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Kann es ein schlimmeres Monster als den Hund von Baskerville geben? Als im Hafen von London eine grausam zugerichtete Lei che gefunden wird, steht die Polizei vor einem Rätsel. Gleichzeitig tauchen Gerüchte über ein monsterhaftes Wesen auf, das mit einem Schiff von Sumatra nach Eng land verfrachtet wurde und einer riesigen Ratte gleicht. Hier ist die Hilfe von Sherlock Holmes gefragt. Doch dieser ist mit einem spektakulären Entführungsfall be schäftigt: Die junge Lady Allistair wurde entführt. Eine Spur führt Watson und Holmes auf den Landsitz der Alli stairs nach Strathcombe. Auch dort kommt es zu myste riösen Vorfällen. In den Wäldern um Strathcombe scheint eine Bestie ihr Unwesen zu treiben. Hängt die Entführung der jungen Lady Allistair mit dem Mord im Londoner Hafen zusam men? Bald schweben Watson und Holmes in größter Ge fahr …
Über den Autor Rick Boyer ist ein ausgewiesener Sherlock-Holmes-Kenner, der mehrere Holmes-Geschichten geschrieben hat. Als Klassiker gilt sein Roman um die Riesenratte von Su matra, einen der berühmtesten Fälle, die Watson im Kanon der ursprünglichen Conan-Doyle-Erzählungen erwähnt. Rick Boyer lebt und arbeitet in den USA.
Rick Boyer
Roman Ins Deutsche übertragen von
Stefan Bauer
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH
Band 15601
1. Auflage: Dezember 2006
Vollständige Taschenbuchausgabe
Bastei Lübbe Taschenbücher in der Verlagsgruppe Lübbe
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Giant Rat of Sumatra
© 1976 by Richard L. Boyer
Published by arrangement with the author and
Alexander Books, Ralph Roberts
© für die deutschsprachige Ausgabe 2006 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG. Bergisch Gladbach
Lektorat: Gabi Hoffmann
Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen
Titelabbildung: getty-images/HIROOKI AOKI
Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen
Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN-13: 978-3-404-15601-6 (ab 1. Januar 2007)
ISBN-10: 3-404-1-5601-3
Sie finden uns im Internet unter
www.luebbe.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich
der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
ANMERKUNG DES AUTORS
Verehrter Leser, wenn Sie diese Zeilen lesen, werde ich schon viele Jahre in meinem Grab liegen. Aus einer Viel zahl von Gründen, von denen einige auf den folgenden Seiten offensichtlich werden, ist es erforderlich, die Ver öffentlichung dieses Berichtes so lange zurückzuhalten, bis alle Personen, die darin erwähnt werden, verstorben sind. Daher soll das Manuskript in einer Geldkassette in einer Filiale der Barclay’s Bank in der Oxford Street, London, verwahrt werden, und zwar bis zum Jahr 1975 – eine runde Zahl, die ich willkürlich wähle, allerdings in der Gewissheit, dass alle Menschen, die sich durch die folgende Erzählung in ihrer Ehre gekränkt oder angegrif fen fühlen könnten, bis dahin längst zu Staub zerfallen sind. Ich verfüge dies als Teil meines letzten Willens und Testamentes, auszuführen durch meinen Testamentsvoll strecker oder dessen Bevollmächtigte. John H. Watson, M. D. London,1912
KAPITEL 1
Der tätowierte Seemann
Der Sommer des Jahres 1894 war heiß, trocken und ohne besondere Vorkommnisse, bis auf das rätsel hafte Verschwinden von Miss Alice Allistair, welches das gesamte Königreich schockierte und in Sorge ver setzte. Sie befand sich, zusammen mit ihrer Anstands dame, auf einer Ferienreise durch Indien, als sie auf ei nem Marktplatz in Bombay entführt wurde und spurlos verschwand. Ihr Vater, Lord Allistair (dessen Name in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sicher jedem britischen Bürger geläufig war), wandte sich vertraulich an Sherlock Holmes und bat ihn um Hilfe. Doch die Wochen verstri chen, und noch immer traf keine Nachricht aus dem Fer nen Osten über das Schicksal seiner Tochter ein. So kam es, dass mein Gefährte sich Anfang September in einem ruhelosen, gelangweilten und misslaunigen Zustand be fand. Eine Fahrt nach Bombay sowie ein ansehnliches Honorar Seiner Lordschaft standen zwar in Aussicht, doch noch immer tat Holmes nichts anderes als mürrisch im Zimmer auf und ab zu gehen und ununterbrochen et was vor sich hin zu murmeln. Lassen Sie mich an dieser Stelle aus langer Erfahrung eine Anmerkung machen: Bei allen Abenteuern, die das 7
Zusammenleben mit dem berühmtesten beratenden De tektiv der Welt mit sich brachte, seine Gesellschaft hatte durchaus auch ihre Nachteile. Sherlock Holmes führte einen unsteten Lebenswandel, war oft launisch und we nig mitteilsam und, was seine persönlichen Gewohnhei ten betraf, unordentlich bis an die Grenze zur Schlampig keit. Es war am frühen Abend des 15. September des er wähnten Jahres, als ich nach einem Blick auf Holmes, der tief in Gedanken versunken auf dem Sofa saß, die Stille und die bedrückende Atmosphäre unserer Woh nung nicht länger aushielt. Die Zimmer stanken nach abgestandenem Rauch und chemischen Dämpfen, und Holmes’ Introvertiertheit und niedergeschlagene Stim mung halfen auch nicht gerade, die Stimmung zu bes sern. Ich stand auf, ging zum Fenster hinüber, öffnete es und ließ die milde Sommerbrise herein, um schlech te Luft und schlechte Laune gleichermaßen zu vertrei ben. »Was für ein schöner Abend, Holmes. Schließen Sie sich mir auf einen Spaziergang an?« »Ich glaube nicht, Watson. Ich habe im Augenblick genügend zu tun.« »Der Fall der Bradley-Fälschungen oder der AllistairFall?« »Beides. Der erste ist eher unbedeutend und leicht zu lösen: Wenn der Angestellte hinkt, ist er schuldig. Ich erwarte jeden Augenblick die Antwort. Der andere ist weitaus schwieriger, und ohne irgendwelche Spuren und Hinweise bin ich machtlos.« 8
Er starrte die Wand an und versank noch tiefer in Ge danken. Ich wandte mich wieder zum Fenster um. Der Himmel hatte die leuchtend kupferrote Farbe der untergehenden Sonne angenommen, die am Horizont bereits in dunkles Blau überging. Das entfernte Schwatzen der Fußgänger drang von unten an mein Ohr. Als ich hinunterblickte, sah ich glänzende Zylinder und wippende Sonnenschirme von vorüberschlendernden Paaren. Ihr fröhliches Lachen reizte mich. Wo waren sie gewesen? Wohin gingen sie? Oder, um es noch direkter auszudrücken: Warum waren wir in unserer düsteren Wohnung eingesperrt, weit weg von allem? »Holmes, kommen Sie, ein kurzer Ausflug, um Körper und Geist ein wenig in Schwung zu bringen, würde … hallo, was ist denn das?« Holmes warf einen Blick zum Fenster hinüber. »Was ist los, Watson?« Hufklappern und ein Paar wild hin und her schau kelnder Droschkenlampen hatten meine Aufmerksamkeit erregt. Im schwindenden Licht konnte ich gerade noch den Kutscher ausmachen, wie er auf seinem Bock stand und die Pferde mit äußerster Härte anpeitschte. »Scheint ein betrunkener Droschkenkutscher zu sein. Die armen Tiere!« »Es handelt sich wohl kaum um einen Betrunkenen. Ich wette, es ist ein Sanitätswagen.« Er erhob sich vom Sofa und stellte sich neben mich ans Fenster. Zu meiner großen Verblüffung stellte sich das Vehikel, als es unten durch das Licht der Straßenlaterne 9
schoss, in der Tat als Sanitätswagen heraus; die Kenn zeichnung auf seiner Seite war unmissverständlich. »Holmes, Sie verblüffen mich! Wie konnten Sie das wissen?« »Man kann sowohl mit seinen Augen als auch mit seinen Ohren ›wahrnehmen‹, mein lieber Watson. Ein Sanitätswagen hat – aus offensichtlichen Gründen – ein längeres Chassis als eine vierrädrige Droschke. Wenn er über das Kopfsteinpflaster holpert, verrät er sich also durch ein eigentümlich tief tönendes Rattern in seiner Verschalung, das man von Droschken nicht kennt. Die ses spezielle Rattern findet man auch bei Lastkutschen und Rollwagen, doch angesichts der späten Stunde und der Geschwindigkeit des Gefährts bleibt nur ein Sani tätswagen übrig.« »Bravo!«, rief ich. »Doch damit scheint mir erst die Hälfte des Rätsels ge löst«, meinte Holmes, beugte sich weiter aus dem Fenster und ließ seinen Blick aufmerksam über den Horizont schweifen. »Mir drängt sich der starke Verdacht auf, dass – zusätz lich zu dem Unglück, das sich in unserer Nachbarschaft ereignet hat – sich in genau diesem Augenblick an ande rer Stelle in London eine Katastrophe großen Ausmaßes abspielt, von der die morgigen Zeitungen ohne Zweifel berichten werden.« Diese Reihe von Schlussfolgerungen verblüffte mich dermaßen, dass es mir die Sprache verschlug. Holmes bemerkte meinen verwirrten Gesichtsausdruck. »Nun kommen Sie schon, mein lieber Watson, Sie 10
sind ein Mann der Medizin und wissen über Sanitäts fahrzeuge Bescheid: Haben Sie nicht irgendetwas ver misst?« »Nein«, antwortete ich nach einigem Überlegen, »au ßer dass irgendein unglückliches …« »Ts, ts, Mann! Sonst nichts?« Ich schüttelte den Kopf. »Dann frage ich Sie: Wie kam es, dass Sie nicht in der Lage waren, zu erkennen, um was für ein Fahrzeug es sich handelte, bis Sie die Kennzeichnung auf der Tür gesehen haben?« Wie schon so oft während der langen Bekanntschaft mit meinem Freund, spürte ich Verlegenheit in mir auf steigen, weil ich wieder einmal das Offensichtliche über sehen hatte. »Die Klingel! Es gab keine Glockenzeichen.« »Exakt! Die Warnglocke des Sanitätsfahrzeuges wurde nicht betätigt. Dies erklärt sowohl den unberechenbaren Kurs der Droschke – nichts anderes als der Versuch des Kutschers, den Zusammenprall mit Fußgängern zu ver meiden – als auch das recht wilde Verhalten des Kut schers selbst, was Sie beides eher auf den ungezügelten Genuss von Alkohol zurückgeführt haben.« Holmes beobachtete nach wie vor aufmerksam den Horizont und die Straßen unten. Er füllte seine Pfeife, paffte ein paar Züge und murmelte dabei zu sich selbst: »Natürlich stellt sich dann die Frage, warum die Glo cke nicht angeschlagen wurde …« »Ein neuer Kutscher …?« »Nein. Das Geschick, mit dem der Mann das Gespann 11
beherrschte und die Passanten umfahren hat, beweist, dass er recht erfahren ist … Der Spaziergang, den Sie eben erwähnten, hat plötzlich einen ganz neuen Reiz gewon nen. Lassen Sie uns aufbrechen!« »Natürlich«, fuhr er fort, als wir die Treppe hinunter eilten, »ist es offensichtlich, dass das Sanitätsfahrzeug vom St. Thomas’ Hospital kam.« »Hah! Ich fürchte, da irren Sie sich, alter Freund; Sie scheinen ein wenig nachzulassen, Holmes, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten«, erwiderte ich nicht wenig selbstgefällig. »Erlauben Sie mir, Sie mit Ihren eigenen Methoden zu schlagen. Sie scheinen Charing Cross zu vergessen, das in derselben Richtung wie St. Thomas’, al lerdings wesentlich näher liegt. Es erscheint daher nur lo gisch, dass der Wagen von dort kam, da offensichtlich al le Eile geboten zu sein schien.« »Ausgezeichnet, Watson! Wirklich, Sie übertreffen sich selbst!« Ich fühlte mich tief geschmeichelt, denn Holmes ge hörte nicht zu den Menschen, die allzu freizügig Lob ver teilen. »Schade nur, dass Sie sich irren«, fügte er hinzu. »Wie können Sie da so sicher sein?«, erwiderte ich ein wenig pikiert. »Wieder einmal haben Sie es versäumt, genau zu beo bachten. Haben Sie gesehen, wie der Kutscher seine Peit sche schwang?« »Er war sehr eifrig bei der Sache.« »So sehr, dass Sie sich zu dem Ruf: ›Die armen Tiere!‹ hinreißen ließen. Haben Sie auch auf die Pferde selbst 12
geachtet, als das Licht der Straßenlaternen auf sie fiel? Ih re Flanken waren schweißgebadet. Diese beiden Hinweise führen uns zu dem Schluss, dass die Tiere zwar aus der Richtung von Charing Cross kamen, aber schon sehr viel länger unterwegs waren. Sie müssen daher vom St. Tho mas’ Hospital aus aufgebrochen sein.« So gesehen war die Schlussfolgerung in der Tat ganz einfach. »Aber Sie haben recht daran getan, Logik anzuwen den, Watson, denn das lässt uns erkennen, dass das Unlo gische geschehen ist: Statt aus dem nächstgelegenen Kran kenhaus zu kommen, hat der Sanitätswagen einen Weg durch die ganze Stadt hinter sich. Das ist höchst interes sant. Außerdem ist da noch die Frage nach der fehlenden Warnglocke. Vielleicht können wir diese beiden Teile des Rätsels zusammenfügen. Wir wissen, dass der Kut scher nicht bloß vergessen hat, die Glocke zu schlagen – er ist dafür viel zu erfahren. Welche Erklärung bleibt dann noch übrig?« Wir schritten die Baker Street hinunter in Richtung Süden zum Portman Square, doch ich war viel zu sehr mit dem Rätsel beschäftigt, um die Schönheit des Abends wahrzunehmen. Ich dachte angestrengt über die Frage nach, die Holmes gestellt hatte. »Die Glocke war also entweder defekt oder fehlte ganz«, schlug ich vor. »Exakt! Was darauf hindeutet, dass dieser Sanitätswa gen, schlecht ausgestattet, wie er ist, eigentlich nicht für den Einsatz bestimmt ist. Er wurde also von einem Mo ment auf den anderen aus der Werkstatt geordert, und 13
noch dazu aus dem ›falschen‹ Krankenhaus. Was schlie ßen Sie daraus?« »Natürlich – alle regulären Wagen waren bereits im Einsatz!« »Aha! Aber aus welchem Grund? Offensichtlich wur den sie zum Schauplatz eines tragischen Unglücks geru fen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich um ein Feuer handelt. Wieso ein Feuer? Nun, was könnte es sonst sein? Eine Überschwemmung? Gewiss nicht; der Wasserstand des Flusses ist normal, und wir warten seit längerem auf Regen. Ein Erdbeben? Absurd! Ein Massenmord? In Ame rika vielleicht, aber nicht hier. Nein, ein Feuer muss aus gebrochen sein, und ich …« »Was?« Holmes’ Gesicht hatte einen gespannten Ausdruck angenommen, der mir verriet, dass sich eine neue Ent wicklung anbahnte. »Sehen Sie die Menschenmenge dort am Straßenrand? Da ist auch unser Sanitätswagen. Und Lestrade, der sich seinen Weg zur Mitte bahnt. Ich fürchte, dieser Un glücksfall hat einen unheilvollen Beigeschmack. Schnell, kommen Sie! Wir sollten dort sein, bevor die Polizei am Tatort alles ruiniert hat.« Wir kämpften uns durch die Ansammlung neugieriger Passanten. Als wir uns ihrem Zentrum näherten, konnte ich Lestrades raue Stimme vernehmen, der sowohl seinen Untergebenen als auch den Umstehenden Befehle entge genbellte. Im Gaslicht der Straßenlaterne, die die Menge teilweise verdeckte, konnte ich eine dunkle Gestalt im Rinnstein erkennen. 14
Es war offensichtlich, dass Lestrade Holmes’ Auftau chen mit einer Mischung aus Erleichterung und Verärge rung quittierte. »Mr Holmes«, meinte er, »ich habe keine Ahnung, wie Sie es jedes Mal schaffen, scheinbar aus dem Nichts aufzutauchen, sobald ein Mord geschehen ist.« »Ein Mord«, wiederholte Holmes, der sichtlich aufleb te. »Watson, unser Abendspaziergang wird von Minute zu Minute interessanter. Mit Ihrer Erlaubnis, Lestrade, wür de ich die Leiche gerne untersuchen.« Nachdem die Menschenmenge weitgehend zerstreut worden war, hatten wir drei freie Hand, den Leichnam genauer in Augenschein zu nehmen. Das Opfer war ein Mann mittleren Alters, kräftig gebaut, mit dichtem, dunk lem Haar und Bart und dunkler Hautfarbe. Es sah aus, als sei der Mann kopfüber auf die Straße gestürzt; seine Füße lagen noch auf dem Gehsteig, Kopf und Schultern ruhten auf dem Kopfsteinpflaster. Auf dem Boden unter der offe nen Weste und dem Hemd hatte sich eine Blutlache ge bildet. Lestrade schlug die Kleidung weiter zurück. Die Todesursache war sofort offensichtlich: Von der Hüfte bis zur linken Schulter klaffte eine scheußliche Wunde im Körper des Mannes, die in einer Reihe kleinerer Schlitze ausmündete und dem Opfer ein brutales und schnelles Ende bereitet hatte. Die Verletzungen waren so groß und grotesk, dass ich trotz all meiner medizinischen Erfahrung äußerst schockiert und angewidert war. »Kein schöner Anblick, wenn ich so sagen darf«, meinte Lestrade. »Aber das ist ein Mord nie, egal, wie er ausgeführt wurde.« 15
»Die Tätowierungen auf seinem Arm und der Brust und die Art seiner Kleidung deuten darauf hin, dass es sich bei ihm um einen Seemann handelt«, bemerkte Holmes. »Wurde der Leichnam bewegt?« »Unseres Wissens nicht«, antwortete Lestrade. »Der Constable, der ihn gefunden hat, heißt Roberts – ein gu ter Mann, wohlgemerkt –, aber er kann beim besten Wil len keinen einzigen Zeugen in dieser Angelegenheit auf treiben. Die Menschenansammlung hat ihn zum Tatort gelockt. Keiner der Ladenbesitzer, weder ein Anwohner noch ein Passant konnte auch nur den leisesten Hinweis darauf geben, was hier vorgefallen ist.« »Das ist merkwürdig. Immerhin ist es ein idealer Abend, um sich draußen aufzuhalten. Es sind viele Leute auf der Straße. Angesichts der Art der Verletzungen und des physischen Zustandes des Opfers kann man anneh men, dass es einen Kampf gegeben haben muss – oder zumindest ein lautes Geschrei. Es ist äußerst seltsam, dass der Vorfall keine Aufmerksamkeit erregt haben soll.« An dieser Stelle hielt mein Gefährte inne und warf dem Leichnam im Rinnstein einen Blick zu, der durchaus mitleidig war. »Nun, wenn es keinen lebenden Zeugen gibt, der uns weiterhelfen kann, dann muss der Tote selbst uns seine Geschichte erzählen.« Daraufhin fuhr Holmes fort, die Leiche aufs Allerge nauste zu untersuchen. Er ließ nichts aus, untersuchte die Kleider, besonders die Ärmelaufschläge und Taschen, die zerrissene Weste und das aufgeschlitzte Hemd, die Stiefel, die tätowierte Brust, so zermetzelt sie auch sein mochte, 16
und beendete seine Arbeit damit, dass er seine Nase in den Schnurrbart des Toten drückte und kräftig daran roch. Im nächsten Augenblick sprang er auf, schritt die Straße auf und ab, paffte dabei heftig an seiner Pfeife und ließ den Blick in alle Richtungen schweifen. Da ich seit langem an diese Verhaltensweisen meines Freundes gewöhnt war, begann ich ein Gespräch mit Lestrade, in dem ich die Tatsache hervorhob, wie seltsam es doch sei, dass der Mord keine Aufmerksamkeit erregt hatte und keinerlei Hinweise bei der Leiche gefunden worden waren, die zu ihrer Identifizierung hätten führen können, noch, was das betraf, irgendwelche persönlichen Habseligkeiten. Während die Sanitäter den Leichnam auf eine Trage hoben, beobachtete ich Lestrade, wie er sich mit einigen Reportern unterhielt, die am Rande der Men schenmenge gewartet hatten. Ich war noch immer damit beschäftigt, als ich Holmes nach uns rufen hörte. »Hierher, Watson, Lestrade! Kommen Sie her, das könnte Sie interessieren.« Wir sahen nach oben und entdeckten Holmes’ eckiges Gesicht außerhalb des Lichtkegels der Straßenlaterne, wie er vom Dach des Hauses unmittelbar über uns herun terschaute. »Nehmen Sie die zweite Tür da drüben – die einfache, nicht die des Lagerhauses.« Wir ließen zwei Constables zurück, die die Abfahrt des Sanitätswagens überwachen sollten, und bestiegen die schmale, schäbige Treppe, die unauffällig von der Straße nach oben führte. Holmes wartete auf dem ersten Trep penabsatz auf uns. Er führte uns eine weitere Treppen 17
flucht hinauf und schließlich durch eine enge Tür aus ro hem Holz. »Diese Stufen führen zum Dach hinauf. Lestrade, wenn Sie Ihre Blendlaterne dabeihaben, nun wäre der Zeitpunkt gekommen, da sie sich als nützlich erweisen könnte.« Kurz darauf standen wir auf einem Flachdach mit ei nem etwa drei Fuß hohen Mauervorsprung zur Vordersei te Richtung Baker Street hin. Holmes, der die Blendla terne von Lestrade übernommen hatte, ging zu einer Ecke des Daches und ließ den Strahl auf ein zerknülltes Ta schentuch fallen. »Hier haben Sie ein Beweisstück, Lestrade. Mögli cherweise können Sie das Chloroform schon von Ihrem Platz aus riechen.« »In der Tat …«, meinte der Polizei-Detective nach denklich. Holmes’ Scharfsinn schien ihn ein wenig zu verdrießen. »Aber was zum Teufel hat Sie bloß auf die Idee gebracht, ausgerechnet hier nachzusehen?« »Die Logik, mein Freund. Überlegen Sie doch einmal: Ein großer, muskulöser Mann in der Blüte seiner Jahre wird brutal mit einem Dolch ermordet. Der Leichnam wird auf einer geschäftigen Hauptstraße mitten in Lon don gefunden. Trotzdem scheint niemand die Tat be merkt zu haben. Um dies zu erklären, müssen wir entwe der annehmen, dass unsere Bürger taub, abgestumpft und blind sind, oder eine andere, vernünftigere Erklärung su chen: dass der Mann irgendwo anders ermordet und sein Leichnam nur auf dem Gehsteig abgelegt wurde. Doch wie wurde er dort abgelegt? Aus einer vorbeifahrenden 18
Kutsche? Das wäre eine Möglichkeit, doch diese wäre laut und auffällig. Aus Ermangelung einer anderen Al ternative stehen wir nun auf diesem Dach, und wie Sie anhand der Beweismittel sehen können, deutet alles da rauf hin, dass der Mord genau hier begangen wurde.« Um seinen Punkt zu unterstreichen, deutete Holmes auf den Mauervorsprung, der die Straße überragte. Er war großflächig mit Blut verschmiert. »Aber warum das Chloroform«, fragte ich, »wenn die Tat mit einem Dolch begangen wurde?« »Der Mann wurde zuvor bewusstlos gemacht – daher konnte die Tat in aller Stille begangen werden. Die Mör der – ich glaube, es war mehr als einer – warteten danach an dieser vorteilhaften Stelle, bis die Straße unten kurz zeitig menschenleer war, warfen dann den Leichnam auf die Straße und ergriffen die Flucht über die Leiter, die an der Rückseite des Gebäudes angebracht ist. Ich schätze, Ihre Leute werden einige gebrochene Rippen bei unse rem Opfer finden, Lestrade, die meine Theorie unterstüt zen.« »Nun, Holmes«, sagte ich, als wir die Treppe wieder hinunterstiegen, »damit scheinen die Dinge ein wenig klarer zu sein, nicht wahr?« »Im Gegenteil, Watson. Was am Anfang verschwom men war, ist nun völlig undurchdringlich. Was vorher bloß unerklärlich war, wird nun vollkommen unzusam menhängend: geradezu verrückt. Unsere letzte Entde ckung hat den Vorhang nur ein wenig zu einem Fall ge lüftet, der der verworrenste und diabolischste zu werden verspricht, mit dem wir es seit langem zu tun hatten. 19
Mein lieber Freund«, fuhr er fort, »hat dieser Mord auf dem Dach denn keine Fragen in Ihnen aufgeworfen? Denken Sie immer daran, dass ein Detektiv – ganz so wie ein Arzt, der das Außergewöhnliche, das Einmalige zu er kennen sucht, um eine Diagnose stellen zu können – Ausschau nach dem Unlogischen, dem Grotesken halten muss, um zum Kern des Verbrechens vorzustoßen. Auf welch irrationale Elemente sind wir gestoßen?« »Man hätte den Mann nicht erstechen müssen – das Chloroform und der Sturz hätten ihn sicher getötet.« »Ja, das kommt dazu. Aber ist es keinem von Ihnen beiden aufgefallen, dass die Verbrecher, nachdem sie die Tat begangen hatten, sich unnötig in Gefahr brachten, indem sie die Leiche hinunter auf die Straße warfen und so öf fentliches Aufsehen erregten?« »Ihr Einwand ist wohl berechtigt«, gab Lestrade zu. »In der Tat ist mir dieser seltsame Umstand gerade auch aufgegangen. Normalerweise liegt einem Mörder vor dringlich daran, sein Opfer zu verstecken.« »Doch diese Täter hier haben die Polizei bereitwillig auf ihre Spur gehetzt und ihre Flucht gefährdet, indem sie die Leiche regelrecht ›zur Schau‹ gestellt haben, statt sie zu verbergen.« »Vielleicht suchen sie öffentliches Aufsehen, weil der Mord als eine Art Warnung dienen soll.« »Ich stimme Ihnen zu, zumindest im Augenblick.« Lestrade und ich folgten Holmes zur Rückseite des Gebäudes, wo er die schmiedeeiserne Feuerleiter und das Pflaster darunter untersuchte. Viel kam dabei nicht zu Tage, bis auf einen Fetzen dunkelblauer Wolle, den Hol 20
mes von einem vorstehenden Bolzen an der Leiter pflückte. »Das Schicksal meint es gut mit uns«, sagte er, wäh rend er die Fasern im Strahl der Blendlaterne zwischen den Fingern hin und her drehte. »Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass er aus einer Spinnerei in Norwich stammt, aber um das exakt bestimmen zu können, muss ich ihn erst genauer untersuchen.« Ein größerer Aufruhr auf der Straße riss Holmes in die sem Moment aus seinen Überlegungen. Das Trillern von Polizeipfeifen und das Getrampel schwerer Stiefel brach ten uns dazu, rasch nach vorne zur Straße zu laufen. Dort entdeckten wir mehrere Constables, die wild mit den Armen wedelten. »Sind sie noch immer auf’m Dach?«, rief einer von ih nen. »Auf, holen Sie ’nen Schalltrichter! Ich … halt, da ist er! Inspector Lestrade! Wir werden dringend an den Docks erwartet, Sir, so schnell’s geht, bitte!« »Es handelt sich also um ein großes Feuer?«, fragte mein Freund. »Schrecklich! Und es breitet sich rasch aus. Ich …« Lestrade brach mitten im Satz ab. »Aber wie haben Sie davon erfahren? Ich selbst wurde eben erst telegrafisch darüber informiert, und zwar polizeiintern. Und ich habe niemand anderen etwas davon erwähnen hören.« »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns anschlie ßen?«, fragte Holmes, der Frage des Inspectors auswei chend. »Nun, ich nehme an, es kann nichts schaden. Hören Sie, Mulvaney, ist auf diesem Wagen da Platz genug? 21
Sehr gut. Können Sie noch drei weitere Passagiere auf nehmen? Guter Bursche! Kommen Sie – aber ich warne Sie, halten Sie sich im Hintergrund!« Wir stiegen in den offenen Wagen und suchten uns einen Platz auf den Bänken zwischen einem Dutzend Bobbys, die von nichts anderem redeten als dem großen Feuer in den Docks. Ich nahm an, dass sie das Ausmaß des Unglücks übertrieben. Aber dreißig Minuten später, als ich den glutroten Himmel im Osten sah und bemerk te, dass die Themse wie ein goldenes Band glühte, wusste ich, dass es schlimmer war, als jeder von uns befürchtet hatte. Der erste Hinweis auf die Größe des Feuers war der Verkehr. Die Straßen waren bis zur Überfüllung verstopft; Kinder rannten schreiend in alle Richtungen; kläffende Hunde liefen vor Kutschen und zwischen fliegende Hufe. Pferde bäumten sich auf und wieherten. Ein steter Strom Neugieriger drängte zum Hafenviertel – nur um auf pa nikerfüllte Anwohner zu prallen, die aus dieser Gegend flohen. Und mit jeder verstreichenden Minute loderte der glühende Himmel heller und weiter auf. »Das Wetter der vergangenen Tage war sicher nicht hilfreich, so viel steht fest«, meinte Holmes aus dem Mundwinkel, ohne dabei den Himmel aus den Augen zu lassen. Unzählige Male steckten wir in einem Pulk aus Men schen und Wagen fest. Doch glücklicherweise war die Alarmglocke unseres Polizeiwagens intakt. Ihr Klang war so mächtig, dass mir bald die Ohren dröhnten und schmerzten. 22
»Zur Seite! Macht Platz für die Polizei! Du da! Sofort anhalten, das ist ein Befehl!«, schrie unser Kutscher, ein stämmiger Kerl und offensichtlich in solchen Dingen er fahren. Er führte die vier Paar Zügel und die aufgeregten Pferde, die daran angespannt waren, mit bewundernswer tem Geschick. Mit schwindelerregender Geschwindigkeit bogen wir um die Ecken. Wir ratterten durch schmale Gassen. Wir flogen über die Straßen. Über dem Häm mern der Hufe und dem Donnern der Räder konnte ich das wilde Keuchen unserer Pferde hören – ein Geräusch wie das von tausend riesigen Blasebälgen. Schließlich sah ich einen Feuerball hinter einem Ge bäude aufsteigen und wusste, dass wir uns dem Schauplatz des Geschehens näherten. Im gleichen Augenblick schoss ein Feuerwehrwagen aus einer Seitenstraße, eine ölige Rauchfahne hinter sich und gezogen von sechs prächti gen Pferden in schimmernden Überwürfen. Wir schlossen uns an, und die beiden Wagen jagten mit lautem Getöse dahin! Vorwärts ging es, die Menschenmenge teilte sich und jubelte uns zu, als wir vorbeipreschten. Als wir die Preston Road erreicht hatten, bogen wir nach Süden ab und fuhren weiter, bis wir mitten auf der Isle of Dogs wa ren. Hier befanden sich die großen Werften und Anlege stellen: der Schlund, der das Empire fütterte. Und hier lebte das Arbeitervolk, das seinen Lebensunterhalt mit dem Seehandel verdiente: Seefahrer, Lotsen, Hafenar beiter, Schiffbauer, Takler … und natürlich Tavernenbe sitzer. Wir schossen zwischen zwei großen Lagerhäusern hin 23
durch, und im nächsten Augenblick bot sich mir ein ge waltiges, furchterregendes Spektakel. Es nur ein Feuer zu nennen, würde der Sache nicht ge recht werden. Ein Abschnitt der Hölle, aus den Tiefen hervorgespien und ans Flussufer verpflanzt, wäre eine bes sere Beschreibung. Welch schreckliche Gewalt und welch ein Grauen! Große Feuerbälle schossen in den Himmel. Gewaltige Funkenschauer und glühende Bruch stücke wurden nach oben gespuckt und segelten wieder abwärts, um neue Feuer zu entfachen. Drei Gebäude standen in Flammen, und einige andere würden bald folgen. Sie waren riesig. Einer der Giganten in der Mitte schien der Ursprung des Infernos zu sein. Noch während ich hinsah, brach ein kreisrunder Teil des Daches ein, und eine vielleicht zweihundert Fuß hohe Flammensäule schlug aus dem Gebäude hervor wie ein schmaler, bösartiger Giftpilz, dessen abgerundeter Kopf sich zu einer riesigen roten Blase aufblähte. Die Flammen erhellten die Umgebung in einem Umkreis von mehreren hundert Yards. Ein Meer von Gesichtern mit nach oben gerichteten Augen umgab uns. Kinder, die den Ernst der Lage nicht verstanden, rannten hin und her und trugen schreiend ihren Teil zum allgemeinen Lärm bei. Für sie war das alles bloß ein spannendes Schauspiel, das die Langeweile des Sommers unterbrach – all die Zerstörung, die um sie herum stattfand, nahmen sie glücklicherweise gar nicht wahr. Unser Wagen hielt nahe der brennenden Gebäude. Ich sprang hinunter. Mein Gesicht schmerzte von der Hitze; ich konnte kaum atmen. Überall um mich herum 24
hetzten Feuerwehrleute umher und schrien. Drei riesige Löschmaschinen standen in einer Reihe und arbeiteten wie besessen. Die Gespanne bockten und tänzelten trotz ihrer Ausbildung hin und her und warfen im Feuerschein große grotesk zitternde Schatten auf das Pflaster. Diese Szene wiederholte sich scheinbar endlos, so weit man bli cken konnte: pumpende Löschmaschinen, die Rauch aus stießen, nervöse Gespanne, die weggeführt und angeleint wurden, Männer, die Karren mit Schläuchen schoben und Leitern trugen, während Offiziere Befehle durch Schalltrichter schrien. Und über alles erhob sich das oh renbetäubende Brüllen und Krachen des flammenden In fernos. Der einzige günstige Umstand für die Feuerwehrleute war die Nähe der Themse: Zugschläuche wurden über die Kaimauern in den Fluss gelassen, der unbegrenzten Nach schub an Wasser garantierte. Ein großes, dampfgetriebe nes Löschschiff legte an den Docks an, und aus seinem gedrungenen, lastkahnähnlichen Rumpf schoss ein Was serstrahl, der so gewaltig war, dass er die hölzernen Wän de der Gebäude zersplittern ließ, bevor er die Flammen dahinter erreichte. Nicht weit entfernt kämpften sich kleine Gruppen von Feuerwehrleuten so nah sie es wagen konnten an die Feuersbrunst heran und hoben ihre Schläuche – doch sie wirkten so armselig wie Mäuse, die einen Löwen angreifen, und die Wasserstrahlen zeigten, wenn überhaupt, nur wenig Wirkung. Als ich hinter mir eine Bewegung verspürte und mich umdrehte, sah ich überraschenderweise einen Kohlewa gen näher kommen, und ich beobachtete, wie die Feuer 25
wehrleute – welch seltsame Ironie – die Flammen im Un terteil ihrer Maschinen fütterten. Die Polizei bildete einen Kordon, um die Menge fern zu halten, und ich sah, wie Lestrade Befehle brüllte. Die ser Anblick versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Ich verfluchte meine bisherige Untätigkeit, ließ Holmes ste hen und eilte zum nächsten Constable. »Ich bin Arzt – wo sind die Verletzten?«, schrie ich, und nachdem der Mann mir die Richtung gewiesen hat te, kämpfte ich mich zur Rückseite eines Backsteinge bäudes, wo man, geschützt vor Hitze und Lärm, eine be helfsmäßige Krankenstation errichtet hatte. Augenblick lich hob sich meine Stimmung: Es gab nur wenige Opfer, und die meisten hatten bloß leichte Verbrennungen er litten. Als ich an ihnen vorbeisah, offenbarte sich mir der Grund für unseren »schlecht ausgestatteten« Sani tätswagen von vor einer Stunde. Lange Reihen dieser Kutschen standen in der Nähe bereit; die Pferde stampf ten ungeduldig mit den Hufen. Zu meiner großen Ver blüffung wurden sie nicht gebraucht. Die schweren Fälle waren bereits abtransportiert worden, und so säuberte und verband ich bloß die Wunden der umherirrenden Leichtverletzten. Gott sei Dank, dachte ich bei mir, dass die Gebäude meist Lagerhäuser sind, was erklärt, wieso es nur so wenig Verletzte gibt. Ich wurde jedoch von einem Anblick und einem Geräusch abgelenkt, die ich mein Lebtag nicht mehr vergessen werde – und all meine Er leichterung und mein Optimismus waren mit einem Schlag verschwunden. Ein Jammern drang an mein Ohr, und ich erhob mich, 26
um zu sehen, woher es kam. In einer dunklen Nische an der Ecke des alten Gebäudes saß eine Frau, eingehüllt in einen zerschlissenen Umhang, und drückte ein winziges Bündel an die Brust. Sie blickte mit einem Gesichtsaus druck zu mir auf, der nichts Menschliches mehr hatte, und wehklagte mit einer Stimme, die mir ebenso un menschlich erschien. In ihrer Seelenqual zerfleischte sie sich selbst; ihr Gesicht war ein Schlachtfeld aus zerfetzter Haut und Tränen. »Abbie! Meine Abbie!«, schrie sie und wehrte sich gegen jene, die sie zu beruhigen versuchten. Schließlich gelang es den Sanitätern, das in einem Tuch eingewickel te Bündel auf einen Karren zu legen. Die vor Schmerz wahnsinnig gewordene Mutter kletterte hinterher, und begleitet vom schrecklichen Wehklagen setzte sich die traurige Prozession in Bewegung. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder dazu in der Lage war, an meine Arbeit zurückzukehren. Als Arzt, der fast täglich mit dem Tod konfrontiert wird, stumpft man mit der Zeit gegenüber den meisten Fällen ab. Das Dahin scheiden eines alten Mannes oder einer Todkranken sind feste Bestandteile des Alltags und der Welt eines Medizi ners. Er sieht sie als naturgegeben an. Doch wenn ein junges Leben vom Tod dahingerafft wird – ein Kind zum Beispiel, das möglicherweise noch zwei Stunden zuvor fröhlich lachend auf den Knien sei ner Mutter saß und sein abendliches Naschwerk aß –, die Verwandlung dieser Kreatur in ein lebloses kleines Bün del … diese Art von Tod trifft uns mit voller Wucht, selbst beim hundertsten, ja, sogar beim tausendsten Mal. 27
Und gebe Gott, dass der Tag nie kommen möge, wo ich einen solchen Tod einfach hinnehmen kann. Nachdem ich mehrere Stunden lang kleinere Verlet zungen behandelt hatte, machte ich mich erschöpft zu rück auf den Weg zu Holmes und Lestrade. Obwohl das Feuer sich erheblich ausgedehnt hatte, waren die riesigen Feuerstreifen verschwunden. Stattdessen hatte sich eine gewaltige Glut in Bodenhöhe entwickelt, und die Hitze, die vom Brand ausging, war noch heftiger geworden. Die Feuerwehr hatte klugerweise ihre Bemühungen aufgege ben, die großen Gebäude zu löschen, und konzentrierte sich darauf, die angrenzenden Häuser zu retten. Das Feuer war inzwischen eingedämmt, und die Aufregung und der Lärm ebbten langsam ab, bis auf das gelegentliche Kra chen einstürzender Wände und Dächer. Doch noch im mer arbeiteten die großen Maschinen, und noch immer eilten kleine Trupps hin und her, oft mit einem verletz ten Kameraden über der Schulter. Erschöpft und niedergeschlagen erreichten Holmes und ich kurz vor Mitternacht die Baker Street. Das Tosen des Feuers, das Klirren und Rasseln der Maschinen und das schreckliche Wehklagen der Mutter dröhnten noch immer in meinen Ohren. Eine Zeit lang saßen wir uns schweigend gegenüber. Dann berichtete ich ihm mit trauererfüllter Stimme von dem Vorfall mit dem toten Kind. Er stieß einen tiefen Seufzer aus; auch ihm ging die Geschichte sehr nahe. »Es gibt so viel Leid in der Welt, Watson, und seien Sie versichert, es ist kein Zufall, dass das meiste davon die Armen trifft.« 28
»Diesen Abend werden wir sicher nicht so schnell vergessen«, meinte ich. »Ich bin vollkommen erschöpft, und dennoch werde ich sicher nicht schlafen können.« »Ich gestehe, dass ich dieselbe Anspannung verspüre. Gönnen wir uns also einen Whiskey. Dabei können wir über den Vorfall am frühen Abend reden.« Gesagt, getan: Er schenkte zwei Gläser ein, ließ sich mit der Pfeife auf dem Sofa nieder und schien der Welt zu entrücken. »Wir liegen sicher nicht falsch«, sagte er nach einer Weile, »wenn wir annehmen, dass es sich bei dem Opfer um einen Seemann handelt …« »Ganz sicher. Seiner Kleidung und seiner Erscheinung nach –« »… der erst kürzlich in London eingetroffen ist, und zwar aus Borneo oder zumindest dieser Gegend kom mend. Und er war zum Zeitpunkt des Mordes auf dem Weg zu mir.« »Was?« »Ich muss schon sagen, sein Tod geht mir noch näher, jetzt, da ich weiß, dass er mich um Hilfe bitten wollte …« »Wie können Sie sich da so sicher sein?«, fragte ich. »Zum jetzigen Zeitpunkt ist das reine Spekulation, aber lassen Sie uns die Ereignisse einmal rekonstruieren: Wie ich gesagt habe, befand sich der Mann vor nicht mehr als sechs oder acht Wochen noch auf oder in der Nähe von Borneo. Dies verrät uns ganz einfach und ein deutig die erst kürzlich angebrachte Tätowierung an sei nem rechten Handgelenk. Sie ist malaysischen Ursprungs und scheint nicht älter als zwei Monate zu sein. Wenn 29
wir veranschlagen, dass die Seereise etwa dieselbe Zeit in Anspruch genommen haben muss, kann er folglich noch nicht lange in London gewesen sein. Bringen Sie mir die Times. Wir wollen doch mal nachsehen, ob nicht zufällig kürzlich ein Schiff aus dieser Ecke der Welt eingetroffen ist.« Während ich nach der Zeitung suchte, rollte Holmes sich auf dem Sofa zusammen und paffte seine Pfeife. »Drei innerhalb der letzten vierzehn Tage werden er wähnt. Die Yarmouth Castle ist am letzten Dienstag aus Futschou eingetroffen …« Holmes schüttelte ungeduldig den Kopf. »Das Barkschiff Rangoon hat vorgestern angelegt, aus Hongkong kommend.« »Und das letzte?«, fragte er. »Das Paketboot Matilda Briggs – Donnerwetter! –, ein gelaufen heute Nachmittag aus Batavia!« »Das ist das Schiff unseres Seemanns! Wie ich beim Durchblättern der alten Ausgaben hier sehe, traf in den letzten vierzehn Tagen kein anderes Schiff aus dieser Ge gend ein. Unser toter Freund ist also erst heute Nachmit tag angekommen. Er muss mir etwas äußerst Wichtiges mitzuteilen gehabt haben. Schade, dass seine Lippen für immer versiegelt sind.« »Woher wissen Sie, dass er hierher unterwegs war?« »Stellen Sie sich Folgendes vor, Watson: Ein See mann trifft nach wochenlanger Fahrt im Hafen ein. Was würde er wohl als Erstes tun?« »Sich ins Vergnügen stürzen, schätze ich.« »Das wäre das Naheliegendste. Aber dieser Bursche ist 30
ein seltsamer Vogel. Er lässt sich nicht in Limehouse voll laufen – nein, er taucht im West End auf, in der Baker Street. Warum? Ich möchte auf keinen Fall eitel erschei nen, mein Freund, aber Sie wissen so gut wie ich, dass ich in dieser Stadt einen beträchtlichen Ruf genieße, und das nicht nur in den gehobeneren Kreisen.« »Das ist zweifellos richtig.« »Es ist gut möglich, dass einer meiner fragwürdigeren Bekannten unten bei den Docks den Mann an mich ver wiesen hat. Außerdem gibt es etwas, das diese These meiner Ansicht nach beweist.« Holmes griff sich Feder und Papier und zeichnete da rauf die folgenden Striche:
»Sagen Ihnen diese Striche irgendetwas?«, fragte er. »Absolut nichts – sieht aus wie Kratzer von einem Fe dervieh.« »Das glaubt sicher auch die Polizei. Ich habe sie auf dem rechten Ärmelaufschlag des Mannes entdeckt, was übrigens beweist, dass er Linkshänder war. Er hat sie mit einem der groben Bleistifte aufgemalt, wie Seeleute sie oft bei sich tragen. Und wie die meisten Seeleute war er es gewöhnt, Nummern durch vertikale Striche darzustellen. Folglich leiten wir daraus die Ziffern 2-2-1 ab, oder, man gebe Acht: 221b, Baker Street.« »Verblüffend!«, rief ich aus. »Nicht wirklich. Der Mann hielt sich offensichtlich nicht damit auf, auch den Namen der Straße aufzuschrei 31
ben: Das konnte er sich ohne Probleme merken. Aber er wollte sichergehen, dass er die richtige Hausnummer hat.« »Armer Bursche!« »Er wurde verfolgt und nur eine Straße von seinem Ziel entfernt überfallen, was nahe legt, dass seine Mörder wissen, wer ich bin. Warum sonst hätten sie ihn hier tö ten sollen und nicht unten bei den Docks?« »Sie befürchteten, dass er Ihnen sein Geheimnis an vertrauen würde, und haben ihn deshalb aus dem Weg geräumt.« »Allerdings nicht, ohne vorher alles zu beseitigen, was auf die Identität des Mannes hinweist. Dass man den Leichnam auf die Straße hinuntergeworfen hat, scheint mir jedoch als Warnung an all jene gedacht zu sein, die vom Tode dieses Mannes erfahren. Ich fürchte, wir haben es mit einer dunklen und schändlichen Verschwörung zu tun, Watson, mit einer Mörderbande, die vor nichts zu rückschreckt, wenn es um die Wahrung ihrer Geheimnis se geht. So verworren das Rätsel allerdings sein mag, es gibt einen roten Faden, der sich durch die ganze Angele genheit zieht. Wir wissen, dass der Fall international ist; er ist nicht auf London beschränkt, sondern hat seine Wurzeln entweder an Bord der Matilda Briggs oder gar im Orient. Bedenkt man die Tätowierung des Mannes sowie den Auslaufhafen der Briggs, ist offensichtlich, dass wir immer wieder auf Malaysia zurückkommen. Haben Sie sich die Wunden des Mannes genauer angesehen?« »Sie waren außerordentlich schwer.« »War nichts Ungewöhnliches daran?« 32
»Sie unterschieden sich wohl von gewöhnlichen Mes serwunden, aber ich kann Ihnen nicht sagen, worin ge nau. Ich erinnere mich vage, schon einmal ähnliche Wunden gesehen zu haben …« »Vielleicht in Afghanistan?« Ich sprang vor lauter Verblüffung von meinem Stuhl auf. »Holmes!« »Regen Sie sich nicht auf. Ich habe nur geraten und dabei ins Schwarze getroffen. Es lag nahe, dass Sie solche Wunden in Afghanistan gesehen haben, eher als im ma laysischen Archipel. Der Dolch, mit dem unser Seemann getötet wurde, war, wenn ich mich nicht irre, malaysi schen Ursprungs. Der Kris, wie er meist genannt wird, ist eine zweischneidige Stoßwaffe mit welliger Klinge, der, wie Sie gesehen haben, dazu geeignet ist, die fürchter lichsten Wunden zuzufügen.« Holmes schwieg eine Weile, was ich dazu nutzte, mei ne Gedanken zu sammeln. »Sie glauben also, dass er von einem Malaysier getötet wurde«, meinte ich schließlich. »Das steht nicht fest. Ich glaube, die Mannschaft der Matilda Briggs könnte uns in dieser Angelegenheit wei terhelfen. Ich fürchte, Sie werden morgen alleine frühs tücken müssen, Watson; ich werde zu früher Stunde am Hafen sein. Wer weiß? Vielleicht finde ich in irgendeiner schäbigen Gasse oder einer überfüllten Spelunke einen Puzzlestein zur Lösung des Rätsels. Haben Sie den Mond gesehen, als wir zurückkehrten? Er hat einen Hof; dass heißt es wird noch vor dem Morgengrauen regnen, was 33
den Feuerwehrleuten helfen wird. Gehen Sie schlafen! Sie sind blass wie ein Gespenst. Gute Nacht, Watson.« Ich wünschte meinem Freund dasselbe, und während ich mich fürs Bett fertig machte, konnte ich nicht umhin, mich zu wundern, wie ein solch lieblicher Herbstabend sich so plötzlich in eine Nacht der Zerstörung, der Ge heimnisse und des Todes verwandelt hatte.
34
KAPITEL 2
Die Geschichte von Bootsmann Sampson
Am
nächsten Morgen wurde ich von einem Donnerschlag und einem Regenguss geweckt, der gegen die Fensterscheiben peitschte. Ich zog mich an, betrat den Salon und entdeckte die Überreste von Holmes’ has tigem Frühstück. Ich klingelte nach meinem eigenen, und während ich wartete, fiel mir zufällig die Morning Post auf, die ausgebreitet vor dem Kamin lag. Folgender Artikel sprang mir sofort ins Auge: LAGERHAUSFEUER FORDERT 7 TOTE Preston Road, 15. Sept.: Ein Feuer ungeheuren Aus maßes forderte gestern Abend sieben Menschenleben. Der Brand, der vermutlich gegen 18.00 Uhr im Spedi tionslager der Seehandelsfirma G. A. McNulty & Sons in der Preston Road ausbrach, loderte bis 3.30 Uhr in der Früh, als er endlich von der 2. und 4. Feuerbrigade gelöscht werden konnte. Eine Liste der Toten folgt in der nächsten Rubrik. Wie es zum Ausbruch des Feuers kam, wurde noch nicht festgestellt. Die Polizei schließt Brandstiftung nicht aus und hat Scotland Yard um Hilfe gebeten. Alle Opfer waren in angrenzenden Gebäuden einge 35
schlossen. Im Ganzen wurden acht Häuser zerstört: fünf Wohnhäuser und drei Geschäftsgebäude, ein schließlich des oben erwähnten Lagerhauses von Mr McNulty. Der Artikel fuhr fort, weitere Einzelheiten aufzuzählen, aber mir wurde das Herz so schwer dabei, dass ich die Lektüre zurückstellte und zur nächsten Seite umblätterte. Aufheiterung war jedoch nicht in Sicht, denn kaum hat te ich die Seite aufgeschlagen, fiel mein Blick auf folgen de Zeilen: MORD IN DER BAKER STREET London, 15. Sept.: Der übel zugerichtete Leichnam von Raymond Jenard, Matrose auf dem Frachtschiff Matilda Briggs, wurde auf dem Gehsteig gegenüber Curray’s Tuchhändlerladen in der Baker Street 157 aufgefunden. Todesursache war eine Reihe schwerer Stichwunden. Inspector Lestrade von der Paddington District Sta tion informierte die Morning Post darüber, dass die Tat offensichtlich ein Straßenraub mit Todesfolge gewesen sei, da keinerlei Wertsachen oder irgendwelche Ob jekte bei dem Toten gefunden wurden, die zu seiner Identifizierung hätten führen können. Diese wurde nur durch die Hilfe von Mr John Sampson ermöglicht, Bootsmann auf der Matilda Briggs und Freund des Verstorbenen. Mr Jenard, der keine Familie zurücklässt, wohnte in 36
der Preston Road 22 und war bei seinen Schiffskame raden und allen, die ihn näher kannten, als aufrechter und freundlicher Mensch angesehen. Ich war mitten beim Frühstück, das Mrs Hudson herauf gebracht hatte, als ich Schritte auf der Treppe vernahm. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und vor mir stand ein krummer alter Seebär mit ergrautem Bart, hinter dem sich ein runzliges, rotwangiges Gesicht verbarg. Die Au gen jedoch funkelten mich verschmitzt an, als vergnüge sich der alte Mann an meiner Überraschung. »Ich bitte um Verzeihung …«, sagte ich und stellte ab rupt meine Tasse ab. »Mr ’Olmes da, Kamerad?«, krächzte er. »Nein«, erwiderte ich einigermaßen entrüstet, »und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie anklopfen würden, bevor Sie das Haus eines Fremden betreten, Sir. Außer dem ruinieren Sie da gerade Mr Holmes’ Teppich.« Sein Ölzeug glänzte vom Regen, und Wasser tropfte auf den Vorleger, den Sherlock Holmes vom Schah von Persien erhalten hatte, als Dank für die Wiederbeschaf fung der berühmten Delak Tiara. Ich wusste, dass mein Freund darüber nicht gerade erbaut sein würde. Der selt same, gebeugte alte Mann stand schnaufend vor mir und schwankte leicht, als befände er sich an Deck eines Schif fes auf hoher See. »Bitte nennen Sie mir Ihr Anliegen«, meinte ich kurz angebunden, »und schauen Sie, dass Sie weiterkommen; ich bin heute Morgen sehr beschäftigt.« Das stimmte natürlich nicht, aber ich wollte ihn so 37
schnell wie möglich loswerden. Etwas an seiner starren, steifen Art beunruhigte mich. »Aye, Kamerad – haste ’nen Schluck Rum für ’n alten Mann?« »Ganz sicher nicht! Nun, wenn Sie mir Ihr Anliegen nicht …« »Geht um ’n Mord. Bin gekommen …«, und während er das sagte, schlurfte er vorwärts, bis er unmittelbar vor mir stand, »… um was über den Mord zu erzähl’n, verstehste?« Ich starrte ungläubig zu ihm hoch. Daraufhin beugte er sich zu mir hinab, bis sein Gesicht ganz nahe an meinem war, und flüsterte mit heiserer Stimme: »Verstehste, Ka merad … ich war’s nämlich, der ihn … begangen hat!« Ich sprang von meinem Stuhl auf und öffnete schnell wie der Blitz die Schublade an Holmes’ Seitentisch. Ich hatte bereits den Revolvergriff in der Hand, als eine ver traute Stimme mir Einhalt gebot. »Holla, Watson! Ich schätze, ich habe den Scherz ein wenig zu weit getrieben!« Ich drehte mich um und sah, wie sich der alte Seebär verwandelte, als Holmes den falschen Backenbart und den Kitt abzog. »Dies muss in der Tat eine meiner besseren Verklei dungen sein«, meinte er und lachte leise in sich hinein. »Wenn selbst mein engster Freund mich aus nächster Nähe nicht erkennt, kann ich wohl sicher sein, dass ich die Bewohner des East End ebenso zu täuschen vermoch te. Ah, Watson, ein Schluck Brandy wäre alles in allem jetzt nicht zu gewagt. Mich fröstelt’s bis ins Mark.« 38
»Wirklich, Holmes! Es ist ein bisschen früh am Tag für solche Streiche. Mir ist der Appetit gründlich vergangen.« In der Tat war mir von dem Vorfall noch immer ein wenig schwindelig. »Dann muss ich mich in aller Aufrichtigkeit bei Ihnen entschuldigen. Ich hatte nicht vor, Sie zu brüskieren oder zu erschrecken.« Sein reumütiger Tonfall hatte eine erstaunliche Wir kung auf mich. Ich erholte mich langsam, und es gelang mir sogar, mein inzwischen etwas abgekühltes Frühstück zu beenden, während Holmes die Reste seiner Verklei dung ablegte, seine Pfeife anzündete und sich vor dem knisternden Kaminfeuer niederließ. Draußen heulte der Sturm weiter; es goss in Strömen, und ein Donnerschlag folgte dem anderen. »Nun, Watson, wie ich sehe, haben Sie einen Blick in die Post geworfen. Gab es in den beiden Artikeln über das Feuer und den Mord etwas, das Ihre Aufmerksamkeit erregte?« Ich verneinte. »Ist es nicht seltsam«, hakte Holmes nach, »dass unser Seemann Jenard in einem der Gebäude wohnte, das vom Feuer zerstört wurde?« »Das scheint mir entgangen zu sein«, erwiderte ich und blickte noch einmal in die Zeitung, »aber das kann nur ein Zufall sein.« »Ich fürchte nicht. Ich glaube eher, dass die beiden Tragödien der letzten Nacht auf die ein oder andere Wei se miteinander verbunden sind. Natürlich ist Ihnen klar, dass die Post sich irrt.« 39
»Sie meinen, was das Motiv des Mordes betrifft?« »Das ist offensichtlich. Aber ich beziehe mich auf das Feuer. Die Post behauptet, dass das Feuer in McNultys Lagerhaus ausgebrochen ist. Wenn man den Artikel ge nau liest, erkennt man, dass dies nicht der Fall sein kann. Er widerspricht sich in gewisser Weise selbst.« Ich gesellte mich zu Holmes vor den Kamin und be mühte mich, die Zeitung in der Hand, den Widerspruch zu entdecken, der ihm so offensichtlich erschien. Es dau erte jedoch nicht lange, da wurden meine Gedankengän ge durch Mrs Hudson unterbrochen. »Mr Holmes, Sir«, sagte sie, »unten wartet ein Gentle man, der Sie zu sehen wünscht.« »Hat er Ihnen seine Karte gegeben?«, fragte mein Freund. »Nein, Sir. Aber er hat mir seinen Namen genannt.« »Ja?« »Mr John Sampson.« »Geleiten Sie ihn sofort herauf«, befahl Holmes, und der Feuereifer war ihm deutlich anzusehen. »Schnell, Watson, schüren Sie das Feuer, während ich unserem Gast ein Glas einschenke. Was für eine äußerst günstige Wendung des Schicksals, denn wenn ich mich nicht ganz täusche, kommt hier ein Mann, der viel Licht in die gan ze Angelegenheit bringen kann.« Ich benutzte also Zange und Blasebalg und zündete mir danach eine Zigarette an, gespannt die Ankunft von Bootsmann Sampson erwartend. Sein Schritt auf den Stufen war langsam und schwer. Obwohl John Sampson zweifellos Statur und Haltung 40
eines Bootsmannes besaß, war es dennoch ein bleicher, gequält aussehender Mann, der in unserer Tür erschien. Er war groß, nicht älter als dreißig, hatte blaue Augen und einen üppigen blonden Lockenschopf. Von seinem gegenwärtigen Zustand einmal abgesehen, hätte ich ihn für einen Mann von großer Kraft und Vitalität gehalten. Er wirkte offen und ehrlich und schien ein Bursche zu sein, der großzügig sein konnte und leicht Freundschaft schloss. Auf der anderen Seite, schätzte ich, würde es un klug sein, ihn sich zum Feind zu machen. Im Augenblick jedoch war er sichtlich erschüttert und stand schwankend vor Angst und Sorge vor uns. Holmes diagnostizierte die Verfassung des Mannes ebenso schnell wie ich und führte ihn zu einem Stuhl. »Bitte setzten Sie sich ans Feuer, Mr Sampson, und wärmen Sie sich auf. Dies ist mein Mitbewohner und Freund Dr. John Watson. Sie können ebenso offen ihm gegenüber wie mir sein.« Der Bootsmann schüttelte mir kräftig die Hand und setzte sich vor den Kamin. Es dauerte nicht lange, bis die Wärme und der Brandy ihre Wirkung zeigten, und ein Anflug gesunder Farbe stieg ihm in die Wangen. »Mr Holmes und Dr. Watson«, begann er mit zittern der Stimme, »wie Sie vielleicht in der heutigen Zeitung gelesen haben, bin ich Bootsmann auf dem Handelsschiff Matilda Briggs. Ich war es, der letzte Nacht die Leiche meines bedauernswerten Schiffskameraden Raymond Je nard identifiziert hat …« »In der Tat, wir haben darüber gelesen.« »Ich wollte heute eigentlich zur Polizei gehen, aber 41
heut früh wurde ich von ’nem Mr Josiah Griggs geweckt, der mir dringend empfahl, Ihnen einen Besuch abzustat ten, Mr Holmes.« »Ein Freund von Ihnen?«, fragte ich. »Nein, Sir. Um ehrlich zu sein, hab ich den Kerl nie zuvor gesehen. Er stand einfach so in meiner Tür, pitsch nass, und sagte: ›Mr Sampson, wenn Sie Rat und Hilfe suchen und nicht möchten, dass ganz London davon er fährt, dann ist Sherlock Holmes genau der richtige Mann für Sie.‹ Schien ein vertrauenswürdiger Bursche zu sein, und einer, der schon ganz schön in der Welt rumgekom men ist, wenn Sie verstehen, was ich meine. Also befolg te ich seinen Rat, und hier bin ich nun. Als Erstes wollen Sie sicher wissen, wie es kam, dass ich letzte Nacht noch so spät im städtischen Leichenhaus war. Wie Sie sich vielleicht denken können, war ich ei ner der vielen Schaulustigen beim Feuer in den Docks gestern Abend, denn wie die meisten Kameraden wohn ich ganz in der Nähe. Während ich den Flammen zusah – ich schätze, es muss so um zwei Uhr morgens gewesen sein –, da hör ich, wie ’n paar Constables über ’nen rät selhaften Mord sprechen, der früher am Abend gesche hen ist. Als ich ihre Beschreibung des Opfers hörte, bin ich misstrauisch geworden. Die Gründe dafür werden Sie bald verstehen. Ich fragte die Constables, ob der Mann tätowiert gewesen sei, und als sie bejahten, eilte ich au genblicklich in ’ner Droschke hin. Leider stellte sich mein Verdacht als richtig heraus. Ich war schon ins Grübeln gekommen, als ich sah, dass Jenards Wohnung in Flammen stand, ich ihn aber 42
nicht unter den Zuschauern entdecken konnte, obwohl ich nach ihm Ausschau hielt. Aber da ist noch ’ne andre Sache, etwas äußerst Merkwürdiges und Beunruhigendes, fürchte ich, das mir schon länger Sorgen machte, was Je nards Sicherheit betraf …« An dieser Stelle hielt Sampson inne, als wäre es ihm peinlich, fortzufahren. Holmes sagte nichts, sondern blieb zurückgelehnt in seinem Sessel sitzen, die Augen halb ge schlossen und prüfend auf unseren Gast gerichtet, die Fingerspitzen leicht aneinander gepresst. »Nun, Mr Holmes, ich weiß, es wird Ihnen seltsam vorkommen, dass ich von Anfang an ’ne schmutzige Sa che witterte …« Holmes nickte leicht. »Wäre die Geschichte nicht so merkwürdig, die Um stände so rätselhaft, ich würd nicht eine Sekunde zögern und Sie Ihnen erzählen …« »Dann tun Sie es«, drängte mein Freund. »Im Laufe der Jahre habe ich festgestellt, dass ein Problem nur dann gelöst werden kann, wenn der Klient nicht das Geringste verschweigt und mir und meinem Kollegen voll und ganz vertraut. Sie scheinen mir ein wenig aus der Fassung gera ten, aber ansonsten bei guter Gesundheit zu sein. Ich werde Sie nicht für verrückt halten, wenn Sie mir erzäh len, was die letzten Monate vorgefallen ist. Lassen Sie nichts aus!« Ermutigt von diesen Worten, beugte Sampson sich vor und begann mit seiner Geschichte: »Ich gehör seit vielen Jahren zur Besatzung der Matilda Briggs. Ich heuerte direkt nach meiner Zeit bei der Han 43
delsmarine an. Es ist meine erste Stellung, und bis vor ’n paar Wochen war ich sehr zufrieden damit. Natürlich möcht ich sie nicht aufgeben, aber die Ereignisse in letz ter Zeit werden mich vielleicht dazu zwingen. Die Matilda Briggs verkehrt recht regelmäßig zwischen London und Batavia. Wir transportieren Fracht und hin und wieder auch Passagiere. Nie zuvor ist an Bord ein Unglück geschehen, und nichts ist schief gelaufen – bis zu dieser letzten Reise. Es war Mitte Juli, wir hatten in Bata via Ladung aufgenommen und wollten gerade auslaufen. Wir wurden jedoch durch die Ankunft eines gewissen Mr Ripley aufgehalten, eines Missionars aus dem Landesin neren, der eine Passage nach London suchte. Das ist nichts Ungewöhnliches für Frachtschiffe, da jeder Zeit verlust durch die Transportgebühr wettgemacht wird. Mr Ripley schien ein angenehmer Zeitgenosse zu sein, und zweifellos bezahlte er Captain McGuinness ’nen stolzen Preis für sie drei …« »Für sie drei!« »Ja, Sir, er kam mit zwei Begleitern an: seinem Freund Mr Jones, der offenbar mal Seemann gewesen war, und seinem Diener Wangi, ’nem erbärmlichen Wesen, das er aus dem Landesinneren mitgebracht hatte, einer von die sen heidnischen Teufeln, ein hässlicher Kerl mit ’nem großen Buckel … Nun, kurz nachdem sie an Bord gekommen waren, klönten die drei – Reverend Ripley, sein Freund Jones und unser Captain McGuinness – für ’ne ganze Weile in der Kabine. Danach kam es zu dem ersten der mysteriö sen Vorfälle: Der Captain rief uns achtern zusammen und 44
verkündete, dass von nun an Mr Jones Erster Maat sei an stelle von Armstrong. Die Nachricht haute uns um, schließlich war Armstrong der beste Maat im ganzen Frachtgewerbe. Doch das Wort eines Kapitäns ist Gesetz, wie Sie als Gentlemen vielleicht wissen. Da war’n wir al so und saßen in der Falle, wenn Sie so wollen. Dennoch lichteten wir Anker und liefen am selben Abend mit der Flut aus. Ein frischer Wind kam auf, und wir nahmen tüchtig Fahrt auf. Es war ganz angenehm ge wesen, hätte Captain McGuinness sich nicht so eigenar tig verhalten, als stünde er unter einem Bann oder so. Das war sehr ungewöhnlich für ihn, wo er doch ansonsten so ein umgänglicher Mensch ist. Wir erreichten bald die Sundastraße, und hier ereigne te sich der zweite seltsame Vorfall: Kaum hatten wir die Straße hinter uns, befahl Captain McGuinness, den Kurs zu ändern. Statt den üblichen Kurs zu nehmen, der die Briggs unterhalb der Südspitze Indiens und Ceylons vor beiführen würde, ließ er das Schiff nach Norden abdre hen. Wir fuhren somit an der Küste Sumatras vorbei. Als ich nach ’nem Grund für diese Kursänderung fragte, fer tigte mich der Captain nur mit ein paar knappen Worten ab. ›Johnny‹, sagte er, ›Reverend Ripley hat noch ein kleines Geschäft zu erledigen, bevor wir nach England aufbrechen. Er muss einen kurzen Zwischenstopp an der Küste einlegen, um seine Mission zu besuchen.‹ Da es nur ein, zwei Tage dauern würde und zum Wohl der Kirche war, gehorchten wir willig – obwohl ein paar Crewmit glieder fuchsteufelswild waren, weil sie doch so schnell wie möglich nach Hause wollten …« 45
Der Bootsmann hielt inne, um an seinem Brandy zu nippen und sich eine Zigarette anzuzünden, die ich ihm angeboten hatte. Dann fuhr er fort: »Anderthalb Tage später fuhr die Briggs auf halbem Weg die Küste Sumatras hoch in eine tiefe Bucht. Wir ankerten in einer geschützten Lagune. Der Anblick war in der Tat idyllisch: Die Bucht wurde von Palmen und weißen Stränden gesäumt, und das Wasser war so blau und klar, dass es wehtat, hineinzusehen. Wir blieben alle an Bord, während Ripley und Jones in der Jolle an Land gingen. Wir schlugen die Zeit an Deck tot, bis die beiden wieder bei Sonnenuntergang zurückkamen. Doch statt den Anker zu lichten und uns auf den Weg zu machen, ruft der Captain, an jeder Seite einen seiner Passagiere, seine Offiziere nach achtern. ›Hört, Männer‹, sagte er, ›unser ehrenwerter Passagier Reverend Ripley dankt euch für eure Geduld. Wir wer den morgen früh mit der Flut aufbrechen und unseren normalen Kurs nehmen. In der Zwischenzeit ist Mr Rip ley so freundlich, euch und die Mannschaft zu einem kleinen Umtrunk einzuladen.‹ Sprachs, und dabei hielten die drei ’nen Schlüssel zum Achterraum hoch. ›Rollt das Fass heraus, Männer!‹, rief Mr Ripley, ›Und dass jeder seinen Teil bekomme!‹ Nun, wir alle hielten es für ’ne prima Sache und ließen Mr Ripley und den Captain hochleben. Ich applaudierte so laut wie die andern auch, bemerkte aber, dass Captain McGuinness alles andere als glücklich aussah. In der Tat schien er besorgter als je zuvor zu sein. Das und die Tatsa che, dass es doch recht ungewöhnlich für ’nen Reverend 46
ist, Rum zu spendieren, hätte mich nachdenklich machen sollen. Aber ich genoss den Augenblick, wie man so schön sagt. Jones und ich rollten das Fass auf’s Deck, und in dieser Nacht ging’s hoch her! Ich hab mir aufgrund meiner Erziehung nie viel aus dem Trinken gemacht, Mr Holmes, außerdem war ich mir meiner Pflichten als Bootsmann bewusst. Aber als Mr Ripley sah, dass ich nicht wie die anderen tüchtig zulangte, kam er zu mir und beruhigte mich. ›Mach dir keine Sorgen, mein Junge‹, sagte er, ›in die ser Bucht gibt es nichts, was deinem Schiff gefährlich werden könnte. Wir drei werden heute Nacht Wache halten, also stürz dich ruhig in dein Vergnügen!‹ Natürlich musste ich Rücksprache mit dem Captain halten, aber der gab sofort nach und meinte nur, wir soll ten die Großzügigkeit des Reverends nicht verschmähen. Also schloss ich mich dem bunten Treiben an, und ich kann Ihnen sagen, es war ein wirklich kolossales Fest! In Anbetracht der Stärke des Rums und der Menge, in der er floss, dauerte es nicht lang, bis die Kameraden bewusst los auf dem Vorderdeck lagen – viele von ihnen waren gar nicht mehr in der Lage, ihre Kojen zu finden.« An dieser Stelle hielt der Bootsmann erneut inne, um einen Schluck zu trinken. »Ich hatte mich vor den anderen schlafen gelegt. Der Einzige, der sich vor mir in die Falle gehauen hatte, war Jenard, der bereits tief schlief, wie ich feststellte. Irgend wann – es war sehr spät – wachte ich auf. Ich setzte mich in meiner Koje auf. Bis auf das Schnarchen der betrunke nen Mannschaft war das Schiff still. Doch dann hörte ich 47
es: das Klirren der hinteren Ankerwinde. Das Geräusch verstummte, und ich hörte ein dumpfes Rumpeln auf Deck. ›Sampson!‹, wisperte jemand leise. ›Sampson, bist du wach?‹ Es war Jenard. Ich antwortete, dass ich in der Tat wach sei und mich wunderte, wer die Winde betätigt ha be. ›Lass uns an Deck gehen und nachsehen‹, meinte ich. Wir suchten uns in der Dunkelheit unseren Weg über das Vorderdeck zwischen den Kameraden hindurch, die noch immer dort lagen, wo sie in ihrem Suff hingefallen waren, und eilten zur Vorderluke hoch. Natürlich hatten wir Geschichten über die Piraten im Indischen Ozean gehört, aber im Kampf war Jenard ein guter Kamerad, und mit mir selbst hat auch noch nie jemand leichtes Spiel gehabt. Er ging voraus, und kaum hatte er den Kopf raus gestreckt und zum Achterdeck geblickt, da duckte er sich schon wieder und sagte: ›Da ist was faul, Johnny. Wir bleiben besser in Deckung!‹ Nun, ich hatte es noch nie gemocht, herumzuschlei chen, aber in Anbetracht meiner Position als Bootsmann war es meine Pflicht, Hilfe zu leisten, wenn das Schiff sich in irgendeiner Gefahr befand. Also ging ich Jenard voran durch die Vorderluke. Es war eine klare, aber pech schwarze Nacht, was am Neumond lag. Im nächsten Au genblick entdeckten wir eine Gruppe von Männern auf dem Achterdeck, die sich über die Heckreling beugten. Nur das Licht einer Laterne erhellte sie, und wir konnten kaum ihre Stimmen hören. Als wir die Großluken er 48
reichten, sahen wir, dass es sich um Captain McGuin ness, Reverend Ripley und seine beiden Begleiter handel te. Mit gedämpften Stimmen redeten sie hektisch aufein ander ein und spähten dabei konzentriert in die Dunkel heit. Es war offensichtlich, dass sie auf irgendein Boot war teten, und es war ebenso klar, dass niemand von der Crew etwas davon mitbekommen sollte. Doch die Neu gierde hatte uns bereits gepackt, und so schlichen Jenard und ich auf leisen Sohlen zum Schandeck hinüber. Mit den Füßen auf den Rüsteisen kauerten wir uns hinter die Jungfern und Wanten. Von unserem Versteck aus konn ten wir weit über das Wasser sehen und hatten gleichzei tig die Männer auf dem Deck im Blick. Irgendwann sahen wir weit entfernt auf dem Wasser ein Licht blinken, das mit jeder Minute näher kam. Es er regte die Männer gewaltig, besonders den bösartigen Wangi, der beinahe in einen Tanz ausbrach und irgend ein Kauderwelsch von sich gab, bis Reverend Ripley ihn mit einem Schlag ins Gesicht zum Verstummen brachte. Das Licht auf dem Wasser erlosch, und an seiner Stelle tauchte ein dreieckiges Segel auf. Als es näher kam, sa hen wir, dass es sich um ein Lateinsegel handelte – ein einheimisches Boot also, und es wimmelte nur so von diesen heidnischen Teufeln.« Sampson nahm noch einen Schluck, und ich bemerk te, dass Holmes sich auf seinem Sessel mit einem äußerst gespannten Gesichtsausdruck nach vorne gebeugt hatte. »Das Handelsschiff, eine schlanke Dhau, kam längs seits, keine vierzig Fuß von uns entfernt, doch aufgrund 49
der tiefen Dunkelheit waren wir wie unsichtbar. Die Mannschaft war ein gottloser Haufen in weißen Umhän gen und Turbanen. Im Schein der Laterne glänzten ihre dunklen Gesichter und die Dolche in ihren Schärpen. Ein gutes Dutzend von ihnen schwärmte an Bord der Briggs und montierte einen behelfsmäßigen Ladebaum am Be san. Erneut hörte ich, wie die Ankerwinde sich drehte, und das Klirren der schweren Sperrhaken, als diese an ih rem Platz einrasteten. Im gleichen Moment entdeckten Jenard und ich eine große Lattenkiste, die an Deck des einheimischen Bootes festgezurrt war. Sie war gut einen Meter hoch und breit und hatte die Länge eines ausge wachsenen Mannes. Sie bestand aus robustem Holz und musste eine ganze Menge wiegen, wenn die Ankerwinde benötigt wurde, um sie mithilfe der schweren Takelage an Bord der Briggs zu hieven. Anschließend senkte man sie durch die Luke im Achterdeck in den hinteren Laderaum. Während des ganzen Vorgangs sprach kaum jemand ein Wort, und jeder war darauf bedacht, keinen Lärm zu ma chen. Nachdem ich mir das alles angeschaut hatte, und in Anbetracht der Art und Weise, wie das vonstatten ging, war ich der festen Überzeugung, dass unser einstmals eh renwerter Captain sich aufs Schmuggeln eingelassen hat te. Das mag Sie als Gentlemen vielleicht überraschen, aber solche Aktivitäten sind nicht ungewöhnlich, beson ders nicht in diesen entlegenen Winkeln der Erde. Als die Einheimischen sich zum Aufbruch bereitmachten, kehr ten Jenard und ich aufs Backdeck zurück. ›Jenard‹, sagte ich, als ich in meine Koje stieg, ›ich glaube, es ist das Beste, wenn wir über die ganze Angele 50
genheit zu niemandem ein Wort verlieren. Immerhin können wir mitten im Indischen Ozean nicht viel tun, oder? Wenn wir London erreicht haben, werde ich die Behörden informieren.‹ Er stimmte mir aus vollem Herzen zu, und in dem Glauben, die Sache sei damit erledigt, legten wir uns schlafen.« John Sampson hielt inne, und die Angst, die Holmes ihm ausgetrieben hatte, bemächtigte sich seiner erneut. »Aber hier beginnt der unglaubwürdige Teil meiner Geschichte erst«, fuhr er nervös fort. »Zwei Nächte nach unserem Abenteuer genoss ich, wie es so meine Ge wohnheit ist, auf dem Vorderdeck meine Pfeife, als Je nard sich zu mir gesellte. ›Johnny‹, sagte er flehentlich, ›kann ich dich kurz sprechen?‹ Seine Augen glänzten wie vom Fieber, und trotz seiner tiefen Bräune war sein Gesicht ganz bleich. Ich forderte ihn auf, mir alles zu erzählen, was ihn bedrückte. ›Johnny‹, keuchte er, am ganzen Leibe zitternd, ›wür dest du mich für verrückt halten, wenn ich dir sage, dass ich eine Riesenratte gesehen habe?‹« Bei diesen Worten zuckte Holmes sichtlich zusammen. Ungläubig warfen wir uns einen kurzen Blick zu. Den noch wurde Holmes nur noch aufmerksamer und saß nun ganz vorne auf dem Rande seines Sessels. John Sampson fuhr derweil mit seiner Geschichte fort: »Ich war so schockiert, als ich das hörte, dass ich mei nen Schiffskameraden bat, sich zu setzen und den Satz noch einmal zu wiederholen. 51
›Eine Ratte, Johnny‹, sagte er. ›Eine Ratte, unvorstell bar groß!‹ Natürlich glaubte ich bei diesen Worten, dass der ar me Bursche irgendwie krank geworden war. Ich riet ihm, die Sonne zu meiden, und wollte schon Hilfe holen – aber, Mr Holmes, er war so sicher, was diese Sache betraf, und er war ein solch guter Freund, dass es mir wie Verrat vorgekommen wäre. Ich schaute mich um, ob niemand in der Nähe war, und forderte ihn dann auf, mir zu erzählen, wo er diese Kreatur gesehen hatte. Er erklärte, dass er Jones beobachtet hätte, wie dieser mit einem großen Bündel Futter den hinteren Laderaum betrat, der direkt unter den Offiziersquartieren liegt und allein für deren Gebrauch bestimmt ist. Neugierig war er dem Maat gefolgt und hatte gesehen, wie dieser die ver schließbare Kammer im Achterschiff betrat. Als die Tür aufschwang, hätte er einen Blick auf diese so genannte Riesenratte werfen können. ›Ich hab ihr Gesicht gesehen, glaub mir, wie’s aus der Kiste herauslugte. Es war das Gesicht einer Ratte, John ny, so groß wie ein Fass!‹ Ich sage Ihnen, an jenem schönen Abend auf dem Vorderdeck hörte sich seine Geschichte völlig unglaub würdig an. Die Matilda Briggs hatte wieder ihren norma len Kurs eingeschlagen, und die Moral der Mannschaft hätte dank der Großzügigkeit des Reverends nicht besser sein können. Wie abwegig schien mir da der Gedanke, dass sich keine fünfzig Meter von dem Ort entfernt, an dem ich lag und meine Pfeife rauchte, ein teuflisches Monster aufhalten sollte! Dennoch bestand Jenard da 52
rauf, dass die Kreatur an Bord sei, und das mit solchem Nachdruck, dass ich seine Geschichte unbedingt überprü fen musste. In dieser Nacht versteckten wir uns kurz nach Mitter nacht im Durchgang achtern. Um diese Zeit ist die Crew natürlich entweder im Dienst an Deck oder in der Koje, und da es unter Deck immer dunkel ist, selbst wenn die Paraffinlampen brennen, fiel es uns nicht schwer, uns zwischen der Ladung zu verbergen. Schließlich erschien Jones mit einem großen Bündel, von dem wir annahmen, dass es sich um Futter handelte. Wir beobachteten genau, wie er die schwere Tür auf schloss, die in die Kammer führte, und eintrat. Er schloss die Tür nicht hinter sich, sondern blieb einen Moment stehen, um eine Lampe anzuzünden. In diesem Augen blick, Mr Holmes und Dr. Watson, als das Licht der Lampe die kleine Kammer erhellte, da sah ich es: das Ge sicht der Riesenratte!« John Sampson wurde noch ernster, noch eindringli cher, als wolle er uns unbedingt vom Wahrheitsgehalt seiner unglaublichen Geschichte überzeugen. »Es war eine Ratte, Gentlemen. Da bin ich mir sicher. Ich war lange genug auf See, um eine zu erkennen, wenn ich sie sehe. Aber ihre Größe! Sie hatte gerade stehende, rundliche Ohren, eine zuckende, nagetiertypische Schnauze …« »Sie haben das ganze Tier gesehen?« »Nein, Mr Holmes, nur den Kopf, der aus einem Loch lugte, das man in den Verhau gebohrt hatte. Mehr als ei nen kurzen Blick auf das Monster konnten wir nicht er 53
haschen, denn gleich darauf schloss Jones die Tür, und wir kehrten zurück aufs Backdeck, halb verrückt vor Angst und Verwirrung.« »Kann es nicht sein«, fragte ich, »dass dieses ›Mons ter‹ nur eine Puppe war, die man mithilfe von Tierfell angefertigt hat?« »Nein, Sir, da bin ich mir sicher. Es war weder eine Puppe noch der Trick einer Laterna magica. Es war ein le bendes, atmendes Tier, denn wir sahen, wie es mit den Augen rollte, und hörten, wie es schnaufte und auf höchst furchterregende Weise mit den Zähnen knirschte! Es war das schrecklichste und abstoßendste Ding, das ich je gesehen habe, denn eine Ratte ist sicher die niedrigste Kreatur in Gottes großer Schöpfung … aber eine Ratte von der Größe eines Kalbes …! Natürlich dauerte es nicht lange«, fuhr der Bootsmann fort, »bis auch die anderen Crewmitglieder sie gesehen hatten. Innerhalb von zwei Tagen war die komplette Mannschaft wie gelähmt vor Furcht. Niemand wagte sich auch nur in die Nähe des Achterganges, sondern blieb strikt auf dem Vorderdeck, außer wenn der Dienst es ver langte. Jede einzelne Ratte an Bord wurde gefangen und über Bord geworfen, aus Angst, sie könnten sich mit dem Monster paaren und das Schiff überfluten. Nie zuvor habe ich eine Gruppe erwachsener Männer so in den Klauen der Furcht gesehen. Ich kann nicht beschreiben, wie er leichtert wir alle waren, als wir gestern im Hafen anleg ten. Wie ein Mann verließen wir das Schiff, und viele werden es nicht wagen, zurückzukehren, auch wenn wir noch nicht entlohnt wurden. Kein Wort wurde über das 54
Monster in den Docks verloren, aus Angst, man würde sich lächerlich machen oder gar für verrückt gehalten werden.« »Captain McGuinness, Reverend Ripley und die bei den anderen Passagiere – sind sie noch an Bord der Matil da Briggs?« Das Gesicht des Bootsmannes verdüsterte sich. »Mein Hauptgrund für diesen Besuch heute Morgen, Mr Holmes, ist der, dass mir ein Mr Josiah Griggs gesagt hat, Sie könnten mir dabei helfen, die Mörder meines Freundes ausfindig zu machen. Ich bin in der Hoffnung gekommen, dass Sie mich auf die Matilda Briggs begleiten, denn ich bin der festen Überzeugung, dass die Leute, die Sie erwähnt haben, zumindest teilweise für seinen Tod verantwortlich sind.« »Und Sie haben beschlossen, die Sache nicht alleine in die Hand zu nehmen. Mr Sampson, ich stelle fest, dass Sie nicht nur über einen großen Wuchs sondern auch über Verstand verfügen, denn eine solche Vorgehenswei se wäre nicht nur unklug, sie wäre sogar gefährlich. Las sen Sie mich Ihnen noch eine Frage stellen: Hat die Ma tilda Briggs in Gravesend angelegt?« »Nein, Sir.« »Danke, Sie waren äußerst hilfreich. Nun machen wir uns besser auf den Weg nach Limehouse. Kommen Sie, Watson, mithilfe unseres Freundes Sampson hier sollten wir keine Schwierigkeiten haben, ohne Verzögerung an Bord des Schiffes zu gelangen.« Auf der Treppe wurden wir allerdings von Inspector Lestrade und zwei Constables aufgehalten. 55
»Mr John Sampson«, sagte der Inspector mit schwerer Stimme. »Im Namen Ihrer Majestät, der Königin, verhaf te ich Sie im Zusammenhang mit dem Mord an Raymond Jenard. Es ist meine Pflicht, Sie darüber zu informieren, dass alles, was Sie sagen, gegen Sie verwendet werden kann.« Sampson schwieg, als ihm die eisernen Handschellen angelegt wurden, aber der Ausdruck des Erstaunens und der Wut in seinem Gesicht verrieten deutlich seine Emo tionen. »Mr Holmes, können Sie denn nichts tun?« »Im Augenblick nicht, fürchte ich, Mr Sampson. Ich rate Ihnen, sich kooperativ zu verhalten. Seien Sie versi chert, dass mein Freund und ich Tag und Nacht daran arbeiten werden, Ihre Unschuld zu beweisen und Sie aus dem Gefängnis zu holen. Lestrade, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie, sobald Sie Ihren Gefangenen abge liefert haben, einen Durchsuchungsbefehl besorgen und uns an Bord des Handelsschiffes Matilda Briggs begleiten könnten, das in Blackwell Reach vor Anker liegt.« »Mal wieder ein Glanzstück der englischen Justiz«, sagte ich bitter, während Holmes und ich auf Lestrades Rückkehr warteten. »Ich muss schon sagen, Holmes, ich bin ein wenig über die Gleichgültigkeit verwundert, die Sie Ihrem Klienten gegenüber an den Tag legen. Der Mann kommt zu uns, schüttet uns voller Vertrauen sein Herz aus, und am Ende seiner Geschichte bringt man ihn in Handschellen in die Clink Street. Das ist ein Skan dal!« »Ich würde Ihnen vollkommen zustimmen, Watson, 56
wäre da nicht Folgendes zu beachten: John Sampson ist für den Augenblick am besten hinter Gittern aufgeho ben. Ich fürchte, sein Leben ist in großer Gefahr, und ich kann mir keinen sichereren Ort für ihn vorstellen als eine Ihrer Majestäts Zellen. In der Tat hat Josiah Griggs ihm nur mit den allergrößten Bedenken geraten, sich auf den Weg durch die Stadt zu unserem Haus zu machen.« »Wer zum Teufel ist Josiah Griggs?« »Josiah Griggs, mein Freund, ist der alte, eher ungeho belte Seemann, der den Fehler begangen hat, meinen Mitbewohner zum Narren halten zu wollen. Ah, da kommt Lestrade in einer Droschke; knöpfen Sie Ihr Öl zeug gut zu, Watson! Ich fürchte, das Wetter ist noch schlechter geworden.«
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KAPITEL 3
Das Todesschiff
Ich hoffe«, meinte Lestrade, während er sich un ruhig in den Polstern unserer Droschke niederließ und an der leichten Havanna zog, die Holmes ihm gegeben hat te, »Sie sind sich darüber im Klaren, dass wir Sampson nicht ewig festhalten können. Er wurde lediglich im Zu sammenhang mit dem Mord verhaftet; es wird ihm nicht zur Last gelegt, ihn begangen zu haben.« »Haben Sie sonst jemanden in Gewahrsam genom men? Nein? Dann bete ich zum Himmel, dass dieser Aus flug nach Limehouse uns auf eine neue Spur führen wird. Was halten Sie von der Geschichte, die Watson und ich Ihnen erzählt haben?« Der Inspector wurde von einem solch heftigen Lach krampf geschüttelt, dass er beinahe seine Zigarre ver schluckt hätte. »Ich muss zugeben, dass sie meine Neugierde geweckt hat«, meinte er gutgelaunt, »aber sicher entbehrt sie jeder Grundlage. Eine erstaunliche Geschichte, um vom Fall abzulenken, wenn Sie mich fragen.« »Nichtsdestotrotz können wir leicht überprüfen, ob sie wahr oder falsch ist; sicher wird es uns gelingen, weitere Mannschaftsmitglieder ausfindig zu machen. Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen, Gentlemen: Erinnert diese 58
Geschichte Sie vielleicht an eine andere?« Holmes saß mit einem Funkeln in den Augen da, doch der Rest sei ner Züge blieb äußerst angespannt. »Ah, ja!«, rief Lestrade schließlich aus. »Vor fünf Jah ren, 89.« »Sie meinen die Baskerville-Affäre?«, warf ich ein. »Genau die, Watson. Nun, wenn je eine Geschichte Hand und Fuß hatte, dann jene. Und doch hörte sie sich für den oberflächlichen Zuhörer bloß wie diabolischer Unsinn an.« »Aber das Tier, das Sie in jener Nacht im GrimpenMoor erschossen haben, war letztendlich doch bloß ein Hund«, entgegnete Lestrade. »Ein großes Biest, ja, aber ein echtes. Allein der Gedanke an eine Ratte größer als eine Hauskatze ist lächerlich. Und dieser Mann, Sampson, behauptet sogar, eine gesehen zu haben, die so groß wie ein Kalb ist. Unmöglich!« »Und dennoch existieren auf den Inseln des javani schen Archipels einige interessante Spezies«, fuhr mein Freund fort. »Fest steht, dass Charles Darwin zufolge eine insulare Tierwelt, die von ihren übrigen Artgenossen ab geschottet ist, zu Missbildungen neigt – besonders was die Größe angeht. Die Riesenschildkröten der Galapagosin seln werden ausführlich in Die Reise der Beagle beschrie ben. Und auf der Aleuten-Insel Kodiak lebt der größte Bär der Welt. Was Zwergwuchs betrifft, haben wir die kleinen Ponys auf den Shetland-Inseln …« Lestrade legte die Stirn in Falten. »Ich bin bloß ein Amateur-Zoologe, aber ich weiß, dass auf den javanischen Inseln zwei einzigartige Spezies 59
beheimatet sind: eine seltene Rhinozerosart von der Grö ße eines Wachtelhundes und eine riesige Eidechsenart, genannt Komodo, nach der Insel, auf der sie vorkommt. Könnte es nicht sein, Gentlemen, dass im Innern einer dieser unberührten Inseln eine Rasse von Riesennagern lebt?« Die Erwähnung der Tragödie in Devon vor fünf Jahren und die Spekulationen, Sampsons wilde Geschichte betreffend, spannten meine Nerven aufs Äußerste. Ich warf einen Blick aus dem Droschkenfenster und sah an dere Kutschen, die durch Pfützen spritzten und über das glänzende Pflaster fuhren. Arbeiter in Regenmänteln gin gen eilig ihren Geschäften nach, nass und durchfroren bis auf die Knochen. Es war bereits düster, obwohl es noch Mittag war. Die Sicht war ausgesprochen schlecht; an der immer schäbiger werdenden Umgebung konnte ich aller dings erkennen, dass wir uns auf der East Commercial Road befanden und uns zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden der Isle of Dogs näherten. Ich zündete mir eine Zigarette an, und um mich abzulenken, bat ich Hol mes, den Widerspruch zu erklären, den er in den beiden Morning-Post-Artikeln entdeckt hatte. »Sehen Sie, Gentlemen«, erklärte er, »für die meisten ist es nahe liegend, anzunehmen, dass das Feuer in McNultys Lagerhaus ausgebrochen ist. Erstens brechen Feuer oft am frühen Abend in Lagerhäusern aus – immer wieder ist ein nach Hause gehender Hafenarbeiter zu sorglos mit seiner Pfeife. Er lässt einen Funken zurück, der in dem leeren Gebäude niemandem auffällt. Zweitens brennt die se Art Gebäude, groß und luftig wie sie sind, sehr viel 60
heftiger. Daher schließen die Leute also, dass das Feuer dort ausgebrochen sein muss. Doch in diesem Fall ist die Tatsache, dass sieben Men schen in den Flammen ums Leben kamen, nicht nur tra gisch, sondern auch recht merkwürdig. Heute Morgen habe ich herausgefunden, dass alle sieben in dem Haus Nr. 22 Preston Road wohnten, demselben, in dem auch Jenard wohnte. Wenn man bedenkt, um welche Uhrzeit das Feuer ausgebrochen ist, kann man unmöglich zu dem Schluss kommen, dass es im benachbarten Lagerhaus sei nen Anfang genommen hat. Die Anwohner waren zu die ser Stunde offenkundig noch hellwach und befanden sich aller Wahrscheinlichkeit nach beim Abendessen. Wäre das Feuer in der Nachbarschaft ausgebrochen, wären sie früh genug gewarnt gewesen, um sich auf die Straße zu retten. Wenn der Brand hingegen in ihrem eigenen Gebäude ausgebrochen wäre, und zwar in einem tiefer gelegenen Stockwerk, wäre eine Flucht weitaus schwieriger gewesen. Wenn auch immer noch nicht ganz unmöglich. Was also hat die Flucht dieser unglücklichen Opfer verhindert? Al ler Wahrscheinlichkeit nach war es eine Kombination zweier Dinge: erstens ein Feuer im selben Gebäude in ei nem tieferen Stockwerk und zweitens ein Feuer, das sich mit unglaublicher Geschwindigkeit und Wucht nach oben und außen fraß …« »Wollen Sie damit andeuten, dass der Brand gelegt worden ist?«, fragte Lestrade und beugte sich gespannt nach vorne. »Ich hege keinen Zweifel daran. Das Feuer brach in 61
Jenards Wohnung aus, und irgendeine Substanz, wahr scheinlich Paraffin, wurde benutzt, um sicherzustellen, dass seine Wirkung gründlich war.« »Haben Sie irgendeine Vermutung, was der Brandstif ter zu vernichten trachtete?«, fragte ich. »Wenn wir die Antwort auf diese Frage wüssten, wä ren wir der Aufklärung des Mordfalls Raymond Jenard sehr viel näher – und hätten vielleicht auch des Rätsels Lösung, was die ungewöhnliche Reise der Matilda Briggs betrifft. Es ist offensichtlich, dass diese Bande von Hals abschneidern keinen Deut Respekt vor menschlichem Leben hat, und wie verzweifelt müssen sie sein, dass sie nicht einmal davor zurückschrecken, Unschuldige zu op fern, die offenbar keinerlei Rolle in ihren dunklen Plänen spielen? Mein lieber Watson, ich war noch nie so ent schlossen, ein Rätsel zu lösen, wie in diesem Fall. Ich schwöre, dass ich die Verbrecher vor Gericht bringen werde, nicht nur um Raymond Jenards Tod zu rächen, sondern auch wegen der sieben Unschuldigen, die durch unglückliche Umstände ihr Leben einbüßten, und ganz besonders wegen einer: der sechsjährigen Abbie Wel lings!« Ein Seufzer entrang sich Lestrade, als Holmes dieses bittere Detail erwähnte. Auch ich erinnerte mich erneut, wie ich es im Laufe der folgenden Jahre bei unzähligen Gelegenheiten getan habe, an das schmerzverzerrte Ge sicht der Mutter des Mädchens, als sie das winzige Bündel fest an sich drückte. Die Erkenntnis, dass das Feuer ab sichtlich gelegt worden war, ließ heiße Wut in mir aufko chen. Ich schwor, Rache zu nehmen, und ich wusste, dass 62
ich auch für meine Freunde sprach, denn auch ihre Ge sichter waren voller Empörung. Wahrlich, es waren drei grimmige Männer, die am Ufer von Blackwell Reach aus ihrer Droschke stiegen. Lestrade zupfte mich am Ärmel, als wir auf das Wasser zugingen. Ich schaute zurück und konnte hinter uns eine lang gestreckte graue Wolke aus Rauch und Dampf sehen, die sich langsam über das Fluss ufer erhob: die letzten Zeichen der Katastrophe der ver gangenen Nacht. Da unsere Untersuchung mit Lestrade offiziell war, gab es keine Verzögerung. Wir versicherten uns der Hilfe von Jennings, eines Zollinspectors, der uns eine Barkasse be sorgte. Wir gingen die schmale Steintreppe hinunter, die von der Kaimauer mit ihren riesigen Eisenringen und Pollern zum Flussufer führte. Dort stiegen wir an Bord des Zollamt-Dampfschiffes. Es war eine offene, aus Holz ge baute Barkasse mit einer kleinen Dampfmaschine ach tern. Diese wurde offensichtlich mit besonders teerhalti ger Kohle geschürt, denn aus dem Schornstein schlängel te sich dichter, öliger Rauch. Das Boot lag bewegungslos da, bis wir uns alle gesetzt hatten, dann drehte Jennings ein Ventil unten am Heizkessel, und die Maschine er wachte zum Leben. Eine Drehung am Schwungrad, und das stetige Schnaufen und Rattern verstärkte sich noch. Wir legten vom Ufer ab und pflügten unseren Weg durch das Wasser in den undurchdringlichen Nebel. Die Sicht war nicht besser geworden. Jennings betätigte die Ruder pinne mit äußerster Vorsicht und drosselte die Ge schwindigkeit, bis wir nur noch langsam dahindümpel ten. Es dauerte nicht lange, und große Gebilde türmten 63
sich über uns auf; wir fuhren unter den Bugen und Heckwerken von Segelschiffen hindurch. Im Nebel und Regen waren die oberen Spiere kaum sichtbar, was ihre gespens tische Wirkung nur noch verstärkte, während sie finster an ihren Ankerketten hin und her schwangen. Über dem Klappern der einzylindrigen Jensen-Ma schine konnte man die Rufe und Flüche der Seeleute hö ren, die entweder bei der Arbeit waren oder sich die Zeit mit Glücksspielen vertrieben. Mehr als einmal vernahm ich hinter den hölzernen Schotten die Klänge einer Ziehharmonika. Als wir fast unmittelbar unter dem Heck einer großen Barke hindurchfuhren, konnte ich die gol denen Buchstaben ihres Namens ausmachen: Rangoon, und erinnerte mich, dass sie nur einen Tag vor der Briggs aus Hong-Kong eingelaufen war. Jennings drehte erneut am Kupferventil, und das Rattern der Maschine erstarb. Bis auf das leise Ächzen des entweichenden Dampfes und das Gluckern des Wassers war es still. Ich kann nicht beschreiben, wie niedergeschlagen ich mich in diesem Augenblick fühl te. Es war, als hätte das Schnaufen der Maschine die Melancholie des Regens und des Nebels vertrieben, während wir nun in vollkommener Stille in die grauen Schleier drifteten. »Halten Sie bitte die Augen offen«, forderte uns Jen nings auf. »Die Matilda Briggs liegt genau vor uns.« Wie auf Befehl tauchte über unserem Bug ein düsterer, schwermütig wirkender, geisterhafter Umriss auf. Als wir näher kamen, wurde daraus der dunkle, niedrige Rumpf eines Packschiffes. Vielleicht lag es am schwarzen Rumpf 64
oder an der sonderbaren Geschichte von Mord und Tot schlag, die das Schiff umgab, dass mich sein Anblick mit Furcht erfüllte, mit Furcht und bösen Vorahnungen. Dreimal riefen wir das Schiff an, doch nur das Echo unserer eigenen Stimmen antwortete uns. »Jennings, hat die Matilda Briggs bereits ihre Andock erlaubnis?«, fragte Holmes. »Soweit ich weiß nicht, Sir. Es wurden noch gar keine Vorbereitungen fürs Entladen getroffen, Sir. Der Captain muss sich melden, oder, falls er krank ist, seinen Maat schicken.« »Und Sie haben niemanden auf dem Schiff gesehen?«, hakte Lestrade nach. »Nein, Sir. Seit die Crew gestern Mittag an Land ge gangen ist, war kein Lebenszeichen an Bord zu entde cken.« »Bleiben der Kapitän und die Offiziere an Bord, bis die Erlaubnis erteilt ist?« »Normalerweise schon. Ich wäre sehr verwundert, wenn die Briggs verwaist wäre.« »Am besten, wir gehen an Bord und sehen nach. Da drüben, Jennings, das Fallreep.« Wir kletterten zu dritt die schmale Strickleiter hinauf, während Jennings sich um die Fangleine kümmerte. Selten in meinem Leben verspürte ich ein unheilvol leres Gefühl als damals, als ich mich über die Reling schwang und meine Füße das Deck der Matilda Briggs be rührten. Sie war ein typisches Frachtschiff, ein Dreimas ter von etwa zweihundert Fuß Länge. Was mich innehal ten ließ, war die tödliche Stille, die Trostlosigkeit, die an 65
Bord herrschte. Die Briggs war verlassen und schwang an ihrer Ankerkette wie herrenloses Strandgut. Trosse knirschten und stöhnten. Das Wasser schwapp te dumpf unter uns an den Rumpf. Lestrade huschte be reits hin und her und inspizierte das gesamte Deck. Hol mes schritt methodischer voran; seinem scharfen Blick, den er gezielt umherwandern ließ, entging nichts. Wenn man die beiden so beobachtete, schien es, als sei der Poli zei-Detective geradezu der Inbegriff von Energie und Gründlichkeit, während Holmes dagegen einen geradezu gemächlichen Eindruck vermittelte. Dennoch konnte man schwerlich die unglaubliche Kraft und Geistesmacht übersehen, die hinter dem scharf geschnittenen Gesicht loderten. Ich zog mein Ölzeug fester um mich, denn Wind und Regen brachten eine unerträgliche Kälte mit sich. Im Nebel waren keine weiteren Schiffe zu sehen. Wir hätten uns ebenso gut irgendwo mitten im Atlantik befinden können, und über allem lag das tiefe Gefühl von Schwer mut und Trostlosigkeit. Ich ging über das Deck zu der Luke, die Sampson be schrieben hatte. Von dort blickte ich nach hinten zum Achterdeck. In meiner Fantasie versuchte ich mir diesel be Szene mitten in einer tropischen Nacht vorzustellen, mit Dutzenden von malaysischen Ureinwohnern, die wie Insekten umherschwärmten und einen riesigen hölzernen Verschlag aufs Deck herunterließen. Ich dachte an die Bestie und überlegte: War es bloß das Wetter, das mich so erschaudern ließ? Lauerte das Monster in seinem scheuß lichen Bau noch irgendwo an Bord dieses Schiffes? 66
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und wirbelte herum. »Holla, Watson! Habe ich Sie erschreckt?« Ich blickte in Holmes’ Gesicht. Regenwasser floss in Strömen von seiner Mütze. »Wie Sie sehen, verfügt Sampson über ein erstaunli ches Erzähltalent. Ich wage zu behaupten, dass ein ver kappter Dichter in ihm steckt. Zweifellos sind vor Ihrem inneren Auge noch einmal die Ereignisse abgelaufen, die sich hier vor ein paar Wochen zugetragen haben. Und hier sind die Rüsteisen, hinter denen sich die bei den versteckt haben«, fügte er hinzu und beugte sich über die Bordwand. »In diesem Gewirr aus Takelwerk mit seinen Wanten und Fallen, großen Taurollen und Nagelbänken lagen sie verborgen. Aber schauen Sie, was für einen bemerkenswert guten Blick sie von hier aus auf die Ereignisse hatten! Kommen Sie mit, Watson – ja, gut so –, sehen Sie diesen Haken im Besan? Dort wurde der Ladebaum montiert. Daran konnte bequem ein Flaschenzug längsseits herabgelassen werden, mit dem man dann selbst ein sehr großes Frachtstück zu be wegen vermochte.« Das Läuten einer Glocke riss uns in die Gegenwart zu rück. »Hallo? Ist hier jemand?«, rief Lestrade, während er das Taljereep vor und zurück schwang. Er stand am Hauptmast, in Hüfthöhe die Schiffsglocke, die traurig ihr Lied sang. »Ich sage Ihnen, Holmes«, fuhr er fort, »das Ganze hier ist seltsam … irgendjemand muss doch an Bord sein. Lassen Sie uns unten nachschauen.« 67
»Dann lassen Sie uns nachsehen, aber mit Vorsicht!«, warnte ich. Wir schritten zum Achterdeck und probierten unser Glück mit der Tür zur Kajütstreppe, doch sie war von in nen verriegelt. Der Hauptniedergang dagegen stand offen. Lestrade schob die Luke beiseite und beugte sich nach unten, gefolgt von Holmes, der sich fast doppelt so tief bücken musste. Mir gelang es ohne große Schwierigkei ten, den beiden hinterherzusteigen, und bald standen wir alle in einer Art engem Verbindungsgang, der in völliger Dunkelheit lag. Plötzlich schoss Holmes die Treppe wie der hinauf. Wir konnten seine Schritte auf dem Deck über uns hören. Dann folgte ein Geräusch, als würde et was Schweres zur Seite geschoben, und wie durch ein Wunder strömte Tageslicht in den Verbindungsgang. »Alle Achtung, Mr Holmes«, meinte Lestrade, als mein Freund zurückgekehrt war. »Ich wusste gar nicht, dass Sie einmal ein Seemann waren.« Er blinzelte mir zu. »Demnächst werden wir noch Wanten hochklettern, um nach den Brassen zu sehen, was, Watson?« »Danke für das Kompliment, Lestrade. Ich denke, die Inspektion der Matilda Briggs wird uns leichter fallen, wenn das Oberlicht geöffnet ist. Ha! Was habe ich ge sagt? Schauen Sie, was wir hier haben!« Er richtete unsere Aufmerksamkeit auf den Stummel eines Talglichts, der auf ein Schottenspant unmittelbar unter dem Lukendeckel gesteckt worden war. »Ein Kerzenstummel. Und? Ich wette, davon gibt es mehr als fünf Dutzend an Bord«, meinte ich. »In der Tat eine sichere Wette, Watson. Doch selbst 68
ganz gewöhnliche Gegenstände können sehr aufschluss reich sein, wenn sie auf ungewöhnliche Weise gebraucht oder an ungewöhnlichen Orten platziert werden. Auf grund dessen, was wir hier vor uns sehen, können wir vielleicht eine Ereigniskette rekonstruieren, die sich als äußerst interessant erweisen dürfte.« Nachdem er sich die Position des Kerzenstummels auf dem Balken genau eingeprägt hatte, nahm er ihn vorsich tig herab und drehte ihn mehrmals in den Händen. Dann packte er sein Taschenmesser und seine Taschenlupe aus, schnitt ein paar der winzigen Talgtropfen ab und unter suchte sie genaustens unter dem Vergrößerungsglas. »Ich muss schon sagen, Holmes«, warf Lestrade unge duldig ein, »übertreiben Sie die Bedeutung dieses Kerzen stummels nicht ein wenig? Es gibt sicher wichtigere Din ge, um die wir uns kümmern müssten.« »Da bin ich mir nicht so sicher, Lestrade«, wider sprach mein Freund. Lestrade wartete in erzürntem Schweigen und stapfte hörbar mit den Stiefeln auf, um die Kälte zu vertreiben. »Wir dürfen«, meinte Holmes schließlich, während er noch immer den Stummel zwischen den Fingern drehte, »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an nehmen, dass die Matilda Briggs in den letzten zwölf Stunden von einem rechtshändigen Mann überdurch schnittlicher Größe betreten worden ist.« Lestrade und ich starrten ihn voller Verblüffung an. »Außerdem«, fuhr Holmes mit monotoner Stimme fort, »kennt er sich nicht auf dem Schiff aus – oder zu mindest nicht auf diesem Teil des Schiffes. Er benutzte 69
diese Kerze zweifellos in einer sehr merkwürdigen Art und Weise, die, wie ich hoffe, seine Motive für den Besuch erklären wird. Außerdem kam er heimlich und wünschte nicht, entdeckt zu werden …« »Holmes! Ich hätte nie …«, unterbrach Lestrade. »Und zu guter Letzt: Offensichtlich befand er sich in einer gewaltigen Aufregung, einer Aufregung, die ihn re gelrecht in Panik trieb, die unerträglich für ihn war.« »Verflucht, Holmes, genug von diesem Hokuspokus!«, befahl Lestrade. »Ich fordere Sie auf, diese absurde Reihe von Schlussfolgerungen augenblicklich zu belegen. Wenn das wirklich Sinn ergeben sollte, lade ich Sie zum Mittag essen ein!« Holmes’ Augen funkelten. »Angenommen, Lestrade! Wo soll ich beginnen? Ah, ja, das Einfachste zuerst. Die Größe des Mannes ist offensichtlich: Die Kerze wurde auf diesen Balken hier oben gestellt, nicht auf einen der bei den darunter. Beachten Sie außerdem, wie weit die Ecke dieser Lieferantenbank hervorsteht. Man muss sich erst über sie beugen, um die Kerze auf den Spanten abstellen zu können – ein weiterer Hinweis darauf, wie groß dieser Mann gewesen sein muss.« »Nun, ich nehme an, das ist einleuchtend genug«, brummte Lestrade, »aber was ist mit Ihren anderen Theo rien? Woher wollen Sie wissen, dass der Bursche heimlich an Bord gekommen ist?« Holmes deutete auf einen schwarzen Gegenstand, der weniger als einen Meter von dem Platz entfernt aus dem Schott ragte, an dem wir die Kerze gefunden hatten. »Natürlich wissen Sie, was das ist, Gentlemen. Ganz 70
recht: ein schmiedeeiserner Kerzenhalter. Obwohl er sich vom Aussehen her von einem gewöhnlichen Ker zenhalter leicht unterscheidet, lassen die geschmolzenen Wachstropfen in der Schale und der kleine Haufen ab gebrannter Streichhölzer keinen Zweifel daran, worum es sich handelt. Nehmen wir einmal an, der Mann hätte die Briggs mit einer brennenden Kerze in der Hand verlassen. Der nahe liegendste Platz, den Stummel abzustellen, wäre der Ker zenhalter gewesen. Warum hat er es nicht getan? Weil er den Halter nicht gesehen hat. Er hat die Kerze nämlich ausgeblasen, bevor er den Hauptgang betreten hat, und musste seinen Weg hinaus im Dunkeln wiederfinden. Of fensichtlich wollte er nicht, dass man ein Licht – auch wenn es nur das einer Kerze war – in der Nähe der Hauptluke sah. Was darauf schließen lässt, dass er seinen Besuch geheim halten wollte.« »Bemerkenswert – und doch so einfach!«, sinnierte ich. »Daran, dass der Mann den Kerzenhalter so gänzlich außer Acht gelassen hat, können wir auch erkennen, dass er sich auf dem Schiff nicht auskannte oder zumindest kein Mannschaftsmitglied war. Wäre das der Fall gewe sen, hätte er im Dunkeln bestimmt nach dem Halter ge tastet, denn er hätte ja gewusst, dass sich hier ein solcher befindet.« »Dann erklären Sie mir, woher Sie wissen, dass der Mann ein Rechtshänder war«, verlangte Lestrade. »Sehr gerne, Sir. Haben Sie beide bemerkt, dass die Kerze auf einer Seite tiefer abgebrannt ist als auf der an 71
deren? Und dass die Wachstropfen sich auf dieser ande ren Seite weitaus zahlreicher angehäuft haben als auf der niedrigeren?« »Natürlich sehe ich das«, meinte der Detective. »Es ist offensichtlich, dass der Mann die Kerze nach einer Seite geneigt gehalten hat …« »Genau. Und nun schauen Sie sich an, wie der Dau men einen tiefen Abdruck in den Talgtropfen hinterlas sen hat. Der Abdruck weist diagonal nach unten. Sehen Sie, wie mein rechter Daumen fast hineinpasst. Wenn ich die Kerze allerdings in die linke Hand nehme …« »Verläuft die Linie entgegengesetzt zum Abdruck«, er gänzte ich. »Der Daumen passt nicht mehr hinein.« »Selbstverständlich nicht. Der Mann hat die Kerze in der rechten Hand und in einem ungewöhnlichen Winkel gehalten. Ich bin sicher, wir werden noch weitere Hin weise darauf finden, wozu er sie benutzt hat.« »Holmes«, sagte Lestrade, »ich gebe zu, dass Sie in die sem Fall eine gute Portion Cleverness an den Tag gelegt haben. Und ich gebe gerne zu, dass das, was Sie sagen, nicht ganz sinnlos erscheint. Aber mir will verdammt noch mal nicht einleuchten, wie Sie anhand dieser Kerze erkennen wollen, dass der Besucher innerhalb der letzten zwölf Stunden hier war. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir dies erklären könnten. Und ich bin mir si cher, dass nicht nur ich, sondern auch Dr. Watson gerne erfahren würden, woraus Sie schließen, dass sich der Mann am Rande eines Zusammenbruchs befand.« »Haben Sie jemals geschmolzenes Wachs berührt, Watson?« 72
»Hin und wieder, aber ich versuche es zu vermeiden, wenn’s geht«, meinte ich vergnügt. »Verständlich. Geschmolzenes Wachs ist heiß und schmerzhaft. Und dennoch haben wir hier einen Mann, der es zulässt, dass die flüssigen Tropfen seinen Daumen umschließen, und der diese Schmerzen offensichtlich oh ne Notiz davon zu nehmen erträgt. Das lässt darauf schließen, dass etwas von enormer Bedeutung sein Wahr nehmungsvermögen beschäftigte. Was den Beweis für die verstrichene Zeit betrifft, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf dieses Kennzeichen am Boden des Stummels richten.« Mit diesen Worten drehte Holmes die Kerze um und zeigte uns das folgende Zeichen, das im Wachs eingeprägt war:
»Es ist der ›Breitköpfige Pfeil‹, der ›Broad Arrow‹«, mein te Lestrade nach genauem Blick auf den Kerzenboden. »Exakt. Das Symbol, mit dem Regierungseigentum ge kennzeichnet wird, von der Kerze bis zur Kanone. Es handelt sich hier um eine vorschriftsmäßige Kerze der Kriegsmarine, wie man sie bei den meisten Versorgungs stellen der Marine kaufen kann. Diese Kerzen enthalten einen hohen Anteil an Walfischtran, und sie sind wegen ihrer Helligkeit hoch geschätzt. Wie Dr. Watson Ihnen 73
versichern kann, habe ich ausführliche Studien über Ker zentalg betrieben. Nun, eine Kerze mit hohem WalratAnteil leuchtet sehr hell, ist für den Gebrauch aber zu brüchig. Daher geben die Hersteller unserer Marineker zen einen guten Anteil Bienenwachs hinzu. Die beiden Bestandteile ergänzen sich hervorragend und ergeben ei ne Kerze, die sowohl hell leuchtet als auch lange brennt und stabil ist. Aufgrund der Beimischung von Bienen wachs trocknet der Talg für längere Zeit nicht aus und wird nicht brüchig. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, hat sich der Talg in einer feinen Spirale von den Tropfen gelöst, als ich ihn mit dem Taschenmesser abgeschält ha be – er ist nicht abgeblättert oder abgebröckelt, wie es beim Stumpf der Kerze der Fall gewesen wäre. Beachten Sie auch die Farbe der Tropfen: Sie sind von einer ganz feinen, matten Undurchsichtigkeit, nicht von der völlig undurchlässig weißen Farbe vollkommen getrockneten Wachses. Aus diesen Merkmalen schließe ich mit an Si cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass diese Kerze vor nicht mehr als zwölf Stunden angezündet wurde. Wieder einmal muss ich Sie darauf hinweisen, Lestrade, dass die kleinsten Details von allergrößter Bedeutung sein können. Sie sollten es sich merken! Und nun lassen Sie uns, während ich über die Wahl meines Mittagsmenüs nachdenke, zum Vorderdeck gehen.« Und damit führte Holmes einen höchst gespannten Freund und einen leicht gereizten Lestrade den schmalen Durchgang hinunter zum Bug der Matilda Briggs. Der Ge ruch nach Teer, Hanf und Segeltuch war allgegenwärtig. Die schweren Eichenbalken stöhnten und ächzten mit 74
bedrückender Regelmäßigkeit, wenn das Schiff in der Strömung des Kanals leicht hin und her schaukelte. Aus irgendeinem Grund schien Holmes seine üblichen detek tivischen Gewohnheiten über Bord geworfen zu haben. In der Vergangenheit hatte ich mich daran gewöhnt, ihn, wie einen merkwürdigen alten Mann vornübergebeugt, nach Fußspuren oder fallen gelassenen Gegenständen Ausschau halten zu sehen. Nun jedoch hielt er den Kopf hoch erhoben und schien die Holzbalken und Deckplan ken über uns genau zu mustern. Bald wurde es im Gang stockfinster, und Holmes griff sich Lestrades Blendlaterne, um weiterhin vorauszugehen. Weit vor uns konnte ich einen dumpfen, bläulichen Lichtschimmer ausmachen. »Die Vorderluke«, meinte Lestrade und deutete darauf. Wir gingen unter der Lukentür hindurch, die mit ei nem massiven Messingbolzen verschlossen war, und betra ten durch einen niedrigen Zugang einen großen, dreiecki gen Raum. Dieser wurde nur schwach von zwei schweren gläsernen Bullaugen erhellt, die in den Breitseiten einge lassen waren. Die meisten Mannschaftsmitglieder schlie fen offenbar in Kojen, gefertigt aus stabilen Brettern und übereinander gestapelt: Die Wände ringsum waren damit zugestellt. Was unsere Aufmerksamkeit jedoch augen blicklich erregte, war die Unordnung, die überall im Raum herrschte. Zweifellos hatten die Männer ihre per sönliche Habe mitgenommen, als sie vom Schiff flüchte ten, Matratzen und anderes Schiffszubehör jedoch zurück gelassen, das nun wild verstreut herumlag oder sich in den Ecken stapelte. 75
»Das sieht mir gar nicht nach ›Klarschiff‹ aus, oder, Watson?« »Ich würde sagen, nein. Es sieht mir eher wie der Schlafsaal einer Unterstufe nach dem letzten Schultag vor den Sommerferien aus. Die Burschen haben sich zweifellos in aller Eile aus dem Staub gemacht, wie Sampson es behauptet hat.« »Es gibt wahrscheinlich eine Erklärung dafür«, meinte Lestrade. »Ich bin sicher, nachdem wir mit dem Captain gesprochen haben …« »Wo ist der Captain denn?«, warf ich ein. »Wenn er an Bord ist, werden wir ihn zweifellos sofort finden«, antwortete der Detective in hochoffiziellem Ton. Trotz seiner entschiedenen Art hatte ich allerdings den Eindruck, dass er sich seiner Sache gar nicht so sicher war – zumindest was die Ereignisse an Bord der Briggs be traf. »Watson! Lestrade! Kommen Sie hier her! Ich glaube, ich habe gefunden, was ich suchte …« Wir drehten uns um und entdeckten Holmes auf dem Rücken liegend in einer der oberen Kojen. Lestrades Blendlaterne lag auf seiner Brust und beleuchtete die Deckplanken des Vorderdecks. Der Detective und ich stiegen mit den Füßen auf den Rand der unteren Koje, beugten uns hinüber, und indem wir unseren Nacken in eine fast unmögliche Position verdrehten, gelang es uns, die folgenden etwa 10 cm gro ßen Buchstaben zu lesen, die jemand mit Kerzenruß an die Decke geschrieben hatte:
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»Dort, wo die Ratte ihren Schatz bewacht, ist alles, alles leer, und es herrscht tiefe Nacht …« »Nun, Gentlemen«, fragte Holmes aus den Tiefen der Schlafkoje, »was halten Sie davon?« »Eine Art Gedicht oder Rätsel«, mutmaßte ich, »und es scheint unvollständig zu sein.« »Offenbar hat der Mann die Worte geschrieben, wäh rend er in seiner Koje lag. Ich glaube, es handelt sich um eine Warnung. Beachten Sie, dass auch eine Ratte er wähnt wird«, meinte Lestrade. »Die Frage lautet: Warum sollte ein Mann eine Warnung an die Decke seiner Koje schreiben? Das ist absurd!« »Eine ausgezeichnete Bemerkung, Lestrade. Für wen ist die Warnung gedacht, und was bedeutet sie? Bedeutet sie überhaupt irgendetwas? Ich für meinen Teil glaube, ja. Sehr viel sogar«, sagte Holmes, während er sich ungelenk aus der Koje rollte und neben uns auf den Boden stellte. »Wie Sie vielleicht bemerkt haben, suche ich bereits seit dem Zeitpunkt, da ich den Kerzenstummel in dem Durchgang untersucht habe, nach etwas mit Kerzenruß Geschriebenem. Seltsam, dass wir es oberhalb der Koje eines Mannschaftsmitgliedes gefunden haben. Es wäre in teressant zu erfahren, wem die Koje gehörte …« »Jenard«, erwiderte ich und deutete auf ein kleines Metallschildchen, das mit einem Nagel am Kopfbalken des Bettes angebracht war. »Exzellent, Watson! Ich muss gestehen, dass ich das Schild völlig übersehen habe. Ich war wohl zu sehr abge 77
lenkt von dem Gedanken daran, was meine Untersu chung der Decke zutage fördern würde.« »Das bedeutet, dass Jenard diese Worte geschrieben hat«, fuhr ich fort. »Gewiss«, stimmte Lestrade zu. »Vielleicht spürte er, dass sein Leben in Gefahr war, und schrieb dieses plumpe Kryptogramm, um andere zu warnen oder einen Hinweis auf diejenigen zu geben, vor denen er sich so fürchtete.« »Ihre Schlussfolgerungen sind logisch, was die Frage des Motivs betrifft, liebe Freunde, aber wenn es stimmt, was wir aus den Wachstropfen an der Kerze geschlossen haben, dann wurde diese Nachricht innerhalb der letzten zwölf Stunden geschrieben. Zu dieser Zeit lag der arme Jenard bereits mausetot im Leichenschauhaus der Stadt und wurde von einem sehr schockierten Mr Sampson identifiziert.« Lestrade und ich dachten schweigend darüber nach. »Selbst wenn wir annehmen, dass die Hinweise, die uns die Wachstropfen geliefert haben, unzureichend sind, so ist es doch klar, dass Jenard, ein Linkshänder, diese Worte nicht geschrieben haben kann. Sie erinnern sich an seine Notizen auf den Manschetten, Watson?« Ich bejahte und erklärte Lestrade die Schlussfolgerun gen, die Holmes daraus gezogen hatte, was den Detective nur noch mehr verwirrte. »Wir wissen, dass derjenige, der die Kerze gehalten hat, Rechtshänder war. Außerdem: Nachdem ich eine kurze Zeit in der Koje gelegen und die Nachricht mit meinen eigenen Händen nachgezeichnet habe, wurde mir klar, dass diese Worte unmöglich mit der linken Hand 78
geschrieben worden sein können, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass ich sehr lange Arme habe. Denn sehen Sie, die linke Hand befindet sich auf der Innensei te, und die Enge, die hier unter Deck herrscht, würde die se Aufgabe für jeden unmöglich machen – ausgenommen vielleicht für einen Schlangenmenschen. Ich glaube, die ser Raum hat uns all seine Geheimnisse verraten, zumin dest für den Augenblick. In dieser Koje gibt es nichts wei ter zu entdecken, ebenso wenig wie in der darunter, die vermutlich Bootsmann Sampson gehört. Lassen Sie uns also zum Hinterdeck gehen und die Unterkünfte der Offi ziere untersuchen.« Wir suchten unseren Weg zurück durch die dunklen Korridore zum Heck des Schiffes. Nachdem wir die Hauptluke hinter uns hatten und noch ein paar Schritte gegangen waren, sahen wir weiter vor uns einen schwa chen Lichtfleck, der anzeigte, dass wir uns der hinteren Luke näherten. Auch diese ließen wir hinter uns und er reichten das Ende des Hauptganges, an dem sich eine ganze Reihe Türen befand. »Das sind die Offiziersquartiere«, meinte Lestrade. »Ja, aber welche Tür führt wo hin?«, fragte ich. Da un sere Kenntnisse über das Seemannsdasein doch recht be schränkt waren, schickte Holmes mich nach oben, um Jennings zu holen. »Diese beiden Quartiere gehören den Maaten oder anderen Unteroffizieren«, erklärte Jennings und deutete auf die beiden uns nächstgelegenen Türen, jede auf einer Seite des Korridors. »Die Kapitäns- oder Hauptkajüte wird die dort hinten in der Mitte sein, ganz achtern.« 79
»Und wenn das Schiff Passagiere aufnimmt?«, fragte Holmes. »Die würden in einer dieser beiden Kajüten unterge bracht werden, während die beiden Maate sich die andere teilen.« Wir rüttelten an den Türen zu den kleineren Kajüten, beide waren jedoch verschlossen. Wir wandten uns zur Haupttür, und Lestrade begann, laut zu klopfen. Schließ lich klopfte und rief er abwechselnd, erhielt aber keine Antwort. Als wir probehalber die Klinke drückten, stellten wir ein wenig überrascht fest, dass die Tür mühelos auf schwang. Ich hatte nur einmal zuvor eine Kapitänskajüte gesehen, und zwar auf meiner Rückreise nach England an Bord der Orontes. Damals hatte ich unter Typhus gelit ten, der meine Abreise aus Afghanistan nötig gemacht hatte, also war meine Erinnerung an diesen flüchtigen Anblick ein wenig nebulös. Dennoch reichte ein Blick in die Kapitänskajüte der Matilda Briggs, um mir jene vagen Eindrücke augenblicklich wieder deutlich vor Augen zu führen, denn die beiden Räume ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Eine niedrige Decke, leicht gebogen und von schweren Balken durchzogen, mehrere kleine Fenster im Heckwerk, eine saubere Koje und ein ordentliches Schreibpult, ein Bücherregal voller dicker nautischer Wälzer: All das fand man wahrscheinlich auf jedem Se gelschiff dieser Zeit. Ein gedämpftes, graues Licht fiel durch die Fenster und spiegelte sich auf der Messinglam pe, die sachte an einer Kette über dem Pult hin und her schwang. 80
Der Raum wirkte ein wenig düster, aber alles schien in Ordnung zu sein; von der Unordnung, die wir im Vorder schiff entdeckt hatten, war hier keine Spur. »Es sieht so aus, als hätte Captain McGuinness alle Vorbereitungen getroffen, das Schiff zu verlassen, es aber noch nicht getan«, sagte Holmes und deutete auf einen voll gepackten Reisesack neben dem Bett. »Besser, wir fassen hier nichts an, Lestrade, bevor wir nicht mit ihm gesprochen haben.« »Wahrscheinlich hält er sich im Frachtraum auf, Gent lemen«, erklärte Jennings. »Für gewöhnlich begutachten der Kapitän und sein Erster Steward die Fracht unmittel bar vor dem Löschen, um festzustellen, ob es Diebstähle oder andere Verluste gegeben hat. Wenn Sie möchten, kann ich nach unten gehen und ihn hochbringen.« Nachdem Jennings eine kurze Leiter nach unten ge stiegen und verschwunden war, setzten wir uns und ent zündeten unsere Pfeifen. Seinen eigenen Vorschlag miss achtend, griff Holmes sich ein in Leder gebundenes Buch aus dem Regal und begann darin zu blättern. Seine ge naue Prüfung des Bandes, bei dem es sich, wie ich an nahm, um das Logbuch des Schiffes handelte, wurde nur von einem gelegentlichen befriedigten oder überraschten Schnauben unterbrochen. Nach einigen genaueren Bli cken brachte er den Band zu uns herüber. »Schauen Sie hier«, sägte er und zeigte uns zwei Sei ten des Logbuches. »Hier haben wir den Beweis, dass ir gendetwas an Bord der Briggs in der Tat aus dem Ruder gelaufen ist. Lestrade, bitte prüfen Sie diese Handschrift – achten Sie gar nicht darauf, was da geschrieben steht.« 81
Gehorsam begutachtete der Detective die großen, wohl geformten Buchstaben, während ich ihm dabei über die Schulter blickte. »Nichts Ungewöhnliches, Holmes.« »Exakt! Eine gut lesbare Handschrift. Diese Worte wurden im Mai geschrieben, auf dem Weg der Briggs in den Orient. Es ist eine sichere, ausgeprägte Schrift mit einigen Schnörkeln. Aus dem Stegreif würde ich sagen, dass sie von einer Person mit starkem Charakter und aus geprägter Großzügigkeit stammt. Und nun, Watson, schauen Sie sich bitte diese Beispiele hier an.« »Es ist offensichtlich, dass der Maat diese Eintragun gen vorgenommen hat. Die Handschrift ist eine voll kommen andere.« »Obacht, Watson – keine voreiligen Schlüsse! Entde cken Sie einige Gemeinsamkeiten?« »Jetzt, wo Sie es erwähnen … es gibt da eine markante Ähnlichkeit in den kleinen ›o‹.« »Ja«, unterbrach Lestrade, »und schauen Sie sich den ungewöhnlichen Schnörkel am Buchstaben ›y‹ an, wenn dieser am Wortende steht. Es könnte dieselbe Hand schrift sein, und doch …« »… und doch: Während die eine kräftig und stetig ist, ist die andere schwach, unstetig und ohne ausgeprägten Charakter«, ergänzte Holmes. »Ich prophezeie Ihnen, Lestrade, dass es eines Tages eine vollständige, anerkann te Wissenschaft geben wird, die sich mit Handschriften beschäftigt. Nur wenige Dinge verraten so viel über den Charakter und den Gemütszustand eines Menschen wie seine Schrift. Es ist offensichtlich, dass Charles McGuin 82
ness beide Passagen geschrieben hat, wobei die zweite, die erst vor ein paar Wochen entstanden ist, eindeutig verrät, dass der Captain am Rande eines Zusammenbruchs ge standen hat. Das Logbuch selbst gibt keinerlei Hinweise auf Sampsons mysteriöse Geschichte, sofern sie über haupt wahr ist. Zweifellos werden wir auf die Aussage des Captains angewiesen sein, um – mein Gott!« Holmes wurde von einem Geräusch unterbrochen, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Es war ein Schrei – oder vielmehr ein schrilles, heiseres Kreischen, das durch das Schiff hallte wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor es plötzlich abbrach. Wir stürzten aus der Kajüte. In unserer Eile stolperten wir beinahe übereinander. Wir waren kaum ein paar Schritte den Korridor entlanggelaufen, als der Schrei von neuem erklang – diesmal noch schriller und grauenerre gender als zuvor. »Hier runter!«, rief Holmes und eilte die Stufenleiter hinunter in den Laderaum. Der Frachtraum lag in völliger Dunkelheit. Jeder von uns tastete sich mit größtmöglicher Hast voran. Trotz al ler Anstrengung landeten wir letztendlich in einer Sack gasse. Ballen und Oxhoft-Fässer stapelten sich auf drei Seiten um uns herum zu hohen Wänden auf. »Wir müssen mit Bedacht vorgehen«, mahnte Hol mes. »In der Eile habe ich die Laterne zurückgelassen. Ich fürchte, es ist durchaus möglich, sich in diesem Labyrinth tagelang zu verirren. Hören Sie!« Ein tiefes, murmelndes Geräusch drang leise an mein 83
Ohr. Nach ein paar Sekunden erkannte ich es als eine menschliche Stimme. Die Worte waren nicht verständ lich, doch der Tonfall ließ auf großen Schmerz und See lenpein schließen. Langsam kämpften wir uns vorwärts, tasteten unseren Weg durch die Dunkelheit, hin zur Quelle des sonoren, einem Klagelied ähnlichen Singsangs. Denn es handelte sich eindeutig um eine Art Gesang, und als wir näher kamen, machte ich die Worte »Großer Gott! Großer Gott!« aus, die ständig wiederholt wurden. Nach einiger Zeit streifte ich eine Stufenleiter und er kannte, dass es dieselbe war, über die wir in den Fracht raum gestiegen waren. Wir waren also nach dem Abstieg offensichtlich in die falsche Richtung gegangen. Nun wandten wir uns in Richtung Heck. Ein Stück vor uns konnten wir eine schwach erleuchtete Tür ausmachen. Aus Holmes’ Richtung vernahm ich ein metallisches Kli cken und wusste, dass er seinen Revolver gezogen hatte. Lestrade und ich folgten seinem Beispiel. »Das ist zweifellos der Achterraum, den Sampson er wähnt hat«, flüsterte Holmes heiser. »Kommen Sie, ge hen wir weiter!« Nur einen Augenblick später begann das Schiff zu schlingern, und die dicke Eichentür vor uns schwang, als wolle sie unsere Ankunft verkünden, mit einem furchtba ren Ächzen ihrer massiven eisernen Angeln auf. Der Raum dahinter war klein und diente möglicherweise als Kammer für das persönliche Hab und Gut des Captains. Die Seitenlänge betrug nicht mehr als fünf Meter, und die Decke war niedrig. In den wenigen Sekunden, in de 84
nen meine Aufmerksamkeit dem Raum selbst und nicht seinem Inhalt galt, entdeckte ich schwere eiserne Ringe in den Wandbalken, die zweifellos zum Festzurren von Frachtstücken dienten. Es gab eine zweite, recht schmale Tür am entgegengesetzten Ende des Achterraums. Sie war geschlossen und mit einem schweren Balken gesi chert. Die düstere Kammer wurde schwach von einer Kerze beleuchtet. Diese hielt Jennings in der Hand, der starr vor Schreck im Eingang stand. Sein Blick war fest auf ein Bündel gerichtet, das in der Mitte des Raumes lag. Wir traten rasch ein und beruhigten Jennings, der mit seinem Singsang aufgehört hatte. Holmes nahm ihm die Kerze aus der Hand und untersuchte die Leiche, die in der Mitte der Kammer lag, genauer. Der Mann war für den Landgang gekleidet, und aus seiner Mütze, die ein wenig von der Leiche entfernt lag, schlossen wir, dass es sich bei ihm um Captain James McGuinness handelte. Ich beugte mich neben Holmes, um einen besseren Blick zu haben – was ich vielleicht lieber nicht hätte tun sol len. Erst nachdem Lestrade den erschütterten Jennings an Deck geführt hatte, mit dem Auftrag, weitere Männer herbeizurufen, lehnte Holmes sich zu mir herüber und fragte: »Was halten Sie von diesen Wunden, Watson? Ich bin mir sicher, nie zuvor etwas Ähnliches gesehen zu ha ben. Schauen Sie hier – die gesamte Brust und die Kehle … Welche Waffe könnte das Ihrer Meinung nach ange richtet haben?« 85
»Holmes!«, rief ich und erhob mich. »Lassen Sie uns sofort dieses Schiff verlassen!« »Ruhig, Watson!«, meinte Holmes und packte mich an der Schulter. »Watson, Sie schwanken ja … hier, hal ten Sie sich fest …« Doch in diesem Augenblick packte mich ein solch heftiger Anfall von Platzangst, dass ich nur noch den Wunsch hatte, den kerkerartigen Eingeweiden dieses Schiffes so schnell wie möglich zu entfliehen und wieder frische Luft zu atmen. Die Welt um mich herum ver schwamm, und ich kann mich nur noch vage daran erin nern, dass ich mich irgendwie zur Hauptluke durch kämpfte, stets auf Sherlock Holmes gestützt. Dort saß ich dann neben dem Oberlicht, bis die Dinge um mich he rum wieder schärfere Konturen annahmen. »Na, fühlen Sie sich besser, Watson?« Ich sah Holmes’ besorgtes Gesicht, der sich zu mir herabbeugte, während er mich mit sicherem Griff an der Schulter festhielt. »Ich habe die Kontrolle über mich verloren, Holmes«, meinte ich verbittert. »Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie enttäuscht habe.« »Vergessen Sie es, mein Freund. Vielleicht lag es an dem beengten Raum selbst ebenso sehr wie an dem, was sich darin befand. Sagen Sie, haben Sie nicht auch einen üblen Geruch bemerkt?« »Ja, sicher – ein starker Tiergestank. Aber was mich so in Panik versetzt hat …« »Ich wollte gerade sagen, dass etwas an der Leiche Ih nen offensichtlich Übelkeit verursacht hat, und ich ken 86
ne Sie gut genug, um zu wissen, dass es keine Kleinigkeit gewesen sein kann.« »Holmes«, erwiderte ich mit ernster Stimme. »Sie ha ben mich gefragt, mit welcher Waffe man dem Opfer die Wunden zugefügt hat …« »Ja, das scheint mir rätselhaft. Mit keinem Messer hät te man …« »Es wurde kein Messer benutzt. Die Wunden an der Kehle des Captains sind Bissspuren.« »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher. Und was die ganze Sache noch erschre ckender und, wenn Sie so wollen, rätselhafter macht, ist die Tatsache, dass es sich nicht um gewöhnliche Zähne handelt.« »Wie meinen Sie das?« »Die Wunden stammen nicht von den Fängen eines großen Hundes oder einer Raubkatze. Auch nicht von Hauern, wie sie zum Beispiel Wildschweine besitzen. Ich fürchte, es handelt sich um Schneidezähne – das heißt, wenn wir Sampsons Geschichte auch nur den geringsten Glauben schenken, um die Bisswunden einer riesigen Ratte.«
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KAPITEL 4
Red Scanlon im Binnacle
Danach
geschah alles recht schnell: Jennings wurde zum Zollhaus entsandt, und innerhalb einer Stun de wimmelte es auf der Matilda Briggs von Inspektoren und Detectives. Das komplette Schiff wurde gründlich unter die Lupe genommen. Die Frachträume wurden untersucht, aber außer der ursprünglichen Ladung, die aus Kopra, roher Seide sowie kleinen Mengen von Tee und Zinn bestand, wurde nichts zu Tage gefördert. Holmes, Lestrade und ich kehrten zum Tatort des Mordes zurück und untersuchten erneut die Leiche. Ob wohl er nach außen hin professionelle Zuversicht signali sierte, schien Lestrade innerlich erschüttert und verwirrt. Holmes sprach während der ganzen Inspektion des Ach terdecks kein Wort, doch der Ausdruck auf seinem Ge sicht verriet, wie groß sein Interesse und seine Neugierde waren. Der Körper des Captains war verdreht und lag auf der Seite, als hätte er verzweifelt versucht zu entkommen. Er hatte einigen Widerstand geleistet, wie der Zustand sei ner Hände und die Blutflecken an den Seitenwänden der Kammer verrieten. Das Tier, das ihn getötet hatte – was immer es auch gewesen sein mochte –, war zweifelsohne 88
erstaunlich stark und unglaublich wild, denn es hatte dem Mann den Kopf fast vollständig von den Schultern getrennt. Der Verschlag, der am anderen Ende der Kam mer stand, ließ grobe Rückschlüsse auf die Größe der Bes tie zu. Die Maße entsprachen denen, die Sampson ange geben hatte: etwa zwei Meter lang und ein Meter hoch und breit. An einem Ende hatte man ein Loch von etwa 30 cm Durchmesser hineingebohrt. Hier hindurch hatte das Monster wohl seinen Kopf gesteckt. Holmes unter suchte alles mit der ihm eigenen Geduld und Gründlich keit. Auch der Moschusgeruch, der in der Kammer hing, legte nahe, dass darin ein Tier gefangen gehalten worden war, und zwar vor noch nicht allzu langer Zeit. Dennoch war von dem Biest selbst keine Spur zu finden. Die einzi ge interessante Entdeckung, die wir auf dem Achterdeck machten, war eine spezielle Ladeluke auf der Backbord seite. Es handelte sich um eine Lukenöffnung, die waage recht durch das Heckwerk des Schiffes geschnitten war und bei Nichtbenutzung durch die kleine, solide, schwer gesicherte Tür verschlossen wurde, die mir beim Betreten der Kammer aufgefallen war. Jennings, der sich in der Zwischenzeit von seinem Schock erholt hatte, erklärte uns, dass diese Art von Luken dazu benutzt wurde, lange Latten und manchmal sogar ganze Stämme Holz zu laden, die nicht durch die oberen Lukenöffnungen passten. »Sagen Sie, Jennings«, hakte Holmes nach, »transpor tiert die Briggs normalerweise Holzstämme?« »Ich glaube nicht, Sir«, lautete die Antwort. »Meines Wissens war das unter dem derzeitigen Besitzer noch nie der Fall.« 89
»Dann dürfte diese Luke seit einigen Jahren nicht be nutzt worden sein. Und sie scheint in der Tat Spuren des Nichtgebrauchs zu zeigen, nicht wahr, Watson? Beachten Sie den dicken Rost an den Angeln und die Verfärbung der Holzbalken an den Stellen, an denen sie das Metall berühren. Dennoch möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf drei Merkwürdigkeiten richten, Gentlemen.« Holmes öffnete die Tür. »Beachten Sie als Erstes, mit welcher Leichtigkeit die Tür aufschwingt. Das ist höchst ungewöhnlich für eine schwere Tür, die nur selten benutzt wird. Zweitens: Be achten Sie die Scharniergelenke. Sehen Sie, wie der Rost, so dick er auch sein mag, entlang jeder Nute gebro chen ist und abblättert? Und zu guter Letzt: Nehmen Sie meine Lupe und versuchen Sie die winzigen Kratzspuren auf dem Eisenschloss zu entdecken, wo es gegen das Blech schlägt – sowie das polierte Metall, das es hinterlässt. Nun, meine Herren, eines dieser Zeichen alleine könnte unbeabsichtigt entstanden sein. Zwei könnten noch Zu fall sein. Aber alle drei zusammen zwingen uns zu der Schlussfolgerung, dass diese Luke in der Tat geöffnet wurde, und zwar erst vor kurzer Zeit.« Angestrengt starrten wir alle drei aus der schmalen Lukenöffnung, die groß genug war, dass ein Mann hin durchklettern konnte. Das Wasser schien verblüffend na he, sicher nicht mehr als zwei Meter unter uns. Schließ lich verließen wir die düstere Kammer und kehrten über die Enterleiter auf die wartende Barkasse zurück. Inzwi schen zitternd vor Kälte, schmiegten wir uns in die Pols ter, während Jennings losfuhr. 90
»Es stellt sich die Frage«, meinte Lestrade, der rau chend im Bug des Schiffes saß, »warum wurde die Luke geöffnet?« »Das ist offensichtlich«, antwortete ich. »Um jeman den – oder etwas – unbemerkt vom Schiff zu befördern.« »Es gibt eine Menge Fragen, die der Antwort harren«, warf Holmes ein, während er sich eine Zigarette ansteck te. »Wer war der nächtliche Besucher mit der Kerze? Hat er Captain McGuinness ermordet? Wenn ja, wie? Allem Anschein nach wurde das Opfer von einem großen Tier totgebissen. Von einer Riesenratte? Kaum vorstellbar, und dennoch behauptet Sampson, er hätte eine solche Kreatur gesehen. Fest steht, dass der Achterladeraum nach einem Tier stank. Und die Bisswunden an der Lei che lassen sich auch nicht leugnen. Ah, wir erreichen ge rade die Anlegestelle. Achten Sie auf das Bootstau, Lestrade! Und nun, werter Lestrade, sollen Sie Gelegenheit ha ben, Ihrem Ruf als ein Mann, der zu seinem Wort steht, gerecht zu werden. Ich kenne ein lebhaftes kleines Gast haus ganz in der Nähe, das viele Seeleute aufsuchen. Man bekommt dort ausgezeichnetes Bier, gutes gekochtes Rindfleisch und dazu eine Menge Hafenklatsch. Sie brau chen nicht so finster dreinzublicken, mein Freund; die Preise sind moderat. Lassen Sie uns aufbrechen!« Wir ließen die Eisentore des Zollhauses hinter uns und machten uns auf den zwanzigminütigen Weg durch das Labyrinth der sich windenden Straßen und schmutzigen Gassen von Limehouse. Das Ziel unserer Fahrt war das Binnacle, ein uraltes, aus schweren Balken gezimmertes 91
Gasthaus in der Robin Hood Lane, dem das große nauti sche Instrument aus Messing, die Kompasshaube, die gleich neben der Tür stand, den Namen gegeben hatte. Das hin und her schwingende, von der Feuchtigkeit trop fende Wirtshauszeichen über uns, traten wir ein, stiegen vier steinerne Stufen hinunter und fanden uns in einem niedrigen, engen Raum wieder, der sich in einer Reihe von Fluren und Korridoren bis ins Unendliche zu erstre cken schien. Eine stämmige Frau führte uns zu einem Tisch, und noch bevor wir richtig Platz genommen hat ten, standen bereits drei Krüge mit dunklem Bier vor uns. Das Ale war eine erfrischende Nervenstärkung nach dem, was wir an diesem Morgen erlebt hatten, und das Rind fleisch mit Zwiebeln eine passende Ergänzung dazu. »Doch von all den unbeantworteten Fragen«, griff Holmes schließlich den Faden wieder auf, »scheint mir die Botschaft über Jenards Koje am unerklärlichsten zu sein. Sie wurde eindeutig von unserem nächtlichen Besu cher auf der Briggs angebracht. Wir wissen, dass der Besu cher nicht zur Crew gehörte und der Besuch nach Jenards Tod stattfand. Dennoch will man uns glauben machen, dass es Jenard war, der diese Botschaft geschrieben hat. Warum sollen wir das glauben, und was soll die Botschaft uns sagen?« »Dort wo die Ratte …«, zitierte ich. »… ihren Schatz bewacht …«, fuhr Lestrade fort. »Was ist der Schatz?«, fragte ich. »Glauben Sie, dass Captain McGuinness in Schmuggelgeschäfte verwickelt war?« »Das ist möglich«, antwortete Holmes. »Die Bot 92
schaft scheint jedoch noch aus einem anderen Grunde rätselhaft. Sie spricht davon, dass dort, wo die Ratte den Schatz bewacht, alles leer ist … Nun, leer war es dort mit Sicherheit nicht.« »Richtig«, bestätigte ich. »Außerdem würde es ja gar keinen Sinn machen – wenn ein Schatz dort ist, kann es ja nicht leer sein. Es sieht mir nicht gerade danach aus, als hätten wir es bei dem Verfasser der Zeilen mit einem sehr gebildeten Menschen zu tun.« Auf diese Bemerkung hin verzog Holmes seine dünnen Lippen zu einem leichten Lächeln. »Jawohl, Watson, das scheint die logischste Erklärung dafür zu sein«, sagte er mit einem merkwürdigen Funkeln in den Augen. In diesem Augenblick wurden unsere Überlegungen von einem lauten Gebrüll und heftigen Flüchen unter brochen, die aus dem Schankraum des Wirtshauses zu uns herüberdrangen. Wir erhoben uns von unserem Tisch und suchten unseren Weg zurück in den Eingangsraum des Binnacle. Dort, in dem niedrigen Schankraum, herrschte großer Aufruhr: Etwa ein Dutzend Seeleute drängte sich um einen aus ihren Reihen, der, seiner re gennassen Kleidung nach zu schließen, eben erst das Gasthaus betreten hatte. Es dauerte eine Weile, bevor die Männer sich so weit beruhigt hatten, dass man ver stehen konnte, was sie sagten. Die Worte »Mord« und »Matilda Briggs« drangen durch den Raum zu uns he rüber. Wir traten ein wenig näher an die Gruppe heran. »… kurz vorm Mittag, hab ich gehört«, sagte der See mann, der gerade eingetreten war. Er war sehr groß, hatte 93
einen buschigen roten Bart und einen kahlen Schädel. Er hatte seinen Mantel abgestreift, stand nun an der Bar und hielt in seiner Erzählung inne, um sein Pint mit einem einzigen tiefen Zug zu leeren. Dann stellte er den Krug mit einem lauten Knall auf der Theke ab als Zeichen da für, dass er einen weiteren haben wollte. Offensichtlich war ihm der Wirt viel zu langsam, obwohl dieser sich red lich bemühte, der Bestellung nachzukommen. »Mach hin, Alf, und ’n bisschen Bewegung, wenn’s beliebt! Red Scanlon is durstig. Und nach dem, was ich heut Morgen gesehn hab, brauch ich schätzungsweise noch sechs, sieben mehr, bevor ich wieder von hier abhau …« Er bekam sein Porterbier und wandte sich, wohl wis send um sein hochgespanntes Publikum, vom Wirt ab, ohne einen Gedanken ans Bezahlen zu verschwenden, verlangte nach Tabak und sicherte sich den besten Platz vor dem Kamin, bevor er fortfuhr. Die Männer um ihn herum beugten sich gespannt vor, einen Ausdruck von Furcht und Neugierde auf ihren Gesichtern, während Red Scanlon, offensichtlich ein Meistererzähler, den Fa den seiner Geschichte wieder aufgriff: »Nun, den Ersten, den ich zu greifen bekam, das war der alte Jennings. Schlich sich da so über’n Kai, blass wie der Tod, sag ich euch. Sag ich also: ›Was’n los?‹ Er gibt aber keine Antwort, scheint mich nich mal zu erkennen. Und dann seh ich hinter ihm drei finster dreinschauende Gentlemen – Bullen, wenn ihr mich fragt. Nun, da weiß ich, dass was nich stimmt und dass’s wahrscheinlich mit der Briggs zu tun hat, weil …« 94
An dieser Stelle brach Red Scanlon ab. »Weil was?«, fragten mehrere seiner Zuhörer. Scanlon musterte die Frager mit offensichtlichem Un behagen; sein Blick wurde unsicherer und begann unru hig hin und her zu wandern. Zwei Männer in der Gruppe blieben stumm, als wüssten sie, worauf Scanlon hinaus wollte. »Nun, Scotty, du has nich auf der Briggs angeheuert, nich wahr? Dann kannste’s natürlich nich wissen … aber Winkler und Thomas da, die wissen’s …« Die beiden angesprochenen Männer schüttelten kaum merklich den Kopf, als wollten sie in die Sache lieber nicht hineingezogen werden. »Spielen Sie vielleicht auf die Riesenratte von Sumat ra an?«, fragte eine klar vernehmbare Stimme. Der große Seemann senkte seinen Krug und spähte unsicher über die Gruppe seiner Zuhörer hinweg zum Türeingang, wo wir standen. Im gedämpften Licht des Raumes fiel sein Blick auf Holmes, der gelassen am Tür rahmen lehnte. Niemand anders als er hatte die Frage ge stellt. Scanlon erhob sich und näherte sich mit der Laut losigkeit einer Katze, die für einen Mann seiner Statur er staunlich wirkte – und bedrohlich. »Hör’n Sie, wer immer Sie sind …«, begann er mit lei ser Stimme, dann stockte er und musterte uns alle drei genau. »Zum Teufel, wenn das nich die drei finstren Gentlemen sind!« »Ich bin Inspector Lestrade von Scotland Yard«, stell te sich unser Begleiter vor, doch er wurde rüde unterbro chen. 95
»Hör’n Sie, Gentlemen«, warf Scanlon rasch ein, »wenn’s um diese Sache auf der Briggs geht, ich und mei ne Kameraden hier woll’n nix damit zu tun haben. Wir wissen gar nix, nich wahr, Thomas? Winkler? Nein, Sir, sehen Sie? Nun, wenn Sie nix dagegen haben, Gentle men, dann machen wir uns jetzt von dannen …« »Im Namen der Königin, ich muss Sie auffordern zu bleiben!«, befahl Lestrade. »Und Ihre beiden Kameraden ebenfalls.« Nun sah uns die ganze Gruppe Seeleute mürrisch an, und ich bemerkte nicht ohne ein gewisses Gefühl der Be unruhigung, dass sich einer von ihnen den Schürhaken vom Kamin gegriffen hatte und nun mit festem Griff auf den Knien gepackt hielt. Das lebhafte Treiben im Binnac le war einer bedrohlichen Stille gewichen. Als ich überall um mich herum die giftigen Blicke spürte, wurde mir be wusst, wie weit wir in der Tat von Regent’s Park entfernt waren, sowohl im wörtlichen geografischen Sinne wie im übertragenen. Lestrade dagegen, wie immer ganz Polizist, schien unsere Lage nicht wirklich erkannt zu haben und fuhr in seiner höchst offiziellen Art und Weise fort. »Ich würde Ihnen empfehlen, keinen Widerstand zu leisten«, sagte er und drohte Scanlon mit dem erhobe nen Zeigefinger. »Ihr Kumpan, Bootsmann Sampson, war so vernünftig, mit uns zusammenzuarbeiten. Wenn Sie nun …« Die Mienen der Männer erhellten sich sichtlich bei der Erwähnung von Sampsons Name. Zweifellos – und alles andere als überraschend – hielten sie wohl große Stücke auf ihn. 96
»Dann ham Sie Johnny getroffen?« »Ja. Getroffen und verhaftet«, fuhr der Inspector fort, munter ignorierend, dass die Männer aufgestanden waren und uns langsam einzukreisen begannen. »Und ich weise Sie hiermit darauf hin, dass Sie ihm bald hinter Gitter folgen werden, wenn Sie sich weigern zu kooperieren. Wenn Sie nun …« »Johnny im Kittchen!«, schrie Scanlon. Sein Gesicht glühte vor Zorn. Er drehte sich um und wandte sich an seine Kameraden. »Habt ihr das gehört? Sie ham Johnny ins Gefängnis gesteckt!« Dieser Ausruf wirkte wie ein allgemeines Signal für die Kundschaft des Binnacle. Ich erinnere mich, das Scharren von Füßen und das Rücken von Stühlen gehört zu haben, als der Kreis sich enger um uns schloss. Während ich mich auf die Breitseite gefasst machte, die sicher bald fol gen würde, drangen drei Worte an mein Ohr. Sie ertön ten klar und über dem ganzen Tumult deutlich vernehm bar: »Bully Boy Rasher.« Die Männer blieben stehen, nur Scanlon trat näher an Holmes heran und brachte sein Gesicht ganz nah an das meines Gefährten. »Bully Boy Rasher«, wiederholte Holmes leise. »Ken nen Sie ihn?« »Da kannste drauf wetten – ja, und?« »Ich habe ihn vor zwei Jahren in einem Boxkampf k.o. geschlagen, Mr Scanlon. Wenn Sie das vorhaben, was ich vermute, würde ich einen Einzelkampf einer allgemeinen Schlägerei vorziehen.« Bevor der überraschte Riese antworten konnte, dräng 97
te sich eine quiekende Gestalt in fleckiger Schürze zwi schen die beiden Männer. Es war Alf, der Wirt. »Mister ’Olmes, Sir!«, sagte er mit piepsender Stimme. »Sie sind das, nich wahr? Ich bin sicher, wenn wir Sie früher erkannt hätten, Sir, hätt’s keinen Ärger nich gege ben, so ’n guter Freund der Arbeiterschaft wie Sie’s sind, Sir. Ich bin sicher, unsre guten Freunde hier im Binnacle ham nich vergessen, wie Sie Chips Newcombe vorm Gal gen gerettet ham, oder wie Sie dem jungen Lehrburschen Smythe geholfen ham, als er im Verdacht stand, geklaut zu ham – wo er doch gar nix gemacht hat …« Die Stimmung der Männer hatte sich auf wunderbare Weise gewandelt; sie betrachteten den dünnen, wohl ge kleideten Mann, der sich so nobel für ihre Belange einge setzt hatte, inzwischen voller Neugierde. Scanlon, der sich halb beruhigt hatte, musterte die hageren Gesichts züge meines Freundes ungläubig. »Sie ham Bully Boy Rasher geschlagen, Londons bes tes Mittelgewicht?« »Aye, Red, und was für ’n toller Kampf das war! Im Crib Club, nich wahr, Mr ’Olmes? So jemand wie mich lass’n se da natürlich nich rein, aber ’n toller Kampf war’s, hab ich gehört.« »Wenn ich vom äußeren Anschein ausgehe, Alf«, meinte Holmes, »würde ich lieber drei Rashern gegenü berstehen als einem Mann wie diesem hier vor mir.« Diese Worte hatten einen äußerst überraschenden Ef fekt auf Red Scanlon, der seine Fäuste öffnete, zwei Schritte zurücktrat und den Blick zu Boden senkte. »Ihr solltet alle wissen«, fuhr Holmes mit ernster 98
Stimme fort und ließ dabei seinen Blick über die gesamte Gruppe schweifen, »dass John Sampson hauptsächlich aufgrund meiner inoffiziellen Bitte ins Gefängnis gesteckt wurde. Um mein Vorgehen zu erklären, brauche ich, wie ich glaube, nur zwei Fragen zu stellen. Erstens, habt ihr alle vom Schicksal Raymond Jenards gehört?« Die Antwort war eindeutig: ein grimmiges Zustimmen. »Zweitens, möchte einer von euch dieses Schicksal teilen?« Vehementes Verneinen. »Dann muss ich Sie für kurze Zeit um Geduld und Nachsicht bitten, Mr Scanlon. Wenn Sie so freundlich wären, würde ich Ihnen und Ihren Schiffskameraden ger ne ein paar Fragen über die letzte Reise der Matilda Briggs stellen.« Der riesige Mann dachte einen Augenblick nach, dann forderte er Winkler und Thomas auf, sich mit uns ans Feuer zu setzen. Dem Rest der Männer befahl er, »ab zudampfen«, was sie auch prompt taten. Leicht angespornt von Holmes, erzählte er uns seine persönliche Geschichte und lieferte einen Bericht über die Reise der Briggs von der Abfahrt bis zu jener Nacht, in der die Mannschaft das Gelage feierte, der sich in nichts von dem Sampsons unterschied. Seiner Vorliebe für star ke Getränke war es allerdings zu verdanken, dass seine Er innerungen an diese spezielle Nacht etwas trübe waren. »Da gibt’s nich viel, wo ich mich dran erinner, Gent lemen, außer dass ich beim Aufwachen ’nen Schädel hat te, als hätt mir einer eins mit ’ner Spillspake übergezogen, und zwar kräftig.« 99
»Und niemand hat während der Nacht irgendwelche Vorgänge an Deck bemerkt? Thomas? Winkler?« Alle drei Männer verneinten. »Wann wurde Ihnen bewusst, dass etwas an Bord nicht stimmte?« »Als wir zum ersten Mal Jones beobachteten, wie er heimlich Futter in den Achterladeraum brachte«, ant wortete Winkler. »Und dann sah’n wir natürlich die Rat te selbst …« An dieser Stelle wurde Winkler von Scanlon unter brochen und aufgefordert, den Mund zu halten. Holmes jedoch lieferte ihnen den Bericht von Sampson, und da rauf hin wurden die Männer vertrauensseliger. Alle drei hatten den Kopf der Bestie gesehen, und alle drei schwo ren sie, dass es der Kopf einer Ratte von riesigen Ausma ßen gewesen sei. »… und er sah genau so aus wie der von ’ner Schiffs ratte«, sagte Scanlon. »Sie haben erwähnt, dass Jones Futter in den Achter raum brachte, in dem das Monster gehalten wurde. Wie hat das Bündel mit Futter ausgesehen?« »Kann ich nich sagen, Sir«, erwiderte Winkler, »die war’n immer zugedeckt.« »Die?« »Ja, war’n immer zwei Bündel, beide mit ’nem Tuch zugedeckt. Eins war immer dreimal so groß wie das andre.« »Das ist interessant. Welchen Eindruck hatten Sie vom Maat Jones?« »War ’n Drückeberger, Sir«, antwortete Winkler. »’n echter Schlappschwanz, selbst für ’n Offizier.« 100
»Und Reverend Ripley – hat er irgendeinen bleiben den Eindruck auf Sie gemacht?« »’n seltsamer Bursche. Kam mir nicht wie ’n typischer Priester vor. Winkler hier hat mal gehört, wie er unter Deck ’nen schrecklichen Fluch ausgestoßen hat, nich wahr, Wink? Hat den Captain verflucht, hat er!« Holmes wurde hellhörig. »Ist es nicht seltsam, dass sich ein Passagier so gegenüber dem Captain seines Schif fes benimmt?« »Klar, Sir! Aber ’s gab ’ne Menge Seltsames an Bord der Briggs. Zumindest auf der letzten Reise, nich wahr, Jungs?« Das traf auf allgemeine Zustimmung und führte zu ei nem kurzen Lachen, während die Männer ihre Krüge zum Mund führten. »Wie sieht Ripley aus?«, fragte Holmes. »’n blonder, hellhäutiger Bursche – jemand, der nich viel draußen is, wenn Sie wissen, was ich meine. Und doch …« »Und doch, was?«, hakte ich nach. »Oh, ich glaub nich, dass es besonders wichtig ist …« »Ich bitte Sie, Mr Scanlon, raus mit der Sprache: Selbst das kleinste Detail ist wichtig.« »Ich wollt sagen, dass er zwar schwächlich und müde wirkte, aber an Deck konnt er schon mal ganz schön fix und beweglich sein, wenn’s ihm danach war. Meistens sprang er dann aufs Achterdeck, um die Sturmschwalben zu beobachten.« »Die mochte er?« »Ziemlich«, warf Thomas ein. »Aber am meisten mochte er die Minitierchen, Sir.« 101
»Die Minitierchen?«, wiederholte Lestrade verblüfft. »Was zum Teufel sind Minitierchen?« »Oh, Sir, die Minitierchen, die überall rumschwim men. Manchmal, in den Tropen, glüh’n sie wie Torffeuer – man kann praktisch ’ne Zeitung in dem Licht lesen, das sie ausstrahlen …« »Ich glaube, Lestrade, Thomas meint die verschiede nen Formen von Plankton: kleinste Larven, Krustentiere und Algen, die auf der Oberfläche der tropischen Ozeane gedeihen und einander jagen.« »Richtig, Sir, das sind die Minitierchen. Reverend Rip ley hat sie immer mit ’m Netz an Bord gefischt, das er sich aus Nesseltüchern und Schalkleisten gebastelt hat. An ’nem ruhigen Tag konnt man ihn an der Heckreling stehen und das Netz hinter sich herziehen seh’n wie ’n Holzklotz. Was Verrückteres ham wir lange nich mehr geseh’n …« »Mein lieber Thomas, diese Information ist in der Tat einzigartig – und höchst willkommen. Sie wirft ein ganz neues Licht auf den Fall. Kann mir einer von Ihnen er zählen, was der Reverend mit dem Netz und seinem Fang gemacht hat, nachdem er ihn an Bord gezogen hat?« »Oh, das ist leicht, Sir – und das ist das Verrückteste an der Sache überhaupt. Er setzte sich wie ’n Inder auf die Ladeluke und breitete das Netz vor sich auf’m Deck aus. Dann beobachtete er, wie die Minitierchen hin und her glitten und übereinander krochen, stocherte zwischen ih nen rum, beobachtete und stocherte, beobachtete und stocherte. Und die ganze Zeit pickte er das ein oder andre raus und steckte es in Gläser und Flaschen, die er dann nach unten mitnahm.« 102
»Aye, Gentlemen«, fuhr Scanlon fort, »und mehr als einer von uns dachte, der Reverend wär wohl etwas un pässlich, wenn er Weiss, unsrem Koch, auftrug, ihm seine ganz spezielle Fischsuppe zu bereiten.« Alle drei brachen in herzliches Lachen aus – und Hol mes hätte fast gegrinst. Lestrade wurde ungeduldig. »Genug Geschichten. Wir müssen Ripley und seine Kumpane finden! Ich werde augenblicklich eine gründli che Durchsuchung dieses Viertels veranlassen. Alle Stra ßen und Bahnhöfe werden streng überwacht. In der Zwi schenzeit werden Sie uns, wie ich wohl annehmen darf, jedwede Unterstützung in Form von Informationen zu kommen lassen, über die Sie verfügen.« »Die Herren waren bereits äußerst hilfreich«, bemerk te Holmes und erhob sich. »Besonders, was Ripleys Zeit vertreib mit der Meeresfauna betrifft. Wir suchen nach drei Männern, die zusammen oder getrennt unterwegs sind: einem nicht näher zu beschreibenden Weißen, sei nem Diener – einem Malaien namens Wangi – und ei nem Seemann namens Jones, einem Mann von durch schnittlicher Größe und Aussehen. Es scheint mir, dass der Malaie damit der auffälligste der drei sein dürfte. Ich kenne mehrere Viertel Londons, in denen ein solcher Mann Zuflucht suchen könnte, Lestrade, und biete Ihnen gerne meine diesbezügliche Hilfe an. Dennoch sind zwei wichtige Fragen unbeantwortet geblieben: Wo befindet sich die Riesenratte, und welches Motiv verbirgt sich hinter all den Morden? Kann jemand von Ihnen auch nur ansatzweise eine Erklärung liefern?« 103
Die drei Seeleute verneinten. Die einzig denkbare Er klärung schien ihnen, dass es sich bei der Ratte um einen Dämon handeln musste, ein Werkzeug des Teufels, das auf ebenso mysteriöse Weise in die Hölle zurückgekehrt war, wie es von dort aufgetaucht war.
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KAPITEL 5
Jäger oder Gejagte
In
einem seiner typischen Energieausbrüche stürmte Holmes unmittelbar, nachdem das Gespräch mit den Seeleuten beendet war, aus dem Gasthaus und ließ uns verblüfft zurück, ohne die geringste Vorstellung davon, was wir als Nächstes tun sollten. Leicht grum melnd bezahlte Lestrade den Kellner und rief nach ei ner Kutsche. Vor dem Hauptquartier der Polizei trenn ten sich unsere Wege; ich ging zu meinem Club, wo ich einen erholsamen Nachmittag verbrachte. Als ich kurz vor dem Abendessen in unsere Wohnung zurückkehrte, hörte ich bereits auf der Treppe das Schluchzen einer Frau. Nachdem ich vorsichtig geklopft hatte, wurde mir au genblicklich ein Stuhl neben einer Frau mittleren Alters zugewiesen, die ihr Gesicht fast vollständig hinter einem Spitzentaschentuch verborgen hatte. »John Watson, dies ist Miss Beryl Haskins, die so freundlich war, auf einen Tee und einen kurzen Plausch vorbeizuschauen. Nun beruhigen Sie sich, Miss Haskins. Ihre Geschichte überzeugt mich mehr denn je, dass die Verantwortung nicht bei Ihnen liegt, nicht bei Ihnen lie gen kann …« »Sie haben keine Vorstellung, Mr Holmes«, schluchz 105
te sie, »wie schmerzhaft es ist, alleine nach Hause zurück zukehren …« »Ich kann es mir sehr gut vorstellen.« »Die Allistairs waren die ganze Zeit über so freundlich zu mir, so gütig. Der Herr alleine weiß, wie sehr sie lei den. Ich habe erwartet, entlassen zu werden …« »Pah! Lady Allistair hat Sie in den höchsten Tönen ge lobt. Sie stehen ganz oben in ihrer Wertschätzung. Nun, Miss Haskins, ich stimme den Allistairs zu: Was Sie jetzt dringend brauchen ist Urlaub. Nehmen Sie den Nachtzug nach Brighton. Ich versichere Ihnen, dass wir unser Bestes geben, diese Angelegenheit so schnell wie möglich zu klä ren. Ah, da fährt Ihre Kutsche vor. Machen Sie sich auf den Weg, und erholen Sie sich gut. Au revoir!« Mit schwachem Händedruck und einem Wort der Entschuldigung verabschiedete die Dame sich von mir und folgte Holmes zur Tür. Dieser kehrte rasch zu seinem Sessel zurück und begann, ohne auf meine nahe liegen den Fragen zu warten, mit einer Erklärung: »Wie Sie ohne Zweifel vermutet haben, steht Miss Haskins im Dienste Lord Allistairs. Sie ist seit 1875 in seinem Haushalt; damals wurde seine Tochter Alice ge boren. Seitdem sind die beiden unzertrennlich: Miss Haskins war die Gouvernante des kleinen Mädchens und hat in letzter Zeit mehr die Rolle einer Reisegefährtin übernommen. Sie hat Alice Allistair in ihren Sommerfe rien begleitet, als das Mädchen entführt wurde. Im Au genblick bricht sie zu einem dringend benötigten Urlaub auf, denn wie Sie sehen konnten, zerfleischt sie sich gera dezu mit Selbstvorwürfen.« 106
»Wenn ich mich recht an die Zeitungsberichte erin nere, wurde die Begleiterin – Miss Haskins – auf einen fingierten Botengang geschickt, während man das Mäd chen kidnappte, oder?« »Richtig. Sie erinnern sich sicher, dass das Verbrechen auf einem überfüllten Marktplatz mitten in Bombay be gangen wurde. Zwei Einheimische zerrten das Mädchen in einen Palankin und verschwanden mit ihm in der Menge. Das war vor zehn Wochen. Seither hat man nichts mehr von Alice gehört oder gesehen …« »Das ist eine lange Zeit für eine Geiselnahme …« »So ist es. Um ehrlich zu sein, beschäftigt mich dieser Fall Tag und Nacht. Ich fürchte, die Aussichten, dass es dem Mädchen gut geht, sind nicht besonders rosig.« »Aber in einer Beziehung ist die große Zeitspanne seit der Entführung vielleicht ein gutes Zeichen; vielleicht haben die Entführer so lange gebraucht, das Mädchen zu rück nach England zu bringen. Sollte das zutreffen, ist sie sicher noch am Leben. Kein Mensch würde sich mit einer Leiche derart große Mühe machen.« »Exzellent, mein lieber Watson! Ich muss gestehen, dass mir der gleiche Gedanke gekommen ist. Wie auch immer, besser, wir sind nicht zu optimistisch. Denken Sie daran: Pessimisten werden ebenso oft überrascht wie Op timisten, allerdings immer angenehmer! Nachdem ich Sie beide im Binnacle zurückließ, habe ich eine ganze Reihe von Dingen erledigt. Unter ande rem habe ich dem Wohnsitz der Allistairs in der Bays water Road einen Besuch abgestattet. Miss Haskins war nicht zugegen, als ich eintraf, also bat ich darum, dass 107
sie mich kurz aufsuchen möge, was sie soeben getan hat. Wahrscheinlich wundern Sie sich, dass ich immer noch an dem Allistair-Fall arbeite, auch wenn jegliche Spur fehlt, und das, obwohl wir mit dem neuen Fall doch alle Hände voll zu tun haben.« »Sie selbst haben gesagt, dass es der schwierigste und teuflischste werden könnte, mit dem wir es seit langem zu tun haben.« »Ich hege keinerlei Zweifel daran. Und die Ereignisse heute Morgen unterstützen diese Vermutung sicherlich. Dennoch, auch die Allistair-Tragödie hat ihre interessan ten Aspekte. Sie kennen mich gut genug, um zu wissen, dass ich gewöhnlich für das, was ich tue, gute Gründe ha be, und zwei Fälle gleichzeitig zu verfolgen ist vielleicht gar nicht so absonderlich, wie es sich zuerst anhört.« »Haben Sie irgendwelche Theorien?« »Um ehrlich zu sein, ja. Aber sie sind im Augenblick noch zu unausgegoren, um darüber zu reden. Ah … da kommt Mrs Hudson mit unserem Essen. Trotz unseres herzhaften Mittagessens bin ich ausgehungert. Würden Sie die Tür schließen, während ich eine Flasche hole?« Nach unserem Mahl machte Holmes es sich zwischen den Kissen der Chaiselongue bequem und entzündete den rußgeschwärzten Kopf seiner Tonpfeife mit einem Streichholz. »Sehen Sie, Watson, so auffällig der Diener Wangi auch sein mag, die gigantische Ratte – sofern sie tatsäch lich aus Fleisch und Blut besteht – müsste geradezu au ßergewöhnliches Aufsehen erregen.« 108
»Um nicht zu sagen außergewöhnlichen Schrecken!«, fügte ich hinzu. »Ich stimme Ihnen zu. Allein der Gedanke an ein Monster, das durch die Gassen und über die Dächer der Stadt huscht, ist entsetzlich. Und dennoch hat es keinen Aufruhr gegeben – offensichtlich hat niemand das Biest gesehen. Es befindet sich nicht an Bord der Briggs, so viel steht fest. Wurde es vernichtet – getötet und in die Themse geworfen? Oder hat man es in irgendeinem Kel ler in einen Käfig gesperrt, bereit, es auf ausgewählte Op fer oder auf die Bevölkerung im Allgemeinen loszulas sen?« »Allein der Gedanke jagt mir einen Schauder den Rü cken hinunter. Wenn ich an die sterblichen Überreste von Captain McGuinness denke …« »Ja, eine schreckliche Angelegenheit. Aber wo ist die Ratte? Ob sie nun vernichtet oder fortgeschafft wurde, es stellt sich auf jeden Fall die Frage, wie man das Tier un bemerkt von Bord gebracht hat – keine leichte Aufgabe, wenn wir daran denken, wie sie an Bord geschafft wurde.« »Meiner Meinung nach wurde die Ratte nicht ver nichtet, Holmes. Alle Ereignisse deuten darauf hin, dass Ripley das Biest sehr am Herzen liegt, aus welch schänd lichem Grund auch immer. Warum sonst hätte er die Mühe auf sich nehmen sollen, sie an Bord der Briggs zu schmuggeln und sich während der langen achtwöchigen Reise um sie zu kümmern?« »Ein exzellentes Argument. Dennoch scheint er das Tier nicht als schaustellerische Attraktion zu schätzen, also um es zum Beispiel im Zirkus auszustellen. Sonst wäre 109
er sorgsam darauf bedacht gewesen, die nötige Aufmerk samkeit zu erregen.« »Vielleicht hat das Tier irgendeinen eigenen Wert. Sein Fell vielleicht?« »Wenn es sich wirklich um eine Ratte handelt, Wat son, wüsste ich nicht, welchen Wert es haben sollte. Na türlich handelt es sich höchstwahrscheinlich nicht um eine echte Ratte. Das größte bekannte Nagetier ist das Capybara, ein wachtelhundgroßes Wasserschwein, das in Zentral- und Südamerika vorkommt. Möglicherweise ist das Tier, mit dem wir es hier zu tun haben, bisher unbe kannt gewesen, doch wie dem auch sei, es ist auf jeden Fall in der Lage, einen ausgewachsenen Menschen zu tö ten. Und es befindet sich – ob lebend oder tot – in einem Umkreis von zwanzig Meilen von Blackwall Reach. Wenn das Monster so fürchterlich und unvergesslich wirkt, wie unsere Zeugen es beschrieben haben, müsste es schwer fallen, es verborgen zu halten. Ich habe vor, die Jagd morgen fortzusetzen. Zu diesem Zwecke habe ich heute zwei Telegramme aufgegeben. Die Antworten, die morgen Früh eintreffen, sollten hilfreich sein. Nein, Wat son, ich lasse heute Abend meinen Whiskey mit Soda aus und gehe direkt zu Bett. Gute Nacht.«
Am nächsten Morgen war ich noch vor Holmes auf den Beinen, und bevor dieser ins Wohnzimmer herunterge kommen war, las ich bereits die beiden folgenden Tele gramme, die Mrs Hudson heraufgebracht hatte:
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DIE SPUR ENDET IN DER BALFOUR LANE UND WHITECHAPEL ROAD – GREGSON Dieses Telegramm war in London aufgegeben worden. Das andere stammte aus Exeter und lautete folgenderma ßen: SIE HABEN RECHT: KEIN EINDEUTIGER BEWEIS – MASON-JONES Holmes interessierte sich vor allem für die erste Nach richt. Ohne Verzögerung breitete er die große amtliche Vermessungskarte von London und Umgebung auf dem Marmortisch aus und brütete den halben Vormittag da rüber. Obwohl er nicht leicht die Geduld verlor, konnte ich an seinem gelegentlichen Seufzen und Gemurmel er kennen, dass es sich wohl um ein sehr komplexes Prob lem handelte, selbst für seinen scharfen Verstand. Ich ließ ihn lieber alleine. »Ich werde Mrs Redding einen Besuch abstatten, Hol mes, und sehen, ob sie sich erholt hat. Auf dem Rückweg schaue ich bei Mortimer’s vorbei, um meine Pfeife abzu holen. Brauchen Sie etwas?« »Ja, Watson. Wenn Sie so nett wären und mir vier Unzen Navy-cut mitbrächten … oh, und wenn Sie schon dabei sind: Wenn Sie Zeit haben, halten Sie bei einem Schalter der British Railways – der in der Oxford Street dürfte der nächstgelegene sein –, und bringen Sie mir alle Fahrpläne für die Strecke nach Bombay und die Linien Richtung Osten mit; und außerdem bitte eine Liste der 111
Bahnhöfe und Haltestellen sowie der dazugehörigen Ad ressen. Wenn Sie zurück sind, wäre ich Ihnen sehr ver bunden, wenn Sie mich erneut ins East End begleiten könnten, sofern es die Zeit erlaubt.« Ich erledigte die Botengänge. Mrs Redding erholte sich erfreulich gut von ihrer Grippe. Ich kaufte den Ta bak für Holmes und lobte Mortimer für den neuen Stiel meiner Pfeife. Kurz vor dem Mittagessen kehrte ich wie der in unsere Wohnung zurück, die Arme voller Broschü ren, Karten, Fahrpläne und Listen mit Büroadressen. All dieses Material nahm Holmes mir ungeduldig ab und ver brachte eine weitere halbe Stunde brütend darüber, wo bei er sich ununterbrochen Notizen machte. Schließlich griff er sich ein leeres Blatt Papier und begann ein länge res Telegramm aufzusetzen, das mit den Worten begann: »KÖNNEN SIE ODER IHR PERSONAL SICH DA RAN ERINNERN …« Wir verließen das Haus, nahmen unser Mittagessen bei Marcinni’s ein und gingen dann weiter zur Whitecha pel Road. An der Kreuzung dieser Straße mit der Balfour Lane gab es nichts Auffälliges, außer dass sie sich in ei nem schäbigen Allgemeinzustand befand und in der Nä he des Flusses lag. Da uns dort kein Polizist oder Inspector erwartete (was ich eigentlich vermutet hatte), waren wir auf uns alleine gestellt, und Holmes blickte sich um und wanderte unsicher hin und her wie ein verzagter Stra ßenbengel. Ich folgte ihm schweigend und blickte mit ihm in Schaufenster und durch die Eingangstüren von Gasthäusern. So schritten wir die Balfour Lane hinauf, und dann wieder hinab. Dasselbe wiederholten wir in der 112
Whitechapel Road. Nach vierzig Minuten lehnte Holmes sich gegen eine Straßenlaterne, setzte eine muntere Mie ne auf und fragte mich, ob ich irgendeine Idee hätte wa rum Reverend Ripleys Spur genau an dieser Kreuzung en dete. »Woher wissen wir das überhaupt?«, fragte ich. »Weil Lestrade sich auf meine Anregung hin der äu ßerst löblichen Talente von zwei der besten Spürhunde Scotland Yards bedient hat.« »Sie sprechen von MacDonald und Grimes?« »Nicht ganz«, meinte Holmes schmunzelnd. »Ich spre che von Nip und Tuck, die zusammengenommen die größte Erfolgsrate der gesamten Organisation aufzuweisen haben.« »Von wem?« »Nip und Tuck sind Bluthunde, Watson – die besten, die ich kenne. Ich habe keinerlei Zweifel, dass sie selbst Toby ausstechen würden.« Natürlich erinnerte ich mich gerne an Toby, einen sanftmütigen (inzwischen leider verstorbenen) Mischling, der Mr Sherman, einem Tierpräparator in Lambeth, ge hört hatte. Tobys scharfe Nase war es gewesen, die uns dabei geholfen hatte, Jonathan Small, den holzbeinigen Juwelendieb, dingfest zu machen. »Sehen Sie, kurz nachdem wir von Bord der Briggs ge gangen waren, schickte Lestrade nach den Hunden; sie nahmen Ripleys Witterung von seinen Bettlaken auf. Nip und Tuck folgten seiner Spur vom Kai bis zu dieser Kreuzung, an der sie sich dann verlor. Nun, mein lieber Watson, was wurde wohl aus unserem Reverend Ripley? 113
Hat er sich einfach in Luft aufgelöst – entmaterialisiert wie ein Geist? Wie lautet des Rätsels Lösung?« »Die Antwort ist einfach: Er hat sich eine Kutsche ge nommen.« »Ah. Das ist sicher eine Möglichkeit. Doch warum erst hier und nicht am Kai, wo es vor Mietkutschen nur so wimmelt?« »Zweifellos hatte er in der Nähe etwas Geschäftliches zu erledigen …« »Genau, Watson. Nun scheinen wir der Sache näher zu kommen. Welche Art von Geschäft könnte es gewe sen sein?« »Nun, lassen Sie mich nachdenken«, murmelte ich und ließ meinen Blick über die Fassaden der verschiede nen Läden und Geschäfte schweifen. »Wenn er keinen Freund besucht hat …« »Ein sehr bedenkenswerter Punkt: Es ist durchaus vor stellbar, dass Ripley einen privaten Besuch erledigt hat. Das würde unsere Vermutungen sehr erschweren. Lassen Sie uns jedoch, nur der Argumentation wegen, einmal annehmen, es handelte sich um etwas Geschäftliches. Springt Ihnen irgendeiner der Läden ins Auge?« »Vielleicht der Kolonialwarenladen, wo er Fleisch kaufen … nein, nein … das Wheatsheaf-Pub … nein, das würde eher auf ein privates Treffen hindeuten. Hier ist eins, Holmes, das Kurzwarengeschäft. Vielleicht wollte er seine Kleidung wechseln, damit seine Flucht …« Holmes wurde immer ungeduldiger. »Wirklich, Watson, es könnte grundsätzlich jeder La den gewesen sein. Die Kunst besteht darin, jenen heraus 114
zufinden, der die wahrscheinlichste Erklärung – oder wahrscheinlichsten Erklärungen – liefert, und zwar für die größtmögliche Anzahl an Vorfällen. Sie haben behaup tet, Ripley hätte eine Kutsche genommen. Keine schlech te Vermutung. Wie wir allerdings feststellen können, gibt es hier keinen Kutschstand. Außerdem ist diese Kreuzung nicht gerade sehr belebt; es wäre schon ein großer Zufall, dass eine Kutsche genau in dem Augenblick vorbei kommt, in dem Ripley sie benötigt.« Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag. »Der Mietstall!« »Exzellent!«, meinte mein Gefährte strahlend. »Ja, ich glaube, dort sollten wir auf jeden Fall beginnen.« Ballantine’s Mietstall und Schmiede lag nur ein paar Schritte weiter nördlich in der Balfour Lane. Unter dem großen Aushängeschild stand geschrieben: »Pferde, Kut schen und Wagen zu vermieten – Tages- und Wochenta rife.« Wir betraten das Gebäude durch eine schmale Tür, die in einen engen Hausflur führte, dessen Wände mit Kummeten und Pferdegeschirr behangen waren. Wir konnten das Schnaufen von Schmiedebälgen und das ge legentliche helle Klirren eines Hammers hören. Der Flur führte schließlich in einen großen Gebäudekomplex, der sich hinter der eigentlichen Straßenfront erhob. Hier be fanden sich die Ställe, der Wagenpark und der Schmie deherd. Ein drahtiger Mann mit muskulösen Armen schuftete an der Esse, während weiter hinten im Schatten Pferde jedweder Gattung mit den Hufen stampften und zufrieden mit den Schwänzen schlugen. Als der Schmied hörte, was Sherlock Holmes wollte, legte er seinen 115
Hammer zur Seite und führte uns zurück zur Straßenfront, wo ein winziger, überfüllter Schreibtisch stand. Aus einer Schublade entnahm er eine Lederbörse, band sie auf und schüttete einen kleinen Stapel Goldmünzen in seine schwielige Hand. »Kann nich erkennen, wo die herkommen«, meinte der Schmied, »mit all den komischen Figuren und Kritze leien drauf – aber ich weiß genug über Metalle, um Gold zu erkennen, wenn ich welches seh.« »Sie stammen aus Indien, vielleicht auch Ceylon«, mutmaßte Holmes nach einem Blick auf die Handfläche des Mannes. »Verlangen Sie immer eine solch hohe Kau tion für Ihre Wagen und Pferde?« »Der wollte nich mieten – der hat gekauft, Sir. Kaufte meinen stabilsten Wagen und das passende Pferd dazu.« »Hat er seinen Namen angegeben?« »Oh, nein, Sir, hab nich dran gedacht, ihn zu fragen. Hat bar bezahlt für die Ausrüstung und war auch schon weg.« »Wann war das?« »Vorgestern, Sir. War kurz vor der Teezeit – gegen vier. Ne, ’nen Namen hab ich nich, Gentlemen. Und was sein Aussehen betraf: Würd sagen, er sah wie ’n Gentle man aus, mit ’ner spitzen Nase, ’ne galante Erscheinung. Alles in allem würd ich sagen, ein ganz normaler Gentle man.« »War er in Begleitung?« »Nein, Sir. Er war allein.« »War an dem Wagen irgendetwas Besonderes?« »Nich wirklich. Er gleicht dem andern, der noch da 116
hinten steht. Ein schwerer Rollwagen, oben und an den Seiten geschlossen, mit ’ner Tür zum Zuschließen hin ten.« Wir waren zu den rückwärtigen Gebäuden zurückge gangen und standen nun vor dem verbliebenen Rollwa gen, den Holmes mit großem Interesse musterte. »Die Räder – sind die Felgen etwa gleich dick und ha ben dieselbe Sorte metallener Lauffläche?« »Wenn ich mich recht erinn’re, Sir, gleich’n sich die beiden wie ein Ei dem andren. Hab beide von ’nem Steinmetz in Hammersmith gekauft, der sich zur Ruhe setzte. Der hat sie benutzt, um seine Werkzeuge und Steinblöcke zu transportieren. Die Dinger sind gebaut wie ’ne Festung, wie Sie seh’n können …« »Lestrade und seine Männer wären gut beraten, sich diesen Wagen genau anzusehen, Watson. Was ist mit dem Pferd – gibt es da irgendetwas Besonderes?« »Zwölf Jahre alter Wallach. Scheckig. Und sehr stäm mig – genau das richtige für so ’n Wagen, würd ich sagen. Ich wette, in seinen Adern fließt das Blut von schweren Zugpferden, wenn man sieht, wie groß er ist und was für ’n Gewicht er ziehen kann.« »Vielen Dank, das ist alles sehr hilfreich. Und nun, mein lieber Watson, wollen wir doch mal sehen, ob man es uns gestattet, die beiden noblen Gesetzeshüter, Nip und Tuck, auszuleihen, um sie erneut auf die Spur zu set zen.« Und so machten wir uns zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen auf den Weg zu den Anlegestellen. »Auch wenn wir uns nicht hundertprozentig sicher 117
sein können«, fuhr Holmes fort, »dass es Ripley war, der Pferd und Wagen gekauft hat, so spricht doch einiges da für. Mehr können wir im Augenblick nicht erwarten, und Lestrade und seine Männer könnten ihre Zeit sicher un sinniger verbringen, als nach einem großen, scheckigen Pferd Ausschau zu halten, das das Gegenstück zu dem Wagen des Steinmetzes zieht.« »Haben Sie vor, die Hunde auf die Spur des Wagens zu setzen?« »Wenn sie das fertig brächten, wären sie sicher die er staunlichsten Hunde aller Zeiten, mein lieber Watson. Aus einem Stall heraus Witterung aufzunehmen, ist un möglich. Aber höchstwahrscheinlich hat Ripley die Briggs mehr als einmal aufgesucht und wieder verlassen. Wollen doch mal sehen, ob wir nicht noch eine andere Spur finden können.« Der Fußweg zur Hafenanlage dauerte zwölf Minuten. Der Regen hatte schon vor einiger Zeit aufgehört und der Nebel sich so weit gelichtet, dass man einen guten Blick über die Stromstrecke hatte. Dort zogen die großen Schif fe dahin. Einige von ihnen wurden von kleinen kompak ten Dampfbooten gezogen und geschoben, die dicke, öli ge Rauchwolken ausstießen. Andere lagen am Kai vor Anker, und Ladebäume und dampfbetriebene »Hilfsma schinen« waren eifrig mit dem Verladen von Fracht be schäftigt. Aus dieser Entfernung sah die Matilda Briggs ganz normal aus, abgesehen von der Tatsache, dass sie verlassen wirkte. Auf den Docks hatten sich kleine Gruppen von Neugierigen gebildet, von denen einer ge legentlich auf das stille Schiff deutete und mit den Hän 118
den gestikulierte. Die Nachricht über den Mord hatte sich schnell verbreitet. Als wir uns dem Zollhaus näherten, erblickten wir Gregson mit zwei riesigen Hunden an langen Leinen. Meiner Schätzung nach mochte jeder der beiden gut und gerne einen Zentner wiegen. »Hallo, Mr Holmes, Dr. Watson. Scheint so, als wär das Wetter etwas freundlicher, was? Dennoch, nach all dem Regen eine weitere Spur zu finden wird schwierig werden, das sage ich Ihnen, selbst für diese beiden Pracht kerle hier!« »Wir wollen unser Bestes versuchen, Gregson. Zuerst jedoch eine Nachricht für Sie, die erste Spur betreffend, die Sie entdeckt haben. Haben Sie Ihren Notizblock zur Hand?« Holmes berichtete von unserem Besuch in Ballantine’s Mietstall und lieferte dem Detective eine derart genaue Beschreibung, dass dieser förmlich vor Ungeduld zu plat zen schien. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Gentlemen, würde ich lieber dieser anderen Spur folgen. In der Tat, es ist sogar meine Pflicht. Sie können ja hier nach Herzenslust von Nip und Tuck Gebrauch machen. Ich persönlich glaube ja, dass es sinnlos ist. Wenn es Ihnen recht ist, schicke ich heute Abend einen Mann zu Ihrer Wohnung. Die beiden Hunde machen keine Probleme, das versiche re ich Ihnen. Aber denken Sie daran: kein Futter, nicht einmal der kleinste Bissen; sie arbeiten am besten, wenn sie hungrig sind. Mit dem Geschmack von Fressen auf der Zunge sind sie keinen Pfifferling wert. Guten Tag!« 119
Und damit stürmte er davon, vor Eifer übersprudelnd. »Ah, mein lieber Watson, damit dürfen wir unsere beiden vierbeinigen Freunde ganz nach Lust und Laune einsetzen. Ich hatte gehofft, dass unsere Neuigkeiten Gregson weglocken würden. Ein netter Bursche, und kompetent, aber die Polizei steht mir öfter im Wege, als dass sie mir wirklich hilfreich ist. Man kann sie weitaus besser als Botenjunge und Späher einsetzen. Ich wünsche ihnen viel Erfolg beim Aufspüren der Kut sche. Nun denn, nehmen Sie Nip – oder ist das Tuck? – oh, nun, jeder von uns nimmt einfach einen an die Leine. Fürchten Sie sich nicht, mein Freund, denn wie Sie se hen können sind sie trotz ihrer Größe so zahm wie Scha fe.« Ich übernahm eine der traurig dreinblickenden Krea turen und tätschelte ihren gewölbten Schädel. Das Tier reagierte sofort, indem es seine Schnauze an meine Hand drückte und sie ableckte, wobei es leise winselte. »Sie haben Recht, Holmes, der Hund ist lammfromm. Aber wie greift er dann Verbrecher an?« »Ha! Was das betrifft, sind Sie also ebenso wenig im Bilde wie die meisten Menschen, fürchte ich. Lassen Sie uns diese beiden Verbrechensbekämpfer ein wenig he rumführen und schauen, ob wir nicht eine neue Spur aus findig machen können. In der Zwischenzeit erzähle ich Ihnen etwas über diese Tiere.« Wir ließen Nip und Tuck erneut Witterung aufneh men, indem wir den Fetzen eines Bettleinens benutzten, mit dem Gregson uns versorgt hatte. Die Hunde winsel 120
ten aufgeregt und begannen herumzuschnüffeln, die Nase dicht am Boden, wobei sie mich fast von den Füßen ris sen. »Der Vorfahr dieser Rasse, der Hubertushund, stammt aus den Klöstern Frankreichs, ein Nachfahre der Jagd hunde, die seit der Zeit Karls des Großen abgerichtet wurden. Der Name, den wir Engländer ihnen gegeben haben, nämlich Bluthunde, bezieht sich nicht auf irgend eine Lust des Tieres am Blute oder seine Neigung und Fähigkeit, einer Schweißfährte zu folgen, sondern viel mehr … holla! Ich muss schon sagen!« Die nächsten Minuten versuchten Holmes und ich, die Hunde auf eine andere Spur als die von ihnen einge schlagene zu bringen. »Dies ist die Fährte, die Gregson gefunden hat. Wenn wir keine weitere finden, kommen wir hierher zurück … Wo war ich? Ah, ja … nun, der Name Bluthund bezieht sich vielmehr auf ihre Reinrassigkeit, ähnlich wie bei Pferden, weist also auf eine weit zurückliegende, geradli nige Abstammung hin. Reinrassigkeit wurde nämlich stets hoch geschätzt …« »Sehr interessant«, entgegnete ich, während ich heftig mit der Leine kämpfte. »Und so haben wir hier also die Kreatur mit der feins ten Nase im gesamten Tierreich und das einzige Lebewe sen – vom Menschen abgesehen, Watson –, dessen ›Zeugnis‹ vor Gericht als Beweis anerkannt wird!« »Was Sie nicht sagen!« »Oh, doch, und … hallo, was ist denn da los?« Die Hunde zogen uns nicht weiter vorwärts, sondern 121
drehten sich laut winselnd und mit dem Schwanz we delnd verwirrt im Kreis herum. »Na, was haben wir denn da, ihr Burschen? Na? Was ist los? Habt ihr etwas gefunden?« Nachdem ich dem Treiben der beiden eine Weile zu geschaut hatte, fragte ich Holmes, ob das bedeutete, dass sie eine Spur entdeckt hatten. »Entdeckt und wieder verloren, Watson«, antwortete er. »Fällt Ihnen auf diesem Teil des Kais etwas Besonde res auf? Wie unterscheidet er sich von anderen Teilen des Hafens?« »Nicht sehr. Ich entdecke keine großen Unterschiede«, entgegnete ich, nachdem ich mich umgeschaut hatte. »Es sieht allerdings so aus, als neige sich der Kai hier eher schräg dem Wasser entgegen als mehrere Fuß steil abzu fallen.« »Ja! Ja, Watson, machen Sie weiter – sonst noch ir gendetwas?« »Nein, ich muss gestehen, dass ich sonst keine Beson derheiten entdecke.« »Oh, wirklich? Ich kann von hier aus etwas erkennen, das äußerst bemerkenswert ist. Sehen Sie den grünlich braunen Flecken dort? Den sollten wir uns näher an schauen.« Ich entdeckte den Flecken in etwa zehn Schritt Ent fernung und ging hin, um ihn von Nahem zu begutach ten. »Schmierfett für Radachsen!«, rief ich. »Aber was be deutet das? Sicher gibt es eine Menge Rollwagen hier, die den Kai hoch und runter fahren …« 122
»Hoch und runter, ohne Zweifel. Aber quer darüber?« »Ich fürchte, das ist unmöglich«, entgegnete ich la chend. »Sie sehen ja selbst, auf der einen Seite ist der Fluss und auf der anderen Seite der Eisenzaun.« Wie jeder, der die Londoner Docklands kennt, weiß, sind die Anlegestellen von hohen Eisenzäunen umgeben. Die einzigen Tore darin führen zum Zollhaus hin. Auf diese Weise kann das ständige Kommen und Gehen – ob von Menschen oder Gütern – von den Beamten streng geregelt werden. »Sie haben Recht. Aber sehen Sie sich die Form des Flecks an. Zweifellos ist überschüssiges Schmiermittel von der Vorderachse eines Fahrzeuges getropft. Danach ist das Hinterrad desselben Gefährts durch das Fett gerollt und hat es verschmiert.« »So scheint es gewesen zu sein«, stimmte ich zu. »Aber wir können beide sehen, dass das Fett auf eine Weise verschmiert wurde, die unzweifelhaft darauf hin deutet, dass das Fahrzeug sich quer zum allgemeinen Ver kehrsfluss bewegte.« »Bei allen guten Geistern, Holmes, Sie haben Recht! Das heißt, das Fahrzeug wurde im Fluss versenkt – wir sollten es umgehend wieder herausziehen lassen!« »Nicht so schnell, Watson. Wir sollten alle Möglich keiten durchspielen.« »Aber Sie haben doch selbst oft genug betont, dass das, was übrig bleibt, wenn man alle anderen Möglich keiten ausgeschlossen hat, die Wahrheit sein muss, wie unwahrscheinlich es auch erscheinen mag! Ich wüsste nicht, wie ein Fahrzeug auf Rädern über diesen Zaun 123
gekommen sein sollte, außer ihm sind Flügel gewach sen.« »Lassen Sie uns sichergehen«, warnte Holmes und ließ mich mit beiden Hunden zurück, während er die etwa fünfzehn Schritt zum Zaun hinüberging und ihn einen Moment lang genau untersuchte. Schließlich warf er mir einen schelmischen Blick zu und versetzte dem Zaun ei nen kräftigen Tritt. Zu meiner größten Verblüffung gab ein ganzer Abschnitt – schätzungsweise zwei Quadratme ter – der schmiedeeisernen Konstruktion nach und krach te mit lautem Scheppern aufs Pflaster. Sherlock Holmes brach in lautes Gelächter aus – was im Laufe meiner lan gen Bekanntschaft mit ihm nur äußerst selten vorge kommen war. Verärgert schaute ich weg und gab vor, mich mit den Hunden zu beschäftigen. Die kühle Zu rückhaltung in deren Blick signalisierte mir jedoch ein deutig, was für ein Narr ich war. »Die Gitterstäbe wurden durchgefeilt, das sieht man deutlich«, erklärte Holmes, als ich mich schließlich zu ihm an den Zaun gesellte. »So etwas kann in aller Stille erledigt werden. Dann wurde dieser Teil des Zaunes kurz zeitig beiseite gehoben, um das Fahrzeug durchzulassen, damit es seine Fracht aufnehmen oder abladen und schließlich durch dasselbe Loch im Zaun wieder ver schwinden konnte. Danach wurde der Teil, wie wir gese hen haben, wieder an seinen Platz gerückt, sodass ein Passant nichts mehr bemerkt. Eine ausgesprochen bemer kenswerte Arbeit!« »Umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass es eigentlich unmöglich ist«, fügte ich hinzu. »Diesen Zaun 124
durchzufeilen muss über eine Stunde gedauert haben. Wieso hat man die Täter in dieser Zeit nicht entdeckt?« »Eine gute Frage. Aber denken Sie einmal kurz nach. Die Geschehnisse, von denen wir hier reden, fanden vor gestern Abend statt. An jenem Abend waren Sie und ich nicht einmal eine Meile von hier entfernt …« »Aber ja, das Feuer! Das hat zweifellos die Aufmerk samkeit abgelenkt. Sie hätten eine komplette Zirkusvor stellung auf der Straße veranstalten können, und nie mand hätte ihnen Beachtung geschenkt …« »Sie haben vollkommen Recht, Watson.« »Zweifellos handelt es sich bei dem Fahrzeug um die Kutsche, die Ripley im Ballantine’s gekauft hat.« »Das können wir leicht auf zwei Arten überprüfen. Einmal, indem wir die Spuren der Räder und die Abstän de der Achsen mit der Kutsche vergleichen, die der Schmied uns gezeigt hat. Zum anderen können wir etwas von dem heruntergetropften Schmierfett aufsammeln und es mit dem Fett vergleichen, das bei Ballantine’s verwen det wird. Beides zusammen sollte uns zu einer eindeutigen Antwort führen, die zweifellos mit Ihrer These überein stimmen wird. Diese Stelle hier wurde wahrscheinlich wegen der Besonderheit ausgesucht, die Sie eben bemerkt haben: Der Wagen konnte rückwärts bis zum Wasserrand hinuntergefahren werden. Kommen Sie, lassen Sie uns etwas ausprobieren.« Er übernahm einen der beiden Hunde und führte das Tier zu der Stelle, an der die erste Spur geendet hatte. Erneut begann der Hund sich winselnd in engen Kreisen zu drehen. 125
»Und nun bringen Sie Ihren Hund auch hierher, Wat son. Gut. Und jetzt führen Sie ihn zum Fluss hinunter.« Wir führten die beiden Tiere bis zum Ufer. Im nächs ten Augenblick zerrte mein Hund derart heftig an der Leine, dass ich beinahe zu Boden gerissen wurde. Wäh rend ich mich wie ein Kreisel um die eigene Achse dreh te, herumgewirbelt von der Leine wie das Kinderspielzeug durch die Schnur, bemerkte ich, dass Holmes, der um ei niges leichter war als ich, noch größere Schwierigkeiten hatte, sich auf den Beinen zu halten. Schließlich gelang es uns nach vielem Zerren und Rufen, die Hunde ein we nig zu beruhigen. Dennoch kläfften sie weiter und fletschten die Zähne, verdrehten die Augen nach oben, sodass das Weiße sichtbar wurde. Sie schienen gleicher maßen wütend und verängstigt zu sein und strichen mit gesträubtem Fell eng um unsere Beine. Dann hatten sie es offensichtlich plötzlich eilig, den Ort zu verlassen, und versuchten, uns hinter sich herzu ziehen. Ihre Nackenhaare blieben jedoch aufgerichtet, und noch immer drang ein Knurren tief aus ihrer Brust. »Selten habe ich solch erregte Hunde gesehen«, mein te Holmes ein paar Minuten später. »Nun, das scheint immerhin eins zu beweisen, Watson: Was immer sich hinter der Riesenratte aus Sumatra verbirgt, eine ›Att rappe‹, wie Sie einmal vermutet haben, ist sie nicht! Nein, mein Freund, in der Tat, es handelt sich um ein le bendes, atmendes Geschöpf. Und eines, das so wild und ungezähmt ist, dass es diese beiden tapferen Hunde hier verrückt spielen lässt!« Daran hätte Holmes mich nicht zu erinnern brauchen 126
– dass das Biest tatsächlich existierte, war mir deutlich bewusst geworden, als ich die zerfetzte Kehle des Captains gesehen hatte. »Bleibt uns nur noch eine Möglichkeit, den Fall mit unseren beiden vierbeinigen Freunden hier weiter zu ver folgen, Watson. Wollen doch mal sehen, ob wir eine an dere Spur von Ripley entdecken können, auch wenn es der Polizei nicht gelungen ist.« Immer wieder nahmen die Hunde hier und da Witte rung auf, letztendlich jedoch ohne Erfolg. Schließlich schlug Holmes vor, nach Hause zu gehen und auf den Mann zu warten, der Nip und Tuck wieder zu Scotland Yard bringen würde. Langsam schritten wir den Kai hi nunter, vorbei an Trauben von Neugierigen, die zur dunk len Silhouette der Matilda Briggs hinüberstarrten, vorbei am Zollhaus und durch das große Eisentor hinaus. Hol mes, der sich in einer nachdenklichen Stimmung befand, meinte, er würde lieber noch ein, zwei Meilen zu Fuß ge hen, als sich sogleich eine Kutsche zu mieten. Und so spa zierten wir zu viert weiter: zwei Homo sapiens, die schein bar von zwei riesigen Vertretern der canis familiaris geführt wurden, wobei Letztere einen gemächlichen Gang vorleg ten und immer wieder schnüffelnd stehen blieben. Wir hatten das Tor des Zollhauses noch nicht lange passiert, als wir erneut eine Überraschung erlebten, denn plötzlich zeigten die Hunde wieder alle Zeichen der Erre gung, wedelten mit dem Schwanz, winselten und zogen an den Leinen. »Was bedeutet das denn, mein lieber Freund? Könnte es sein, dass Nip und Tuck etwas gefunden haben?« 127
Es stellte sich bald heraus, dass dies tatsächlich der Fall war. Zuerst wagten sie sich nur zögernd voran, als wären sie sich der Spur noch nicht sicher. Nach einigen hundert Metern jedoch wechselten sie in einen langsamen, steti gen Trott, und Holmes und ich hatten Mühe, ihnen zu folgen. »Offensichtlich hat die Jagd begonnen«, sagte Holmes und packte die Leine mit beiden Händen. »Mal sehen, wo sie uns hinführt.« »Die Gegend kommt mir seltsam vertraut vor«, mein te ich. Holmes nickte, und ich bemerkte, dass er einen grim migen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Die Jagd war schneller vorbei, als wir erwartet hatten: Die Hunde überquerten eine Gasse, verweilten dann schnüffelnd in einem schmalen Türeingang und hetzten schließlich wie von Sinnen über die Straße. Und schon standen wir unter einem hin und her schwingenden höl zernen Tavernenschild und starrten verblüfft auf das gro ße metallene Podest mit den zwei eisernen Kugeln und der Kompasshaube vor uns: Wir waren wieder beim Bin nacle angelangt. »So, so«, meinte mein Freund, und es kam mir fast so vor, als versuche er die Sache von der komischen Seite aus zu sehen. Sein Gesichtsausdruck verriet jedoch deut lich, dass er alles andere als unbeschwert war. In der Tat war dies wohl einer jener seltenen Momente, in denen Sherlock Holmes mit seiner Weisheit am Ende zu sein schien. Er starrte den Eingang zur Taverne eine ganze Weile lang durchdringend an, dann wandte er den Blick 128
ab und schaute sich vorsichtig um. Während die Sekun den verstrichen, wurde mir nach und nach klar, dass diese Wendung der Ereignisse für Holmes völlig unvorbereitet gekommen war. Angesichts der Seltenheit solcher Mo mente, beschlich mich leichtes Unbehagen. Ich hielt es für nötig, die Stille zu durchbrechen: »Sie haben erwartet, dass die Spur uns woanders hin führen würde, nicht wahr?« »Ich muss gestehen, dass ich ganz sicher nicht erwartet habe, dass sie uns hierhin führt«, entgegnete er mit einem Anflug von Belustigung in der Stimme. »Natürlich er kennen Sie die Ironie der ganzen Sache, die Dreistigkeit, die dahintersteckt, was, Watson? Nur wenige Kriminelle hätten die Frechheit dieses Ripley … nur sehr wenige – meinen Sie nicht auch?« Etwa eine Viertelstunde später saßen wir in einer Droschke und waren auf dem Weg in die Baker Street. Unsere vierbeinigen Freunde Nip und Tuck (für die wir zu unserem Leidwesen den halben Fahrpreis zahlen muss ten) lagen zwischen unseren Füßen. Holmes, der sich noch immer nicht ganz von der Überraschung unserer letzten Entdeckung erholt hatte, starrte aus dem Drosch kenfenster. »Diese Unverschämtheit, Watson, diese bodenlose Unverschämtheit!« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Holmes.« »Sie können es nicht, aber Ripley hat es getan«, schnaubte er. »Sehen Sie es denn nicht? Er ist uns ges tern ins Binnacle gefolgt. Die Spur, die er hinterlassen hat, ist eindeutig. Haben Sie bemerkt, wie die Hunde in dem 129
schmalen Türeingang auf der anderen Straßenseite ge genüber der Taverne stehen blieben? Zweifellos hat er sich dort versteckt und abgewartet, bis wir im Pub ver schwunden waren. Unser verehrter Missionar holpert also keineswegs in einem Wagen irgendwo über Land, auf der Flucht vor uns, nein, er ist hier in London und spielt Katz und Maus mit uns … was uns zu gewissen neuen Fragen führt, die Sie sich sicher schon selbst gestellt haben.« »Ich habe mir keine Fragen gestellt – außer der offen sichtlichsten, nämlich: Wohin ist Ripley verschwunden, nachdem er das Binnacle verlassen hat?« »In eine Kutsche, da bin ich mir fast sicher. Wie Sie am Verhalten der Hunde ablesen konnten, hat er keine Spur hinterlassen, die vom Pub wegführt. Daher steht also fest, dass er uns beim Verlassen der Docks beobach tet hat, uns zum Binnacle gefolgt ist und mit einer Kut sche weggefahren ist, nachdem wir unser Mahl beendet hatten. Wichtig ist jedoch, warum er uns gefolgt ist, nicht das Wann und das Wie. Kennen Sie Joshua Hathaways Gemälde ›Hirsch in Bedrängnis‹? Nein? Das Bild zeigt einen verwundeten Hirsch vor einem Hecken zaun. Die Meute hat ihn eingekreist, und die Hunde nä hern sich ihm, um ihm den Rest zu geben. Dennoch liegt die Hälfte von ihnen tot zu seinen Füßen. Ich frage Sie, Watson, sind wir die Jäger oder die Gejagten? Eins steht auf jeden Fall fest: Der Hirsch befindet sich nicht auf der Flucht. Außerdem ist da noch die unglaubliche Arro ganz dieses Ripley … das drängende Bedürfnis, sich mit mir zu messen. Zweifellos ist dies das unverkennbare Merkmal von …« 130
Und damit versank er in Gedanken und sprach kein Wort mehr, bis wir in unserer Wohnung angelangt wa ren. Mrs Hudson brachte den beiden Hunden ein paar Knochen, und die großen Tiere streckten sich vor dem Kamin aus und kauten zufrieden darauf herum, während Holmes und ich uns eine Kanne Tee teilten. »Und nun, mein lieber Watson, lassen Sie uns die Er eignisse in toto im Lichte all unserer neuen Erkenntnisse betrachten. Die Geschichte, so unglaubwürdig und un wahrscheinlich sie erscheinen mag, weist ein ganz be stimmtes Muster und eine Chronologie auf, die Sinn er gibt, nicht wahr? Im Grunde genommen handelt es sich, einfach ausgedrückt, darum, dass eine Art monströser Bestie an Bord eines Handelsschiffes nach London ge schmuggelt wird. Die meisten unserer Beobachtungen stimmen mit dem Verlauf dieser merkwürdigen Ge schichte überein, schwimmen sozusagen mit dem Strom der Ereignisse – richtig?« Ich nickte. »Doch es gibt drei bizarr erscheinende Vorkommnisse, die, wenn Sie mir die Fortführung meines Vergleiches er lauben, gegen den Strom schwimmen – richtig?« »In den letzten beiden Tagen gab es derart viele bizar re Vorkommnisse, dass ich nicht mit Sicherheit sagen könnte, welche Sie meinen«, erwiderte ich. »Dann will ich Ihnen ein wenig auf die Sprünge hel fen. John Sampsons Geschichte, so seltsam sie sein mag, birgt eine gewisse Logik in sich. Und in gewissem Sinne ist auch Captain McGuinness’ Tod verständlich, ohne dabei weniger schrecklich zu sein.« 131
»Sie meinen, weil er möglicherweise versucht hat, sei ne Partner zu betrügen, oder weil er fliehen wollte?« »Exakt! Diese Ereignisse können als ›mit dem Strom schwimmend‹ klassifiziert werden, weil sie aus dem ur sprünglichen Komplott entspringen, aus dem ursprüngli chen Plan, den Ripley und seine Verbündeten verfolgten. Aber was ist mit der Tatsache, dass wir verfolgt wurden? Oh, das ist alles andere als stromlinienförmig. Doch, doch, es gibt zweifellos eine gefährliche Unterströmung, und wir müssen sie ausloten, oder …« »Was sonst?« »Sonst könnten wir in allergrößte Gefahr geraten. Von Anfang an habe ich gesagt, dass wir es mit Gegnern der finstersten und übelsten Sorte zu tun haben. Und ich wiederhole dies nun mit noch größerem Respekt. Gut, was sind die beiden anderen ungewöhnlichen Ereignisse? Eines davon ist, wie ich glaube, die Ermordung Jenards. Warum wurde gerade Jenard getötet und nicht irgendein anderes Crewmitglied – Sampson zum Beispiel? Wenn jemand aus der Mannschaft geopfert werden sollte, um als warnendes Beispiel zu dienen, warum dann ein kräftiger, stämmiger Mann wie Jenard und nicht ein kleiner, unge fährlicher Bursche wie Winkler? Und warum wird die Tat nicht auf irgendeinem schmutzigen, abgelegenen Dock begangen, sondern mitten auf der Baker Street?« »Sie sagten bereits, dass Jenards Mörder Sie offensicht lich gekannt haben müssen.« »Habe ich das? Oh, ja, ich erinnere mich. Nun, es sieht fast so aus, als drehten wir uns im Kreise und kämen zum Ausgangspunkt zurück. Wer hat Jenard zu uns ge 132
schickt, und warum wurde er getötet? Was wusste er, das sonst niemand wusste?« Es entstand eine lange Pause. »Was ist das dritte Ereignis?« »Die Nachricht aus Kerzenruß über Jenards Koje. Nicht nur ihr Inhalt ist mysteriös, sondern auch die Tat sache ihrer Existenz an sich. Was wollte der Verfasser damit bezwecken? Will er uns von einer Spur abbringen oder auf eine führen …« An dieser Stelle brach er ab, und bald darauf verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen. Langsam hob er die linke Hand und griff hinter sich. Ich beobachtete, wie er die rußige Tonpfeife stopfte. Da ich dieses Ritual schon zahllose Male beobachtet hatte, wusste ich, dass Holmes sich, zumindest geistig, nicht länger in unserer Wohnung aufhielt, sondern möglicherweise wie eine Hafenkatze durch das East End schlich. Da jeder weitere Versuch, ei ne Unterhaltung zu führen, zum Scheitern verurteilt war, verbrachte ich den Rest des Abends mit Tennyson.
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KAPITEL 6
Abreise
Abgesehen von der Tatsache, dass John Sampson aus dem Old Bailey entlassen wurde, geschah in den nächsten Tagen nicht viel. Ich widmete mich wieder meiner Praxis und kehrte nur zum Schlafen in die Baker Street zurück, und das zu später Stunde. Holmes sah ich nur selten, und wenn ich ihn bei diesen Gelegenheiten nach Fortschritten in dem Fall fragte, erntete ich nur ein missmutiges Grunzen. Aus dieser Antwort schloss ich, dass die Ermittlungen nicht recht vorwärts gingen, und mied seine Gesellschaft noch mehr. Holmes konnte sehr abweisend und gereizt sein, wenn seine Erwartungen ent täuscht wurden. Ich registrierte jedoch, dass er die Tür zu unserer Woh nung jeden Abend sorgfältig verschloss und mich auffor derte, Vorsicht walten zu lassen, sobald ich das Haus ver ließ. »Bleiben Sie, wann immer es geht, auf den Hauptstra ßen«, mahnte er, »und nehmen Sie Ihre Pistole mit, wenn Sie sich nach Einbruch der Dunkelheit noch nach draußen begeben.« Ich beherzigte seine Anweisungen, wenn auch nur wi derstrebend, denn ich fühlte mich in meinem Stolz ver letzt. Die Erinnerung an die beiden verstümmelten Lei 134
chen genügte jedoch als Anstoß, ständig auf der Hut zu sein. Am fünften Tag ließen meine Pflichten nach. Mein letzter Patient erschien nicht, und so fand ich mich be reits am frühen Nachmittag in der Baker Street ein. Ich zog meinen Mantel aus und hängte ihn an den Gardero benständer. Holmes stand am runden Erkerfenster und beobachtete, wie die Blätter langsam in Spiralen zu Bo den segelten. Es war ein klarer, frischer Herbsttag, und er schien die gute Sicht auszunutzen, um die Straße in beide Richtungen prüfend zu überblicken. Hinter ihm auf dem Diwan lag wie gewöhnlich ein Stapel ungeordneter Pa piere, einschließlich der Antworten verschiedener aus ländischer Büros der British Railways, wie ich mit einem kurzen Blick feststellen konnte. »Ah, Watson! Wie ich sehe, ist Ihr letzter Termin aus gefallen. Kann ich dann davon ausgehen, dass Sie für den Rest des Tages zu Hause sind?« »Holmes! Woher wussten Sie …« »Das werde ich Ihnen gerne verraten«, meinte er mit einem schelmischen Grinsen, »allerdings nur, wenn Sie mir versprechen, mich in die Bayswater Road zum Wohn sitz von Lord und Lady Allistair zu begleiten.« »Sicher, das mache ich gerne.« »Ausgezeichnet. Dann lassen Sie uns aufbrechen. Sol len wir zu Fuß gehen?« »Also, wie haben Sie erraten, dass mein letzter Termin ausgefallen ist?«, fragte ich, als wir eiligen Schrittes über den Portman Square spazierten. »Ich habe nicht geraten. Ich habe es geschlussfolgert. 135
Sie sind in Ihren Gewohnheiten sehr pedantisch, beina he teutonisch, Watson, vor allem, was Ihren Beruf be trifft. Ich wage die Behauptung, dass wir aus genau diesem Grunde so gut miteinander auskommen, denn, wie Sie sehr wohl wissen, bin ich darin das genaue Gegenteil. Wie auch immer, Ihr Berufsleben ist bis ins Kleinste gere gelt und organisiert …« »Das stimmt, aber meine Arbeitstage unterscheiden sich stark voneinander. Manchmal habe ich zwanzig Pa tienten, manchmal nur vier.« »Richtig. Aber, mein lieber Watson, am Abend schreiben Sie immer, wirklich immer, Ihre Termine für den nächsten Tag sorgfältig in Ihren Taschenkalender. Sie sitzen in Ihrem Sessel, den rechten Fuß auf dem Koh lenkasten …« »Ja, das ist wahr. Ich bin gerne für den nächsten Tag vorbereitet.« »Und jeden Morgen brechen Sie mit Ihrem Taschen kalender in der rechten Brusttasche auf, wobei Sie Ihren Füllfederhalter zwischen die Seiten geklemmt haben.« »Sehr aufmerksam beobachtet. Ja, ich stecke meinen Federhalter hinein, um gleich die richtige Stelle zu fin den.« »Zurück kehren Sie allerdings mit Ihrem Kalender in der linken Tasche, sans plume.« »Ja, ich glaube schon. Nachdem mein letzter Patient gegangen ist, mache ich ein paar abschließende Notizen, reiße die Seiten heraus und hefte sie ab.« »Abgesehen davon, dass Sie früh nach Hause gekom men sind, befanden sich Ihr Taschenkalender und Ihr 136
Federhalter heute jedoch an ihrem ›morgendlichen‹ Platz, wie ich beobachten konnte, als Sie Ihren Mantel auszogen. Ergo: Ihr Arbeitstag war nicht abgeschlossen, Ihr letzter Termin ist ausgefallen. Wie auch immer, sehen Sie den kleinen Wald aus Schornsteinen dort drüben? Das, mein lieber Freund, ist das Haus der Allistairs. Und Sie werden wohl kaum in Ih rem Leben zwei vortrefflicheren Menschen begegnen. Kommen Sie!« Holmes’ Beschreibung war zutreffend: Das Haus der Allistairs in der Bayswater Road Nr. 13 war in der Tat ein Wald von Schornsteinen und zugleich ein Meer von Gie beln und Simsen. Die schmucke rote Backsteinfassade wurde perfekt von einem tadellosen englischen Rasen und exakt gestutztem Buschwerk in Szene gesetzt. Es rankte sich genügend Efeu am Haus hoch, um einen alt ehrwürdigen Eindruck zu vermitteln, ohne dass es über wuchert wirkte. Ich war sowohl von der Größe als auch von der Schönheit des Anwesens beeindruckt. Die Ent führer wussten über die Vermögensverhältnisse der Al listairs offensichtlich sehr gut Bescheid. »Sie sind also die ganze Zeit über mit den Allistairs in Kontakt geblieben. Gibt es neue Entwicklungen?« »Um ehrlich zu sein, ja. Und sie sind auch noch genau zu dem Zeitpunkt eingetreten, da ich es erwartet habe. Ich muss Sie warnen, Watson: Dies wird kein angeneh mer Besuch! In gewissem Sinne wurde den Allistairs eine enorme Last von den Schultern genommen. Andererseits werden mit Sicherheit noch mehr Schmerz und Qual fol gen. Ich habe den beiden heute Morgen einen kurzen Be 137
such abgestattet und ihnen versprochen, heute Abend mit Ihnen zurückzukehren. Sie können uns allen wertvol le Hilfe leisten, Watson. Lesen Sie dies hier!« Er reichte mir ein Telegramm, auf dem Folgendes stand: KOMMEN SIE SOFORT – ES WURDEN BE DINGUNGEN GESTELLT. »Die ist die erste Nachricht der Entführer an Lord und Lady Allistair?« »Ja. Ich nehme an, man könnte es als einen Grund zum Feiern betrachten – aber ganz unter uns, Watson: Ich mache mir große Sorgen um das Mädchen. Doch lassen Sie uns hineingehen. Und versuchen Sie um Gottes wil len, die beiden aufzumuntern!« Die Vordertür wurde uns vom Butler geöffnet, der, sei ner angespannten Haltung und seinem ernsten Ge sichtsausdruck nach zu schließen, das Leid seiner Herr schaft teilte. Lord und Lady Allistair saßen zu beiden Seiten eines riesigen Kamins aus gemeißeltem Stein. Die hohen grego rianischen Fenster ließen viel Sonnenlicht in das Zim mer, in dem die wertvolle Porzellansammlung von Lady Allistair ausgestellt war. Die Lichtreflexe auf diesen ex quisiten Stücken verliehen dem Raum eine strahlende, geradezu heitere Atmosphäre, doch ein Blick auf das Paar genügte, um die Sorge und die Angst zu erkennen, die die beiden überwältigt hatten. Lord Allistairs Erscheinung wurde seinem Ansehen gerecht. Er war groß, schlank, etwa sechzig Jahre alt und empfing uns trotz des unverkennbaren gefühlsmäßigen Aufruhrs, den er durchlebte, tadellos gepflegt und geklei 138
det. Seine scharfen Züge wurden durch einen schmucken grauen Schnurrbart und kurz geschnittenes Haar noch mehr zur Geltung gebracht. Die Dame des Hauses blieb sitzen. Auch sie bewahrte trotz der angespannten Lage Haltung und begrüßte uns herzlich, wofür ich nur Be wunderung empfinden konnte. Nur ein paar Augenblicke in der Gegenwart dieser beiden Menschen genügten, um mich von ihrem noblen Charakter und ihrer ausgepräg ten Willenskraft zu überzeugen. Die Erinnerung an Lord Allistairs erstaunliche Karrie re in der Regierung, die, wie jeder Leser zweifellos weiß, von Mitgefühl für die Unterprivilegierten, unnachgiebi gem Kampf gegen die Korruption und Einsatz für fort schrittliche Reformen in allen Bereichen geprägt war, verstärkte meine anfängliche Bewunderung für den Mann nur noch. Auch erinnerte ich mich lebhaft an all die Stif tungen, Wohltätigkeitsveranstaltungen und Fürsorgetä tigkeiten seiner Frau. Und während ich mir meine Um gebung genauer ansah, durchzuckte mich mehrmals der Gedanke, dass ich hier einer Familie gegenübersaß, die ihren Reichtum und ihre Position in der Gesellschaft in der Tat mehr als verdient hatte. Ich wurde als ein vertrauenswürdiger Mitstreiter vor gestellt und mit echter Herzlichkeit willkommen gehei ßen. Holmes und ich setzten uns auf ein luxuriöses Sofa, das seinerseits auf einem riesigen Perserteppich stand. Das Sonnenlicht brachte das leuchtende Kobaltblau und tiefe Burgunderrot seines Musters voll zur Geltung, und alles in allem drängte sich mir der Gedanke auf, dass unsere bescheidene Unterkunft in der Baker Street im Vergleich 139
zur Größe und Einrichtung dieses Raums geradezu schäbig wirkte. »Gentlemen«, begann Lord Allistair und beugte sich angespannt über den Kaffeetisch, »wie Sie wissen, ist dies die erste Nachricht, die wir erhalten haben, was den Verbleib unserer Tochter betrifft, beziehungsweise …«, er stockte leicht, »… ihren Zustand.« Er reichte Holmes ein Blatt gewöhnliches Papier. Da rauf befanden sich zwei Nachrichten. Die erste bestand, wie es bei solcherart anonymen Briefen üblich ist, aus aufgeklebten Wörtern und Buchstaben. Die andere Bot schaft jedoch war mit feiner Handschrift in Tinte ge schrieben. »Lady Allistair und ich sind uns sicher, dass die unte re Nachricht von unserer Tochter geschrieben wurde. Es ist ziemlich eindeutig ihre Handschrift, obwohl offen sichtlich ist, dass sie unter starker Anspannung steht. Da der Brief gestern Morgen abgestempelt wurde, wissen wir nun wenigstens, dass sie noch lebt«, erklärte Lord Alli stair. »Obwohl wir Ihren Optimismus teilen, Sir«, warf Holmes ein, »dürfen wir dennoch, so unangenehm es auch sein mag, die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Zeilen schon vor einer ganzen Weile geschrieben, aber erst gestern abgeschickt wurden.« Diese Erkenntnis traf die beiden wie ein Hammer schlag und rief bei Lady Allistair heftiges Schluchzen her vor. Verärgert über Holmes’ gefühlloses Verhalten, tat ich mein Bestes, die beiden zu trösten. 140
»Es tut mir Leid«, meinte Holmes schließlich, »aber wir müssen diese Möglichkeit in Betracht ziehen, so un wahrscheinlich sie auch sein mag; Hier, Watson, was hal ten Sie davon?« Er reichte mir das Papier. Die erste Nachricht war kurz, klar und beängstigend: »100.000 £ in kleinen Bank noten im Austausch für Ihre Tochter. Lieferung von Strathcombe aus. Wenn Sie nicht gehorchen oder Hilfe herbeirufen, wird ihr großes Leid geschehen. Weitere Anweisungen vor Ort.« »Strathcombe ist der Landsitz von Lord und Lady Alli stair«, erklärte Holmes. »Offensichtlich fühlen sich die Verbrecher in der Ausführung ihres Plans außerhalb der Stadt sicherer. Der Landsitz liegt in Shropshire, südwest lich von Shrewsbury nahe der Grenze zu Wales. Die Um gebung besteht nur aus felsigen Hügeln und ausgedehn ten Waldgebieten, die zum Clun Forest gehören. Wahr scheinlich ist es genau diese zerklüftete und einsame Landschaft, die die Verbrecher dazu bewogen hat, diesen Ort zu wählen.« »Strathcombe wurde ursprünglich als Jagdhaus errich tet und wird noch immer zu diesem Zweck benutzt«, fuhr Lord Allistair fort. »Die Gegend ist berühmt dafür, dass es dort die einzigen frei lebenden Wildschweine auf den Bri tischen Inseln gibt. In den Siebzigern hat Prince Albert ein paar ausgewählte Exemplare aus dem Schwarzwald dort angesiedelt. Seitdem haben sie sich fleißig vermehrt, auch wenn ihr Vorkommen sich nach wie vor auf das ei ne Tal beschränkt, in dem Strathcombe liegt. Wir sind allerdings selten vor Ort, da wir beide die Stadt bevorzu 141
gen. Es ist dort, wie Mr Holmes schon angedeutet hat recht einsam. Das nächste Dorf ist fast fünf Meilen ent fernt.« Ich nickte und las die zweite Nachricht, die von der jungen Dam geschrieben worden war. Sie war schlicht und herzergreifend: »Liebste Mutter, liebster Vater, bitte helft mir! Ich bin körperlich unversehrt, aber ich weiß nicht, ob es mir gelingt, noch weitere 14 Tage bei klarem Verstand zu bleiben. Bitte tut, was von euch verlangt wird, wenn ihr mich wieder sehen wollt. Eure euch lie bende Tochter, Alice.« »Diese Monster!« »Ganz recht. Da ich wusste, wie Sie auf diese Unge heuerlichkeit reagieren würden, Watson, und auch weil ich Ihren Mut und Ihr Verantwortungsgefühl kenne, ha be ich Sie heute Nachmittag mit hierher gebracht, in der Hoffnung, nein, in der sicheren Erwartung, dass Sie Ihre Hilfe anbieten würden.« »Natürlich werde ich das tun, Holmes, und ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen. Lord Allistair, seien Sie versi chert, dass ich gerne alles für Sie tun werde, was in mei nen Kräften steht, so bescheiden diese auch sein mögen.« »Wir danken Ihnen, Sir«, erwiderte Lady Allistair, »Mr Holmes hat nur in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen, und wie wir sehen, besitzt er ein gutes Ur teilsvermögen.« Leicht errötend, versuchte ich, dieses Kompliment beiseite zu wischen, und erwartete weitere Instruktionen von meinem Gefährten. »Ihre Praxis scheint in letzter Zeit gut zu gehen, Wat 142
son – wäre es Ihnen möglich, London für ein paar Tage zu verlassen?« Ich nickte. »Ausgezeichnet. Dann können Sie diesem vortreffli chen Paar hier einen großen Dienst erweisen, indem Sie sie morgen Früh nach Strathcombe begleiten. Ihre An wesenheit wird aus zwei Gründen vorteilhaft sein. Erstens werden Sie aufgrund Ihrer einnehmenden Persönlichkeit und Ihres unverbrüchlichen Elans eine Quelle des Trostes und der Unterstützung sein. Zweitens – und das ist der wichtigere Grund – werden Sie mir als Chronist dienen und mich über den Verlauf der Ereignisse informieren, während Sie gleichzeitig als Leibwächter von Lord und Lady Allistair fungieren.« »Dann werden Sie nicht mitkommen?«, fragte ich. »Ich fürchte, nein. Wie Sie wissen, gibt es da noch ei nen anderen Fall hier in London, der dringend meiner Aufmerksamkeit bedarf; daher brauche ich Ihre Hilfe. Wie auch immer, ich werde so schnell wie möglich zu Ih nen stoßen, vielleicht schon in ein paar Tagen, sicher nicht später als in einer Woche. Sind Sie alle damit ein verstanden? Ausgezeichnet. Nun denn, Watson, lassen Sie uns nach Hause zurückkehren, wo ich mit Ihnen die Details Ihrer Aufgabe als Spion und Beschützer durchge hen werde.« Wir erhoben uns vom Sofa und gingen zurück zur Ein gangshalle. Holmes blieb jedoch bei dem antiken franzö sischen Sekretär neben der Eingangstür stehen und mus terte die beiden gerahmten Fotos, die darauf standen, ge nau. Beide waren mit einem ovalen Passepartout verse 143
hen. Eines zeigte das Gesicht einer hübschen jungen La dy; das andere einen jungen Mann in voller militärischer Uniform. »Dies ist Ihre Tochter, nehme ich an«, sagte Holmes. Die beiden bejahten kaum hörbar. »Und dieser junge Mann ist Ihr Sohn? Ja, ich kann es erkennen. Wie so oft gleicht der Sohn ganz der Mut ter …« »Ja, das ist unser Sohn Peter«, antwortete die Dame des Hauses lächelnd. »Er ist jetzt im dritten Jahr in Sand hurst …« »Ah, ein Soldat also? Er hat sich also entschlossen, nicht in die Politik zu gehen. Ich glaube mich zu erin nern, dass ich letztes Jahr etwas über Ihren Sohn in der Zeitung gelesen habe. War er nicht in Eton?« »Harrow, um genau zu sein.« »Natürlich, jetzt kann ich mich erinnern. Und in ei nem Internat im Norden?« »Das ist richtig: die Malton School in Yorkshire – Sie haben ein gutes Gedächtnis, Mr Holmes.« »Doch nur für unbedeutende Dinge, wie es scheint. Nun, ich hoffe, ich werde Ihren Sohn eines Tages ken nen lernen, und ich bin mir sicher, dass ich Ihrer Tochter in nicht allzu ferner Zukunft die Hand schütteln werde. Guten Tag, Lady Allistair, Lord Allistair. Ich werde Sie morgen Früh auf dem Bahnsteig verabschieden. Adieu.« Wir kehrten in unsere bescheidene Wohnung zurück. Auf dem Weg bemerkte ich ein breites Grinsen in Hol mes’ Gesicht. »Ein weiteres Puzzleteil, das an seinen Platz gerutscht 144
ist, Watson. Die Sache wird mit jedem Augenblick kla rer.« Wenn dies tatsächlich der Fall war, so hatte ich bis dahin nichts davon bemerkt. Doch ich war so sehr mit meiner neuen Rolle beschäftigt, dass ich die »Puzzleteile« einfach aus meinen Gedanken verbannte. Ich hatte viel zu tun und wenig Zeit dafür zur Verfügung. »Lassen Sie uns die Karten studieren und Ihre Anwei sungen besprechen«, sagte ich und beschleunigte meinen Schritt. Den Rest des Abends und einen Großteil der Nacht verbrachten wir in unseren Räumen, wo Holmes, eine Übersichtskarte der Gegend um Strathcombe zwischen uns ausgebreitet, mir genau erklärte, worauf ich achten und wovor ich besonders auf der Hut sein sollte. Lord Al listair hatte ihm eine Karte von Strathcombe selbst in großem Maßstab überlassen, der den Grundriss des Hau ses und seiner Nebengebäude, der umgebenden Gärten und des anschließenden Grund und Bodens zeigte. »Wie Sie sehen können, ist das Haus nicht groß. Es hat etwa vierzehn Zimmer. Wie Lord Allistair sagte, wur de es eher als Jagdhaus denn als Landsitz erbaut. Es stammt ursprünglich aus der Zeit von Henry VII., hat aber in den nachfolgenden Jahrhunderten einige Veränderun gen erfahren. Angesichts seines Alters und der seltenen Nutzung befindet es sich in einem erstaunlich guten Zu stand. Das lässt sich vielleicht auf seine geringe Größe zu rückführen. Im Gegensatz zum Haus ist das Grundstück jedoch beachtlich groß und umfasst etwa 900 Morgen Wiesen, Wälder und Sumpfland. Aufgrund seiner Ge 145
schichte als Jagdsitz befinden sich auf dem Gelände au ßerdem eine Fülle von Nebengebäuden. Es gibt einen Stall mit Boxen und Abteilen, einen Hundezwinger mit genügend Auslauf und Hundehütten, ein Cottage für den Wildhüter und die Ruinen einer Stallung, die schon vor langer Zeit aufgegeben wurde. Ich lenke Ihre Aufmerk samkeit auf all diese Details, Watson, weil ich fürchte, dass die Entführer das Gelände gut gewählt haben. Es ist zerklüftet, unzugänglich, unbewohnt, und es bietet zahllo se Verstecke und günstige Stellen für Hinterhalte oder Beobachtungsposten. Es ist kein unnützer Gang, auf den Sie sich da freiwillig eingelassen haben, mein lieber Freund. Der Weg ist voller Unsicherheiten und Gefah ren. Sie müssen stets eine Waffe bei sich tragen und dür fen kein Risiko eingehen. Zudem sollten Sie täglich mit mir telegrafischen Kontakt aufnehmen. Sollte dieser einmal ausbleiben, ist das für mich ein Zeichen, die Miliz zu verständigen, ist das klar?« »Vollkommen. Apropos, angesichts Ihrer Einschät zung jenes ›anderen Falles hier in London‹, möchte ich Ihnen denselben Ratschlag geben.« »Und ich werde ihn wohl beherzigen, das kann ich Ihnen versichern. Also, die geforderte Summe wird in ei ner Geldkassette nach Strathcombe gebracht werden, die Sie bewachen müssen. Für den Fall, dass die ›weiteren Anweisungen‹ schon kurz nach Ihrer Ankunft eintreffen, wäre es sicher das Beste, wenn Sie mich nicht sofort kon taktierten, da das nur Verdacht erregen würde. Sie erin nern sich, dass Lord Allistair ausdrücklich darauf hinge wiesen wurde, keine Hilfe zu suchen.« 146
»Sicher. Aber wie soll dann meine Anwesenheit er klärt werden?« »Ganz einfach: Sie sind ein entfernter Cousin Lady Allistairs, und Sie begleiten die beiden auf einen kurzen Ausflug aufs Land. Ich glaube nicht, dass die Verbrecher eine Verbindung entdecken werden. Falls doch, machen Sie sich vorsichtshalber auf das Schlimmste gefasst. Au ßerdem ist da noch etwas, das Sie wissen sollten: Keiner der Bediensteten in Strathcombe kennt den wahren Grund für den Landausflug der Allistairs. Aus Sicher heitsgründen sollte dies auch so lange wie möglich ge heim bleiben.« »Ich verstehe.« »Außerdem brauche ich angesichts der Gefühlslage von Lord und Lady Allistair wohl nicht ausdrücklich zu erwähnen, dass Sie besser nichts über die schrecklichen Geschehnisse an Bord der Matilda Briggs …« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen – ich werde die Riesenratte aus Sumatra mit keinem Wort erwäh nen.« »Ausgezeichnet!«
Am nächsten Morgen stand ich früh auf und packte mei ne Reisetasche. Zusätzlich steckte ich einen Webley Smith-Revolver ein, eine Schachtel mit Patronen, einen Feldstecher sowie Holmes’ Fliegenrute aus gesplisstem Bambusrohr, die er mir nur allzu gerne auslieh. »Ich bezweifle, dass Sie Gelegenheit haben werden, sie zu benutzen, aber es macht Ihren Auftritt überzeugen 147
der«, erklärte er beim Frühstück, während er einen Muf fin aß. »Und vergessen Sie um Himmels willen nicht die Karten – Sie sollten sich so rasch wie möglich mit der Umgebung vertraut machen. Am besten brechen wir um gehend auf; der Zug nach Shrewsbury geht in einer Stun de.« Der Bahnhof in Paddington war überfüllt; wir irrten eine ganze Weile, die uns wie eine Ewigkeit vorkam, um her, bevor wir die Allistairs entdeckten, wie sie gerade den zweitletzten Waggon bestiegen. »Wenn sie meinen Anweisungen gefolgt sind, haben sie das ganze Abteil für sich gebucht. Das garantiert Ih nen Bequemlichkeit, Sicherheit und Abgeschiedenheit. Wie auch immer, Sie sollten auf jeden Fall Ihre Pistole bereithalten und nicht im Gepäck verstauen.« Ich tat, wie mir geheißen, und bestieg den Wagen. Ich fand das Abteil, betrat es und wurde herzlich von meinen neuen Bekannten begrüßt. Ihre Stimmung schien sich gebessert zu haben. Was immer es auch sein mochte – ob die frische Morgenluft oder die Aussicht darauf, dass ihre Prüfung sich so oder so dem Ende zuneigte –, ich konnte es nicht sagen, aber sie erschienen beinahe fröhlich, auch wenn die Sorge und die Angst hin und wieder in ihren Gesichtern aufblitzte. Ich zog das Fenster des Abteils nach unten, um Holmes auf Wiedersehen zu sagen. »Viel Glück Ihnen allen, einschließlich Ihrer Toch ter«, rief Holmes, als der Zug anfuhr. »Und, Watson, den ken Sie daran, sich täglich mit mir in Verbindung zu set zen. Ich stoße zu Ihnen, sobald ich kann.« Und dann wandte er sich beinahe überhastet ab, steu 148
erte auf die dichteste Menschenmenge zu und ver schwand wie ein Stein im Wasser. Fast unmittelbar darauf entdeckte ich einen anderen Mann, der ihm in die Menge folgte. Aufgrund unserer zunehmenden Geschwindigkeit konnte ich nur einen flüchtigen Eindruck erhaschen, aber der Mann schien seinem Auftrag sehr entschlossen, beinahe grimmig nach zugehen. »Wer mag das sein?«, fragte Lord Allistair. »Ich habe keine Ahnung, aber mir gefällt sein Verhal ten ganz und gar nicht«, erwiderte ich. »Mein Freund hat mich mehr als einmal gewarnt, vorsichtig zu sein. Ich kann nur hoffen, dass er seinen eigenen Rat befolgt.« Diese unerwartete Wendung ließ die zweistündige Zugfahrt sehr viel langsamer vergehen, als man eigentlich hätte annehmen können. Ich konnte den Gedanken da ran, dass Holmes möglicherweise in Lebensgefahr schweb te, nicht verdrängen. Folglich stieg ich beim nächsten Halt aus dem Zug und verschickte mein erstes Tele gramm, wenn auch viel früher als vereinbart. Es lautete: »Achtung, heute Morgen ist Ihnen jemand in Paddington gefolgt!« Ein wenig erleichtert, verbrachte ich den Rest der Rei se in angenehmer Konversation mit Lord Allistair und seiner liebenswürdigen Gattin. Das sanfte Schaukeln des Waggons sowie das einschläfernde Rattern und Klappern der Räder ließen Lady Allistair bald in einen leichten Schlummer fallen, aus dem sie immer wieder aufwachte. Lord Allistair und ich unterhielten uns über Holmes’ letz te Heldentaten und versicherten uns gegenseitig, dass, 149
wenn es jemanden gab, der die Dinge wieder richten konnte, es zweifellos Sherlock Holmes war. Dann jedoch zeigte er mir etwas, das die ganze Anspannung sogleich wieder zurückbrachte: einen prallen Lederbeutel. Als Lord Allistair ihn öffnete, raubte mir der Anblick des In halts fast den Atem: 100.000 £ in kleinen und mittleren Geldscheinen. Ich zog die Vorhänge des Abteils fest zu und legte die geladene Pistole neben mir auf den Sitz. Der Rest der Reise verlief ereignislos. Seine Lordschaft schwelgte in Erinnerungen an seine Jugend auf dem Lan de in Cornwall und seine ersten Jahre im Parlament, und ich schätzte mich glücklich, die Bekanntschaft eines solch illustren Mannes gemacht zu haben. Draußen zog die Landschaft vorbei; die Wiesen und Weiden wurden nach und nach von dichten Wäldern und felsigen Hü geln abgelöst. Die Zivilisation verlor sich langsam aus un serem Blickfeld, immer weniger Bauernhöfe und Dörfer tauchten auf. »Wir fahren soeben in das Tal des Severn«, erklärte Lord Allistair. »Im Süden bietet es ein Paradies für den Sportsmann: Klare Seen und tiefe Wälder gibt es dort im Überfluss; die einzigen offenen Areale sind steinige Wie sen und die gelegentlichen Lichtungen, die für Höfe und Häuser geschlagen wurden.« »Die Wälder sind hier sehr dicht, nicht wahr?« »Ah, ich sehe, Sie waren noch nie zuvor in diesem Teil Englands, Dr. Watson. Hier finden Sie die schönsten Wälder im ganzen Land. Sie sind noch ursprünglich, und sie waren viele Jahrhunderte lang das bevorzugte Jagdre vier der englischen Könige. Sie bestehen hauptsächlich 150
aus Eichen und Buchen. Einige der älteren Bäume, die noch aus dem Mittelalter stammen, sind riesig.« Ich war verblüfft, Bäume zu sehen, deren Stämme so groß wie ein Cottage und deren Äste so groß wie Baum stämme waren. Die Wälder verströmten eine unheimli che, übernatürliche Atmosphäre; ihre Größe und Pracht überstiegen jede Vorstellung. Man erwartete jeden Au genblick, Kobolde, Hexen und Ungeheuer auftauchen zu sehen. Ein paar Minuten später verlangsamte der Zug seine Geschwindigkeit. Wir näherten uns unserem Ziel. Über dem Zischen des Dampfes und dem Quietschen der Bremse konnte man schwach das Läuten der Zugglocke hören. Wir sammelten unser Gepäck ein (besonders sorgfältig natürlich den Beutel, der das Vermögen an Lösegeld ent hielt) und verließen das Abteil. Ich ging voran, meine Reisetasche und die Angel in der linken Hand, die rechte wie beiläufig in meiner Manteltasche um den Revolver griff gelegt. Zwar wollte ich den Allistairs keinen unnöti gen Schrecken einjagen, aber ich wusste, dass der Bahn hof oder seine unmittelbare Umgebung der nahe liegende Ort für einen Hinterhalt war, falls die Entführer früh an das Geld kommen und entfliehen wollten. Der Korridor war jedoch leer, und wir betraten den Bahnsteig ohne Zwischenfall. Als angenehme Überraschung erwies sich auch, dass außer uns nur noch ein älteres Paar ausstieg. Offensichtlich war uns niemand von London aus gefolgt. Wir wurden pünktlich von Brundage empfangen, dem Vorsteher des Hauspersonals von Strathcombe. Er war 151
ein Mann in mittleren Jahren, kahlköpfig, mit grauen Schläfen und einem verträumten, wehmütigen Ge sichtsausdruck. Die Begrüßung der Allistairs verlief ausge sprochen bewegt: Bei allen dreien blieb kein Auge tro cken. Ich deutete dies als ein weiteres gutes Zeichen – der Vorstand des Haushaltes war offensichtlich ein langjähri ger und vertrauenswürdiger Bediensteter, der der Familie sehr verbunden war. Während er unser Gepäck fach männisch im Landauer verstaute, sah ich mich aufmerk sam um. Der Bahnsteig lag verlassen da, bis auf ein paar schwatzende Bauernlümmel, die ich für Farmarbeiter hielt, und einen herumlungernden Zigeuner. Alles in allem fühlte ich mich wesentlich besser, als wir die offene Kutsche bestiegen und in Richtung Strathcombe aufbrachen, das etwa elf Meilen entfernt lag. »Wir werden im White Hart in Rutlidge zu Mittag es sen«, rief Lord Allistair seinem Diener zu, als wir losfuh ren. Shrewsbury ist eine kleine, aber blühende Stadt, deren Haupteinnahmequelle die Gerberei ist. Außerdem ist sie ein Umschlagplatz für die verschiedenen Mineralien und das Holz aus den umliegenden Gegenden. Wir umfuhren den hübschen Stadtpark und holperten durch einige enge Straßen, die alle von schwarzweißen Holzhäusern ge säumt waren. Als wir die Stadt verließen, konnten wir einen kurzen Blick auf die alte Abtei und die Burg erha schen, die die Sachsen im elften Jahrhundert als Bollwerk errichtet hatten. Kurz darauf ließen wir jedoch alle Spu ren der Zivilisation hinter uns, und die Straße führte mit 152
ten durch jenen riesigen Wald, den ich vom Zug aus ge sehen hatte. Die einzige Abwechslung in dieser zerklüfteten und wilden Landschaft bildete das Dorf Rutlidge, das aus knapp zwei Dutzend Häusern bestand, unter ihnen das reizende Landgasthaus mit dem Namen White Hart. Wir nahmen ein ausgezeichnetes, herzhaftes Mahl ein, bestehend aus kaltem Schinken, Rahmkartoffeln, Pud ding und Apfelwein. Weder der Wirt noch die wenigen Gäste, die sich im Speisesaal aufhielten, zeigten das ge ringste Interesse an uns. Offensichtlich erkannten sie noch nicht einmal das berühmte Ehepaar. »Wir sind in dieser Gegend nicht sehr bekannt«, er klärte Lady Allistair. »Zwar kennt man uns dem Namen nach, aber ich bezweifle, dass es hier mehr als ein gutes Dutzend Leute gibt, die uns vom Aussehen her kennen. Wie wir Ihnen bereits erzählt haben, verbringen wir nicht viel Zeit auf dem Land, und wenn wir es tun, blei ben wir meist unter uns.« Welche Ironie, dachte ich, dass dieses freundliche, einfache Landvolk derart unbelastet seinem Tagwerk nachging, nicht ahnend, dass eine der prominentesten politischen Persönlichkeiten Englands unter ihnen weil te, noch dass hier wahrscheinlich innerhalb weniger Tage ein schicksalsschwerer Austausch stattfinden würde. »Raus hier!«, hörte ich plötzlich den Gastwirt rufen. Er stürmte in den Speisesaal, mit einem Ausdruck der Abscheu auf seinen groben Gesichtszügen. Hinter ihm erblickte ich eine Gestalt, die widerstrebend durch die dunkle Eingangshalle des Gasthauses auf den Ausgang zu 153
schlich. Als sie die Tür öffnete, um hinauszugehen, sah ich, dass es sich um einen Zigeuner handelte, unverkenn bar an seinen Ohrringen, dem Schlapphut und dem dun kelhäutigen Gesicht. Außerdem fiel mir auf, dass es sich um denselben Burschen handelte, der sich auf dem Bahn steig herumgetrieben hatte. Niedergeschlagen schlender te er langsam in die Herbstsonne hinaus. »Entschuldigen Sie die Störung«, meinte der Gastwirt, als er an unserem Tisch vorbeikam, »aber ich fürchte, ich habe jede Geduld verloren, was diesen Lümmel betrifft. Seit zwei Tagen lungert er nun schon hier herum.« »Und vorher haben Sie ihn nie gesehen?«, fragte ich. »Nicht, dass ich mich erinnern kann, Sir, nein. Aber die Burschen kommen und gehen. Leben vom Diebstahl und vom Wildern. Bei den üblen Angewohnheiten und den schlechten Manieren ist es kein Wunder, dass sie nir gendwo länger bleiben können. Oh, es gibt viele hier in dieser Gegend. Sie mögen die Wälder, denn die bieten ihnen Schutz vor der Polizei. Außerdem gibt es dort ’ne Menge Wild und viele Fische, von denen sie leben kön nen. Ja, es gibt ’ne Menge Zigeunerlager hier in der Um gebung, aber an diesen Tunichtgut da erinnere ich mich nicht, nein, Sir.«
Die frühe Nachmittagssonne war für einen Herbsttag sehr warm, und so reisten wir in einem gemächlichen Tempo weiter. Das Pferd, das den Weg kannte, trottete langsam vor sich hin, und Brundage vergaß bald, dass er eine Peit sche und Zügel hatte. Die Farben des Herbstes bekamen 154
gerade erst ihre kräftigen Rot- und Goldtöne, und der Wind war schwer vom Duft des Laubes und des Fallobs tes. Lord und Lady Allistair saßen Hand in Hand auf dem Rücksitz. Offensichtlich waren sie noch immer von tiefer Liebe zueinander erfüllt und genossen es, einander ihre Zuneigung zu zeigen. Der Gedanke daran, dass irgendwo in der näheren Umgebung Verbrecher lauerten, die sich zu einer solch schändlichen Tat wie der Entführung ihrer Tochter herabließen, erfüllte mich mit Zorn und Ab scheu. Kurz darauf ließen wir den Buchenwald hinter uns und fuhren einen lang gestreckten Hügel hinauf, von dessen Kuppe aus man einen ausgezeichneten Blick über die ganze Landschaft hatte. Hier gab es aufgrund der zahlrei chen Felsen und Abhänge weniger Bäume. Als ich zurück zum Wald blickte, glaubte ich eine leichte Bewegung am Straßenrand auszumachen. Ohne etwas zu sagen, nahm ich den Feldstecher aus dem Lederetui und sah hindurch. Etwa eine Meile hinter uns ritt ein Mann auf einem Pferd. Obwohl er sich noch im Wald befand, konnte ich seine Gestalt deutlich erkennen, als er durch die zahllo sen Sonnenstrahlen ritt, die das Zwielicht der dicht ste henden Bäume durchbrachen. Für einen kurzen Augen blick war er ganz vom schräg einfallenden Licht beleuch tet, und ich hatte keinen Zweifel mehr: Es war der Zigeu ner. Dass dieser Mensch zum dritten Mal in unserer Nähe auftauchte, scheinbar ziellos umherwandernd und den noch in unsere Richtung reisend, beunruhigte mich. Hät te Holmes ihn dabei ertappt, hätte er zweifellos darauf hingewiesen, dass diesem Mann eine unheilvolle Ziel 155
strebigkeit anhaftete – dass, obwohl möglich, ein Zufall doch recht unwahrscheinlich erschien. Der Zigeuner ver folgte uns. Ich wollte Brundage schon auffordern, umzu drehen, um den Burschen zu stellen und ihm mit meinem Revolver zu drohen. Doch dann erinnerte ich mich an die Anweisung der Entführer, weder die Polizei noch sonst jemanden einzuschalten. Ein Blick auf die Al listairs, die all ihre Hoffnung und ihr Vertrauen in mich gesetzt hatten, und mir war klar, dass dies ein närrisches Verhalten gewesen wäre, so sehr es mich auch danach drängte, etwas zu unternehmen. Nur kurze Zeit später erreichten wir die Spitze eines weiteren Hügels. Erneut blickte ich zurück. Selbst mithil fe des Feldstechers konnte ich niemanden auf der Straße entdecken. Der Mann war im Wald verschwunden. Ein wenig erleichtert, verstaute ich das Glas wieder in seinem Etui und verbrachte, den Vorfall mit keinem Wort er wähnend, den Rest des Weges schweigend. Anders als die meisten Landhäuser, die ich kannte, war Strathcombe dem Blick des Vorbeireisenden mehr oder weniger verborgen. Es besaß weder eine offene Zu fahrt auf das Gelände, noch war es von einem hohen Zaun mit kunstvollem Tor umgeben. Vielmehr war es halb in ein kleines Wäldchen mit hohen Bäumen hi neingebaut, das die Sicht auf das Haus und die Gebäude beinahe vollständig versperrte. Man näherte sich diesem Anwesen nicht, sondern stolperte nach und nach fast zu fällig darüber. Der Kiesweg beschrieb einen Bogen, und wir kamen an mehreren Nebengebäuden vorbei, bevor das Haus selbst vollständig sichtbar wurde. 156
Mit einem Geschick, das von langer Erfahrung zeugte, wendete Brundage die offene Kutsche. Wir stiegen aus und betraten die Steintreppe, die sich allmählich zu der offenen Terrasse auf der Vorderseite weitete. Nachdem wir hinaufgestiegen waren, blieben die Allistairs und ich kurz auf dieser Backsteinterrasse stehen, um die Aussicht zu genießen. Die Terrasse, die von einer alten, moosbe fleckten Steinbalustrade eingefasst wurde, blickte über ein weites Tal hinaus, durch das sich ein breiter Forellen bach schlängelte. Gruppen von Weiden säumten den Fluss, und die Wiesen an beiden Ufern grenzten an Waldgebiet. Außer den kleinen Nebengebäuden war kein Anzeichen von Zivilisation zu entdecken – nicht einmal das Cottage eines Bauern oder der Turm einer Kirche. Die untergehende Sonne färbte den Himmel im Westen bereits rot und schien beruhigend auf die Allistairs zu wirken. Für jemanden wie mich, der an den Lärm der Stadt gewöhnt war, boten die zahllosen Vogelstimmen in der Tat eine angenehme Abwechslung: das Zwitschern und Tschilpen der Schwalben, die mit ihren halbmond förmigen Flügeln durch die Dämmerung segelten, sowie das Trillern der Lerchen und Amseln. Nachdem man mir meine Unterkunft zugewiesen hat te, die aus einem Schlafzimmer, einem Ankleideraum und einem Wohnzimmer bestand, packte ich meine Sa chen aus und zog mich für das Abendessen um. Als ich das erledigt hatte, breitete ich die Karten vom Anwesen, die Holmes mir gegeben hatte, auf dem Bett aus, und in dem ich immer wieder aus dem doppelflügligen Fenster blickte, begann ich mich langsam zu orientieren. 157
Im Erdgeschoss des Hauses befanden sich vier große Räume, die sich um die große Eingangshalle gruppierten. Im Obergeschoss gab es zehn kleinere Räume, die zweifel los einmal als Schlafzimmer für Gäste gedient hatten. In zwischen waren die Zimmer jedoch in drei Suiten aufge teilt, von denen ich nun eine belegte. Meine Suite be fand sich im linken Flügel und ging zur Vorderseite, wo mit man eine fabelhafte Aussicht auf den Hauptzugang zum Haus hatte. Im schwindenden Licht des Tages ver mochte ich kaum den grauen Turm des alten Kalkofens auszumachen. Aus den Augenwinkeln nahm ich plötzlich eine Be wegung neben dem Kalkofen wahr. Es war ein Mann auf einem Pferd. Konnte es der Zigeuner sein? Besaß er wirk lich die Unverschämtheit, uns bis nach Strathcombe selbst zu folgen und den Grund und Boden der Allistairs zu betreten? Ich nahm das Fernglas zur Hand, um ihn bes ser sehen zu können. Nein, bei dem Mann handelte es sich eindeutig nicht um den Zigeuner: Er hatte blondes Haar. Ich konnte ihn jedoch nur für einen kurzen Au genblick betrachten, denn er riss sein Pferd herum, ga loppierte über die Wiese und nahm die steinerne Mauer mit einem gewaltigen Sprung. Wer immer es sein mag, dachte ich, reiten kann er! Wer war dieser Mann? Ich musste daran denken, Lord Allistair zu fragen. Ich fuhr fort, die Gegend von meinem Aussichtspunkt aus zu betrachten, und ließ meinen Blick über die Wiesen und die dahinter liegenden Wälder schweifen. Holmes hatte Recht: Die Entführer hatten den Ort in der Tat klug gewählt. Versteckt im Wald oder in den zerklüfteten Hü 158
geln, waren sie abgeschieden und sicher. Sie zu suchen würde Dutzende von Männern und Pferden erfordern, von Hunden ganz zu schweigen. Zweifellos würde dieses Vor gehen das Schlimmste für Miss Allistair bedeuten. Nein, die Verbrecher konnten so lange sie wollten in Sicherheit bleiben, das stand fest. Zudem würden die nahe gelegenen Wälder und die zerbrochenen Steinmauern es ihnen er lauben, sich nahe an das Haus heranzuschleichen, ohne entdeckt zu werden. Sie konnten also kommen und ge hen, wie es ihnen beliebte, um Briefe mit Anweisungen zu hinterlassen, und letztendlich auch, um das Lösegeld ab zuholen. Ein altes Soldatensprichwort besagt, dass man den unsichtbaren Feind am meisten fürchtet. Ich habe immer daran geglaubt, und wie ich nun so in dieser verlas senen Gegend im Zwielicht am Fenster stand, da war ich zutiefst von der Wahrheit des Sprichwortes überzeugt. Dass hinter der Entführung eindeutig ein sorgsam ausge arbeiteter Plan steckte, der von hoher Intelligenz zeugte, steigerte mein Unbehagen nur noch mehr. Ich vermisste jetzt schon Holmes’ Gegenwart und Unterstützung. Nichtsdestotrotz setzte ich eine muntere, beinahe heitere Miene auf und ging nach unten, um Lord und Lady Al listair in der großen Halle zu treffen, entschlossen, die Rolle, die Holmes mir zugedacht hatte, zu erfüllen. Die Geschichte Strathcombes als Jagdhaus wird einem Besucher nie deutlicher vor Augen geführt, als wenn er, mit einem Glas in der Hand, unter den zahllosen Jagd trophäen einherschlendert, die mit klagenden Blicken von den hohen, dunklen Wänden der großen Halle auf ihn hinunterstarren. 159
»Die Gegend ist hauptsächlich für ihre Wildschweine berühmt«, erklärte Lord Allistair, während er mir nach schenkte. »Aber es gibt auch prachtvolle Hirsche hier. Früher hielten wir uns sogar eine Meute Hunde, um sie zu jagen, in den letzten Jahren jedoch nicht mehr.« Mein Blick wurde von einem wuchtigen Kopf über dem Kamin der Halle gefangen genommen. Er war so groß wie der Schädel eines Fohlens und mit gebogenen elfenbeinernen Stoßzähnen von der Länge eines mensch lichen Fingers versehen. »Dieser Eber wurde vor drei Jahren von Graf Le Moy ne während eines offiziellen Besuches in dieser Gegend erlegt. Er überließ uns den Kopf für die Halle, als Zeichen seines Wohlwollens.« »Er ist gewaltig. Damit wollen Sie doch wohl nicht sa gen, dass Kreaturen wie diese durch die hiesigen Wälder streifen?«, fragte ich. »Aber sicher doch, Dr. Watson. Sie können bis zu vier Zentner schwer werden. Zum Glück ist Le Moyne ein ausgezeichneter Schütze, denn es waren zwei Schüsse aus einer Holland und Holland Doppelflinte nötig – und zwar aus nächster Nähe –, um das Biest zu stoppen. Ich kann Ihnen versichern, dass er heute nicht mehr unter den Le benden weilen würde, wäre einer der beiden Schüsse daneben gegangen.« Ich starrte voller Ehrfurcht auf den Kopf, dessen Züge in einer grässlichen, zähnefletschenden Grimasse erstarrt wa ren. In der Tat, wir befanden uns in einem wirklich wilden Landstrich, und diese Erkenntnis ließ mich nur noch mehr um die Sicherheit von Alice Allistair fürchten. 160
»Wenn Sie mir die Unterbrechung gestatten, Sir«, warf Brundage ein, »Ian Farthway, der Wildhüter, hat mich darüber informiert, dass kürzlich ein weiterer Eber im Flusstal aufgetaucht ist. Seinen Spuren nach zu schlie ßen, scheint er noch größer als dieses Exemplar hier zu sein.« »Was Sie nicht sagen!«, erwiderte Lord Allistair. »Dann muss er wirklich riesig sein. Wollen wir hoffen, dass sein Temperament nicht seiner Größe entspricht. Vielleicht würde unser Freund Dr. Watson ihn gerne er legen?« »Nein, vielen Dank«, wehrte ich ab. »Seit ich selbst angeschossen wurde, mache ich um Schusswaffen einen großen Bogen, außer wenn ich mich verteidigen muss.« »Nun denn, da ich die Abneigung des Doktors gegen den Jagdsport teile, wollen wir das Wildschwein nach Lust und Laune im Tal umherstreifen lassen.« »Bei Bedarf wird es schnell aufzufinden sein, Euer Lordschaft«, fuhr Brundage fort. »Farthway behauptet, es hinterließe eine ganz eigentümliche Spur …« »Eine eigentümliche Spur? Was meinen Sie damit, Brundage? Raus mit der Sprache!« »Offensichtlich hinterlässt dieser Eber einen dreizehi gen Abdruck, keinen paarzehigen. Zweifellos eine Miss bildung, Sir.« »An einem Fuß oder an allen vieren?«, fragte ich. »Das weiß ich nicht, Sir.« »Nun, in der Tat eine kuriose Sache. Aber ich glaube, Doktor, Meg hat jetzt das Abendessen angekündigt.« »Erzählen Sie mir mehr von diesem Farthway«, bat 161
ich, während wir uns auf den Weg zum Speisesaal mach ten, die Gläser mit dem Rotwein in der Hand. »Unser Wildhüter – kennt die Gegend wie die Innen fläche seiner Hand.« »Ein blonder Bursche – ausgezeichneter Reiter?« »So ist es – Sie sind ihm begegnet?« Ich erklärte ihm, wo ich Farthway gesehen hatte, und dann betraten wir den Speisesaal. Unser Abendessen verlief angenehm, die Stimmung war nur leicht gedrückt, wenn man bedachte, welch enorme Anspannung meine vortrefflichen Gastgeber zu verbergen versuchten. Das Rebhuhn war vorzüglich, be gleitet von einer köstlichen Orangensauce und einer aus gewählten Flasche Burgunderwein. Als das Mahl beendet war, entschuldigte sich Lady Allistair und zog sich in ihre Gemächer zurück. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, als sie die Treppe hinaufstieg, war sie wohl den Tränen nah. So betrübt ich auch darüber war, wusste ich als Mediziner doch, wie befreiend Tränen wirken konn ten, und hoffte, dass es ihr helfen würde einzuschlafen. Nachdem sie uns verlassen hatte, setzten Lord Allistair und ich uns vor das heruntergebrannte Kaminfeuer. Jetzt, da seine Frau nicht mehr in der Nähe war, wurde der Tonfall seiner Lordschaft härter, geprägt, wie ich spürte, von einem gesunden Realismus. Als ich ihn so reden hör te, wurde mir eine andere Seite seines ansonsten so güti gen Wesens bewusst: Sein eiserner Willen offenbarte sich sowie seine leidenschaftliche Entschlusskraft, selbst gegen langwierige widrige Umstände durchzuhalten. »Gott weiß, wo sie sie versteckt haben«, sagte er mit 162
gedämpfter Stimme, »aber ich glaube, es wird das Beste sein, ihnen nicht nachzuspüren …« »Nein, wir müssen auf alle Fälle abwarten, auch wenn es lange dauert …« »Richtig. Wir sollten eine friedliche, wenn auch kost spielige Lösung für dieses Problem anstreben. Das Geld bedeutet mir gar nichts; selbst wenn es sich um meine letzten Ersparnisse handeln würde, wäre es mir egal. Aber wenn sie meiner Tochter auch nur ein Haar gekrümmt haben …« Er packte die Armlehnen seines Sessels, bis die Knö chel an seinen Händen weiß hervortraten. »Beruhigen Sie sich, Lord Allistair, ich bin mir sicher, dass sie unverletzt zurückkehren wird.« »Ah, wenn es nur so wäre! Ich mache mir jedoch kei ne Illusionen über die große Gefahr, in der sie schwebt, Doktor. In der Tat, das Einzige, was meinen Zusammen bruch verhindert, ist die Abstumpfung, die diese viel zu lange Wartezeit mit sich gebracht hat.« Ich nickte voller Mitgefühl. »Aber, Doktor, hier ist noch etwas ganz anderes mit im Spiel. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Entfüh rer außer dem Lösegeld noch etwas anderes wollen: per sönliche Rache an mir – oder meiner Frau.« »Wie kommen Sie darauf?« »Warum haben wir über zwei Monate kein Wort von Alice gehört? Warum, wenn doch ein kurzes Telegramm – in aller Diskretion und Sicherheit abgeschickt – genügt hätte, unser Leiden nachhaltig zu lindern.« »Ah, ich sehe, was Sie meinen. Und dennoch haben 163
die Entführer bis vor kurzem keine Nachricht geschickt und Sie über zehn Wochen in Ihrem Elend belassen.« »Wer könnte einen derartigen Hass gegen mich emp finden? Natürlich habe ich Feinde, wie jeder, der in der Öffentlichkeit steht. Doch diese betrachte ich als politi sche Gegner – nicht als persönliche.« »Und Sie können sich an niemanden in Ihrer Vergan genheit erinnern, der Sie vorsätzlich derart quälen wür de?« Er legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. »Nein«, antwortete er schließlich. Und ich war nicht im Geringsten darüber erstaunt. Wenn es einen Menschen gab, dem es gelungen war, an die Macht zu kommen, ohne sich dabei Feinde zu schaf fen, dann war es Lord Peter Allistair. Als ich den Mann betrachtete, der nur ein paar Schritt von mir entfernt saß, wurde mir bewusst, wie alt er mit einem Male aussah. Die wieder aufkeimende Hoffnung, die lebhafte Zuversicht, die er auf unserer Reise hier hinaus aufs Land ausgestrahlt hatte, waren also nur vorgetäuscht gewesen, eine Vorstel lung, die er vielleicht mir zuliebe gegeben hatte. Zweifel los standen diese beiden – im wahrsten Sinne des Wortes – noblen Menschen kurz davor, an dieser leidvollen Er fahrung zu zerbrechen. Als ich Lord Allistair gute Nacht wünschte, erneuerte ich meinen Entschluss, alles in mei ner Macht Stehende zu tun, damit Alice Allistair wieder gesund und wohlbehalten zurückkehrte. Die Reise und die nervliche Anspannung hatten mich erschöpft. Doch obwohl ich mich nach meinem Bett 164
sehnte, setzte ich mich an den Schreibtisch Seiner Lord schaft und schrieb das folgende Telegramm an Sherlock Holmes: HOLMES: TÄGLICHER BERICHT WIE ABGESPROCHEN. SICHER IN STRATHCOMBE ANGEKOMMEN. PERSONAL SCHEINT LOYAL, GEGEND JEDOCH BEDROHLICH. KEINE BESONDEREN VORFÄLLE, AUSSER DASS UNS EIN ZIGEUNER FOLGTE. BRIEF FOLGT – HOFFE, SIE KOMMEN BALD. WATSON. Ich versiegelte die Nachricht und versah sie mit Instruk tionen für Brundage, der sie früh am nächsten Morgen in die Baker Street senden sollte. Erst danach stieg ich mit müden Gliedern und schwerem Herzen die geschnitzte Eichentreppe hinauf in mein Bett.
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KAPITEL 7
Erkundungen
War es der Sonnenschein, der mein Schlafzim mer durchflutete, oder vielleicht das Trällern der Singvö gel und Finken vor meinem Fenster, die meine Stimmung am nächsten Morgen derart verbesserten? Ein anderer Grund, der besonders mir als Arzt ein leuchtend erschien, war zweifellos die Tatsache, dass der menschliche Geist sehr anpassungsfähig und schwunghaft ist; wir können nur eine ganz beschränkte Zeit in einem verängstigten, niedergeschlagenen Zustand verweilen, bis sich eine Stimme tief in uns meldet und »Genug!« schreit. Und dann schöpfen wir aus der Tiefe unseres Wesens eine Stärke und einen Optimismus, von denen wir vorher selbst nicht wussten, dass wir darüber verfü gen. Ich zog mich an und leistete meinen Gastgebern bei einem herzhaften Frühstück Gesellschaft, das aus Rührei, gebratener Forelle und viel Toastbrot und Honig bestand. Danach bat ich Lord Allistair, mir das Anwesen zu zei gen, ein Vorschlag, den er gerne aufgriff. Es war ein herr licher Morgen, die Luft war frisch und roch nach Herbst. Ich zog mir einen Jagdmantel an und hängte, Holmes’ strikten Anweisungen folgend, eins von Lord Allistairs selten benutzten Gewehren über die Schulter, eine 166
prächtige Purdey vom Kaliber .12. Natürlich hatte ich den Vorschlag zu dem Rundgang vor allem deshalb ge macht, weil Holmes es ja für vordringlich hielt, dass ich mich mit dem Anwesen und seiner Umgebung vertraut machte und mir vor allem jene Stellen ansah, die mögli cherweise als Versteck dienen konnten oder einen heim lichen Zugang zum Haus boten. »Ich werde Ihnen zuerst die Hundezwinger zeigen«, sagte Lord Allistair. »Sie sind in bestem Zustand, da sie bis vor kurzem noch benutzt wurden.« Wir schlenderten über den Rasen zu einem niedrigen Haus aus Stein mit einem Schieferdach, das noch fast vollständig intakt war. Ich blickte hinein und entdeckte zwei niedrige Gänge und etwa ein Dutzend Boxen. Das Gebäude befand sich etwas mehr als hundert Meter vom Haupthaus entfernt. »Die Pferdeställe sind natürlich noch in Gebrauch«, fuhr Lord Allistair fort. »Ich werde Sie Ihnen zeigen, wenn wir Wiscomb getroffen haben.« »Das ist Ihr Stallbursche?« »Sowohl Stallbursche als auch Gärtner. Er ist schon eine ganze Weile bei uns, sogar länger als die Brundages – ist inzwischen ein bisschen wacklig auf den Beinen …« »Halten Sie ihn für vertrauenswürdig?«, warf ich ein. »Oh, vollkommen!« »Ich will nicht neugierig erscheinen«, fuhr ich fort, »aber es wäre äußerst hilfreich, wenn Sie mir kurz etwas über Ihre Angestellten erzählen könnten.« »Ah, da höre ich doch die Stimme eines gewissen ge meinsamen Freundes, nicht wahr?« 167
Ich gab offen zu, dass Holmes mir bestimmte Instruk tionen gegeben hatte. »Dann werde ich Ihrem Wunsch natürlich nachkom men und Ihnen auf unserem Rundgang alles erzählen, was ich weiß.« Während wir über das Grundstück schlenderten, ge folgt von unseren Schatten, die das Licht der frühen Mor gensonne auf den Rasen warf, erhielt ich also eine kurze Beschreibung von jedem einzelnen Haushaltsmitglied. Die Brundages waren bereits seit mehr als zwanzig Jah ren bei der Familie in Stellung und zeichneten sich durch überdurchschnittliche Loyalität und Dienstbereitschaft aus. Es war klar, dass wir sie, was unredliche Machen schaften jedweder Art betraf, von unserer Liste der Ver dächtigen streichen konnten. Es gab zwei Hausmädchen: Julia und Betsy, wobei Julia Lady Allistairs persönliches Dienstmädchen war und Betsy sich um Gäste des Hauses und Verwandtschaft kümmerte, die zu Besuch kamen. Beide gehörten erst kurz zum Haushalt, verfügten jedoch anscheinend über einen guten Charakter. Betsy litt aller dings zurzeit unter Liebeskummer und schien ein wenig aus der Fassung gebracht. »Ist es ein ortsansässiger Bursche?«, fragte ich. »Wer?« »Betsys Verehrer. Stammt er von hier?« »Das weiß niemand. Wir haben ihn nie zu Gesicht be kommen. Sie trifft sich mit ihm in der Stadt und spricht, wenn wir Julia glauben dürfen, nie von ihm. Doch hier sind die Flugkäfige, Doktor. Wie Sie sehen können, be finden sie sich in ziemlich schlechtem Zustand.« 168
Das Gebäude, dessen Dach fast vollständig zerfallen war, umfasste zwei Räume (für unterschiedlich große Vö gel, wie ich annahm), doch die Wände fehlten zum größ ten Teil. Als Versteck war das Gebäude, außer vielleicht bei Nacht, völlig ungeeignet. Der Kalkofen, den man an der vorderen Mauerbrüs tung errichtet hatte, war einzigartig. Sein Durchmesser betrug etwa sieben Meter, die Hohlkammer ragte nicht weniger hoch in den Himmel, und man erreichte sie über eine Lehmrampe für Fuhrwagen, die an einer Seite zum Ofen hinaufführte. Im Sockel war eine eiserne Tür ange bracht, durch die der gebrannte Kalk abtransportiert wor den war. Man hatte sie offensichtlich seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt. Wir sahen uns noch kurz den Forel lenteich und den Garten an und kehrten schließlich zu den Ställen zurück. »Bleibt nur noch Farthway, der Wildhüter«, fuhr Lord Allistair fort. »Von ihm weiß ich weitaus weniger als von den anderen, da er erst kürzlich, vor noch nicht einmal einem Jahr, in unseren Dienst getreten ist. Er ist ein ex zellenter Wildhüter. Aber ich habe manchmal den Ein druck, dass er hier nicht ganz glücklich ist. Er ist ein um triebiger junger Mann, der in der Black Watch, dem schottischen Highland Regiment, gedient hat. Manchmal frage ich mich, ob seine neue Stellung ihm nicht zu langweilig ist.« »Er hat in der Schwarzen Garde gedient?« »In der Tat, und obendrein noch als Offizier.« »Was Sie nicht sagen! Aber erfordert dies nicht noch immer gewisse finanzielle Mittel?« 169
»Gewiss. Ich glaube, dass er aus genau diesem Grund den Dienst quittiert hat. Natürlich handelt es sich da um reine Spekulation meinerseits. Es würde sich nicht gezie men, ihn danach …« »Nein, selbstverständlich nicht. Seine Familie könnte also in finanzielle Schwierigkeiten geraten sein.« »So sieht es aus. Ich meine mich zu erinnern, dass die Farthways früher eine der angesehensten Familien Schottlands waren. Nun – aus welchen Gründen auch immer: Farthway hat den Dienst quittiert und ist als Wildhüter zu uns gestoßen.« »Das kommt mir merkwürdig vor und stellt auf jeden Fall einen gesellschaftlichen Abstieg dar, oder nicht?« »Auf jeden Fall. Doch von allen Bewerbern war er der hartnäckigste und, wie Sie feststellen werden, der qualifi zierteste. Was jedoch seine Beweggründe betrifft – nun, wie ich bereits sagte, wir wissen nur sehr wenig über den Mann.« »Ich würde diesen Mr Farthway sehr gerne einmal kennen lernen«, sagte ich. »Dazu werden Sie ohne Zweifel bald Gelegenheit ha ben. Doch wir sind angekommen. Hallo, Wiscomb, wie ich sehe, haben Sie unsere Pferde bereits gesattelt.« Im Stall erwartete uns der eher ungehobelt wirkende alte Wiscomb. Ich sah das Zittern seiner Hände und die Farbe seiner Nase und schloss daraus, dass es sich bei ihm um einen Gelegenheitstrinker handelte, was Lord Al listairs Bemerkung erklärte, dass er »ein wenig wacklig auf den Beinen« sei. Er kam mir durchaus diensteifrig und höflich vor, als er uns in die Sättel half, doch welch inne 170
rer Dämon mochte ihn so quälen, dass er Trost im Alko hol suchte? »Sagen Sie Lady Allistair, dass wir zum Mittagessen zurück sind«, war alles, was Lord Allistair ihm auftrug, während er sein Pferd geschickt wendete und hinaus in den strahlenden Morgen preschte. Ich folgte ihm so gut es ging. Nach einem flotten Sprint hatten wir die nahe gelegenen Zäune hinter uns gelassen und die Wiese erreicht. Diesen Teil des Anwe sens deckte kurz geschnittenes Gras, das jedoch nach kaum zweihundert Metern in ein Waldgebiet aus alten Ei chenbäumen und riesigen Buchen überging, die mehr als dreißig Meter über uns aufragten. Wir ritten direkt in die ses natürliche Labyrinth hinein, alten, schmalen Pfaden folgend, die kreuz und quer scheinbar endlos tief in diese Wildnis hineinführten. Über uns bildeten die uralten Bäume ein dichtes Dach, doch da der Boden frei von Un terholz war, konnte man zwischen den massiven Stämmen recht weit in jede Richtung blicken. Lord Allistair erzähl te mir, dass es in jenen Zeiten, als Strathcombe noch als Jagdhaus diente, Brauch gewesen war, das Wild in vollem Galopp durch die Wälder zu jagen. »Und wir sind bis heute nicht die Einzigen, die diesen Landstrich als Jagdrevier nutzen, Dr. Watson«, fügte Lord Allistair hinzu, während er in leichtem Galopp neben mir im Zwielicht ritt. »Ich muss gestehen, dass ich hinsicht lich der Wilderei ein wenig nachlässig bin. Wissen Sie, diese Wälder dienen schon seit langem als vorübergehen der Unterschlupf für Holzfäller, Wilderer, Zigeuner und, wie ich befürchte, gelegentlich auch für Verbrecher jed 171
weder Art, denen es zur Gewohnheit geworden ist, hier zu jagen. Sie benutzen sowohl Gewehre als auch Schlin gen, ohne Rücksicht darauf, ob die Jagdsaison eröffnet ist oder nicht.« Er zügelte sein Pferd und deutete nach unten. »Hier sind Spuren ihres Kommens und Gehens. Noch deutlicher können Sie es im getrockneten Lehm am Flussufer sehen …« Der weiche Waldboden war übersät mit frischen Ab drücken, sowohl von Pferden als auch von Menschen. Lord Allistair, der sich offenbar in mitteilsamer Stim mung befand, fuhr fort: »Strathcombe ist, wie der Name besagt, ein breites Flusstal, das durch tiefe Wälder und steile Hügel schnei det. Obwohl es Reste von Steinmauern gibt, die den Park und die Gärten vom übrigen Gelände abtrennen, gibt es hier keine offiziellen Grenzmarkierungen; Mensch und Tier können frei durchs Land streifen, wie es ihnen ge fällt.« Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass mich Letzteres mit großer Sorge erfüllte. Wie sollte ich als Vertrauter und Beschützer der Allistairs für ihre Sicherheit garantie ren, wenn zahllose Durchreisende und zwielichtiges Ge sindel ungehemmt ihr Anwesen überqueren konnten? »Wie Sie sehen können, bietet das Terrain den Ent führern erhebliche Vorteile, Doktor. Die Karten, über denen Mr Holmes und ich gebrütet haben, erweisen sich bedauerlicherweise als korrekt: Es gibt ganz in der Nähe des Hauses zahlreiche Senken, Anhöhen und Steinmau ern und viel Dickicht. Selbst ein Kind könnte sich spie 172
lend unbemerkt anschleichen – vor allem in der Dunkel heit. Wie auch immer, der Grund für diesen kleinen Aus ritt ist der, dass ich Ihnen zwei Orte zeigen möchte, die besondere Aufmerksamkeit verdienen: der ›Turm‹ und ›Henry’s Hollow‹.« »Liegen sie in der Nähe?« »Oh, ja – der Turm liegt nur drei Viertelmeilen östlich von hier.« Nach knapp zwanzig Metern stießen wir auf eine kleine Lichtung. Lord Allistair drehte sich im Sattel um und hob den Arm. »Dort ist er.« Er deutete auf eine schroffe Felsspitze, die sich steil in den Himmel erhob. Sie sah in der Tat wie ein alter Festungsturm aus, zumin dest von der Seite. »Von der Spitze aus hat man einen exzellenten Blick über das gesamte Anwesen und das angrenzende Gelän de. Früher postierten wir dort immer einen Wildhüter, der die Jagd beobachten und die Hirsche ausfindig ma chen sollte. Mithilfe von Signalflaggen, die auf langen Stangen angebracht waren, lenkte er die Jäger dann dort hin, wo sich das Wild befand.« »Wie kommt man hinauf?«, fragte ich. »Es gibt einen gefährlichen Fußpfad, der sich bis zur Spitze um den Felsen windet. Der Gipfel ist kahl bis auf ein paar Büsche Farnkraut und einige verkrüppelte Kie fern, die aus Ritzen im Stein sprießen. Nicht weit vom Gipfel entfernt befindet sich ein flacher Felsvorsprung, unter dem eine kleine Höhle liegt, gerade groß genug, um ein paar Männern Schutz vor den Elementen zu bieten und ihnen als Schlafstätte zu dienen. Da, können Sie sie sehen?« 173
Knapp unterhalb der schroffen Spitze des Turmes konnte ich mit Mühe eine flache Felsbank ausmachen, und darunter eine dunkle Einbuchtung. Sie musste Dut zende von Metern über den Bäumen liegen. Unter den herrschenden Umständen war ich über diese Tatsache al les andere als erfreut. »Und der andere Ort?« »Wir reiten darauf zu.« Lord Allistair deutete mit der Reitpeitsche nach vorne. »Henry’s Hollow liegt knapp zwei Meilen von hier entfernt am Ende dieses Weges.« »Um was für einen Ort handelt es sich?« »Um einen sehr interessanten, das garantiere ich Ih nen. Wenn man der Legende Glauben schenkt, handelt es sich um einen historischen Ort. Doch ob die Ge schichte, die man sich darüber erzählt, nun wahr oder er funden ist, Henry’s Hollow ist ein unheimlicher Ort, da werden Sie mir sicher zustimmen. Es ist dieser Ort, der dem Besucher, der zum ersten Mal nach Strathcombe kommt, am nachhaltigsten im Gedächtnis bleibt.« Wir trotteten den kaum erkennbaren Pfad weiter, der mit Spuren von anderen Pferden, aber auch von Wild ge zeichnet war. Zweimal hielt Lord Allistair an und deutete auf weitere tiefe Eindrücke, die tief im harten Lehmbo den des Waldes eingesunken waren. »Ein Wildschwein«, erklärte er. »Aber offensichtlich nicht das Ungeheuer, von dem Brundage erzählt hat.« Die Pferde, die die Witterung des Ebers aufnahmen, scheuten leicht, und wir mussten sie nicht sonderlich an treiben, um unseren Ausflug mit erhöhtem Tempo fortzu setzen. Und so ritten wir also durch den Wald; das Laub 174
auf dem Boden raschelte unter dem Schlag der Pferdehu fe, Spechte hämmerten gegen die gewaltigen Baumstäm me, und Eichelhäher flogen aufgescheucht kreischend über unsere Köpfe. »Ah, Häher und Krähen sind die Wächter des Waldes. Niemand kann ihn betreten, ohne von ihnen angekün digt zu werden, wie Sie hören.« Ich war erstaunt darüber, wie weit das Geschrei der Vögel reichte, hallte es doch hunderte von Metern durch die moosbedeckten Bäume hindurch. Der düstere Wald schien sich bis ins Unendliche zu erstrecken. »Können Sie es sehen?«, fragte Lord Allistair ein paar Minuten später. »Ich kann nichts Außergewöhnliches entdecken«, ge stand ich und starrte weiter in das Zwielicht vor mir. Ein paar Sonnenstrahlen durchstachen hier und da in unre gelmäßigen Abständen das Blätterdach, aber selbst in de ren Licht konnte ich nichts Auffälliges erkennen. »Dann lassen Sie uns noch etwas näher heranreiten.« Niemals werde ich das Gefühl des Unheimlichen ver gessen, das mich ergriff, als ich schließlich irgendwann erkannte, dass ich bereits zehn Minuten lang auf jenen Ort starrte, den man Henry’s Hollow nannte. Selbst jetzt, da ich diese Worte schreibe, kann ich noch das Zittern und die Erregung spüren, die einen durchzucken, wenn man Zeuge von etwas Einzigartigem und Gewaltigem wird. Keine dreihundert Meter vor uns erstreckte sich eine Reihe von riesigen Eichen, deren Stämme alle so groß wie Kutschen waren. Der Abstand zwischen den Bäumen 175
war kaum größer als ihr Umfang. Ihre schweren unteren Äste – ein jeder so dick wie die meisten normalen Bäume – waren ineinander gewachsen und formten einen Wall, der so massiv wie die stärkste Festungsmauer war. Erst dann erkannte ich, dass die Reihe der Eichen nicht gera de war, sondern sich zu einem Kreis schloss. Wir stiegen ab, nahmen die Pferde an den Zügeln und näherten uns dem Ring der Giganten. Lord Allistair und sein Pferd durchschritten ihn als Erste. Ich folgte ihnen und fand mich am Rande eines Abhangs wieder. Voller Staunen starrte ich auf die Ver tiefung im Waldboden: eine längliche Senke, die einem Amphitheater glich, etwa zweihundert Meter lang und in der Mitte vielleicht hundert Meter tief war – das Ganze umringt vom majestätisch reglosen Wall der Riesenbäu me, deren Äste alle ineinander verwoben waren. »Das also ist Henry’s Hollow …« »So ist es. Wahrscheinlich vermuten Sie, dass der Name sich von der Vertiefung im Boden herleitet. Es gibt jedoch noch eine andere Geschichte über den Ursprung des Namens, die mit der allgemeinen Legende von Hen ry’s Hollow in Zusammenhang steht und die, nebenbei bemerkt, die Historiker inzwischen als wahr ansehen. Dieser Ort ist nach Henry IV. benannt. Es heißt, der König habe hier vor der Schlacht von Shrewsbury im Jahre 1403 mit seinen Truppen sein Nachtlager aufge schlagen. Wie jedermann unschwer erkennen kann, ist dies ein idealer Lagerplatz, der im Notfall auch eine her vorragende Verteidigungsstellung bietet. Die Bäume wur den natürlich offensichtlich schon lange vor Henrys Zei 176
ten gepflanzt, möglicherweise von Druiden oder einem anderen Waldvolk, das diese natürliche Senke in einen geschützten und gut zu verteidigenden Zufluchtsort ver wandeln wollte. Außerdem liegt dieser Platz bemerkenswert verborgen, wenn man seine Größe berücksichtigt. Folgen Sie mir nach unten, Doktor.« Ich folgte seiner Lordschaft, die Pferde im Schlepptau, hinunter in die Mitte dieses merkwürdigen Platzes. Auch in der Senke standen Eichen. Unter ihrem schützenden Dach mussten vor gut fünfhundert Jahren die Truppen von Henry IV geschlafen haben, um sich für die Schlacht gegen die walisischen Rebellen zu stärken. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie sie auf harten Lagern aus Farn und Blättern lagen oder hockten, wie die Helme und Rüstungen im Schein des Feuers glitzerten, während sie aßen oder sangen, um sich für die bevorstehende Schlacht Mut zu machen. Wir wanderten unter den Bäumen hindurch und hiel ten auf einer kleinen Lichtung kurz vor dem Mittelpunkt der Talsenke. »Man nimmt an, dass Henry an ebendieser Stelle hier eine behelfsmäßige Schmiede errichtet hat, indem er Feuer im hohlen Stumpf eines Baumes entfachte. Man che glauben noch heute, dass der Name dieses merkwür digen Ortes eher von diesem hohlen Baum herstammt als von dem Hohlweg, der durch dieses Tal führt. Der Le gende nach hat Henry die Schmiede errichtet, um sein Schwert neu zu stählen. Damit schwor er, Owen Glen dower zu töten. Wie wir wissen, ist ihm das nicht gelun 177
gen. Allerdings tötete er Harry Percy, genannt Hotspur, und stellte dessen Leichnam vor den Einwohnern von Shrewsbury zur Schau, als Beweis für seine Tat. Die Re bellion wurde niedergeworfen. Seit damals hat Henry’s Hollow sich nicht viel verändert, falls überhaupt. Nie mand lebt hier dauerhaft, doch aufgrund seiner Abge schiedenheit hat der Ort quer durch die Jahrhunderte Vagabunden, Verbrecher und Tunichtgute aller Art an gezogen.« Bei diesen Worten ließ ich meinen Blick besorgt über den Rand der Senke schweifen. »Vielleicht sollten wir besser nach Strathcombe zu rückkehren«, schlug ich vor und nahm das Gewehr von der Schulter. »Sie haben Recht, mein Freund. Es ist fast Mittag, und ich lasse Lady Allistair in diesen Tagen nicht gerne lange alleine.« Wir führten die Pferde wieder hinauf zum Rand des kleinen Tals. Fast hatten wir den Eichenring erreicht, als Lord Allistair plötzlich stehen blieb. »Ich habe vergessen, Sie auf diese Höhlen in den Hän gen hinzuweisen«, sagte er. »Es gibt sie überall. Sie sind zwischen die Wurzeln gegraben.« Zu meinem Erstaunen entdeckte ich tatsächlich zahl reiche Löcher in den abschüssigen Talseiten. Beim Nä herkommen sah man, dass es sich um Tunnel handelte, die zwischen die Wurzeln der großen Bäume getrieben worden waren. Die Wurzeln dienten zweifellos als Stütz träger und Sparrenwerk, hielten die Erde zusammen und verhinderten so den Einsturz der Tunnel. Diese schienen 178
sich ein ganzes Stück in die Erde zu graben, doch da wir beide bedacht darauf waren, ins Haus zurückzukehren, warf ich nur einen kurzen Blick hinein. Wir verließen die Senke und kehrten auf den Wald pfad zurück. In weniger als einer halben Stunde waren wir zurück in Strathcombe, doch muss ich noch von zweierlei berichten, auch wenn ich das Lord Allistair gegenüber damals verschwieg. Zum einen lag unverkennbar der Geruch nach Holz feuer in Henry’s Hollow. Er war schwach und hatte jene feuchte und muffige Note, die entsteht, wenn die Flam men mit Wasser gelöscht werden. Doch er war nichtsdes totrotz eindeutig vorhanden. Irgendjemand hielt sich in Henry’s Hollow versteckt. Irgendwo zwischen den gigan tischen Bäumen und den düsteren Höhlen in den Hän gen lauerte ein Flüchtling – oder ein Feind. Hatten die Häher und Krähen ihn – oder sie – vor unserem Kommen gewarnt? Meine zweite Wahrnehmung war sogar noch alarmie render, und sie dauerte nur einen Sekundenbruchteil. Auf unserem Rückweg warf ich rein zufällig noch einmal einen Blick die steilen Wände des Turms hinauf. Der Fels strahlte in hellem Grau, dort, wo die Sonne darauf fiel. Ich erinnere mich daran, dass ich überlegte, welch ein be zaubernder Ort dieser Gipfel doch sein musste, welch ein herrlicher Platz für ein Picknick. Die Mittagssonne ließ die vorspringende Felskante und die Höhle darunter noch deutlicher als zuvor hervortreten. Ich wollte gerade mei nen Blick abwenden, als ich es sah: ein kurzes, klar sicht bares Aufblitzen im dunklen Schlund der Höhle. Es dau 179
erte nicht länger als eine halbe Sekunde. Ich bin mir si cher, dass Seine Lordschaft nichts bemerkte. Ich aller dings wusste sofort, worum es sich handelte; während meiner Zeit bei der Artillerie hatte ich gelernt, das Auf blitzen eines Fernglases im Sonnenlicht zu erkennen. Je mand beobachtete uns.
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KAPITEL 8
Neue Hoffnung und ein Rätsel
Ich beschloss, weder den Geruch nach Holzfeuer noch die Spiegelung des Sonnenlichts auf der Spitze des Turms Lord Allistair gegenüber zu erwähnen. Er hielt sich tapfer unter der enormen Anspannung, doch ich hatte den Eindruck, dass er am Rande eines Zusammen bruchs stand; weitere schlechte Neuigkeiten hätten ihn schwer belasten können. Als wir uns dem Haus näherten, fiel uns sofort die Stil le und der verlassene Eindruck auf, den Strathcombe machte. »Das ist seltsam. Normalerweise sieht man immer ei nen der Angestellten bei der Arbeit, vor allem an so ei nem schönen Tag.« Wir ritten näher heran, und mit jeder Sekunde wuchs mein Unbehagen. Noch bevor wir den Stallhof erreicht hatten, kam uns Wiscomb entgegen. Er humpelte, so schnell es ging, aus dem Haus und wedelte wild mit den Armen. Unmittelbar hinter ihm folgte Lady Allistair, die ebenso aufgeregt zu sein schien wie der Diener. »Etwas stimmt nicht!«, flüsterte Seine Lordschaft mit angehaltenem Atem. »Peter, Peter!«, schrie Lady Allistair, während sie auf uns zueilte. Als sie näher kam, wurde offensichtlich, dass, 181
was immer auch geschehen sein mochte, es Grund zur Freude gab; ihr Gesicht strahlte geradezu. Wir stiegen aus den Sätteln, und Lord Allistair rannte zu seiner Frau, nahm sie in die Arme und beugte sich zu ihr hinab, um zu hören, was sie zu sagen hatte. Nach ein paar Augenblicken drehte er sich um und schrie: »Alice lebt! Im Haus liegt eine Nachricht, die es be weist!« Ich folgte dem glücklichen Paar hinein und sah zu, wie Lady Allistair einen Umschlag vom Kaminsims nahm. »Wo hast du ihn gefunden?«, fragte seine Lordschaft. »Meg hat ihn heute Morgen auf der Terrassenbrüstung gefunden, kurz, nachdem du und Dr. Watson aufgebro chen seid. Er war mit einem Ziegelstein beschwert.« »Es ist erstaunlich und erschreckend – ich meine, mit welcher Leichtigkeit sie den Brief dort deponiert haben«, fügte er hinzu, ergriff mit zitternden Händen den Um schlag, öffnete ihn und zog etwas daraus hervor, das wie die Seite einer Zeitung aussah. »Es ist die Titelseite des Manchester Guardian«, rief er aus, »und zwar der heutigen Ausgabe. Ah! Schauen Sie, Dr. Watson, Alice hat ihre Nachricht hier auf den Rand geschrieben, Gott sei Dank!« Auf dem rechten Rand des Blattes stand eine kurze Mitteilung in derselben Handschrift, die ich bereits im Salon der Allistairs in London begutachtet hatte. Die Zeitung bewies eindeutig, dass Alice Allistair in den frü hen Morgenstunden des heutigen Tages noch gelebt hat te und wohlauf gewesen war. Wie man sich vorstellen kann, hatte dieser grobe Brief eine phänomenale Wir 182
kung auf uns alle, besonders auf Lady Allistair, die vor Freude weinte. Die Nachricht lautete: »Liebster Vater, liebste Mutter, im Augenblick bin ich in Sicherheit. Jene, die mich ge fangen halten, versichern mir, dass ich umgehend freige lassen werde, sobald ihnen wie verlangt das volle Löse geld in der vereinbarten Form ausgehändigt wurde. An weisungen folgen in Kürze, und sie müssen auf das Ge nauste eingehalten werden, sonst droht mir der Tod. Ich bin unverletzt und wohlauf und freue mich darauf, bald wieder bei euch zu sein.« Die Nachricht war wie die erste mit »Eure euch lie bende Tochter Alice« unterschrieben. »Bisher haben sie also ihr Wort gehalten!«, rief Lord Allistair, strahlend vor Freude. »Gebe Gott, dass wir die Kraft haben, die nächsten Tage durchzustehen. Sie wer den schwierig werden, aber dann wird unser Leiden zu Ende sein. Kommt, darauf sollten wir einen Sherry trin ken!« Mit neuer Zuversicht erfüllt, versammelten wir uns im Wintergarten, der im Grunde genommen eine rückwärti ge Erweiterung der Eingangshalle war und an drei Seiten aus hohen Fenstern bestand. Im Vergleich zum Rest des Hauses war es ein heller Raum mit heiterer Atmosphäre. Wir setzten uns vor die Fenster und warteten auf Brunda ge, der bald darauf mit einem silbernen Tablett voller Gläser und Flaschen kam. Lady Allistair griff erneut nach dem Zeitungsblatt mit den Zeilen ihrer Tochter. Vorsich tig, ja, beinahe zärtlich angesichts der guten Neuigkeiten, die es gebracht hatte, faltete sie das Blatt auseinander und 183
las immer wieder die hoffnungsvolle Nachricht, die erst vor ein paar Stunden geschrieben worden war. Sie hielt die Seite wie ein Buch in Händen und den Körper in äu ßerster Konzentration leicht nach vorne gebeugt. Die kräftigen Sonnenstrahlen des frühen Nachmittages fielen von hinten durch die hohen Fenster auf sie. »Nun, dies ist wirklich ermutigend«, meinte Lord Al listair und trank sein Glas aus. Ich konnte deutlich sehen, wie die Last von vielen Wochen der Sorge und Angst von ihm und seiner Frau abfiel. »Da es sich um die Ausgabe von heute Morgen han delt«, fügte ich hinzu, »und nicht um die gestrige Abend ausgabe, müssen Ihre Tochter und ihre Entführer sich in der Nähe aufhalten. Ich schätze, sie sind keine zehn Mei len von Strathcombe entfernt. Sie müssen wissen, dass ich von meinem Freund Sherlock Holmes gelernt habe …« Eine ganz unerwartete Entdeckung ließ mich ver stummen. »Ja, Doktor, was wollten Sie sagen?«, hakte Seine Lordschaft nach. »Ich wollte sagen …« »Lieber Herr Doktor, geht es Ihnen gut?«, fragte Lady Allistair und ließ das Zeitungsblatt sinken. »Danke, ja«, erwiderte ich automatisch. »Aber ich bit te Sie, halten Sie das Blatt weiter hoch – so, wie Sie es eben getan haben.« »So?« »Ein wenig tiefer, bitte«, bat ich. »Sodass es sich knapp über dem Tablett befindet …« Ihre Ladyschaft tat, wie ihr geheißen, und hielt die 184
Seite ein paar Zentimeter über das silberne Tablett, das auf dem Kaffeetisch lag. »Nun, das ist ja äußerst interessant«, fuhr ich fort. »Wenn Sie gestatten, würde ich gerne die Sherryflaschen für einen Augenblick entfernen und nur das Tablett auf dem Tisch belassen …« Die beiden sahen mich an, als hätte ich den Verstand verloren, doch ich ließ mich nicht beirren und räumte die Flaschen ab. »Ist Ihnen aufgefallen, wie stark das Licht zu dieser Tageszeit durch die Fenster fällt?«, fragte ich und konnte die Aufregung in mir kaum noch dämpfen. »Nicht ganz ungewöhnlich für einen Wintergarten«, antwortete Lord Allistair nicht ohne eine Spur von Iro nie. »… und genau auf die Zeitung trifft, wie Sie sehen können. Und nun, Lord Allistair, schauen Sie auf das Tablett!« Er folgte meiner Aufforderung, blickte hinunter, und Erstaunen begann sich auf seinem Gesicht auszubreiten. »Gütiger Himmel – schaut euch diese winzigen Fun ken an!« Auf dem blank polierten Tablett glitzerten viele kleine Lichtpunkte, einem Sternbild in Miniaturausgabe nicht unähnlich. Ich bat Lady Allistair, mir das Zeitungsblatt auszuhändigen, und hielt es gegen das Licht. Das leicht durchsichtige, bräunliche Papier war an mehreren Stellen mit kleinen Nadelstichen durchlöchert, durch die helles Licht fiel. »Diese winzigen Löcher hat jemand mit einer Nadel 185
oder einem anderen spitzen Gegenstand gestochen«, er klärte ich, »und zwar in einer gewissen Symmetrie. Au ßerdem erscheinen sie nur auf diesem Teil der Seite und nirgendwo sonst.« »Sie scheinen in Reihen angeordnet zu sein«, fuhr Lord Allistair fort, der mir über die Schulter blickte. »Und es sieht mir so aus, als stünden sie manchmal ein zeln und manchmal paarweise. Seltsame Sache, Doktor. Was halten Sie davon?« »Ich kann es mir nicht erklären«, erwiderte ich. »Fest steht nur, dass ihre Anordnung sicher nicht zufällig ist – die Punkte müssen eine Bedeutung haben. Hier – wie Sie sehen, befinden sich alle Löcher in diesem einen kurzen Artikel über ›Auslandsinvestitionen‹. Lassen Sie uns erst einmal den Abschnitt lesen.« Der Artikel, falls man ihn als solchen bezeichnen konnte, war ein reines Füllsel, eine kurze Notiz, um die Spalte zu vervollständigen. Er bestand bloß aus zwei Sät zen, die wie folgt lauteten: JÜNGSTEN MELDUNGEN NACH, HAT DIE REGIERUNG EIN PRODUKTIONSABKOMMEN MIT BELGIEN GETROFFEN, DAS U.A. AUF TRÄGE ZUM BAU VON VERBRENNUNGS MOTOREN BEINHALTET. SO VERKÜNDETE ES EIN SPRECHER DES INNENMINISTERIUMS HEUTE NACHMITTAG. »Der Artikel ist sicher bedeutungslos«, meinte Lady Al listair, nachdem sie ihn gelesen hatte. »Es handelt sich 186
bloß um einen dieser Schnipsel, die man aus optischen Gründen an eine Spalte hängt.« »Vielleicht, doch wenn mich meine lange Bekannt schaft mit Sherlock Holmes etwas gelehrt hat, Lady Alli stair, dann, dass Dinge, die auf den ersten Blick bedeu tungslos erscheinen, oft alles andere als dies sind. Es ist gut möglich, dass diese kleinen Löcher im Papier uns et was mitteilen sollen.« Daraufhin erzählte ich von den Ereignissen und der scheinbar unsinnigen Botschaft im Zusammenhang mit unserem Fall um die »Gloria Scott«. Als Lady Allistair von dem traurigen Schicksal erfuhr, das diese Botschaft verkündet hatte, überkam sie erneut Niedergeschlagen heit und Sorge um das Wohlergehen ihrer Tochter. Wü tend darüber, dass ich die Erleichterung, die sie seit kur zem verspürte, ungewollt wieder zunichte gemacht hatte, versuchte ich sie zu beruhigen, indem ich ihr versicherte, dass die winzigen Löcher im Zeitungsblatt möglicherweise tatsächlich völlig unwichtig waren. »Sie sind kein guter Lügner, Doktor«, meinte Lord Allistair. »Ich stimme Ihnen zu, dass diese seltsamen Zeichen etwas zu bedeuten haben. Wie auch immer, wir wissen, dass Alice wohlauf ist. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sie schlechte Nachrichten übermit teln.« Woraufhin er seine Frau in ihre Gemächer schickte, wo sie sich bei einem kurzen Mittagsschlaf erholen sollte, während wir in sein kleines Arbeitszimmer überwechsel ten. Man brachte uns eine Kanne Kaffee, und bald saßen wir rauchend vor dem Kamin und versuchten, hinter den 187
Sinn der winzigen Nadelstiche im Zeitungsblatt zu kom men, sofern es denn einen solchen gab. »Bei solchen Gelegenheiten vermisse ich Ihren Freund besonders«, meinte Lord Allistair. »Zweifellos stellen derartige Rätsel für ihn kein Problem dar.« »Sofern der menschliche Geist dies überhaupt zu durchdringen vermag, ist es für Holmes ein reines Kinder spiel«, entgegnete ich. »Doch da er nicht hier ist, müssen wir sehen, wie wir ohne ihn weiterkommen. Lassen Sie mich die Tür schließen, damit uns niemand stören kann, und dann wollen wir das Blatt auf Ihrem Spieltisch aus breiten und uns dem Problem widmen.« Wenn man die Nadelstiche mit Tinte markierte, sah der kurze Artikel folgendermaßen aus:
Wir starrten die Worte und die Markierungen eine ganze Weile lang an, und jeder machte sich seine eigenen Ge danken. 188
»Die naheliegendste Erklärung ist natürlich die, dass die Punkte bestimmte Buchstaben im Artikel markieren, entweder direkt darüber oder darunter«, meinte Lord Alli stair schließlich. »Ja, ich glaube, dieser Schlussfolgerung kann ich zu stimmen. Aber warum befinden sich einige Punkte über den Buchstaben und andere darunter? Und warum sind einige Buchstaben mit zwei Punkten markiert und andere nur mit einem?« »Lassen Sie uns zuerst einmal alle Buchstaben auflis ten, die gekennzeichnet sind, egal wo und wie oft«, schlug er vor. Danach erhielten wir: JELEDINEROOBFAAHL TOCHTHN. »Dieser Buchstabensalat ergibt gar keinen Sinn – au ßer dass bis auf zwei Buchstaben das Wort TOCHTER darin enthalten ist«, meinte ich. »Ich glaube, wir können diese Nachricht vergessen …« »Ich hab’s!«, rief Lord Allistair und sprang auf. »Die verschiedenen Stichstellen und die Zahl der Stiche mar kieren verschiedene Worte. Schauen Sie: Nehmen wir zuerst die einzelnen Punkte über den Buchstaben. Wenn wir die Buchstaben, über denen dieses Zeichen erscheint, aneinander reihen, erhalten wir das erste Wort – oder zumindest irgendein Wort – des Kodes.« Wir folgten diesem Vorschlag und erhielten das Wort EINEFAL. »Ist dies ein Wort, das Sie kennen, Doktor? Vielleicht aus einer anderen Sprache?« »Nein. Wie auch immer, lassen Sie uns zum nächsten 189
Zeichen übergehen, das logischerweise der einzelne Punkt unter den Buchstaben sein sollte.« Dabei kam das Wort BACHT heraus. »Noch immer kein Sinn erkennbar. Und das nächste Wort, das mit zwei Punkten über den Buchstaben?« »L-E-D-R-O-H-T-O«, buchstabierte ich und schrieb das Wort LEDROHTO neben die anderen. »Ich nehme an, es ist zwecklos«, sagte Lord Allistair. »Es muss einen anderen Schlüssel zum Rätsel geben. Oder – was genauso wahrscheinlich ist – es ergibt über haupt keinen Sinn.« »Lassen Sie uns noch die letzte Zeichengruppe an schauen, die doppelten Punkte unter den Buchstaben …« Zu unserer großen Verblüffung ergaben diese Buchsta ben das Wort JOHN. »Das ist sicher mehr als nur ein Zufall, Doktor. Damit stellt sich die Frage: Wenn dies ein Wort ist – wohlge merkt: falls es das ist –, warum sind es dann die anderen nicht?« Wir versuchten, die Buchstaben der anderen »Wör ter« umzugruppieren, falls sie nur in der falschen Reihen folge stehen sollten, konnten aber immer noch keinen Sinn hineinbringen. »Wir wissen also nur, dass die Nachricht von John stammt oder für John bestimmt ist. Aber wer ist John?«, fragte ich. »Niemand aus diesem Hause – es sei denn …« »Was?« »Es sei denn, Sie sind gemeint: John Watson.« »Aber das ist absurd!«, rief ich aus. »Niemand aus die 190
ser Gegend kennt mich. Außerdem, was habe ich mit der Rückkehr Ihrer Tochter zu tun?« »Direkt nichts. Aber vielleicht wissen Alices Entfüh rer dies nicht. Vielleicht gefährden Sie in ihren Augen ihren Plan.« Nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, beschloss ich, Lord Allistair von meinen Beobachtungen am Morgen zu erzählen. »Jemand war auf dem ›Turm‹ und hat uns beobachtet, sagen Sie?«, hakte er ungläubig nach. »Aber sollte das zu treffen, dann müssen jene, wer immer sie auch sein mö gen, von Ihrer Anwesenheit schon früher gewusst haben, denn der Brief erwartete uns ja bereits bei unserer Rück kehr.« »Da haben Sie Recht! Ich muss gestehen, das hatte ich vergessen. Verdammt! Ich wünschte, Holmes wäre hier.« »Doch da er es nicht ist, müssen wir weiterhin selbst versuchen herauszufinden, wie wir am klügsten vorge hen …« »Lord Allistair, wenn ich der sicheren Rückkehr Ihrer Tochter im Wege stehe, muss ich sofort von hier aufbre chen …« »Unsinn! Wenn ich dieser Meinung wäre, würde ich natürlich darauf bestehen, dass Sie Strathcombe sofort verlassen. Doch es ist höchst unwahrscheinlich. Außer dem waren Mr Holmes’ Anweisungen äußerst strikt, wie wir uns beide erinnern: Sie sollen an meiner Seite blei ben, bis er eintrifft. Und daran wollen wir uns auch hal ten! In der Zwischenzeit sollten wir an dieser versteckten 191
Botschaft innerhalb einer Botschaft weiterrätseln. Je mehr ich darüber nachdenke, umso überzeugter bin ich, dass diese winzigen Nadelstiche von meiner Tochter stammen.« »Wie kommen Sie darauf?« »Vor allem deshalb, weil sie nur bei ganz genauem Hinsehen und nicht bei oberflächlichem Betrachten zu erkennen sind. Um ehrlich zu sein, können wir uns glücklich schätzen, dass wir sie überhaupt bemerkt haben – dank Ihrer scharfen Augen und unserem Silbertablett. Nein, sie wurden ganz sicher heimlich angebracht, mögli cherweise auch in Eile – eine Botschaft innerhalb einer Botschaft, wie ich bereits sagte. Wer außer meiner Toch ter könnte uns eine heimliche zweite Botschaft schicken wollen? Und zweitens ist da noch die Art und Weise, wie sie übermittelt wurde: Sie vermuteten mit einer Nadel oder einer Stecknadel. Trägt ein Mann für gewöhnlich solche Instrumente bei sich? Nicht unbedingt. Außer dem: Schauen Sie, wie präzise die Nadelstiche angebracht sind. Kein einziger tanzt aus der Reihe, und im Papier ist kein einziger Riss – was umso erstaunlicher ist, wenn wir bedenken, wie dünn Zeitungspapier ist, wie eng die Zei len gedruckt sind und dass die Botschaft in aller Eile und Heimlichkeit geschrieben werden musste. Glauben Sie, ein Chirurg, dass Sie dazu in der Lage wären?« Ich erwiderte, dass ich mir nicht sicher sei; die Präzi sion, mit der die Stiche angebracht worden waren, war außergewöhnlich. »Sie klingen allmählich wie Sherlock Holmes«, fügte ich hinzu. 192
»Ich bin selbst über mich überrascht«, meinte er la chend. »Aber ich weiß, dass Alice sehr gut mit Nadel und Faden umgehen kann und daher über die nötige Kunstfertigkeit verfügen müsste, so etwas zu Stande zu bringen, selbst in aller Eile.« »Wirklich bedauerlich, dass wir die Botschaft nicht zu entschlüsseln vermögen. Ich denke, wir sollten Holmes so schnell wie möglich herrufen. Daher werde ich heute Nachmittag in die Stadt reiten und ein entsprechendes Telegramm aufgeben. Alles deutet darauf hin, dass die Ereignisse sich zuspitzen.« Lord Allistair nickte bedächtig. In diesem Augenblick wurden wir von einem leisen Klopfen an der Tür unterbrochen. Es war Brundage, der uns mitteilte, dass Betsy, das Hausmädchen aus dem obe ren Stock, uns gerne kurz sprechen würde. »Hat das keine Zeit, Brundage?« »Sie ist sehr bekümmert, Sir. Nicht zuletzt auf meinen Rat hin wendet sie sich an Euch, Eure Lordschaft.« »Nun gut, führen Sie sie herein.« Betsy trat ein. Sie zitterte, ihre Augen waren gerötet, und ihr Gesicht war verzerrt, was zweifellos von einem erst kurz zurückliegenden, heftigen Weinkrampf herrühr te. Als Lord Allistair ihren Zustand sah, eilte er zu ihr, legte den Arm um sie, geleitete sie behutsam zu seinem Sessel und ließ sie darin Platz nehmen, während er die ganze Zeit über beruhigend auf sie einredete. Sein väterli ches Verhalten ihr gegenüber beeindruckte mich sehr und erinnerte mich erneut an das Mitgefühl, das er seinen Mitmenschen entgegenbrachte, welchen Standes sie 193
auch sein mochten. Und durch diese gütige Zuwendung beruhigte Betsy sich auch langsam. »Mylord!«, begann sie und brach erneut in Schluch zen aus. »Gott möge mir verzeihen. Man wird mich für das, was ich getan habe, hängen!« »Was soll das heißen? Nur die Ruhe, Mädchen, so schlimm wird es schon nicht sein. Erzähl mir und dem gu ten Doktor, was du getan hast – oder nicht getan hast. Was hat dich so aus der Fassung gebracht? Nun beruhige dich doch …« Doch sie verlor erneut die Fassung, und erst nach ein einigen Minuten und zwei Schlucken Brandy war sie wie der in der Lage fortzufahren. »Steht Ihr Kummer in irgendeinem Zusammenhang mit dem Auffinden des Briefes heute Morgen auf der Ter rasse?«, fragte ich. Sie zögerte kurz, dann nickte sie schnell, und ihre Au gen füllten sich mit Tränen. »Haben Sie gesehen, wer ihn dort hingelegt hat?« »Ich war es!« Entsetzt über dieses Geständnis, überfielen wir beide sie mit einer ganzen Reihe von Fragen: Gehörte sie zu der Bande? Wer waren die anderen? War Alice wirklich un versehrt? Doch sie war nicht in der Lage, auch nur eine Frage zu beantworten, so aufgewühlt war sie. Schließlich folgte ich Holmes’ Beispiel in ähnlichen Fällen und über zeugte sie davon, dass es besser war, uns ihr Geheimnis anzuvertrauen, was immer es auch sein mochte. »Betsy, sowohl Seiner Lordschaft als auch mir ist be wusst, dass Sie freiwillig zu uns gekommen sind. In wel 194
chen Schwierigkeiten Sie auch stecken mögen – und so ernst sie auch sein mögen –, durch Ihr Schweigen ma chen Sie es nicht besser. Wir stehen auf Ihrer Seite und wollen Ihnen nur helfen. Und nun erzählen Sie uns bit te ganz genau, wie Sie in diese Sache verwickelt wur den.« »Oh, bitte, Sir, Sie müssen mir glauben! Ich hatte nie mit ihnen selbst zu tun, das schwöre ich. Es war Charles …« »Wer ist Charles?«, fragte Lord Allistair. Es entstand eine Pause, während der das Mädchen schwieg und betreten auf ihre Hände blickte, die es zit ternd in den Schoß gelegt hatte. »Wir wollten heiraten«, sagte sie leise. »Ist er der junge Mann, mit dem du dich in der Stadt getroffen hast?« »Ja, Mylord. Ich liebe ihn, Mylord.« »Und er liebt dich?« »Ich war mir sicher – bis vor kurzem. Oh, er hat so ein einnehmendes Wesen, und er ist so großzügig. Ich hoffe nur, es ist ihm nichts zugestoßen!« »Du musst ganz von vorne anfangen, Betsy. Wann bist du diesem Mann zum ersten Mal begegnet, und in wel chem Zusammenhang steht er mit der Entführung meiner Tochter?« »Ich bin Charles Compson vor drei Monaten auf dem Markt von Shrewsbury begegnet. Wir fühlten uns vom ersten Moment an zueinander hingezogen, und es dauerte nicht lange, da sahen wir uns regelmäßig. Er arbeitet in der Stadt als Gerber und träumt davon, genügend Geld zu 195
haben, um sich eine eigene Gerberei in Australien zu kaufen. Er hat immer davon gesprochen, dass er irgend wie das Geld dazu auftreiben wolle, und dann würden wir heiraten und unser eigenes Leben leben. Nun, Mylord, glücklich, wie ich war, hatte dieser Traum einen gewissen Reiz, wenn Sie verstehen, was ich meine …« Lord Allistair nickte. »Es war alles wunderbar – bis vor ein paar Wochen. Da begann Charles sich plötzlich zu verändern, und zwar auf eine Art und Weise, die mich mit wachsender Sorge erfüllt hat.« »Wie hat er sich verändert?« »Er wirkte verschlossen, als verberge er etwas vor mir. Vor drei Nächten verabredeten wir uns auf seine Bitte hin im Dorf. Wir trafen uns im Pub, und er verriet mir, dass er die Möglichkeit hätte, an das Geld zu kommen, das er brauchte, um unseren Traum zu verwirklichen. Na türlich war ich überglücklich. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es so enden würde …« Sie biss sich auf die Lippe und unterdrückte ein erneu tes Schluchzen. »Er nahm mir zuerst das Versprechen ab, dass ich nie mals jemandem etwas von dem erzählen dürfe, was er mir anvertrauen wolle. Ich versprach es, und dann erzählte er mir, dass er mit zwei Gentlemen in Kontakt stünde, die wüssten, wo Ihre Tochter sich befindet. Er betonte, dass es sich nicht um ihre Entführer handele, sondern dass sie nur den Aufenthaltsort kennen würden …« Lord Allistair und ich warfen uns einen kurzen Blick zu, halb angewidert und halb mitleidig, dass ein unschul 196
diges, naives Mädchen vom Lande derart schamlos aus genutzt worden war. »Charles meinte, dass ich für meinen Teil nur die Au gen aufzuhalten brauchte, wer im Hause ein und aus gin ge. Ich sollte auch Ausschau nach Fremden oder Freun den halten«, fügte sie mit einem Blick in meine Richtung hinzu. »Charles meinte, wenn die Zeit für die Freilassung von Lady Allistair gekommen sei, würden meine Beobachtun gen die Dinge leichter machen. Charles selbst würde für seine Hilfe bei der Freilassung reich belohnt werden und genügend Geld für die Passage nach Australien und gleich mehrere Gerbereien erhalten. Heute Morgen in aller Frühe traf ich ihn noch vor Sonnenaufgang unten an der Straße zum Dorf und be richtete ihm von Ihrer Ankunft, Doktor. Er gab mir den Brief und sagte, ich solle ihn auf die Steinbrüstung legen und die Aufmerksamkeit darauf lenken. ›Es wird jetzt nicht mehr lange dauern, Betsy, mein Liebling‹, sagte er. ›Die junge Lady ist in Sicherheit. Ihr fehlt nichts, und dank unserer Hilfe wird sie im Handumdrehen wieder zu ihren Eltern zurückgeschickt werden.‹ Also tat ich, was er mir gesagt hatte, und nun …« »Und nun …?« »Ich habe Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.« »Charles?« »Ja, Sir. Er wollte mich um zwei treffen, aber er ist nicht gekommen. Es ist gar nicht seine Art, Verabredun gen nicht einzuhalten, Mylord.« 197
»Wo sollte dieses Treffen stattfinden?« »Wie üblich unten an der Straße zum Dorf.« »Nun, Betsy, wir wollen versuchen, dir zu helfen. Aber zuerst werden wir dir ein paar wichtige Fragen stellen. Du musst sie offen und ehrlich beantworten, wenn du von uns Gnade erwartest, was deinen Beitrag – ob nun ge wollt oder ungewollt – zu diesen schändlichen Machen schaften betrifft.« Sie versicherte, dass sie sich vollkommen fügen wolle. »Zu allererst«, fuhr Lord Allistair fort, »weißt du, ob meine Tochter unversehrt ist?« »Soweit ich weiß, ja.« Wir atmeten beide erleichtert auf. »Hast du irgendeine Ahnung, was in dem Brief stand, den man dir heute Morgen gegeben hat?« »Ja, Mylord. Es war eine handschriftliche Nachricht der jungen Lady.« »Und sonst?« »Nichts, Mylord.« Lord Allistair und ich warfen uns erneut einen kurzen Blick zu. Aller Wahrscheinlichkeit nach wussten weder Betsy noch Charles noch die Entführer selbst etwas über die zweite Botschaft aus Nadelstichen. »Hast du je die ›Gentlemen‹ gesehen, die dein Freund Charles erwähnte – falls man sie überhaupt als solche be zeichnen kann?« »Nein, Mylord, nie.« »Hat er dir irgendetwas über sie erzählt – wie sie aus sehen, wo sie sich aufhalten?« »Nein, ich weiß nichts über sie. Außer, dass sie nicht 198
weit weg sein können, denn Charles geht oft zu ihnen, um mit ihnen zu sprechen, und kehrt dann in seine Wohnung in der Stadt zurück.« »Kannst du dich an irgendetwas anderes erinnern, das uns helfen könnte? Alles, was uns hilft, hilft am Ende auch dir.« Betsy antwortete nicht sofort. »Es tut mir Leid«, sagte sie schließlich, »aber mir fällt nichts ein. Sie müssen mir glauben, Sie beide, meine Herren, ich hätte nie vermu tet, in etwas verwickelt zu sein, das Lady Allistair gefähr den könnte. Und ich bin sicher, dass es Charles ebenso ging …« »Sicher?«, fragte Lord Allistair streng. »Oh, ganz sicher! Und deshalb muss ich ihn finden. Ich habe solche Angst …« »Du bist fest davon überzeugt, dass er in Schwierigkei ten steckt. Woher willst du wissen, dass er nicht zusam men mit den anderen geflohen ist?« Das arme Kind senkte erneut die Augen, als schämte sie sich zuzugeben, dass diese Möglichkeit nicht auszu schließen war. Ihr Gesicht zuckte leicht, und nach einer Weile antwortete sie dann: »Weil er mich liebt«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Ich muss schon sagen, dass du dich sehr töricht benommen hast, Betsy. Außerdem besteht die Möglich keit, dass du aufs Schändlichste ausgenutzt worden bist. Wie auch immer, du warst stets eine gute Hausangestell te. Wir wissen, dass du ohne böse Absichten in diese Bande geraten bist. Lass uns jetzt alleine, während wir 199
überlegen, was am besten zu tun ist. Warte bitte in der Küche. Wir werden dich in Kürze rufen lassen.« Das arme Kind ging hinaus, und wir beide blieben zu rück, um über ihr Schicksal zu entscheiden. »Ich fürchte, man hat sie ausgenutzt«, meinte Lord Allistair. »Und ihr junger Freund, dieser Compson, scheint mir auch ein Tölpel zu sein. Da steht nichts Gu tes zu erwarten!« Doch er rief Betsy nur wenige Augenblicke später zu rück, und als sie, noch immer erschüttert, vor uns stand, meinte er: »Betsy, damit wir deinen Freund wiederfinden können – ähm, wie war noch gleich sein Name?« »Charles, Mylord. Charles Compson.« »Ah, ja. Kannst du ihn uns beschreiben?« »Natürlich, Mylord. Er ist durchschnittlich groß, hat rotblondes Haar und einen Schnurrbart.« Lord Allistair überlegte kurz. »Diese Beschreibung trifft auf viele Männer aus der Gegend hier zu. Gibt es nicht etwas Besonderes an ihm?« »Nein, Mylord, außer vielleicht Clancy.« »Wer ist Clancy?« »Sein Kerry Blueterrier, Mylord. Sie sind unzertrenn lich, er und Clancy. Gehen überall zusammen hin – schon seit Jahren. Ja, Mylord: Da wo Clancy ist, wird auch Charles nicht weit entfernt sein.« Wieder wurde Betsy hinausgeschickt, und Lord Al listair und ich dachten über ihre neuen Hinweise nach. »Ich frage mich«, sagte ich schließlich langsam, »ob 200
meine Enttarnung die Freilassung Ihrer Tochter gefähr den könnte.« »Wohl kaum. Betsy weiß nicht, warum Sie wirklich hier sind. Ich werde Farthway, unserem Wildhüter, Betsys Beschreibung von diesem Charles Compson geben. Er kann dann hier in der Gegend die Augen nach ihm offen halten. Wenn Sie heute noch ein Telegramm verschi cken wollen, Doktor, sollten Sie besser aufbrechen. Wol len Sie ein Pferd oder eine Kutsche nehmen?« Ich entschied mich für ein Pferd, steckte die Webley in meine Manteltasche und machte mich auf den neun Meilen langen Weg. Ian Farthway hatte den Auftrag, ei ne improvisierte Suche nach Betsys Freund zu starten, und auch ich sollte nach ihm Ausschau halten. Lord Al listair und ich hatten vereinbart, dass Betsy ihrem Charles – sollte dieser von selbst wieder auftauchen – er zählen sollte, dass ich nach London aufgebrochen wäre. Das sollte die Entführer beruhigen und den Austausch reibungsloser über die Bühne gehen lassen. Selten war ich in einer so niedergeschlagenen Stim mung wie damals, als ich an der äußeren Steinmauer ab bog und mich Richtung Stadt aufmachte. Die Sonne hat te sich hinter einer dichter werdenden Wolkenbank ver steckt, und die Gegend, die zuvor hell und freundlich aus gesehen hatte, wirkte nun bedrückend und still. Ich trottete mit gezügeltem Tempo die erste lange Biegung hinunter und ritt in den Wald hinein. Kein Laut war zu hören außer dem Klappern der Hufe auf der Straße, das in der Stille geradezu ohrenbetäubend klang. Ich dachte an den Zigeuner, der uns gestern gefolgt war, und an die selt 201
samen Ereignisse dieses Morgens. Der Brief von Alice war ein gutes Zeichen, zweifellos! Doch von allen Ereignissen der letzten beiden Tage war dies das einzig erfreuliche. Der Rauch in Henry’s Hollow, der Beobachter auf dem »Turm«, die mysteriöse Botschaft innerhalb der Botschaft und die Verbindung des Dienstmädchens mit den Entfüh rern: All das deutete darauf hin, dass Strathcombe voll ständig von unsichtbaren Feinden umzingelt war, die be reits weit hinter unsere Verteidigungslinien vorgedrungen waren. Und dann der Zigeuner: War er einfach nur ein Streuner, oder gehörte auch er zum Komplott der Verbre cher? Ich war so überwältigt von der unerwarteten schlechten Wendung der Ereignisse, dass ich es für höchste Zeit hielt, Holmes herbeizurufen. Denn wenn jemand erfolgreich gegen diese Schufte vorgehen konnte, dann war das ganz sicher er. Ich drang weiter in den Wald vor, der mit jeder Minu te düsterer zu werden schien. Ich spornte das Pferd an und hielt die Augen offen. Die Sicht war schlecht, und die großen Bäume türmten sich drohend über mir auf, als wollten sie mich zerquetschen. Ich war froh, dass ich mei ne Webley eingesteckt hatte, und beeilte mich, nach Rutlidge zu kommen, das noch gut viereinhalb Meilen entfernt lag. Ich kam nach weniger als einer Dreiviertelstunde dort an, eilte geradewegs zum Telegrafenamt und verschickte folgendes Telegramm: EREIGNISSE ÜBERSCHLAGEN SICH – EMPFEH LE DRINGEND ZU KOMMEN. SPIONE IM HAUS. 202
FEINDE ÜBERALL. WARTE AUF ANTWORT. WATSON. Ich dachte, es wäre das Beste zu warten, damit ich den Allistairs bei meiner Rückkehr nach Strathcombe bereits Neuigkeiten berichten konnte. Es dauerte länger als eine Stunde, bis die Antwort eintraf – viel länger, als ich er wartet hatte. Das kam mir seltsam vor, hatte Holmes doch versprochen, sich nicht weiter als fünf Minuten Fußmarsch vom nächsten Telegrafenamt zu entfernen. Schließlich traf die Nachricht jedoch ein, und sie lautete: WERDE MORGEN MIT DEM ZUG UM 13:30 EIN TREFFEN. SCHICKEN SIE KUTSCHE. HOLMES. Gott sei Dank, Holmes war auf dem Weg! Doch was mochte in der Zwischenzeit sonst noch alles passieren? Ich erschauderte bei dem Gedanken daran. Als ich die Tür öffnete, um das Amt zu verlassen, kam mir ein Ge danke. »Hören Sie«, wandte ich mich an den Schalterbeam ten, »haben Sie hier in der Gegend in den letzten Tagen einen Zigeuner gesehen?« »In der Tat. Einer dieser Vagabunden war gestern Abend hier und hat sich nach einem Telegramm erkun digt.« »Wie hat er ausgesehen?« »Großer, schlanker Bursche mit einer Hakennase und einem Schal um den Kopf.« Die Beschreibung entsprach nicht dem Zigeuner, den 203
ich gesehen hatte, aber ich schloss die Möglichkeit nicht aus, dass die beiden unter einer Decke steckten. In der Tat war das sogar höchstwahrscheinlich der Fall. »Nach welchem Telegramm hat er sich erkundigt?« »Er wollte wissen, ob irgendwelche Nachrichten nach Strathcombe gesandt worden waren, dem Landsitz der Allistairs.« Ein Schauder lief mir über den Rücken. »Und was haben Sie ihm gesagt?« »Dass ihn das nichts anginge und er sich davonma chen solle.« »So ist’s recht!«, sagte ich und reichte dem Mann eine halbe Krone. »Einen schönen Abend noch.« Ich brauche wohl nicht eigens zu erwähnen, dass das Auftauchen des zweiten Zigeuners die bedrückende Lage noch bedrohlicher erscheinen ließ. Offensichtlich gab es eine ganze Bande von ihnen, und sie schienen gut organi siert zu sein. Dann durchzuckte mich der Gedanke, dass sorgsames Planen und enge Abstimmung nicht gerade die Markenzeichen dieses fahrenden, trägen, heißblütigen Volkes waren. Diese Gruppe schien da eine Ausnahme zu bilden. Ich schwang mich in den Sattel, entschlossen, über diese Entwicklung der Ereignisse Stillschweigen zu wahren – zumindest bis Holmes eingetroffen war. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, als ich die Straße durch den Wald erreichte. Der Wald sah noch trostloser und unheilvoller als zuvor aus, und ich durch querte ihn in einem flotten Trott. Aus welchem Grunde auch immer zeigte mein Pferd starke Anzeichen von Ner vosität, was für ein jagderprobtes Tier wie dieses eher un 204
gewöhnlich war. Ich konnte es verstehen, denn ein sechster Sinn verriet auch mir, dass etwas nicht in Ord nung war und ich am besten so schnell wie möglich nach Strathcombe zurückreiten sollte. Ich spornte mein Pferd daher an und wechselte in den Galopp über. Mit großer Erleichterung ließ ich schließlich die letzte Anhöhe hinter mir und erblickte vor mir die wenigen funkelnden Lichter von Strathcombe. Ich schaute hinter mich. Niemand war zu sehen. Kein Mensch war mir ge folgt, und Hilfe war auf dem Weg. Offensichtlich war Alice Allistair erst einmal in Sicherheit und wohlauf. Die Dinge standen also gar nicht so schlecht. In zwei, drei Tagen würde die Angelegenheit vorüber sein, und Hol mes und ich hätten Zeit, uns ein paar Tage beim Fischen in Strathcombe zu entspannen, bevor wir nach London zurückkehrten, um vielleicht unsere Jagd nach der Rie senratte von Sumatra wieder aufzunehmen. Mein Herz war schon nicht mehr so schwer, als ich die äußere Steinmauer passierte. Ich befand mich in Höhe des Kalkofens, als ich das Heulen des Hundes hörte.
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KAPITEL 9
Zusammentreffen
Der Laut jagte mir einen eisigen Schauder über den Rücken. Furcht umhüllte mich wie ein dunkler Schleier. Mein Pferd bäumte sich wiehernd auf, als es das un heimliche Heulen hörte, und raste dann nur allzu bereit willig in Richtung Ställe. Ganz plötzlich schien es kälter geworden zu sein, und ich sehnte mich nach dem Kamin feuer. »Wer da?«, rief eine schrille Stimme, als ich mich den Ställen näherte. »Ich bin es. Dr. Watson.« »Verzeih’n Sie, Doktor«, erwiderte Wiscomb, während er sich mühsam aus der Stalltür löste. »Es ist ungewöhn lich, dass zu dieser Stunde noch Reiter eintreffen.« Er schien noch betrunkener als sonst zu sein, und seine Hände zitterten, als er die Zügel entgegennahm. »Recht kalt geworden, was, Doktor? Und da liegt noch was in der Luft, heut Nacht. Irgendwas stimmt nicht, hab ich so im Gefühl. Kann nich genau sagen was, aber irgendwas is komisch, irgendwas …« »Da, hören Sie!«, warf ich ein. »Es klingt jetzt viel näher.« »Ach, der Hund. Heult schon den ganzen Abend. Hab ihn schon vier Mal verscheucht …« 206
»Wie sieht er aus?« »Oh, ziemlich klein, drahtiges Haar. Da! Er kommt zu rück. Na warte, dem werd ich’s zeigen …« »Halt!«, rief ich. »Ich werde hinausgehen und auf meinem Weg zum Haus nach ihm sehen – bemühen Sie sich nicht!« Wiscomb musste nicht lange überzeugt werden, ließ die Mistgabel wieder sinken, die er ergriffen hatte (vermutlich um dem Hund eine Lektion zu erteilen), und wankte da von, um mit dem Absatteln des Pferdes fortzufahren. Draußen war es in der Tat kalt geworden; als ich die Ställe verließ, konnte ich meinen Atem in der Luft se hen. Auch der Wind war aufgefrischt. Ich befand mich auf halber Strecke zum Haus, als das Heulen erneut er klang. Ich starrte die Auffahrt hinauf und entdeckte ei nen kleinen Hund, der auf mich zurannte. Etwa zwanzig Schritte von mir entfernt blieb er stehen und winselte. Ich kniete mich hin und streckte meine Hand aus. »Clancy!«, rief ich, worauf der Hund augenblicklich mit einem freudigen Kläffen nach vorne preschte. Als er mich erreicht und beschnüffelt hatte, wich er jedoch ver wirrt zurück und winselte wieder. Schließlich begann er hin und her zu laufen, hinauf in Richtung Auffahrt, dann wieder zurück. Es war offensichtlich, dass das Tier seinen Herrn verloren hatte. In Anbetracht der Besorgnis, die Betsy am Vormittag geäußert hatte, wollte mir die Sache ganz und gar nicht gefallen. Als ich das Haus betrat, hörte ich sofort, dass jemand bitterlich weinte. Julia, das Hausmädchen, empfing mich in der Eingangshalle. 207
»Guten Abend, Dr. Watson. Lord und Lady Allistair erwarten Sie in der Bibliothek. Wir sind so froh, dass Sie zurück sind, Sir …« »Dürfte ich erfahren, wer da so weint, Julia?« »Betsy, Sir. Sie hat Angst um ihren Freund.« »Er ist also noch nicht wieder aufgetaucht?«, fragte ich. »Nein, Sir.« Ich betrat die Bibliothek und fand Lord und Lady Al listair in einem nur halb erleuchteten Raum nervös auf und ab gehend. Beide begrüßten mich sichtlich erleich tert. Die Erleichterung verwandelte sich schnell in Be geisterung, als ich ihnen berichtete, dass Holmes am nächsten Tag eintreffen würde. »Sollen wir ihn am Bahnhof abholen?« »Das kann Brundage erledigen – Holmes verlangte nach einer Kutsche. Er braucht nur selten … Hallo, wer ist das?« Eine undeutliche Gestalt war überraschend aus dem Schatten der Eingangstür getreten und kam nun auf uns zu. Als sie sich dem Kamin näherte, der die hauptsächli che Lichtquelle des Raumes bildete, erkannte ich den großen, blonden Mann, den ich an meinem ersten Abend in Strathcombe hoch zu Ross gesehen hatte. »Ah, wie konnte ich das vergessen? Sie haben sich ja noch nicht kennen gelernt. Farthway, das ist Dr. Watson, ein Vetter zweiten Grades meiner Frau.« »Guten Abend, Sir.« Farthways Begrüßung klang kühl. Er hatte etwas Verwegenes an sich, und auf den ers ten Blick machte er durchaus einen aufrichtigen und of 208
fenen Eindruck. Dennoch lag etwas Abweisendes in sei ner Art, eine gewisse Zurückhaltung, die leichtes Miss trauen in mir erregte. »Was gibt es, Farthway?«, wollte Lord Allistair wissen. »Eure Lordschaften, einige Ihrer Angestellten haben mir berichtet, dass Sie mit dem Doktor heute Morgen tief in den Wald geritten sind.« »Das ist richtig, aber ich weiß nicht, was Sie das ange hen sollte, Farthway.« »Ich bitte um Verzeihung, Eure Lordschaft, aber ich denke, es geht mich durchaus persönlich an, da die Wäl der zurzeit äußerst gefährlich sind.« »Wie meinen Sie das?«, fragte ich nach. »Es treiben sich eine Menge Vagabunden dort herum, Sir«, antwortete Farthway, ohne dabei den Blick von Lord Allistair abzuwenden. »Und entlang des Flussbettes haust dieser riesige wilde Eber.« »Und zweifellos wissen Sie auch über den Brief Be scheid, der uns heute Mittag ausgehändigt wurde?« Farthway nickte. Lord Allistair zögerte einen Moment, als sei er sich nicht sicher, ob er seinen Wildhüter tadeln oder loben sollte. »Nun gut, Farthway. Ich weiß Ihre Besorgnis zu schät zen. Aber ich muss Sie daran erinnern, dass es alleine meine Entscheidung ist, ob ich den Wald betrete oder nicht. Um ehrlich zu sein, haben wir vor, schon Morgen wieder dort hinzugehen, und es wäre schön, wenn Sie uns als Führer zur Verfügung stünden.« »Selbstverständlich, Sir. Werden Sie jagen?« »Nein«, antwortete Lord Allistair, nachdem er mir ei 209
nen forschenden Blick zugeworfen hatte. »Sie können jetzt gehen.« Der Wildhüter wandte sich um, um das Zimmer zu verlassen, doch ich rief ihn noch einmal zurück. »Mr Farthway, nach dem, was man mir über Sie er zählt hat und was ich mit eigenen Augen gesehen habe, verstehen Sie es ausgezeichnet, sowohl mit Pferden als auch mit Waffen umzugehen.« »Vielen Dank. Ich bemühe mich stets, meinen Dienst herrn und seine Gäste zufrieden zu stellen.« »Haben Sie heute Abend schon etwas vor?«, fragte ich. »Heute Abend, Sir?« »Ja. Würden Sie sich auch in der Dunkelheit im Ge lände zurechtfinden?« Farthway zögerte. Der Feuerschein beleuchtete seine scharfen Gesichtszüge, während er versuchte, meine ein fache, jedoch ohne Zweifel verwirrende Frage zu ergrün den. »Ich wage zu behaupten«, antwortete er schließlich, »dass ich meinen Weg auch mit verbundenen Augen fin den würde – egal, wo Sie hinzugehen gedenken. Aber …« »Aber was?« »Ich glaube nicht, dass es ratsam wäre, das Haus heute Abend zu verlassen, Sir«, meinte er nervös. »Warum?« Er wechselte von einem Bein aufs andere und vermied es, mir direkt in die Augen zu sehen. »Ich halte es ein fach nicht für ratsam«, lautete seine Antwort. »Könnte es sein, dass Sie bloß Angst haben, 210
Farthway?«, hakte ich provozierend nach und sah, wie der Zorn in seinen Augen aufblitzte. »Darf ich Sie daran erinnern, Dr. Watson, dass ich ei nen Großteil meines Lebens damit verbracht habe, das Empire zu verteidigen, und zwar rund um den Globus und des Öfteren unter feindlichem Beschuss. Sie sind wahr scheinlich ganz anderes gewöhnt. Ich sorge mich nicht um meine Sicherheit, sondern um Ihre. Doch wenn Sie darauf bestehen, habe ich die Pferde in zwanzig Minuten gesattelt.« Damit machte er wie ein preußischer Soldat auf dem Absatz kehrt und verließ die Bibliothek. Die ganze Zeit hatten Lord und Lady Allistair neben uns gestanden und wie vom Donner gerührt unseren Schlagabtausch verfolgt. »Das meinen Sie hoffentlich nicht ernst. Ich nehme an, Sie wollten ihn mit Ihrer Forderung nur zurechtwei sen – was er, wie ich hinzufügen darf, nicht anders ver dient hat«, wandte sich Lady Allistair an mich. »Ein ziemlicher Ausbruch für einen Wildhüter. Kann sein, dass ich den Mann entlassen muss, so gut er auch sein mag.« »Zweifellos bereut er seine Schroffheit mir gegenüber bereits«, warf ich ein. »Dennoch war und ist es mir mit dem, was ich gesagt habe, durchaus ernst: Ich will mich noch heute Abend in die Dunkelheit hinauswagen. Nach allem, was ich gehört habe, ist Ian Farthway dafür der ideale Begleiter.« Ich erzählte ihnen kurz von dem verirrten Hund. Ob wohl beiden anzumerken war, dass sie Betsy gegenüber 211
Mitgefühl empfanden, war es ebenso deutlich, dass sich dieses angesichts der letzen Enthüllungen in gewissen Grenzen hielt und ihre Sorge ganz anderen Dingen galt. Doch ihre Belange standen auch für mich an erster Stelle. Mit einigen Mühen gelang es mir schließlich, sie davon zu überzeugen, dass Betsys Schwierigkeiten mit den ihren offensichtlich in Verbindung standen. »Daher müssen wir wirklich aufbrechen und uns um schauen«, schloss ich. »Und obwohl ich Farthway erst herausfordern musste, habe ich mein Ziel letztendlich er reicht, denn ich bin heute Abend auf seine Hilfe ange wiesen.« »Wenn Sie also wirklich gehen müssen, dann seien Sie um Gottes willen vorsichtig. Ich werde Ihnen beiden Flaschen mit Kaffee und Brandy bereitstellen lassen. Ver gessen Sie Ihre Pistole nicht, Sir, und hören Sie auf Farthway!« »Ich danke Ihnen, Lord Allistair.«
Farthway erwartete mich mit mürrischem Gesicht auf der untersten Terrassenstufe, die Zügel der beiden Pferde in der Hand. Ich reichte ihm seine Flasche, was er bloß mit einem unverständlichen Grunzen quittierte. Beim Aufsit zen bemerkte ich, dass er sich wie gewohnt eine Vogel flinte über die Schulter geschnallt hatte, auch wenn diese irgendwie schwerer wirkte. »Eine doppelläufige Holland und Holland«, erwiderte er knapp, als ich ihn danach fragte. »Keine Vogelflinte. Mit der hier können Sie einen Elefanten erlegen. Und wenn 212
Sie nun vielleicht die Güte hätten, mir zu erklären, warum Sie diesen nächtlichen Ausflug vorgeschlagen haben …« »Ich denke, hier kommt die Antwort«, entgegnete ich. Denn in genau diesem Augenblick bog Clancy, der Terrier, in die Auffahrt, noch immer winselnd und sich in engen Kreisen drehend. Ich erklärte Farthway bloß, dass der Herr des Hundes vermisst wurde und das Tier uns möglicherweise zu ihm führen könnte. Mir schien, als kehre etwas vom Wagemut und der Begeisterung zurück, die der ehemalige Soldat in seiner früheren Karriere ge zeigt hatte. Mit einem Eifer, der schon an Enthusiasmus grenzte, setzte er sein Pferd in Bewegung und preschte die Auffahrt hinunter. Der kleine Hund lief voraus, wobei er immer wieder bellend stehen blieb, sich dann in die Dun kelheit stürzte, um kurz darauf, unsicher geworden, wieder zu uns zurückzukehren, wieder winselnd und sich im Kreis drehend wie zuvor. »Ich glaube, ich habe diesen Hund schon einmal ge sehen«, meinte Farthway, nachdem wir etwa eine Vier telstunde unterwegs waren. »Ist sein Herr vielleicht ein zwielichtiger Bursche mit einer ledernen Schürze und ei nem Schnauzbart wie ein Walross?« »Das hört sich ganz nach ihm an. Ein Gerbergeselle namens Charles Compson. Hat er sich oft hier herumge trieben?« »In den letzten Wochen habe ich ihn gut ein Dutzend Mal auf der Hauptstraße gesehen. Ein einfacher Bursche – der kleine Terrier klebte ihm ständig an den Fersen. Der Mann ist verschwunden?« 213
Ich erzählte ihm Betsys Geschichte, beschränkte mich dabei jedoch auf ihre Liebesaffäre und die vagen Pläne, nach Australien auszuwandern. Compsons mögliche Ver wicklung in die Entführung erwähnte ich vorsichtshalber nicht. Wir eilten weiter im Dunkeln die Straße hinunter. In der Eile hatte ich vergessen, eine Laterne mitzunehmen, und verfluchte mich nun dafür. Mir war allerdings klar, dass eine Laterne nur nützlich war, um Dinge in unmit telbarer Nähe zu erkennen; auf weite Entfernungen wür de auch sie nichts bewirken. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, dass wir keine mitgenommen hatten. Der Weg führte uns nicht nach Rutlidge, sondern eher in die entgegengesetzte Richtung – auf die walisische Gren ze zu. Der Hund wechselte inzwischen ständig sein Tempo, mal rennend, mal langsamer dahintrottend, nur sein Heu len wurde stetig lauter. Dieses Heulen und das dumpfe Klappern der Hufe auf der harten Straße jagten mir Schau der über den Rücken. Der Himmel hatte sich noch mehr bewölkt, und um uns herum war es stockfinster. Außer dem kleinen Hund, der ab und an vorsichtig zwischen den Bei nen der Pferde hindurchhuschte, war so gut wie nichts zu erkennen. Und Farthway schwieg wie ein Grab. »Verzeihen Sie, Doktor«, meinte er endlich nach ei ner ganzen Weile, »ich war vorhin wohl ein wenig grob zu Ihnen. Es tut mir Leid.« »Machen Sie sich wegen mir keine Gedanken, Farthway. Ihre Bemerkungen Lord Allistair gegenüber könnten allerdings ernsthaftere Konsequenzen nach sich ziehen.« 214
»Ja, aber was weiß er schon von den Gefahren, die hier überall lauern? Er und Lady Allistair kommen höchs tens zwei Mal im Jahr hier hinaus. Es würde mich nicht überraschen, wenn er sich eines Tages in seinem eigenen Wald verirrt …« »Sie sprechen geringschätzig von ihm«, erwiderte ich. »Das ist erstaunlich, bei einem Mann seines Formats. Und aus dem Munde eines Wildhüters und Angestellten sind diese Worte beleidigend.« »Diesen Eindruck zu erwecken lag mir fern. Das ge naue Gegenteil ist der Fall. Ich bin mehr aus Bewunde rung für Lord Allistair in dessen Dienste getreten als der Arbeit wegen, die, wie Sie feststellen können, wenig Auf regung zu bieten hat und mich kaum fordert.« »Bis vor kurzem.« »So ist es. Und genau das bereitet mir Sorgen, Doktor. In den Wäldern treiben sich ständig eine Menge Diebe und Banditen herum, aber im Augenblick sind sie noch gefährlicher als sonst. Mein Auftreten heute Abend ent sprang dieser Sorge und war nicht überheblich gemeint.« »Sagen Sie, sorgen Sie sich denn nie um Ihre eigene Sicherheit, wenn die Wälder so gefährlich sind, wie Sie behaupten?« »Nein, Sir. Es gibt niemanden, der diese Gegend so gut kennt wie ich. In den Wäldern hier kann ich jeden abhängen, egal wen, Sir, und zwar im Handumdrehen. Ich kenne jedes Tal, jede Senke und jedes Gehölz des Clun Forest, von Henry’s Hollow über den ›Turm‹ bis hin zu den Clee Hills und dem Wrekin.« »Sind Sie hier geboren?« 215
»Ich wurde in Glasgow geboren, bin aber als Kind nach Ludlow gezogen – habe meine Jugend also hier ver bracht. Und ich wage zu behaupten, dass es niemanden gibt, der dieses Land so gut kennt wie Ian Farthway.« »Ich habe gehört, dass Sie bis vor kurzem Mitglied des Royal Highland Regiments waren.« »Das ist richtig.« Es verstrichen einige Minuten, in denen wir beide schwiegen. »Warum fragen Sie mich nicht, weshalb ich aus dem Regiment ausgeschieden bin, Doktor?«, fragte Farthway schließlich. »Nun, ich …« »Kommen Sie schon, wahrscheinlich sterben Sie vor Neugierde. Die Wahrheit ist: Ich musste den Dienst aus demselben Grund quittieren, der mich als Junge zwang, nach Ludlow zu ziehen: aus Geldnot.« Ich schwieg. »Wissen Sie, trotz allem Anschein von Ehrbarkeit und Wohlstand brachte meine Familie mehr als einen Trun kenbold hervor – von denen mein verstorbener Vater si cher der schlimmste war. In seinem kurzen Leben gelang es ihm, den verbliebenen Rest unseres Familienvermö gens zu verschleudern und unseren Namen in Schottland zu ruinieren. Also brach ich nach Süden auf, suchte mir Arbeit und sparte so viel Geld wie möglich. Mein Zwi schenspiel im Royal Highland Regiment war angenehm, und ich war ein guter Soldat, aber das Geld wurde knapp, und so bin ich hierher gekommen. Ich erzähle Ihnen dies alles, weil ich in meinem tiefsten Inneren einige hartnä 216
ckige Vorbehalte jenen gegenüber hege, die niemals in ihrem Leben einer ehrlichen Arbeit nachgegangen sind.« »Spielen Sie damit etwa auf mich an?«, fragte ich auf brausend. »Nein. Weder auf Sie noch auf Seine Lordschaft. Aber mein Temperament geht nun einmal einfach mit mir durch, wenn ich Orte wie Strathcombe sehe und daran denken muss, wie mein Leben hätte verlaufen können, wenn meine Vorfahren ein wenig umsichtiger gewesen wären. Nun, ich glaube, ich habe genug gesagt.« Und so ritten wir weiter, wobei wir uns weiterhin der lebhaften Gangart des kleinen Terriers anpassten. Ich kam jedoch nicht umhin, mich über den jungen Mann in meiner Begleitung zu wundern. Selbst wenn man seine finanzielle Situation außer Acht ließ, warum begnügte er sich damit, sein Dasein als gewöhnlicher Wildhüter zu fristen, wenn seine Karriere und seine Herkunft doch da rauf hindeuteten, dass er zu weitaus Höherem befähigt war? Warum war er so abweisend und zurückhaltend, selbst seinem Dienstherren gegenüber? Und schließlich: Wohin ritt dieser junge Mann tagaus, tagein auf seinem stolzen Hengst? Wo verbrachte er die Zeit zwischen Son nenaufgang und Sonnenuntergang? Wohin war er bei spielsweise am Abend meiner Ankunft unterwegs gewe sen, als ich ihn mit einem bewundernswerten Sprung über den Zaun hatte hinwegsetzen sehen? Es waren diese Fragen im Besonderen sowie sein merkwürdiges Verhal ten im Allgemeinen, die mich beschäftigten. Es stand je doch außer Frage, dass ich in dieser Nacht dringend auf seine Fähigkeiten angewiesen war, und so beschloss ich, 217
meine Verdächtigungen erst einmal beiseite zu schieben und abzuwarten. Nach etwa zwanzig Minuten wurde der Hund spürbar unruhiger. Plötzlich blieb er stehen, schnüffelte und nä herte sich, die Schnauze dicht am Boden, dem Weges rand. Dort hob er den Kopf und spähte zu den hohen Bäumen eines Wäldchens hinüber, das keine zwanzig Schritt entfernt lag. Ein leises Knurren erklang aus seiner Kehle, das immer lauter wurde und schließlich in einem verängstigten Bellen endete, während der Hund gleich zeitig zu uns zurückgesprungen kam und sich zwischen uns versteckte. Wir versuchten, die Pferde in die Richtung vorwärts zu treiben, in die der Hund gestarrt hatte, aber als hätte das kleine Tier sie angesteckt, weigerten auch sie sich, einen Schritt weiter auf das Wäldchen zu zu machen. Selbst Farthway mit all seinem Können vermochte es nicht, sei nen Hengst in Bewegung zu bringen. Die Tiere schnaub ten und wieherten, bäumten sich sogar auf, aber so sehr wir sie auch anspornten oder mit Flüchen antrieben: Sie rührten sich nicht vom Fleck. »Wir steigen besser ab, Doktor«, meinte Farthway, »und gehen zu Fuß weiter.« Doch kaum waren wir aus dem Sattel, machten die Pferde auf dem Absatz kehrt und rannten in vollem Ga lopp in Richtung Strathcombe zurück. Farthway, dem klar war, dass diese Wendung der Er eignisse kein gutes Licht auf seine Fähigkeiten als Reiter und Wildhüter warf, stieß eine Reihe von Flüchen aus, die in der Tat äußerst bemerkenswert waren. 218
»Nun, wir haben wohl keine Chance, die Tiere zu rückzuholen. Also können wir genauso gut weitergehen und nachschauen, was sie so verschreckt hat – wir wer den sowieso zu Fuß zurückgehen müssen«, meinte ich. Farthway nahm das Gewehr von seiner Schulter, und ich zog meinen Webley und spannte den Hahn. Der Terrier war bei uns geblieben, wie nicht anders bei einem Hund dieser Rasse zu erwarten. Er wirkte jedoch völlig verängstigt und schien es sogar zu bereuen, dass er uns zu diesem unheimlichen Ort geführt hatte. Wir verließen die Straße und stiegen vorsichtig durch das kniehohe Farnkraut, bis wir den Waldrand erreicht hatten. Man konnte nicht behaupten, dass der Hund uns weiterhin führte. Er wagte sich nie mehr als ein paar Schritt voran und blickte immer wieder zurück, um ganz sicherzugehen, dass wir auch tatsächlich folg ten. Inzwischen war er sehr viel stiller, als fürchte er, ein schlafendes Ungeheuer aufzuwecken. Nur ein leises, kaum hörbares Knurren entrang sich seiner Kehle, das immer wieder in ein ängstliches Winseln wechselte. Ich legte meine Hand auf seinen Nacken und konnte durch das drahtige Fell deutlich spüren, dass sein Puls wie wild raste. »Haben Sie ein Licht dabei?«, fragte ich Farthway, nachdem ich den unheimlichen Wall aus Bäumen gemus tert hatte. »Nein? Ich selbst habe nur eine Hand voll Streichhölzer für meine Pfeife dabei. Wir sollten uns also im Dunkeln vorwärts tasten und das Licht für das Ende unserer Mission aufsparen – falls es ein solches gibt.« Als wir uns vorsichtig in das bedrohlich wirkende Di 219
ckicht des dunklen Waldes hineinwagten, wurde ich von jenem seltsamen Gefühl gepackt, das man gemeinhin Déjà-vu nennt. Wo und wann hatte ich in meinem bishe rigen Leben schon einmal etwas Ähnliches erlebt?, fragte ich mich. Es dauerte nicht lange, bis ich mich daran er innerte – und es führte dazu, dass ich mich nur noch mehr darüber wunderte, wie seltsam unser Verstand doch arbeitet, denn das Ereignis, das zu diesem Déjà-vu führte, hatte stattgefunden, als ich erst sieben Jahre alt gewesen war. Und obwohl ich in den circa dreißig Jahren, die in zwischen vergangen waren, nicht mehr als ein gutes Dut zend Mal daran gedacht hatte, stand es nun doch, her vorgerufen aus unergründlichen Tiefen, klar und deutlich vor meinen Augen. Kurz nach meinem siebten Ge burtstag hatte meine Mutter mich mit auf eine Reise nach Frankreich genommen. Wir hatten die Nachtfähre von Dover gebucht, und ich erinnerte mich daran, wie ich die Gangway hinaufgestiegen war, die Rockzipfel meiner Mutter fest gepackt, vor mir die enormen schwar zen Umrisse des Schiffes. Da die Gangway mitten in die ser schwarzen Masse zu enden schien, wirkte das Ganze ausgesprochen beängstigend auf mich. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass wir alle von diesem riesigen schwarzen Ding vor uns verschlungen werden und nie mehr das Licht des Tages sehen würden. Damals war ich nur ein kleiner Junge gewesen, doch ich muss zugeben, dass mich, als wir uns in jener Nacht der bedrohlichen Wand des dunklen Waldes inmitten der Wildnis von Shropshire näherten, dasselbe beängstigende Gefühl beschlich – trotz meines Alters und der Tatsache, 220
dass ich mich in Begleitung Farthways befand und wir beide bewaffnete, kräftige Männer waren. Denn ein klei ner Junge mag durchaus seine Ängste haben, aber er hat auch seine Mutter, die er für unendlich weise und mutig hält. Wenn er dann zum Manne heranwächst, wird er zwar stärker und tüchtiger, verliert jedoch diese allgegen wärtige Beschützerin, die stets für ihn sorgt, und er stellt mit Erschrecken fest, dass er ganz auf sich alleine gestellt ist. Und das heißt meiner Ansicht nach nichts anderes, als vom Regen in die Traufe zu kommen: Wir können die Furcht, die uns von der Wiege bis zum Grab begleitet, niemals ganz abschütteln. Stets lauert sie darauf, uns er neut anzuspringen und mit ihren eisigen Klauen das Herz zuzuschnüren. Wir kamen inzwischen aufgrund der Dunkelheit und des Dickichts an Bäumen und Ästen nur noch im Schne ckentempo vorwärts. Der Terrier huschte jetzt ständig zwischen unseren Beinen hindurch. Wir konnten deut lich sein aufgeregtes Hecheln hören, denn das Tier war mittlerweile so verängstigt, dass es keinen anderen Laut mehr hervorbrachte. »Schauen Sie«, sagte Farthway mit gedämpfter Stim me. Er hob den Arm und deutete in die Finsternis hinaus. »Dort drüben ist eine Lichtung – können Sie den schwa chen Widerschein des Steines sehen?« Ich gab zu, dass ich einen leicht helleren grauen Fleck erkennen konnte, mehr jedoch nicht. Als wir näher ka men, sah ich allerdings, dass die Lichtung aus einem aus dem Erdreich zutage getretenen Felsen bestand, auf dem kein Baum Wurzeln zu schlagen vermochte. Und als wir 221
noch näher herangekommen waren, konnte ich erken nen, dass der Stein, wie so oft bei solchen Erdformatio nen, in einem schrägen Winkel aus dem Boden ragte und dass er in seinen Umrissen beinahe einer Miniaturausga be Gibraltars ähnelte. Nach wenigen Minuten hatten wir die Lichtung er reicht, doch obwohl sie frei von Bäumen war, herrschte weiterhin völlige Dunkelheit. Wir umrundeten den Fel sen, der etwa zwanzig Meter lang war, zweimal, ohne et was Außergewöhnliches zu bemerken. An seinem höchs ten Punkt ragte der Felsbrocken beinahe senkrecht in die Höhe – eine Miniaturklippe von drei, vier Metern Höhe. »Clancy!«, rief ich leise, denn nur er konnte uns den Weg weisen, niemand sonst. Doch der Hund war verschwunden. »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«, fragte Farthway. »Nun, er war neben mir, als wir die Lichtung zum ers ten Mal erspähten«, antwortete ich, »danach kann ich mich nicht erinnern, ihn noch einmal gesehen zu ha ben.« In diesem Augenblick drang ein leises Heulen an un sere Ohren. Wir waren uns ziemlich sicher, dass es von Clancy stammte – doch aus welcher Richtung kam es? »Es scheint von nirgendwo zu kommen«, sagte Farthway. »Oder von überall …« »Es scheint ganz in der Nähe zu sein …« »Aber auch irgendwie weit weg.« Wir spitzten erneut die Ohren. Und wieder erklang 222
das Heulen. Es konnte keine zehn Schritt von uns ent fernt sein. »Doktor – über Ihnen!«, meinte Farthway mit einem heiseren Krächzen. Wir standen unter der klippenartigen Wand an einem Ende des Felsens. Ich blickte nach oben und konnte über mir in der Dunkelheit die kaum sichtbare Silhouette des kleinen Hundekopfes erkennen, der winselnd zu uns hi nunterstarrte. »Clancy – wie bist du da raufgekommen?« »Er muss vom anderen Ende her auf den Felsen geklet tert sein – aber warum sollte er sich da hinaufwagen?« Ich nahm ein Streichholz aus meiner Tasche und ent zündete es. Das erste Aufflackern blendete mich kurz, so sehr hatten sich meine Augen an die Dunkelheit ge wöhnt. Doch das war bald vergangen, und sobald die Flamme beständig brannte, hielt ich das Streichholz so hoch ich konnte. Clancys wachsames Gesicht war jetzt deutlich erkennbar. »Großer Gott!«, rief Farthway entsetzt. Im gleichen Augenblick stieß auch ich einen Schre ckensschrei aus. Wir hatten es beide gesehen. Zu Füßen des Hundes ragte, als wolle sie das Licht, das ich hochhielt, abschirmen, eine menschliche Hand über den Rand der Felskante. Wir standen beide sekundenlang wie vom Donner ge rührt da, entsetzt über das, was wir sahen. Der Terrier begann zu bellen, als wolle er uns drängen, den Felsen hinaufzuklettern. Wir starrten ungläubig auf die Hand, deren geradezu elegante Haltung – die Handfläche nach 223
unten gerichtet und die Finger leicht gekrümmt – der ganzen Szene eine seltsame Ironie verlieh. »Großer Gott, Doktor!«, flüsterte Farthway, während er gleichzeitig näher an mich herantrat. »Ich habe viele schreckliche Dinge gesehen und eine Menge Leichen – aber das hier ist wirklich entsetzlich.« Ich hatte ein weiteres Streichholz entzündet, und wir starrten noch immer auf die schreckliche Szene. »Nun, es besteht wohl kaum ein Zweifel, wem diese Hand gehört«, sagte ich. »Ich fürchte, die bösen Vorah nungen von Betsy waren berechtigt. Wie ist der arme Teufel da hinaufgekommen? Ich frage mich, wie der Hund …?« »Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich am ande ren Ende des Felsens eine sanft ansteigende Böschung ge sehen. Wenn wir hier herumgehen, stoßen wir unmittel bar darauf.« Es dauerte eine Weile, bis meine Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Schließlich erreichten wir eine tiefe Spalte im Felsen, in der ein Pfad im Stein – einer Rampe ähnlich – leicht anstieg. Diesem folgten wir ohne Schwierigkeiten hinauf, auch wenn wir beide nicht darauf brannten, den Felsvorsprung zu erreichen, auf dem uns eine derart grausige Szene erwartete. Als wir uns dem Rand der Klippe näherten, konnte ich verschwommen die Umrisse des Terriers erkennen, der aufgeregt um die dunkle Gestalt hüpfte, die auf dem fahlen Stein ausge breitet lag. Erst beim Näherkommen fiel mir die erstaun liche Größe dieses Objektes auf – es schien sehr viel brei ter als ein Mensch zu sein. Der Vorsprung war vielleicht 224
drei Meter breit, und die ausgestreckte Gestalt nahm gut die Hälfte davon ein. »Dieses … Ding ist ja gewaltig, Farthway. War der Bursche ein Riese?« Statt zu antworten, beugte er sich über die Leiche, und verblüfft hörte ich ihn lang und kummervoll seufzen. Sollte dieser hochfahrende Bursche tatsächlich ein wei ches Herz besitzen? Waren seine Schroffheit und Großtu erei bloß aufgesetzt? Oder musste man Übleres vermuten – nämlich dass er besonders verschlagen war und diesen Seufzer nur ausgestoßen hatte, um mich zu beeindrucken? Zweifellos war dieser Mann ein Rätsel und unterschied sich erheblich von dem offenen und einfachen Wildhü ter, den man für gewöhnlich in England auf dem Lande findet. So tüchtig er auch sein mochte, ich war weit da von entfernt, ihm mein volles Vertrauen zu schenken. »Zünden Sie ein Streichholz an, Doktor«, sagte er mit ernster Stimme, »und Sie werden sehen, wie groß er in Wirklichkeit ist.« Ich tat, wie mir geheißen, beugte mich vor, und was ich zu sehen bekam, verschlug mir den Atem. Auch Farthway sog die Luft ein und stöhnte trotz seiner stahl harten Nerven leise. Der Hund lag still neben den sterb lichen Überresten seines Herrn, den Kopf traurig auf die Pfoten gelegt. Der geneigte Leser wird den zweifachen Schock, der mich packte, sicher verstehen, wenn ich er kläre, woher meine falsche Einschätzung der Größe des Mannes rührte. Das, was ich in der Düsternis für einen einzigen großen Umriss gehalten hatte, war in Wirklich keit eine Leiche inmitten eines Sees aus Blut: Blut in ei 225
ner Menge, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte und wie ich sie, um meines Verstandes willen, hoffentlich nie wieder zu sehen bekommen werde. Es breitete sich in Pfützen und breiten Rinnsalen unter dem Leichnam aus. Es klebte an den Pfoten, den Beinen und der Schnauze des Hundes. Es war überall, in einer schaudererregenden Überfülle. Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten ganz am Rande des Felsens. Er hatte die Arme weit von sich ge streckt, und eine Hand ragte sogar, wie der Leser sich er innern wird, über den Abgrund hinaus. Dem Verhalten des Hundes nach zu schließen und in Anbetracht des gro ßen Schnurrbartes konnte es sich nur um Charles Compson handeln. Er schien heftig nach vorne gefallen zu sein, als wäre er mit großer Geschwindigkeit vor etwas geflohen und dabei gestolpert. Der Schock und der Abscheu, die mich wie ein Ham merschlag trafen und beinahe den Felsen hinunterstürzen ließen, waren allerdings auf die Art und Weise zurückzu führen, wie der Mann ums Leben gekommen war. »Großer Gott im Himmel«, keuchte ich, »die Riesen ratte!« Denn schon beim kurzen Anblick seines übel zuge richteten Nackens und Rückens kehrte all der Schrecken aus der Todeskammer der Matilda Briggs mit der Ge schwindigkeit eines Expresszuges zurück und fuhr bis in mein Innerstes. Während ich hastig panikerfüllte Blicke in den dunklen Wald warf, ging mir auf, dass ich Zeuge des Zusammentreffens zweier großer Tragödien geworden war. Die Episode auf der Matilda Briggs und die harte Prü 226
fung der Allistairs waren auf irgendeine teuflische Art miteinander verbunden. Und der Mittelpunkt all der scheinbar unzusammenhängenden Ereignisse – der Mahl strom, wie mir schien – war nicht Limehouse, nicht ein mal London, sondern die tiefen, bedrohlichen Wälder von Severn. Noch während ich dem erstaunten und verwirrten Farthway gegenüber die fürchterlichen Worte aussprach, zog vor meinem inneren Auge das Bild des Fliehenden vor mir auf, verfolgt von dem schrecklichen Ungeheuer. Hatte er, vollkommen erschöpft, hier auf diesem Felsvor sprung Schutz vor der Bestie gesucht? War er, durch den Wald stolpernd, die Kreatur auf seinen Fersen – die Gott weiß was für furchterregende Laute von sich gab –, zufäl lig auf diesen kleinen Berg gestoßen und hatte ihn in der verzweifelten Hoffnung erklommen, dass sie ihm nicht würde folgen können? Es war Farthway, der mich aus diesen grauenvollen Überlegungen riss, indem er mich an der Schulter packte und schüttelte. »Heh, Doktor! Sie haben sich Ihre Finger an dem Streichholz verbrannt – was reden Sie da von einer Rat te? Welche Ratte könnte so etwas anrichten?« Doch ich winkte nur ab. »Sagen Sie, Farthway, wenn Sie das hier sehen, wie, glauben Sie, hat der arme Teufel sein Ende gefunden?« »Er ist vor etwas davongelaufen – so viel steht fest. Er rannte diesen Felsen hinauf, in der Hoffnung, dass sein Verfolger, wer oder was auch immer hinter ihm her war, nicht würde folgen können. Doch er wurde bis nach oben 227
verfolgt. Und hier, genau an dieser Stelle, wurde er zu Fall gebracht und zu Tode gequält. Ein Keiler wäre viel leicht dazu in der Lage, aber höchstens, wenn er verwun det wäre – oder tollwütig …« Wir brachen auf, tasteten uns vorsichtig die schmale Spalte hinunter und standen schließlich wieder am Saum des Waldes. Ich warf einen Blick zurück auf den schief stehenden Monolithen und schauderte. Wäre der kleine Hund nicht gewesen, wie viele Monate oder sogar Jahre hätte es wohl gedauert, bis jemand den grausigen Fund auf der Felsspitze gemacht hätte? Es war in der Tat ein einsamer Ort zum Sterben, abseits der Straße, inmitten eines tiefen Waldes, auf viele Meilen nur umgeben von der wilden Hügel- und Waldlandschaft Shropshires. »Hier an dieser Stelle sollten wir nachsehen, falls Sie nach Spuren suchen möchten«, meinte Farthway. Es dauerte nicht lange, und wir knieten beide neben einer Spur deutlich erkennbarer riesiger Abdrücke im Boden. Wir untersuchten sie lange und verbrauchten da bei mehrere Streichhölzer. Trotz all seiner Erfahrung und trotz seines erheblichen Fachwissens war Farthway er kennbar verwirrt. »Ich habe solche Spuren erst einmal gesehen«, sagte er schließlich, »und zwar in dem getrockneten Boden auf dem Waldpfad in der Nähe von Henry’s Hollow. Damals war nur ein Abdruck deutlich erkennbar. Er zeigte drei Zehen, aber ich nahm an, dass es sich dabei nur um eine Art Deformation handelte und die anderen Spuren die normalen Abdrücke eines Wildschweins aufweisen wür den, wenn ich sie denn hätte sehen können. Jetzt ist al 228
lerdings klar, dass die Füße dieses Tieres sich eindeutig von denen eines Ebers unterscheiden. Um ehrlich zu sein, sie unterscheiden sich von denen eines jeglichen Tieres, das ich jemals gesehen habe – und zwar auf drei Kontinenten.« »Mir scheint, als hätten einige Füße drei Zehen, wäh rend andere fünf haben. Ist das möglich?« Farthway runzelte die Stirn. »Es ist möglich, Sir, denn wir sehen es ja mit eigenen Augen. Eine bessere Erklärung kann ich Ihnen allerdings nicht geben. Es ist das Seltsamste, was ich seit vielen Jah ren gesehen habe.« »Also gibt es zwei Bestien?« Er schüttelte den Kopf. »Es scheint so. Aber ich habe nie zuvor etwas Ähnli ches gesehen. Die Abdrücke sind außerdem sehr groß – viel größer als die eines Wildschweins. Was für ein Tier könnte das bloß sein?« Ich seufzte. »Je mehr Beweise ich zu Gesicht bekom me, umso bizarrer und grauenerregender wird die ganze Angelegenheit! Kommen Sie, Farthway, wir haben noch einen langen Weg vor uns. Und dann müssen wir noch in die Stadt reiten, um die Behörden zu verständigen. Zum Glück kommt Holmes Morgen …« »Er kommt Morgen?«, hakte Farthway schnell nach. »Ja, er hat ein Telegramm geschickt …« Ich hielt mit ten im Satz inne und starrte meinen Begleiter an. »Wo her wissen Sie von Holmes?« »Wie meinen Sie das? Ist er ein Freund von Ihnen?«, entgegnete er nervös. 229
»Ihrer Reaktion nach zu schließen, haben Sie schon von ihm gehört. Doch ich war sehr darauf bedacht, ihn niemandem gegenüber zu erwähnen, abgesehen von den Allistairs. Woher also wissen Sie von ihm? Antworten Sie, und zwar schnell, oder Sie werden es bereuen!« Er schwieg eine ganze Weile lang. Offensichtlich rang er mit sich, ob er mir alles anvertrauen oder schweigen sollte. »Ich habe Ihnen nicht mehr zu sagen, Doktor«, mein te er schließlich. »Ich fürchte, wenn man auf Strathcom be hart mit mir zu Gericht gehen wird, kann ich es auch nicht ändern.« In Anbetracht der Leichtigkeit, mit der die Entführer offensichtlich Spione im Haushalt der Allistairs ein schleusen und das Grundstück nach Belieben betreten und verlassen konnten, war diese Haltung Farthways nicht gerade dazu angetan, mich zu beruhigen. »Ich bitte Sie, noch einmal gründlich nachzudenken. Man wird Ihnen Ihr Schweigen so auslegen, als stünden Sie im Bunde mit …« »Eine solche Auslegung wäre ungerechtfertigt und dumm. Ich stehe mit niemandem im Bunde. Außerdem liegt mir das Wohl aller Allistairs am Herzen – daher meine Sorge um Sie beide heute Abend, als Sie mir er öffneten, dass Sie einen Ausritt zu Henry’s Hollow unter nommen hatten. Doch nun stellen Sie bitte keine weite ren Fragen, Doktor. Wie Sie bereits sagten: Es gibt eine Menge zu tun, und wir haben wenig Zeit.« Sprach’s, drehte sich um und marschierte in Richtung Straße davon. Ich wollte ihm schon folgen, als ich mich 230
daran erinnerte, wer uns eigentlich zu diesem unheimli chen Platz geführt hatte. Ich ging noch einmal auf die Felsspitze hinauf und fand Clancy so vor, wie wir ihn ver lassen hatten. Ich drängte ihn, uns zu folgen, aber kein Bitten und Rufen half. Als ich versuchte, ihn hochzuhe ben, knurrte er und schnappte nach mir. Also ließ ich ihn an der Seite seines toten Herrn zurück, den Kopf traurig auf die Pfoten gelegt. Ich stieg den Felsen hinunter und machte mich auf den langen Weg durch die Kälte zurück nach Strathcombe, in Begleitung eines Mannes, dem ich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht voll und ganz vertraute. Nie zuvor während all meiner Jahre mit Sherlock Holmes hatten sich die Ereignisse so unheilvoll und un erklärlich zugespitzt und waren auf ein so düsteres, rätsel haftes Finale zugelaufen. Und nie zuvor hatte ich mich so alleine gefühlt.
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KAPITEL 10
Der Mahlstrom
Ich kann die Erleichterung, die mich durchflutete, kaum in Worte fassen, als ich kurz nach drei Uhr am fol genden Tag das Rattern des Landauers in der Auffahrt hörte und das kantige Gesicht Sherlock Holmes’ erspäh te, der auf dem Rücksitz saß. Allerdings war ich sehr überrascht, dass er so offen vor fuhr und aus seiner Ankunft keinen Hehl machte. Dieses förmliche Eintreffen auf Strathcombe am hellen Tag wi dersprach zweifellos der Anweisung, die man den Allistairs gegeben hatte, sich auf keinen Fall um Hilfe zu bemühen. Mir schien, als wolle er das Schicksal herausfordern, doch da ich mich so sehr über seine Ankunft freute, beschloss ich, dieses Thema nicht anzuschneiden. Holmes war ein getroffen, und ich konnte endlich wieder durchatmen. »Nun, mein lieber Watson«, meinte er, als er die Ter rassenstufen hinaufstieg, »Brundage hat mir erzählt, dass es brodelt, seit Sie hier in Strathcombe sind …« »Überkochen wäre der bessere Ausdruck – verdammt, Holmes, es ist gut, Sie zu sehen!«, platzte ich heraus und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Hat Brundage Ihnen auch von den Vorkommnissen letzte Nacht berichtet?« »Vom Tod des jungen Compson? Was für ein Un glück! Wie geht es dem Mädchen?« 232
»Sie ist zu ihrer Familie gefahren. Mehr konnte ich nicht für sie tun. Das arme Ding hat fast den Verstand verloren. Aber Holmes, ich muss Ihnen unbedingt erzäh len, wie der Mann gestorben ist …« »Er ist zu Tode gequält worden?« »Genau. Eine exakte Doublette zum Fall McGuinness. Aber woher wissen Sie das?« »Sagen wir, ich vermutete schon eine ganze Weile, dass die Entführung von Alice Allistair und der Fall der Riesenratte von Sumatra miteinander in Verbindung ste hen. Das überrascht Sie zweifellos. Und wahrscheinlich verblüfft es Sie auch, dass ich mich so offen zeige, obwohl die Entführer darauf bestanden haben, dass Lord und La dy Allistair keine Hilfe herbeirufen. Auch dafür habe ich meine Gründe, die ich jedoch im Augenblick noch ver schweigen möchte …« »Wie Sie wünschen …« »Nun, ich hoffe, Sie haben die Ratte den Allistairs ge genüber nicht erwähnt.« »Mit keinem Wort. Da brauchen Sie sich keine Sor gen zu machen.« »Gut.« »Lord Allistair erwartet uns in seinem Arbeitszim mer. Wir müssen etwas äußerst Dringliches bespre chen.« Nach einem herzlichen Willkommen von Seiten Lord Allistairs und einer Tasse Tee lauschte Sherlock Holmes aufmerksam unserem Bericht von der Botschaft innerhalb der Botschaft. Er saß an dem filzbezogenen Spieltisch und drehte das Stück Zeitungspapier nachdenklich immer 233
wieder zwischen den Fingern. Selbst mit der Lupe unter suchte er es. »Schalten Sie bitte die Lampe an, Watson.« »Was halten Sie davon?« »Zunächst einmal denke ich, dass Ihr Optimismus wohl begründet ist. Wenn dies tatsächlich die Handschrift von Alice ist, dann ist Ihre Tochter wahrscheinlich am Leben und wohlauf. Was die verschlüsselte Nachricht be trifft, so ist die Sache schon schwieriger. Nach Lage der Dinge würde ich Ihnen zustimmen, Lord Allistair, dass die Zeilen von Ihrer Tochter geschrieben – oder vielmehr ge locht wurden. Wenn Sie mit dem Finger über die Stiche fahren, spüren Sie, dass die kleinen Ausbeulungen sich auf der Vorderseite befinden. Die Nadel wurde also von der Rückseite her benutzt. Und zwar mit außergewöhnlicher Fingerfertigkeit – exakt die Fähigkeit, die eine gute Nähe rin auszeichnet. Ich beglückwünsche Sie zu dieser gelun genen Schlussfolgerung.« Lord Allistair strahlte vor Stolz, als er sich seine Tasse nachfüllte. Holmes’ Ankunft zeigte zweifellos eine be merkenswerte Wirkung auf den Mann. »Nun weiter. Die naheliegendste Methode, eine solche Botschaft aufzusetzen, wäre sicher gewesen, die Zeitung von vorne zu durchstechen. Daher können wir anneh men, dass Alice genau beobachtet wurde und zu der unan genehmen, weil sehr viel schwierigeren Lösung gezwun gen war, die Löcher von unten anzubringen. Auf diese Weise, mit der Zeitung vor sich auf dem Schoß, bliebe ih re Hand mit der Nadel vor den Blicken verborgen.« Lord Allistair konnte sich nicht länger beherrschen. 234
Er sprang aus seinem Sessel und schritt ungestüm im Zimmer auf und ab. »Sehen Sie? Sehen Sie, was für ein kluges Mädchen sie ist? Oh, ich sage Ihnen, ein Mädchen wie sie gibt es im ganzen Königreich nicht noch einmal!« Holmes lächelte, hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Das erklärt vielleicht auch, warum sie ihre Nachricht auf diesen einen kurzen Artikel beschränkt hat. Wenn sie ihre Hand zu sehr bewegt hätte, wäre das sicher aufgefal len.« »Aber die Nachricht selbst … Können Sie sie entzif fern?« »Ich fürchte, Gentlemen«, antwortete Holmes nach einem kurzen Blick auf den Zeitungsausschnitt, »dass ich Ihnen dazu nichts sagen kann.« »Aber, Holmes«, protestierte ich, »sicher können Sie die Botschaft entschlüsseln, wenn Sie sich nur etwas Zeit nehmen und Mühe geben. Sie haben in der Vergangen heit weitaus schwierigere Rätsel und Kodes als diesen hier geknackt. Das Geheimnis der tanzenden Männchen und das Musgrave-Ritual stellten sicher eine größere Heraus forderung dar.« »Nun, es handelt sich hierbei um ein recht schwieriges Rätsel, fürchte ich«, meinte er nur und steckte das Papier bedächtig in seine Brusttasche. »Holmes! Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Bei Ihrer Vorliebe für verwickelte Geheimnisse überrascht mich diese anmaßende Haltung in der Tat. Wenn Sie behaup ten, dass Sie uns dazu nichts sagen können … heißt dass, Sie können nicht oder Sie wollen nicht?« 235
»Das heißt … Oh, hallo, Lady Allistair, es ist mir in der Tat ein Vergnügen!« Lady Allistair begrüßte Holmes herzlich. Bedauerli cherweise war sie nach der kurzen Atempause, in der die Ängste ein wenig nachgelassen hatten, wieder in eine tie fe Schwermut verfallen, ausgelöst durch den Tod Charles Compsons. Zwar hatte sie den Mann nicht gekannt, aber Betsys Schmerz war ansteckend. Außerdem hatte die bru tale Art des Todes neue Befürchtungen in ihr aufkeimen lassen. Als ich sie das Arbeitszimmer betreten sah, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie, so froh sie auch über Holmes’ Ankunft sein mochte, dennoch be fürchtete, unsere Anwesenheit könne das Leben ihrer Tochter auf irgendeine Art gefährden. Zwar vermochte ich ihr Dilemma durchaus zu verstehen, aber mein uner schütterliches Vertrauen in Holmes’ Fähigkeiten und Ur teilsvermögen signalisierte mir eindeutig, dass unsere jet zige Vorgehensweise die einzig richtige war. Holmes geleitete Lady Allistair zu einer Sitzgelegen heit in der Nähe des Kamins, zog sich selbst einen Sessel heran und kümmerte sich in derselben mitfühlenden und beruhigenden Art um sie, die ich in der Vergangenheit schon so oft bei ähnlichen Gelegenheiten an ihm hatte beobachten können. »Liebe Lady Allistair, die letzte Zeit war ausgespro chen schwierig für Sie, und die Belastungen dauern auch schon viel zu lange an. Aber ich bin mir in zweierlei Hin sicht ganz sicher: Erstens, dass Ihre Tochter lebt und wohlauf ist. Und zweitens sagt mir mein Gefühl, dass die 236
Zeit der Prüfung, so hart sie auch gewesen sein mag, sich dem Ende zuneigt.« Seine Worte zeigten die gewünschte Wirkung, und es dauerte nicht lange, bis sie ihre Fassung wiedergefunden hatte. Ich erkannte deutlich, dass Holmes nicht beabsich tigte, noch einmal auf die verschlüsselte Botschaft zu rückzukommen, solange Lady Allistair im Raum war. Al so beschloss ich, trotz meiner Verärgerung über Holmes’ diesbezügliche gleichgültige Haltung, das Thema fallen zu lassen – zumindest vorerst. »Und nun«, schloss Holmes nach seinen aufmuntern den Willkommensworten, »fürchte ich, wartet noch eine ziemlich grausige Aufgabe auf uns. Watson, wenn ich mich recht erinnere, erwähnten Sie, dass Sie die Behör den über Mr Compsons Tod informiert haben?« »Ja. Sobald Farthway und ich letzte Nacht hier ange kommen waren, habe ich Wiscomb mit der Nachricht in die Stadt geschickt. Wahrscheinlich befindet der örtliche Inspector sich genau in diesem Augenblick am Tatort.« Holmes’ Gesicht verfinsterte sich. »Dann machen wir uns besser auf den Weg, und zwar so schnell wie möglich – Sie wissen nur zu gut, was ein ›örtlicher Inspector‹ selbst mit grundlegendem Beweisma terial anzustellen in der Lage ist. Wollen Sie uns beglei ten, Lord Allistair? Nein? Gut, vielleicht ist es am besten, wenn Sie hierbleiben. Und nun, Watson, lassen Sie uns zu diesem Farthway gehen, bevor wir aufbrechen; er könnte uns von einigem Nutzen sein.« Wir fanden Farthway in seiner Hütte, über eine selt sam aussehende Lampe gebeugt, die auf einem Tisch vor 237
einem runden Erkerfenster stand. Ich bemerkte, dass das Fenster einen direkten Blick auf das Haus und die Auf fahrt gewährte. Farthway und Holmes schüttelten sich höflich die Hand, doch ich glaubte, eine Spur von Misstrauen im Gesicht des Wildhüters zu sehen – oder war es Verschla genheit? Er willigte sofort ein, uns zu begleiten, und schlüpfte in seine Reitstiefel. Die Wände des kleinen Cottages waren mit den unterschiedlichsten Trophäen bedeckt, meist Fuchs- und Hirschköpfe. Auf einer An richte an der der Tür gegenüberliegenden Wand lag ein Offizierssäbel, dessen Scheide aus glänzendem Silber mit goldenen Verzierungen bestand. Daneben stand der gro ße Tschako der Schwarzen Garde. Ich konnte nicht um hin: Ich war beeindruckt. Als wir uns zum Gehen umwandten, fiel mein Blick erneut auf die Lampe. »Holmes«, sagte ich, »ist das nicht eine Signallampe? Ich glaube, ich habe schon einmal eine solche gesehen – Sie erinnern sich, an Bord des Dampfschiffes Rob Roy, damals, im Zusammenhang mit dem Fall des neugierigen Bootsmannes …« »Ja, es ist eine Signallampe«, erwiderte der Wildhüter rasch. »Ich habe sie von einem Wrack in der Bantry Bay mitgenommen und als Erinnerungsstück behalten. Soll ten wir nicht aufbrechen?« Holmes bewegte den bronzenen Hebel an der Seite der Lampe hin und her, und die metallenen Blenden öffneten und schlossen sich mit einem munteren Klicken. »Ein recht ordentliches Gerät zum Signalisieren, was, 238
Watson?«, bemerkte Holmes, als wir die Hütte verließen. »Wie auch immer, eigentlich sollte jetzt eine Kutsche auf uns warten – ah, da steht sie ja, am Ende der Auffahrt.« Ich werde den geneigten Leser nicht mit allen Einzel heiten unserer grausigen Expedition behelligen. Es ge nügt, wenn ich hier erwähne, dass wir den Tatort schließ lich wieder erreichten, allerdings nur, weil wir den klei nen Terrier Clancy am Wegrand erspähten. Zuerst nahm ich an, dass er seine einsame Wache vernünftigerweise aufgegeben hatte, aber als wir den Felsen erreichten und hinaufgeklettert waren, sah ich, dass der Leichnam ver schwunden war. Ich hörte, wie Holmes einen leisen Fluch ausstieß. »Nun aber, Holmes, Sie können von den Konstablern sicher nicht erwarten, dass sie die Leiche in dieser einsa men Gegend einfach so herumliegen lassen – der An stand gebietet es, dass sie fortgeschafft und für ein ange messenes Begräbnis vorbereitet wird …« Mit einem enttäuschten Seufzer zog Holmes seine Ta schenlupe hervor und machte sich daran, den Felsen und seine Umgebung abzusuchen. Außer den großen Blutfle cken, die er aufs Genauste untersuchte, schien er nichts Interessantes zu finden. Schließlich stieg er vom Felsen hinunter und umrundete ihn dreimal, bevor er am Wald rand stehen blieb. Ich konnte hören, wie er etwas mur melte. »Was immer es gewesen sein mag, das Tier war riesig. Haben Sie diese Spuren hier bemerkt?« »Ja, gestern Nacht, im Dunkeln. Wissen Sie, um wel ches Tier es ich handelt? Ist es tatsächlich eine Ratte?« 239
»Ich wiederhole gerne, was ich vor vierzehn Tagen in der Kutsche Lestrade gesagt habe: Es könnte sich um ein fremdartiges Tier handeln, das der zivilisierten Mensch heit bisher noch unbekannt ist. Das halte ich in der Tat für durchaus möglich. Aufgrund einer Vielzahl von Hin weisen wissen wir nun immerhin mit Sicherheit, dass es sich um ein Lebewesen handelt – und nicht um eine Pup pe oder einen optischen Trick, wie wir zuerst vermuteten, als wir Sampsons Geschichte hörten. Mr Farthway, wenn Sie berücksichtigen, wie groß die Spuren sind und wie tief sie sich in den Boden eingedrückt haben, wie viel, schät zen Sie, wird dieses Tier wohl wiegen?« »Zwischen fünf- und sechshundert Pfund, mindes tens.« »Und ich, der ich durchaus nicht unerfahren bin auf diesem Gebiet, würde Ihnen da zustimmen. Mit so einer Bestie auf den Fersen wird es klar, warum der junge Compson so ängstlich bemüht war, diesen Felsen zu er klettern.« Die Rückfahrt nach Strathcombe dauerte nicht lange. Farthway saß auf dem Kutschbock, während Holmes und ich auf dem Rücksitz des Landauers Platz nahmen, rauch ten und uns leise unterhielten. Dabei machte ich Holmes sogleich darauf aufmerksam, dass ich Farthway nicht ganz über den Weg traute. Ich erzählte ihm von der Vergan genheit des Wildhüters sowie von einigen Ereignissen der jüngeren Zeit, die diesen nachteiligen Eindruck bei mir hervorgerufen hatten. »Und ich möchte hinzufügen, Holmes, dass mir der Anblick der Signallampe in der Hütte ebenfalls nicht ge 240
fallen hat. Man kann ihr Licht über Meilen hinweg se hen, nicht wahr?« »Wirklich, Watson«, meinte Holmes ungeduldig und stieß schnell hintereinander ein paar kleine Tabakswol ken aus, »Sie hören sich wie die Klatschbasen der Stadt an …« »Außerdem wusste er, dass Sie heute Morgen hier ein treffen würden – obwohl ich nicht einmal Ihren Namen erwähnt habe, ebenso wenig wie Lord Allistair. Wie konnte er das wissen?« Holmes zuckte bei dieser Mitteilung sichtbar zusam men. Mit stechendem Blick fixierte er den Rücken des Wildhüters, der nur ein paar Armlängen entfernt wohl gemut die Kutsche lenkte, ohne etwas von unseren Ver dächtigungen und Sorgen zu ahnen. Offensichtlich konn te er kein Wort unserer Unterhaltung verstehen, denn wir sprachen mit gedämpfter Stimme, und das Klappern der Hufe und Rattern der Räder übertönte jeden anderen Laut. »Nun, das ist interessant. Ich muss daran denken, mich einmal alleine mit Mr Farthway zu unterhalten, so bald wir das Haus erreicht haben.« »Da fällt mir ein, es gibt da noch etwas …«, sagte ich, beugte mich vor und sprach mit lauter Stimme: »Heh, Farthway, wer von den Bediensteten hat Ihnen gestern erzählt, dass Lord Allistair und ich in Henry’s Hollow wa ren?« Meine Frage traf ihn offensichtlich völlig unvorberei tet und schien ihn gleichermaßen zu erstaunen und zu beunruhigen. 241
»Ich, ähm, kann mich nicht mehr genau erinnern, Sir.« »Sie können sich nicht erinnern?«, hakte ich nach. »Das ist seltsam, wenn man bedenkt, dass es doch erst gestern war. Wenn Sie sich wieder erinnern, lassen Sie es mich wissen.« Ich lehnte mich wieder zurück und lachte vergnügt in mich hinein. »Lord Allistair und ich haben keiner Menschenseele gegenüber verlauten lassen, dass wir in Henry’s Hollow waren«, erklärte ich. »Dieser Bursche weiß eine Menge Dinge, die er nicht wissen sollte. Ich glaube – oh, dort hinter den Bäumen ist das Haus. Sehen Sie die Schorn steine? Ich schätze, Sie und ich sollten uns einmal aus führlich und ganz vertraulich mit Lord Allistair unterhal ten.« »Vortrefflich, mein lieber Watson. Gleich nach dem Dinner.« Und das taten wir auch. Lord Allistair befahl Brunda ge, das Kaminfeuer zu schüren, und während wir uns da vor niederließen, ein Glas Brandy in der Hand, schloss er hinter dem Diener die Tür und verriegelte sie. »Dr. Watson hat Recht, Mr Holmes. Keiner von uns beiden hat unseren kleinen Ausritt erwähnt. Woher hat Farthway davon gewusst? Und woher wusste er von Ihrer Ankunft? Ich muss gestehen, dass mich dies ein wenig beunruhigt. Wir halten uns nicht an die Anweisungen, die uns die Entführer gegeben haben. Wenn man be denkt, wie sie mit jenen umgesprungen sind, die ihnen in die Quere gekommen sind – ich denke da an den armen 242
Teufel Compson –, dann befürchte ich langsam das Schlimmste.« »Auch wenn ich Ihre Sorge vollkommen verstehe, Lord Allistair, fürchte ich, dass wir unseren gegenwärti gen Kurs beibehalten müssen. Jede Abweichung davon würde ebenso viel Verdacht erregen wie meine Ankunft an sich. Außerdem, sollten Sie Farthway entlassen, was Sie und Watson anscheinend erwägen, würde das nur seinen Zorn erregen, sofern er tatsächlich zu den Spießge sellen der Entführer gehört, uns aber auf der anderen Sei te eines treuen Verbündeten berauben, falls er doch loyal ist.« Dieser Einwurf gab uns beiden zu denken. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung mit Holmes neigte ich na türlich dazu, seinem Urteil zu folgen. Wir beschlossen al so abzuwarten. »Und nun erzählen Sie mir mehr über Henry’s Hol low.« Wir beschrieben ihm den Ort ausführlich, und ich er wähnte auch den Geruch des Waldfeuers, den ich dort wahrgenommen hatte. Holmes überhäufte uns mit zahllo sen Fragen: Wie groß die Senke war? Wie viele Höhlen es gab, und wie groß diese waren? Ob wir irgendwelche an dere Spuren bemerkt hätten, die darauf hindeuteten, dass dieser seltsame Ort in letzter Zeit besucht worden war? Ob es möglich wäre, Pferde dort zu verstecken oder gar einen Lastkarren? Lord Allistair beantwortete all diese Fragen so gut er konnte, und wir beendeten unsere Sitzung, nachdem er für Holmes eine grobe Skizze des Tales entworfen hatte, 243
die die Lage von Henry’s Hollow in Bezug auf Strathcom be verdeutlichte. Entfernung und Richtung waren ange geben, die Waldpfade sowie einige interessante Punkte in der Senke selbst. Als wir uns einige Stunden später für die Nacht nach oben begaben, gestattete ich mir folgende Bemerkung: »Ich hoffe, Sie verzeihen mir, Holmes, aber Sie scheinen etwas von Ihrem alten Eifer verloren zu haben.« »Wirklich?«, fragte er irritiert. »Wie kommen Sie da rauf?« »Haben Sie mit Farthway ein Gespräch unter vier Au gen geführt?« »Ja, gleich nach unserem Treffen mit Lord Allistair in dessen Arbeitszimmer. Während Sie beide Billard gespielt haben, bin ich erneut zum Cottage hinuntergegangen. Wir haben uns lange unterhalten. – Da wären wir, Wat son. Kommen Sie noch auf einen Sprung mit in mein Zimmer.« Ich folgte ihm in einen Raum, der dem meinen ähnel te. Dieser hier ging allerdings direkt auf Farthways Cotta ge hinaus. Holmes setzte sich und zündete erneut seine Pfeife an. »Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Holmes, Rätsel wie die verschlüsselte Nachricht einfach beiseite zu wischen. Außerdem scheinen meine Beobachtungen, Farthway betreffend, nicht nur genau, sondern auch sehr bedeut sam zu sein. Dennoch scheinen Sie die Tatsache, dass er am Rande etwas mit der Sache zu tun hat … nein, dass er darin verwickelt ist, auf die leichte Schulter zu nehmen …« »Tue ich das? Ich denke nicht. Es ist nur so, dass ich 244
ein wenig vorsichtiger und weniger gefühlsbetont bin als andere in meiner Umgebung.« Ich spürte, dass diese Spitze mir galt, erhob mich und begann, vor dem Fenster im Raum auf und ab zu gehen. Durch die altertümlichen Scheiben konnte ich sehen, dass die Dämmerung langsam in Dunkelheit überging. »Haben Sie die Allistairs heute Abend beim Essen beo bachtet? Ich habe nie zuvor zwei so trübsinnige Menschen gesehen. Offenbar wirkt unsere Anwesenheit in gewissem Grade beruhigend, auf der anderen Seite scheint sie sie aber auch zu ängstigen. Holmes, wir müssen etwas unter nehmen!« Auch er erhob sich und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Guter alter Watson, stets ein Mann der Tat! Allzeit bereit, aufzuspringen und zu helfen, wo es Not tut. Aber wir müssen warten, bis uns die Lösegeldforderung über bracht wird. Alles andere wäre zum jetzigen Zeitpunkt tö richt, ja, sogar verhängnisvoll. Zweifellos leiden Sie unter der Anspannung – wie wir alle. Ist es wirklich erst zehn Tage her, dass wir Jenards Leiche gefunden haben? Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor …« »Was haben Sie von Farthway erfahren?« »Ah! Erstens: Es war Betsy, die ihn über Ihren Ausritt zum Hollow informiert hat. Sie hat Sie mit Lord Allistair darüber reden hören, kurz bevor sie sein Arbeitszimmer betrat.« »Das könnte sein«, gab ich nach einigem Nachdenken zu. »Es könnte aber auch anders gewesen sein.« »Dennoch müssen wir es vorerst so akzeptieren. Wenn 245
wir hier zu viel Staub aufwirbeln – ob es nun Farthway oder jemand anderen betrifft –, könnte das fatale Konse quenzen haben. Wir müssen uns in Geduld üben und ab warten, Watson. Davon hängen in diesem Fall unser Er folg sowie das Leben von Alice Allistair ab. Doch warten Sie – vielleicht kann ich Sie ein wenig beruhigen. Ist die Tür verriegelt?« Ich ging hinüber, schloss ab und kehrte zu meinem Stuhl zurück. Holmes zog seinen nah heran. »Wie Sie wissen, gehört es durchaus zu meinen Ge wohnheiten, nicht alles zu verraten, was ich weiß, bevor meine Theorien nicht durch Fakten gestützt werden. Was nun diesen Fall hier betrifft, so vermutete ich schon län ger, dass es eine Verbindung zwischen der Entführung von Alice Allistair und den blutigen Vorkommnissen auf der Matilda Briggs gibt. Die Gründe dafür sind zahlreich, aber es soll erst einmal genügen zu sagen, dass meine Vermutungen sich als richtig erwiesen haben.« Er stand auf und ging zum Fenster hinüber. »Was demnächst in diesen Wäldern dort draußen pas sieren wird – auch da habe ich meine Theorien. Glauben Sie mir, es geht um Leben und Tod, und wenn wir auch nur den Hauch einer Chance haben wollen, dann müssen Sie – ebenso wie Lord Allistair – den Anweisungen der Entführer bis ins Kleinste Folge leisten. Wollen Sie mir das versprechen?« »Sie wissen sehr wohl, wie sehr ich Ihnen vertraue, Holmes. Ja, ich gebe Ihnen mein Wort, dass auch Lord Allistair sich fügen wird.« »Ausgezeichnet. Dann ab ins Bett! Ich bin mir sicher, 246
dass wir morgen all unsere Kräfte brauchen werden. Gute Nacht.« Am nächsten Tag würde sich unbestreitbar herausstel len, wie berechtigt Holmes’ warnende Worte gewesen waren! Als ich sein Zimmer verließ, hörte ich draußen das Grollen eines heraufziehenden Gewitters. Ich zog mich kurz danach in mein Bett zurück, nach dem ich noch eine kleine Weile am Fenster gestanden und meinen Blick über die dunkle Landschaft hatte schweifen lassen. Dem Donner war ein Sprühregen ge folgt, ein Nieselregen wie er oft tagelang ohne Unterlass anhält. Ich zog mir die Decke unters Kinn, lauschte den Regentropfen auf den Fensterscheiben und war bald da rauf eingeschlafen.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ein Geräusch in der Halle – vielleicht verstohlene Schritte – hatte mich hochfahren lassen. Das Geräusch war sehr leise, aber ich hatte nicht tief geschlafen und war daher anfällig für die geringste Störung gewesen. Nachdem ich in meine Hose geschlüpft war, ging ich zur Anrichte hinüber. Dort öffne te ich den Deckel meiner Taschenuhr und tastete nach den Zeigern. Es war kurz nach drei. Völlig lautlos betrat ich die Halle und spitzte die Ohren. Alles war still. Ich blieb einige Minuten reglos stehen, konnte aber noch immer nichts hören. Wahrscheinlich hatte mir meine überhitzte Fantasie einen Streich gespielt. Ich war schon dabei, in mein Zimmer zurückzukehren, als ich in letzter Minute beschloss, noch bei Holmes vorbeizuschauen. Da 247
auch er nur einen leichten Schlaf besaß, hatte er viel leicht etwas gehört. Ich klopfte leise an seine Tür und wartete. Als keine Antwort kam, öffnete ich die Tür und trat an sein Bett. Der geneigte Leser wird sich meine Überraschung vorstel len können, als ich feststellte, dass es leer war! Und nicht nur das: Die Laken waren völlig unberührt. War Holmes selbst entführt worden? Oder hatte man ihn unter einem falschen Vorwand weggelockt? Ich stieß leise einen Fluch aus. Sollten die Sorgen denn nie ein Ende finden? Welch Ironie des Schicksals, dachte ich, dass gerade, als die Dinge sich zu unseren Gunsten zu wenden beginnen, Holmes verschwindet – ausgerechnet in der Stunde, in der wir ihn am dringends ten brauchen! Doch dann dachte ich noch einmal nach. Angesichts der außergewöhnlichen Konstitution und der wunderli chen Lebensführung meines Freundes, war es durchaus möglich, dass er zu einem mitternächtlichen Spaziergang aufgebrochen war. Ein paar Minuten lang machte ich mir so selbst etwas vor. Dann holten mich zwei Dinge wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Das eine war Hol mes dringender Appell, so viel Schlaf wie möglich zu tan ken. Das zweite war ein Vorkommnis, das mich vor Be sorgnis regelrecht schwindlig werden ließ. Ich stand neben dem Fenster und warf zufällig einen Blick nach draußen. Plötzlich wurden die Vorhänge in der Hütte unten aufgezogen, und ein mattes Licht fiel aus dem Fenster hinaus auf den Boden. Im schwachen Schein konnte ich ein Paar Hände erkennen, die ebenjene Sig 248
nallampe hielten, die mir bei meinem Besuch früher am Tag aufgefallen war. Im nächsten Augenblick schoss ein Strahl von unglaublicher Helligkeit aus dem Cottage. So gleißend wie der Scheinwerfer einer Lokomotive, durch stach es die Dunkelheit wie eine weiß glühende Klinge, so weit das Auge reichte. Dann war alles wieder dunkel, und Streifen und Flecken tanzten vor meinen Augen, wo ich eben noch den Strahl gesehen hatte. Drei Mal noch flammte die Lampe auf, dann geschah lange nichts. So lautlos wie möglich schob ich den Fensterrahmen hoch, streckte den Kopf hinaus und spähte in die Rich tung, in die der Strahl gerichtet gewesen war. In der Fer ne, am äußersten Rand des Waldes, blinkte ein zweites Licht – weitaus weniger strahlend, aber deutlich sichtbar. Als es seine Nachricht beendet hatte, blitzte das Licht unter mir wieder auf. Ich bemerkte, dass selbst der Niesel regen der Reichweite keinen Abbruch tat. Nach einer schnellen Abfolge von Signalen erlosch die Lampe, und die Vorhänge wurden wieder zugezogen. Während ich mich umdrehte, um aus dem Zimmer zu stürzen, hörte ich, wie die Tür zur Hütte zugeschlagen wurde und rasche Schritte auf dem Kies der Auffahrt erklangen. Das war also die Erklärung für Holmes’ Abwesenheit! Offensichtlich hatte er ebenfalls das Signallicht von sei nem Schlafzimmerfenster aus bemerkt und war hinausge eilt, um Nachforschungen anzustellen. Enttäuscht, dass er ohne mich gegangen war, blieb ich gerade lange genug zurück, um mir meinen Revolver zu schnappen, und eilte auch schon die Treppe hinunter. Ich verließ das Haus durch die Vordertür. Barfuß 249
huschte ich die Terrassenstufen hinunter und über die Auffahrt zu Farthways Cottage. Die Tür war unverschlos sen, die Hütte verlassen. Auch das Bett des Wildhüters war unberührt. Also hatte Holmes meinen Verdacht doch ernst genommen; er war aufgeblieben und hatte ge wartet, dass Farthway mit seinen Spießgesellen in Ver bindung trat. Der Geruch von heißem Metall lockte mich ans Fens ter. Ich legte den Hebel der Lampe um, aber sie war be reits gelöscht worden. Ein Gedanke durchzuckte mich: Sollte ich die Lampe erneut anzünden und weitere Signa le geben? Ein falsches Signal könnte die Pläne der Schur ken durchkreuzen. Andererseits konnte ein solches Täu schungsmanöver das Leben von Alice Allistair gefährden. Also verließ ich das Cottage und schloss die Tür hinter mir. Als ich so mitten in der Nacht über die Auffahrt zum Haus zurückging, kam ich mir verlassen wie ein Waisen kind vor. Offensichtlich hatte Holmes sich an die Verfol gung Farthways gemacht – zweifellos waren es seine Schritte gewesen, die ich in der Halle gehört hatte. Doch warum war er alleine gegangen? Nach all den Abenteu ern, die wir gemeinsam bestanden hatten: Warum hatte er beschlossen, dieses hier ohne mich zu Ende zu bringen? Sorgte er sich um meine Sicherheit? Zweifelte er an mei ner Konstitution? Ich war enttäuscht und durch sein Ver halten ziemlich verletzt. Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, schritt ich weiter das Gelände ab. Das alte, gezimmerte Jagdhaus er hob sich, kaum sichtbar, zwischen den Bäumen und wirk 250
te ein wenig unheimlich. Ich blieb bei den Ställen ste hen; außer dem betrunkenen Schnarchen Wiscombs war nichts zu hören. Ich trat ein und ging an den einzelnen Boxen vorbei, vernahm hier und da das Peitschen eines Pferdeschwanzes oder das Stampfen eines Hufes. Die Tie re begrüßten mich mit einem Schnauben, beruhigten sich jedoch, sobald ich mit ihnen sprach. Es schien kein Pferd zu fehlen. Die Jagd, wo auch immer sie hinführen moch te, fand also zu Fuß statt. Ich kehrte zur Terrasse zurück und setzte mich fast ei ne Stunde lang auf die Balustrade. Doch nichts geschah. Es war still bis auf die üblichen nächtlichen Geräusche: das Rascheln der großen Bäume über mir, der Ruf der Eu len und das Zirpen der Grillen. Nach wie vor fiel Niesel regen. Mit einem Schaudern stellte ich fest, dass ich au ßer meiner Hose und dem Nachthemd nichts am Leibe trug, und sehnte mich plötzlich nach der Wärme meines Bettes. Erschöpft schleppte ich mich in mein Zimmer hinauf, doch erst, nachdem ich mich noch eine ganze Weile mit Sorgen und Spekulationen geplagt hatte, fie len mir die Augen zu.
Voller Schrecken fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Eine schemenhafte Gestalt beugte sich über mein Bett. »Pst! Watson! Auf, Mann!« Es war Holmes, mit einem tropfnassen Regenmantel bekleidet. Ich kannte den Ausdruck auf seinem Gesicht, und er signalisierte mir eindeutig, dass schnelles Handeln gefragt war. 251
»Holmes, Gott sei Dank sind Sie in Sicherheit! Aber wo zum Teufel haben Sie letzte Nacht gesteckt? Und wa rum haben Sie mich nicht geweckt?« Meine Stimme musste meine Verärgerung verraten haben, denn er packte mich fest an der Schulter. »Beruhigen Sie sich, alter Junge. Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass alles nur zu Ihrem Besten geschehen ist …« »Haben Sie Farthway geschnappt? Wo …?« »Nur ruhig!«, unterbrach er mich bestimmt. »Sie dür fen jetzt keine Fragen stellen! Farthway ist fort, und ich bin wohlbehalten zurück. Das muss für den Augenblick genügen. Wir müssen uns auf andere Dinge konzentrie ren: Die Lösegeldforderung ist eingegangen! Das Geld soll von Ihnen und Lord Allistair …« »Von mir?«, hakte ich ungläubig nach, während ich wie gerädert aus dem Bett stieg. »Das muss ein Irrtum sein. In dieser Gegend hier kennt mich niemand.« »Sie werden nicht namentlich erwähnt – Doch kom men Sie! Unten warten bereits alle.« Und damit war er verschwunden. Es dauerte ein paar Minuten, bis mir die ganze Tragweite seiner Worte auf ging. Ich muss gestehen, ich hatte nicht beabsichtigt, das Lösegeld zu überbringen. Ein Vertrauter, ja, aber ein akti ver Teilnehmer an der Übergabe? Damit hatte ich nicht gerechnet. Zudem verwirrte mich, dass man auch Lord Allistair als Überbringer ausgewählt hatte. Zwar konnte ich verstehen, dass die Gauner hinter seinem Vermögen her waren, doch dass er ihnen selbst das Geld ausliefern sollte machte keinen Sinn. Heute, wo ich genauer da 252
rüber nachdenke, wird mir klar, dass ich schon damals hätte Verdacht schöpfen müssen – zu Recht, wie die spä teren Ereignisse bewiesen. Mit klopfendem Herzen stieg ich schließlich die Treppe hinunter in die Halle. Dort erwartete mich eine angespannte Atmosphäre. Lord Allistair, eigentlich ein Nichtraucher, schritt hek tisch auf und ab und paffte dabei eine von Holmes’ Ziga retten. Seine Frau saß auf der mit Leder überzogenen Bank, still und bleich wie eine Wachsfigur – bis auf die Hände, die sie zitternd in ihrem Schoß rang. Neben der Tür stand Brundage mit dem Teewagen. Das darauf ange richtete Frühstück war unberührt. Niemand nahm Notiz davon. Holmes, der wie ein Schlot rauchte, murmelte vor sich hin, während er durch die Gitterfenster spähte. Erst jetzt fiel mir sein Zustand auf: Seine Hosenbeine waren zerrissen und schmutzig, besonders an den Knien. Sein Gesicht war von kleinen Schnitten und Kratzern ge zeichnet. Offensichtlich hatte seine nächtliche Jagd ihn durch den Wald und dichtes Gestrüpp geführt. Der feine Nieselregen prasselte kaum hörbar gegen die Fensterscheiben. Die Stille wurde nur von der Wanduhr unterbrochen, die sieben schlug. Holmes kam nachdenklich auf mich zu und reichte mir einen Zettel. Wie die erste Nachricht der Entführer bestand auch diese aus ausgeschnittenen Buchstaben, die man auf ein Blatt geklebt hatte. Sie lautete: LORD ALLISTAIR – Sie werden die geforderte Sum me zu dem Ring aus Eichen bringen. Nur der Mann, mit dem Sie neulich dort waren, soll Sie begleiten, 253
sonst niemand. Kommen Sie unbewaffnet. Mein Die ner hält Ihrer Tochter ein Messer an die Kehle. Sie ge fährden ihr Leben, wenn Sie nicht gehorchen. Der letzte Teil der Forderung war besonders beunruhi gend – vor allem, weil auch jedwede handschriftliche Nachricht von Alice selbst fehlte. »Das wär’s also«, meinte Holmes trocken. Lord Allistair, den Holmes’ Stimme offensichtlich aus seinen Gedanken gerissen hatte, trat vor, um mich zu be grüßen. »Wie geht es Ihnen heute Morgen, Doktor? Ach? Nun, ich muss zugeben, dass auch ich ein wenig mitge nommen bin. Die Nachricht ist eindeutig; wir müssen zu rück zu Henry’s Hollow. Seltsam ist nur, dass sie auch Sie mit einbezogen haben …« »Ohne Zweifel haben sie uns zusammen gesehen. Ich begleite Sie gerne und werde versuchen, Sie so gut wie möglich zu unterstützen.« »Ich kann mir nicht helfen … vielleicht war die ver schlüsselte Nachricht doch für Sie bestimmt?« »Wir haben keine Zeit, das herauszufinden.« »Aber denken Sie immer daran, Doktor: Sie sind nicht verpflichtet mitzugehen. Wenn Sie lieber nicht …« »Unsinn, Lord Allistair! Ich fühle mich verpflichtet mitzugehen – und das aus mehr als einem Grund, nicht zuletzt, weil ich Sie und Ihre Familie so sehr schätze. Also lassen Sie uns aufbrechen. Ich nehme an, Sie haben das Geld …?« Er deutete auf ein Paar Satteltaschen, in die man die 254
Banknoten gestopft hatte. Ich warf sie mir über die Schulter, nachdem ich in meinen schweren Mantel ge schlüpft war. Als Lady Allistair bemerkte, dass wir uns zum Aufbruch rüsteten, sprang sie von der Bank auf und klammerte sich ängstlich an ihren Mann. »Oh, mein Gott!«, rief sie. »Was, wenn ich euch bei de verliere?« Wir beruhigten sie, so gut es ging. Dann ließen Holmes und ich die beiden für eine kurze Zeit alleine und gingen hinaus auf die Terrasse, um uns dort zu unterhalten. Wie anders Strathcombe doch an diesem trüben, reg nerischen Morgen wirkte, verglichen mit der friedlichen, sonnigen Atmosphäre zwei Abende vorher! Die Terrasse war regennass und glitschig. Der Wind brannte schmerz haft auf Wangen und Ohren. Es war düster. »Da, schauen Sie! Das gefällt mir gar nicht …« Holmes deutete auf einen Bach, der sich durch die Wiesen und zwischen den Weidenbäumen hindurch schlängelte. Vom feuchten Talboden stieg ein dichter, hellgrauer Nebel auf und breitete sich in alle Richtungen zum Wald hin aus. »Wo wurde die Nachricht gefunden?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. »In Ölpapier eingewickelt, hier an ebendiesem Tür klopfer. Brundage hat sie vor knapp einer Stunde ent deckt. Offensichtlich wurde sie heute Nacht hergebracht. Ah! Ich höre Lord Allistair kommen. Schnell, Watson, merken Sie sich gut, was ich zu sagen habe …« Er packte mich an den Schultern und blickte mir fest in die Augen. 255
»Sie müssen wissen, mein lieber Freund, dass Sie sich auf eine gefährliche Mission begeben. Nicht nur gefähr lich, sondern möglicherweise sogar lebensgefährlich – trotz allem, was ich Ihnen an Hilfe zukommen lassen kann und werde. Ist Ihnen das klar?« »Durchaus. Und ich nehme das Risiko auf mich. Was werden Sie in der Zwischenzeit unternehmen?« »Das kann ich nicht sagen. Erstens, weil ich Ihnen meine Pläne nicht verraten darf, um nicht alle Beteilig ten noch mehr zu gefährden, zweitens, weil ich mir nicht ganz sicher bin, auch wenn ich eine ziemlich genaue Vor stellung davon habe, was geschehen wird. Vertrauen sie mir?« »Vorbehaltlos. Wie immer.« »Dann sei Gottes Segen mit Ihnen, mein Freund. Wenn alles gut geht, werden wir heute Abend Alice Al listair befreit und die Schufte, die sie entführt haben und für einige Morde verantwortlich sind, geschnappt haben. Doch still! Kein Wort darüber!« Lord Allistair trat auf die Terrasse und wirkte erstaun lich gefasst. Ob er allerdings tatsächlich gelassen war oder aber seine Gefühle entschieden in Zaum hielt, das ver mochte ich nicht zu sagen. »Wie auch immer die Sache ausgehen mag, Gentle men«, meinte er grimmig, während er zu den Ställen ging, »sie nähert sich ihrem Ende. Und zumindest dafür sei Gott gedankt!« Wiscomb hatte unsere Pferde bereits fertig gesattelt. Sie scharrten mit den Hufen im Kies, während er sie an den Zügeln festhielt. Ich warf die Satteltaschen über den 256
Rücken von Lord Allistairs Pferd und bestieg mein eige nes. Obwohl niemand von den Bediensteten außer Brun dage und seiner Frau von der Lösegeldforderung wusste, schien Wiscomb den Ernst der Lage zu spüren. »Gott segne Sie, Sir«, sagte er leise, als er Lord Al listair in den Sattel half. »Danke, Wiscomb. Gehen Sie ins Haus und warten Sie dort. Brundage hat genaue Anweisungen für jeden Einzelnen, Farthway eingeschlossen.« »Farthway, Sir? Farthway ist verschwunden.« Lord Allistair fuhr ungläubig herum. »Verschwunden? Wohin?« »Ich weiß nicht, Sir. Er ist nicht in seiner Unter kunft.« Ich warf Holmes einen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. Lord Allistair hätte nichts von Farthways Ab wesenheit zu erfahren brauchen. Das war sicher kein gu ter Start für unsere Mission. Doch Holmes’ Gesicht blieb ausdruckslos. Er erwiderte meinen bohrenden Blick nur mit einem Schulterzucken. »Nun, über ihn werden wir uns keine Sorgen ma chen«, meinte Seine Lordschaft, und wir preschten zu sammen los. Als wir über die Auffahrt in Richtung des nebelverhangenen Tals ritten, sah ich noch einmal zu rück zu Holmes, der seine Hand zum Abschiedsgruß hob. An dieser Stelle, lieber Leser, muss ich den Stift kurz absetzen, denn die Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse in Henry’s Hollow bringen meine Finger zum Zittern und treiben mir den Schweiß auf die Stirn. Viele, 257
viele Jahre sind seitdem vergangen, und die quälenden Bilder hätten mit der Zeit eigentlich verblassen müssen, doch stattdessen scheinen sie auf eigensinnige Weise nur noch lebhafter geworden zu sein. Wir suchten unseren Weg durch den wabernden Ne bel, der sich an unsere Fersen zu heften schien, als wir auf der anderen Seite wieder aus dem Tal hinaus- und in den Wald hineinritten. Er hing zwischen den Bäumen, kroch die Hänge hinauf und floss träge in die Senken und Mul den des Waldbodens. Bei unserem ersten Ausritt war der Wald mir nur düs ter erschienen, nun wirkte er regelrecht bedrohlich. Die Bäume in nächster Nähe waren deutlich genug zu erken nen – die Eichen mit ihrer kräftigen, braunen Rinde und die Buchen mit ihrem blaugrau schimmernden, metalli schen Glanz –, aber nur ein paar Meter weiter weg ver wischten sich bereits die Umrisse selbst der mächtigsten Stämme. Dahinter erhob sich ein bleicher, grauer Vor hang, den kein Auge zu durchdringen vermochte. Nicht weniger beunruhigend als der Nebel war die ab solute Stille des Waldes. Kein Eichelhäher schrie und schnatterte, kein Singvogel trällerte. Nur der dumpfe Hufschlag unserer Pferde und das entfernte Plätschern des Regens auf den Blättern war zu hören. Nach zwanzig Minuten hielten wir an. Lord Allistair musterte den Pfad genau. »Es ist sehr viel schwieriger, den Weg in diesem Nebel zu finden«, meinte er. »Bei normalem Tageslicht gibt es genug Markierungen, an denen ich mich orientieren kann – aber jetzt komme ich mir wie in einem Labyrinth 258
vor. Beten Sie zu Gott, dass wir auf dem richtigen Weg sind und keine Abzweigung verpasst haben. Welch eine Tragik wäre es, meine Tochter zu verlieren, nur weil wir dieses verfluchte Tal nicht finden konnten!« »Noch besteht kein Grund zur Sorge, Lord Allistair. Sehen Sie den merkwürdig gebogenen Baum dort? Ich er innere mich daran. Hier sind wir vorgestern vorbeige kommen – kurz bevor Sie mir von der kleinen Lichtung aus den ›Turm‹ gezeigt haben …« »Ja, ich erinnere mich auch daran. Sie haben scharfe Augen, Doktor. Henry’s Hollow liegt nicht mehr weit vor uns.« Nach einer Weile (es kam mir wie Stunden vor) hiel ten wir erneut an. Durch den Nebel konnte ich kaum die eigenartige Symmetrie des Ringes aus Eichenbäumen er kennen, der nur ein paar Meter entfernt vor uns lag. Wir warteten auf einen Ruf oder einen Pfiff. Vergeblich. Wir wagten uns noch weiter vor, ritten so langsam wie mög lich, bis wir schließlich den Baumkreis erreichten. Als wir in das Tal hinunterblickten, konnten wir bloß die obers ten Äste der Bäume darin erkennen, denn diese ragten aus dem tief liegenden Nebel heraus. Vor uns senkte sich der graue Boden sanft in ein Meer aus wabernden Schwa den hinab. Dann drang plötzlich ein leises Rascheln an mein Ohr. »Halt! Keinen Schritt weiter!«, ertönte eine Stimme. Keine zwanzig Schritt entfernt, trat eine schattenhaf te, verhüllte Gestalt hinter einem Baum hervor und nä herte sich uns. »Rühren Sie sich nicht vom Fleck!«, befahl die Ge 259
stalt, huschte katzenartig an uns vorbei auf den Weg, den wir gekommen waren, und … verschwand außer Sicht. Dieses Verhalten trug nicht eben zu meiner Beruhi gung bei. Nach ein paar Minuten ahnte ich jedoch die Gründe dafür. Ich wandte mich zu Lord Allistair um und flüsterte: »Er beobachtet den Waldpfad und lauscht, ob uns je mand gefolgt ist.« Lord Allistair nickte zustimmend. Was für ein Glück, dass wir uns genau an die Anweisung gehalten hatten! Wieder einmal konnte ich nicht umhin, mich über die Sorgfalt zu wundern, mit der dieser ganze diabolische Plan ausgeführt wurde. Der Mann, der im Hintergrund die Fäden zog, war mit Sicherheit enorm verschlagen und zu allem entschlossen. Die Gestalt kehrte zurück und umkreiste uns schwei gend. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und trug eine Pistole bei sich. Die Kapuze bedeckte den gan zen Kopf und trug, wie man sich leicht vorstellen kann, noch zu der gespenstischen Erscheinung bei. »Öffnen Sie Ihre Mäntel!« Wir gehorchten, und der Mann versicherte sich, dass wir unbewaffnet waren. Er deutete an, dass wir ihm folgen sollten, und führte uns ins Tal hinunter. Je weiter wir den Hang hinunterritten, umso intensiver roch es nach ver modertem Laub und feuchter Erde. Außerdem lag noch ein anderer Geruch in der Luft, ganz zart nur und leicht, der mich an Moschus erinnerte. Unser Führer verschwand kurz hinter einem Baum und kam mit einer Laterne wieder hervor, die er über sei 260
nen Kopf hielt, während er weiter vor uns herging. Der Nebel schuf einen matten Lichtkranz um die Lampe, die, wie ich vermutete, nur als Signal dienen sollte. Als Wegweiserin war sie nämlich völlig unnütz. Wir kamen an dem Baumstumpf mit der Feuerstelle vorbei, der in etwa die Mitte von Henry’s Hollow mar kierte. Weiter ging es, hin zum entlegenen Ende des Ta les – jenem Teil, den Lord Allistair mir noch nicht ge zeigt hatte. Wir zogen einer hinter dem anderen über einen schmalen, kaum ausgetretenen Pfad, der sich zwischen den Bäumen hindurchwand. Als wir an eine Biegung ka men, wehte uns vom Ende des Tales ein Wind frontal entgegen. Die Pferde blieben wie angewurzelt stehen. Ein paar Sekunden lang herrschte vollkommene Stille. Dann schnaubte Lord Allistairs Tier zwei Mal, und aus seinen Nüstern schossen dicke Dampfwolken. Es wieherte schrill und schüttelte heftig den Kopf auf und ab. Mein Pferd streckte den Hals vor und hob die Nase. Es schnaubte, stampfte mit den Hufen und begann, rück wärts zu gehen. Der Wind frischte noch mehr auf, und Lord Allistairs Pferd schwenkte herum und bäumte sich auf. Lord Allistair bemühte sich, im Sattel zu bleiben, und lenkte das Tier geschickt in meine Nähe. Es rollte inzwischen mit den Augen, sodass das Weiße zu sehen war. Erschrocken rannte unser Führer zu uns zurück, packte die Zügel der Pferde und befahl uns abzusteigen. Lord Al listair gehorchte verwirrt, und ich folgte seinem Beispiel. 261
Wie befohlen, banden wir die Tiere gemeinsam an einen kleinen Baum und gingen zu Fuß weiter, wobei Lord Al listair die Satteltaschen trug. Ich blickte noch einmal zu den Pferden zurück, die sich eng nebeneinander gestellt hatten, Flanke an Flanke. Sie stampften mit den Hufen und wühlten den Boden auf. Ihre Ohren waren spitz auf gerichtet und zuckten und drehten sich immer wieder in unsere Richtung. Ich brauche nicht zu erwähnen, welche Wirkung die ser Zwischenfall auf mich hatte. Es genügt zu sagen, dass Vorfälle in der Vergangenheit, bei denen sich Pferde oder Hunde ähnlich verhielten, mich dunkel ahnen ließen, was uns wohl am Ende des Tales erwartete. Meine Knie begannen zu zittern, und ich spürte ein Prickeln in den Gliedmaßen. Doch da ich meinen Begleiter nicht beun ruhigen wollte, bezähmte ich die Panik, die in mir auf keimen wollte. Schließlich erreichten wir das andere Ende von Hen ry’s Hollow. Ich hörte Wasser rauschen. Nach meinem ersten Besuch hatte ich angenommen, dass das Tal einer Ellipse mit ähnlichen Seiten glich. Doch ich hatte mich getäuscht, denn obwohl es grob der von mir vermuteten Form entsprach, unterschied sich dieses Ende erheblich vom anderen. Hier war es keine tellerförmige Vertiefung mit sanft ansteigenden Hängen, sondern eine tiefe Schlucht mit senkrechten Wänden aus geschichtetem Kalkstein. Diese Steilwand ragte etwa zehn Meter in die Höhe und schloss wie der Rest des Tales mit einem Kreis aus Eichenbäumen ab. Als wir näher kamen, bogen wir nach links ab und 262
stiegen einen schmalen, stufenförmigen Pfad hinauf, der uns zu einer kleinen Lichtung im Schatten der Wand führte. Aus dem Felsen ergoss sich ein kleiner Wasserfall, dessen Rauschen schon von weitem zu hören gewesen war. Die Lichtung war ganz mit Farn und Moos bedeckt. Ich konnte mir vorstellen, dass die Sonne nie hier hinge langte, so versteckt lag sie im feuchtesten und düstersten Teil des Tales. Am hinteren Ende der Lichtung konnte ich den Schein eines Lagerfeuers ausmachen. Höchst wahrscheinlich war dieser Ort die Quelle des Rauches, der mir beim ersten Besuch aufgefallen war. Der Nebel auf der Lichtung war so dicht wie der schlimmste Nebel in London. Dem Plätschern nach zu schließen, ergoss sich der Wasserfall in einen kleinen Teich am Fuße der Steilwand. Von dort schien der Nebel in dicken Schwa den aufzusteigen. Wir betraten die Lichtung. Nach einigen Schritten konnte ich das Feuer sehen. Daneben war ein Paar glän zender Schuhe zu erkennen – der Feuerschein spiegelte sich darin. Als sich der gespenstische Nebel einmal kurz lichtete, erblickte ich den Mann, der neben dem Feuer lagerte. Der breitkrempige Hut, der herabhängende Schnurrbart, die dunkle Hautfarbe und die Ohrringe lie ßen keinen Zweifel zu: Es war der Zigeuner, der uns am Tag unserer Ankunft gefolgt war. Wir kamen noch näher, und die schwarz vermummte Gestalt, die uns zu diesem schrecklichen Lager geführt hatte, trat an den sitzenden Zigeuner heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin dieser ihr ebenfalls flüs ternd antwortete. 263
»Bringen Sie das Geld«, befahl die vermummte Ge stalt mit tiefer, monotoner Stimme. Die beiden Männer überprüften eine ganze Weile lang den Inhalt der Satteltaschen. Obwohl sie nicht alle Scheine zählten, schienen sie am Ende zufrieden, dass die Lösegeldsumme stimmte. »Meine Tochter!«, rief Lord Allistair. Ich bemerkte besorgt die Schweißperlen auf seiner Stirn, die pochen den Adern an seinem Hals und auf der Stirn. Seine Ge duld war eindeutig zu lange auf die Probe gestellt worden. »Wo ist meine Tochter?« Der Zigeuner zog einen Revolver unter seinem offenen Mantel hervor und richtete ihn auf Lord Allistairs Brust. Sein Kumpan folgte seinem Beispiel, nur dass er seine Pis tole auf mich richtete. Der Zigeuner gab ein Zeichen, und sein Spießgeselle richtete erneut das Wort an uns: »Ihre Tochter ist in Sicherheit. Sie können Sie für ein paar Minuten sehen, wenn ich sie herausgebracht habe. Und nun hören Sie gut zu, was ich zu sagen habe: Offen sichtlich haben Sie Ihr Wort gehalten. Sie sind wie be fohlen gekommen und haben die volle Summe abgelie fert. Das ist gut. Gleich werden Sie feststellen, dass auch wir unser Wort gehalten haben: Ihrer Tochter geht es gut. Sie ist nicht nur wohlauf, ihr wurde auch kein einzi ges Haar gekrümmt. Aber für Sie, Lord Allistair, bleibt noch eine letzte Aufgabe zu erledigen, bevor wir Ihre Tochter freilassen können. Sollten Sie diese Aufgabe nicht erfüllen, muss Ihre Tochter sterben …« »Was verlangen Sie von mir, um Gottes willen? 264
Und warum haben Sie nicht früher etwas davon ge sagt?« Der Mann hielt kurz inne und fuhr dann erklärend fort: »Um das Land sicher verlassen zu können, brauchen wir zusätzliche Geiseln.« »Ich weigere mich!« Der Zigeuner gab seinem Kumpan ein Zeichen, wor aufhin dieser sich zu ihm hinunterbeugte und weitere In struktionen entgegennahm. Es kam mir merkwürdig vor, dass der Zigeuner, der offensichtlich der Anführer der beiden war, kein Wort zu uns sprach. Als mögliche Erklä rung fiel mir nur ein, dass er vielleicht gar nicht unsere Sprache beherrschte. Auf jeden Fall fungierte die ver mummte Gestalt weiterhin als sein Sprecher: »Wenn Sie sich weigern, können wir nicht länger für die Sicherheit Ihrer Tochter garantieren. Seien Sie versi chert, dass wir die Geiseln nur so lange festhalten wer den, bis wir das Land verlassen haben. Danach werden wir sie umgehend freilassen.« »Wie kann ich mir da sicher sein?« »Sie müssen sich darauf verlassen, dass wir unser Wort halten. Bisher haben wir es jedenfalls getan. Schau en Sie …« Woraufhin er etwas in einer Sprache rief, die ich nie zuvor gehört hatte und seitdem auch nie wieder gehört habe. Fast augenblicklich traten zwei undeutliche Gestal ten aus dem Nebel hinter dem Feuer. Man konnte nur ih re Silhouetten erkennen, aber eine schien etwa mittel groß zu sein, die andere klein und gekrümmt. 265
»Kommen Sie langsam näher«, befahl der Vermumm te, und Lord Allistair und ich gingen vorsichtig auf die beiden Männer zu. Nach ein paar Schritten konnte ich erkennen, dass der Teich, der vom Wasserfall gespeist wurde, unmittelbar hinter dem Lagerfeuer lag. Die beiden hervorgetretenen Gestalten standen auf der anderen Sei te des Ufers. »Vater!«, ertönte eine gequälte Stimme, und im nächsten Augenblick spielte sich im Schein des Feuers eine Szene ab, die ich nie vergessen werde. Ich konnte mich gut an die Porträts von Alice Allistair erinnern; ei nes hing in Bayswater, das andere in Strathcombe. Sie war eine atemberaubende Schönheit – doch die arme Kreatur, die dort winkend im Nebel vor uns stand, hatte nur noch wenig, wenn überhaupt noch Ähnlichkeit mit ihrem Abbild. Es schien, als hätte sie wochenlang unun terbrochen geweint. Ihre Züge waren wie von heftigem Schmerz und ungeheurer Qual verzerrt. Ihre Brust hob und senkte sich zitternd, und in ihren Augen lag jener ängstliche, gehetzte Ausdruck, wie ich ihn nur von Ge fängnis- oder Anstaltsinsassen kannte. Ein Blick genügte, um mir einen Eindruck zu vermitteln, welche Torturen und Entbehrungen sie in den letzten beiden Monaten durchgemacht hatte – auch wenn ich mir sicher war, dass es in Wahrheit noch viel schlimmer gewesen war, als ich mir vorstellen konnte. Lord Allistair sank mit einem unterdrückten Schrei auf die Knie. »Oh, Vater …«, begann Alice, wurde jedoch abrupt von der anderen Gestalt unterbrochen, die aus dem grau 266
en Nebel hervortrat. Es war ein ausgesprochen hässlicher Mann, ein buckliger Malaysier – zweifellos derselbe, den Sampson erwähnt hatte. Seine Erscheinung war grotesk: ein unförmiges, schmieriges Gesicht, der Mund ein häss licher, verzerrter Schlitz, eine Nase, die wie ein Klecks Glaserkitt aussah. Das ganze Gesicht war umhüllt von ei nem Turban aus Musselin, der voller Flecken und Dreck war. Die kleinen Augen rollten heftig in dem gnomähnli chen Schädel, die verkrüppelten Arme zuckten, und über die dicken, zitternden Lippen quoll unablässig aufgeregtes Gestammel. Diese Beobachtungen waren jedoch nur zweitrangig. Unser Hauptaugenmerk richtete sich vielmehr auf den Gegenstand, den die Kreatur in der rechten Hand hielt und dessen Spitze auf die Kehle des armen Mädchens ge richtet war. Es handelte sich um einen Dolch, und ein Blick auf die Klinge, die im Schein des Feuers blinkte, genügte. Die grässlichen Wunden, die man Raymond Je nard zugefügt hatte, standen mir noch deutlich vor Au gen, und ich war mir sicher, dass ein paar Schnitte mit dieser Waffe Haut und Fleisch auf äußerst grauenvolle Weise aufschlitzen würden. Die Klinge war gut dreißig Zentimeter lang und wand sich in Schlangenlinien vom Knauf bis zur Spitze wie ein gefährliches Reptil. Ich hör te, wie Lord Allistair tief einatmete, drehte mich um und sah, dass er nach vorne sprang, um zu seiner gefangenen Tochter zu eilen. »Halt! Keinen Schritt weiter!«, rief der Zigeuner, hob erneut den Revolver und spannte gleichzeitig den Hahn. Lord Allistair blieb stehen und zog sich dann langsam 267
zurück. Der Zigeuner starrte mich eine Weile an und wandte sich schließlich wieder ab. Doch es war bereits zu spät: Er hatte gesprochen, und das in perfektem Englisch. Außerdem kam mir die Stimme entfernt bekannt vor. Ich hatte sie schon einmal gehört – irgendwo. »Alice, ist alles in Ordnung?« »Ja, Vater. Oh, Gott sei Dank bist du gekommen! Ich …« Aber das arme Ding konnte, tränenerstickt, nicht mehr weiterreden. Das Auftauchen seiner Tochter hatte Lord Allistair wieder Mut fassen lassen. Er überlegte kurz und sagte dann: »Wer sollen die Geiseln sein?« Die vermummte Gestalt deutete auf mich. »Dieser Mann und der Mann, der gestern eingetroffen ist«, antwortete er. »Das kann ich nicht zulassen. Diese Männer sind mei ne Gäste. Als Gentleman kann ich nicht …« »Um Gottes willen, Mann, stimmen Sie zu!«, rief ich. »Sie wollen uns nur als Sicherheit, dass kein Großalarm ausgelöst wird, bis sie außer Reichweite des hiesigen Ge setzes sind, nicht wahr?« Beide Fremden nickten. Lord Allistair starrte zu seiner weinenden Tochter hi nüber, dann blickte er mich an. »Sie müssen verstehen, wie sehr ich hin und her geris sen bin, Doktor …« »Unsinn! Gehen Sie! Bringen Sie ihn so schnell wie möglich her! Sie müssen sich beeilen. Wir sind so weit gegangen – es gibt jetzt kein Zurück mehr. Bisher haben 268
sie ihr Wort gehalten; also fürchte ich nicht um mein Le ben. Und damit Schluss jetzt: Sie müssen aufbrechen!« Er wandte sich an die Entführer. »Wie wird Alice zu mir zurückgebracht?« »Einer von uns wird Ihnen mit Ihrer Tochter zum Haus folgen«, antwortete die vermummte Gestalt mit sorgsam einstudierten Worten. »Wir werden weit hinter Ihnen sein und uns gut verbergen. Wenn wir sehen, dass die zweite Geisel aufbricht, werden wir Ihre Tochter in der Nähe des Anwesens freilassen. Von dort wird sie den Weg nach Hause finden.« »Nun gut«, meinte Lord Allistair nach einigem Nach denken. »Doch seien Sie gewarnt«, fuhr der andere fort, »die geringste Abweichung von diesem Plan bedeutet ihren Tod!« »Das Ganze widerstrebt mir zutiefst«, sagte Lord Al listair, »aber ich habe wohl keine andere Wahl.« »Ich werde Sie zu Ihrem Pferd begleiten. Doch vorher muss ich Ihren Begleiter hiermit an diesen Baum fesseln.« Während der Zigeuner seine Waffe auf Lord Allistair gerichtet hielt, kam der andere auf mich zu, ein Paar schwerer eiserner Fesseln in der Hand, wie sie auf Gefan genenschiffen benutzt werden. Da mir klar war, dass der einzig vernünftige Kurs in völliger Kooperation bestand, wehrte ich mich nicht lange, als er mich aufforderte, mich auf den Boden zu setzen und den Rücken gegen ei ne kleine Buche zu lehnen. Dann bog er meine Arme um den Baum und legte mir die Handschellen an. In dieser Position gefesselt zu sein, war äußerst unbequem. Weil 269
ich jedoch spürte, wie unangenehm Lord Allistair meine missliche Lage war, vermied ich seinen Blick und gab vor, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen, während er, geführt von der vermummten Gestalt, die Lichtung verließ. Kurz bevor er im grauen Nebel verschwand, drehte er sich noch einmal um und sah zu seiner Tochter hinüber. »Keine Angst, Liebstes«, rief er heiser, »alles wird gut.« Und dann wandte er sich an mich und fügte hinzu: »Es tut mir schrecklich Leid, Doktor. Sie müssen …« »Unsinn!«, warf ich ein und versuchte so munter wie möglich zu klingen. »Je schneller Sie Ihre Mission erfüllt haben, umso eher sind wir wieder beisammen. Und nun gehen Sie!« Und damit waren die beiden verschwunden. Nach ei ner Weile kehrte der vermummte Mann zurück und führ te, nachdem er und der Zigeuner sich kurz zugenickt hat ten, Alice Allistair von der Lichtung. Als sie an mir vor beikamen, bemerkte ich, dass sie noch immer leise weinte und dass man ihr inzwischen die Hände auf den Rücken gebunden hatte. Plötzlich wirbelte sie unvermittelt he rum, richtete ihre Augen auf mich und blickte mich vol ler Schuldgefühle und Sorge an. »Oh, Dr. Watson. Ich habe versucht …«, rief sie, doch man ließ sie nicht aussprechen. Ihr Entführer legte ihr ei ne Hand auf den Mund und zog sie gewaltsam von der Lichtung. Zornig stieß ich einen Fluch aus und zerrte an mei nen Fesseln. Doch es war zwecklos: In meiner misslichen 270
Lage konnte ich nicht einmal die Füße vom Boden he ben. Düstere Gedanken schossen mir durch den Kopf. Also stammte die verschlüsselte Nachricht tatsächlich von Alice Allistair und war an mich gerichtet gewesen! Ich erinnerte mich daran, wie Holmes die Nachricht viel zu nachlässig beiseite geschoben hatte und verfluch te ihn dafür. Wie hatte er so sorglos sein können, so när risch? Schallendes Gelächter riss mich aus diesen Gedan ken. Ich drehte den Kopf und blickte zu dem Zigeuner hinüber, dessen Verhalten sich grundlegend verändert hatte. Er lungerte nicht länger faul neben dem Feuer, sondern wurde von Lachen geschüttelt. Es war kein normales Lachen. Es war wie eine Explosion – geradezu wahnsinnig. Er kreischte und kicherte. Tränen traten ihm aus den Augen. Er rollte sich auf dem Boden, seine Arme und Beine zuckten wild. Als der Bucklige den Anfall seines Herrn und Meisters bemerkte, rannte er von der Lichtung und kehrte augen blicklich mit einem Kupferbecher zurück. Der Zigeuner schluckte dessen Inhalt hinunter, vermutlich irgendeine Sorte Alkohol, und wurde langsam ruhiger. Er stand auf, ging ein paar Schritte hin und her und wischte sich mit seinem bunten Taschentuch die Stirn. Dann kam er nä her, hielt keine drei Schritte von mir entfernt und beugte sich zu mir hinunter. »Sie müssen diesen Ausbruch verzeihen, Dr. Watson, aber ich habe so lange gewartet …« Bei diesen Worten lief mir ein eisiger Schauder über den Rücken. Die Stimme hallte in meinen Ohren nach. 271
Ich kannte diese Stimme, und sie rief nicht eben ange nehme Erinnerungen in mir wach. Der Zigeuner kam noch näher. »Erkennen Sie meine Stimme? Kommen Sie, Doktor, können Sie sich nicht erinnern? Ich bin sicher, Ihr schlauer Freund Sherlock Holmes würde es sofort tun …« Doch er wurde erneut von einem grässlichen Lachen ge packt. Jammernd stemmte er die Fäuste in die Hüfte, bis der Anfall vorüber war. Während er sich bemühte, die Selbstkontrolle zurückzuerlangen, konnte ich eindeutig alle einschlägigen Symptome diagnostizieren: das Zittern der Gliedmaßen, die Schweißausbrüche, der wilde Blick und das irre, zwanghafte Lachen. Es gab keinen Zweifel: Der Mann war verrückt. »Wer bin ich, Dr. Watson? Nun? Ich kann an Ihrem verwirrten Blick erkennen, dass Sie sich nicht erinnern. Soll ich Ihnen auf die Sprünge helfen?« Und dann kam er ganz dicht an mich heran und riss sich in Sekundenschnelle die Verkleidung als Zigeuner vom Leib. Was ich sah, ließ mich schwindeln. Alles drehte sich um mich, und mir wurde schwarz vor Augen. Die Furcht schnürte mir die Kehle zu. Das Gesicht, das ich vor mir hatte, kam geradewegs aus der Hölle. »Unmöglich!«, keuchte ich schließlich. »Sie sind tot!« Erneut vollzog sich ein Wandel. Der emotionsgelade ne Wahnsinnige wich der kühl kalkulierenden Maschine, die ich früher so oft hatte beobachten können. »Nein, Doktor«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme, »nein, ich bin nicht tot. Obwohl mich viele lange für tot gehalten haben.« 272
Ich hörte wie gebannt zu, und mein Entsetzen wuchs. »Mein angeblicher Tod erleichterte mir die Flucht«, fuhr er in geradezu beschwichtigendem Tonfall fort, »und schützt mich noch immer. Es gibt nur einen einzigen Grund, warum ich Ihnen das alles offenbare: Ich vermute einmal, nein, ich bin mir vollkommen sicher, dass weder Sie noch Sherlock Holmes den morgigen Tag erleben wer den.«
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KAPITEL 11
Die Bestie in Henry’s Hollow
Stapleton! Sie also stecken hinter diesem teufli schen Plan!« »Hah, Sie könnten sich ruhig an meinen richtigen Namen erinnern: Rodger Baskerville! Obwohl ich unter vielen Namen gereist bin, ist dies mein wahrer. Und Baskerville Hall mein wahres Zuhause!« »Nun, darüber lässt sich streiten, um es vorsichtig auszudrücken.« Er versetzte mir eine Ohrfeige. Dann, als wäre er über den Verlust seiner Selbstbeherrschung erschrocken, packte er seine Hand und drückte sie fest an die Brust. Er begann, sich hin und her zu wiegen, den Kopf zurückgeworfen, die Augen halb geschlossen. »Ich rege mich in letzter Zeit zu leicht auf«, stöhnte er. »Die Anspannung … die Anspannung war uner träglich. Wenn Sie wüssten … all das Planen, das Warten … Ah! Doch bald wird alles vorüber sein. Oh, Dr. Watson! Auch wenn ich allen Grund habe, Sie und Ihren verruchten Freund zu hassen, muss ich zugeben, dass der Tod, der Sie erwartet, wirklich schrecklich ist!« Heißer Schrecken stieg in mir auf und ließ meine Gliedmaßen wachsweich werden. Meine Nackenhaare stellten sich auf. 274
»Was ist das? Entdecke ich da etwa Furcht in Ihrem Gesicht?« Er legte den Kopf weit in den Nacken, starrte hinauf in den grauen Himmel und lachte schallend. »Oh, das ist köstlich. Wirklich köstlich! Das lange Warten hat sich bereits gelohnt.« Erneut packte ihn ein Anfall, der ihn am ganzen Körper zittern ließ. Schließlich hatte er sich wieder unter Kontrol le und fuhr mit leiser, beruhigender Stimme fort, die so ty pisch für jenen Stapleton war, den ich gekannt hatte. »Ich gehe davon aus, dass Sie beeindruckt sind, wie genial dieses Unternehmen geplant und ausgeführt wurde – Sie sollten es zumindest sein. Es ist das Ergebnis von in tensivem Nachdenken und unnachgiebiger Disziplin. Sie sollen von Anfang an wissen, Dr. Watson, dass ich auch Ihren Tod geplant habe. Ihren und den von Sherlock Holmes. In gewissem Sinne bedaure ich es, Sie töten zu müssen, denn Sie sind ganz offensichtlich nichts anderes als ein Gimpel und Einfaltspinsel. Ihr ›Freund‹ duldet Sie bloß als eine Art Spielzeug, als Gegenpart, der ihm nur noch mehr Glanz verleiht. Wie auch immer, Sherlock Holmes hat mir großes Unrecht angetan und muss be straft werden. Ein Teil dieser Strafe ist sein Tod, ein an derer Teil …« An dieser Stelle hielt er inne, um die Spannung noch zu steigern. »… Sie zuvor sterben zu sehen.« »Sie Bestie!«, rief ich. »Sie sind ja wahnsinnig!« »Aufhören! Sofort aufhören, Doktor!«, schrie er. »Ich will so etwas nicht mehr hören, haben Sie verstanden?« 275
Er starrte mich wutentbrannt an. Ich schwieg, und nach einer Weile fuhr er wieder mit sanfter Stimme fort: »Ich bin leicht erregbar, das stimmt. Doch wer wäre das nicht, wenn er sieht, dass sein genialer Plan endlich aufgeht? Wer wäre nicht aufgeregt, wenn die Stunde der Vergeltung endlich herannaht?« Er hielt inne, um sich eine Zigarette anzuzünden. Au ßer dem Plätschern des kleinen Wasserfalls hinter mir herrschte Stille auf der Lichtung. »Oh, wie ich den Gedanken genieße, dass sich Sher lock Holmes, angeblich der schlauste Kopf in ganz Euro pa, genau in diesem Augenblick seinen Weg durch diesen Nebel bahnt, ohne zu ahnen, dass ihn am Ende der Tod erwartet! Und während das Lamm sich auf den Weg zum Wolf macht, werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Würde Ihnen das gefallen? Natürlich. Wir haben fast ei ne Stunde Zeit, und zweifellos möchten Sie gerne erfah ren, auf welch geniale Weise es mir gelungen ist, aus dem Grimpen Moor zu entkommen …« Es ist ein Kennzeichen des Wahnsinns, dass der Be troffene sich in Hirngespinsten und großspuriger Ver blendung ergeht. So betrachtete auch Baskerville jeden seiner Gedanken und all seine Taten als göttliche Einge bung. Doch ich bemerkte sehr wohl, wie seine Augen hin und her wanderten und sein Blick leicht glasig wurde, während er erzählte. Der Alkohol zeigte seine Wirkung – zweifellos unterstützt von der nervlichen Erschöpfung, die ihn gepackt hatte. Es ist anstrengend zu schreien und zu toben. Und nun, da die Schlacht gewonnen war, ver klang die fieberhafte Erregung, die ihn in den vergange 276
nen Wochen angetrieben hatte, schnell. Meine einzige Hoffnung zu entkommen, so schwach sie auch sein moch te, bestand darin, ihn reden zu lassen, seinen Wahn zu nähren. Auf diese Weise würde er, wenn Holmes eintraf, vielleicht noch mehr geschwächt sein. Was dann gesche hen würde, nun, das lag in Gottes Hand. »Ja, ich würde Ihre Geschichte wirklich gerne hören. Und lassen Sie bitte nichts aus. Ich muss zugeben, dass Sie gewonnen haben, Baskerville. Sie sind ein teuflisch schlauer Kerl …« »Das bin ich in der Tat! Also kein Wort mehr von …« Er blickte sich verstohlen nach allen Seiten um und fuhr dann flüsternd fort: »… Wahnsinn …« »Es war ein Geniestreich, wie Sie aus dem Moor ent kommen sind. Alle dachten, Sie wären im Morast versunken …« »Idiot! Sind Sie nie auf den Gedanken gekommen, dass ich mir für den Notfall einen Fluchtplan zurecht gelegt haben könnte? Hah! Holmes hatte Glück, als er meine kleine Intrige durchschaute, aber selbst er war zu dumm vorauszusehen, dass ich mich auf wirklich al les vorbereitet hatte. Nun, was damals tatsächlich ge schah …« Er rückte noch ein Stück näher, schlug die Beine un ter und saß mir auf der feuchten Erde unmittelbar gegen über. Um ihn herum wirbelten einige Nebelschleier, und mit einem erschöpften Ausdruck im Gesicht begann er seine Erzählung. Da er mir so nahe saß, versuchte ich noch einmal angestrengt, meine Fesseln zu sprengen, in 277
der Hoffnung, ihm die Kette gegen die Schläfe zu schla gen. »Vergeuden Sie nicht Ihre Kraft, Doktor. Ich versiche re Ihnen, es ist zwecklos. Diese Ketten vermögen ein schweres Zugpferd im Zaum zu halten – nun, wo waren wir? Ah, ja, die Flucht aus dem Moor …« »Wir fanden Sir Henrys Stiefel am Wegesrand und nahmen an, Sie hätten ihn auf Ihrer Flucht fallen gelas sen, bevor Sie im Morast …« »Das nahmen Sie an, weil ich es so wollte; es war Teil meines Plans! Als ich die Schüsse im Nebel hörte, wusste ich, dass der Hund tot und mein Plan entdeckt war. Ich verließ das Haus und rannte zu der alten Zinnmine mit ten im Sumpf. Den Stiefel ließ ich absichtlich fallen. Nachdem ich die Mine erreicht hatte, schnappte ich mir den Rucksack, den ich dort vorsorglich für genau solch einen Fall versteckt hatte – denn so tölpelhaft Ihr Freund Sherlock Holmes auch sein mag, ich hatte dennoch Re spekt vor seiner Hartnäckigkeit.« »Wie nett von Ihnen«, warf ich sarkastisch ein und zuckte schon in Erwartung einer neuen Ohrfeige zusam men. Doch er war so damit beschäftigt, seine eigenen Heldentaten hoch zu preisen, dass er meinen Kommentar vollkommen ignorierte. »Der Rucksack enthielt eine Decke und ein paar Büchsen mit Lebensmitteln – genug für ein paar Tage. Nun, Dr. Watson, die Brillanz meines Planes lag darin, dass ich noch einen anderen Ausgang aus der Mine ange legt hatte, einen, den selbst meine Frau nicht kannte und der auf der entgegengesetzten Seite aufs Moor hinausführ 278
te. Wäre Ihr Freund aufmerksamer und ob seines ver meintlichen Erfolges nicht so von sich eingenommen ge wesen, hätte er ihn bestimmt entdeckt. Das Schicksal wollte es jedoch anders, und so nahmen alle an, ich sei tot. Als Sie die verlassene Mine erreichten, war ich bereits viele Meilen entfernt. Ich wanderte des Nachts und schlief tagsüber in Felsspalten und ähnlichen Verstecken. So kam ich gut voran. Am dritten Tag ging ich das Wag nis ein und suchte ein kleines Dorf auf. Ich kaufte eine Zeitung und war hocherfreut, als ich die Nachricht von meinem Tod las. Sie haben keine Ahnung, Dr. Watson, wie einfach es ist, sich davonzuschleichen, wenn alle Welt glaubt, dass Sie tot auf dem Grunde eines Morastlo ches liegen. Ich hielt mich Richtung Norden. Mein Ziel war Yorkshire, da ich diesen Landstrich ja so gut kenne. Unterwegs, im Tal des Severn, traf ich jedoch auf den al ten König Zoltan und seinen Zigeunerstamm. Großzügige Leute, Doktor, und sie stellen keine Fragen! Ich kleidete mich wie sie, nahm ihre Sitten an und zog mit ihrem Tross über die Berge und durch die Wälder. Da ich in Costa Rica aufgewachsen bin, als Sohn einer Einheimi schen, war mir ihr Temperament und ihre abenteuerliche Lebensart ohnehin nicht fremd. König Zoltan nahm mich als Sohn an, und damit war meine Maskerade per fekt, meine Flucht aus England gesichert.« Der Nebel lichtete sich, und nun war mehr von der Lichtung zu sehen. An ihrem hinteren Ende, hinter dem flachen Teich, erhob sich die steile Felswand. In dieser gab es offensichtlich eine kleine Höhle, deren Eingang 279
eine dunkle Spalte bildete. Aus dieser engen Spalte sah ich nun den Malaysier treten. Er hinkte auf seinen ver krüppelten Beinen zum Lagerfeuer und legte Holz nach. Nachdem er diese Aufgabe erledigt hatte, machte er sich zurück auf den Weg zur Höhle, wobei er die Falten seines schmutzigen Umhangs fest um sich geschlungen hielt. Ich beobachtete, wie Baskerville seine Beine ausstreckte und sich lässig auf einen Ellbogen stützte, bevor er mit seiner Erzählung fortfuhr: »Wie Sie vielleicht bereits wissen, ist dieser Kreis aus Eichen und das Tal darin ein bevorzugter Lagerplatz für Zigeuner. Ebendieses Tal erreichte unser Tross im frühen Winter 89, nur ein paar Wochen nach meiner Flucht aus dem Moor. Wir schlugen hier unser Winterlager auf und lebten von dem Wild, das wir in den Wäldern erlegten oder fingen. Während unseres Aufenthalts sahen wir öf ters Jagdpartien, die von Strathcombe her aufbrachen. Ich war beeindruckt vom Reichtum des Landsitzes. Als ich erfuhr, dass niemand anderes als Lord Allistair der Be sitzer war, war ich tief erschüttert – und gleichzeitig hocherfreut, denn ich hatte mich schon lange für sein unverschämtes Verhalten rächen wollen …« »Lord Allistair? Was hat er …« »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf!«, unter brach Baskerville und winkte ab. »Es ist lange her, sogar länger als die Sache mit dem Hund, aber ich habe ihm nie verziehen, dass er mich ruiniert hat. Ich überlegte, ob ich ihn im Dunkel der Nacht töten sollte, erkannte aber, dass das Risiko zu groß war und die Bestrafung zu schnell auf dem Fuße folgen würde …« 280
Ich erinnerte mich mit Bedauern an die zehn Wochen voller Angst, die Lord Allistair ausgestanden hatte, und musste gestehen, dass Baskervilles Rache nur allzu wir kungsvoll gewesen war. Aber was hatte Lord Allistair ge tan, um all dies zu verdienen? Zweifellos war er nicht der Mann, der einem Mitmenschen absichtlich ein Unrecht zufügte. Baskerville riss mich aus meinen Gedanken, indem er mit seiner schauerlichen Geschichte fortfuhr: »Doch das Schicksal wollte es, dass mir gar keine Zeit für Rache blieb. Im Frühjahr starb der alte König. Seine Leute trugen den Leichnam in eine dieser düsteren Höh len hier und begruben ihn. Als ich hörte, dass die Sippe nach Süden ziehen würde, beschloss ich, meiner eigenen Wege zu gehen. Mit einem Beutel voller Geld – ein letz tes Geschenk König Zoltans – reiste ich weiter nach Norden, bis ich Liverpool erreichte. Dort heuerte ich auf einem Schiff an, das nach Amerika fuhr. Während dieser Fahrt nach Amerika, Dr. Watson, kehrte die Erinnerung an meine Niederlage zurück. Wo chenlang konnte ich an nichts anderes denken als an die Demütigung, die Sherlock Holmes mir zugefügt hatte. Was für ein brillanter Plan – zunichte gemacht von ei nem amateurhaften Besserwisser! Damals keimte die Saat meines Hasses auf und begann zu wachsen und zu wach sen. Mit jedem Tag wurde sie größer. Und als aus Wo chen Monate wurden, verwandelte sie sich in …« »… Besessenheit«, warf ich ein. Er warf mir einen un ruhigen Blick zu. »So könnte man es nennen«, gab er schließlich zu. 281
»Und warum auch nicht? Welcher normale Mann würde sich nicht rächen wollen, wenn er, nach monatelanger sorgfältiger Planung, um sein rechtmäßiges Erbe gebracht wurde? Wie auch immer, mir war klar, dass es ratsamer sein würde, England ein paar Jahre lang zu meiden, um meinen Tod glaubwürdiger erscheinen und Gras über die ganze Angelegenheit wachsen zu lassen. Nachdem ich in Amerika angekommen war, schlug ich mich mit Gelegenheitsarbeit quer durch den ganzen Kontinent, bis ich schließlich San Francisco erreichte. Dort heuerte ich auf einem russischen Robbenfänger an und verbrachte die nächsten fünfzehn Monate auf dem Bering-Meer. In dieser eisigen Einöde gab es kaum etwas anderes, über das ich nachdenken konnte, als meinen Hass auf Sherlock Holmes und wie ich mich an ihm rä chen könnte. Das nächste Schiff brachte mich nach San tiago, wo ich den Mann traf, der in diesem Augenblick Alice Allistair nach …« Ein Geräusch unterbrach seine Erzählung. Es kam aus der Felsspalte, und es war ein Geräusch, wie ich es nie zu vor gehört hatte und das mir das Blut in den Adern ge frieren ließ. Es waren tierische Laute, ein Grunzen und Schnaufen, das allmählich in ein tiefes Knurren überging. Schließlich gipfelte es in einem gellenden Schrei, der in einer grauenvollen Kakophonie von den schroffen Fels wänden der Schlucht widerhallte. »Großer Gott!« Wenn ich so im Nachhinein zurückdenke, kann ich mich kaum daran erinnern, diese Worte tatsächlich aus gestoßen zu haben. Furcht hatte mich gepackt und hielt 282
mein Herz so fest umklammert, dass Reden schwer fiel und Denken fast unmöglich war. Die grauenvollen Bilder zogen noch einmal vor meinem geistigen Auge vorüber: der verstümmelte Leichnam von Captain McGuinness, die blutigen Überreste von Compson … Ich zerrte heftig an meinen Fesseln. Gut ein Dutzend Mal warf ich meinen Körper nach vorne, bis mir alle Gliedmaßen schmerzten und meine Handgelenke blute ten. Mein Herz raste wie wild, sodass meine ganze Brust bebte. Mein Magen verkrampfte sich so heftig, wie man es nur in allertiefster Angst verspürt. »Aber, aber, Dr. Watson, beruhigen Sie sich! Sie wer den sich nur verletzen. Das wird schon jemand anders für Sie besorgen, dessen können Sie versichert sein!«, fügte er geheimnisvoll hinzu. »Aber alles zu seiner Zeit. Jetzt sollten Sie sich entspannen und meiner Geschichte lau schen – so ist es gut. Wangi!« Der Heide trat aus dem Höhleneingang und kam hum pelnd auf uns zu. In seiner Hand hielt er einen seltsamen Gegenstand. Es war ein Holzstab mit einem eisernen Ha ken am Ende. Ich erkannte sofort, was es war: der Stock eines Elefantentreibers. Der Haken war an der Spitze rot gefärbt. »Unser Freund benimmt sich also nicht? Wird er un geduldig, Wangi?« Der erbärmliche Schuft grinste und plapperte etwas, wobei er eine grässlich anzuschauende Reihe abgebro chener, fleckiger Zähne bloßlegte. Er klopfte mehrmals mit dem Treibstock auf den Boden und schüttelte sich glucksend vor Lachen. 283
»Ah, er ist zweifellos hungrig! Hier, sieh her, Wangi, wie unser armer Freund vor Angst zittert. Nein, Doktor, das Biest bleibt sicher angekettet, bis wir es freilassen. Es wird nicht aus seinem Bau kommen, bevor Sherlock Holmes hier eingetroffen ist und sich zu Ihnen gesellt …« Der entstellte Diener humpelte in die Höhle zurück. Fast augenblicklich folgte ein dumpfer Schlag und dann ein weiterer tierischer Schrei – diesmal noch länger und lauter als der erste. Obwohl er mir völlig fremd war (und gerade deshalb wohl noch angsteinflößender wirkte), er innerte er mich an einige andere Tierlaute: Das Schnau fen, mit dem die grausigen Schreie begannen, ähnelte dem Schnauben eines Pferdes; das Knurren war tief und durchdringend wie das eines Tigers. Das groteske Quie ken, mit dem der Schrei endete, ähnelte dem Laut, den ein Schwein von sich gibt, wenn man ihm die Kehle durchschneidet. Der Schrei hörte sich noch furchterre gender an, weil er aus einer Höhle kam, deren Wände ihn verstärkten, und weil er von den Felsen draußen in einer schauerlichen Kadenz vielfach zurückgeworfen wurde. Mit dem Verklingen des furchtbaren Lautes trübte sich auch meine Sicht, und mir schwanden die Sinne. Ich stürzte in ein wirbelndes Meer aus tiefster Dunkelheit.
Während meiner Ohnmacht, die nicht lange andauerte, träumte ich, ich würde ertrinken. Das rührte zweifellos daher, dass ich, als ich wieder erwachte, kaum in der Lage war zu atmen, angesichts der Menge an Alkohol, die Baskerville mir in die Kehle schüttete, um mich wieder 284
zubeleben. Ich verschluckte mich an dem herben Rum und musste husten. Nichtsdestotrotz erfüllte er seinen Zweck. »So ist’s brav, Doktor. Ihr Freund ist nicht mehr fern, und die Zeit wird knapp. Wie soll ich meine wunderbare Geschichte vollenden, wenn Sie ohnmächtig werden?« Ich nickte geschwächt und resigniert, und er fuhr fort: »Es war früh im Jahr 93, als ich Jones in Santiago traf. Er hatte sich unerlaubt von seinem Schiff entfernt, der Meeradler, einem preußischen Barkschiff, das salpetersau res Salz transportierte, und nun suchte man in der gesam ten Hafenanlage nach ihm. Selbst nicht ganz ungeübt, was Verfolgungsjagden betrifft, konnte ich ihm helfen, den Offizieren zu entkommen. Zwischen uns entwickelte sich augenblicklich eine Freundschaft, und daher be schlossen wir, zusammen auf der Dunmore anzuheuern, deren Zielhafen Bombay war. Wie ich bereits eben er wähnte, Dr. Watson, drehte sich inzwischen ein Großteil meiner Gedanken nur noch um Rache. Die lange Fahrt nach Indien bildete da keine Ausnahme. Ursprünglich hatte ich vor, von Indien aus ein Schiff nach London zu nehmen. Wenn ich dort erst einmal an Land gegangen war, würde ich sicher leicht einen Weg finden, Ihren Freund zu töten und dann wieder unterzutauchen. Mit dieser Taktik hatte ich schließlich schon mehr als einmal Erfolg. Das Schicksal wollte es jedoch, dass sich in Bom bay eine andere Gelegenheit ergab, und zwar in Gestalt von Alice Allistair, die dort zusammen mit ihrer Begleite rin ihre Ferien verbrachte, was Sie aber zweifellos alles wissen. Selbstverständlich widmete die lokale Presse ih 285
rem Besuch in Delhi und Bombay viel Aufmerksamkeit. Durch die Zeitungen und den Klatsch in den eleganten Teehäusern waren Jones und ich allzeit über jeden ihrer Schritte und all ihre Verabredungen informiert. Ich erzählte Jones von meinen Heldentaten in Zoltans Zigeunerbande und dem Reichtum der Allistairs. Zusam men heckten wir den gewagten, aber brillanten Plan aus, die Allistair-Tochter zu entführen, ein Geniestreich, über den Sie sicher gelesen haben …« »Ganz England hat darüber gelesen. Es war eines der infamsten Verbrechen der letzten Jahre.« »Wie ich bereits eben andeutete, hatte ich ganz per sönliche Gründe, genau dieses Mädchen zu entführen: Peter Allistair hat mir vor langer Zeit ein großes Unrecht zugefügt. Und so konnte ich ihn nicht nur um eine große Summe Geldes bringen, sondern ihm gleichzeitig auch noch ein schweres Leid zufügen …« An dieser Stelle brach er erneut in ein manisches Ki chern aus, und mir fiel der früher geäußerte Verdacht Lord Allistairs ein, dass die Entführung einen persönli chen Hintergrund hatte und das schreckliche Leid ganz gezielt ihm und seiner Frau galt. »Was hat er Ihnen getan?«, brauste ich auf. »Was kann er Ihnen zugefügt haben, das ein solch abscheuli ches Vorgehen Ihrerseits rechtfertigt?« »Das geht Sie nichts an. Es genügt, wenn ich sage, dass er Strafe verdient hat. Der Ausdruck auf seinem Gesicht heute hat mir verraten, dass er in der Tat gelitten hat – daher wurden meine Anstrengungen doppelt belohnt. Doch die Zeit wird knapp; ich werde meine Geschichte 286
wieder aufgreifen: Wir lockten Miss Allistairs Begleiterin, eine gewisse Miss Haskins, unter einem Vorwand weg. In ihrer Abwesenheit verfrachteten wir die junge Dame in eine Sänfte und ein paar Straßen weiter dann auf einen Lieferkarren. Die Genialität des Planes bestand darin, in der Stadt zu bleiben, statt eine Flucht über Land zu versu chen. Wir versteckten uns in einem heruntergekomme nen Arbeiterviertel der Stadt, ganz in der Nähe des Forts. Wie nicht anders zu erwarten, wimmelte es in der Stadt und ihrer Umgebung bald vor britischen Soldaten und Sepoys. Und wie ebenfalls nicht anders zu erwarten, such ten sie überall, nur nicht in der Nähe des Forts! Dort ver steckten wir uns für gut eine Woche, bis sich die Aufre gung gelegt hatte. An dieser Stelle kann ich Ihnen gerne ein Geständnis machen, Doktor: So genial ich auch alles eingefädelt hat te, die Wirkung, die die Entführung von Lady Allistair beim Militär und bei der Bevölkerung im Allgemeinen hervorrief, hatte ich unterschätzt. Offenbar ist es sinnlos, in Indien eine Geisel zu nehmen, um in England Löse geld zu fordern. Ursprünglich hatte ich geplant, das Geld über einen Mittelsmann in Indien zu kassieren. Auf diese Art und Weise wäre die ganze Angelegenheit natürlich in ein paar Tagen beendet gewesen.« »Sie haben ja keine Ahnung von all dem Leid, das Sie verursacht haben!«, warf ich ein. »Sie können mich tö ten, vielleicht auch Sherlock Holmes. Aber ich schwöre Ihnen: Sie werden büßen für das, was Sie getan haben!« »Nun, es ist nicht mehr zu ändern. Und, mein Freund, Sie werden es sein, der büßen wird! In ein paar Stunden 287
werden Jones und ich schon unterwegs nach Liverpool sein, wo ein Schiff nach Rio de Janeiro auf uns wartet. Dort werden wir den Rest unseres Lebens in Luxus verbringen …« »Und Wangi?« »Was unseren buckligen Freund betrifft – nun, er hat uns gut gedient. Allerdings ist er … auffällig, um es vor sichtig auszudrücken. Sehr auffällig sogar. Seine Gegen wart würde unser Fortkommen wohl behindern …« Er legte die Hand auf den Knauf seiner Pistole, der aus dem Gürtel ragte. »Ich fürchte, dies ist Wangis letzter Tag auf dieser Er de – ah, ihn warnen zu wollen ist zwecklos. Er spricht kein Englisch, wie Sie bemerkt haben. Um aber auf unser kleines Abenteuer zurückzukommen …« Ich traute meinen Ohren nicht, als ich von diesem schurkischen Plan erfuhr. Offensichtlich war der un glückselige Bursche, Heide und Krüppel, der er war, den noch eine große Hilfe für die beiden gewesen. Und nun wollte man sich seiner ohne den geringsten Skrupel ent ledigen und ihn töten. Das Fortschreiten des Wahnsinns hatte Baskerville zweifellos zu einer Bestie gemacht. Wo vorher Intelligenz und Verstand geherrscht hatten, regierten jetzt nur noch animalische Instinkte. Zwar war er schon immer kaltblü tig gewesen, doch inzwischen waren alle Überbleibsel zi vilisierten Verhaltens von ihm abgefallen, und zurück geblieben war ein brutales Untier, das geist- und skrupel los wie eine Viper tötete. »Unsere Fehleinschätzung machte eines deutlich: Es 288
war unmöglich, ein Lösegeld für die Lady in Indien zu for dern. Man hatte Bombay vollkommen abgeschottet – was nicht schwer ist, wenn man bedenkt, dass es auf einer In sel liegt. Überall waren Soldaten – sie schwärmten durch die Stadt und über die Straßen; Züge und Schiffe wurden durchsucht, alle Brücken wurden beobachtet. Man hatte Alarm geschlagen! Nun, wie Sie vielleicht gehört haben, waren die Ent führer als Einheimische beschrieben worden: Jones und ich hatten uns absichtlich als Hindus verkleidet. Da sich Millionen von ihnen durch die Gassen drängen und die ganze Stadt und das Land überfluten – und sich alle auch noch bis aufs Haar gleichen –, ist es nicht verwunderlich, dass die Behörden bald frustriert waren. Doch zwei briti sche Reisende, die durch Bombay flanierten, erregten kei nerlei Aufmerksamkeit oder Verdacht. Lady Alice blieb derweil zwar unter menschenwürdigen Bedingungen, aber nichtsdestotrotz unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in unserem Versteck verborgen. Als uns klar wurde, dass wir nur außerhalb Indiens an das Lösegeld gelangen konnten, stellte sich das Problem, wie wir das Land verlassen sollten. Wie gesagt, Lady Al listair über den Hafen aus Bombay hinauszuschmuggeln kam nicht infrage. Allerdings stellten wir auf unseren ausgedehnten Wanderungen durch die Stadt fest, dass die Züge, die ins Landesinnere und zu den östlichen Hafen städten gingen, nicht sehr sorgfältig durchsucht wurden. Was also lag näher, als für uns beide zwei Fahrkarten nach Madras zu lösen und Vorsorge für den Transport ei ner großen Schiffstruhe zu treffen …« 289
»Sie Ungeheuer!«, rief ich. »Sie haben sie eingesperrt wie …« »Ja, Doktor, genau. Es war sehr unangenehm. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass es nicht anders ging. Gefangen in Bombay, umzingelt von Soldaten und Such trupps, hatten wir nur drei Möglichkeiten: Die erste be stand darin, das Mädchen freizulassen und zu fliehen. In diesem Fall hätte sie uns beschreiben und identifizieren können. Das wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Die zweite Möglichkeit bestand darin, mit dem Mädchen in eine andere Hafenstadt zu fliehen, was wir dann ja auch taten. Und die dritte Alternative wäre gewesen, sie zu töten. Das wäre äußerst abscheulich gewesen, und au ßerdem hätten wir dann kein Lösegeld mehr fordern können. So entschieden wir uns also für die zweite Mög lichkeit. Wir verabreichten Lady Allistair Medikamente, die sie in Tiefschlaf versetzten, und legten sie in den gro ßen Koffer, der so präpariert worden war, dass sie nicht ersticken konnte. Das war das einzige Mal, dass wir ge zwungen waren, zu solchen Mitteln zu greifen. Sie konn ten sich ja selbst davon überzeugen, dass die junge Lady in den vergangenen zwölf Wochen gut behandelt wurde.« Er hielt inne, um an seiner Zigarette zu ziehen. Seine Art, die abscheulichsten Taten wie beiläufig zu erzählen, fesselte mich derart, dass ich zumindest für den Augen blick die seltsamen Laute aus der Höhle sowie meine ver zweifelte Lage vergaß. »Der prekärste Augenblick kam, als wir den Koffer in den Gepäckwagen luden. Wenn sie ihn geöffnet hätten, wären wir sicherlich am Galgen geendet. Doch unser 290
Auftreten als ehrbare britische Staatsbürger sowie eine hübsche kleine Summe für den Mann, der für das Gepäck verantwortlich war, genügten, dies zu verhindern, und wir waren fort. Die Reise nach Madras dauert nicht viel län ger als vierundzwanzig Stunden. Wir ratterten über die Schienen, und die Landschaft schoss an uns vorbei: ganze Ozeane aus roter Erde, durchsetzt mit Buschwerk und Hagedornsträuchern; darauf Ochsenkarren, Büffel und Kamele, hauptsächlich jedoch ganze Horden braunhäuti ger Menschen in langen Gewändern, mit ausgemergelten Gesichtern und dürren Gliedmaßen. In der geschäftigen Hafenstadt angekommen, suchten wir uns erneut eine bescheidene Unterkunft und befrei ten die junge Lady aus ihrem Gefängnis. Sie hatte die Reise ausgesprochen gut überstanden und erholte sich fast augenblicklich – abgesehen natürlich von den zahl reichen Weinkrämpfen. Die nächsten Tage verbrachten wir damit, den Hafen nach einem Schiff abzusuchen, das nach London fuhr. Vergeblich, und wir wollten schon nach Kalkutta aufbrechen, als wir eine arabische Dhau entdeckten, die sich dem Kai näherte. Es handelte sich um einen Küstensegler, ein Handelsschiff, wie es sie zu Tausenden im Indischen Ozean gibt. Sie fahren kreuz und quer über die See und wechseln in jedem Hafen ent lang der Küsten Afrikas und Asiens sowohl Mannschaft als auch Ladung. Als die Dhau den Kai schließlich erreicht und ange legt hatte, sahen wir, dass sie größer war als die meisten anderen Schiffe dieser Art. Auf ihrem Deck türmte sich die Fracht: Felle, Kopra, Gewürze, Hanf und Kokosnüsse. 291
Die Mannschaft kam aus aller Herren Länder: Araber, Malaysier, Neger, Hindus und Chinesen. Wir wussten, dass diese Gentlemen – sofern man sie denn als solche bezeichnen kann – ein tollkühner Haufen waren. Für den richtigen Preis würden sie tun, was wir verlangten, ohne Fragen zu stellen. Der Kapitän war ein grimmiger Araber namens Harun Sarouk. Er machte es sich auf dem sonnenüberfluteten Deck bequem, während sich seine Mannschaft um das große Segel kümmerte. Mit gekreuzten Beinen auf einem Stapel Hanf sitzend, paffte er seine Huka, während sein buckliger Diener – ebenjener Malaysier, der sich jetzt dort drüben in der Höhle aufhält – ihm mit einem Palm wedel Luft zufächelte. Das Schiff war über Ceylon von Sansibar gekommen, und in zwei Tagen würde es nach Batavia weiterfahren. Sarouk wollte uns und unseren ›Gast‹ mitnehmen, wenn wir ihn gut bezahlten. Zwei Nächte später setzten wir das Segel, und die Pas satwinde wehten uns schnell gen Osten. Nach sechs Ta gen erreichten wir Kutaradja an der Spitze der Insel Su matra. Dort gingen wir an Land, denn die Einheimischen hatten im Dschungel ein seltsames Tier eingefangen …« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern und lehnte sich mit einem Lächeln auf den Lippen zurück. Meine Augen wanderten unwillkürlich zu der Felsspalte: ein schwarzes Loch, aus dem kein Laut drang. »… eine äußerst seltsame und monströse Kreatur: eine Riesenratte!« Erneut packte mich die Panik, Schweiß lief mir über das Gesicht, und meine Gliedmaßen zitterten. 292
»Es hört sich unglaublich an, nicht wahr?«, spottete er mit leiser Stimme. »Und dennoch ist es wahr: Die Bestie existiert und ist, wie Sie vielleicht gesehen ha ben, durchaus dazu in der Lage, einen Menschen zu To de zu beißen …« Und wieder versuchte ich verzweifelt, meine Fesseln zu sprengen. All meine Anstrengungen waren jedoch vergebens und führten nur dazu, dass ich meine Muskeln überanstrengte und die Narbe meiner alten Schussverlet zung wieder zu schmerzen begann. Der pochende Schmerz in meiner Schulter verriet mir, dass sie nie wie der ganz heilen würde. Doch da ich sowieso nicht mehr lange zu leben hatte – was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Baskerville beobachtete meine Versuche gelassen. Er griff nach einem langen Stock, drehte sich auf dem Ellbo gen um und stocherte im absterbenden Feuer herum. Schließlich wandte er sich mir wieder mit einem hämi schen Lächeln auf den Lippen zu. »Sie fanden den Hund schrecklich? Sie hatten Angst vor ihm? Dann muss ich Ihnen sagen, Doktor, dass der Hund im Vergleich zu der Bestie, die Sie gleich zu Ge sicht bekommen werden, bloß ein Spielzeug war, ein harmloses Spielzeug!« Seine Stimme begann vor Erregung zu zittern, er wur de jedoch von Wangi unterbrochen, der aus der Höhle getreten war und sich an den Rand der Lichtung gehockt hatte. »Pssst!« Baskerville wandte sich zu dem Wilden um, der seinen 293
grotesk geformten Dolch aus dem Gewand zog. Ein weite rer Warnlaut drang über die dicken, wulstigen Lippen. Wangi beugte sich vor und deutete nach oben. Links hinter mir hörte ich das leise Rascheln von Blät tern. Ein Zweig knackte, und der regelmäßige Taktschlag sich nähernder Schritte drang an meine Ohren. Der Ma laysier wiegte sich geduckt hin und her, den Dolch in der erhobenen Faust. Mit Baskerville, der vor Erwartung deutlich sichtbar zitterte, ging jedoch eine weitaus größe re Veränderung vor sich. Die Anspannung machte sich deutlich bemerkbar. Mit hervorquellenden Augen zog er die Pistole aus seinem Gürtel und spannte den Hahn. Die Schritte kamen näher. Ich drehte den Kopf so weit wie möglich, doch sosehr ich mich auch anstrengte, es gelang mir nicht zu sehen, wer da kam. »Fliehen Sie, Holmes! Fliehen Sie!«, rief ich, so laut ich konnte. »Er will uns beide umbringen!« Voller Wut richtete Baskerville die Waffe auf meine Brust. Ich schloss die Augen und stieß ein letztes Gebet aus. Doch der Schuss fiel nicht. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, dass Baskerville seine vorherige Haltung wieder eingenommen hatte und wie toll in den Nebel starrte, in die Richtung, aus der die Schritte kamen, die Pistole zitternd mit beiden Händen umklammernd. »Kommen Sie, Sherlock Holmes!«, rief er triumphie rend. »Treten Sie vor und leisten Sie Ihrem Freund Ge sellschaft …« Die Geräusche waren jetzt gar nicht mehr weit ent fernt, und schließlich konnte ich durch die wabernden Nebelschwaden die vertraute schmale Gestalt ausma 294
chen. Holmes näherte sich langsam, unglaublich gefasst und besonnen. Der Anblick erfüllte mich mit tiefer Zer knirschung. Natürlich war ich mir ebenso wie Holmes über die Gefahren im Klaren, die sein Beruf mit sich brachte. Doch dass eine solch gemeine Bestie wie Basker ville über ihn triumphieren sollte – das war einfach uner träglich! Holmes blieb stehen, und dann ertönte seine ruhige Stimme: »Ich werde keinen Schritt weitergehen, bevor mein Freund nicht freigelassen wurde.« »Dann werden Sie sterben müssen, wo Sie sind, Mr Holmes«, erwiderte Baskerville mit zitternder Stimme. »Und Ihrem Freund wird ein sehr langsamer Tod zuteil werden …« Nach einer kurzen Bedenkpause trat Holmes auf die Lichtung. »Verdammt, Mann, sind Sie verrückt geworden? Ma chen Sie kehrt und fliehen Sie, na los!«, schrie ich mit vor Anstrengung heiserer Stimme. »Mich können Sie nicht retten, Holmes, und Miss Alice ist in Sicherheit. Verschwinden Sie, Mann!« »Wenn Sie fliehen«, warnte Baskerville, »wird Alice Allistair einen qualvollen und einsamen Tod sterben. Ich warne Sie! Lady Allistair liegt in diesem Moment gefes selt und geknebelt im alten Kalkofen von Strathcombe. Sie kann sich nicht befreien, glauben Sie mir. Wenn Sie nicht tun, was ich sage, werden ihre Eltern nie erfahren, wo sie sich befindet. Wenn Sie uns jedoch als Geisel be gleiten, werden wir eine Nachricht hinterlassen, damit 295
sie gerettet werden kann. Was sagen Sie dazu, Mr Hol mes? Werden Ihre Freunde leben … oder sterben?« Bevor ich erneut eine Warnung ausstoßen konnte, sah ich aus den Augenwinkeln neben meinem Kopf ein Paar dunkler Hände wirbeln. Im nächsten Moment spürte ich, wie ein schweres Tuch um meine untere Gesichtshälfte gelegt und so fest zugebunden wurde, dass ich zu ersticken glaubte. Ich hatte mich so sehr auf Holmes konzentriert, dass ich nicht bemerkt hatte, wie Wangi sich hinter mei nen Rücken geschlichen hatte. Mit einem Mal konnte ich kein Wort mehr hervorbringen. Mir ging auf, dass Holmes wohl unerwartet früh eingetroffen sein musste; sicher hatte man geplant, mich frühzeitig zu knebeln, damit ich ihn nicht vor Baskervilles grausamer Rache warnen konnte. »Ihr Freund vertraut mir nicht, Holmes. Aber Sie sind ein halbwegs intelligenter Mensch. Ich bin mir sicher, dass Sie das Richtige tun werden …« »Mir bleibt offenbar keine andere Wahl …«, entgeg nete Holmes resigniert. Ich schüttelte den Kopf wild hin und her, bis er schmerzte und es in meinen Ohren klingelte. Ich trat aus und schrie, aber nur ein gedämpftes Stöhnen drang durch den Knebel. Baskerville hatte seine Rache geplant, wie es nur eine vom Wahnsinn gepackte, gequälte Seele ver mochte. Mit anzusehen, wie mein lieber Freund in den Tod gelockt wurde, war mehr, als ich ertragen konnte. Ich kämpfte mit aller Macht gegen die Tränen der Wut und Verzweiflung an. »Es tut mir aufrichtig Leid, Watson«, meinte Holmes 296
mit sanfter Stimme, während er sich Baskerville näherte, der seine Pistole auf die Brust meines Freundes gerichtet hielt. Ohne die Augen von Holmes abzuwenden, trat er zurück und hob ein weiteres Paar Handschellen auf. Wangi schlich sich hinter Holmes, den Dolch in der Hand. »Sobald Jones da ist, werden wir Sie an diesen Baum dort binden. Wenn wir unsere Flucht soweit vorbereitet haben, werden Sie sich zu uns gesellen. Und wenn wir diesen Landstrich sicher verlassen haben, werden wir Sie freilassen.« »Ich kenne Sie und Ihre Vergangenheit nur zu gut, Baskerville«, warf Holmes ein, »um auch nur einen Au genblick daran zu zweifeln, dass Sie nach meinem Tod trachten. Ich mache mir keine Illusionen darüber, was Sie mit mir vorhaben. Doch appelliere ich an Ihre Anstän digkeit: Lassen Sie meinen Freund frei …« Also war er, wohl wissend, dass er sterben würde, zur Lichtung gekommen, nur um sich für mich zu opfern. Er war mit der gleichen Selbstsicherheit, der gleichen uner schütterlichen Standfestigkeit gekommen wie damals bei den Reichenbachfällen, als er sich Moriarty stellte. Seine Worte zerrissen mir das Herz. Am Ende, wenn es wirklich darauf ankam, dann gab es keinen treueren Freund, kei nen tapfereren Gefährten als Sherlock Holmes. Baskervilles Zittern verstärkte sich, sodass die eisernen Schellen in seiner Hand klimperten. Er sagte nichts. »Und wo ist Ihr Freund Jones?«, fragte Holmes listig. »Sollte er nicht augenblicklich zurückkehren? Hat er Sie vergessen? Ist er geflohen?« 297
»Er wäre ein Narr, wenn er das täte!«, platzte Basker ville heraus. »Das Lösegeld ist übergeben. Unsere Flucht ist grob vorbereitet.« Doch trotz all seiner Prahlerei zeigte sich eine Spur Unsicherheit auf seinen Zügen. Sein ganzer Körper zitter te vor Nervosität. Es heißt, dass Verbrecher einander nie vertrauen. Der Funke des Zweifels in Baskervilles Augen verriet mir, dass diese Aussage zutraf. »Sie haben Recht, Baskerville. Ich möchte meine Freunde nicht durch Ihre Hand sterben sehen. Nehmen Sie also mich, und lassen Sie den Doktor frei …« Der Schurke trat näher an Holmes heran und hielt die Handschellen bereit. »Ich werde Ihren Freund freilassen, sobald Sie uns ge stattet haben, Ihnen diese Fesseln anzulegen. Ich kann Sie nicht beide gleichzeitig freilassen …« Zu meinem Entsetzen schien Holmes diesem Verspre chen Baskervilles Glauben zu schenken. Er streckte die Arme aus und ging auf ihn zu. »Da ich sterben werde und Ihre Flucht gesichert ist, würden Sie mir noch einen Gefallen tun und meine Neu gierde befriedigen?« »Was wollen Sie wissen?«, schnauzte Baskerville ihn an. Wieder konnte ich ein starkes Zucken beobachten. »Geben Sie zu, Raymond Jenard getötet zu haben?« »Natürlich!«, meinte er mit einer wegwerfenden Hand bewegung. »Er musste sterben! Er hat herausgefunden, dass Alice Allistair an Bord war …« »Und McGuinness und Compson?« »Ja, ja!«, schrie er. »Und nun …« 298
Baskerville hielt Holmes die Handschellen entgegen. Mit wachsender Beunruhigung beobachtete ich, wie er die erste Schelle um Holmes’ schmales Handgelenk legte und zufallen ließ. Das metallische Klicken klang erschreckend endgültig. Noch immer hielt er die Pistole auf Holmes’ Brust gerichtet. Sorgsam darauf bedacht, die Waffe außer halb seiner Reichweite zu halten, packte er das freie Ende der Fesseln und führte meinen Freund zu einem kleinen Baum, keine zehn Schritte von mir entfernt. So sehr ich auch versuchte, mich bemerkbar zu machen, Holmes schenkte mir keinerlei Beachtung und ließ sich wider standslos und lammfromm führen. Der entstellte Malay sier schlurfte mit gezücktem Dolch hinter ihm her. Holmes’ Lage war wirklich hoffnungslos. Bald schon würde er mir traurige Gesellschaft leisten und darauf war ten, dass die Riesenratte aus ihrem Bau hervorkroch. Die Ironie der ganzen Sache traf mich wie ein Hammerschlag: Da war ein brillanter Mann, der sein Leben der edlen Aufgabe gewidmet hatte, jenen zu helfen, die sich in ei ner verzweifelten Lage befanden, und das Böse zu be kämpfen, wo immer er ihm begegnete. Und nun sollte ebendieser Mann einen unwürdigen und grausamen Tod sterben, zerfleischt von einem riesigen Nagetier! Ich konnte nur hoffen, dass die Bestie derart furchterregend aussehen würde, dass wir bei ihrem bloßen Anblick in ei ne gnädige Ohnmacht fallen würden und uns so die schlimmsten Schmerzen erspart blieben. Doch offensichtlich war die Anspannung selbst für Holmes zu viel. Plötzlich schlug er sich mit der freien Hand auf die Brust, hustete leicht und kippte vornüber. 299
Verblüfft blieb Baskerville stehen, ging einen Schritt zurück und starrte auf die hagere, gebeugte Gestalt hinab, die keuchte und würgte. Auf den groben Gesichtszügen des Malaysiers zeichne te sich Verwirrung ab. Baskerville ging noch näher an Holmes heran und streckte eine Hand aus, um ihn zu stützen. Dann geschah alles auf einmal. Ich werde mich wohl nie ganz an die erstaunliche Geschwindigkeit und Stärke meines Freundes gewöhnen. In dem einen Augenblick stand er noch vornübergebeugt da, scheinbar kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Im nächsten war er in die Hocke gegangen, hatte die Pistole in Baskervilles Hand mit der Linken gepackt und holte mit der rechten Faust zu einem weiten Haken aus. Dabei straffte er sich wieder und verlieh so dem Schlag eine ungeheure Wucht. Meine Augen konnten der Bewegung kaum folgen. Er traf Baskerville genau an der Spitze des Kinns. Holmes’ Vorteil währte jedoch nur kurz. Wie ein Pan ther sprang ihn der Malaysier von hinten an. Ich sah, wie die gefährliche Klinge sich senkte, und hörte meinen Freund einen lauten Schrei ausstoßen. Wieder hob sich der Dolch, und ich schloss die Augen, denn ich wusste, der zweite Stoß würde tödlich sein. Doch bevor Wangi den Arm erneut senken konnte, gab es eine dumpfe Explosion, und eine kleine, bläuliche Rauchwolke stieg auf. Der Schuft hielt sich den Magen, kippte nach vorne und wand sich zuckend hin und her. Holmes und Baskerville rollten sich in tödlicher Um klammerung auf dem Boden. Baskerville hielt die rau 300
chende Pistole noch immer in der Hand; Holmes lange Finger umklammerten sein Handgelenk. Es war ein wil der Kampf. Beide Männer atmeten immer lauter und schneller. Während sie über den Boden rollten, konnte ich sehen, dass der rote Fleck auf Holmes’ Rücken mit je der Sekunde größer wurde. Nicht mehr lange, und die Kräfte würden ihn verlassen, so hager, wie er war. Und dennoch kämpfte er weiter und schien sogar die Ober hand über Baskerville zu gewinnen. Plötzlich gab es ein wildes Gerangel, und ich sah das Blitzen von Metall. Die Pistole flog Baskerville in hohem Bogen aus der Hand, zweifellos eine Folge von Holmes’ stahlhartem Griff. Ein leises Platschen verriet mir, dass sie im Teich gelandet war. Schließlich ließen die Männer voneinander ab. Beide standen kurz vor einer Ohnmacht. Baskerville hatte mit dem gewaltigen Schlag zu kämpfen, den Holmes ihm ver setzt hatte, und Holmes, der viel Blut verloren hatte, war bleich wie ein Laken. Damit war der Schurke eindeutig im Vorteil, denn während er sich mit der Zeit erholte, verschlechterte sich Holmes’ Zustand mit jeder Sekunde. Baskerville sah sich nach Hilfe um, doch sein gnomar tiger Diener würde sie ihm nicht geben können. Der Ma laysier hatte sich in seinen weißen Gewändern verfangen und wand sich grotesk zuckend auf dem Boden hin und her wie eine riesige Flunder an Land. Noch immer hatte er die Hände auf seinen Magen gedrückt, und sein Mund öffnete und schloss sich lautlos. Kein Laut drang ihm über die Lippen – nur Blut, das ihm in dünnen Rinnsalen über die Wangen lief. Ich konnte nicht anders, als die arme 301
Kreatur zu bedauern. Er starb einen schrecklichen, ge waltsamen Tod, der auf makabre Weise zu seinem bruta len, verbrecherischen Wesen zu passen schien. In letzter Verzweiflung stolperte Baskerville zu seinem gefallenen Kameraden und ergriff den Dolch. Keine fünf Meter entfernt sah Holmes ihm nach. Es war das erste und letzte Mal, dass ich so etwas wie Furcht in seinem Gesicht aufblitzen sah. Zu schwach zum Laufen, blieb ihm keine Fluchtmöglichkeit. Er starrte die gewundene Klinge des Dolches an, jener Waffe, die ihn so schwer verwundet hatte und die ihm nun den Tod bringen würde. Baskerville sprang vor. Selbst in seinem geschwächten Zustand schüttelte er sich vor hämischem Lachen, jetzt, wo die lang ersehnte Rache so nahe bevorstand. Holmes sank auf die Knie. Mit einer Hand tastete er auf dem Rücken nach seiner Wunde. Seine Augenlider flackerten. Ein paar Meter entfernt hob Baskerville den Dolch und machte sich für den letzten Sprung bereit. Einen Au genblick lang senkte Holmes den Kopf und starrte zu Bo den. Doch dann, als Baskerville bereits wie ein Todesen gel über ihm zu schweben schien, vollführte er mit der Linken zwei große kreisende Bewegungen in der Luft. Die Kette schwirrte herum. Holmes stolperte auf die Füße, streckte den Arm weit aus, und die surrende Handschelle traf Baskerville mit der vollen Kraft eines Morgensterns am Ohr. Bewusstlos fiel er zu Boden, und Holmes schleppte sich bleich wie ein Gespenst zu dem Baum, an den man mich gefesselt hatte. Er zog mir den Knebel vom Gesicht und legte mir die Hand auf die Schulter. 302
»Watson!«, keuchte er. »Werden Sie mir je vergeben können …?« »Holmes! Hinter Ihnen!« Baskerville rührte sich wieder. Mit der Hartnäckigkeit einer Hydra wehrte er sich gegen eine Niederlage. Müh sam kroch er auf den Spalt in der Felswand zu. Holmes, der die Gefahr sofort erkannte, kämpfte sich auf die Bei ne, um ihm nachzusetzen. Doch schon nach zwei Schrit ten brach er zusammen und vermochte nicht wieder auf zustehen. »… ich habe keine Kraft mehr …«, stöhnte er mit schwacher Stimme. Baskerville verschwand in der Höhle. Wangi lag re gungslos auf dem Boden. Holmes bewegte langsam die Beine wie ein Kind, das aus tiefem Schlaf erwacht. Der Nebel lichtete sich weiter. Ein großer Teil der hohen Felswand war nun sichtbar; ich konnte fast bis zur Spitze hinaufsehen. Das Loch in der Wand wirkte wie die riesige Augenhöhle eines Monsters. Alles war still. Vielleicht war Baskerville in Ohnmacht gefallen … Doch dann ging es los: eine Reihe dumpfer Schläge, der Schrei eines Tieres. Über dem Schnüffeln und Grun zen konnte ich das irre Lachen Baskervilles hören, der die Bestie noch weiter anstachelte. Der Leser könnte viel leicht annehmen, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits völlig abgestumpft war und mich nichts mehr erschre cken konnte. Das genaue Gegenteil war der Fall: Ich stand am Rande eines physischen und psychischen Zu sammenbruchs. Als die heiseren Schreie aus der Höhle drangen, wurde mir schwarz vor Augen. Die Konturen 303
der Umgebung verschwammen – bis auf jene, auf die sich all meine Sinne konzentrierten: die Spalte im Felsen. Holmes stemmte sich mühsam auf die Ellbogen und starrte ebenfalls auf den Höhleneingang. Er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, jedoch vergeblich; die Kräfte hatten ihn verlassen. Seine Finger krallten sich in den Erdboden und wühlten ihn sinnlos auf. »… Ich bin so … müde, Watson …« Baskerville schrie zweimal auf. Doch seine Schreie wurden kurz darauf von einem schrillen Quieken über tönt. Für einen Augenblick war alles still. Dann war das kehlige Grunzen und Schnaufen wieder zu hören. Der Laut schien sich zu verändern: Er verlor etwas von seiner Klangfülle und wurde schriller. Die Bestie näherte sich dem Höhleneingang. Ich konnte auch das Scharren von Krallen auf dem Boden und das Knirschen kleiner Steine hören. Im nächsten Augenblick trat das Monster ans Tages licht. Sein Anblick raubte mir den Atem. Niemals wieder habe ich etwas so Grauenvolles und Abstoßendes gese hen wie jenes Gesicht, das mich damals aus der Felsspalte anstarrte. Die riesige Nase zuckte, die Rattenohren ruck ten hin und her. Die schmalen Augen rollten in ihren Höhlen. Holmes stöhnte ungläubig und angewidert. Die Bestie war riesig. Ihr Kopf war gut einen halben Meter lang. Sie grunzte und knurrte und schnüffelte in der Luft. Schließlich richtete sie ihr Augenmerk auf die am Boden liegende Gestalt meines Freundes. Zweifellos roch sie das Blut. Was dann folgte, war noch grauenhafter! Das Monster stieß einen wütenden Schrei aus, reckte den 304
Kiefer vor und entblößte ein paar furchterregende Schneidezähne! Holmes, dem jede Farbe aus dem Gesicht gewichen war, starrte wie gelähmt auf die Bestie. Sie sprang vor wärts, schien jedoch von etwas zurückgehalten zu werden. Erst jetzt bemerkte ich das Kabeltau um ihren Hals. Es war so dick wie das Handgelenk eines Menschen. Das Tier warf den Kopf zurück und riss an seiner Fessel. Dann hielt es inne und starrte wieder einen Augenblick in un sere Richtung. Dabei sah ich, dass das Tau zur Hälfte durchgebissen war. Jeden Moment würde die Kreatur sich befreit haben. »Leben Sie wohl, Holmes …«, sagte ich schicksalser geben. Das Monster sprang erneut vorwärts, und das Tau zer riss mit einem lauten Knall. Die Riesenratte betrat die Lichtung, eine gigantische, grau-schwarze Kreatur. Sie hielt einen Moment inne, dann stürzte sie auf Holmes zu, den Kopf gesenkt, das Maul weit geöffnet. Zweifellos machte der Geruch von Holmes’ Blut sie noch wilder. »Holmes! Holmes! Großer Gott …!« Ich erinnere mich noch daran, diesen Schrei ausgestoßen zu haben, doch dann schwanden mir erneut die Sinne. Trotz der Schwärze, in der ich langsam versank, konnte ich das rie sige Vieh noch sehen, wie es seine spitzen Zähne in Hol mes’ Schulter schlug und ihn hin und her schüttelte. Die winzigen Augen rollten im Blutrausch, und ein kehliger Wutschrei ertönte. Wie aus weiter Ferne hörte ich auch Holmes’ Schmerzensschrei. Im nächsten Augenblick wur de er auf den Rücken geworfen. Verzweifelt schlug er mit 305
den Fäusten nach dem riesigen Kopf und den zuschnap penden Zähnen, doch viel Wirkung zeigte das nicht. Viel länger als eine halbe Minute würde er nicht mehr überle ben. Überwältigt von Furcht und Trauer, versank ich in tiefer Ohnmacht.
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KAPITEL 12
Genesung
Ein lauter Knall, der durch das ganze Tal hallte und die Erde unter mir zum Beben zu bringen schien, brachte mich wieder zu Bewusstsein. Ich öffnete die Augen und sah, dass Holmes wie durch ein Wunder noch immer am Leben war. Nach wie vor wehrte er sich schwach gegen die Bestie, die sich plötz lich aufrichtete, sich in engen Kreisen um sich selbst zu drehen begann und sich dabei in die eigene Flanke biss. Kurz darauf wurde das Biest wie von unsichtbarer Hand nach hinten gerissen, und im nächsten Augenblick er tönte eine zweite Explosion. In der Stille, die folgte, konnte ich den metallischen Klang eines Verschlussstü ckes hören, ebenso wie das Geräusch von Schritten über mir. Eine Ladung Kiesel regnete in den Teich. Ich blickte auf und konnte durch den Nebel oben am Rand der Steilwand eine Gestalt ausmachen. Konnte das Jones sein? Es folgte ein dumpfer Schlag, als das Tier erneut he rumgerissen und zu Boden geworfen wurde. Dann ein dritter und letzter Knall. Die Bestie zuckte zweimal und lag schließlich still. Aus einem Loch in ihrer Flanke schoss ein ganzer Strom Blut. In diesem Augenblick ahn te ich, wer die Gestalt oben auf dem Felsvorsprung sein 307
könnte, doch als ich wieder hinaufblickte, war sie ver schwunden. Etwa eine Minute lang war alles still. Außer dem Was serfall war nichts zu hören. Irgendwo in den dunklen Tie fen der Höhle steckte Baskerville, entweder tot oder ver wundet, denn die Schreie, die er ausgestoßen hatte, lie ßen keinen Zweifel daran, dass die Ratte ihn angegriffen hatte. Für Wangi kam jede Hilfe zu spät. Meine vordring lichste Sorge galt alleine Holmes. Ich kann nicht beschreiben, wie erleichtert ich war, als ich sah, dass er sich bewegte. Ich hörte ihn fluchen und beobachtete, wie er sich mühsam aufsetzte. »Ah, Watson, was für ein Narr ich doch war! Ich hät te meinen Plan nie unter …« Er hielt inne und tastete nach seiner Schulter. »… unter diesen Bedingungen …« »Welcher Plan? Wollen Sie sagen …?« Ich wurde durch das Auftauchen eines schmächtigen Mannes unterbrochen, der in halsbrecherischem Tempo auf die Lichtung gestürmt kam. Er eilte an Holmes’ Seite und kniete sich neben ihn. Da er einen Regenmantel und einen Filzhut trug, erkannte ich ihn nicht, bis ich seine vertraute, kräftige Stimme hörte: »Sind Sie in Ordnung, Mann?« »Vielleicht überlebe ich es – was aber nicht Ihnen zu verdanken wäre, Lestrade«, meinte Holmes trocken. »Es geht schon … Befreien Sie Watson und benutzen Sie die Handschellen, um unseren Freund in der Höhle an der Flucht zu hindern.« Dabei deutete er mit dem Kopf in die entsprechende Richtung. 308
Lestrade zog einen großen Schlüsselring aus seiner Manteltasche und war wenige Augenblicke später bei mir. »Ah, Standard-Marineausfertigung. Dafür habe ich einen Schlüssel, kein Problem. Werde Sie im Nu befreit haben, alter Knabe …« Ich überhäufte ihn geradezu mit Fragen. Wie lang hielt er sich schon in der Nähe auf? Wer war die Gestalt auf dem Felsvorsprung? Was hatte Holmes im Vorfeld alles arrangiert? Meine Fragen blieben jedoch unbeantwortet, denn so bald er mich befreit hatte, stürzte Lestrade auf die Felsspalte zu und verschwand in der Höhle. Nachdem ich mich nun endlich wieder frei bewegen konnte, galt es als Erstes, mich um Holmes’ Wunde zu kümmern. Ich zog ihm Mantel und Hemd aus. Gott sei Dank hatte Wangi ihm nur eine oberflächliche Wunde zugefügt; die Klinge war von oben in die rechte Schulter eingedrungen, parallel zur Wirbelsäule, jedoch vom Schulterblatt nach außen abgelenkt worden. Daher war zwar eine Menge Muskelgewebe durchtrennt worden (was die starke Blutung erklärte), aber keine lebenswich tigen Organe verletzt worden. Ich legte Holmes einen behelfsmäßigen Druckverband und eine Schlinge an, die ich aus seinem Hemd fertigte. Holmes war in der Lage zu stehen, auch wenn er ausgesprochen schwach auf den Beinen war. »Grundgütiger! Schauen Sie, Holmes!«, sagte ich und deutete zum Bergabhang. Ian Farthway trat auf die Lichtung, sein Gewehr in der 309
Hand. Er ging zu der toten Bestie hinüber und trat sie zwei Mal. Zufrieden mit dem Ergebnis, gesellte er sich mit dem Ausdruck größten Bedauerns auf dem Gesicht zu uns. »Bemühen Sie sich nicht, Farthway. Eine Erklärung ist nicht notwendig«, meinte Holmes. »Der dichte Nebel hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich Watson in eine solch missliche Lage gebracht habe!« »Sie waren die ganze Zeit über dort oben postiert?« »Ja, Doktor. Unglücklicherweise hat der Nebel mir die Sicht versperrt. Ich konnte keinen gezielten Schuss abge ben, bis es fast zu spät war und die Bestie sie bereits …« »Holmes! Was ist das für eine Kreatur?«, fragte ich, unfähig mich länger zurückzuhalten. Schwankend ging ich zu dem Tier hinüber, bei dem bereits die Totenstarre eingesetzt hatte. Holmes stützte sich auf Farthway und folgte langsam. Das Tier war in der Tat sehr merkwürdig. Während sein Kopf – abgesehen von der Größe – dem einer Ratte glich, ähnelte der Körper einem Schwein. Hätte es nicht mehrere Menschen getötet und uns in derartige Panik versetzt, hätte sein Aussehen fast komisch gewirkt. Holmes stand zwischen mir und Farthway; wir stützten ihn beide. »Da haben Sie Ihre Riesenratte, Watson: Tapirus indi cus. Der Schabrackentapir, ein Nachttier aus der Familie der Dickhäuter, dessen nächster Verwandter das Pferd ist. Schauen Sie hier …« Er kniete sich neben die seltsame Kreatur, öffnete die 310
fleischige Schnauze und enthüllte zwei Reihen großer, gelber Zähne. »Das Gebiss ist fast identisch mit dem eines Pferdes. Beachten Sie diese Schneidezähne, Watson, die Sie an Bord der Matilda Briggs anhand der Wunden, die sie hin terlassen haben, so treffend identifiziert haben.« »Dann muss es sich um einen Pflanzenfresser handeln. Wieso fällt es Menschen an?« »Das können wir nicht sicher sagen. Von Natur aus ist es eher ein scheues Tier. Im Dschungel sucht es seine Nahrung des Nachts entlang von Wasserläufen und mei det Menschen vollkommen. Doch weiß Gott, was pas siert, wenn es in die Hände einer abnormen Persönlich keit wie Baskerville gerät …« »Er scheint ein Talent dafür zu haben, diabolische Kreaturen abzurichten. Dieses Tier hier hat also aus Wut getötet, nicht aus Hunger. Aber warum hat Baskerville es mit hierher gebracht? Welchem Zweck sollte es dienen?« »Ich werde Ihnen alles ausführlich erklären, Watson. Wenigstens so viel schulde ich Ihnen, schließlich habe ich Ihr Leib und Leben in Gefahr gebracht. Aber mir ist immer noch ein wenig schwindlig …« Plötzlich stützte er sich schwerer auf uns, und wir setz ten ihn vorsichtig auf den Boden. Aus der Höhle drang ein Hilferuf, und Farthway beeilte sich, ihm nachzukommen. »Noch einmal Entschuldigung, alter Bursche. Als ich Sie vor den möglichen Gefahren warnte, dachte ich nicht …« »Ich verstehe. Aber warten Sie, ich bringe Ihnen erst einmal etwas Wasser.« 311
»Natürlich hatte ich doppelte Sicherheitsvorkehrun gen für Sie getroffen«, fuhr Holmes schließlich zwischen zwei Schlucken fort. »Farthway oben auf der Steilwand, Lestrade im Tal selbst. Das Schicksal wollte es, dass beide nicht eingreifen konnten. Während Farthway vom Nebel daran gehindert wurde, hatte Lestrade wahrscheinlich Schwierigkeiten mit Jones …« »Sie haben nicht eingegriffen?« »Oh, doch, das haben wir. Aber da kommt Lestrade. Er kann es uns selbst erzählen. Nun, Lestrade, wie ich se he, haben Sie unseren Freund dingfest gemacht.« Die beiden Männer trugen Baskerville auf die Lich tung und legten ihn auf den Boden. Er befand sich in ei nem leichten Dämmerzustand. Er stöhnte und zuckte wie ein Kind, das einen Albtraum hat. Und dieses Wort schien mir das, was aus seinem Leben geworden war, durchaus passend zu beschreiben. Ich untersuchte seine Wunden und stellte fest, dass sie unbedeutend waren. Die Kopfverletzung jedoch, die Holmes ihm zugefügt hatte, konnte schlimmere Folgen haben – wenn auch sicher nur positive, wenn man den Geisteszustand des Mannes be dachte. Ich schaute auf das Bündel Elend hinunter und schüttelte langsam den Kopf. »Er wird niemals vor Gericht stehen.« »Warum nicht?«, fragte Farthway. »Wir alle haben sein Geständnis gehört. Mr Holmes hat ihm die Fragen absichtlich gestellt …« »So gerne ich ihn auch am Galgen sehen würde, kein Arzt und kein Richter mit ein bisschen Sachverstand würde ihn als vernehmungs- oder schuldfähig einstufen. 312
Der Mann befindet sich im letzten Stadium des Wahn sinns. Ohne Zweifel hat er schon seit Jahren darunter ge litten, doch die Anspannung und die Aufregung der letz ten Stunde haben ihm endgültig den Rest gegeben.« »Obwohl ich kein Fachmann bin, teile ich Ihre Ein schätzung«, stimmte Holmes mir zu. »Er gehört nach Bedlam, nicht nach Dartmoor …« Baskerville stöhnte und begann sich zu regen. Lestra de, von Berufs wegen stets vorsichtig, legte ihm ein Paar Handschellen um. »Ich lasse einen Wagen aus der Stadt kommen«, sagte er. »Aber zuerst müssen wir Sampson aufspüren …« »Nicht nötig, da kommt er. Und schauen Sie, was er da auf dem Rücken trägt!« Der Bootsmann kam mit seinem schlingernden See mannsgang den Hang hinunter auf die Lichtung ge schlendert, Jones wie einen Seesack über die Schulter ge legt. Als er uns erreicht hatte, ließ er den Mann wie ei nen Sack Kartoffeln achtlos zu Boden fallen. Jones regte sich nicht. Er hatte einige schwere Schläge auf den Kopf bekommen, und ein Blick auf Sampsons wunde Knöchel verriet, woher diese stammten. Sampson sprach kein Wort, starrte aber unaufhörlich die beiden bewusstlosen Schurken finster an, die nur ein paar Schritt von dem grotesken Tapir entfernt auf dem Boden lagen. Erst da erinnerte ich mich wieder an den Malaysier. Als ich mich über ihn beugte, stieg mir sofort ein Geruch in die Nase, der weitaus widerwärtiger war als der der Bes tie. Wie ich vermutet hatte, war Wangi tot. »Was ist mit Alice Allistair?« 313
»Es ist alles in Ordnung, Watson. Lestrade und Sampson haben Jones abgefangen, sobald er Henry’s Hol low verlassen hatte. Es gab eine kleine Verfolgungsjagd, die Lestrades Abwesenheit erklärt, als Sie in Ihre missliche Lage gerieten. Das Mädchen ist inzwischen sicher auf Strathcombe, und die Familie ist glücklich wiedervereint.« Und so machte sich unsere traurige, angeschlagene Prozession auf den Weg, fort von diesem düsteren Ort. Wir ließen zwei Leichen zurück: die des missgestalteten, braunhäutigen Mannes, den das Schicksal weit von sei ner Heimat fortgeführt hatte, um in diesem nasskalten Tal durch die Hand des weißen Mannes zu sterben, dem er gedient hatte; die andere eine seltsame, scheue Kreatur des Dschungels, die sich in den Händen eines vom Wahn und Hass Besessenen in ein mörderisches Ungeheuer ver wandelt hatte. Der Rückweg durch den Wald war anstrengender, als wir erwartet hatten, und wir waren in der Tat äußerst er leichtert, als wir Brundage am Feldrand mit einem Kar ren und ein paar Leuten auf uns wartend vorfanden. Wir verstauten Baskervilles leblose Gestalt auf dem Boden des Wagens; daneben legten wir Jones. Holmes, der sich weitaus mehr verausgabt hatte, als ihm klar war, verlor beim Versuch, hinauf zu klettern, das Bewusstsein. Wir betteten ihn auf den Fahrersitz, während ich, gestützt von Lestrade, hinten Platz nahm. Auch wenn ich selbst kein Blut verloren hatte, muss ich doch zugeben, dass ich arg mitgenommen war. An die Fahrt zurück nach Strathcombe habe ich daher nur noch verschwommene Erinnerungen. 314
Als man Holmes durch die große Empfangshalle des Hauses trug, erwachte er und konnte einen kurzen Blick auf die Früchte all seiner Anstrengungen erhaschen: Lord und Lady Allistair saßen mit ihrer Tochter eng um schlungen auf dem Sofa, in einem Zustand der tiefsten Er leichterung und des höchsten Glücks. Holmes’ Lippen bebten, und soweit ich mich erinnern kann, sah ich da zum ersten Mal, dass ihm Tränen in die Augen stiegen und die Wangen hinunterliefen. Man musste uns fast die Treppe hinauftragen, und wir brauchten insgesamt fast zwei Wochen, bis wir uns wieder vollständig erholt hatten. Mithilfe von Megs reichhalti gen Rinderbrühen und Eintöpfen, den Lammkoteletts und dem starken Ludlow-Ale, das wir dazu tranken, ka men wir jedoch schnell wieder zu Kräften, und nach et was mehr als einer Woche waren wir bereits wieder in der Lage, uns nach draußen zu wagen.
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KAPITEL 13
Der Teich
Ich wachte auf. Die Weidenzweige über mir ra schelten leise im Wind. Der kleine Fluss gluckste entlang der moosbedeckten Ufer. Eine Meise hüpfte zwischen den Wurzeln der Bäume und hielt immer wieder inne, um zu flöten. Aus der Ferne tönte lautes Geschnatter zu mir heran, und als ich den Kopf wandte, entdeckte ich eine Schar Gänse, die am Horizont ihre Bahn zogen. »Verflucht!«, schrie eine Stimme. Ich rollte ein wenig zur Seite, zurück in die Sonne, die weitergewandert war, während ich im Gras geschlafen hatte. Die Wärme breitete sich wohltuend auf meinem ganzen Rücken aus. »Zum Henker!«, ertönte die Stimme erneut, und ich hörte ein lautes Platschen. »Watson, mein Wurfarm scheint ruiniert zu sein. Die ser gottlose Teufel Wangi! Ich muss schon sagen, sein Tod war kein großer Verlust für die Welt …« »Üben und immer wieder Üben ist das beste Heilmit tel, Holmes. Und draußen in der Sonne bleiben. Himmel, für Oktober ist es ungewöhnlich warm!« Ich stützte mich auf die Ellbogen und beobachtete, wie mein Gefährte sei ne Angelrute mitten im Teich kreisen ließ. So schmerz haft die Bewegung für ihn sein musste, er offenbarte doch 316
außergewöhnliches Geschick dabei. Die Schnur zischte leise in großen Schleifen hin und her und tanzte in der Luft. Mit einem letzten Schwung ließ er sie auf das plät schernde Wasser niedergehen. Der kleine bunte Köder hüpfte fröhlich an einem großen Stein vorbei. Fast au genblicklich spritzte das Wasser hoch, und ich sah das schillernde Glitzern einer Forelle, die nach der Fliege schnappte. »Ha! Das wäre Nummer drei. Und was für ein Pracht exemplar! Es ist eine Schande, dass Lord Allistair seinen Forellenteich nicht öfters nutzt – na ja, vielleicht umso besser für mich.« Während er den Fisch auszappeln ließ, streckte ich den Arm aus, griff über die Böschung und zog die Flasche Barsac aus ihrem kühlen Ruheplatz im seichten Wasser. Das süße, schwere Aroma des Weins benebelte meine Sinne, als ich den Korken zog und die Gläser füllte. Holmes zog seinen Fang mit dem Käscher aus dem Wasser und stapfte an Land. Nachdem er den Fisch mit einer Geschicklichkeit und Präzision ausgenommen hat te, die jedem Chirurgen zur Ehre gereicht hätten, stopfte er das Tier mit feuchtem Moos aus und legte es auf einen kühlen Felsbrocken neben die anderen, die er bereits ge fangen hatte. Ich zog meine Uhr hervor. Es war Viertel nach eins, und das Gartenfest sollte um zwei Uhr beginnen. »Sie haben es versprochen, Holmes. Und wir haben gerade noch Zeit genug, dass Sie Ihr Versprechen einhal ten können.« »Nun gut, alter Freund.« Er seufzte, setzte sich neben 317
mich ans Ufer und trank einen Schluck. »Ich werde Ih nen alles erzählen.« »Es kommt mir unglaublich vor, dass Sie nicht nur die Identität des Kidnappers gekannt haben, sondern auch von seinen wahren Plänen wussten. Als hätten Sie seine Gedanken lesen können …« »Man könnte behaupten, dass ich das auch getan habe – zumindest beinahe. Aber dabei ist keine Zauberei im Spiel. Wie immer kommt es darauf an, genau zu beobach ten und die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Doch wo soll ich anfangen? Nun, ich denke, das Beste wäre am Anfang, oder? Wie Sie wissen, Watson, war es schon immer mein Bestreben, bei einem Verbrechen jene Be sonderheiten auszusondieren, die einmalig sind und es von anderen unterscheidet. Denn es sind diese einmali gen, auffälligen Merkmale, die zu seiner Lösung führen. Zweifellos habe ich bereits viele Male darauf hingewie sen, dass die schwierigsten Fälle jene sind, die diese au ßergewöhnlichen Merkmale nicht besitzen. Und nun lassen Sie uns den Fall mit der Riesenratte von Sumatra unter diesen Gesichtspunkten betrachten. Wie Sie sich vielleicht erinnern, war mein Interesse gleich zu Anfang durch den Umstand geweckt, dass Je nards Leiche nicht versteckt worden war, sondern in aller Öffentlichkeit aufgefunden wurde. Diesen augenscheinli chen Fehler des Mörders vermochte ich nicht zu begrei fen, zumindest nicht zu diesem frühen Zeitpunkt. Eines wusste ich jedoch, und ich habe es Ihnen gesagt: Die Mörder Jenards kannten mich; die Tatsache, dass er nur einen Straßenzug von unserer Wohnung entfernt getötet 318
wurde, konnte kein Zufall sein. Da wurde also eine Lei che von einem Dach hinunter auf die Straße geworfen, was im Grunde genommen nichts anderes war, als mir den Fehdehandschuh hinzuwerfen: die Einladung Basker villes, unsere Kräfte zu messen. Sie wissen inzwischen ge nug über den Charakter und die Persönlichkeit dieses Mannes, um zu erkennen, dass diese bizarre Tat durchaus zu seinem Verhalten passt.« Ich nickte zustimmend. »Des Weiteren bedeutete die Tatsache, dass die Mör der Jenards mich kannten, dass ich persönlich irgendwie in diese Sache verwickelt war, direkt oder indirekt. Sampsons Geschichte weckte mein Interesse nur noch stärker – wie zweifellos auch Ihres. Bedachte man das Da tum von Alice Allistairs Entführung und dass die Matilda Briggs aus ebenjenen Teilen der Welt in London einge troffen war, konnte es da nicht eine Verbindung zwischen beiden Ereignissen geben? Es war eine entfernte Mög lichkeit, zugegeben, aber immerhin eine Möglichkeit. An dieser Stelle kann man nun auch gleich der Frage nachgehen, warum Baskerville weder Kosten noch Mühe scheute – vom Risiko ganz zu schweigen –, die Riesenrat te zu kaufen, zu verschiffen und um den halben Globus zu transportieren.« »Die Kreatur faszinierte ihn. Außerdem hat er das schändliche Talent, selbst das harmloseste Tier in eine gewalttätige Bestie zu verwandeln«, sagte ich. »Richtig, aber es gibt noch einen tiefer gehenden Be weggrund dafür, das Biest zu kaufen und an Bord der Briggs unterzubringen, Watson. Kurz nachdem ich 319
Sampsons Geschichte gehört hatte, bin ich ins British Museum gegangen, um mein Wissen über Ratten aufzufri schen. Zu meiner großen Verblüffung las ich, dass zwar die meisten Menschen eine Abneigung gegen diese Tiere empfinden, die größten Rattenhasser aber unter den See leuten zu finden sind. Dafür lassen sich in der gesamten Literatur Belege finden, von Homer bis heute. Diese Ab neigung wird vielleicht noch durch die einfache und na he liegende Tatsache verstärkt, dass es auf Schiffen kein Entkommen vor den Ratten gibt. Mensch und Tier müs sen sich den Raum auf dem Schiff teilen, egal wie unan genehm es sein mag. Doch ich schweife ab … Nun, es wäre ein schwerer Fehler, Baskervilles Geris senheit zu unterschätzen. Als er den Tapir auf Sumatra erblickte, erkannte er, dass er einer riesigen Ratte ähnelt, besonders sein Kopf. Sollte es ihm gelingen, das Tier si cher an Bord zu bringen und der Mannschaft zu suggerie ren, dass es sich um eine Riesenratte handelte …« »… würden sie sich zu Tode fürchten«, rief ich dazwi schen, »und jenen Teil des Schiffes meiden wie die Pest!« »Exakt. Sehen Sie, Baskerville war sich genau darüber im Klaren, dass es unmöglich sein würde, seine Geisel sechs Wochen lang unbemerkt im Achterraum zu verste cken. Sie hätte schreien können. Jones oder Wangi hät ten aus Versehen die Tür offen lassen können, und man hätte sie möglicherweise gesehen. Außerdem: Wie hätte er die Essensrationen erklären können, die er für sie be nötigte? Sie sehen, die Anwesenheit einer ›Riesenratte‹ war die perfekte Tarnung für das eigentliche Verbre chen.« 320
Ich nickte nachdenklich mit dem Kopf. Um ein altes Sprichwort zu zitieren: Es lag in der Tat ›Methode in sei nem Wahnsinn‹! »Wann haben Sie vermutet, dass es sich um einen Ta pir handelt? Und wie sind Sie darauf gekommen?« »Auf die Identität des Tieres bin ich recht früh gesto ßen, und zwar durch ein einfaches Ausschlussverfahren. Ich wusste, dass es sich um ein großes Tier handelte, das einer Ratte glich, zumindest, was seinen Kopf betrifft. Nach einigen Nachforschungen stieß ich auf den Schab rackentapir. Ich muss zugeben, am Anfang irritierte mich die einhellige Meinung der Experten, dass es sich bei dem Tapir um ein harmloses Nachttier handelt, zudem noch um einen Pflanzenfresser. Doch bald fand ich Belege, dass der katastrophale Vulkanausbruch auf Krakatau nicht weit vor der Küste Sumatras – Sie erinnern sich sicher an das schreckliche Ereignis vor ein paar Jahren –, ganz au ßergewöhnliche Auswirkungen auf die Lebensweise und das Verhalten vieler Tierarten in der gesamten Gegend gehabt hatte. Der Tapir ist normalerweise nicht in Ge fangenschaft zu finden, also ist es nicht verwunderlich, dass die abergläubischen Seeleute ihn für eine Riesenratte hielten. Baskerville war sehr darauf bedacht, dass nur der Kopf des Tieres zu sehen war, nicht jedoch der Körper. Also können wir davon ausgehen, dass er in der Tat woll te, dass alle an Bord der Briggs dachten, es befände sich eine Bestie im Laderaum.« »Warum hat er den Tapir dann des Nachts in aller Heimlichkeit an Bord gebracht?« »Wie Sie vielleicht vermutet haben, befand sich Alice 321
Allistair zusammen mit dem Tier in der Kiste. Natürlich nicht unmittelbar nebeneinander, sondern voneinander abgetrennt. Doch sie wurde zusammen mit dem Untier an Bord gehievt und auf der gesamten Reise im selben schmutzigen Laderaum festgehalten. Erinnern Sie sich daran, dass Winkler erzählte, Jones hätte ›Essen ins Ach terdeck geschmuggelt‹? Erinnern Sie sich auch daran, dass es in zwei Rationen aufgeteilt war, die eine dreimal so groß wie die andere?« »Natürlich, die große war für das Biest, die kleine für Alice. Großer Gott! Acht Wochen lang mit solch einer Bestie eingesperrt zu sein! Wie grausam und schreck lich!« »So ist es. Zweifellos fürchtete sie sich in jeder einzel nen Sekunde der Überfahrt. Es ist erstaunlich, dass sie darüber nicht den Verstand verloren hat. Ein Mädchen mit weniger starkem Charakter wäre gewiss daran zerbro chen …« »Noch hat sie sich nicht ganz von den Strapazen er holt«, meinte ich in professionellem Tonfall. »Ich weiß. Nun, kehren wir zu unserem Fall zurück. Als wir der Matilda Briggs einen Besuch abstatteten, ent deckte ich zwei weitere Indizien, die meine bis dahin nur rudimentäre Theorie unterstützten: den Kerzenstumpf und die mit Ruß geschriebene Nachricht. Um es einfach auszudrücken: Beides verriet mir, dass jemand, der sich als Jenard ausgab – und definitiv nicht Jenard selbst –, uns einen Hinweis auf das wahre Verbrechen gab, das sich hinter alldem verbarg. In einer hastig dahingekritzelten Zeile, beinahe einem Kinderreim …« 322
»›Dort wo die Ratte ihren Schatz bewacht, ist alles, al les leer, und es herrscht tiefe Nacht …‹« »Genau. Nun ist es nicht schwer zu erkennen, dass ›al les, alles leer‹ eindeutig auf Alice Allistair hinweist …« »Großer Gott, das ist mir nie aufgefallen!« »Nun, mir schon«, meinte Holmes mit leichtem Spott in der Stimme. »Wie auch immer, die Nachricht gab meinem Verdacht, dass Alice Allistair sich an Bord des Schiffes befand oder befunden hatte, sehr viel mehr Ge wicht. Der entscheidende Punkt jedoch ist, dass jemand sich Mühe gab, den Eindruck zu erwecken, Jenard hätte diese Warnung geschrieben. Sowohl Sie als auch Lestrade interpretierten die Worte dahingehend. Aufgrund des Kerzenstummels wussten wir jedoch, dass Jenard die Bot schaft nicht geschrieben haben konnte. Warum also war sie in Wahrheit angebracht worden?« Holmes hielt inne, um sein Glas nachzufüllen. »Barsac – der süßeste aller Sauternes-Weine … fast schon zu süß …« »Verdammt, Holmes, fahren Sie fort!« »Jemand wollte mich auf die Spur der AllistairEntführung bringen, allerdings als Jenard getarnt. Wenn Jenard die Welt vor der Ratte hätte warnen wollen, warum dann nicht mit deutlichen Worten? Die kryptische Nachricht war zweifellos geschrieben worden, um meine Neugierde zu erregen, denn wer auch immer sie anbrachte, er wusste, dass ich sie entschlüsseln würde. Offensichtlich kannte diese Person mich also gut. Um es kurz zu machen, Watson, ich vermutete schon damals ei ne Falle, ein Intrigenspiel, das gegen mich gerichtet war.« 323
»Sie wussten, dass Baskerville hinter allem steckte?« »Nein. Bis nach unserem Essen im Binnacle hatte ich nicht einmal den geringsten Verdacht. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass sowohl Scanlon als auch Thomas ›Reverend Ripleys‹ außergewöhnliches Interesse für Sturmschwalben und Plankton erwähnten …« »Ja. Es kam mir merkwürdig vor, dass Sie dies so be merkenswert fanden …« »Details, Watson, Details! Sie werden Baskervilles In teresse an der Natur sicher nicht vergessen haben, beson ders seine Liebe zur Schmetterlingsjagd. Nun, damals dämmerte es mir zum ersten Mal, dass er es sein könnte, denn wer sonst könnte sich an mir rächen wollen? Mori arty ist seit vielen Jahren tot, und die meisten anderen, die mir Rache geschworen haben, sind hinter Gittern. Ich schickte ein Telegramm nach Exeter und erhielt die Antwort: ›Kein sicherer Beweis‹. Niemand hatte Basker villes Leiche gefunden. Er konnte also noch immer am Leben sein. In Anbetracht der beträchtlichen Gerissen heit unseres Gegners legte ich diese Hypothese meinen weiteren Überlegungen einmal zugrunde: Er hatte sich damals sicher einen Fluchtplan ausgedacht, für den Fall, dass die Sache im Grimpener Sumpf schief ging. Und wer sonst hätte besser eine Riesenratte abrichten können als jener Mann, der bereits einen riesigen Hund abgerichtet hatte?« »Die Teile passen zweifellos zusammen.« »Aber wo befand sich die Ratte? Sie war nicht mehr an Bord der Briggs. Hatte man sie getötet und irgendwo im Blackwall Reach versenkt oder nach London hinein 324
geschmuggelt? Als uns die Spur zum Mietstall führte und wir dort herausfanden, dass ein großer Lastkarren gekauft worden war, verstärkte sich mein Verdacht, dass das Tier an Land gebracht worden war. Erinnern Sie sich an die Goldmünzen, mit denen der Schmied bezahlt wurde? Es waren indische Münzen. Damit gab es noch eine Verbin dung zwischen der Entführung von Alice Allistair in Bombay und der Matilda Briggs. Der durchtrennte Zaun, die Spuren von Schmierfett auf dem Kai, das aufgeregte Verhalten der Hunde – all das wies darauf hin, dass man die Ratte in den frühen Morgenstunden auf den Karren verfrachtet hatte.« »Aber wie kam die Ratte – der Tapir – vom Schiff auf den Kai?« »Der Tapir ist ein Wassertier, ähnlich wie das Fluss pferd. Es war nicht schwer, ihn durch die Ladeluke zu bugsieren, nachdem er mit McGuinness fertig war. Bis zum Wasser waren es nur gut zwei Meter, kein hoher Fall. Danach hat man es an Land getrieben, indem man mit dem Beiboot der Briggs neben ihm hergefahren ist.« »Dann hat man das Tier an der niedrigsten Stelle des Kais auf den Wagen verfrachtet«, fuhr ich fort, »sich sei nen Weg durch den Zaun gebahnt, das abgetrennte Stück wieder an seinen alten Platz gesetzt und sich über Neben straßen davongemacht …« »Aber Sie erinnern sich sicher an die ›gegen den Strom verlaufenden Ereignisse‹, die ich erwähnte, als wir mit den Hunden durch die Stadt gingen, jene Vorkomm nisse, die auf den ersten Blick unwahrscheinlich erschie nen. Das erste war die Art und Weise, wie man sich Je 325
nards Leiche entledigt hatte. Das haben wir bereits disku tiert. Doch da war noch die Tatsache, dass Nip und Tuck uns zeigten, dass Sie, Lestrade und ich auf unserem Weg von der Briggs ins Binnacle verfolgt worden waren.« »Ja, ich erinnere mich. Sie bemerkten damals, dass dies ein ungewöhnliches Verhalten für einen Verbrecher sei – die Verfolger zu verfolgen.« »Ungewöhnlich für den durchschnittlichen Verbre cher. Als ich jedoch die Unverfrorenheit erkannte, mit der dieser Schurke vorging, war ich überzeugt davon, es mit Baskerville zu tun zu haben; es konnte niemand an ders sein.« »Diese Dreistigkeit scheint in der Tat eines seiner Merkmale zu sein«, gab ich zu. »Ich erinnere mich daran, dass er damals sogar die Frechheit hatte, sich als Sherlock Holmes auszugeben …« »Doch warum ist Baskerville uns gefolgt, und das viel leicht sogar bis ins Gasthaus hinein, wenn nicht, um sich zu überzeugen, dass ich den Köder geschluckt hatte, dass ich mich so in den Fall verbissen hatte, dass ich jeder Spur nachgehen würde, wohin sie auch führen mochte?« »Ah, und von da an wussten Sie, dass es sich um eine Falle handelte!« »Von diesem Zeitpunkt ab war ich mir ganz sicher. Daher meine Besorgnis und meine Warnung an Sie, das Haus nicht unbewaffnet zu verlassen.« »Aber was haben Baskerville und seine Kumpane in der Zwischenzeit unternommen?« »Nachdem sie sich versichert hatten, dass ich tatsäch lich den Köder geschluckt hatte – nicht anders als diese 326
drei Forellen hier, wenn Sie so wollen –, verließ er die Stadt in der gekauften Kutsche und ließ nur Jones zurück.« »Warum das?« »Zum einen um die Lösegeldforderung im Wohnsitz der Allistairs abzuliefern. Zum anderen, um uns im Auge zu behalten und regelmäßig Bericht über unsere Fort schritte zu erstatten, während Baskerville sich auf der Lichtung in Henry’s Hollow einrichtete, darauf wartend, das Lösegeld zu empfangen und uns hinzurichten …« Ich schauderte. »Es war natürlich Jones, der mir in Paddington gefolgt ist. Ich blieb übrigens nur lange genug in London, um den Eindruck zu erwecken, dass ich die Stadt nicht verlassen wollte. In Wahrheit jedoch hängte ich ihn kurz darauf ab und kehrte später am Tag zum Bahnhof zurück, wo ich den 2-Uhr-45-Zug nach Shrewsbury nahm …« »Sie waren die ganze Zeit über hier?« »Wo sonst, mein lieber Watson? Etwa zu Hause, um Geige zu spielen, während Sie sich alleine der Gefahr aus setzen? In Shrewsbury richtete ich mein Hauptquartier ein. Jedes Telegramm, das Sie mir nach London schick ten, wurde von Lestrades Männern zu mir zurückgeleitet und umgekehrt.« »Das erklärt also die Verspätung der Telegramme«, sagte ich. »Waren Sie je im Telegrafenamt in Rutlidge?« »Ja, richtig, jetzt, da Sie es erwähnen. Am Abend Ih rer Ankunft.« »Verkleidet als Zigeuner?« »Genau. Sehr gut, Watson! Es war ein ziemliches Katz-und-Maus-Spiel mit Baskerville. Ich wusste, dass ich 327
mich am Ort des Geschehens aufhalten musste, um die nötigen Informationen zu sammeln. Wenn mich einer der Schurken jedoch in der Nähe von Strathcombe gese hen hätte, wo ich doch angeblich in London war, wäre das Spiel von einem Augenblick auf den anderen aus ge wesen. Ich musste ausgesprochen vorsichtig sein und ha be mich als Zigeuner verkleidet.« »Ich kann ja verstehen, dass Sie das alles vor Basker ville geheim halten mussten«, warf ich gekränkt ein, »aber warum haben Sie mich nicht informiert?« »Ganz einfach: Weder Sie noch Lord Allistair sind gu te Schauspieler, Watson. Es liegt nicht in Ihrer Natur, die Leute zu täuschen. Sie mit meinen Plänen vertraut zu machen, hätte sie gleichzeitig nutzlos gemacht. Sie hät ten uns durch Ihr Handeln sofort verraten. Baskerville wäre entweder geflohen oder hätte das Mädchen getötet. Es war eine nervenaufreibende Angelegenheit. Doch ich kam hierher und hielt Ausschau, so oft ich es wagen konnte. Vielleicht interessiert es Sie zu erfahren, dass ich es war, der Sie und Lord Allistair vom ›Turm‹ aus beo bachtet hat. Sie waren nie weiter als eine Meile von uns entfernt – von mir oder Farthway. Farthway und ich blieben ständig in Kontakt, selbst nach meiner offiziellen Ankunft in Strathcombe. Das erklärt auch die Signallampe in seiner Hütte. Eine großartige Idee von Farthway, finden Sie nicht auch? Seine Hütte liegt direkt unterhalb meines Zimmers. Er brauchte nur die Lampe in Richtung Wald zu halten, und Lestrade, Farthway und ich konnten mit einander kommunizieren.« 328
»Das wird langsam ein wenig ermüdend«, sagte ich und griff nach der Flasche. »Farthway war also Ihr Ver bündeter und unser Beschützer. Das erklärt sein seltsames Verhalten.« »Ja, seine Ausritte frühmorgens, seine Kenntnis von Ihrem Besuch im Hollow – denn er ist Ihnen dorthin und zurück gefolgt – sowie seine Verärgerung darüber, dass Sie sich in Gefahr gebracht hatten.« »Ich werde mich bei ihm entschuldigen müssen. Ich nehme an, Sie haben ihn zu einem sehr frühen Zeitpunkt ausgesucht, möglicherweise sogar schon vor unserer An kunft in Strathcombe?« »In der Tat. Ich hatte viel Gutes von seinem Mut und seiner Zuverlässigkeit gehört – ganz zu schweigen von sei ner Treffsicherheit, der wir beide unser Leben verdan ken.« »Und in weiser Voraussicht haben Sie auch Lestrade und Sampson zu Hilfe gerufen. Der Bootsmann hat sich bewundernswert tapfer geschlagen – zweifellos angetrie ben von dem Verlangen, seinen toten Freund zu rächen.« »Doch trotz aller Hilfe war ich bedauerlicherweise nicht in der Lage, den Tod dieses Burschen Compson zu verhindern …« »Sie konnten ja nicht überall zugleich sein. Doch nun erzählen Sie mir, was genau in der Nacht vor unserer schweren Prüfung geschah!« »Wie Sie inzwischen vermuten dürften, war unser nächtlicher Ausflug nichts anderes als ein letzter Erkun dungsgang zum Lager des Feindes. Ich war mir ziemlich sicher, dass der Austausch in Henry’s Hollow stattfinden 329
würde, doch eine letzte Überprüfung war nötig, um ganz sicher zu sein. Wir schlichen uns nahe genug heran, um das Lagerfeuer zu sehen, und hielten die Handschellen bereit.« »Warum haben Sie nicht gleich alle ergriffen?« »Haben Sie das Mädchen vergessen? Nein, wir durften nichts unternehmen, solange sie sich noch in der Höhle befand.« »Ja, richtig. Aber woher wussten Sie, dass die Forde rung am nächsten Morgen überbracht werden würde?« »Ich wusste, dass Baskerville seine Falle so schnell wie möglich zuschnappen lassen würde, sobald sein Opfer sich in Reichweite befand. Daher gestaltete ich meine ›Ankunft‹ so auffällig wie möglich. Brundage holte mich am Bahnhof ab, ohne zu ahnen, dass ich erst kurze Zeit zuvor – mitten in der Nacht – in den Zug gestiegen und nur eine Station weiter gefahren war, um dann am fol genden Vormittag wieder nach Shrewsbury zurückzukeh ren. Ohne Zweifel hat auch einer der Schurken meine Ankunft bemerkt und die Nachricht weitergegeben. Es war daher keine Überraschung, als ich hörte, dass die Lösegeldforderung nur wenige Stunden nach meinem Eintreffen übermittelt worden war. Nachdem Baskerville erfahren hatte, dass ich vor Ort war, handelte er ohne Verzögerung.« »Es kam mir schon seltsam vor, dass Sie so offen nach Strathcombe kamen, trotz der Warnung der Entführer.« »Baskervilles Warnung an die Allistairs, keine Hilfe zu suchen, war gerissen. Denn so sehr er mich auch hier he rauslocken wollte, ahnte er doch, dass jede Nachricht oh 330
ne die übliche Warnung an Authentizität verlieren würde. Er ging davon aus, dass ich sowieso kommen würde, so bald mein Interesse genügend geweckt worden war.« »Also sind Sie nicht heimlich gekommen, um ihm zu zeigen, dass sein Plan funktioniert hatte.« »Ja. Ich wollte, dass er sich schlau und gerissen vor kam, ihm die Gewissheit vermitteln, dass er mich über tölpelt hatte. Auch dies war übrigens ein Grund, warum ich London nicht gleich mit Ihnen verlassen habe, son dern erst einmal abwartete.« Ich nickte und wischte mir kurz die Stirn. »Ihre Erklärungen waren so weit sehr erhellend. Aber ich habe noch eine Menge Fragen. Was war zum Beispiel mit dem Feuer in Jenards Unterkunft? Und haben Sie die verschlüsselte Nachricht, die uns geschickt wurde, entzif fern können?« »Ich werde Ihnen all diese Fragen beantworten, wäh rend wir zum Haus zurückgehen. Wir dürfen nicht zu spät zum Gartenfest kommen.« Holmes packte die Fische in den Korb, warf sich die Angel über die Schulter, und gemeinsam wanderten wir über die abschüssige Wiese in Richtung Strathcombe. »Bevor Lestrade ihn fortschaffen ließ, hatte ich eine lange Unterhaltung mit Jones. Er war äußerst kooperativ. Ich fürchte, das wird ihn nicht vor dem Galgen retten, aber er wird seine Reise ins Jenseits mit etwas leichterem Gewissen antreten können. Die Geschichte, die Basker ville Ihnen vor meinem Auftauchen im Hollow erzählt hat, ist so weit wahr. Die Entführer haben das Mädchen auf die geschilderte Art aus Indien herausgeschmuggelt. 331
Ich war übrigens über ihren Fluchtweg quer durchs Land im Bilde, Watson. Meine Anfragen an die Büros der Bri tish Railways erwiesen sich als sehr nützlich. Als sie Alice an Bord der Matilda Briggs gebracht hat ten und auf dem Weg nach Hause waren, schienen ihre Probleme erst einmal vorüber. McGuinness beugte sich ihrem Willen, und sie hatten die Riesenratte, die dafür sorgte, dass ihr Geheimnis ein Geheimnis blieb, die ›ih ren Schatz bewachte‹. Kurz vor ihrer Ankunft in London entdeckte ein Mitglied der Mannschaft, wer da in Wahr heit im Achterdeck verborgen wurde: niemand anders als Raymond Jenard. Wir werden nie erfahren, wie er es he rausbekommen hat, denn er hatte nicht einmal die Gele genheit, seinem guten Freund John Sampson von dem ge fangenen Mädchen zu erzählen. Sampson war offensicht lich zu beschäftigt, und es ergab sich keine Gelegenheit mehr an Bord zu einem vertraulichen Gespräch. Einmal an Land, schwor Jenard sich, die Behörden zu informieren. Er entschied sich jedoch, erst einmal einen Drink in einer der Hafenkneipen zu nehmen. Dort fragte er den Barkeeper um Rat. Dieser kannte mich gut – ich habe geschworen, niemandem seinen Namen oder den seiner Taverne zu verraten – und riet Jenard, mich aufzu suchen. Ist so weit alles klar?« »Absolut.« »Das Schicksal wollte es jedoch, dass Jones sich in der selben Kneipe aufhielt, keine drei Meter entfernt hinter einem Stützbalken, mit einem Krug in der Hand. Er hör te, wie der Barkeeper sagte: ›Ja, mein Junge, Sherlock Holmes ist genau der richtige Mann für dich. Du findest 332
ihn der Baker Street 221b. Ihm musst du von der gefan genen Lady erzählen …‹ Jones machte sich augenblicklich klein auf seinem Stuhl, um zu verhindern, dass Jenard ihn entdeckte, als dieser sich auf den Weg machte. Kurz bevor er die Kneipe verließ, drehte er sich um und sagte: ›Selbst wenn ich diesen Holmes nicht erreichen kann – ich habe alles in mein Tagebuch geschrieben.‹ Und dabei klopfte er auf seinen Seesack. Sobald Jenard fort war, eilte Jones zu Baskerville und berichtete ihm, dass Lady Alice entdeckt worden war.« An dieser Stelle hielt Holmes inne, um Atem zu schöpfen. Obwohl seine Wunde praktisch verheilt war, machte sich seine Erschöpfung doch noch hin und wieder bemerkbar. »Sie ließen Alice gefesselt in einer der Kabinen zu rück. Die Mannschaft hatte das Schiff verlassen, also brauchten sie keine Angst zu haben, dass sie entdeckt wurde. Sie gingen zu Jenards Unterkunft, wo sie ihn ab fangen wollten. Jenard war jedoch schon zu uns aufgebro chen. Sein Seesack war noch da, nicht aber das Tage buch. Sie nahmen an, dass er es eingesteckt hatte. Was aber, wenn er es in der Wohnung versteckt hatte? Es gab keinen Zweifel: Jenard, der das wahre Geheimnis der Ma tilda Briggs entdeckt hatte, musste sterben. Irgendwann würden die Behörden darauf hin sicher seine Wohnung durchsuchen. Was, wenn sie das Buch darin fanden? Ich glaube, an dieser Stelle brach Baskervilles Wahn sinn endgültig hervor. Da sie keine Zeit hatten, die Zim mer nach einem Tagebuch zu durchsuchen, das nur mögli 333
cherweise dort war, beschlossen sie, die Räume in Brand zu setzen. Und so leerten sie in einem Anfall von Verzweif lung und ohne Rücksicht oder auch nur die kleinste War nung an die anderen Bewohner des Hauses die Paraffin lampen sowie alle Vorratsbehälter auf den Teppich, die Möbel und Vorhänge …« »Sie brauchen nicht weiter zu erzählen«, warf ich ein. »Wir wissen beide nur zu gut, was dann geschah …« »Die Flammen hatten kaum zu flackern begonnen, da saßen die drei bereits in einer Kutsche und rasten Rich tung Baker Street, wobei sie scharf nach Jenard Ausschau hielten. Sie entdeckten ihn nur ein paar Straßenzüge von seinem Ziel entfernt und lockten ihn in den Torweg des Tuchhändlers. Das gelang ihnen mithilfe von Baskerville, der mit verstellter Stimme um Hilfe rief. Wie erwartet, reagierte Jenard sofort auf den Ruf, wie es jeder anständi ge Bürger getan hätte. Sobald er im Torweg war, fielen die drei über ihn her. Der Gebrauch des chloroformge tränkten Tuches – übrigens ein weiterer Hinweis auf Baskerville und seine Schmetterlinge – stellte sicher, dass Raymond Jenard ein schnelles und leises Ende fand. Es ist interessant, Watson, dass die Schurken wahr scheinlich davongekommen wären, wären sie bei ihrem ursprünglichen Plan geblieben und hätten die Leiche auf dem Dach gelassen. Doch als Baskerville oben auf dem Dach stand und auf Jenards Leiche hinabstarrte, muss etwas in seinem ver drehten Hirn passiert sein. Wie so oft, wenn ein an sich hervorragender Verstand auf die schiefe Bahn gerät, hielt auch Baskerville sich für ein Genie. Er sah eine Möglich 334
keit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: das Löse geld zu kassieren und sich an mir zu rächen.« »Natürlich!«, sagte ich. »Er hat die Leiche absichtlich so zugerichtet und im richtigen Moment auf den Gehsteig hinuntergeworfen, um Ihre Neugierde zu wecken …« »Richtig. Er warf mir den Köder und gleichzeitig den Fehdehandschuh hin. Natürlich kennen wir beide die grundlegende Ironie, die in der ganzen Sache steckt: Ich arbeitete ja schon an dem Fall, denn Lord Allistair hatte mich bereits heimlich konsultiert. Hätte Baskerville das gewusst, hätte er sicher viel früher den Verstand verloren, da bin ich sicher. Mir eine Falle zu stellen war letztend lich Baskervilles Nemesis, denn dadurch erlaubte er es mir, die einzelnen Teile des Puzzlespiels miteinander zu verbinden und seine Identität herauszufinden. Hätte ich nicht gewusst, dass Baskerville hinter dem Verbrechen steckt, hätte ich Lord Allistair sicher geraten, das Löse geld zu bezahlen und die Sache damit auf sich beruhen zu lassen. Die Entführer, das heißt zumindest Baskerville und Jones, hätten sich dann in diesem Augenblick zwei fellos bereits auf dem Weg nach Südamerika befunden.« »Er ist in seiner Bosheit einen Schritt zu weit gegan gen, und das war sein Verhängnis.« »Nachdem sie die Hintertreppe hinabgestiegen waren, sind sie zur Briggs zurückgekehrt. Sie hatten von Anfang an beabsichtigt, McGuinness aus dem Weg zu räumen. Doch nun hatte sich der Plan ein wenig geändert und wurde tollkühner. Nun musste die ›Ratte‹, die man ei gentlich ohne viel Aufhebens hatte töten und über Bord werfen wollen, die Tat begehen. 335
Kurz bevor das merkwürdige Trio das Schiff in dun kelster Nacht verließ, hatte Baskerville eine weitere Idee: eine Warnung, angeblich von Jenard geschrieben, die ei ne Verbindung zwischen der Entführung und der ge heimnisvollen Riesenratte von Sumatra herstellte. So kroch er also in der Finsternis in die Koje und schrieb mit dem Kerzenstummel, den wir entdeckten, den simplen Vers, der sicherstellen sollte, dass ich mich des Falles an nahm.« »Und von diesem Augenblick an trug jeder weitere Schritt eindeutig die Handschrift Baskervilles. Und nun zur letzten Frage: die verschlüsselte Nachricht aus Nadel stichen.« »Pah! Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie sie inzwischen nicht längst entschlüsselt haben …« »Ich besitze leider nicht Ihre Fähigkeiten, Holmes«, entgegnete ich sarkastisch. »Ich bin bloß ein gewöhnli cher Sterblicher.« »Na, na, alter Junge«, meinte er amüsiert. »Ich habe die Nachricht vorsichtshalber mitgebracht. Sie befindet sich hier in meinem Fliegenbeutel.« Er öffnete den fellgefütterten Beutel und kramte zwi schen zahllosen gefiederten Haken den Zettel mit der Nachricht hervor, die Lord Allistair und ich abgeschrie ben hatten. Dann setzte er sich auf den Boden und breite te das Papier vor sich im Gras aus:
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»Ein einfacher Kode, womit ich allerdings keineswegs Lady Allistairs Klugheit und Geschicklichkeit infrage stellen möchte, ganz zu schweigen von ihrem Mut, Ihnen diese Nachricht zukommen zu lassen. Sie war tatsächlich für Sie bestimmt. Das Mädchen hatte inzwischen genug von den Plänen der Schurken mitbekommen und wusste auch, dass Sie ihren Vater nach Strathcombe begleitet hatten. Ihre grundlegende Annahme, Watson, dass die Punkte auf bestimmte Buchstaben hinweisen, die sich zu Wör tern zusammensetzen lassen, ist richtig. Was Sie nicht bedacht haben, und darin lag Ihr Irrtum, ist die Tatsache, dass Lady Allistair aufgrund der Kürze des Zeitungsarti kels gezwungen war, mehrmals durch ihn hindurchzuge hen, um die Botschaft zu formulieren. Daher kann sich ein Wort aus verschiedenen Punktstrukturen zusammen setzen.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.« 337
»Mit anderen Worten: Die unterschiedlichen Punktie rungen kennzeichnen keine unterschiedlichen Worte, sondern zeigen nur an, wie oft Lady Alice durch den Ar tikel ›gegangen‹ ist, um alle nötigen Buchstaben zu fin den.« Ich kratzte mich verwirrt am Kopf. »Hier, lassen Sie es mich Ihnen demonstrieren«, meinte Holmes mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. »Als Erstes zählten Sie die Buchstaben mit dem ein zelnen Punkt darüber und erhielten so das Wort EINE FAL, richtig?« Ich nickte. »Danach nahmen Sie an, dass das zweite Wort sich aus den Buchstaben mit dem einzelnen Punkt darunter zusammensetzt, kamen also auf BACHT. Die anderen Wörter lauteten LEDROHTO und JOHN. Da nur ›John‹ ein richtiges Wort ist, können die anderen nur bestimmte Teile von Wörtern sein. Kurz, sie sind Teile einer anein ander gereihten Botschaft. Wenn wir sie also aneinander setzen, erhalten wir Folgendes: EINEFALBACHT LEDROHTOJOHN.« »Ich kann darin keinen Sinn erkennen. Verdammt, Holmes, so einfach, wie Sie sagen, ist es nicht!« »Ich habe vergessen zu sagen, dass Sie einen weiteren Fehler begingen, als Sie versuchten, diese Nachricht zu entschlüsseln. Der zweite bestand darin, dass das zweite Wort aus jenen Buchstaben besteht, die mit einem Punkt darunter gekennzeichnet sind, statt mit den beiden Punk ten darüber. Wenn wir diese Schablone anlegen und 338
BACHT gegen LEDROHTO austauschen, erhalten wir: EINEFALLEDROHTOBACHTJOHN.« Ich starrte die Zeile ein paar Sekunden lang mit lee rem Blick an, bevor ich die Nachricht endlich entziffert hatte: EINE FALLE DROHT, OBACHT, JOHN. »Was für ein Dummkopf ich bin!«, rief ich. Holmes enthielt sich jeglichen Kommentars. »Lady Alice hat zweifellos meine höchste Anerken nung verdient. Es ist in der Tat äußerst schlau, sich aus dem Stegreif ein solches Kryptogramm auszudenken. Ich nehme an, dass Sie von Anfang an wussten, was darin stand.« »Ja. Hätte ich Ihnen jedoch von Baskervilles Falle er zählt, hätte das Ihr Verhalten auf verräterische Art und Weise geändert; und unser Gegner war in der Lage, die kleinsten Anzeichen von Ärger sofort zu erkennen. Nein, damit mein Plan funktionierte – mehr schlecht als recht, wie ich leider zugeben muss –, war es absolut unumgäng lich, Sie die ganze Zeit über die wahren Hintergründe im Dunkeln zu lassen. Es gibt nichts in meinem Leben, Wat son, was ich mehr bedaure, als Sie in diese missliche Lage gebracht zu haben. Der Albtraum in Henry’s Hollow muss schrecklich für Sie gewesen sein. Ihre Schläfen sind sichtlich grauer geworden, falls Sie es noch nicht bemerkt haben. Ich kann meinem alten Freund kaum in die Au gen sehen, ohne Gewissensbisse zu verspüren.« Ich blickte eine Weile zu Boden, bevor ich antwortete, denn meine Kehle war wie zugeschnürt, wie es manchmal passiert, wenn die Gefühle einen überwältigen. »Es … es gab wohl keinen anderen Weg …«, brachte 339
ich schließlich hervor. »Wir haben alle getan, was wir konnten.« Wir legten den Rest des Weges schweigend zurück, da jedes weitere Wort die Stimmung des Augenblicks nur verdorben hätte. Schließlich fuhr Holmes fort: »Auf der positiven Seite ist natürlich Lord Allistairs Großzügigkeit uns gegenüber zu verbuchen.« »Großzügigkeit? Mein lieber Holmes, so reich der Mann auch sein mag, sein Verhalten grenzt an Verrückt heit!« Während Holmes den Kopf in den Nacken legte und laut auflachte, konnte ich nicht umhin, an die düsteren Seiten zu denken, die das Ende unseres Abenteuers eben falls gehabt hatte. Es war ein trauriger, tragischer An blick, der sich uns geboten hatte und den ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde. Noch heute habe ich jedes Detail klar vor Augen: Rodger Baskerville, festge zurrt auf einer ledernen Pritsche, schweißgebadet, den Kopf hin und her werfend und laute Schreie ausstoßend. In seiner Raserei hatte er sich die Zunge durchgebissen, und roter Schaum klebte auf seinen Wangen. Als seine Pritsche in die Kutsche geschoben wurde, die ihn ab transportieren sollte, fing er an, Holmes’ Namen zu schreien. Die eisernen Türen schlossen sich hinter ihm und wurden verriegelt, bevor die Kutsche ihren be schwerlichen Weg über die Landstraße zurück in die Stadt begann. Doch selbst als sie schon weiter weg war, konnte ich noch immer die Rufe des Wahnsinnigen durch die kleinen vergitterten Fenster dringen hören: »Holmes – keine Zelle wird mich aufhalten können!« 340
»Nur ruhig, Watson, denken Sie an etwas Erfreuliche res! Die Zeit wird seine Qualen vielleicht lindern.« »Sie haben wieder einmal meine Gedanken gelesen!« »Nein, ich habe wieder einmal in Ihrem Gesicht gele sen. Sie haben zu der Biegung der Straße hinuntergese hen, hinter der der Wagen der Anstalt verschwunden ist. In Ihrem Gesicht lag ein Ausdruck des Hasses, gefolgt von einem Ausdruck des Mitleids – wie nicht anders zu erwarten von einem Mann Ihres Berufes und Ihres Cha rakters.« »Vielleicht hätte sich auch Furcht darin widerspiegeln sollen. Erinnern Sie sich an Baskervilles prahlerisches Versprechen auszubrechen? Wenn es einen Menschen gibt, der einen Weg finden könnte, selbst der sichersten Zelle zu entfliehen, dann er.« »Das ist wahr. Doch das Glück des Lebens besteht zu einem Großteil darin, sich keine Sorgen über die Dinge zu machen, die man ohnehin nicht zu ändern vermag.« Wir hatten inzwischen die kleine Mauer erreicht, die das Anwesen begrenzte, und traten durch das große Tor. Am entgegengesetzten Ende der grünen Wiese standen einige lange Festtische, die mit strahlend weißen Leinen tüchern bedeckt waren. Gut zwanzig Bedienstete mit sil bernen Tabletts und dampfenden Gerichten eilten dazwi schen hin und her. In der Auffahrt stand eine ganze Rei he Kutschen, die mit jeder Minute länger wurde. Wir setzten uns auf eine Steinbank, und kurz darauf konnten wir einen schönen Anblick genießen, der unser beider Herzen erwärmte. »Ah, Watson, man braucht nicht viel Kombinations 341
gabe, um den Grund für Farthways Anwesenheit auf Strathcombe zu erkennen, nicht wahr?« »Gewiss nicht«, erwiderte ich. »Nun, ich freue mich wirklich für beide.« Langsam kamen Alice Allistair und Ian Farthway Arm in Arm zu uns herübergeschlendert. Lady Allistair war noch immer ein wenig schwach auf den Beinen, doch Farthways starke Arme und sein nobles Verhalten waren ihr eine große Stütze. Die zärtlichen Blicke, die sie sich zuwarfen, waren ein weiterer Beweis für ein Band, das schon eine ganze Weile zwischen ihnen bestanden hatte und keinerlei Anzeichen zeigte, schwächer zu werden. Alice erholte sich sehr rasch. Mit jedem Tag ähnelte sie wieder mehr und mehr dem liebreizenden Geschöpf, das ich auf den Familienporträts bewundert hatte. Mit unserer aller Hilfe ließ sie sich auf der Bank nieder. Voller ehrlicher Bewunderung und Dankbarkeit schüt telte ich ihr die Hand und beglückwünschte sie zu ihrem genialen Kode. Sie wischte die Komplimente mit einer natürlichen Bescheidenheit beiseite, die ihr äußerst gut stand, und faltete die Hände im Schoß. »Ian, du darfst mir nicht böse sein«, meinte sie mit ge spielter Zerknirschtheit, »aber ich habe so lange darauf gewartet, diesen Gentlemen alles zu erzählen, was sie wis sen möchten – nein, bitte, Sie alle dürfen mich nicht am Sprechen hindern. Ich kann diese Geschichte nicht für mich behalten. Es würde meine Seele zerfressen. Ich muss und ich werde Ihnen alles erzählen.« Und so ergriff die junge Lady die Hand jenes Mannes, der so viel zu ihrer Rettung beigetragen hatten, und er 342
zählte uns die unglaubliche Geschichte ihrer unmensch lichen Entführung, die in allen Einzelheiten bestätigte, was ich bereits, gefesselt an einen Baum, in Henry’s Hol low erfahren hatte. Ihre Odyssee war mit der Zeit immer beängstigender geworden, denn ihre Gefangenschaft in Bombay war zwar unangenehm, jedoch ohne Schrecken für sie gewesen. Gleiches galt für die Reise in der Eisen bahn und die Überfahrt über den Indischen Ozean an Bord des arabischen Handelsschiffes. »Das Entsetzen hielt erst Einzug, als wir Sumatra er reichten, Mr Holmes. Dort führten Baskerville und Jones eine lange Unterhaltung, die ich mithören konnte. Zu meinem Erstaunen und meinem Schrecken erfuhr ich, dass ich mit einem wilden Tier eingesperrt werden sollte, das die Einheimischen im Dschungel gefangen hatten.« An dieser Stelle hielt sie inne, um sich zu sammeln. Erst als Farthway ihr einen aufmunternden Blick zuge worfen hatte, fuhr sie fort: »Es dauerte nicht lange, und ich entdeckte, dass es sich um einen Tapir handelte, gewöhnlich ein scheues Tier, das sich hauptsächlich von Wasserpflanzen ernährt. Doch dieses hier schien eine Ausnahme zu sein – mögli cherweise hatte es die Bösartigkeit vererbt bekommen. Auf jeden Fall hatte es schon mehrere Einheimische beim Baden im Fluss getötet.« »Ein ähnliches Verhalten hat man auch schon bei Flusspferden beobachten können«, warf Farthway ein. »Es gibt entartete Nilpferde, die eine ganze Reihe von Men schen getötet haben, aus reiner Bösartigkeit, obwohl auch sie normalerweise Pflanzenfresser und eher scheu sind …« 343
»Ich kann Ihnen versichern, Farthway, dass dieses Tier tatsächlich bösartig war«, warf Holmes ein. »Und seine Tollwütigkeit, das möchte ich hinzufügen, wurde sicher nicht dadurch gebessert, dass man es in einer Fallgrube gefangen und in eine Kiste gesperrt hat. Nimmt man noch die Wochen der Misshandlung durch Wangi hinzu, dann …« Holmes und ich warfen uns einen Blick zu. Acht Wo chen lang in nächster Nähe zu einer solchen Kreatur ein gepfercht zu sein erklärte nur zu gut Lady Alices aufge wühlten Zustand, in dem sie uns auf der Lichtung begeg net war. »Aber warum«, fragte ich, um das Thema zu wechseln, »sind Baskerville und Jones nicht mit Ihnen in Batavia aufgetaucht, sondern stattdessen mit dem Malaysier?« »Diese Notwendigkeit haben sie mir erklärt, bevor sie aufgebrochen sind. Sie wollten es vermeiden, im Hafen von Batavia dieselben Schwierigkeiten zu erleben, die sie beim Verlassen von Bombay gehabt hatten. Die Hollän der sind bekannt für ihre strengen Kontrollen.« »Das hatte ich vermutet«, bestätigte Holmes. »Die Gefahr, dass Sie entdeckt würden, Lady Alice, war sehr groß, vor allem weil die Schurken gezwungen gewesen wären, Sie sowohl in den Hafen hinein- als auch wieder hinauszubringen, um Sie auf die Briggs zu verfrachten. Nein, es war in der Tat ein cleverer Schachzug, ein mit ternächtliches Rendezvous weiter die Küste hoch zu ver einbaren. Auf diese Weise konnte jeder Kontakt mit den Hafenbehörden vermieden und das Umladen problemlos vorgenommen werden.« 344
»Blieb nur noch die Schiffsmannschaft, die sie aller dings mit Alkohol betäubten«, fügte ich hinzu. »Alles war sorgfältig geplant«, erklärte Alice, und ihre Augen wurden feucht. »Man ließ mich bei diesen Wilden zurück. Nur die Aussicht auf das versprochene Gold ga rantierte für meine Sicherheit …« »Was für ein schrecklicher Mensch!«, warf ich ein. »Was meine Entführer betraf, sie nahmen nur diese Kreatur Wangi mit – als Führer und Geisel gleichzeitig.« »Kaum ein angemessener Tausch«, meinte Farthway verächtlich. »Die drei reisten in einem kleinen malayischen Segel boot Richtung Süden. Wir sollten ein paar Tage später zu dem vereinbarten Treffpunkt an der Küste folgen. Sie hatten keine Schwierigkeiten, ein Schiff zu finden, das nach England fuhr. Mithilfe von Drohungen und Beste chung gelang es ihnen, sich Captain James McGuinness gefügig zu machen. Die Matilda Briggs stand somit unter ihrem Kommando, noch bevor sie den Hafen von Batavia verlassen hatte.« »Sie brauchen mit Ihrem schmerzlichen Bericht nicht fortzufahren, Lady Alice«, sagte Holmes und erhob sich. »John Sampson hat uns von dem nächtlichen Treffen und dem Verfrachten der Kiste erzählt. Die Angst und die Qualen, die Sie auf der Reise durchgestanden haben, können wir nur erahnen. Doch schauen Sie, Ihre Eltern betreten soeben die Terrasse. Kommen Sie, gesellen wir uns zu ihnen.« Wir gingen den Gartenpfad hinauf, um die Allistairs zu begrüßen, die gerade die Terrassenstufen hinunterka 345
men. Es besteht kein Zweifel, dass der Geist den Körper regiert, denn seit der Rückkehr ihrer Tochter und dem Abfallen der enormen Anspannung der letzten Wochen sahen die beiden um Jahre jünger aus. »Die einzige Sache, die mich noch immer verwirrt«, meinte Lord Allistair, während er seiner Frau in einen Gartenstuhl half und sich dann neben ihr niederließ, »ist Baskervilles Verlangen, an mir persönlich Rache zu neh men. Hast du zufällig etwas über seine Beweggründe er fahren?«, fragte er seine Tochter. »Nein. Nicht genau jedenfalls. Er hat nur behauptet, du hättest ihm vor Jahren einmal Unrecht zugefügt …« Seine Lordschaft kniff die Augenbrauen zusammen und dachte angestrengt nach. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er schließlich. »Er wollte es mir nicht verraten, obwohl ich ihn da nach fragte«, warf ich ein. »Ich nehme an, wir werden es nie erfahren …« Aus Holmes’ Richtung erklang ein leises Hüsteln. Al ler Augen richteten sich auf die hagere Gestalt, die sich elegant in einem Liegestuhl niedergelassen hatte. »Besteht vielleicht die Möglichkeit, Lord Allistair«, fragte er mit sanfter Stimme, »dass Sie einen Vorfall übersehen haben, der sich vor zwölf Jahren ereignete?« Lord Allistair nippte an seinem Portwein, denselben verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht wie zuvor. »Das müsste dann 82 gewesen sein. Ah, jetzt weiß ich! 82 wurde Cavendish im Phoenix-Park ermordet. Dann hat es also etwas mit der Autonomiebewegung und Par nell zu tun …« 346
»Nein, Sir. Es ist weitaus privater. 82 war Ihr Sohn Pe ter neun Jahre alt …« Fast augenblicklich war der verwirrte Ausdruck auf Lord Allistairs Gesicht verschwunden. »Mr Holmes, kann ich Sie für einen Augenblick allei ne sprechen?« »Natürlich. Vielleicht wollen Sie die Angelegenheit aber lieber auch auf sich beruhen lassen?« Lord Allistair schien eine ganze Weile mit sich selbst zu kämpfen, dann wandte er sich zu seiner Frau um und blickte sie offen und ehrlich an. »Elizabeth, es gibt da etwas, das ich dir bis heute noch nicht gesagt habe …« Farthway und ich erhoben uns, um zu gehen. Holmes’ Unverfrorenheit überraschte mich. Er machte keinerlei Anstalten, sich uns anzuschließen. »Bitte, Gentlemen, bleiben Sie!«, sagte Lord Allistair und hob seine Hand. »Besonders Sie, Doktor, haben das Recht zu erfahren, welche Ereignisse dazu geführt haben, dass Sie beinahe Ihr Leben verloren hätten. Nun, meine Liebe, du brauchst nicht so erschrocken zu schauen – ich bin nicht stolz auf das, was ich dir erzählen muss, aber es ist nichts, das unsere Beziehung zueinander verändern wird. Nun, Mr Holmes, es gibt nicht nur eine Seite dieser Geschichte, aber nachdem ich nun die Ehre hatte, Sie bei der Arbeit bewundern zu dürfen, wenn auch nur kurz fristig, kann ich wohl davon ausgehen, dass Sie auch in diesem Fall über alle relevanten Fakten verfügen …« »Davon dürfen Sie ausgehen, Lord Allistair.« 347
»Dann möchte ich damit beginnen, Ihnen allen«, und dabei machte er eine ausholende Armbewegung, die uns alle einschloss, »zu verraten, dass ich dieses Unrecht zwar nicht selbst begangen habe, den Schuldigen jedoch gedeckt habe und mich damit mitschuldig gemacht ha be.« Wir starrten ihn ungläubig an. War dieser Mann, der sich in seiner Karriere so sehr für das Allgemeinwohl ein gesetzt hatte, gerade dabei, sein Ansehen selbst zu be schmutzen? »Zu der genannten Zeit kam mein Sohn Peter ins zweite Jahr an der Malton School in Yorkshire, die von einem Mann namens Vandeleur geleitet wurde. Wir den ken in dieselbe Richtung, Mr Holmes?« »Ja, Sir, das tun wir. Ich kann übrigens gar nicht genug betonen, wie froh ich bin, dass Sie sich entschlossen ha ben …« »… die Sache endlich publik zu machen? Hah! Das hätte ich schon vor Jahren tun sollen, offen und ehrlich. Ich schulde Ihnen auch dafür meinen Dank, Sir, dass Sie mich darauf hingewiesen haben. Danke auch dafür, dass Sie mir angeboten haben, die Angelegenheit auf sich be ruhen zu lassen; doch wenn ich auch nur einen Augen blick darüber nachdenke, dann wird mir klar, dass ich al les erzählen muss, soll mein Wort in Zukunft noch etwas gelten …« »Ich wusste, dass Sie so entscheiden würden.« »Nun denn. Das Schuljahr hatte gerade erst begon nen, da erhielt ich einen Brief vom Direktor, diesem Vandeleur, der mir mitteilte, dass mein Sohn bei seiner 348
Prüfung betrogen hatte. Sie können sich meine Überra schung sicher vorstellen …« Es dauerte eine kleine Weile, bis wir diese Neuigkeit verdaut hatten. Ich sah, wie Lady Allistair zusammen zuckte. »Es war mir damals nicht möglich, London zu verlas sen – die Irland-Krise, die ich eben erwähnte, befand sich auf ihrem Höhepunkt. Ich schrieb also an Peter und frag te, ob diese Vorwürfe berechtigt seien. Er bestätigte sie. Natürlich war ich bestürzt, als ich dies erfuhr, jedoch auch glücklich darüber, dass Peter seinen Fehler freiwillig zugegeben hatte. Nun, wie die meisten von Ihnen sich si cher vorstellen können, bedeutete dieser Betrug, dass Pe ters Chancen, nach Harrow oder zu einer anderen an ständigen weiterführenden Schule zu gehen, damit ver spielt waren. Ich war über alle Maßen betrübt, dass dieser unglückliche Vorfall – und ich betone, dass es sich um einen unglücklichen Vorfall handelte, denn Peter war im Grunde ein anständiger Junge –, dass dieser Vorfall also sein Leben ruinieren sollte.« Er hielt inne, um an seinem Port zu nippen. Dann fuhr er in nachdenklichem Tonfall fort: »Doch gerade, als ich mich schon damit abgefunden hatte, erreichte mich ein Brief von Vandeleur, der mir mitteilte, dass er für eine bestimmte Summe die Sache nicht weiter verfolgen würde …« »Bei Gott, der Schuster bleibt bei seinen Leisten, nicht wahr, Holmes?«, warf ich ein, denn auch ich konn te mich gut an den Namen »Vandeleur« erinnern. »Natürlich war ich empört, so verlockend dieses An 349
gebot auch war. Doch was für ein Mann würde ein sol ches Angebot machen? Auf jeden Fall niemand, der eine Schule für junge Knaben leitet! Ich beauftragte daher ei nen mir bekannten Fachmann aus der Gegend damit, sich die Schule einmal ganz genau anzusehen. Gab es ir gendwelche Unregelmäßigkeiten? Wie wurde die Schule finanziert? Informationen dieser Art eben. Es dauerte nicht einmal vierzehn Tage, und ich hatte genügend Ma terial in Händen – ich brauche gar nicht ins Detail zu ge hen –, um Vandeleur für lange Zeit ins Gefängnis wan dern zu lassen. Wissen Sie, ich war nicht der Erste, den er zu erpressen versucht hatte …« »Und das teiltest du ihm durch deinen Bekannten mit«, sagte Lady Allistair. »So ist es. Als er erkannte, dass er sich in seinem eige nen Netz verstrickt hatte, floh der Mann. Die Sache mit Peters Betrug war vergessen, nichts davon drang an die Öffentlichkeit – bis jetzt. Ich entschuldige mich von gan zem Herzen bei dir, meine Liebe, und bei Ihnen allen, dass ich es so lange geheim gehalten habe.« »Ich erinnere mich daran, dass Sie mir von dieser Zeit aus Baskervilles Vergangenheit berichtet haben, Hol mes«, sagte ich. »Das hat Sie also damals, in Lord Al listairs Londoner Residenz, zu der Frage nach dem jungen Peter und seiner Schule veranlasst.« »Genau. Als ich von der Schule in Yorkshire erfuhr, fiel das letzte Puzzlestück an seinen Platz. So sehr Basker ville auch von seiner Geldgier getrieben sein mochte, noch mehr spornte ihn sein Hass und sein Wunsch nach Rache an. 350
Nun, ich glaube, es ist Zeit, all diese unangenehmen Dinge beiseite zu schieben. Lassen Sie uns von der Zu kunft reden. Mr Farthway, wenn ich es recht verstehe, werden Sie eine gewisse junge Lady in nächster Zeit noch öfter sehen, oder? Nun, das sind gute Neuigkeiten. Au ßerdem wird es Sie alle sicher freuen, dass John Sampson von der Oriental Trading Company zum Ersten Maat an Bord der Matilda Briggs befördert wurde.« »Ausgezeichnet!«, riefen wir und hoben die Gläser. »Ich fürchte, wir müssen ins Haus zurück, um unsere Gäste zu begrüßen«, meinte Lord Allistair und erhob sich. »Sie dürfen sich gerne zu uns gesellen oder sich die Zeit bis zum Lunch nach Lust und Laune vertreiben, ganz wie Sie möchten. Komm, meine Liebe, gehen wir!« Wir würden nicht lange warten müssen, so viel war of fensichtlich. Die Bediensteten füllten die langen Tische in immer schnellerem Tempo mit einem Aufgebot an Speisen, das einem das Wasser im Munde zusammenlau fen ließ: Rebhuhn in Pflaumen-Chutney, Lammspieße, kalter Hummer, Spargel in Zitronensauce, gekühlter Steinbutt, frisch gebackenes Brot und zahlreiche Pasteten – die Reihe war endlos. Dazu gab es drei verschiedene Sorten Weißwein und vier verschiedene Rotweine sowie gekühlten Apfelwein, Bier und Ale aus der Gegend und eine Vielzahl von Brandys. »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Alice. »Viel Zeit bleibt uns nicht. Sollen wir gehen … oh, Beryl! Da ist meine liebe Beryl! Komm, Ian, ich muss sie dir unbedingt vorstellen!« »Nun, noch ein tränenreiches Wiedersehen. Ich bin 351
sicher, Miss Haskins hat sich fast vollständig erholt. Der Aufenthalt in Brighton hat ihr gut getan. Nein, Watson, lassen Sie uns nicht ins Haus gehen. So nett die Leute auch sein mögen, ich glaube nicht, dass wirklich interes sante Gesprächspartner darunter sind.« »Ich stimme Ihnen zu. Was also tun?« »Ah, schauen Sie, dort unter der asiatischen Ulme, ist das nicht ein Krocketfeld?« »Doch, so ist es. Wie wäre es mit einem Spiel?« Und so ging Holmes, nachdem wir einige Minuten lang geübt hatten und die Luft mit dem sanften Klacken der Kugeln und Schläger erfüllt war, auf das erste Tor zu. »Watson, ich nehme gelb und Sie rot … so. Nun denn, alter Freund, sollen wir eine Münze werfen, wer be ginnt?«
POSTSKRIPTUM
Trotz des heftigen Protestes meines allzu beschei denen Freundes Dr. John Watson habe ich mir die Frei heit genommen, diese kurze Notiz am Ende jenes Aben teuers anzufügen, das als DIE RIESENRATTE VON SUMATRA bekannt wurde. Im letzten Kapitel dieses Manuskriptes wurde bereits beiläufig erwähnt, dass sowohl ich als auch Watson von Lord Allistair für die sichere Rückkehr seiner Tochter mit einem großzügigen Scheck bedacht wurden. Ich werde die Summen nicht nennen, sondern mich damit begnü gen zu erwähnen, dass der Scheck, den der Duke of Hol dernesse* mir bei früherer Gelegenheit überreichte, im Vergleich dazu geradezu armselig wirkte. Meinen Teil in vestierte ich in unterschiedliche Projekte, von denen ei nige, wie ich widerstrebend zugeben muss, den Scharf sinn, den Watson in so vielen Erzählungen über mich herausstellt, kaum widerspiegeln. Wie Watson den Löwenanteil seiner Belohnung ver wendet hat, möchte ich in diesem Postskriptum bekannt geben – trotz des lebhaften Protestes meines Freundes. Wenn Sie einmal die Eingangshalle eines großen Lon * vgl. das Abenteuer Die Internatsschule
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doner Krankenhauses betreten und ein wenig darin he rumschlendern sollten, werden Sie recht schnell auf einen neuen kleinen Seitenflügel stoßen, der ausschließlich der Pflege von Kindern gewidmet ist, die Verbrennungen er litten haben. An der Wand neben dem Eingang ist eine kleine bronzene Plakette angebracht, auf der zu lesen steht: »In Erinnerung an Abbie Wellings, die im großen Feuer vom 15. September 1894 gestorben ist.« Verantwortlich für den Bau und den Unterhalt dieser Station ist niemand anders als John H. Watson, M. D. Er hat den größten Teil des benötigten Geldes zur Verfü gung gestellt, sich aber auch an zahlreiche Freunde, mich eingeschlossen, gewandt und sie um großzügige Spenden gebeten. Ich muss gestehen, dass von all meinen Investitionen dies diejenige ist, die mich am ruhigsten schlafen und mir die schönsten Gewinne zukommen lässt. Ich sage dies, weil ich glaube, dass es nach all den Jah ren, in denen Watson mein Loblied gesungen hat, höchs te Zeit ist, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Guter al ter Watson! S. H. Sussex, 1912
ANMERKUNGEN ZUM FALL DER
RIESENRATTE VON SUMATRA
Kapitel 1 Seite 12 Wir nehmen an, dass die Ambulanzen nur aus den größe ren Krankenhäusern geschickt wurden. In diesem Falle wären die beiden genannten (Charing Cross und St. Thomas) tatsächlich die infrage kommenden. Es gab je doch eine Menge kleinerer Hospitäler, einschließlich zahlloser »Entbindungsanstalten«, die näher an der Baker Street 221b lagen und zweifellos ebenfalls Kutschen aus schickten. 23H4
Seite 13 Schön, aber wenn der Leichnam südlich der Wohnung gefunden wurde und das Hospital ebenfalls im Süden lag, wie kann es dann sein, dass die Ambulanz ›am Fenster von 221b vorbeischoss‹? Kapitel 2 Seite 39 Der Kamin in der Baker Street 221b war hauptsächlich 355
für Kohlefeuer vorgesehen. Es gibt jedoch mehrere Bei spiele im Kanon der Geschichten, in denen erwähnt wird, dass Holzscheite darin verbrannt wurden. Außer dem: Welchen Sinn hat ein Kaminfeuer, das nicht »knis tert«? Seite 45 Nur zehn Jahre zuvor (1883) kam es auf der Insel Kraka tau in der Sundastraße zu einem gewaltigen Vulkanaus bruch. Es war möglicherweise die heftigste Explosion der Weltgeschichte – gewaltiger noch als unsere Atomexplo sionen. Der Lärm wurde noch Hunderte von Meilen ent fernt gehört. Seite 50 Das Ankerspill ist eine große Winsch, die von einem großen Rad mit Kerben gesichert wird. Die Sperrha ken sind Klinken, die in die Kerben rasten und damit verhindern, dass die Walze sich zurückdreht. Norma lerweise ist die Ankerwinde vorne auf dem Vorder deck angebracht, nicht auf dem Hinterdeck. Vermut lich verfügte die Matilda Briggs als Frachtschiff über mehrere Winden, um die Fracht an und von Bord zu hieven. Kapitel 3 Seite 59 Hier irrt sich Holmes natürlich. Obwohl Darwins Thesen richtig sind, ist das Shetland-Pony das Ergebnis gezielter 356
Zucht. Pferde von so geringer Größe wurden für die Ar beit in den Minenstollen gebraucht. Kapitel 5 Seite 111 Meistens wird Holmes geschildert, wie er Shag raucht, einen preiswerten starken Tabak mit strengem Ge schmack. Wie alle Pfeifenraucher zog er es jedoch mögli cherweise hin und wieder vor, die Sorte zu wechseln. Der »Navy-Verschnitt« wurde von einem Seemann kreiert und ist ein Tabakverschnitt, den man erhält, wenn man Tabakblätter zu einem Strang dreht und dann in dünne Scheiben schneidet. Das Resultat ist ein starker, langsam brennender Tabak mit scharfem Geschmack, den Holmes sicher gemocht hätte. Kapitel 7 Seite 176 Henry IV. und Glendower sind natürlich historische Per sonen, die »Legende« von Henry’s Hollow sowie das Hol low selbst dagegen frei erfunden. Kapitel 8 Seite 189 Dieser Kode wurde von Sir Arthur selbst erfunden oder zumindest vollendet. Während des Ersten Weltkrieges wurden damit Nachrichten an britische Kriegsgefangene 357
übermittelt. Den Gefangenen wurde ein Buch zuge schickt, in dem Nadelstiche an zuvor abgesprochener Stelle begannen. So konnte der Gefangene über den wahren Kriegsverlauf informiert werden. Kapitel 9 Seite 217 Warum verhält sich Watson so abwehrend? Könnte es sein, dass er einige Zweifel, seine Karriere betreffend, hegt? Wie kommt es, dass er so viel freie Zeit hat? Aber sind wir ihm nicht täglich dankbar dafür, dass er seine Praxis so vernachlässigt? Ebenso wie wir dankbar dafür sind, dass ein junger Arzt aus Southsea (Dr. Doyle) Zeit genug fand, EINE STUDIE IN SCHARLACHROT zu schreiben? Kapitel 10 Seite 235 DIE TANZENDEN MÄNNCHEN wären Holmes 1894 in der Tat ein großes Rätsel gewesen, hat er den Fall doch erst 1898 gelöst! Seite 247 Wie sonst hätte Watson im Dunkeln die Zeit ablesen sollen? Lumineszierende Zifferblätter waren damals noch nicht erfunden. Beachten Sie, dass er keine Jagd uhr mit einem metallenen Deckel besitzt, der geöffnet werden muss, um die Zeit abzulesen, sondern eine Uhr 358
mit einfachem Glasdeckel, der hochgehoben werden kann, um den Schlüssel einzusetzen, mit dem die Uhr aufgezogen wird. Wir wissen, dass Watson eine Uhr zum Aufziehen besitzt. Sie wird deutlich zu Beginn von DAS ZEICHEN DER VIER beschrieben, wo Watson Holmes die Uhr gibt, um Holmes’ Methode der Deduktion zu überprüfen. Um im Dunkeln die Zeit zu erkennen, musste Watson nur dieses Glas hochklappen und die hervorstehende Aufziehkrone ertasten, die die »12« markiert, und sich dann an dem Stand der beiden Zeiger orientieren. Zwei fellos eine delikate Aufgabe, aber eine die mit ein wenig Übung problemlos zu meistern ist. Kapitel 11 Seite 292 Der Name macht ebenso wenig Sinn wie die Namen, die Doyle den Verschwörern in Agra im ZEICHEN DER VIER gibt. Harun ist ein arabischer Name, Sarouk, wie viele Leser wissen werden, eine bestimmte Art von Per serteppich. Kapitel 12 Seite 310 Von allen Elementen dieser Geschichte ist die Identität der Riesenratte das umstrittenste. Viele Leser haben mir geschrieben, dass die Wahl, einen Schabrackentapir als Bösewicht der Geschichte zu wählen, nicht sehr klug ist. 359
Das Tier, so sagen sie, sei ein harmloser Pflanzenfresser, der niemals einen Menschen angreifen würde. Auch wenn dies zutreffen mag, möchte ich darauf hin weisen, dass auch das Nilpferd – ebenfalls ein (normaler weise) harmloser Pflanzenfresser – bereits Tausende von Menschen entlang der Flüsse Afrikas getötet hat. Außer dem, wenn man Holmes’ Methode folgt und nach dem Ocam’schen Prinzip vorgeht, frage ich: Welches Tier könn te es sonst sein? Selbst die größte Ratte kann nicht größer als ca. 60 cm werden. Baring-Gould verwies in seiner An thologie The Annotated Sherlock Holmes auf Rhizomys su matrensis, auf die große Bambusratte von Sumatra. Doch selbst dieses ›Monster‹ wird nicht größer als 50 cm – also kaum riesig genug, um Angst und Schrecken zu verbrei ten. Ich brauchte ein Tier, das so furchterregend wie Baskervilles Hund und wirklich riesig war. Der Schabra ckentapir bot sich an, da er einem Nagetier ähnelt, wirk lich groß ist und über das entsprechende Gebiss verfügt. Außerdem ist sein Vorkommen auf Sumatra und die an grenzenden Inseln beschränkt.