Steve Martin
Shopgirl
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Steve Martin
Shopgirl
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»Shopgirl« ist ein Märchen über ein modernes Aschenputtel. Doch was wäre ein Märchen ohne Prinz und Happy End - und was wäre ein Roman von Steve Martin ohne Humor, ohne Scharfsinn, ohne diese Träne im Augenwinkel, von der man nicht weiß, ob sie vom Lachen oder Weinen herrührt. ISBN 3-442-54524-2 Originalausgabe »Shopgirl« Aus dem Amerikanischen von Detlev Ullrich 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor
Autor, Komiker, Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler Steve Martin ist ein Multitalent: »Je weniger ich Bescheid weiß über das, was ich gerade tue, desto besser bin ich. Vielleicht erklärt das, warum ich immer weiterziehe.« Als gefeierter Standup-Comedian wechselte er zur Schauspielerei unvergessen in »Roxanne« oder als »Vater der Braut« -, um dann mit seiner Storysammlung »Blanker Unsinn« die Bestsellerlisten in den USA zu stürmen. Ganz nebenbei heimste er auch noch Emmys und Grammys ein und schrieb ein Theaterstück.
Für Allyson
Wenn man bei Neiman Marcus in der Handschuhabteilung arbeitet, bietet man Dinge an, die eigentlich niemand mehr kauft. Diese Handschuhe sind nicht wie die für hart arbeitende Hände, wie sie bei L.L. Bean verkauft werden - sie sind so zart, dass eine Dame, die sie trägt, immer noch eine Stecknadel aufheben kann. Die Handschuhabteilung befindet sich neben der Modeabteilung, und eigentlich ist sie nur Dekoration. Einen Großteil des Tages lehnt Mirabelle daher an der Glasvitrine, ein Bein weiter nach hinten ausgestreckt, die Arme ausgebreitet, die Handflächen auf den Ladentisch gestützt. An besonders ruhigen Tagen lehnt sie sich auch einmal mit den Ellbogen auf die Vitrine - obwohl diese Stellung von der Geschäftsleitung nicht gern gesehen wird - und starrt durch das Glas auf die Leder- und Seidenhandschuhe, die dort ausliegen wie frisch gefangene Fische. Die Deckenlampen spiegeln sich im Glas des Ladentischs und verschwimmen mit dem Grau und Schwarz der Handschuhe zu einem perlmuttschimmernden Strudel, der Mirabelle in einen seichten Traum hineinzieht. Bei Neiman's bewegen sich alle ganz leise, so als wäre dies ein religiöser Ort, und Mirabelle versucht immer, das Klappern ihrer Absätze zu dämpfen, wenn sie über den hallenden Marmorboden läuft. Sieht man sie so gehen, hat man ständig Angst, dass sie im nächsten Augenblick ausrutscht. Aber das ist ihr normaler Gang, und selbst auf rauem Betonboden läuft sie so. Sie hat einfach nie gelernt, sicher zu gehen oder zu stehen und wirkt wie ein attraktives Mauerblümchen. Was Mirabelle an ihrer Arbeit gefällt, ist, dass sie sich dafür schick machen muss. Denn durch die Kleiderordnung bei Neiman's ist sie angehalten, ein Vorbild in punkto Korrektheit und Stil zu sein. Natürlich kann sie sich die Sachen, die ihr gefallen, kaum leisten, aber dank eines großzügigen Angestelltenrabatts und ihres besonderen Talents zum Kombinieren und der Gabe, einen hervorgekramten Rock mit einem um die Hälfte herabgesetzten Armani-Pullover zusammenzustellen, schafft sie es mehr oder -4-
weniger, sich gut zu kleiden, ohne dabei ihr Budget zu überziehen. Jeden Tag zur Mittagszeit geht sie ins Time Clock Café um die Ecke in Beverly Hills, wo sie zu einem günstigen Preis ein ordentliches Mittagessen bekommt. Mit einem Sandwich, das immer drei Dollar fünfundsiebzig kostet, einem Salat und einem Getränk bleibt ihre Rechnung unter dem Limit von sechs Dollar, das sie sich selbst gesetzt hat - wobei es auch acht Dollar werden können, wenn sie sich ein Dessert leistet. Manchmal starrt ein Mann, dessen Namen sie einmal zufällig gehört hat Tom war es wohl - auf ihre Beine, die schön zur Geltung kommen, wenn sie an einem gusseisernen Tisch sitzt, der so niedrig ist, dass sie sie schräg nach außen strecken muss. Mirabelle, die sich nichts auf ihre Attraktivität zugute hält, glaubt, dass er nicht auf sie als Person reagiert, sondern auf etwas, das eigentlich nichts mit ihr zu tun hat - beispielsweise auf die schöne Linie, in der ihr blauer Rock schräg über das Weiß ihres Schenkels läuft. Den Rest des Tages bei Neiman's verbringt sie angelehnt, vornübergebeugt, die Position wechselnd, gelegentlich von einem Kunden aus der nachmittäglichen Zeitlupe aufgestört, bis es schließlich achtzehn Uhr ist. Dann sperrt sie ihre Kasse ab und geht zum Fahrstuhl, mit steifen Schultern. Sie fährt zum Erdgeschoss hinunter und geht an den noch geöffneten Parfümständen vorbei, wo die Verkäuferinnen bis eine halbe Stunde nach Ladenschluss die letzten Kunden bedienen. Die dort auf wartende Kunden versprühten Düfte schichten sich im Verlauf des Tages in unterschiedlichen Höhen der Kaufhausluft auf. Mirabelle, die eins siebenundsechzig groß ist, riecht also immer Chanel No. 5, wohingegen jemand von eins siebenundfünfzig in den Genuss von Chanel No. 19 kommt. Dabei wird ihr immer bewusst, in welcher sibirischen Einöde sie bei Neiman's arbeitet - in der abgeschiedenen, gottverlassenen Handschuhabteilung -, und sie fragt sich, wann sie in der -5-
Hierarchie wenigstens bis zum Parfüm aufsteigen wird, denn hier, in der quirligen, bevölkerten Welt der Kosmetik und Düfte findet sie das, was ihr am meisten fehlt: jemanden zum Reden. Je nach Jahreszeit sieht Mirabelle auf der Fahrt nach Hause entweder das Licht der sommerlichen Abendsonne oder die grellen Sche inwerfer des Westküstenwinters. Sie fährt den Beverly Boulevard entlang, diese chamäleonhafte Straße mit eleganten Möbelgeschäften und Restaurants an einem Ende und vietnamesischen Lädchen, die geheimnisvoll verpackte Wurzeln verkaufen, am anderen. Im Verlauf der Straße schrumpfen die Immobilienpreise zusammen wie bei einem rückwärts gespielten Monopolyspiel, bis sie schließlich nach fünfzehn Meilen an ihrer Wohnung im zweiten Stock in Silverlake endet, einem Künstlerviertel, das immer nahe daran ist, gefährlich zu werden, es aber nie ganz schafft. An manchen Abenden kann Mirabelle, wenn ihr Timing stimmt, die Außentreppe hinaufsteigen und L.A. von seiner schönsten Seite sehen - im Schein des pazifischen Sonnenuntergangs über dem Teppich aus Lichtern, der sich von ihrer Tür bis zum Meer hin erstreckt. Dann geht sie in ihre Wohnung, die aus unerklärlichen Gründen kein Fenster in diese Richtung hat, bis schließlich die untergehende Sonne alles da draußen verfinstert, und die Fenster zu Spiegeln werden. Mirabelle hat zwei Katzen. Die eine ist normal, die andere ein einsiedlerisches Tierchen, das unter einem Sofa lebt und nur selten hervorkommt. Sehr selten. Vielleicht einmal im Jahr. Das gibt Mirabelle das Gefühl, dass ein geheimnisvoller Fremder in ihrer Wohnung lebt, den sie nie sieht, der jedoch Beweise für seine Anwesenheit hinterlässt, indem er geschickt kleine runde Gegenstände von einem Raum in den anderen bewegt. Diese Beschreibung könnte auch für Mirabelles wenige Freunde gelten, die ebenfalls Beweise für ihre Existenz hinterlassen, mit vergeblichen Anrufen und seltenen Zusammentreffen, und ebenfalls selten gesehen werden. Das liegt daran, dass sie sie für einen Sonderling halten, und da sie es unterlassen, sie -6-
einzubeziehen, verbringt sie viele Abende allein. Sie weiß, dass sie neue Freunde braucht, aber Bekanntschaften ergeben sich nur schwer, wenn man von Natur aus schüchtern ist. Als Ersatz für die fehlenden Freunde dienen Mirabelle Bücher und die Krimis im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Die Bücher sind meist Romane aus dem neunzehnten Jahrhundert, in denen Frauen vergiftet werden oder selbst andere vergiften. Aber sie liest diese Bücher nicht etwa romantisch schmachtend im stillen Kämmerlein, nein, ganz und gar nicht. Sie ist ein gebildeter Kopf, hat Sinn für Ironie. Was sie an diesen alten Romanen mag, ist das Düstere, besonders wenn es kitschig daherkommt, und sie ist überzeugt, dass unterschwellig ein Teil von ihr sich mit all dem Finsteren identifiziert. Und da ist noch etwas: Mirabelle kann zeichnen. Umfang und Format ihrer Werke sind begrenzt. Nur ein paar postkartengroße Zeichnungen vollendet sie jedes Jahr, und sie sind getränkt von der unheimlichen Stimmung der Kriminalromane, die sie liest. Mit Wachsstift trägt sie eine dichte schwarze Schicht auf das Papier auf, deckt alles ab, bis auf das Bild, das sie freilegen will, und das durch die Schwärze nach oben zu steigen scheint. Das Letzte zeigt ein kauerndes Kind, erstarrt in der Lava von Pompeji. Ihr Strich ist sicher, die Hand trainiert in den Jahren, in denen sie ein Kunstdiplom an einem College in Kalifornien erwarb - und dabei neununddreißigtausend Dollar Schulden in Ausbildungsdarlehen anhäufte. Dieser Abschluss macht sie zu einem Sonderfall unter den Parfüm- und Schuhverkäuferinnen bei Neiman's, die sich allerhöchstem zugute halten können, dass sie auf der Highschool zu den Schlauen gehörten. Selten, aber doch so oft, dass mittlerweile eine kleine Sammlung ihrer Werke zusammengekommen ist - holt Mirabelle ihre Kohlestifte hervor, zieht die Lampe ganz tief über den kleinen Küchentisch und macht eine Zeichnung. Dann wird sie fachgerecht fixiert und in einer professionellen Mappe verstaut. Dieses nächtliche Zeichnen erschöpft sie, denn es fordert ihre ganze Energie, und -7-
danach fällt sie immer wie tot ins Bett. Ein normaler Abend verläuft nach einem ganz simplen Muster: Sie trägt eine Pflegelotion auf ihren Körper auf, wobei sie mit der sichtbaren Katze plaudert und sich zwischendurch gelegentlich mit hoher Stimme an die andere, unter dem Sofa vermutete, wendet. Ein stiller Beobachter würde sie für eine sorglose, glückliche junge Frau halten, die sich zum Ausgehen vorbereitet. In Wirklichkeit jedoch sind die Aktivitäten körperlicher Ausdruck ihrer Zurückhaltung. Als sich dieser Abend dem Ende zune igt, schlüpft Mirabelle in ihr Bett, sagt beiden Katzen laut gute Nacht und schließt die Augen. Sie knipst die Lampe neben sich aus und Phantome ergreifen Besitz von ihrem Kopf. Jetzt kann ihr Geist wandern, wohin er will, in jede beliebige Landschaft, und diese Wachträume sind ein nächtliches Ritual für sie. Sie sieht sich am Rand einer tropischen Lagune stehen. Ein Mann tritt von hinten an sie heran, legt die Arme um sie und vergräbt das Gesicht in ihrem Nacken. Er flüstert »Beweg dich nicht«, und bei diesem Bild wird sie ein ganz klein wenig feucht zwischen den Beinen. Sie presst die flache Hand dazwischen und schläft ein. Am Morgen ist das Trockenfutter, das sie am Abend zuvor in eine Schüssel getan hat, weg - wieder ein Beweis für die Existenz der unsichtbaren Katze. Mirabelle, mit schläfrigen Augen und noch wacklig auf den Beinen, macht sich das Frühstück und nimmt ihr Serzone. Serzone ist ein Geschenk Gottes, es befreit sie von der lähmenden Depression, die sie sonst wie ein giftiger Nebel einhüllen und in ihren Körper eindringen würde. Das Medikament hält ihr die Depression vom Leib, auch wenn sie nie ganz verschwindet. Es ist das dritte Antidepressivum, das sie in den letzten drei Jahren ausprobiert hat. Die ersten beiden haben auch funktioniert und eine Weile ganz gut geholfen, sie dann aber plötzlich im Stich gelassen. Es ist immer wieder ein Kampf, bis das neue Medikament, das sie eine Zeitlang zusammen mit dem alten nehmen muss, in ihrem -8-
Gehirn Wurzeln schlägt und seine geheimnisvolle chemische Wirkung entfaltet. Die Depression, mit der sie kämpft, entspricht nicht der eben erst errungenen Symptomatik einer jungen Frau, die nun allein in Los Angeles lebt. Schon in Vermont, wo Mirabelle aufwuchs, klopfte sie zum ersten Mal zaghaft an und ist seitdem zu ihrer ständigen Begleiterin geworden. Mit den Medikamenten kann sie ihr normalerweise Paroli bieten und aus ihrem täglichen Leben heraushalten. Aber es gibt auch düstere Zeiten, da kommt sie nicht aus dem Bett, und so nutzt sie die Krankentage, die ihr laut Vertrag bei Neiman's zustehen, voll aus.. Trotz ihrer Depression sieht sich Mirabelle gern als humorvollen Menschen. Sie kann, wenn sich die Gelegenheit bietet, ein echter Spaßvogel und ein ausgelassenes Partygirl sein. Und in dieser Stimmung, so glaubt Mirabelle, wird sie dann manchmal zum Mittelpunkt von Partys oder Runden. In Wirklichkeit bringen sie diese kurzen Ausbrüche von Fröhlichkeit höchstens auf normales Niveau, aber für Mirabelle ist das Gefühl so außergewöhnlich, dass sie davon überzeugt ist, sich von den anderen abzuheben. Es sind die neurotisch lebhaften Frauen, die bei diesen Partys die Macht behalten und Männer anziehen, die das Bedürfnis verspüren, sie zu zähmen. Männer, die sich von Mirabelle angezogen fühlen, sind anders, sie sind schüchterner und zurückhaltender. Sie schauen erst lange zu ihr hin, ehe sie sich ihr nähern, und wenn sie etwas an ihr finden, das ihnen gefällt, dann ist es das Unkomplizierte an ihr.
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Jeremy Jeremy ist sechsundzwanzig, also zwei Jahre jünger als Mirabelle. Aufgewachsen ist er unter den Slackern im Highschool-Milieu von L.A., die antriebslos vor sich hindümpeln, und von denen nur die, die Glück haben, im ersten Jahr am College auf einen charismatischen Dozenten treffen, der sie auf Trab bringt. Aber Jeremy hatte keine Lust, aufs College zu gehen. Daher verpasste er die Gelegenheit, von neuen Gesichtern und Ideen beflügelt zu werden - zur Zeit verdient er sein Geld damit, Logos auf Verstärker zu malen -, und so geriet sein Leben nach der Highschool unmerklich auf eine abschüssige, glitschige Bahn, auf der er immer mehr an den Rand rutschte. Es passt, dass er und Mirabelle sich in einem Waschsalon kennen lernten - dem unromantischsten Ort für ein Rendezvous. Ihre erste Begegnung begann mit »Hey« und endete mit einem unverbindlichen »Bis bald«, wobei Mirabelle inmitten nasser Unterwäsche und feuchter Jogginghosen stand. Jeremy führte Mirabelle ungefähr zweieinhalbmal aus. Die halbe Verabredung war eigentlich ein ganzer Abend gewesen, allerdings so substanzlos, dass Mirabelle ihn kaum als vollwertig zählen konnte. Beim ersten Date, bei dem sie hauptsächlich durch ein Shoppingcenter schlurften und Jeremy ständig versuchte, ihren Hintern mit dem Handrücken zu berühren, teilten sie sich die Rechnung für das Essen, und als Mirabelle dann vorschlug, doch in das Kino zu gehen, dessen neue, neonschimmernde Fassade Jeremy wie gebannt anstarrte, musste sie ihre Eintrittskarte selbst bezahlen. Sie konnte es sich einfach nicht leisten, unter solchen Umständen noch einmal mit ihm auszugehen, aber sie fand nicht die Worte für eine einfache Erklärung. Selbst die Unterhaltung während des Essens war kein großer Erfolg gewesen, sie hatte der eines alten Ehepaars geähnelt, das sich nicht mehr viel zu sagen hat. Nachdem er sie -10-
bis nach Hause begleitet hatte, gab er ihr seine Telefonnummer in eigenartiger Umkehrung der üblichen Gepflogenheiten. Trotz des schrecklichen ersten Abends hätte sie ihn vielleicht sogar geküsst, aber er schien einfach nicht zu wissen, was er zu tun hatte. Dennoch besitzt Jeremy einen eindeutigen Vorzug - er mag sie. Und diese Tatsache macht einen Menschen für denjenigen, der gemocht wird, unendlich interessant. Am Ende ihres ersten gemeinsamen Abends, als sie in ihre Wohnung ging und die Hand von der Klinke na hm, blieben sie beide kurz stehen und tauschten einen schnellen, unergründbaren Blick aus. Und Mirabelle ließ seine Nummer nicht einfach in den Tiefen ihrer Manteltasche stecken, sondern schob sie geistesabwesend unter das Telefon. Sechs Tage nach ihrer ersten Verabredung - die Mirabelle zwanzig Prozent ihres Vermögens gekostet hatte läuft ihr Jeremy wieder im Waschsalon über den Weg. Er winkt ihr zu, zeigt ihr den erhobenen Daumen und sieht dann zu, wie sie ihre Wäsche in die Maschine stopft. Er kann offensichtlich nicht zu ihr kommen, aber er spricht so laut, dass seine Stimme das Gedröhne von zwölf Waschmaschinen übertönt. »Hast du gestern Abend das Spiel gesehen?« Mirabelle ist schockiert, als sie später erfährt, dass er dieses Zusammentreffen als ihr zweites Date betrachtet. Diese Tatsache kommt ans Licht, als sich Jeremy bei einem misslungenen Beisammensein auf die Regel vom »dritten Date« beruft - bei dem er ihr seiner Meinung nach erstmalig an die Wäsche gehen darf. Mirabelle lässt diese Regel nicht gelten und erklärt Jeremy, dass ihr gar nicht einfällt, ihr Treffen im Waschsalon oder irgendein Treffen, bei dem sie den erhobenen Daumen gezeigt bekommt, als Date zu betrachten. Auch diese dritte Verabredung ist problematisch, weil, nachdem sie Jeremy gesagt hat, dass sie auf keinen Fall die Hälfte der Kosten übernimmt, er sie zum Bowlen mitnimmt, und sie die Ausleihgebühr für ihre Schuhe selbst zahlen muss. Jeremy erklärt ihr, dass Bowlingschuhe etwas zum Anziehen -11-
sind, und sie ja wohl nicht von ihm erwarten kann, dass er für ihre Kleidung aufkommt, wenn sie miteinander ausgehen. Käme Jeremys logischer Verstand nicht bei Bowlingschuhen, sondern in der Astrophysik zum Einsatz, er wäre wohl Boss bei der NASA. Er übernimmt das Essen und ein paar Runden Bowling, benutzt dafür allerdings Gutscheine, die er aus einer Zeitung ausgeschnitten hat, damit er alles bezahlen kann. Schließlich schlägt Mirabelle vor, dass er, sollten sie weiter zusammen ausgehen, bei ihr anruft und sie dann etwas unternehmen, was nichts kostet. Mirabelle weiß, auch wenn sie es nicht ausspricht, dass dazu Gespräche gehören. Wenn man in einem dunklen Kino sitzt, muss man kein einziges Wort sagen, aber bei einer Verabredung, die nichts kosten soll, einem Spaziergang auf dem Hollywood Boulevard im abendlichen Trubel etwa, da braucht es Kommentare, Geplauder, Bemerkungen, und mit viel Glück kommt sogar Witz dazu. Da sie bisher vielleicht gerade zwei Dutzend Worte gewechselt haben, befürchtet sie, dass diese Abende furchtbar werden. Trotzdem ist sie bereit, mit ihm auszugehen - bis ihr etwas weniger Schreckliches über den Weg läuft. Der Grund, weshalb sich Jeremy von Mirabelle angezogen fühlt, ist ihre flüchtige Ähnlichkeit mit einer Gestalt, in die er in seiner frühen Jugend verliebt war. Dieser Jemand ist die Freundin von Popeye, dem Seemann: Olivia. Er kannte sie aus einigen alten Comic-Heften, die ihm sein Onkel geliehen hatte, und betete sie an. Und tatsächlich hat Mirabelle eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr, was man allerdings erst bemerkt, wenn es einem gesagt wird. Es ist nicht so, dass man sie das erste Mal sieht und sofort denkt »wie Olivia«. Aber wenn einen jemand auf den Gedanken bringt, reagiert man möglicherweise mit einem lang gezogenen »Jaaa - stimmt«. Sie hat einen langen, schmalen Körper, kleine dunkle Augen und einen kleinen roten Mund. Auch ihre Kleidung ähnelt der von Olivia - immer passgerecht, nie mädchenhaft flatternd. Ihr ganzes Gebaren -12-
gleicht dem von Popeyes Freundin - immer ein wenig ungelenk. Olivia hat keine Brust, Mirabelle schon, aber durch ihre Haltung - die Schultern ein wenig nach vorn gezogen - und ihre Kleidung, die ihre Rundungen nie hervorhebt, erscheint sie flach. All das macht sie jedoch nicht weniger attraktiv. Mirabelle ist attraktiv, nur gehört sie eben nie zu den Favoritinnen. Aber was Jeremy bei Mirabelle am meisten an Olivia erinnert, ist ihr blasser Teint. Er muss dabei an die durchscheinende Haut der Komikfigur denken, auch wenn es damals eigentlich nur das gelbliche Papier war, das durchschimmerte. Jeremys Gedankenwelt ist so überschaubar, dass er das Glück hat, eigentlich immer genau das zu tun, was er will. Er verkompliziert seine Wünsche nicht, indem er zu viel darüber nachdenkt, und das unterscheidet ihn von Mirabelle, die jede Idee so fest in einen Kokon einspinnt, dass sie sich nicht mehr entfalten kann. Jeremys Sicht auf die Dinge hingegen lässt seinen Blutdruck nicht unnötig steigen, hält seine Venen, die so breit sind wie Autobahnen, frei von Cholesterin. Man sieht ihm an, dass er neunzig werden wird - nur fragt man sich: »Wozu eigentlich?« Zwischen Jeremy und Mirabelle liegen Milliarden Kilometer Neuronen. Wenn er nachts einschläft, dann in glückseliger Einfältigkeit. Sie, sanft eingelullt durch ihr Medikament, geht auf Zeitreise durch ihr Unterbewusstsein, bis der Schlaf sie übermannt. Er sieht nur das, was er vor sich hat. Sie treibt jeden Teil ihres Verstandes in seinen eigenen kleinen Wahn. Auf dieser Stufe ihres Lebens ist die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen, man kann es nicht leugnen, ein Waschsalon.
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Mirabelles Freitag Von ihrem abgeschiedenen Vorposten aus geht Mirabelles Blick über die Handschuhvitrine weit durch den Raum hinüber zur Modeabteilung. Als der Blick von einem der Mädchen aus der Bekleidungsabteilung erwidert wird, schaut sie wie ein Hündchen zurück, das auf den Hinterbeinen steht, und mit ihren niedlichen Augen, die in ihrem Gesicht wirken wie zwei braune Punkte auf einer Porzellanplatte, fällt sie wirklich auf. Aber alles vergeblich - zumindest heute. Denn dieser Freitag gehört zu jenen, die sie »Tag der Toten« nennt - wenn aus irgendeinem Grund, normalerweise vor irgendeinem Ereignis, zu dem sich alle in Beverly Hills schick machen, die Modeabteilung voller Frauen ist, die kaum Notiz von dem schlanken Mädchen nehmen, das da am hinteren Ende der geheiligten Hallen steht. Es sind die Gattinnen wichtiger Männer. Die Gattinnen der wichtigen Männer wünschen sich eins am meisten: um ihrer selbst willen wichtig zu sein. Diese Wertschätzung erringt man, indem man über alles und jeden Macht ausübt, und sie äußert sich darin, dass man wie besessen Geld ausgibt. Ohne Geld auszugeben würden dreißig bis sechzig Stunden der Woche unausgefüllt bleiben, und was sollte man mit all dieser Zeit anfangen? Dabei geht es nicht allein ums Geldaus geben, sondern auch darum, wie man es organisiert, wie man die Ausgaben verteilt. Es geht um Einstellungen und Entlassungen, die Entscheidung, wofür Geld ausgegeben werden muss, und psychologisch ist es wichtig, dass der Mann stolz darauf ist, wie seine Gattin das Geld ausgibt. Die Möglichkeiten reichen von Kleidung und Schmuck über Möbel und Lampen, Geschirr und Besteck bis hin zu Pflanzensamen und Feuerholz. Manchmal macht es Spaß, beim Ausgeben zu knausern, aber natürlich nicht, um Geld zu sparen, nein, es ist eine Übung in Moral. -14-
Hand in Hand mit dem Verlangen Geld auszugeben geht der Wunsch, Macht über das eigene Erscheinungsbild auszuüben. Nasen werden widernatürlich zurechtgestutzt, Haare werden künstlich aufgebauscht und zu metallisch schimmernden Baisers eingefärbt, und Gesichter werden zu Totenmasken verzerrt. Die Möglichkeiten der Veränderung sind vielfältig - nur bei den Brüsten nicht. Die werden immer vergrößert und verformen sich dabei, aber niemand scheint sich daran zu stören, wenn sie wirken wie zwei Bowlingkugeln auf einem Bügelbrett. Junge Männer, die in Beverly Hills nach jungen Frauen suchen, die aussehen wie ihre gelifteten Mütter, scheitern und verlieren sich in einem Meer ganz natürlich aussehender Fünfundzwanzigjähriger. Während Mirabelle wie hypnotisiert auf diese fremdartigen Wesen starrt, wird ihr eines klar: wie anders es doch hier ist als in Vermont. Dann, weil sie Leerlauf hat wie an jedem Arbeitstag -, verlagert sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, kratzt sich am Ellbogen, spielt mit den Zehen, hebt den Fuß und reibt sich damit an der Wade. Sie schnippt eine Büroklammer einen halben Meter über das Glas des Ladentischs. Sie fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Plötzlich nähern sich Schritte. Automatisch richtet sie sich auf und gibt sich den Anschein eines jederzeit dienstbereiten Mitglieds vom Neiman-MarcusVerkaufsteam, denn Schritte können sowohl auf einen Kontrolleur als auch einen Kunden hindeuten. Was sie dann jedoch sieht, ist ein seltener Anblick in der Handschuhabteilung im dritten Stock: ein Herr, der ein Paar Abendhandschuhe für eine Dame sucht. Er hätte sie gern als Geschenk verpackt, ob das möglich wäre? Mirabelle nickt professionell, und dann fragt sie der Mann, der einen eleganten dunkelblauen Anzug trägt, welches Paar ihrer Meinung nach das schönste wäre. Mirabelle, selbst gern elegant gekleidet, kann wohl etwas zu der Ware sagen, die sie anbietet, und gibt ihm eine kleine Lektion in Handschuhkauf. Es entspinnt sich ein kurzer Dialog darüber, für -15-
welchen Zweck und für wen die Handschuhe bestimmt sind. Der Mann gibt ein paar verlegene und ziemlich vage Antworten wie dies häufig der Fall ist, wenn Männer für Frauen einkaufen , und so erwidert sie schließlich, dass sie die silbernen Satinhandschuhe von Dior für die besten hält. Er nimmt sie, bezahlt mit der Kreditkarte, lächelte sie noch einmal an und geht. Mirabelle schaut ihm nach. Sie richtet den Blick auf seine Schuhe, denn davon versteht sie ein wenig, taxiert ihn und gibt ihm schließlich in allen Kategorien die Bestnote. Als sie ihr Gesicht im Spiegel auf dem Verkaufstisch sieht, bemerkt sie, dass sie rot geworden ist. Ein paar späte Kunden lassen sich noch blicken, doch sie sind wie die Tropfen der chinesischen Wasserfolter, machen die Eintönigkeit nur noch schlimmer. Endlich ist es sechs, doch sie nimmt nicht den Lift, denn der ist bei Ladenschluss manchmal zum Platzen voll, sondern geht die Treppe hinunter zum Erdgeschoss. An den Parfümständen stehen noch ein paar Kunden, auch bei der Kosmetik, wenn auch erstaunlich wenige für einen Freitag. Mirabelle findet, dass die Verkäuferinnen in diesen Abteilungen ein bisschen zu großzügig Gebrauch von ihren eigenen Waren machen - vor allem vom Lippenstift. Mit ihrer Neigung, ein fettiges Burgunderrot dick aufzutragen, schweben sie wie die körperlosen Lippen von Man Ray über einer Landschaft aus Parfümschachteln. Es ist Viertel nach Sechs und stockdunkel draußen, als sie den Beverly Boulevard hinunter nach Hause fährt. In nieselndem Regen fließt der Verkehr zäh wie Schlamm in einer Rinne. Mirabelle trägt ihre Fahrbrille und hält das Lenkrad mit beiden Händen fest. Sie fährt genauso wie sie läuft - übertrieben aufrecht. Mit der Brille wirkt sie wie eine Bibliothekarin aus der Zeit, bevor die Bibliotheken auf CD-ROM gepresst wurden, und ihr 89er Toyota-Truck passt auch zum Gehalt einer Bibliothekarin. Der Regen tröpfelt aufs Dach, im Radio ist die kehlige Stimme von Garrison Keillor zu hören, und so kommt -16-
unter diesen widrigen Umständen eine Art Kaminstimmung auf. Es ist so behaglich, und Mirabelle spürt, wie ein kleiner Schmerz in ihr aufsteigt. Sie schwört sich, dass sie heute Abend nicht allein bleiben wird. Das ist ein ungewöhnlicher Entschluss für Mirabelle. Ihre letzte verhalten draufgängerische Phase hatte sie am College; damals gehörte es einfach dazu, um sich so richtig als Bohemien zu fühlen. Wenn sie nach Hause kommt, wird sie Jeremy anrufen, beschließt sie.
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Im Bett mit Jeremy Mirabelle weiß, auf welch unsicheren Handel sie sich einlässt, wenn sie Jeremy anruft. Dass sie sich ihm anbietet, geschieht in der mehr als vagen Hoffnung, dass er danach bei ihr liegen bleiben wird. Sie geht sehr pragmatisch an die Sache heran und schwört sich, nichts zu bereuen, wenn es schief gehen sollte. Eigentlich, so sagt sie sich, bedeutet er ihr ja weder emotional noch anderweitig etwas. Für Mirabelle gibt es vier Stufen des Beieinanderliegens. Die erste und höchste ist das vollständige Umschließen: Er schlingt seine Arme um sie, und sie schmiegen sich aneinander, wobei er flüstert, wie schön sie ist, und dass er gerade auf Wolke Sieben ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet Jeremy in seiner Jungenhaftigkeit ihr dieses Szenario bietet, ist minimal, so winzig, dass sie durchs Schlüsselloch entschwinden könnte. Es gibt jedoch andere Stufen des Beieinanderliegens, die Mirabelle für heute Nacht durchaus genügen würden. Er könnte auf dem Rücken liegen, und sie würde ihren Kopf auf seine Brust legen, wobei er einen Arm um sie schlingt. Bei der drittbesten Variante würde Mirabelle auf dem Rücken liegen und Jeremy neben ihr, eine Hand auf ihrem Bauch, und die andere würde mit ihrem Haar spielen. In dieser Lage müsste er ein paar liebe Belanglosigkeiten von sich geben, um sie vollständig zufrieden zu stellen. Sie weiß wohl, dass er bisher kaum einen Satz gesagt hat, der nicht mit»... und äh...« endete und dann in Gemurmel verebbte, weshalb es recht unwahrscheinlich ist, dass sie diese lieben Belanglosigkeiten wirklich zu hören bekommt. Aber das könnte durchaus ein Vorteil sein, denn sie kann sein Gemurmel ja interpretieren, wie sie will - vielleicht sind es ja auch wunderschön gereimte Liebessonette. In der vierten Position liegen sie beide auf dem Rücken, und Jeremy hat ein Bein locker über einen ihrer Schenkel gelegt. Dies ist das Minimum, -18-
und wenn er sich so wenig Mühe gibt, muss er dafür extra lang bleiben. Sie erwacht aus ihrer Träumerei - die allerdings so konkret war, dass ein Anwalt danach einen Vertrag hätte formulieren können -, greift nach dem Telefon und wählt. Es klingelt ein paarmal, und bei dem Gedanken, dass er vielleicht nicht zu Hause ist, überläuft sie ein Schauer der Erleichterung. Gerade will sie auflegen, da hört sie, wie klappernd der Hörer abgenommen wird. Am anderen Ende jedoch ist nicht Jeremys Stimme zu hören, sondern sein Fernseher, gedämpft durch das Telefon. Sie wartet darauf, dass er sich irgendwie meldet, hört aber weiter nur den Fernseher. Dann läuft Jeremy durchs Zimmer, macht den Kühlschrank auf, kommt wieder ins Wohnzimmer und lässt sich aufs Sofa fallen. Aus dem Fernseher ist eingespieltes Lachen zu hören, und ein paar Sekunden später Jeremys lautstarkes Schnäuzen. Mirabelle steht da und weiß nicht, was sie tun soll. Er müsste doch sehen, dass der Telefonhörer abgenommen ist. Er hat es doch bestimmt klingeln hören, denkt sie. Jetzt, wo sie sich entschlossen hat, traut sie sich nicht aufzulegen, weil sie dann womöglich die ganze Zeit nur noch das Besetztzeichen zu hören bekommt. Denn das Telefon steht ja offensichtlich nicht auf dem Weg vom Sofa zum Kühlschrank - und eine andere Route wird er heute Abend wohl nicht mehr nehmen. Sie drückt die Lautsprechtaste des Telefons und legt den Hörer auf. Jetzt hört sie zwar die ganze Zeit Jeremys Fernseher, aber wenigstens hat sie die Hände frei. Ihre Wohnung ist so klein, dass sie das Telefon immer in der Nähe hat. Sie schlüpft aus den Schuhen, legt den Rock und die Bluse ab und zieht nur ein übergroßes Hemd über die Unterwäsche. Dann erledigt sie ein paar Hausarbeiten, die vom letzten Wochenende liegen geblieben sind. Ein paarmal ruft sie Jeremys Namen ins Telefon, ohne Ergebnis. Sie ertappt sich dabei, denkt darüber nach, wie das wohl aussieht, und schwört sich, niemals, in ihrem ganzen Leben nicht, wieder so etwas -19-
Entwürdigendes zu tun. Dann, der Fernseher kreischt immer noch, setzt sie sich auf ihren Futon und fängt an zu lachen. Vom Lachen treten ihr ein paar Tränen in die Augenwinkel, und schon schüttelt sie ein Weinkrampf. Auf den folgt ein Schluckauf, von dem sie wieder lachen muss, sodass sie auf dem Futon zur Seite fällt. Jetzt lacht und weint sie gleichzeitig, bis sie schließlich völlig erschöpft ist. Sie ruht sich ein paar Minuten aus und geht dann zum Telefon. Entmutigt will sie gerade auf die Lautsprechtaste drücken, da hört sie Jeremys Schritte auf dem Parkett. Sie werden lauter, kommen eindeutig auf das Telefon zu. Schließlich sind Wähltöne zu hören. Sie wartet. Plötzlich hört sie seine Stimme: »Hallo?« Mirabelle nimmt den Hörer ab und antwortet. »Hier ist Jeremy.« »Weißt du, wen du dran hast?«, erwidert sie. »Ja, Mirabelle.« »Hast du eben bei mir angerufen?«, fragt sie. »Ja.« Da weiß sie, dass Jeremy keine Ahnung hat, was in den letzten zwanzig Minuten passiert ist. Er denkt, er ist gerade zum Telefon gegangen und hat ihre Nummer gewählt, und sie hat abgehoben. Sie beschließt, ihm nichts zu sagen, damit sie nicht in eine endlose Kette von Erklärungen geraten. Es stellt sich heraus, dass er sich heute Abend mit ihr treffen wollte, also lädt sie ihn zu sich ein, und so fügt sich eines zum anderen. Eine halbe Stunde später ist Jeremy da. Er lehnt so schlaff neben der Tür, dass man meinen könnte, er habe sein ganzes Skelett zu Hause vergessen. In der Hand hält er eine Papiertüte, in der etwas übel Riechendes zum Essen steckt. An den Fettflecken auf der Tüte erkennt sie sofort, dass es Pommes frites sind. Aber zumindest ist er so höflich, etwas mitzubringen im Austausch für das, was er gleich bekommen wird. Hastig legt sich Mirabelle eine fünfte Variante zurecht - sie könnte ja auch -20-
einfach mit ihm kuscheln, dann müsste sie nicht die Beine breit machen. Aber ebenso hastig verwirft sie diese Variante, denn es ist ja das wohlige Gefühl danach, auf das es ihr ankommt. Und so beginnt sie das Ritual der Verführung, ohne Worte, ganz von selbst kommt es in Gang, mit einem leichten Erröten ihrer Wangen, dem Nachgeben ihrer Beine und ihrer Bereitschaft, die ein Mann spüren kann, das weiß sie. Wenn Jeremy bloß ein Mann wäre. Stattdessen muss sie ihn geradezu mit der Nase darauf stoßen. Wie gern hätte sie jetzt ein Video von Wuthering Heights da. Sie würde es einlegen und hinzeigen: »Da, kapierst du?« Jeremys Instinkt für die körperliche Liebe erweist sich als ganz passabel, nachdem ihn Mirabelle erst einmal erweckt hat - mit Duftöl und Kerzen, mit Räucherstäbchen und Mus ik und mit billigem Scotch, den beide noch nie vorher getrunken haben. Da Jeremy es nicht schafft, Mirabelles Lust voll und ganz zu entfachen, erreicht ihre Erregung nie den Höhepunkt, und so schafft auch sie es nicht, seine Lust voll und ganz zu entfachen. Also kommt es zu einem zähen Hin und Her mit dem Kondom, das wie folgt abläuft: Sie bringt Jeremy so weit, dass er eine nette kleine Erektion hat, aber bis das Kondom sitzt, dieser lusttötende Überzug, hat die Haltung schon wieder nachgelassen. Mirabelle ist auch nicht gerade entspannt und feucht, sodass sich Jeremys Penis verbiegt und knickt, wenn er versucht, in sie einzudringen. Also müssen sie wieder von vorn anfangen. Sie zieht das Kondom ab, bringt ihn wieder in Erregung, indem sie ihn küsst und mit der Hand stimuliert. Zwischendurch springt die Katze aufs Bett und versucht, mit Jeremys Hoden zu spielen wie mit einem kleinen Wollknäuel, wodurch sich die Sache verhängnisvoll verzögert. Der Kampf mit dem Kondom wiederholt sich, und alles fängt noch einmal an. Das geht so ein paar Mal hin und her: Mirabelle reibt Jeremy heftig, wirft sich dann schnell auf den Rücken, spreizt sofort die Beine - und wieder geschieht das Unvermeidliche. Drei Wesen ringen in -21-
dieser Nacht in Mirabelles Zimmer miteinander: Mirabelle, Jeremy und ein beseelter Penis, der sich ausdehnt und schrumpft wie der Sauerstoffballon eines Anästhesisten. Schließlich jedoch siegt Jeremys Jugend, und er weilt für einen Moment im Paradies. Die Lebensdauer eines Radialreifens - dieser Gedanke schießt Jeremy durch den Kopf, während er versucht, seine drängende Ejakulation hinauszuzögern. Endlich ist es vollbracht, und alle Mühsal hat ein Ende. Die beiden liegen im schattigen Dunkel ohne sich zu berühren, und alles ist still. Ein furchtbarer Abstand liegt zwischen ihnen. Doch dann schiebt sich Jeremys Arm unter ihren Nacken und legt sich um ihre Schulter. Seine Hand greift ihr ins Haar, und sanft zieht er sie zu sich heran. Er schiebt seinen Körper nahe an den ihren. Mirabelle spürt, wie sich ihre Körperausdünstungen vermischen, und es gefällt ihr. Ihre Sinne wenden sich wieder dem Raum zu, und sie riecht den Vanilleduft der Kerze. Sie sieht sich im Schlafzimmerspiegel und bemerkt, dass ihre Brüste durch Jeremys Berührungen, auch wenn sie unbeholfen waren, voller geworden sind, und sie findet, sie sieht gut aus. Jeremy glänzt im gedämpften Licht. Mirabelle sieht sich selbst in die Augen. Sie fühlt sich gut. Da geschieht das Schreckliche: Jeremy macht sich von ihr los, und dann steht er in Unterwäsche am Fußende des Bettes und fängt an zu reden, nein er redet nicht nur, er hält eine Rede. Und was noch schlimmer ist, Mirabelle muss wohl oder übel mit einem gelegentlichen »Aha« darauf eingehen. Die Themen, über die er spricht, lassen sich im Großen und Ganzen unter der Überschrift »Jeremy« zusammenfassen. Er spricht über Jeremys Träume und Hoffnungen, darüber, was Jeremy mag und was er nicht mag, und, leider Gottes, auch ziemlich viel über Verstärker. Dazu gehören Jeremys Ansichten über Verstärker und Kostenanalyse, und die Unterschiede zu den Ansichten seines Chefs über Verstärker. Bei diesem Thema sind die meisten Ahas gefordert, und nur indem sie ihn direkt anstarrt -22-
und die Augen mit Mühe ein wenig weiter öffnet gelingt es Mirabelle, einigermaßen interessiert zu wirken. Im Unterschied zu seinem Penis gibt es bei seinem Wortschwall kein Auf und Ab, nein er strömt beständig, und Mirabelle fragt sich allmählich, ob William Jennings Bryan seinen Ruf als Amerikas bester Redner wirklich noch verdient. Ganze dreißig Minuten lang brüllt und bellt Jeremy Meinungen und Ansichten hinaus die jedoch nie über Jeremys Sphäre hinausgehen. Schließlich versiegt sein Redefluss, er steigt wieder ins Bett, legt den Arm um sie, in einer Position, die Mirabelle völlig neu ist, in der sie aber noch mehr von dem bekommt, was sie sich wünscht. Und trotz des etwas unwürdigen Gehampels von vorhin hat sie das Gefühl, begehrt zu sein, weiß, dass er sie schön findet, dass sie ihn glücklich gemacht und ihm Kraft verliehen hat, und dass er jetzt in einen tiefen Schlaf fällt, nachdem er auf ihr seine Kraft verbraucht hat.
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Das Wochenende Es ist neun Uhr und Mirabelle ist zum zweiten Mal an diesem Morgen wach. Das erste Mal war vor zwei Stunden, als Jeremy ging, sich mit einem Kuss von ihr verabschiedete, der so förmlich war, als würde er einen Smoking tragen. Sie hat es ihm nicht übel genommen, weil, ja weil sie sich das gar nicht leisten konnte. Irgendwie ist sie auch froh, dass er weg ist, denn sie hat keine Lust auf den Stress, einen Mann kennen zu lernen, mit dem sie schon geschlafen hat. Ein kleiner Lichtfleck fällt auf ihr Bett und schiebt sich ganz langsam über die Decke. Sie steht auf, mischt ihr Serzone in ein Glas Orangensaft und kippt es hinunter, als wäre es ein Wodka-Tonic. So stärkt sie sich für das Wochenende. Wochenenden können für jemanden, der so anfällig ist wie Mirabelle, gefährlich sein. Ein kleiner Ausrutscher in der Planung, und sie hängt achtzehn Stunden vor dem Fernseher. Deshalb hat sie sich einer ehrenamtlichen Organisation angeschlossen, deren Mitglieder Häuser für sozial Benachteiligte bauen und instandsetzen - eine Art gemeinnütziger Reparaturtrupp, der sich »Menschlicher Wohnen« nennt. Damit ist ihr Tag ausgefüllt. Am Samstagabend ergibt sich dann oft ein spontanes Zusammensein mit den anderen Mitgliedern in einer nahe gelegenen Bar. Wenn das nicht der Fall ist, wie beispielsweise an diesem Abend, dann macht es Mirabelle auch nichts aus, allein in einen Laden in der Nähe zu gehen, so wie sie es auch heute Abend tut, wo sie vielleicht Bekannte trifft oder sich an einem Drink festhält und der Band zuhört. Wenn sie so in einer Nische sitzt und nach Jeremys Logo auf den Verstärkern Ausschau hält, kommt sie nie auf die Idee, sich selbst zu beobachten, und sieht daher auch nie die hübsche, nette junge Frau, die am Samstagabend allein in einer Bar sitzt. Die sich mit Haut und -24-
Haaren hergeben würde, die ihren Geliebten nie betrügen könnte, die von anderen nichts Böses erwartet, deren Sexualität in ihrem Innern schlummert und darauf wartet, erweckt zu werden. Sie bemitleidet sich nie selbst, höchstens dann, wenn sich die übermächtige Chemie ihrer Depression nicht mehr eindämmen lässt und sie hilflos macht. Sie ist von Vermont hierher gekommen, um ihr Leben zu beginnen, und ist gestrandet in der ungeheueren Weite von L.A., wo sie so gut wie niemanden hat. Immer wieder versucht sie, Kontakte zu knüpfen, aber die Fehlschläge häufen sich und entmutigen sie allmählich. Was sie braucht, ist eine Stimme von oben, die auf sie aufmerksam macht, die Blicke auf sie lenkt und allen sagt, dass sie etwas wert ist - sie, die hier allein an der Bar sitzt -, und die dann ihr Pendant findet und sie zusammenführt. Doch in dieser Nacht lässt sich die Stimme nicht hören, und schweigend erhebt sic h Mirabelle und verlässt die Bar. Am Dienstag wird die Stimme kommen.
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Montag Mirabelle erwacht, und es ist ein frischer Tag in L.A., eisblaue Kälte liegt in der Luft. Von ihrer Wohnung aus kann sie sowohl die Berge als auch das Meer sehen, aber nur, wenn sie den Hals zur Vordertür hinausstreckt. Sie füttert die Katzen, nimmt ihre Medizin und zieht ihre beste Unterwäsche an, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass jemand sie darin sieht außer sie wird in einer Umkleidekabine überrascht. Sie hatte einen netten Sonntag, denn ihre Freundinnen Loki und Del Rey haben dann doch noch zurückgerufen und sie zum Brunch in eines der Straßencafes an der Western Avenue eingeladen. Sie haben geschwatzt und über die Männer in ihrem Leben geredet, darüber, wer schwul ist und wer nicht, wer kokst und es mit allen macht, und Mirabelle hat die Geschichte mit Jeremy zum Besten gegeben. Loki und Del Rey, die ihre Namen Eltern verdankten, die offensichtlich dachten, dass sie immer kleine Kinder bleiben würden, erzählten ähnliche Geschichten, und alle drei bogen sich vor Lachen. Das machte Mirabelle Mut, denn es gab ihr das Gefühl, normal zu sein, wie alle anderen. Aber als sie an diesem Abend nach Hause ging, fragte sie sich, ob sie Jeremy nicht ein wenig betrogen hatte, denn etwas in ihrem Inneren sagte ihr, dass er nicht beim Essen mit seinen Freunden von ihren Aktionen erzählen würde. Dieser kurze Gedanke war ein winziger Schritt zu Jeremys Rehabilitierung, und ein Teil von ihr empfand dadurch sogar Zuneigung zu ihm, wenn auch nur ein ganz kleiner Teil. Zäh schleppt sich der Tag bei Neiman's dahin, nur noch schlimmer als sonst - mit der Aussicht auf einen lustigen Abend mit den Mädels. Heute Abend ist Art Walk in Los Angeles, der Abend, an dem alle Galerien der Stadt offen bleiben und freie Getränke in Plastikbechern spendieren. Die meisten hiesigen -26-
Künstler werden heute in der einen oder anderen Galerie zu sehen sein. Mit ihrem eigenen Talent zum Zeichnen fühlt sich Mirabelle wohl in diesem Umfeld, und da sie vor kurzem einige ihrer neueren Arbeiten in einer Galerie untergebracht hat, ist sie in ihrem Element. Endlich ist es sechs Uhr. Heute Abend hat der Gang vorbei an der Kosmetik und den Parfüms etwas ganz besonders Faszinierendes für Mirabelle. Da Montag ist, sind keine Kunden da, und die Verkäuferinnen stehen nur herum. Mirabelle bemerkt, dass diese Parfümpüppchen zwar munter und lebendig aussehen, solange sie in Bewegung sind, aber ihre Gesichter leer und erstarrt wirken, sobald sie zum Stillstand kommen. Wie eine Osterinsel voll Barbie-Puppen. Sie befreit ihren Wagen aus dem Verlies der Tiefgarage, legt den vierten Gang ein, brettert den Beverly Boulevard hinunter und ist in neunzehn Minuten zu Hause. Acht Minuten nach sieben trudelt sie in der Galerie Bentley ein, wo sie mit Loki und Del Rey verabredet ist. Der Laden kocht nicht gerade, aber zumindest sind so viele Leute da, dass man laut reden muss, und so entsteht trotzdem der Eindruck, dass etwas los ist. Mirabelle trägt ihren engen braunen Rock, dazu flache Schuhe und einen schicken weißen Pulli, durch den ihr glatt geschnittenes nussbraunes Haar schön zur Geltung kommt. Loki und Del Rey sind noch nicht da, und Mirabelle kommt die böse Ahnung, dass sie sich vielleicht gar nicht blicken lassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sie versetzen. Da Mirabelle nie zeigt, dass es ihr schlecht geht, entsteht der Eindruck, sie hätte nie Probleme, und Loki und Del Rey kommen gar nicht auf den Gedanken, dass sie sie schnöde im Stich lassen, wenn sie nicht kommen. Sie nimmt sich einen Plastikbecher voll Wein und tut, was sie immer bei diesen Vernissagen tut, etwas so Seltsames, dass es sie zum Außenseiter macht - sie schaut sich die Bilder an. Es ist eine perfekte Maskerade. Durch den Becher in der Hand wird ihre -27-
Haltung bestimmt, das heißt, sie muss sich keine Gedanken machen, wo sie ihre Hände lässt, und die Bilder an den Wänden geben ihrem Blick ein Ziel, während sie dasteht und auf Loki und Del Rey wartet. Zwanzig Minuten später tauchen die beiden auf, schnappen sich Mirabelle und gehen mit ihr zwei Straßen weiter zu Fire, einer Avantgarde-Galerie - jedenfalls hält sie sich dafür. Die Vernissage hier hat mehr von der Partyatmosphäre, die alle suchen, und ein paar Gäste stehen schon draußen auf der Straße. Loki und Del Rey wollen sich hier warm machen für ihr eigentliches Ziel, die Galerie Reynaldo. Dort, im Herzen von Beverly Hills, werden die Künstler gezeigt, die das große Geld machen, dort brauchen sie die hübschesten Frauen und die angesagtesten Leute für ihre Vernissagen. Nachdem sie bei Fire genug Alkohol konsumiert haben, dass es für den Rest des Abends reicht - bei Reynaldo kommen sie nie und nimmer bis an die Bar -, fahren sie nach Beverly Hills, parken den Wagen, schließen ihn ab und gehen über den Santa Monica Boulevard zur Galerie. Sie drängen sich hinein, schieben sich durch die Menge und dringen schließlich zum Kern der Sache vor. Jemand müsste den Lautstärkeregler herunterdrehen, aber keiner tut es, und man würde einander auch gern zuhören, nur reden alle gleichzeitig. Loki und Del Rey beschließen, sich doch in das Getümmel an der Bar zu stürzen, und zunächst hängt sich Mirabelle noch lose an sie, doch dann werden sie in dem Chaos getrennt und sie findet sich in dem schmalen freien Streifen zwischen der Menge und den Bildern. Nur ist sie diesmal nicht so sehr an den Bildern interessiert, sondern mehr daran, was und wer im Raum zu sehen ist. In einem Meer von Schwarz ist sie die Einzige, die Farbe trägt, und sie ist auch die Einzige, die fast kein Make-up aufgelegt hat - einschließlich der Männer. Ihre Augen wandern umher, sie erblickt einige Stars im gerade aktuellen Nomaden/Wanderer-Look und ein paar gut aussehende Männer, die gelernt haben, den verführerischen -28-
Eindruck zu erwecken, sie könnten perfekte Väter sein. Einer gefällt ihr besonders, einer der wirkt, als wüsste er nicht, dass er gut aussieht, der ein bisschen verloren wirkt und wie ein wirklich arbeitender Künstler und den sie für sich »Künstler/Held« nennt. Sie sieht, dass er merkt, wie sie ihn anstarrt, also wendet sie schnell den Blick - und sieht das passende Gegenstück zu seiner erfreulichen Erscheinung. Es ist Lisa. Lisa ist eines der Mädchen aus der Kosmetikabteilung von Neiman's und Mirabelle schreckt unwillkürlich zurück. Was hat die hier verloren? Diese Person gehört nicht auf eine Vernissage. Das hier ist Mirabelles Revier, was will die hier mit ihrem mühsam zusammengeschusterten Highschool- Abschluss? Aber Lisa behauptet sich, und das hat seinen Grund. Lisa ist zweiunddreißig, und man kann sie als ausgesprochen schön bezeichnen. Sie hat rötliches Haar, das sich in sanften Löckchen auf ihrer Haut ringelt, die nie die Sonne gesehen hat. Sie ist schlank, hat ein ovales Gesicht, und ihre wohlgeformten Beine enden in einem Paar aufreizender hochhackiger Pumps. Ihre Brüste - zugegebenermaßen vergrößert - wölben sich lockend aus dem Ausschnitt ihres Kleides, verbergen erfolgreich das Geheimnis ihrer Künstlichkeit. Sie wirkt heiter - was Mirabelle nur ganz selten gelingt. Lisa trägt sogar beim Mittagessen Stöckelschuhe. Eigentlich ist sie immer ein bisschen zu gut angezogen, denn sie glaubt, ohne auffällige Garderobe würde sie keinem Mann gefallen. Sie redet sich ein, sie arbeite an ihrer Karriere, indem sie Kontakte mit erfolgreichen Männern knüpft, und dass Sex eigentlich keine Bedeutung habe. Und die Männer spielen mit. Sie denken, sie gefallen ihr, und dass sie ihnen deswegen einen runterholt. Durch diese Männer kann sie sich interessant fühlen. Hängen sie denn nicht an ihren Lippen? Sie glaubt, dass sie nur mit einem perfekten Körper geliebt werden kann, und mit Diäten versucht sie, fünf imaginäre Pfunde loszuwerden, die sie zu viel hat für diesen perfekten Körper. Diese Angst, zu dick zu sein, kann ihr -29-
keiner ausreden. Sie lässt sich keines Besseren belehren, auch nicht von den aufrichtigsten ihrer Liebhaber. Lisa macht es Spaß, in Bars zu gehen und sich über Intellektuelle lustig zu machen, indem sie so tut, als wäre sie zu haben. Je hemmungsloser es zugeht, desto wohler fühlt sie sich, und je mehr Leute sich in einen Mercedes quetschen, um zu einer Party nach Beverly Hills zu fahren, umso überzeugter ist sie, dass sie sich amüsiert. Mit ihren zweiunddreißig Jahren denkt Lisa noch nicht an die vierzig, und sie kann sich noch nicht vorstellen, dass sie tatsächlich etwas zu sagen haben muss, damit ihr jemand zuhört. Der Haken ist, dass die Männer, die sie jetzt mit ihrer Hülle anzieht, sie nur auf einer primitiven Ebene begehren, wie das Kind einen glänzenden Gegenstand, der Geräusche macht, wenn man ihn schüttelt. Ältere Männer, die nach einem Spielzeug suchen, oder unreife Jungs, getrieben von ihren Hormonen, sind auf diesem Terrain häufiger zu finden als die klar Denkenden Ende zwanzig oder Anfang dreißig, die auf der Suche nach einer Frau sind. Doch es gibt noch eine dritte Kategorie Männer, denen Lisa gefällt. Das sind diejenigen, deren Verhältnis zu Frauen bestimmt wird durch Besessenheit und Besitz, und mehr als einmal in ihrem Leben wird sie einem solchen Mann zum Opfer fallen. Für Mirabelle hat Besessenheit etwas Verlockendes, sie verbindet es mit starker Liebe. Nur ist ihr nicht bewusst, dass Männer von schönen Frauen besessen sind, weil sie sie keinem anderen gönnen, sich jedoch in Frauen wie Mirabelle verlieben, weil sie einen ganz bestimmten Teil von ihnen begehren. Mirabelle wendet sich ab, nicht gewillt, sich von dieser karminroten Marilyn einschüchtern zu lassen. Oberflächlich starrt sie auf ein Bild und belauscht dabei ein Gespräch neben ihr. Zwei Männer versuchen, auf den Namen des Künstlers zu kommen, der in seinen Bildern Wörter verwendet. Den New Yorker Roy Lichtenstein verwirft sie schnell, denn die Unterhaltung hat sich an die falsche Küste verirrt. -30-
»Meinen Sie vielleicht Ed Ruscha?«, fragt sie. Beide Männer schnippen mit den Fingern und beginnen ein Gespräch mit Mirabelle. Nach zwei Sätzen bemerkt sie, dass der eine von ihnen der unmöglich perfekte, verloren aussehende Künstler/Held ist, der ihr vor ein paar Minuten aufgefallen ist. Das stachelt Mirabelle zu einer gewissen Redseligkeit an, zumindest, was das Thema »Kunst in L.A.« angeht, bei dem sie sich durch Galeriebesuche und Kritiken auf dem Laufenden hält. Sie präsentiert sich dem Künstler/Held als ernst zu nehmende, interessante und geistreiche Gesprächspartnerin. Deshalb bleibt sie auch ruhig, als Lisa herüberkommt, nimmt sie in der Gruppe auf und stellt großzügig ihre Vorbehalte zurück. Ihr ist nicht klar, dass Lisa die Unterhaltung bereits an sich gerissen hat, mit ihren blitzenden Augen und dem gezielt eingesetzten Lachen, dass sie sich schon in die Hirnspalten des Künstlers/Helden geschoben hat, ihm unterschwellig suggeriert, dass er ihr gefällt, sogar sehr gefällt. Sie spricht seine schwächste Seite an, und schließlich hat sie ihn in der Hand. Später sieht man, wie der Künstler/Held sich ihre Telefonnummer geben lässt. Mirabelle trifft es nicht, dass er sich ihr nicht genähert hat, denn in ihrer Selbstunterschätzung käme sie überhaupt nicht auf die Idee, dass er es tun könnte. Mirabelle ist nicht klar, dass es Lisa gar nicht um den Künstler/Helden ging, sondern um sie. Sie erkennt nicht, dass sie einer Gegnerin unterlegen ist, die das Handschuhmädchen aus dem Feld schlagen will. Für Lisa hat sie wieder einmal die Überlegenheit der Kosmetikabteilung gegenüber der Handschuhabteilung und damit auch gleich der Modeabteilung bewiesen. Während des restlichen Abends nimmt Mirabelle noch an verschiedenen guten Gesprächen teil. Diese klugen Unterhaltungen geben ihr das Gefühl, dass sie eigentlich genau hierher gehört, dass sie sich hier am besten entfalten kann. Nachdem Loki und Del Rey sie vor Galerie Nr. l bei ihrem Auto -31-
abgesetzt haben, fährt sie nach Hause, rekapituliert die besten Argumente des Abends und überlegt, welche sie am überzeugendsten findet. Punkt Mitternacht schlüpft sie ins Bett, nachdem sie sich noch einen Spaß gemacht hat, indem sie den Katzen ihr Futter in einen Napf schüttete, auf dem »Braver Hund« steht. Sie schließt die Augen und drückt auf den Lampenschalter. Kurz darauf, sie liegt still da, spürt sie etwas Schreckliches in ihrem Kopf. Es bleibt einen flüchtigen Moment, verschwindet dann. Sie weiß nicht, was es ist, nur, dass es ihr nicht gefällt.
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Dienstag Es ist Mitte November, der Geruch von Thanksgiving hängt in der Luft, und das heißt, Weihnachten steht auch schon vor der Tür. Die zunehmende Anzahl von Kunden zwingt Mirabelle, ihre Lieblingsposition - mit den Ellbogen auf den Verkaufstisch gestützt - aufzugeben, denn die kann sie sich nur erlauben, wenn absolut niemand in Sicht ist. Sie lässt das Mittagessen ausfallen, denn sie muss zu Dr. Tracy, um sich ein neues Rezept für ihr Serzone zu holen. Er stellt ihr ein paar Fragen, die sie ordnungsgemäß beantwortet, und dann füllt er ihr das Rezept aus. Sie ist erleichtert, denn ihr Vorrat ist beängstigend zusammengeschrumpft, und sie ist froh, wenn sie das neue Rezept hat, ehe er endgültig zur Neige geht, und zwar möglichst ein paar Wochen, nicht erst vier Tage vorher. Sie hat Angst, dass etwas Unvorhergesehenes passiert, dass der Doktor zum Beispiel plötzlich verreist, und sie dann auf dem Trockenen sitzt. Sie lässt sich auch ein neues Rezept für die Antibabypille ausstellen, die sie nicht so sehr wegen der Verhütung nimmt, sondern mehr wegen ihrer Periode, die in letzter Zeit beunruhigend unperiodisch war. Der Rest des Tages bei Neiman's ist die Hölle, denn heute Abend gibt es keinen Art Walk, auf den sie sich freuen kann, heute gibt es gar nichts. Sie will lesen, vielleicht ein bisschen zeichnen oder sich einen alten Film auf dem Klassiker-Kanal anschauen. Vielleicht schafft sie es ja auch, mit Loki zu telefonieren. Gegen Ende des Tages tut ihr der Rücken weh und die Füße brennen. Sie macht die Kasse eine halbe Stunde vor Ladenschluss fertig, denn sie weiß, dass jetzt keine Kunden mehr kommen. Als es sechs Uhr ist, muss sie nur noch einen Knopf drücken, und die Kasse ist zu. Glücklich ist sie etliche Minuten früher draußen und im Auto. -33-
Jetzt vor den Feiertagen staut sich regelmäßig der Verkehr in den Straßen von Los Angeles. Sogar die Schleichwege sind verstopft, und Mirabelle nutzt die Zeit, die sie im Auto sitzt, um die nächsten Monate zu planen. Von Weihnachten bis Neujahr wird sie in Vermont sein, zu Besuch bei ihren Eltern und ihrem Bruder. Das Flugticket hat sie schon, sie hat es vor Monaten zu einem unglaublich günstigen Preis gekauft. Thanksgiving ist noch offen, und sie weiß, dass sie sich dafür etwas einfallen lassen muss. An Thanksgiving allein zu sein, das ist wie ein Todesurteil. Vergangenes Jahr war zufällig ein Onkel in der Stadt und hat sie in letzter Minute erlöst. Erst hatte er sie zu einem kleinen Beisammensein in einem Restaurant eingeladen, doch dann wollte er ihr an die Wäsche. Ein schlimmer Abend, denn auch die Gesellschaft beim Essen war mies, eine langweilige Truppe, die jede Menge Steaks und Zigaretten konsumierte. Eins verband sie, ausgerechnet an diesem Tag des Dankes, an Thanksgiving: von Dank keine Spur. Der Onkel, ein Bruder ihrer Mutter, den sie sonst kaum zu Gesicht bekam, fuhr sie nach Hause. Er war voll wie eine Haubitze, und unter dem Vorwand, sich ihre hübsche Halskette anzuschauen, fuhr er ihr mit dem Handrücken über die Bluse. Als er sie fragte, ob er mit reinkommen dürfe, sah Mirabelle ihm fest in die Augen und sagte: »Das erzähle ich Ma.« Der Onkel stellte sich dumm, brachte sie schwankend bis zur Tür, ging wieder zum Auto, legte den Rückwärtsgang statt des ersten Gangs ein, und machte sich aus dem Staub. Auf einmal ist Mirabelle zu Hause, ohne dass sie sich an Einzelheiten der Fahrt erinnern kann. Sie parkt ihren Wagen auf ihrem Duplexstellplatz und schleppt eine Tüte mit Einkäufen, ihre Handtasche und einen leeren Karton die Außentreppe hinauf zu ihrer Bleibe, die hoch über Los Angeles in der Luft hängt. Oben angekommen kramt sie nach ihrem Schlüssel, und als sie die Tüte abstellt, um ihn aus ihrer Handtasche zu holen, sieht sie das Päckchen vor ihrer Tür, in braunes Papier -34-
eingewickelt und mit breitem Paketband zugeklebt. Es trägt einen Poststempel und ist ungefähr so groß wie ein Schuhkarton. Mit den Schultern schiebt Mirabelle die Tür auf, die, da es seit einer Woche regnet, ein wenig schmierig ist. Sie legt das Paket auf dem Küchentisch ab, schüttet etwas Katzenfutter in einen Napf und hört ihren Anrufbeantworter ab. Keine Nachrichten. Dann setzt sie sich an den Küchentisch und schneidet mit einer Schere die derbe äußere Verpackung des Päckchens auf. Darunter wird eine blassroter Geschenkkarton sichtbar, mit teurem weißen Band umwickelt. Sie durchschneidet das Band und öffnet den Karton. Eine Lage Seidenpapier kommt zum Vorschein, und darauf ein kleines Kärtchen in einem Umschlag. Sie hält es hoch, schaut sich die Vorderseite an, dreht es dann um und betrachtet die Rückseite, kann jedoch keine Spuren oder Markenzeichen erkennen. Als sie das Seidenpapier beiseite schiebt, kommt das Paar silberner Satinhandschuhe zum Vorschein, das sie letzten Freitag verkauft hat. Sie öffnet den kleinen Umschlag und liest: »Ich würde Sie gerne zum Essen einladen.« Das Kärtchen ist mit »Mr. Ray Porter« unterschrieben. Sie lässt den Karton in einem Haufen zerknü llten Papiers auf dem Tisch stehen und geht aus der Küche. Aufgeregt läuft sie in der Wohnung hin und her, kehrt mehrmals in die Nähe des Kartons zurück, rührt ihn jedoch den ganzen Abend nicht mehr an. Sie hat Angst, ihn zu bewegen, weil sie nicht weiß, was er bedeutet.
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Monotonie Mirabelles Ehrgeiz beläuft sich auf ungefähr ein Promille dessen, was man als normal bezeichnen würde. Seit zwei Jahren ist sie jetzt bei Neiman's und ist in dieser Zeit nicht einen Zentimeter weitergekommen. Sie sieht sich in erster Linie als Künstlerin, und welchen Job sie macht, spielt eigentlich keine Rolle. Es ist egal, ob sie Handschuhe verkauft oder Wohnungen malert, denn ihre wirkliche Arbeit macht sie am Abend mit dem Zeichenstift. Daher entwickelt sie keinerlei Ehrgeiz in den Jobs, die sie tagsüber macht, und wie sie dazu kommt und wann sie sie wechselt, das überlässt sie ganz dem Zufall. Ihr ist nicht bewusst, dass manche Leute wie Straßenkatzen um gute Posten kämpfen. Sie legt einen Lebenslauf vor, schreibt eine Bewerbung, wartet, und schließlich ruft sie an, um zu erfahren, ob sie die Stelle bekommen hat. Normalerweise hört sie dann von einer verdutzten Sekretärin, dass der Job schon seit Wochen vergeben ist. Es ist auch ihre ziellose Art, sich anzubieten, die ihr das Gefühl gibt, hilflos umherzutreiben. Wozu sie sich jedoch aufraffen kann, das ist, in Galerien zu gehen und den Inhabern ihre Zeichnungen vorzulegen. Sie knüpft Kontakt mit einer Galerie auf der Melrose Avenue, die eine Zeichnung von ihr nimmt und sie tatsächlich ein halbes Jahr später verkauft. Aber dieser Nebenverdienst reicht nicht aus, um ihren Job als Verkäuferin aufzugeben, und die Inspiration, die sie zum Zeichnen braucht, zehrt an ihren Kräften. Irgendwie findet sie die Monotonie bei Neiman's eigent lich auch ganz gut. In gewisser Weise ist sie ja, wie sie da am Handschuhstand steht, die Beine an den Fesseln übereinander geschlagen, perfekt, und außerdem gibt ihr diese sich ständig wiederholende Tätigkeit ein Gefühl der Erfüllung. Und so sieht sie sic h ihrem Antipoden gegenüber, als sie im Time Clock Café zufällig auf Lisa trifft. Es ist, als ob jemand all -36-
ihre Gedanken, jeden ihrer Charakterzüge, all ihre Überzeugungen ins Gegenteil verkehrt und ihnen eine rote Perücke übergestülpt hätte. Lisa, die sich aus reiner Neugier für Mirabelle interessiert - so wie sich eine Katze für ein Staubkörnchen interessiert -, lädt sie zu sich an den Tisch ein. Aber wie die Katze, so hat auch Lisas Neugier verborgene Krallen, und sie weiß, dass sie sich dem Handschuhmädchen deswegen annähert, weil sie ihm so gleich wie möglich werden will. Wäre Immanuel Kant nach seinem mittäglichen Termin beim Psychiater zufällig Zeuge dieser Mittagspause geworden, er hätte wohl schnell erkannt, dass Lisa ganz Erscheinung ohne Idee ist, Mirabelle hingegen ganz Idee ohne Erscheinung. Mirabelle hat das Talent, in aller Ausführlichkeit ganz praktische Dinge zu erörtern. In dieser Hinsicht ist sie aus demselben Holz geschnitzt wie Jeremy. Sie kann endlos darüber reden, wie Handschuhe aufzubewahren sind. Dass ihre eigenen Ideen viel besser sind als das gegenwärtige System bei Neiman's, und wie ihr Vorgesetzter sich aufgeregt hat, als er entdeckte, dass sie die Handschuhe nicht der Farbe, sondern der Größe nach sortiert hatte. Heute erzählt sie Lisa darüber, wie kompliziert es ist, bei Neiman's zu arbeiten, auch wegen der persönlichen Macken ihrer vielen Chefs. Die aufzuzählen, dauert eine Weile, denn praktisch jeder bei Neiman's ist ihr Chef. Mirabelles Äußerungen sind nicht als Kritik gemeint, eher als wohlmeinende Beobachtungen, und Lisa ist verwirrt, weil sie keine Hintergedanken ausmachen kann. Tom, der regelmäßige Mirabelle-Beobachter, hat die beiden erblickt und versucht, Mirabelle von den Lippen abzulesen, während er an seinem Sandwich kaut. Er hat auch bemerkt, dass Mirabelle ihre Beine leicht auseinander hält, sodass er ihr durch einen winzigen Spalt unter den Rock schauen kann. Daher bleibt er ein bisschen länger sitzen als sonst und bestellt sich ein Dessert - eine Kalorienbombe, die eigentlich nicht gut für ihn ist. Die ständige -37-
Bewegung von Mirabelles Beinen versetzt Tom jedoch in eine solche Erregung, dass durch den damit verbundenen Adrenalinstoß ein Teil der überschüssigen Kalorien schon wieder verbraucht wird. Dann auf einmal reckt sich Lisa, und ihr vorspringender Busen bringt Toms Kalorienbilanz wieder vollständig ins Lot. Mirabelle erzählt Lisa von dem mysteriösen Päckchen mit den Handschuhen und gibt Lisa damit dummerweise Einblick in ihre Intimsphäre. Lisa lächelt weiter amüsiert, aber in ihrem Inneren gärt es, weil nicht ihr diese Geschichte passiert ist. Sie fragt sich verzweifelt, warum das Schicksal diesen Mann nicht durch ihr Revier geführt hat. Und dann gibt sie Mirabelle Ratschläge, die deren Wesen so fremd sind, dass sie überhaupt nichts davon begreift. Sie soll sich reserviert verhalten oder versuchen, an seine Kreditkarteninformationen zu kommen oder gar das Paket ungeöffnet zurückschicken. Lisa ist so erregt von dem Thema, das sie all ihre Pose Mirabelle gegenüber fallen lässt und ihr Innerstes und Finsterstes herauslässt. »Wenn sich ein Mann an mich heranmacht, dann weiß ich doch genau, was er will: bumsen.« Mirabelle fährt auf, und unwillkürlich presst sie ihre Beine zusammen - woraufhin Tom um die Rechnung bittet. »Und wenn er mir gefällt, bums ich mit ihm - so lange, bis er süchtig nach mir ist. Und dann lass ich ihn zappeln. So krieg ich ihn.« Da haben wir die Weite, die Tiefe und die Grenzen von Lisas Philosophie. Mirabelle hält inne, das Glas an den Lippen und starrt auf Lisa wie auf die ersten Bilder außerirdischen Lebens. Sie lenkt das Gespräch in andere Bahnen, man redet noch ein wenig über verschiedene Themen, sodass Lisa wieder auf der Erde landen kann, und dann teilen sie sich die Rechnung. Lisa hat all ihre Intelligenz und Intuition zusammengerafft und das ist nicht gerade wenig - und starrt mit einem -38-
Zyklopenauge auf die Seifenopern, die in einem kleinen Karree in Beverly Hills spielen, auf das sich ihr Leben beschränkt. Mirabelles nach außen gerichtete Intelligenz sammelt Informationen, und noch sind sie nicht ausgegoren und brauchen vielleicht auch noch ein paar Jahre, um zu reifen. Aber sie hatte immer das Gefühl, dass mit dreißig ihre besten Jahre beginnen werden, und da sie noch in den Zwanzigern ist, muss sie nichts überstürzen. Der Rest des Tages und die nächsten beiden Tage schwingen in einem lethargischen Rhythmus dahin. Die Zeit, die sich zu langsam bewegt, um sie mit einem Metronom zu messen, wird gezählt nach Mittagspausen und Feierabend, nach Kunden, unterbrochen nur durch eine gelegentlich aufsteigende Neugier wegen des geheimnisvollen Päckchens und ihre Erinnerung an den Mann, der es geschickt hat. Die Vormittage sind mitunter vergleichsweise geschäftig, und neben denen, die nur schauen und die Handschuhabteilung durchstreifen, als blickten sie in ein Stereoskop, um alte Fotos zu betrachten, kommen sogar ein paar Käufer. Mit einem EEG aufgezeichnet, fiele Mirabelles Hirntätigkeit auf einen Pegel, den die meisten Wissenschaftler als Schlaf interpretieren würden. Am Donnerstagnachmittag lebt sie durch eine begeisterte japanische Touristin wieder auf, die kaum glauben kann, dass sie tatsächlich die Handschuhabteilung gefunden hat, und die gleich zwölf Paar kauft, die nach Tokio geliefert werden sollen. Da muss die Adresse aufgenommen werden, die Versandkosten müssen berechnet, die Handschuhe eingepackt und Geschenkkärtchen geschrieben werden. Die Kundin möchte auf allem den Namen Neiman's, auch auf den Kärtchen, und Mirabelle telefoniert im ganzen Haus herum, um die alten Kärtchen mit dem eingeprägten Namen zu besorgen. Für Mirabelle ist das wie ein kleiner Marathon, und danach ist sie kaputt, jammert herum und muss an diesem Abend zeitig ins Bett. Nachdem schließlich das letzte Detail der internationalen -39-
Transaktion abgeschlossen ist, dankt sie der Frau mit dem einzigen Wort in einer Fremdsprache, das die Angestellten von Neiman's beherrschen müssen: Arigato. Die Frau nimmt den Kassenzettel, steckt ihn in ihre Tüte, die bereits mit Einkäufen voll gestopft ist, dankt Mirabelle heiter mit einer freundlichen Verbeugung und geht dann zwölf Schritte rückwärts, bis sie sich schließlich nach Westen wendet und Kurs auf die Modeabteilung nimmt. In diesem Moment bemerkt Mirabelle, dass ein Mann schräg hinter ihr steht, und als sie seine Stimme hört, dreht sie sich um. »Und - gehen Sie mit mir essen?« Als Mirabelle nichts erwidert, sagt er: »Mein Name ist Ray Porter.« »Oh«, sagt sie. »Entschuldigen Sie, wenn ich vielleicht ein bisschen zu direkt war«, fährt er fort, »aber ich probiere gerade eine neue Lebenseinstellung aus, und dazu gehört es, direkt zu sein.« Und während Mr. Ray Porter ihr erklärt, woher er die Kühnheit nahm, ihr die Handschuhe zu schicken, taxiert Mirabelle ihn. Ihre Intuition, auch wenn sie schon ein wenig eingerostet ist, durchleuchtet ihn mit einem Blick und keine Warnsignale ertönen. Er trägt Berufskleidung, einen schicken blauen Anzug, wenn auch ohne Krawatte. Alles an ihm, Größe, Maße, Gewicht, ist normal. Sie schaut noch einmal auf seine Schuhe - auch die sind in Ordnung. Dann, im Bruchteil einer Sekunde, registriert sie, dass er ungefähr fünfzig Jahre alt ist. Ohne an Lisas komplizierte Anweisungen zu denken, fragt Mirabelle Mr. Ray Porter, wo er herkommt. Er erzählt, dass er in Seattle lebt, in Los Angeles aber eine Wohnung hat, weil er hier Geschäfte macht. Sie fragt ihn, ob er verheiratet ist, und er erwidert, dass er seit vier Jahren geschieden ist. Sie will wissen, ob er Kinder hat, und er antwortet mit »Nein«. Eine Frage allerdings stellt sie nicht, obwohl die sie am meisten bewegt: Warum ich? Im weiteren Verlauf dieser vorsichtigen Sondierung wird entschieden, dass sie sich am Sonntag um acht Uhr abends bei einem Italiener in Beverly Hills treffen. Mirabelle lehnt das -40-
Angebot, sich von ihm abholen zu lassen, dankend ab, und Mr. Ray Porter hat kein Problem damit. Das befreit sie von allen Bedenken, die sie vielleicht dagegen haben könnte, mit einem vollkommen Fremden auszugehen - sie kann selbst nach Hause fahren. Er hat etwas Unkompliziertes an sich, sie fühlt sich entspannt, und jeder von ihnen gibt genau einen halb lustig gemeinten Spruch zum Besten. Sie sehen sich beide um, ob jemand sie beobachtet, und er scheint wohl zu wissen, dass es nicht gern gesehen wird, wenn Angestellte mit Kunden flirten, obwohl es umgekehrt ganz normal ist. Er verabschiedet sich mit der Bemerkung, dass er wohl eine Karte brauchen wird, um die Handschuhabteilung wiederzufinden, sagt dann noch etwas in der Art, wie sehr er sich freut, dass sie seine Einladung annimmt, errötet ein wenig und verschwindet dann um die Ecke.
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Mr. Ray Porter Es ist nichts allzu Geheimnisvolles an Ray Porter, jedenfalls nicht im üblichen Sinne des Wortes. Er lebt allein, er ist nett, er versucht zurechtzukommen, und er versteht sich selbst nicht, ebenso wenig wie die Frauen oder seine Beziehung zu ihnen. Aber eine Sache lässt sich mit Sicherheit über einen Mann sagen, der eine Frau zum Essen einlädt, bevor er überhaupt ein privates Wort mit ihr gewechselt hat: Mr. Ray Porter ist auf der Suche. Er kennt Mirabelle nicht, er hat sie bis jetzt nur gesehen. Irgendetwas hat sein Gefühl angesprochen, aber dieses Gefühl ist nur in ihm, es ist nicht zwischen ihnen. Noch nicht. Es existiert nur in seiner Vorstellung, dieses Wesen, das ihre Kleider trägt, mit ihrer Haut und ihrem Körper. Er hat sich vorgestellt, wie schön es ist, sie zu berühren, hat sich vorgestellt, wie schön sie es findet, berührt zu werden. Sie ist ein weibliches Objekt, das ihn an seiner animalischen Ehre packt. Ausgehend von Mirabelles Handgelenk macht er sich ein Bild von ihrer Halsgegend, stellt sich das Tal zwischen ihren Brüsten vor und weiß, dass er sich darin verlieren kann. Er hat keine Ahnung, was er weiter mit ihr vorhat, aber er wird nicht um jeden Preis versuche n zu bekommen, was er will. Wenn er das Gefühl hat, er könnte Mirabelle damit verletzen, würde er sich zurückhalten. Aber er weiß nicht, wann und wie man Menschen verletzt. Er kennt die Feinheiten von Kränkung und Schmerz nicht, weiß nicht, dass es nicht die großen Katastrophen sind, die am meisten wehtun, sondern eher die kaum wahrnehmbare, beunruhigende Veränderung im Tonfall einer Äußerung, die sich vielleicht am tiefsten ins Herz einschneidet. Ihm kommt es so vor, als wäre nichts in der Welt der Beziehungen allgemein gültig, als würde nichts den Gesetzen der Logik folgen, und als käme er auf seiner Suche nach Zusammenhängen nie ans Ziel. Es ist kein Zufall, dass er sich zu Mirabelle hingezogen fühlt. -42-
Er geht nicht einfach so herum und verschickt in der ganzen Stadt Päckchen mit Handschuhen. Was er getan hat, war eine ganz spontane und speziell auf sie gerichtete Reaktion, auf etwas in ihr. Möglicherweise war es ihre Haltung - aus zwanzig Meter Entfernung sieht sie ziemlich daneben und mitleiderregend aus. Oder vielleicht auch ihre Knopfaugen, die sie unschuldig und verletzbar wirken lassen. Was es auch war, es hat an einem winzigen Punkt seinen Ausgang genommen, und den könnte Mr. Ray Porter nie benennen, nicht einmal unter Folter. Sein kleines Haus in den Hollywood Hills und dessen Einrichtung sprechen eine deutliche Sprache: Mr. Ray Porter hat Geld. So viel, dass es nie ein Problem ist, wann und wo auch immer. Die Beleuchtung allein schon verrät es. Kleine versteckte Halogenspots wechseln sich mit warmen Leuchten ab, und so entsteht ein gedämpfter gelblicher Schein, der deutlich die Handschrift des Innenarchitekten trägt. In dem Haus, das als Zweitwohnsitz dient und nur bei geschäftlichen Aufenthalten genutzt wird, liegen keine persönlichen Gegenstände verstreut. Es ist anonym, so wie ein teueres Hotelzimmer im Urlaub, in dem man sich am liebsten gleich ausziehen und zum Bumsen ins Bett springen möchte. Im Schlafzimmer gibt es einen Kamin und gegenüber ein antikes Bett mit Baldachin. Zu beiden Seiten stapeln sich Bücher, alles Sachliteratur, und in allen stecken drei oder vier Lesezeichen. Das Haus hat genau den Blick auf die Stadt, der Mirabelle wie zufällig verwehrt wird. Die Ordnung, die sich in diesem Haus auf jedem Couchtisch und jeder Badkonsole manife stiert, gehört nicht zum Wesen von Ray Porter. Sie gehört jedoch zu den Eigenschaften, die er bewundert und sich daher leistet, indem er eine besessene Putzfrau dafür bezahlt. In der Garage stehen zwei Wagen. Der eine ist ein grauer Mercedes und der andere ein grauer Mercedes. In dem zweiten -43-
grauen Mercedes transportiert er seine Sportausrüstung, damit er sie nicht immer ein- und ausladen muss, wenn ihm nach einer Runde Radfahren ist. Unvereinbar mit dem Rest des Mercedes hängt der Fahrradträger am Heck, und im Kofferraum liegen ein Paar Rollerblades und ein Tennisschläger. Wenn Mr. Ray Porter das Schicksal herausfordert und sich im Straßenverkehr sportlich betätigt, trägt er eine Art Ritterrüstung des 21. Jahrhunderts, die zwar den gleichen Schutz bietet, aber kein bisschen Romantik: einen stromlinienförmigen Plastikhelm, Ellenbogenschützer und Knieschützer. Er legt dieses Outfit sommers wie winters an, das heißt, drei Monate im Jahr trägt er große schwarze Knieschützer zu Shorts. Wenn Ray Porter auf seinem Fahrrad sitzt und eine Hauptstraße von Seattle entlangstrampelt, dann ist der einzig sichtbare Unterschied zwischen ihm und einem Insekt die Größe. Die Küche ist der am wenigsten benutzte Raum des Hauses. Seit seiner Scheidung erfüllt sie den gleichen Zweck wie ein mittelamerikanisches Wohnzimmer, sie ist nur zum Anschauen da. Normalerweise geht er essen allein -, oder er versucht, den Abend mit Freunden oder einer Verabredung zu füllen. Diese Verabredungen zum Abendessen, die hauptsächlich dazu dienen, die Einsamkeit zwischen acht und elf Uhr abends zu vertreiben, sind für ihn schlimmer als ein Jahr Einzelhaft. Denn selbst wenn sie aussehen wie Verabredungen und klingen wie Verabredungen und manchmal eine Liaison daraus wird, so sind sie doch für ihn keine wirklichen Verabredungen, sondern eher nette Abende, die mitunter im Bett enden. Er nimmt fälschlicherweise an, dass seine Auffassung von der Bedeutung dieser Abende auch von seinem Gegenpart geteilt wird, und ist dann tief bestürzt oder überrascht, wenn die eine oder andere der Frauen, mit denen er sich in den letzten Monaten getroffen und mehrmals im Bett war, tatsächlich meint, sie wären ein Paar. Aufgrund dieser Erfahrungen denkt er nun sehr genau darüber nach, was er tut und wohin er will. Und dieses Nachdenken hat -44-
dazu geführt, dass er sich jetzt darüber im Klaren ist, dass er nicht weiß, was er tut und wohin er will. Sein Berufsleben läuft bestens, aber was Beziehungen angeht, ist er minderjährig, und eigentlich ist die Ausbildung, die er jetzt in diesem Fach beginnt, dreißig Jahre überfällig. Sein Interesse an Mirabelle rührt aus dem Teil von ihm her, der immer noch meint, er könnte sie besitzen, ohne Verpflichtungen einzugehen. Er glaubt, er kann den Abend mit ihr verbringen, und sie beide könnten sich in eine von ihnen geschaffene Welt des Privaten und Persönlichen begeben, die dann in den restlichen Stunden, an den restlichen Tagen ohne sie nicht existieren würde. Er denkt, dass diese Welt unabhängig von den anderen Welten wäre, die er sich vielleic ht an einem anderen Abend, an einem anderen Ort auch noch schafft, und er möchte nicht, dass sie seine aufrichtige Suche nach einer Partnerin beeinträchtigt. Er glaubt, dass sich Geben und Nehmen in dieser Affäre absolut in der Balance halten werden, und dass beide wissen, welchen Nutzen sie davon haben. Aber weil er sich Mirabelle nur wegen ihres Aussehens ausgesucht hat, weiß er nicht, dass ihre Zerbrechlichkeit, die er gewittert und gespürt hat und die ihn anlockt, tief in ihrem Herzen verwurzelt ist, zu ihrem Wesen gehört und sich nicht herauslösen lässt, nur damit er mit ihr schlafen kann. Ray und Mirabelle haben ein ähnliches Verhältnis zu Kleidung. Er kleidet sich gern modisch, wenn auch seinem Alter entsprechend. Er hat eine Menge toller Anzüge, und sein Geld erlaubt es ihm, auch einmal Fehler zu machen und sich dann von ihnen zu trennen. In seinem Kleiderschrank sind all die Sachen, die er in L.A. trägt, er kann also ohne Koffer zwischen Seattle und L.A. reisen. Der Haken dabei ist, dass er zu Hause ankommt und ein Hemd sieht, das er drei Monate lang nicht getragen hat, weil er einfach nicht da war, und so das Gefühl bekommt, er würde in einen völlig neuen Look schlüpfen. Seine Freunde in L.A. sehen das ganz anders, denn für sie trägt er genau das -45-
gleiche Hemd wie beim letzten Mal. Seine Abneigung dagegen, mit Gepäck zu reisen, die ihn letztendlich veranlasst hat, sich ein Haus in L.A. zu kaufen und dort seine Garderobe aufzubewahren, beruht darauf, dass er ein wenig von der Idee besessen ist, mit seiner Zeit hauszuhalten. An einem Gepäckband zu stehen, umdrängt von anderen Passagieren, auf Hunderten ähnlicher Koffer nach einer Nummer Ausschau halten, die mit der auf dem Gepäckschein übereinstimmt - den er natürlich nie findet -, das will ihm nicht in den Kopf. Er hat keine Zeit, sich mit solchen Problemen herumzuschlagen, vor allem nicht, wenn er sie lösen kann, indem er ein Haus kauft. Dieser Drang nach Effizienz bestimmt viele seiner täglichen Handlungen. Wenn er sich sein Frühstück macht, dann erledigt er erst alle Tätigkeiten, die auf der einen Seite der Küche zu verrichten sind, bevor er sich an die auf der anderen Seite macht. Er würde nie zum Kühlschrank gehen, um Orangensaft zu holen, dann zum Vorratsschrank, um Müsli zu holen und danach wieder zurück zum Kühlschrank, diesmal wegen der Milch. Dieses Verhalten entspringt einer in seinem Inneren verborgenen Logik, mit der auch ein auf Effizienz programmierter Roboter handeln könnte. Glücklicherweise ist diese Gewohnheit nicht allzu tief in ihm verwurzelt. Sie tritt nur unter Stress besonders ausgeprägt zutage und schwächt sich an Abenden und im Urlaub ab. Allerdings äußert sie sich in anderen Formen, die von dem auslösenden Impuls so weit entfernt sind, dass sie nicht mehr zu erkennen ist. Sein Hingezogensein zu Mirabelle ist eine Manifestation dieses Verhaltens: Ihre Reinheit und Einfachheit stellen eine Ökonomie dar, die bei anderen Frauen nicht zu finden ist. Ray Porter stellt das Auto ab und betritt das Haus so zeitsparend wie möglich: Während er noch im Wagen ist und seine Papiere zusammensucht, wird das Garagentor bereits mit der Fernbedienung geschlossen. So muss er nicht an der -46-
Küchentür stehen bleiben, um den Knopf dort zu drücken. Diese kleine Zeiteinsparung ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Sobald er in der Küche ist, legt er die Papiere dort ab - obwohl sie in sein Arbeitszimmer gehören. Er wird sie später mitnehmen, wenn er durch die Küche dorthin geht. Es wäre unsinnig, sie jetzt ins Arbeitszimmer zu bringen, denn vorerst muss er auf kürzestem Weg ins Wohnzimmer, um für Sonntagabend einen Tisch zu reservieren. Er setzt sich aufs Sofa, schaltet die Fernsehnachrichten ein, fängt an, die Zeitung zu lesen, und wählt aus dem Speicher des Telefons gleichzeitig die Nummer des Restaurants. Er reserviert einen Tisch bei einem kleinen, aber netten Italiener mit französischem Namen in Beverly Hills - sozusagen das kulinarische Gegenstück zu den französischen châteaus mit italienischem Portikus auf dem Rodeo Drive. Im La Ronde finden ein älterer Mann und seine achtundzwanzigjährige Begleiterin, die aussieht wie vierundzwanzig, die entsprechende Ruhe und Ungestörtheit. Anschließend wendet er sich dem Fernsehen zu und blättert in der Zeitung, bis es ihm zu langweilig wird, und fängt dann an, das zu tun, was er am besten kann. Er richtet seinen Blick auf die Aussicht über die Stadt jetzt funkelnde weiße Lichtpunkte auf schwarzem Samt - und beginnt zu denken. Was da durch seinen Kopf geht, ist ein Strom logischer Verkettungen, Computercode, Wenn-DannVerknüpfungen, komplizierte mathematische Strukturen, Worte, Trugschlüsse. Normalerweise enden diese Verkettungen im Nichts oder in nutzlosen Schlüssen, mitunter jedoch auch in etwas Greifbarem, das er dann verkaufen kann. Diese Fähigkeit, sich absolut zu konzentrieren, hat ihm Millionen eingebracht, doch warum das so ist, lässt sich einem gewöhnlichen Sterblichen nicht erklären, außer vielleicht man sagt, dass der Ursprung seines Reichtums in einer Softwaresequenz liegt, die so fundamental ist, dass man die ganze Welt umorganisieren müsste, würde man sie ändern. Er ist nicht stinkreich, sein -47-
Anteil ist lediglich eine winzige Zeile Programmiersprache aus den frühen Tagen, die er sich hat schützen lassen und die die anderen brauchten. Heute Abend bewirken diese geistigen Übungen nichts außer einer Glättung seiner Hirnwellen, und schließlich ruft er in Seattle bei einer Freundin an - oder seinem Verständnis nach eigentlich bei einer Frau in Seattle, mit der er befreundet ist und ins Bett geht, die jedoch Bescheid weiß, dass sie nie ein Paar sein werden. »Hi.« »Hi«, erwidert sie. »Was machst du gerade?«, fragt sie. »Nichts weiter, ich guck Löcher in die Luft. Alles klar bei dir?« »Ja ja«, antwortet sie. Er spürt, dass sie über irgendetwas verstimmt ist und hakt nach. Daraufhin lässt sie ihrem Ärger hauptsächlich beruflicher Natur - freien Lauf, und er hört aufmerksam zu, wie John Gray in einer Runde geschiedener Frauen. Schließlich verebbt das Gespräch. »Okay, war schön, mit dir zu reden. Wir sehen uns dann also, wenn ich wiederkomme. Ach - was ich noch sagen wollte - am Sonntag habe ich eine Verabredung. Ich dachte, du solltest es wissen.« »Schon gut, schon gut«, erwidert sie, »du musst mir nicht alles sagen, behalt es einfach für dich.« »Aber, ich sollte dir doch Bescheid sagen, oder nicht?« Sie versucht, es ihm zu erklären, aber sie kann es nicht. Er versucht, sie zu verstehen, aber er kann es nicht. Er weiß, dies ist ein Terrain, wo Logik nicht gilt, also hört er einfach zu und merkt es sich fürs nächste Mal. Diese Informationen, diese gelegentlichen Einweisungen in das Verständnis von Frauen, ein Sammelsurium aus Erfahrungen, Büchern, Ratschlägen und größtenteils herausgeschrienem Schmerz, passte bisher in kein Fach in seinem Gehirn, und er hat eine neue Datenbank angelegt, um all das unterzubringen. Diese Datenbank ist ein einziges Durcheinander, ohne System. Mitunter wagt sich sein -48-
rationaleres Ich daran sie zu organisieren, so wie ein Junge, der sein Zimmer aufräumt. Dann ist zwei Tage lang alles an seine m Platz, doch zwei Tage später ist, um bei der Metapher zu bleiben, das Zimmer wieder ein Saustall. Diese Begegnungen sind die wohl prägendsten Erfahrungen seiner frühen Fünfziger. Lust und Leid erlebt er in seinen Beziehungen mit Ballerinas und Bibliothekarinnen, mit anständigen Frauen, die nur nicht die richtigen Pheromone haben, mit durchgeknallten. Wie ein Kind lernt er, was man nicht anfassen darf, weil es zu heiß ist, und er hofft, dass aus all diesen Erfahrungen schließlich Erkenntnis wird, wenn scho n nicht über das ganze Leben, dann wenigstens über die Beziehungen, und aus dieser wiederum Instinkt. Diese Suche nach der Wahrheit im Gewand der Schürzenjägerei ist notwendig, denn als junger Mann hat er die Frauen nicht ausreichend studiert. Er hat sie nie nach Typen eingeteilt oder ihre Neurosen katalogisiert, um sie beim kleinsten Anzeichen wiederzuerkennen. Er macht jetzt einen Förderkurs im Einmaleins des Bumsens, darin, wie man mit den Schimpftiraden umgeht, den unerklärlichen Launen, Beleidigungen und Missverständnissen, die ihm die zwangsläufige Konsequenz der Logik von Sex zu sein scheinen. Er ist sich jedoch nicht bewusst, dass er auf einer so ernsthaften Suche ist. Er sieht sich selbst als Junggesellen, der es sich gut gehen lässt. Heute lässt er sich sein Abendessen nach Hause kommen, und er bestellt etwas Passendes für einen Fünfzigjährigen. Das ist in L.A. einfacher als in Seattle, wo wie fast überall im Land die meisten Gerichte zum Mitnehmen voll Fett und Cholesterin sind. In L.A. hingegen is t es ein Leichtes, sich einen fettarmen, vegetarischen Burger oder Sushi direkt ins Haus kommen zu lassen, egal wie kompliziert der Weg dahin ist. In Los Angeles kann man im winzigsten Appartement in der winzigsten Sackgasse wohnen, im kleinsten Loch - zwanzig Minuten nach -49-
der Bestellung steht ein Ausländer vor der Tür und bringt Fritten aus Süßkartoffeln und fleischlose Fleischbällchen. Und wenn Rays einsames Mahl zu Hause via Satellitenfernsehen übertragen würde, dann wüsste die Welt, dass auch Millionäre ihr Abendessen in der Küche stehend aus einer weißen Papiertüte zu sich nehmen. Sogar Mirabelle weiß, dass man so etwas nicht tut, denn das selbst zubereitete Abendessen ist ein wunderbarer Zeitvertreib für einsame Menschen, und man sollte so viel Zeit wie möglich darauf verwenden. Nachdem das Essen im kleinsten Auto gebracht worden ist, das Ray Porter je gesehen hat, geht er in die Küche, schaltet den kleinen Fernseher dort an und fängt an zu zappen. In diesem Augenblick entsteht eine Seelenverwandtschaft zwischen ihm und Jeremy, ihre Herzen schlagen im gleichen Takt, während sie so aus der Tüte essen und sich hektisch durch alle Kanäle klicken, zur gleichen Zeit mit dem Papier rascheln und von einem Fuß auf den anderen treten. Sie sind kaum zu unterscheiden in diesem Ritual, nur steht der eine in der Küche eines Hauses, das zwei Millionen Dollar gekostet hat und auf die Stadt herabsieht, und der andere in einem Ein- ZimmerAppartement, auf das die Stadt herabsieht. Wenn Mr. Ray Porter wüsste, wohin er das Fernrohr richten müsste, dann könnte er vielleicht sogar die fünfzehn Meilen nach Silverlake hinunterspähen, genau in Jeremys Fenster, und wenn Jeremy nicht völlig abgestumpft wäre, dann könnte er vielleicht sogar zurückwinken. Und wenn man drei Linien ziehen würde, die die Wohnungen von Jeremy und Ray mit Mirabelles wackliger Bleibe verbinden, dann würde der Scheitelpunkt des Dreiecks genau die unwahrscheinliche Verbindung zwischen diesen beiden absolut gegensätzlichen Männer treffen. Mr. Ray Porter geht zu Bett und schließt die Augen. Er stellt sich Mirabelle vor, auf seiner Brust sitzend, mit dem gleichen einfachen orangefarbenen Baumwollrock, den sie an dem Tag trug, als er sie zum ersten Mal sah. Er stellt sich vor, dass sein -50-
Kopf unter dem Rock steckt, dass er ihre Beine, ihren Bauch und ihre weiße Baumwollunterwäsche sieht. Das Licht der Lampe scheint durch den Rock hindurch und hüllt alles in seinem kleinen imaginären Zelt in einen orangenen Schein. Dieser Sonnenuntergang aus Fleisch und Stoff mündet in einem Ausbruch von Onanie. Danach ist er ruhig und befriedigt, nur ein geisterhaftes Bild von Mirabelle schwebt noch in seinem Kopf. Doch schon bald schießt ein chaotisches Puzzle aus ungezügelten Worten, logischen Zeichen und Symbolen durch seinen Geist, das alles andere hinwegfegt. Ein paar Minuten später ist sein Kopf klar und er schläft ein.
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Die Verabredung Das erste Dilemma für Mirabelle ist der Restaurantangestellte, der ihren Wagen parken will. Sie kann es sich nicht leisten, drei Dollar fünfzig - plus Trinkgeld - nur dafür auszugeben, dass ihr Auto weggezaubert wird. Doch anderenfalls müsste sie es etliche Straßen weiter weg abstellen, denn hier dürfen nur Anwohner parken. Sie überlegt sich, dass es nicht sehr elegant wäre, wenn sie zum ersten Re ndezvous zerzaust erschiene, also fährt sie den Wagen an den Straßenrand, nimmt den Zettel, den ihr der Angestellte gibt und betet, dass Mr. Ray Porter Erbarmen mit jemandem hat, der im Augenblick über gerade mal acht Dollar Bargeld verfügt. Ihr Wagen verschwindet, und sie zieht an der Restauranttür, doch die geht nicht auf, sie versucht es mit Schieben, merkt, dass sie am falschen Ende schiebt, drückt auf der richtigen Seite, zieht wieder, und endlich geht die Tür auf. Vor ihr liegt eine schummrige kleine Höhle, mit Sicherheit nicht einer der gerade angesagten Läden der Stadt. Sie sieht eine Versammlung älterer Gäste mit langen Hemdkragen und Blazern mit goldenen Knöpfen. Einen Lichtblick allerdings gibt es - ein junger Schauspieler aus einer Fernsehserie, Trey Bryan, sitzt mit ein paar Produzententypen in der Ecke. Ohne ihn wäre der Laden der absolute Spießertreff. Der Chef, ein früher mal flotter Italiener, begrüßt sie mit »Buona sera«, und Mirabelle fragt sich, was er wohl meint. Sie versucht es mit: »Ich bin mit Mr. Ray Porter verabredet.« »Ah, schön, Sie wieder einmal zu sehen. Hier entlang bitte.« Er führt Mirabelle an ein paar mit rotem Leder gepolsterten Bänken vorbei und um einen schmiedeeisernen Raumteiler herum. In einer Nische, für zwei Leute eige ntlich zu groß, sitzt Ray Porter. Er blickt nach unten, auf einen Notizblock, und bemerkt sie zunächst nicht. Doch dann schaut er sofort auf. Das -52-
Licht der Glühlampen, gedämpft durch die roten Lampenschirme, gibt den Gesichtern einen warmen Ton, und Mirabelle gefällt ihm noch besser als bei Neiman's. Er erhebt sich, um sie zu begrüßen, geleitet sie zum Tisch und bietet ihr den Platz rechts neben sich an. »Erinnern Sie sich noch an meinen Namen?«, fragt er. »Natürlich - genau wie an all die wunderbaren Dinge, die wir zusammen erlebt haben.« »Möchten Sie etwas trinken?« »Rotwein?«, erwidert sie fragend. »Mögen Sie italienischen?« »Ich weiß noch nicht so recht, was ich mag - ich bin noch am Ausprobieren.« Ray Porter ist erleichtert, dass sie gleichzeitig Begierde und Gefallen in ihm erweckt. Der Kellner kommt an ihren Tisch, und Ray bestellt zwei Gläser Barolo von der Weinkarte. Mirabelle spielt mit ihrem Löffel. »Also - warum haben Sie meine Einladung angenommen?« Er faltete seine Serviette auf und legt sie sich auf den Schoß. »Eine ziemlich unhöfliche Frage, finde ich«, antwortet Mirabelle und legt dabei das richtige Maß an Koketterie in ihre Stimme. »Zugegeben«, erwidert Ray Porter. »Warum haben Sie mich denn eingeladen?«, fragt Mirabelle. Die äußerst einfache Antwort auf diese Frage wird wohl höchst selten schon beim ersten Rendezvous gegeben. Und auf die wirkliche Antwort kommt keiner, weder Ray noch Mirabelle oder gar der Kellner. Glücklicherweise hat Ray Porter eine logische Erwiderung parat, mit der sich ein für sie beide peinliches Schweigen vermeiden lässt. »Was bei mir unhöflich ist, gilt dann aber auch für Sie.« -53-
»Zugegeben«, sagt Mirabelle. »Zugegeben«, setzt Ray Porter hinzu. Dann sitzen beide da und überlegen, was sie als Nächstes sagen könnten. Schließlich fällt Mirabelle etwas ein. »Wie sind Sie eigentlich an meine Adresse gekommen?«, fragt sie. »Tut mir Leid, aber da gibt es eigentlich nichts weiter zu erzählen. Ich hab denen von Neiman's eine Geschichte erzählt und mir Ihren Familiennamen geben lassen. Und dann brauchte ich nur noch die Auskunft anzurufen.« »Haben Sie das schon öfters gemacht?« »Ich glaube, ich hab alles schon mal gemacht. Nein, aber so etwas wohl doch noch nicht.« »Vielen Dank für die Handschuhe.« »Haben Sie etwas, wozu sie Sie anziehen können?« »Ja - bunt karierte Shorts und Sneakers.« Er schaut sie an, dann merkt er, dass sie einen Witz gemacht hat. »Und - was machen Sie so?« »Was meinen Sie?« »Ich meine, außer der Arbeit bei Neiman's.« »Ich bin Künstlerin, ich zeichne. Ich kann zeichnen.« »Ich kann nicht mal einen geraden Strich machen. Ein Blatt Papier ist gar nichts mehr wert, wenn ich darauf herumgekritzelt habe. Was zeichnen Sie denn?« »Normalerweise tote Dinge.« Der Eisberg, den sich Ray Porter in diesem Augenblick unter dem Wasserspiegel von Mirabelles Seele vorstellt, ist ein ganz anderer als der, der sich tatsächlich dort verbirgt. Der Wein kommt. Schweigend sehen sie zu, wie der Kellner einschenkt. Als er geht, fangen sie wieder an zu reden. -54-
Sie fragt ihn über sein Leben aus, und Mr. Ray Porter erzählt, wobei seine Augen die ganze Zeit an ihrem Hals hinunter auf ihre weiße gestärkte Bluse gleiten, die sich beim Atmen öffnet und schließt. Dieser eine Zentimeter gestattet ihm einen Blick auf ihre Haut, direkt über den Brüsten, da wo sich ihr BH anschmiegt. Er möchte mit seiner Hand da hineinfahren, und einen schwachen, blassen Fingerabdruck auf ihrer Haut hinterlassen. Seine Blicke in ihre Richtung wechseln sich mit denen Mirabelles in seine Richtung ab, sodass diese Blicke zwar miteinander verwoben sind, einander jedoch nie treffen. So geht es bis zum Ende des Abends, als die Rechnung kommt. Dann gehen ihnen die Themen aus, die Unterhaltung verebbt. Es folgt der geschäftliche Teil des Abends, Telefonnummern werden ausgetauscht und die Zeiten, zu denen man am besten zu erreichen ist. Ray Porter gibt ihr auch die Nummer in Seattle, die direkte Durchwahl, nicht die vom Sekretariat. Als sie das Restaurant verlassen und Mirabelle durch die Tür geht, legt er ihr die Hand auf den Rücken, als helfende Geste. Dies ist ihr allererster körperlicher Kontakt, und er entgeht ihrer beider Unterbewusstsein nicht. Mirabelles Wagen kommt zuerst, tapfer marschiert sie los, um die Tür aufzumachen, und kramt dann in ihrer Handtasche nach dem Trinkge ld. »Schon erledigt«, sagt der Angestellte. Sie fährt nach Hause und weiß nicht genau, was sie eigentlich fühlt. Auf jeden Fall ist sie gesättigt vom ersten wahrscheinlich wirklich teueren Essen ihres Lebens. Als sie nach Hause kommt, ist eine Nachricht vo n Ray Porter auf ihrem Anrufbeantworter, eine Einladung zum Essen für kommenden Donnerstag. Auch Jeremy hat ihr aufs Band gesprochen und sie gebeten, heute Abend zurückzurufen. Ihr Gewissen meldet sich, und sie ruft ihn an, obwohl es schon eine halbe Stunde vor Mitternacht ist. »Ja?« Jeremy meint, es wäre pfiffig, sich so zu melden. »Ich sollte dich anrufen?«, sagt Mirabelle. -55-
»Ja, danke. 'n Abend. Was machst du so?« »Jetzt gerade meinst du?« »Hast du Lust rüberzukommen?«, fragt Jeremy. Mirabelle muss an Lisa denken und fragt sich, wie er so schnell abhängig werden konnte. Sie haben eigentlich noch gar nicht richtig miteinander geschlafen und sie hat eigentlich noch gar nicht richtig Schluss gemacht. Ein lauer Abend, ein bisschen dürftiger Sex, und schon kommt Jeremy an und will noch einen schlabberigen Hundekuchen. Lisas Telefon muss in einem fort klingeln. Ihr Anrufbeantworter muss voller sehnsüchtiger Nachrichten von unglücklichen Liebhabern sein. »Komm zu mir«, beharrt Jeremy. Dieser Anruf bewirkt eine völlige Umpolung von Mirabelles magnetischer Ausrichtung. Gab es vorher eine schwache Anziehung zwischen ihr und Jeremy, so ist daraus jetzt eine starke Abstoßung geworden. Jeremy hat sich den denkbar schlechtesten Augenblick ausgesucht, um mit Mirabelle gena u das zu machen, was sie mit ihm gemacht hat - in der Erwartung von schnellem Sex bei ihr anzurufen -, denn sie ist jetzt sozusagen verlobt. Ihr erstes Rendezvous mit jemandem, der sie gut behandelt hat, verpflichtet sie zur Treue - zumindest so lange, bis die Beziehung ausgelotet ist. Sie will dieses stillschweigende Versprechen, das sie Ray Porter gegeben hat, halten. Aber Mirabelle ist höflich, auch dann, wenn sie es nicht sein müsste, und sie glaubt, dass sie Jeremy wenigstens ein Gespräch schuldig ist. Immerhin, so schlimm war er ja nun auch nicht, also redet sie weiter. »Es ist zu spät«, sagt sie. »Ist es nicht«, erwidert er. »Für mich schon, ich muss früh raus.« »Ach komm.« »Es geht nicht.« -56-
»Komm.« »Nein.« »Es ist nicht zu spät.« »Doch.« »Soll ich zu dir kommen?« »Es ist zu spät.« »Ich kann in zehn Minuten da sein.« »Nein.« »Sollen wir uns irgendwo anders treffen?« »Es geht nicht.« »Wir könnten uns doch irgendwo treffen.« »Ich muss jetzt Schluss machen.« »Ich könnte zu dir kommen, und dann wieder gehen, damit du schlafen kannst.« Mirabelle überzeugt Jeremy, dass er sie nie, nicht jetzt, nicht heute Nacht und auch sonst nicht ins Bett kriegt, wenn sie es nicht selber will. Schließlich schafft sie es, dass er auflegt. Dieser Zwischenfall hat den Rest des Abends verdrängt, und sie muss sich konzentrieren, um sich wieder in die gehobene Stimmung von vorher zu versetzen. Sie hantiert in der Küche herum, denkt noch einmal über dieses und jenes an dem Abend mit Ray Porter nach, wobei ihr auch klar wird, dass es seit langem der erste Abend war, der sie nichts gekostet hat. Sie ist zufrieden, dass sie sich von ihrer besten Seite gezeigt hat, dass sie eine neue Welt betreten und sich darin wohl gefühlt hat. Sie hat dem Menschen, der sie ausgeführt hat, etwas zurückgegeben. Sie war witzig, ein bisschen sarkastisch, war schön für ihn. Sie hat ihn angezogen. Sie hat ihm zugehört. Und dafür hat er ihr die Hand auf den Rücken gelegt, und ihr das Parken bezahlt und sie zum Essen eingeladen. Für Mirabelle ist das ein guter, fairer Tausch, und -57-
das nächste Mal wird sie ihn, wenn er möchte, küssen. Ray Porters Treuequotient unterscheidet sich ein wenig von dem Mirabelles. Auch für ihn war der Abend schön, erfüllt von unsichtbaren Schwingungen der Anziehungskraft, doch von Treue ist deswegen noch lange nicht die Rede. Nein, sie werden sich noch einige oder auch viele Male treffen, und solange nichts anderes vereinbart oder zugesagt wird, können sie beide tun und lassen, was sie wollen. Aber dieser Zustand ist für Ray Porter schon so normal, dass er nicht einmal darüber nachdenkt. Und als er sie über sein Autotelefon für Donnerstag eingeladen hat, war es nicht nur, weil sie ihm gefallen hat, sondern auch, weil er vor einem Rätsel steht. Er kann nämlich beim besten Willen nicht sagen, ob das, was er unter Mirabelles Bluse erspäht hat, ihre Haut war oder ein fleischfarbener Nylonbody. Nach gründlicher Erwägung kommt er zu dem Schluss, dass es ein Body gewesen sein muss, denn was er da gesehen hat, war zu gleichmäßig, zu perfekt, von zu einheitlicher Farbe, als dass es Haut sein könnte. Wenn es allerdings doch ihre Haut war, dann verfügt sie über seine Lieblingsdroge - ein berauschendes Milchbad, in dem er eintauchen, sich verlieren und ertrinken kann. Er weiß, dass er dieses Rätsel wahrscheinlich am Donnerstag noch nicht lösen kann, aber ohne diesen Abend wird es keinen Samstag geben, und das ist der nächste logische Schritt bei der Lösung. Er geht zu Bett, doch ergießen sich diesmal keine Datenströme durch seinen Kopf, sondern die Symbole des Sex entfalten ihre eigene strenge Logik. Von der weißen Bluse kommt er auf ihre Haut, von da zum BH, von da zu ihren Brüsten und von da schließlich zu ihrem Hals und ihren Haaren. Dies führt ihn zu ihrem Bauch und damit zwangsläufig zu ihrem Unterleib, von dort zur Innenseite ihrer Schenkel und weiter zu ihren Höschen, und so zu einer feuchten Linie auf weißem Stoff, auf die er presst und so erst ein wenig in ihre Vagina eindringt, dann weiter, bis sich Geschmack und Duft entfalten und -58-
schließlich sein Ich eins wird, indem es von seinem Gegenteil Besitz ergreift. Diese logische Abfolge wird dann auf eine unterbrochene Reihe von Tagen projiziert, die sich über mehrere Monate erstrecken. Die Variable der gesamten Formel ist die Frage, ob der betreffende Quadratzentimeter aus Haut oder aus Nylon besteht, und, wenn er aus Nylon besteht, was dann die tatsächliche Beschaffenheit des darunter liegenden Quadratzentimeters ist.
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Handschuhe Selbstbewusst schreitet Mirabelle an den Arbeitstieren im Erdgeschoss vorbei und begibt sich in ihr Refugium im vierten Stock. Sie nimmt zwei Stufen auf einmal, und seltsamerweise freut sie sich auf ihre Arbeit. Sie denkt sogar darüber nach, wie sich mehr Handschuhe verkaufen lassen, indem man ein paar auf die kleinen Tische und die Schaukästen im ganzen Haus legt. In ihrer Abteilung angekommen, begibt sie sich auf ihren Posten, stellt sich mit an den Fesseln übereinander geschlagenen Beinen in Position, und steht da. Und steht da. Und kein Chef kommt, dem sie ihre Idee vortragen könnte. Allerdings gibt es jede Menge zu sehen, denn im Ansturm vor Thanksgiving kommen mehr Leute als sonst auf dem Weg in andere Abteilungen an ihrem Tisch vorbei. Schließlich ist es Mittagszeit, und sie hat das Gefühl, dass sie sich dreieinhalb Stunden lang nicht ein bisschen bewegt hat. Sie beschließt, heute zwei Stunden Mittagspause zu machen. Dazu bedient sie sich einer Lüge. Sie erklärt ihrem unmittelbaren Vorgesetzten, Mr. Agasa, dass sie zum Frauenarzt muss, und dass sie versucht hat, einen anderen Termin zu bekommen, aber sonst nichts mehr frei war. Mr. Agasa druckst herum, und sie fügt hinzu, dass nicht viel los ist, und dass sie Lisa gebeten hat, ein Auge auf ihren Verkaufstisch zu werfen. Mit besorgter Miene nickt er schließlich. »Sind Sie krank?«, fragt er. »Ich glaube nicht, aber ich lasse mich sicherheitshalber untersuchen.« Damit verlässt sie das Haus und begibt sich in die Niederungen von Los Angeles. Mit dem Vorsatz, nicht mehr als drei Dollar für eine komplette Mahlzeit auszugeben, geht sie in einen Joghurtshop am Bedford Drive. Sie nimmt ihre randvolle -60-
Schale mit nach draußen und entspannt sich in der Sonne. Dunkel kastanienbraun leuchtet ihr Haar in dem hellen Licht. Sie dreht ihren Stuhl so, dass sie auf das flache Gebäude blickt, in dem alle Psychiater von Beverly Hills sitzen, und hofft, ein paar Berühmtheiten zu sehen. Dorthin geht sie auch, wenn sie sich ihr Rezept erneuern lässt, und sie erkennt unter den ein und aus Gehenden ein paar von den Schwestern und Sprechstundenhilfen. Neben Mirabelle sitzt eine Frau, die so abstoßend ist, dass sie sich abwenden muss, um sie noch nicht einmal aus dem Augenwinkel zu sehen. Die Frau telefoniert mit einem Handy und schaufelt dabei absurde Mengen kalorienarmen Joghurt in sich hinein. An allen Seiten quillt ihr Fett über, und vom Stuhl sind gerade noch die Beine zu sehen. Ihr Haar ist messingfarben von all den Chemikalien, die es eigentlich goldblond machen sollen, und ein zartes Grau überzieht ihr Rauchergesicht. Doch was sie in ihr Telefon spricht, das ist erstaunlich warmherzig. Sie macht sich Sorgen um jemanden, der krank ist, und Mirabelle schämt sich ein bisschen wegen ihrer Lüge vor Mr. Agasa. Die Frau redet, hält inne, und sagt dann, nach einer offensichtlich langen Erwiderung der Person am anderen Ende: »... und vergiss nicht, meine Liebe, es ist der Schmerz, der unser Leben verändert.« Mirabelle bleibt dieser Satz unergründlich, denn ihr ganzes Leben lang hat sie der Schmerz begleitet, und dennoch verändert es sich nicht. Genau in diesem Augenblick sieht sie, wie Darling Trey Bryan das Haus der Psychiater betritt. Trey Bryan ist absolut angesagt - was sofortige psychoanalytische Behandlung erforderlich macht. Sie hat ihn einmal bei Neiman's gesehen, als er etwas kaufte, das aussah wie Zierdeckchen für die Schultern seiner Freundin. Überhaupt hat sie Darling schon oft beim Einkaufen gesehen, und sie weiß, dass es sich dabei um ein ausgefeiltes Ritual handelt. Zunächst ist eine Freundin erforderlich, die, wenn sie nicht schon berühmt ist, zumindest -61-
kein Problem damit hat, es zu werden. Sie muss gelangweilt wirken, und das ist überhaupt der Zweck der Shoppingtour: Darling muss um sie herumtanzen und ihr Geschenke zu Füßen legen, damit sich ihre Laune bessert. Mirabelle hat nie verstanden, warum die Empfängerin dieser Geschenke sich so langweilt. Sie selbst bekommt gern Geschenke. Ein wichtiger Teil des Einkaufrituals prominenter Paare besteht darin, dass die beiden exklusiv erscheinen. Ihre Welt ist so außergewöhnlich, so erfüllt, dass sie auf ihrem Weg durch die normale, gewöhnliche Welt Diamanten wie kleine Tautropfen versprühen. Mirabelle hat einmal ein solches Paar bedient, als sie in der Modeabteilung bei Comme des Garòons ausgeholfen hat. Es war, als wäre sie durchsichtig, eine Kreidesilhouette, von einer niederen Lebenskraft bewegt. Da sie heute über eine Stunde länger Mittagspause hat und die Sonne vom Himmel brennt, obwohl es November ist, beschließt sie, der Konkurrenz einen Besuch abzustatten und sich die Handschuhabteilungen in ein paar anderen Läden anzuschauen. Sie kann sich zumindest in die anderen traurigen Mädchen hineinversetzen, die einsam und verlassen hinter ihren Ladentischen stehen. Ihre erste Station ist Saks Fifth Avenue ironischerweise am Wilshire Boulevard - wo ein Ebenbild ihrer selbst über Waren wacht, die niemand will, außer vielleicht Frauen, die auch niemand will. Sie stellt sich vor und sagt, was sie macht. Die Verkäuferin ist so aufgeregt, dass jemand mit ihr redet, dass Mirabelle schon überlegt, ob sie ihr nicht eine von ihren Serzone geben soll, damit sie sich wieder beruhigt. Danach geht sie zu Theodore am Rodeo Drive. Das ist ein trendiger, sexy Laden mit Handschuhen, die so jung und flott sind, dass Mirabelle Lust hätte, sie zu verkaufen. Sie kann sich vorstellen, wie die coolsten Leute zu ihr kommen und Modetipps mit ihr austauschen, während sie die Handschuhe probieren. Von ihren derzeitigen Kunden Empfehlungen anzunehmen, wäre Selbstmord in Sachen Mode - außer sie -62-
wollte für fünfzig gehalten werden. Als sie so durch Beverly Hills schlendert, ist sie auf einmal ganz in der Nähe vom La Ronde, nur eine Straße entfernt. Diese Tatsache weckt keine besonders romantischen Gefühle in ihr, es ist nicht der Ort, »wo wir verabredet waren«, aber sie kommt sich doch nicht mehr so fremd vor in Beverly Hills. Sie hat wirklich in einem der Restaurants hier gegessen, was neunzig Prozent der Leute von außerhalb, die an diesem Nachmittag das Viertel bevölkern, nicht von sich behaupten können. Sie geht in einen Drogeriemarkt und kauft Tampons - erstens braucht sie welche und zweitens wird es ihre Geschichte glaubwürdiger machen, wenn Mr. Agasa sie sieht. Als Mirabelle zu Neiman's zurückkommt, sagt Lisa ihr, dass jemand nach ihr gefragt hat. »Wer?«, will Mirabelle wissen. »Keine Ahnung, ein Mann.« Mirabelle nimmt an, dass es Ray Porter war, der die Verabredung abgesagt hat. Sobald sie Zeit hat, wird sie ihren Anrufbeantworter abfragen. »Wie hat er denn ausgesehen?«, fragt sie Lisa. »Ein Mann halt, über fünfzig, ganz normal.« »Und sonst?« »Ein bisschen übergewichtig. Und er hat ausdrücklich nach Mirabelle Buttersfield gefragt.« Ray Porter ist nicht übergewichtig, und er würde auch nicht ihren Nachna men nennen, wenn er nach ihr fragt. »Er hat gesagt, dass er noch mal kommt«, fügt Lisa noch hinzu, bevor sie die Treppe hinunter verschwindet. Mirabelle schiebt sich wieder hinter den Verkaufstisch. Eine Minute lang steht sie da, und mit einem Mal schlägt eine Welle von Traurigkeit über ihr zusammen. Und so tut sie etwas, was sie bisher noch nie bei Neiman's getan hat: Sie zieht eine der unteren Schubladen heraus, setzt sich darauf und verharrt einige -63-
Minuten so, bis es ihr wieder besser geht.
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Lisa Lisa Kramer hat einen Körper, der jeden Mann auf diesem Planeten glücklich machen könnte - nur sie selbst ist nicht glücklich damit. Sie meint, sie müsste dem Mann das perfekte Vergnügen bieten, müsste eine Expertin für Fellatio sein. Um diese Fähigkeit zu kultivieren und zu vervollkommnen, führt sie ausgedehnte Gespräche mit anderen Frauen und sieht sich ausgewählte Pornovideos zur »Aufklärung« an. Einmal hat sie sogar ein Seminar mit Crystal Headly besucht, einer zur Zeit angesagten Pornodarstellerin. Sie hat auch keine Hemmungen, ihre Kenntnisse in die Praxis umzusetzen. Nach ein paar Verabredungen, manchmal auch schon früher, beglückt Lisa den Mann mit ihren Fähigkeiten und redet sich ein, dass sie damit der Typ Frau ist, den alle Männer haben wollen. Die Männer jedoch können sich über so viel Glück nur wundern und fragen sich, wer diese Frau ist, die ihnen so schnell einen bläst. Lisa kann ihren Erfolg nur daran messen, wie häufig sie danach von den Männern angerufen wird, die ganz wild darauf sind, sie zum Essen oder ins Theater auszuführen. Die Tatsache, dass sie bereit sind, sich mit ihr ein Theaterstück anzusehen - in L. A. höchst selten - zeigt ihr, was sie bereit sind, auf sich zu nehmen. Lisa weiß, dass es ihnen um Sex geht, aber Sex ist es ja auch, was ihren Wert bestimmt. Je mehr sie davon wollen, um so wertvoller ist sie, und so hat sich Lisa zu einem Sexobjekt gemacht. Lisa interessiert sich nicht für Sex, weil sie Spaß daran hat. Nein, Sex ist der Dreh- und Angelpunkt, wenn es darum geht, Männer anzuziehen und loszuwerden. Mit großen Hoffnungen kommen sie zu ihr, angelockt von diesem Duft, den sie verströmt, so köstlich wie der von frischem Brot. Doch wenn sie mit ihnen fertig ist, sind sie schlaff und ausgelaugt, bereit für das eigene Bett. Sie hat sie im wahrsten Sinne des Wortes -65-
ausgesaugt, und jetzt sollen sie gehen, ehe sie einen furchtbaren Fehler an ihr entdecken, der sie abstößt. So hat Lisa trotz all ihrer Macht immer das Gefühl, dass sie eigentlich nichts weiter kann als in Männern das Begehren zu erwecken. Dazu kommt, dass sie seit Anfang zwanzig unter ein paar Zwängen leidet, die sie daran hindern, ihren Horizont zu erweitern. So kann sie einfach in kein Flugzeug steigen. Die Flugangst hat sie so fest im Griff, dass sie die Möglichkeit, je in der Luft zu reisen, für sich vollkommen ausschließt. Auch kann sie keinerlei Medizin zu sich nehmen. Kein Aspirin, keine Antibiotika, noch nicht einmal Rennie, denn sie hat Angst, davon verrückt zu werden. Und aus Furcht, sie könnte plötzlich sterben, hä lt sie es nicht eine Minute alleine aus. Lisa hat in gewisser Weise Gefallen an Mr. Ray Porter gefunden, auch wenn sie ihm noch nie begegnet ist. Das Problem besteht einfach darin, dass er zufällig Mirabelle und nicht sie als Objekt seiner Begierde erwählt hat. Aber Lisa ist sich sicher, dass dieser Irrtum, wenn er sie erst einmal zu Gesicht bekommen hat, schnell aus der Welt geschafft sein wird. Sie kann sich nicht vorstellen, dass Mirabelle eine fähige Sexualpartnerin ist. Zwar will Ray Porter Mirabelle vielleicht gerade deshalb, weil es ihr diesbezüglich an weiterführender Ausbildung fehlt, aber dieser Gedanke ist Lisa absolut fremd, denn sie kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass ein kleines Fleckchen von Mirabelles Haut, das aus einer gestärkten Bluse hervorlugt, ihre Macht gefährden könnte. An dem Tag, als Lisa im Café Mirabelles ahnungslosem Geplapper zuhörte, wurde in ihr eine schwache Erinnerung wach, als der Name Ray Porter fiel. Als sie an diesem Abend nach Hause kam, setzte sie sich hin und dachte nach, und da fiel ihr ein, dass der Name vor ein paar Jahren einmal herumging, als Ray Porter eine kurze Affäre mit einer Schuhverkäuferin von Barneys hatte, dem schicken Kaufhaus gleich nebenan. Als er dann sechs Monate später mit einer anderen Frau in die -66-
Schuhabteilung kam, lief die Verkäuferin Amok und warf gleich zwei Paar Schuhe von Stephane Kélian nach ihm. Ein Schuh landete in einem Aquarium, und sie wurde natürlich sofort gefeuert. Bei Barneys gilt für den Umgang zwischen Kunden und Angestellten der Grundsatz »Nichts fragen - nichts sagen«, und mit Schuhen zu werfen ist ein eindeutiger Verstoß gegen das »Nichts sagen«. Lisa erinnerte sich auch, dass Ray Porter ziemlich einflussreich ist. Für Lisa hat es nichts Unsittliches, wenn sie sich zwischen Mirabelle und Ray Porter drängt. Ihrer Meinung nach verdient Mirabelle überhaupt keinen Mann, und ihm würde sie nur einen Gefallen tun. Was sollte er denn auch anfangen mit der hölzernen Mirabelle, wenn sie nackt auf seinem Bett liegt, die Beine breit? Was soll denn überhaupt ein Mann mit einem faden Mädchen anfangen, das sich nicht behaupten kann, das ein dünnes Stimmchen hat, sich anzieht wie ein Schulmädchen und dessen hervorstechende Eigenschaft Hilflosigkeit ist?
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Der zweite Abend Vor der zweiten Verabredung am Donnerstag gibt es einige förmliche Telefonate zwischen Ray und Mirabelle, bei denen man sich darauf einigt, dass er sie abholen wird, und zwar um acht Uhr, und dass sie ins Cha Cha Cha gehen werden, ein witziges karibisches Restaurant, das Mirabelle kennt. Sie macht sich Sorgen, dass er ihre Wohnung sieht, die fünfhundert Dollar Miete kostet, kaum mehr als ihr Essen im La Ronde. Sie macht sich auch Sorgen, dass er die Adresse vielleicht nicht findet. Das Haus liegt in einem Gewirr von Straßen in Silverlake, und selbst wenn man hingefunden hat, ist es noch ziemlich schwierig, zu ihrer Wohnungstür zu kommen. Erst in die Einfahrt, dann den zweiten Treppenaufgang hinauf, bis zum Absatz und dann... Am Donnerstagabend hastet Mirabelle durch die Wohnung, räumt auf, pudert sich und zieht sich gleichzeitig verschiedene Kleidungsstücke über den Kopf. Schließlich entscheidet sie sich für einen kurzen pinkgelb karierten Rock und einen flauschigen rosa Pullover, bei dem Ray Porter leider nichts hervorlugen sehen wird. So ausstaffiert und mit ihrem kurz geschnittenen Haar sieht sie aus wie neunzehn. Doch mit ihrer Kleidung will sie nicht etwa lüsterne Gefühle in Ray Porter wecken, sondern sie trägt sie, weil es in ist und genau ins Cha Cha Cha passen wird. Schließlich ist sie fertig, sitzt im Wohnzimmer und wartet. Mirabelle hat kein richtiges Sofa, nur einen niedrigen Futon in einem Holzgestell, und jeder, der versucht, sich darauf zu setzen, klappt auf Fußbodenhöhe wie ein Taschenmesser zusammen. Wenn ein Be sucher den Arm zur Seite fallen lässt, landet er auf dem harten Parkett. Lässt er sich mit einem Drink nieder, muss er das Glas auf den Boden stellen, in Katzenhöhe. Sie wird Ray auf keinen Fall bitten, sich zu setzen. -68-
Das Telefon klingelt. Es ist Ray, er ruft vom Autotelefon aus an und sagt, dass er ein bisschen die Orientierung verloren hat. Sie sagt ihm, wann er wohin abbiegen muss, und fünf Minuten später klopft er an ihre Tür. Sie macht auf, und schnell ziehen sie sich nach drinnen zurück, um dem grellen Schein der nackten 100-Watt-Lampe draußen zu entgehen. Mirabelles Sorgen darüber, dass Ray ihre Wohnung sieht, waren unangebracht. Die schlichte Einrichtung weckt verstaubte Erinnerungen an ein erotisches Erlebnis in ihm und er spürt leichte Wellen des Wohlbehagens unter der Haut. Mirabelle fragt, ob er etwas möchte und weiß, dass sie ihm nichts anbieten könnte außer Muschelsaft aus der Dose, der eigentlich für Cocktails bestimmt ist. Er dankt, aber er möchte ein bisschen in der Wohnung herumschnüffeln. Er steckt seine Nase in die Küche, und er sieht das studentische Geschirrregal, das studentische Sammelsurium von Trinkgläsern und das studentische Katzenklo. Nur ist Mirabelle schon seit vier Jahren keine Studentin mehr und hat es immer noch nicht zur nächsten Einkommensstufe geschafft. Sie fragt ihn, ob er sich setzen möchte und bereut es sofort. Ray hockt sich auf den Futon und kauert dort in einer Stellung, die für jeden über fünfzig schon als fortgeschrittene YogaPosition gelten könnte. Nachdem sie gerade so viel geredet haben, dass die Einladung auf den Futon nicht lächerlich wirkt, schlägt sie vor zu gehen. Als Ray sich erhebt, gibt sein Körper einige hörbare knackende Geräusche von sich. Sie verlassen die Wohnung und gehen zu seinem Mercedes. Sie sind beide ziemlich angespannt. Beim Fahren erklärt er steif die verschiedenen Funktionen des Autos, einschließlich der Sitzheizung, über die sie beide ein paar witzige Bemerkungen machen. Im Restaurant winden sie sich, reden und quälen sich bis zur Hälfte der Vorspeise, einem mit Chili gewürztem Fisch, so scharf, dass einem die Luft wegbleibt. Zäh schleppt sich das Gespräch dahin, und es wäre wahrscheinlich ihren ganzen -69-
schwierigen zweiten Abend lang so geblieben, wäre da nicht ein Elixier namens Bordeaux. Der Wein wirkt wie Öl im Getriebe, lässt alles ein bisschen leichter laufen, und so aufgelockert ist Ray kühn genug, Mirabelles Handgelenk zu umfassen. Er sagt, dass ihm ihre Uhr gefällt. Mirabelle weiß, ihre Uhr ist so langweilig, dass sich eigentlich gar nichts dazu sagen lässt, und obwohl auch ihr Blick vom Alkohol ein wenig getrübt ist, sieht sie doch ganz deutlich, dass es bei dieser Berührung nicht um ihre Uhr geht, sondern um Rays Verlangen nach körperlichem Kontakt. Und sie hat Recht, denn während er seine Fingerspitze über ihren Handrücken gleiten lässt, erfasst er das Maß an tropischer Feuchtigkeit, die ihre Haut abgibt, und sein empfänglicher Geist nimmt Impulse der Lust auf. Mit Daumen und Zeigefinger umschließt er ihr Handgelenk. »Jetzt bin ich deine Uhr«, sagt er, ziemlich kindisch. Und dann überlegen beide, zwar nicht betrunken, aber doch ein wenig schwebend, wie sie aus der Gesprächssackgasse kommen, in die sie sich hineinmanövriert haben. Ray will ihr eigentlich mit der Hand über die Schenkel fahren, doch stattdessen sitzt er hier im Cha Cha Cha herum und macht Smalltalk. Mirabelle will, dass sie beide Hand in Hand den Silverlake Boulevard entlangschlendern, einander kennen lernen, doch stattdessen muss sie sich ein Schlusswort für diese Geschichte mit der Uhr einfallen lassen, denn sonst drehen sie sich ewig im Kreis. Da hat Ray eine hervorragende Idee: Er bestellt noch einmal Wein und schlägt vor, dass sie beide aus einem Glas trinken. Mirabelle ist keine große Trinkerin, also stürzt Ray zwei Drittel davon hinunter, holt dann unverzüglich einen Stift hervor, rechnet sein Körpergewicht gegen die getrunkene Menge abzüglich des Essens, das er zu sich genommen hat, und verkündet dann, dass er fahren kann. Also gehen sie zum Auto. Vom Auto zu ihrer Tür. Dort küsst er sie zum Abschied und presst sich an sie, und sie -70-
spürt an ihrem Bein die Schwellung in seiner Hose. Keiner von ihnen kümmert sich um das grelle Licht der Türlampe. Dann sagt er gute Nacht, und im Gehen denkt er an ihren nächsten Abend.
Ihr nächster Abend Mirabelle kommt mit in Rays Haus, und dort landen sie in seinem Bett, angezogen sitzt sie auf ihm, und er öffnet drei Knöpfe ihrer Bluse und sieht, dass es tatsächlich Haut ist, was er im La Ronde über ihren Brüsten gesehen hat, und keine fleischfarbene Unterwäsche. Sonst passiert nichts, und dann fährt er sie nach Hause.
Die Unterhaltung Die Unterhaltung besteht darin, dass die eine beteiligte Partei die andere beteiligte Partei darüber informiert, wo die Grenzen ihres Interesses liegen. Damit wird die andere Partei gewarnt, dass dies das Maximum an Nähe ist. Ray Porter hat Mirabelle wieder ins La Ronde eingeladen. Sie sitzen in derselben Nische und trinken den gleichen Wein, und alles ist exakt wie bei ihrem ersten Abendessen, denn Ray will, dass sie genau dort weitermachen, wo sie beim letzten Mal aufgehört haben - nicht einmal eine andere Gravur auf dem Griff der Gabel soll die Kontinuität stören. Mirabelle ist heute Abend nicht gerade in sprühender Laune, sie hat nicht den richtigen -71-
Gang eingelegt. Mirabelles Stimmung lässt sich nämlich in Gänge einteilen: Im l. Gang ist sie klug, scharfsinnig und witzig, im 2. Gang fröhlich, flatterhaft und kindisch und im 3. Gang unzufrieden, hilflos und resigniert. An diesem Abend ist sie irgendwo zwischen 2. und 3. Gang, zwischen kindisch und hilflos, aber das kümmert Ray wenig. Es kümmert ihn nicht, denn heute ist die Nacht, in der - zumindest, wenn es nach ihm geht - alle Hüllen fallen. Und deswegen fühlt sich Ray verpflichtet, eine Unterhaltung zu führen. Er hält das für angebracht, denn er findet, es sollte fair zugehen: Bevor man sich auszieht, muss geredet werden. »Ich glaube, ich sollte dir ein paar Dinge sagen. Ich glaube nicht, dass ich im Augenblick schon reif für eine richtige Beziehung bin.« Er sagt das nicht zu Mirabelle, sondern in die Luft, so als würde er gerade eine Wahrheit über sich selbst entdecken und sie rein zufällig aussprechen. Mirabelle erwidert: »Du hast sicher einiges durchgemacht mit deiner Scheidung.« Verständnis, das ist gut für Ray Porter. Sie weiß genau, dass es nicht von Dauer sein wird. Er redet weiter: »Aber ich bin gern mit dir zusammen und möchte, dass wir uns auch weiter sehen.« »Ich auch«, sagt Mirabelle. Sie meint, er hätte ihr gesagt, dass er kurz davor is t, sich in sie zu verlieben, und Ray meint, sie hätte verstanden, dass er sich mit niemandem dauerhaft einlassen wird. »Ich bin zur Zeit unheimlich viel unterwegs«, sagt er. Mit diesem Satz teilt er ihr mit, dass er vorhat zu kommen, mit ihr zu schlafen und dann wieder abzureisen. Mirabelle meint, er wolle ihr sagen, wie schade er es findet, dass er wieder weg muss, und dass er versuchen wird, weniger unterwegs zu sein. »Also, ich meine, wenn du nichts dagegen hast, dann sollten wir uns beide alle Möglichkeiten offen halten.« Damit, so meint Ray, hat er ihr zu verstehen gegeben, dass sie -72-
beide, egal, was heute Nacht vielleicht noch passiert, weiter auch mit anderen zusammen sein werden. Mirabelle meint, wenn er erst nicht mehr so viel unterwegs ist, dann werden sie sehen, ob sie heiraten oder einfach so eine feste Beziehung eingehen. Das also war die Unterhaltung. Doch sie wissen beide nicht, dass diese Unterhaltungen keine Bedeutung haben. Sie haben keine Bedeutung für den, der redet, und sie haben keine Bedeutung für den, der zuhört. Der, der redet, meint, der andere hört zu, und der, der zuhört, versteht nie, was gesagt wird. Für alle gilt das Gleiche, für Männer, für Frauen, für Hunde und Katzen: Diese Worte werden nie richtig verstanden. Sie plaudern sich durch den Abend, und dann fragt Ray Mirabelle, ob sie Lust hat, mit zu ihm zu kommen, und sie sagt ja.
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Geschlechtsverkehr Mit einem Knopfdruck schaltet Ray die Beleuchtung in seinem Haus von Postamt auf Jazzclub um. Er fängt an, sich vorzustellen, was in wenigen Augenblicken geschehen wird. Nicht mehr lang, und die Stunden, die er mit Mirabelle zusammen, und doch auf Distanz zu ihr war, werden uneingeschränkter Vereinigung weichen. An der Erinnerung daran, wie sie auf ihm saß und er, durch Stoffschichten hindurch, ihre Brüste mit sanftem Druck berührte, kristallisiert sich sein Verlangen und birst schließlich. Doch Rays Begierde kommt nicht nur daher, dass er ein Mann ist und Mirabelle eine Frau. Nein, Mirabelles Körper ist, wie ihm bald klar werden wird, das absolute Aphrodisiakum für ihn. Instinktiv hat er dieses Verlangen gespürt, es hat ihn in den dritten Stock geführt, und mit jedem Dufthauch von ihr, mit jeder zufälligen Berührung ist es stärker geworden. Für ihn war es ihr Aussehen, die Dichte ihres Haares und die Länge ihrer Finger, der leuchtende Schimmer ihrer Haut. Und heute Nacht wird er spüren, wie eine Abhängigkeit beginnt, von der er sich nicht lösen kann, das endlose Hin und Her einer Sucht, von der er weiß, dass er sich ihr entziehen sollte, und der er doch nicht widerstehen kann. Er legt ihr beide Hände an den Hals, doch sie versteift sich. Das macht sie nervös, sagt sie, also nimmt er sich ein wenig zurück, geht auf Distanz, macht ein paar belanglose Bemerkungen und fängt dann wieder an. Sie legen sich aufs Bett, kuscheln ein bisschen, Knöpfe und Schnallen verhaken sich ineinander, Schuhe kollidieren und reiben aneinander. Diesmal vergräbt er sein Gesicht an ihrem Hals, und in tiefen Atemzügen saugt er den Duft ihres Parfüms ein. Die Reaktion ist angemessen: Einige Kleidungsstücke werden abgelegt. -74-
Sie sind entspannt, steuern nicht auf kürzestem Weg zum eigentlichen Akt, legen Pausen ein, Pausen, in denen sie scherzen, Pausen, in denen die Musik eingestellt wird. Es wird intensiver, ebbt dann wieder ab, erhitzt sich erneut. Nachdem Ray ein paar Minuten Mirabelles nackten Bauch erkundet hat, nimmt er sich eine Auszeit fürs Bad und verschwindet durch die Tür. Mirabelle erhebt sich und zieht sich bedächtig aus. Dann legt sie sich bäuchlings auf das Bett und lächelt vor sich hin. Denn sie weiß, dass sie jetzt ihr geheimstes, einzigartiges Kapital in die Waagschale wirft. Ihr Körper hat nichts Extravagantes, er kokettiert nicht, lockt nicht, und deshalb gehen Männer, die es dramatisch mögen, lieber anderswo auf die Suche. Aber so, auf einem großen Bett drapiert, oder von Händen umfasst, oder lustvoll berührt, ist er ein kleines Stück Vollkommenheit. Ray kommt ins Schlafzimmer und sieht sie liegen. Es ist, als würden winzige, schwache Lichter unter ihrer Haut leuchten, mit einem rötlichweißen Schimmer. Ihre Brüste, auf dem Laken flach gepresst, drängen an den Seiten hervor. In sanftem Auf und Ab wellt sich die Kontur ihres Körpers. Ray geht zu ihr und legt seine Hand auf ihren Rücken, lässt sie dort liegen, dreht ihren Körper dann auf die Seite, küsst ihren Hals, lässt seine Hand zu ihren Beinen und zwischen sie gleiten, berührt ihre Brüste, küsst sie auf den Mund und umschließt dabei ihre Scham, bis sie sich öffnet, er liebkost sie mit der Zunge, dringt in sie ein, so behutsam, wie es der Augenblick zulässt. Wie anders als in Vermont, denkt sie. Dann dreht er sie auf die andere Seite und presst seinen Körper an sie. Mirabelle, zusammengekrümmt wie ein Embryo, nimmt seine Nähe in sich auf wie einen nährenden Strom. Am Morgen erwachen sie auf beiden Seiten des Bettes liegend.
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Frühstück Beim Frühstück, das sie zeitig nehmen, weil Mirabelle zur Arbeit muss, ist sie wie eine Siebenjährige. Sie sitzt da und lässt sich bedienen. Ray Porter holt Orangensaft, macht Kaffee, deckt den Tisch, toastet das Brot und bringt Müsli. Er holt die Zeitung. Mirabelle ist so hilflos, sie könnte ein Kindermädchen brauchen, das ihr den Mund aufhält und die Haferflocken mit dem Löffel hineinschiebt. Sie ist einsilbig, und Ray muss die langen Pausen mit ermüdenden Fragen füllen, wie ein Erwachsener, der versucht, mit einem desinteressierten Teenager ins Gespräch zu kommen. In dieser morgendlichen Momentaufnahme steckt bereits alles, was ihre Beziehung ausmachen wird - und fast zwei Jahre später wird Ray Porter es verstehen. »Und - ist das Frühstück in Ordnung?« Ray beschließt, einen Gegenstand zu wählen, den sie beide vor Augen haben. »Ja.« »Was isst du normalerweise zum Frühstück?« »Einen Bagel.« »Wo kriegst du die her?« »Es gibt einen Laden, gleich bei mir um die Ecke.« Das war's. Er fängt noch einmal an. »Du bist super in Form.« »Yoga«, erwidert sie. »Ich mag deine Figur«, sagt er. »Das Hinterteil stammt von meiner Mutter. Wie zwei kleine Basketbälle mit Fleisch darüber, das hat sie mal auf einem Ausflug mit dem Auto gesagt.« Sie lacht vor sich hin. Ray blickt sie befremdet an, sie begreift und sagt den einzigen lustigen Satz des Morgens: »Keine Angst, sie ist älter als du.« -76-
Er will sie berühren und seine Hand in die Öffnung des Bademantels schieben, den er ihr geliehen hat. Er will die letzte Nacht noch einmal erleben, will mit seinen Händen über ihre Brüste fahren, um ihre Schönheit genau zu analysieren, zu erfassen und festzuhalten - doch er tut es nicht. Dies wird an einem anderen Abend geschehen, mit Essen und Wein, und Spazierengehen und Reden, wenn die Verführung nicht eingeplant ist, der Ausgang nicht festgelegt ist. Der Motor seiner Lust surrt und brummt in Erwartung ihrer nächsten Verabredung. Rays Verlangen ist schon vierundzwanzig Stunden weiter als sein Verstand, und morgen um diese Zeit wird er sich daran erinnern, wie hilflos Mirabelle am Morgen war, und er wird sich fragen, warum. (Sein Verstand arbeitet ziemlich langsam, wenn es um Frauen geht, ihm wird erst Monate, manchmal Jahre später klar, dass er kompromittiert, beleidigt oder manipuliert wurde.) Aber da er nicht weiß, was er von einer Frau erwarten kann - in den vier Jahren, die er auf der Suche ist, hat er es nicht gelernt -, nimmt er Mirabelles morgendliches Benehmen hin. Bisher hat er nur mit starken, extrovertierten, lebenstüchtigen und ehrgeizigen Frauen zu tun gehabt, die angreifen, wenn sie unzufrieden sind. Mirabelles dumpfe Trägheit gibt ihm das Gefühl friedlicher Behaglichkeit, des Angenommenseins in beruhigender Weiblichkeit. Er fährt Mirabelle nach Hause, sodass sie sich gerade noch fertig machen kann und zu spät zur Arbeit kommt.
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Jeremys Erwachsenwerden Die Schablone ist mit Kreppband an dem Verstärker angeklebt, und Jeremy hat gelernt, die Farbe mit einem gekonnten Druck auf den Abzug der Spritzpistole gleichmäßig aufzutragen. Auf die Verstärker der Firma Doggone kommt ein Logo mit einem Hund, mit Linien dahinter, wie im Comic, sodass es aussieht, als käme er angejagt. Der Markenname steht in einem Halbkreis darunter. Es ist nicht einfach, die feinen Linien hinter dem Hund zu ziehen, und einige der Arbeiten vor Jeremys Eintritt in die Firma sind ziemlich ungelenk und schlampig. Beim Arbeiten hockt Jeremy in einer Position, die so unbequem ist, dass sie nur jemand unter dreißig aushalten kann, ohne sich schon bald nach einem anderen Job umzusehen. Er verdient so wenig, dass auf seinem Lohnscheck »so und so viele lumpige Dollar« stehen könnten, ohne dass jemand protestieren würde. Doch es ist seine Arbeitskleidung, die Bände spricht: Die Jeans sehen aus wie von Jackson Pollock und das T-Shirt wie von Heien Frankenthaler - auf der Leiter der Kunst steht er am unteren Ende. Chet, sein Boss, geht gerade mit einem Kunden im Schlepptau durch die Lagerhalle, und gedämpft dringen ihre Stimmen über die aufgestapelten Verstärker an Jeremys gespitzten Ohren. Er sieht die beiden kurz und registriert, dass der Kunde ein schick angezogener Geschäftsmann ist, wahrscheinlich der Manager einer Rockband, der einen Haufen Verstärker für ein bisschen Werbung haben will. Das Problem bei den Verhandlungen besteht darin, dass Chet die Verstärker natürlich nur verkaufen will und der Manager sie natürlich umsonst haben will. Einen Mittelweg gibt es nicht. Chets Firma steht das Wasser bis zum Hals und noch höher, und er kann es sich einfach nicht leisten, Geräte im Wert von fünfzehntausend Dollar herauszugeben, die erst Monate später zum Einsatz kommen. Mit einem Handschlag -78-
verdrückt sich der Manager, und Chet sieht zu, wie der Mercedes durch die Einfahrt im Maschendrahtzaun verschwindet. Für Christoph Kolumbus waren es Fahrten auf drei Segelschiffen, mit denen die große Reise seines Lebens begann. Für Jeremy ist es der Anblick des untergehenden Chet, der zusieht, wie der Hintern eines Hunderttausend-Dollar-Autos als kleiner Punkt auf einer Straße im Industriegebiet von Pacoima verschwindet. Jeremy legt seine Spritzpistole beiseite und baut sich vor Chet auf. »Weißt du, was ich gerade gedacht habe?« »Was denn?«, fragt Chet wortkarg. »Weißt du, wer mit Rockmusikern zusammenhockt, wenn sie unterwegs sind?« »Wer denn?«, fragt Chet. »Andere Rockmusiker.« »Und?« »Wenn du jemanden hättest, der mit einer von den Bands unterwegs ist, die unsere Sachen benutzen, jemand, der smart aussieht, so wie der Typ da...«- er zeigt in Richtung der Staubwolke, die der Mercedes hinterlassen hat -, »... jemand, mit dem sich die Musiker unterhalten könnten, dann könntest du einen ganzen Haufen Verstärker mehr verkaufen, da wette ich drauf.« »Und an wen ha st du da gedacht?« »An mich.« Chet blickt auf das Phantom an Unbrauchbarkeit, das da vor ihm steht. Er sieht keinen smart angezogenen Geschäftsmann, er sieht keinen cleveren Verkäufer. Aber er sieht jemanden, mit dem sich Rockmusiker wohl unterhalten könnten. »Und wie viel verlangst du dafür?«, fragt er. »Also, ich denke...« -79-
Diese Frage ist Jeremy noch nie gestellt worden. Man hat ihm immer gesagt, was er bekommt. Er kann noch nicht einmal ein Bewerbungsformular ausfüllen, in dem nach dem »Wunschgehalt« gefragt wird. Es macht ihn unsicher, denn er will immer »l Million Dollar« schreiben. Doch jetzt ist Jeremy gefragt worden, und er weiß keine Antwort: »...nichts.« »Was soll das heißen, nichts?« Jeremy kennt nur einen finanziellen Begriff aus seinem bisherigen Leben, und er durchstöbert sämtliche Fächer in seinem Gedächtnis, bis er ihn endlich findet: »... einen Finderlohn.« »Und was willst du finden?«, fragt Chet. »Bands, die unsere Verstärker nehmen. Und wenn eine andere Band dann unsere Verstärker nimmt, wegen einer Band, die ich dazu gebracht habe, dass sie unsere Verstärker nehmen, dann will ich für die auch einen Finderlohn.« »... von fünfhundert Dollar«, setzt er hastig hinzu. Chet sieht keinen Grund, Jeremys Vorschlag nicht anzunehmen. Schließlich wäre er ein Kommissionsvertreter, so etwas wie der Avonberater des Rock and Roll. Da ein Satz Verstärker fünfzehntausend Dollar kosten kann, macht es ihm nichts aus, fünfhundert davon für Jeremy abzuzweigen. Einen Ersatz für ihn zu finden, sollte auch kein Problem sein: Sein Neffe ist gerade mit der Highschool fertig und sucht einen künstlerischen Job. Jeremy, der seinen eigenen Wert überschätzt, denkt genau das Gegenteil: »Hoffentlich fällt ihm nicht ein, dass er jemand anders für meine Arbeit finden muss.« Chet nimmt das Angebot an, aber er muss ein wenig Bargeld vorstrecken, zweihundertzweiundzwanzig Dollar, damit sich Jeremy einen neuen Anzug kaufen kann. Jeremy ist immerhin so geschäftstüchtig, dass er sich von dem Geld noch ein extra Paar -80-
Hosen kauft, damit er nicht jeden Tag wie eine Kopie seiner selbst aussieht. Für fünf Dollar kauft er sich GQ - als Bibel in Stilfragen für unterwegs. Clever stellt er seine eigenen sechs Hemden zu einer Garderobe für eine ganze Woche zusammen. Er lernt es, unterwegs Zeitungsstände zu checken und heimlich Seiten aus Magazinen herauszureißen, um sich so modische Anregungen zu holen. Auf seine erste Tour geht Jeremy mit der einzigen professionellen Band, die derzeit Verstärker von Doggone verwendet, AGE - ausgesprochen »Ah-Geh«. Sie hatten einen einmaligen Erfolg mit einer Hit-Single, und dafür, dass er sie begleiten darf, bietet Jeremy ihnen an, ihre Verstärker unterwegs kostenlos zu warten. Er fährt im Tourbus mit und teilt sich eine Schlafkabine mit einem Roadie. Seine eigentliche Mission besteht natürlich darin, eine andere Band irgendwo davon zu überzeugen, dass er ein begnadeter Tontechniker ist, der den ultimativen Verstärker entwickelt hat, und dass die Verstärker von Doggone überhaupt die Einzigen sind, die für eine angesagte Band in Frage kommen. Drei Tage vor Thanksgiving steigt er in den Tourbus von AGE, und es beginnt eine Tournee durch sechzig Städte, die in Barstow in Kalifornien anfängt, dann Richtung New Jersey weitergeht und neunzig Tage später schließlich - ein Meisterstück unlogischer Reiseplanung - in Solvang in Kalifornien endet.
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Thanksgiving Der Abend, den Mirabelle und Ray nach der Nacht ihrer Vereinigung miteinander verbringen, ist so gut wie ihr erster, aber Ray wird an Thanksgiving nicht in L. A. sein, also muss sich Mirabelle auf ihre unzuverlässigen Freunde verlassen. Sie spricht einige Tage vorher mit Loki und Del Rey, und die sagen, dass sie zu einer großen Fressparty in West Hollywood gehen wollen, aber die Adresse noch nicht kennen und sie anrufen, sobald sie sie haben, damit sie hinkommen kann. Ein paar Tage vorher legt sie sich die Sachen für das Ereignis bereit, damit sie sie nicht aus Versehen schon vorher trägt und dann an dem großen Tag nichts anzuziehen hat. Was Mirabelle wirklich schmerzt, ist, dass sie nicht bei ihrer Familie sein kann, aber das geht eben nur an Thanksgiving oder Weihnachten, und Weihnachten ist besser zum Wegfahren, weil es länger ist. Weil sie so unwichtig für Neiman's ist, dreht sie es so, dass sie ganze fünf Tage frei nehmen kann - wobei sie sich einer großen Lüge bedient, der nämlich, dass der Psychiater ihres Bruders Urlaub macht und die ganze Familie gebraucht wird, um ihn über die Feiertage im Zaum zu halten. Diese traurige Mitteilung macht sie Mr. Agasa mit einem le ichten Schluchzen in der Stimme, das andeutet, dass sie gleich in Tränen ausbrechen wird. Das aufrichtige Mitleid, das Mr. Agasa mit ihrem vollkommen gesunden Bruder hat, beschämt sie, vor allem, als er ihr auch noch diverse Bücher empfiehlt, in denen es um den Zusammenhang zwischen seelischer Gesundheit und körperlicher Betätigung geht. Pflichtschuldig notiert sie sich die Titel und verstaut den Zettel in ihrer Handtasche. Am Morgen von Thanksgiving wacht Mirabelle voller Angst auf. Sie fürchtet, dass Loki und Del Rey vielleicht doch nicht anrufen, denn es wäre nicht das erste Mal, dass sie sie versetzen und sich noch nicht einmal Gedanken deswegen machen. -82-
Trotzdem kann sie sie als Freunde nicht fallen lassen, denn sie ist absolut auf ihre halbherzige Gesellschaft angewiesen. Sie sind außerdem ihre einzige Informationsquelle, was Partys angeht, denn bei den Mädchen von Neiman's ist sie als Einzelgängerin verschrien. Sie wartet bis zehn Uhr, dann ruft sie bei beiden an und hinterlässt auf den Anrufbeantwortern die Nachricht, dass sie ihr doch die Adresse für das ThanksgivingEssen zukommen lassen sollen. Mirabelle sieht einen katastrophalen Tag auf sich zukommen, wenn nicht eine von den beiden Trantüten anruft und ihr die Adresse durchgibt. Erstens hat sie kein Bargeld. Und zweitens weiß sie, dass, selbst wenn sie welches hätte, an Thanksgiving alles verriegelt und verrammelt ist, bis auf das Classic Diner. Doch das müsste sie erst aus den gelben Seiten heraussuchen, und dann wahrscheinlich in die City fahren, um hinzukommen. Sie macht den Kühlschrank auf, und da liegt in einer Styroporbox ein armseliges Sandwich, das sie vor zwei Tagen ungegessen aus einer Mittagspause mitgebracht hat. Voller Schrecken fixieren ihre braunen Augen dieses Überbleibsel, das vielleicht ihr Essen zu Thanksgiving sein wird. Sie macht einen Spaziergang auf der menschenleeren Straße vor ihrem Haus und hofft, dass bei ihrer Rückkehr das rote Lämpchen am Anrufbeantworter blinkt. Um ihr Haus herum rührt sich absolut nichts. Zwar hört sie Geräusche, eine Autotür wird zugeschlagen, Menschen reden, ein Hund bellt, aber das klingt geisterhaft, wie aus weiter Ferne. Sie geht an dem Schulhof in der Nähe ihrer Wohnung vorbei und hört das Klirren einer Kette, die im Wind an einen Metallpfosten schlägt. Kein Mensch ist zu sehen. Als sie sich wieder auf in den Rückweg macht und die Treppen zu ihrer Wohnung hinaufsteigt, ist es Mittag. Von der Tür aus kann sie sehen, dass das Lämpchen nicht blinkt, nicht vom Ende ihrer Sorgen kündet. Sie geht wieder nach draußen und wiederholt ihren 30minütigen Spaziergang. -83-
Diesmal rechnet sie. Sie rechnet, wie lange es dauert, bis Loki und Del Rey anrufen, wenn sie ihre Nachricht gehört haben. Wenn sie nach Hause kommen, werden sie den Anrufbeantworter wahrscheinlich innerhalb der ersten zehn Minuten abhören. Es sind vielleicht noch andere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, auf die sie antworten müssen, und vielleicht gibt es auch noch andere Dinge zu erledigen. Das heißt, dass vom Abhören bis zum Anruf eine halbe Stunde vergehen wird. Mirabelle weiß, dass ihre Runde genau eine halbe Stunde dauert, und mit einem Verfahren, das sie von Ray Porter übernommen hat, rechnet sie aus, dass keine neue Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter sein wird, wenn sie zurückkommt. Also biegt sie noch einmal ab und dehnt ihren Spaziergang um zehn Minuten aus. Als sie wieder nach Hause kommt, öffnet sie zögernd die Tür und sieht - aus dem Augenwinkel, denn sie will sich ihre eigene Angst nicht eingestehen -, dass das rote Licht des Anrufbeantworters sie rhythmisch anblinkt. Sie nimmt sich Zeit, bis sie die Nachricht abspielt, beschäftigt sich inzwischen mit einer überflüssigen Küchenarbeit. Es ist Jeremy, der von unterwegs anruft und ihr offensichtlich ein schönes Thanksgiving wünscht. Gleichzeitig mindert er den Wert seines Anrufs, indem er sich damit brüstet, dass er das Telefon umsonst benutzt. Mirabelle setzt sich auf ihren Futon, die Knie an die Brust gezogen, und lässt den Kopf hängen. Ihr Fuß klopft ungeduldig auf den Boden, während es später und später wird - erst eine Stunde, bevor die Party anfangen sollte, dann eine Stunde, nachdem sie anfangen sollte, bis es schließlich vier Uhr nachmittags ist, und die Dunkelheit beginnt, zum Fenster hereinzukriechen. Sie holt ihre Zeichensachen hervor, und während der nächsten Stunde füllt sie ein Blatt mit einem ölig schwarzen Hintergrund. Darin schwebt unheimlich, weiß herausgehoben, ihr eigenes nacktes Bild. -84-
Da klingelt es. Jeder Anruf ist gut an diesem tödlichen Tag. Sie wirft einen wütenden Blick auf das Telefon, lässt es klingeln und rächt sich so kurz an dem Anrufer. Dann greift sie schnell nach dem Hörer und hält ihn ans Ohr. »Hi, was machst du gerade?« Es ist Ray Porter. »Nichts.« »Gehst du zu Thanksgiving irgendwo hin?« »Ja.« »Kannst du absagen?«, fragt Ray. »Ich kann's versuchen.« Sie ist selbst überrascht von ihrer Antwort. »Wo bist du?« »Im Augenblick noch in Seattle, aber ich kann in dreieinhalb Stunden da sein.« Es war vier Uhr nachmittags, da empfand Ray das, was Jeremy auch scho n einmal empfunden hat: das Verlangen, sich in Mirabelle zu verlieren. Nur dass es von Seattle nach Los Angeles nicht so weit ist, wie von Jeremy zu Mirabelle, wenn zwei Menschen ein und dasselbe wollen. Ray hat ein Flugzeug bereitstehen - für schlappe neuntausend Dollar -, und Mirabelle hat kaum den Hörer aufgelegt, da ist er schon zur Tür hinaus. In den Stunden zwischen dem Telefongespräch und Rays Ankunft ändert sich Mirabelles Gefühlshaushalt stündlich, und manchmal leuchtet wie im Blitzlicht die Vorstellung in ihr auf, dass sie der wahren Liebe begegnet. Mr. Ray Porter, achttausend Meter hoch in der Luft, sieht zwei zartrosa Knospen auf ihrem weichen Fleisch. Aber so verschieden diese beiden Bilder auch sind, irgendwo treffen sich die Interessen der zwei, und wenn man es großzügig auslegt, dann sind sie heute, am Tag von Thanksgiving, ineinander verliebt. Ray bringt Essen aus dem Flugzeug mit, und da es ein Privatflug war, ist es gar nicht schlecht. Shrimps, Hummer und -85-
Obstsalat, alles in Styropor verpackt. Sie kuscheln sich auf Mirabelles Bett zusammen, das Festmahl um sich herum drapiert, Kerzen brennen, und er sagt ihr, wie schön sie aussieht und wie gern er sie berührt, und später holt Mirabelle die Handschuhe, die er ihr geschickt hat, stellt sich vor ihn hin, nichts als die Handschuhe auf der Haut, kriecht schließlich zu ihm ins Bett und liebkost ihn sinnlich mit dem Satin von Dior. Sie lieben sich ganz behutsam und danach schließt sich seine Hand um ihre Hüfte, und auch wenn dieser Haltung das letzte Quäntchen an Zärtlichkeit fehlt, schweben Mirabelles Gedanken doch, und wie einen Psalm nimmt ihr Herz die fünf Finger auf, mit denen er sie an sich zieht. Sie beruhigt, diese Berührung, schafft eine Verbindung, die ihr, wenn sie auch schwach ist, das Gefühl gibt, zu etwas, zu jemandem zu gehören, nicht so verlassen zu sein. Später, der Millionär liegt neben ihr, auf ihrem zu kleinen Bett in ihrem zu kleinen Zimmer, einen Arm um Mirabelle gelegt, auf seiner Brust eine Katze, tauschen sie kleine Gesprächshäppchen aus. Ray hört ihr zu, wie sie ihm ihr Leid klagt, über ihre Arbeit, ihr Auto, ihre Freunde, und klagt seinerseits ein bisschen, wenn auch nur zum Schein. So geht es hin und her, aber die Unterhaltung ist eigentlich nicht so wichtig wie das Gefühl, seine Hand auf ihrer Schulter zu spüren. »Feiertage können hart sein, wenn man allein ist. Ich mag sie überhaupt nicht«, sagt Ray. »Ich auch nicht«, erwidert Mirabelle. »Weihnachten, Thanksgiving...« »... alle furchtbar«, stimmt Mirabelle zu. »Ich hasse Halloween«, fährt Ray fort. »Oh - Halloween mag ich!« »Wie kannst du bloß Halloween mögen? Man muss sich ausdenken, als was man sich verkleidet, und wenn man es nicht -86-
macht, dann ist man ein Spaßverderber«, sagt Ray. »Ich mag Halloween, weil ich immer weiß, als was ich gehe«, erwidert Mirabelle. »Als was denn?« »Na, als Popeyes Freundin Olivia«, antwortet Mirabelle, und fügt ein unausgesprochenes »Dummerchen« hinzu. Sie sagt es ohne die leiseste Spur von Ironie, im Gegenteil, voller Freude darüber, dass wenigstens in diesem Teil ihres Lebens alles geklärt ist. Auch wenn er es nicht weiß - Ray Porter schläft mit Mirabelle, damit er jemandem nahe sein kann. Es ist schwierig für ihn, ihre Hand zu halten, er kann nicht auf der Straße stehen bleiben und sie einfach so umarmen, aber beim Sex kommt er ihr nahe. Er presst sein Fleisch an sie, und sein Körper hält das Fleisch für den Geist. Mirabelle hingegen legt ihm ihr Leben zu Füßen. Jedes Mal, wenn sie die Beine spreizt, jedes Mal, wenn sie sich auf die Seite legt und ihre Knie anzieht, damit er in sie eindringen kann, opfert sie ein Stück von sich, gibt ihm noch ein bisschen davon, und er kann ihr nichts dafür zurückgeben. Ray, der nicht versteht, dass sie sich das, was er von ihr bekommt, aus der Seele reißt, meint, es wäre einfach nur fair. Er ist ganz reizend zu ihr, fängt an, ihr kleine Geschenke zu machen. Er ist immer rücksichtsvoll ihr gegenüber, drängt sie nicht, wenn sie nicht in Stimmung ist. Er meint, er wäre freundlich zu ihr. Mirabelle ist nicht schlau genug, um zu verstehen, was mit ihr geschieht, und Ray Porter ist nicht schlau genug, um zu wissen, was er ihr antut. Sie ist dabei, sich in ihn zu verlieben, und sie erwartet, dass ihre Liebe uneingeschränkt erwidert wird, wenn Mr. Porter erst einmal zur Besinnung gekommen ist. Doch im Augenblick nutzt er die Stunden mit ihr, um sein eigenes Verlangen nach Nähe zu stillen. Am Morgen, im Coffeeshop an der Ecke, macht Ray alles -87-
kaputt, als er noch einmal seine Unabhängigkeit betont, sogar ganz klar sagt, dass ihre Beziehung andere Affären nicht ausschließt. Mirabelle, ganz logisch und rational, und in dem Glauben, dass auch sie sich nach Belieben verabreden kann, erkennt es für sie beide an, und fügt dann hinzu, dass, wenn er mit einer anderen schläft, sie es erfahren sollte. »Bist du sicher, dass du das willst?« »Ja«, erwidert Mirabelle, »es ist mein Körper - also habe ich ein Recht darauf.« Ray glaubt ihr, denn er ist naiv. Drei Tage bleibt Ray noch in L.A., verbringt noch eine Nacht mit Mirabelle, ruft sie zweimal an, verletzt sie noch einmal ungewollt, bringt sie noch einmal in Hochstimmung, schläft noch einmal mit ihr, schenkt ihr eine Armbanduhr und eine Bluse, macht ihr Komplimente wegen ihrer Haare, schenkt ihr ein Abonnement für Vogue - doch nur selten, vielleicht zwei Mal, küsst er sie. Mirabelle tut so, als macht es ihr nichts aus. Als schließlich wieder Montag ist, fährt sie zur Arbeit und geht an den Parfüm-Mädchen vorbei, selbstbewusst und für jeden sichtbar durchdrungen von dem Gefühl, dass jemand sich für sie interessiert.
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Der Besucher Darf ich Sie zum Essen einladen?« Mirabelle steht auf ihrem Posten, und vor ihr ein Mann, Mitte fünfzig, leicht übergewichtig, mit kurz geschorenem Haar und angezogen wie jemand, der sich wegen seiner Kleidung noch nie Gedanken gemacht hat. Für einen Anhänger von Neiman's ist alles, was er trägt, aus dem falschen Stoff, sein Gürtel ist nicht aus Leder und seine Schuhe sind Katalogware. Auf seinem Kopf sitzt ein Filzhut. Er trägt ein Hawaiihemd aus Nylon, Baumwollhosen und ausgetretene Arbeitsschuhe. »Sie sind Mirabelle Buttersfield?« »Ja.« »Mein Name ist Carter Dobbs. Ich bin auf der Suche nach Ihrem Vater.« Mirabelle und Carter sitzen im Time Clock Café. Ihr Bewunderer Tom ist diesmal nicht mit von der Partie, aber die meisten Stammgäste nehmen ihre Plätze ein und verlassen sie wieder - so als hätte ein unsichtbarer Regisseur gerufen: »Alles auf die Plätze, bitte.« Schon ziemlich zu Beginn des Gesprächs erfährt Mirabelle, warum dieser Mann nicht ins Bild von Beverly Hills passt, es auch gar nicht will. »Ich war mit Ihrem Vater in Vietnam. Ich habe versucht, ihn über seine Adresse ausfindig zu machen...« Er schiebt einen Zettel über die metallene Tischplatte. Mirabelle sieht, dass es ihre Adresse von Zuhause ist, die sich seit achtundzwanzig Jahren nicht geändert hat. »Ich habe ihm geschrieben, aber nie eine Antwort bekommen«, sagt der Mann. »Kennt er Sie denn?«, fragt Mirabelle. »Er kennt mich sogar sehr gut. Es hat nie ein Problem -89-
zwischen uns gegeben, aber er antwortet einfach nicht.« »Wieso nicht?« »Ich denke, ich weiß warum, aber das ist eine persönliche Sache, und ich glaube, dass er mit mir reden muss.« »Tja«, sagt Mirabelle, »das da ist unsere Adresse. Ich weiß auch nicht, wieso er sich nicht bei Ihnen meldet, aber...« »Werden Sie ihn sehen?«, unterbricht Carter. »Ja, Weihnachten werde ich ihn sehen, und ich kann ihm Ihre Karte geben, oder was Sie sonst wollen.« »Danke. Gerade die, die es am nötigsten haben zu reden, die melden sich nicht.« »Es ist doch so lange her.« »Sicher, Herzchen, so lange her. Einige kommen besser zurecht, die anderen nicht so gut, und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, meine Brüder zu finden und zu sehen, ob es ihnen gut geht. Geht es Ihrem Vater gut?« »Nicht immer.« Mirabelle versucht, Carter zu taxieren. Sie hat Leute wie ihn in Vermont gesehen, auch wenn Carter eindeutig nicht aus Vermont kommt, so wie er spricht, mit dem Nicht-Akzent des Mittelwestens, nur manchmal die Vokale ein ganz klein wenig lang gezogen. Gute Manieren, freundlich, anständig. So wie ihr Vater. Nur dass Carter Dobbs reden will. Mirabelles Vater, Dan Buttersfield, hat mit ihr nie über Gefühle geredet. Sie hat absolut keine Ahnung von irgendwelchen Familiengeheimnissen, sie hat ihn nie wütend erlebt. Er hat ihr nie etwas von Vietnam erzählt. Wenn man ihn fragt, schüttelt er den Kopf und wechselt das Thema. Er ist unerschütterlich, so wie es sich für einen guten Weißen aus Vermont gehört. Mirabelle war siebzehn, da schlug in ihrer Familie die Enthüllung, dass ihr Vater über sieben Jahre eine sexuelle Affäre gehabt hatte, wie eine Bombe ein. Mirabelle war -90-
emotional immer fünf Jahre hinter ihrem eigentlichen Alter zurück, und nahm diese Nachricht daher wie eine Zwölfjährige auf. Es traf sie schwer, und die nächsten elf Jahre konnte sie Glück nur heucheln. Dieses Ereignis passt genau in das Puzzle aus Traurigkeit in Mirabelles Kopf. Seit sie gesehen hat, wie ihre Mutter kämpfte, steckt tief in ihr die Angst, dass ihr das Gleiche passieren könnte, und wenn irgendetwas auch nur annähernd Ähnliches in ihrem Leben geschieht wenn etwa der derzeitige Freund wieder zu seiner alten Freundin zurückkehrt -, dann bricht sie zusammen. Carter Dobbs begleitet sie noch zurück zu Neiman's. Er gibt ihr eine Karte von Dobbs' Autoersatzteile in Bakersfield, Kalifornien, und drückt ihr zum Abschied den Arm. Als er sich zum Gehen wendet, wird ihr endlich klar, was sie an ihm stört: Er lacht nicht.
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Guter Geist Mirabelle steckt im Freitagabendstau - obwohl erst Donnerstag ist. Sie schleppt sich den Beverly Boulevard entlang, bleibt an jeder Ampel stehen, schafft es nicht, im entscheidenden Sekundenbruchteil vor dem Umschalten Gas zu geben und wird dafür nicht nur einmal angehupt. Sie fühlt sich unbehaglich, eingeschlossen im Dunkel ihres Autos, die Scheibenwischer im Intervallbetrieb. Die Dunkelheit macht ihr Angst. Dann weicht das Unbehagen kurz dem beängstigenden Gefühl, ihre Seele würde über ihrem Körper schweben. Sie spürt, wie sich ihr Geist von ihrer leiblichen Gestalt trennt, und ihr Herz beginnt zu rasen. Er hatte sich schon vor Monaten angekündigt, dieser unwillkommene Besucher in ihrem Körper, doch schien er nur durch sie hindurchzufliegen und wieder zu verschwinden. Diesmal ist das Gefühl stärker, und es bleibt länger. Es ist, als ob Gewichte ihren Körper nach unten zögen und ihr Geist systematisch auseinander genommen würde. Sie findet kaum den Weg vom Parkplatz, und die Treppen zu ihrer Wohnungstür nehmen kein Ende. Stufe um Stufe schleppt sie sich hinauf. Mit Mühe schiebt sie die Tür mit dem im Schloss steckenden Schlüssel auf. Kaum in der Wohnung, setzt sie sich auf den Futon und bleibt regungslos sitzen, stundenlang. Die Katze stößt sie an, verlangt ihr Abendessen, doch sie kann nicht aufstehen. Mirabelle hat das schon einmal erlebt, aber die Depression ist so stark, dass sie sich nicht erinnert, dass es an ihrer Körperchemie liegt. Wie schon einmal vor ein paar Jahren versagt ihr Medikament. Das Telefon klingelt, aber sie kann nicht abnehmen. Sie hört, wie Ray Porter eine Nachricht hinterlässt. Ohne zu essen -92-
schleppt sie sich zu Bett. Sie schließt die Augen, und die Depression lässt sie einschlafen. Doch der Schlaf bringt keine Erleichterung. Die Depression lässt nicht nach, wartet nicht höflich und kommt erst am Morgen wieder, wenn sie ausgeruht ist. Nein, sie bleibt, und heute Nacht sucht sie Mirabelle auch im Schlaf heim, vergiftet ihre Träume. Am Morgen meldet sie sich krank, sagt, sie hätte Grippe - die einzige benennbare Krankheit, die dem nahe kommt, was sie in Wirklichkeit durchmacht. Gegen Mittag kommt ihr der Gedanke, ihren Arzt anzurufen. Der sagt, sie soll kommen und meint, sie hätte einen pharmazeutischen Kollaps. Aber ihre kranke Chemie macht sie so teilnahmslos, dass sie nicht einmal gesund werden will. Sie spürt, wie alles wertlos wird, was ihr etwas bedeutet: das Zeichnen, ihre Familie, Ray Porter. Zum ersten Mal in ihrem Leben wäre sie lieber tot. Die Stunden verstreichen, und vielleicht wäre sie den ganzen Tag auf dem Futon sitzen geblieben, wenn nicht gegen vier Uhr das Telefon geklingelt hätte. Diesmal nimmt sie ab. »Alles in Ordnung?« Es ist Ray Porter. »Ja.« »Ich hab gestern Abend bei dir angerufen.« »Ich hab die Nachricht nicht gehört. Mein Anrufbeantworter spinnt«, lügt sie. »Wollen wir heute Abend essen gehen? Es ist mein letzter Abend hier für eine ganze Weile.« Mirabelle kann nicht antworten. Ray fragt noch einmal: »Ist alles in Ordnung?« Diesmal lässt sie ihren Tonfall für sich sprechen. »Es geht so.« »Was ist los?«, fragt Ray. »Ich muss zum Arzt.« »Wieso? Wieso musst du zum Arzt? Was ist los?« -93-
»Nein, ich muss zu meinem... ich nehme Serzone, aber es wirkt nicht mehr.« »Was ist Serzone?«, fragt Ray. »So etwas wie Prozac.« »Soll ich dich zum Arzt bringen? Soll ich kommen und dich hinfahren?« »Es wäre wahrscheinlich schon besser, wenn ich hingehen würde...« »Ich komme und bring dich hin.« In einer Stunde hat Ray Mirabelle abgeholt und sie in Beverly Hills bei Dr. Tracy abgesetzt. Jetzt sitzt er im Auto und wartet auf sie, im Halteverbot. Er sieht, wie Leute in das Klinikgebäude hinein und heraus strömen, und er fragt sich, wie Mirabelle sich eine solche Behandlung leisten kann. Doch das gehört zu den Vergünstigungen, in deren Genuss die Angestellten von Neiman's kommen, und so kann sie sich bei einem hiesigen Arzt behandeln lassen. Glücklicherweise ist ihr Arzt aus San Fernando, zwanzig Meilen von ihrer Wohnung entfernt, in das Conrad Medical Center gezogen, nur zwei Häuser von ihrer Arbeitsstelle. Ray sieht, wie eine schöne Frau in den Dreißigern das Gebäude verlässt, einen breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen, über zwei noch frische, enorme Lippen. Er nimmt an, dass man nach der Injektion eine Weile warten muss, bis sie wieder annähernd menschliche Maße annehmen. Er sieht ein junges Mädchen im eng anliegenden Kleid, den Hintern in Viskose gepackt, der Rumpf thront auf zwei Baumstümpfen. Er sieht etwas, was für ihn bisher nur als Parodie existierte: einen lederhäutigen Geschäftsmann mit schwarz gefärbtem Haar, das Hemd offen bis zum Bauchnabel und 14 Karat auf der Brust. Es klimpert, als er über die Straße hastet. Er sieht ungefähr ein Dutzend Frauen, die der Meinung sind, dass, was den Brustumfang angeht, nur Üppigkeit zählt. Er fragt sich, ob sie es wirklich ernst meinen, ob die Männer, die sie -94-
anbeten, ihnen ihren Ausrutscher verzeihen und sie trotzdem lieben, oder sie vielleicht als großartige Beispiele auf die Spitze getriebener Weiblichkeit sehen. Das ist es, was ihm an Mirabelle gefällt: Ihre Schönheit ist nicht gezüchtet, und er kann sich darauf verlassen, dass das, was er am Abend sieht, am Morgen auch noch da ist. Er fragt sich, was es ist, das ihn, den Millionär, hier im Auto sitzend, auf ein 28jähriges Mädchen warten lässt. Ist es nur sein Verlangen nach ihr, oder geschieht da etwas, das unerwartete, unvorhersehbare Gefühle für sie in ihm weckt? Er sieht eine Touristenfamilie mit einer 16jährigen Tochter, die von so reiner Schönheit ist, dass er sich der lüsternen Vorstellung schämt, der er sich kurz hingibt. Rays Jagdrevier hat keine allzu festen Grenze n, auch wenn er bisher kaum unter die recht willkürlich festgelegte Marke von fünfundzwanzig Jahren gegangen ist. Doch etwas unterscheidet ihn von dem Mann mit dem gefärbten Haar, der eben über die Straße geklimpert ist: Er ist wirklich auf der Suche nach jemandem. Nur muss er erst noch ein paarmal am Boden zerstört sein, weil er sich zu intensiv mit dem falschen Menschen eingelassen hat, muss ein Herz brechen und wissen, dass er daran Schuld ist, muss erleben, wie er plötzlich jegliches Interesse verliert, und das nur Stunden, nachdem sein Verlangen einen Gipfel erreicht hat. In dieser Zeit des Übergangs vom Jungen zum Mann kann er noch nicht unterscheiden, welche Frau zu ihm passt und welche nicht. Das kommt erst noch. Und bis dahin wandern seine Blicke umher und lenken sein Unterbewusstsein auf die kleinsten begehrenswerten Aspekte der Frau. Ihr Nacken, auf das der Schatten ihres Haars fällt. Die Wölbung ihres Fußes in einer offenen Sandale. Ein reizvoller farblicher Kontrast zwischen Bluse und Rock, die sie trägt. Diese flüchtigen Eindrücke erwecken sein Verlangen, doch er will sich nicht eingestehen, wie wenig es ist, wonach ihn verlangt, und so bläst er es auf, zu ihrer ganzen -95-
Person, damit er sich selbst nicht schlecht vorkommt. Dann beginnt die Werbung, unbewusste Lügen werden erzählt, ein ungeheuer komplexer Überbau wird errichtet, und das alles nur, um an das Geheimnis eines Knöchels zu gelangen, der sich verführerisch in einen zu großen Joggingschuh schmiegt. Während Ray Porter so in seinem Wagen sitzt, in seiner Galerie der Lust, und Dutzende Frauen durch sein Fadenkreuz laufen, erwacht in ihm das Verlangen nach Mirabelle und ergreift mehr und mehr von ihm Besitz. Er erinnert sich daran, dass es ihr nicht gut geht, aber möglicherweise ist sie ja später in Stimmung, und überhaupt ist vielleicht ein bisschen ordentlicher Sex das Beste für sie. Mirabelle kommt aus dem Klinikgebäude, mit einem Zettel in Größe eines Rezeptes in der Hand. Sie kommt ans Auto, und durch das heruntergelassene Fenster erklärt sie, dass sie zur Apotheke auf der anderen Straßenseite geht, um das Medikament zu holen. Ray nickt und fragt sie, ob er mitkommen soll. Mirabelle verneint. Als sie die Straße halb überquert hat, zögert sie und kommt dann zum Wagen zurück. Ray lässt die Scheibe herunter, und Mirabelle, zusammengeschrumpft wie ein Kind, das sich schämt, sagt: »Ich habe kein Geld.« Ray stellt die Zündung ab, geht mit ihr hinein und zahlt achtundsiebzig Dollar für hundert Tabletten Celexa, das neueste Wunder der Chemie, das Mirabelles schlingerndes Schiff aufrichten soll. Als sie wieder im Auto sitzen, schlägt er ihr vor, dass sie heute Nacht bei ihm bleibt. Mirabelle versteht dies als Zeichen von Fürsorge - und das ist es auch. Nur ist Rays Fürsorge ein bitterer Trank: Ein Teil wohlwollender Altruismus, ein Teil Schimpansenpenis. Er fährt Mirabelle über gewundene Straßen durch die Hügel von Hollywood, und sie sinkt immer mehr in sich zusammen. Es wird Wochen dauern, bis die Tabletten anfangen zu wirken, und sie weiß es. -96-
»Danke, dass du das für mich machst.« »Schon in Ordnung«, erwidert Ray. »Geht's dir schon besser?« »Nein.« Aber schon der Gedanke, dass jemand sich um sie kümmert, gibt ihr Auftrieb, hebt sie genau eine Handbreit über den tiefsten Grund ihrer Depression. Dafür wird sie jetzt von heftigen, schneidenden Kopfschmerzen geplagt, und nachdem Ray das Auto in die Garage gefahren hat, bringt er sie in sein Bett. Wenn die Kopfschmerzen nicht gekommen wären, hätte Ray seine Hand über sie gleiten lassen, über die Brust nach unten auf den Bauch, und hätte versucht, sie zu verführen. Doch die Schmerzen verhindern, dass sie die dunkelste Seite seines Verlangens nach ihr sieht, und die schlimmste Seite des Verlangens der Männer im Allgemeinen. Ray kann von Glück sagen, dass er es nicht versucht, denn sie hätte ihn gehasst dafür. Mirabelle schläft bewegungslos und ohne einen Laut von sich zu geben, das kastanienbraune Haar bedeckt Gesicht und Hals. Ray liegt neben ihr, zappt sich durch die Fernsehkanäle, den Ton auf Flüsterlautstärke gestellt, macht ein Kreuzworträtsel, schaut sie an, und fragt sich zwischendurch, ob er sie jetzt vielleicht aufwecken sollte, ob jetzt die richtige Zeit wäre für das beste Heilmittel, für Sex. Doch nichts geschieht, und schließlich nickt er ein und schlä ft unruhig bis zum Morgen. Beim Frühstück ist alles wie immer, nur kennt er diesmal den Grund für Mirabelles Lethargie - sie ist krank. Ray verlässt L.A. für zehn Tage, und fürsorglich bringt er sie nach Hause und wartet, während sie sich für ihren Tag bei Menschlicher Wohnen sortiert. Mirabelle will nun doch wieder gesund werden, und sie weiß, dass körperliche Aktivität gut für sie ist. »Meinst du, du kommst zurecht?« »Ja.« -97-
Er zieht sie eng an sich, seine Handflächen fest auf ihrem gestrafften Rücken, dann wendet er sich mit einem Winken und einem Gruß zum Gehen. Geistesabwesend plagt sich Mirabelle bei Menschlicher Wohnen, hebt Isolierplatten an und schleppt sie herum. Ab und an schneidet sie unmissverständliche Grimassen in Richtung der anderen. Sie hat keine Lust, noch auf ein Bier mitzukommen, obwohl ein Mann aus der Gruppe mit ihr flirtet. In ihrer Depression hat sie zufällig genau das angezogen, was die, die ein Auge auf sie werfen, verrückt macht. Genau die richtigen Shorts und genau das richtige T-Shirt, die genau an den richtigen Stellen spannen. Ray ruft sie am Abend an, um zu hören, wie es ihr geht. Sie fühlt sich tatsächlich schon ein bisschen besser, und sei es auch nur wegen der eingeredeten Wirkung der einen Tablette und dem Gefühl, der Monotonie der Handschuhabteilung wenigstens für ein Wochenende entronnen zu sein. Und trotzdem sitzt sie den ganzen Montagmorgen da, fast regungslos, nur eine dünne Eisschicht trennt sie von Selbstmordgedanken, und sie kämpft jedes Wochenende, damit sie nicht einbricht. Wochen später weiß Mirabelle nicht genau, ob es ihr einfach so besser geht oder weil die Tabletten wirken. Es kommt ihr vor wie eine natürliche Wiederauferstehung, und sie fragt sich, ob sie die Pillen überhaupt braucht. Aber sie ist nicht dumm und erinnert sich, gehört zu haben, dass es vielen so geht, also nimmt sie die Tabletten weiter jeden Tag.
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Vermont Weihnachten rückt näher, und Mirabelle plant ihre Reise nach Vermont. Sie wird einen der schrecklichsten Flüge nehmen, die man sich vorstellen kann, den Lumpensammler nach New York am Heiligabend, mit Anschluss zu einem Zubringer nach Montpelier um acht Uhr morgens am 25., und dann noch hundertfünfzig Meilen mit dem Bus nach Hause fahren. Ray hat ihr angeboten, das Ticket zu bezahlen, weil er denkt, dass Weihnachten Mirabelles Budget sowieso strapazieren wird warum soll er sie also nicht unterstützen. Er schiebt ihr außerdem noch zweihundertfünfzig Dollar zu, damit sie vor ihren Freunden nicht als armer Schlucker dasteht. Mirabelle weiß schon, was sie Ray zu Weihnachten schenken wird: die Zeichnung, die sie in ihrer Verzweiflung an Thanksgiving gezeichnet hat, auf der sie nackt im schwarzen Raum schwebt. Und auch er weiß, was er ihr schenken wird: eine sorgfältig ausgesuchte Bluse von Armani, die er gekauft hat, weil er weiß, dass sie verrückt danach wäre. Der Alptraum ihrer Reise beginnt für Mirabelle mit einem Anruf von Ray, der ihr alles Gute wünscht, und einer schwarzen Limousine, die er geschickt hat, um sie zum Flughafen zu bringen. Der Wagen ist die letzte Oase der Ruhe, bevor sie im feiertäglichen Massenansturm untergeht, und das, obwohl sie zu einer so unmenschlichen Zeit reist. Nach ein paar Stunden stinkt der Jumbo nach New York nach den Ausdünstungen von vierhundert Reisenden, die in der unruhigen Weihnachtsluft hin und her geschüttelt werden. In New York steigt sie um und findet sich in einer Propellermaschine, die eine volle Stunde auf der Piste steht, bevor sie abhebt. Beim Anflug auf Montpelier wird das Flugzeug von einem Schneesturm durchgerüttelt, der sogar dem Piloten Angst macht. Mirabelle muss den 25jährigen, eins neunzig großen Footballspieler neben ihr beruhigen, der bei -99-
jedem Brummen des Triebwerks und jedem Quietschen der Landeklappen zusammenfährt. Sie selbst hat keine Angst, sie kann sich einfach nicht vorstellen, dass das Flugzeug etwas anderes machen könnte als zu landen. Also beruhigt sie immer wieder den Sportler neben sich und liest zwischendurch in ihrem Buch. Am Morgen, nachdem sie ihr Gepäck ohne Hilfe abgeholt und zu dem Zubringer geschleift hat, der sie zum Busbahnhof bringt, sieht sie aus wie eine Collegestudentin auf dem Weg nach Hause - oder auch wie eine Pennerin. Der Bus, in dem es zugleich warm und kalt ist, fährt durch das leichte Schneetreiben. Die Fahrgäste sind ziemlich gleichmäßig in zwei Gruppen unterteilt: einige wie Mirabelle - erschöpfte Reisende, denen auf endlosen Nachtflügen nur unruhige Nickerchen vergönnt waren, während die anderen, hellwach, auf der ersten Etappe ihrer aufregenden Weihnachtsreise munter plaudern. Als der Bus um elf Uhr dreißig in Dunton ankommt, sieht Mirabelle ihren älteren Bruder im Busdepot stehen, mit einem knallroten Parka, so groß wie ein Ölfass. Sie begrüßen sich flüchtig, während sie in ihrem knappen kalifornischen Jäckchen vom Bus zum Auto rennt. Der eiskalte Wind erinnert sie daran, wie lange sie schon in L.A. ist. Ihr Bruder lässt den limonengrünen VW an, murmelt »Hi, Schwesterchen« und fährt dann mit ungefähr fünf Meilen pro Stunde über vereiste Straßen. Ken ist Polizist und unheimlich geschickt, wenn es darum geht, Kriminellen in seiner kleinen Stadt auf die Schliche zu kommen hauptsächlich, weil er jeden kennt und einen sechsten Sinn dafür hat, welche Heranwachsenden auf Abwege geraten könnten. Mirabelle empfindet tiefe Zuneigung für ihren Bruder, auch wenn sich das nie in ernsthaftem Austausch manifestiert hat. Sie fragt ihn, wie es Mom und Dad geht, und er antwortet wahrheitsgemäß, dass sie sich nicht verändert haben. Nicht verändert heißt: Für Mom ist es unvorstellbar, dass Mirabelle Sex hat, und für Dad existiert das Thema überhaupt -100-
nicht. Trotz ihrer achtundzwanzig Jahre ist und bleibt Mirabelle das Kind für die Familie. Vater und Tochter, Tochter und Mutter - an diesen Beziehungen hat sich nichts geändert, und ge nau dieses Gefühl des Eingeschlossenseins hat Mirabelle vor neun Jahren aus dem Haus und nach Kalifornien getrieben, wo sie in neuer Erde anfangen konnte, nach ihrem wahren Ich zu graben. Doch sobald sie durch die Tür ihres Elternhauses geschritten ist, existiert Kalifornien nicht mehr. Mäßigung in allen Dingen, auch im Erfolg. Ihr Vater versorgt die Familie gut, doch mehr hat er nicht erreicht. Das Haus ist klein, die Wände dünn, sie haben zwei alte Autos. Zur Zeit allerdings ist ihr Vater relativ erfolgreich mit dem Verkauf von Haushaltsartikeln à la Amway. Das zusätzliche Einkommen bedeutet, dass einige Dinge instand gesetzt werden, so bedeckt beispielsweise eine Plastikfolie das ganze Dach, und sobald trockenes Wetter ist, soll es repariert werden. Catherine und Don sind seit 35 Jahren verheiratet, und das unerschütterliche Gebäude ihrer Ehe hat nur einmal Risse bekommen, als Don seine sieben Jahre dauernde Affäre mit einer Nachbarin gestand. Catherine brach erst zusammen, dann kämpfte sie und baute die Ehe wieder auf, mit einer stillen Kraft und Klugheit, die sie nie zuvor in ihrem Leben an den Tag gelegt hatte und auch danach nie wieder entwickelte. Diejenige, die daran zerbrach, die sich nicht wieder erholte, die nicht verstand und die das Bild ihres Vaters wanken und fallen sah, war Mirabelle. Mirabelle wusste nicht, wie sie über diesen Betrug hinwegkommen sollte, und Don wusste nicht, dass er, als er seine Frau betrog, seiner Tochter das Gleiche antat. Aber sie wollte immer noch geliebt werden, von die sem Mann, der das Unaussprechliche getan hatte, und es verwirrte und überwältigte sie, wie sie sich zu ihrem Vater hingezogen und gleichzeitig von ihm abgestoßen fühlte. Doch schon vor diesem Ereignis hatte Mirabelle Angst vor -101-
ihrem Vater gehabt, nur konnte sie sich nicht erinnern, weswegen. Woran sie sich jedoch erinnert, ist eine Veränderung in seinem Verhalten, nachdem er aus dem Krieg zurückgekommen war. Sie erinnert sich an einen liebevollen, ja fröhlichen Mann, der plötzlich mürrisch und verschlossen war, mit dem man vorsichtig umgehen musste. Da Stille das Haus erfüllte, zog sich Mirabelle in ihr Zimmer zurück und las, und so begann eine lebenslange Beziehung zu Büchern. Doch all das liegt nun Jahre zurück, und ihr Vater ist inzwischen viel zugänglicher, so als wäre er weich geworden, als hätte sich seine Entschlossenheit, sich abzukapseln, mit der Zeit abgenützt. »Und - wie geht's dir da drüben so?« Ihr Vater sitzt im bequemsten Sessel im Wohnzimmer, und Mirabelle auf dem Sofa, schon fast entspannt. »Gut - ich arbeite immer noch bei Neiman's.« »Wie kommst du mit der Kunst vorwärts?« Don nimmt ihre künstlerischen Bemühungen durchaus ernst und versucht sie zu verstehen, so gut er kann. »Ich mache Zeichnungen, Daddy. Ein paar habe ich sogar schon verkauft.« »Ehrlich? Das ist ja wirklich toll, wirklich. Was kriegst du denn dafür?« »Die letzte hat sechshundert Dollar gebracht, ein Teil geht allerdings an die Galerie.« Mirabelles Mutter kommt mit einem Tablett Cokes herein und sieht noch den bescheidenen Ausdruck von Stolz auf dem Gesicht ihrer Tochter. Sie wirft ihr einen schiefen Blick zu, so als wollte sie sagen »Kann denn das wirklich sein?« Aus irgendeinem Grund spielt sie gern die Ahnungslose, wenn es um diese Kunstsachen geht, die Mirabelle da macht. Sie tut so, als verstünde sie nicht, wie man sich so intensiv damit beschäftigen kann. Diese Selbsttäuschung wurzelt in dem unergründbaren und willkürlichen Entschluss, bestimmte Dinge außerhalb ihres -102-
Verständnisses zu belassen, so wie der Hausherr einfach nicht in der Lage ist zu begreifen, wie man Geschirr spült und abtrocknet. Die Frau, die einen Schutzwall um ihre Familie aufrichtete, als sie in Gefahr war, hält es jetzt für angebracht, sich dumm zu stellen. Die drei unterhalten sich weiter, und nach einer Weile schlägt Dad vor, einen Spaziergang durch ihr Viertel zu machen, was sie dann auch tun. Er führt sie zu bestimmten Häusern, damit er die Nachbarn herausklingeln und seine Tochter präsentieren kann. So wird Mirabelle wieder zu der Tochter, die sie fü r ihn war, bevor seine Affäre offenbar wurde. Sie bleibt hinter ihrem Vater zurück, ihre Haltung wird linkisch, ihre Stimme dünn, schüchtern begrüßt sie bekannte Nachbarn, und nichts von dem, was sie in Kalifornien erlebt und gesehen hat, kommt in ihrem Auftreten zum Ausdruck. Catherine steht daneben, ganz Ehefrau, und Mirabelle sieht sie an und fragt sich verwundert, woher eigentlich ihre eigene ausgeprägte Sinnlichkeit kommt. Nach dem Abendessen im Kreis der Familie, bei dem auch die Frau ihres Bruders, Ella, anwesend ist, sodass sie zu fünft sind, geht Mirabelle auf ihr Zimmer. Dort sitzt sie auf dem Bett, inmitten der Relikte ihrer Kindheit. Die ausrangierte Nähmaschine ihrer Mutter ist hier verstaut, und in ihrem Wandschrank stehen ein paar vereinzelte Pappkartons herum, doch ansonsten ist alles noch genauso wie früher. Ein Uhrenradio aus den Siebzigern - vordigital steht auf ihrem Nachttisch, noch an derselben Stelle wie zu der Zeit, als Jimmy Carter Präsident war. Die Bücher, in die Mirabelle sich verkroch, wenn sie der Familie entfliehen wollte, sind immer noch ordentlich auf dem angestrichenen Rattanregal aufgereiht. Der Schein der Glühlampe an der Decke hüllt alles in einen gelblichen Schimmer, und auch das ist vertraut. Im Haus kommt sie sich fremd vor, doch hier, in diesem Zimmer, nicht. Dieses Zimmer gehört ihr, und es ist der einzige Ort, an dem sie ganz genau weiß, wer sie ist und gegen wen sie kämpft, und am -103-
liebsten würde sie für immer hier bleiben. Mirabelle öffnet einen der Kartons - es sind Schubladen aus Pappe in Fächern aus Pappe - und findet stapelweise alte Steuerformulare, die eigentlich längst nicht mehr aufgehoben werden müssten, ein paar Haushaltsbücher und zusammengerolltes Weihnachtspapier. Sie kniet sich hin, wischt den Staub am Boden weg und zieht die untere Schublade auf. Ein zusammengelegter Pullover und noch mehr buchhalterisches Treibgut kommen zum Vorschein. Eine Fotosammlung steckt in einem weiteren alten Kassenbuch. Als sie es hochnimmt, fallen die Fotos auf den Boden des Kartons. Sie stöbert darin und findet alte Bilder von Weihnachten, wie sie als Elfjährige auf den Schultern ihres Vaters reitet. Er grinst über das ganze Gesicht und macht Faxen, ihr Bruder steht mit einer futuristischen Schusswaffe daneben, und Mutter fotografiert wahrscheinlich. Aber eines bleibt für Mirabelle ein Geheimnis: Was ist geschehen - warum hat ihr Vater aufgehört, sie zu lieben? Sie liegt auf dem Bett und hält die Fotos wie ein Rommeblatt in der Hand. Jedes von ihnen ist eine Fahrkarte in die Vergangenheit, jedes offenbart einen Moment, nicht nur in den Gesichtern, auch in den Möbeln und den anderen Gegenständen im Hintergrund. Sie erinnert sich an diesen Schaukelstuhl, erinnert sich an diese Illustrierte, erinnert sich an dieses Porzellansouvenir aus dem Jefferson-Museum in Monticello. Sie starrt in diese Fotos, kriecht in sie hinein. Sie weiß, dass, obwohl die gleichen Menschen und die gleichen Möbel da draußen vor ihrer Tür sind, das gleiche Foto nicht noch einmal gemacht werden kann, nicht noch einmal gestellt und noch einmal geknipst werden kann - nicht ohne die Zeit zurückzudrehen. Alles ist noch da, und doch nicht mehr greifbar. Diesen melancholischen Gedanken hängt sie nach, bis sie einschläft, und sie genießt das Gefühl, doch sie kann sich nicht erklären, wieso diese Bilder über ihre offensichtliche nostalgische -104-
Faszination hinaus so eine Macht haben. Am nächsten Tag macht sie mit ihrem Vater einen Spaziergang durch den Wald. In Vermont landet man immer im Wald, egal welche Richtung man einschlägt, also nehmen sie den Weg direkt durch den Garten hinter dem Haus. Der Schnee knirscht, und es lässt sich recht gut darauf laufen. Mirabelle trägt den Parka ihrer Mutter, es sieht aus, als hätte sie jemand aufgeblasen. Dad, ganz Mann, trägt über Holzfällerhemd und Pelzweste eine Lammfelljacke. Nach dem »Und wie geht es Mutter«-Gespräch, bei dem wenig gesagt und nichts beantwortet wird, zieht Mirabelle die Fotos aus der Tasche und hält sie ihrem Vater hin. »Die hab ich gestern Abend gefunden. Kannst du dich daran erinnern?« Sie lacht, als sie ihm die Bilder hinhält, um zu zeigen, dass sie harmlos sind. Umständlich kramt Don nach seiner Brille, die er dummerweise unter seinen Schutzschichten verstaut hat, und schaut sich dann die Fotos an. »Ah ja.« Das ist nicht die Reaktion, auf die Mirabelle gewartet hat. Ein Lächeln, ein kleines Lachen oder das Aufflackern einer angenehmen Erinnerung, darauf hatte sie gehofft. »Wir sind ziemlich albern«, sagt sie tastend. »Ja, sieht aus, als hätten wir mächtigen Spaß.« Damit gibt er ihr die Fotos zurück. Es schmerzt sie, wie wenig er sich mit dem, was auf den Bildern zu sehen ist, verbunden fühlt. Und plötzlich weiß Mirabelle, wieso die Fotos so eine starke Wirkung auf sie haben. Sie sehnt sich nach damals zurück. Sie will in den Fotos sein, in der Zeit vor Ostern, bevor Vater sich änderte. Sie möchte von ihrem Vater auf die Schultern gehoben werden, so wie er es als Kind mit ihr gemacht hat, sie will ihm vertrauen und sie will, dass er ihr vertraut, so sehr, dass er seine -105-
Geheimnisse mit ihr teilt. »Das war kurz nachdem du aus Vietnam wiedergekommen bist, stimmt's?« Mirabelle hat schon öfter versucht, diese Tür zu öffnen. Doch auch heute ist die Antwort die gleiche wie immer. »Ich weiß nicht genau. Ja, kann sein.« Die kalte Luft beißt, und sie gehen weiter. Schließlich kommen sie auf eine verschneite Lichtung im Wald, und hier gibt es eine unbehagliche Pause, als Mirabelle eine Hand tief in die Tasche schiebt und die Karte herausholt, die Carter Dobbs ihr gegeben hat. Der Abstand zum Haus gibt ihr den Mut, und sie denkt sich, dass jetzt der Augenblick gekommen ist. »Da hat jemand versucht, mit dir Kontakt aufzunehmen«, sagt sie. »Er sagt, er kennt dich.« Sie hält ihrem Vater die Karte hin. Er nimmt sie, bleibt im eisigen Schnee stehen, blickt darauf und sagt nichts. »Kennst du ihn?«, fragt Mirabelle. Er gibt ihr die Karte zurück. »Ich kenn ihn.« Und damit ist das Gespräch beendet. Doch Mirabelle hat etwas bemerkt. Als ihr Vater die Karte in der Hand hielt, fuhr er mit dem Daumen über den Namen, und während er das tat, war er so weit, weit weg von hier, wo er mit seiner Tochter im Schnee stand, im Wald hinter seinem Haus, hier in Vermont. Mutter verlässt das Haus, um auf ihren dreijährigen Enkel aufzupassen. Mirabelle geht auf ihr Zimmer, nachdem sie mit ihrem jetzt einsilbigen Vater stundenlang ferngesehen hat. Das Haus ist still, und sie dreht den Schirm ihrer Nachttischlampe und lässt das Licht über einige Bücher ihrer Jugendzeit gleiten: Betty und ihre Schwestern und die anderen Bücher von Louisa May Alcoth, Jane Eyre, Prinzessin Sarah, Der geheime Garten. Krimis von Carolyn Keene und Agatha Christie, alles von Judy Blume. Doch plötzlich hört sie etwas. Etwas... eine Katze? Oder ein verletztes Tier ziemlich weit weg. Doch sie überlegt, -106-
lokalisiert das Geräusch genauer und merkt, dass es seinen Ursprung nicht draußen hat. Dieses Weinen und Stöhnen, es kommt aus dem Haus. Sie öffnet die Tür und schleicht in ihren Hasenpantoffeln - die Tante, die sie ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat, hält sie für fünfzehn Jahre jünger hinaus in den Flur. Sie muss nicht weit gehen, um zu merken, dass das Geräusch, das sie jetzt als Schluchzen erkannt hat, durch die geschlossene Schlafzimmertür dringt. Es ist ihr Vater. Erstarrt steht sie da, wie ein Reh mit Hasenfüßen. Dann schleicht sie sich geräuschlos wieder in ihr Zimmer zurück. Lautlos macht sie die Tür hinter sich zu, so wie sie es in jener Nacht vor all den Jahren getan hat, als das gleiche Weinen aus dem gleichen Zimmer kam. Schließlich hört das Stöhnen auf, und das Haus ist wieder still. Mirabelle sitzt in ihrem Sessel und sieht ihren Parka, der vom Fußende des Bettes gerutscht ist und jetzt auf dem Boden liegt. Sie nimmt die Visitenkarte von Carter Dobbs aus der Tasche. Vorsichtig geht sie zum Schlafzimmer ihrer Eltern und lehnt das Kärtchen mit dem Boden gegen die Tür. Dann schleicht sie sich wieder in ihr Zimmer zurück. Sechs Monate sind fast unbemerkt vergangen, während sich Ray und Mirabelle in einem provisorisch zusammengezimmerten Paradies eingerichtet haben. Er fliegt hin und her, besucht sie, geht mit ihr in tolle Restaurants, nimmt sie mit zu sich nach Hause, schläft manchmal mit ihr und manchmal auch nicht. Manchmal bringt er sie nach Hause und sagt gute Nacht. Mirabelle mag keinen Sex, wenn sie ihre Regel hat. Wenn sie depressiv ist, macht Sex sie mitunter trübselig. Sie warten dann ab, und in dieser Zeit geht es eigenartig häuslich zu. Er bemerkt, dass sie Ausdrücke gebraucht, die noch aus ihrer Teenagerzeit stammen - fauler Sack, Trantüte, Frühaufsteher und er findet sie abwechselnd amüsant und nervtötend. Eine Zahnbürste wird für Mirabelle bereitgehalten. Da Ray näher bei -107-
Neiman's wohnt, übernachtet sie oft bei ihm und bringt dann eine übergroße Handtasche mit, in der sie Sachen zum Wechseln hat, damit sie morgens direkt von ihm aus zur Arbeit fahren kann. Wenn er an Sex denkt, dann an Mirabelle und niemanden sonst. Eines Tages hat Mirabelle folgende Nachricht von Ray auf ihrem Anrufbeantworter: Er ist in L.A. und lädt sie zu einem Event in New York ein, das nächsten Monat stattfindet, und sie wird ein Kleid brauchen, und sie sollten doch zusammen einkaufen gehen. An einem ihrer freien Tage fährt er mit ihr nach Beverly Hills, und sie verbringen einen prickelnden Tag damit, bei Prada etwas Passendes zu suchen. Ray beobachtet sie, wie sie sich hinter den dünnen Vorhängen umzieht, und als sie nach Hause kommen, probiert sie das neue Kleid an, und er küsst und liebkost es ihr vom Leib. In den nächsten Tagen ist Mirabelle ganz damit beschäftigt, die Reise zu planen, den Urlaub dafür zu organisieren, und heimlich zählt sie die Tage bis zum Abflug.
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Juni Ray Porter kann gar nicht fassen, dass man so viel weinen kann, und er würde gerne zurücknehmen, was er Mirabelle gesagt hat. Aber sie hält den Brief in der Hand, hält ihn gerade noch, bevor sie ihn mit abgewendetem Blick aufs Bett fallen lässt. Mit gesenktem Kopf sitzt sie da und schluchzt. Er hat ihr den Brief geschrieben, weil er ihr es kurz und knapp mitteilen wollte, er wollte nicht herumstottern oder irgendetwas beschönigen, er wollte nicht plötzlich mitten im Satz die Richtung ändern und zurücknehmen, was er ihr zu sagen hatte, nur weil sie ihn vielleicht bestürzt ansieht. Denn sie hatte es ja wissen wollen, sie hatte darum gebeten, und es schien ihr Ernst gewesen zu sein. Also gab er ihr den Brief, persönlich, als sie in seinem Schlafzimmer saßen, zu Beginn des Abends, der dann etliche Stunden früher zu Ende war als erwartet. Liebe Mirabelle, ich glaube es gibt nur diesen einen Weg, es dir zu sagen: Ich habe mit einer anderen Frau geschlafen. Es war ohne Romantik und ohne Nähe, und ich habe die Nacht nicht mit dieser Person verbracht. Ich sage es dir nicht, um dir wehzutun, und auch nicht, weil ich will, dass sich an unserer Beziehung etwas ändert. Ich sage es dir nur, weil du mich darum gebeten hast. Ich kann nur hoffen, dass du ein wenig Verständnis für mich aufbringst. Es tut mir Leid. Ray Da Mirabelle ihm gerade den Rücken zuwendet, nimmt er den Brief und steckt ihn schnell in eine Schublade, damit sie den handgreiflichen Beweis dessen, was er ihr angetan hat, nicht mehr vor Augen hat. Dieser Brief drückt etwas absolut Schreckliches für sie aus, und Ray tut gut daran, ihn -109-
verschwinden zu lassen. Zwei Stunden lang hat er auf dem Flug nach Los Angeles hin und her überlegt. Soll er es ihr sagen oder nicht? Aber sie hat ihn doch ausdrücklich darum gebeten, und das muss ihr Ernst gewesen sein. Außerdem war es keine Liebe, es war einfach nur Sex. Und außerdem hat sie ihn gebeten, es ihr zu sagen. Dann hat er gedacht, dass es wohl so eine neue feministische Geschichte ist und dass er moralisch dazu verpflichtet ist - wenn er es ihr nicht sagt, ist er ein Schwein. Dass er wahrscheinlich noch gut davonkommen wird, wenn er es ihr sagt, und niemand sonst über ihn richten kann. Aber was immer er gedacht hat, was immer er für richtig erachtet hat, es war falsch, weil sein Denken nicht darauf beruht, dass er ihre Gefühle versteht, und er sie immer noch nicht kennt. Mirabelle stellt keine Fragen. Sie erhebt sich und taumelt wie eine Betrunkene den Flur entlang, ihren Pullover hinter sich her schleifend. Ray weiß nicht, wie er mit dieser Frau umgehen soll. Wenn sie nur realistisch wäre, dann könnte er realistisch mit ihr umgehen, aber Mirabelle ist noch auf Stufe l - ein Kind, dessen Herz gerade von jemandem verwandelt worden ist, dem sie vertraut hat. Murmelnd sagt sie das bevorstehende Wochenende in New York ab. Er folgt ihr noch zum Auto und beobachtet, wie sie davonfährt. Am nächsten Tag steigt er in ein Flugzeug nach Seattle. Ray wartet einen Tag, und ruft dann genau in dem Augenblick bei ihr an, an dem sie erfahrungsgemäß zur Tür hereinkommen muss. »Wie geht's dir?« »Geht so«, sagt sie mit schwacher Stimme. »Sollen wir noch mal über die Sache reden?« »Meinetwegen - kann ich dich zurückrufen?« -110-
»Ja.« Sie legen auf. Mirabelle stellt ihre Sachen ab, zieht ihre durchsichtige Windjacke von GAP aus und trinkt einen Schluck Wasser. Den ganzen Tag ist sie wie benommen gewesen. Nie wieder will sie mit ihm reden, aber trotzdem ist sie froh, dass er angerufen hat. Sie muss mit einem Freund, mit einem Verbündeten über Rays Fehltritt reden, aber Ray ist ihr einziger Freund. Sie geht ins Schlafzimmer und wählt seine Nummer. »Ray?« »Leg auf, ich ruf dich zurück.« »Okay.« Dieses Ritual hat finanzielle Gründe. Immer, wenn sie ein Ferngespräch führen, legen sie zuerst auf, und dann ruft er sie zurück, damit das Gespräch nicht auf ihre Kosten geht. »Geht's dir besser?«, fragt er. »Ein bisschen«, sagt sie, ohne zu wissen, was sie eigentlich meint. »Wollen wir uns treffen?«, fragt Ray. »Lieber nicht. Ich habe das Ticket nach New York umgebucht. Ich würde gern nach Vermont zu meinen Eltern fliegen, ist das in Ordnung?« Mirabelle will ihre Eltern nicht besuchen, um sich trösten zu lassen. Sie kann kein Mitleid von ihnen erwarten, denn wie soll sie ihnen die Situation erklären - zumal ihr Vater die gleiche Schuld auf sich geladen hat. Doch in ihrem Zimmer, in ihren Sachen, wird sie Trost finden. »Aber sicher, klar«, erwidert Ray. Das Gespräch schleppt sich dahin. Ray sagt, es täte ihm Leid, dass er sie verletzt hat. Er meint es aufrichtig, aber andererseits weiß er nicht, was er sonst hätte tun sollen. Er ist entschlossen, sich nicht in Mirabelle zu verlieben, denn sie ist nicht seinesgleichen. Er weiß, dass er sie nur benutzt, aber er kann es -111-
auch nicht lassen. Und so stark ihr gegenseitiges Verlangen auch ist, ihre Ziele sind so unterschiedlich, dass sie nicht zusammenkommen. Sie treten auf der Stelle, ihre Beziehung bewegt sich nicht weiter, nicht einmal um den winzigen Schritt, der nötig ist, um sie am Leben zu erhalten. Unsicher verabschieden sie sich voneinander, Ray in dem Wissen, dass es noch nicht vorbei ist, und Mirabelle unfähig, über ihren augenblicklichen Schmerz hinauszusehen.
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Prada Lisa hat Wind von Mirabelles Besuch bei Prada bekommen. Für Lisa bedeutet Prada das Nonplusultra des Werbens eines Mannes um eine Frau. Diese exquisiten Sachen sind nicht nur teuer, man erkennt sie auch sofort. Ein Kleid von Prada ist ein Kleid von Prada und wird es immer sein. Vor allem, wenn es neu ist. Ein neues Kleid von Prada bedeutet, dass der Besuch dort noch nicht lange zurückliegt, dass das Geld erst vor kurzem ausgegeben wurde, und wenn Lisa ein Kleid von Prada tragen würde, hieße das, sie hätte einen großen Fang gemacht. Es würde zeigen, dass sie sich einen Mann mit Geld geangelt hat, einen, der sich so viel Zeit für sie nimmt, dass er mit ihr nach Beverly Hills fährt, wartet, bis sie jedes einzelne Teil anprobiert hat, und dann an der Kasse eine Kreditkarte hinlegt, ohne nachzudenken oder auch nur einen Blick auf das Preisschild zu werfen. Lisa sieht den Beweis für das Gerücht mit eigenen Augen, als Mirabelle in einem umwerfend schönen und vorteilhaften Kleid zur Arbeit erscheint. Lisa erkennt Prada so sicher wie ihre eigene Mutter, und als sie Mirabelle in dieses perfekte Modell gehüllt sieht, entringt sich ihr ein animalischer Kehllaut. Sie ruft ihre Freundin bei Prada an, um die ganze Geschichte zu erfahren und hört, dass tatsächlich Ray Porter und eine unbekannte Dame aufgekreuzt sind. Als sich so ihre schlimmsten Ängste bestätigen, fällt Lisa nichts weiter ein, als sich ihre Schamhaare zu kürzen und zu frisieren. Das ist ein ritueller Akt, der Bereitschaft ausdrückt, ein Kriegstanz, ähnlich den mystischen Vorbereitungen eines Matadors auf den Kampf. Er beruht auf der Überzeugung, dass alles Natürliche an ihr manipuliert werden muss, um es in den Zustand äußerster Schönheit zu bringen. Brüste, Haare, Hautfarbe, Größe und Farbe der Lippen, Finger- und Fußnägel - alles muss optimiert werden. -113-
Lisa sitzt auf der Toilette, als sie sich rasiert, ein Bein an das Badschränkchen gestützt. Sie kann den Rasierer zum Anfeuchten in das Toilettenbecken tauchen, während sie ihr buschiges Vlies perfekt in Form bringt und kämmt. Lisa ist entschlossen, Ray Porter Mirabelle abspenstig zu machen. Sie muss nur wissen, wo er ist und wie er aussieht. Das kann sie der vertrauensseligen Mirabelle leicht entlocken, wahrscheinlich in einer einzigen Mittagspause, sodass sie sich deswegen keine großen Sorgen machen oder Komplotte schmieden muss. Nachdem sie den Rasierer ein letztes Mal eingetaucht hat und das nunmehr perfekt gestylte Fellchen mit ein wenig Wasser abgespült hat, steht Lisa splitternackt auf und sieht sich im Spiegel an. Sie hat die Gestalt einer Sanduhr, und der gesamte Sand ist im oberen Teil. Ihre Haut ist weiß und rosig, und um die Implantate herum wird sie gedehnt und gestreckt, wirkt heller, sodass ihre Brüste strahlen. Die Brustwarzen haben die Farbe von rosa Bubblegum, und durch das Silikon sind sie so elastisch, dass man auch so auf ihnen herumkauen kann. Und zwischen ihren Beinen liegt jetzt das schönste Stück Weide westlich von Texas. Mirabelle hatte ihren Eltern gesagt, dass sie nach New York fliegen will, also ist sie ihnen eine Erklärung schuldig, als sie jetzt anruft und sagt, dass sie nach Vermont kommt. Doch irgendwie mogelt sie sich durch, und da ihre Eltern sowieso nie allzu viele Fragen stellen, fällt ihnen nicht auf, dass sie sich kaum mehr zusammenreißen kann. Bei ihrer Ankunft in Vermont setzt Mirabelle ein Gesicht auf wie die Stars bei der Oskar-Verleihung. Sie schafft es sogar, einen munteren Eindruck zu machen, auch wenn sie sich ab und an in ihr Zimmer zurückzieht, wo sie ihrer Trauer über das, was ihr verloren gegangen ist in der Beziehung zu Ray Porter, freien Lauf lässt. Ziellos streift sie durch das Haus und findet die Visitenkarte, die sie ihrem Vater gegeben hat, -114-
bezeichnenderweise nicht mehr im Schlafzimmer, sondern auf seinem Schreibtisch. Sie würde gern wissen, ob sich ihre Hoffnung erfüllt hat, er sich zu einem Anruf durchgerungen hat. Dieses schreckliche Wochenende ist achtundzwanzig Stunden alt, da klingelt das Telefon und sie nimmt ab. Es ist Ray Porter, er ruft aus New York an. Unbeholfen tauschen sie Fragen nach dem Befinden aus, und dann, als er zum Grund seines Anrufs kommt, senkt Ray die Stimme, so als würde er sich zu ihr neigen. Er bringt seine Frage so reumütig vor, dass sie beide fast anfangen zu weinen: »Ach bitte, komm doch nach New York.« Und Mirabelle will zu ihm, trotz ihres Schmerzes, und aus ihrem »Ja« klingt kein Zögern, sosehr sie sich auch bemüht. Sie hat ihm gezeigt, dass er ihr wehgetan hat, aber jetzt ist es vorbei. Sie will in New York City sein und nicht in Vermont. Mirabelle sagt ihrer Mutter, dass sie heute noch abreist. »Aber wohin, um Gottes willen?« »Ich treffe mich mit Ray.« Mirabelles Eltern wissen, dass es in ihrem Leben jemanden namens Ray Porter gibt, aber sie tun so, als wäre diese Beziehung mehr oder weniger platonisch. Das geht natürlich nicht ohne unglaublichen Selbstbetrug, riesige Scheuklappen und gezieltes Ausblenden der Realität. Für ihren Vater und ihre Mutter gibt es in Mirabelles Leben einfach keinen Sex. Und so erwidert ihre Mutter einfach: »Oh, wie schön für dich.« Mirabelle hätte die Sache auf sich beruhen lassen können, und es wäre nie wieder ein Wort darüber gesprochen worden. Aber nun sind seit ihrer Geburt 10 319 Tage vergangen, und so setzt Mirabelle, vielleicht nur, weil sie ihre achtundzwanzig Jahre mit der Last der Lügen multipliziert, eine kleine Wahrheit hinzu: »Ach ja, falls ihr mich erreichen wollt - wir wohnen -115-
zusammen.« Catherine schrubbt eine ganze Weile auf ein und demselben Teller herum: »In einem Hotel?« »Ja«, antwortet Mirabelle und dann, um das Maß voll zu machen, »aber mach dir keine Sorgen, Ma, ich nehme die Pille.« »Ah ja«, erwidert Catherine. Und noch einmal: »Ah ja.« Sie schrubbt weiter auf dem Teller herum, und dann sagt sie noch einmal, in einem so bedeutungsschwangeren Tonfall, wie nur Meryl Streep ihn ein zweites Mal bringen könnte: »Ah ja.« In diesem Augenblick kommt, dramaturgisch perfekt getimt, ihr Vater zur Küchentür herein, und Mirabelle wiederholt alles für ihn, nur um das plötzliche Machtgefühl noch einmal auszukosten. Doch der Tumult bleibt aus, und stattdessen brütet jeder über seinen aufgewühlten Gefühlen. Don wechselt schnell das Thema, schaltet den Fernseher an und konzentriert sich ganz darauf.
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New York Mirabelle fliegt noch am gleichen Tag nach New York, und Ray holt sie in der Abenddämmerung ab. Sie hat ihr Kleid von Prada nicht mit, aber ihr sicherer Instinkt in Kleiderfragen lässt sie nicht im Stich, und nach einem entschlossenen Streifzug - in Begleitung eines reumütigen Ray, der es kaum erwarten kann, Buße zu tun, indem er Banknoten hinblättert - trägt sie schließlich ein silbern schimmerndes Kleid von Armani, das dem von Prada in nichts nachsteht, und schon geht es zu einem Dinner für tausendfünfhundert Dollar pro Person. Nach der Gala, bei der sie statuenhaft und elegant wirkt, bei der ein paar Blitzlichter aufleuchten, als sie ankommen, obwohl sie keinen Prominentenstatus haben, bei der es Mirabelle so aufregend findet, an einem Zwölfertisch inmitten hunderter anderer Tische zu sitzen, bei der sie so fasziniert von allem ist, dass sie gar nicht bemerkt, wie öde eigentlich alles ist, nach dieser Gala landen sie schließlich bei einer kleinen Cocktailparty für ein Dutzend Leute in einer schicken Wohnung an der Park Avenue. Man versammelt sich in einer holzgetäfelten Bibliothek, wo einige Picassos spöttisch von den Wänden schauen. Es gibt weißhaarige Männer, älter als Ray, es gibt smarte und bissige Newcomer, die gerade mal dreißig geworden sind. Außerdem sind da die knallharten Geschäftsfrauen, deren Sexualität vor Jahren in irgendeiner Schublade verschwand, und dann doch wieder hervorgeholt und angelegt wurde, und jetzt wie ein Schlips getragen wird. Sie alle bilden eine witzige, geistreiche Gruppe, aber sie wissen nicht so recht, was sie mit Mirabelle anfangen sollen, die zwischen ihnen sitzt wie eine Blume. Sie ist die Einzige, die etwas Helleres als Dunkelblau trägt. Im Unterschied zu ihnen ist ihre weiße Haut ein Geschenk der Natur und nicht durch den tagtäglichen Aufenthalt unter Neonlicht ausgebleicht. Mirabelle -117-
spricht leise und nur mit einzelnen Personen. Als sie schließlich gefragt wird, was sie denn macht, antwortet sie, sie sei Künstlerin. Damit beginnt unter den Kennern eine Diskussion über die derzeitigen Preise für Kunst, von der Mirabelle ausgeschlossen ist. Im Laufe des Abends lockert sich die Atmosphäre auf, und ganz anders als sonst bei Partys, verschmelzen die einzelnen Gesprächsgruppen zu einer einzigen, und zwar auch was das Thema angeht. Es wird nicht mehr wild von der Politik über Schulen zu den neuesten medizinischen Behandlungsmethoden gesprungen, sondern man konzentriert sich auf einen einzigen Gegenstand - Lügen. Alle gestehen ein, dass ihre tägliche Arbeit nicht ohne Lügen möglich wäre. Tatsächlich sind, so meint einer, Lügen so wichtig für seine Existenz, dass es eigentlich gar keine Lügen mehr sind, sondern eher eine modifizierte Variante der Wahrheit. Einige jedoch geben zu, dass sie nie lügen, aber alle Anwesenden wissen, es liegt nur daran, dass die Betreffenden inzwischen so reich sind, dass es für sie weder notwendig noch sinnvoll ist zu lügen. Alle Ansichten werden gebührend zum Ausdruck gebracht, ohne dass etwas wirklich Neues dabei herauskommt, doch es wird zugestimmt, ergänzt und bestätigt. Durch den schnellen Meinungsaustausch entsteht der Eindruck einer interessanten Unterhaltung, tatsächlich jedoch wird betrunken langweilig und inhaltslos dahergeredet. Bis - ja bis Mirabelle spricht. Mirabelle, nüchtern wie ein Engel, mischt sich furchtlos in das Geschnatter ein. »Ich denke, eine Lüge muss vor allem drei Eigenschaften haben, damit sie wirkt.« Die durchdringenden Männerstimmen werden schwächer, und auch die Soprane der Frauen klingen allmählich leiser. Ray Porter zuckt innerlich zusammen. »Und welche wären das?«, fragt jemand. -118-
»Erstens muss ein bisschen Wahrheit darin stecken, damit sie glaubhaft ist. Wenn man zweitens Mitgefühl erweckt, dann bekommt man eher, was man will, und wenn es drittens peinlich ist, darüber zu reden, dann wird man nicht so sehr ausgefragt.« Als Beispiel analysiert Mirabelle die Lüge, die sie Mr. Agasa erzählt hat. Das Stück Wahrheit darin war, so erklärt sie, dass sie tatsächlich gelegentlich zum Arzt muss. Er hat sie bemitleidet, weil es ihr nicht gut ging, und für sie war es peinlich, weil sie ihm sagen musste, dass sie ein gynäkologisches Problem hatte. Die Pfiffigen unter den Anwesenden speichern diese Analyse zum möglichen späteren Gebrauch in ihrer persönlichen Datenbank ab. Ray Porter dagegen schwankt einen Augenblick und fragt sich, zum ersten Mal nach fast einem Jahr, ob es vielleicht Mirabelle ist, die Art und Charakter ihrer Beziehung genau erfasst, und nicht er. In dieser Nacht gibt es keinen Sex zwischen ihnen, und eigentlich eine ganze Weile nicht, doch nach einem Monat ist alles wie vorher, und der Brief und sein verhängnisvoller Inhalt werden nur noch einmal erwähnt, als nämlich Mirabelle Ray sagt, dass, sollte etwas Ähnliches noch einmal passieren, es besser unausgesprochen bleibt. Doch das schwankende Fundament ihrer Beziehung ist ein für allemal untergraben, dadurch, dass das Unsagbare gesagt worden ist, dass ihre stillschweigende Abmachung gebrochen wurde, nie über Rays Liebe oder Treue zu reden. Mirabelle weiß nicht mehr, was sie von ihrer Beziehung zu Mr. Ray Porter halten soll, sie stellt sich keine Fragen mehr darüber, sie lebt sie einfach. Ray trifft sich weiter mit ihr, schläft mit ihr. Erotisch fühlen sie sich immer noch zueinander hingezogen, mit jeder Faser ihrer Körper. Er gle icht ihr Kreditkartenkonto aus, das mittlerweile regelmäßig ein Soll von über tausendzweihundert Dollar aufweist. Monate später zahlt er ihr stetig anwachsendes Studentendarlehen ab, das kürzlich die -119-
Vierzigtausend-Dollar-Grenze überschritten hat. Er ersetzt ihren allmählich zusammenbrechenden Wagen gegen einen neueren. Diese Geschenke macht er ihr - ohne es zu wissen -, damit es ihr gut geht, wenn er sie verlässt. Er setzt anderswo seine Suche nach der einen, richtigen Liebe fort, mit gelegentlichen Rendezvous, Ausflügen und Flirts, auch wenn er Mirabelle immer noch gern hat - auf eine Weise, die er nicht erklären kann. Seine Zuneigung zu ihr ist nicht die heiße Liebe, die er empfinden möchte, nicht die heftige, rauschhafte Schwärmerei, die er sich selbst versprochen hat. Diese Liebe ist anders, und er sucht in seinem Inneren nach einer Definition dafür. Dabei glaubt er weiter daran, dass sich an ihrer Beziehung so lange nichts ändern wird, bis ihm die richtige Frau begegnet. Dann wird er Mirabelle in aller Ruhe die Lage erläutern, und sie wird einsehen, wie gut er alles arrangiert hat, wird ihm viel Glück wünschen und ihm dazu gratulieren, dass er so vernünftig ist.
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Sie Ich nehme ein Hot Dog«, sagt Mirabelle. Es ist anzumerken, dass es sich nicht um ein ge wöhnliches Hot Dog handelt, sondern um ein Beverly-Hills-Hot-Dog, das keine der unaussprechlichen Zutaten eines fleischlichen Hot Dogs enthält. Mirabelle tut also der Reinheit des zarten Blutes, das unter ihrer taufrischen Haut strömt, keine Gewalt an. Lisa hingegen bestellt einen Salat, der ihren persönlichen Vorstellungen von den zwei Haupteigenschaften gesunder Ernährung entspricht: Er sieht hässlich aus und schmeckt schlecht. Ihr ist nicht bewusst, dass auch Nahrungsmittel, die kein oder nur wenig Fett enthalten, tatsächlich gut schmecken können. Normales Essen, Essen, das vielleicht nicht ganz so gesund ist, bestellt sie nur dann, wenn ein Mann dabei ist - in der Hoffnung, den Eindruck zu erwecken, sie könne essen, ohne ein Gramm zuzulegen. Deshalb sind Einladungen so wichtig für Lisa: Ohne sie würde sie dahinwelken, könnte sie kaum einen Löffel grüne Erbsen zum Mund führen. Wie üblich sitzen Lisa und Mirabelle draußen, an einem wunderbar sonnigen kalifornischen Juli- Tag mit sechsundzwanzig Grad. »Und - was macht das Liebesleben?« Lisa ist klar, dass sie, um zu erfahren, was sie eigentlich wissen will, noch mindestens zwanzig Fragen stellen muss, also kreist sie das Thema am besten rechtzeitig ein. »Alles bestens.« Er wohnt nicht hier, stimmt's?« »Nein, in Seattle.« »Das ist schon hart, oder?« »Es geht, wir sehen uns ein-, zweimal die Woche, manchmal mehr, manchmal weniger.« Dann fragt Mirabelle, ohne Gefühl -121-
für Hintergedanken und in der Annahme, dass Lisas Interessen möglicherweise über den Rodeo Drive hinausgehen: »Hast du schon Das Böse ist eine Frau gelesen?« Die Frage geht durch Lisa hindurch wie kosmische Strahlung, ohne jegliche Wirkung. Mirabelle gibt eine treffende und ausgefeilte Kurzanalyse ihres Lieblingsbuchs zum Besten, während Lisa ihr Desinteresse verbirgt, indem sie Mirabelle anstarrt und an Make- up denkt. Als Mirabelle schließlich zum Schluss kommt und die Mittagspause ergebnislos zu Ende zu gehen droht, geht Lisa aufs Ganze. »Wann seht ihr euch denn wieder?« Mirabelle würde normalerweise niemals persönliche Informationen über Ray Porter weitergeben, nicht einmal seinen Namen - den die bestens informierte Lisa nun allerdings schon kennt. In ihrer Vorfreude erzählt sie Lisa jedoch, dass sie sich kommende Woche treffen: »Wir gehen zur Vernissage von Ruscha bei Reynaldo.« Mirabelle nimmt an, dass Lisa sowieso hingegangen wäre, da alle, die einmal in dieser Galerie waren, immer wieder hingehen. In einem klaren Augenblick sieht Lisa, wie sie ihr Lasso nach Ray auswirft, ihn mit einem Ruck von Mirabelle wegzieht und ganz an sich fesselt.
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Zusammenbruch Ray Porters Suche nach der richtigen Frau ist nicht sonderlich erfolgreich, denn er lebt in der falschen ewigen Stadt. Dies ist immer noch die Stadt seiner Jugend, in der Frauen in den Zwanzigern herumtollen wie Häschen, mit hoher Stimme sprechen, ihm um den Bart gehen und ihn anmachen. Er glaubt immer noch, dass er hier eine Intellektuelle mit bleicher Haut finden wird, die ihn mit einem wilden Lachen und ihrem Sinn für das Leben überwältigt. In seinem Unterbewusstsein entsteht eine Brücke. Diese Brücke soll von der ewigen Stadt hier zu einer ganz anderen ewigen Stadt führen. Dort in dieser neuen Stadt wird sein wirkliches Herz leben, ein Herz, in dem das, was er erlebt hat, Spuren hinterlassen hat, ein Herz, das weiß, wen und wie es lieben soll. Aber bis diese Brücke fertig ist, muss er noch ein paar nachhaltige und schmerzvolle Erfahrungen machen. Im Augenblick jedenfalls sitzt er in seinem Haus in Seattle mit einer Frau, von der er nicht weiß, dass sie ihn überhaupt nicht interessiert. Christie Richards ist fünfunddreißig und genießt einen gewissen lokalen Ruf als Modedesignerin. Sie hat einen knackigen Körper, der beim richtigen Stand der Sterne und nach der entsprechenden Dosis Cabernet in Ray Erinnerungen an erste Erfahrungen weckt, die er als Heranwachsender auf Rücksitzen von Autos gemacht hat. Und wie Christie ihm so im Kerzenschein gegenübersitzt, beim Dinner, das ein fast unsichtbarer Küchenchef zubereitet und serviert hat, kommt alles zusammen, was nötig ist, um seine Lust zu wecken. Während er ihren Körper vor seinem geistigen Auge von allen Seiten betrachtet, schwafelt Christie über Mode in Seattle. »...aber ich brauche Schaufenster, denn ohne Schaufenster -123-
arbeitet man als Designer nur fürs Regal. Ich habe eine Kollektion für Übergewichtige, die sich gut verkauft, aber kein Laden zeigt eine Kollektion für Übergewichtige im Schaufenster, sie möchten sie am liebsten im Untergeschoss verstecken...« So redet und redet sie, lässt ab und zu einen bekannten Namen aus der Modewelt fallen, und dabei trinkt sie und schenkt nach, trinkt und schenkt nach und leert so den Cabernet bis zur Neige. Ray, der sich nicht anmerken lässt, wie es ihn freut, sie total betrunken zu machen, öffnet wie beiläufig eine neue Flasche und füllt ihr Glas. Doch als das Dinner dem Ende zugeht, fängt Christie an, undeutlich zu sprechen, sehr undeutlich, und Ray fragt sich, ob er ihr vielleicht nicht ein paar Gläser zu viel eingeschenkt hat. Er geht mit ihr nach draußen, weil er meint, dass ein bisschen frische Luft, die kühle Luft von Seattle, ihr vielleicht gut tut. Sie tut ihr auch gut, ihm allerdings nicht, denn Christie, angeregt von dem Sauerstoff, will nun gleich ohne Vorspiel zur Sache kommen - das Ray Porter allerdings dringend braucht, wenn er tun will, was ein Mann tun muss. Sie zerrt ihn ins Schlafzimmer, das sie schon gesehen hat, allerdings nur während einer Führung durch den höflichen Hausherrn. Die Beleuchtung ist schon auf schummrig gestellt, und sie kniet sich vor ihn hin und zerrt an seiner Gürtelschnalle mit den Worten: »Komm, ich lutsch deinen Schwanz.« »Okay«, denkt Ray bei sich. Erfolglos fummelt Christie an dem unglaublich einfachen Hosenverschluss herum, und plötzlich fällt sie mit einem dumpfen Geräusch direkt aufs Gesicht. Auf dem strohfarbenen Teppich ähnelt sie einer betrunkenen Version des Gemäldes Christina's World von Andrew Wyeth, nur geht ihr sehnsüchtiger Blick nicht zum Farmhaus, sondern versucht einfach nur, irgendetwas Feststehendes zu fixieren. Sie schiebt ihr Gesicht bis ungefähr dreißig Zentimeter an einen Fuß des Bettes und dreht die Augen -124-
spielerisch nach innen und nach außen, in der Hoffnung, die herumwirbelnden Bilder zu einem zusammenzubringen. Ray weiß, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort ist, obwohl er sich in seinem eigenen Haus befindet. Er weiß, dass er das hier nicht tun sollte, dass die Tage gezählt sind, da diese Frauen als Nebensätze in seiner Lebensbeichte auftauchen. Er hilft Christie auf und bringt sie ins Wohnzimmer, wo er sie aufs Sofa setzt und ihr Kissen unter beide Arme schiebt, damit sie nicht umfällt. Er sieht ihr ins Gesicht und fragt sie: »Kannst du fahren?«. Er stellt diese sinnlose Frage nicht, um wirklich herauszufinden, ob sie noch fahren kann, sondern um ihr klar zu machen, dass es Zeit ist zu gehen. Christie, die ihre Grenzen kennt, schüttelt den Kopf und sagt »Nein«, wobei sich Ray nicht ganz sicher ist, ob sie »nein« meint oder einfach den Kopf nicht mehr gerade halten kann. Ray könnte sie nach Hause fahren, aber dann gibt es ein Problem mit dem Auto. Ihr Wagen steht vor der Tür, und wenn er sie jetzt nach Hause bringt, dann wird ihm das Organisieren eines Taxis und das Vereinbaren eines Zeitpunkts zum Abholen des Wagens unter Garantie lästig sein. »Du kannst im Gästezimmer schlafen.« Eines von Christies Augenlidern fällt schlaff nach unten. »Aber ich will mit dir schlafen.« Ray findet das Ganze nicht lustig. Mit Bestimmtheit sagt er »Nein« und bringt sie zum Gästezimmer. Christie sieht verdutzt, wie sich die Tür hinter ihr schließt, dann dreht sie sich um, sieht das Bett und lässt sich bäuchlings darauf fallen. Ray Porter sinkt in seine Tausend-Dollar-Daunen, als wäre er im Himmel. Er ist heilfroh, dass er allein ist, doch er befürchtet, dass Christie sich durch den Flur zu ihm tastet. Seine sonst so schnellen Berechnungen gerinnen zu dickem Sirup, und fette Fragezeichen tropfen in seine Gedankengänge: Wie lange geht das so? Warum bin ich allein? -125-
Ray schläft, und im Traum hört er es klopfen. Klopfen? Er erwacht aus absolutem Tiefschlaf und ist so benommen, dass nur einer seiner Sinne - das Gehör - funktioniert. Er liegt da und fragt sich, ob ein Einbrecher im Haus ist. Er rappelt sich hoch und geht den Flur entlang, nur deshalb so mutig, weil er schnell überschlägt, dass die Möglichkeit, tatsächlich einem Einbrecher gegenüberzustehen, äußerst gering ist. Er kann das Geräusch aus der Ferne hören... kommt es von der Straße? Dort ist eine Baustelle, aber wer sollte um drei Uhr nachts da arbeiten? Er hört es wieder, aber diesmal merkt er, dass jemand an der Haustür klopft. Er öffnet die Tür, und davor steht Christie, vollständig angezogen - bis auf die Schuhe. »Meine Schuhe sind in deinem Garten.« Der einzig mögliche Hergang der Ereignisse ist so unmöglich, dass er nicht fragt, was passiert ist. Sie muss in den Garten gegangen sein, ihre Schuhe ausgezogen und den Entschluss gefasst haben zu gehen, sie muss das Haus verlassen haben, dabei jedoch die Autoschlüssel vergessen haben, weshalb sie dann an die Tür klopfen musste, um nicht gezwungenermaßen im Freien zu übernachten - oder so ähnlich. Er holt ihr die Schuhe, packt sie warm ein, denn sie ist zu dünn angezogen für die kühle Nacht, verfrachtet sie in sein Auto und fährt sie die elf Meilen zu ihrer Wohnung. Am nächsten Tag schickt er ihr Blumen. Mirabelle zieht ihren rosa gewürfelten Pullover und den pastellfarbenen karierten Minirock zu der Vernissage von Ruscha an, die um fünf Uhr nachmittags beginnt, und als sie auf dem Parkdeck in Beverly Hills aus ihrem Auto steigt, sieht sie aus wie ein Regenbogen im Wasserschleier eines Rasensprengers. Am anderen Ende des Parkdecks wird ein Wagen abgeschlossen. Die Silhouette eines Mannes ist zu sehen, -126-
der gerade von seinem Auto zurücktritt und einen Zettel in die Brieftasche steckt. Sein Anzug ist tailliert, und das Haar fällt ihm in die Stirn. Er ist im Begriff loszugehen, doch da erhellen die letzten Sonnenstrahlen, die sich auf das Parkdeck verirren, Mirabelles Gestalt, und sein Blick fällt auf sie. »Mirabelle?«, sagt er. Mirabelle bleibt stehen. »Ja?« »Ich bin's, Jeremy.« Er kommt schräg auf sie zu, sodass Licht auf sein Gesicht fällt und sie ihn endlich erkennt. Doch obwohl es die gleiche Person ist, hat dieser neue Jeremy mit dem alten Jeremy nichts gemeinsam. Drei alte Jeremys wären der Gegenwert für einen neuen Jeremy, denn der neue Jeremy ist eindeutig die bessere, schickere Ausführung mit vielen vorteilhaften Ausstattungsdetails. »Freut mich sehr, dich wieder zu sehen«, sagt er. Freut mich sehr, dich wieder zu sehen, denkt Mirabelle. Was meint er? Das ist nicht Jeremys Sprache. Soll sie jetzt antworten: »Freut mich auch, dich wieder zu sehen«? Sie ist nicht unbedingt hocherfreut, ihn wieder zu sehen, aber unangenehm ist es auch nicht gerade, und außerdem ist sie neugierig. Doch ehe sie sich überlegen kann, was sie tun soll, knöpft Jeremy lässig seinen Einknopf- Anzug auf, beugt sich vor und gibt ihr weltmännisch ein Küsschen auf die Wange. »Gehst du zur Vernissage?« »Ja, genau.« »Ich wusste nicht, ob ich wieder da sein werde, bevor die Ausstellung zu Ende ist, also hab ich mir gedacht, ich schau sie mir heute Abend an. Darf ich dich begleiten?« Mirabelle nickt, und wirft einen Blick auf Jeremys teuere Schuhe und den korrekten Fall seiner Hosenbeine. Sie fragt sich, was geschehen ist. -127-
Folgendes ist geschehen: Jeremys dreimonatige Tournee, aus der ein Jahr mit mehreren Reisen nach Osten wurde, erwies sich nicht nur finanziell als recht einträglich, sondern war auch auf einem anderen Gebiet ein Erfolg: Jeremy hat die Entwicklung vom Affen zum Menschen vollzogen. Nachdem er ein paar Wochen mit AGE unterwegs war, luden ihn die Musiker ein, mit zu ihnen in den Bus zu ziehen. Nach einem Konzert startete der Bus meist gegen ein Uhr nachts und fuhr dann ungefähr dreihundert Meilen bis zum nächsten Auftrittsort. Normalerweise blieben alle noch ein paar Stunden lang auf und zogen sich dann in die Schlafnischen mit Vorhängen zurück, die an einen Zug aus den Vierzigerjahren erinnerten - nur Ingrid Bergman fehlte. In den Nischen gab es Kopfhörerbuchsen, die an eine zentrale Anlage ange schlossen waren. Eines der Mitglieder von AGE war seit neuestem Buddhist - und zwar noch so frisch, dass er jede Nacht vor dem Schlafengehen Kassetten mit Hörbüchern über Buddhismus und Meditation hörte. Jeremy klinkte sich aus Langeweile ein. Zuerst gingen ihm die Bänder mit dem Gerede und den Windglocken auf die Nerven, aber bald, nachdem er während einer bestimmten Meditationsübung eine Vision hatte, bei der er sein eigenes Kinderzimmer im Alter von vier Jahren bereiste, wurde diese Routine für ihn zum Höhepunkt des Abends, und er begann zuzuhören, bewusst zuzuhören. Doch noch wichtiger war, dass, als die Buddhismus-Kassetten zur Neige gingen, andere Bänder in den Buchhandlungen von Warenhäusern gekauft wurden, und zwar in den gleichen Abteilungen, in denen die bereits erschöpfend behandelten buddhistischen Sachen standen. So wurde Jeremy auf einmal mit dem gesamten Kanon der modernen Selbsterkenntnis-Literatur vertraut gemacht. Aus diesen Büchern, die er zum hypnotischen Schaukeln des Greyhound-Busses im Dunkel der Schlafnische hörte, lernte Jeremy über das Selbst, das innere und das äußere, die Archetypen von Jung, die männliche Reise und ihre -128-
Übergangsriten, die weibliche Reise und ihre Übergangsriten, über die Sorge um die Seele und tantrischen Sex. Er nahm eine gehörige Dosis an Beziehungsliteratur zu sich, angefangen mit Männer sind vom Mars... bis zu einer Parodie unter dem Titel Wie liebe ich jemanden, der dümmer ist als ich (wobei sich Jeremy mit dem »ich« identifizierte und nicht mit dem »dümmer«). Und während der Bus durch Kansas, Nebraska, Oklahoma und Nevada rollte, unter Millionen von Sternen, die keine Stadtlichter überstrahlten, wurde durch Zufall Jeremys Bewusstsein auf eine höhere Stufe gehoben und damit sein Leben geändert. Sie überqueren den Santa Monica Boulevard, und Jeremy erzählt vom Erfolg seiner Geschäftsidee, und dass er nach L.A. zurückgekommen ist, um sich eine neue Wohnung zu suchen und ein Grundstück für eine größere Produktionsstätte für Doggone-Verstärker zu finden. Sie gehen nebeneinander, und plötzlich nimmt er ihre Hand und sagt: »Du siehst toll aus, wirklich toll.« Das ist die Szene, die Lisa sieht, als sie die beiden aus fünfzig Meter Entfernung gegenüber der Galerie Reynaldo ins Visier nimmt: Ein Mann in einem gut geschnittenen neuen Anzug hält Mirabelles Hand, während sie den Bedford Drive entlanglaufen. Und sie nimmt an, Jeremy wäre Ray Porter. »Bist du allein hier?«, fragt Jeremy Mirabelle. »Ich bin mit einem Freund verabredet.« »Ich habe keine Freunde mehr in L.A., seit ich so viel unterwegs bin«, sagt Jeremy, während er Mirabelle die Tür aufhält und sie hineingeleitet. Lisa schlüpft hinterher und ist damit in dem bereits recht lebhaften Treiben statistisch gesehen die einzige Frau mit einer nach Lavendel duftenden Möse. Fünf Uhr nachmittags ist normalerweise früh für eine Party, jedoch nicht in L.A., wo der Wecker am Morgen normalerweise um 7.00 Uhr klingelt. Zum Dinner trifft man sich meist Punkt -129-
19.30 Uhr - was für einen New Yorker mit Jetlag genau passt, denn er isst dann um 22.30 Uhr seiner Zeit. Die Galerie beginnt sich also allmählich zu füllen, und viele vertraute Gesichter sind schon zu sehen. Der Künstler/Held ist da, diesmal mit einer Frau, doch er erinnert sich an Mirabelle und winkt sie herüber. Jeremy trennt sich von ihr und geht an die Bar, um sich seinen neuen Lieblingsdrink mixen zu lassen: Soda, Preiselbeersaft und Wodka. Lisa wittert ihre Chance und schiebt sich neben ihn. Sie hört mit, als er bestellt und verlangt das Gleiche. Dann wartet sie, bis die Drinks kommen, und bringt ihre duftende Muschi in Stellung. »Mein Gott, ich hab noch nie jemanden getroffen, der auch so etwas bestellt.« Und schon legt sie los. Sie lacht über alles, was Jeremy sagt, was nicht einfach ist, denn Jeremy ist an sich kein wirklich witziger Typ. Aber Lisa weiß, dass sie ihn unbedingt lustig finden muss, um ihn zu erobern, und lacht daher selbst über die harmlosesten Äußerungen, einschließlich einiger Bemerkungen über die aktuelle politische Landschaft. Als ihr klar wird, dass diese Betrachtungen ernst gemeint sind, würgt sie das Grinsen unverzüglich ab und setzt eine Miene konzentrierter Tiefsinnigkeit auf. Unaufhörlich belagert sie ihn, schmeichelt ihm, stößt ihn ein paar Mal an, schleckt kokett an ihrem Drink. Dann sieht sie hinüber zu Mirabelle und sagt, wie unschön es für ihn sein muss mit anzusehen, wie sie sich an einen anderen heranmacht, wo sie doch mit einem so attraktiven Mann gekommen ist. »Ich hab ein Geheimnis«, sagt sie. »Ich weiß, wer Sie sind. Ich bin übrigens Lisa.« Irgendwie leben wir ja alle in unserer eigenen Welt, und so nimmt Jeremy an, dass sich seine Fähigkeiten und sein Erfolg in der Verstärkerbranche inzwischen herumgesprochen haben. Er findet es toll, dass dieser attraktive Rotschopf von seiner Geschäftstüchtigkeit erfahren hat, und als sie ihn fragt, ob sie sich später noch auf einen Drink treffen wollen, wirft er einen -130-
Blick zu Mirabelle der Lisa in ihrem falschen Glauben noch bestärkt - und bedauert es zu seiner Überraschung, dass nicht sie ihn gefragt hat. Doch nachdem er Lisa kurz prüfend gemustert hat, sagt er ja. Lisa lacht und flirtet noch eine halbe Stunde mit ihm, ehe sie alles auf eine Karte setzt. »Wollen wir gehen?«, fragt sie. »Ja, warum nicht.« Lisa tut, als wäre sie besorgt um ihre Mitmenschen. »Und was ist mit Mirabelle?«, fragt sie. »Ich gehe, wann es mir passt«, erwidert Jeremy, der überhaupt nicht auf die Idee kommt zu erwähnen, dass sie kein Paar sind. Diese Bemerkung löst einen Östrogenstoß bei Lisa aus und lässt sie von Sex, Babys und einem Häuschen im Grünen träumen. Jeremy kennt die Gründe für Lisas Zielstrebigkeit nicht, doch wozu auch. Und auch sein erst seit kurzem erleuchtetes Bewusstsein kümmert sich nicht darum. Denn sein Gehirn mag noch so gelassen in friedlichen Wassern schwimmen, die zwei Keimdrüsen eines ungebundenen 27jährigen werden davon noch lange nicht eingelullt. »Ich will mich nur noch schnell verabschieden.« Jetzt ist es Lisa fast - aber eben doch nicht ganz - peinlich. »Okay, aber ich warte draußen.« Lisa hat es so arrangiert, dass heute keiner ihrer Mitmieter im Weg ist, und hier, in ihrer Wohnung, besorgt sie es Jeremy nach allen Regeln der Kunst. Sie zeigt ihm das illustrierte Kamasutra nach Lisa Cramer, Oberklasse der Kosmetikabteilung, ergänzt um Anmerkungen aus einem Dutzend Sexratgeber, von zwei Radiopsychologen, den Klatsch von zwei sexbesessenen Freundinnen, Artikel aus Cosmopolitan und einen sicheren Instinkt dafür, wie man das oberflächliche Interesse von Männern erregt. Ganz langsam zieht sie erst ihn und dann sich -131-
selbst aus, bringt ihn mit oralem Ungestüm in Wallung, massiert ihn, spielt mit ihm, rollt ihn auf den Rücken und masturbiert ihn, und bringt ihn schließlich unter rhythmischem Stöhnen zu einer galaktischen Ejakulation. Lisa, die meint, damit hätte sie Ray Porter im Sack, wird in ihrem Glauben noch bestärkt, als sie fragt, ob sie besser wäre als Mirabelle, worauf Jeremy, der keine Ahnung hat, dass er nicht Ray Porter ist, nur nicken kann. Nach einer kurzen Schmuseeinlage, der üblichen Pflichtübung, macht sich Jeremy auf die Socken, und Lisa verabschiedet ihn mit den Worten: »Ruf mich an.« Während Lisa denkt, dass sie es Ray Porter besorgt, trifft dieser bei der Vernissage ein, schnappt sich Mirabelle und lä dt sie zum Essen ein, bei dem ihre vertraute, bodenlose Lust wieder erwacht. Im Auto, auf dem Weg zu seinem Haus, schiebt er ihr die Hand unter die Jacke und zwischen die Knöpfe ihres Kleides, spürt die weiche Geschmeidigkeit ihrer Brüste. Zu Hause angekommen wollen sie eigentlich miteinander ins Bett gehen, doch stattdessen beginnt ein Gespräch. Ein verletzendes, vernichtendes Gespräch, das damit anfängt, dass Ray Porter ganz beiläufig noch einmal seine Unabhängigkeit bekräftigt, mit Mirabelle wie mit einem Freund redet, der eingeweiht ist, so als würde sie ihm dabei helfen, eine andere zu finden. »Ich habe überlegt, ob ich nicht das Haus hier verkaufen soll und mir stattdessen eine Wohnung in New York zulege. Ich bin unheimlich gern dort. Jedes Mal, wenn ich aus dem Flugzeug steige, bin ich wie high. Ein Freund von mir verkauft eine Wohnung, die mir gefällt, fünf Zimmer - groß genug, falls ich mal jemanden kennen lerne.« Er sagt das, und er will ihr damit etwas mitteilen, doch grausam sein will er nicht. Mirabelle sackt in sich zusammen. Die Worte, beiläufig dahingesprochen wie irgendeine Nebensache, nehmen ihr jede Kraft. Die Arme baumeln an ihr herunter, sie lässt sich in einen Sessel fallen. Sie weiß es, sie weiß doch alles, sie hat es doch -132-
schon gehört. Warum muss er es noch einmal sagen? Um sie daran zu erinnern, dass das alles hier nichts bedeutet? Sie blickt zu ihm hoch, und dann stellt sie ihm eine schreckliche Frage. »Und mit mir vertreibst du dir nur die Zeit, oder?« Die Antwort ist grausam, und Ra y bringt sie nicht über die Lippen. Er sagt gar nichts, er setzt sich einfach neben sie. Finsternis fällt auf Mirabelles Seele. Diese Finsternis ist kein Gedanke, doch wenn sie in einen Gedanken gepresst werden könnte, wenn man mit einer Pipette eine chemische Substanz darauf tropfen könnte, um ihre Farbe und ihren Sinn sichtbar zu machen, dann würde dieser Satz daraus werden: Warum will mich keiner? Er drückt sie an sich, den Kopf an ihrer Schulter. Er weiß, dass er sie liebt, doch er begreift selbst nicht, um welche Art von Liebe es hier geht. So sitzt sie da, ihre kurzen Fingernägel in seinen Rücken gegraben, und versucht, etwas festzuhalten, damit sie nicht zerbricht. Während sie sich an ihn klammert, spürt sie, wie sie in kaltem, dunklem Wasser versinkt, und es scheint keinen Ausweg zu geben. Die Nähe des Mannes, den sie für die Erlösung hielt, macht es noch schlimmer. Er bringt sie ins Bett, und während sie mit dem Gesicht nach unten auf der Decke liegt, ruht seine Hand auf ihrem Rücken und streichelt sie gelegentlich. Er sagt ihr, dass sie schön sei, doch für sie ist dieser Gedanke mit seiner Ablehnung unvereinbar. Am nächsten Morgen klingelt das Telefon. Lisa nimmt ab. »Hi, ich bin's, Jeremy.« »Wer?«, fragt Lisa. »Jeremy.« »Kennen wir uns?« Jeremy versucht es mit einem Scherz. »Wen kennt man schon -133-
wirklich.« Da Lisa nicht lacht, fährt er fort: »Jeremy von gestern Abend.« Lisa geht die Liste der Männer durch, mit denen sie gestern Abend gesprochen hat. Ein Jeremy ist nicht dabei, obwohl es vorkommt, dass Männer sie ausfindig machen und bei ihr anrufen, weil sie meinen, sie hätten Blickkontakt gehabt, auch wenn das gar nicht der Fall war. »Hilf mir auf die Sprünge«, sagt sie. Jeremy ist sprachlos, er kann kaum glauben, dass all seine Leistungen, sein kometenhafter Aufstieg am nächsten Morgen schon wieder vergessen sein sollen. Also sagt er: »Jeremy, ich war gestern Abend mit bei dir, war ganz schön heiß.« Da dämmert es Lisa, nur ganz verkehrt: »Oh Ray!« Als Jeremy dieses »Oh Ray!« hört, hält er es für Slang oder eine Art Geheimsprache oder auch einen gerade angesagten Ausdruck der Begeisterung, der ihm bisher entgangen ist. Also antwortet er mit »Oray!« Lisa versucht es mit: »Mein Gott, du warst einfach großartig letzte Nacht!« Jeremy erwidert: »Oray!« «Was?«, fragt Lisa. Jeremy, dem das Gespräch entgleitet, fragt schließlich: »Weißt du, wer ich bin?« »Na sicher, du bist Ray Porter.« »Wer?«, fragt Jeremy. »Ray Porter, von letzter Nacht.« »Wer ist denn Ray Porter?« »Na du...«, erwidert Lisa und setzt dann hinzu:«... oder etwa nicht?« Am Morgen nach der qualvollen Nacht fährt Ray Mirabelle zu -134-
ihrem Auto, sodass sie um zehn Uhr im Geschäft ist. Er sieht sie mit steifen Schritten davongehen, viel zu fein angezogen für diese Tageszeit, einsam an ihrem Schmerz tragend. Er fragt sich, ob er sie das letzte Mal sieht. Mirabelle setzt ihre Fahrbrille auf, lässt ihren neuen Explorer an und winkt Ray zum Abschied mit dem kleinen Finger. Sie fährt ab, und er sieht, wie sie gewissenhaft nach vorn schaut. Mirabelle betritt Neiman's, geht an der kompromittierten Lisa vorbei, steigt vier Treppen hinauf und schlüpft in ihre Nische hinter dem Ladentisch. Dort steht sie dann den ganzen Tag, wieder einmal wie betäubt von einer unverständlichen Welt, und ihre Bewegungen beschränken sich auf die, die ihr Körper auswendig weiß. Ihre Beziehung zerbricht nicht plötzlich an jenem Tag, sie schläft in den kommenden sechs Monaten ganz allmählich ein. Es gibt noch plötzliche Ausbrüche, neue Anläufe, doch sie alle liegen auf einer absteigenden Kurve. Er geht mit ihr essen, fährt sie nach Hause, umarmt sie zum Abschied. Kein Sex mehr. Manchmal sagt sie ihm, dass er wunderbar ist, und er drückt sie fester an sich. Sie lässt sich auf ein Date mit einem Sportartikelvertreter ein, doch sie kann ihm nicht einmal genug bieten, um sein Interesse wach zu halten. Ray begreift schließlich, dass er Mirabelle nichts geben kann, und dass er an sie beide denken muss, das heißt, sich von ihr lösen muss. Er zieht sich zurück, und sie, reflexartig, um sich zu schützen, tut dasselbe. Eine Weile glaubt Mirabelle, dass er irgendwann schwach wird, seine Liebe zu ihr zulassen wird, doch schließlich gibt sie den Gedanken auf. Sie fällt abgrundtief. Monatelang geht es ihr dreckig, auch wenn es keine Depression ist, sondern Trauer - wenn auch nicht um Ray, wie sie zuerst meint, sondern um ihr altes Ich, wie ihr bald klar wird. Sie liegt auf dem Bett, der Tag ist zur Nacht geworden, ohne -135-
dass sie auch nur aufgestanden wäre, um Licht zu machen. Sie zündet eine Kerze in ihrem dunklen Schlafzimmer an und lässt sich von dem sanften Schein umfangen. Die Geräusche von draußen, aus den umliegenden Wohnungen verändern sich im Laufe des Abends - Essenszeit, Fernsehzeit, Ruhezeit. Ihre Depression hat sich selbst aufgezehrt. Mirabelle hat es satt, nichts zu tun, um wieder auf die Beine zu kommen. Und in der Dunkelheit und Einsamkeit um sie herum, nimmt sie Verbindung auf mit ihrem klügeren Ich. Sie gesteht sich ein, dass ihre Studentenzeit vorbei ist, dass ihr Ausflug nach Los Angeles zu Ende geht, und dass Ray Porter ein hoffnungsloser Fall ist. Es ist Morgen, als bei Ray Porter das Telefon klingelt. »Hi, ich bin's«, sagt Mirabelle. »Leg auf, ich ruf dich zurück.« »Lass nur, ist schon okay«, erwidert sie. »Es gibt Neuigkeiten: Ich ziehe weg.« Aus ihrer Stimme klingt ein Schwung, den Ray von ihr nicht gewöhnt ist. »Aus deiner Wohnung?«, fragt er. »Nach San Francisco.« Sie reden kurz darüber, wieso sie sich für San Francisco entschieden hat, ohne dass die wirklichen Gründe genannt werden. Ob es eine kluge Entscheidung ist oder nicht, darüber reden sie nicht, denn Mirabelles Entscheidung steht fest. Sie hat eine kleine Bitte an Ray, die er ihr erfüllt: Sie möchte, dass er seine Beziehungen spielen lässt, um ihr ein Vorstellungsgespräch in einer Galerie in San Francisco zu arrangieren - doch nicht als Künstlerin will sie sich bewerben, sondern für den Empfang. Auf Del Reys altem Computer reserviert sie sich übers Internet eine Wohnung und nimmt auch Kontakt mit zwei potenziellen Mitmietern auf. Drei Wochen später verlässt sie Neiman's, verabschiedet sich, ohne -136-
zurückzuschauen, von Los Angeles und richtet sich in einer kleinen Wohnung in Presidio, in der Nähe der Golden Gate Bridge, ein. Ray ist überrascht von ihrer plötzlichen Entschlusskraft, wo sie ihm doch so unbeweglich schien. Natürlich hat Mirabelle Schwierigkeiten, aber Ray finanziert den Umzug und hilft ihr in einer Situation, in der selbst mit seiner Unterstützung auf ihren Kontoauszügen nur eine endlose Reihe von Nullen und hinter dem Komma auch lange nichts steht. In ihrem neuen Job am Empfang der Galerie leidet sie unter ähnlicher Langeweile wie in der Handschuhabteilung, aber zumindest kann sie sich bewegen. Und die Kunden sind im Durchschnitt zwanzig Jahre jünger. Und noch einen Vorteil hat San Francisco: Die Kunstszene hier ist lebendiger als die nur sporadisch zum Leben erwachende in L.A. Jeden dritten Abend ist irgendwo etwas los, und sie kann entweder hingehen oder es sein lassen und sich in ihr Bett kuscheln. Im Galeriebetrieb ist sie mit jeder Menge überschüssiger männlicher Hormone konfrontiert. Mirabelle ist reif, doch in gewisser Weise noch jungfräulich, und ihr Liebesleben beginnt nicht sehr verheißungsvoll. Bei einer Vernissage lernt sie einen Künstler namens Carlo kennen, der sich einen Monat lang um sie bemüht, ein paar Mal mit ihr schläft und sie dann eiskalt sitzen lässt: Als sie ihn anruft, sagt er, dass er sie von einem anderen Apparat aus zurückrufen wird, was er jedoch nicht tut. Nie mehr. Ihre Zusammenfassung und Deutung dieses Erlebnisses laufen diesmal nicht darauf hinaus, dass man sie nicht will, sondern dass sie etwas über ihre eigenen Entscheidungen gelernt hat. Sie hat gelernt, dass ihr Körper kostbar ist, und dass sie ihn nie wieder achtlos anbieten darf, denn er steht in direkter Verbindung zu ihrem Herzen. Sie umgibt sich mit einer schützenden Hülle aus Vorsicht und lernt, nie mehr zu geben als sie bekommt. Die kleine Katastrophe, in der diese kurze Affäre endet, hat noch eine Folge: Mirabelle kann jetzt ihren Zorn von Ray auf Carlo übertragen, und damit -137-
kann Ray ihr Freund werden. Während sie sich in San Francisco einlebt, hat sie Hochs und Tiefs, aber sie ist entschlossen, optimistisch zu bleiben. Ray ruft gelegentlich an und schickt ihr einen Scheck, wenn er ihr anhört, dass es nötig ist. Mirabelle hat ihren inneren Widerstand gegen fremde Hilfe schon lange aufgegeben, denn sie hat gar keine andere Wahl, als sie anzunehmen. Und sie tut es mit aufrichtiger Bescheidenheit und Würde. Auch ihrer Kunst wid met sie sich mit beständigem Eifer, und ihre Zeichnungen sind in einigen Gruppenausstellungen zu sehen. Die kleine, nicht einmal zwanzig Zentimeter im Quadrat messende Zeichnung, die sie nackt im Raum schwebend zeigt, wird als Leihgabe aus der Sammlung von Mr. Ray Porter gezeigt. In ihrem neuen Job kommt sie mit Künstlern und Sammlern zusammen. Sie achtet immer darauf, bei Kontakten über die Galerie keine Eigenwerbung zu machen, ihr Gefühl für Korrektheit bewahrt sie davor, doch sie genießt es, bei den Vernissagen eine Rolle zu spielen. Sie ruft oft bei Ray an, der sie dann planmäßig sofort zurückruft. Eines Nachmittags verkündet sie: »Heute Abend gehe ich zu einer Vernissage - und ich habe vor, nicht das Mauerblümchen zu geben.« Gegen Ende der Woche hat sie immer ein paar Geschichten in petto, die sie ihm erzählen kann: Die Nächte in der Szene, wer mit ihr geflirtet hat, wer sie ignoriert hat. Sie registriert auch das sporadische Auftauchen und Verschwinden des verabscheuenswerten Carlo, der einmal mit einer schwangeren Freundin am Arm zu einer Vernissage erschien, worüber sich die zarte Mirabelle furchtbar ärgerte. Ihr Versuch, durch psychologische Kriegsführung mit ihm abzurechnen, scheitert allerdings, denn er reagiert überhaupt nicht darauf. Mirabelles Aufenthalt in San Francisco zieht sich nun schon eine Weile hin. Ihre Anrufe bei Ray Porter werden seltener. Sie hat ein paar Flirts, eigentlich Unterhaltungen, aus denen nie viel -138-
wird. Doch eines Abends, als sie die Treppe zu ihrer neuen Wohnung hinauf kommt, sieht sie auf ihrem Türvorleger eine kleine längliche Schachtel liegen, unbeholfen eingewickelt, eine riesige Grußkarte darauf geklebt. In der Wohnung legt sie die Schachtel auf den Küchentisch. Sie füttert die Katze, und dann zieht sie das Klebeband von dem Einwickelpapier. Darunter verbirgt sich eine weiße Schachtel, und darin eine ziemlich schicke Swatch-Uhr. Sie klappt die Grußkarte auf und liest: »Ich würde gern mit dir essen gehen, Jeremy«. Und hastig darunter gekritzelt die normalerweise unausgesprochene Ergänzung: »Du bist eingeladen!« Die letzten sechs Monate hat Jeremy an der Westküste gearbeitet, und in dieser Zeit hat er in seiner geistigen Entwicklung einen überproportionalen Sprung von etwa sechs Jahren gemacht, indem er den gesamten Bestand von Bodhi Tree, der Esoterik-Buchhandlung, in sich aufgesaugt hat. Er kommt regelmäßig nach San Francisco, seit er auf Achse ist, und jetzt, wo er sich in L.A. niederlassen will, um ein kleiner King in der Verstärkerbranche zu werden, muss er jede Woche geschäftlich nach Oakland. Ab und an steigt Mirabelles Bild in ihm auf und setzt sich in seinem Kopf fest. Es ist nicht das Bild aus der Zeit ihrer ersten, peinlichen Rendezvous, sondern das von ihrer Begegnung auf dem Parkdeck vor der Vernissage. Erst da war er reif genug, ihre Schönheit zu erkennen, ihren Wert als Gegenstand wahrer Begierde. Er hat sie ausfindig gemacht, indem er ihre alte Nummer angerufen hat und dann mit der neuen Nummer über ein Telefonbuch im Internet an ihre Adresse gekommen ist. Mirabelle ruft ihn unter der Nummer an, die er auf die Karte gekritzelt hat. Auch ihre Erinnerung an die peinliche Nacht in ihrer Wohnung ist überdeckt durch die wenigen Augenblicke auf dem Weg zur Vernissage, die nun schon fast ein Jahr zurückliegt. Sie machen ein Treffen in ein paar Wochen aus. Als der Tag da ist, fährt er im Taxi vor, und von ihrem Fenster sieht -139-
Mirabelle, wie er dem Fahrer großzügig einige Dollar Trinkgeld gibt. Zu Fuß gehen sie zu einem Restaurant in der Nähe, und dort angekommen, geht Jeremy auf die Empfangskellnerin zu und verkündet: »Mein Name ist Kraft, ich habe reserviert.« Mirabelle wusste nicht mehr, dass er Kraft heißt, aber sie weiß wohl, dass er erst der zweite Mann in ihrem Leben ist, mit dem sie in ein Restaurant geht, in dem ein Tisch für sie beide reserviert ist. Mirabelle bestreitet einen Großteil des Gesprächs, und Jeremy hört aufmerksam zu, ohne selbst viel zu sagen. Später wird sich Mirabelle daran erinnern, dass sie ihn an diesem Abend zum ersten Mal wirklich interessant fand. Auf dem Nachhauseweg, als sie miteinander und mit dem gemeinsamen Abend warm werden, betet Mirabelle die ganze Litanei von Gründen für ihren Umzug herunter, lässt den wichtigsten aus und fasst schließlich zusammen: »Ich bin dabei, mit mir selber ins Reine zu kommen.« »Ich auch«, sagt Jeremy. Da wissen sie, dass ihnen der Gesprächsstoff nie ausgehen wird. Die beiden treffen sich häufiger, und ganz behutsam öffnet sie sich Jeremy, doch auch Ray sieht sie gelegentlich noch. Aus Selbstschutz schläft sie nicht mehr mit ihm, und da er sie nun endlich vorbehaltlos verehrt, drängt er sie nicht. Es dauert Monate, bis sie sich auf Jeremy einlässt, und Jeremy wartet geduldig. Und während er wartet, wird sein Gefühl für Mirabelle immer stärker. Eines Nachts weint sie in seinen Armen, als eine Erinnerung an Ray flüchtig ihr Gedächtnis streift. Und Jeremy hält sie ohne ein Wort zu sagen. Woher sein Verständnis in dieser Zeit, als er um sie wirbt, kommt, das weiß er selbst nicht. Vielleicht war er ja bereit, erwachsen zu werden, vielleicht war das Wissen schon in ihm, wie ein schlafendes Gen. Doch warum auch immer, er hätte sich keinen besseren -140-
Gegenstand für seine Aufmerksamkeit suchen können als Mirabelle, und sie sich keinen besseren Empfänger für ihre Zärtlichkeit als Jeremy. Denn im Unterschied zu Ray Porter ist seine Liebe rein und rückhaltlos. Und jedes Mal, wenn er ihr ein Stück mehr von seinem Herzen gibt, gibt sie ihm dafür genauso viel zurück. Eines Nachts - früher als ihr lieb ist, doch sie kann nicht mehr widerstehen - schlafen sie zum zweiten Mal in zwei Jahren miteinander. Doch diesmal hält Jeremy sie lang in den Armen und ihre Vereinigung ist tief und innig. Und da übertrifft Jeremy trotz seiner Unbeholfenheit Mr. Ray Porter als Liebhaber, denn was er Mirabelle gibt, ist ehrlich und liebevoll. Als er in dieser Nacht nach Luft schnappend aus der tiefen Liebe auftaucht, die unerwartet über ihm zusammengeschlagen ist, macht er ein paar Ausführungen über den Großhandel mit Hochtönern, die Mirabelle bei sich »die Zweite Lobpreisung« nennt. Als er eingenickt ist, schiebt sie ihren Zeigefinger in seine zur Faust geballte Hand und schläft ein. Mirabelle und Jeremy sind eines der ungleichen Paare, die ein Leben lang zusammenbleiben. Sie ist gewitzter als er, aber Jeremy ist verliebt in seine brillanten Ideen, und sein Enthusiasmus steckt Mirabelle an und bringt sie dazu, für Geld zu zeichnen. Allmählich macht es ihr Freude, seine überschwänglichen Ausbrüche zu tolerieren - das ist ihr Geschenk an ihn. Manchmal liegen sie im Bett, und Mirabelle erzählt ihm die ganze Handlung eines viktorianischen Romans, und Jeremy ist so gefangen und mitgerissen, dass er das Gefühl hat, all das geschieht jetzt und hier, mit ihm. Mirabelle informiert Ray, dass sie, auch wenn sie sich noch nicht festlegen will, möglicherweise jemanden kennen gelernt hat. »Ich habe ihm erzählt, dass ich Medikamente nehmen muss, und es macht ihm nichts aus«, sagt sie. Ray hat immer gewusst, dass dieser Augenblick kommen würde, in dem sie der ausschließlichen, uneingeschränkten und rückhaltlosen -141-
Leidenschaft eines Mannes nachgeben würde, der ihr ebenbürtig ist. Obwohl er diesen Moment hat kommen sehen, empfindet er ihn als Verlust, und er wundert sich: »Wie ist es möglich, eine Frau zu vermissen, die man auf Distanz gehalten hat, damit man sie nicht vermisst, wenn sie nicht mehr da ist?« Ray wundert sich auch, warum sie und nicht er jemanden kennen gelernt hat, zufällig, im Waschsalon, jemanden, der in dein Leben stolpert und es für immer verändert. Doch drei Monate später passiert es Ray, nicht in einem Waschsalon - er hat seit dreißig Jahren keinen mehr von innen gesehen -, sondern bei einer Dinnerparty. Eine 45 Jahre alte Frau, geschieden, mit zwei Kindern, erobert sein Herz - und bricht es. Nun durchlebt er die gleiche Verzweiflung wie Mirabelle, den Absturz, die Düsternis. Erst da wird ihm klar, was er ihr angetan hat, wie er ihnen beiden geschadet hat, weil er sie nicht ganz wollte, nur ein Stück von ihr. Und dass es für sein Tun keine Rechtfertigung gibt, außer vielleicht... dass das Leben eben so spielt. Jeremy und Mirabelle, die noch nicht richtig, aber fast, zusammenleben, sind immer weniger getrennt, wenn er nach Norden und Süden unterwegs ist. Mirabelle und Ray telefonieren weiter einmal die Woche miteinander, und allmählich können sie über Einzelheiten ihres Liebeslebens reden. Mirabelle erwähnt, dass sie für ein verlängertes Wochenende nach Vermont fliegen will. Sie bittet ihn nicht um Geld - das tut sie nie -, aber Ray ist immer entgegenkommend, wenn er merkt, dass sie etwas braucht. Diesmal jedoch bietet er ihr nichts an, sie schwatzen, und dann legen sie auf. Er muss sich über etwas klar werden. Ray steht auf seinem Balkon und schaut auf die orangerote Dämmerung des Sonnenuntergangs über Los Ange les. Er denkt darüber nach, warum er immer noch für Mirabelle sorgt. Er trifft sich nicht mehr mit ihr, sie hat einen anderen - wäre es da nicht Sache des neuen Mannes, für das eine oder andere aufzukommen? Er hat immer gezahlt, hat es als Geschenk an sie -142-
betrachtet, doch das ist jetzt vorbei. Und doch fühlt er sich verpflichtet, ihr zu helfen. Wieso? Er richtet seine analytische Kraft einmal nicht auf die Logik der Zeichen, sondern auf sein brodelndes Unterbewusstsein. Er reduziert seine Fragen auf ihren Kern, und er findet das eine Thema, das sich durch all seine widersprüchlichen Gefühle zieht. Auf einmal weiß er, warum er so für sie empfindet, warum sie ihm immer noch nahe ist, warum er sich, in unregelmäßigen und unvorhersagbaren Abständen, fragt, wo sie wohl gerade ist und wie es ihr geht: Er ist ihr Vater geworden, und sie ist sein Kind. Endlich wird ihm klar, dass, sosehr er geglaubt hat, ihr seinen Willen aufzuzwingen, sie ihm dafür ihre Bedürftigkeit aufgezwungen hat, und so ihre Erwartungen einander ergänzten. Das Ergebnis war ein Lernprozess für sie beide. Er hat eine Beziehung erlebt, in der er der allein Verantwortliche war - und er sieht, welche Fehler er gemacht hat -, und sie hatte jemanden gefunden, der sie auf dem Weg zur nächsten Lebensphase führt. Mirabelle, die jetzt, noch unsicher, auf eigenen Beinen steht, spürt die Wärme ihrer ersten reifen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Liebe und hat sich von ihm gelöst. Aber er weiß, dass er wie ein Vater immer für sie da sein wird. Manchmal, nachts, wenn er allein ist, denkt er an sie, und manchmal, nachts, wenn sie allein ist, denkt sie an ihn. Es gibt Nächte, da erwachen diese Gedanken, viele Meilen und Zeitzonen voneinander getrennt, im gleichen Moment, und dann sind Ray und Mirabelle, ohne dass sie es wissen, miteinander verbunden. In einer Nacht wird er an sie denken, während er in die Augen einer anderen schaut und die zwei Eigenschaften sucht, die Mirabelle für ihn verkörperte: Treue und Achtung. Mirabelle, weit weg und in Jeremys Armen, weiß, dass sie wiedergefunden hat, was verloren war. Monate später, nachdem die Zeit ihrer Trennung die Bitterkeit genommen hat, telefoniert Mirabelle mit Ray. Sie erzählt von -143-
ihrem neuen Leben, und er hört die Freude darüber aus ihrer Stimme. Ihre Gefühle für Jeremy spielt sie herunter, weil sie meint, es könnte ihm vielleicht wehtun. Sie sagt: »Ich hab das Gefühl, dass ich wirklich hierher gehöre, zum ersten Mal fühle ich mich richtig wohl.« Sie erzählt, dass sie immer noch zeichnet und auch verkauft, dass in Art News eine positive Besprechung über sie stand. Sie erinnern sich an ihre Beziehung, und sie sagt ihm, wie sehr er ihr geholfen hat, und er sagt ihr, wie sehr sie ihm geholfen hat, und dann entschuldigt er sich dafür, wie er mit ihr umgegangen ist. »Ach was, nein...« berichtigt sie ihn, »... es ist der Schmerz, der unser Leben verändert.« Darauf folgt eine Pause, keiner sagt etwas. Schließlich erzählt Mirabelle: »Die Handschuhe habe ich mit nach Vermont genommen und dort in meine Erinnerungskiste getan. Meine Mutter hat gefragt, wo sie her sind, aber ich habe nichts verraten. Und hier in meinem Schlafzimmer, in meinem Schubfach, hab ich ein Foto von dir.«
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Danksagung Wenn das Schreiben so ein einsamer Job ist, wieso muss man dann so vielen Leuten danken? Zunächst danke ich Leigh Haber, für die sorgfältige Bearbeitung des Buchs (bei gleichzeitiger Schonung meines Egos), dann Esther Newberg und Sam Cohn, die als Erste ermutigenden Worte fanden, meinen Freunden April Gornik, Sarah Paley, Nora Ephron, Eric Fischl und Eric Idle, Mary Karr, Chloe King, Susan Wheeler und Ellen Ladowsky - die alle meinten, es wäre ihre Idee gewesen, das Buch in seinem Frühstadium zu lesen und hilfreiche Kommentare zu geben. Wie kann ich ihnen danken - außer mit dem Angebot eines 25prozentigen Mengenrabatts bei Vorlage eines gültigen Führerscheins?
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