Peter Prange
7 Wege zum Misserfolg … und eine Ausnahme von der Regel
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Peter Prange
7 Wege zum Misserfolg … und eine Ausnahme von der Regel
s&c by Sunshinekiller layout by AnyBody Sind auch Sie auf der Suche nach persönlichem Glück? Um Misserfolge zu vermeiden, sollten Sie sich selbst gut kennen und nur das tun, was Sie wirklich wollen. Dabei wird Sie der praxiserprobte Wegweiser von Peter Prange mit verschiedenen Übungen auf Erfolgs-Kurs bringen. ISBN: 3426666219 Knaur Erscheinungsdatum: 2000
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Many thx to: CasimYr Cathrin Corben Gobblin Kristy Volpone / K-Volp Zap (in alphabetical order)
Der Besitz der elektronischen Ausgabe dieses Buches ist legal, sofern Sie das Original besitzen. Ist dies nicht der Fall, bitte ich Sie, sich das Original zu kaufen (Sie unterstützen damit auch den Autor) oder diese Datei unverzüglich zu löschen. Das Buch ist übrigens bei www.amazon.de erhältlich. PS: Ich habe noch nie ein Buch mit so vielen Überschriften gelesen :-) Lange Rede, kurzer Sinn... Viel Spaß beim lesen!!! 2. November 2002 – in den Abendstunden
Inhalt Wo, bitte, geht’s zum Erfolg? ............................................. 4 Darf ich wollen, was ich will? .......................................... 12 Des Menschen Wille oder sein kompliziertes Himmelreich ........................................................................................... 16 Autopilot X: ...................................................................... 22 Lebenskunst ...................................................................... 36 Vierfache Klarheit............................................................. 50 Thema Verantwortung: Des kleinen Gottes Last.............. 61 Ziele und Chancen ............................................................ 75 Grenzen im Kopf............................................................... 84 Können lernen ................................................................... 97 Entscheidungssache Selbstvertrauen............................... 109 Im Strudel der Veränderungen........................................ 125 Versuch und Irrtum ......................................................... 138 Sieben Wege zum Misserfolg - und eine Ausnahme von der Regel ............................................................................... 147 Keiner mag mich? Von wegen! ...................................... 157 Das Drehbuch meines Lebens......................................... 166 Aufbruch ......................................................................... 175 Danke!............................................................................. 179
Kapitel 1 Wo, bitte, geht’s zum Erfolg? Irgendetwas kann da nicht stimmen. Eigentlich müsste die Welt von erfolgreichen Menschen nur so wimmeln. Denn seit es Erfolg gibt, gibt es auch Ratgeber, wie man zum Erfolg gelangt. Hundertprozentig, todsicher. Doch schon der Griff an die eigene Nase beweist, dass die Sache nicht so ohne weiteres klappt. Trotz aller Vorbilder und Patentrezepte ist Erfolg eher die Ausnahme als die Regel. Wo also liegt der Haken?
Franklin, das Vorbild Als ich fünfzehn Jahre alt war, schien alles noch ganz einfach. Ich wollte bloß ein erfolgreicher Mensch werden. Mehr Wünsche hatte ich nicht. Die Frage war nur, wie. Zum Glück hatte ich einen sehr engagierten Englischlehrer, den ich um Rat fragen konnte. Der drückte mir ein altes Buch in die Hand: die Lebenserinnerungen Benjamin Franklins, von 1791. Mit glühenden Wangen las ich die Geschichte dieses erstaunlichen Mannes. Wie er vom Sohn eines armen Seifensieders zum Erfinder, Unternehmer und Staatsmann aufstieg. Wie er den Blitzableiter erfand, Zeitschriften und Verlage gründete, Bücher zu den verschiedensten Themen verfasste, die erste moderne Leihbücherei einrichtete und am Ende seines Lebens sogar an der Gründung der Vereinigten Staaten mitwirkte: der erste amerikanische Selfmademan, der Prototyp des Erfolgsmenschen schlechthin, dessen Konterfei noch heute auf jeder Hundertdollarnote prangt! Das Buch war eine Schatzgrube. Denn Franklin beschrieb darin nicht nur seine einmalige Karriere, sondern verriet auch die Erfolgsformel, der er seinen Aufstieg verdankte: »Early to bed and early arise, makes a man healthy, wealthy and wise!« -4-
(Früh zu Bett und früh ans Werk, so erwirbst du Gesundheit, Weisheit und Geld.) Jeden Morgen stand er um Punkt fünf Uhr auf, wusch sich und frühstückte, plante den Ablauf des kommenden Tages, las und studierte bis acht, arbeitete sodann bis zwölf, aß zu Mittag und prüfte die Bücher, arbeitete wiederum von zwei bis um sechs, aß dann zu Abend, musizierte anschließend oder zerstreute sich im Gespräch, um den Tag stets mit der Frage zu beschließen, welche positive Tat er seit dem Aufstehen vollbracht hatte, bevor er um zehn - erschöpft, aber glücklich - in die Kissen sank. Auf diese Weise verbrachte Franklin sein Leben - tagaus, tagein. Um sich selbst systematisch zu kontrollieren, legte er eine Tafel an, in der er waagrecht die Wochentage und senkrecht all jene Tugenden verzeichnete, die seiner Auffassung nach jeden Menschen zum Erfolg führen müssen: dreizehn an der Zahl. So Mo Di Mi Do Fr Sa Entschlossenheit Fleiß Pünktlichkeit Ordnung Schweigen Genügsamkeit Keuschheit Wahrhaftigkeit Reinlichkeit Gemütsruhe Mäßigung Gerechtigkeit Demut -5-
Fasziniert betrachtete ich die Seite, wohl über eine Stunde lang. Was ich mit eigenen Augen sah, war die Gesetzestafel des Erfolgs. Diese Tugenden hatten Franklin reich und berühmt gemacht. Warum nicht auch mich?
Leben nach Plan Über Nacht verwandelte ich mich in einen anderen Menschen. Ich malte Franklins Tugendtafel ab, um künftig über mein Leben Buch zu führen, fest entschlossen, jeden Verstoß gegen eine der vorgezeichneten Tugenden mit einem dicken schwarzen Fleck unter dem entsprechenden Tag zu ahnden. Doch Wunder über Wunder: Meine Tafel blieb makellos rein. Mit dem ersten Klingelzeichen betrat ich morgens die Schule, ich war ein Muster an Ordnung, reinigte fünfmal am Tag meine Fingernägel, sprach nur, wenn ich gefragt wurde und dann ausschließlich die reine Wahrheit, entwickelte einen fanatischen Gerechtigkeitssinn und war ansonsten die Demut in Person. Selbst in puncto Keuschheit hatte ich mir nichts vorzuwerfen, ganz in Franklins Sinn: »Übe geschlechtlichen Umgang selten, nur um der Gesundheit oder Nachkommenschaft willen und niemals bis zur Stumpfheit oder Schwäche.« Geschlagene sechs Monate hielt ich durch. Das Resultat war vernichtend. Von dem erhofften Erfolg keine Spur! Meine Mitschüler rückten zusehends von mir ab, der Trainer der Fußballmannschaft vergaß mich plötzlich bei der Mannschaftsaufstellung und in der Tanzschule bekam ich eine Partnerin verpasst, die ein Meter neunzig groß war - ich war damals ein Meter fünfundsechzig. Am Abend des Abschlussballs erklärte ich mein FranklinProjekt für gescheitert. -6-
Irrungen und Wirrungen Neuen Mut fasste ich, als mein Deutschlehrer, ein langhaariger Referendar und Intimfeind meines Englischlehrers, voller Begeisterung von einem Essay des berühmten Arztes und Dichters Gottfried Benn erzählte. Genie und Wahnsinn war der viel versprechende Titel dieses alternativen Leitfadens. Noch am selben Tag besorgte ich ihn mir in der Schülerbücherei. Mir gingen die Augen über. Folgendes hatte Benn über das Wesen des Erfolgs herausgefunden: »Das Produktive, wo immer man es berührt, eine Masse, durchsetzt von Stigmatisierungen, Rausch, Halbschlaf, Paroxysmen; ein Hin und Her von Triebvarianten, Anomalien, Fetischismen...« Das also war die Wahrheit! Franklin war ein Irrtum, ein papierener Lesebuchheld. Die wirklichen Genies pfiffen auf seine Tugenden; stattdessen machten sie den Tag zur Nacht, fraßen, soffen und hurten. Das waren Vorbilder, denen nachzueifern lohnte! Ein weiterer radikaler Persönlichkeitswechsel erschien mir unausweichlich. Ich ließ mir die Haare bis auf die Schultern wachsen, stellte jede Form von Schularbeit ein, knutschte wildfremde Mädchen auf offener Straße ab und ernährte mich vorwiegend von Haschisch und Marihuana. Die positiven Ergebnisse meiner Neuorientierung ließen nicht lange auf sich warten. Meine Mitschüler wählten mich zum Klassensprecher, Tante Lieselotte hörte auf, mich bei der Begrüßung zu küssen und im benachbarten Mädchengymnasium hatte ich einen Ruf wie Donnerhall. Doch es gab auch Schattenseiten: Beim Fußball reichte meine Kondition für maximal fünf Minuten, sodass der Trainer mich aus der Mannschaft warf; und am Ende des Schuljahres war ich nicht nur sitzen geblieben, sondern erhielt für meine genialen Bemühungen auch noch die Androhung eines Verweises. -7-
Erste Erkenntnis Ratlos stand ich da. Ob ich es so oder anders anfing, ob mit Franklin oder mit Benn: Das Ergebnis war in beiden Fällen deprimierend, mein Erfolg ferner denn je. Ein Licht ging mir auf, als ich meine Mentoren während eines Klassenausflugs gemeinsam zur Rede stellte. Voller Empörung warf ich ihnen vor, dass sie mit ihren Ratschlägen mein Leben ruinierten. Mit noch größerer Empörung wiesen die zwei meine Vorwürfe zurück. »Warst du etwa kein erfolgreicher Schüler, solange du dich an Franklins Tugenden gehalten hast?«, fragte mein Englischlehrer. »Ja, aber bei meinen Freunden war ich der letzte A...« Bevor ich ausreden konnte, fiel auch schon mein Deutschlehrer über mich her: »Und wem, glaubst du, hast du deinen Erfolg bei den Mädchen zu verdanken?« »Na gut, aber dafür bin ich jetzt in der Schule unter aller S...« »Ja, was willst du denn eigentlich?«, fragten mich plötzlich beide wie aus einem Munde. Die Frage traf mich wie ein Eimer kaltes Wasser. Und während ich vergeblich nach Worten suchte, waren meine beiden Lehrer ein einziges Mal in ihrem Leben einer Meinung: »Du weißt ja gar nicht, was du willst!« Damit trafen sie den Nagel auf den Kopf. Doch der Schock war ein heilsamer. Denn in diesem Augenblick begriff ich, warum ich bislang in die Irre gegangen war. Weil mir die einfachste und wichtigste Voraussetzung für jeden Erfolg fehlte: die klare Vorstellung, was Erfolg für mich persönlich bedeutete.
Mein Vater und Mr. Vanderbilt Der Erfolg hat ein Janusgesicht. Einerseits ist er immer -8-
wieder derselbe, andererseits ist er immer wieder verschieden: Alle Menschen wollen Erfolg, doch für jeden Menschen bedeutet Erfolg etwas anderes. Weshalb Erfolg im wahrsten Sinn des Wortes Ansichtssache ist. Das Schicksal zweier mehr oder weniger erfolgreicher Männer veranschaulicht diesen Sachverhalt. Der eine davon hieß Ernst Prange (kein Wunder, er wurde später mein Vater) und lag im Winter 1944 eine endlos lange Nacht unter Trommelfeuer in einem Schützengraben, irgendwo in Rumänien. Und während ihm die Granaten um die Ohren pfiffen, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel: »Lieber Gott, wenn ich je aus dieser Scheiße heil herauskomme, lass mich bitte ein verdammter Spießer werden.« Der liebe Gott meinte es gut mit ihm. Zwar stellte er das Trommelfeuer erst am nächsten Morgen ein, doch ließ er meinen Vater am Leben. Und warf ihm auch keine größeren Steine in den Weg, als er sich nach dem Krieg daranmachte, seine Wunschvorstellung in die Tat umzusetzen: Mein Vater übernahm das elterliche Bettengeschäft, heiratete eine Frau, zeugte zwei Kinder - meine Schwester und mich - und ging in seiner Freizeit reiten. Und da er allen privaten und beruflichen Verlockungen nach mehr Abenteuer und Größe mannhaft widerstand, führte er ziemlich genau das Leben, nach dem er sich im Schützengraben gesehnt hatte. Ganz anders die Geschichte des Reeders und Eisenbahnpioniers Cornelius Vanderbilt. So berühmt sein Name heute ist, so ehrgeizig waren vor hundertfünfzig Jahren seine Pläne. Fünfhundert Millionen Dollar, dies sein erklärtes Lebensziel, wollte er bis zu seinem Tod angehäuft haben. Doch als es ans Sterben ging, verzeichneten seine diversen Konten »nur« siebzig Millionen. »Ich sage Ihnen im Ernst«, schrieb ihm darum der große Romancier Mark Twain, »dass ich wohl nicht vierundzwanzig Stunden mit dem entsetzlichen Gedanken leben könnte, dass mir -9-
vierhundertdreißig Millionen Dollar fehlen.« Wer also war unter dem Strich erfolgreicher - der berühmte Mr. Vanderbilt oder mein unbekannter Vater? Ich würde sagen: mein Vater. Er hat in seinem Leben geschafft, was er wollte; Mr. Vanderbilt nicht.
Das Geheimnis des Erfolgs Wenn zwei das Gleiche suchen, ist es noch lange nicht dasselbe. Doch die Tatsache, dass alle Menschen dem Erfolg von Natur aus nachrennen, verleitet uns allzu oft zu der Annahme, dass wir alle die gleichen Ziele verfolgen. In Wirklichkeit aber legt jeder selbst die Messlatte auf, der eine bewusst, der andere unbewusst. Das weiß schon der platteste Volksmund: »Dem einen sin Uhl, dem ändern sin Nachtigall!« Erfolg kennt keine allgemein gültigen Regeln und schon gar keine Patentrezepte. Auch wenn Mr. Vanderbilt zu seiner Zeit der reichste Mann der Welt war: Da er sein Ziel verfehlt hat, blieb ihm der wirkliche Erfolg versagt. Denn Erfolg pfeift auf verbindliche Standardwerte und Normvorstellungen. Erfolg ist weder Geld noch Sex, weder Ruhm noch Macht - ja nicht einmal das dickste Auto in der Nachbarschaft. Alles das kann Erfolg natürlich sein, muss es aber nicht. Erfolg ist etwas viel Einfacheres und eben deshalb etwas viel Anspruchsvolleres: Erfolg ist, wenn ich erreiche, was ich mir vorgenommen habe. Weshalb sich das Geheimnis des Erfolgs in einem simplen Satz zusammenfassen lässt: Tausend Wege führen nach Rom, doch nur ein Weg führt zum Erfolg - der eigene!
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»Hand aufs Herz!« - Übung l »Der Erfolg«, hat der Schweizer Autor Max Frisch einmal gesagt, »verändert den Menschen nicht. Er entlarvt ihn.« Warum das so ist? Ganz einfach: Erfolg habe ich dann, wenn ich erreiche, was ich mit Leib und Seele begehre. Darum Hand aufs Herz: Was bedeutet Erfolg für Sie? Ganz subjektiv, nach Ihrem persönlichen Empfinden? Bitte nehmen Sie ein Blatt Papier und notieren Sie darauf die zehn wichtigsten Begriffe, die Ihrer Meinung nach wirklichen Erfolg ausmachen.
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Kapitel 2 Darf ich wollen, was ich will? In einem Sketch von Karl Valentin besucht ein Ehepaar das Münchner Oktoberfest. Im Biergarten erzählt die Frau einem Tischnachbarn vom Hippodrom, voller Empörung über die leicht geschürzten Reiterinnen, die sie dort erblicken musste: »De Weibsbilder sitzen ja halbert nackert auf de Gaul droben, i bin ganz rot wordn, mein Mann hat auch nicht hinschaun mögn.« Worauf dieser präzisiert: »Mögen hätt' ich schon wollen, aber dürfen hab' ich mich nicht getraut.«
Der Kampf um das Schnitzel Bei jedem Scherz ist etwas Ernst. Die ernste Frage hinter dem Valentin-Sketch lautet: Darf ich wollen, was ich will? An dieser Frage scheiden sich die Geister - und die Erfolgreichen von den Erfolglosen. Denn sie geht noch tiefer als die Frage nach der individuellen Vorstellung vom Erfolg, den äußeren Gütern, an denen ich meinen persönlichen Erfolg messe. Sie betrifft vielmehr meine innere Einstellung, mit der ich dem Erfolg begegne. Bin ich überhaupt zum Erfolg bereit? Glaube ich überhaupt, Anforderungen an mein Leben stellen zu dürfen? Solche und ähnliche Fragen auch nur zu äußern, geschweige denn zu bejahen, ist in den Augen vieler Menschen eine schamlose Anmaßung. Zum Beispiel in den Augen meiner Verwandten. Denn in unserer Familie kommt es nicht darauf an, was man selbst will, sondern darauf, was der jeweils andere gerne möchte. Ich erinnere mich noch genau: Wenn bei uns das Mittagessen verteilt wurde, entspann sich stets ein merkwürdiges Ritual. Wie beim Potlatsch der Maori, bei dem die Häuptlinge sich -12-
gegenseitig mit Geschenken so lange überschütten, bis einer (der Verlierer) nichts mehr zu verschenken hat, drängte bei uns einer dem ändern eben jene Leckerbissen auf, die er selbst mit Heißhunger begehrte. Im geschlossenen System der Familie funktionierte diese Geheimsprache wunderbar. Ohne dass die Regeln je erklärt wurden, verstand jeder am Tisch genau, was ein vermeintliches Angebot in Wirklichkeit bedeutete. Die Botschaft: »Nimm doch dieses herrliche Bratenstück, das lacht dich doch an!« hieß im Klartext: »Lass ja die Finger davon oder ich bin stocksauer!« Schwierigkeiten gab es allerdings, wenn eine fremde Person zu Gast war. Das bekam meine heutige Frau bei ihrem ersten Besuch an unserer Tafel zu spüren. Auf der Fleischplatte waren noch zwei Schnitzel, ein kleines und ein großes. Welches sie denn gerne hätte, fragte meine Schwester, um ihre potentielle Schwägerin auf die Probe zu stellen. Unbekümmert zeigte meine Zukünftige auf das große. Meine Schwester gab ihr das Schnitzel, doch mit deutlichen Anzeichen von Verärgerung. Meine Zukünftige spürte, dass sie irgendetwas falsch gemacht hatte - wenn sie nur gewusst hätte, was! »Welches Schnitzel«, fragte sie darum meine Schwester, »hättest du denn an meiner Stelle genommen?« »Natürlich das kleine«, antwortete meine Schwester wahrheitsgemäß. »Aber dann«, schloss meine Zukünftige voller Verwunderung, »hast du doch genau das bekommen, was du willst!«
Der klammheimliche Wunsch Ich glaube nicht, dass meine Familie zivilisierter oder höflicher war als die Familie meiner Frau. Vielmehr glaube ich, -13-
dass wir in unserer Familie ein gehöriges Problem hatten: Nämlich klipp und klar zu sagen, was wir gerne hätten. Statt seinen Willen zu artikulieren, hoffte jeder von uns darauf, dass der jeweils andere ihn zu seinem Glück nötigte. Dieser klammheimliche Wunsch steuerte unser Verhalten, in großen und in kleinen Dingen - doch nicht unbedingt zu unserem Besten. Abgesehen davon, dass unsere Familienstrategie außerhalb des Familienkreises nur selten zum gewünschten Ergebnis führte - welche Bank zum Beispiel nötigt ihren Kunden von sich aus einen zinsfreien Kredit auf? -, sorgte sie auch familienintern oft genug für Konfusion und Chaos. Wenn jeder stets für den anderen denkt, keiner aber für sich selbst, weiß schließlich niemand mehr, wo ihm der Kopf steht. Wenn dann auch noch - was bei uns natürlich andauernd geschah - ein kontroverses Thema seitens des Familienvorstands mit der Formel »Dann tut doch, was ihr wollt« beendet wurde, war die Ratlosigkeit perfekt. Weil eben dazu niemand von uns imstande war.
Fahrt ins Blaue Erfolg ist, wenn man erreicht, was man will. Doch wie kann man etwas erreichen, wenn man sich nicht klarmacht, was man will? Kein vernünftiger Mensch würde sich, außer vielleicht am Sonntagnachmittag, ins Auto setzen und einfach Drauflosfahren, ohne vorher zu klären, wohin die Reise geht. Weil jedermann weiß, dass er sich dann früher oder später hoffnungslos verfahren würde. Im Leben aber tun wir oft nichts anderes. Wir fahren los, ohne ein Ziel, geben plötzlich wie verrückt Gas, weil wir denken, wir -14-
kommen nicht an, geraten in Sackgassen, die wir für Abkürzungen halten, und wundern uns dann, wenn wir am Ende irgendwo ohne Sprit liegen bleiben - meistens noch dazu an einem Ort, wohin wir niemals »freiwillig« gefahren wären, hätte man uns vorher nur gefragt. Große Preisfrage: Warum stellen wir uns so dämlich an?
»Hand aufs Herz!« - Übung 2 »Kinder, die was wollen«, so eine Redensart, »kriegen was auf die Bollen!« Was meinen Sie? Dürfen Sie wollen, was Sie wollen? Bitte notieren Sie auf einem Blatt Papier nebeneinander jeweils zehn Argumente dafür und dagegen. Linke Seite: Warum Sie nicht wollen dürfen, was Sie wollen. Rechte Seite: Warum Sie wollen dürfen, was Sie wollen. Vergleichen Sie anschließend Ihre Argumente und entscheiden Sie selbst: Dürfen Sie wollen, was Sie wollen? Wenn ja herzlichen Glückwunsch! Wenn nein - stellen Sie sich bitte den nettesten und sympathischsten Menschen vor, den Sie kennen. Und fragen Sie sich: Darf dieser nette und sympathische Mensch wollen, was er will? Wenn die Antwort für diesen Menschen »ja« lautet, warum dann nicht auch für Sie?
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Kapitel 3 Des Menschen Wille oder sein kompliziertes Himmelreich In meiner Heimatstadt gab es einen Briefträger namens Rudi Lebsanft, der als großer Philosoph galt. Die unscheinbarsten Dinge am Wegesrand konnten ihn zu den tiefsinnigsten Betrachtungen herausfordern. Zum Beispiel ein Ameisenhaufen. »Die Viecher haben es gut«, sagte er einmal beim Anblick der wuselnden Insekten. »Sobald sie aus dem Ei geschlüpft sind, wissen sie, was sie zu tun haben.« Was daran so beneidenswert sei, fragte ich ihn. »Dass sie sich nie entscheiden müssen«, erwiderte er und holte einen Flachmann aus seiner Tasche. »Weil, Entscheiden ist das Schwierigste überhaupt. Wenn ein Mensch immer entscheiden muss, was er tun soll, immer und überall - ich glaube, er bringt sich um oder er wird zum Säufer.« Sprach es und nahm einen Schluck aus der Flasche.
Verfluchte Freiheit Der Briefträger-Philosoph aus meinem Geburtsort stand mit seiner Ansicht nicht allein. Sein französischer Kollege Jean-Paul Sartre kam zu ganz ähnlichen Erkenntnissen - nur dass der sie nicht im Vorübergehen produzierte, sondern auf vielen tausend Seiten. »Der Mensch ist zur Freiheit verdammt.« Diese These hat Sartre unsterblich gemacht. Ob auch glücklich, sei dahingestellt. Warum ist der Mensch zur Freiheit verdammt? Weil er - im Unterschied zu Ameisen - nicht durch Instinkte gebunden ist, die sein Handeln nach einem vorgegebenen Muster leiten. Er entwickelt sich nach keinem Schema F, sondern ist das, wozu er -16-
sich entscheidet. Denn was immer er tut - er kann und muss sich entscheiden. Alles ist seine Wahl, ob er will oder nicht. Selbst wenn er sich entscheidet, sich nicht zu entscheiden, ist diese Entscheidung doch seine Entscheidung. Diese Freiheit ist ja an sich etwas Herrliches - wenn es bloß nicht so schwer fiele, Gebrauch von ihr zu machen. Das war schon der Auslöser für den berühmtesten Seufzer der Weltliteratur: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust...«
Peter & Paul / I Nennen wir die zwei Seelen, was meine Brust betrifft, der Einfachheit halber Peter und Paul. Kaum wache ich am Morgen auf, geraten die beiden aneinander. Manchmal glaube ich, sie streiten sogar, wenn ich schlafe. Denn sobald sich ein Wunsch in mir regt, melden sie sich zu Wort. Peter flüstert mir zu: »Tus lieber nicht. Was bildest du dir ein? Du bist nicht auf der Welt, um glücklich zu sein. Denk an die Folgen! Tu nur, was die anderen von dir erwarten, dann bist du auf der sicheren Seite.« Ganz anders Paul. »Na los«, flüstert er, »probier’s mal aus. Warum nicht? Tu einfach, was du für richtig hältst! Bist du etwa kein erwachsener Mensch? Der Einzige, der dir Vorschriften machen kann, bist du selbst. Worauf wartest du? Das Leben ist zu kurz, um zu versauern.« Wenn zwei sich streiten, leidet der Dritte. Und während Peter und Paul mich immer heftiger bestürmen, frage ich mich verzweifelt: Auf wen von beiden soll ich hören?
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Das Oberammergau-Dilemma Wer frei ist, hat die Qual der Wahl. Warum aber wird die Wahl zur Qual? Weil jede Entscheidung den Ausschluss von unzähligen Alternativen bedeutet: ein Ja zu einer Möglichkeit, ein Nein zu Abermillionen anderer Möglichkeiten. Wenn ich zum Beispiel in Oberammergau Urlaub mache, kann ich nicht gleichzeitig woanders Urlaub machen. Also will die Sache gut überlegt sein. Denn falls ich mich für Oberammergau entscheide, verzichte ich mit dieser Entscheidung automatisch auf Paris und auf London, auf Berlin und auf Tokio, auf Buxtehude und auf Pusemuckel. Ist Oberammergau einen solchen Verzicht wirklich wert? Diese Frage macht mich natürlich verrückt. Vielleicht ist der Ort ja gar nicht so schön, wie mir die Verkäuferin im Reisebüro weismachen wollte, vielleicht öden die blöden Passionsspiele mich nur an. Vielleicht hat auch mein Vetter Klaus Recht, wenn er behauptet, Urlaub in Deutschland könne man sowieso vergessen. Außerdem wollte ich schon immer mal nach Wien, die Hofreitschule besichtigen. Und der Robinson Club auf Fuerteventura ist ja angeblich ein ganz heißer Tipp. Und irgendwann im Leben sollte man auch mal New York gesehen haben.
Die Konsequenz des Briefträgers Das ist das Dilemma der Freiheit: Ich kann von ihr konkreten Gebrauch nur machen, indem ich sie einschränke, durch die Festlegung auf eine bestimmte Option. Und mit jeder Entscheidung, die ich treffe, riskiere ich, mich genau für das Falsche und gegen das Richtige zu entscheiden. Dabei macht mir nicht die Beschränktheit, sondern gerade die Vielfalt der Möglichkeiten das Leben schwer. -18-
Davon kann Briefträger Lebsanft ein Lied singen. Um vom Alkohol loszukommen, suchte er einen Arzt auf. Der verschrieb ihm eine dreimonatige Kur auf dem Bauernhof. Dort sollte er Kartoffeln sortieren: die kleinen für die Schweine, die mittleren für die Saat, die großen für den Verkauf. Doch schon am Abend des ersten Tages griff er zur Flasche, mit seinen Nerven total am Ende. Der Grund für seinen Rückfall? - Natürlich die vielen Entscheidungen! Das ist nun schon über zwanzig Jahre her. Seitdem ist Rudi Lebsanft fest entschlossen, sich umzubringen. Wenn er bloß wüsste, wie er sich das Leben nehmen soll: mit einer Pistole oder doch lieber mit einem Strick?
Das Orakel des Augustinus Müssen kann jedes Kind, Wollen ist die Kunst: Mich klipp und klar entscheiden, ob ich A will oder B. Denn das Vertrackte an der Sache ist: Im Zweifelsfall will ich beides, sowohl A als auch B - und meist auch noch ein X und Y dazu. Das ist der tiefere Grund, weshalb man sich in meiner Familie bei Tisch in einem fort die Speiseplatten zuschob. Natürlich hatte jeder von uns Appetit auf das saftigste Stück Fleisch. Gleichzeitig aber wollte jeder beweisen, dass er zunächst an den anderen und dann erst an sich selber dachte. Wenn zu diesen Dauerwünschen auch noch individuelle Extrawünsche hinzukamen etwa der Wunsch meines Vaters, Diät zu halten, oder der Wunsch meiner Mutter, dass wir Kinder mehr Gemüse als Fleisch zu uns nehmen sollten -, wurde das Essen regelmäßig kalt, bevor es auf die Teller kam. Der Versuch, uns jeden Mittag mit den Speiseplatten gegenseitig die Entscheidungen zuzuschieben, die wir selbst nicht treffen konnten, war der triviale Ausdruck unserer kollektiven Hilflosigkeit in Sachen Willensbildung. Seitdem weiß ich zu würdigen, welch schwieriges Orakel der heilige -19-
Augustinus den Menschen aufgab, als er auf die Frage, was man tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen, lapidar zur Antwort gab: »Liebe Gott, und tu, was du willst!« Denn wie zum Teufel soll ich wissen, was ich will? Was für mich richtig ist und was falsch?
»Hand aufs Herz!« - Übung 3 Der mittelalterliche Philosoph Buridan hat einmal gefragt: »Was wird ein hungriger Esel tun, wenn man ihm links und rechts im gleichen Abstand zwei gleich große Bündel Heu vors Maul hält?« Buridans Antwort: »Er wird verhungern.« Gibt es in Ihrem Leben Situationen, in denen Sie ähnlich »verhungern«? Weil Sie sich weder so noch so entscheiden können? Bitte schreiben Sie auf, in welcher Frage Sie die Qual der Wahl zur Zeit am meisten plagt. Weshalb fällt Ihnen die Entscheidung so schwer? Führen Sie alle Argumente auf, die Ihnen pro und kontra einfallen. Vergleichen Sie die Argumente und trennen Sie die Spreu vom Weizen: Welche Argumente haben Sie (bewusst oder unbewusst) von anderen Menschen übernommen? Welche Argumente sind wirklich Ihre eigenen? Urteilen Sie dann: Welche Argumente geben den Ausschlag? Und welche können Sie vernachlässigen? In welche Richtung tendiert also Ihre Entscheidung? PS: Falls Sie sich mit einem Partner in einer gemeinsamen Situation nicht entscheiden können, können Sie sich zumindest über die Haltung Ihres Partners Aufschluss verschaffen. Nehmen Sie dazu einfach die ausstehende Entscheidung vorweg und schauen Sie, wie Ihr Partner reagiert. Angenommen, Sie wollen sich gemeinsam ein gebrauchtes Auto kaufen, kommen aber zu keinem Entschluss: Erzählen Sie Ihrem Partner, der -20-
Händler habe angerufen und gesagt, das Auto sei verkauft. Fällt Ihrem Partner nun ein Stein vom Herzen oder bricht er in Tränen aus? Ob er so oder so reagiert: jetzt kennen Sie seine Haltung und wissen immerhin, wie er sich entscheiden wollte.
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Kapitel 4 Autopilot X: Die Wirklichkeit einer Fiktion Während meiner Studienzeit hatte ich einen Freund. Der hieß nicht nur Hans, sondern lebte auch so: ein Hansdampf in allen Gassen. Hans hatte ein Ego, mit dem man ohne weiteres die ganze Uni-Mensa füllen konnte: Wo Hans war, war sonst erst mal gar nichts. Trotzdem legte er eine unglaubliche Sensibilität an den Tag, wenn es um die Interpretation lyrischer Texte oder die Filetierung frischer Bachforellen ging. Damit nicht genug, nervte er seine Kommilitonen auch noch mit der Tatsache, dass er schon im Grundstudium regelmäßig für Zeitungen schrieb keine Reportagen über Fußball oder den Kleintierzüchterverein, sondern richtig schöne Kurzgeschichten. Kein Wunder, dass ihn kaum einer ausstehen konnte. Das heißt, bei Frauen hatte er geradezu sensationellen Erfolg. Obwohl er alles andere als ein Beau war, schleppte er fast jeden Abend ein anderes Mädchen ab. Vorausgesetzt, er verbrachte die Nacht nicht auf einem Hochsitz im Wald, um Wildschweine zu schießen. Oder hielt einen Volkshochschulkurs über manieristische Malerei in der Renaissance. Oder fuhr zum Wildwasser - Rafting nach Südfrankreich. Oder tauchte in die mystischen Lehren Meister Eckharts ein. Oder veranstaltete eine Führung für Pilzsammler. Oder tröstete mit Zartgefühl und Riesenbesäufnis eben jenen armen Teufel über die Untreue der Frauen hinweg, dessen Freundin er selbst am Vorabend verführt hatte. Mit einem Wort: Hans war ein einziger Widerspruch in Fleisch und Blut. Mit seiner ganzen Energie - und von der hatte er mehr als genug - wollte er die unterschiedlichsten Dinge der Welt. Trotzdem behauptete er stets steif und fest, sehr wohl zu wissen, was er wolle; nur leider könne er nicht sagen, was das -22-
sei. Hatte man je einen solchen Blödsinn gehört?
Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Als Hans' bester Freund führte ich damals ein ebenso langweiliges wie spannendes Leben. Langweilig, weil ich Hans sozusagen an meiner Stelle leben ließ, statt auf eigene Faust zu leben. Spannend, weil Hans mich Woche für Woche am Biertisch mit solchen Mengen an Erlebnissen überschüttete, dass ich mehr als genug Stoff hatte, um meiner damaligen Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: über das Leben »an sich« nachzudenken. Eines allerdings wurmte mich in diesem Secondhand-Leben ganz gewaltig: dass ich selbst nichts hatte, was ich mir sehnlichst und von Herzen wünschte, etwas, wofür ich mit Haut und Haaren entbrannte, so wie mein Freund, der eigentlich permanent Feuer und Flamme war, in einer Art geistiger DauerErektion. Ob Hans Perserteppiche verhökerte, Motorradrennen fuhr oder sich einen Computer kaufte: Was immer er tat, tat er so, als ginge es um sein Leben. Ich dagegen wünschte mir nur, einmal irgendetwas wirklich zu wollen. Der Rest, so dachte ich (gar nicht mal so falsch), würde sich dann mehr oder weniger von allein ergeben. Doch woher nehmen, wenn nicht stehlen? Es war wie mit der Frage nach dem lieben Gott und der letzten Ursache der Dinge: Wenn der Wille Motor und Antrieb des Handelns ist - woher kommt dann der Wille?
Die Max-und-Moritz-Botschaft Die Antwort dämmerte mir erst, als unsere Freundschaft schon in den letzten Zügen lag. Es war nach einer durchzechten -23-
Nacht. Ich redete mit schwerer Zunge auf Hans ein, er solle, statt nach Pamplona zum Stierkampf zu fahren, endlich seinen neuen Roman anfangen. Nach dem Studium hatte er nämlich zur Verärgerung seiner ehemaligen Kommilitonen und MachoKritiker zwei ebenso einfühlsame wie erfolgreiche Jugendbücher geschrieben. »Du hast so viel Talent«, hielt ich ihm vor. »Du gehörst an den Schreibtisch, nicht nach Spanien, wo idiotische Toreros irgendwelche Stiere abschlachten.« »Ja, ja, ja“, rief Meister Bock«, verhöhnte Hans mich mit einem seiner geliebten Max-und-Moritz-Zitate, „»Bosheit ist kein Lebenszweck! „« Das Wort durchfuhr mich wie ein elektrischer Schlag. Lebenszweck: ein lächerlicher, altmodischer Begriff, den kein normaler Mensch mehr verwendete. Und trotzdem hatte ich das Gefühl - nein, ich wusste! -, dass dieser Begriff genau das zum Inhalt hatte, wonach ich suchte, um aus Hans schlau zu werden. Aus Hans - und womöglich irgendwann sogar aus mir.
Lebenszweck Selten in meinem Leben wurde mir eine solche Erleuchtung zuteil wie in diesem benebelten Augenblick. Denn damals kapierte ich: Wenn einer immer wieder etwas anderes will vielleicht will er trotzdem immer wieder ein und dasselbe? Die Maxund-Moritz-Botschaft war klar: Alles, was Max und Moritz je taten, entsprang und diente einem einzigen Zweck ihrer Bosheit. Aus Bosheit sägten sie Brücken an, aus Bosheit schlitzten sie Mehlsäcke auf, aus Bosheit stahlen sie die Hühner der Witwe Bolte, aus Bosheit praktizierten sie ihrem Onkel Maikäfer ins Bett, aus Bosheit jagten sie Lehrer Lempel in die Luft. Denn Bosheit war ihr Lebenszweck. Plötzlich war mir Hans' Verhalten sonnenklar. Die vielen -24-
Tauben auf seinem Dach, die scheinbaren Widersprüche an der Oberfläche seiner Persönlichkeit: Alles war vollkommen logisch und widerspruchsfrei. Mein Freund spulte nur ein Programm ab, das sein Lebenszweck ihm vorgab, ein Urbedürfnis, auf das alle seine Ziele ausgerichtet waren und das seine scheinbar chaotischen Willensregungen nicht nur entschlüsselte, sondern in ein Wunder an Ordnung verwandelte. Und dieses Urbedürfnis, dieser Lebenszweck war bei Hans Freiheit, war Unabhängigkeit, war Selbstständigkeit. Immer Herr der Lage, nie auf andere angewiesen sein: das war das Programm, dem mein Freund mit jedem Atemzug huldigte, der Kompass, nach dem er sich bei seinen scheinbar so willkürlichen Entscheidungen immer wieder richtete, das A und O, Alpha und Omega seines Lebens.
Der Ariadne-Faden Es war, wie wenn man in einem verworrenen Fadenknäuel plötzlich das richtige Ende erwischt. Warum war Hans zum Schriftsteller geworden? Um dem Mief der kleinen Arbeitervorstadt, in der er aufgewachsen war, zu entfliehen. Warum wechselte er seine Freundinnen so oft wie andere Studenten ihre Studienfächer? Damit er sich in keine verlieben, damit keine ihn an sich binden konnte. Wozu die Fallschirmspringerei, das Wildwasserpaddeln, wozu Judo und Karate? Die Antwort war immer dieselbe: zum Beweis der eigenen Unabhängigkeit. Und warum schließlich seine spätere Idee, den Beruf des Schriftstellers trotz seiner Erfolge an den Nagel zu hängen, um ein kleines Software- Unternehmen zu gründen? Weil er als Unternehmer das Programm Freiheit viel konsequenter und konkreter realisieren konnte, als ihm dies in der abstrakten Welt der Literatur je möglich war. Ich hatte das »KgV« meines Freundes gefunden, das kleinste gemeinsame -25-
Vielfache, aus dem heraus sich sein Verhalten komplett erklärte. Die einfache Tiefengrammatik seiner schillernden Persönlichkeit. Und ich wusste: Damit hatte ich zugleich die Antwort auf meine eigene, ganz persönliche Frage gefunden, die Frage nach der Quelle meines Willens. Der Lebenszweck ist die Quelle, aus der sich jeder Wille speist. Das war der Schlüssel.
Lichtenbergs Schaf Es war eine Offenbarung. So ungefähr musste sich das kleine Hirtenmädchen Bernadette gefühlt haben, als ihm in der Höhle von Lourdes die heilige Muttergottes erschien. Bei nüchterner Betrachtung - sprich: nach einer gründlichen Dusche am nächsten Morgen, so gegen elf Uhr, an einem Tisch der UniBibliothek - stellte sich allerdings heraus, dass meine Erleuchtung im Grunde ein ziemlich alter Hut war. Ob ich es nun Lebenszweck, Urbedürfnis oder KgV nannte: Die Idee, dass sich alle Handlungen eines Menschen auf einen grundlegenden gemeinsamen Nenner zurückführen ließen, war fast so alt wie die Philosophie selbst. Am eindrucksvollsten hatte sie vor rund zweihundert Jahren der geistreiche Physiker und Krüppel Lichtenberg (»Wer ein Gebrechen hat, der hat auch eine Meinung!«) auf den Punkt gebracht: »In jedes Menschen Charakter sitzt etwas, das sich nicht brechen lässt - „das Knochengebäude des Charakters“; und dieses ändern wollen heißt immer, ein Schaf das Apportieren lehren.« »Keiner kann aus seiner Haut«, »niemand springt über seinen Schatten«: Die Umgangssprache wimmelt nur so von Hinweisen auf das Prinzip, das ich am Beispiel meines Freundes mit so viel Mühe begriffen hatte. Und hätte ich in der Schule oder im Studium besser aufgepasst, ich wäre längst darüber gestolpert. -26-
Zum Beispiel bei Aristoteles; sein Begriff der Entelechie: »Das, was sein Ziel in sich selbst hat; die den Dingen innewohnende Kraft, die ihre Entwicklung und Vollendung bewirkt.« Oder bei Goethe - seine ewige Suche nach dem Urphänomen in allem und jedem: »Die Hartnäckigkeit des Individuums und dass der Mensch abschüttelt, was ihm nicht gemäß ist, ist mir ein Beweis, dass so etwas existiere. Ein Stück Ewigkeit, das den Körper belebend durchdringt.« Zu meiner Schande muss ich gestehen: Alles das war mir bekannt, doch es kratzte mich - bis zu jener Nacht mit meinem Freund - nicht die Bohne. Sowohl mit der Entelechie als auch mit der Urpflanze hatte ich mich jeweils ein Semester herumgequält, nur um Aristoteles und Goethe gründlich hassen zu lernen. Weil ich mit all der grauen Theorie keine Frage verband, die etwas mit meinem Leben zu tun hatte. Obwohl sie doch entscheidend war für mein Leben.
Dämonen Ein altes Konzept verliert nicht an Wert, nur weil es alt ist. Nehmen wir also an, dass Aristoteles und Goethe einmal nicht irrten. Und auch nicht die Theologen, die bekanntlich seit jeher mit einem sechsten Sinn für das irdische Leben ausgestattet sind. Religiöse Denker haben jahrhundertlang die Menschen und ihr Tun nach dem Konzept individueller Lebenszwecke gedeutet. Ihr großes Verdienst dabei ist, dass sie diese Sicht der Dinge in eine weitaus interessantere Metapher gekleidet haben als Aristoteles oder Goethe. Statt von Entelechie oder Urphänomen sprachen sie von Dämonen. Wo immer Theologen - gleich welcher Konfession, ob in Hochkulturen oder bei Naturvölkern - menschliches Verhalten von »höherer Warte« aus interpretieren, taucht in tausenderlei Abwandlungen stets ein Gedanke auf: dass in jedem Menschen -27-
von Geburt an ein bestimmtes geistiges Wesen haust, ein Dämon oder Genius, der diesen Menschen »besitzt«. Der alles Tun und Handeln bestimmt, ob der Mensch das »will« oder nicht. Der dem Menschen nicht nur seine Lebensrichtung weist, sondern ihn auch mit der nötigen Energie versorgt, da* mit er seine Lebensrichtung verfolgen kann. Und dass das ganze Auf und Ab des Lebens nichts weiter sei als ein Widerspiel der Dämonen - der Willenskräfte und Motive, die uns Menschen leiten.
Wo bleibt denn da die Intelligenz? Sicher, die Vorstellung von solchen kleinen Kobolden, die uns im Nacken sitzen und mit uns treiben, was sie wollen, ist nicht jedermanns Sache. Sie scheint uns nicht mehr zeitgemäß, entspricht nicht unserem modernen Selbstbild vom autonomen, aufgeklärten Menschen, der rational aus der Fülle seines Verstandes heraus denkt und handelt. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob unser modernes Selbstverständnis stimmt. Diesem liegt nämlich eine entscheidende Annahme zugrunde: dass die Intelligenz ein Steuerungsorgan des Menschen sei. Schauen wir uns aber im wirklichen Leben um, erscheint diese Annahme ausgesprochen zweifelhaft. Welche Unmengen an Intelligenz bieten wir oft auf, um die unintelligentesten Dinge zu tun! Jeder Krieg, jedes Atomkraftwerk und (fast) jeder Ehekrach liefert dafür den Beweis. Und nicht zuletzt mein Freund Hans: Mit wie viel Scharfsinn organisiert er heute seine kleine Software-Firma, obwohl diese kaum mehr abwirft, als er für sie aufbringt. Wozu der ganze Quatsch? Damit er seinen Lebenszweck von Freiheit und Unabhängigkeit erfüllt! Wäre die Intelligenz das zentrale Steuerungsorgan des Menschen, müssten die Mitglieder der Mensa-Vereinigung, die -28-
allesamt einen Intelligenzquotienten von mindestens 130 aufweisen, sich ausnahmslos zu Genies entwickeln. Tatsächlich aber sind die meisten von ihnen ganz normale Menschen, Rechtsanwälte, Lehrer oder Postbeamte - und manchmal ganz und gar verkrachte Existenzen. Warum das so ist? Sehr einfach: weil die Intelligenz eben kein Steuerungs-, sondern nur ein Ausführungsorgan des Menschen ist. Die Steuerungsfunktion erfüllt nach wie vor in jedem von uns ein guter alter Dämon. Oder - moderner ausgedrückt Autopilot X. Weshalb bereits der gute alte Schopenhauer sagte: »Der Mensch kann zwar tun, was er will; aber er kann nicht wollen, was er will.«
Autopilot X oder der Zweck hinter den Zielen Um Missverständnissen vorzubeugen: Autopilot X ist natürlich auch nur eine Annahme. Das hat er mit allen tauglichen Konstruktionen gemeinsam, mit denen wir zu erfassen suchen, was mit Händen nicht zu fassen ist. Zum Beispiel Seele, Charakter oder Persönlichkeit. Alle diese Begriffe sind Annahmen, wie es in und mit uns sein könnte keine Erklärungen, wie es sich tatsächlich mit unsereinem verhält. Man kann den Leichnam eines Menschen aufschneiden und jeden Quadratzentimeter seines Gewebes unter dem Mikroskop untersuchen: Man wird seinen Autopiloten darin ebenso wenig finden wie seine Seele oder seinen Meridian. Trotzdem ist der Autopilot darum nicht weniger wirklich. Wenn man nur »Wirklichkeit« im Sinne von »Wirksamkeit« versteht: kein Rauch ohne Feuer, kein Akupunktur- Erfolg ohne Meridian - und kein individuelles Verhalten ohne Autopilot X. -29-
Der Autopilot X ist das Ziel hinter den Zielen, das letzte »Warum-und-Wozu« des Handelns - Lebenszweck und Urbedürfnis. Dasjenige, was ich eigentlich in Oberammergau suche, wenn ich mich entscheide, meine Ferien dort zu verbringen. Nicht die herrliche Natur oder die Passionsfestspiele, sondern dasjenige, was sich hinter Natur und Festspielen verbirgt: vielleicht Schönheit, vielleicht Freude, vielleicht weiß der Kuckuck was. Der Autopilot ist das Betriebssystem eines jeden Menschen. Auf dieser Plattform bauen alle anderen Programme auf. Der Autopilot heißt X, weil er bei jedem Menschen für einen anderen Lebenszweck steht: im Fall meines Freundes Hans für Freiheit und Unabhängigkeit. Davon fühlt er sich angezogen wie das Pferd vom heimischen Stall. Und er wird in jeder Lebenslage ob er es weiß oder nicht - immer wieder alles dafür tun, dieses Urbedürfnis zu befriedigen.
Metamorphosen Der Autopilot zeigt sich in jeder noch so kleinen persönlichen Regung. Er ist der »Teufel, der mich reitet«, wenn ich mit meinen Ersparnissen, statt sie in Kommunalobligationen anzulegen, an der Börse spekuliere. Weil ich in allem, was ich tue, ein Spiel spielen möchte: Spielen ist mir wichtiger als jede Zinsgarantie! Ganz anders mein Schwager Robert. Ihm geht Sicherheit über alles; darum würde er niemals eine Aktie anrühren. Für meine Mutter schließlich ist Harmonie das höchste Gut auf dieser Welt. Weshalb es für sie alles andere als ein Opfer ist, auf das dicke Schnitzel am Mittagstisch zu verzichten: Es ist ihr natürliches Programm, ja, blanker Egoismus, es dem anderen zuzuschieben - buchstäblich um des lieben Friedens willen. Der -30-
Autopilot ist, wie er ist. Kein Mensch hat ihn sich erfunden, so wie kein Mensch sich selbst erschaffen hat. Der Autopilot ist einfach da. Er entsteht im Schlaf, vor der Geburt, in Mamas Erbgut oder in Papas Frühstücksei - wir wissen es nicht. Er gehört so selbstverständlich zu jedem Menschen wie seine Hautfarbe oder Körpergröße. Worauf es ankommt, ist etwas anderes: Niemand sollte sich sein X für ein U vormachen. Wer auf Sicherheit programmiert ist, trotzdem aber meint, sein Lebensglück hänge am BungeeSeil, kommt sich ebenso zwangsläufig in die Quere wie der Harmoniesüchtige, der die Politik zu seinem Beruf erwählt. Folge ich hingegen meinem persönlichen Autopiloten, ordnet sich das Chaos meiner Lebensmöglichkeiten wie ein Haufen Eisenspäne unter der Einwirkung eines Magneten. Egal in welcher Situation ich bin: Ich weiß, was ich zu tun habe; ich weiß, was ich will! Und siehe da: Plötzlich finde ich mich so instinktsicher in meinem Leben zurecht wie die frisch aus ihren Eiern geschlüpften Ameisen, die einst den Neid des BriefträgerPhilosophen Leb- sanft auf sich zogen. Und ich entfalte eine Energie wie mein Freund »Hansdampf in allen Gassen«.
Methode Kant-Ranicki Schön und gut. Doch was heißt das konkret? Ein berühmtes Beispiel dafür liefert Marcel Reich-Ranicki - Literaturkritiker qua Beruf, unfehlbar qua Berufung. Immer wieder wirft man ihm vor, er urteile ja bloß nach seinem subjektiven, persönlichen Geschmack. Und immer wieder kontert er diesen Einwand mit ein und demselben Argument: »Tut mir Leid, aber ich habe keinen besseren!« Würden doch alle Menschen nach dieser Methode verfahren das Leben wäre um so vieles leichter. Jeder hat nun mal nur -31-
seinen eigenen Geschmack, seinen eigenen Verstand, seinen eigenen »Riecher« - möge er Gott auf den Knien dafür danken! Auf sie allein kann er sich wirklich verlassen. Alles andere ist Spekulation, und zwar aus einem einfachen anatomischen Grund: Ich kann nicht mit dem Gehirn meines Nachbarn denken, so wenig wie ich mit seinen Füßen laufen kann. Dieser natürlichen Gegebenheit zum Trotz haben wir immer wieder das fatale Bedürfnis, »objektiv« zu sein. Die Welt mit anderen als den eigenen Augen zu betrachten, Urteile nach fremden (also höchst ungewissen) statt nach eigenen (also relativ sicheren) Maßstäben und Kriterien zu fällen. Und damit nicht genug, wird dieses Bedürfnis, aus der eigenen Haut zu fahren und über den eigenen Schatten zu springen, umso dringlicher, je mehr die zu entscheidende Frage unser eigenes Leben betrifft: Je mehr uns eine Frage auf den Nägeln brennt, umso heftiger suchen wir Zuflucht bei fremden Meinungen, statt in uns selbst hineinzuhorchen. Ist es dann ein Wunder, wenn die Entscheidung in die Hose geht? »Sapere aude!« Das ist der Wahlspruch der Aufklärung, den Immanuel Kant 1784 ein für alle Mal formulierte. »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« Die besten Entscheidungen sind immer die ganz eigenen, die ganz persönlichen Entscheidungen. Jeder muss dabei seinen eigenen Weg finden - und den Mut aufbringen, diesen Weg auch zu gehen. Denn den meisten Menschen fehlt es ja nicht an dem nötigen Verstand, sondern nur an dem nötigen Mut, sich ihres Verstandes zu bedienen.
Die große Erleichterung Das Schlimmste an jeder Entscheidung ist die Zeit vor der Entscheidung. Das weiß jeder, der schon mal vor einer Entscheidung stand - ob als Literaturkritiker oder im eigenen -32-
Leben. Ist die Entscheidung aber getroffen, tritt eine große Erleichterung ein. Unweigerlich, man kann gar nichts dagegen tun. Der Grund dafür ist das Verstummen des Zweifels: Hat man sich einmal entschieden, hat man sich zweifellos richtig entschieden zumindest in diesem Augenblick, hier und jetzt. Wäre es nicht die richtige Entscheidung, wäre sie anders und nicht so ausgefallen. Solange noch ein Zweifel bleibt, ist die Entscheidung noch keine wirkliche Entscheidung, sondern nur ein voreilig gesprochenes Ja oder Nein. Eine Entscheidung ist erst dann wirklich, wenn jeder Zweifel verstummt. Ist dies aber der Fall, folgt die große Erleichterung auf dem Fuße. Selbst wenn der Inhalt der Entscheidung eigentlich eine einzige Katastrophe ist.
Die Nachprüfung Ich weiß, wovon ich rede. Einer der glücklichsten Tage in meinem Leben war - objektiv betrachtet - ein rabenschwarzer Unglückstag. Ich war in der Schule sitzen geblieben. Das heißt: noch nicht ganz. Es bestand die Möglichkeit, eine Nachprüfung zu absolvieren. Ich hatte also die Wahl: Entweder die Sommerferien hindurch arbeiten, arbeiten, arbeiten - dafür aber durfte ich, bei bestandener Prüfung, in meiner alten Klasse bleiben und konnte so die Blamage vor Freunden, Bekannten und Verwandten umschiffen (vom Zorn meiner Eltern ganz zu schweigen); oder aber ich machte mich zum öffentlichen Gespött, bekam dafür aber die Chance auf einen Neuanfang. Was sollte ich tun? Tagelang drehte ich mich im Kreis, wog die Vor- und Nachteile ab. Die Argumente waren nicht das Problem, nur die Entscheidung selbst. Ich stellte mir vor, wie es sein würde - einmal so rum, einmal so rum. Ich stellte mir vor, -33-
was meine Eltern, meine Freunde, meine Lehrer denken und sagen würden. Wen ich in welchem Fall mehr, in welchem Fall weniger enttäuschen musste. Und vor allem fragte ich mich, wie sich wohl alle möglichen anderen Menschen, die ich kannte, in meiner Situation entscheiden würden. Doch je angestrengter ich nachdachte, desto unklarer wurden die Bilder. Wie mit einer Stange im Nebel stocherte ich in meinem zukünftigen Leben herum, ohne einen Anhaltspunkt zu finden. Endlich raffte ich mich auf; ich ließ alle Argumente beiseite und entschied mich. Einfach aus dem Bauch heraus. Gott sei Dank!
Jenseits des Zweifels Ich weiß nicht, ob es Pfunde, Kilos oder Zentner waren, die von meinen Schultern fielen. Wahrscheinlich waren es Tonnen. Vor allem aber hatte ich endlich wieder einen klaren Blick auf meine Zukunft. Ich konnte mir die Dinge vorstellen, die mich erwarteten, und, was wichtiger war, ich konnte mich darauf vorbereiten, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Selten war ich so erleichtert und befreit wie in dem beschämenden Augenblick, als ich unter dem Gejohle der Mitschüler meinem Klassenlehrer die Entscheidung mitteilte. Zugegeben, vielleicht lag es ja auch daran, dass ich mich für den Neuanfang entschieden hatte, sprich: gegen die viele Arbeit in den Sommerferien. Wichtiger aber war etwas anderes: Ich fühlte mich, kaum hatte ich die Worte heraus, wieder mit mir im Reinen; das Meer des Zweifels war durchschifft, ich folgte meinem Autopiloten. Nach endlos langem Schlingern war ich wieder auf Kurs. Seitdem bin ich felsenfest davon überzeugt, dass man sich eigentlich immer richtig entscheidet - wenn man sich nur aus dem Bauch heraus entscheidet. Weil man dann genau das und nichts anderes tut als das, was dem eigenen Wesen entspricht. Einzige Ausnahmen: -34-
Man gehorcht der Stimme seines Herzens oder folgt schnurstracks seiner Nase. Denn ob Bauch, Herz oder Nase: alle drei Organe sind nur Umschreibungen ein und desselben Steuerungssystems: des Autopiloten X. Na bravo! Soll das etwa heißen, dass ich unfehlbar bin? Wie Marcel Reich-Ranicki?
»Hand aufs Herz!« - Übung 4 Im Leben eines jeden Menschen gibt es ein paar wunderbare Augenblicke, in denen er sich ganz und gar mit sich im Einklang fühlt. Bitte versuchen Sie einmal, solche Augenblicke aus Ihrem Leben Revue passieren zu lassen. Nehmen Sie dazu ruhig alte Fotoalben oder besondere Erinnerungsstücke zur Hand, doch machen Sie diese kleine Gedankenreise für sich allein, ohne Mithilfe anderer Personen. Wann hatten Sie das Gefühl, dass alles einfach richtig war? Dass es gar nicht besser sein konnte? In Ihrer Kindheit, in Ihrer Jugend, im Erwachsenenalter. In der Schule oder in der Ausbildung, im Beruf oder im Privatleben, beim Sport, in der Familie oder in der Partnerschaft - wann und wo immer Sie in Ihrem Leben glücklich waren. Bitte beschreiben Sie auf einem Blatt Papier drei bis fünf solcher Erlebnisse. Achten Sie darauf, dass die Beispiele aus möglichst verschiedenen Lebensphasen und Lebensbereichen stammen. Wie war das damals genau? Was war passiert? Wie war es dazu gekommen?
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Kapitel 5 Lebenskunst Der Mensch besitzt bekanntlich Vernunft. Also kann er irren. Das sollte auch mein Freund Hans erfahren. Obwohl sein Autopilot ihn normalerweise ganz von allein auf Kurs hält, ging er einmal fürchterlich in die Irre. Es war nach Abschluss seines Studiums, in der Endphase seiner Promotion. Eigentlich war ihm damals klar, was er werden wollte: Schriftsteller. Weil ihm aber an der Schwelle zum Erwerbsleben plötzlich einfiel, dass er ja auch noch einen Kopf mit vielen Hunderttausend grauen Zellen auf den Schultern trug - und zwar mit vielen Tausend mehr als der Durchschnitt der Menschheit -, wollte er diesen Kopf auch benutzen, um sich für das Richtige zu entscheiden. Also machte Hans den Fehler seines Lebens.
Freiheit oder Sicherheit? Ein Verlag war auf Hans als Autor aufmerksam geworden, und da der Verleger kein besonders logisch denkender Mensch war, bot er ihm eine Stelle als Lektor an. Das war zwar nun genau das Gegenteil von dem, was Hans im Grunde seines Herzens anstrebte - ein Job als literarischer Polizist statt als literarischer Verbrecher -, gleichzeitig aber war das Angebot natürlich eine Riesenchance: die Aussicht auf ein Leben nach dem Studium. Und das war für einen Doktoranden der Philosophie alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Es war eine Wahl zwischen Freiheit und Sicherheit. Freiheit kannte Hans, Sicherheit noch nicht. Also strengte er alle Vernunftgründe der Welt an, um sich vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was er in seinem tiefsten Innern wollte. Plötzlich berauschte er sich an Begriffen wie -36-
»Sozialversicherungspflicht« und »Rentenbeiträge«. Es war vollkommen grotesk. Doch was tut man nicht alles, um nur ja nicht das Richtige zu tun?
Selbst-Täuschung Überwältigt von den Argumenten, mit denen er sich selbst bombardierte, nahm Hans das Angebot an. So vernünftig diese Entscheidung war - es war eine Entscheidung wider seine Natur. Darum kam es, wie es kommen musste. Hans wurde zum Schaf, das Apportieren lernen wollte. Und durch die Sicherung seiner Lebensumstände war er auf dem besten Weg, sein Leben zu ruinieren. Bis ihm zum Glück nach einigen Wochen sein Fehler physisch deutlich wurde: Als Angestellter fühlte er sich in seinem Job so eingezwängt wie ein erwachsener Mann im Konfirmandenanzug. Die Luft ging ihm aus, ständig hatte er das Bedürfnis, sich den Kragen zu öffnen. Doch das ging nur, indem er ihn platzen ließ. Was er dann auch tat. Obwohl ohne berufliche Alternative, schmiss er die Brocken hin und kündigte. Das Resultat: Nur wenige Wochen später schrieb Hans ein wunderbares Buch, das nicht nur mehrere Auflagen erfuhr, sondern auch verfilmt wurde. Es erschien übrigens in »seinem« Verlag - dies zur Ehre des Verlegers.
Der Numerusclausus-Effekt Hans' Karriere ist (abgesehen vom Happy End) kein Einzelfall. Vergleichbare Irrläufer gibt es zuhauf. Zum Beispiel in deutschen Arztpraxen. Ursache dafür ist der »Numerusclausus-Effekt«. Warum -37-
studierten in den Siebziger jähren Medizinstudenten Medizin? Weil sie es wollten? Von wegen! Weil sie es konnten! Nur eine Minderheit entschied sich damals aus fachlichem Interesse für ihr Fach; die große Mehrzahl dagegen studierte Medizin ganz einfach nur, weil der Numerus clausus es ihnen erlaubte. Ist es dann ein Wunder, wenn viele Ärzte heute über ihren Beruf klagen - selbst wenn die Praxis floriert und sie mit allen äußerlichen Insignien des Erfolgs gesegnet sind? Diese unglücklichen Millionäre leiden an ihrem Schicksal aus einem einfachen Grund: Ähnlich wie mein Freund Hans haben sie ihre Ziele nicht aus ihren Wünschen, sondern aus ihren Möglichkeiten abgeleitet. Die Möglichkeiten aber sind ein schlechter Ratgeber, um Entscheidungen zu treffen. Möglichkeiten gibt es einfach zu viele! Wenn es nach den Möglichkeiten ginge, könnte ich ja alles Mögliche werden! Doch wer will schon Straßenfeger werden, nur weil er gut fegen kann?
Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht? Der Numerusclausus-Effekt zeigt: Irrtümer sind nur selten eine Folge mangelnder Intelligenz. Eher ist das Gegenteil der Fall. Je intelligenter, desto blöder! Die Ursache der meisten Irrtümer ist ja nur eine falsche Grundorientierung, eine Verkennung des eigenen Lebenszwecks, und diese treibt uns umso gründlicher in die Irre, je intelligenter wir sie weiter und weiter verfolgen. Wie ein Schiff, das auf einen Eisberg zusteuert und immer mehr das Tempo beschleunigt, um die Katastrophe zu vermeiden. Denn noch einmal sei’s gesagt -Intelligenz ist kein Steuerungs-, sondern ein Ausführungsorgan des Menschen. Das Problem auf einen Nenner gebracht: Oft denken wir einfach nur zu viel nach. -38-
Statt uns auf die eingebauten Leitsysteme zu verlassen, betrachten wir die Dinge von allen möglichen Seiten, nehmen jede noch so verdrehte Perspektive ein, bis wir nicht mehr wissen, wo uns eigentlich der Kopf steht. Statt einfach das Einfache zu tun, wonach es uns drängt, machen wir erst mal alles kompliziert und fragen uns, was sonst noch alles infrage kommen könnte. Und hören damit in der Regel erst auf, wenn wir selber nicht mehr durchblicken.
Im Kabinett des Dr. Warschawski Um diesem Unsinn gegenzusteuern, kommt in Zürich fünf-, sechsmal im Jahr ein Psychologe aus Amerika eingeflogen: Dr. Warschawski, ein freundlicher Herr mit Fliege und Bart und seit einiger Zeit auch noch mit Professorentitel. Sein Kabinett ist ein seelenloser Seminarraum in einem der Fünfsternehotels rund um den Flughafen, wo er in den Seelen seiner Kunden - meist Manager und Unternehmer - gründlich aufräumt. Und das geht (in groben Zügen) so: Einen Tag lang erzählt Dr. Warschawski auf ebenso witzige wie erhellende Weise von Visionen, Zielen und mehr oder weniger guten Ideen. Am Abend schickt er die Seminarteilnehmer mit folgender Aufgabe auf ihre Zimmer: Jeder soll einmal aufschreiben, was er am allerliebsten mag, worauf es ihm mehr als alles andere ankommt - im Beruf, in der Freizeit, im Urlaub, in der Familie und so weiter. Am nächsten Tag werden die Teilnehmer dann ausgequetscht wie eine Zitrone (im Vertrauen darauf, dass eine Zitrone immer nur Zitronensaft abgibt, wenn man sie quetscht): Was sie davon haben, wenn sie haben, was sie so gerne hätten?, will Dr. Warschawski von den Teilnehmern wissen. Wozu das schöne Auto? Wozu die Ferien in der Karibik? Wozu der Posten des Direktors? -39-
Wenn die Antworten kommen, erfolgt erneut die Frage, mit stupender Monotonie: Weshalb und wozu? »Was haben Sie davon, wenn Sie haben, was Sie so gerne hätten?« So geht es immer weiter, immer tiefer in das Reich der Wünsche hinein, bis an die Quelle, zu jenem ersten individuellen Urbedürfnis, aus dem alle Wünsche entspringen. Wo jeder Teilnehmer für sich das eine große Ziel entdeckt, seinen persönlichen Lebenszweck, der sich hinter all seinen konkreten Einzelzielen verbirgt. Am Ende des zweiten Tages fährt dann jeder mit ein, zwei Worten nach Hause: seinen Worten. Der eine mit dem Wort Schönheit, der andere mit dem Wort Anerkennung, der Dritte mit dem Wort Kommunikation, der Vierte mit dem Wort Harmonie, der Fünfte mit dem Wort Sicherheit - worum immer es dem Einzelnen letzten Endes geht. Und kaum einer ist je enttäuscht, dass er für zweitausend Schweizer Franken, die ihn das Seminar gekostet hat, nichts anderes davonträgt als eben jene ein, zwei Worte, die von nun an »seine« Worte sind. Da fragt man sich doch: Haben die Leute eine Schraube locker?
Der Sinn im Unsinn Auch wenn man es kaum glauben mag: Die Leute wissen genau, was sie tun! Tag für Tag beschäftigen wir uns mit den unwichtigsten Dingen der Welt: Wie steht der Dow Jones? Warum nimmt Tante Frieda nie ihren Hut vom Kopf? Bleibt Lothar Matthäus bis zur Europameisterschaft fit? Wie viel kostet ein Pfund Spargel in Griechenland? Erleben wir im Frühjahr die Rückkehr des Minirocks? Nur eine Frage blenden wir ebenso regelmäßig wie hartnäckig aus: Weshalb und wozu das Ganze? -40-
Was ist der eine große Zweck, »worumwillen« (um mit dem Philosophen Heidegger zu sprechen) es sich zu leben lohnt? Genau um diese Frage geht es im Kabinett des Dr. Warschawski. Und die Antwort gibt nicht der Herr Professor, die Antwort findet jeder Teilnehmer in sich selbst. Darum passiert immer wieder etwas höchst Sonderbares, wenn ein Teilnehmer »sein« Wort gefunden hat. Er hat plötzlich eine Orientierung - und zwar die einzig richtige, weil seine eigene - und damit einen Maßstab für sein Handeln. Widersprüche lösen sich auf, verworrene Pläne und Möglichkeiten beginnen sich zu fügen und Energien, die bislang in gegensätzliche Richtungen verpufften, bündeln und formieren sich, um sich wechselseitig zu potenzieren. Natürlich kann auch Dr. Warschawski weder Blinde sehend noch Lahme gehend machen. Doch ein bisschen ist es so wie im Fall von Aladin und seiner Wunderlampe. Der gute Dämon, der in jedem Menschen haust, wird nicht ausgetrieben, sondern entfesselt. Und mit ihm die ganze Kraft und Energie, die ein Geist, der etwas auf sich hält, einem Menschen nur verleihen kann. Goethe und Aristoteles hätten ihre Freude daran. Ja, sogar Eugen Drewermann. »In jedem Menschen gibt es ein Wort«, so der berühmte Theologe, »das nur er sagen kann.«
Ars vivendi Ob Dämonologie oder Management-Seminar: Im Grunde geht es immer um die gute alte ars vivendi oder Lebenskunst. Was aber ist das - Lebenskunst? Ich glaube, vor allem eins: die Fähigkeit, aus einem abstrakten Lebenszweck heraus konkrete Einzelziele zu entwickeln. Ist persönliche Unabhängigkeit - wie im Fall von meinem Freund Hans - mein Lebenszweck, ist die Gründung eines eigenen -41-
Unternehmens ein überaus sinnvolles Ziel; ist mein Urbedürfnis Harmonie, sollte ich eher eine ganz normale Ehe als eine One Night Stand - Karriere anstreben. Ist Kommunikation das A und O meines Lebens, darf ich meine Abende nicht einsam am Schreibtisch verbringen, sondern sollte mich unter Menschen mischen. Fasse ich ein Ziel ins Auge, muss ich mich also fragen: Entspricht es meinem Lebenszweck, »worumwillen« ich lebe? Ist es Ausdruck jenes Grundbedürfnisses, das allen anderen meiner Bedürfnisse zugrunde liegt? Denn nur wenn es mir gelingt, meine Einzelziele auf meinen Lebenszweck abzustimmen, bleibe ich auf der ohnehin schon komplizierten Lebensbahn im Einklang mit mir selbst.
Die große Alternative Warum gibt es Menschen, die ein beneidenswertes Leben haben und trotzdem stets mit ihrem Leben hadern? Der Erfolgsmanager, der sich schon beim Aufstehen nach dem Einschlafen sehnt... Die Schauspielerin, die nichts mehr scheut als die Öffentlichkeit... Der Familienvater, der vor seiner Familie ins Internet flieht... Warum kriegen umgekehrt manche Menschen von ihrem Leben nicht genug, obwohl ihr Leben äußerst anstrengend ist? Die Wettschwimmerin, die ohne zu murren täglich zwanzig Kilometer trainiert... Der Schreinermeister, der nach einem Zwölf-Stunden-Arbeitstag die Nacht im Hobbykeller verbringt... Die Mutter von fünf Kindern, die sich auch noch rührend um den Nachwuchs ihrer Schwester kümmert... Die Antwort ist ebenso einfach wie folgenschwer: Die einen sind zu jeder Anstrengung und Leistung bereit, weil sie mit sich und ihren Zielen im Einklang sind. Den anderen dagegen ist alles und jedes zu viel, weil sie nicht wissen, weshalb und wozu. Die einen sind selbst-, die anderen -42-
fremdgesteuert. Die einen lassen sich von ihren persönlichen Ideen und Zielen leiten, die sie aus ihrer Vorstellung vom richtigen Leben entwickeln, die anderen von äußeren Vorgaben, Erwartungen und Sachzwängen.
Auf welcher Schiene ich mich bewege, zeigt sich im Alltag unmissverständlich. Wenn ich nur fremden Vorgaben und äußerem Druck folge, lebe ich im Zwiespalt mit mir selbst und empfinde jede noch so geringe Anforderung als Stress. Antriebslosigkeit und Ausgebranntsein sind die Folgen. Bin ich dagegen im Einklang mit mir und meinen Zielen, dann wird sogar Anstrengung zur Lust. Die Wettschwimmerin spürt nicht die Strapazen, die das Training ihr bereitet; vielmehr sieht sie den Fortschritt, den sie auf dem Weg zur ersehnten Medaille macht. Und kein Liebhaber der Welt trauert je den Kalorien nach, die er im Bett seiner Geliebten verliert. Wer sein Leben auf seine eigenen Ziele ausrichtet, lebt darum wie in einem stetigen Fluss. Er vergisst sich in seiner Tätigkeit wie das Kind beim Spielen. Er schaut auf die Sache, nicht auf die Uhr. Und geht in den Anforderungen des Lebens nicht unter, -43-
sondern auf: Wenn mein Freund Hans auf der Jagd war, konnte er nach einer Nacht auf dem Hochsitz sich direkt am nächsten Morgen an den Schreibtisch setzen und arbeiten; hatte er hingegen als angestellter Lektor einen Tag am Schreibtisch im Verlag hinter sich gebracht, besaß er am Abend kaum noch die Kraft, um in Brehms Tierleben zu blättern. Soweit die bunte Praxis. Was aber, wenn es überhaupt keine Selbststeuerung gibt? Wenn meine Entscheidungen gar nicht »meine« Entscheidungen sind? Wenn ich nur ein armes Determinismus-Schwein bin, vorbestimmt in allem, was ich bin und tue, ein Produkt aus Umwelt und Genen, aus Herkunft und Erziehung?
Omas Napfkuchen oder: Was ist der Mensch? Wenn es zu den allerschwierigsten Fragen kommt, helfen nur noch die allereinfachsten Antworten weiter. Das war jedenfalls die Maxime meiner Großmutter. Das Wesen des Menschen hat sie mir als Kind in ihrer großen Bauernküche erklärt. Ich war damals ungefähr acht Jahre alt und half ihr beim Kuchenbacken. Neben dem Küchentisch schlummerten in ihrer Zwillingswiege, frisch gewickelt und mit friedlichen Gesichtern, Plisch und Plum, meine zwei jüngsten, gerade drei Monate alten Cousins. »Die Menschen«, sagte meine Großmutter, während sie in ihrer Schüssel rührte und gleichzeitig aufpasste, dass ich nicht naschte, »musst du dir ungefähr so wie diesen Teig vorstellen. Die Zutaten sind immer dieselben. Doch auf die richtige Mischung kommt es an. Nur die Mischung macht den Unterschied. Deshalb gibt es auch keine zwei Menschen, die völlig gleich sind.« -44-
»Doch!«, protestierte ich wie aus der Pistole geschossen. »Plisch und Plum! Wenn sie ganz wirkliche und echte Zwillinge sind, dann müssen sie doch ganz und gar gleich sein, genau so, als wären sie ein einziger Mensch, nur in doppelt.« Großmutter schüttelte den Kopf. »Erstens ist die Mischung nie ganz und gar gleich. Wenn Mama den Napfkuchen macht, schmeckt er ja auch ein bisschen anders als meiner, obwohl sie die gleichen Zutaten nimmt«, sagte sie. »Und zweitens ist der Teig noch nicht der fertige Kuchen. Bevor du ihn essen kannst, muss er in den Ofen. Damit er gar wird und aufgeht.« Ich bekam einen fürchterlichen Schreck. »Willst du Plisch und Plum in den Ofen schieben? Wie Hansel und Gretel?« Meine Großmutter konnte nämlich eine ganz schöne Hexe sein. »Keine Angst«, beruhigte sie mich. »Bei den Menschen ist das Leben der Ofen. Und erst darin zeigt sich, wie sie wirklich sind. Warte nur ab, auch wenn es jetzt so aussieht, als wären Plisch und Plum in allem gleich, sind sie doch zwei ganz verschiedene Menschen. Jaja, warte nur ab.« Meine Großmutter konnte damals nicht wissen, wie Recht sie mit ihrer Prophezeiung hatte.
Ungleiche Brüder Alle Menschen bestehen mehr oder weniger aus den gleichen Regungen und Trieben, aus den gleichen Sehnsüchten und Ängsten, den gleichen Hoffnungen und Befürchtungen. Sie haben Hunger und Durst, sehnen sich nach Liebe und Anerkennung, wollen Sicherheit und Ruhe, Harmonie und Frieden, aber auch Freiheit, Abenteuer und Spannung. Aus diesen und ähnlichen »Zutaten« sind alle Menschen zusammengesetzt - und doch ist jeder Mensch einmalig. Weil erstens die »Hauptzutat« und zweitens die »Mischung« immer wieder eine andere ist - die Persönlichkeitsstruktur, mit der wir -45-
zur Welt kommen. Und drittens auch das Leben, das jeder von uns durchläuft und in dem sich letztlich zeigt, aus welchem »Teig« wir jeweils gemacht sind. Plisch und Plum - die zwei behielten auch später diese Namen wuchsen auf als ein perfektes Zwillingspaar. Sie trugen dieselben Kleider, gingen in denselben Kindergarten, hatten dieselben Freunde, besuchten dieselben Schulen, blieben in derselben Klasse sitzen, studierten dieselben Fächer und heirateten sogar in derselben Kirche. Und doch entpuppte sich eines Tages, dass sie in Wahrheit so verschieden waren wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Es ist jetzt keine zwei Jahre her, da las ich in meiner Heimatzeitung einen Artikel über Plisch. Man hatte ihn zum Vorsitzenden des örtlichen Blauen Kreuzes gewählt, einer Organisation, die den Kampf gegen den Alkohol auf ihre Fahnen geschrieben hat. Auf die Frage des Reporters, warum er dieses schwierige und arbeitsreiche Ehrenamt übernommen habe, hatte mein Cousin geantwortet: »Weil mein Vater ein Alkoholiker war.« Jaja, dachte ich, dann hat Onkel Herbert also doch noch etwas Gutes bewirkt. Am selben Abend klingelte bei mir das Telefon. Am Apparat war Bettina, Plums Ehefrau. Sie war völlig mit den Nerven fertig: »Plum liegt im Krankenhaus! Schwere Alkoholvergiftung. Sie haben ihn von der Straße aufgelesen. Er... er ist ein Säufer!« Zwei Stunden später saß ich am Krankenbett meines Vetters. Er war immerhin wieder so weit hergestellt, dass ich mit ihm reden konnte. »Ich verstehe dich nicht«, sagte ich. »Du hast doch alles, was ein Mann braucht. Einen Beruf, eine Frau, eine Familie.« Mit glasigen Augen stierte er gegen die Decke. »Warum kannst du die Finger nicht vom Alkohol lassen?« Leise, fast tonlos, ohne den Blick von der Decke zu nehmen, flüsterte er: »Weil mein Vater ein Alkoholiker war.« -46-
Faktor Umwelt: Prägung oder Provokation? Die Entwicklung meiner Vettern zeigt: Wenn zwei verschiedenen Menschen das Gleiche widerfährt, ist es noch lange nicht dasselbe. Plisch und Plum hatten nicht nur dasselbe Erbgut - meine Großmutter würde sagen: dieselbe Backmischung -, sie waren auch denselben Lebensbedingungen ausgesetzt, sprich: im selben Ofen gegart. Trotzdem reagierten sie auf die gleichen Erfahrungen in so unterschiedlicher Weise, wie es extremer nicht sein konnte. Wie ist das nur möglich? Gelehrte Antworten auf diese Frage füllen ganze Bibliotheken. Da ich aber ein Enkel meiner Großmutter bin, lautet meine persönliche Antwort ganz einfach: Die Einwirkungen der Umwelt prägen uns viel weniger, als wir glauben; vielmehr provozieren sie uns, unser Wesen deutlicher zu zeigen. Statt willenlose Produkte der Umwelt zu sein, ist diese der Prüfstein, mit dessen Hilfe wir unser »wahres Ich« erkennen. Nur im Leben selbst kann sich erweisen, wie das jeweilige »Knochengebäude des Charakters« beschaffen ist. Dieses kommt nicht oder nur unscharf zum Vorschein, solange wir uns in lauen Gewässern bewegen, solange das Leben »Plusminusnull« mit uns spielt. Solange von außen nichts Besonderes auf uns einwirkt, zeigen wir in der Regel auch keine besonderen Reaktionen, verhalten wir uns wie »Jedermann«. Die wahre Beschaffenheit eines Menschen äußert sich vielmehr erst dann, wenn der Wind zu pfeifen beginnt, die Wogen auf und ab gehen. Ist ein Stier etwa deshalb gefährlich, weil ein Torero mit einem roten Tuch vor seiner Nase herumwedelt? Sicher nicht! Der Stier ist einfach gefährlich und das rote Tuch provoziert nur seine Gefährlichkeit, die der Torero dann zu spüren bekommt. Nicht anders funktionieren wir Menschen. Solange die Umstände neutral sind, verhalten wir uns neutral. Konkretisieren -47-
sich aber die Umstände, gewinnen auch wir selbst an Kontur von innen nach außen: Ob ich jugendlichen Elan besitze, zeigt sich erst im Alter; ob ich lieber Fisch mag oder Fleisch, zeigt sich erst, wenn man mich vor die Wahl stellt zwischen Fisch und Fleisch; und ob ich ein Heiliger oder ein Sünder bin, zeigt sich erst angesichts der Versuchung. Plisch ist Plisch und Plum ist Plum! Nein, wir sind keine passive, formbare Masse, die das Leben nach seinen Vorstellungen knetet und prägt. Vielmehr sind die äußeren Umstände die Probe aufs Exempel, worum es uns in unserem tiefsten Herzensgrunde wirklich geht: welche Ziele, welche Zwecke wir verfolgen. Welches »Wort« da in uns ist, das uns drängt und treibt; welcher Autopilot, auf den wir geeicht sind. Habe ich aber mein »Wort« gefunden: Welche konkreten Ziele leite ich daraus ab?
»Hand aufs Herz!« - Übung 5 Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal die Glücksmomente Ihres Lebens, die Sie in Übung 4 beschrieben haben. Bitte versuchen Sie nun herauszufinden, was diesen Augenblicken gemeinsam war. Was spürten Sie in diesen Augenblicken? Welche Gefühle steigen in Ihnen auf, wenn Sie an diese Momente zurückdenken? Bitte nennen Sie diese Gefühle möglichst deutlich beim Namen und schreiben Sie sie auf. Gehen Sie nun noch weiter und vergleichen Sie die Gefühle, die Sie notiert haben. Gibt es ein oder zwei Grundgefühle, die den verschiedenen Gefühlen zugrunde lagen? Welches war das eine große Gefühl, von dem Sie in den verschiedenen Situationen getragen wurden? Wenn Sie maximal zwei Substantive zur Verfügung hätten: Mit welchen zwei Hauptwörtern würden Sie dieses letzte Gefühl beschreiben? -48-
Haben Sie notiert, was in den Glücksmomenten Ihrer Vergangenheit Ihr Glück ausmachte? Wenn ja, dann haben Sie jetzt Ihren persönlichen Lebenszweck auf den Begriff gebracht. PS: Vergleichen Sie das Ergebnis dieser Übung bitte mit Ihren Antworten in Übung 1. Welche der Kriterien, die Sie dort notiert haben, empfinden Sie jetzt noch als wesentlich? Und welche Ihrer Zweifel aus Übung 3 fallen fort, wenn Sie nunmehr Ihren persönlichen Lebenszweck als Maßstab zugrunde legen? Bitte halten Sie auch hier Ihre Antworten schriftlich fest.
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Kapitel 6 Vierfache Klarheit Christiane war ein Mädchen Anfang zwanzig, das eigentlich keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Die Tochter eines schwäbischen Pfarrers hatte ein glänzendes Abitur abgelegt und studierte, als ich sie kennen lernte, Theologie an einer norddeutschen Universität. Sie war von eher zurückhaltendem Temperament, im Studium stets unter den Besten, intelligent und vielseitig interessiert, dabei bescheiden, freundlich und aufmerksam, und wenn es darum ging, schwächeren Kommilitonen bei Prüfungsvorbereitungen zu helfen, war sie immer dazu bereit. Mit einem Wort: Christiane war wirklich ein Christkind. Und trotzdem passierte eines Tages etwas Ungeheuerliches. Früh am Morgen kam sie, im Nachthemd und mit bloßen Füßen, in die Küche ihrer Wohngemeinschaft; mit vernebeltem Blick und wie in Trance ging sie zur Spüle, säuberte - unter den Augen der frühstückenden Mitbewohner - ein großes Küchenmesser, drehte sich um und richtete das Messer gegen ihren Freund, der, ebenso spärlich bekleidet wie sie, ihr aus dem gemeinsamen Zimmer nachgeeilt war. »Ich... bringe... dich... um...!«, sagte sie mit schwerer Zunge. Sprach es - und sank mit dem Messer zu Boden. Wie konnte Christiane nur derartig ausrasten?
Die Frage nach dem Sinn Der Mensch ist immer auf der Suche - doch ohne zu wissen wonach. Denn was er sucht, ist Sinn. Der aber wird ihm auf keinem Silbertablett serviert: Das Leben an sich hat keinen Sinn, es hat nur den Sinn, den ich ihm gebe. Dabei hat die Frage nach dem Sinn des Lebens eine simple -50-
Auflösung. Als sinnvoll empfinde ich das, was meinem persönlichen Lebenszweck entspricht. Fremder Sinn dagegen ist Unsinn: Andere Ziele, die anderen Lebenszwecken entsprechen, mögen für andere Menschen noch so sinnvoll sein, in meiner Perspektive sind sie sinnlos. Ich kann sie verfolgen, doch sie erfüllen mich nicht. Statt glücklich und zufrieden, machen sie mich rat- und rastlos. Und bin ich einmal abgekommen vom Kurs meines Autopiloten, vermehrt jede weitere Anstrengung nur das Gefühl von Leere und Vergeblichkeit in mir. Das Leben gleicht darum oft einem Schulaufsatz. Irgendwann heißt es: Thema verfehlt! Genau an diesem Punkt war Christiane angekommen, als sie zum Küchenmesser griff.
Falsche Idole Christiane hatte ein Problem, genau genommen zwei: Sie hießen Franziska und Karoline, zwei bildhübsche Schwestern, und waren Christianes beste Freundinnen. Mit ihnen lebte sie in der WG zusammen. Und seit sie das tat, hatte sie ihre Orientierung verloren. Christiane hatte viele Vorzüge, doch eine Schönheit war sie nicht. Dieser äußerliche Umstand hatte sie früher wenig gekümmert; sie kleidete sich einfach so, wie es ihrem Typ entsprach, und kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, sie hässlich zu finden. Im Gegenteil: Auf viele Männer wirkte ihre jungenhafte, kumpelige Art ausgesprochen anziehend - die Zahl ihrer Verehrer konnte sich jedenfalls sehen lassen. Mit der Gründung der Wohngemeinschaft aber wurde alles anders. Christiane erlebte hautnah, wie ihre hübschen Freundinnen allein durch ihr Erscheinen den Männern die Köpfe verdrehten allen voran meinem Freund Hans, der sich eine Zeit lang ebenso engagiert wir vergeblich um die beiden Schwestern bemühte. -51-
Plötzlich fühlte Christiane sich zweitklassig, ja minderwertig. Und statt sich auf ihre eigenen Werte und Stärken zu besinnen, machte sie den alles entscheidenden Fehler: Sie versuchte, das Leben ihrer Freundinnen zu führen. Die Jeans, die ihr so gut standen, flogen in den Abfall; dafür trug sie nun Stöckelschuhe, auf denen sie kaum laufen konnte. Sie abonnierte ein halbes Dutzend Frauenzeitschriften, schnitt die Bilder von den Models aus und tapezierte damit ihr Zimmer. Diese Idole nahm sie sich zum Vorbild: Alle zwei Tage probierte sie eine neue Frisur, schminkte sich mit lila Lippenstift und orangenem Makeup und sah bald aus, als wäre sie einem Fellini- Film entsprungen.
Entwertungen Christiane hatte nicht nur ihre Zielorientierung verloren, sondern zugleich auch ihren Realitätsbezug. Sie weigerte sich, die Dinge so wahrzunehmen, wie sie waren. Da sie die Dinge nur noch mit den Augen ihrer Freundinnen sah, spielte ihre alte Welt in ihrer neuen Perspektive total verrückt. Alles, was ihr früher erstrebenswert schien - Freundschaften, das Studium, Gespräche -, entwertete sie nun systematisch. Vor allem aber entwertete sie sich selbst. Sie hörte auf, sich so zu akzeptieren, wie sie war. Sie mäkelte an ihrem Aussehen herum, machte alles schlecht, was mit ihr zu tun hatte. Das bekam auch ihr Freund zu spüren. Sie wollte nichts mehr von ihm wissen, ja sie verachtete ihn, gerade weil er sie - das minderwertigste Wesen, das es ihrer Meinung nach gab - immer noch liebte. Dafür verliebte sie sich hoffnungslos in meinen Freund Hans, nur weil der in die zwei Schwestern verliebt war, mit denen sie sich auf Teufel komm raus identifizierte. Kurz: Das Leben, das Christiane noch vor wenigen Monaten in vollen Zügen genossen hatte, war in kürzester Zeit zum Alptraum geworden. Und da die Differenz zwischen ihren -52-
falschen Idolen und der Wirklichkeit mit jedem Kraftakt, den sie unternahm, um ihnen näher zu kommen, nur immer größer wurde, fing sie an, Valium zu schlucken. Nur in Trance war sie noch imstande, ihr plötzlich sinnloses Leben zu ertragen. Bis sie eines Tages so umnebelt war, dass sie den ganz großen Schnitt machen wollte. Der Anlass: Ihr Freund hatte versucht, ihr die Valiumpackung zu entwenden.
Ableitung Christiane hatte so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Sie hatte ihre Ziele bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, zwanghaft ihre Realitäten geleugnet, sich dafür allen möglichen unnötigen Anforderungen ausgesetzt und außerdem noch die Zuständigkeit für ihr Leben aufgekündigt. Lebenskunst ist die Fähigkeit, aus einem abstrakten Lebenszweck konkrete Einzelziele zu entwickeln. Einzelne Ziele kommen und gehen, der Lebenszweck aber bleibt. Mit ihm bin ich auf die Welt gekommen, er ist mein Autopilot, mein Leben lang. Was ich jeweils sinnvoll wollen kann, bemisst sich darum nach ihm. Welche plötzliche Neigung, welches spontane Bedürfnis bringt mich wirklich weiter, in die Richtung meines persönlichen Erfolgs? Welcher Tagtraum, welche Wunschidee dagegen endet mit einem bösen Erwachen, fernab vom Kurs meines Autopiloten? Aufschluss gibt mir mein Lebenszweck. Er entscheidet, was ich wirklich will: welches Ziel zu mir paßt, welches nicht. Er ist die Brille, die ich brauche, um die zahllosen Möglichkeiten, die das Leben mir bietet, beurteilen zu können. Ist Freiheit mein Lebenszweck, kann ich mich als Unternehmer sicher eher entfalten als im Staatsdienst. Ist Ruhe mein Grundbedürfnis, verbringe ich meine Ferien wohl besser in -53-
Oberammergau als am Amazonas. Und ist Harmonie das A und O meines Lebens, sollte ich mich lieber um meine Zweierbeziehung kümmern, als Giacomo Casanova nachzueifern. Habe ich meinen Lebenszweck auf den Begriff gebracht, eröffnet er mir zugleich eine ungeahnte Fülle neuer Perspektiven. Ich kann meinen Lebenszweck ja in tausend verschiedenen Formen realisieren. Jeder Lebenszweck hat unzählig viele Ausdrucksmöglichkeiten. Ist Kommunikation mein Grundbedürfnis, kann ich dies als Eheberater ebenso verwirklichen wie als Priester, als Rechtsanwalt ebenso wie als Handelsvertreter, Psychotherapeut oder Frisör.
Dreifache Klarheit plus 1 Woran aber erkenne ich, ob mein klares Ziel auch meinem Lebenszweck entspricht? Ganz einfach daran, dass es mir selber auf den Nägeln brennt. Dass ich morgens beim Aufstehen Lust darauf habe, es in die Tat umzusetzen. Dass es mir in den Händen juckt, es endlich anzupacken. Dass es mich lockt, selbst wenn es mich quält, mich aber niemals gleichgültig lässt. Denn ein wirkliches Ziel ist, was mich beseelt. Um ein solches Ziel zu verwirklichen, ist dreifache Klarheit erforderlich: 1. Klarheit der Ziele 2. Klarheit der Ausgangsbedingungen 3. Klarheit über Unabdingbares Diese dreifache Klarheit ist nötig, um die Reiseroute für ein geglücktes Leben zu bestimmen. Ob ich sie dann auch benutzen soll, entscheidet sich in einer vierten Dimension: -54-
4. Klarheit der Konsequenzen Was ist damit gemeint?
Klarheit des Ziels Im Leben ist es wie im Straßenverkehr: Es gibt immer mehr Wege, aber immer weniger Ziele. Doch der beste Weg ist nichts wert, solange das Ziel ungeklärt bleibt, an das er führen soll. Ein klares Ziel gibt darum Antwort auf die Frage: »Wozu?« Ein klares Ziel ist das, was ich wirklich vor mir sehe. Kein nebulöses Etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt, sondern ein konkretes Bild, das ich präzise beschreiben kann. »Sich gut fühlen« ist noch ein sehr vages Ziel, »satt werden« schon ein genaueres. Doch erst wenn ich sage: »Ich will ein Stück Brot«, habe ich ein klares Ziel benannt. Ein klares Ziel verlangt nach einer positiven Formulierung. Der Wunsch, irgendetwas zu vermeiden, ist noch kein Ziel. Mehr noch: Eine negative Zielvorstellung provoziert oft genau das Gegenteil dessen, was sie bewirken soll. Wenn ich aufgefordert werde, nicht an einen blauen Elefanten zu denken, werde ich vor meinem geistigen Auge sofort den blauen Elefanten sehen. Und wenn ich mir befehle, mich nur ja nicht aufzuregen, fahre ich mit Sicherheit aus meiner Haut. Habe ich mein Ziel positiv formuliert, frage ich mich, ob ich mir das Ziel tatsächlich vorstellen kann. Heißt die Antwort ja, ist die Zielformulierung in Ordnung. Lautet die Antwort nein, muss ich das Ziel korrigieren. Denn grundsätzlich gilt: Was ich mir nicht vorstellen kann, wird auch nicht eintreten. Solange ich mir nicht vorstellen kann, sechzehn Stunden am Tag zu arbeiten, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn ich trotz aller guten Vorsätze bereits nach acht Stunden schlappmache.
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Klarheit der Ausgangsbedingungen Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wär, wär mein Vater Millionär...Will ich mein Ziel erreichen, muss ich klären, von welchen Bedingungen ich ausgehe: Was ist meine Situation? Wie verhält sie sich zu meinem Ziel? Was begünstigt mich auf meinem Weg, was kommt mir in die Quere? Dabei muss ich den Realitäten ins Auge sehen. Es hat keinen Sinn, mir etwas vorzumachen. Weder schwarz sehen noch schönreden kann mir nutzen, im Gegenteil, es schadet nur. Die Dinge sind so, wie sie sind - und sie werden sich nicht verändern, bloß weil es mir in den Kram passt. Der Himmel fragt mich nicht danach, ob es regnen oder schneien soll. Zur Klärung meiner Ausgangsbedingung gehört aber auch die Frage: Was ist schon alles da, was mir hilft, mein Ziel zu erreichen? Welche Umstände, welche Freunde? Welche eigenen oder fremden Ressourcen, auf die ich zugreifen kann?
Klarheit über Unabdingbares Die Philosophie unterscheidet seit vielen tausend Jahren zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen. Die ersteren sind unverzichtbar, damit etwas, das sein soll, auch sein kann; die zweiteren sind das nicht. Trotzdem werfen wir beide im praktischen Leben immer wieder in einen Topf. Und stöhnen dann über die scheinbar übermächtigen Anforderungen, die das böse Leben uns auf dem Weg zu unseren Zielen zumutet. Wirklich unabdingbar ist meistens viel weniger, als wir denken. Was ist zum Beispiel unverzichtbare Voraussetzung, um ein Buch zu schreiben? Dass ich besonders kreativ oder begabt oder gebildet bin? Wohl kaum! Schließlich gibt es ganze Heerscharen real existierender Buchautoren, die weder das eine noch das andere sind. Muss ich einen Verlag haben, der mein Buch -56-
druckt? Auch das nicht! Erstens kann ich per Computer mein Buch drucken, zweitens kann ich es im Selbstverlag vertreiben. Aber muss ich nicht wenigstens schreiben können? Selbst das nicht! Mein Buch kann ja aus reiner Kalligraphie bestehen. Nein, die einzige unabdingbare Voraussetzung, dass ich ein Buch schreibe, ist die: dass ich eine gewisse Anzahl von Seiten zwischen zwei Buchdeckeln versammle. Vieles andere wäre sicher vorteilhaft und wünschenswert, unverzichtbar aber nicht.
Klarheit der Konsequenzen Alles im Leben ist eine Wahl. Und wenn dieses Leben mein Leben ist, dann ist es meine Wahl. Diese persönliche Entscheidungshoheit ist unveräußerlich - es sei denn, ich werde entmündigt oder in einem anderen Leben wieder geboren. Habe ich meine Ziele, die notwendigen Voraussetzungen zu seiner Erreichung sowie meine Ausgangsbedingungen geklärt, steht also noch eine letzte Frage zur Beantwortung aus: Will ich wirklich, was ich will? Was immer ich will, ich muss es ganz und gar wollen. Der Wille ist nicht teilbar, ein bisschen wollen geht nicht. Etwas wollen heißt vielmehr: es mit allen Konsequenzen wollen. Wenn ich alle voraussehbaren Folgen einer Entscheidung will, sie vorbehaltlos mitwollen kann, dann - und nur dann - will ich wirklich, was ich will.
Christianes Wiedergeburt Als Christiane mit dem Messer zu Boden sank, hatte sie jede Klarheit verloren: über ihre Ziele, über ihre Situation, über ihre Anforderungen, über ihre Voraussetzungen und über die -57-
Konsequenzen ihres Tuns. Doch nach dem Schaden war sie klug. Sie begriff, dass ihre Ohnmacht mehr war als nur eine physische Schwäche. Als sie sich wieder aufrappelte, rappelte sie darum nicht nur ihren Körper auf. Christiane spürte, dass sie die letzten Wochen und Monate auf einem völlig falschen Dampfer verbracht hatte. Als hätte sie die Methode Kant-Ranicki studiert, tat sie, was sie tun musste: Sie riss nicht nur die falschen Idole von den Wänden, sondern zog auch aus der Wohngemeinschaft mit den zwei hübschen, doch irreführenden Schwestern aus. Diesen Abstand brauchte sie, um zu ihrem eigenen Kurs zurückzufinden. Vor allem aber kehrte sie zu sich selbst zurück. Sie schmiss die Valiumpillen über Bord und erklärte sich wieder zuständig für ihr Leben. Sie begriff, dass sich darin niemand besser auskennen konnte als sie selbst. Sie besann sich auf ihre eigenen Ziele und Werte, statt sich nach fremden Mustern auszurichten. Sie hörte auf, sich von Anforderungen verrückt machen zu lassen, die nichts mit ihren Maßstäben und Normen zu tun hatten. Sie akzeptierte, dass ihre äußeren Reize nicht ausreichten, um die Männer umzuhauen; doch realisierte sie zugleich, dass sie trotzdem ein liebenswerter Mensch war. Sie gab sich, wie sie war, und das war mehr als genug. Meinem Freund Hans gingen jedenfalls die Augen über, als er sie ein paar Wochen später zufällig in einer Kneipe traf. Er pfiff auf die beiden Schwestern und zog alle Register, um Christiane in sein Bett zu bekommen. Doch ohne Erfolg. Denn sie wusste inzwischen, was sie wollte. Heute lebt Christiane ein ganz normales Leben. (Na ja, nicht ganz: Sie hat einen ehemaligen katholischen Priester geheiratet.) Halbtags geht sie ihrer Arbeit als Lehrerin nach, den Rest der Zeit verbringt sie damit, sich von ihren eigenen Kindern terrorisieren zu lassen. Da ihr das aber großen Spaß macht, kann sie gar nicht genug davon bekommen und wird ungefähr alle zwei Jahre aufs Neue schwanger. -58-
Segensreiches Gebet Wem Christiane ihre glückliche Wiedergeburt zu verdanken hat? Ich weiß nicht, ob ihr unmittelbar nach ihrer Krise ein Arzt oder Psychiater zur Seite stand. Ich weiß nur, dass sie in ihrer neuen Wohnung (genauer: auf der Toilette im Zwischengeschoss) einen erstaunlichen Spruch an der Wand hängen hatte, den sie im Gespräch auch mehrmals zitierte. Offenbar hatte sie ihn zu ihrem Wahlspruch erkoren. Es war ein altes pietistisches Gebet, ich glaube, Oetinger ist sein Verfasser. Seine Verse lauten: »Herr, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« Dieses Gebet schrieb ich damals in mein Tagebuch. Bis heute habe ich keine bessere Empfehlung zur Klärung meiner Lebensperspektive und Justierung meiner Ziele gefunden. Habe ich aber erkannt, was ich will, stellt sich noch einmal die entscheidende Frage: Darf ich wollen, was ich will?
»Hand aufs Herz!« - Übung 6 Wenden Sie nun Ihren Blick in die Zukunft. Was sind die zwei größten und schönsten Ziele in Ihrem Leben? Bitte schreiben Sie auf, was Sie sich am allermeisten und am allerstärksten wünschen: zum einen in Ihrem Beruf, zum anderen in Ihrem Privatleben. Was sind die zwei konkreten Ziele, die Ihnen in diesen beiden Bereichen mehr als alle anderen auf den Nägeln brennen? Bitte prüfen Sie dabei selbst: Sind diese Ziele Ausdruck Ihres persönlichen Lebenszwecks, den Sie in Übung 5 beschreiben haben? Wenn ja - wunderbar! Wenn nein: Wie können Sie Ihre beiden Ziele so umformulieren, dass sie Ausdruck Ihres Lebenszwecks sind? -59-
Beschreiben Sie diese Ziele so klar und deutlich, wie Sie sie sich nur vorstellen können. Drücken Sie beide Ziele in einer konkreten, positiven Formulierung aus. Klären Sie nun, was zur Erreichung Ihrer beiden Ziele unabdingbar ist. Was sind die wirklich notwendigen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Sie an Ihre Ziele gelangen? Bitte notieren Sie diese Bedingungen jeweils gesondert: einmal mit Blick auf Ihr privates, einmal mit Blick auf Ihr berufliches Ziel. Fragen Sie sich dann, von welchen gegebenen Voraussetzungen Sie ausgehen müssen. Was sind Ihre aktuellen Ausgangsbedingungen auf Ihrem Weg zum Ziel? Notieren Sie auch hier Ihre Antworten gesondert nach Ihren zwei Zielen. Haben Sie Ihre Ausgangsbedingungen geklärt? Dann unterscheiden Sie bitte, welche davon unabänderlich sind und welche Sie verändern können. Schreiben Sie auch hier das Ergebnis auf. Und notieren Sie zum Schluss: Was ist zu tun? In Bezug auf Ihr privates, in Bezug auf Ihr berufliches Ziel?
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Kapitel 7 Thema Verantwortung: Des kleinen Gottes Last Wenn es um das Thema Freiheit geht, darf die Meinung von Briefträger Lebsanft nicht fehlen. »Da, wo es zu weit geht«, so klärte er mich in meiner Jugend auf, »da fängt die Freiheit an.« Ich musste lachen, doch als ich sein betrübtes Gesicht sah, blieb mir das Lachen im Halse stecken. »Was ist denn daran so schlimm?«, fragte ich ihn. Rudi Lebsanft hob die Arme zum Himmel. »Dass kein Mensch weiß, wo das ist – wo es zu weit geht.«
Die Kehrseite der Freiheit Im Prolog zu seinem Drama Faust hat Goethe den Menschen als »kleinen Gott der Welt« bezeichnet. Damit charakterisiert er ihn als ein Zwitterwesen, das irgendwo zwischen Allmacht und Ohnmacht angesiedelt ist - mit beiden Sphären vertraut, und doch in keiner wirklich beheimatet. Ein »kleiner Gott« ist er, weil er frei ist: frei, sein Leben nach seinem Willen und seiner Vorstellung zu gestalten. Doch kaum realisiert er diese fantastische Möglichkeit, bekommt er Angst vor der eigenen Courage und zuckt erschrocken zurück. Denn »armer Teufel«, der er ist, sieht er zugleich die unbequeme Kehrseite der Freiheit, die ihr anhaftet wie ein siamesischer Zwilling. Diese Kehrseite heißt Verantwortung. Freiheit bedeutet, die Konsequenzen seines Handelns zu verantworten, Geradezustehen für das, was man tut. Das ist der Grund, weshalb wir uns als zurechnungsfähige Wesen bezeichnen. Und gleichzeitig ist das der Grund, weshalb die meisten Menschen -61-
ihre Freiheit fürchten wie die Pest - auch wenn sie noch so laut ihr Loblied singen.
Kleiner Gott und armer Teufel In der Regel ist es mit der Freiheit doch so: Am Ende will es keiner gewesen sein. Einfach tun und lassen zu können, was man gerade will, ohne an die Folgen zu denken - das wäre das Paradies! Zum Beispiel in den Augen meiner Tochter. Nie hat sie Lust, für ein Diktat in der Schule zu üben; bekommt sie dann von ihrer Lehrerin eine schlechte Note verpasst, beklagt sie sich über das »gemeine« Diktat. Nicht anders als der Geldanleger, der sich im BörsenBoom mit Aktien eindeckt. Folgt dann ein Crash, sucht er die Schuld beim Dax beziehungsweise bei seinem Bankberater. Obwohl doch er und kein anderer die Order zum Kauf gegeben hat. Besonders beliebt ist diese Inkonsequenz in der Liebe. Kommt es zum Seitensprung, muss die überbordende Leidenschaft (die doch das Ziel des Fehltritts war) als Ausrede herhalten: »Es« war stärker als ich! So lautet bis heute die Argumentation der meisten Ehebrecher, obwohl ein französischer Schriftsteller namens Laclos sie bereits vor zweihundert Jahren entlarvt hat: »Genauso sind die Menschen! Alle gleich schurkisch in ihren Plänen, und ihre Schwäche bei der Ausführung nennen sie Redlichkeit!«
Das Gleichnis vom Messer Der Autopilot X ist mein Antrieb, der Lebenszweck, aus dem sich mein Wille speist. Doch obwohl er der letzte Ursprung meines Handelns ist, ist -62-
er selbst neutral. Ob er zur guten oder bösen Tat ausschlägt, hängt vom Täter ab - von mir. Es verhält sich mit ihm wie mit einem Messer: Es kommt immer darauf an, was ich damit mache. Mit einem Messer kann ich Brot schneiden, mich rasieren, Wichtelmänner schnitzen, mir die Fingernägel reinigen oder jemanden umbringen. Ebenso zahlreich und verschieden sind die Möglichkeiten, aus meinem Lebenszweck heraus zu handeln. Ist zum Beispiel Unabhängigkeit mein »Ding«, kann ich diesem Autopiloten folgen, indem ich einen Verein zur Förderung der freien Marktwirtschaft gründe, mit der Portokasse meines Chefs durchbrenne, für den Vorsitz des Betriebsrats kandidiere, aus der katholischen Kirche austrete, mich als Homosexueller oute oder nach Kanada auswandere, um fernab jeder Zivilisation mein Leben zu führen. Alle diese unterschiedlichen Lebensmöglichkeiten sind Ausgestaltungen ein und desselben Lebenszwecks. Dieser gibt die Marschroute vor; insofern kann ich nicht aus meiner Haut. Wie ich mich aber auf dieser Reise moralisch verhalte, ob als Engel oder als Mistkerl oder einfach als ein anständiger Mensch, ist und bleibt meine Entscheidung.
Lot und seine Töchter Wie immer ich es also drehe und wende: Wer frei ist, trägt Verantwortung. Auch wenn ich entscheide, keine Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen, ist dies doch immer meine Entscheidung - und darum meine Verantwortung. Dass es aus dieser Wechselbeziehung kein Entrinnen gibt, demonstrierte der heilige Augustinus am Beispiel des Stammesvaters Lot. Der Fall ist bekannt. Nachdem Lot vor der Heimsuchung der Stadt Sodom ins Gebirge geflohen war, -63-
stellten seine Töchter fest, dass weit und breit kein Mann da war, um ihnen beizuwohnen - außer ihrem Vater. Also gaben sie ihm Wein zu trinken und legten sich in der Nacht zu ihm. Und Lot befriedigte die Wünsche seiner Töchter, ohne sich gewahr zu werden, was er da eigentlich tat. War er deshalb frei von Schuld? Keineswegs, entschied der heilige Augustinus. Aufgrund des genossenen Weins sei ihm die Blutschande selbst zwar nicht als Sünde anzurechnen, wohl aber die Tatsache, dass er sich durch den Weingenuss freiwillig in einen Zustand begeben habe, in dem er nicht mehr Herr seiner selbst gewesen sei. Darum müsse er sein Tun eben doch verantworten, sowohl vor den Menschen als auch vor Gott.
Das gute schlechte Gewissen Zum Glück sind die Dinge, die wir im Alltag zu verantworten haben, selten so folgenschwer wie die Verfehlung Lots. Meist geht es um einfache Fragen wie diese: Warum küsse ich nicht jede Frau auf der Straße, die mir gefällt? Warum pflücke ich nicht einfach die roten Kirschen, die so appetitlich im Garten meines Nachbarn leuchten? Mögliche Antwort: Weil ich Angst vor einer Ohrfeige beziehungsweise einer Strafanzeige habe. Bessere Antwort: Weil ich ein zivilisierter Mensch bin. Ein zivilisierter Mensch ist jemand, der ein Gewissen hat. Ein unzivilisierter Mensch würde seine Lippen von den hübschen Frauen auf der Straße beziehungsweise seine Finger von den Kirschen in Nachbars Garten nur bei konkreter Strafandrohung lassen - sprich: bei absehbarer Gefahr einer Ohrfeige oder Anzeige. Ein zivilisierter Mensch dagegen nimmt die Strafe schon im Kopf vorweg. Er braucht keine Kontrolle von außen, -64-
um den Fehlgriff zu unterlassen, er hat die Kontrolle bereits eingebaut - nämlich in seinem Gewissen. Das Gewissen ist instinktives Verantwortungsgefühl. Es regt sich ohne mein Zutun: die innere Stimme, die mich warnt, weil jemand eingreifen könnte. Darum verbietet sie mir, das zu tun, was von außen bestraft würde, wenn ich es trotzdem täte. Das ist das berühmte Prinzip der Verinnerlichung oder Internalisation, das der Soziologe Norbert Elias in seinem großartigen Buch Über den Prozess der Zivilisation beschrieben hat. Die Selbstkontrolle tritt an die Stelle der Fremdkontrolle: Niemand muss mir auf die Finger klopfen, wenn ich vor dem Naschtopf stehe. Ich halte mich ganz von allein zurück - selbst wenn mir keiner zuschaut. Dieser Trick der Zivilisation ist zweifellos eine fabelhafte Einrichtung. Ohne sie würden sowohl unsere Krankenhäuser als auch unsere Strafanstalten überquellen. Da die meisten Menschen aber ein Gewissen haben - sprich: sich auch dann der Verantwortung für ihr Handeln bewusst sind, wenn sie kein Fremder kontrolliert -, können wir uns in der Nacht ruhig schlafen legen. Erstens, weil ein gutes Gewissen für jeden Einzelnen immer noch das sanfteste Ruhekissen ist; und zweitens, weil wir in der Regel davon ausgehen können, dass auch der andere auf dieses Ruhekissen nicht verzichten möchte, sich also gleichfalls lieber schlafen legt, statt über seinesgleichen herzufallen.
Das Auge meiner Mutter Ich erinnere mich noch gut, wie sich der Prozess der Zivilisation an meiner eigenen Person vollzog. Er begann mit meiner Einschulung, der Lebensphase also, in der ein Menschenjunges seinen Radius allmählich erweitert, sich der permanenten Obhut seiner Eltern Schritt für Schritt entzieht. -65-
Wenn ich das Haus verließ, sagte meine Mutter immer: »Und vergiss nicht - Mütter sehen alles!« Sie hatte nie den Namen Norbert Elias gehört, geschweige ein Buch von ihm gelesen; doch mit dieser Mahnung bewirkte sie instinktiv, dass der Prozess der Zivilisation in Gang kam: dass ich mich stets in ihrer Kontrolle wähnte, selbst wenn ich außerhalb ihrer Reichweite war. Das Auge meiner Mutter war in meiner Vorstellung so allgegenwärtig wie das Auge des Erzengels Michael, das über den Menschen schwebt. Und da ich es mir mit ihr nicht verderben wollte, unterließ ich die Sachen, von denen ich annahm, dass sie ihr missfallen würden. Stufe zwei der Verinnerlichung war erreicht, als ich mir beeinflusst von Fernsehserien wie Geheimagent John Drake ernsthaft einzubilden begann, in meiner Kleidung seien geheime Mikrofone versteckt, die die Gespräche mit meinen Freunden aufzeichneten. Im Bewusstsein dieses vermeintlichen Lauschangriffs meiner Mutter verkniff ich mir sowohl »böse« Worte als auch »schmutzige« Witze (oder flüsterte sie nur ganz, ganz leise). Die Illusion von der Allgegenwart meiner Mutter war perfekt, als ich trotz magischen Auges und akustischer Wanzen einmal doch über die Stränge schlug. Ich ging inzwischen in die vierte Klasse. Zusammen mit meinem besten Freund hatte ich eine Hütte auf dem Nonnenfriedhof beim städtischen Krankenhaus geerbt. Dort veranstalteten wir drei Nachmittage hintereinander regelrechte Orgien: Wir tranken Coca-Cola und rauchten Zigaretten. Als mich am Abend des dritten Tages meine Mutter in die Arme schloss, verblüffte sie mich mit der Frage: »Wer hat hier geraucht?« Voller Zerknirschung gestand ich ihr mein Fehlverhalten. Wenn ich jemals Zweifel an der Vollkommenheit ihres Überwachungsapparats gehabt haben sollte: Mit dieser einen kleinen Frage waren sie ausgeräumt. Jaja, Mütter sehen alles - wenn’s sein muss, sogar mit der Nase. -66-
Peter & Paul / II Auf diese Weise wuchs ich zu einem Menschen heran, der nur tut, was er auch verantworten kann. Die Sache hatte allerdings einen Haken. Es gab verteufelt viele Dinge, die mir Spaß machten, doch meiner Mutter - sprich: meinem Gewissen zweifellos missfielen. Seit dieser Zeit streiten Peter und Paul um die Vorherrschaft in meinem Innern. Wann immer es etwas auszuprobieren gibt, flüstert Paul mir zu: »Los, Versuchs doch! Das ist genau dein Ding! Du hast ja keine Ahnung, wie toll du dich dann fühlst.« Doch kaum hat er gesprochen, höre ich Peters warnende Stimme: »Bist du vom wilden Affen gebissen? Der Schaden wird zehnmal größer sein als das bisschen Vergnügen, das dir winkt. Schäm dich, an so etwas auch nur zu denken!« Das Vertrackte an diesem ewigen Streitfall ist: Recht haben sie beide.
Doppelbindung Peter und Paul verkörpern zwei grundsätzlich verschiedene Lebensmöglichkeiten: Peter steht für ein Leben aus dem Gefühl von Angst und Mangel; sein Prinzip ist die Leidensvermeidung. Paul dagegen steht für ein Leben aus dem Gefühl von Kraft und Leidenschaft; sein Prinzip ist die Lustgewinnung. Beide Prinzipien sind in jedem Menschen verankert; und beide Prinzipien haben ihren Sinn. Luststreben pur brächte uns wahrscheinlich ins Gefängnis oder in die Trinkerheilanstalt. Die reine Leidensvermeidung aber würde letztlich dazu führen, dass wir morgens erst gar nicht aus dem Bett aufstehen, damit uns ja nichts passiert und wir niemandem Schaden zufügen. Wann immer etwas Spaß machen könnte, ob fremde Frauen küssen -67-
oder Kirschen klauen: Paul gibt Gas, Peter tritt auf die Bremse. Paul ist das personifizierte Draufgängertum, das erst handelt und dann nachdenkt - Peter das personifizierte Gewissen, das keine Sekunde seine Verantwortung vergisst. Genauso spontan, wie sich die Lust entwickelt, den eigenen Antrieben oder den Versuchungen des Lebens zu folgen, regt sich auch die Frage, ob ich vor mir und meinen Mitmenschen verantworten kann, das zu tun, was ich gerade gerne tun möchte. So anstrengend dieses Hin und Her manchmal ist, es ist doch in Ordnung. Ohne Paul brächte ich vor lauter Zögern und Zaudern erst gar nichts zustande, ohne Peter würde ich vermutlich mit dem Hintern umwerfen, was ich mit den Händen gerade aufgebaut habe. Problematisch wird die Sache nur, wenn einer von beiden die alleinige Vormacht gewinnt, wenn das Peter- Prinzip oder das Paul-Prinzip sich einseitig verselbstständigt.
Im Zweifel lieber nicht Überflüssig zu sagen, dass man in meiner Familie seit jeher nach dem Peter-Prinzip verfährt. Das Paul-Prinzip war bei uns als Lustprinzip verpönt, und das hatte ja bekanntlich schon sein Erfinder, der Psychologe Sigmund Freud, für den Alltag als untauglich verworfen: »Uneingeschränkte Befriedigung aller Bedürfnisse drängt sich als die verlockendste Art der Lebensführung vor, aber das heißt, den Genuss vor die Vorsicht zu setzen, und straft sich nach kurzem Betrieb.« Im Zweifelsfall tun wir in meiner Familie also lieber das, was wir gerade nicht möchten. In der festen Überzeugung, dass gute Werke vor allem aus einem schlechten Gewissen resultieren, folgen wir diesem auch dann, wenn wir gar keines haben. Erstens, weil wir glauben, uns so vor eigenem Schaden am besten schützen zu können, und zweitens, weil wir das Wohl unserer Mitmenschen stets höher einstufen als unser eigenes. -68-
Schließlich sind wir keine Egoisten, und darauf sind wir stolz. Aus diesem Grund habe ich ungefähr zehn Jahre lang meine Frau in jeder Minute meiner Freizeit beim Shopping begleitet. Immer wenn ich sie fragte, worauf sie Lust habe, antwortete sie unfehlbar: »Einkaufen.« Und obwohl ich Geschäfte hasse wie die Pest, folgte ich ihr, um nur ja nicht meine nichtswürdigen Wünsche über die ihrigen zu setzen, treu und brav und verlogen von Geschäft zu Geschäft, ein halbes Eheleben lang. Hauptsache, meine Frau war glücklich! Bis mir eines Tages der Kragen platzte, wie immer natürlich aus heiterem Himmel. Wir waren in einer furchtbar noblen Boutique, meine Frau probierte gerade die siebzehnte Bluse an. »Bist du eigentlich wahnsinnig«, schrie ich plötzlich los. Alle Köpfe flogen zu mir herum, halb bekleidete Damen lugten aus ihren Kabinen hervor, doch das war mir egal. Die angestaute Wut eines Jahrzehnts entlud sich in diesem Augenblick. Kaum noch Herr meiner Sinne, überschüttete ich meine Frau mit Vorwürfen, die in einem einzigen vernichtenden Wort gipfelten: »Egoistin!!!« Meine Frau wusste nicht, wie ihr geschah. Mit ihren unschuldigen braunen Augen sah sie mich an und sagte: »Aber Liebling, ich dachte, Einkaufen macht dir Spaß?« Wie kann eine Frau ihren Mann nur so verkennen!
Wer ist hier der Egoist? Die Egoismus-Frage sollte uns noch mehrere Tage beschäftigen. Ich machte mir regelrecht einen Sport daraus, meiner Frau Selbstsucht nachzuweisen. Ob sie ein Stück Schokolade aß, ob sie den letzten Schluck Kaffee aus der Kanne nahm oder ob sie beim Fernsehen ihr Lieblingsprogramm einschaltete: Sobald sich ihr Wille regte, nagelte ich sie fest. -69-
Als das Wochenende nahte, war meine Frau so genervt, dass sie einen Vorschlag machte. »Wie wär’s, wenn wir nach Rom fahren würden?« »Siehst du?«, triumphierte ich. »Schon wieder dein Egoismus!« »Was ist denn daran egoistisch?«, fragte sie. »Du willst nach Rom, und ich soll tausend Kilometer Auto fahren! Immer willst du nur das, was du willst! Warum willst du nicht mal zur Abwechslung das, was ich will?« »Und was möchtest du, mein Schatz? Dass ich dir sage, was du willst?«
Zeichen geben Natürlich fuhren wir nach Italien. Zum Glück, denn dort fand unsere Versöhnung statt. Bereits auf der Autobahn dämmerte mir, dass meine ewige Rücksichtnahme auch nicht ganz frei von Egoismus war. Meine Frau wollte einfach, was sie wollte; ich aber wollte, dass sie mir mein Wollen abnahm (als Dank für meine Rücksicht). Sie sollte dafür sorgen, dass mein Wille geschah - doch bitte schön so, dass ich ihn nicht zu äußern brauchte. Selbstverständlich sagte ich das nicht laut. Stattdessen schmollte ich hinter dem Lenkrad - bis mir ein Autounfall in der römischen Altstadt endgültig die Augen öffnete. Ich philosophierte gerade darüber, warum in Rom trotz der chaotischen Fahrweise der Italiener laut Statistik weniger Verkehrsunfälle passierten als in deutschen Großstädten, als ich plötzlich die Fahrbahn wechseln musste. Eine Vespa schoss vom Bürgersteig auf mich zu, um mich von rechts zu überholen. Während ich mit dem einen Auge versuchte, den Verkehr vor mir im Blick zu behalten, und ich gleichzeitig mit dem ändern in -70-
den Rückspiegel schaute, scherte ich aus - und schon rammte mich ein Kleinlaster von links. »Warum haben Sie nicht geblinkt?« Gott sei Dank hatte der herbeigerufene Carabiniere zwanzig Jahre in einer Berliner Pizzeria gearbeitet und sprach fließend deutsch. »Weil ich keine Zeit hatte!«, rief ich empört. »Ich musste doch der Vespa ausweichen.« Der Polizist schüttelte den Kopf. »Die Vespa hätte schon von allein gebremst.« Er zückte den Block mit den Strafzetteln. »Soll das etwa heißen«, protestierte ich, »Sie wollen mich für meine Rücksicht auch noch bestrafen?« Der Polizist zuckte die Achseln. »Bei uns funktioniert der Verkehr anders als bei Ihnen«, klärte er mich auf. »Hier fährt jeder, wie er will. Aber kein italienischer Autofahrer würde in so einer Situation vergessen zu blinken und zu hupen. - Tut mir Leid«, fügte er hinzu und reichte mir den Strafzettel. »Siehst du«, sagte meine Frau. »Jetzt weißt du, warum in Berlin mehr Unfälle passieren als in Rom!« »Und jetzt weiß ich auch«, erwiderte ich, »warum ich von heute an keine Boutique mehr betrete, mein Schatz!«
Entwarnung Keine Frage: Gewissen kann man nie genug haben. Ohne Gewissen gäbe es keine Zivilisation; wir würden wie die Vandalen übereinander herfallen, uns die Schädel einschlagen und das Essen vom Munde wegstehlen - vielleicht sogar in dieser Reihenfolge. Doch so bedrohlich diese Gefahr sein mag, besonders wahrscheinlich ist sie nicht. Jeder Mensch schleppt ja mehr oder weniger den Prozess der Zivilisation mit sich herum, ob er will oder nicht. Selbst der -71-
gewissenloseste Schurke hat ein Gewissen. Denn Gewissenlosigkeit ist kein Mangel an Gewissen, sondern nur die Anmaßung, sich über dessen Urteil hinwegzusetzen. Im Zusammenleben normal entwickelter Menschen ist darum eher das Gegenteil das Problem: Dass wir buchstäblich des Guten zu viel tun, vor lauter Gewissenhaftigkeit fremde Erwartungen statt eigene Wünsche zur Basis des Handelns machen. Bis wir nur noch dann guten Gewissens etwas tun, wenn wir permanent mit einem schlechten herumlaufen. Vor lauter Verantwortungsbewusstsein schütten wir das Kind mit dem Bade aus und lügen uns vor, dass wir es ja gar nicht so haben wollen, wie wir es gerne hätten - obwohl wir es natürlich verdammt gerne so hätten, wie wir es gerne hätten. Da wir aber Angst haben, dass das, was wir ganz, ganz wirklich gerne hätten, etwas so Unanständiges oder Schlimmes sein könnte, wie das, was der Stammesvater Lot im Rausch beging, ohne sich seiner Schande gewahr zu werden, üben wir lieber Verzicht, noch bevor wir uns die eigenen Wünsche klargemacht haben. Und die Befriedigung, die wir uns dabei verkneifen, nennen wir Tugend. Um uns vor der Gefahr zu schützen, die wir in und an den eigenen Wünschen fürchten, hören wir auf, uns wie freie Menschen zu benehmen - natürlich aus freien Stücken. Mit dem Resultat, dass die Freiheit sich restlos in Verantwortung auflöst: Statt mein eigener Herr zu sein, bin ich nur noch mein eigener Sklavenhalter. Und mein ganzer Stolz ist die große Schere im Kopf, mit der ich meine Wünsche beschneide. Doch der Preis für diesen Verzicht ist hoch. Wenn ich mir versage, es im Leben so zu haben, wie ich es gerne hätte, geht es mir wie Karl Valentin auf dem Oktoberfest: Aus Angst, zu wollen, was ich nicht wollen darf, vergrabe ich meine Wünsche in meiner Seele. Damit sie irgendwann bei der leichtesten Erschütterung wie Tretminen explodieren und tatsächlich jenen Schaden anrichten, den ich unbedingt vermeiden wollte. Zum -72-
Beispiel bei der harmlosen Kleiderprobe meiner Frau in irgendeiner Boutique.
Die Goldene Regel Ein drittes und letztes Mal also die Frage: Darf ich wollen, was ich will? Die Antwort lautet ja. Doch dabei gilt eine Voraussetzung: Die logische Grenze meiner Freiheit ist die Freiheit der anderen. Zwang muss ich mir nur antun, wenn die Freiheit der anderen gefährdet wird. Bleibt sie aber gewahrt, kann ich tun und lassen, was ich will. Dann muss ich mich nur prüfen, ob ich wirklich will, was ich will: mit allen Konsequenzen! Sind Dritte von den Auswirkungen meiner Entscheidung betroffen, hilft im Zweifelsfall die gute alte »Goldene Regel« weiter. Die ist zwar nicht besonders originell, doch immer noch das Gescheiteste, was die Menschheit bislang zu diesem Thema hervorgebracht hat: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem ändern zu!«
Italienische Verhältnisse Vielleicht wird alles viel einfacher, wenn wir von zwei simplen Annahmen ausgehen: Erstens, dass der Mensch tatsächlich Gottes Ebenbild ist, also weitaus besser, als er denkt (der liebe Gott - oder wer immer uns erschaffen hat - müsste ja auch ein abscheuliches Monster sein, wenn wir umgekehrt von unserem Selbstbild auf ihn schließen würden); und zweitens, dass der zwischenmenschliche Verkehr eher dem römischen Modell folgt als dem deutscher Großstädte (das wäre zugleich die Erklärung der berühmten »unsichtbaren Hand« in der modernen Marktwirtschaft: warum ein Gemeinwesen gerade -73-
dann am besten funktioniert, wenn jeder Einzelne - innerhalb gewisser Regeln seine ureigenen Interessen verfolgt). Seit meinem Unfall in Rom gehe ich jedenfalls von diesen zwei Annahmen aus und übe mich in einem gesunden Egoismus. Dabei stelle ich zu meinem Erstaunen zweierlei fest: Erstens äußert sich in meinen Wünschen nur sehr selten der berühmte innere Schweinehund, den ich mit Peters Hilfe überwinden müsste; meist sind es ganz harmlose Dinge, die mein Herz begehrt. Und zweitens passieren mir viel weniger Unfälle, seitdem ich klar und deutlich zu erkennen gebe, was ich will; nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch in der Beziehung zu meiner Frau. Vor allem aber habe ich dank dieser inneren Entwarnung den Kopf frei. Um die Chancen, die das Leben täglich bietet, zu erkennen und zu ergreifen. Doch das ist bereits ein anderes Kapitel.
»Hand aufs Herz!« - Übung 7 Bitte prüfen Sie nun, ob Sie Ihre Ziele sowie die nötigen Schritte zu seiner Verwirklichung auch verantworten können: einmal mit Blick auf Ihr wichtigstes Ziel im Beruf, einmal mit Blick auf Ihr wichtigstes Ziel im Privatleben. Schreiben Sie dazu auf, welche Konsequenzen die Verwirklichung dieser Ziele nach sich ziehen wird: welche Konsequenzen für Ihr eigenes Leben, welche für Ihre Mitmenschen. Können Sie diese Konsequenzen vorbehaltlos bejahen? Wenn ja, dann können Sie an Ihren Zielen festhalten. Wenn nein, dann formulieren Sie Ihre Ziele so um, dass die inakzeptablen Konsequenzen entfallen. Und zum Schluss noch eine letzte Frage: Welche Menschen müssen Sie von Ihren Zielen in Kenntnis setzen, um unnötige Kollisionen zu vermeiden? Bitte notieren Sie auch hier die Antwort. -74-
Kapitel 8 Ziele und Chancen Zum Thema Chancen erzählt Professor Warschawski gern folgende Geschichte: Es war einmal ein alter Mann. Dem hatte der liebe Gott versprochen, dass er hundert Jahre alt würde. In dieser Zuversicht lebte er glücklich und zufrieden, bis eines Tages der Große Regen einsetzte. Es war, als ob der Himmel alle Schleusen geöffnet hätte. Bald traten die Bäche und Flüsse über ihre Ufer, das Wasser stieg und stieg und nach einer Woche war das Haus des alten Mannes von den Fluten umspült. Der alte Mann aber saß auf der Veranda in seinem Schaukelstuhl und wartete ab. Und als die Feuerwehr mit einem Boot zu ihm gefahren kam, um ihn in Sicherheit zu bringen, blieb er ruhig sitzen und sagte: »Ich geh nicht fort von hier, mir kann nichts passieren. Der liebe Gott hat mir versprochen, dass ich hundert Jahre alt werde.« Das Wasser aber stieg weiter; es überflutete die Veranda, drang in den ersten Stock und bald auch in den zweiten. Ohne zu murren, hievte der alte Mann seinen Schaukelstuhl in den dritten Stock, dann auf den Dachboden, und als die Fluten über dem Haus zusammenschlugen, kletterte er auf den Schornstein, der einsam aus den Wassermassen ragte. Ein Hubschrauber kam herbeigeflogen und die Besatzung warf eine Strickleiter aus. Der alte Mann aber weigerte sich, nach der Leiter zu greifen: »Ich geh nicht fort von hier, mir kann nichts passieren. Der liebe Gott hat mir versprochen, dass ich hundert Jahre alt werde.« Kaum hatte er die Worte gesagt, ertrank der alte Mann in den Fluten. Mit triefenden Kleidern trat er vor den lieben Gott. »Hattest -75-
du mir nicht versprochen, dass ich hundert Jahre alt werde?«, protestierte er wütend. »Wie konntest du dann zulassen, dass ich in meinem fünfundneunzigsten Lebensjahr ertrinke?« Der liebe Gott runzelte die Stirn. »Da muss etwas schief gelaufen sein«, sagte Er. »Als ich den Großen Regen befahl, habe ich angeordnet, dass man dir ein Feuerwehrboot schickt. Und wenn’s sein muss, auch noch einen Hubschrauber!«
Der alte Mann in mir Das Schicksal des alten Mannes zeigt: Im Leben kommt es weniger darauf an, was man unterlässt, sondern vielmehr auf das, was man unternimmt. Vor allem, wenn es um die Nutzung von Chancen geht. Der einzige Tag, den ich im Jahr 1997 wirklich bereue, ist der 28. Oktober, der Tag, an dem die deutschen Börsen in die Knie gingen. An diesem »schwarzen Montag« verhielt ich mich genauso wie der alte Mann. Fassungslos saß ich vor dem Fernseher und verfolgte den Kursverfall meiner Aktien. Es war ein einziges Debakel... Dabei hatte mein Bankberater mir noch eine Woche zuvor versprochen, dass die Turbulenzen in Asien kein Grund zur Besorgnis seien! Ich war von der Katastrophe so gebannt, dass ich zu keiner Regung fähig war. Wie das Kaninchen vor der Schlange. Nicht einmal das Telefon, das unaufhörlich klingelte, nahm ich ab. Drei Tage später rief ich meinen Bankberater an, um ihn zur Rede zu stellen. Doch bevor ich dazu kam, fragte er: »Warum sind Sie am Montag nicht ans Telefon gegangen? Ich habe ein Dutzend Mal versucht, Sie zu erreichen!« »Um sich für Ihre falschen Versprechungen zu entschuldigen, -76-
oder was?«, fuhr ich ihn an. »Nein«, erwiderte er, »ich wollte Ihnen empfehlen zu kaufen.« »Kaufen? In die fallende Börse? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?« »Vielleicht«, sagte mein Berater, »doch die anderen Kunden, die meinem Rat gefolgt sind, haben in zwei Tagen 30 Prozent Gewinn gemacht!« Entgeistert ließ ich den Hörer sinken. Wofür hatte ich nur ein Telefon?
Das Leben als Börsenspiel Seit diesem schwarzen Montag weiß ich: Wer etwas über (verpasste) Chancen erfahren will, muss an die Börse gehen. Denn die Börse ist ein Ort, an dem nichts anderes gehandelt wird als Chancen. Dabei lebt sie von einem einzigen, denkbar einfachen Prinzip: dass zwei Menschen in ein und derselben Frage gegenteiliger Meinung sind. Die »Bullen« kaufen, die »Bären« verkaufen; die Bullen setzen auf steigende, die Bären auf fallende Kurse. Dieses Wechselspiel der Meinungen treibt die Aktienkurse in die Höhe oder lässt sie in den Keller purzeln, je nachdem, ob gerade die Bullen oder die Bären am Drücker sind. Aus diesem Grund spiegelt die Börse das Auf und Ab des Lebens so unverfälscht wider wie kein anderes Spiel. Denn hier wie im Alltag ist die Basis des Chancenhandels immer dieselbe: eine Spekulation auf die Zukunft. Wenn ich heute eine Aktie kaufe, dann nicht so sehr, weil ich vom derzeitigen Zustand eines Unternehmens begeistert bin, sondern weil ich dem betreffenden Unternehmen eine positive zukünftige Entwicklung zutraue. Auf dieser angenommenen -77-
Wertsteigerung basiert meine Entscheidung. Genauso im wirklichen Leben: Ob ich meiner Freundin das Jawort gebe, hängt weniger von unserer gemeinsamen Vergangenheit ab als vielmehr von der Frage, ob ich unsere Beziehung auch weiterhin für tragfähig halte. Das einzige Problem dabei: Von der Zukunft gibt es keine Fakten. Ich kann über ihren Verlauf nur Vermutungen anstellen. Als Spekulant - ob an der Börse oder im Alltag - brauche ich darum noch eine zweite Grundlage, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Diese aber finde ich nicht draußen im Markt oder im Leben, sondern in mir selbst.
Die Kunst des Segelns oder: Was ist opportun? Bullen und Bären wollen an der Börse ihre Chancen realisieren, indem die einen exakt das Gegenteil dessen tun, was die anderen tun. Trotzdem tun beide jeweils das Richtige. Weil jede Spekulation auf die Zukunft erst im Licht einer ganz bestimmten Strategie Sinn macht oder auch nicht. Wenn ich eine Aktie kaufe oder verkaufe, geht es mir ja nicht um die Aktie selbst. Wichtig ist allein das Ziel, das ich mithilfe der Aktie erreichen will. Bin ich ein Bulle, strebe ich eine möglichst hohe Rendite an, bin ich ein Bär, ist maximale Sicherheit mein Ziel. Darum handelt ein Bär genau richtig, wenn er eine »heiße« Aktie links liegen lässt, während der Bulle gut daran tut, ebendiese Aktie in sein Depot aufzunehmen. Das aber heißt im Klartext: Was eine Chance ist, sagt mir mein Ziel. Erst in dieser Perspektive kann ich unterscheiden, was mich auf meinem Weg voranbringt und was nicht. Das ist ja die ganze Kunst des Segeins: Nur wenn ich weiß, wohin die Reise gehen soll, kann ich erkennen, aus welcher Richtung mir der Wind gerade günstig weht. Ohne klares Kursziel dagegen kann ich -78-
weder vor dem Wind segeln noch mit dem Wind kreuzen ebenso wenig, wie ich ohne klares Kursziel an der Börse eine sinnvolle Entscheidung treffen kann. Und erst recht nicht im »richtigen« Leben.
Die letzte Zigarette »Der Zufall«, so Louis Pasteur, »begünstigt nur den vorbereiteten Geist.« Um ihm eine Chance zu geben, muss ich darum klare Ziele definieren. Also fasste ich Silvester 1991 zusammen mit ungefähr siebzehn Millionen anderen Menschen in Deutschland - einen Vorsatz: Im neuen Jahr wollte ich das Rauchen aufgeben. Dabei ließ ich mich auch von Mark Twain nicht abschrecken. »Das Rauchen aufgeben?«, hatte der einmal gefragt. »Nichts leichter als das! Das hab ich schon hundertfünfzigmal geschafft.« Nein, ich meinte es ernst. Ich fand Rauchen ungesund, teuer, asozial, unhygienisch und widerlich. Es fehlte mir nur noch der aller-, allerletzte Anstoß. Da fiel mein Blick auf meine dreijährige Tochter. Während sie das Feuerwerk am Himmel der Silvesternacht bestaunte, saugte und nuckelte sie genüsslich an ihrem Schnuller - genauso wie ich an meiner Zigarette. Also trafen wir eine Vereinbarung: An ihrem vierten Geburtstag wollten wir unserem gemeinsamen Laster abschwören. Ein für alle Mal. Als aber der Geburtstag nahte, schwand die Willenskraft meiner Tochter dahin. »Bitte, Papa«, flehte sie mich an, »nur noch ein Jahr.« Konnte ich ihr widerstehen? Natürlich konnte ich nicht. Ihr Aufschub war schließlich auch mein Aufschub. Ich paffte also weiter, doch mit zunehmend schlechten Gewissen. Ich wollte ein Vorbild sein? Indem ich -79-
mich in meinen Entschlüssen von meiner dreijährigen Tochter abhängig machte? Bei dem Gedanken fühlte ich mich jedes Mal so schlecht, dass ich mir eine Zigarette anzünden musste. Mein Ziel, das Rauchen aufzugeben, stand nach wie vor fest es fehlte allein an der passenden Gelegenheit. Für diese sorgte am Ende dann doch meine Tochter. Aus dem Kindergarten brachte sie einen fürchterlichen Keuchhusten mit und steckte mich damit an. Ich kotzte mir fast die Seele aus dem Leib. Trotzdem war ich glücklich. Denn der Keuchhusten war genau die Chance, auf die ich gewartet hatte: Ich gab das Rauchen auf. Seitdem habe ich keine Zigarette mehr angerührt. Nur manchmal, spät in der Nacht, überkommt mich immer noch die Sucht. Dann gehe ich an den Schrank und nehme den Schnuller, den meine Tochter dort Vorjahren abgelegt hat. Und nuckle ein bisschen daran herum, bis die Sucht vergeht. Aber nur, wenn meine Tochter schon schläft.
Die blinde Anschauung »Gedanken ohne Inhalt sind leer«, schreibt Kant, »Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« Die Einsicht, die sich hinter diesem Satz verbirgt, ist ebenso befremdlich wie trivial. Befremdlich, weil sie unserer unmittelbaren Auffassung widerspricht; trivial, weil jeder darauf kommt, der zwei Minuten darüber nachdenkt: Sehen ist keine körperliche Funktion, sondern eine geistige. Erst im Licht einer Idee bekommt das, was ich um mich herum wahrnehme, eine Bedeutung. Fehlt mir aber eine solche Idee, tappe ich blind wie ein Maulwurf durch die Welt. Wer sich von dieser Wechselwirkung überzeugen will, braucht nur ein Kaufhaus zu betreten. Zum Beispiel, um ein Geschenk für seine Schwiegermutter zu suchen. Hat er keine Idee, wofür sich seine Schwiegermutter -80-
interessiert, kann er suchen und stöbern, wie er will - er wird auch unter dreißigtausend Artikeln nichts »Passendes« finden. Weil ihm ja der Maßstab fehlt, was »passen« könnte. Weiß er aber, dass seine Schwiegermutter gerne bastelt oder strickt, gibt es plötzlich tausend Möglichkeiten; selbst im kleinsten TanteEmma-Laden wird er noch ein passendes Geschenk für sie finden. Wie er sich entscheidet, hängt dann nur noch von der Größe seines Portemonnaies ab - und von der Liebe zu seiner Schwiegermutter. Die Welt, in der ich lebe, ist ganz ähnlich wie ein solches Warenhaus - eine unendliche Fülle von Chancen und Möglichkeiten. Damit ich diese aber erkenne, muss ich mir eine bestimmte Brille aufsetzen, sprich: Ideen und Ziele entwickeln, aus deren Perspektive ich die Welt betrachte. Ziele öffnen mir die Augen, nur mit ihrer Hilfe erkenne ich, in welcher Weise mir die Dinge nützen können. »Du hast mir deinen Abfall gegeben«, schreibt der französische Dichter Baudelaire in einem seiner Paris-Gedichte über das Leben, »ich habe Gold daraus gemacht.« Diese wunderbare Wandlung ist nicht das Privileg eines begnadeten Genies, jeder Mensch hat das Zeug zum Alchimisten. Der letzte Mist kann mir nützen, wenn ich nur weiß, was ich will: Wenn ich den festen Vorsatz habe, das Rauchen aufzugeben, wird selbst eine so unangenehme Sache wie ein Keuchhusten zum wunderbaren Glücksfall. Und an der Börse winkt mir sogar am Tag des schlimmsten Crashs ein Vermögen.
Das Gesetz der Börse »Jeder Tag ist ein guter Tag!«, lautet darum das Gesetz der Börse. »Jeder Tag ist ein guter Tag!«, lautet darum auch das Gesetz des Lebens. Denn das Leben ist immer nur das, was ich -81-
daraus mache: nach Maßgabe meiner Ziele und Zwecke. Aus meinem Lebenszweck heraus entwickle ich meine Ziele. Diese stecken mir ein Licht auf, was ich tun soll: In ihrem Licht erkenne ich die Möglichkeiten, die das Leben mir bietet. Doch reicht es nicht aus, diese Chancen zu erkennen; damit sie mir nützen, muss ich sie auch ergreifen! Das ist das Problem des alten Mannes - im Gleichnis und in mir. Der alte Mann hat ja ein klares Ziel vor Augen: Er will hundert Jahre alt werden. Doch ist er sich der Erreichung seines Ziels so über alle Maßen gewiss, dass er darüber seinen eigenen Beitrag vergisst. Er spekuliert darauf, dass die Dinge sich von allein in seinem Sinne fügen werden. Das aber ist die einzige Annahme von der Zukunft, auf die ich mich besser nicht verlassen sollte. Wenn ich an die Börse gehe, muss ich kaufen oder verkaufen; wenn ich im Leben stehe, muss ich handeln. Ich muss in das Feuerwehrboot einsteigen, muss die Strickleiter nehmen, wenn sie nach mir ausgeworfen wird. Denn so viele Gelegenheiten mir das Leben auch immer wieder bietet, meinen Zielen näher zu kommen: Jede Chance, jede Möglichkeit ist einmalig. Sie gilt nicht gestern oder morgen, nicht in Wolkenkuckucksheim oder am Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern hier und jetzt! Was aber hindert mich dann, erkannte Chancen auch zu nutzen?
»Hand aufs Herz!« - Übung 8 Sie haben Ihre Ziele vor Augen und sind sich über Ihre Ausgangslage im Klaren. Außerdem wissen Sie, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Ihre Ziele Wirklichkeit werden können, und sind sich Ihrer Verantwortung bewusst. Schauen Sie sich nun in Ihrem Leben nach möglicher Hilfe um. -82-
Was ist alles bereits da, was Sie Ihren zwei 7Jelen näher bringen kann? Welche eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten helfen Ihnen weiter, welche Freunde und Partner? Welche sich abzeichnenden Veränderungen lassen sich für die Realisierung Ihrer Ziele nutzen? Wo bieten sich auf Ihrem Weg mögliche Abkürzungen an? Wo können Sie das Tempo beschleunigen? Notieren Sie die Chancen, die Ihnen Ihr Leben bietet, wiederum gesondert nach Ihren beiden großen Zielen.
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Kapitel 9 Grenzen im Kopf Die Reise nach Wien sollte meine ganz große Chance sein. Das zumindest dachte ich, als ich das Flugzeug bestieg. Das Leben beziehungsweise meine Dummheit sollte mich aber bald eines Schlechteren belehren.
Die Reise nach Wien Die Sache war die: Ein Fernsehregisseur plante eine EndlosSerie, eine so genannte Soap Opera mit ungefähr tausend Folgen, und suchte geeignete Drehbuchautoren. Wer hier ins Geschäft kam, hatte auf Jahre ausgesorgt. Irgendwie hatte mein Agent es geschafft, mich in die engere Auswahl zu bringen. Vier Autoren wurden noch gebraucht, fünf waren nach Wien eingeladen -»einfach so, zum Kennenlernen«. Zu meinem Unglück fand das Kennenlernen in keinem Büro, sondern in einem Restaurant statt. Zu meinem Unglück, weil ich seit meiner Kindheit einen Essenstick habe. Viele Dinge, die andere Menschen mit großem Genuss ihrem Mund und Magen zuführen, erzeugen in mir spontanen Brechreiz - ungefähr vier Fünftel aller normalen Gerichte. Eine Einladung zum Essen ist deshalb für mich ungefähr so verlockend wie eine Aufforderung zum Strafexerzieren.
Das Arbeitsessen Doch es kam noch schlimmer. Das Restaurant war kein gewöhnliches Speiselokal, sondern ein gottverdammter Gourmettempel. Als ich die Karte aufschlug, packte mich dieselbe Verzweiflung wie vor Jahren im Französischunterricht: -84-
»Loup de mer... grand crû classe... lapin grandmere a la bordelaise...« Ich verstand kein einziges Wort. Da Gourmets aber Leute sind, die auch das noch essen, wo jeder normale Mensch die Nahrungsaufnahme verweigert, war mir klar, dass sich hinter den französischen Vokabeln nichts Gutes verbergen konnte. Ich wurde so nervös und zittrig, dass mir die Erbsen von der Gabel purzelten, noch bevor ich sie bestellen konnte. Um nur ja keinen Fehler zu machen, klappte ich die Karte zu und sagte: »Für mich bitte nur einen Kamillentee!« »Wie, Sie wollen nichts essen?«, fragte mich der Regisseur, der sich damit erstmals persönlich an mich wandte. Das Gespräch verstummte, alle Augen waren auf mich gerichtet. »Nein, danke... leider nicht«, stammelte ich. »Ich, äh, ich habe eine Magenverstimmung.« »Sie Ärmster«, sagte der Regisseur und wandte sich wieder seinem Tischnachbarn zu, einem kaum dreißigjährigen, stark übergewichtigen Menschen, um mit ihm die Speisenfolge zu erörtern. Der Rest des Tages war die Hölle. Während ich an meinem Kamillentee nippte, wurde ein Gang nach dem anderen aufgefahren. Die Stimmung am Tisch wurde immer besser; man schlemmte wie Gott in Frankreich, stieß mit den Gläsern an und begann sich zu duzen. Nur ich saß wie ein Aussätziger da, erwiderte die Beileidsbekundungen, die hin und wieder für mich abfielen wie abgenagte Knochen, mit einem blöden Grinsen und hoffte nur, dass niemand mein Magenknurren hörte. Schließlich hatte auch ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Am Nachmittag bummelten wir gemeinsam durch Wien. Die anderen hatten sich teilweise untergehakt und diskutierten bereits die Handlung von Folge 286 der geplanten Fernsehserie. Ich folgte dem Trupp an der Seite des Chauffeurs, der unseren Kleinbus gesteuert hatte und sich nun meiner erbarmte, indem er -85-
mir detailliert schilderte, welche Verdauungsprobleme der Verzehr von Marillenknödeln bei ihm hervorrief. Als wir an einer Imbissstube vorüberkamen, hätte ich ihn am liebsten erschlagen, um mir wenigstens eine Bratwurst zu kaufen. Doch Hunger hin, Würstchen her: Ich war ein Gefangener meiner eigenen Legende. Also tröstete ich mich mit dem Abendessen an Bord des Flugzeugs.
Die Heimkehr Doch selbst das war mir nicht vergönnt. Bei der Verabschiedung stellte sich heraus, dass der Regisseur den gleichen Zielflughafen hatte wie ich. Die neidvollen Blicke meiner Konkurrenten waren nur ein schwacher Trost. Als die Stewardess mir an Bord das Abendessen reichen wollte, nahm der Regisseur es an meiner Stelle entgegen - »Der Herr hat eine Magenverstimmung!« -, um es sich zusätzlich zu seiner Portion einzuverleiben. Danach rülpste er, lehnte den Kopf zurück und fiel von einer Sekunde zur anderen in tiefen Schlaf. Zu Hause angekommen, plünderte ich den Kühlschrank. Auf leeren Magen stopfte ich in mich hinein, was mir in die Hände fiel. Als mein Heißhunger endlich gestillt war, war mir so übel, dass ich mich übergeben musste. Jetzt hatte ich meine Magenverstimmung!
Selbstblockaden Natürlich war ich unter den fünf Kandidaten derjenige, der ausgemustert wurde. Der Regisseur ließ mir durch seine Sekretärin telefonisch mitteilen, ihm schwebe eine wirklich lebenspralle Fernsehserie vor, so üppig und überbordend wie ein Zehngängemenü. -86-
Da könne er sich nur schwer vorstellen, dass ich der richtige Mann sei. Ich war stocksauer. Schließlich hatten wir kein einziges Wort über das Projekt selbst gewechselt. War ich also das Opfer meiner Essgewohnheiten? Vielleicht. Vor allem aber war ich ein Opfer meiner Selbstblockaden. Dass ich ein »heikler Esser« war, wie meine Mutter das nannte, wusste ich seit meiner Kindheit. Daran hätte ich in Wien auf die Schnelle kaum etwas ändern können. Aber warum in aller Welt konnte ich nicht einfach sagen, wie die Dinge waren, statt so dämlich rumzudrucksen und mir damit die ganze Tour zu vermasseln? Es war ein uraltes Programm, das ich in jenem Wiener Lokal abspulte. Regel Nr. l dieses Programms lautete: »Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!« Regel Nr. 2: »Zeig dich von deiner besten Seite!« Diese beiden Kinderregeln brauchte ich damals nur noch miteinander zu verknüpfen und schon zappelte ich darin wie ein Insekt im Spinnennetz. Eins plus zwei gleich Regel Nr. 3: »Verärgere deinen Gastgeber nicht, indem du an seinem Essen herummäkelst!« Bevor es aber zu dieser befürchteten Katastrophe kommen konnte, verzichtete ich lieber ganz. Doch leider nicht nur aufs Essen, sondern auch auf meine Karriere als Autor einer Soap Opera.
Bretter, die die Welt bedeuten So schmerzlich die Reise nach Wien für mich auch war: Immerhin weiß ich mich in bester Gesellschaft. Fast jeder von uns hat sein ganz persönliches Brett vor dem Kopf, um die Welt dahinter mit diesem Brett zu verwechseln: eine ganz bestimmte Art und Weise, die Dinge so und nicht anders zu sehen. Und die meisten Menschen sind eher bereit, ihren Lebenspartner zu wechseln als die Sichtweise, die ihnen im Laufe der Jahre vertraut geworden ist, das Muster, nach dem sie ihr Leben -87-
stricken. Dass dieses Strickmuster fast allen Menschen heilig ist, hat allerdings einen guten Grund. Es ist derselbe Grund, weshalb Briefträger Lebsanft die Ameisen beneidet. Im Gegensatz zu den kleinen Krabbeltieren haben wir Menschen keine besonders starken Instinkte - und damit keine vorgefertigte Ordnung in der Welt. Um uns im Chaos der Erscheinungen zurechtzufinden, müssen wir uns unsere eigene Ordnung schaffen, Verbindungen herstellen, Linien ziehen, kurz: Muster bilden, die uns helfen, die Dinge zu verstehen und uns in ihnen zu orientieren. Der amerikanische Psychologe und Kreativitätsforscher Edward de Bono definiert darum Denken schlechthin als die Fähigkeit, Muster zu bilden. Indem wir Muster erkennen und befolgen, verwandeln wir Verwirrung und Unsicherheit in Orientierung und Sicherheit, schaffen wir Ordnung im Chaos. Zum Beispiel im Straßenverkehr. Ohne das Muster, dass alle Autos rechts fahren und links überholen, wären wir kaum imstande, auch nur eine mäßig belebte Straße zu überqueren. Was uns spätestens dann bewusst wird, wenn wir einen Ausflug nach England machen.
Beruhigendes Erdbeben Ein Muster erkennen heißt: Wissen, wies geht. Sobald ich das Muster durchschaue, komme ich mit der Situation klar. Ich kann nachvollziehen, was passiert, und verliere meine Angst: Zeigt sich das Muster im Chaos, ist ja alles wieder »normal«. Das ist der gute Grund, weshalb jeder normale Mensch seine Muster einfach lieben muss. Welche Macht ein Muster haben kann, erfuhr ich eines Abends auf der Rom-Reise mit meiner Frau. Sie hatte tagsüber natürlich sämtliche Boutiquen der Via Condotti abgeklappert und sich deshalb schon um zehn Uhr abends müde und erschöpft -88-
schlafen gelegt. Da ich aber meinem Versprechen treu geblieben war, keinen Fuß mehr in eine Boutique zu setzen, war ich auch um Mitternacht noch hellwach, als plötzlich die Wände in unserem Hotelzimmer zu wackeln anfingen. Der Kronleuchter klirrte, ein Riss ging durch die Zimmerdecke, Kalk rieselte herab. Im selben Augenblick erscholl von draußen ein fürchterliches Geschrei. Ich sprang auf und schaute aus dem Fenster. Menschen in Pyjamas und Unterwäsche rannten auf die Straße und riefen panisch durcheinander: »Terremoto, terremoto!« »Was ist los?« Meine Frau war von dem Lärm aufgewacht und blinzelte mich schlaftrunken an. »Ein Erdbeben«, sagte ich und suchte unter dem Bett nach meinen Schuhen. »Ein Erdbeben?«, murmelte sie. »Ach so... Dann ist der Krach ja kein Wunder...« Kaum hatte sie ausgesprochen, drehte sie sich seelenruhig zurück zur Wand und eine Sekunde später war sie schon wieder eingeschlafen. Meine Frau hatte ein Muster (Erdbeben = Chaos), das die nächtliche Unruhe plausibel erklärte. Und damit zugleich ihre Ruhe.
Die Intelligenzfalle So verrückt die Reaktion meiner Frau auf den ersten Blick erscheinen mag: Bei näherer Betrachtung hat sie sich nur wie ein normaler, intelligenter Mensch verhalten - einmal kurz nachgedacht, um ja nicht weiter nachdenken zu müssen. Was ist Intelligenz? Die Fähigkeit, in einer problematischen Situation eine taugliche Lösung zu finden. Und intelligenter ist, wer das schneller schafft als andere. Was aber heißt »eine taugliche -89-
Lösung finden«? In der Regel nichts anderes, als auf ein bewährtes Muster zurückzugreifen: auf ein Muster, das mir in einer anderen, vergleichbaren Situation schon einmal eine vernünftige Erklärung geliefert hat. Und bums! sitze ich in der Intelligenzfalle. Denn je schneller ich ein taugliches Muster finde, desto weniger Grund habe ich, weiterzusuchen. Statt das alte Muster aufzubrechen, um eine neue Lösung zu finden, vertraue ich mich dem alten Muster an. Und statt bei einem Erdbeben das Weite zu suchen, wende ich mich beruhigt zum Schlaf.
Das Huhn und das Ei Das wohl geläufigste Muster, mit dem wir die Welt begreifen, ist das Muster von Ursache und Wirkung. Keine Wirkung ohne Ursache; wenn A, dann B: Erst kommt das Huhn, dann das Ei! Doch woher kommt das Huhn? Je schwieriger die Fragen werden, desto mehr vermisse ich heute meine Großmutter. Sie hätte sicher eine einfache Antwort gewusst. Doch zum Glück hat sie ein Ei in Gestalt meiner Mutter gelegt, diese ein weiteres in Form von meiner Person und am vorläufigen Ende diese Kette steht meine Tochter. Als sie etwa sieben Jahre alt war, habe ich mit ihr die Frage erörtert, wer wohl zuerst da war: das Huhn oder das Ei? »Das Huhn«, sagte meine Tochter, ohne groß zu überlegen. »Und wie ist dann das Huhn entstanden?«, fragte ich zurück. »Natürlich aus einem Ei!« »Und woher stammte das Ei?« »Natürlich von einem Huhn...« So ging es eine ganze Weile hin und her, bis sich plötzlich das Gesicht meiner Tochter erhellte. »Ich hab's!«, rief sie. »Zuerst war das Huhn da!« -90-
»Und weshalb weißt du das plötzlich so genau?«, fragte ich verwundert. »Ganz einfach«, sagte sie, »der liebe Gott macht doch keine Eier!« Ich muss sagen, die Antwort warf mich um. Denn damit hatte meine Tochter eines der schwierigsten Probleme der gesamten Philosophie gelöst. Allerdings unter Annahme einer bestimmten Voraussetzung: dass nicht die moderne Evolutionstheorie, sondern die gute alte Schöpfungsgeschichte von der Erschaffung der Welt zutrifft, von der meine Tochter mit der ganzen Selbstverständlichkeit einer Zweitklässlerin ausging.
Nützliche und nutzlose Annahmen Jedes Muster ist ein Komplex von Annahmen über Gott und die Welt. Was wahr ist und was falsch, das bestimmen nicht wir, sondern eben diese Annahmen, aus denen heraus wir unsere Schlussfolgerungen ziehen. Zu einer neuen Wahrheit können wir uns darum nur dann durchringen, wenn wir unsere Grundannahmen selbst verändern: die Grenzen im Kopf, die uns im Denken und Handeln blockieren. Solange ich von der Evolutionstheorie ausgehe, ist es unmöglich, die Frage von Huhn und Ei zu beantworten. Erst wenn ich eine völlig andere Perspektive einnehme, zum Beispiel die der Schöpfungsgeschichte, gelange ich zu einer Lösung. Dabei stellt sich allerdings eine Frage: Wann macht es Sinn, sich auf fertige Muster zu verlassen? Und wann macht es Sinn, Ausschau nach neuen Mustern zu halten? Ausnahmsweise ist die Antwort ganz einfach: Fertige Muster erleichtern mir das Leben, solange meine Bedingungen dieselben sind. Bleibt rings um mich her alles gleich, kann ich mich einem bewährten Muster blindlings anvertrauen. Ändern sich aber meine Bedingungen, wird das Muster zum Schema F -91-
und damit zur Gefahr. Ich muss ein neues Muster finden, das der veränderten Situation gerecht wird: nutzlose durch nützliche Annahmen ersetzen.
Schlaflosigkeit Dass viele Bedingungen, unter denen wir leben, sich leider häufig ändern, erfahren wir am eigenen Leib: Wir werden täglich älter. Meine Frau klagt darüber morgens vor dem Spiegel - ich am Abend vor dem Einschlafen. Zumindest tat ich das bis vor ein paar Wochen. Damals litt ich unter gehörigen Schlafstörungen. Früher hatte ich Nacht für Nacht acht Stunden geschlafen, fast auf die Minute genau, doch irgendwann passierte es, dass ich nach sieben, und dann schon bald nach sechs Stunden Schlaf plötzlich aufwachte - und das jede Nacht. Je öfter das geschah, desto mehr geriet ich in Panik. Ich wusste ja, dass acht Stunden Schlaf genau das Maß waren, das ich brauchte. Nur wenn ich acht Stunden Schlaf bekam, war ich fit und konnte etwas leisten. Das war schon immer so gewesen und das würde immer so bleiben. Kein Wunder also, dass ich nach einem Monat so weit mit den Nerven herunter war, dass ich schon wieder wach wurde, bevor ich überhaupt eingeschlafen war. Allein die Vorstellung, nicht auf »meine« acht Stunden Schlaf zu kommen, raubte mir den Schlaf. Bis zum Nervenzusammenbruch war es nur noch eine Frage der Zeit. Um den zu vermeiden, suchte ich meinen Hausarzt auf. Doch der weigerte sich, mir Tabletten zu verschreiben. Stattdessen erklärte er mir, dass der menschliche Körper ab einem gewissen Alter mit wesentlich weniger Schlaf auskommt als in der Jugend: »Ein Kind benötigt acht Stunden Schlaf, aber doch kein erwachsener Mann wie Sie!« -92-
Diese paar Worte bewirkten mehr als ein Röhrchen Schlaftabletten und autogenes Training zusammen. Bereits in der ersten Nacht schlief ich wie ein Murmeltier. Zwar keine sechs Stunden und erst recht keine acht. Sondern sage und schreibe neuneinhalb. Mein Schlafproblem war gelöst. Einfach dadurch, dass ich mich nicht länger auf meine blöden acht Stunden fixierte.
Loslassen Was ich für wahr und richtig halte, beruht auf meinen Denkmustern und Annahmen. Sie erzeugen die Grenzen, in deren Rahmen ich mich bewege. Will ich diese Grenzen überschreiten, muss ich deshalb meine Denkmuster und Annahmen überprüfen: Erweisen sie sich als nutzlos, gehören sie abgeschafft und durch nützlichere ersetzt! Das aber ist leichter gesagt als getan. Der Verzicht auf gewohnte Muster macht mir Angst: Angst vor dem Nichts, Angst vor dem Anfängertum. Wenn ich ein neues Muster probiere, weiß ich ja am Anfang nicht, was am Ende dabei herauskommt. Ich mache mich selbst zum blutigen Anfänger. Und riskiere damit, irgendwann vielleicht ganz ohne Muster dazustehen. Dabei erweist sich jedes erfolgreiche alte Muster als der Hauptfeind möglicher neuer Muster. Weil das alte Muster in der Regel ja kein schlechtes Muster ist; es war zu seiner Zeit vielleicht sogar das Nonplusultra: Als ich wirklich noch acht Stunden Schlaf täglich brauchte, war es absolut richtig, auf die Einhaltung meines Achtstundenschlafs zu achten. Untauglich wurde das Muster erst, als ich älter wurde und sich meine (körperlichen) Umstände änderten. Jedes Denkmuster hat die Funktion, weiteres Denken zu -93-
erübrigen. Genau darum erleichtert es mir das Leben. Ja, in der Musterbildung zeigt sich erst die ganze Intelligenz des menschlichen Hirns. Es überlässt die Arbeit anderen, sprich: dem Rückenmark und seinen Reflexen. Doch kaum ist das geschehen, wird das Muster zum unausweichlichen Schema: Weil es sich in der Vergangenheit bewährt, mir eine taugliche Lösung geboten hat, folge ich ihm bis ans Ende meiner Tage. Ob es mir nützt oder nicht. Grenzen überschreiten heißt darum, loslassen können: Ich muss alles loslassen, was mir bisher Sicherheit gab, und das ganze Gerumpel meiner Erfahrung über Bord werfen. Ich muss mir bewusst machen, welchem Programm ich folge, um in dem Fall, dass ich erstens einem unnützen Programm und diesem zweitens auch noch blindlings folge, das Programm zu ändern oder ganz zu wechseln. Dabei brauche ich den Annahmen, von denen ich mich verabschiede, keine Träne nachzuweinen. Ich werfe ja nur über Bord, was mir sowieso nicht weiterhilft. Und siehe da: Sobald ich auf meinen geliebten Achtstundenschlaf pfeife, kann ich wieder schlafen.
Das Ziel ist der Weg Jede Realität ist stets nur eine subjektive Wirklichkeit, Ausdruck jener Denkmuster, die ich mir im Laufe meines Lebens gebildet habe. Darum ist kein Mensch naiver als ein Realist. Weil ein Realist sich einbildet, dass die Dinge so - und nur so - sind, wie er sie zufällig sieht. Das ist die positive Seite meiner Freiheit. Nichts auf der Welt (außer meinem eigenen Brett vor dem Kopf) kann mich daran hindern, ein altes Muster, das seinen - beziehungsweise meinen Zweck nicht mehr erfüllt, für die Zukunft abzulegen, um es gegen ein anderes, besseres auszutauschen. Woher aber kann ich eine neue Sicht der Dinge nehmen, wenn meine gewohnten -94-
Denkmuster nicht mehr taugen? Worauf soll ich bauen, wenn meine alten Annahmen mir in einer neuen Situation nicht weiterhelfen? Die Antwort ist: das Ziel. Um einen neuen Lösungsweg zu finden, muss ich die Dinge von ihrem Ende her betrachten. Dieses allein gibt den künftigen Weg vor, wenn die bewährten Wege der Erfahrung in die Irre führen. Und ich muss mich fragen: Was ist zu tun, damit ich an mein gewünschtes Ziel gelange?
Mein Leben nach Wien Genau diese Frage stelle ich mir heute, wenn ich zu einem Essen eingeladen werde: Wie kann ich mich meinen Gastgebern von der besten Seite zeigen, ohne dass sie meine seltsamen Essgewohnheiten als Unhöflichkeit empfinden? Wie kann ich meine Macke vielleicht sogar so einsetzen, dass ich dadurch in ihren Augen gewinne? Kurz: Wie kann ich aus der Not eine Tugend machen? Ganz einfach. Habe ich früher auf jeder Party einen großen Bogen um das Salatbüffet gemacht, damit ja niemand merkte, dass ich keinen Salat mag, steuere ich heute zielstrebig auf jedes Salatbüffet zu. Nicht etwa, weil sich mein Geschmack geändert hätte, sondern weil ich gelernt habe, dass ich mein Problem (keinen Salat zu mögen) für mein Ziel (mich bei meinen Gastgebern beliebt zu machen) wunderbar benutzen kann. Indem ich mich ohne Umschweife und falsche Scham zum komischen Kauz erkläre und mit meinen seltsamen Essgewohnheiten ein Gespräch unter den Gästen in Gang bringe. Und was passiert? Meine Gastgeber sind glücklich und zufrieden, obwohl ich ihren Salat nicht anrühre! Ja, mehr als das. Manchmal kochen sie, nur um mich zu provozieren, extra -95-
solche Speisen, die ich garantiert nicht mag. Weil sie wissen: Je größer meine Abneigung gegen das Büffet, desto lebhafter die Konversation davor. Bei einer dieser Gelegenheiten bekam ich deshalb einmal ein so dickes Kompliment für meine vermeintliche Schwäche, dass ich bis heute nicht weiß, ob ich mich darüber freuen oder ärgern soll. »Sie haben eine so überaus lebendige Art, von Ihren Essproblemen zu erzählen«, beglückwünschte mich meine charmante Gastgeberin, die Ehefrau eines bekannten Filmproduzenten. »Warum schreiben Sie eigentlich nicht mal ein Drehbuch?« Wo es ein Ziel gibt, gibt es (fast) immer auch Grenzen. Welche Hindernisse sehen Sie auf Ihrem Weg? Welche Hürden stehen zwischen Ihnen und Ihrem beruflichen, welche zwischen Ihnen und Ihrem privaten Ziel? Wenn Sie die Grenzen beschrieben haben, urteilen Sie selbst: Aus welcher Perspektive erscheinen Ihnen Ihre Grenzen? Von welchen Denkmustern, von welchen Annahmen gehen Sie aus? Welche davon blockieren Sie? Welche unnützen Denkmuster und Annahmen können Sie durch nützlichere Annahmen ersetzen? Was können Sie an Ihren Ausgangsbedingungen ändern (vgl. Übung 7), damit die Grenzen schwinden? Um Ihrer Fantasie auf die Sprünge zu helfen, nehmen Sie am besten die Perspektive Ihrer Ziele ein. Fragen Sie sich: Wie müssen die Dinge sein, damit die Grenze nicht mehr zwischen mir und meinem Ziel steht? Antworten Sie bitte wieder gesondert nach Ihren beiden großen Zielen.
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Kapitel 10 Können lernen Ja, warum mache ich eigentlich nicht das, was ich kann? Die Frage ist weniger blöd, als sie scheint. Denn Können und Können sind zwei Paar Stiefel: Vieles von dem, was ich kann, kann ich noch lange nicht. Oder positiv ausgedrückt: Ich kann eigentlich viel mehr, als ich kann. Kaum zu glauben? Den Beweis liefert die Statistik. Jahr für Jahr gibt es im Leben eines jeden Durchschnittsmenschen einen Tag, an dem er förmlich über sich hinauswächst. An diesem Tag leistet er sage und schreibe dreimal so viel wie an den sonstigen Arbeitstagen, steigert er seine Produktivität auf 300 Prozent. Damit nicht genug, setzt er sich oftmals noch im Anschluss an diese Spitzenleistung ans Steuer seines Autos, um während der Nacht eine volle Achtstundenschicht als Fernfahrer zu absolvieren, ohne Schlaf und meist auch ohne Pause. Kommt er dann am nächsten Morgen am Ziel seiner Fahrt an, ist er zwar müde, doch bester Dinge. Und statt sich über die erlittenen Anstrengungen zu beklagen, freut er sich schon auf die vielen weiteren Anstrengungen, die er frei und ohne jeden Zwang in den kommenden Wochen auf sich nehmen will. An welchem Tag sich dieses Wunder ereignet? Genau! Am letzten Tag vor dem Urlaub. Beim Übergang von der Arbeit in die Freizeit sind wir zu Leistungen fähig, die wir uns im Alltag nie und nimmer zutrauen, geschweige denn zumuten würden. Fragt sich bloß: Warum eigentlich nicht?
Der Fluch der Arbeit Vor vielen Millionen oder Milliarden Jahren - ganz genau -97-
wissen wir das heute nicht mehr - gab es einen Mann und eine Frau, die lebten glücklich und zufrieden in einem wunderbaren Garten und brauchten sich um nichts zu kümmern. Eines Tages aber bekamen sie riesigen Appetit auf Obst. Das wäre weiter kein Problem gewesen, wenn sie es nicht ausgerechnet auf die Früchte jenes Apfelbaums in der Mitte ihres Gartens abgesehen hätten, von denen zu essen ihnen streng verboten war. Wenn sie sich auch nur an einem Apfel von diesem Baum vergriffen - so hatte ihnen ihr Erzeuger angedroht -, sei es mit der Faulenzerei vorbei. Es kam, wie es kommen musste. Obwohl sie die Auswahl unter allen nur erdenklichen Sorten Obst hatten, konnten sie dem Reiz des Verbotenen nicht widerstehen und bissen in einen der fraglichen Äpfel. Hatten sie vielleicht darauf gehofft, dass ihr Erzeuger sie nicht sehen würde? Wenn ja, dann hatten sie sich schwer getäuscht. Denn kaum hatten sie den Apfel gegessen, machte er seine Ankündigung wahr. Wütend vertrieb er die zwei aus ihrem Garten und mit donnernder Stimme prophezeite er ihnen, dass ihnen von nun an Dornen und Disteln wachsen würden. Auf dass sie ihr Brot künftig im Schweiße ihres Angesichtes essen sollten - sprich: sie würden es sich durch saure Arbeit verdienen müssen. Die Folgen dieses Vorfalls sind bekannt. Seit der Vertreibung unserer Ureltern aus dem Paradies hört der Spaß auf, wo die Arbeit beginnt. Bis heute lastet dieser Fluch auf uns. Erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen! Weshalb wir uns sehnlichst in jenes verlorene Paradies zurückwünschen, in dem das Leben reine Lust und frei von jedem Zwang zur Leistung war. »Freiheit = Freizeit!«, lautet seitdem die Parole. Doch ist Arbeit wirklich ein Fluch? Lust das Gegenteil von Leistung?
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Das andere Paradies So sehr die Geschichte vom Sündenfall dem freizeitorientierten Betrachter einleuchten mag, müssen wir uns das Leben unserer Vorfahren wohl ein wenig anders vorstellen, als in der Bibel zu lesen steht. Wahrscheinlich war das Paradies viel anstrengender als sein Ruf. Das zumindest behauptet die moderne Verhaltensbiologie, zum Beispiel Professor Felix von Cube. Wie sein Lehrer Konrad Lorenz (der mit den Graugänsen) beschäftigt Cube sich mit allem möglichen Viehzeug, um dem wahren Wesen des Menschen auf die Schliche zu kommen. Dabei geht er von einer einfachen Annahme aus: dass kein Mensch als ein leeres, unbeschriebenes Blatt auf die Welt kommt. Jeder von uns schleppt vielmehr eine ganze Reihe von Trieben mit sich herum, die seine Vorfahren im täglichen Kampf ums Dasein ausgebildet haben, im Laufe von Jahrmillionen. Zu diesen Trieben gehört vor allem der Nahrungstrieb. Zwar gibt es außer ihm auch noch andere Triebe, etwa den Aggressionstrieb oder - die Jüngeren werden sich erinnern - den Sexualtrieb, doch kommt dem Nahrungstrieb aus einem einfachen Grund die entscheidende Rolle zu: Im Gegensatz zu seinen Kollegen regt er sich alle paar Stunden aufs Neue. Um den Nahrungstrieb zu befriedigen, bedarf es heute in der Regel keiner besonderen Anstrengung. Ein Griff in die Tiefkühltruhe genügt und schon bin ich satt. Im Vergleich dazu erforderte die Ernährung im Neandertal einen erheblich größeren Aufwand. Als die Menschen noch Jäger und Sammler waren, mussten sie täglich zwanzig bis dreißig Kilometer laufen, um sich ihre Nahrung zu beschaffen. Da sie das aber dreihundert Generationen lang taten, wurde ihnen Bewegung selbst zum Trieb, Anstrengung zum Bedürfnis: ein Erbe, das noch heute in jedem Einzelnen von uns steckt. Mit einem Wort: Der Mensch ist von seiner -99-
Entwicklungsgeschichte her auf Anstrengung programmiert und nicht auf das Schlaraffenland. Echte Befriedigung erlangen wir darum nicht, wenn uns gebratene Tauben in den Mund fliegen. Schon Goethe reimte bekanntlich: »Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen.« Und je länger wir am Sonntagnachmittag auf dem Sofa rumlungern und uns alte Ufa-Filme anschauen, umso zuverlässiger wird das Nichtstun zur Qual.
Lust an Leistung Auch wenn es jedem Gewerkschaftsführer die Tränen in die Augen treibt: Echte Befriedigung erleben wir nur dann, wenn wir uns anstrengen müssen. Lust wird erst durch Leistung schön! Warum klettert der Bergsteiger lieber selbst den Berg hinauf, statt sich mit einem Hubschrauber dorthin befördern zu lassen? Weil er nicht nur die schöne Aussicht auf dem Gipfel genießen will, sondern auch schon die Bergbesteigung selbst. Warum schneidet der greise Millionär eigenhändig die Rosen in seinem Garten, statt die Arbeit seinem Gärtner zu überlassen? Weil er so doppelte Freude hat, wenn im Frühling die neuen Knospen aufblühen. Und warum empfinden wir die körperliche Liebe umso lustvoller, je mehr Anstrengung und Schweiß sie uns abverlangt? Weil... Ach was! Das weiß schließlich jeder, der es schon einmal erlebt hat. Bequemlichkeit ist darum in den meisten Fällen falsche Bequemlichkeit. Und nicht selten erschweren wir uns das Leben gerade dadurch, dass wir es uns über die Maßen erleichtern. Denn trotz Vertreibung aus dem Paradies und aller Diffamierung jedweder Anstrengung im Anschluss an den Sündenfall: Leistung ist dem Menschen ein ebenso natürliches Bedürfnis wie Hunger und Durst. Und wer sich die Befriedigung dieses Bedürfnisses versagt, um sich nur ja nicht zu überanstrengen, braucht sich über Mangel an Lust nicht zu beklagen. -100-
Wider die Maloche Wenn zwanzig bis dreißig Kilometer Fußweg am Tag dem jahrtausendealten Leistungsprogramm des Menschen entsprechen: Warum ist Briefträger Lebsanft dann nicht der glücklichste Mensch unter der Sonne? Schließlich legt er jeden Tag ziemlich genau eine solche Strecke zurück, um seine Post auszutragen. Ganz so einfach ist die Sache leider nicht. Anstrengung allein reicht nicht aus, um einen verzagten Landbriefträger in einen rundum zufriedenen Menschen zu verwandeln. Abgesehen davon, dass Rudi Lebsanft das Unglücklichsein im Grunde seines Herzens ja genießt, muss eine Leistung Sinn machen, um Lust zu bereiten. Nur wenn meine Anstrengung auf ein sinnvolles Ziel ausgerichtet ist, auf einen Zweck, der meinem eigenen Lebenszweck entspricht, gehe ich in meiner Arbeit nicht unter, sondern auf. Lust ohne Leistung führt zu Langeweile, Überdruss und Aggression; Leistung ohne Lust zu Maloche, Strapaze und Frustration. Jede Anstrengung muss die aufgewandte Mühe lohnen - durch ein sinnvolles Ziel. Dieses allein kann stumpfsinnige Plackerei in lustvolle Leistung verwandeln. Habe ich aber ein sinnvolles Ziel vor Augen - zum Beispiel die Vorfreude auf den Urlaub am Morgen des letzten Arbeitstags -, dann kann ich den Neandertaler-Turbo aktivieren, das uralte Leistungsprogramm in meinen Genen, das bloß darauf drängt, jeden Tag eine Anstrengung im Wert von zwanzig bis dreißig Kilometern Fußmarsch zu erbringen.
Herausforderung nach Maß Um über mich hinauszuwachsen, um mehr zu können, als ich kann, kommt es also vor allem auf zwei Dinge an: auf die klare -101-
Ausrichtung auf ein sinnvolles Ziel sowie auf die wohldosierte Herausforderung meines persönlichen Leistungsvermögens. Angenommen, ich habe ein klares Ziel vor Augen, das meinem Lebenszweck entspricht: Woher nehme ich dann das Maß meiner Herausforderung? Einer Herausforderung, die mich weder unter- noch überfordert, sondern mich an meine Grenzen führt und vielleicht sogar noch ein kleines Stück darüber hinaus? Interessanten Aufschluss gibt hier eine Untersuchung des Sozialwissenschaftlers Bernd Guggenberger. Die Studie betrifft die Beziehung der Geschlechter: Welcher Mann findet welche Frau, welche Frau findet welchen Mann attraktiv? Das Ergebnis ist verblüffend einfach. In der Regel fühlen sich sowohl Männer als auch Frauen nur von solchen möglichen Partnern angezogen, die mehr oder weniger ihrem eigenen Attraktivitätsniveau entsprechen. Mag sein, dass sich der Glöckner von Notre Dame in heimlicher Leidenschaft für die schöne Esmeralda verzehrt: aktiv um sie werben wird er nicht; dies ist dem ebenbürtigen Châteaupers vorbehalten. Und wie im Roman geht es auch im wirklichen Leben: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Attraktiv ist der andere genau dann, wenn er ein kleines bisschen attraktiver ist als man selbst. Dann setzt die Sehnsucht ein, das Verlangen nach einem Glück, das gerade noch im Rahmen der eigenen Möglichkeiten ist. Als ich fünfzehn Jahre alt war, verkörperten siebzehnjährige Mädchen in meinen Augen das Ideal von weiblicher Schönheit. Heute, als Mann in den mittleren Jahren, sehe ich in ihnen vielleicht noch ein hübsches Kindergesicht, doch von erotischer Anziehung keine Spur. Heute finde ich vielmehr Frauen Anfang, Mitte vierzig attraktiv, zum Beispiel meine Ehefrau. Frauen also, die ich vor zwanzig Jahren vielleicht als objektiv schön, subjektiv jedoch als furchtbar alt und damit jenseits des Lustprinzips empfunden hätte. -102-
Das heißt ins Allgemeine übersetzt: Jeder Mensch hat ein ungefähres Gespür dafür, welche Herausforderung seiner Situation, seinen Fähigkeiten und seinen Entwicklungsmöglichkeiten entspricht. Wer in Mathe mit durchschnittlichen Gaben gesegnet ist, nimmt weder einen Dreisatz noch eine Kurvenbestimmung in der vierten Dimension als Herausforderung wahr. Der Dreisatz ist zu leicht, die Kurvenbestimmung zu schwer. Ins Zeug legt er sich viel eher, wenn es um eine Differenzialgleichung geht, die er gerade noch bewältigen kann. Denn als Herausforderung begreife ich nur, was jenseits meiner selbstverständlichen Möglichkeiten, zugleich aber noch in meiner Reichweite liegt.
Die Gegenprobe Eine Herausforderung ist, was ich schaffen kann, doch nur unter Aufbietung all meiner Kräfte. Wie aber kann ich wissen, wann und wo ich an die Grenze meiner Möglichkeiten stoße, wann und wo ich Gefahr laufe, mich zu überfordern? Antwort gibt eine einfache Gegenprobe. Kann ich mir vorstellen, die Herausforderung zu bestehen? Nicht einfach irgendwie und ungefähr, sondern in klaren, deutlichen Bildern vor meinem geistigen Auge? Als mein Freund Hans noch Wildwasserfahrten mit seinem Boot unternahm, hatte er am österreichischen Lech ein Problem: An einer bestimmten Walze warf es ihn mit schöner Regelmäßigkeit um. Er suchte Rat bei einem Trainer. Der empfahl ihm, einfach die Augen zu schließen und sich vorzustellen, wie er die Walze ohne zu kentern durchfahre. Wenn ihm die Vorstellung in der Fantasie gelinge, dann würde auch die Durchführung in der Realität klappen. »Blueprinting« hieß die Methode. Hans befolgte den Rat - mit dem Ergebnis, dass sich sein Problem erheblich verschärfte. -103-
War es ihm bis dahin wenigstens ab und zu geglückt, die Walze unbeschadet zu passieren, landete er von nun an bei jedem Versuch im Wasser. Denn sobald er die Augen schloss und die Walze auf sich zukommen sah, sah er auch schon, wie sein Boot sich aufbäumte - und ihn unter sich begrub.
Die Macht der Vorstellung In den nächsten Monaten fuhr mein Freund Hans auf dem Inn in Deutschland, auf der Ardeche in Südfrankreich und sogar auf dem Colorado in Amerika - nur um den Lech in Österreich machte er einen Bogen. Bis dieser ihm eines Nachts im Traum erschien, samt der berüchtigten Walze. Schon packte ihn das Entsetzen. Doch Wunder über Wunder: Wie von Geisterhand geführt, glitt sein Boot über die gefährliche Klippe hinweg. Als Hans am Morgen erwachte, traute er seinen Träumen nicht. Er rieb sich die Augen, dann schloss er sie, um sich die im Schlaf geschauten Bilder im Wachzustand zu vergegenwärtigen. Tatsächlich - es klappte! Noch am selben Tag fuhr Hans mit seinem Boot nach Österreich. Und was ihm in der Vorstellung gelungen war, gelang ihm nun in der Realität. Mühelos, leicht wie eine Feder, passierte er die Walze, ohne auch nur einen Wasserspritzer abzubekommen. (Dass es ihn dann zwanzig Meter weiter in einer harmlosen Kehre, die er schon hundert Mal durchfahren hatte, völlig unerwartet umhaute, erzählte er mir erst Jahre später. Vielleicht hatte er nicht weit genug geträumt.)
Fantasie und Wirklichkeit Das Beispiel zeigt: Was ich mir nicht vorstellen kann, das -104-
kann ich auch nicht durchführen. Die Herausforderung ist mindestens eine Nummer zu groß. Auch wenn ich hundert Mal behaupte, dass ich meinen Chef umbringe - solange ich nicht vor mir sehe, wie ich ihm an die Gurgel gehe, hat er nichts zu befürchten. Und was heißt das im Umkehrschluss? Dass mir alles, was ich vor meinem geistigen Auge als deutliches Bild erkenne, auch in der Realität zuzutrauen ist? Nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, doch mit einiger Wahrscheinlichkeit. Wenn ich mir wirklich ausmalen kann, wie sich der Chef in meiner Umklammerung windet, ist es zumindest Zeit für ein klärendes Gespräch. Damit ich nichts tue, was ich später bereue.
Stärken nutzen Angenommen, ich habe ein klares Ziel ins Auge gefasst; angenommen auch, ich kann mir in deutlichen Bildern vorstellen, wie ich die damit verbundene Herausforderung bestehe: Welche Mittel habe ich zur Verfügung, um sie auch in der Wirklichkeit zu meistern? Wenn ich vor einer Herausforderung stehe, fällt mir erst mal alles ein, was ich nicht kann: dass ich nicht begabt genug bin, dass ich nicht genug gelernt habe, dass mir die nötige Erfahrung fehlt. Ich richte den Blick auf meine Defizite - und stelle fest, dass es nicht geht. Doch ist das ein Wunder? Aus seinen Defiziten heraus ist noch keiner über sich hinausgewachsen. An Größe gewinnen kann ich nur, wenn ich mich auf meine Stärken besinne. Jeder Mensch hat Stärken - und zwar in der Regel gerade die, die er zur Verwirklichung seiner Ziele braucht. Doch die meisten von uns sind sich nicht im Klaren, welche Kräfte überhaupt in ihnen schlummern, welche persönlichen Vorzüge sie haben. Weil sie nach den Stärken ihrer Mitmenschen -105-
schielen, statt sich auf ihre eigenen zu konzentrieren. Mit dem Ergebnis, dass sie an ihren Schwächen herumlaborieren und ihre Stärken vernachlässigen. Wie dumm! Kein Gewichtheber der Welt würde sein Training damit vergeuden, an seinen Qualitäten als Hürdenspringer zu arbeiten. Doch wird er alles dafür tun, noch mehr Kilos mit der Hantel zu stemmen oder zu reißen. Weil nur hierin seine Chance liegt, einmal ganz oben auf dem Treppchen zu stehen.
Ein Lob den Macken Um meine Stärken zu erkennen, muss ich mir eines bewusst machen: Stärken sind nicht nur die Eigenschaften, mit denen ich bei anderen Menschen Anerkennung finde, sondern auch solche, mit denen ich bei anderen Menschen anecke. Gerade das aber hilft mir, meine Stärken schärfer in den Blick zu bekommen. Dabei hilft ein simpler Trick. Und der geht so: Zunächst frage ich mich selbst, womit ich meinen Mitmenschen am meisten auf den Wecker falle. Dann stelle ich dieselbe Frage meinen Freunden und Bekannten und - wenn ich ganz mutig bin - auch meiner Ehefrau. Schließlich höre ich mich um, was meine ärgsten Feinde von mir denken, zum Beispiel neidische Kollegen oder liebe Verwandte, mit denen ich gerade wegen einer Erbschaft prozessiere. Zugegeben: Bis hierher ist das kein Vergnügen. Doch dann mache ich den großen Umkehrschluss, indem ich mich ganz einfach frage: Wie kann ich alle diese negativen Eigenschaften, die ich gesammelt habe, ins Positive umdeuten? Gibt es irgendeinen freundlichen Namen, mit dem ich das unfreundliche Etikett ersetzen kann? Wie sieht die Rückseite der Medaille aus, die ich mir mithilfe meiner Mitmenschen umgehängt habe? Und siehe da: Auf einmal erscheinen mir meine Eigenschaften in einem völlig anderen Licht. Bin ich etwa als Pedant und -106-
Erbsenzähler verschrien, neige ich wahrscheinlich zu Präzision und gründlichem Denken; gelte ich als rücksichtsloser Egoist, bin ich wahrscheinlich jemand, der zupacken und sich durchsetzen kann; gehe ich anderen mit meiner Sprunghaftigkeit und dem ständigen Wunsch nach Neuem auf die Nerven, bin ich wahrscheinlich nur kreativer als sie. Habe ich aber meine Stärken auf diese Weise identifiziert, was hindert mich dann, sie zur Erreichung meiner Ziele zu nutzen?
Das Lied des Zigeunerbarons »Ja, das alles auf Ehr'«, heißt es in einer berühmten Arie des Zigeunerbarons, »das kann ich und noch mehr. Wenn man's kann ungefähr, ist's nicht schwer, ist's nicht schwer...« Die Voraussetzungen, die ich haben muss, um diese Operettenweisheit in die Tat umzusetzen, kann ich nun an drei Fingern abzählen: Um über mich hinauszuwachsen, brauche ich erstens ein lohnendes Ziel, zweitens eine Herausforderung, die meinem persönlichen Leistungsvermögen entspricht, und drittens eine klare Vorstellung von meinen besonderen Stärken. Sind diese drei Voraussetzungen erfüllt, kann ich in Zukunft mit Sicherheit mehr, als ich in der Vergangenheit je konnte. Ob sich diese Behauptung beweisen lässt? Wahrscheinlich nicht. Doch jeder kann sie ausprobieren. Und alles, was er dafür braucht, ist ein bisschen Selbstvertrauen. Das aber steht auf einem anderen Blatt. Beziehungsweise auf den folgenden Seiten.
»Hand aufs Herz!« - Übung 10 Die
Stärken
eines
Menschen -107-
sind
oft
diejenigen
Eigenschaften, die seine Mitmenschen als sperrig empfinden. Mit welchen Eigenschaften ecken Sie bei Ihren Mitmenschen an? Welche Eigenschaften hält man Ihnen im Streit oft vor? Falls Sie Zweifel haben, fragen Sie Freunde und Bekannte - und vor allem Ihre(n) Lebenspartner(in). Sammeln Sie mindestens fünf Eigenschaften. Haben Sie sie notiert? Dann können Sie jetzt Ihre sperrigen Eigenschaften umdeuten. Starke Eigenschaften zeigen sich nicht immer gleich von ihrer positiven Seite. Hinter Pedanterie verbirgt sich oft nur Genauigkeit, hinter Starrsinn Entschlossenheit. Geben Sie Ihren vermeintlichen Macken einen positiven Namen. Haben Sie Ihre fünf Stärken ermittelt? Wenn ja, dann fragen Sie sich jetzt: Wie können Sie diese Stärken einsetzen, um die Grenzen zu überwinden, die zwischen Ihnen und Ihren Zielen stehen? Und: Welche Herausforderungen, die Sie bisher gescheut haben, wollen Sie nun im Bewusstsein Ihrer Stärken in Angriff nehmen?
-108-
Kapitel 11 Entscheidungssache Selbstvertrauen »Zupacken statt Zögern!« Das war Norberts Devise. Er hatte sie sich bereits in seiner Jugend zu Eigen gemacht. Ein schwerer Autounfall hatte ihn mit fünfzehn Jahren beinahe das Leben gekostet. Seitdem war ihm bewusst, dass die Zeit auf Erden zu schade ist, um sie mit Zweifeln und Skrupeln zu vergeuden. Ob beim Einkauf auf dem Wochenmarkt oder bei der Anschaffung eines neuen Autos, ob bei der Wahl seiner Ehefrau oder bei der Erziehung seiner Kinder: Wo immer eine Entscheidung zu treffen war, packte Norbert zu, statt zu zögern.
Die Herausforderung Vor allem zeigte er diese Entschlusskraft in seinem Beruf. Obwohl er weder Abitur noch Studium vorweisen konnte, schaffte er in atemberaubendem Tempo den Aufstieg vom kleinen Versicherungskaufmann zum Marketingdirektor eines großen Versicherungsunternehmens. Dann aber kam die ganz große Herausforderung. Norbert war 37 Jahre alt, als er das Angebot erhielt, Vorstand eines Milliardenkonzerns zu werden mit der Option, wenige Jahre später den Firmengründer und Vorstandsvorsitzenden abzulösen. Plötzlich zitterten Norbert die Knie. »Warum ausgerechnet ich?«, fragte er sich. »Das ist doch unmöglich! Wie soll ich das schaffen?« Wochenlang verhandelte er mit dem Konzern, forderte Nachbesserungen im Vertrag, doch sobald diese erfolgten, regten sich neue Zweifel in ihm, und statt die Sektkorken knallen zu lassen, schlürfte er literweise Beruhigungstee. Nach zwei Monaten endlich setzte er sich hin -109-
und schrieb einen Brief an den Vorstand des Konzerns. Mit diesem Brief entschied er sein Schicksal. Grund genug für uns, ein wenig auszuholen.
Peter & Paul / III So entschlossen und energisch Norbert sich im Verlauf seiner Karriere immer gezeigt hatte - als sich ihm die Chance seines Lebens bot, trug er in seinem Innern den gleichen Konflikt aus, den ich jedes Mal in mir austragen muss, wenn ich in eine wichtige Entscheidungssituation gerate: den Konflikt zwischen Peter und Paul. Wann immer Mut und Selbstvertrauen gefragt sind, lautet Peters Botschaft: »Alles, was du anfängst, ist mit einem Risiko behaftet. Hüte dich vor Schaden!« Und je mehr ich auf Peter höre, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass ich tatsächlich scheitere. Wenn ich mit seiner Botschaft im Ohr versuche, einen Nagel in die Wand zu schlagen, kann ich sicher sein, dass ich mir den Daumen verletze. Und Peter triumphiert: »Siehst du wohl, ich hab’s doch gleich gesagt!« Genauso aber funktioniert auch Paul. Seine Botschaft macht mir Mut: »Natürlich ist ein Risiko dabei, doch du kannst schon, wenn du willst!« Und siehe da - sobald ich seinen Worten folge, gelingt mir weitaus mehr, als Peter sich träumen lässt. Statt zu zaudern, nehme ich den Hammer in die Hand und schlage den Nagel in die Wand - das wäre ja gelacht. Und dies- mal ist es Paul, der triumphiert: »Siehst du wohl, man muss sich nur trauen!« Die Nagelprobe zeigt: Selbstvertrauen ist kein vages Gefühl, sondern eine aktive Entscheidung - der selbstbewusste, vielleicht auch selbstherrliche Beschluss, mir einfach die Fähigkeit zu attestieren, dass ich das, was ich tun will, auch zu tun imstande bin. Denn das Urteil, das ich über mich und meine -110-
Fähigkeiten treffe, ist in den allermeisten Fällen eine »SelfFullfilling-Prophecy«, also eine Prophezeiung, die sich selbst erfüllt: So wie ich in den Spiegel meines Selbstverständnisses hineinblicke, so schaue ich heraus. Und wenn ein Angsthase hineinblickt, kann kein furchtloser Löwe herausschauen. Wenn aber Selbstvertrauen meine persönliche Entscheidung ist, warum traue ich mir dann immer wieder viel weniger zu, als ich mir zutrauen könnte?
Dreifache Angst Die Antwort ist ein Skandal: In den allermeisten Fällen, in denen wir an eine Grenze stoßen, ist (objektiv gesehen) gar keine Grenze da. Die Realität setzt uns viel seltener eine Grenze, als wir denken - meistens tun wir das selbst. Die Grenze liegt folglich in uns selbst, in unserer Angst. Sie setzt uns immer wieder neue Grenzen, an die wir immer wieder stoßen. Dabei speist sich die Angst (das wissen wir von Sigmund Freud) aus drei verschiedenen Quellen: der Angst vor der äußeren Übermacht der Natur, der Angst vor der inneren Gefährdung durch Krankheit und Tod, der Angst vor den Mitmenschen und ihren Aggressionen. Und wann immer Peter in einem von uns ruft: »Bis hierher und nicht weiter!«, ist eine dieser drei Ängste im Spiel. Oder alle drei miteinander. Zum Beispiel beim Autofahren. Nicht mit Geld und guten Worten - ja, nicht mal mit der Aussicht auf einen Einkaufsbummel - kann ich meine Frau dazu bewegen, eine Autobahn zu benutzen. Da wird sie störrisch wie ein Maulesel. Warum? Erstens könnte es Regen oder Schnee oder Glatteis oder Nebel geben (die übermächtige Natur). Zweitens könnte sie selber bei dem hohen Tempo Fehler machen (die innere Gefährdung). Drittens könnten Drängier und Rechts-überhohler einen Unfall -111-
provozieren (die aggressiven Mitmenschen). Drei gute Gründe also, die Autobahn zu meiden - auch wenn die Autobahn selbst grenzenlos frei ist. Das Problem dabei ist nur: So kommen wir nicht weiter!
Was kann im schlimmsten Fall passieren? Die Angst ist bekanntlich eine Leistung der Fantasie. Ja, vielleicht ist Ängstlichkeit sogar ein Gradmesser der Vorstellungskraft: Je ängstlicher ich bin, desto mehr Phantasie darf ich mir bescheinigen. Doch das ist nur ein schwacher Trost, den ich aus meinen Ängsten ableiten kann. Denn die Kehrseite der Medaille hat Shakespeare im Julius Cäsar beschrieben: »Der Feige stirbt schon vielmal, eh' er stirbt; die Tapfern kosten einmal nur den Tod.« Im Zustand der Angst treibt die Fantasie negatives »Blueprinting«. Statt mir zu zeigen, wie es geht, malt sie mir nur aus, dass es ganz und gar nicht geht. Und je mehr ich ihr erlaube, das zu tun, desto zwingender wird sie den schlechten Gang der Dinge imaginieren, sodass der Realität anschließend gar nichts anderes übrig bleibt, als ihr zu folgen. Zum Beispiel, wenn ich eine Rede halten muss. Wenn ich mir am Vorabend wieder und wieder vor Augen führe, wie ich mit zitternden Knien auf der Bühne stehe, dann werden mir die Knie zittern, sobald ich die Bühne betrete. Solche schwarzen Fantasien regen sich vor allem dann, wenn mit dem Tageslicht die übrigen Sinne und Verstandeskräfte dahinschwinden. Nachts wachsen die Mücken zu Elefanten heran, türmen sich kleine Probleme zu unüberwindbaren Problemgebirgen auf. »Nachts kriegen die Gedanken Hörner«, sagte darum meine Großmutter immer, wenn ich als Kind aus einem Alptraum auffuhr. »Doch warte nur ab, bei Tage ist alles halb so schlimm.« -112-
Wie immer hatte meine Großmutter auch darin Recht. Bei eingeschaltetem Licht und Verstand verlieren die meisten Ängste sehr schnell ihren Schrecken. Ein jeder prüfe sich selbst: Was ist meine größte Angst? Und wie viel bleibt von der Angst übrig, wenn ich alles fortnehme, was mich nicht wirklich bedroht? Wie zum Kuckuck aber soll ich wissen, was mich wirklich bedroht und was nicht? Um das herauszufinden, brauche ich mir nur eine einfache Frage zu stellen: Was kann im schlimmsten, ja im allerschlimmsten Fall passieren?
Die epikureische Tröstung Diese Frage stammt ausnahmsweise nicht von meiner Großmutter. Als erster Mensch überhaupt stellte sie vermutlich ein antiker Philosoph namens Epikur. Sein Name wird heute meist mit der Vorstellung von rotgesichtigen älteren Herren mit einer Vorliebe für guten Rotwein und schlüpfrige Witze verbunden. Tatsächlich aber war Epikur ein sehr ernsthafter Denker und entsprechend ernst fiel seine Antwort aus: Das Schlimmste, was einem Menschen je passieren kann, ist der Tod; Schlimmeres als der Tod ist nicht vorstellbar. So weit, so schlecht. Da Epikur aber ein Philosoph der Freude war, der die Förderung und Mehrung menschlichen Glücks zum Ziel hatte, ohne das Unglück in der Welt zu leugnen, fand er sehr bald einen geeigneten Dreh, um aus dieser an sich sehr unangenehmen Tatsache einen verblüffenden Trost abzuleiten. Denn Epikur fragte weiter: Was aber ist der Tod? Und seine Antwort auf diese Frage lautet: Der Tod ist das Ende aller Empfindungen. Was an dieser Antwort so tröstlich sein soll? Ganz einfach: Wenn der Tod das Ende aller Empfindungen ist, dann bedeutet er auch das Ende von allem Unglück, Leid und Schmerz. Wenn -113-
ich nichts mehr fühle, tut mir nichts weh. Hat damit aber der Tod - als schrecklichster aller nur denkbaren Schrecken - seinen Schrecken verloren: Wovor soll ich mich dann noch fürchten?
Alltagsängste Im Alltag handeln wir - Gott sei Dank - in etwas kleinerer Münze. Da ist es nur selten nötig, den Sensenmann persönlich zu bemühen, um mit einem Problem fertig zu werden. Denn im Alltag speisen sich die weitaus meisten Ängste, die uns plötzlich Grenzen setzen, aus Quelle Nr. 3: der Angst vor den Mitmenschen. Welcher normale Mitteleuropäer hat wirklich noch Angst vor der übermächtigen Natur? Wer fürchtet sich vor einem Erdbeben, vor einer Springflut oder der Rache vom Aussterben bedrohter Krötenarten? Sicher, auf einer abstrakten Ebene sind wir uns bewusst, dass der Versuch, uns die Erde Untertan zu machen, nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Darum wählen wir ab und zu »Die Grünen«, um uns ansonsten vor Naturkatastrophen in jener Sicherheit zu wiegen, die uns eben die von den »Grünen« verteufelte Technik im Laufe der Jahrhunderte beschert hat. Und die Angst vor der inneren Gefährdung? Natürlich, Gesundheit ist wichtig und jeder wünscht sich in Sonntagsbefragungen nichts mehr als sie. Auch schauen wir uns tapfer die überaus nützlichen Gesundheitsmagazine im Fernsehen an. Aber leben wir darum in ständiger Angst vor Krankheit und Tod? Der Pro-Kopf-Verbrauch von Bier, Schnaps und Zigaretten spricht nicht gerade dafür. (»Dir gehört die Welt, mein Herz«, sagte der Alkohol zu den guten Vorsätzen, »doch mir der Augenblick!«) Nein, nicht die großen, dramatischen Ängste vor den lebensbedrohlichen Gefahren bestimmen unseren Alltag. Hier regieren vielmehr die kleinen, miesen, -114-
unscheinbaren Ängste, die wir uns gegenseitig einflößen. Diese - die »sozialen« - Ängste sind es vor allem, die uns immer wieder neue Grenzen setzen. Und so erbärmlich, ja lächerlich sie meistens sind, so fatal sind manchmal ihre Folgen.
Der Fall B. Machen wir einen Ausflug ins schöne Genf. Dort wurde eines gar nicht schönen Tages die Leiche von Dr. Uwe B., seines Zeichens Ministerpräsident eines norddeutschen Bundeslandes, in einer Badewanne aufgefunden. Obwohl die Wanne bis zum Rand mit Wasser gefüllt war, trug die Leiche Anzug und Krawatte. Allem Anschein nach hatte der Politiker sich das Leben genommen. Die Fragen und Spekulationen überschlugen sich: Wie konnte ein solcher Mann nur so etwas tun? Ein so glänzender Politiker, ein so großartiger Jurist! Weshalb musste er zu diesem allerletzten Mittel greifen?
Die Größe des Menschen »Die Größe des Menschen«, so der griechische Dichter Sophokles vor über 2000 Jahren, »ist seine Fallhöhe.« An ebendieser Größe ging Uwe B. vermutlich zugrunde. Mit Ende dreißig hatte er mehr erreicht, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Er war zweifach promoviert, Ministerpräsident, Landesvorsitzender einer bedeutenden politischen Partei - wer weiß, vielleicht sogar der künftige Bundeskanzler? Doch genau darin lag sein Problem. Gerade weil er in so kurzer Zeit solche schwindelnden Höhen erklommen hatte, sah er offenbar keine Chance mehr, den drohenden Absturz zu überleben. Denn von dieser Perspektive -115-
aus mussten ihm seine möglichen Alternativen (obwohl jede Einzelne von ihnen für zahllose Alltagsmenschen die Erfüllung ihrer kühnsten Träume bedeutete) als ein fürchterliches Desaster erscheinen. Was immer er tat, ob er in die Wirtschaft oder in die Wissenschaft ging oder zurück in seinen gelernten Beruf als Rechtsanwalt: Jede Alternative bedeutete das Eingeständnis seines Scheiterns, das Ende seiner Karriere - eine schier unerträgliche Katastrophe. Doch welche Katastrophe eigentlich?
Die Angst vor der Blamage Jeder Mensch hat ein Gesicht. Und keine Angst ist größer, als dieses zu verlieren. Sicher, Uwe B. war in einen handfesten Skandal verwickelt, doch an den Kragen ging es ihm nicht. Weder seine Existenz noch seine Gesundheit, ja nicht mal sein Einkommen standen auf dem Spiel. Er hätte auch ohne seine politischen Ämter jede Menge Geld verdienen und ein wunderbares, beneidenswertes Leben führen können. Wenn er trotzdem in die Badewanne stieg, dann aus einem einfachen Grund: aus Angst vor der Blamage. Sie war die (fantasierte) Katastrophe, die ihn in die (reale) Katastrophe trieb. Diese Angst vor der Blamage hat nicht nur Uwe B. auf dem Gewissen, sie verfolgt auch Otto Normalhasenfuß auf Schritt und Tritt. Sie ist die klammheimliche Angst, die sich hinter zahllosen Ängsten verbirgt: die Angst vor dem sozialen »Absturz«, die jeder Durchschnittsmensch verspürt - egal, welche Fallhöhe er hat. Warum tut mein arbeitsloser Nachbar jeden Morgen so, als ginge er zur Arbeit? Aus Angst vor der Blamage. Warum verbirgt der Angeklagte vor Gericht noch sein Gesicht, obwohl er es schon längst verloren hat? Aus Angst vor der Blamage. Warum schmeißt mein Freund Klaus lieber einem Kredithai -116-
Wucherzinsen in den Rachen, als sich seiner offenbaren? Aus Angst vor der Blamage. schließlich habe ich mich auf meiner Reise nach Idiot aufgeführt, von einer Magenverstimmung meinen Essenstick zuzugeben? Wiederum aus Angst vor der Blamage.
Hausbank zu Und warum Wien wie ein gefaselt, statt
Raus auf die Bühne! Gegen diese Angst aber ist ein Kraut gewachsen: die epikureische Tröstung. Sie hilft nicht nur bei großen Schicksalsschlägen, sondern auch und vor allem bei den kleinen Nöten im Alltag. Aus welchem Grund auch immer meine Angst mir Grenzen setzt, entscheidend ist die einfache Frage: Was wird im schlimmsten Fall passieren, wenn tatsächlich eintritt, wovor ich mich so fürchte? Und was ist daran dann so schlimm? Was passiert eigentlich, wenn ich auf der Bühne stehe und mir die Knie zittern? Es könnte jemand sehen. Und was passiert, wenn es jemand sieht? Er könnte über mich lachen. Und was passiert, wenn jemand über mich lacht? Es könnte mir die Sprache verschlagen. Und was passiert, wenn es mir die Sprache verschlägt? Ich könnte meine Rede nicht zu Ende bringen. Und was passiert, wenn ich meine Rede nicht zu Ende bringen kann? Ich könnte in Ohnmacht fallen. Und was passiert, wenn ich in Ohnmacht falle? Ich würde mein Honorar für die Rede nicht bekommen. Und was passiert, wenn ich mein Honorar nicht bekomme? Hier schließt sich der Kreis: Wenn ich mein Honorar nicht bekomme, habe ich auch nicht weniger Geld, als wenn ich mich von vornherein weigere, die Bühne zu betreten. Wage ich mich auf die Bühne hinaus, habe ich also gar nichts zu verlieren (schlimmstenfalls ist am Ende alles so wie zuvor), wohl aber etwas zu gewinnen: nämlich mein Honorar. Da ist es doch -117-
besser, ich gehe raus auf die Bühne und nutze meine Chance! Das Einzige, was ich dabei wirklich riskiere, ist die Blamage. Was aber ist an der Blamage so schlimm? Doch nur die Blamage selbst, sonst nichts! Soll ich dafür auf ein fettes Honorar verzichten? Wohl kaum. Schließlich blamiert sich jeder so gut er kann!
Die Angst vor der Angst Nein, nein und nochmals nein! Es bleibt nicht nur die Blamage, es bleibt auch die Angst. Und wenn ich mir noch so viele schlaue Tricks einfallen lasse - gegen die Angst selbst ist kein Kraut gewachsen. Das sage ich nicht einfach so dahin. Das ganze hier beschriebene Horrorszenario habe ich am eigenen Leib erlebt und durchlitten. Aus dieser Erfahrung weiß ich aber auch: Das Schlimmste an der Angst ist die Angst vor der Angst. Es war am Vorabend meiner ersten Rede vor über tausend Zuhörern. Das Herz war mir so tief in die Hose gerutscht, dass es ungefähr auf der Höhe meiner Kniekehlen klopfte. Wie ein Tiger im Käfig marschierte ich im Haus auf und ab, um zum xten Mal meinen Text zu memorieren, den ich doch längst im Schlaf beherrschte. Da plötzlich - weiß der Himmel woher hatte ich einen lichten Augenblick. Ich erinnerte mich von früheren Auftritten her, dass die schlimmsten Sekunden bei einer Rede immer die sind, in denen man zum ersten Mal die Stimme erhebt. Dieser Augenblick, dachte ich, ist fast so schlimm wie jetzt... Wie bitte? Fast so schlimm wie jetzt, am Abend davor?
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Halb so schlimm Diese Erkenntnis verschaffte mir eine unglaubliche Erleichterung. Wenn das Schlimmste an der ganzen verfluchten Rede meine jetzige Angst am Vorabend war, dann war die eigentliche Situation, sprich: der Auftritt selbst, ja nur noch halb so schlimm! Warum das so war? Ganz einfach: Sollte ich unter dem Stress am folgenden Tag tatsächlich in Ohnmacht fallen, dann hätte ich heute schon zwei- bis dreimal in Ohnmacht fallen müssen. Da ich aber mit der jetzigen, schlimmeren Situation offensichtlich ohne physischen Schaden fertig wurde, durfte ich getrost davon ausgehen, dass ich auch den kommenden Tag unversehrt überleben würde. Als hätte Shakespeare persönlich zu mir gesprochen, verwandelte ich mich in derselben Sekunde vom Feigling in einen halbwegs tapferen Mann. Natürlich fiel die Angst nicht völlig von mir ab, aber ich starb keine tausend Tode mehr im Voraus, und meine Nervosität legte sich immerhin so weit, dass ich die Nacht ruhig schlafen konnte. Und wenn auch meine Rede am nächsten Morgen keine Beifallsstürme hervorrief, brachte ich sie doch mit Anstand über die Bühne.
Déjà-vu Und noch ein zweites Licht ging mir bei dieser Gelegenheit auf. Es wurde mir allerdings erst zuteil, nachdem ich meine Rede hinter mir hatte und das Publikum mir freundlichen Beifall spendete. In diesem Augenblick hatte ich das seltsame Gefühl, als hätte ich das alles schon unzählige Male erlebt. Zwar immer wieder mit anderen Inhalten, doch immer wieder mit denselben Empfindungen. Die gleiche Nervosität, die gleiche Beruhigung, -119-
die gleiche Befriedigung. Ich sah es wie ein Bild vor mir: eine große Woge, die kommt und geht, kommt und geht, kommt und geht... Im Bild dieser Woge begriff ich ein Phänomen, das sich so unvernünftig verhält, dass ich es auch heute kaum wahrhaben will, obwohl es mit Händen zu greifen ist. Damit es einen Namen hat, nenne ich es das »Stress-Paradox«. Was hat es damit auf sich?
Das Stress-Paradox Im Grunde etwas sehr Einfaches. Wie alle Dinge auf der Welt hat auch der Stress zwei Seiten. Zum einen ist Stress jedem normalen Menschen zuwider, zum anderen aber können wir ganz ohne Stress auch wieder nicht leben. Jeder Stress ist uns zu viel, doch sobald er fehlt, fehlt er uns sehr. Darum der paradoxe Schluss: Genauso wie ein Bedürfnis nach Stressfreiheit haben wir auch ein Bedürfnis nach Stress - nach Angst, nach Nervosität, nach Ärger und Problemen. Mit dem Bedürfnis nach Stress verhält es sich wie mit den meisten anderen Grundbedürfnissen des Menschen. Der eine hat davon mehr, der andere weniger. Wie das Bedürfnis nach Essen und Trinken, nach Erotik und Sex, nach Anerkennung oder Gewalt von Mensch zu Mensch verschieden ist, hat jeder auch sein ihm eigenes Bedürfnis nach Stress. Und das daraus resultierende ihm eigene Maß an Stress holt er sich, egal, in welcher Situation er sich gerade befindet. Das heißt auf gut Deutsch: Jeder Mensch macht sich immer genauso viel Stress, wie er braucht. Früher in der Schule war ich vor jeder Klassenarbeit nervös, auch in den (selteneren) Phasen, da ich ein guter Schüler war. Als Autor werde ich heute nervös, wenn ich vor einem leeren Blatt Papier sitze. Als Ehemann werde ich nervös, wenn meine Frau länger als drei Tänze mit -120-
einem fremden Mann auf der Tanzfläche verbringt. Als Vater werde ich nervös, wenn meine Tochter sich auf dem Nachhauseweg verspätet. Als Reiter werde ich nervös, wenn ich auf einem Turnier an den Start gehe. Als Redner werde ich nervös, wenn mir ein neuer Auftritt bevorsteht. Und wenn es einmal überhaupt nichts gibt, was an meinen Nerven zerrt, dann denke ich an meine Aktien. Die können ja, so tröste ich mein Stressbedürfnis, täglich in den Keller fallen.
Die große Ermutigung Hundert verschiedene Anlässe, doch meine Nervosität ist immer dieselbe - mal ein bisschen stärker, mal ein bisschen schwächer, aber immer auf einem ganz bestimmten Level. Habe ich in den einzelnen Situationen wirklich immer gleich viel Angst? Ja und nein. Natürlich flößt manches mir Respekt ein oder lehrt mich das Fürchten. Doch ebenso oft entwickle ich denselben Stress ohne jeden vernünftigen Grund, in den lächerlichsten Situationen, bei Aufgaben, die ich schon hundertmal erfolgreich bewältigt habe. Und warum? Offenkundig nur aus einem einzigen Grund: Ich nehme die Situation zum Anlass, um mir mein nötiges Quantum an Stress zu sichern; und gibt es keinen Anlass zum Stress, dann schaffe ich mir einen. Ist dies aber der Fall, drängt sich ein ebenso einfacher wie folgenschwerer Umkehrschluss auf: Wenn ich mir partout schon Stress machen muss, mein Stressprogramm nach einer inneren Logik abläuft, ohne die äußeren, objektiven Stressfaktoren angemessen zu unterscheiden, dann sollte ich mir meine Portion Stress am besten dort abholen, wo der Einsatz sich am meisten für mich lohnt. Warum soll ich mir als Übersetzer Stress antun für dreißig Mark pro Seite Text, wenn ich für denselben Stress als -121-
Werbetexter tausend Mark pro Seite verdienen kann?
Der Preis der Angst Ja, wahrscheinlich ist es wohl so. Wir können unsere Ängste relativieren und abbauen, auflösen aber können wir sie nicht. Erstens, weil immer wieder etwas passiert, was uns Angst und Stress beschert, und zweitens, weil wir es im Grunde unseres Herzens gar nicht anders wollen. Angst ist die größte Selbstblockade, die dem Handeln Grenzen setzt. Die zweitgrößte Selbstblockade aber ist der verzweifelte Wunsch, dass es keine Angst im Leben geben möge. Doch dieser Wunsch geht am Leben vorbei: Alles, was ich tue (da hat Peter völlig Recht), ist mit einem Risiko behaftet. Das Leben ist lebensgefährlich! Und darum ist es völlig normal, Angst zu haben und mit Angst zu leben. Wer aber diese Tatsache leugnen will, zahlt einen hohen Preis. Wenn ich dem Verlangen nachgebe, ein Leben ohne jede Angst zu führen, schränke ich mich immer weiter ein, tue nur noch Dinge, die möglichst gefahrlos scheinen: Statt meine Grenzen zu überwinden, reduziere ich mich und meinen Aktionsradius auf Null. Um am Ende doch zu sterben - vor tödlicher Langeweile.
Eigenleistung Selbstvertrauen Entscheidend ist also nicht, die eigene Angst zu bekämpfen oder abzuwarten, bis sie von allein vergeht. Entscheidend ist vielmehr (und das ist die Botschaft von Paul), dass ich den Mut aufbringe, trotz und mit meiner Angst zu springen. »Wirf dein Herz über die Hürde, dann springt dein Pferd hinterher!« Diesen -122-
Satz bekommt irgendwann jeder zu hören, der reiten lernt. Und das Verrückte an der Sache ist: Genauso funktioniert es! Solange ich als Reiter mir nicht vorstellen kann, über das Hindernis zu setzen, verhalte ich mich zögerlich und gebe meinem Pferd unklare oder widersprüchliche Hilfen. Das Pferd spürt meine Unsicherheit, verliert seinerseits den Mut und wird den Sprung verweigern - mit der Gefahr, dass ich Hals über Kopf im Graben lande. Springe ich aber im Geiste voraus, überwinde ich meine Angst und reite entschlossen auf das Hindernis zu, überträgt sich meine Zuversicht auf das Pferd und gemeinsam meistern wir den Sprung.
Die Entscheidung Gleichgültig, vor welcher Hürde ich im Leben stehe, die Gretchenfrage lautet stets: Höre ich auf Peter oder höre ich auf Paul? Wage ich nur das, was ich schon hundertmal mit Erfolg getan habe? Oder bin ich bereit, auch mal etwas auszuprobieren, was ich noch nie probiert habe? Will ich für alle Zeiten so bleiben, wie ich bin? Oder springe ich über meinen Schatten, um eine neue Erfahrung zu machen und Neuland zu erobern? Damit sind wir wieder bei Norbert und der Chance seines Lebens. Hat er das Angebot des Konzerns angenommen? Er hat es nicht getan. In der Stunde der Wahrheit ließ ihn sein Selbstvertrauen im Stich. Statt zuzupacken, wurde er zum Opfer seines Zögerns. Doch das Schicksal meinte es gut mit ihm - besser jedenfalls, als er mit sich selbst. Ein halbes Jahr nach seiner Absage geriet Norbert in schweres Gewässer. Eine Reorganisation seiner Firma brachte täglich neue, böse Überraschungen zutage. Darüber geriet Norbert mit seinem Vorstand in einen Konflikt, an dessen Ende er seinen Posten als Marketingdirektor an den Nagel hängte. Er hatte in -123-
der Auseinandersetzung begriffen, dass seine persönliche Entwicklung in dem alten Unternehmen an ein natürliches Ende gelangt war. Wo aber lag der neue Anfang? Kaum hatte sich die Nachricht von seiner Kündigung herumgesprochen, erneuerte der Konzern sein Angebot. Diesmal griff Norbert zu. Für die Entscheidung brauchte er keine drei Tage. Inzwischen hatte er die Klarheit, die ihm sechs Monate zuvor noch gefehlt hatte. Und mit der Klarheit auch das nötige Selbstvertrauen. Heute ist er der glücklichste - und erfolgreichste Topmanager, den man sich nur vorstellen kann. Und als ich ihn fragte, warum er nicht gleich zugegriffen habe, zuckte er mit einem Grinsen die Schultern: »Vielleicht aus Angst vor der Blamage. Vielleicht aber auch aus Angst vor der Veränderung.«
»Hand aufs Herz!« - Übung 11 Angenommen, Sie wissen, was Sie tun müssten, um Ihr Ziel zu erreichen, doch es fehlt Ihnen an Selbstvertrauen: Fragen Sie sich doch einmal, was im allerschlimmsten Fall passieren kann, wenn’s schief geht. Und fragen Sie dann weiter, was daran wirklich so schlimm ist. Schreiben Sie danach ebenso auf, was im allerbesten Fall sein wird, wenn die Sache klappt. Urteilen Sie anschließend selbst: Ist diese Perspektive nicht einen Versuch wert? Fragen Sie sich dann, welche nützlichen Erfahrungen mit Blick auf Ihr Ziel Sie in der Vergangenheit gemacht haben. Wann und wo haben Sie ähnliche Herausforderungen schon einmal gemeistert? Schreiben Sie alle Ihre Erfahrungen auf, die Ihnen helfen, die Hindernisse auf Ihrem Weg zum Ziel zu überwinden. Unterscheiden Sie dabei wiederum zwischen Ihrem beruflichen und Ihrem privaten Ziel. -124-
Kapitel 12 Im Strudel der Veränderungen Norberts Reaktion war nur allzu menschlich. Denn die Angst vor der Veränderung sitzt im Erbgut eines jeden Menschen. Sie ist die Mutter aller Ängste - und zugleich die Voraussetzung jenes wunderbaren Kribbelns, das jeden befällt, der sie überwindet. Denn was immer der Mensch nach welcher Definition auch sein mag: Wenn es um das Thema Veränderung geht, ist er nichts anderes als ein Widerspruch auf zwei Beinen.
Faszination und Irritation Zum einen ist der Mensch ein Gewohnheitstier: Am allerliebsten tut er das, was er schon tausend Mal getan hat. Zum anderen stürzt er sich begierig auf das Neue: Am allermeisten begeistert er sich für das Noch-nie-Dagewesene. Derselbe Mensch, der jeden Morgen, den Gott werden lässt, zum Frühstück ein Honigbrötchen, ein Viereinhalb-Minuten-Ei sowie zwei Tassen Kaffee mit jeweils einem Löffel Zucker zu sich nimmt, ist ohne weiteres imstande, sich fünfmal am Tage umzuziehen, dreimal im Jahr in Urlaub zu fahren und viermal im Leben den Ehepartner zu wechseln. Irritation und Faszination: In dieses Wechselbad der Gefühle geraten wir deshalb immer wieder, wenn das Leben plötzlich anders mit uns spielt, als von uns geplant. Dabei überwiegt im Zweifelsfall die Irritation. Das gilt komischerweise nicht nur für böse Überraschungen und schlimme Katastrophen, sondern auch für plötzliche Glücksfälle oder lang herbeigesehnte Ereignisse. Kein Mensch unter der Sonne reagiert auf einen Lottogewinn mit einem kräftigherzhaften »Jawoll!«, sondern kreischt zunächst einmal: »Nein!« Und als die deutsche Einheit eines -125-
guten Tages doch noch wahr wurde, wiederholte die ganze Nation immer wieder nur ein einziges Wort: »Wahnsinn!« (als könnte sie damit wegbeschwören, was sie sich vierzig Jahre lang sehnlichst herbeigewünscht hatte). Warum eine Veränderung mich fasziniert, liegt auf der Hand. Wenn alles immer so bliebe, wie es nun einmal ist, würde ich mich früher oder später zu Tode langweilen. Woher aber rührt die Irritation, die jede Veränderung unweigerlich in mir auslöst, woher die instinktive Abwehr, mit der ich ihr in aller Regel begegne?
Hauptsache Sicherheit Die Antwort klingt harmloser, als sie ist: Mit jeder Veränderung in meinem Leben ändert sich zugleich mein Leben selbst. Ob mir mein Auto gestohlen wird oder ob ich meine reiche Tante Frieda beerbe: Mein Leben ist nicht mehr dasselbe wie zuvor. Ändert sich aber mein Leben selbst, gerät mein höchstes Gut in Gefahr: meine Sicherheit, die Dinge im Griff zu haben. Um mich in Sicherheit zu wiegen, klammere ich mich darum an alles Vertraute. Was ich kenne, damit kenne ich mich aus. Neues hingegen befremdet mich, macht mir Angst. Weil ich keine Erfahrung habe, wie ich damit umgehen soll. Deshalb tue ich am liebsten so, als bliebe alles stets beim Alten auch wenn das Gegenteil mir noch so klar vor Augen steht. »Das darf nicht wahr sein! Das kann es doch nicht geben!« Mit solchen und ähnlichen Ausrufen leugne ich die Realität, wenn sie mich überrascht. Doch wie jede Selbsttäuschung wiegt auch diese mich in falscher Sicherheit. Denn die Illusion, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, hindert mich nur daran, mit den Veränderungen in meinem Leben richtig umzugehen. Nämlich so, dass sie mir nützen. -126-
Peter & Paul / IV Kein normaler Mensch verzichtet freiwillig auf Sicherheit, wenn er Sicherheit haben kann. Die Sache hat nur einen Haken: Obwohl wir ständig nach Sicherheit streben, hat das Leben keine Sicherheit zu bieten. Denn seit die Erde sich dreht, ist Veränderung ihr A und O. Panta rhei alles fließt: Kaum ist etwas so, wichtig es ist, ist es schon nicht mehr dasselbe. Und jeder von uns schwimmt, paddelt, rudert oder treibt, so gut er kann, im grossen Strom der Veränderungen. »So gut er kann« ist leider oft nicht gut genug. Das sollte ich.ausgerechnet im Urlaub erfahren. Da meine Tochter sich nichts mehr als einen sportlichen Vater wünscht, ich in dieser Richtung aber außer meiner kleinen Reitkunst wenig zu bieten habe, ließ ich mich von ihr überreden, einen Surfkurs zu belegen. Das stellte sich bald als Fehler heraus. Denn kaum stand ich nach dem Trockenkurs zum ersten Mal auf dem Surfbrett, meldete sich in meinem Innern lautstark Peter zu Wort. »Keine Experimente!«, rief er mir zu. So lautstark und vehement, dass ich Pauls Gegenstimme gar nicht erst hörte.
Hart am Wind Peters Warnung war nur allzu berechtigt. Ich hatte ja keine Ahnung, wie viele unterschiedliche, sich ständig verändernde Kräfte plötzlich auf mich einwirkten. Unter mir die heimtückischen Wellen, im Segel der unberechenbare Wind und mittendrin, ein Spielball der Elemente, meine verzweifelte Wenigkeit. Um in dieser instabilen Lage ein Minimum an Stabilität zu erlangen, tat ich, was Peter mir befahl: Ich erstarrte zur Salzsäule. Nur wenn ich mich selbst in einem Zustand vollkommener Bewegungslosigkeit aufrecht hielt, konnte ich der -127-
unbändigen Bewegungen unter, hinter, vor und über mir Herr werden. Dachte ich jedenfalls - doch höchstens eine Sekunde lang. Denn da fiel ich schon ins Wasser. Einmal, zehnmal, hundertmal. Auf diese Weise verbrachte ich einen endlos langen, mehr feuchten als fröhlichen Urlaubstag. Am Abend hielt mir mein Trainer - zufälligerweise hieß er auch noch Paul - eine Rede. Doch bevor er zu Wort kommt, brauchen wir erst eine neue Überschrift.
Lob der Unsicherheit »Beim Surfen kommt es erstens anders und zweitens als man denkt. Das ist eine verdammt beschissene Tatsache, Mann. Aber wenn du die nicht in deinen Schädel kriegst, hast du auf dem Brett keine Chance. Dann haut's dich schneller in den Bach, als du bis drei zählen kannst.« Aufs Surfbrett brachte Paul mich damit nicht zurück. Trotzdem bin ich ihm bis heute dankbar für seine schlichten Worte. Denn ich verstand sie als ein wunderbares Gleichnis über das ewige Auf und Ab des Lebens (dessen Wogen mir vollkommen reichen, sodass ich auf die unter dem Surfbrett getrost verzichten kann). Ins Allgemein-Philosophische übersetzt, besagte Pauls Rede etwa dies: Wirklich sicher ist im Leben nur, dass nichts wirklich sicher ist. Diese Einsicht ist alles andere als bequem. Doch wenn ich mich ihr verschließe, verbaue ich mir die einzige Möglichkeit, mit der allgegenwärtigen Unsicherheit fertig zu werden. Da immer wieder neue, veränderliche Kräfte von außen auf mich einwirken, kann ich Stabilität nur durch Flexibilität erlangen. Das ist die Paradoxie der Sicherheit: Nur wenn ich bereit bin, mein Sicherheitsbedürfnis zu überwinden und mich auf Unsicherheit einzulassen, habe ich die Chance, an Sicherheit -128-
zu gewinnen. Wenn ich mich dagegen in Sicherheit wähne, wo gar keine Sicherheit ist, wird mein Sicherheitsbedürfnis selbst zum lebensgefährlichen Risiko: Gerade weil ich mich, um meine Standfestigkeit zu erhöhen, immer mehr versteife, falle ich bei der geringsten Erschütterung um. Wie der angesägte Stamm eines Baumes, den der Holzfäller nur noch anzutippen braucht, damit er kippt. Kurz - ob im Surfen oder sonst im Leben: Um die Unsicherheit der Veränderungen zu überwinden, muss ich mich auf sie einlassen. Sicherheit im Radfahren erlange ich nur, wenn ich die ersten schwankenden Meter hinter mich bringe. Das allerdings ist leichter gesagt als getan.
Vier Einstellungen Zum Umgang mit Veränderungen hat Professor Warschawski (der aus Amerika) ein ebenso einfaches wie aufschlussreiches Schema entwickelt, in dem - leicht modifiziert - sich jedermann und jedefrau ohne weiteres wieder erkennen kann. Die Grundannahme dabei ist: Veränderungen kommen, Veränderungen gehen. Ob und wie sie stattfinden, liegt meistens nicht in meiner Macht. Wohl aber liegt es in meiner Macht, wie ich mich auf sie einstelle - als entscheidende Voraussetzung dafür, dass ich erfolgreich mit ihnen umgehe. Dabei wird meine Einstellung vor allem von zwei Faktoren bestimmt: von meiner Bewertung der Dinge sowie von meiner Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung. Wenn eine Veränderung in meinem Leben eintritt, kann ich sie grundsätzlich positiv oder negativ sehen: Ich begreife das, was mir passiert, prinzipiell als Chance (»Toll! Lieber was schlechtes Neues als was gutes Altes!«) oder prinzipiell als Krise (»Um Gottes willen! Nur nicht schon wieder was Neues!«). Ebenso grundsätzlich kann ich meine -129-
Selbstbeteiligung am Geschehen annehmen oder ablehnen: Ich fühle mich für das, was mit mir passiert, prinzipiell zuständig (»Das ist meine Sache!«) oder nicht zuständig (»Da kann ich doch nichts dafür!«). Miteinander kombiniert, ergeben sich daraus vier typische Grundeinstellungen:
Der Glückspilz (Veränderung + / Selbstbeteiligung - ) findet grundsätzlich alles prima, was auf ihn zukommt, hat aber nicht das Gefühl, dass er durch sein Handeln die Dinge beeinflusst. Er ist ein ausgesprochen sympathischer Zeitgenosse, doch Anpacken ist seine Sache nicht. Er läuft durchs Leben wie das Mädchen im Märchen von den Sterntalern, hält seine Schürze auf und nimmt mit, was es mitzunehmen gibt. Seine Devise lautet: »Es gibt viel zu tun - schauen wir's uns an!« Der Pechvogel (Veränderung - / Selbstbeteiligung -) empfindet jede Veränderung als Katastrophe, teilt aber mit dem Glückspilz die Überzeugung, dass er für nichts etwas kann. Er ist das -130-
personifizierte Opfer, das »arme Ich«. Wenn seine Frau ihn verlässt, hebt er klagend die Arme zum Himmel: »Dabei habe ich ihr doch gar nichts Schlechtes angetan!« Sicher nicht, aber wahrscheinlich auch nichts Gutes. Der Schuldige (Veränderung - / Selbstbeteiligung + ) findet gleichfalls alles, was mit ihm und in der Welt passiert, ganz fürchterlich. Erschwerend kommt für ihn hinzu, dass er sich auch noch für alles und jedes verantwortlich fühlt. Er ist das wandelnde schlechte Gewissen: »In Bosnien herrscht Krieg, weil ich die falsche Partei gewählt habe.« Der Glücksschmied (Veränderung + / Selbstbeteiligung +) ist vor allem die Ausnahme. Er geht davon aus, dass im Prinzip jede Veränderung in seinem Leben eine Chance darstellt. Dabei ist er sich aber der Tatsache bewusst, dass er diese Chance nur nutzen kann, wenn er selbst die Ärmel hochkrempelt: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!«
Die Grillparty Welche Grundeinstellung ich einnehme, ist meine Entscheidung. Wenn ich feststelle, dass ich mich in den meisten Situationen wie ein Schuldiger benehme - was hindert mich daran, mich künftig wie ein Glücksschmied zu verhalten? Oder ich beobachte, dass ich manchmal wie ein Pechvogel, manchmal aber wie ein Glückspilz reagiere. Was heißt das? Dass ich in beiden Fällen nicht bereit bin, aktiv und verantwortlich meine Situation mitzugestalten. Also ziehe ich daraus die Konsequenz und erhöhe meine Selbstbeteiligung. Die freie Wahl meiner Einstellung ist meine große Chance. Denn von meiner Einstellung hängt es ab, ob und mit welchem Erfolg ich eine plötzlich auftretende Veränderung meistere. Zum Beispiel, wenn ich am Samstag, dem 12. Juli, um 18 Uhr eine -131-
Grillparty veranstalten möchte - und um 16 Uhr beginnt es zu regnen. Wie werde ich mit diesem kleinen, gemeinen Schlag des Schicksals fertig? Als Pechvogel natürlich gar nicht. Da tue ich mir selber Leid, und während ich meinen Gästen der Reihe nach absage, jammere ich ins Telefon: »So was kann auch nur mir passieren. Wenn ich mir schon mal was vornehme...« Doch auch als Schuldiger muss ich die Party ins Wasser fallen lassen. Am Telefon mache ich mir zu meiner Verteidigung schwere Vorwürfe: »Es ist meine Schuld. Warum habe ich nicht in den Bauernkalender geschaut? Am zweiten Samstag im Juli regnet es doch jedes Jahr!« Als Glückspilz betrachte ich den Regen zwar von seiner besten Seite - ansonsten aber lege ich die Hände in den Schoß: »Super! Da spare ich jede Menge Arbeit und kann mir am Abend in Ruhe das Sportstudio angucken.« Und wie gehe ich als Glücksschmied mit der Veränderung um? Ich mache natürlich das Beste daraus. Da ich von meinen fünfzig Gästen die Hälfte sowieso nur aus Verpflichtung eingeladen habe, kann ich diese Hälfte jetzt mit einer wunderbaren Begründung wieder ausladen - und veranstalte mit der anderen Hälfte ein tolles Fest in der Garage. Das Beispiel zeigt: Jede der vier Grundeinstellungen prägt auf unterschiedliche Weise den jeweiligen Umgang mit ein und derselben Veränderung. Der Schuldige erstarrt in Passivität und Resignation, der Pechvogel versinkt in Selbstmitleid und auch der Glückspilz muss die Party sausen lassen. Nur der Glücksschmied ist imstande, der eigentlich unerfreulichen Überraschung eine durchaus erfreuliche Wende zu geben. Weil er sich erstens nicht einfach vom Schicksal unterbuttern lassen will und zweitens selber dafür sorgt, dass das nicht passiert.
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Veränderungen nutzen Die Grundeinstellung ist das eine; doch zu welchen Techniken kann ich greifen, um unvorhergesehene Veränderungen erfolgreich zu meistern? Nun, ein fertiges Strickmuster gibt es nicht. Jede Veränderung bedeutet etwas Neues, und wo etwas Neues passiert, muss ich mir etwas Neues einfallen lassen. Drei Klärungsschritte aber sind in jedem Fall erforderlich, um eine Veränderung zum eigenen Vorteil zu nutzen:
1. Klärung der Ziele Wenn ich nichts will, stört mich auch keine Veränderung. Habe ich aber ein Ziel vor Augen, wird jede Veränderung zum Problem. Umgekehrt ist mein Ziel der ruhende Gegenpol, den ich gerade dann brauche, wenn um mich herum sich alles ändert. Der mir eine sichere Perspektive gibt. Der mir sagt, wie ich mit den Dingen und Ereignissen umgehen soll, die von außen auf mich einstürzen. Der mir hilft, das Chaos der Umstände so zu ordnen, dass dort, wo Zufall und Willkür herrschen, Sinn und Zweckmäßigkeit entstehen. Also muss ich fragen: Was genau ist mein Ziel? Was will ich bis wann erreichen? Welchen Zweck verfolge ich mit der Erreichung meines Ziels? Nur wenn ich mir wirklich sicher bin, dass ich diesen Samstagabend mit meinen Freunden verbringen will, fällt mir irgendeine Lösung ein, wie die Party auch bei Regen stattfinden kann.
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2. Klärung der Veränderung Zunächst stelle ich fest, dass eine Veränderung im Gange ist. Was ist Sache? Ich fasse meine Lage ohne Scheuklappen und so vollständig wie möglich ins Auge: Ich mache mir nichts vor und nehme die Dinge so, wie sie sind. Wenn es regnet, dann regnet es. Sodann prüfe ich, welche Bedeutung die Veränderung für mich hat. Es gibt kleine Veränderungen mit großen Folgen und große Veränderungen mit kleinen Folgen. Ist der Regen so stark, dass er durch die Bäume tropft? Welchen Einfluss hat die Veränderung im Hinblick auf meine Ziele? Betrifft sie diese überhaupt? Und wenn ja, in welchem Maß? Ist eine Party bei Regen im Garten wirklich unmöglich? Vielleicht reicht ja der Platz unter dem Vordach. Schließlich betrachte ich die Tendenz der Veränderung. In welche Richtung entwickelt sie sich? Nimmt der Regen zu oder ab? Was ist ihr Tempo? Wie lange wird sie dauern und meine Situation betreffen? Handelt es sich um einen Schauer oder um einen Landregen? Je nach Antwort passe ich meine Reaktion an: Ich entscheide von Fall zu Fall.
3. Klärung der Strategie Habe ich meine Ziele und die Veränderung geklärt, stelle ich die Gretchenfrage: Wie passen mein Ziel (die Gartenparty mit meinen Freunden) und die Veränderung (der einsetzende Regen) zusammen? Wenn sie sich von allein miteinander vereinbaren lassen - wunderbar! Wenn nicht, dann habe ich die Wahl: Entweder passe ich mein Ziel den veränderten Umständen an oder ich interpretiere diese so, dass sie mich meinem Ziel näher bringen. Die erste Strategie besagt: Ich nehme die Veränderung zum -134-
Anlass, um meine eigene Situation zu verändern - und zwar so, Jass sie zur eingetretenen Veränderung passt. Zum Beispiel, indem ich die Party vom Garten in die Garage verlege: Meine Rahmenbedingungen ändern sich, also orientiere ich mich nach ihrer Maßgabe neu. Die zweite Strategie besagt: Ich nehme die Veränderung zum Anlass, um meine Situation durch eine andere Brille zu betrachten - und zwar so, dass sie mir in einem neuen, besseren Licht erscheint. Ich kann den Regen negativ als Bedrohung meiner Party betrachten - oder positiv als triftigen Grund, nicht ganz so liebe Gäste auszuladen, um mich ganz meinen wirklichen Freunden zu widmen: Meine Rahmenbedingungen ändern sich, also deute ich sie im Sinn meines Zieles um.
Welcher Anfang steckt im Ende? So weit die Technik - der Rest ist Leben. Darin aber, keine Frage, braust und stürmt und hagelt es manchmal mit solcher Macht, dass einem Hören und Sehen vergeht und keine Lebenstechnik weiterhilft. Dann kann ich die Dinge drehen und wenden, wie ich will, und komme trotzdem nur zu einem Schluss: Ich stecke in der Scheiße und kein Zauberstab der Welt kann mein Unglück in ein Glück verwandeln. Doch selbst in der schlimmsten Katastrophe gibt es immer einen Lichtblick. Das ist der Anfang, der in jedem Ende steckt. Wie groß der Schlamassel auch ist, in den ich da geraten bin: Wann immer etwas aufhört, fängt auch etwas Neues an. In der Mitte der Nacht ist schon der Anfang des neuen Tages. Zwar kann ich nicht in jeder Situation Dreck zu Gold machen, wohl aber kann ich immer an die Stelle von etwas gutem Alten etwas gutes Neues setzen. Die beste Medizin nach einer Enttäuschung oder Niederlage ist immer ein neuer Plan. Dabei kommt mir ein einfacher -135-
Mechanismus zugute. Das Schlimmste an jeder bösen Überraschung egal, worin sie besteht - ist der Verlust meiner Sicherheit, den der Unglücksfall zur Folge hat. Ob ich mich an der Börse verspekuliere, ob mir die Frau durchbrennt, ob meine Tochter in der Schule eine Arbeit verpatzt: Es ist immer die plötzliche Unsicherheit, die mich aus der Bahn wirft. Diese hat allerdings eine ausgesprochen positive Kehrseite: Jeder Verlust von Sicherheit ist ein Zugewinn an Freiheit. Und genau diesen Zugewinn an Freiheit brauche ich, um den Anfang im Ende zu entdecken und zu nutzen.
Die beste Lebenstechnik Angenommen, ich verliere von heute auf morgen meinen Job. Natürlich ist das eine Katastrophe! Was gestern noch klar und sicher schien - meine Stellung in der Firma, mein Einkommen, meine Zukunftsaussichten -, alles ist nun unklar und jede Sicherheit dahin. Wie wird meine Frau reagieren? Wovon soll ich die Raten für das Auto bezahlen? Was wird aus dem Urlaub, den die Kinder sich so sehr wünschten? Tausend Fragen stürzen auf mich ein, und ich weiß nicht, wie mir geschieht, Doch so tief die Grube auch sein mag, in die ich nun stürze, irgendwann begreife ich, dass das Leben weitergeht. Und ich sehe das Licht am Ende des Tunnels: Okay, ich habe meinen Job verloren - aber welche Freiheit besitze ich dafür! Das Ende der Arbeit bedeutet zugleich den Wegfall zahlloser Einschränkungen. Ungeahnte Möglichkeiten tun sich mit einem Mal vor mir auf. Ich kann buchstäblich alles machen, was ich will. Ich kann am helllichten Tag durch die Stadt spazieren; ich kann mir Bart und Haare wachsen lassen; ich kann mich meiner Frau und meinen Kindern widmen; ich kann meinen alten Traum verwirklichen und mich selbstständig machen; ich kann -136-
auswandern und am ändern Ende der Welt noch einmal ganz von vorn anfangen. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«, sagt Goethe und irrt damit einmal weniger. Dieser Zauber ist das Moment der Freiheit, der ungeheuren Möglichkeit - immer und zu jeder Zeit! -, mein Leben neu und besser zu gestalten. Darum besteht die beste Lebenstechnik darin, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen: Statt gottergeben zu akzeptieren, wie das Schicksal mit mir Pingpong spielt, führe ich selbst immer wieder neue Veränderungen herbei, im Sinne meiner Ziele und Zwecke. Doch damit sind wir schon im nächsten Kapitel.
»Hand aufs Herz!« - Übung 12 Das böse Schicksal spielt Ihnen einen Streich? Die Umstände wollen nicht wie Sie? Plötzlich ist eine Veränderung eingetreten, die Ihre Pläne zur Verwirklichung Ihrer zwei großen Ziele über den Haufen wirft? Fassen Sie Ihre Situation ins Auge und überlegen Sie, wie die vier verschiedenen Einstellungstypen jeweils reagieren würden. Wie würde sich der Glückspilz in Ihrer Situation verhalten? Wie der Schuldige? Wie der Pechvogel? Wie der Glücksschmied? Schreiben Sie die Antworten auf. Und schreiben Sie darunter, an welchem dieser Typen Sie sich ein Beispiel nehmen möchten. Sie brauchen ihm im Leben dann nur noch das nachzumachen, was Sie bereits an seiner Stelle für ihn aufgeschrieben haben.
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Kapitel 13 Versuch und Irrtum Als ich mich vor Jahren einmal zu Studienzwecken in Oxford aufhielt, wurde ich auf einer Party Zeuge einer Szene, von der ich heute noch nicht recht weiß, wie ich sie bewerten soll. Sie war gleichzeitig abstoßend und komisch, vollkommen daneben und doch lehrreich. Die Geschichte war die: Gleich zu Beginn des Abends betrat ein junger, äußerlich ganz unscheinbarer Student den Raum, Hätte meine Gastgeberin, die offenbar wusste, was kam, mich nicht auf ihn aufmerksam gemacht, hätte ich ihn mit Sicherheit nicht wahrgenommen. So aber beobachtete ich, wie der Student kurz in die Runde schaute, mit einem Blick die umstehenden Studentinnen musterte, um dann schnurgerade auf ein rothaariges Mädchen zuzumarschieren und diesem eine Frage zu stellen, die ich hier - zur Wahrung des halbwegs guten Geschmacks - nur im Original wiedergebe: »Do you wanna fuck with me?« Kaum hatte er die Frage gestellt, knallte das Mädchen ihm eine. Wie reagierte der Student? Er entschuldigtes sich mit einem Lächeln und holte sich eine Cola an der Bar. Ich war so perplex, dass ich meiner Gastgeberin (obwohl ich mit ihr nicht nur zum Zweck des akademischen Gedankenaustauschs verkehrte) nur zerstreut und mit halbem Ohr zuhörte, während ich diesen seltsamen Vogel im Auge behielt. Und siehe da: Keine fünf Minuten später wiederholte er seinen Versuch bei einem anderen Mädchen. Wieder handelte er sich eine Ohrfeige ein, doch das hinderte ihn nicht, den ganzen Abend lang sein Glück zu probieren, wieder und wieder, bei einem Mädchen nach dem Anderen. Hatte der Typ noch alle Tassen im Schrank?
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Sicherheitsfaktor Neugier Und ob! Mehr noch: Entwicklungsbiologisch betrachtet, verhielt er sich absolut vorbildlich. Professor von Cube hätte gewiss seine Freude an diesem modernen Möchtegern-Casanova gehabt. Denn keine Graugans der Welt könnte besser jene Theorie bestätigen, mit der Cube folgende Fragen zu beantworten versucht: Wenn der Mensch von Natur aus auf Sicherheit gepolt ist, warum wagt er sich dann doch immer wieder auf unsicheres Terrain vor? Wenn er sich gegen alle Einflüsse von außen, die seine Situation verändern können, absichern will, warum führt er dann doch immer wieder von sich aus Veränderungen herbei? Wenn er am Alten hängt, warum ist er dann doch immer wieder aufs Neue begierig? Cubes Antwort lautet: Sicherheitsstreben und Neugier sind zwei Seiten ein und derselben Medaille - ja, die Neugier selbst ist nichts weiter als Ausdruck des umfassenderen Sicherheitsstrebens. Der scheinbare Widerspruch löst sich verblüffend einfach auf. Zunächst liegt meinem Handeln das Bedürfnis nach Sicherheit zugrunde. Ich möchte vor allem, dass mir nichts passiert. Darum niste ich mich im Vertrauten ein; so begrenze ich den Lebenskreis, in dem ich mich aufgehoben und behütet fühle wie das Kleinkind am Rockzipfel der Mutter. Diese Sicherheit aber ist eng; sie lässt mir kaum Bewegungsfreiheit. Darum spähe ich neugierig über das Vertraute hinaus, taste mich vor auf unbekanntes Terrain: nicht, um mich der Gefahr auszusetzen, sondern um den Radius meines gesicherten Lebenskreises auszuweiten. Indem ich Unsicherheit in Sicherheit verwandle, Schritt für Schritt, im Wechsel von Versuch und Irrtum.
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Angst und Lust Die Neugier ist der Motor jeder Veränderung, die ich aus freien Stücken in Gang bringe. Dabei bin ich natürlich nicht frei von Angst. An jeder neuen Schwelle, an jeder neuen Grenze regt sie sich. Gibt es eine Ohrfeige oder gibt es einen Kuss? Doch die Angst hat ihren Lohn. Je mehr es mir gelingt, meine Unsicherheit in Sicherheit zu verwandeln, desto mehr Lust verspüre ich - und zwar schon während dieses Prozesses selbst und nicht erst beim Erreichen meines Ziels. Denn im Leben geht es meistens wie im Lied: »Alle rennen nach dem Glück, doch das Glück läuft hinterher.« Lust kann ich zwar erreichen, aber nicht festhalten. Um sie zu erwerben, muss ich sie infrage stellen - indem ich solche Herausforderungen annehme, die mich auch wirklich fordern. Habe ich sie bestanden, kann ich die erworbene Lust nur dadurch erneuern, dass ich sie wiederum aufs Spiel setze, durch eine abermals erhöhte Herausforderung. Daher das Kribbeln, das jeder Casanova verspürt, wenn er die Angst vor dem Kuss überwindet. Daher das scheinbar irrationale Glücksgefühl beim Bungee oder Fallschirmspringen (vorausgesetzt natürlich, das Seil hält und der Schirm geht auf). Daher aber auch die tiefe Befriedigung, die mich erfüllt, wenn ich eine lange vor mir hergeschobene Aufgabe endlich in Angriff nehme und Schritt für Schritt löse: Gerade bei der Erledigung schwieriger und anspruchsvoller Arbeiten fühle ich mich erheblich wohler, als wenn ich diese Tag für Tag unerledigt lasse. Weil ich im ersteren Fall meine Unsicherheit in immer mehr Sicherheit verwandle, im zweiten Fall dagegen meine Unsicherheit stetig erhöhe.
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Risikofaktor Sicherheit Diese Erkenntnis der Entwicklungsbiologie führt zu einem uralten Schluss: Wer nichts wagt, der nichts gewinnt! Ich kann Sicherheit nur gewinnen, indem ich Sicherheit aufgebe. Und wenn ich dazu nicht bereit bin, wird mein Sicherheitsstreben zum Risikofaktor. Von diesem Schicksal kann Rudi Lebsanft ein trauriges Lied singen. In einer stillen Stunde habe ich ihn mal gefragt, warum er eigentlich nie verheiratet war. Ob es denn keine Frau in seinem Leben gegeben hätte? Doch, gestand er mir nach einigem Schweigen. Während seiner Kartoffel-Therapie auf dem Bauernhof habe er eine Mitpatientin kennen gelernt, Angelika, eine dralle Endvierzigerin, die in der Blaukreuzler-Gemeinde meines Vetters Plisch als Organistin arbeitete. In die sei er so verliebt gewesen, dass er sie habe heiraten wollen. »Und, warum hat es nicht geklappt?«, wollte ich wissen. »Ich hab mich nicht getraut«, sagte er zerknirscht. Und dann setzte er mir auseinander, weshalb es ihm unmöglich gewesen sei, ihr einen Antrag zu machen. Zuerst hatte er ihr den Antrag mit Blumen machen wollen. Nur wusste er leider nicht, welche Blumen sie mochte. Dann wollte er ihr einen goldenen Ring schenken. Doch vielleicht fand sie das zu aufdringlich? Dann wollte er sich ihr in einem Restaurant eröffnen. Aber war ein Restaurant wirklich der passende Ort? Und überhaupt: Sollte er bei seiner Erklärung lieber einen dunklen Anzug tragen oder seine normale Alltagskleidung? Fragen über Fragen. Wie machte er's richtig, wie machte er’s falsch? Dann war Angelika eines Tages fort. Ganz plötzlich, ohne jede Vorankündigung. Wochen später erreichte Herrn Lebsanft eine Ansichtskarte aus Afrika. Darauf teilte sie ihm mit, sie sei in einen Laienorden eingetreten und leiste nun in Mozambique Entwicklungshilfe. »Trotzdem danke ich dir«, schrieb sie. »Mit deiner Hilfe habe -141-
ich erkannt, dass Jesus mein Bräutigam ist.« Mit einem schweren Seufzer beschloss Rudi Lebsanft seinen Bericht. »Jaja, wie man’s macht, macht man’s verkehrt!« Vor allem, wenn man gar nichts macht.
Fehler akzeptieren Warum blieb Rudi Lebsanft die Frau seiner Träume versagt? Weil er nur ja keinen Fehler riskieren wollte! Er wollte schon im Voraus wissen, auf welche Weise er Angelika das ersehnte Jawort mit Sicherheit entlocken würde. Bevor er handelte, wollte er eine Erfolgsgarantie. Das aber ist das Einzige, was die Zukunft mit Sicherheit nicht zu vergeben hat. Die Zukunft kann so oder so sein - wer wissen will, was passiert, muss sie ausprobieren. Wird die Frau meiner Träume Ja oder Nein sagen? Antwort bekomme ich nur, wenn ich ihr die entsprechende Frage stelle. Da diese Antwort aber immer auch nein lauten kann, egal wie ich sie stelle, tat Rudi Lebsanft gar nichts. Mit dem Resultat, dass er dadurch Angelika genau zu der Reaktion bewegte, die er als allerletzte hervorrufen wollte: dass sie sich von ihm abwandte. Das Leben ist kein Rechenexempel. Solange ich lebe, ist und bleibt es ein Experiment. Denn jeden Tag werden die Karten im Spiel des Lebens neu gemischt. Was gestern richtig war, wird heute fraglich und ist morgen schon falsch. Um meine Ziele zu erreichen, muss ich darum den Mut aufbringen, immer wieder neue Wege auszuprobieren: Wenn Angelika keine Rosen mag, dann mag sie vielleicht Tulpen; und wenn sie überhaupt keine Blumen mag, dann mag sie vielleicht Pralinen. Jede Möglichkeit, die ich wähle, um an mein Ziel zu gelangen, ist eine Probe aufs Exempel. Und dieses Experiment setze ich so lange fort, bis schließlich irgendein Weg zu dem Ergebnis führt, das sich mit meinem Ziel deckt. Rudi Lebsanft hatte unzählig -142-
viele Chancen, um bei Angelika Gehör zu finden, doch keine einzige hat er genutzt. Nur weil er nicht im Voraus wusste, welche die hundertprozentig richtige war. Im Experiment des Lebens darf ich mir darum alles erlauben, nur eins nicht: die Angst vor Fehlern. »Erfahrung«, so der englische Dramatiker Oscar Wilde, »ist der Name, den die Menschen ihren Irrtümern geben.« Und wodurch unterscheiden sich dabei die Dummen von den Gescheiten? Dass die Dummen dieselben Fehler immer wieder machen, die Gescheiten dagegen immer wieder neue.
Heilsame Enttäuschung Mein Leben ist eine fortlaufende Folge von Veränderungen. Die Welt, in der ich am Abend zu Bett gehe, ist eine andere als die, in der ich am Morgen aufwache. Darum muss ich immer wieder überprüfen, ob mein eingeschlagener Weg mich unter den neuen, veränderten Bedingungen meinem Ziel tatsächlich näher bringt. Oder mich von ihm entfernt. Woran aber erkenne ich, ob ich den Kurs auf mein Ziel halte oder nicht? Ein sicheres Signal ist hier die Enttäuschung, das Gefühl, dass etwas Wesentliches nicht stimmt: Enttäuschung ist Enttäuschung, das Ende einer Illusion. Sie stellt sich ein, wo eine Erwartung sich nicht erfüllt. Für eine Enttäuschung kann es immer zwei Gründe geben. Der Philosoph Odo Marquard hat sie auf eine einfache Formel gebracht: Entweder ist da zu viel Erwartung oder zu wenig Erfüllung gewesen. Entweder habe ich mir zuvor die Erfüllung meiner Wünsche und Träume beglückender ausgemalt, als sie in Wirklichkeit ist; oder aber ich stelle beim Erreichen meines Ziels fest, dass dieses selbst mich nicht mehr interessiert. Doch wo immer die Ursache liegen mag, ob die Erwartung zu groß war oder die Erfüllung zu klein - beide Gründe lassen auf -143-
dieselbe Tatsache schließen: dass ich von meinem Kurs abgekommen bin und wahrscheinlich auf dem falschen Dampfer sitze.
Runter vom falschen Dampfer! Wenn ich mich auf einem Schiff befinde, das in die falsche Richtung fährt, kann ich rennen, so viel ich will: Solange ich das Steuer nicht herumlege, bleibt die Richtung die falsche. Nicht anders verhält es sich auf meinem Lebensweg. Bin ich vom Kurs erst abgekommen, ist alle Anstrengung vergebens. So sehr ich mich mühe und mein Tempo verschärfe, entferne ich mich doch mit jedem Schritt nur weiter von meinem Ziel. Es gibt kein richtiges Leben im falschen! Meine Ent-Täuschung hilft mir, im Wechselspiel von Versuch und Irrtum die Zielklarheit zu erhöhen. Und die beste Antwort auf Ent-Täuschung ist darum immer Gegensteuern.
Das Napoleon-Prinzip Ich lebe nur einmal. Was ich hier und heute tue, ist darum unwiderruflich: Jeder Versuch gilt! Es gibt kein Leben auf Probe. Ich habe immer nur ein einziges Mal die Chance, es richtig zu machen - zwar immer wieder aufs Neue, doch immer wieder nur ein einziges Mal. Dabei setzt jeder Versuch meine Entscheidung voraus. Mit meiner Entscheidung, es so rum oder so rum zu versuchen, lege ich mich fest. Daher mein Zögern und Zaudern vor jeder Entscheidung: Durch die Entscheidung verliere ich ja ein Stück Freiheit (ich kann nachher meinen Versuch nicht mehr ungeschehen machen). Daher aber auch das gute Gefühl nach jeder Entscheidung: Durch die Entscheidung für diese eine -144-
Möglichkeit gewinne ich an Sicherheit (habe ich mich erst mal entschieden, brauche ich mich nicht mehr von den tausend und abertausend denkbaren Alternativen verrückt machen zu lassen). Habe ich mein Ziel klar vor Augen, gilt darum das NapoleonPrinzip: »On s'engage, et puis on verra!« Oder, in der Übersetzung von Franz Beckenbauer: Loslegen, und dann schaun mer mal!
Das Ende der Party Ach ja, ob der Student in Oxford doch noch zum Erfolg kam? Es war etwa zwei Uhr morgens, als die Party allmählich zu Ende ging. Meine Begleiterin konnte kaum noch die Augen aufhalten. Zugegeben, ich hatte sie den Abend über ziemlich vernachlässigt. Sie hatte deshalb schon mehrmals aufbrechen wollen, doch ich wollte nicht eher das Feld räumen als der unermüdliche Casanova. Schließlich war kein einziges Mädchen mehr da, das er noch nicht belästigt hatte. Plötzlich stand er vor uns, die Wangen rot von zahllosen Ohrfeigen. Und ehe ich michs versah, stellte er seine Frage tatsächlich meiner Begleiterin, allerdings leicht variiert: »Do you wanna sleep with me?« Meine Begleiterin war plötzlich hellwach. Bei ihrer Antwort biss ich in mein Bierglas. »Where do we go?«, fragte sie mit ihrem deutschen Akzent zurück. »To you or to me?«
»Hand auf s Herz!« - Übung 13 Angenommen, Sie kennen Ihre Ziele und haben sich auf den Weg gemacht, doch irgendwo sind Sie stecken geblieben: Wie viele alternative Möglichkeiten haben Sie inzwischen -145-
ausprobiert, um weiterzukommen? Egal, wie Ihre Ziele aussehen: Es gibt immer verschiedene Wege, um dorthin zu gelangen. Notieren Sie darum - sowohl für Ihr berufliches als auch für Ihr privates Ziel jeweils drei andere Möglichkeiten außer derjenigen, die Sie bereits versucht haben. Wie sehen diese Möglichkeiten aus? Beschreiben Sie sie so konkret und detailliert wie möglich. Frage zum Schluss: Welche Alternative wollen Sie in der Praxis als erste versuchen?
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Kapitel 14 Sieben Wege zum Misserfolg - und eine Ausnahme von der Regel In der Schule hatte ich einen ausgesprochen unangenehmen Mathematiklehrer namens Nielsen. Wenn der einen Schüler auf dem Kieker hatte, kannte er weder Gnade noch Logik. Egal, wie oft er sein Opfer schon gequält hatte: Sobald es ein unlösbares Problem gab, rief er den Schüler auf und bohrte ihn so lange mit den schwierigsten Fragen, bis der arme Teufel passen musste. Dann schüttelte Lehrer Nielsen den Kopf, scheinbar entsetzt über so viel Unverstand, innerlich aber zutiefst befriedigt, und trug eine Sechs in sein Notizbuch ein. Manchmal aber geschah es, dass der Schüler auf jede noch so gemeine und hinterhältige Frage eine Antwort wusste. Doch Lehrer Nielsen wäre nicht Lehrer Nielsen gewesen, wenn er für solche Fälle nicht noch eine allerletzte, ganz und gar tödliche Krage parat gehabt hätte. Und diese Frage lautete: »Und wie ist die Geschichte gerade nicht')« Bei dieser Frage musste jeder Schüler die Segel streichen. Auch wenn er den richtigen Lösungsweg im Schlaf herunterbeten konnte: Wie sollte er um Himmels willen wissen, welchen falschen Lösungsweg Lehrer Nielsen gerade meinte? Sicher, Lehrer Nielsen stellte seine gefürchtete Frage, um sein Opfer zu quälen. Trotzdem lässt sie sich zu etwas Nützlichem gebrauchen. Oft erkenne ich ja erst durchs falsche Gegenteil, wie es richtig geht: Wenn ich nicht weiß, wie ich ans Ziel meiner Träume gelange, kann ich doch immerhin erkennen, mit welchen Mitteln ich meinen Misserfolg unfehlbar heraufbeschwöre. Zum Beispiel durch Befolgung nachstehender Regeln.
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Der Weg als Ziel Mein erstes Semester an einer Universität verbrachte ich in Göttingen. Dort hatte ich einen Kommilitonen, der hieß Viktor und studierte Philosophie, Sanskrit, Meeresbiologie und Sozialpädagogik. In seiner Gegenwart kam sich jeder normale Mensch unglaublich klein und armselig vor. Wenn man Viktor fragte, was er einmal werden wollte, lächelte er einen nur nachsichtig an. »Ich brauche kein Ziel«, sagte er, und seine braunen Augen füllten sich mit einem tiefen Glanz. »Der Weg ist das Ziel.« Mit dieser Maxime betrieb er seine verschiedenen Studien, beseelt von einer geradezu religiösen Ernsthaftigkeit, die mich immer wieder aufs Neue beschämte. Als ich von Göttingen nach Tübingen zog, verlor ich den Kontakt zu meinem hoch begabten Kommilitonen. Wenn ich später an ihn dachte, konnte ich ihn mir nur als einen bedeutenden Mann vorstellen. Zu gern hätte ich gewusst, was aus ihm geworden war: Hatte er sich für die Philosophie oder für die Naturwissenschaften entschieden? Zwanzig Jahre später kam ich zum ersten Mal nach Göttingen zurück. Aus Sentimentalität ging ich in der Uni-Mensa essen. Am Eingang sprach mich jemand an. Vor mir stand ein in die Jahre gekommener Hippie, mit grauen Haaren und abgetragenen Bhagwan-Gewändern, deren einstmals rote Farbe zu einem indefiniten Ockerbeigeorange verblichen war. »Hast du mal 'ne Mark für mich?« Ich drückte ihm einen Fünfer in die Hand. »Danke«, sagte er, offenbar angenehm überrascht, denn seine braunen Augen füllten sich mit einem tiefen Glanz. »Viktor...?«, fragte ich ungläubig. Er sah mich kurz an, dann machte er auf dem Absatz kehrt und ließ mich stehen. -148-
Der Weg ist das Ziel«, dachte ich, während er mit seiner alten Aktentasche die Treppe hinunter in Richtung Klo verschwand. »Der Weg ist das Ziel«, denkt wahrscheinlich auch der Hamster jedes Mal, wenn er eine neue Runde in seinem Rad dreht. Misserfolgsregel Nr. l lautet darum: Nimm dir nur ja keine Ziele vor! Und wenn du ein Ziel partout nicht vermeiden kannst, formuliere es so vage und nebulös wie nur möglich. Augen zu Vor gar nicht allzu langer Zeit, als in Frankreich noch die Todesstrafe vollstreckt wurde, saß im Gefängnis von Lyon ein Häftling und wartete auf seine Hinrichtung. Am Abend vor der Exekution suchte ihn der Pfarrer auf. Der nahm ihm die Beichte ab und spendete ihm die Kommunion. Dann folgte der Gefängnispsychologe. Der führte ein langes Gespräch mit dem Häftling und notierte die Grüße, die dieser ihm für seine Angehörigen auftrug. Schließlich kam der Direktor der Anstalt. »Haben Sie noch einen letzten Wunsch?«, fragte er. Der Häftling dachte eine Weile nach. Dann ging ein Strahlen über sein Gesicht. »Ja, ich habe einen letzten Wunsch«, sagte er. »Ich würde gern das Abitur nachmachen.« Wer war hier der Dumme? Nein, nicht der Direktor. Der Dumme war der Häftling. Weil er sich mit seiner neunmalklugen Antwort auch noch um die allerletzte Chance in seinem Leben brachte: die Möglichkeit, wenn schon nicht mit Zuversicht, so doch mit vollem Magen seinen letzten Gang anzutreten. Misserfolgsregel Nr. 2 lautet darum: Ignoriere immer, was Sache ist! Akzeptiere die Dinge niemals so, wie sie sind.
Hüh-hott Meine Frau ist mir in nahezu allen Fragen der Lebensführung -149-
ein Vorbild. Doch eine Macke hat auch sie - Gott sei Dank! Diese Macke tritt immer zutage, wenn sie eine Grippe hat. Dann spult sie unweigerlich eine ganz bestimmte Platte ab. Und die geht so: Zunächst sucht sie ihren Hausarzt auf. Der verschreibt ihr Aspirin. Zwei Tage lang liest sie den Beipackzettel und angesichts der möglichen Nebenwirkungen kommt sie zu dem Schluss, dass sie das Aspirin auf keinen Fall weiter nehmen kann. Darum geht sie zum Homöopathen. Die Gifte seiner Arzneien sind zwar so sehr verdünnt, dass kein Labor der Welt sie nachweisen kann, doch meine Frau beobachtet nach spätestens dreimaliger Anwendung schwere Vergiftungserscheinungen an sich. Nun konsultiert sie einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Dem macht sie allerdings zur Auflage, dass er ihr kein Aspirin verordnen darf. Also gibt er ihr ein kodeinhaltiges Mittel. Davon aber fühlt sich meine Frau so benommen, dass sie es nach kurzer Zeit wieder absetzt. Gerade noch rechtzeitig, um die Fastenkur nicht zu gefährden, mit der der Heilpraktiker meine Frau kurieren will. Doch kaum hat sie zwei Tage gehungert, klärt der hinzugezogene Internist sie auf, dass ihr Körper unbedingt Nahrung braucht, um wieder gesund zu werden. Tapfer nimmt sie die Aufbaudiät in Angriff, sie spürt ja selbst, dass es so nicht weitergehen kann. Schließlich hat sie schon zwei Schwächeanfälle seit dem ersten Unwohlsein hinter sich. Nach der dritten Ohnmacht hilft nur noch der Spezialist für chinesische Medizin weiter. Doch den kann meine Frau nicht mehr aus eigener Kraft aufsuchen. Denn zu diesem Zeitpunkt der Behandlung hat sich ihr Husten längst in eine Lungenentzündung verwandelt. Misserfolgsregel Nr. 3 lautet darum: Führe nie etwas zu Ende, was du angefangen hast! Handle stets so, dass jede deiner Entscheidungen im direkten Widerspruch zu der vorausgegangenen steht. -150-
Leere Begierden Ich habe eine Bekannte, die war außerordentlich erfolgreich, Zum Beispiel in den Augen ihres Ehemannes (der zugleich ihr Hausmann war) und denen ihres Steuerberaters. Beide taten sich zusammen und hatten eine gute Idee. »Ein Haus muss her«, sagte ihr Mann. »Alle unsere Freunde haben ein l laus.« Und der Steuerberater fügte hinzu: »Wenn Sie es sich nicht leisten können, wer dann?« »Aber was soll ich denn mit einem Haus?«, fragte meine Bekannte. »Ich bin doch dauernd unterwegs.« Natürlich baute meine Bekannte ihr Haus. Nicht irgendein l laus, sondern das größte und prächtigste Haus weit und breit. Schließlich liebte sie ihren Mann. Weil so ein Haus aber nicht ganz billig ist, musste meine Bekannte, obwohl sie Geld wie Heu verdiente, noch mehr als früher arbeiten, um erstens ihre Schulden zu bezahlen und zweitens alle Steuervorteile zu nutzen, die nur ein Spitzenverdiener als Bauherr nutzen kann. Und weil sie noch mehr arbeiten musste, war sie noch viel öfter unterwegs als zuvor. Von ihrem neuen, schönen Haus sah meine Bekannte deshalb nicht viel. Wenn sie einmal nicht arbeitete, dann war sie so erschöpft, dass sie Urlaub machen musste. Und den verbrachte sie natürlich nicht zu Hause. Das alles störte meine Bekannte nicht. Hauptsache, ihr Mann war glücklich! Doch der war das leider nicht. Im Gegenteil. Er wusste ja kaum noch, wie seine Frau aussah. War sie aber hin und wieder für ein paar Stunden zu Gast daheim, flogen auch schon die Fetzen. »So habe ich mir meine Ehe nicht vorgestellt!« Inzwischen ist meine Bekannte geschieden. Ihrem Mann war es nicht schwer gefallen, die Zerrüttung der Ehe nachzuweisen. Nun sitzt sie allein in ihrer kalten Pracht und wieder fragt sie -151-
sich: »Was soll ich mit einem Haus?« Misserfolgsregel Nr. 4 lautet darum: Fixiere dich stets auf das, was deine Freunde oder Nachbarn haben! Frage dich nie, was du selber möchtest, sondern strebe nur das an, was du garantiert weder willst noch brauchst.
Die Endlos-Schraube In meiner Heimatstadt gab es früher einen allseits beliebten Bürgermeister. Der wünschte sich nichts mehr, als dass sein Sohn ihm eines Tages ins Rathaus nachfolgen sollte. Der Sohn teilte den Wunsch des Vaters und studierte darum fleißig Jura. Doch je näher das Examen rückte, desto schwerer spürte er die Bürde der Verantwortung auf seinen Schultern. Wollte er in der Heimatkommune Karriere machen, musste er ganz besonders gute Noten vorweisen. Legte er hingegen nur ein mittelmäßiges Examen ab, brauchte er sich gar nicht um irgendein Amt im väterlichen Rathaus zu bewerben. Denn als Sohn seines Vaters, so dachte er, galten für ihn andere, strengere Maßstäbe als für einen gewöhnlichen Sterblichen. Um sich gründlicher auf die Prüfungen vorzubereiten, verlängerte er also sein Studium um ein Semester. Weil er aber sein Studium verlängerte, wuchs natürlich auch der Leistungsdruck. Jetzt war er gleich doppelt zum Prädikatsexamen verdammt. Also hängte er noch ein Semester dran, um dem gestiegenen Anspruch gerecht zu werden. Doch dadurch steigerte er nur seine Not: Jetzt erwartete sicher jeder von ihm eine glatte Eins. Die konnte er aber nur schaffen, wenn er genügend Zeit zum Lernen hatte... So ging es weiter, von Semester zu Semester, sieben, acht, neun Jahre lang. Dann aber war es so weit. Er wurde von der Universität exmatrikuliert. Trotzdem ging der Wunsch von Vater und Sohn in Erfüllung. In einer seiner letzten Amtshandlungen schaffte der Vater es, den Sohn im Rathaus unterzubringen. Als Pförtner -152-
an der Loge. Dort begrüßt er nun jeden Morgen den neuen Bürgermeister. Misserfolgsregel Nr. 5 lautet darum: Lege die Messlatte deines Erfolgs immer höher, vor allem, wenn dein Erfolg in Reichweite ist! Lege sie so hoch, dass du nur noch darunter hindurchlaufen kannst.
Keine Gnade So weit ich zurückdenken kann, ist meine Cousine Amelie eine überzeugte Feministin. Das wäre an sich kein Problem, wenn es nicht den verdammten Muttertag gäbe. Jedes Mal, wenn der Muttertag naht, ziehen über ihrer Familie dunkle Wolken auf. Ihr Mann und ihre zwei Töchter schwören einander hoch und heilig, dass keiner etwas unternehmen wird. Aber ist der Tag dann da, begeht doch immer wieder einer von den dreien Verrat. Wenn meine Cousine aufsteht, ist der Frühstückstisch gedeckt, wie von Geisterhand, und auf dem Büffet prangt ein Blumenstrauß. Das ist der Augenblick, in dem Amelie explodiert. »Das ganze Jahr kommt keiner von euch auf die Idee, den Tisch zu decken, außer am Scheißmuttertag!« Ohne ein weiteres Wort nimmt sie die Blumen aus der Vase und wirft sie in den Abfall. Dieses Jahr wollten ihr Mann und ihre Töchter der Familie das Drama ersparen und tatsächlich wahrten sie eiserne Disziplin. Als Amelie ins Esszimmer kam, erblickte sie auf dem Tisch nur eine leere Flasche Bier vom Vorabend, zwei Schulhefte sowie eine angebrochene Tafel Schokolade. »Das bin ich euch also wert«, flüsterte sie, »nicht mal einen Blumenstrauß...« Als sie das Zimmer verließ, konnte sie nur mühsam die Tränen unterdrücken. Endlich fiel bei ihren Liebsten der Groschen! Zwei Wochen v später, an einem ganz normalen Dienstagmorgen, war um halb -153-
sieben der Frühstückstisch gedeckt und das Esszimmer glich einem Blumenmeer. Amelie rieb sich die Augen, erwartungsvoll schauten ihr Mann und ihre Töchter sie an. Doch als Amelie begriff, was sie sah, verdüsterte sich abermals ihre Miene. »Was habe ich euch nur angetan«, fragte sie mit bebender Stimme, »dass ihr diesen gottverdammten Scheiß-MuttertagsTerror sogar mitten im Jahr veranstalten müsst?« Damit ließ sie Mann und Kinder stehen und eilte aus dem Haus. Die nächsten zwei Wochen verbrachte sie bei ihrer Mutter. Misserfolgsregel Nr. 6 lautet darum: Akzeptiere niemals, dass jemand etwas falsch macht! Und erlaube ihm erst recht nicht, seinen Fehler wieder gutzumachen.
Schwarz sehen Es war zu Beginn der fünfziger Jahre, als zwei mythische Gestalten dieses Jahrhunderts auf einer Party in Los Angeles einander begegneten: Albert Einstein und Marilyn Monroe. Der berühmte Physiker war schon fast am Ende seines Lebenswegs angelangt, die junge Schauspielerin aber stand noch ganz am Anfang ihrer Karriere. Beim Essen wurden die zwei nebeneinander platziert. Schon nach wenigen Minuten waren sie in ein angeregtes Gespräch vertieft. »Mein Gott!«, rief Marilyn, ganz hingerissen von ihrem weisen Tischnachbarn. »Wir zwei müssten Kinder miteinander haben! Denken Sie nur - Ihre Intelligenz und meine Schönheit...« Mit seinen dunklen, traurigen Augen, die schon so viel Leid dieser Welt erblickt hatten, schaute Einstein die bezaubernde Frau an seiner Seite an. »In der Tat, Miss Monroe, das wäre wunderbar«, sagte er. »Doch stellen Sie sich vor, die Sache geht umgekehrt aus!« Misserfolgsregel Nr. 7 lautet darum: Male dir die Zukunft in -154-
den dunkelsten Farben aus! Konzentriere dich stets auf die unerfreuliche Kehrseite, die auch der erfreulichsten Vorstellung anhaftet.
Minima moralia So weit ein paar Nachträge zum Thema Misserfolg und Unglücklichsein. Was aber, wenn ich davon die Nase voll habe und wieder Lust auf Glück und Erfolg in mir verspüre? lausend Wege führen nach Rom, aber nur ein Weg führt zum Erfolg der eigene! Weil der Erfolg so viele verschiedene Gesichter hat wie die Menschen, die nach ihm streben, sind die Rezepte, die zu seiner Verwirklichung führen, nur bedingt übertragbar. Drei Regeln aber, glaube ich, gelten in den meisten Situationen, vorausgesetzt, man befolgt sie nicht einzeln, sondern miteinander. Und diese drei Regeln lauten: 1. Tue nur, was dir Spaß macht! Spaß und Freude sind die sichersten Indizien, dass man in der Spur seines Autopiloten ist und solche Ziele verfolgt, die Ausdruck des eigenen Lebenszwecks sind. 2. Tue nur, was dich spürbar fordert! Erfolg setzt voraus, dass man tut, was man kann. Doch je mehr man dabei über sich hinauswächst, umso größer ist die Befriedigung. 3. Tue nur, was außer dir auch anderen nützt! Letztlich erweist sich jeder Erfolg erst in seiner Wirkung. Ohne Bestätigung durch andere bleibt er ein ebenso schales wie zweifelhaftes Vergnügen. Damit sind wir aber bereits beim Thema des folgenden Kapitels: Was haben die lieben Mitmenschen mit meinem Erfolg zu tun? -155-
»Hand aufs Herz!« - Übung 14 Wie Sies nicht machen sollen, brauchen Sie hier nicht zu B üben. In diesem Fach besteht nur selten Bedarf an Nachhilfeunterricht. Trotzdem kann es nicht schaden, wenn Sie sich einmal Ihre persönliche Lieblingsstrategie für den Misserfolg klarmachen. Rufen Sie sich dazu Ihre fünf größten Misserfolge der letzten Jahre in Erinnerung. Nehmen Sie keine Aufzeichnungen zur Hand, sondern benutzen Sie einfach Ihr Gedächtnis. Erinnern Sie sich? Dann beantworten Sie bitte schriftlich die folgenden Fragen: Wie ist es zu diesen Misserfolgen im Einzelnen gekommen? Welche Faktoren gaben dabei jeweils den Ausschlag? Gab es einen oder mehrere Faktoren, die an allen Misserfolgen beteiligt waren? Wenn Sie die Antworten aufgeschrieben haben, versuchen Sie bitte, Ihre persönliche Misserfolgsstrategie in einem Satz zu formulieren: »Auf die Nase gefallen bin ich immer wieder, wenn ich...« Fragen Sie sich dann: Inwieweit hat Ihnen diese Strategie bei der Verwirklichung Ihrer zwei großen Ziele geschadet? Und fragen Sie sich schließlich: Was wollen Sie in Zukunft daran ändern?
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Kapitel 15 Keiner mag mich? Von wegen! Der Mensch ist auch nur ein Tier. Das jedenfalls ist die große Hypothese Professor von Cubes und anderer Vertreter der Spezies Entwicklungsbiologe. Und weil der Mensch ein Tier ist, braucht er zu seinem Glück nicht nur Ziele, die seinem Lebenszweck entsprechen, sowie Herausforderungen, die ihn wirklich herausfordern, sondern auch die Anerkennung und Bestätigung seiner Artgenossen. Wie aber kann er sich die verschaffen?
Im Reich der Tiere Im Reich der Tiere ist die Sache ziemlich überschaubar. Da hat jedes Lebewesen ein gewisses Maß an Aggression in sich und dieser Aggressionstrieb sorgt für den nötigen Respekt, wo immer er erforderlich ist. Nämlich wenn es um drei Dinge geht: Rang, Revier und Rivale. Jedes Tier, das in einem Verband mit seinen Artgenossen lebt, nimmt darin einen bestimmten Rang ein. Dieser fällt ihm nicht einfach zu, sondern es muss ihn erwerben und verteidigen. Sieht es seinen Rang bedroht, reagiert es aggressiv. Dieselbe Reaktion zeigt das Tier, wenn ein Artgenosse ihm sein Revier streitig macht. Sein Revier bedeutet seine Nahrung, also setzt es sich zur Wehr. Schließlich reagiert das Tier mit Aggressionen, wenn ihm ein Rivale in die Quere kommt. Buhlt dieser um sein Weibchen, zeigt das Männchen ihm die Zähne. Rang, Revier, Rivale: Diese drei R's bestimmen das aggressive Verhalten der Tiere. Wie aber sieht die Sache beim Menschen aus? Im Prinzip genauso, sagen (nicht nur) die Entwicklungsbiologen. Rang, -157-
Revier und Rivalen setzen auch beim Menschen zuverlässig Aggressionen frei. Doch im Gegensatz zum Tierreich geht es bei uns etwas zivilisierter zu. Wir sichern uns die drei R's nicht durch rohe Gewalt, sondern durch Leistung. Diese verschafft uns bei den Artgenossen jenes Maß an Anerkennung, das wir brauchen, um unser Revier (Job, Einkommen usw.) und unseren Rang (Dienstgrad, Prestige usw.) zu schützen und um uns mögliche Rivalen (alte Freunde, nette Kollegen usw.) vom Hals zu halten. Anerkennung durch Leistung ist also laut Cube & Co. die höchste menschliche Form der aggressiven Triebbefriedigung. Doch gilt darum umgekehrt auch, dass Anerkennung nur in dieser aggressiven Art und Weise zu erlangen ist, im harten Kampf ums Dasein?
Wie Onkel Ei die schöne Ulla eroberte Nehmen wir das Beispiel meines Lieblingsonkels. Der verfügt über viele Qualitäten, die ein Mann sich nur wünschen kann doch der geborene Herzensbrecher ist er nicht. Er ist nur ein Meter sechzig groß, dafür aber bringt er hundert Kilo auf die Waage. »Ich heiße nicht nur Ei«, sagt er darum manchmal in Gesellschaft, »ich sehe auch so aus.« Mit diesem Spruch stellte er sich an einem milden Frühlingstag im Jahre 1952 auf dem Schwarzenberg vor, einem Bauernhof im Sauerland. Dorthin hatte es ihn nicht von ungefähr gezogen, denn der Bauer hatte drei bildhübsche Töchter. Die hübscheste von den dreien war Ulla. Sie war so hübsch, dass kein Mann weit und breit sich traute, ihr Herz zu erobern. Außer Onkel Ei. Vom Augenblick ihrer ersten Begegnung an machte er Ulla den Hof und der Mai war noch nicht vergangen, als er auch schon um ihre Hand anhielt. Ulla fiel aus allen Wolken. »Ich? Den heiraten?«, sagte sie am Abend -158-
voller Empörung zu ihrer Schwester Christel (die zufällig meine Mutter war). »Niemals!!!« Drei Tage später hatte sie es sich allerdings anders überlegt. »Weißt du was?«, eröffnete sie ihrer verdutzten Schwester. »Dick werden andere Männer früher oder später auch. Aber so witzig wie der wird so leicht keiner. Also nehme ich den!«
Vierfache Klarheit (Remix) Wie hatte Onkel Ei das Kunststück fertig gebracht, die schöne Ulla zu erobern? Ganz einfach: durch Anwendung von Kapitel 6 dieses Buches. Natürlich hatte er das 1952 noch nicht lesen können. Trotzdem ist sein Vorgehen ein Paradebeispiel dafür, wie man mit vierfacher Klarheit ans Ziel seiner Wünsche gelangt. Erstens hatte Onkel Ei ein klares Ziel und das konnte er in zwei Worten ausdrücken: Ulla heiraten! Zweitens war er sich über seine Ausgangsbedingungen im Klaren: Er wusste, dass er kein Adonis war, und machte auch keinerlei Verrenkungen, einer zu sein; dafür setzte er auf seine Stärken, auf seinen Witz und auf seinen Verstand. Drittens klärte er die unabdingbaren Voraussetzungen zur Verwirklichung seines Ziels: Was war unbedingt nötig, damit ein Mann eine Frau heiratete? Dass er schön war oder reich oder groß oder adlig? Alles das war vielleicht wünschenswert, unabdingbar aber nicht. Millionen verheirateteter Männer, die keines dieser Kriterien erfüllten, bewiesen ja das Gegenteil. Was also war wirklich unverzichtbar? Dass der Mann seiner Angebeteten einen Antrag machte! Und genau das tat Onkel Ei. Blieb die Frage nach der Verantwortung. Doch die war kein Problem. Mit seinem Antrag fügte Onkel Ei ja keinem -159-
Menschen Schaden zu. Ulla war ein erwachsener Mensch, sie konnte sich für oder gegen ihn entscheiden - es war ihre Wahl.
Die Erotik des Besonderen Onkel Ei ist alles andere als ein Einzelfall. Mag Leistung der Pfad der Tugend sein, um Bestätigung und Anerkennung zu erlangen, der Königsweg ist er nicht. Wer den beschreiten will, sollte lieber auf andere Qualitäten setzen als auf solche, die im Tierreich gelten. Zum Beispiel auf ein Faszinosum, das jedermann besitzt und das jedermann bezaubert: persönliche Einmaligkeit. Was begeistert einen Mann an einer Frau? Ihre vollkommenen Körpermaße, ihre ebenmäßigen Gesichtszüge? Vielleicht - sein Blut aber gerät wegen ganz anderer Dinge in Wallung. Bei der einen bezaubert ihn das Lächeln, bei der anderen das Grübchen, bei der dritten die Art, wie sie ihr Haar aus dem Gesicht streicht. In jedem Fall aber ist es die Erotik des Besonderen: Die eine hat's, die andere nicht! Viel wichtiger als alle Perfektion ist das »gewisse Etwas« die einmalige, unverwechselbare Ausstrahlung, die ein Mensch auf seine Mitmenschen ausübt. Sie allein fasziniert und zieht uns magisch an. Sie bestimmt uns nicht nur im Umgang mit dem anderen Geschlecht, sondern in allen Situationen, in denen wir die Wahl haben: Erfolg hat stets das Einmalige, das uns ins Auge sticht. Und je normierter das Leben in der Massengesellschaft wird, umso intensiver sehnen wir uns nach allem, was sich von der Norm unterscheidet.
Die Ausnahme von der Regel Ein jeder fasse sich an die eigene Nase: Was interessiert uns -160-
im täglichen Leben am meisten? Das Besondere. Was wollen wir im Fernsehen sehen? Das Besondere. Wem schenken wir unsere Sympathie und Zuwendung? Dem Besonderen. Je mehr Modeschöpfer auf den Minirock setzen, umso stürmischer feiern wir den einen Ausnahme Couturier, der eine Kollektion von Maxikleidern präsentiert; je genauer wir über die Sterne am Himmel Bescheid wissen, umso mehr fasziniert uns der eine geheimnisvolle Komet, der nur alle Jubeljahre für ein paar Stunden über uns auftaucht; je problemloser wir jedes Kunstwerk der Welt als Poster kaufen können, desto intensiver genießen wir die Aura des Originals; je perfekter die Fernsehansager ihre Texte vom Blatt lesen, umso sympathischer erscheint uns jeder unfreiwillige Versprecher oder Lacher. Mit einem Wort: Immer ist es die Ausnahme von der Regel, die uns interessiert. Und nichts ödet uns so schnell an wie das immer wieder Gleiche: Sobald die anderen Modeschöpfer dem einen Ausnahme - Couturier folgen und nur noch Maxikleider schneidern, verlieren ihre Kreationen an Glanz - gleichgültig, wie groß die kreative Leistung ist, die sich in den einzelnen Modellen verbirgt.
Helge Schneider und ich Die Faszination des Besonderen ist natürlich ein Ärgernis. Sie folgt keiner Logik und kennt kein Verdienst. Sie funktioniert einfach um ihrer selbst willen: Das Besondere fasziniert einzig und allein, weil es eben etwas Besonderes ist. Das ist ein himmelschreiendes Unrecht, und der Empörung darüber hat vor über dreihundert Jahren ein Franzose namens Nicolas Boileau gebührend Luft verschafft. »Un sot trouve toujours un plus sot qui l'admire«, schrieb er 1674 in seinem Traktat Über die Dichtkunst. Das heißt auf gut Deutsch: »Jeder Idiot findet stets einen noch größeren Idioten, der ihn bewundert.« Dieses -161-
Unrecht ist und bleibt ein Unrecht - und zugleich die Chance, die jeder Mensch für seinen Erfolg ergreifen kann. Wer sich davon überzeugen will, braucht sich nur die Stars unserer Tage anzuschauen. Zum Beispiel Helge Schneider. Warum wird dieser »Idiot« vom Publikum gefeiert? Wofür kassiert er solche Mengen Anerkennung und Geld? Für seine Leistung? Um Gottes willen! Er nennt sich ja selbst Deutschlands schlechtesten Entertainer. Nein, die Begeisterung, die er hervorruft, beruht lediglich darauf, dass er so ist, wie er eben ist: auf seiner Einmaligkeit. So doof wie der kann doch niemand sein! Diese Tatsache allein genügt, dass Abertausende von Menschen ihn bewundern. Und ich gebe gerne zu: Auch ich bewundere Helge Schneider!
Vom Original zur Kopie Wenn Einmaligkeit die Eigenschaft ist, mit der ich am leichtesten Anerkennung finde: Woher beziehe ich dann meine Einmaligkeit? Wie bei den meisten schwierigen Fragen - hätte meine Großmutter gesagt - ist auch hier die Antwort sehr einfach: Meine Einmaligkeit steckt in mir selbst! Auch wenn es widersprüchlich klingen mag - Einmaligkeit ist nichts Besonderes. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Kein Mensch ist wie der andere, jeder Mensch ist eine Nummer für sich. Das ist das Pfund, mit dem jeder Einzelne wuchern kann. Vorausgesetzt, er hat den Mut, es auch zu tun. Genau das ist aber das Problem. Jeder Mensch wird als Original geboren, doch die meisten verkommen als Kopie. »Bloß nicht auffallen!«, lautet ihre Devise. »Ja nicht anecken! Wer aus der Reihe tanzt, wird zurückgepfiffen!« Statt mit ihrem Pfund zu wuchern, lassen sie darum ihr Pfund ungenutzt. Statt sich in ihrer Eigenart zu profilieren, versuchen sie, sich möglichst stromlinienförmig zu verhalten. Statt zu tun, was ihrem ureigenen Wesen -162-
entspricht, tun sie nur, was möglichst viele andere tun. Und wundern sich dann, wenn sie dafür weder Anerkennung noch Bestätigung finden. Geschweige denn Respekt.
Der Rivale Dieses Schicksal widerfuhr auch Helmut G., einem jungen Kfz-Mechaniker, der 1952 unweit vom Schwarzenberger Bauernhof im Sauerland einen schwunghaften Handel mit Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Maschinen betrieb. Nachdem Onkel Ei die schöne Ulla um ihre Hand gebeten hatte, machte die Nachricht wie ein Lauffeuer die Runde. Plötzlich merkten Ullas viele heimliche Verehrer - darunter Helmut G. -, dass sie etwas falsch gemacht hatten. Zu Helmuts Ehre sei gesagt, dass er in den drei Tagen von Ullas Unentschlossenheit als einziger Rivale den Versuch unternahm, Onkel Ei den Rang abzulaufen. Was Ei konnte, das konnte er schon lange - dachte er. Schließlich war er der bestaussehende junge Mann weit und breit und nicht umsonst hatte er den Spitznamen »Gable«. Erstens, weil er dem berühmten Schauspieler Clark Gable tatsächlich ähnlich sah, und zweitens, weil er sich ebenso weltmännisch benahm wie dieser. Einen ganzen Nachmittag verbrachte Gable also damit, seine Hände und Fingernägel von dem Maschinenöl zu reinigen, das seine Arbeit nun mal mit sich brachte. Dann kämmte er sich mit Pomade das Haar aus der Stirn, zog seinen besten Anzug an, versah diesen mit einem weißen Einstecktuch, kaufte eine langstielige Baccara-Rose und machte damit Ulla seine Aufwartung. Mit einer hochgezogenen Augenbraue begrüßte er sie. Dann strich er sich über den Schnurrbart, lächelte sein unwiderstehliches Clark-Gable-Lächeln und bat sie um ihre Hand. Ulla bekam einen Lachanfall. »Gable«, sagte sie, »sei mir -163-
nicht böse. Aber wenn ich einen wie dich haben wollte, würde ich gleich ins Kino gehen.«
Jenseits von Kampf und Krampf Die Moral von der Geschichte: Wer Anerkennung will, darf nicht um Anerkennung betteln. Wer wie Onkel Ei Erfolg haben will, muss es machen wie Onkel Ei - doch eben auf seine Weise, und nicht nach irgendeinem Schema F! Kampf und Krampf entstehen immer dann, wenn ich mit mir selbst im Widerstreit liege. Wenn ich mich anders gebe, als es meiner Eigenart entspricht. Wenn ich versuche, so zu sein, wie ich nun mal nicht bin. Wenn ich von Natur aus Talent zum Gewichtheben habe, doch stattdessen Rekorde auf der Sprintstrecke erzielen will. Oder wenn ich mir als Sauerländer Traktorhändler in den Kopf setze, dass Clark Gable die Rolle meines Lebens ist. Dann kann ich mich anstrengen, so viel ich will: Ich werde vielleicht ein freundliches Kopfnicken, doch niemals echte Anerkennung, geschweige denn Begeisterung ernten. Kurz: Wenn ich es machen will wie Onkel Ei, darf ich nicht in fremde Fußstapfen treten. Um es meinem Lieblingsonkel gleichzutun, brauche ich stattdessen Mut zum Selbstsein, Mut zum Anderssein: die Bereitschaft, in eigener Regie zu leben. Nach dem selbst verfassten Drehbuch meines Lebens.
»Hand aufs Herz!« - Übung 15 Was für den Misserfolg gilt, gilt zum Glück erst recht für den Erfolg. Ob bewusst oder unbewusst - jeder Mensch hat eine persönliche Erfolgsstrategie. Um sie kennen zu lernen, verfahren Sie einfach wie in Übung 14. Rufen Sie sich also Ihre fünf -164-
größten Erfolge der letzten Jahre in Erinnerung. Nehmen Sie auch diesmal keine Aufzeichnungen zur Hand, sondern verlassen Sie sich ganz auf Ihr Gedächtnis. Erinnern Sie sich? Dann beantworten Sie bitte schriftlich die folgenden Fragen: Wie ist es zu diesen Erfolgen im Einzelnen gekommen? Welche Faktoren gaben dabei jeweils den Ausschlag? Gab es einen oder mehrere Faktoren, die an allen Erfolgen beteiligt waren? Wenn Sie die Antworten aufgeschrieben haben, versuchen Sie bitte, Ihre persönliche Erfolgsstrategie in einem Satz zu formulieren: »Erfolg habe ich immer wieder, wenn ich...« Und fragen Sie sich schließlich: In welcher Weise können Sie Ihre persönliche Erfolgsstrategie für die Verwirklichung Ihrer zwei großen Ziele nutzen?
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Kapitel 16 Das Drehbuch meines Lebens Wenn ich mir einen Film anschaue, erwarte ich von dem Helden, dass er etwas will, dass er ein Ziel verfolgt, ein »Ding« durchzieht - auf Teufel komm raus. Spannend wird der Film dadurch, dass er sein »Ding« auch dann noch durchzieht, wenn sich ihm Hindernisse in den Weg stellen. Dann hoffe und bange ich mit ihm: Wie wird er mit den Schwierigkeiten fertig? Gibt er auf oder hält er durch? Kann er die Hürden überwinden? Und wenn er ans Ziel seiner Träume gelangt, juble ich mit ihm. Nichts hingegen ist langweiliger als ein Film, dessen Held keine Sache durchzieht, dem alles egal ist, der nichts will und darum kein Ziel verfolgt. Bei einem solchen Film wechsle ich das Programm oder verlasse das Kino. Weil ich keinen Anlass habe, am Leben des Helden Anteil zu nehmen. Warum aber stellen viele Menschen an ihr eigenes Leben geringere Anforderungen als an einen xbeliebigen Kinofilm? Warum existieren sie lieber wünsch- und lustlos vor sich hin, statt ihr »Ding« durchzuziehen? Warum tun sie das, obwohl doch jeder Mensch der natürliche Hauptdarsteller in seinem Film, in seinem Leben ist?
Das Leben vor dem Tode Angesprochen auf die Frage, ob es ein Leben nach dem Tode gebe, hat der erfrischend weltlich orientierte Jesuitenpater Dr. Albert Ziegler einmal mit der Weisheit einer Sphinx geantwortet: »Ob es ein Leben nach dem Tode gibt, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass es eines vor dem Tode gibt!« Genau diese simple Tatsache vergessen wir nur allzu leicht und allzu oft. Schuld daran ist eine unglaubliche Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben. Zwar ist sich jeder halbwegs -166-
bewusst, dass er irgendwann einmal sterben muss und dass es dann (aller Wahrscheinlichkeit nach) mit dem Leben vorbei ist. Trotzdem tun wir so, als wäre »irgendwann« gleichbedeutend mit »nie«: Das »eigentliche« Leben findet in der Zukunft statt, und haben wir die erreicht, stellen wir fest, dass längst die Vergangenheit angebrochen ist. »Die Motivation vieler Menschen, morgens aufzustehen«, seufzt darum Pater Ziegler, »besteht darin, dass sie pinkeln müssen.« Um hier für einen Motivationsschub zu sorgen, kann ich aber etwas ganz Einfaches tun: mir ab und zu klarmachen, dass das Leben viel zu schön ist, um das bisschen Zeit, das mir vom Himmel beschieden ist, aufs Geratewohl zu verplempern.
Die beste aller Welten Wie bitte - das Leben soll schön sein? Diese Behauptung hat schon immer alle Menschen, die es schlecht mit sich und ihresgleichen meinten, auf die Palme gebracht. Deshalb hat im Jahre 1710 ein Philosoph namens Leibniz sie sich einmal vorgenommen. Dabei ging er von folgender Frage aus: Wie kann es sein, dass es Unrecht, Leid und Schmerz auf der Welt gibt, wenn doch Gott die Welt erschaffen hat? Wie ist die Existenz des Übels mit seiner Allmacht, Weisheit und Güte in Einklang zu bringen? Zur Auflösung dieses Widerspruchs gelangte Leibniz durch einen einfachen Umkehrschluss. Gerade weil Gott allmächtig, allweise und gütig ist, hätte er selbstverständlich eine bessere Welt erschaffen, wenn eine solche denkbar gewesen wäre; da er aber diese Welt, so wie sie ist, erschaffen hat, muss sie zwangsläufig »die beste aller möglichen Welten« sein. Denn wer will schon behaupten, dass der Allmächtige und Allgütige nicht sein Allerbestes gegeben habe? Heute sind wir nicht mehr ganz so sicher, ob tatsächlich Gott -167-
es war, der die Welt erschaffen hat. Vielleicht war es ja auch der Urknall (obwohl, wenn der es war, uns niemand sagen kann, wer wiederum für den gesorgt hat). Doch egal, ob Gott oder sonst wer in letzter Instanz ihr Urheber war, so viel Leibniz gilt auch heute noch: Wir haben nur diese eine Welt, es gibt keine andere, in der wir existieren oder existieren könnten, und diese eine Welt ist darum mit Abstand die beste und schönste, die uns zur Verfügung steht.
Der Gabentisch des Lebens Um noch einmal Professor Warschawski zu zitieren (obwohl eigentlich jeder, der Augen hat zu sehen, von allein darauf kommen kann): Das Leben ist ein gigantischer Gabentisch. Alles, was da ist - von der Sonnenenergie bis zum Löwenzahn in meinem Garten, von der staatlichen Wohlfahrt bis zu meinen Freunden und Verwandten, von der Datenbank bis zu den Kenntnissen, die ich mir irgendwann erworben habe -, steht prinzipiell zu meiner Verfügung. Dieser Gabentisch ist immer da: »Bitte bedienen Sie sich!« Und immer hat er mir mehr und Besseres zu bieten als die paar Dinge, die ich zufällig vor Augen habe. Ich muss den Blick nur schweifen lassen, um des Daseins ganze Fülle zu begreifen. Und sie nicht nur sehen, sondern auch wollen. Denn nur die Gaben, die ich begehre, können mir als reife Früchte in den Schoß fallen. Was ich hingegen nicht begehre, wird stets am Baum des Lebens hängen bleiben. Wer die Wahl hat, hat allerdings auch die Qual. Wo für jeden etwas ist, da ist nicht alles unbedingt auch so, dass es mir in den Kram paßt. Denn wer immer das Leben erfunden hat - er hat einen ausgeprägten Sinn für Überraschungen: Hier wartet er mit gebratenen Tauben auf, dort leert er mir einen Kübel Jauche über den Kopf. -168-
Der weise Idiot Dass unsere Welt die beste aller Welten ist, heißt ja keineswegs, dass uns immer nur die Sonne lacht. Die Jauche fliegt, solange die Erde sich dreht. Doch selbst in der Jauchegrube spiegeln sich noch die Sterne. Diese Einsicht verdanke ich einem Mann namens Paulchen Schneider. Als ich ihn kennen lernte, war er Mitte dreißig und in der Kirchengemeinde, in der ich meinen Zivildienst leistete, eine Art »Mädchen für alles«. Er war die Einfalt in Person, galt als schwachsinnig und war es wohl auch (»Früher habe ich Körbe geflochten. Da bin ich aber abgehauen. Ich bin doch kein Idiot!«). Aber wenn das Wetter so schlecht wurde, dass man keinen Hund mehr vor die Tür jagte, zeigte er sich von seiner tiefsinnigen Seite: »Lieber so ein Wetter«, tröstete er sich und mich dann immer, »als gar kein Wetter!« Paulchen wusste ja gar nicht, wie Recht er damit hatte. Was nützt das Lamentieren, wenn das Wetter ja doch so ist, wie es ist! Immerhin beschert es uns Luft zum Atmen, Wasser zum Trinken und ausreichend Wärme, dass wir nicht erfrieren. Wie immer es auch ist, ist es doch gut genug, um uns am Leben zu, erhalten. Wenn das böse Schicksal es mal wieder ganz besonders böse mit mir meint, halte ich mich darum an Paulchen's Lebensweisheit: »Lieber so ein Tag«, sage ich mir dann, »als gar kein Tag!« Denn jeder Tag, und sei er noch so katastrophal, ist tausendmal besser, als wenn es den Tag überhaupt nicht gäbe. Denn solange ich noch am großen Spiel des Lebens beteiligt bin, solange ich auf der irdischen Besetzungsliste stehe, habe ich auch noch die Chance, in dieses Drama einzugreifen: das Drehbuch meines Lebens Tag für Tag aufs Neue fort- und umzuschreiben.
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Wer ist der Held in meinem Drehbuch? Damit in diesem Film die Aussicht auf ein Happy End besteht, muss aber eine Voraussetzung gegeben sein: dass ich mich darin als »Held« begreife, als die Figur, um die es geht. Der Held ist immer der, der entscheidet (auch wenn er nichts zu sagen hat!): in meinem Leben also ich selbst. Komischerweise sind zu dieser Rolle nicht alle Menschen bereit. Wenn sie sich einen Film anschauen, identifizieren sie sich zwar stets mit dem Hauptdarsteller, im eigenen Leben aber bescheiden sie sich oft lieber mit einer Nebenrolle. Auch wenn sie dann mit dem Gefühl herumlaufen müssen, im falschen Film zu sein. Oder als Statist in eigener Sache zu verkommen. Zum Statist in eigener Sache werde ich, wenn ich kein »Ding« habe, das ich durchziehen will. Wenn ich vor lauter Müssen das Wollen vergesse. Wenn ich es nur noch anderen, nie aber mir selbst recht machen will. Wenn ich lieber nach fremden Vorgaben als nach meinen eigenen Regieanweisungen lebe. Und vor allem: wenn ich mich im Film meines Lebens langweile.
Der Grabstein-Test Um festzustellen, ob ich der richtige Held im richtigen Film bin, gibt es eine einfache Probe. Angenommen, ich müsste heute vor den höchsten Richter treten: Wie würde der Nachruf auf mein Leben lauten? Was würde in der Zeitung stehen? Was könnten die Leute an meinem Grab sinnvollerweise über mich sagen? Würden sie zum Beispiel sagen: »Er hat täglich acht Stunden geschlafen«, oder eher: »Er hat das Beste aus seinem Leben gemacht«? Wenn ich mit dem Text zufrieden bin, den ich erwarten darf, kann ich mir getrost gratulieren. Wenn nicht, was hindert mich dann, schon bei Lebzeiten dafür zu sorgen, dass auf meinem Grabstein einst -170-
passendere Worte stehen?
Der große Spannungsbogen Was mich daran hindert? Vor allem die Angst vor der eigenen Courage. Denn folgende Schizophrenie ist ja ganz und gar alltäglich: Im Film kann die Spannung nicht groß genug sein, doch wehe, im wirklichen Leben wird’s spannend! Dann tun wir meistens alles, damit es möglichst bald wieder langweilig wird. Wir reduzieren unsere Ansprüche, hängen die Fahne in den Wind, geben klein bei. Und bringen uns so um die Würze des Lebens. Schuld daran ist eine weit verbreitete Meinung, die auch schon zu Leibniz' Zeiten kursierte: die Vorstellung, dass das beste Leben ein Leben ohne Probleme und Widerstände sei. Tatsächlich aber funktioniert die Wirklichkeit nicht anders als ein guter Film (kein Wunder, denn dieser folgt ja den Spielregeln der Wirklichkeit): Gerade das immer wieder neue Auf und Ab macht das Leben lebenswert. Erst wenn darin Probleme auftauchen und überwunden werden, wird es zum mitreißenden Abenteuer, wird der Hauptdarsteller zum tatsächlichen Helden. Was passiert mit dem Helden? Wie treibt er die Dinge voran, wo wird er zurückgetrieben? Wann und wie gelangt er an sein Ziel? Gewinnt er oder geht er unter? Ob ein Film gut oder schlecht ausgeht, zeigt sich erst am Ende, dieses allein entscheidet über Sinn und Unsinn des Ganzen. Um ein Drehbuch zu entwickeln (egal, ob für den Film oder fürs Leben), muss ich es also von der Auflösung her denken, muss zu Beginn den Schluss schon kennen, auch wenn ich diesen später, im Verlauf der Handlung, immer wieder korrigiere und verbessere. Was ist das Ziel, das dem Helden auf den Nägeln brennt und für das es sich lohnt, Hindernisse zu -171-
überwinden, Probleme zu lösen? Welches sind die verschiedenen Einzelziele, die aus diesem großen Ziel resultieren und das Leben spannend und lebenswert machen? Was sind die konkreten Herausforderungen, die der Held auf seinem Weg bewältigen muss und die ihm immer wieder Orientierung geben: für die nächsten Jahre, für die nächsten Wochen, für den nächsten Tag?
Vom Skript zur Action Sowohl im Kino wie im Leben gilt: Eine Idee ist gar nichts, auf ihre Verwirklichung kommt es an. Auch das beste Drehbuch ist darum nichts wert, solange ich es nicht verfilme, sprich: es in die konkrete Tat umsetze. Was ich dabei vor allem brauche, sind Zielklarheit und Konsequenz. Ohne Zielklarheit keine Orientierung und Motivation, ohne Konsequenz keine Umsetzung und Verwirklichung. Aus beiden Faktoren hat darum Klaus Kobjoll (ein bemerkenswerter Gastronom, der sich mehr für Lebens- als für Kochrezepte interessiert) folgendes Schema entwickelt, mit dem jeder seinen persönlichen Standort ermitteln kann:
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Wer seine Ziele klar vor Augen hat, aber nichts für ihre Verwirklichung tut, der ist und bleibt ein Traumtänzer. Wer umgekehrt keine Ziele hat, aber alles tut, um sie zu erreichen, arbeitet sich zu Tode, ohne zu wissen warum und wozu: der typische Workaholic. Wer weder Zielklarheit noch Konsequenz für sich in Anspruch nehmen kann, der führt zwar ein ruhiges Leben, doch wahrscheinlich nur als Blindgänger. Der Glücksschmied dagegen weiß, was er will, und ist bereit, sein Bestes dafür zu geben. Bleibt nur die Frage: Wann entscheide ich mich, mein Glück zu schmieden, das Drehbuch meines Lebens in Szene zu setzen?
»Hand aufs Herz!« - Übung 16 Haben Sie die vorangegangenen Übungen gemacht? Dann haben Sie eigentlich alle wichtigen Elemente beieinander, um das Drehbuch Ihres Lebens zu schreiben. Nehmen Sie also ein besonders schönes Blatt Papier und -173-
beantworten Sie die folgenden Fragen: Wie lautet der Titel Ihres Films? Wie heißt der Held/die Heldin? Was ist das »Ding«, das der Held/die Heldin durchzieht? Wer sind die wichtigsten Nebenfiguren? Was sind deren Rollen? Auf welche Widerstände stößt der Held/die Heldin auf seinem/ihrem Weg zum Ziel? Wie überwindet er die die größten Hindernisse? Was ist das Happy End? Urteilen Sie selbst: Sind Sie mit diesem Drehbuch zufrieden? Und haben Sie Lust, diesen Film zu erleben? Wenn ja: Worauf warten Sie noch, Ihr Drehbuch umzusetzen?
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Kapitel 17 Aufbruch Ich erinnere mich noch wie heute an den Augenblick, als ich mich entschied.
Heulendes Elend Es war an einem Januartag 1981. Ich war Student, fünfundzwanzig Jahre alt und lebte in Paris. Eigentlich drei gute Gründe, um glücklich zu sein. Tatsächlich aber fühlte ich mich kreuzunglücklich, als ich an diesem Abend die hell beleuchteten Champs-Elysees entlanglief. Ich hatte quälend lange Stunden in der Bibliothek verbracht, ohne auch nur eine Seite mit meiner Magisterarbeit voranzukommen. Ich hatte Angst vor dem Ende meines Studiums, weil ich keine Ahnung hatte, was ich nach dem Examen machen sollte. Und ich hatte Angst vor dem Abend, weil es in der ganzen gottverdammten Millionenstadt keine Menschenseele gab, die diesen Abend mit mir verbringen wollte. In heftigen Böen wehte mir der Sprühregen entgegen. Die Tropfen rannen mir am Hals herab, mein Haar, mein Gesicht waren klitschnass. Die feuchte Kälte kroch mir bis in die Knochen. Fröstelnd schlug ich den Mantelkragen hoch. Ich hatte nur noch das Bedürfnis, mich klein zu machen, physisch zu schrumpfen, mich auf ein Minimum zu reduzieren. Ich verlangsamte meine Schritte, atmete ganz flach, holte kaum noch Luft, damit die Kälte nicht in mich eindringen konnte. Am liebsten hätte ich mich in Nichts aufgelöst, um den Widrigkeiten dieses Abends und meines Lebens eine so geringe Angriffsfläche wie möglich zu bieten. -175-
Kalte Dusche Plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel - ich passierte gerade die Metro-Station George V -, traf mich ein Schlag ins Gesicht, mit solcher Wucht, dass ich einen Schritt zurücktaumelte. Ich verspürte einen dumpfen Schmerz, in den sich Angst und Panik mischten, während gleichzeitig eine Flüssigkeit an meinem Gesicht herunterfloss. Blutete ich etwa? Für ein paar Sekunden war ich vollkommen verwirrt. Einige Passanten drehten sich um und lachten. Dann sah ich in zwei grinsende Gesichter, sie gehörten zwei halbwüchsigen Jungs, und endlich begriff ich, was passiert war: Sie hatten mir eine Wasserbombe ins Gesicht geworfen. Buchstäblich wie ein begossener Pudel stand ich da, und bevor ich reagieren konnte, waren die zwei im Eingang der Metro verschwunden. »Verdammter Mist!«
Wiedergeburt Noch während ich den Fluch ausstieß, stellte ich verwundert fest, dass ich mich auf einmal wie ein anderer Mensch fühlte. Der Schock der kalten Dusche hatte mir gut getan. Mein Kreislauf war angesprungen, ich hatte aufgehört zu frieren. Die ganze Stoffwechselmaschine, die ich vorher selbst auf Null gedrosselt hatte, funktionierte wieder. Meine Lungen sogen die frische Abendluft ein, mein Herz pumpte Wärme in den Körper, die Feuchtigkeit in meinem Gesicht war plötzlich ein herrliches Prickeln. Gleichzeitig mit diesem inneren Erwachen öffneten sich meine Sinne. Der Boulevard war ein wogendes Meer von Menschen und ich gehörte dazu. Die Stimmen verwoben mit dem Lärm der Autos, von irgendwoher duftete es nach gerösteten Kastanien und Crepe Suzette. Im Licht der -176-
Straßenlaternen, vor den erleuchteten Schaufenstern der Geschäfte, zogen Menschen an mir vorbei, Frauen und Männer, Kinder und Greise, Arme und Reiche. Sie alle hatten etwas vor, waren auf der Suche, hatten ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Sorgen und Wünsche. Jeder von ihnen hatte in diesem Augenblick nur diesen einen Augenblick, in dem er nach links oder rechts gehen konnte, geradeaus oder seitwärts. Und wie immer er sich entschied: Der nächste Schritt bestimmte seine Richtung. Ging er zur Arbeit, in eine Kneipe oder zu einem Rendezvous? Ging er in ein Geschäft, nach Hause oder ins Konzert? Egal, was vorher gewesen war: All die zahllosen, unendlichen Möglichkeiten des Lebens nahmen an diesem Ort, hier und jetzt, ihren Anfang, all die Möglichkeiten des Lebens, in dem jeder sein eigenes, einmaliges Leben ausprobieren konnte, mit jedem Schritt, den er in diesem Augenblick, von dieser Stelle aus tat. Eine elegant gekleidete Pariserin stieß im Vorübergehen gegen meine Schulter und entschuldigte sich mit einem wunderbaren Lächeln, bevor sie wieder in der Menge verschwand, aus der sie soeben aufgetaucht war. Tief atmete ich durch. Ich spürte, dass ich lebte. Und plötzlich hatte ich riesige Lust auf diesen Abend: Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und ganz Paris wartete darauf, dass ich es eroberte. Was brauchte ich mehr zu meinem Glück? Ich machte mich auf den Weg.
»Hand aufs Herz!« - Übung 17 Und zum guten Schluss das Happy End. Versetzen Sie sich i in die Zukunft und stellen Sie sich vor, Sie haben Ihr Ziel erreicht. Was denken, was sagen Sie? Wie fühlen Sie sich - auf der Höhe Ihres Erfolgs? Wer freut sich mit Ihnen? Beschreiben Sie so genau wie möglich, wie es sein wird. Doch fragen Sie -177-
sich auch: Was haben Sie in den letzten Tagen, Wochen und Monaten getan, um dieses Ziel zu er- reichen? Und vor allem: Was werden Sie in den nächsten | Tagen, Wochen und Monaten dafür tun? J Stellen Sie einen schriftlichen Aktionsplan auf. Notieren j Sie alle wichtigen Maßnahmen, die zur Erreichung Ihres l Ziels erforderlich sind. Versehen Sie jede Maßnahme mit einem Termin, wann Sie was erledigen werden. Haben Sie alle Schritte aufgeschrieben? Wenn ja, dann bleibt Ihren Träumen bald gar nichts anderes übrig, als in Erfüllung zu gehen. Tun Sie, was Sie nicht lassen können! Denn dürfen trauen Sie sich jetzt!
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Danke! »Kunst ist, wenn man’s nicht kann, denn wenn man’s kann, ist’s keine Kunst.« Dieses Motto gilt nicht nur für den Inhalt dieses Buches, sondern auch für die Art und Weise, wie es zustande kam. Danken möchte ich darum allen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben: Prof. Dr. Peter Warschawski. Die Zusammenarbeit bei unserer gemeinsamen Publikation My Way hat mir so manches Licht aufgesteckt. Viele der dort entwickelten Gedanken sind in dieses Buch eingeflossen. Das gilt insbesondere, aber nicht nur, für die Kapitel 2, 5, 6, 12 und 16. (Wer Prof. Warschawski live im Seminar erleben möchte, kann sich an folgende Adresse wenden: Zentrum für Unternehmungsführung/ZfU, Im Park 4, CH-8800 Thalwil-Zürich.) Serpil Prange. Sie hat mir in den vielen Jahren, die wir zusammen sind, immer wieder Mut zum Risiko gemacht. Außerdem hat sie als erste Leserin die Übungen in diesem Buch ausprobiert (und sich trotzdem nicht von mir scheiden lassen). Coco Lina Prange. Sie war gerade neun Jahre alt, als sie dieses Buch angeregt hat: »Wenn du wirklich so schlau bist, Papa, dann schreib doch ein Buch darüber, wie man leben soll.« Wolfgang Pachali. Er ist bei diesem Projekt und all seinen Vor- Sieben Wege zum Misserfolg -läufern wirklich durch dick und dünn mit mir gegangen. Außerdem hat er ganz wesentlich zu den Inhalten beigetragen. Dr. Bernhard Cevey. Als Psychologe und Persönlichkeitstrainer hat er mir viele Anregungen gegeben. Vor allem aber hat er zu mir gehalten, als es mal brenzlig wurde. Stephan Triller. Er hat als erster die ersten Kapitel gelesen. Und mich mit seiner neurotischen Angst vor Peinlichkeiten -179-
(hoffentlich) vor denselben bewahrt. Prof. Dr. Dr. h.c. Kasimir M. Magyar. Er hat mich immer wieder angestoßen, auch solche Dinge auszuprobieren, von denen ich keine Ahnung habe. Roman Hocke. Als Freund und Agent in Personalunion hat er dafür gesorgt, dass ich die Arbeit an dem Buch vor Frau, Kind und Pferd auch finanziell verantworten kann. Ernst und Christel Prange. Sie haben mir das Leben geschenkt. Ohne sie wüsste ich nicht, wie schön es ist. Last, but not least danke ich Hans, Plisch und Plum, Paulchen Schneider, Onkel Ei, Christiane, Norbert und all den anderen im Text zitierten Freunden und Bekannten, die vielleicht lieber nicht mit ihren wirklichen Namen genannt sein wollen. Mit ihrem persönlichen Beispiel haben sie diesem Buch das nötige Leben eingehaucht. Peter Prange Tübingen, den 22. September 1999
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