlicher als alle vorhergehenden, fiel in den Raum, und im Hintergrund der Spiegel erblickte ich das Bild der Niña Chole.
VII Der Tag, der nun folgte, war einer jener langen, ruhigen und schwülen Meerestage, die bei einer Segelfahrt kein Ende zu nehmen scheinen. Nur von Zeit zu Zeit fuhr ein heißer Windstoß in das Takelwerk und ließ die Segel flattern. Ich ging suchend umher und wartete immer darauf, daß die Niña Chole sich einen Augenblick an Deck sehen ließe. Vergebliche Hoffnung! Die Niña Chole verließ ihre Kajüte nicht, und vielleicht erschienen mir gerade deshalb die Stunden so unerträglich lang wie nie zuvor. Enttäuscht von jenem Lächeln, das ich auf anderen Lippen gekannt und geliebt hatte, ließ ich mich am Heck nieder. Auf dem schläfrigen smaragdgrünen Wasserspiegel hinterließ die Fregatte eine Kielspur von schaumigen Wirbeln. Unerklärlich woher, kam mir plötzlich die Erinnerung an ein amerikanisches Lied, das Nieves Agar, die geliebte Freundin meiner Mutter, mich einst vor vielen Jahren gelehrt hatte, damals, als ich noch goldblonde Locken trug und auf dem Schoß der Damen, die zur Abendgesellschaft in den Stammpalast der Bradomin kamen, einzuschlafen pflegte. Die Schwäche dafür, in einem weiblichen Schoß zu schlafen, habe ich mir allerdings bis heute bewahrt. Gute Nieves Agar! Wie oft hast du mich auf den Knien gewiegt im Takt jenes alten Liedes, in dem die Geschichte einer Kreolin erzählt wird, die noch schöner war als Atalanta und die im Schatten der Kokospalmen in einer seidenen Hängematte schlief. Vielleicht die Geschichte einer zweiten Niña Chole! In schwermütige Träume versunken saß ich den ganzen Nachmittag im Schatten des Focksegels, das schlaff
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über meinem Kopf hing. Erst als die Sonne sich neigte, erhob sich ein frischer Wind, so daß die Fregatte mit geblähten Segeln die Isla de Sacrificios umschiffen und in den Gewässern vor Veracruz Anker werfen konnte. Ehrfurchtsvoll bewegt blickte ich hinüber zu der sonnenverbrannten Küste, wo einst die spanischen Abenteurer, die Söhne Alarichs des Barbaren und Tariks des Mauren, früher als irgendein anderes Volk des alten Europas gelandet waren. Ich sah, wie die Stadt, die sie gegründet und der sie einen Stamm tapferer Bewohner gegeben hatten, sich im stillen bleifarbenen Meere spiegelte, als blicke sie verzaubert auf den Weg, den die weißen Männer gekommen waren. Auf der einen Seite ragt auf einsamem Felseneiland das Kastell von Ulua aus den Wogen empor und erweckt mit seinen romantischen Schatten in uns die Erinnerung an eine lehnsherrliche Vergangenheit, die es hier nie gegeben hat, während sich in der Ferne der Gebirgsrücken des Drizaba, weiß wie der Kopf eines alten Mannes, in phantastisch verschwimmenden Linien gegen den klassisch klaren, azurblauen Himmel abzeichnet. Ich mußte an halbvergessene Geschichten denken, die mich, da ich noch Kind war, von den Ländern der Sonnenmenschen hatten träumen lassen: halb historische, halb romanhafte Erzählungen, in denen es immer Männer mit kupferfarbener Haut gab, die traurig und schweigsam waren, wie es besiegten Helden geziemt, Urwälder, in denen Vögel mit schimmerndem Gefieder umherfliegen, und Frauen wie die Niña Chole, glühend und dunkel, ein Sinnbild der Leidenschaft. Nie löst man sich innerlich ganz von seinem Vaterland, und so fühlte auch ich als Spanier und Edelmann mein Herz geschwellt von Begeisterung und den Geist erhoben 28
von ruhmreichen Visionen, während das Gedächtnis in historischen Erinnerungen schwelgte. In meiner erregten Einbildungskraft glaubte ich den Hernán Cortez, den großen Abenteurer aus Extremadura, zu sehen, wie er Feuer an seine Schiffe legte, und seine Männer, die, über den Strand verstreut, ihn hinterrücks belauerten, den Schnurrbart nach soldatischer Art hochgezwirbelt, düster die männlich harten, wettergebräunten Gesichter, die wie Köpfe auf alten nachgedunkelten Gemälden wirkten. Nun würde auch ich, der ewige Wanderer, dieses geheiligte Ufer betreten! Jetzt, wo ich im Begriff stand, mich vielleicht für immer in der Weite des alten Aztekenreiches zu verlieren, vernahm ich in meinem abenteuerlustigen, ritterlichen und christlichen Herzen das erhabene Raunen der Geschichte. Kaum hatten wir Anker geworfen, als auch schon eine zierliche Flotte von Booten und Kanus vom Ufer abstößt. Schon von weitem hört man das gleichmäßige Geräusch der Ruder. Hunderte von Köpfen tauchen über der Bordwand unserer Fregatte auf, und auf dem Zwischendeck bewegt sich eine bunte Menge, knäult sich zusammen und löst sich wieder auf. Spanische, englische und chinesische Worte schwirren durcheinander. Die Passagiere winken die indianischen Ruderer heran: Sie bieten ihre Preise, handeln und feilschen, bis die Händler schließlich wie die Perlen eines aufgegangenen Rosenkranzes auf den Boden der Kanus hinunterrollen, die abfahrtsbereit die Strickleiter umgeben. Dann löst die Flottille sich auf. Noch ganz von weitem sieht man eine winzige Gestalt mit den Armen gestikulieren und hört die Stimmen, die in der feierlichen Ruhe dieser glühenden Regionen noch klarer und lauter erscheinen. Nicht ein einziger Kopf hat sich nach 29
unserer Fregatte umgewandt, um ihr ein Lebewohl zuzusenden. Da fahren sie hin und haben keinen anderen Wunsch als den, möglichst schnell das Ufer zu erreichen. Sie sind die Konquistadoren des Goldes! - Und nun kommt bald die Nacht. In dieser abendlichen Stunde reinigt und läutert sich mein brennendes Verlangen nach der Niña Chole, bis es sich in die vage Sehnsucht nach einer idealen, poetischen Liebe verwandelt. Langsam versinkt alles in Dunkelheit: Der Wind seufzt, der Mond schimmert wie flüssiges Silber, der türkisfarbene Himmel nimmt eine schwarze Färbung an, und die Sterne erstrahlen auf diesem Hintergrund von feierlichem Schwarz in tiefer Klarheit. Das ist die südliche Nacht der Dichter.
VIII Ich war gerade in meine Kajüte hinabgestiegen, hatte mich mit meiner Pfeife im Munde ausgestreckt und träumte wohl von der Niña Chole, als die Tür sich öffnete und Julius Cäsar erschien. Julius Cäsar war ein kleiner Mulattenbengel, den mir ein portugiesischer Abenteurer in Jamaica zum Geschenk gemacht hatte — der Mann brachte es dann seinerseits im Laufe der Jahre in der Dominikanischen Republik zum General. Der Junge blieb in der Tür unter der Portiere stehen: «Herr, da kommt eben ein Neger an Bord, der die Haifische im Wasser mit dem Messer jagt. Kommen Sie herauf, Herr, aber rasch!» Und blitzschnell verschwand er, wie jene äthiopischen Kerkermeister, die in verwunschenen Schlössern Prinzessinnen bewachen müssen. Mich hat die Neugierde ge30
packt, und ich folge ihm. Gleich darauf bin ich an Deck, das im stillen Vollmondlicht daliegt. Inmitten eines Kreises von Passagieren, der sich um ihn gebildet hat, steht tropfnaß ein riesiger Neger in dünnem Leinenkittel und schüttelt sich wie ein Gorilla. Grinsend, mit der Gutmütigkeit eines zahmen Haustieres, zeigt er sein weißes Gebiß. Zwei Schritte von ihm entfernt stehen zwei Matrosen über die Steuerbordwand gebeugt und bemühen sich, einen halbtoten Haifisch heraufzuziehen, der schon außerhalb des Wassers an der Seite der Fregatte schwebt. Plötzlich aber reißt das Tau, und der Haifisch verschwindet inmitten eines Schaumwirbels. «Idioten!» murmelt der Neger zwischen seinen riesigen Wulstlippen. Damit wendet er sich und geht über das Deck, auf dem die nassen Spuren seiner nackten Füße zurückbleiben. «Hallo, Schwarzer!» ruft plötzlich von weitem eine Frauenstimme. «Ich komme schon!... Sofort!» Die weiße Gestalt einer Frau erscheint auf dem dunklen Hintergrund der offenen Tür, die zur Messe führt. Kein Zweifel, sie ist es! Aber wie ist es möglich, daß ich es nicht geahnt habe? Was tatest du, Herz, daß du mir nicht ihre Gegenwart ankündigtest? Oh, mit welchem Genuß hätte ich dich zur Strafe unter ihre zierlichen Füße gelegt! Der Mann tritt auf sie zu: «Wünscht die Niña Chole irgend etwas?» «Ich möchte eine Haifischjagd sehen.» Der Neger lächelt das unschuldige Lächeln der Wilden und sagt langsam, ohne die Augen von den Wellen abzuwenden, die silbern im Mondlicht glänzen: 31
«Das geht nicht, Herrin. Es hat sich hier gerade ein Rudel Haifische zusammengetan, verstehen Sie?» «Und du hast Angst?» «Angst? Das heißt, gefährlich genug wäre es schon... Bedenken Euer Gnaden doch...» Die Niña Chole läßt ihn nicht ausreden: «Wieviel haben dir diese Herren da gegeben?» « Zwanzig Tostonen, zwei Goldstücke.» Der Bootsmann, der gerade vorbeiging, um irgendwelche Befehle zu erteilen, hörte die Antwort des Negers. Mit der harten, klaren Entschlossenheit alter Matrosen erklärte er, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen oder den Kopf zu wenden: «Also vier Goldstücke. Aber nun sei nicht feige!» Der Neger schien noch zu zögern. Er trat an die Backbordreling und warf einen kurzen Blick auf das Wasser, in dem das blasse Bild der Sterne zitterte. Phantastisch geformte, silberglänzende Fische schössen umher, ließen eine Spur schimmernder Funken hinter sich zurück und verschwanden in den silbernen Streifen des Mondlichts. Im Bereich des Schattens, den die Bordwand unserer Fregatte auf das Blau der Wogen warf, sah man die unförmige Masse eines Haifischrudels. Nachdenklich trat der Neger wieder zurück. Noch ein- oder zweimal wandte er sich um und schaute in die schläfrigen Wellen, als sei sein Herz gerührt von dem Klagelied, das sie in die Stille der Nacht hinaussandten. Mit den Nägeln knipste er die Spitze einer Zigarre ab und näherte sich uns: «Vier Goldstücke... ist es der Herrin so recht?» Die Niña Chole wandte den schönen Kopf herum, der einer indianischen Königin würdig war. Mit der ganzen hochfahrenden Verachtung, die die reichen Kreolinnen 32
den Negern gegenüber an den Tag legen, murmelte sie in einem Ton, daß es schien, als wollten die Worte sich vor lauter Ekel kaum vom Rande ihrer Lippen lösen: «Meinetwegen, vier Goldstücke... Bist du nun endlich fertig?» Auf den Wulstlippen des Negers zeichnete sich das Lächeln eines habgierigen, sinnlichen Tieres ab. Sofort entledigte er sich seiner Bluse, zog das Messer aus der Scheide, nahm es wie ein Neufundländer zwischen die Zähne und kletterte auf die Reling. Immer noch glänzten die Tropfen des Meerwassers auf dem nackten Körper, der aussah, als sei er aus poliertem Ebenholz. Der Riese neigte sich hinunter und spähte in den Abgrund; dann, gerade als die Haifische an die Oberfläche kamen, sah ich, wie er sich, schwarz wie ein altes Götzenbild, auf der mondbeschienenen Reling emporreckte, mit ausgebreiteten Armen kopfüber ins Wasser stürzte und darin verschwand. Besatzung und Passagiere, alles, was sich auf Deck befand, drängte sich an der Bordwand zusammen. Auch die Haifische tauchten nun hinab, dem Neger nach, und alle Blicke hingen wie gebannt auf einem Strudel, der gar nicht erst Zeit hatte, sich zu beruhigen, da plötzlich ein roter Schaumfleck das Meer färbte. Unter donnernden Beifallsrufen der Matrosen und dem dröhnenden Klatschen der roten, plebejischen Krämerhände tauchte der plattnasige, wollige Kopf des Negers aus den Fluten empor. Er schwamm nur mit einer Hand, während er mit der anderen einen Haifisch festhielt, dem er das Messer in die Gurgel gejagt hatte... Nun bemühte sich alles, dem Neger wieder an Bord zu helfen. Man warf Taue aus, die schon zurechtgelegt waren. Als jedoch der Körper bereits zur Hälfte außerhalb des Wassers schwebte, durch-
3 Sommersonate
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schnitt mit einemmal ein furchtbarer Schrei die Luft. Wir sahen, wie der Neger die Arme ausstreckte und, von den Haifischen hinabgezogen, wieder im Wasser verschwand. Ich stand noch ganz erschüttert da, als hinter meinem Rücken eine Stimme ertönte: «Würden Sie mir wohl einmal Platz machen, mein Herr?» Gleichzeitig rührte jemand sanft an meine Schulter. Ich wandte den Kopf und blickte in die Augen der Niña Chole. Wie immer spielte ein flüchtiges Lächeln um ihre Lippen, dabei öffnete und schloß sie schnell ihre eine Hand, auf deren Fläche einige Goldmünzen blitzten. Noch einmal bat sie mich mit rätselhaftem Ausdruck, ihr Platz zu machen, dann beugte sie sich über die Reling und schleuderte die Geldstücke, so weit sie konnte, ins Wasser. Gleich darauf wandte sie sich wieder zu mir zurück und sagte, noch immer ein wenig schräg mit dem Oberkörper über das Geländer gebeugt: «Da hat er nun wenigstens den Fährlohn für Charon!» Ich glaube, ich war bleicher als der Tod; doch jetzt, da sie ihre schönen Augen auf mich richtete und lächelte, siegte der Zauber der Sinne, und meine noch zitternden Lippen erwiderten das Lächeln der Königin mit dem Lächeln des Sklaven, der alles gutheißt, was sein Herr tut. Die Grausamkeit der Kreolin erfüllte mich mit Entsetzen und zog mich doch zugleich an: Niemals wieder sollte sie mir so verführerisch und schön erscheinen wie damals. Vom dunklen, geheimnisvollen Meer stiegen dumpfe Murmellaute und herbe Düfte auf, denen der weiße Mond eine seltsame Wollüstigkeit verlieh. Der tragische Tod des riesigen Negers, der stumme Schrecken, der sich noch in 34
allen Gesichtern malte, der Ton einer Geige, der aus dem Schiffsinneren herauf drang, all das trug für mich in jener Nacht und unter dem bleichen Mondlicht den Charakter einer lasterhaft-verderbten, überfeinerten Sinnlichkeit... Die Niña Chole entfernte sich mit dem rhythmisch wiegenden Schritt einer Tigerin. Als ich sie so fortgehen sah, fuhr mir ein grausamer Zweifel durchs Herz. Bis zu diesem Augenblick hatte ich noch nicht bemerkt, daß neben mir ein schöner blonder Jüngling stand, den ich, wie ich mich erinnerte, schon einmal gesehen hatte, nämlich als ich damals in San Juan de Tuxtlan an Land gegangen war. War vielleicht er es, dem das Lächeln jener Lippen galt, in dem das Rätsel eines uralten, lasterhaften, grausamen und diabolischen Kultes verborgen zu liegen schien? IX Beim ersten Morgengrauen schiffte ich mich in Veracruz aus. Ich floh voll Angst vor jenem Lächeln Lillys, das mir nun auf den Lippen einer anderen Frau erschienen war. Und ich hatte auch Angst vor diesen Lippen, den frischen roten Lippen Lillys, von denen ein Duft kam wie von den Kirschen in unserem Garten, die sie mir so oft damit gereicht hatte. Wenn das arme Herz gastfrei ist und mehr als ein- oder zweimal der Liebe eine Heimstatt gewährt hat, wenn es seine spärlichen Freuden ausgekostet und seine zahllosen Schmerzen ertragen hat, dann müssen Blicke und Lächeln, zumal wenn sie von Augen und Lippen wie denen der Niña Chole kommen, es unweigerlich erzittern lassen. Ich habe damals gezittert, und ich 36
würde noch heute zittern, wo der Schnee so vieler Winter auf meinen Kopf gefallen und nicht mehr geschmolzen ist. Schon manchmal hatte ich diese Angst vor der Liebe empfunden; doch immer dann, wenn es möglich gewesen wäre, eine Trennung herbeizuführen, fehlte mir, genau wie einem romantischen jungen Mädchen, der Mut dazu. Schwäche eines Herzens, das immer durch meine zärtliche Natur verwöhnt wurde und mir mein Leben lang viel Kummer bereitet hat! Heute ist mir aus mancher Erfahrung die Gewißheit geworden, daß allein die großen Heiligen und die großen Sünder die nötige Kraft besitzen, den Versuchungen der Liebe auszuweichen, und ich gestehe voller Demut, daß auch ich es nur dieses eine Mal fertiggebracht habe, ihr mein Herz zu verweigern, als ihre Schwingen mich streiften. Vielleicht war gerade darum das Schicksal so darauf erpicht, meine Standhaftigkeit auf die Probe zu stellen! Als wir in einem Boot unserer Fregatte am Strande anlangten, war gerade noch ein anderes mit Wimpeln und Fähnchen geschmücktes Boot hier angekommen, und ich erkannte in der weißgekleideten, verschleierten Frau, die vom Bug ans Ufer sprang, die Niña Chole. So stand es wohl geschrieben, daß ich versucht und besiegt werden sollte! Es gibt Märtyrer, bei denen der Teufel sich ein besonderes Vergnügen daraus macht, ihnen die Palme zu rauben, und unglücklicherweise habe ich mein ganzes Leben lang zu dieser Menschensorte gehört. Ich bin durch die Welt gegangen wie ein Heiliger, der von seinem Altar gestürzt und zerschellt ist. Zum Glück fand ich dann zuweilen mitleidige weiße Hände, die mein blutendes Herz verbanden. Wenn ich aber heute meine alten 37
Wunden betrachte und mich meiner Niederlagen erinnere, erscheinen sie mir beinahe wie ein Trost: Aus einer Geschichte Spaniens, die ich einst als Kind las, habe ich erfahren, daß es ebenso rühmlich ist, zu siegen, wie eine glorreiche Niederlage zu erleiden. Als ich in Veracruz an Land ging, war mein Herz voll heldenhafter Entschlüsse. Stolz und hochmütig wie ein alter Konquistador ging ich an der Niña Chole vorüber. Auch mein Vorfahre Gonzalo de Sandoval, der in Mexiko das Königreich Neugalicien gründete, kann einst seinen Gefangenen, den Aztekenprinzessinnen, gegenüber keine größere Zurückhaltung an den Tag gelegt haben. Und offenbar war die Niña Chole genau so geartet wie jene Prinzessinnen, die erst dann Liebe verspürten, wenn sie sich verachtet und besiegt sahen; denn mich traf ein langer Blick aus ihren Augen, und das schönste Lächeln ihres Mundes war für mich bestimmt. Ihre Lippen streuten es über mich wie Sklavinnen die Rosenblätter über den im Triumphzug heimkehrenden Sieger. Doch ich behielt noch immer meine verächtliche Haltung bei. So stiegen wir beide den goldleuchtenden Sandstrand hinauf: die Niña Chole umgeben von ihren indianischen Dienern, ich hinter meinem Negersklaven. Schwarze Scharen häßlicher, plumper Vögel flogen so dicht über uns dahin, daß sie fast unsere Köpfe streiften. Es war ein ständiges beängstigendes Flattern um uns, das für Augenblicke sogar die Sonne verdunkelte. Wie heftige Fächerschläge fühlte ich die Flügel in meinem Gesicht. Manchmal flatterten sie ganz niedrig am Boden hin, um sich dann wieder in die klare Bläue hinaufzuschwingen. Wie ein phantastischer Wirbel schwebten die großen düsteren 38
Schwärme dort oben. Die flachen weißen Dächer der Häuser wurden schwar2, wenn sie sich auf sie herabstürzten, und wenn sie sich auf die Kokospalmen am Strande niederließen, brachen die Äste ab. Mit ihrem häßlichen aussätzigen Kopf, ihren ausgefransten Flügeln, dem trauerfarbenen Gefieder in jämmerlichem Schwarz, ohne Glanz und Schillern, wirkten sie wie Ruinenvögel. Hunderte, Tausende waren es. In der Dominikanerkirche, die am Wege lag, rief eine Glocke zur Morgenmette, und die Niña Chole trat mit ihren Dienern ein. Noch von der Tür aus sandte sie mir ein Lächeln zu. Womit sie mich wohl endgültig gefangennahm, das war dieses Zeichen der Frömmigkeit.
X Mein erstes Ziel in der Villa Rica de la Veracruz war ein ehrwürdiges Gasthaus, das an die glücklichen Zeiten der Vizekönige erinnerte. Hier wollte ich mich einige Stunden aufhalten. Ich hatte die Absicht, noch am gleichen Tage eine Geleitmannschaft zusammenzustellen und mich auf den Weg nach den Ländereien zu machen, die seinerzeit zu unserem Majorat gehört hatten. Damals war es schon geraten, ein paar sichere Büchsenschützen mitzunehmen, wenn man sich auf die mexikanischen Landstraßen wagte; denn hier herrschten die Räuber, Männer, die durch ihre wilde Tapferkeit und ihre kostbare Aufmachung weithin berühmt waren. Es waren die Zeiten Andriano Cuellars und Juan de Guzmans! Plötzlich erschien in dem sonnenhellen Hof die Niña Chole mit ihrem Gefolge. Hochmütig und majestätisch 39
kam sie langsam heran und erteilte ihre Befehle an einen Stallmeister, der mit niedergeschlagenen Augen zuhörte und ihr in der Sprache von Yucatán antwortete, jener alten Sprache, in der sich die süße Weichheit des Italienischen mit der malerischen Naivität der primitiven Sprachen verschmolzen hat. Als sie mich erblickte, begrüßte sie mich mit einem leichten Nicken, und gleich darauf kamen auf ihr Geheiß drei junge Indianerinnen, die ihre Kammerzofen schienen, auf mich zu. Sie sprachen abwechselnd, wie Novizen, die eine Litanei gelernt haben und nun immer das Stück aufsagen, das sie am besten können. Langsam und demütig klangen ihre Stimmen, und ihre Augen waren zu Boden gesenkt: «Die Niña Chole schickt uns, Herr...» «Sie schickt uns, um Ihnen zu sagen...» «Verzeihen Sie, um Sie zu fragen, Herr...» «Da die Niña Chole erfahren hat, Herr, daß Sie eine Begleitmannschaft zusammenstellen, und da sie auch eine Reise unternehmen muß...» «Eine weite Reise, Herr!» «Viele Meilen, Herr!» « Mehr als zwei Tage weit, Herr!» Ich folgte den Kammerzofen. Die Niña Chole empfing mich mit einer freundlichen Geste: «Oh, verzeihen Sie die Belästigung!» Ihre Stimme war ruhig, eintönig und süß, die Stimme einer königlichen Priesterin. Nachdem ich einen langen Blick auf sie geworfen hatte, verneigte ich mich. Die alte Kunst, Liebe zu erwecken, die ich beim guten Ovid gelernt hatte! Die Niña Chole fuhr fort: «Gerade habe ich erfahren, daß Sie eine Begleitmannschaft für eine Reise zusammenstellen. Wenn wir den 40
gleichen Weg haben, könnten wir vielleicht die Leute zusammen mieten. Ich muß nach Necoxtla.» Ich verneigte mich mit vollendeter Ritterlichkeit und erwiderte leicht seufzend: «Necoxtla liegt bestimmt auf meinem Weg.» «Reisen Sie sehr weit?» fragte die Niña Chole neugierig, «vielleicht nach Nueva Sigüenza?» «In die Ebene von Tixul; allerdings habe ich keine Ahnung, wo das liegt. Ich will dort zwischen Grijalba und Tlacotalpan ein altes Familiengut aus den Zeiten der Vizekönige besuchen.» Die Niña Chole sah mich überrascht an: «Was sagen Sie da, mein Herr? Dann haben wir aber ganz verschiedene Wege! Grijalba liegt an der Küste, und Sie wären viel besser mit dem Schiff weitergefahren.» Wieder verneigte ich mich ehrfurchtsvoll: «Necoxtla liegt auf meinem Weg.» Sie lächelte verächtlich: «Aber wir werden keinesfalls eine gemeinsame Begleitmannschaft nehmen.» «Warum nicht?» «Weil es nicht sein kann.» Gefolgt von ihren Zofen, schritt sie wie eine beleidigte Königin durch den weiten Hof, über den Leinwandtücher gespannt waren, die im Sonnenlicht den schwachen Goldton lateinischer Segel annahmen. Die Mücken summten um einen Springbrunnen, der stolz seinen silbernen Strahl zur Sonne emporschleuderte und schimmernde Tropfen auf die Alabasterschale zurückrieseln ließ. Das helle Plätschern des Wassers mitten in dieser glühenden Umgebung, unter dem blauen Himmel, in
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dem die Palme ihren rauschenden Schirm entfaltete, erinnerte mich in einer seltsam fernen und doch die Sinne aufrührenden Weise an die mühseligen Reisen durch die Wüste und die köstlichen Ruhestunden in der Oase. Von Zeit zu Zeit kam ein Reiter in den Hof gesprengt. Die Leute, die wir gemietet hatten, damit sie uns durch die Sandstrecken der Tierra Caliente geleiteten, begannen sich zu sammeln. Bald waren unsere beiden Trupps beisammen. Sie bestanden aus schweigsamen, soldatischen Männern, früheren Straßenräubern, die, des Abenteurerlebens und der unsicheren Beute müde, sich lieber demjenigen verdingten, der sie am besten bezahlte. Sie schreckten vor keiner Unternehmung zurück, und ihre Ehrlichkeit war sprichwörtlich. Mein Pferd war schon gesattelt, die Pistolen steckten im Sattelbogen, und von der Kruppe hingen die schöngestickten maurischen Reisetaschen herab, in denen die Wegzehrung verstaut war, als die Niña Chole wieder im Hof erschien. Als ich sie erblickte, trat ich lächelnd auf sie zu. Sie tat, als sei sie ärgerlich, und stampfte mit ihrem hübschen Füßchen auf: «Ich bitte Sie, mein Herr, ziehen Sie Ihren Weg, und ich werde den meinen ziehen.» «Wir haben den gleichen. Ich bin entschlossen, Sie zu rauben, sobald wir uns auf freiem Felde befinden.» Jetzt stahl sich in die Augen der Niña Chole, die vorher so spröde blickten, ein liebenswürdiges Lächeln. «Sagen Sie, sind die Spanier alle verrückt?» «Wir Spanier teilen uns in zwei große Gruppen», erwiderte ich kühn. «Die erste besteht aus dem Marquis von Bradomin, die zweite aus allen übrigen.» Lachend blickte die Niña Chole mich an: 42
«Was sind Sie doch für ein Prahler, mein Herr!» In diesem Augenblick kam der Stallmeister, um ihr zu melden, daß die Pferde gesattelt und die Leute bereit seien, falls sie aufzubrechen wünschte. Als die Niña Chole seinen Bericht angehört hatte, sah sie mich forschend, ernst und stumm an. Dann wandte sie sich zu dem Mann und fragte: «Welches Pferd habt ihr für mich bestimmt?» «Den Fuchs, Niña. Da drüben steht er.» «Den gescheckten?» «Aber nein, Niña! Den anderen Fuchs mit der weißen Unterlippe, dort an der Tränke. Ein herrliches Pferd! Er trabt, daß man den Weg überhaupt nicht spürt, und hat ein Maul wie Seide. Wenn man ihm den Wasserkrug einer Bäuerin auf den Sattel bindet, so verliert er im Galopp keinen Tropfen daraus.» «Und wo bleiben wir zur Nacht?» «Im Kloster von San Juan de Tegusco.» «Kommen wir sehr spät hin?» «Etwa bei Mondaufgang.» «Schön, dann sagen Sie den Leuten, daß sie sofort aufsteigen sollen.» Der Stallmeister gehorchte. Die Niña Chole schien nur mit Mühe ein Lächeln zu unterdrücken: «Ja, mein Herr, nun werden Sie mir wohl schwerlich folgen können; ich will unverzüglich aufbrechen.» «Ich auch.» «Aber sind Ihre Leute denn auch schon fertig?» «Es genügt, wenn ich fertig bin.» «Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich zu meinem Mann reise, und möchte Ihnen nicht raten, sich mit ihm zu schießen. Fragen Sie, wen Sie wollen, jeder wird Ihnen sagen, wer der General Diego Bermudez ist.» 43
Ich lächelte nur verächtlich. Indessen kam der Stallmeister zurück und blieb schweigend und demütig wartend in einiger Entfernung stehen. Die Niña Chole rief ihn heran: Komm her und schnall mir den Sporn an!» Er war im Begriff zu gehorchen, als ich ihm den silbernen Sporn aus den Händen nahm und mein Knie vor der Niña Chole beugte, die mir lächelnd ihr hübsches Füßchen hinhielt, das in einem weißen Atlasschuh steckte. Mit zitternden Händen schnallte ich ihr den Sporn an. Mein edler Freund, Barbey d'Aurevilly, würde gesagt haben, daß dieser Fuß dazu gemacht sei, auf einem Sokkel aus parischem Marmor zu stehen. Ich sagte nichts, aber ich küßte ihn mit solch leidenschaftlicher Hingebung, daß die Niña Chole lächelnd rief: «Aber, mein Herr, bitte mäßigen Sie sich!» Damit ließ sie ihren Rock wieder fallen, den sie mit ihren Nymphenfingern ein wenig in die Höhe gerafft hatte. XI Wir saßen auf und ritten gemeinsam durch die Stadt. Außerhalb der Mauern machten wir halt, um die Leute noch einmal zu zählen, und dann begann unsere lange, mühsame Tagereise. Hier und dort, auf dem Grunde der Dünen und am Abhang der sandigen Hügel, standen ein paar Rohrhütten, die ihre spitzen Dächer aus grauem, halbverschimmeltem Hanf über die Kakteenzäune reckten. Frauen mit kupferfarbener Haut und sanftem Blick traten vor die Tür und blickten uns gleichgültig und schweigsam nach. Aus der Haltung dieser braunen Ge44
stalten sprach die ganze altüberkommene Traurigkeit besiegter Rassen. Ihre Gesichter waren demütig, die Zähne schimmernd weiß und die Augen groß, schwarz und matt verschleiert wie die Augen wilder Tiere. Sie schienen dazu geboren, ewig in einem Zelt zu wohnen und zu Füßen der Palmen und Zypressen Rast zu halten. Die Sonne war schon untergegangen, als wir ein indianisches Dorf sichteten. Es lag noch ganz in der Ferne und schien eingehüllt in ein bläuliches Licht und in die Stille des Friedens. Staubbedeckte, verstreute Herden wanderten einen rötlichen Weg entlang, der sich zwischen riesigen Maisfeldern schlängelte. Der Kirchturm mit seinem gewaltigen Geiernest ragte über die Palmblattdächer empor. Beim Anblick dieses schweigsamen kleinen Dorfes, das da so schläfrig im Grunde eines Tales lag, mußte ich an jene Orte denken, aus denen sich einst die Eingeborenen beim Nahen der spanischen Eroberer geflüchtet hatten. Schon waren alle Türen geschlossen, und von den Feuerstätten stieg ein dünner weißer Rauch in die Höhe, der sich wie ein friedlicher Gruß in der hellen Dämmerung auflöste. Wir hielten am Eingang des Ortes und baten in einem alten Frauenkloster des Santiago-Ordens um Unterkunft für die Nacht. Auf das Klopfen eines unserer Diener erschien hinter dem Türgitter ein Gesicht unter einer großen Haube, und nun folgte eine längere Verhandlung. Wir waren noch in einiger Entfernung und ließen nun die Zügel locker, so daß die Pferde im Schritt gingen, während wir scherzende, galante Redensarten wechselten. Bald darauf öffneten sich langsam die schweren Türflügel aus Zedernholz, und eine ganz in Weiß gekleidete Laienschwester erschien auf der Schwelle. 45
«Tretet näher, Brüder, wenn ihr in diesem heiligen Hause ausruhen wollt!» Keinem Menschen haben die Schwestern des SantiagoOrdens je ihre Gastfreundschaft verweigert; jedem Reisenden, der um Aufnahme bat, mußte Obdach gewährt werden; denn so steht es in den Regeln, welche die Gründerin, Doña Beatriz de Zayas, die Mätresse und Ehrendame eines Vizekönigs, einst aufstellte. Noch prangte das Adelsschild der edlen Stifterin über dem Torbogen. Die Laienschwester führte uns durch einen Kreuzgang, über den dunkle Orangenbäume ihren Schatten warfen. Hier war die Begräbnisstätte der Ordensfrauen. Dumpf hallten unsere Schritte auf den Steinplatten, deren Inschriften schon halb verwischt waren. Eintönig und traurig sang ein Brunnen seine alte Weise. Die Nacht brach an, und zwischen dem schwarzen Laubwerk der Orangenbäume tanzten die Mücken. Als wir den Kreuzgang durchschritten hatten, hielten wir vor einer ledergepolsterten, mit Bronzenägeln verzierten Tür an. Die Schwester öffnete. Das Schlüsselbund, das von ihrem Gürtel herabhing, schwang klirrend hin und her. Die Laienschwester kreuzte die Hände über dem Skapulier, drückte sich an die Wand und ließ uns vorausgehen. «Hier ist das Gastzimmer!» murmelte sie mit näselnder Stimme. Das Gastzimmer war ein kühler Raum, dessen Fenster, die auf den Garten gingen, mit einem rostigen schmiedeeisernen Gitter verwahrt waren. An einer der Schmalwände hing das Bild der Gründerin, unter dem sich eine lange Inschrift befand, an der gegenüberliegenden Wand stand ein mit schneeweißen Linnentüchern behangener Altar. Im schwachen Abendlicht konnten wir nur mit 46
Mühe die Bilder mit den Szenen aus der Leidensgeschichte Christi erkennen, welche die Längswand bedeckten. Die Niña Chole trat vor den Altar, bedeckte den Kopf mit ihrem Schleier und kniete nieder. Ihr Gefolge, das an der Tür des Gastzimmers stand, ahmte das Beispiel seiner Herrin nach. Mit einem frommen Murmeln bekreuzigten sich alle. Die Niña Chole erhob ihre Stimme und sprach ein Dankgebet für die glücklich vollendete Tagereise, und ihre Dienerschaft antwortete im Chor. Auch ich sprach meine Gebete, machte dabei aber als Ritter von Santiago von meinem Vorrecht, nicht niederknien zu müssen, Gebrauch. Mit leisen Schritten trat die Laienschwester auf uns zu und fragte mich nach Reiseziel und Namen. Ruhig und fromm, im gleichen Tone, wie sie mich gefragt hatte, erwiderte ich: «Ich bin der Marquis von Bradomin, Schwester, und mein Weg endet in diesem heiligen Hause.» «Wenn der Herr Marquis die Mutter Äbtissin zu sprechen wünscht, werde ich ihr Bescheid sagen», murmelte die Laienschwester mit schüchterner Neugierde. «Allerdings wird der Herr ein wenig Geduld haben müssen; denn die Mutter Äbtissin unterhält sich gerade mit dem Herrn Bischof von Colima, der vorgestern gekommen ist.» «Ich werde Geduld haben, Schwester. Ich werde die Mutter Äbtissin begrüßen, sobald sich Gelegenheit dazu bietet.» «Euer Gnaden kennen Sie bereits?» «Nein, Schwester. Ich bin in dieses heilige Haus gekommen, um ein Gelübde zu erfüllen.» 47
In diesem Augenblick trat die Niña Chole zu uns. Die Nonne blickte sie freundlich an: «Die Frau Marquise auch?» fragte sie. Die Niña Chole wechselte einen schelmischen Blick mit mir, in dem mir eine Verheißung zu liegen schien. «Ja, Schwester», erwiderten wir beide wie aus einem Munde. «Dann will ich jetzt gleich die Mutter Äbtissin benachrichtigen. Sie wird sehr erfreut sein zu hören, was für vornehme Gäste eingetroffen sind. Sie hängt auch sehr an Spanien.» Und mit einer tiefen Verneigung entfernte sich die Laienschwester. Ihr faltiges Gewand rauschte, und die Sandalen verursachten ein leises Geräusch auf den Fliesen. Hinter ihr verließen auch die Diener den Raum, so daß ich mit der Niña Chole allein zurückblieb. Ich küßte ihre Hand, und sie sagte mit einem Lächeln, das eine eigenartige Grausamkeit barg: «Eines ist sicher: Wenn der General Diego Bermudez durch irgend jemanden von diesem Scherz erfährt, sind Sie ein toter Mann.»
XII Zuerst kamen zwei Laienschwestern mit einer großen silbernen Platte, auf der sich Erfrischungen und Leckereien häuften; dann trat in fließendem weißem Gewand, mit dem roten Kreuz des Santiago-Ordens auf der Brust, die Mutter Äbtissin ins Zimmer. In der Tür blieb sie stehen. Ein Lächeln, liebenswürdig und hoheitsvoll zugleich, spielte um ihren Mund.
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« Deo gratias!» begrüßte sie uns auf lateinisch. « Gott dem Herrn sei Dank!» erwiderten wir. Die Mutter Äbtissin war eine schöne Frau, der man ihre Abstammung aus einem alten Adelshause ansah. Sie hatte eine 2arte Haut, blonde Haare und eine bestrikkende Freundlichkeit. «Ich bin auch Spanierin», waren ihre ersten Worte, «ich bin in Viana del Prior geboren. Als Kind kannte ich einen Marquis von Bradomin, einen sehr alten Herrn. Er war ein Heiliger!» «Und außerdem mein Großvater», erwiderte ich. Die Mutter Äbtissin lächelte gewinnend und fragte dann mit einem leichten Seufzer: «Ist er schon lange tot?» «Schon sehr lange.» «Er ruhe in Gottes Frieden! Ich erinnere mich noch sehr gut an ihn. Er war viel in der Welt herumgekommen, ja, ich glaube, er ist sogar auch hier in Mexiko gewesen.» «Ja, er hat hier während des Hidalgo-Aufstandes am Kriege teilgenommen.» «Richtig! Richtig! Ich war zwar noch sehr klein, aber ich erinnere mich jetzt, daß er davon erzählte... Er war gut befreundet mit meinen Eltern - ich gehöre zu den Andrades de Cela.» «Zu den Andrades de Cela! Eine alte Familie!» « Sie ist mit dem Tode meines Vaters ausgestorben. Das Schicksal der alten Familien in unseren schlimmen Zeiten! Hier wie in Spanien, überall herrschen die Feinde der Religion und der guten alten Tradition!» Seufzend hob die Mutter Äbtissin ihre Augen und kreuzte die Hände über der Brust. Damit war ihr Ge-
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sprach mit mir beendet. Nun trat sie auf die Niña Chole zu mit dem liebenswürdigen, hoheitsvollen Lächeln einer Prinzessin, die sich in ein beschauliches Leben zurückgezogen hat: «Die Marquise ist zweifellos Mexikanerin?» Purpurrot senkte die Niña Chole die Augen: «Ja, Mutter Äbtissin.» «Aber spanischer Abstammung?» «Ja, Mutter Äbtissin.» Da die Niña Chole nur zögernd antwortete und ihre Wangen sich mit rosiger Glut überzogen, sprang ich galant ein, um ihr zu helfen. Ihr zu Ehren erfand ich eine ganze ritterliche und romantische Liebesgeschichte, so wie man sie zu jener Zeit schrieb. Die Mutter Äbtissin war von meiner Erzählung so bewegt, daß ich an ihren Wimpern zwei große kristallklare Tränen zittern sah. Ich blickte von Zeit zu Zeit auf die Niña Chole und hoffte ein Lächeln von ihr zu erhäschen; doch nie fanden meine Augen die ihren. Unbeweglich, mit einer seltsamen inneren Unruhe hörte sie zu; und ich mußte mich selbst wundern, wie fließend diese ganze verwickelte Erzählung, die einer antiken Komödie würdig gewesen wäre, von meinen Lippen kam. So überzeugend sprach ich, daß die Niña Chole plötzlich die Hände vors Gesicht schlug und in bitterliches Schluchzen ausbrach. Tief gerührt fächelte die Mutter Äbtissin ihr mit dem heiligen Skapulier ihres Gewandes die Stirn, während ich ihre Hände faßte und drückte. Langsam beruhigte sie sich, und nun führte uns die Mutter Äbtissin in den Garten, damit die Marquise in der kühlen Abendbrise ihre Fassung ganz zurückgewinnen könne. Sie ließ uns jetzt allein, da ihre Pflicht sie zum Segen rief. 50
Der Garten war ummauert wie eine Zitadelle. Er war groß und schattig, voll sanfter Geräusche und Düfte. In den Alleen drängten die Bäume ihre Zweige so nahe aneinander, daß wir nur in großen Abständen einzelne Blättergruppen unterscheiden konnten, auf denen silbern das Mondlicht lag. Schweigsam gingen wir nebeneinander her. Die Marquise schluchzte leise, ich war in Gedanken versunken und wagte nicht, sie zu trösten. Schließlich entdeckten wir zwischen den Bäumen einen freien Platz, der mit dunklen Myrtenbüschen umstanden war. Weiße Pfade führten in Windungen zu ihm hin. Fern und duftig wie ein Wunder schüttete der Mond sein Licht über sie aus. Die Marquise blieb stehen. Zwei Laienschwestern saßen zu Füßen eines Brunnens. Büsche des Zwerglorbeers, der die Eigenschaft hat, den Blitz abzuwenden, standen ringsumher. Ich kann nicht sagen, ob die beiden Schwestern beteten oder ob sie sich Klostergeheimnisse zutuschelten, denn das Murmeln ihrer Stimmen mischte sich mit dem Plätschern des Wassers. Sie waren dabei, ihre Krüge zu füllen. Als wir näher kamen, begrüßten sie uns fromm: «Ave Maria Purissima!» «Ohne Sünde empfangen!» Ich wollte von dem Brunnen trinken; doch sie verweigerten es mit entsetzten Rufen: «Aber Herr! Was tun Sie da!» Verwundert hielt ich inne: «Ist das Wasser denn giftig?» «Versündigen Sie sich nicht, Herr! Es ist heiliges Wasser, und nur unsere Gemeinschaft hat das Recht, davon zu trinken, eine schriftliche Erlaubnis vom Heiligen Vater aus Rom! Es ist heiliges Wasser vom Jesuskinde!»
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Und die Laienschwestern, die beide zugleich sprachen, wiesen auf das nackte Engelchen, das schelmisch und mutwillig das Wasser aus seinem kleinen, unschuldigen Glied in das Alabasterbecken fließen ließ. Das sei das Jesuskind, sagten sie. Als die Marquise dies hörte, bekreuzigte sie sich fromm. Ich versicherte den Schwestern, daß auch ich die Erlaubnis besitze, vom Wasser des Jesuskindes zu trinken. Die beiden blickten mich ehrfurchtsvoll an, und jede wollte mir zuerst ihren Krug reichen. Ich erklärte ihnen jedoch, ich zöge es vor, meinen Durst zu stillen, indem ich die Lippen an den heiligen Born hielt, aus dem das Wasser rann; dabei überkam mich eine solch unbezwingliche Lachlust, daß ich beinahe erstickt wäre. Niña Chole, die die Geschichte meiner Erlaubnis nicht glauben konnte, murmelte mit leiser Stimme: «Gott strafe die Lästerung!» Sie hatte dabei eine solche Festigkeit und Sicherheit in ihrer Stimme, daß mir der Gedanke kam, ob sie nicht die Tochter irgendeines Papstes sei, ebenso wie Lucrezia Borgia. XIII Nach dem Abendsegen kam eine Nonne, um uns ins Refektorium zu führen, wo die Abendmahlzeit bereitstand. Sie war alt, sprach mit näselnder Stimme und hielt dabei die Hände gefaltet. Wir folgten ihr; doch als wir schon im Begriff waren, die Schwelle des Klosters zu überschreiten, hielt die Niña Chole zögernd inne: «Schwester, ich habe heute einen Fastentag und darf nicht ins Refektorium gehen und mitessen.»
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Ihre Augen einer indianischen Königin flehten mich um Beistand an, den ich ihr großzügig gewährte. Ich verstand, daß die Niña Chole fürchtete, von einem der Reisenden erkannt zu werden, da ja alle, die ins Kloster kamen, sich beim Ton der Glocke zur gemeinschaftlichen Mahlzeit zu versammeln pflegten. Die Nonne, die höchlichst erbaut schien von dem frommen Fastengelübde, fragte dienstbeflissen: «Und was wünschte meine gnädigste Frau?» «Ich möchte mich nur zurückziehen und ein wenig ausruhen, Schwester.» «Wie es Ihnen beliebt. Sie haben sicherlich eine lange Reise hinter sich?» «Wir kommen von Veracruz.» «Oh, dann wird die arme Frau Marquise sehr müde sein!» Während sie so sprach, führte sie uns über einen langen Korridor, durch dessen Fenster das weiße Mondlicht hereinfiel. In diesem heiligen Frieden erweckte das Klirren meiner Sporen ein soldatisches und gotteslästerliches Echo. Als ob dieser Laut ihnen Furcht einjage, bemühten sich die Nonne und die Marquise, die vor mir hergingen, möglichst geräuschlos und gesittet aufzutreten. Nun öffnete die Nonne eine alte geschnitzte Tür, trat zur Seite und murmelte: «Würden Sie bitte hier warten, gnädige Frau, ich bin gleich wieder zurück. Ich bringe nur den Herrn Marquis ins Refektorium und stehe sofort wieder zu Ihren Diensten.» Ohne einen Blick auf mich zu werfen, trat die Marquise ein. Die Nonne schloß die Tür wieder und entfernte sich wie ein Schatten, indem sie mir mit einer flüchtigen Be-
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wegung winkte, ihr zu folgen. Sie führte mich bis zum Refektorium, verabschiedete sich noch näselnder als zuvor und verschwand. Ich trat ein und suchte mit den Augen einen freien Stuhl. Sofort erhob sich der Kaplan des Klosters und kam auf mich zu, um mir mit größter Liebenswürdigkeit zu sagen, daß für mich ein Platz am Kopfende des Tisches freigehalten sei. Der Kaplan war ein gelehrter und dichterisch veranlagter Dominikaner, der viele Jahre außerhalb Mexikos gelebt hatte, da der Erzbischof ihn auf eine falsche Beschuldigung hin verbannt und ihm die Erlaubnis entzogen hatte, die Beichte zu hören und Messe zu lesen. Diese Geschichte erzählte er mir, während er mir die Speisen vorlegte. «So», erklärte er am Ende seiner Rede, «nun kennt der Marquis von Bradomin also Leben und Taten des Bruders Lope Castellar. Sollte der Herr Marquis einen Hauskaplan benötigen, so möge er versichert sein, daß ich mit Freuden diese frommen Frauen hier verlassen würde, auch wenn ich darum wieder übers Meer fahren müßte.» «Ich habe schon Kaplane in Spanien.» «Dann verzeihen Sie meine Frage. Aber ich stehe Ihnen auch hier zu Diensten, in diesem Mexiko voller Sünden, wo man einen Christenmenschen im Handumdrehen ins Jenseits befördern kann. Glauben Sie mir, wer sich hier einen Kaplan leisten kann, der soll es tun, wenn es auch nur geschieht, um einen Menschen zur Hand zu haben, der einem in der Todesstunde die Absolution erteilen kann.» Die Mahlzeit war beendet; mit dumpfem Geräusch wurden die Stühle zurückgeschoben, und wir erhoben uns, um das Dankgebet zu sprechen, das die fromme Gründerin, Doña Beatriz de Zayas, einst verfaßt hatte.
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Während die Laienschwestern begannen den Tisch abzuräumen, trat mit freundlichem Lächeln die Mutter Äbtissin in den Raum: «Wünscht der Herr Marquis, daß wir ihm eine besondere Zelle für die Nacht zuweisen?» An der leichten Röte, die dabei in die Wangen der Mutter Äbtissin stieg, erriet ich ihre Gedanken und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken: «Nein, ich werde der Marquise, die sehr furchtsam ist, Gesellschaft leisten, falls die Statuten dieses heiligen Hauses dem nicht entgegenstehen.» Die Mutter Äbtissin unterbrach mich: «Die Statuten dieses heiligen Hauses können niemals der Religion entgegenstehen.» Mich überkam ein leichter Schrecken. Die Mutter Äbtissin jedoch schlug die Augen nieder und erklärte ernst und gemessen: «Unserm Herrn Jesus Christus sind alle Menschen gleich lieb; diejenigen, die durch ein heiliges Band miteinander verbunden sind genau wie jene, die sich durch seine Gnade vom weltlichen Leben zurückgezogen haben... Ich bin nicht wie der Pharisäer, der glaubte, er sei besser als die anderen, Herr Marquis.» Wunderschön war die Mutter Äbtissin in ihrem weißen Gewand, und da mir schien, daß sie eine große Dame war und wohl fähig, das Leben und die Liebe zu verstehen, fühlte ich mich versucht, sie zu bitten, mir in ihrer Zelle Aufnahme zu gewähren - doch, wie gesagt, es war nur eine Versuchung. Jetzt näherte sich mit einer brennenden Lampe in der Hand die alte näselnde Nonne, die mich ins Refektorium geführt hatte, und nachdem die Mutter Äbtissin ihr aufgetragen hatte, mich zu meinem Schlaf55
gemach zu bringen, verabschiedete sie sich. Ich bekenne, daß ich eine leichte Traurigkeit verspürte, als ich sie so durch den Korridor von mir fortgehen sah in ihrem wehenden Gewand, das weiß in der Dunkelheit schimmerte. Ich wandte mich zu der Nonne, die reglos mit der Lampe wartete: «Darf man der Mutter Äbtissin die Hand küssen?» fragte ich. Die Nonne rückte sich die Haube in die Stirn: «Wir küssen hier nur dem Herrn Bischof die Hand, wenn er uns die Ehre eines Besuches erweist», erwiderte sie. Und mit leichtem Klappen ihrer Sandalen begann sie, mir vorauszugehen, um mir den Weg zur Tür der Hochzeitskammer zu erleuchten.
XIV Es war eine geräumige Zelle, durch die der Duft des Basilienkrautes flutete. Das offene Fenstergitter ging auf den Garten, wo sich die schwarzen Umrisse der Zedernwipfel gegen die silberne Bläue der tropischen Nacht abhoben. Der gleichmäßige, eintönige Gesang der Grillen tönte durch die Stille. Ich sicherte die Tür der Zelle mit Schloß und Riegel, tat ein paar leise Schritte und hob den weißen Moskitoschleier, mit dem das einzige Bett, das in dem Räume stand, keusch und fromm verhüllt war. Die Niña Chole lag in dem sanften, unschuldigen Schlummer eines glücklichen Kindes; noch schienen die Worte des Abendgebets um ihre Lippen zu spielen. Ich neigte mich hinab, um einen Kuß darauf zu drücken, den
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ersten Kuß. Mit einem unterdrückten Schrei fuhr die Niña Chole in die Höhe: «Was tun Sie hier, mein Herr?» «Ich bewache deinen Schlaf, meine Herrin und Königin», erwiderte ich halb väterlich, halb galant. Die Niña Chole begriff immer noch nicht, wie ich in ihre Zelle gekommen war, und ich mußte ihr erst meine von der Frau Äbtissin anerkannten ehelichen Rechte in Erinnerung bringen. Bei meinen scherzenden Worten geriet sie in wilden Zorn. Ihre Augen funkelten mich an: «Oh, welche Rache, welch furchtbare Rache wird der General Diego Bermudez an Ihnen nehmen!» Und da ich immer noch lächelte, schlug sie mir in blinder Wut mit den Händen ins Gesicht, mit diesen winzigen braunen, ringbedeckten Händen einer Indianerprinzessin, die ich sofort gefangennahm. Ich blickte sie fest an und drückte dabei die Händchen so lange, bis sie einen Schrei ausstieß; dann bezwang ich meinen Zorn und küßte sie. Schluchzend ließ sie sich auf die Kissen zurücksinken. Ich machte keinerlei Anstalten, sie zu trösten, und trat zurück. Ich empfand eine wilde Verachtung, empörte Schmähworte wollten in mir aufsteigen; doch ich lächelte, um das Zittern meiner Lippen, die wohl bleich sein mußten, zu verbergen. Lange Zeit stand ich so ans Fenstergitter gelehnt und blickte in den dunklen, von summenden Geräuschen erfüllten Garten. Die Grille zirpte, in ihrem Gesang lag ein einfacher, ferner Rhythmus. Von Zeit zu Zeit drang das Schluchzen der Niña Chole an mein Ohr, so dumpf und leise, daß mein Herz gerührt wurde. Plötzlich begann in der Stille der Nacht eine Klosterglocke zu läuten. Die Niña Chole rief mich ängstlich an: 57
«Das Totenglöckchen! Kennen Sie es nicht?» Sie bekreuzigte sich fromm. Ohne die Lippen zu bewegen, trat ich wieder an ihr Bett und blickte sie ernst und traurig an. «Es liegt jemand im Sterben!» murmelte sie mit erschreckter Stimme. Ich nahm ihre Hände in die meinen und sagte liebevoll: «Vielleicht bin ich es...» «Wieso, mein Herr?» «Vielleicht steht der General Diego Bermudez vor der Tür des Klosters.» «Nein! Nein!» Sie drückte meine Hände und begann wieder zu schluchzen. Ich wollte ihre Tränen mit meinen Lippen wegwischen, sie aber warf den Kopf auf die Kissen und flehte: «Ach, bitte... bitte!» Ganz zart und verschleiert klang ihre Stimme. Sie blickte mich an; ihre Wimpern zitterten, und die Rosenknospe ihres Mundes war halb geöffnet. Noch immer tönte langsam und traurig die Stimme der Glocke ins Zimmer. Im Garten rauschten die Bäume, und der leichte Wind, der den gekräuselten weißen Bettschleier hin und her wehte, führte uns süße Düfte zu. Nun schwieg die Glocke. Ich fühlte, daß der rechte Augenblick gekommen war, und küßte die Niña Chole. Sie schien nachzugeben, als plötzlich mitten in der Stille die Totenglocke wieder anhob. Die Niña Chole stieß einen leisen Schrei aus und drängte sich an meine Brust; bebend vor Furcht flüchtete sie in meine Arme. Sanft und behutsam begannen meine Hände ihre Brüste zu enthüllen. Sie seufzte
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und ließ die Lider sinken, und nun feierten wir beide unsere Hochzeit, indem wir den Göttern als Triumph des Lebens sieben reiche und köstliche Opfer darbrachten.
XV Als wir ans Fenstergitter traten, begannen die Vögel im Garten gerade ihr Morgenlied, mit dem sie die Sonne begrüßten. Wir waren bereits reisefertig. Die vom Nachttau noch feuchten Basilienpflanzen strömten einen durchdringenden, unerhört starken Duft aus, der irgendwie das Bild eines maurischen Harems heraufbeschwor. Die Niña Chole lehnte ihren Kopf an meine Schulter und seufzte leicht. Ihre Augen, diese schönen Augen mit dem priesterlich bannenden Blick, glitten in zärtlicher Liebkosung über mich hin. «Niña, bist du traurig?» fragte ich endlich. «Ja, ich bin traurig, weil wir uns trennen müssen. Schon der leiseste Verdacht könnte uns das Leben kosten.» Liebevoll gruben sich meine Finger in ihre seidenweichen Haare. «Hab keine Angst, ich werde deine Diener schon zum Schweigen bringen», versetzte ich selbstbewußt. «Es sind Indios... Hier würden sie dir kniefällig Schweigen geloben; aber kaum blickt ihr Herr sie mit seinen durchdringenden Augen an, so sagen sie ihm alles. Nein, wir müssen Abschied voneinander nehmen.» Leidenschaftlich und hingebungsvoll küßte ich ihre Hände: «Niña, das darfst du nicht sagen!... Wir reiten zurück nach Veracruz! Vielleicht liegt die ‹Dalila› noch im
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Hafen. Dann fahren wir mit bis Grijalbe und gehen auf mein Gut in Tixul, wo wir uns verborgen halten können.» Die Niña Chole liebkoste mich mit einem langen, rätselhaften Blick. Ein schmachtender Glanz lag in den Augen der kleinen indianischen Königin. Vorwurf und Zustimmung schienen daraus zu sprechen. Während ihre Wangen sich in Purpurröte tauchten, zog sie ihren Schleier über der Brust zusammen und murmelte : «Meine Geschichte ist sehr traurig.» Und wie um mir allen Zweifel zu nehmen, stiegen zwei Tränen in ihre Augen. Ich glaubte, ihr Geheimnis zu erraten, und versicherte großzügig und ritterlich: «Du brauchst sie mir nicht zu erzählen. Traurige Geschichten erinnern mich immer an die meine!» Sie schluchzte: «Es gibt Dinge im Leben, die unverzeihlich sind.» «Menschen wie ich können alles verzeihen.» Als sie meine Worte hörte, verbarg sie ihr Gesicht in den Händen: «Ich habe die abscheulichste aller Sünden begangen, eine Sünde, von der mich nur der Heilige Vater lossprechen kann.» Als ich sie so unglücklich sah, zog ich ihren Kopf zärtlich an meine Brust: «Sei getrost, Niña, ich gelte allerlei im Vatikan. Ich war einmal Hauptmann in der Adelsgarde. Wenn du willst, machen wir eine Pilgerfahrt nach Rom und werfen uns Gregor XVI. zu Füßen.» «Nein, ich muß allein gehen... Es ist meine Sünde, keiner hat daran teil.» 61
«Dann muß ich dir zuliebe wohl die gleiche begehen!... Ja, vielleicht habe ich sie sogar schon begangen!» Die Niña Chole hob ihre tränenerfüllten Augen zu mir empor und flehte: «Du darfst das nicht sagen! Es ist so fürchterlich!» Ich lächelte ungläubig, sie aber riß sich aus meinen Armen und floh in den Hintergrund der Zelle. Von dort aus heftete sie einen wilden, jammervollen Blick auf mich und rief: «Wenn es wahr wäre, müßte ich dich verabscheuen! Ich war eine arme, unschuldige Kreatur, als ich das Opfer dieser verruchten Liebe wurde.» Wieder schlug sie die Hände vors Gesicht. In diesem Augenblick erriet ich, wie ihre Sünde hieß. Es war die großartige Sünde der antiken Tragödien. Die Niña Chole war verflucht wie Myrrha und Salome. Voller Mitleid näherte ich mich ihr, zog ihr die Hände vom tränenfeuchten Gesicht und preßte meine Lippen mit dem Kuß der Verzeihung auf die ihren. «Ich weiß alles», sagte ich dann leise und liebevoll, «der General Diego Bermudez ist dein Vater.» Sie schluchzte verzweifelt: «Wäre er es nicht! Als er aus der Verbannung zurückkehrte, war ich zwölf Jahre alt und erinnerte mich kaum mehr an ihn...» «Vergiß ihn auch jetzt!» Voller Dankbarkeit und Liebe verbarg die Niña Chole ihren Kopf an meiner Schulter: «Du bist so gut!» Meine brennenden Lippen zitterten auf ihrer zarten perlmutterfarbenen Ohrmuschel: «Niña, wir reiten zurück nach Veracruz!»
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«Nein!» «Fürchtest du etwa, ich könnte dich verlassen? Weißt du denn nicht, daß ich dein Sklave bin auf Lebenszeit?» «Auf Lebenszeit! So kurz wird das Leben sein für uns beide!» «Warum?» «Weil er uns töten würde. Er hat es geschworen!» «Dann wird er seinen Schwur eben nicht erfüllen.» «Er würde ihn erfüllen.» Sie konnte vor Schluchzen nicht weiterreden und warf die Arme um meinen Hals. Ihre Augen, die voller Tränen standen, blickten in die meinen, als wollten sie darin lesen. Ich tat, als sei ich geblendet, und schloß die Lider. «Willst du mich mit dir nehmen, auch wenn du nicht meine ganze Geschichte kennst?» seufzte sie. «Ich kenne sie.» «Nein!» «Du wirst mir den Rest erzählen, wenn wir uns nicht mehr lieben - falls dieser Tag überhaupt einmal kommen sollte.» «Nein, alles sollst du jetzt wissen, alles - auch wenn du mich dann verachten mußt! Du bist der einzige Mann, den ich geliebt habe, ich schwöre es dir, der einzige! Und doch habe ich, nur um vor meinem Vater zu fliehen, einen Liebhaber gehabt. Er wurde ermordet.» Sie verstummte schluchzend. Zitternd vor Leidenschaft küßte ich ihre Augen und ihre Lippen. Lippen, so rot wie Blut! Dunkle Augen, so abgründig schön wie ihre Geschichte!
XVI Als die Glocken des Klosters zu läuten begannen, sprach die Marquise den Wunsch aus, die Messe zu hören, bevor wir uns wieder auf den Weg machten. Es war eine lange Totenmesse. Das Hochamt hielt Bruder Lope Castellar, und ich ging ihm zur Sühne für meine Sünden als Meßdiener zur Hand. Die Nonnen sangen im Chor die Bußpsalmen; ihre weißen, schlanken Gestalten mit den langen, schleppenden Gewändern bewegten sich um das Pult, auf dem das Meßbuch mit den schönen rotgemalten Initialen aufgeschlagen lag. Im Hintergrund der Kirche stand auf einem schwarzen Tuch inmitten brennender Kerzen der Sarg einer Nonne. Ihre Hände waren über der Brust gekreuzt, um die starren Finger wand sich ein Rosenkranz. Ein weißes Tuch stützte das Kinn und hielt den Mund geschlossen, der so tief eingesunken war, als sei er zahnlos. Die bläulichen Lider waren halb geöffnet, die Schläfen schienen sich bis weit unter die Haube zu ziehen. Sie war in ihr Nonnengewand gehüllt, dessen Saum sich über den nackten wachsgelben Füßen in Falten legte. Als die Totengebete gesprochen waren und Bruder Lope Castellar sich umwandte, um den Gläubigen den Segen zu erteilen, verließen plötzlich einige meiner gemieteten Leute, die während der Messe an der Kirchentür gestanden hatten, ihren Platz, stürmten vor zum Altar und stürzten sich wie die Falken auf einen jungen Mann, der hier kniete. Als dieser die vielen Hände auf seinen Schultern fühlte, drehte er sich wütend um und wehrte sich mit verzweifeltem Geschrei, bis er, von der Überzahl besiegt, die Stufen herabrollte. Kreischend flo-
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hen die Nonnen vom Altar, während Bruder Lope Castellar, den Kelch gegen die Brust gedrückt, vortrat: «Wahnsinnige! Was tut ihr da?» «Bruder Lope!» schrie der junge Mann, der keuchend am Boden lag, «verrät man so seinen Freund?» «Wie kannst du das glauben, Gu2man?» In diesem Augenblick begann der Mensch sich von neuem zu wehren wie ein verwundeter, von den Hetzhunden bedrängter Eber, der seine Verfolger von sich abschüttelt; ich sah, wie er sich plötzlich auf die Füße erhob und sich in den Händen der Männer, die ihn festhalten wollten, wand und drehte, bis er die Arme frei bekam. Dann rannte er quer durch die Kirche. Er gelangte zur Türe, die jedoch verschlossen war. Nun wandte er sich kurz entschlossen um und riß mit einem Ruck den Glockenstrang herab. Jetzt hatte er eine Verteidigungswaffe. Hingerissen vor Bewunderung für so viel Mut und Feuer zog ich meine Pistole und stellte mich neben ihn: «Aufhören jetzt! Schluß!» Meine Leute zögerten. Diesen Augenblick benutzte Bruder Lope, der auf dem Altarplatz stehengeblieben war, um die Tür zur Sakristei zu öffnen, die sich knirschend in ihren Angeln drehte. Der junge Mann ließ drohend die schwere Kette über seinem Kopf kreisen, sprang über den Sarg der Nonne, durchbrach die Kerzenreihe und gewann so den Ausgang. Schreiend stürmten die anderen hinter ihm her; doch bevor sie die Tür erreichten, wurde diese von innen zugeschlagen. Jetzt wandten sie sich mit erhobenen Armen und drohenden Gebärden gegen mich. Ich lehnte mit dem Rücken gegen das Chorgitter, ließ sie herankommen und feuerte dann meine bei-
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den Pistolen ab. Die Schar meiner Angreifer, die mit einemmal verstummt war, lockerte sich, und zwei Männer sanken zu Boden. Mit wildem Entsetzen in ihren schönen Augen erhob sich die Niña Chole: «Halt! Halt!» Doch die Leute hörten nicht auf sie. Mit wütendem Gebrüll drangen sie gegen mich vor und fuchtelten mit ihren Pistolen herum. Ein Kugelregen prasselte gegen das Chorgitter. Ich blieb wie durch ein Wunder unverletzt und zog jetzt mein Messer: « Zurück! Zurück, ihr Kanaillen!» Mit einem Angstschrei warf sich die Niña Chole dazwischen : «Wenn ihr sein Leben schont, gebe ich euch viel Geld!» Ein Alter, offenbar der Führer der Schar, wandte seine wilden, blutunterlaufenen Augen auf sie. Sein grauer Bart zitterte vor Wut: «Nina, auf dem Kopf Juan Guzmans steht eine Belohnung !» «Ich weiß es.» «Wenn wir ihn lebend ausgeliefert hätten, hätten wir hundert Goldstücke bekommen!» «Ihr sollt sie haben.» Wieder erhob sich ein Durcheinander wilder, leidenschaftlicher Stimmen. Der Alte hob beschwörend die Arme: «Jetzt laßt uns erst mal verhandeln!» Immer noch bebend vor Aufregung wandte er sich wieder an uns: «Und die Kameraden, die ihr da abgeschlachtet habt wie die Hunde, sind die vielleicht gar nichts wert?»
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«Ja, natürlich! Wieviel wollt ihr?» murmelte Niña Chole rasch. «Darüber müssen wir erst einmal in Ruhe beraten.» « Gut.» «Aber ein bloßes Wort genügt uns noch nicht als Pfand.» Die Niña Chole zog ihre Ringe ab, die den Prinzessinnenhändchen solch sakrales Aussehen verliehen, und warf sie ihnen hochmütig hin: «Da, nun teilt das und laßt uns in Frieden!» Ein unentschiedenes Gemurmel erhob sich unter den Männern; dann entfernten sie sich langsam durch das Kirchenschiff. Vor dem Altar hielten sie inne, um zu beraten. Die Niña Chole legte ihre Hände auf meine Schultern und blickte mir tief in die Augen: «Oh, du verrückter Spanier! Du reißender Löwe!» Ich antwortete mit einem flüchtigen Lächeln. In Gegenwart dieser beiden Männer, die da mitten in der Kirche einer über dem anderen lagen, empfand ich eine grauenhafte, angstvolle Beklemmung. Langsam bildete sich im Umkreis ihrer Körper eine große Lache dunklen Blutes, das an den Fugen der Steinplatten entlangsickerte. Man hörte das leise Röcheln des Mannes, der zuunterst lag. Von Zeit zu Zeit fuhr eine bleiche Hand mit krampfhaftem Zucken hin und her.
XVII Bruder Lope Castellar erwartete uns in der Sakristei. Er las in seinem Brevier. Auf einer geschnitzten Truhe lagen sorgsam zusammengefaltet die Meßgewänder. Die Sakristei war ein düsterer Raum mit einem hohen vergitterten 68
Fenster, das durch die Zweige einer davorstehenden Zeder verdunkelt wurde. Als Bruder Lope uns eintreten sah, erhob er sich von seiner Bank: «Und ich habe Sie schon für tot gehalten! Ein Wunder, ein wahres Wunder! Aber nun setzen Sie sich, die gnädige Frau muß sich doch zuerst ein wenig erholen! Sie werden jetzt einmal den Wein versuchen, den Seine Hochwürden beim Hochamt gebraucht, wenn er uns die Ehre seines Besuches erweist. Ein spanischer Wein! Und berühmt, berühmt! ‹Wein, Weib und Leinewand müssen kommen aus spanischem Land! ›, so heißt es schon im indianischen Sprichwort.» Mit diesen Worten trat er an einen großen polierten Wandschrank, öffnete ihn und holte aus seiner Tiefe einen klebrigen Krug hervor, den er voller Entzücken an seine Nase hielt: «Ja, jetzt sollen Sie mal sehen! Der reine Nektar! Ein armer Mönch wie ich verwendet in der Messe allerdings eine weniger köstliche Flüssigkeit. Na, schadet nichts, es ist alles Blut unseres Herrn Jesus Christus!» Mit zitternder Hand füllte er einen Silberbecher und reichte ihn der Niña Chole, die ihn schweigend nahm und mir ebenso schweigend weiterreichte. Bruder Lope schenkte inzwischen schon einen anderen Becher voll: « Aber was tun Sie da, gnädige Frau!» rief er, «hier habe ich doch für den Herrn Marquis...» Die Niña Chole lächelte liebenswürdig: «Leisten Sie ihm Gesellschaft, Bruder Lope!» Der Priester stieß ein dröhnendes Gelächter aus: «Wenn Hochwürden das wüßten!» Dann setzte er sich auf die Truhe und stellte den Becher neben sich: 69
«Der Herr Marquis möge mir eine Frage gestatten: Woher kennt er den Juan de Guzman?» «Ich kenne ihn nicht.» «Ja, aber warum haben Sie ihn denn dann so tapfer verteidigt?» «Es war ein Einfall, der mir in jenem Augenblick kam.» Bruder Lope schüttelte seinen geschorenen Kopf und nahm einen Schluck aus dem Becher, der 2u seiner Rechten stand: «Ein Einfall! Ein Einfall! Juan de Guzman ist mein Freund; aber ich hätte nicht soviel für ihn gewagt!» «Nicht alle Männer sind einander gleich...», murmelte die Niña Chole hochmütig und ein wenig verächtlich. Ich war voller Dankbarkeit für den guten Wein, mit dem Bruder Lope uns bewirtete, und fiel daher höflich ein: «Man braucht mehr Mut, um eine Messe zu lesen!» Bruder Lope blickte mich aus spöttischen Augen an: «Das nennt man nicht Mut. Es ist Gnade...» Bei diesen Worten des Mönches hoben wir beide unsere Becher und tranken gleichzeitig aus. Bruder Lope schenkte sie wieder voll: «Und der Herr Marquis weiß wahrscheinlich nicht einmal, wer Juan de Guzman ist?» «Gestern, als ich meine Begleitmannschaft in Veracruz zusammenstellte, hörte ich zum erstenmal seinen Namen. Ich glaube, er ist ein berühmter Räuberhauptmann.» «Berühmt! Auf seinem Kopf steht ein Preis!» «Wird er sich in Sicherheit bringen können?» Bruder Lope faltete die Hände und senkte ernst die Lider: 70
«Wer weiß, Herr Marquis!» «Wie konnte er es wagen, hier in die Kirche zu kommen?» «Er ist sehr fromm... Und außerdem ist die Mutter Äbtissin seine Patin.» In diesem Augenblick hob sich der Deckel der Truhe, und ein Mann, der darin verborgen war, steckte den Kopf heraus. Es war Juan de Guzman. Bruder Lope lief zur Tür und schob die Riegel vor. Juan de Guzman sprang mitten in die Sakristei und wandte sich mit feuchten, glänzenden Augen zu mir, um mir die Hand zu küssen. Ich schloß ihn in die Arme. Bruder Lope trat zu uns und murmelte mit einer Stimme, in der verhaltene Empörung zitterte: «Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!» Juan de Guzman lächelte verächtlich: «Wir müssen alle einmal sterben, Bruder Lope!» «Sprecht doch wenigstens ein bißchen leiser!» Unruhig blickte er abwechselnd zur Tür und zu dem großen vergitterten Fenster der Sakristei. Wir befolgten seinen weisen Rat und zogen uns in einen Winkel zurück, wo wir zu plaudern begannen, während in einer anderen Ecke die Niña Chole mit zitternden Lippen ein Gebet sprach. XVIII Es war, wie Bruder Lope gesagt hatte: Auf den Kopf des berühmten Räubers, diesen prachtvollen Kopf eines spanischen Abenteurers, war ein Preis ausgesetzt. Im sechzehnten Jahrhundert hätte Juan de Guzman sich sicherlich unter den Fahnen eines Hernán Cortez seinen Adels-
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brief erkämpft, und vielleicht hätte dieser Räuberhauptmann mit dem stolzen, ritterlichen Auftreten uns manch ruhmreiche Erinnerung hinterlassen; denn er schien dazu geboren, seinen Namen zu verewigen, indem er Städte plünderte, Prinzessinnen vergewaltigte und Fürsten zu Gefangenen machte. Alt und müde, mit Narben und Ruhm bedeckt, wäre er dann in seine Heimat zurückgegekehrt und hätte die Beute, die er sich bei Otumba oder bei Mangoré, in jenen Schlachten herrlichen, erhabenen Angedenkens, erworben, in schönen Golddublonen mit nach Hause gebracht. Er hätte einen Turm gebaut, mit Erlaubnis seines königlichen Herrn ein Stammgut gegründet und nach seinem Tode ein ehrenvolles Begräbnis in der Kirche irgendeines Klosters erhalten. Auf dem wappengeschmückten Grabstein mit der langen Inschrift wären seine Heldentaten aufgezählt worden, und noch nach vielen Jahren hätte seine steinerne Gestalt, die unter dem Bogen der Grabnische ruhte, den Müttern dazu gedient, ihre Kinder in Schrecken zu setzen. Ich gestehe, daß ich tiefe Bewunderung für die Frau Äbtissin empfand, die es fertiggebracht hatte, seine Patin und zugleich eine Heilige zu sein. Mich hätte an ihrer Stelle sicherlich der Teufel versucht; denn dieser Räuberhauptmann besaß jene bezwingende, galante Art, die wir aus den alten Bildern kennen, auf denen die großen Männer der Renaissance dargestellt sind: Er war schön wie ein Bastard Cesare Borgias. Man erzählte von ihm, daß er, genau wie jener Fürst, stets kalt und ohne jede Erregung tötete, wie Männer töten, die das Leben verachten und die es, zweifellos aus diesem Grunde, nicht als Verbrechen ansehen, einem anderen den Tod zu geben. Seine blutigen Taten waren von der Art, die frühere Zeiten in ihren Hel71
denliedern besangen. Heutzutage wird ihnen jedoch nur noch selten eine solche Ehre zuteil, weil die Herzen der Menschen nicht mehr so glühend, stürmisch und stark sind. Es ist traurig, mit ansehen zu müssen, wie die geistigen Nachfahren jener Abenteurer Westindiens heute keinen anderen Lebenszweck mehr finden können als das Straßenräubertum! Auch von Juan de Guzman wußte man sich manche Liebesgeschichte zu erzählen. Er war ebenso berühmt durch seine wilde Tapferkeit wie durch sein prunkvolles, galantes Auftreten. Auf der Straße wie in den Schenken war er unumschränkter Herr. Mit edlem Anstand tummelte er sein Pferd, den breitkrempigen Hut mit der goldenen Schnur in die Stirn gerückt. Der weiße wollene Mantel umgab ihn flatternd wie ein maurischer Umhang. Er war schön, von einer männlichen, wilden Schönheit. Seine Augen waren klein, durchdringend und glänzend, seine Nase kühn gebogen, die dunklen Wangen edel gerundet, der Schnurrbart wild gesträubt und der Kinnbart wie von schwarzer Seide. In der Flamme seines Blicks lebte das Herz der großen Eroberer, stolz und geradezu, wie bei allen Kriegshelden. Unglücklicherweise gibt es heute nur noch wenige solche Herzen auf der Welt! Wie schön wäre das Schicksal dieses Juan de Guzman gewesen, wenn er am Ende seiner Tage bereut und sich in den Frieden eines Klosters zurückgezogen hätte, um hier wie der heilige Franz von Siena Buße zu tun!
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Wir nahmen nur wenige treue Männer mit, als wir nach Veracruz zurückkehrten. Die «Dalila» lag noch immer unterhalb des Kastells von Ulua vor Anker, und wir entdeckten sie schon von weitem, während unsere ermatteten, durstigen Tiere den sandigen Abhang eines Hügels hinauf klommen. Ohne haltzumachen, ritten wir durch die Stadt und zum Strand, um uns unverzüglich einzuschiffen. Kurz darauf setzte die Fregatte die Segel; denn man wollte den Wind nutzen, der weiter draußen wehte und ein traumhaft grünes Meer auf kräuselte. Als die Leinwand sich blähte, lehnte die Niña Chole an der Bordwand und sog mit blassen Lippen die würzige Luft ein. Sie fürchtete sich vor der Seekrankheit. In weißem Anzug und Palmblatthut wanderte der Kapitän unter dem Achterzelt auf und ab. An Steuerbord, das im Schatten der Segel lag, hatten sich ein paar Matrosen zum Schlafen ausgestreckt, und unter dem Zelt, das am Heck errichtet war, saßen zwei Männer, die in San Juan de Tuxtlan an Bord gekommen waren, und spielten Karten. Es waren Vater und Sohn, beide mager und gelbhäutig, der Alte mit einem langen, dünnen Bart, der Junge mit noch glatten Wangen. Bei jedem Spiel gerieten sie miteinander in Streit, und der Verlierer schleuderte dem anderen die wildesten Verwünschungen ins Gesicht. Dann zählte jeder wütend und giftig murmelnd sein Geld und steckte es ein. Einen Augenblick blieben die Karten verstreut auf dem wollenen Mantel liegen, der zwischen den Spielern ausgebreitet war; dann nahm der Alte sie langsam auf und begann von neuem zu mischen. Übellaunig zog der Junge die goldgestickte Börse aus seinem Gürtel 74
hervor und leerte sie auf dem Mantel aus. Das Spiel ging weiter. Ich näherte mich ihnen und schaute ein Weilchen zu. Der Alte, der gerade am Geben war, lud mich höflich ein und hieß den Jungen aufstehen, damit ich im Schatten Platz nehmen konnte. Ich zögerte nicht länger, sondern ließ mich zwischen den beiden Spielern nieder, zählte zehn Dublonen ab und setzte auf die erste Karte, die gezogen wurde. Ich gewann, und das veranlaßte mich weiterzuspielen, obwohl ich den Alten vom ersten Augenblick an für einen gerissenen Falschspieler hielt. Seine dürre braune Hand, die mich an eine Geierkralle erinnerte, zog langsam Karte um Karte. Der Junge saß schweigsam und finster dabei, beobachtete den Alten mit schiefem Blick und setzte stets auf die gleichen Karten wie ich. Da der Alte immerzu verlor, ohne dabei ungeduldig zu werden, stieg in mir der Verdacht auf, daß er die Absicht haben könnte, mich zu bestehlen, und ich sah mich daher vor. Trotzdem gewann ich immer weiter. Als die Sonne untergegangen war, kamen einige Passagiere an Deck. Um den Alten sammelte sich ein ganzer Kreis, und sein Gewinn wuchs. Unter den Spielern befand sich auch der schöne, schweigsame Jüngling, der mir schon einmal ein Lächeln der Niña Chole streitig gemacht hatte. Kaum hatten unsere Blicke sich gekreuzt, als ich zu verlieren begann. Vielleicht war es Aberglaube; aber auf jeden Fall hatte ich so etwas wie eine Vorahnung. Auch der Jüngling gewann nicht. Jetzt, wo ich ihn mit Muße betrachtete, erschien er mir geheimnisvoll und fremdartig ; er war von riesenhaftem Wuchs, hatte blaue Augen, blonde Augenbrauen, rosige Wangen und eine sehr weiße Stirn. Sein Haar trug er wie die alten Nazarener, und wenn 75
er die Augen niederschlug, lag in seinem Blick eine geradezu mystische Verzückung. Plötzlich sah ich, wie er beide Arme vorstreckte und dem Alten, der wieder gemischt hatte und gerade die Karten zu ziehen begann, Einhalt gebot. Er überlegte einen Augenblick und murmelte dann langsam und träge: «Ich will es wagen: das Ganze!» «Das Ganze, Vater!» rief der Junge, der kein Auge von dem Alten verwandte. «Ich hab's gehört, Dummkopf! Zähl das Geld!» Noch einmal mischte er und begann zu ziehen. Alle Blicke hingen wie gebannt an der Hand des Spielers. Langsam, ganz langsam zog dieser die Karte, mit einer geradezu sadistischen Bewegung, die den Genuß verlängerte und in einen Schmerz umkehrte. Plötzlich erhob sich ein Murmeln: «Der Bube! Der Bube!» Es war die Karte des schönen Jünglings. Der Alte stand auf und warf die Karten verächtlich hin: « Zahl ihn aus!» Dann schlang er sich den Mantel um die Schultern und ging. Unter Raunen und Gemurmel löste sich der Kreis der Spieler auf: « Siebenhundert Goldstücke hat er gewonnen!» «Nein, mehr als tausend!» Unwillkürlich wandte ich den Kopf und erblickte die Niña Chole. Sie stand an die Bordwand gelehnt und strich mit lässiger Bewegung die vom Meereswind verwirrten Locken zurück, die ihr in die Stirn gefallen waren. Dabei lächelte sie dem schönen blonden Jüngling zu. Mich überkam eine so heftige Eifersucht, ein so wilder Zorn, daß ich fühlte, wie ich bleich wurde. Hätte ich in meinen 76
Augen die Gewalt des Basilisken gehabt, die beiden wären in diesem Augenblick zu Asche geworden. Doch mir war diese Kraft nicht gegeben, und so konnte die Niña Chole ungestraft ihr Königinnenlächeln an einen Nichtswürdigen verschwenden...
XX Als die Bordlichter angezündet wurden, stand ich noch immer an Deck. Die Niña Chole kam, hängte sich an meinen Arm und schmiegte sich an mich wie eine falsche, treulose Schmeichelkatze. Ich zeigte keine Eifersucht, sondern nur hochmütige Zurückhaltung. Sie hielt inne und heftete mit schüchternem Vorwurf ihre Augen auf mich. Dann blickte sie sich um, erhob sich auf die Fußspitzen und küßte mich: «Bist du traurig?» «Nein.» «Bist du böse mit mir?» «Nein.» «Doch!» Wir standen allein an Deck. Schluchzend schlang die Niña Chole die Arme um meine Schultern: «Du liebst mich nicht mehr! Was soll nun aus mir werden !... Ich werde sterben! Ich werde mich töten!» Ihre schönen Augen, die voller Tränen standen, wandten sich hinaus aufs Meer, über das der Mond sein silbernes Licht ausschüttete. Ich war tief bewegt, verharrte jedoch noch immer in Schweigen. Schon wollte ich dem Verlangen, sie zu trösten, nachgeben, als plötzlich der blonde, schweigsame Jüngling an Deck auftauchte. Ein 78
wenig verwirrt trocknete die Niña Chole ihre Tränen. Der Ausdruck meiner Augen mußte sie erschrecken; denn ich sah, daß ihre Hände zitterten. Dann näherte sie ihre Lippen meinem Ohr und flüsterte voll leidenschaftlicher Zerknirschung : «Verzeih mir!» «Ich soll dir verzeihen, sagst du ?»versetzte ich leichthin. «Ja.» «Ich habe dir nichts zu verzeihen.» Sie lächelte mit feuchten Augen: «Warum leugnest du es ? Du zürnst mir, weil ich vorhin den Mann da angesehen habe... Du kennst ihn nicht, und deshalb ist deine Eifersucht erklärlich.» Sie schwieg, und ich gewahrte ein lüsternes, geheimnisvolles Lächeln, das um ihren stummen blutroten Mund spielte. Der blonde Jüngling unterhielt sich flüsternd mit einem Schiffsjungen, einem Mulatten. Die beiden gingen langsam zur Bordwand hinüber und lehnten sich über die Reling. «Wer ist das?» fragte ich, von plötzlichem Zorn übermannt. «Ein russischer Fürst.» «Ist er in dich verliebt?» «Nein.» «Du hast ihm zweimal zugelächelt...» «Dreimal sogar oder auch viermal... Aber sicherlich würde er für ein Lächeln von dir empfänglicher sein... Sieh doch!» Der schöne blonde, athletisch gewachsene Jüngling sprach noch immer mit dem Mulatten. Er lehnte über der Bordwand und hatte den Arm um die Hüfte des Jungen gelegt. Der andere lachte fröhlich: Es war einer von die79
sen Schiffsjungen, die auf langen Seereisen durch tropische Gegenden an Körper und Seele gehärtet sind. Er war fast völlig nackt und mit seiner warmen rotbraunen Hauttönung auf seine Art auch eine Schönheit. Die Niña Chole wandte die Augen voll weiblicher Verachtung ab. « Siehst du, du hattest keinen Grund, auf ihn eifersüchtig zu sein!» Meine Zweifel waren verflogen. Ich lächelte: « Aber du vielleicht...» Stolz und glücklich blickte die Niña Chole in meine Augen, die ihr Bild widerspiegelten: «Ich auch nicht. Du bist ein Mann.» «Niña, du vergißt, daß man Hebe und Ganymed gleichzeitig opfern kann...» Von plötzlicher Traurigkeit erfaßt, senkte ich den Kopf. Ich wollte nicht mehr sehen und versank in Grübelei. Meine Liebe gehört den Klassikern ebenso wie den Frauen - ein Ergebnis meiner Erziehung im Adelsstift. Oft habe ich bei der Lektüre des guten Petronius geseufzt und bedauert, daß die Jahrhunderte aus den göttlichen Festen der Sinne eine unbekannte Sünde gemacht haben. Heute geistern durch jenes geheimnisvolle Heiligtum nur noch die Schatten einiger Auserwählter und lassen die Zeiten der alten Griechen und Römer wieder aufleben, da rosenbekränzte Jünglinge an den Altären Aphrodites opferten. Glückliche, vielgeschmähte Schatten! Sie rufen mich, und ich kann ihnen nicht folgen! Jene schöne Sünde, das Geschenk der Götter und die Versuchung der Dichter, bleibt für mich unerreichbar. Ein ungnädiger Himmel hat mir verhängt, daß nur die Rosen der Venus in meinem Herzen zur Blüte gelangen, und je älter ich werde, um so trauriger stimmt mich mein Geschick. Ich 80
ahne, wie schön es sein muß zu einer Zeit, da das Leben sich neigt, in den Garten dieser Liebe einzudringen. Doch bleibt mir unglücklicherweise keine Hoffnung mehr. Über mein Herz ist der Atem Satans gegangen und hat alle Sünden aufglühen lassen. Über mein Herz ist der Atem des Erzengels gegangen und hat alle Tugenden aufflammen lassen. Ich habe alle Schmerzen erlitten, ich habe alle Freuden ausgekostet. Ich habe meinen Durst an allen Quellen gelöscht und mein Haupt in den Staub aller Wege gebettet. Einst war ich von Frauen umringt, und ihre Stimmen waren mir vertraut; zwei Dinge nur sind mir ewig unzugänglich geblieben: die Liebe der Epheben und die Musik jenes Teutonen, den sie Wagner nennen.
XXI Wir blieben die ganze Nacht an Deck. Die Fregatte kreuzte und versuchte den Wind einzufangen, der in der Ferne, wo das Meer aufleuchtete, zu wehen schien. An Backbord begann sich zart die Küste abzuzeichnen, flach zuerst und dann in hügeligen Wellenlinien. So segelten wir lange Zeit. Die Sterne waren langsam verblaßt, und das Blau des Himmels hellte sich auf, bis es beinahe weiß war. Zwei Matrosen, die in den Mastkorb hinaufgestiegen waren, machten sich singend am Takelwerk zu schaffen. Die Signalpfeife des Bootsmanns ertönte; die Fregatte steuerte den Wind an, und die Segel schlugen unentschlossen hin und her. Nun drehte das Schiff den Bug der Küste zu, und bald darauf flatterten die Wimpel fröhlich an den Masten: Wir sichteten Grijalba, und die Sonne ging auf. 6 Sommersonate
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Zu jener Stunde war die Hitze noch ein Genuß. Ein frischer Wind wehte und brachte einen Geruch nach Teer und Algen mit. Man verspürte ein wollüstiges Erzittern in der Luft. Der Horizont lachte unter einer strahlenden Sonne. Windstöße kamen von den Urwäldern herüber, lau und schmeichelnd wie der Atem glühender Frauen. Sie spielten im Segelwerk, und der Geruch, der von dem wie tot daliegenden Meeresspiegel aufstieg, durchdrang die Seele mit schwermutsvollem Schauer. Es war, als fühle der weite Golf von Mexiko in seinen grünlichen Tiefen die ganze Lässigkeit dieses Morgens, der mit geheimnisvollen fruchtbaren Samen erfüllt war, als sei er das Serail des Universums. Im Schatten des Focksegels betrachtete ich durch ein Fernrohr die Stadt. Vom Meer aus gesehen erinnert Grijalba an jene unwahrscheinlichen Städtebilder, wie frühreife Kinder sie zeichnen. Es ist weiß, blau und rot, es schimmert in allen Regenbogenfarben. Eine lachende Stadt! Eine in Frühlingsgewänder gehüllte Kreolin, die die Spitzen ihrer hübschen Füßchen in die Wellen des Hafens taucht. Seltsam wirkt sie mit ihren flachen Dächern, die mit blitzenden Fliesen belegt sind, mit ihren klaren Fernen, wo die Palme ihre kühne Silhouette emporreckt und von der Wüste und von müden Karawanen zu erzählen scheint, die im erquickenden Schatten Rast halten. Dichte Wälder aus ungeheuren Bäumen umgeben die Bucht, und über das wirre Durcheinander der Blätter ragen die Wedel der Königspalmen empor. Ein stiller, schläfriger Fluß mit milchweißen Wassern schlägt eine tiefe Wunde in den Wald und wälzt sich langsam zum Strande hinab, den er mit Inseln füllt. Jene wolkigen weißen Wellen, in denen der Himmel sich nicht spiegeln kann,
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schleppten einen entwur2elten Baum mit, auf dessen Zweigen, die halb im Wasser lagen, ein paar Vögel mit märchenhaft buntem Gefieder lärmten. Dahinter kam das Kanu eines Indianers. Er saß im Bug und ruderte. Leichte Schleierwolken zogen unter den Strahlen der aufgehenden Sonne im sanften Hauch der Morgenbrise dahin, und die smaragdgrüne Bucht leuchtete vor Anmut wie ein göttliches Meer der Antike, das von Sirenen und Tritonen bevölkert ist. Wie schön erscheinen mir noch heute jene fernen tropischen Länder! Wer sie einmal erblickt hat, wird sie nie wieder vergessen. Jene ruhige Bläue von Meer und Himmel, jene Sonne, die uns blendet und verbrennt, jene Brise, die mit allen Düften der Tierra Caliente geladen ist, sie hinterlassen, genau wie Frauen, die man einmal sehr geliebt hat, in unserem Fleisch, in unseren Sinnen und in unserer Seele solch köstliche Erinnerungen, daß die Sehnsucht, sie wiederzusehen, erst im hohen Alter erlischt. Ich fühle mich wieder jung, wenn ich an die unendliche silberne Weite des Golfs von Mexiko denke, die ich nie wieder befahren habe. In meiner Erinnerung steigen die Türme von Veracruz auf, die Wälder von Campeche, die Sandsteppen Yucatans, die Paläste von Palenque, die Palmen von Tuxtlan und Laguna... Und immer, immer gehört für mich zu dem Bild jenes schönen fernen Landes das Bild der Niña Chole, so wie ich sie zum erstenmal erblickte: wie sie, umgeben von ihrem Gefolge, im Schatten einer Pyramide Rast hielt, mit aufgelöstem Haar und angetan mit dem weißen Gewand der alten Mayapriesterinnen.
XXII Kaum hatten wir den Fuß an Land gesetzt, als wir uns auch schon von einem ganzen Schwärm schmutziger, klagender Gestalten umringt sahen, die uns um Almosen anbettelten. Sie verfolgten uns bis zum Gasthof, einem alten klosterähnlichen Gebäude mit einem großen steinernen Vorbau, unter dem ein paar gebrechliche Weiblein saßen und sich kämmten. Hier im Gasthof traf ich auch die beiden Spieler wieder, die mit unserer Fregatte gekommen waren. Sie saßen im Hintergrund des Hofes in der Nähe eines breiten, niedrigen Torweges, durch den unablässig Stallburschen, Bauern und indianische Diener kamen und gingen. Auch hier waren sie schon wieder ins Kartenspiel vertieft und in Streit miteinander geraten. Sie erkannten mich von weitem und erhoben sich höflich grüßend. Dann gab der Alte dem Sohn seine Karten und kam mit tiefen Verbeugungen auf mich zu: «Ganz zu Ihren Diensten, gnädiger Herr! Wenn Sie unsere Ergebenheit auf die Probe zu stellen wünschen, so haben Sie nur zu befehlen!» Und nachdem der Alte mich feurig umarmt und dabei förmlich vom Boden hochgehoben hatte - eine mexikanische Sitte, die Zuneigung und Kraft bekunden soll -, fuhr er fort: «Wenn Euer Gnaden einmal Ihr Glück versuchen wollen, so wissen Sie, wo wir zu finden sind. Wir nehmen hier Wohnung. Wann wollen der Herr Marquis Weiterreisen?» «Morgen mit dem frühesten, wenn es sich nicht heute nacht noch machen läßt.» Mit einem spitzbübischen, verschlagenen Lächeln strich der Alte sich das Kinn: 84
«Auf jeden Fall sehen wir uns noch vorher. Wir wollen doch einmal erfahren, ob das Sprichwort die Wahrheit sagt: ‹Kartenglück auf Reisen kommt schnell und wie geheißen.›» «Schön!» versetzte ich lachend. «Dieser tiefe Satz darf nicht unergründet bleiben!» Mit ernstem Nicken gab der Alte seine Zustimmung kund: «Ich sehe schon, der Herr Marquis hat es sich zur Pflicht gemacht, seine Wahrheit zu erweisen. Das ist recht so. Schon darum verdienten Euer Gnaden, Erzbischof von Mexiko zu werden.» Wieder lächelte er verschmitzt. Da gerade zwei indianische Stallknechte vorübergingen, verstummte er und fuhr erst, als sie außer Hörweite waren, mit gedämpfter, geheimnisvoller Stimme fort: « Eins muß ich Ihnen noch sagen: Wir werfen im Anfang fünfhundert Unzen ins Spiel und behalten uns tausend als Reserve zurück. Geld von einem Gevatter, Herr. Nun, ein andermal kann ich Ihnen das etwas ausführlicher auseinandersetzen. Sehen Sie nur, wie ungeduldig der Junge schon wieder ist. Ein ungebändigtes Füllen, Herr. Unglaublich, dieser Bengel!... Also, wir sehen uns noch.» Und mit drohenden Gebärden gegen den ungeduldigen Burschen entfernte er sich. Gleich darauf streckte er sich wieder im Schatten aus, ergriff die Karten und begann zu mischen. Bald hatte sich ein Kreis von Spielern um ihn geschart. Alle Stallknechte und Ochsentreiber blieben jedesmal, wenn sie den Hof betraten oder verließen, bei ihm stehen und spielten eine Karte. Zwei Reiter, die geduckt durch das Tor kamen, hielten ihre Tiere einen Augenblick an und warfen ihre Börsen vom Sattel herab. 85
Der Junge hob sie abschätzend in die Höhe, während der Alte ihm einen fragenden Blick zuwarf. Die Antwort war eine zweideutige Geste. « Laß jetzt die Geldbeutel, Junge!» versetzte der Alte darauf ungeduldig. «Die können wir ja hinterher nachzählen!» Im gleichen Augenblick fiel auch schon die Karte. Der Alte gewann, und die Reiter sprengten davon. Der Junge leerte die Beutel auf dem Mantel aus und begann zu zählen. Immer mehr Spieler drängten sich herzu. Da kamen die reichen Bauern und ließen ihre schweren, prächtigen Sporen klirren. Keck und prahlerisch waren die großen weißen Hüte mit der silbernen Verzierung in die Stirn gerückt. Da kamen mit lautlosen Schritten die Indios, demütig und schweigsam, wie Gespenster in weiße Tücher gehüllt. Da kamen noch andere Gestalten, gekleidet und bewaffnet wie Edelleute, Pistolen am Gürtel, das Dolchmesser im gestickten Wehrgehenk. Von Zeit zu Zeit strich ein Mann mit seinem Kampfhahn über den sonnenbeschienenen Hof: ein Kerl mit schlauem, bösartigem Gesicht, spöttisch blickenden Augen, wirren Haaren, einem zynischen Mund und dunklen, hageren Händen, halb Spitzbube, halb Bettler. Lauernd trat er zu dem Schwärm der Spieler, setzte eine armselige Kupfermünze und ging, dumpfe Flüche vor sich hinmurmelnd, wieder davon.
XXIII Ich sehnte mich danach, mit der Niña Chole allein zu sein. Unsere Hochzeitsnacht im Kloster erschien mir schon so fern wie ein zauberhaftes Traumbild, an das man sich immer wieder erinnert und das man doch nicht genau zu fassen vermag. Seit jener Nacht hatten wir in unfreiwilliger Keuschheit gelebt, und meine Augen, die noch nichts wußten, beneideten meine Hände, die alles wußten. In jenem alten Gasthof genoß ich das höchste Liebesglück, Minuten, die mit dem Goldfaden der Phantasie aneinandergereiht waren. Zuerst bat ich die Niña Chole, ihr Haar zu lösen, das weiße Gewand anzulegen und in ihrer alten Sprache zu mir zu sprechen wie eine gefangene Prinzessin zum fremden Eroberer. Sie gehorchte lächelnd. Ich hielt sie in meinen Armen und küßte, ohne sie zu verstehen, die schönsten Worte, die wie Musik klangen, von ihren Lippen. Dann war Pietro Aretino unser Gott, und ich konnte, wie Gebete, sieben italienische Sonette, Perlen der Renaissancedichtung, rezitieren: für jedes Opfer, das wir darbrachten, ein anderes. Das letzte wiederholte ich zweimal: Es war jenes göttliche Sonett, in dem die Gestalt eines Zentauren ohne Pferdekörper, doch mit zwei Köpfen, heraufbeschworen wird. Dann schliefen wir. Bei Sonnenaufgang schon erhob sich die Niña Chole und öffnete die Balkontüren. Ein Sonnenstrahl drang ins Schlafzimmer, so spielerisch, fröhlich und lebhaft, daß er sich beim Anblick seines Spiegelbilds in goldenes Gelächter auflöste. Zwitschernd hüpfte die Spottdrossel in ihrem Käfig umher, und auch die Niña Chole trällerte die Stro-
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phe eines Liedchens, so frisch und fröhlich wie der Morgen. Wunderschön war sie: Durch die seidene Tunika, die ihre Glieder umhüllte, schimmerte der Körper einer jungen Göttin. Sie winkte mir zu und küßte lachend und singend die Jasminblüten, die durchs Fenstergitter hereinschauten. Mit ihrem losen Haar, das um die nackten Schultern wallte, dem lachenden Mund und dem braunen Körper bot die Niña Chole ein verführerisches Bild, sieghaft strahlend und köstlich wie der junge Morgen. Auf einmal wandte sie sich mit einer köstlich verachtungsvollen Geste mir zu: «Aufstehen, du Faulpelz! Aufstehen!» Dabei spritzte sie mir das Rosenwasser ins Gesicht, das sie über Nacht zum Abkühlen auf den Balkon gestellt hatte. «Aufstehen! Aufstehen!» Ich sprang aus dem Bett. Sowie sie mich aufrecht im Zimmer stehen sah, huschte sie eilig davon und erfüllte das ganze Haus mit ihrem Trällern. Sie hüpfte von einem Lied aufs andere wie die Drossel von einer Käfigstange auf die andere, kindlich gedankenlos und vergnügt, nur weil der Tag blau war, weil auf dem verzauberten Grunde des Spiegels ein Sonnenstrahl lachte. Unter den Baikonen ertönte die Stimme des Stallmeisters, der sich beeilte, unsere Pferde zu satteln. Die heruntergelassenen Sonnenmatten vor den Fenstern erzitterten im Anhauch der Morgenbrise, und der Jasmin am Gitter wollte der Luft seinen süßen Duft mitteilen und schüttelte seine Blüten. Jetzt kam die Niña Chole wieder herein. Im Spiegel des Ankleidetisches sah ich sie, ein spitzbübisches Lächeln um die Lippen, auf den Spitzen ihrer weißen Atlaspantöffelchen näher treten.
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«Eitler Geck!» rief sie mir plötzlich ins Ohr. «Für wen putzt du dich so heraus?» «Für dich, Niña.» «Wirklich?» Sie blickte mich aus halbgeöffneten Augen an, vergrub ihre Finger in meine Haare und wühlte sie durcheinander. Dann stieß sie ein perlendes Gelächter aus und reichte mir einen goldenen Sporn, den ich an ihrem königlichen Füßchen befestigen sollte. Ich konnte nicht umhin, dieses Füßchen zu küssen. Wir traten auf den Hof hinaus, wo der Indio schon mit unseren Pferden bereitstand. Ohne Zeit zu verlieren, stiegen wir auf und sprengten zum Tor hinaus. Unter einer goldenen, siegreich strahlenden Sonne hüllten die blauen Berggipfel sich in einen Mantel von Licht. In ungleichmäßigen Stößen führte die Brise feuchte, würzige Düfte, gleich dem Atem der Bäche und Yerbapflanzungen, zu uns herüber. Der helle Morgenhimmel erzitterte wie eine blonde sinnliche Frau. Die Wipfel der Zedern, die von der aufgehenden Sonne beschienen wurden, waren ein Altar, auf dem Scharen von Vögeln schnäbelnd ihre Hochzeit feierten. Die Niña Chole ließ ihr Pferd galoppieren und hielt es dann wieder an, damit es von den Sträuchern am Wegrand knabbern konnte. Unterwegs begegneten wir immer neuen fröhlichen Reitergesellschaften von Kreolen und Mulatten. In Staubwolken gehüllt zogen sie auf ihren stolzen kleinen Pferdchen vorüber. Ihre Sättel waren nach mexikanischer Sitte reich mit Gold bestickt, und die kostbaren Satteldecken schimmerten hell. Die Trensen und Sporen klirrten, die Peitschen knallten; schnell wie der Wind sprengten sie durch die Fluren. Die Sonne ließ das Pferdegeschirr aufblitzen und entlockte den großen Messern, die vom Sat-
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telbogen herabhingen, ein flüchtiges Funkeln. Der Jahrmarkt hatte seinen Anfang genommen, der berühmte Jahrmarkt von Grijalba, der in der Stadt und in den ländlichen Hütten, auf den grünen Weideflächen und auf den staubigen Wegen gefeiert wurde. Wie der Zufall es gerade bescherte, fanden die Menschen sich zusammen. Wir zügelten unsere Pferde, die wiehernd ihre Mähnen schüttelten. Lächelnd blickte die Niña Chole mich an und streckte mir ihre Linke hin. Hand in Hand galoppierten wir weiter. XXIV Als wir aus einem Palmenwald hervorkamen, lag vor unseren Augen ein buntes Bild, auf dem es von Menschen und Pferden durcheinanderwogte. Durch das mutwillige Klingeln der Herdenglocken tönten die feilschenden und rufenden Stimmen der Pferdehändler. Die ganze Ebene schien zu erzittern von diesem soldatisch dröhnenden Lärm: Hufe trappelten, Sättel knirschten, Peitschen knallten und Pferdegebisse klirrten. Kaum waren wir in den Platz eingeritten, als auch schon ein grausiger Schwärm von Krüppeln uns jammernd und klagend umgab: Blinde und Lahme, Zwerge und Bresthafte drängten sich an uns, verfolgten uns, rollten unter den Hufen der Pferde umher, schleppten sich den Weg entlang, unter Wimmern und Gebeten, die offenen Wunden voller Staub, die Beine hochgebunden, dürr, abgezehrt, grauenerregend. Sie kletterten übereinander, schlugen sich auf die Schultern, rissen sich gegenseitig die Hüte vom Kopf und stahlen sich die Münzen weg, die wir ihnen im Vorüberreiten zuwarfen.
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Mit diesem prächtigen Gefolge gelangten wir schließlich vor die Hütte eines freigelassenen Negers. Das Hufgetrappel unserer Pferde und die klägliche Litanei der Bettler lockte ihn vor die Tür, noch bevor wir abgestiegen waren. Als er uns erblickte, packte er seinen Ochsenziemer und verjagte den widerlichen Schwärm. Dann stürzte er herbei, um der Niña Chole den Steigbügel zu halten und ihre Hände dabei so demütig und ehrfurchtsvoll zu küssen, als sei sie eine Prinzessin, die ihm die Ehre ihres Besuchs gab. Auf das Rufen des Negers hin erschien seine gesamte Familie. Er war mit einer Andalusierin verheiratet, die früher einmal Kammermädchen bei der Niña Chole gewesen war. Die Frau schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie uns sah: «Heilige Jungfrau! Das gnädige Fräulein!» Dann ergriff sie die Niña Chole an der Hand und führte uns in die Hütte. «Daß die Sonne dich nur nicht verbrennt, meine Königin, mein Goldäpfelchen, die du meiner Armut solch hohe Ehre erweist!» Der Neger lächelte und blickte uns mit feuchten Augen an wie ein krankes Tier, Augen, in denen eine wahrhaft animalische Sanftheit lag. Sie nötigten uns zum Sitzen und blieben selbst vor uns stehen. Dann schauten sie einander an und begannen gleichzeitig zu sprechen. Sie hatten beide dieselbe Sache auf dem Herzen: «Ein Bauer hier hat zwei weiße Fohlen. Wunderschön! Weiß wie die Tauben! Das wäre ein Gespann für die Kutsche der Niña!» Jetzt konnte die Niña Chole nicht länger ruhig zuhören : «Ich will sie sehen l Du sollst sie mir kaufen!»
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Sie war aufgesprungen und warf sich eilig ihr Tuch um: «Komm doch! Schnell!» Die Andalusierin lächelte spitzbübisch: «Da sieht man doch, daß Euer Gnaden ihr auch nicht den kleinsten Wunsch erfüllen!» Dann hörte sie auf zu lächeln und fügte hinzu, als ob alles schon beschlossene Sache sei: «Der Herr geht mit meinem Mann. Für die Niña ist es um diese Stunde zu heiß.» Nun öffnete der Neger die Tür, und die Niña Chole drängte mich mit zärtlichen Gesten und Blicken hinaus. Wir verließen die Hütte. Kaum waren wir draußen, als der alte Sklave an meiner Seite tief aufseufzte und die alte Geschichte seiner Leiden herzubeten begann. Mit gesenktem Kopf trabte er neben mir her, folgte mir wie ein Hund durch die Menge, unterbrach sich und begann wieder von neuem seine Sorgen zu erzählen, die immer gleichen Sorgen des eifersüchtigen Parias: «Ihr ganzes Leben lang hat sie's immer mit den Männern, Herr! Das schamlose Weib!... Aber nicht etwa mit Weißen, Herr! Ach nein, nicht einmal mit Weißen!... Diese große Hure gibt sich nur mit Schwarzen ab. Was sagen Sie nur dazu, Herr, solch eine Person!» Seine Stimme war klagend, ergeben, kummervoll. Eine echte Sklavenstimme. Ihn schmerzte nicht die Tatsache, daß seine Frau ihn betrog, nicht die Schande, die sie ihm damit antat, sondern einzig und allein der niedrige Geschmack, den die Andalusierin dabei an den Tag legte. Er war nur in bestimmten Fällen eifersüchtig, genau wie gewisse Höflinge, die mit Hilfe ihrer Frau zur Macht gelangt sind. Der Herzog von Saint-Simon hätte ihn in seinen Memoiren sicherlich gerühmt und damit die gleiche Fein93
sinnigkeit und philosophische Lebensauffassung verraten wie bei seiner Beurteilung Spaniens: gerät er doch geradezu in Ekstase angesichts des moralischen Gehalts, der dem so echt spanischen Begriff vom «nachsichtigen Hahnrei» inne wohnt! XXV Wir durchquerten den Markt von einem Ende zum anderen. Am Waldrand saß im Schatten der Kokospalmen das kreolische Völklein beisammen und trank und sang unter lärmendem Rufen und Händeklatschen. Der Wein funkelte in den Bechern, und die maurische Gitarre, die Sultanin des Festes, schluchzte voll orientalischer Eifersucht und sang ihre andalusischen Liebesstrophen an den weißen Mond. Die langgezogenen Klagetöne der ländlichen Weisen verhallten unter dem Hufegetrampel der Pferde. Chinesische und japanische Händler drängten sich mit ihren ewig schlaffen, mürrischen Gesichtern durch das brodelnde Gewimmel des Marktes. Nicht ein einziges fröhliches Erzittern ließ den langen Zopf tanzen. Gelb wie Wachsfiguren schleppten sie sich auf ihren Pantoffeln an all den schwarzen Gesichtern vorbei und priesen mit Fistelstimmen ihre Sandelholzfächer und Schildpattstöcke an. Vor den Türen der Rohrhütten saßen lumpenbekleidete, mit Amuletten und Korallenschnüren behängte Indianerinnen und boten Bananen und Kokosnüsse feil. Schon mit dreißig Jahren waren sie alt, runzlig und gebückt, von jener märchenhaften Häßlichkeit, wie Götzenbilder sie haben. Ihr glänzender Rücken schimmerte in der Sonne, die schwarzen, schlaffen Brüste erinnerten an He94
xensabbat und Koboldstänze. Am Wegrand zusammengekrümmt, als zitterten sie noch unter dieser glühenden Sonne, halbnackt, mit wirren Haarsträhnen, Verwünschungen über die Menge hinmurmelnd, glichen sie den Sibyllen eines uralten, lasterhaften und blutrünstigen Kultes. Ihre Kinder, schwarz und dürr wie kleine Teufel, lugten durch die Fugen der Hütten und stahlen sich heimlich unter den leinenen Zelttüchern durch, hinter denen verstimmte Leierkasten quietschten. Mulattinnen und Mexikaner führten jene sinnlichen, aufreizenden Tänze vor, die die Negersklaven einst aus Afrika mitgebracht hatten, und die grellbunten Unterröcke leuchteten auf bei den Drehungen und Wendungen der heiligen Rhythmen, mit denen vor Zeiten die Gefangenen dem Schatten des Stammvaters Badbad geopfert wurden. Wir durchstreiften den Markt, ohne irgendwo des gerühmten weißen Gespanns ansichtig zu werden. Schon wandten wir uns wieder zum Gehen, als ich mich am Arm festgehalten fühlte. Es war die Niña Chole: Sie war sehr bleich, und obgleich sie zu lächeln versuchte, zitterten ihre Lippen, und ich sah ihren Augen an, wie verstört sie war. Sie legte mir beide Hände auf die Schultern und rief mit erzwungener Lustigkeit: « Hör mal, du darfst nicht böse sein!» Dann hängte sie sich an meinen Arm und fuhr fort: «Ich hab' mich so gelangweilt und bin weggegangen... Hinter der Hütte gab es einen Hahnenkampf, weißt du? Da war ich. Ich habe gespielt und verloren.» Hier unterbrach sie sich, wandte den Kopf mit einer anmutigen Bewegung und wies auf den blonden, athletischen Jüngling, der sich grüßend neigte: «Dieser Herr hat die Ehre, mein Gläubiger zu sein.» 95
Die extravagante Laune der Niña Chole rief in meinem Herzen einen dumpfen, eifersüchtigen Groll hervor. «Wieviel hat diese Dame verloren?» fragte ich hochfahrend. Ich hatte geglaubt, der Spieler werde sich galant weigern, seine Forderung einzukassieren, und ich wollte ihn durch meine kalte, verächtliche Haltung zur Annahme des Geldes zwingen. Der schöne Jüngling jedoch lächelte voll liebenswürdiger Zuvorkommenheit: «Bevor sie wettete, hat die Dame mir mitgeteilt, daß sie kein Geld hätte. Wir kamen daraufhin überein, daß ein Kuß von ihr hundert Unzen wert sein sollte. Drei Küsse hat sie gesetzt und alle drei verloren.» Ich fühlte, wie ich erbleichte. Doch wie groß war erst mein Staunen, als die Niña Chole, blaß, mit gerungenen Händen und beinahe tragischer Miene, vortrat und rief: «Ich will bezahlen! Ich will bezahlen!» Mit einer Handbewegung hielt ich sie zurück. Dann trat ich vor den schönen Jüngling und schnellte ihm meine Worte wie Peitschenhiebe ins Gesicht: «Diese Frau gehört mir, und ihre Schuld auch!» Damit wandte ich mich und zog die Niña Chole mit mir. Lange herrschte Schweigen zwischen uns. Plötzlich preßte sie meinen Arm und flüsterte mit ihrer sanftesten Stimme: « Oh, was für ein edler Mensch du bist!» Ich antwortete nicht. Die Niña Chole begann still vor sich hinzuschluchzen, lehnte den Kopf an meine Schulter und rief im Tone inbrünstigster Leidenschaft: « Mein Gott! Was würde ich nicht für dich tun! ...»
XXVI Bald waren wir wieder in der Hütte angelangt. Übellaunig, mit finsterer Miene warf ich mich auf die Hängematte und befahl den Stallknechten mit barscher Stimme, zu satteln, damit wir unverzüglich aufbrechen könnten. Der dunkle Schatten eines Indios erschien in der Türöffnung: «Herr, der Rotschimmel, den die Niña geritten hat, hat ein Hufeisen verloren... Soll ich ihn wieder beschlagen?» Ich fuhr so heftig auf meinem Lager empor, daß der Indio erschrocken zurückwich. Dann warf ich mich wieder hin und schrie: «So beeil dich doch, zum Teufel noch einmal, Cuactemocin!» Bleich und flehend blickte die Niña Chole mich an: «Schrei nicht! Wenn du wüßtest, wie du mich erschreckst !» Ich schloß die Augen, ohne zu antworten, und nun herrschte für eine lange Weile Stille in dem heißen, dämmrigen Hüttenraum. Der Neger kam und ging mit lautlosen Schritten und begoß den mit Krautern bestreuten Fußboden. Von draußen hörte man das Wiehern der Pferde und die Stimmen der Indios, die den Tieren beim Aufzäumen zusprachen. In der leuchtend hellen Türöffnung summten die Schmeißfliegen ihr eintöniges Hochzeitslied. Die Niña Chole erhob sich und kam an meine Seite. Schweigend, unter leichtem Seufzen strich sie mit ihren Feenfingern über meine Stirn. «Sag», meinte sie dann, «wärst du imstande, mich zu töten, wenn der Russe ein Mann wäre?»
7 Sommersonate
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«Nein.» «Oder ihn zu töten?» «Auch nicht.» «Würdest du gar nichts tun?» «Nein.» «Weil du mich verachtest?» «Weil du nicht die Marquise von Bradomin bist.» Einen Augenblick saß sie wie gelähmt mit zitternden Lippen da. Ich schloß wieder die Augen und wartete auf ihre Tränen, die Klagen und Verwünschungen; doch die Niña Chole blieb still und streichelte nur weiter meine Haare wie eine unterwürfige Sklavin. Endlich gelang es den Feenfingern, die Falten von meiner Stirn zu wischen, und ich fühlte mich geneigt, ihr zu vergeben. Ich wußte, die Sünde der Niña Chole war nichts als die ewig gleiche Sünde der Frauen, und mein verliebtes Herz begann unwillkürlich milder für sie zu schlagen. Sicherlich war sie neugierig und lasterhaft, so wie jene Frau Loths, die zur Salzsäule wurde; doch heute, nach so vielen hundert Jahren, verfährt die göttliche Gerechtigkeit nicht mehr ganz so streng wie damals mit den Frauen der Menschen. Ohne mir selbst darüber klarzuwerden, war ich versucht, den edlen, von einer biblischen Legende umrankten Stammbaum dieser Sünde zu bewundern wie einen Glorienschein. Wenn der Himmel selbst der Niña Chole vergab und ich war sicher, daß er es getan hatte -, dann mußte der Marquis von Bradomin ein gleiches tun. Aller Groll war aus meinem Herzen geschwunden. Unter dem sanften Streicheln der zarten Finger öffnete ich die Augen und murmelte lächelnd: «Niña, ich weiß nicht, was für einen Zaubertrank du mir eingeflößt hast, daß ich alles vergesse...» 98
Tränen rannen über ihre Rosenwangen herab, während sie erwiderte: Ich bin eben nicht die Marquise von Bradomin.» Dann schwieg sie und wartete wohl auf eine verliebte Entschuldigung; doch ich zog es vor zu schweigen und hielt es für eine ausreichende Genugtuung, ihr die Hand zu küssen. Sie zog sie spröde zurück, und während immer noch die Stille über uns lastete, füllten ihre schönen Augen, die Augen einer orientalischen Prinzessin, sich mit Tränen. Glücklicherweise rollten sie noch nicht über ihre Wangen herab, als der Indio mit unseren gesattelten Pferden wieder in der Türöffnung erschien, so daß ich die Hütte verlassen und tun konnte, als hätte ich nichts von ihrem Schmerz bemerkt. Als die Niña Chole dann aus der Tür trat, schien sie schon wieder ganz ruhig und heiter. Ich hielt ihr den Bügel, daß sie aufsteigen konnte, und einen Augenblick später sprengten wir in frischem Galopp über den Platz und zum Ort hinaus. Da kreuzte ein Reiter auf tänzelndem Pferd unseren Weg. Mir kam es vor, als sei die Niña Chole bei seinem Anblick blaß geworden und habe ihren Schleier tiefer ins Gesicht gezogen; doch tat ich, als hätte ich nichts bemerkt, und sagte kein Wort, da ich keine Eifersucht zeigen wollte. Als wir dann den roten, staubigen Weg hinaufritten, entdeckte ich noch mehrere andere Reiter, die fern auf der Spitze eines Hügels postiert waren. Und als ob sie da auf uns gewartet hätten, sprengten sie auf uns zu, kaum daß wir den Hügelsaum erreicht hatten. Ich zügelte sofort mein Pferd und befahl meinen Leuten zu halten. Der Mann, der an der Spitze des anderen Trupps ritt, stieß wilde Schreie aus und stürmte auf uns los, indem er seinem Tier die Sporen in die Weichen trieb. Als die Niña Chole 99
ihn erkannte, schrie sie auf und warf sich zu Boden. Mit ausgestreckten Armen flehte sie um Gnade: « So sehen meine Augen dich wieder!... Töte mich, hier bin ich! Mein König! Mein geliebter König!» Mit drohender Gebärde riß der Fremde sein Pferd hoch und wollte sich auf mich stürzen; doch die Niña Chole fiel ihm mit einem verzweifelten Aufschrei in die Zügel: «Verschone sein Leben! Verschone sein Leben!» Beim Anblick dieses letzten Liebeszeichens fühlte ich mich gerührt. Ich hielt an der Spitze meiner Leute, die eingeschüchtert schienen. Der Fremde hob sich in den Steigbügeln und überprüfte meine Schar mit wilden Augen, um mir zum Schluß einen haßerfüllten Blick zuzuschleudern. Ich hätte schwören mögen, daß auch er Angst hatte. Ohne die Lippen zu bewegen, hob er seine Peitsche und schlug der Niña Chole ins Gesicht. Sie schluchzte noch immer: « Mein König!... Mein geliebter König!» Der Reiter beugte sich über den Sattel herab, an dem seine Pistolen hingen, riß die Niña Chole mit roher, wilder Gebärde vom Boden empor und setzte sie hinter sich aufs Pferd. Dann brüllte er noch ein paar furchtbare Flüche zu mir herüber, wandte sich und jagte davon wie ein Frauenräuber der alten Zeiten. Stumm und bleich sah ich ihnen nach. Ich hätte die Niña Chole zurückholen können; aber ich rührte kein Glied. Mag ich mich auch bei anderen Gelegenheiten als großer Sünder erwiesen haben - in jenem Augenblick, da ich erriet, wer der Fremde war, verspürte ich Reue. Als Tochter und Gattin gehörte die Niña Chole jenem wilden Mexikaner, und mein Herz beschied sich voller Demut und beugte sich diesem doppelten Anrecht. Mir war, als hätte ich für immer mit der Liebe und der
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Welt abgeschlossen. Ich spornte mein Pferd und sprengte weiter, den einsamen Ebenen von Tixul entgegen, hinter mir meine Leute, die mit erregter Stimme ihre Meinung über das eben Erlebte austauschten. Diese Indios wären alle freudig dem Entführer der Niña Chole gefolgt. Genau wie die Frau schienen auch sie fasziniert von der Peitsche des Generals Diego Bermudez. Mit einer stolzen, schmerzvoll-hochmütigen Aufwallung riß ich mich zusammen. Nie werden meine Feinde, die mich aller Verbrechen zu beschuldigen wagen, von mir behaupten können, ich hätte um eine Frau gekämpft. «Die anderen verachten und sich selbst nicht lieben», so lautet meine Devise, und ich war ihr nie so treu wie in jenem Augenblick.
XXVII So ritten wir durch die sandigen Einöden: tief auf die Sättel gebeugt unter den Strahlen der glühenden Sonne, die Zügel lose über die Hälse der Pferde gelegt, schweigsam, erschöpft und durstig. Und immer sahen wir in weiter Ferne vor uns den Tixulsee, der mit seinen sanften, kühlen Wellen die herabhängenden Zweige der Weidenbüsche benetzte, welche sich in den verzauberten Wassern spiegelten ... Wir überquerten die großen Dünen, kahle Landstrecken, auf denen kein Lüftchen sich regte und kein Laut zu hören war. Auf dem glühenden Sand hockten in zitternder Verzückung alte Eidechsen wie hundertjährige Fakire. Unbarmherzig brannte die Sonne herab und dörrte diese unfruchtbare Erde aus, die ihre Strafe für ein dunkles geologisches Verbrechen abzubüßen schien. Unsere Pferde, die der lange Ritt mürbe gemacht hatte, streckten
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den Hals vor und wiegten ihn in schlaftrunkenem, qualvollem Rhythmus auf und nieder. Ihre eingefallenen Weichen bluteten, mühsam arbeiteten sie sich vorwärts, während ihre Hufe in dem gleitenden schwarzen Sand einsanken. Stunden um Stunden spannte sich vor unseren ermüdeten Augen ein kalkweißer Horizont. Schwindelgefühle drückten auf die Lider, die erschöpft herabsanken, um sich einen Augenblick später vor den ewig gleichen, toten und vergessenen Fernen wieder zu öffnen. Es war ein langer Tagesritt durch den schwarzen Sand, und meine Mattigkeit und mein Schlafbedürfnis waren schließlich so groß, daß es mich Mühe kostete, mein Pferd zu spornen. Kaum konnte ich mich noch im Sattel halten. Wie ein Büßer in den Gefilden Dantescher Phantasie erblickte ich ständig in der Ferne vor mir den grünen Tixulsee, an dessen Ufern ich eine Rast erhoffte. Schon war der Nachmittag zur Hälfte vorüber, und die Sonnenstrahlen hinterließen auf dem Wasser des Sees eine goldene Spur, als sei soeben der Nachen der Feen darüber hingeglitten... Wir waren noch immer weit von ihm entfernt, als wir bereits den Moschusgeruch der Krokodile wahrnahmen, die aus dem Wasser herausgekommen waren und sich träge auf den schlammigen Ufern streckten. Die plötzliche Unruhe meines Pferdes, das zitternd die Ohren hochstellte und seine Mähne schüttelte, ließ mich wieder gerade und fest aufsitzen und nach den Zügeln greifen, die lose über dem Sattelknopf hingen. Da die Nähe der Kaimane das Tier erschreckte und die Furcht es schnaubend zurückweichen ließ, mußte ich die Sporen gebrauchen, um es in Galopp zu setzen. Der ganze Trupp folgte meinem Beispiel. Als wir näher kamen, ließen die Krokodile sich langsam ins Wasser gleiten. Nun ritten wir bis an das 103
Ufer des Sees hinunter. Ein paar Vögel mit langen Flügeln, die ihr Nest im Röhricht hatten, stiegen auf, erschreckt durch den Lärm meiner Leute, die jetzt ihre Tiere in den See hineintrieben, bis das Wasser ihnen über den Sattelgurt ging. Am anderen Ufer blieb ein Krokodil schläfrig, mit aufgeblähten Nüstern, im Schlamm liegen. Da lag es, die Augen zur Sonne hinaufgekehrt, unbeweglich, häßlich und gleichgültig wie ein Götze der Urzeit. Mein Stallknecht kam eilfertig heran, um mir den Steigbügel zu halten; doch ich wies ihn zurück. Angesichts der schnell hereinbrechenden Dunkelheit hatte ich meinen Plan geändert und mich entschlossen, den Tixulsee zu überqueren, ohne den Pferden vorher eine Rast zu gönnen. Die Indios meiner Begleitung waren sofort bereit, meinem Wunsch zu willfahren. Sie waren sämtlich ausgezeichnete Reiter und trieben ihre Tiere beherzt ins Wasser, während sie mit den Piken die Tiefe sondierten. Große fremdartige Blüten schwankten zwischen widerlichen grünlichen Algen auf dem glatten Spiegel des Sees. Schweigsam tasteten sich die Reiter, die beinahe völlig nackt waren, Schritt für Schritt mit äußerster Vorsicht weiter: Wie ein Trupp schwarzer Zentauren sahen sie aus. Weit vorn vor den Köpfen der Pferde trieben schwimmende Inseln aus ungeheuren Seerosen vorbei, und flinke Eidechsen sprangen wie spöttische, mutwillige Kobolde von einer dieser Inseln zur anderen. Ein fröhlicher Thronhimmel aus Schmetterlingsflügeln spannte sich über den Blüteninseln, die langsam, ganz langsam, wie auf einem verwunschenen Gewässer, dahinglitten und zuweilen von dem wogenden Auf und Ab der weißen und blauen goldgeränderten Flügel ganz und gar verdeckt wurden. Der Tixulsee war wie einer jener Gärten, die man nur aus dem 104
Märchen kennt. Als Kind hatte man mir vor dem Einschlafen zuweilen Geschichten erzählt, in denen solche Gärten vorkamen... Sie schwammen auch in einem See, eine Zauberin wohnte darin, und in den traumhaft schönen Kelchen der giftigen Blüten saßen blonde Prinzen und Prinzessinnen, die von der Bösen verhext waren.
XXVIII Schon schwamm die Zentaurengruppe mitten im Tixulsee, als das Krokodil, das am gegenüberliegenden Ufer in Ekstase versunken schien, sich langsam ins Wasser begab und untertauchte... Ich wollte nicht noch länger am Strande warten, sondern klopfte meinem Pferd beruhigend den Hals und lenkte es Schritt vor Schritt in den See hinein. Als das Wasser ihm bis zum Sattelgurt reichte, begann das Tier zu schwimmen, und fast im gleichen Augenblick bemerkte ich, daß ich von einem phantastischen Bündel runder, gelblich schimmernder, ein wenig verschleierter Augen umgeben war, die nur eben über das Wasser hinausragten. Und diese Augen blickten mich an, waren starr auf mich gerichtet!... Ich gestehe, daß mich in jenen Sekunden doch ein kalter Schreckensschauer überrann. Die Sonne war im Sinken begriffen, und da ich direkt nach Westen ritt, trafen mich ihre Strahlen von vorn, so daß ich fast geblendet war. Ich mußte, um diesen Feuergarben auszuweichen, meinen Blick auf die stummen Wellen des Sees niedersenken, wenngleich mir von hier aus die grauenvolle Gefahr der Kaimane entgegenstarrte, jener unheimlichen Tiere, denen es gegeben ist, einzig ihre gräßlichen Augen aus dem Wasser ragen zu 105
lassen - wimperlose Augen, die sich nach allen Richtungen drehen können, um dann wieder wie gebannt auf einem Punkt zu verharren... Erst als mein Tier wieder Grund unter den Hufen hatte und mit mir dem sicheren Ufer entgegenstrebte, konnte ich frei aufatmen. Meine Leute erwarteten mich. Sie hatten sich am Strande ausgestreckt, liefen umher oder tummelten ihre Pferde. Jetzt schlössen wir uns wieder zusammen und setzten unseren Weg durch den schwarzen Sand fort. Sobald die Sonne verschwunden war, machten sich die Anzeichen eines kommenden Gewitters bemerkbar. Wütend fegte der Steppenwind dahin, wirbelte den Sand auf und trieb ihn vor sich her, als wolle er von dieser ungeheuren Einöde Besitz ergreifen, die den ganzen Tag über wie betäubt in der Hitze dagelegen hatte. Wir spornten unsere Pferde und ritten gegen Wind und Sand an. In dem Ungewissen Licht einer traurigen Abenddämmerung dehnten sich vor uns die Dünen und ächzten unter den rasenden Stößen des Zyklons. Mit langsamen Flügelschlägen, matt und unsicher flogen ganze Schwärme von Geiern dicht am Boden dahin. Als es völlig dunkel geworden war, gewahrten wir in der Ferne eine Reihe flammender Feuerstellen. Von Zeit zu Zeit zerriß ein Blitz den Horizont und zeigte uns das Bild der einsamen bleichen Dünen. Jetzt begannen dicke Tropfen zu fallen. Die Pferde schüttelten die Ohren und zitterten wie im Fieber. Die Flammen, die vom Sturm gepeitscht wurden, loderten plötzlich hoch empor oder duckten sich zusammen, bis sie ganz verschwanden. Die immer häufiger niederfahrenden Blitze hinterließen auf der Netzhaut unserer Augen das schwankende flüchtige Bild dieser unwirtlichen Landschaft. Unsere Pferde, deren Mähnen im Wind 106
flatterten, wieherten ängstlich und versuchten sich zu orientieren, indem sie sich in der Finsternis der Nacht unter den herabströmenden Regengüssen möglichst dicht aneinanderhielten. Das chaotische Licht der Blitze verlieh der öden Weite das Aussehen jener Traumlandschaften, wie wir sie aus den Büßerlegenden kennen: endlose Aschen- und Sandwüsten als Vorland der Hölle. Mit Hilfe der Feuerstellen, die uns die Richtung zeigten, gelangten wir zu einem großen flachen Weideland, über dem ein paar zerzauste zwergenhafte wilde Kokospalmen ihre vom Winde gepeitschten Kronen wiegten. Der Regenguß hatte plötzlich aufgehört, und auch der Sturm schien jetzt in weiter Ferne zu toben. Ein paar Hunde stürzten uns bellend entgegen, weiter hinten stimmten 107
andere in das Gekläff ein. Einige verdächtige Gestalten bewegten sich um ein Feuer herum: dunkle Gesichter, weiße Zähne, die im Scheine der Flammen aufblitzten. Wir waren in ein Lager von Nomaden geraten, dessen Insassen, halb Straßenräuber, halb Viehtreiber, riesige Herden zum Markt nach Grijalba brachten. Als man vom Lager aus unseren herangaloppierenden Trupp bemerkte, tauchten von allen Seiten her dunkle Gestalten und dürre Hunde auf: Die Männer hatten jene sehnige Magerkeit, wie die Wüste sie verleiht, und die Haltung mächtiger, blutdürstiger Barbarenfürsten. Vom Himmel ließ der Mond, verschleiert wie eine Witwe, das sanfte Lächeln seines Lichts auf diese Schar rauher Männer und winselnder Hunde herabsinken. Hin und wieder vernahm man zwischen dem wachsamen Bellen der Hunde und den heiseren Rufen der Hirten das Trampeln und Blöken der Schafe, und derber ländlicher Stallgeruch drang wie der Atem eines primitiven, naturverbundenen Lebens in Stößen zu uns herüber. Hell und schwerelos hallte das Bimmeln der Glöckchen, im Flackerfeuer brannten ganze Bündel aromatischer Kräuter, und der weiße Rauch stieg selig und duftbeladen empor wie der Rauch der altehrwürdigen bäuerlichen Opfer.
XXIX Plötzlich war mir, als gewahrte ich die unbestimmten Umrisse eines nackten Frauenkörpers, der in der züngelnden Flamme zu tanzen schien. Ich sah ihn, auch wenn ich die Augen schloß, mit jener unheimlichen gespenstischen Eindringlichkeit, wie sie Fieberträumen eigen ist. Wehe 108
mir! Es war eine jener mystischen sinnlichen Visionen, mit denen der Teufel in früheren Zeiten die heiligen Einsiedler zu versuchen pflegte! Da hatte ich geglaubt, für immer den sündigen Netzen der Liebe entkommen zu sein, und schon strafte mich der Himmel für diese Anmaßung, indem er mich preisgab. Diese nackte Frau, die von den Flammen nur leicht verhüllt wurde, war die Niña Chole. Sie hatte ihr Lächeln und ihren Blick. Mein Herz überzog sich mit Trauer, Seufzer entrangen sich meinen Lippen. Das schwache Fleisch erbebte in Eifersucht und Wut. Alles in mir rief nach der Niña Chole. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich den blutschänderischen Entführer nicht niedergestochen hatte, und gebieterisch drängte sich mir der Gedanke auf, daß ich ihn nun durch die ganze Weite des mexikanischen Landes suchen müsse. Es war, als hätte eine Schlange sich in meinem Herzen zusammengeringelt und nun wäre sie aufgewacht, hätte hineingebissen und mein Blut vergiftet. Um dieser Qual zu entrinnen, rief ich den Indio herbei, der mir als Führer diente. Zitternd vor Kälte eilte er auf meinen Ruf herzu: «Was befiehlt der Herr?» «Wir brechen wieder auf.» «Schlechtes Wetter, Herr. Es gibt viele reißende Wasser jetzt.» Ich überlegte einen Augenblick: «Wie weit ist es von hier bis zur Hacienda von Tixul?» « Zwei Wegstunden, Herr.» Ich richtete mich heftig auf: « Satteln!» Während der Führer meinen Befehl ausführte und meine Leute sich zum Aufbruch zurechtmachten, wärmte ich mich ein wenig am Feuer auf. Mein Schatten tanzte 109
wie die Flamme über den Stoppeln und legte sich, zu phantastischen Ausmaßen angewachsen, über die schwarze Erde. Ich verspürte in mir das Beben eines furchterregenden düsteren Geheimnisses. Beinahe hätte ich meinen Entschluß wieder geändert, als meine Indios mit dem Pferd herankamen. Im Schein des Feuers zogen sie den Sattelgurt fest und brachten das Zaumzeug in Ordnung. Dann ergriff der Führer schweigend und demütig das Tier beim Zügel. Ich stieg auf, und wir ritten davon. Lange Zeit ging es über ein welliges Gelände, vorüber an riesigen Kakteen, die sich im Winde bogen und rauschten wie Sturzbäche. Von Zeit zu Zeit zerriss ein Mondstrahl die ernsten Wolkenmassen und warf ein mattes Licht auf unseren Weg. Vor meinem Pferd flog mit lautlosem Flügelschlag ein Nachtvogel her. In kurzen Abständen ließ er sich nieder, und wenn ich näher kam, schlug er mit seinen schwarzen Flügeln und begab sich unter klagendem Krächzen - dem einzigen Lied, das seine Kehle hergab - wieder ein Stück weiter. Mein Führer, der abergläubisch war wie alle Indios, glaubte aus dem Schrei des Vogels das Wort «Jude!» herauszuhören und konnte die Beleidigung nicht ertragen, die ihm der Vogel jedesmal, wenn er seine dunklen Flügel hob, ins Gesicht schleuderte. «Nein, ein Christ, ein guter Christ!» erwiderte er ernsthaft. «Was ist das für ein Vogel?» fragte ich ihn. «Der Tapacaminos, der Wegversperrer, Herr.» So langten wir endlich auf meiner Besitzung an. Das Haus, das einst für einen Vizekönig erbaut worden war, wies einen halb herrschaftlichen, halb ländlichen Charakter auf, so wie die Häuser der Landedelleute in Spa110
nien. Ein Trupp Reiter hielt vor der Tür. Ihrem Aussehen nach zu urteilen waren es Straßenräuber. Sie hatten ihre Tiere im Kreise aufgestellt, und die Flaschenkürbisse voll Kaffee wanderten von Hand zu Hand. Die breitkrempigen gestickten Hüte leuchteten im Mondschein. In der Mitte des Weges war ein Reiter postiert, ein runzliger Alter mit wilden Augen und einer verstümmelten Hand. Als wir näher kamen, rief er uns an: «Halt! Wer da?» Ich richtete mich im Sattel auf und erwiderte barsch: «Ich bin der Marquis von Bradomin.» Der Alte wendete sein Pferd und sprengte zurück zu den Männern, die vor der Tür die Kürbisse voll Kaffee in der Runde gehen ließen. Ich konnte im Schein des Mondlichts deutlich wahrnehmen, wie sie beratend die Köpfe zusammensteckten, um dann nach den Zügeln zu greifen und davonzureiten. Als ich vor dem Hause anlangte, war die Tür frei, und man hörte nur noch von fern das Geräusch der galoppierenden Pferde. Der Verwalter, der mich auf der Türschwelle erwartete, trat vor, um mich zu begrüßen. Dann nahm er mein Pferd beim Zügel, wandte sich nach dem Hause zurück und rief: « Licht her!... Die Treppe erleuchten!» Jetzt erschien oben an einem Fenster die dunkle Gestalt einer alten Frau mit einer brennenden Öllampe: «Gelobt sei Gott, der den gnädigen Herrn durch so viele Gefahren sicher hierhergeleitet hat!» Um uns besser zu leuchten, beugte sie sich zum Fenster hinaus und streckte ihren zitternden Arm mit der Öllampe vor. Wir traten in den Hausflur, und fast im gleichen Augenblick erschien die Alte wieder am oberen Ende der Treppe. 111
« Gelobt sei Gott! Nein, wie sieht man dem Herrn doch seine vornehme Abkunft und das edle Blut so deutlich an!» Die Alte führte uns in ein weißgetünchtes Zimmer, dessen sämtliche Fenster offen standen. Sie stellte die Lampe auf einen Tisch mit gedrehten Füßen und wandte sich zum Gehen: «Gelobt sei Gott! Welch prächtiger junger Herr!» Ich setzte mich. Der Verwalter blieb in einiger Entfernung stehen und betrachtete mich aufmerksam. Er war ein alter Soldat aus dem Karlistenheer und hatte Spanien nach dem Verrat von Vergara verlassen müssen. In seinen eingesunkenen schwarzen Augen schimmerte es wie von Tränen. Ich streckte ihm mit herzlicher Vertraulichkeit die Hand hin: «Setz dich doch, Brion... Was waren das für Leute?» «Straßenräuber, Herr.» «Freunde von dir?» « Gute Freunde!... Hier muß man sich so einrichten wie damals, zur Zeit Ihrer Großmutter, der Gräfin von Barbazon, auf den andalusischen Pachthöfen. José Maria, der große Räuber, verehrte meine Herrin wie eine Königin, denn sie war seine beste und treueste Patin...» «Und diese mexikanischen Viehdiebe sind ebenso groß in ihrer Art wie unsere Andalusier?» «Sie verstehen ihr Handwerk», erwiderte Brion mit gedämpfter Stimme. «Sie rauben... es kommt ihnen auch nicht auf einen Mord an... Und sie haben Verstand... Aber mit unseren Andalusiern können sie es doch noch nicht aufnehmen. Ihnen fehlt die Anmut und Leichtigkeit, die nun einmal dazugehören wie das Salz zum Essen. Und dabei sind die Andalusier auch nicht etwa besser
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und prächtiger ausgestattet. Nein, darauf kommt es nicht an.» In diesem Augenblick trat die Alte wieder ins Zimmer, um uns zu melden, daß das Essen bereit sei. Ich stand auf, und sie nahm die Lampe vom Tisch, um uns zu leuchten.
XXX Erschöpft sank ich auf mein Lager; doch die Erinnerung an die Niña Chole hielt mich bis zum Morgengrauen wach. Alle meine Bemühungen, ihr Bild zu verscheuchen, waren vergebens: Immer wieder war es da und tauchte aus dem Nebel meiner Gedanken empor, flüchtig, schemenhaft, quälend. Kaum war ich in jenen dämmernden Übergangszustand zwischen Wachen und Schlaf hineingeglitten, so schreckte es mich wieder daraus auf. Schließlich verfiel ich, von Müdigkeit überwältigt, in eine Art Fieberschlaf, der von bedrückenden Traumbildern bevölkert war. Plötzlich öffnete ich meine Augen und blickte ins Dunkel. Zu meiner größten Überraschung war ich jetzt vollständig wach. Ich versuchte, noch einmal einzuschlafen, aber es gelang mir nicht. Unter meinem Fenster begann ein Hund zu bellen, und nun erinnerte ich mich undeutlich, daß ich kurz vorher, noch im Schlafe, sein Bellen schon einmal gehört hatte. Gereizt durch meine Schlaflosigkeit setzte ich mich in den Kissen auf. Das Mondlicht erhellte jeden Winkel des Raumes; denn ich hatte der Hitze wegen die Fenster offen gelassen. Mir war, als hörte ich die gedämpften Stimmen von Menschen, die sich im Garten befinden mußten. Der Hund war wieder verstummt, die Stimmen entfernten sich. Wieder versank 8 Sommersonate
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alles in Schweigen, und mitten in dieses Schweigen hinein erscholl das Hufgetrappel eines davongaloppierenden Pferdes. Ich erhob mich, um das Fenster zu schließen. Das Gartentor stand offen, und in mir regte sich ein seltsamer Verdacht, obgleich der vom Monde beschienene rötliche Weg still und verlassen zwischen den rauschenden Maisfeldern dalag. Ich blieb noch eine Weile stehen und spähte wachsam hinaus. Im weißen Mondlicht schienen die Felder wie tot, nur ein säuselnder Windhauch strich über sie hin. Ich fühlte, wie meine Müdigkeit zurückkehrte, und schloß das Fenster. Ein Frösteln durchschauerte mich, ich legte mich wieder zu Bett. Doch kaum hatte ich die Augen geschlossen, als das ferne Echo von Flintenschüssen mich wieder auffahren ließ. Von mehreren Seiten ertönten Pfiffe. Und wieder hörte man den Galopp eines Pferdes. Ich wollte mich gerade wieder erheben, als es draußen still wurde. Später, nach einer ganzen Weile, vernahm ich vom Garten her das Knirschen von Spaten, als ob man eine Grube aushöbe. Der Morgen mußte schon nahe sein, und ich schlief endlich ein. Als der Verwalter ins Zimmer trat, um mich zu wecken, wußte ich nicht mehr, ob ich nicht alles geträumt hatte. Ich wollte mich vergewissern. «Was war das für ein Kampf heute nacht?» fragte ich. Der Verwalter senkte mit trauriger Miene den Kopf: «Heute nacht ist der Tapferste aller Tapferen von Mexiko getötet worden.» «Wer hat ihn getötet?» «Eine Kugel, Herr.» «Eine Kugel? Woher kam sie?» «Aus der Flinte irgendeines Hurensohns.» «Ist der Anschlag der Räuber mißglückt?» «Das ist er, Herr.» 114
«Hast du etwas damit zu tun?» Der Verwalter hob seine brennenden Augen zu mir auf: «Niemals, Herr!» Die stolze Gebärde, mit der er seine Hand aufs Herz legte, ließ mich lächeln; denn der alte Soldat aus den Reihen des Don Carlos, mit seinem dunklen Gesicht, dem großen Hut, der über der Stirn hochgeschlagen war, den finsteren Augen und dem Messer am Gürtel konnte ebensogut einen Straßenräuber wie einen Landedelmann darstellen. Einen Augenblick stand er nachdenklich da, dann fuhr er sich mit der Hand über das Kinn und erklärte: «Damit Euer Gnaden es wissen: Ich halte Freundschaft mit den Räubern, weil ich hoffe, mich ihrer bedienen zu können... Es sind tapfere Leute, die mir auch helfen werden ... Seit ich in dieses Land hier gekommen bin, habe ich nur den einen Gedanken: Ich will Don Carlos V. zum Kaiser machen.» Der alte Soldat wischte sich eine Träne aus dem Auge. Ich blickte ihn überrascht an: «Und wo sollen wir ein Kaiserreich für ihn hernehmen, Brion?» Feurig blitzten die Augen des Verwalters unter den buschigen Brauen: «Wir werden es ihm schon verschaffen, Herr... Und dann die Krone von Spanien.» «Aber wo sollen wir das Kaiserreich hernehmen?» fragte ich noch einmal mit einem Anflug von Spott. «Wir werden ihm Westindien zurückgeben; das kann nicht so schwierig sein. Schwerer war es wohl, diese Länder zu erobern, damals, in den alten Zeiten des Hernán Cortezl Ich habe ein Buch, in dem das alles beschrieben steht. Haben Euer Gnaden es auch gelesen?» 115
Die Augen des Verwalters standen voller Tränen. Die Aufregung, deren er nicht Herr werden konnte, ließ seinen schwarzen Bart erzittern. Er trat ans Fenster und blickte schweigend in den Garten hinunter. Dann seufzte er: « Und heute nacht haben wir den Mann verloren, der uns am besten hätte helfen können. Dort unter der Zeder liegt er begraben.» «Wer war es?» «Der Anführer der Bande, die Euer Gnaden heute nacht hier angetroffen haben.» «Und seine Leute sind auch tot?» « Sie sind in alle Winde verstreut. Der Schrecken hat sie auseinandergetrieben. Sie hatten eine schöne Kreolin geraubt, eine reiche Frau, und sie dann ohnmächtig mitten auf dem Wege liegen lassen. Sie tat mir leid, und ich habe sie hierhergebracht. Wenn Euer Gnaden sie sehen wollen?» «Sie ist wirklich schön?» «Wie eine Heilige.» Ich erhob mich und verließ hinter Brion den Raum. Die Kreolin lag im Garten in einer Hängematte, die an zwei Bäumen befestigt war. Ein paar halbnackte Indianerkinder stritten sich darum, sie schaukeln zu dürfen. Die Frau hatte ihr Taschentuch auf die Augen gedrückt und schluchzte. Als sie unsere Schritte vernahm, wandte sie langsam den Kopf. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus: « Mein König!... Mein geliebter König!» Ohne ein Wort nahm ich sie in die Arme. In Liebesdingen, dies war stets meine Ansicht, galt immer das göttliche Gebot, das uns befiehlt, alle Beleidigungen zu vergessen... 116
XXXI Glücklich lachend grub sie ihre Zähne in meine Hände und befahl mir, mich still zu verhalten. Ich sollte sie nicht berühren. Langsam, ganz langsam knöpfte sie sich selbst das Kleid auf und löste ihr Haar vor dem Spiegel, in dem sie sich lächelnd betrachtete. Sie schien meine Gegenwart vergessen zu haben. Als sie sich entkleidet hatte, lächelte sie wieder und betrachtete sich von neuem. Wie eine orientalische Prinzessin begann sie sich mit duftenden Essenzen einzureiben. Dann streckte sie sich, in Seide und Spitzen gehüllt, auf das Lager und wartete. Die gesenkten Lider bebten, und um ihren Mund spielte noch immer das Lächeln, jenes Lächeln, das ein Dichter unserer Tage einen geflügelten Gesang aus Schnee und Rosen genannt haben würde. So seltsam es erscheinen mag: Ich näherte mich ihr nicht. Ich genoß in göttlicher Seligkeit ihren Anblick und zögerte mit der tiefen, auserlesenen und raffinierten Absicht des Liebeskünstlers alles Weitere noch hinaus, um in der heiligen Stille dieser Nacht mit vollem Bedacht eine Frucht nach der anderen zu pflücken. Durch die offene Balkontür sah man den Himmel, dessen tiefdunkle Bläue vom Silberschimmer des Mondes nur eben überstrahlt wurde. Ein leichter Nachtwind brachte zarte Düfte und Geräusche vom Garten zu uns herauf: die romantische Botschaft, die die welkenden Rosen ihm mit auf den Weg gaben. Liebeatmend, verführerisch war diese nächtliche Stunde. Das Licht der Kerzen flackerte, und an den Wänden tanzten die Schatten. Im dunklen Hintergrund des Flurs ließ eine Kuckucksuhr, ein Andenken aus den Zeiten der Vizekönige, zwölf Rufe erschallen. Bald darauf krähte
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ein Hahn. Mitternacht, die erhabene hoch2eitliche Stunde war da. «Sag mir, gibt es etwas Süßeres als unser Wiederfinden?» murmelte die Niña Chole mir ins Ohr. Ich antwortete nicht, sondern preßte nur meinen Mund auf den ihren, als wolle ich ihn versiegeln; denn das Schweigen ist das heilige Gefäß des Genusses. Doch die Niña Chole hatte die Angewohnheit, auch in den höchsten Augenblicken zu sprechen: « Du mußt mir verzeihen!» flüsterte sie einen Augenblick später. «Wenn wir immer zusammengeblieben wären, könnten wir jetzt nicht so glücklich sein. Du mußt mir verzeihen.» Wenn auch mein armes Herz noch immer ein wenig blutete, so verzieh ich ihr doch gern. Wieder suchten meine Lippen diesen grausamen Mund. Und doch muß ich gestehen, daß ich keineswegs ein Held war und es nicht nötig hatte, mich selbst zu überwinden. Jene Worte hatten mich überwältigt mit der ganzen leidenschaftlichen, zwingenden Gewalt, wie sie dem Munde eigen ist, der immer zur Wollust geöffnet scheint und der beißt, wenn er küßt. Ich preßte sie in meine Arme. «Nie haben wir uns so geliebt! Nie!» murmelte sie schwach. Und die große Flamme der Leidenschaft schlug züngelnd um uns empor, umzitterte uns mit goldenem Schein, machte uns gefeit gegen alle Ermüdung und schenkte uns jene edle Kraft, mit der die Götter genießen. Als unsere Glieder sich berührten, blühten die Küsse wie ein Liebesmai empor. Rote Rosen pflückte ich von ihren Lippen! Weiße Lilien pflückte ich von ihren Brüsten! Und die Niña Chole erbebte in grenzenloser Ekstase, und ihre
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Hände erlangten die göttliche Unbeholfenheit jungfräulicher Hände. Arme Niña Chole, nach all den vielen Sünden, die sie begangen hatte, wußte sie noch immer nicht, daß der höchste Genuß nur erreicht wird in der Versöhnung nach grausamer Entsagung, auch wenn die Versöhnung Feigheit sein mag. Mir aber war das Glück vorbehalten, sie diese Weisheit zu lehren. Ich, der in der Tiefe ihrer Augen stets das dunkle Rätsel ihres Verrats geahnt hatte, wußte nur zu gut, was es den Menschen kostet, sich den Altären der Venus turbulente zu nähern. Seit jener Stunde aber bedaure ich zutiefst alle Unglücklichen, die von einer Frau verraten wurden und sich nun in ungestillter Sehnsucht verzehren, ohne den Weg in ihre Arme zurückzufinden. Ewig wird ihnen die höchste Lust des Fleisches ein Geheimnis bleiben.