Sheriff Tod
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 167 von Jason Dark, erschienen am 28.02.1995, Titelbild: Luis Royo
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Sheriff Tod
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 167 von Jason Dark, erschienen am 28.02.1995, Titelbild: Luis Royo
Er war eine böse Legende. Niemand wußte, ob er je gestorben oder einfach nur verschollen war. Die meisten Bewohner des Landstriches wollten ihn vergessen. Doch als zwölf Menschen verschwanden und nicht mehr auftauchten, da erinnerte man sich wieder an ihn. Plötzlich ging die Angst um, und ein Satz machte die Runde. »Sheriff Tod ist wieder da...« Das stimmte, aber auch ich war gekommen, um diese Legende zu jagen...
Die alte Kirche stand auf einem Hügel! Es war ein verwitterter Holzbau, umgeben von kahlen Bäumen, die trotz ihrer Höhe mehr einem Gestrüpp glichen. Es bot der Kirche auch keinen Schutz gegen die oft heftigen Windböen, die mit Brachialgewalt gegen die Außenwände des Baus hieben, als hätten sie Lust daran gefunden, ihn zu zerstören. Aber er hatte standgehalten. Nicht nur zehn, zwanzig oder dreißig Jahre, sondern noch länger. Und ebenso lange wurde die Kirche schon nicht mehr von den Gläubigen besucht. Man machte sogar einen Bogen um sie, denn sie war den Menschen unheimlich. Es war nicht zu fassen, es war nicht zu erklären, es war einfach da, und es hatte sich in die dicken, ausgebleichten Holzwände hineingefressen, um nur das flache Land in der Umgebung zu beobachten. Auf dem ziemlich spitzen Dach der Kirche – es war kein Turm – wuchs ein altes Kreuz in die Höhe. Sehr groß, aus Eisen geschmiedet, aber längst rostig, als wäre es von dem ätzenden Atem des Teufels zerfressen worden. Die Kirche bestand aus zwei Blöcken. Einem unteren, breiteren, in dem die Tür und zwei Fenster eingelassen waren. Darüber ein schmalerer Aufbau mit einer Spitzbogentür, vor der auch noch ein alter Holzbalkon zu sehen war. So stand sie all die Jahre da. Einsam und verlassen. Aber war sie wirklich verlassen? Es gab Menschen, die behaupteten, hin und wieder eine Gestalt gesehen zu haben. Einen Spuk in finsterer Nacht. Einen Mann, der in dieser Kirche ein- und ausging. Und wieder andere behaupteten, ihn zu kennen, aber es gab kaum jemanden, der sich traute, seinen Namen auszusprechen, Er war längst zu einer Legende geworden. Keinem war bekannt, ob er gestorben war oder ob er noch lebte. Es wollte auch niemand etwas mit ihm zu tun haben, aber durch die Köpfe der Menschen geisterte des öfteren sein Name. Sheriff Tod! *** »Ich habe es gelesen, ich habe es gehört, und ich bin überzeugt, daß Amerika nicht gefährlicher ist als Deutschland. Zwar sind die Touristenmorde passiert, aber das waren doch nur wenige Taten, wenn man vergleicht, wie viele Leute von Deutschland aus in die Staaten reisen.« »Meinst du?« fragte Tina Berg, bevor sie an ihrem Erdbeershake nuckelte und dabei den Strohhalm zwischen den Lippen drehte. »Davon bin ich überzeugt.«
Tina zog den Strohhalm zwischen den Lippen hervor und griff über den Tisch hinweg nach der Hand ihres Freundes, die beinahe die große Kaffeetasse berührte. »Du bist so herrlich, Marcus. Du kannst einem wirklich Mut machen.« »Das gehört dazu. Schließlich habe ich dich zu dieser Verlobungsreise überredet.« »Ja, von New Orleans nach Los Angeles. Quer durch den Westen, immer auf dem Highway.« ».Ist das nicht toll?« »Sicher.« »Und warum hast du dich vorhin beschwert?« Tina schloß für einen Moment die Augen. Dabei schüttelte sie den Kopf. »Ich habe mich doch gar nicht beschwert. Ich habe nur aufgezählt, was ich gelesen habe. Es stand schließlich bei uns in allen Zeitungen. Die Morde sind nicht nur in Florida passiert, sondern auch in Kalifornien, wo wir hinwollen.« »Stimmt.« Er hob einen Finger. Mit der linken Hand strich er durch sein halblanges, dichtes Haar, das ebenso braun war wie seine Augen. »Wir sind jetzt schon in Colorado und werden uns in zwei Tagen in Denver etwas ausruhen können. Was haben wir bisher erlebt? Nur nette, hilfsbereite, freundliche Menschen, die uns unterstützten, wo sie nur konnten. Das kannst du nicht abstreiten.« »Will ich auch nicht.« »Schau dich doch hier in der Raststätte um, Tina. Siehst du Leute, die uns gefährlich werden können? Da an der Theke hocken die Trucker, essen und trinken Kaffee, da vorn in der Ecke sitzen zwei Familien zusammen und stopfen sich die Hamburger rein. Die beiden Frauen schräg gegenüber sehen auch nicht gefährlich aus, und selbst auf dem Parkplatz, wo die Harley-Freaks stehen und über ihre Maschinen diskutieren, würde ich mich nicht unwohl fühlen. Deshalb kann ich deine Probleme beim besten Willen nicht nachvollziehen.« Tina Berger seufzte auf. »Ich weiß ja, daß ich etwas überspannt reagiere. Aber jeder Mensch ist nun mal anders. Außerdem gefällt es mir nicht, daß wir die ganze Nacht durchfahren wollen.« »Na, na, na – nicht die ganze Nacht«, widersprach Marcus Richter und wedelte mit der Hand. »Wir fahren so lange, bis einer von uns müde ist und schlafen will.« »Das kann bei dir lange dauern.« »Stimmt.« Marcus lächelte. Er schaute seine Freundin an, senkte die Stimme und flüsterte: »Du siehst toll aus, Tina.« Die Einundzwanzigjährige runzelte die Stirn. So schaute sie ihren um drei Jahre älteren Freund an. »Wem hast du das schon alles erzählt, mein Lieber?«
»Hm… da muß ich überlegen. Ich studiere zwar Mathematik, aber selbst ich muß da nachrechnen.« Sie schlug ihm auf die Hand. »Lügner, Lügner, so viele können es nicht gewesen sein.« »Ach – warum denn nicht?« »Weil ich mich erkundigt habe.« »Bei wem?« »Sage ich nicht.« »Was hat man dir gesagt?« Tina spitzte die Lippen. »Die Wahrheit.« »Sehr schön. Wie sieht sie aus?« »Das behalte ich für mich, aber du müßtest sie schließlich auch wissen. Außerdem will ich über denjenigen informiert sein, mit dem ich in Kalifornien die Ringe tauschen soll.« »Du bist aber schlimm.« »Überhaupt nicht. Man kauft eben nicht die Katze im Sack.« Marcus deutete auf den leeren Becher seiner Freundin. »Möchtest du noch einen Nachschlag?« »Nein.« »Ich brauche auch keinen Kaffee mehr.« »Dann laß uns zahlen.« Der junge Mann nickte. Er drehte sich auf dem Stuhl und hielt nach der Kellnerin Ausschau. Marcus war froh, mit Tina unterwegs sein zu können, und er war auch froh darüber, daß die beiden Elternpaare die vierwöchige Reise mitfinanziert hatten. Und er war froh darüber, Tina zu haben. Sie war wirklich seine Traumfrau gewesen. Er mochte ihr Haar, auch wenn sie es jetzt der Mode entsprechend ziemlich kurz geschnitten hatte. Wie helles Gras stand es auf ihrem Kopf. Das tat dem feingeschnittenen Gesicht mit den vollen Lippen keinen Abbruch. Sie schminkte sich nur wenig, war ziemlich schlank, aber an den richtigen Stellen gut bestückt, besonders was den Po anging. Da saßen die Jeans immer stramm. Auch heute, wo sie sich für eine rote Hose entschieden hatte. Ein weißes T-Shirt mit dem knallroten Aufdruck JAUUU auf der Brust bildete das Oberteil, und über ihre Schultern hatte sie eine leichte Strickjacke gehängt, denn in den klimatisierten Räumen war es oft ziemlich kühl, im Gegensatz zu draußen. Die Bedienung, eine junge Farbige, hatte das Handzeichen gesehen. Sie kassierte für Essen und Trinken, erhielt ein gutes Trinkgeld, und ihr Lächeln wurde noch strahlender. »Ihr wollt heute noch weiter?« fragte sie. »Ja«, antwortete Marcus. »Wohin?«
»So weit, wie wir kommen. Wenn wir müde sind, schlafen wir in der Prärie und träumen von Indianern und Cowboys, die uns umreiten. Winnetou und Old Shatterhand werden uns besuchen und…« »Ohhh – sorry, wer sind Winnetou und Old Shatterhand?« »Kennst du sie nicht?« »Nein.« »Auch nicht den guten alten Karl May?« »No! Wer ist das schon wieder?« Marcus verdrehte die Augen. »Lassen wir das, es hat keinen Sinn. – Das Essen war toll.« »Freut mich. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.« »Ja, kann sein.« Marcus Richter griff nach seiner Jacke und stand auf. Auch Tina erhob sich von ihrem Stuhl und lächelte der Schwarzen zu. »Nette Leute hier, nicht?« »Habe ich doch immer gesagt.« Marcus legte einen Arm um die Schultern seiner Freundin. In dieser Haltung verließen die beiden die Raststätte am Rande des Highway und mußten tief durchatmen, als sie in die normale Luft hineintraten. Obwohl Kansas ein sehr weites Land war, wo der Wind kräftig über die von Horizont zu Horizont reichenden Weizenfelder blasen konnte, war von diesem kühlenden Wind nichts zu spüren. Es war warm, als käme der Wind direkt aus der Wüste. Der Himmel war noch nicht ganz dunkel. Die Sonne stand tief im Westen und verzauberte die Landschaft durch ihr Abendrot. Es war ein weiter, ein prächtiger Himmel, so wie auch das Land weit war. Allerdings war es auch leer, und diese Leere spürten beide, als sie auf ihren Wagen zugingen. Sie hatten sich den silberfarbenen Ford Camaro in New Orleans geliehen und waren mit dem Fahrzeug bisher sehr zufrieden gewesen. In L.A. würden sie ihn wieder abgeben und danach in das Flugzeug steigen, das sie nonstop in Richtung Heimat bringen würde. »Jetzt freue ich mich über die Klimaanlage im Wagen«, stöhnte Tina, als sie einstieg. »Das kannst du laut sagen.« Tina wartete, bis ihr Freund hinter dem Steuer saß, dann fragte sie: »Haben wir noch genügend Benzin?« »Haben wir.« »Ist genug zu trinken da?« »Ebenfalls.« Marcus drehte den Kopf nach rechts. »Sonst noch Wünsche, Madame?« »Nein, du kannst fahren.« »Wie nett – danke.« Tina streckte ihrem Fast-Verlobten noch die Zunge heraus, was er aber nicht sah, weil er sich auf das Fahren konzentrieren mußte.
Beide konnten sich wie die Pioniere fühlen. Die Fahrt führte sie nach Westen. Sie hatten noch eine weite Strecke vor sich, doch Müdigkeit kannten sie nicht. Dafür war das Land einfach zu faszinierend, und gerade im Staat Kansas, den sie durchquerten, konnten sie WesternGeschichte erleben. Städte wie Wichita, Dodge City oder Topeka erinnerten an die Epen der großen Revolverhelden wie die Earps oder an Graham Masterton. Auch Abilene war eine Stadt, deren Namen zumindest bei Marcus eine leichte Gänsehaut hinterließ, denn er war ein großer Western-Fan. Damals waren auch die Trecks durch Kansas gezogen. Da hatte das gelobte Land die Menschen gelockt. Bei Tina und Marcus war es ähnlich, denn auch für sie sollte Kalifornien der Grundstock für ihre gemeinsame Zukunft werden. Ihren Eltern hatten sie von den Plänen nichts gesagt, sie wollten beide Paare überraschen. Vor ihnen lag das Leben, dieses herrliche pralle Leben. Der Gedanke an den Tod kam ihnen nicht. Dabei lagen Tod und Leben oft dicht beieinander. Sie hatten den Parkplatz der Raststätte verlassen und waren wieder von der Weite des Landes verschluckt worden. Sie hatten Kansas City hinter sich gelassen, auch Topeka und Sahna, und sie hätten bis zur Westgrenze auf der breiten Interstate 70 bleiben können, aber das war beiden zu langweilig gewesen. Außerdem herrschte auf dieser Straße sehr viel Verkehr. Die meisten hatten es eilig, besonders die Trucker, die sich oft wahre Rennen lieferten und sich einen Sport daraus machten, sich vor der Highway Police zu verstecken oder sich bei ihren Rennen nicht erwischen zu lassen. Bei Salmas hatten sie die Interstate verlassen und waren auf einem Highway gelandet, der parallel führte. Sie würden mehr sehen können, die Berge genießen, durch die weiten Ebenen schauen, und es gab überall Motels oder Raststätten, in denen sie sich ausruhen konnten. Trotz der Einsamkeit fühlten sich beide nicht einsam, was auch daran liegen mochte, daß beide dieses Land liebten. Tina Berg hatte einen lokalen Sender eingestellt, der, wie sollte es anders sein, Country Music brachte, und Tina, die den Sitz zurückgestellt hatte, bewegte oft ihre Beine im Rhythmus der Gesänge. Sie lächelte vor sich hin. Es lag auch an diesem prächtigen Sonnenuntergang, der sich über den Bergen abzeichnete. Noch war der Himmel nicht dunkel, die Grautöne überwogen. Sie schimmerten in verschiedenen Farben, und dahinter stand das letzte Licht der Sonne, das erfolglos versuchte, die Schatten zu durchdringen. Sie seufzte. Marcus drehte den Kopf. »Hast du was?« »Nein.« »Warum hast du dann gestöhnt?«
Tina mußte lachen. »Das war kein Stöhnen, mein Lieber. Ich habe geseufzt und daran gedacht, wie herrlich das Leben doch sein kann.« *** Auch über der kleinen Kirche dämmerte es. Die Schatten zogen sich zusammen wie flache Wolken, die als Inseln über den Himmel schwammen. Der kleine Hügel nahm ebenfalls einen düsteren Schimmer an, und die struppigen Bäume tauchten in die Düsternis der Kirchenwand. Ab und zu wehte ein Windstoß über den Hügel. Er kratzte an dem alten Holzbau, er zerrte, er riß, er ließ hin und wieder etwas klappern und umheulte auch das Kreuz auf dem Dach. Die Kirche spendete keinen Trost. Tagsüber nicht und erst recht nicht in der Dämmerung, wenn sie all den Schrecken ausstrahlte, der sich in ihren Wänden verborgen hielt. Ein schmaler Weg wand sich den Hügel hoch. Er war von dornigem Gestrüpp flankiert und endete erst kurz vor der Eingangstür der Kirche. Manchmal war der Weg von einer Schicht aus rötlichem Staub bedeckt, und wenn der Wind besonders stark wehte, hob er den Staub wie eine Fahne in die Luft. Die Kirche sah so einsam, leer und verlassen aus. Sie stand auf dem Hügel, als wäre sie vergessen worden. Aber das war sie nicht. Die Menschen mochten sie vergessen haben, nicht aber derjenige, der sie sich als seinen Platz ausgesucht hatte. Er befand sich innerhalb der Wände. Man sah und hörte ihn nur nicht. Er hielt sich versteckt und verließ die Kirche nur zu bestimmten Zeitpunkten. Wenn er jedoch unterwegs war, dann setzte er auch seine Zeichen, und das würde er in der folgenden Nacht auch wieder tun. Ein naher Beobachter hätte ihn schon sehen können. Allerdings nur als einen schwachen Umriß, der sich an den Fenstern vorbeibewegte, als stünde er unter einer ungeheuren Anspannung. Immer wieder blieb er am Fenster stehen und schaute hinaus in die anbrechende Dunkelheit. Er wollte einen bestimmten Zeitpunkt abwarten und sein Versteck dann erst verlassen. Die Luft war klar. Weder Dunst noch Nebelstreifen nahmen ihm die Sicht, wenn er durch das obere Fenster weit hinein in das Land schaute. Die Berge in der Ferne interessierten ihn nicht. Sie standen da wie klotzige Aufpasser und glühten tagsüber in der Sonne. In der Nacht wurden sie dunkel und fremd wie schlafende Riesen, die auf eine Ebene schauten und auf ein Band, das diese Ebene durchschnitt. Es war wie ein Streifen, über den hin und wieder Wesen mit zwei hellen Augen huschten. Es war der Highway.
Tag und Nacht befahren, in der Nacht weniger. Er führte durch ein von der Formation her unterschiedliches Gelände, senkte sich mal in Täler hinein und führte auch über Hügel hinweg, wie eine sich in die Unendlichkeit erstreckende Sinuskurve. Sein Jagdrevier. Auch in dieser Nacht. Der Schatten am oberen Fenster verschwand. Es dauerte nicht sehr lange, bis sich die Tür bewegte. Sie schwang sehr langsam nach innen und hinterließ dabei ein leises Knarren. Dann zeichnete sich die Gestalt im offenen Ausschnitt ab. Groß, dunkel, drohend und breitbeinig stehend, wie ein Westernheld, der bereit war, seine Waffe zu ziehen. Die Gestalt öffnete den Mund. Sie schmeckte die Luft, prüfte sie, sie roch den Staub, aber sie roch auch das nahe Blut. Die Tür schwang zu. Die Gestalt ging einen Schritt nach vorn. Von nun an war Sheriff Tod wieder auf Beutezug! *** »Fahrn, fahrn, fahrn, auf der Autobahn«, sang Tina einen alten deutschen Schlager vor sich hin, und sie sah, wie ihr Freund den Kopf schüttelte. »Wir fahren nicht auf der Autobahn zwischen Köln und Frankfurt, wir sind hier auf dem Highway, mitten in Kansas, huschen wie Gespenster durch die Nacht und fressen Meile um Meile. Ist das nicht toll?« Er drehte ihr den Kopf zu, grinste, und im Licht der Armaturenbeleuchtung hatte sein Gesicht einen grünlichen Schimmer bekommen, so daß Tina erschreckte, weil sie für einen Moment an einen Totenschädel gedacht hatte. Marcus hatte dies wohl bemerkt. »He, was schaust du mich so an?« »Nichts.« »Doch.« »Okay, du hast recht.« »Womit?« »Mit dem Highway.« »Klar habe ich das. Dreh mal am Sendersuchlauf. Du kriegst hier weder den SWF 3 noch Hessen 3. Aber dafür hören wir John Denver und Johnny Cash, wann immer du willst.« Er lachte und schlug mit den Handflächen gegen den Lenkradring. »Von so etwas habe ich schon lange geträumt. Hier in den Staaten durch den Westen zu fahren und mir dabei vorzustellen, ich säße auf einem alten Planwagen, der mich nach Kalifornien schaukelt, durch Wüsten, Flüsse und über Berge, immer die
Gefahr im Nacken, nicht wissend, ob die Indianer nun angreifen oder nicht. Das ist doch einfach super, ist das.« Tina zeigte wenig Verständnis für die Träumereien ihres Freundes. »Vergiß nie, daß es die Weißen waren, die den Indianern das Land nahmen. Die haben sich nur gewehrt.« »Ist mir klar. Aber trotzdem finde ich es romantisch. Schau nur nach vorn, selbst bei der Dunkelheit ist die Unendlichkeit der Landschaft zu sehen. Ich habe das Gefühl, daß sie fließt, daß sie immer in Bewegung ist und sich allmählich dem Horizont nähert, während dieser immer weiter zurückweicht, weil es ihn ja eigentlich nicht gibt.« »Na ja…«, murmelte Tina. »Kannst du nicht nachvollziehen, wie?« »Nein.« »Was denkst du denn?« Sie reckte sich und stellte die Musik etwas leiser, weil sie nicht so laut sprechen wollte. »Ich finde Amerika auch toll, aber nicht bei Dunkelheit.« »Was hast du gegen die Nacht, Tina? Sie gehört ebenso zum Leben wie der Tag.« »Es mag daran liegen, daß ich friere.« »Dann stell die Anlage an deiner Seite höher, und alles ist wieder in Ordnung.« »Herrlich, du bist so praktisch.« »Wie soll ich das denn wieder verstehen?« Tina überlegte sich die Antwort genau, weil es schwer war, ihr Gefühl in Worte zu fassen. »Weißt du, es ist bei mir kein körperliches Frieren, das ist etwas ganz anderes. Ich kann es dir schlecht erklären, es dringt aus meinem Innern hervor, aus meiner Seele, wenn du so willst. Kannst du das nachvollziehen?« »Nein.« »Eben.« »Was heißt eben?« »Ich fühle mich unwohl.« Der junge Mann ging vom Gas. »Unwohl?« murmelte er. »Kannst du mir einen Grund nennen? Wirst du krank, oder hast du das Gefühl, daß etwas nicht mit dir stimmt?« »So kann man es auch nicht sagen.« »Dann bin ich ja beruhigt. Ich kann mich nur daran erinnern, daß du dich in der Raststätte noch sehr wohl gefühlt hast. Wie kam es zu diesem Umschwung?« »Das weiß ich selbst nicht. Vielleicht liegt es auch an der Dunkelheit, die uns umgibt.« Marcus runzelte die Stirn. »Das versteh ich überhaupt nicht. Wenn man dich so hört, kann man das Gefühl haben, es wäre die erste Nacht, die du hier in der Fremde erlebst.«
Tina überlegte eine Weile. Dann sagte sie. »Du hast recht, wenn du von einer Fremde sprichst. Marcus, ich fühle mich fremd. Ich fühle mich in diesem Land so verdammt fremd.« Ihre Stimme klang gepreßt. »Ich weiß auch nicht, was es genau ist. Ich kann es dir nicht erklären, aber ich weiß, daß es mir seit unserer Abfahrt von der Raststätte so ergeht, und ich kann nichts dagegen tun.« Marcus Richter versuchte, sachlich zu bleiben. »Tina, das ist nicht anders als in den Nächten zuvor. Da war die Nacht auch so dunkel, da haben wir dieselben Sterne gesehen, den wulstigen Mond. Schau hinaus, nichts hat sich verändert, wirklich nichts.« »Das weiß ich auch.« »Na bitte.« »Und trotzdem will dieses Gefühl nicht verschwinden. Ich sitze hier und zittere. Ich schaue durch die Scheibe, sehe die Dunkelheit, mal die Lichter der anderen Fahrzeuge, mal die Veränderung in der Landschaft, wenn die Berge näher an den Highway heranwachsen. Ich sehe alles, sage mir, daß es normal ist, aber gleichzeitig baut sich vor mir eine riesige schwarze Wand auf.« »Das sind Berge.« »Du verstehst mich nicht, Marcus. Es sind keine Berge in dem Sinne. Es ist eine schwarze Psycho-Wand. Ich habe einfach Angst.« »Okay.« Er nickte. »Du hast Angst. Das verstehe ich, das war klar und deutlich. Jetzt mußt du mir nur noch sagen, vor wem du denn so eine verfluchte Angst hast.« »Davor, daß uns etwas passiert.« Er schwieg. Das paßte Tina auch nicht. »Jetzt hältst du mich für verrückt, aber mein Gefühl sagt mir einfach, daß in dieser Nacht etwas nicht geheuer ist. Daher stammt auch das innerliche Frieren. Es ist eine Bedrohung, die sich immer näher heranschiebt, je weiter wir nach Westen fahren, und wir können ihr nicht entgehen. Etwas Schreckliches ist unterwegs und kommt auf uns zu.« »Was denn?« »Wenn ich das wüßte!« schrie sie und preßte ihre Hände vor das Gesicht. »Mein Gott, wenn ich das wüßte.« »Es gibt keinen Grund«, murmelte er. Sie hob nur die Schultern. Schweigend setzten sie die Fahrt fort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Hin und wieder knirschte Marcus mit den Zähnen. Er wäre gern schneller gefahren, doch er hütete sich davor, das Tempolimit zu sehr zu überschreiten. Die Männer von der Highway Patrol lauerten überall auf Raser. Sie warteten nur darauf, daß ihnen jemand in die Falle ging, ob Tourist oder Einheimischer. Mittlerweile mußte es sich auch in Europa
herumgesprochen haben, wie streng die amerikanischen Gesetze waren. Im Vergleich zur Interstate herrschte auf dem Highway weniger Betrieb. Das Land war unendlich. Und gerade in der Dunkelheit schien es noch schlimmer zu sein. Die Nacht machte alle gleich, und Marcus, der sich umschaute, konnte beim besten Willen keine Gefahr entdecken. Natürlich machte auch er sich Sorgen darüber, wie es mit Tina weitergehen sollte. Noch war die Tageswende nicht erreicht. Vielleicht war es ja besser, wenn sie an der nächsten Raststätte hielten und sich dort die Nacht über einquartierten. Tina war blaß geworden. Sie saß zusammengesunken in ihrem Sitz und starrte vor sich hin. Hin und wieder räusperte sie sich, bewegte unruhig die Hände oder zog die Beine an, um sie dann wieder auszustrecken. »Sollen wir in einem Motel übernachten?« »Bitte?« Marcus wiederholte die Frage. »Warum?« »Dann wird es dir vielleicht besser gehen. Das ist ja auch nichts, wenn du so neben mir sitzt wie eine Puppe und nicht wie ein normaler Mensch. Da mache ich mir auch Gedanken. Wenn wir in einem dieser Motels absteigen, können wir uns einige Stunden Ruhe gönnen.« Das Mädchen dachte über den Vorschlag nach und fragte: »Wann erreichen wir denn das nächste?« »Wir erreichen bald den Wilson Lake. Da können wir abfahren und uns in einem der kleinen Orte etwas suchen.« »Das wäre nicht schlecht.« Er lächelte. »Na, wunderbar. Wer sagt denn, daß wir nicht flexibel sind?« »Ach Marcus«, sagte sie und legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel. »Du bist lieb, du bist ehrlich lieb.« »Das gehört dazu.« »Okay, im nächsten Ort.« »Abgemacht.« Er stellte das Radio wieder lauter und warf dabei einen Blick auf seine Freundin, die zwar entspannter wirkte, aber trotzdem nicht wieder voll da war. Ein derartiges Verhalten war er von Tina nicht gewohnt, und auch er mußte mit dieser Veränderung zunächst einmal zurechtkommen. Er suchte nach einem Grund, der sie ablenkte, und er fand auch einen. »Wenn du unbedingt etwas tun willst, um dich abzulenken, dann hol dir die Karte und schau mal nach, wann wir abfahren müssen. Ich denke, daß es nicht mehr so weit sein kann.« Tina nickte. Sie öffnete das Handschuhfach, wollte hineingreifen, aber mitten in der Bewegung stockte ihre Hand. Sie hatte etwas gesehen, das im Rückspiegel erschienen war. Ein flackerndes Rotlicht… Das Wimmern einer Sirene hörte sie nicht. Der Polizeiwagen fuhr nur mit dem Licht hinter ihnen her, und er holte rasch auf.
Auch Marcus war das Auto aufgefallen. »Komisch«, murmelte er, »was will der denn?« Von Tina erhielt er keine Antwort. Verkrampft saß sie auf dem Beifahrersitz und schluckte. Sie atmete flach durch die Nase. Ihre Augen bewegten sich, und Panik zeichnete dabei ihren Blick. »Mir ist so kalt.« »Keine Sorge, das vergeht wieder.« »Der Wagen hinter uns…« »Kann uns nicht meinen, Tina. Ich habe mich an das Tempolimit gehalten.« »Er macht mir trotzdem Angst. Der holt auch auf.« »Und wird vorbeifahren.« Uberzeugt klang die Antwort nicht, denn auch Marcus war beunruhigt. Es gab wohl kaum einen Menschen, der cool blieb, wenn er von einem Polizeiwagen verfolgt wurde. Das war überall auf der Welt gleich. Er ließ ihn nicht aus den Augen, war natürlich noch langsamer gefahren und stellte auch wie nebenbei fest, daß außer ihnen und der Highway Police niemand in diesem Abschnitt unterwegs war. Für einen Moment schaltete er das Fernlicht ein. Der helle Teppich glitt über die Straße hinweg und zeigte ihm, daß die Fahrbahn wieder bergauf führte, während sich an der linken Seite eine beinahe schon als Wand zu bezeichnende Böschung herandrängte, die auch mit Strauchwerk bewachsen war. Tina drehte sich um. Der andere Wagen hatte sie fast erreicht. Nur noch wenige Meter, dann befand er sich mit ihnen auf gleicher Höhe. Das Mädchen konnte nicht erkennen, wer hinter dem Lenkrad saß. Die Scheiben waren dunkel, die Beleuchtung wirkte wie von Geistern produziert, und obwohl am Fahrzeug einige Chromteile glitzerten, kam es Tina vor wie ein dunkles Gespenst. In ihrer Kehle wurde es noch trockener, sie atmete nur durch die Nase, und sie bemerkte den Angstschweiß auf ihren Handflächen. Der Wagen überholte sie. Sein Licht streute vom Dach her auch in ihren Wagen. Dort drehten sich zwei Rotlichter, und für wenige Augenblicke kam es Tina vor, als wären in ihren Camaro aus den Hügeln gekommen Geister getaucht. Dann war der andere vorbei. Aber dabei blieb es nicht. Sie wurden aufgefordert, dem Wagen zu folgen, und Marcus knirschte mit den Zähnen. »Verdammt noch mal, der meint tatsächlich uns.« Tina flüsterte: »Und was tun wir jetzt?« »Ihm gehorchen. Ich bin mir keiner Schuld bewußt. Wir sind wirklich nicht zu schnell gefahren.« Der junge Mann bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Es ist wahrscheinlich nur eine allgemeine Überprüfung, und da brauchen wir kein schlechtes Gewissen zu haben.«
Tina hatte trotzdem eines. Ihre Angst war verstärkt zurückgekehrt. Nur mühsam hielt sie sich aufrecht und klammerte sich am Haltegriff fest. Weit brauchten sie dem Wagen nicht zu folgen. Das linke Blinklicht flackerte, und wenig später rollte der Wagen auf einen schmalen Rastplatz, und die jungen Leute folgten ihm. »Jetzt sitzen wir in der Falle!« flüsterte Tina. »Unsinn.« »Doch, wir sitzen fest. Wir sind ihm ausgeliefert. Unsere Chance ist so gering. Wir sind hier fremd, aber er kennt sich aus.« »Er ist immerhin ein Polizist.« »Das hat nichts zu bedeuten.« »Doch.« Marcus trat auf die Bremse, weil auch der Wagen der Highway Police angehalten hatte. Kaum war das geschehen, da verloschen an ihm schlagartig alle Lichter. Auch die Scheinwerfer gaben keine Helligkeit mehr ab, für die beiden jungen Deutschen hatte es ausgesehen, als hätte jemand eine Decke über dem Fahrzeug ausgebreitet. Stille… Sekundenlang hörten sie nur ihren eigenen Atem. Auch das Radio hatten sie ausgeschaltet, aber die Fenster noch geschlossen gehalten. Sie starrten beide nach vorn und warteten darauf, daß der Polizist oder die Polizisten die Türen öffneten. Die Tür an der Fahrerseite schwang auf, der Polizist stieg aus und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Mein Gott, ist der groß!« flüsterte Tina. Ihr Freund staunte und schwieg. Die Gestalt trug einen weichen Hut auf dem Kopf, nicht zu vergleichen mit dem eines Texaners, weil kleiner. Über der Krempe vorn schimmerte das Abzeichen der Kansas Patrol, und die Farbe der Uniform war wegen der Dunkelheit nicht genau zu erkennen. Sie war aber nicht sehr hell, und überhaupt wirkte dieser Mann sehr düster. Das mochte auch an der dunklen Brille liegen, die er auch jetzt nicht abgenommen hatte. Er zupfte seine Kleidung zurecht. Er gab sich dabei wie ein Schauspieler, der darauf lauert, wie er auf der Bühne wirkt und sich beobachten läßt. Auch seinen Hut rückte er noch einmal zurecht, wobei er mit den Fingerkuppen die Krempe nachmalte. Erst dann war er zufrieden. Er setzte sich in Bewegung. Es kam den beiden vor, als wäre er regelrecht gestartet worden. Als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt, der bei dem anderen ein Signal bewirkt hatte. Auf dem Hemd schimmerte das Metall eines Sheriffsterns, und Marcus, der sich beinahe fühlen konnte wie in seinen Western, vergaß die Romane.
»Der ist mir nicht geheuer«, sagte Tina leise. Ihr Freund nickte nur. Er wollte ihr nicht mit Worten zustimmen, um sie nicht noch mehr zu ängstigen, aber sie hatte im Prinzip recht. Geheuer war ihnen dieser Sheriff nicht, der langsam auf ihren Camaro zukam und dabei wirkte wie der fleischgewordene Tod. Marcus Richter erschrak selbst über diesen Gedanken, und plötzlich fror auch er. Er durfte sich keine Blöße zeigen, mußte sich wegen Tina zusammenreißen, um sie nicht noch stärker zu beunruhigen. Für ihn war dieser Halt auch nicht normal, zudem er sich nicht vorstellen konnte, was sie falsch gemacht hatten. Und dieser Sheriff wirkte auf ihn ebenfalls nicht normal. Er war wie eine schlimme Figur, die aus einer anderen Zeit herübergekommen war und nur versuchsweise in dieser Welt lebte. »Wir sollten fahren!« sagte Tina plötzlich. »Bitte? Abhauen?« »Ja?« »Warum?« »Dieser Mann ist der Tod, Marcus.« Sie brachte die Worte ächzend hervor. »Er ist ein Killer, ein Mörder auf zwei Beinen. Er ist der Grund meiner Angst.« Marcus Richter wußte nicht, was er unternehmen sollte. Blieb er, konnte es falsch sein, startete er durch, würden sie die Hölle erleben. Der bewußt langsam gehende Sheriff war für ihn kein Mensch, sondern zählte schon zu der Kategorie Monster. Ja, ein Monster, ein schreckliches Wesen auf zwei Beinen, das wie ferngesteuert wirkte. »O Gott, jetzt ist es zu spät!« flüsterte Tina und faltete die Hände wie zum Gebet zusammen. Sie hatte recht. Dieser Sheriff befand sich schon in Höhe der Motorhaube des Camaro. Seine Bewegungen waren lässiger geworden, er ging schlenkernd weiter, um die Fahrertür zu erreichen. »Nicht öffnen!« flüsterte Tina. »Keine Sorge.« Marcus hatte die Antwort gekrächzt. Dann räusperte er sich und ließ die Scheibe nach unten surren. Wieder drang ihnen die warme Luft entgegen, doch darum kümmerten sie sich nicht. Wichtig war dieser verfluchte Sheriff, der sich zur Seitenscheibe bückte. Tina hatte es eigentlich nicht gewollt, aber sie beugte sich zur Seite, um ebenfalls mehr von dieser Gestalt zu sehen, obwohl sie von ihr abgestoßen wurde. Beide sahen nur das Gesicht, aber das reichte ihnen aus, um einen nicht gerade gelinden Schreck zu bekommen. Es war ein menschliches Gesicht, das stimmte. Und trotzdem war es ein Gesicht, das aussah, als bestünde es nicht aus der normalen Haut. Dazu war es einfach zu glatt. Dieses Gesicht war eine Larve, als hätte sich der Sheriff eine hauchdünne Maske über seine normalen Züge gestreift. Es
gab keine Falten, keine Pickel, es gab eigentlich nichts, was diese Haut menschlich machte. Sie war zu glatt, und sie sah einfach künstlich aus. Die Augen waren nicht zu erkennen, weil die dunklen Gläser der Brille sie verdeckten. Zudem bestand diese Brille aus spiegelndem Glas, und beide konnten sich vorstellen, daß hinter diesen Gläsern etwas Künstliches oder Schreckliches lauerte. Möglicherweise sogar künstliche Augen wie ein Roboter. Der Sheriff hatte noch kein Wort gesprochen, und auch den beiden Deutschen saß der Hals zu. Er sprach auch weiterhin nicht, aber trotzdem trat bei ihm eine Veränderung ein, die Tina und Marcus fassungslos und zu Opfern der Angst machte. Es begann an, in oder auf den Gläsern der Brille. Wo genau, das war für sie nicht zu erkennen, aber innerhalb des Glases tat sich etwas, denn die Bewegung war da. Zuerst machte das Glas den Eindruck, als würde es dahinschmelzen, dann kam es den starren Zuschauern vor, als wäre die dünne Schicht von Wolken durchzogen. Sollten es Wolken sein, so änderten sie ihren Zustand, denn aus ihnen hervor bildete sich etwas Festes, zwei völlig identische Bilder, die so unwahrscheinlich waren, daß die Deutschen es kaum glauben konnten. Trotzdem starrten sie hin. Und der Beweis blieb. In den Gläsern der Brille zeichneten sich zwei bleiche und gleichzeitig bläulich schimmernde Totenschädel ab! *** Das war kein Spiel mehr, das war grausamer und lebensgefährlicher Ernst. Davon ging Tina ebenso aus wie ihr Freund Marcus. Das Erscheinen der Knochenschädel innerhalb der Brillengläser war für sie der erste Hinweis auf den Tod. Sie konnten nicht sprechen. Sie hockten wie angeleimt auf ihren Sitzen. Auch wenn sie versucht hätten, sich zu bewegen, es wäre ihnen nicht möglich gewesen. Dieser Sheriff strahlte etwas aus, das sie noch nie erlebt hatten, das so grauenhaft war wie sonst nichts in ihrem Leben. Und sie zitterten um ihr Leben. Der Mund bildete in dem glatten Gesicht nicht mehr als zwei Striche, die aufeinander lagen. Das Kinn, ebenfalls glatt, stand kantig vor, und plötzlich öffneten sich die beiden Striche. Die Deutschen rechneten damit, daß der andere etwas sagen würde, aber nur ein Zischen verließ die Kehle dieses menschlichen Monstrums. Selbst dieses normal klingende Geräusch verstärkte die Furcht in ihnen noch und verwandelte sie in eine regelrechte Phobie. Sie standen auf der Schwelle des Todes, und dicht dahinter lauerte der Sensenmann.
Mit einem heftigen Ruck zerrte er die Fahrertür auf. Tina schrie leise auf. Sie drückte sich zur anderen Seite zurück und sah die Hand des Sheriffs wie ein künstliches Gebilde in den Wagen kriechen, über den Schoß ihres Freundes hinweg, wobei die Finger die rote Drucktaste suchten, um den Gurt zu lösen. Eine geringe Bewegung schon reichte aus, und der Gurt huschte an Marcus’ Körper hoch. Jetzt war er frei. Zwei Hände griffen zu. Sie waren wie die Klauen eines Monsters. Die erste Hand erwischte die Haare des jungen Mannes, die zweite umklammerte seine Schulter, und beide schafften es, den jetzt Schreienden aus dem Camaro zu zerren. »Marcus!« brüllte Tina. Sie streckte ihre Arme aus, um den Freund festzuhalten, die Hände griffen ins Leere, dieser Sheriff war einfach zu schnell und zu kräftig gewesen. Er hatte sein Opfer aus dem Fahrzeug hervorgeholt und wuchtete es herum. Wie ein Stück Abfall wurde Marcus Richter zu Boden geschleudert, wo er hart aufprallte und erst liegenblieb, als er sich dabei überschlagen hatte. Tina wollte es nicht glauben. Sie dachte daran, sich in einem Alptraum zu befinden. In ihrem Kopf hörte sie schrille Stimmen, die sie noch nie zuvor mitbekommen hatte. Sie waren einfach da, wie der Gesang grausamer Sirenen. Sie wußte nicht, was es war, die Welt war für sie verengt worden, und sie wußte sehr wohl, daß der andere stärker war als sie und ihr Freund zusammen. Der Sheriff stand gebückt an der anderen Wagenseite, als wollte er seinen nächsten Schritt noch überlegen. Auf dem Boden lag Marcus, ohne sich zu rühren. Tina saß noch im Auto, war jetzt nicht mehr angeschnallt und somit relativ frei. Durch ihren Kopf zuckten die Gedanken wie Blitze. Sie mußte weg, wenn sie noch eine Chance haben wollte. Sie konnte nicht bleiben, es war einfach unmöglich. Wenn sie ebenfalls in die Gewalt dieses Monstrums geriet, gab es keinen, der noch etwas unternehmen konnte. Also raus aus dem Wagen. Tina stieß die Tür auf. Was sie in den folgenden Sekunden tat, das überriß sie kaum, denn ihr Gehirn sandte ihr die einzelnen Befehle nicht zu, sie handelte einzig und allein nur reflexhaft, und sie stürmte ins Freie. Wohin, das wußte sie selbst nicht. Aber ihr Instinkt sagte ihr, daß sie auf den Highway mußte, denn nur dort bestand die Spur einer Chance, Hilfe zu bekommen. Er war zwar wenig befahren, aber eine Pechsträhne ging auch mal zu Ende, und wenn sie sich mitten auf die Straße stellte, dabei mit beiden Armen winkte, würde sie sicherlich in den Bereich eines
Scheinwerferpaars geraten, und welcher Fahrer überfuhr schon eine winkende Frau. Diese Gedanken huschten durch ihren Kopf, ohne daß sie es richtig gewollt hätte. Aber sie wußte genau, wo der Highway ^ag. Zum Parkplatz hin war er durch einen dichten Buschgürtel geschützt. Das mochte normalerweise zwar gut sein, weil er die Geräusche der nahen Straße abhielt, für Tina aber baute sich da ein Hindernis auf, das sie nur sehr schwer überwinden konnte, und sie würde sich erst durch dieses Hindernis hindurchkämpfen müssen. Egal, es gab keinen anderen Weg. Wie ein Rammbock warf sie sich gegen die starren, harten, manchmal auch dornigen Zweige. Sie fühlte sich dabei von zahlreichen Händen umklammert, die sie immer wieder zurückzerren wollten, aber Tina hatte die panische Angst auf der anderen Seite auch stark gemacht. Deshalb gab sie nicht auf, deshalb hetzte sie weiter und bahnte sich mit beiden Armen einen Weg. Sie hörte und sah nichts. Sie war einzig und allein auf sich selbst konzentriert. Etwas peitschte gegen ihr Gesicht. Sie duckte sich, schloß die Augen, kämpfte sich weiter voran, denn wenn sie aufgab, war sie verloren. Wieder erwischte sie eine starre Hand. Diesmal allerdings an der Schulter, und diesmal war sie auch echt. Tina erstarrte. Sie kam nicht mehr weiter, obwohl sie die Füße bewegte. Sie glich einer Tanzmaus auf einem sich drehenden Rad, die sich trotzdem immer auf der Stelle bewegte. Das Lachen war schaurig. Die Hand griff härter zu. »Neiiiinnnn…!« Der Schrei war vergebens. Hinter ihr stand der Sheriff, und er kannte kein Pardon. Er holte sie. Seine Kräfte waren schon übermenschlich. Es machte ihm nichts aus, den Körper mit einer Hand anzuheben, und als er dann über den Boden schwebte, da drehte er ihn wuchtig um. Plötzlich starrte Tina gegen die Brille mit den beiden häßlichen Totenschädeln. Wieder hörte sie das Lachen. Ihre Arme fanden nicht mehr die Kraft, in die Höhe zu fahren, um dann mit den Fäusten in das Gesicht zu schlagen. Der Sheriff schleuderte sie herum. Wie ein hart geworfenes Stück Holz durchbrach Tina Berg den Gestrüppgürtel. Seine Zweige waren längst nicht so fest und widerstandsfähig, als daß sie den Körper hätten aufhalten können, aber sie schwächten den Schwung zumindest ab, so war der Aufprall nicht ganz so hart, als sie rücklings auf den harten Untergrund schlug und dort liegenblieb.
Es kam der Zeitpunkt, wo ihr vieles egal war. Noch spürte sie den Schmerz des Aufpralls im Hinterkopf, aber das spielte plötzlich keine Rolle mehr. Sie wollte wegfliegen, sich lösen, einfach so tun, als wäre sie wieder in Deutschland. Bis sie Schritte hörte. Hart und unnachgiebig trat derjenige auf. So ging nur jemand, der sich seines Ziels und Erfolges sehr sicher war. Sheriff Tod kam auf sie zu, und er hielt den Kopf gesenkt, um die am Boden liegende junge Frau hinter den Gläsern seiner Brille anstarren zu können. Tina konnte nicht mehr sprechen oder flehen. Sie sah nur ihn. Er kam näher und blieb erst stehen, bis er sie fast erreicht hatte. Dann bückte er sich und streckte ihr gleichzeitig die rechte Hand entgegen. Mit einer lockeren Bewegung zerrte er sie hoch. Tina versteifte, sie hatte sich schwer gemacht, das aber kümmerte dieses menschliche Monstrum nicht. Er stellte sie hin. Er. umklammerte sie mit einem Arm und rückte sie herum, damit sie gegen seinen Wagen schauen konnte. Das war sein Ziel, und sie sollte mitgenommen werden. Die kalte Angst hatte das Blickfeld der jungen Deutschen eingeschränkt. Dennoch sah sie die Bewegung nicht weit vom Fahrzeug des Sheriffs entfernt. Marcus erhob sich. Er hatte den ersten Angriff überwunden und starrte die anderen beiden an. Der Sheriff kümmerte sich nicht um ihn. Er trug Tina wie ein Paket auf sein Fahrzeug zu. Das sah auch Marcus. Ein tiefes Stöhnen drang aus seinem Mund. Genau dieses Geräusch hörte auch Tina. Plötzlich riß die Blockade in ihr auf. Sie öffnete die Augen, sah Marcus, und sie konnte den Schrei nicht unterdrücken, in den sich der Name ihres Freundes mischte. Genau der peitschte den Widerstand des Deutschen wieder in die Höhe. Er konnte nicht zulassen, daß dieses verfluchte Monstrum seine Tina entführte und weiß Gott was alles mit ihr anstellte. Er mußte etwas tun, er mußte sie retten, und aus seinem offenen Mund drang ein Laut, in dem sich der Schrei der Wut mit dem der Verzweiflung mischten. Dann stürmte er vor. Der Schrei war so etwas wie ein Startsignal für ihn gewesen, und er hatte auch den Sheriff alarmiert. Der blieb stehen. Doch nur für einen kurzen Moment, bis Marcus ihn fast erreicht hatte. Und als der junge Mann ihn ansprang, da bewies der Sheriff, wozu er fähig war. Er hatte nur eine Hand frei, die aber reichte aus, um zuzuschlagen. Die Faust erwischte das Gesicht des Deutschen, und Marcus spürte einen
Schmerz wie nie zuvor in seinem Gesicht. Man schien ihm das Gesicht vom Kopf weggerissen zu haben. Die Welt um ihn herum wurde zu einer schwammigen grauen Masse. Er konnte nicht mehr sehen, er konnte nichts mehr riechen oder fühlen. Er brach zusammen. Vor den Füßen des Sheriffs blieb er liegen, der sich nicht um ihn kümmerte. Er schleppte die wieder starr gewordene Tina zum Wagen und schlug auch bei ihr zu. Der Treffer reichte aus, um sie bewußtlos werden zu lassen. Schlaff hing sie im Griff dieser monströsen Gestalt, die keine Zeit mehr verlor, sondern den leblosen Körper in den Fond des Streifenwagens stopfte. Bevor er sich um Marcus Richter kümmerte, drückte er noch die Türen des Camaro zu, dann hob er auch den Körper des jungen Mannes hoch, ohne sich um dessen Gesichtsverletzungen zu kümmern. Er stopfte auch ihn in den Fond seines Streifenwagens. Danach hatte er es eilig, sehr eilig sogar. Ohne die Scheinwerfer einzuschalten, fuhr er bis zur Auffahrt des Highways. Erst dort machte er Licht, bog nach links ein und gab ein Stöhnen von sich, als er auf der rechten Fahrbahnseite weiterhuschte. Erst jetzt fühlte er sich wieder wohl. Und er würde sich bald noch viel, viel besser fühlen, denn er würde seine Sammlung um zwei neue Opfer bereichern… *** Ich kam mir ziemlich verloren vor, als ich im Flughafen von Topeka stand und mich umschaute. Dabei hatte mir Abe Douglas, ein FBI-Freund aus New York, versprochen, daß mich jemand abholen würde, und er hatte dabei sogar noch gegrinst. Wie es aussah, war niemand gekommen. Da ich manchmal ein geduldiger Mensch bin, wollte ich noch eine Viertelstunde warten und danach nächste Schritte überlegen. Im Vergleich zu den internationalen Flughäfen wirkte dieser hier in Topeka geradezu gemütlich. Klar, Topeka liegt in Kansas, und diese Stadt war für die Menschen aus den Großstädten und Ballungszentren an Ost- und Westküste die reinste Provinz. Hier brauchte man auch keine Angst zu haben, daß der Koffer, den der Reisende neben sich gestellt hatte, durch einen flinken Dieb gestohlen wurde. Trotz der modernen Technik roch es in Topeka irgendwie nach dem > Wilden Western, zumindest bildete ich mir das ein. Die Schalter der einzelnen Fluggesellschaften reihten sich aneinander. Ich konnte durch große Scheiben hinaus auf das Rollfeld schauen, das von der Sonne beschienen wurde, und ich sah die fernen Grate der Berge in einem blaßblauen Dunst liegen.
Sehr nett hier, das gab ich ja zu. Aber ich war nicht gekommen, um von Topeka aus eine Reise durch den Westen zu starten. Schließlich ging es um rätselhafte und knallharte Verbrechen, bei denen die örtliche Polizei vor einem Rätsel stand und den Fall an eine andere Dienststelle – sprich FBI – abgegeben hatte. Nach Auswertung aller Spuren war man zu dem Ergebnis gekommen, daß man einem Phantom nachjagte oder, wie es Abe Douglas formuliert hatte, einem lebenden Toten, denn diesen Mörder durfte es einfach nicht mehr geben. Er war tot, vergessen, begraben – oder nicht? Wie nebenbei sollte ich auch das Verschwinden von zehn Menschen aufklären. Nicht allein, mit einer Hilfe, aber auf die wartete ich noch immer. Sosehr ich mich auch umschaute, die Menschen in der Halle interessierten sich nicht für mich. Sie sahen fast alle aus wie Einheimische und waren auch so gekleidet, oft genug in einem Western-Outfit, wenn ich mir die Hüte betrachtete. Hatte man mich vergessen? Nein, man hatte nicht, denn plötzlich hörte ich dicht hinter mir eine Frauenstimme. »John Sinclair?« Ich drehte mich um. Ein lächelnder und kaum geschminkter Mund, der zu einem runden Gesicht mit hellwachen Augen gehörte, schaute mich an. Dazu paßten das rötlichbraune, kurz und modern geschnittene Haar, das gelbe Sommerkostüm und das schwarze T-Shirt. Eine Hand streckte sich mir entgegen, die ich nahm und den festen Druck spürte. »Mein Name ist Doreen Pratt, aber Sie können Doreen zu mir sagen, John. Willkommen in Kansas! Willkommen in der Provinz!« »O danke.« Ich nickte. »Himmel, ich dachte schon, man hätte mich vergessen.« Doreen lachte. »Nein, das nicht, aber auch in der Provinz gibt es hin und wieder Verkehrsprobleme.« »Da bin ich beruhigt.« »Möchten Sie meinen Ausweis sehen, meine Dienstmarke…?« »Ich denke nicht, Doreen. Sie sind okay.« »Danke.« »Und wo sollen wir reden?« »Kommen Sie mit, John.« Hei, diese Frau war eine forsche Person, die paßte in diese Welt. Darauf, daß sie die Probleme immer direkt anging, deuteten auch ihre Bewegungen hin, denn sie ging mit forschen Schritten vor mir her, so daß ich Mühe hatte, dranzubleiben. Wir setzten uns in kein AirportBistro, sondern verließen das Gelände durch einen Nebenausgang. Bis zu den Parkplätzen war es nicht mehr weit und auch nicht bis zu dem feuerroten Ford Mustang, auf den Doreen zeigte. »Mein Wagen.«
Ich zeigte ein anerkennendes Nicken. »Man scheint beim FBI ja viel zu verdienen.« »Ich habe den Flitzer gebraucht gekauft, und er hat immerhin mehr als achtzigtausend auf dem Buckel.« »Das sieht man ihm nicht an.« »So hat es auch sein sollen, John.« Die flotte Doreen nahm hinter dem Lenkrad Platz, schnallte sich an und strich mit beiden Händen durch ihr Haar. Dabei hörte sie meine Frage. »Wo soll es denn hingehen?« »In Ihr Hotel.« »Gut, und dann?« »Sehen wir weiter. Dort können wir zumindest reden. Ich wohne auch dort und habe die Unterlagen aus dem Büro mitgenommen. Man hat uns die Chance gegeben, allein zu zweit arbeiten zu können. Wie das passierte, ist mir ein Rätsel, aber Sie scheinen einen gewissen Ruf zu haben, der sogar bis weit nach oben gedrungen ist, denn man hat uns freie Hand gegeben. Wenn Sie möchten, können Sie es sogar nachlesen.« »Nein, das ist nicht nötig. Ich glaube es Ihnen auch so.« »Wunderbar.« Doreen war eine Frau, die einen heißen Reifen liebte. Zumindest den Start legte sie rasant hin, und auch auf dem breiten Zubringer in die Stadt fuhr sie links. Vor uns lag Topeka. Ich hatte mir über den Ort keine Gedanken gemacht. Er war für mich eine Westernstadt, und von diesem alten Flair aus dem letzten Jahrhundert war noch etwas zurückgeblieben. Es mochte daran liegen, daß ich wenig Hochhäuser sah. Man brauchte nicht unbedingt zu hoch zu bauen, denn Land gab es genug. Land, das unter der sommerlichen Hitze brütete, von der wir im klimatisierten Innern des Mustangs nicht viel mitkriegten. Unser Gespräch drehte sich nicht um den Fall. Doreen wollte wissen, wie ich den Flug überstanden hatte und womit ich mich in London beschäftigte. »Hat man Ihnen das nicht mitgeteilt?« »Nicht so direkt. Ich sprach mit Abe Douglas, den ich mal kennengelernt habe, und er redete nur in den höchsten Lobestönen von Ihnen.« Ich winkte ab. »Abe ist auch ein Mensch, der gern übertreibt.« »Das glaube ich nicht.« »Warum nicht?« »Feeling.« Die Antwort brachte mich zum Lachen. »Was gefällt Ihnen nicht?« »Ihre Sicherheit ist schon bemerkenswert.« »Man bekommt sie in meinem Job. Aber Ihrer ist anders, Sie jagen Menschen, die eigentlich keine sind. Daß Sie den Killer Shango gefaßt
haben, hat sich in die tiefe Provinz herumgesprochen. Das hat Furore gemacht.« »Ja, ich hatte Glück.« »Glaube ich Ihnen nicht.« »Hat man mich deshalb geholt?« »Vielleicht. Jedenfalls stehen wir vor einem Rätsel, wie Abe Ihnen bestimmt gesagt haben wird.« »Das ist richtig. Er sprach von zehn verschwundenen Personen. Sie sind nie wieder aufgetaucht, man hat auch ihre Leichen nicht gefunden, und man weiß nicht, ob sie nun tot sind oder nicht.« »Es sind zwölf Verschwundene.« »Wie bitte?« »Seit dem gestrigen Tag werden zwei junge Deutsche vermißt. Eine Tina Berg und ein Marcus Richter. Man fand ihren Leihwagen auf einem Parkplatz nahe dem Highway. Er war leer. Spuren wiesen darauf hin, daß es auf dem Rastplatz zu einem Kampf gekommen sein muß. Man fand Blut, Haare und noch einiges mehr, aber das Wichtigste wurde nicht gefunden, die beiden Menschen, die sich auf die Reise gefreut hatten. Sie sind verschwunden wie die anderen zehn auch.« Ich hatte Doreen Pratt zugehört, und mir war der bittere Unterton in ihrer Stimme nicht entgangen. Dieser Fall zerrte auch an ihren Nerven. Möglicherweise war die Forschheit auch nur überspielt. Ihre Hände am Lenkrad bekamen ein krampfhaftes Aussehen, und hart sprangen die Knöchel hervor. »Ich will diese Bestie haben!« flüsterte sie. »Verdammt noch mal, ich will sie kriegen.« »Sie gehen davon aus, daß es ein Täter ist.« »Ja.« »Warum?« Doreen lächelte schmal. »Diesmal ist es kein Feeling, sondern normale Polizeiarbeit, auf die ich mich verlassen habe. Es ist immer die gleiche Art gewesen, verstehen Sie? Man hat nie einen Fehler gemacht, und ich denke mal, daß Fehler gemacht worden wären, wenn mehrere Personen an diesen Verbrechen beteiligt gewesen wären.« »Da ist was dran«, gab ich zu. »Auch wir sind nicht ohne.« »Habe ich nie behauptet.« Zum Greifen nahe lag die Stadt vor uns. Die ersten Außenbezirke erschienen, aber wir fuhren nicht weiter auf Topeka zu, sondern bogen nach rechts ab, wo Wegweiser in die Berge hineinführten und auf verschiedene kleine Seen hinwiesen, die ein Paradies für Fischer sein mußten. »Geht es in die Natur?« fragte ich. »Nicht zu weit. Das Hotel liegt nur sehr nett. Abseits vom Trubel, ein Westernhaus. Wir werden es in einigen Minuten erreicht haben.«
Wir fuhren in einen relativ dichten Wald, wo am Straßenrand zahlreiche Parkplätze angelegt worden waren, wo die Menschen ihre Fahrzeuge aufstellen konnten, die zu Fuß gehen wollten. Laub- und Nadelhölzer bildeten eine gesunde Mischung, und auf einem schmalen Privatweg rollten wir dem Hotel entgegen, das wirklich in diese Gegend hineinpaßte, denn es sah für mich aus wie eine Bilderbuchranch. Ein Haupthaus, zwei Nebengebäude, fehlten nur noch die Hitchracks davor, wo die Cowboys die Pferde anleinten. Statt dessen befand sich da der Hotel-Parkplatz, auf dem auch Doreen den Mustang abstellte. Ich holte den kleinen Koffer vom Rücksitz und stieg aus. Die brütende Mittagshitze erwischte mich wie ein Keulenschlag. Der weibliche G-man neben mir war wieder forsch, schaute auf seine Uhr und blickte mich dann fragend an. »Wie lange benötigen Sie, um sich frisch zu machen? Oder wollen Sie sich noch hinlegen?« »Das nicht.« »Dreißig Minuten?« »Es wird reichen.« »Okay, checken wir ein.« Himmel, was war sie forsch, und sie betrat auch als erste die Halle, allerdings nicht durch eine Schwingtür wie früher in den WesternSaloons, die hätte zu der Klimaanlage auch nicht gepaßt. Das Aussehen des Foyers hatte sich der Western-Zeit des vergangenen Jahrhunderts angepaßt. Die Rezeption ähnelte tatsächlich einer Saloontheke, hinter der nette Western-Ladies standen und über ein Computer-Terminal die Buchungen mit den neu ankommenden Gästen verglichen. Doreen war hier bekannt. Sie schaute nur zu, daß ich auch den richtigen Zimmerschlüssel bekam. »Wunderbar, wir wohnen direkt nebeneinander.« Um das Zimmer zu erreichen, konnten wir auf dieser Ebene bleiben. Diesmal stießen wir tatsächlich die Flügel, einer breiten und braunlackierten Schwingtür zurück, um in den Trakt zu gelangen, wo die schönsten Zimmer lagen, wie man mir versichert hatte. Ich war in der Tat angetan. Zwei großzügige Räume, dazu ein Bad mit ebenfalls viel Platz, einer Terrasse, die ebenfalls zum Zimmer gehörte, und das zu einem Preis, der wirklich akzeptabel war. In London hätte ich dafür nur eine Kammer bekommen. »In Ordnung?« fragte Doreen. »Wer sich hier beschwert, hat einen Vogel.« »Sehr schön, wir sehen uns.« Weg war sie, und ich schaute kopfschüttelnd auf die geschlossene Tür. Ich trat nach draußen, schaute in den Garten, sah auch den Pool, in dem zwei Gäste schwammen, und ging sofort wieder zurück in die Kühle des Zimmers.
In den nächsten Minuten duschte ich, zog frische Kleidung an und dachte über den Fall nach. Zwölf vermißte Personen, und keine war bisher wieder aufgetaucht. Natürlich dachte ich über die Gründe nach, und mir fielen auch Fälle aus der jüngsten Vergangenheit ein, wo Menschen zu Massenmördern geworden waren und die Leichen im Garten oder in der Nähe ihres Wohnortes vergraben hatten. Auch bei uns auf der Insel hatten wir vor einigen Monaten einen derartigen Fall erlebt. Er war durch die gesamte europäische Presse gegangen, und die Reporter hatten nur von einem Horrorhaus geschrieben. Das gab es alles, das konnte auch hier der Fall sein, ohne es unbedingt sein zu müssen. Aber ich wollte nichts außer acht lassen. Ich fragte mich selbst, in welche Richtung ich tendierte. Es war nicht einfach, denn ebenso konnte es ein magisches Problem sein, daß jemand dabei war, für einen bestimmten Vorgang, mit dem er sich beschäftigte, Leichen zu sammeln. Das hatte ich auch schon erlebt. Den Gedanken an einen Ghoul verwarf ich ebenfalls nicht. Besonders optimistisch, den Fall rasch aufzuklären, war ich nicht. Den Grund konnte ich nicht sofort erkennen, möglicherweise lag es daran, daß der wirklich guten amerikanischen Polizei noch kein Erfolg gegönnt worden war. Ich bürstete noch einmal durch mein nasses Haar, dann verließ ich das Zimmer und ging nach nebenan. Genau sieben Minuten vor der abgemachten Zeit. *** Doreen Pratt hockte in einem Sessel und machte auf mich den Eindruck einer vielbeschäftigten Managerin. Das mochte an den Papieren liegen, die sie um sich herum ausgebreitet hatte, studierte und dabei durch eine Lesebrille schaute. »Hi, John.« »Bin ich pünktlich?« »Mehr als das.« Sie deutete auf einen zweiten Sessel neben sich. »Nehmen Sie Platz. Wenn Sie etwas trinken wollen, die Bar ist direkt rechts von Ihnen.« »Das will ich tatsächlich. Sie auch?« »Danke, ich habe schon einen Schluck genommen.« Ich nahm mir eine Flasche Bitter Lemon, dazu ein Glas und ließ mich nieder. Wir saßen in der Nähe der Terrassentür, vor die Doreen die Gardine gezogen hatte, so daß uns von draußen her niemand zuschauen konnte. Zeugen brauchten wir nicht. Doreen hatte sich das stumpfe Ende eines Kugelschreibers zwischen die Lippen geklemmt und ließ den Stift wippen. Mit gerunzelter Stirn schaute
sie auf das Papier vor sich. Es war ein Computerausdruck, den sie mir dann reichte und mir erklärte, daß es die Namen der Verschwundenen enthielt. »Schauen Sie mal nach. Unter Umständen kommt Ihnen der eine oder andere Name bekannt vor.« »Sind auch Landsleute von mir dabeigewesen?« »Ja, ein älteres Ehepaar. Aber nicht aus London, sondern aus Cambridge, wenn ich mich nicht irre.« Ich überflog die Namen und mußte passen. Nein, da war mir keiner bekannt. Als letztes las ich Tina Berg und Marcus Richter. Beide Vornamen hörten sich nach jungen Leuten an. »Wie alt waren die zuletzt Verschwundenen?« fragte ich Doreen. »Zu jung, viel zu jung. Das Mädchen zwanzig, der junge Mann drei Jahre älter.« »Scheiße«, sagte ich. »Sie treffen den Nagel auf den Kopf.« Ich legte das Blatt zur Seite und deutete in die Runde. »Ich weiß nicht, ob es nützt, wenn ich mir diese Untersuchungsergebnisse von den Fundstellen durchlese. Ich bin ein Mensch, der mehr aus dem Bauch heraus und intuitiv handelt…« »Gut, sehr gut«, sagte Doreen und wippte dabei mit dem rechten der übereinandergeschlagenen Beine. »Ich habe Sie auch nicht als Beamten und Paragraphenreiter eingeschätzt.« »Danke.« Auch Doreen legte ihre Unterlagen zur Seite. »Kommen wir also zur Sache. Was wollen Sie wissen?« »Darf ich wie ein Reporter fragen?« »Gern.« »Hat man schon eine Spur?« Doreen schob die Unterlippe vor. »Sie enttäuschen mich, John. Hätten wir eine Spur, wären Sie nicht hier.« »Stimmt, aber ich wollte auf etwas anderes hinaus. Gibt es einen Verdächtigen?« Doreen nickte. »Das genau ist ein Problem. Wir haben natürlich mit den modernsten Mitteln gearbeitet. Hätten Computer Köpfe, so würden diese jetzt rauchen. Es wurde verglichen, es wurden andere Fälle zu Rate gezogen, die lange Zeit zurückliegen, um möglichst Parallelen zu finden. Dabei herausgekommen ist nichts. Es gab Massenmorde in unserem Land, das wissen Sie selbst, John, aber da stimmen die Vergleiche nicht. Da verschwanden die Menschen auch nicht so offen, denn hier wurden immer Spuren hinterlassen, und es waren stets Touristen. Der Killer muß auf dem Highway oder zumindest in dessen Nähe auf seine Opfer gelauert haben. Er ist ein Highway-Phantom.« »Wurden die Strecken überwacht?«
»Was denken Sie!? Aber Sie müssen die Dinge auch einmal anders sehen. Kansas ist riesig. Und verstecken kann man sich überall in den Bergen, den Wäldern, an den zahlreichen kleinen Seen.« »Alles gut und schön, Doreen. Bevor wir uns in Einzelheiten verlieren, möchte ich zusammenfassen. Es gibt also keine Spur, keinen Hinweis, mit dem wir etwas anfangen könnten.« Doreen nickte und lächelte. »Und jetzt kommen Sie ins Spiel«, sagte sie, »denn Sie sind ein Mensch, der sich mit Dingen beschäftigt, mit dem selbst ein Computer nicht zurechtkommt, wenn ich meinem Kollegen Abe Douglas glauben darf.« »Kann sein.« Sie spielte jetzt mit dem Bleistift und schaute auf die Spitze. »Es gibt Gerüchte.« »Welcher Art?« »Zeugen…« »Verläßliche?« »Das ist die Frage.« »Was haben diese Zeugen gesehen?« »Eigentlich nicht viel. Es gab Personen, die übereinstimmend davon gesprochen haben, daß sie in den Nächten, in denen die Taten geschehen sind, ein Patrol Car der Highway Police auf der Straße gesehen haben, mit ausgeschalteten Warnlichtern. Das ist dreimal vorgekommen. War es nun ein Zufall oder nicht, das ist die Frage.« »Interessant«, murmelte ich. »Denken Sie schon weiter?« Ich nickte Doreen zu. »Ja, das denke ich und komme zu dem vorläufigen Ergebnis, daß dieser Verbrecher möglicherweise ein Kollege im weit entferntesten Sinne von uns ist. Oder sind Sie da anderer Meinung, Doreen?« Sie hatte etwas von ihrer Fassung verloren. »Ich darf daran nicht denken, John.« »Sie haben es aber ins Kalkül gezogen.« »Stimmt.« »Und Abe Douglas auch.« »Jawohl.« »Sind die in Frage kommenden Kollegen alle überprüft worden?« hakte ich nach. »Natürlich. Damit hat sich das FBI beschäftigt. Es gab keine Unregelmäßigkeiten. Zudem fahren die Kollegen nie allein Streife. Sie sind immer zu zweit. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Da haben wir, das muß ich zugeben, leider nichts erreichen können.« »Das ist schlecht.« »Ich weiß.«
»Sie hören sich an, Doreen, als hätten Sie noch etwas in der Hinterhand?« »Wirklich?« »Ja. Denn manchmal habe ich einen Blick für Menschen.« »Es gibt hier in Kansas eine alte Legende«, sagte sie. »Oh, die interessieren mich immer, denn ich habe ein Faible für Legenden und Sagen.« Doreen lächelte etwas spöttisch. »Wenn mir das ein anderer gesagt hätte, ich hätte ihm glatt erklärt, er sollte es vergessen, aber bei Ihnen ist das etwas anderes. Ich kenne die Legende auch nur, weil ich aus dieser Gegend stamme. Es geht da um einen Sheriff, der eines Tages urplötzlich von der Bildfläche verschwand. Auf einmal war er nicht mehr da. Von einem Augenblick zum anderen. Er war abgetaucht, und man hat ihn ebensowenig gefunden wie die zwölf vermißten Personen. Bis heute nicht.« »Wann ist das denn passiert?« »Es liegt knapp fünfzig Jahre zurück.« »Oh.« »Eine Legende, John…« Sie hatte es in einem Tonfall gesagt, der mich einfach mißtrauisch machen mußte. »Legende, ja. Darf ich noch weiter bohren?« »Wenn Sie wollen.« »Wo lebte dieser Sheriff?« »Westlich von hier. In einem kleinen Kaff mit dem Namen Lucas. Nicht weit vom Wilson Lake entfernt.« »Und dieses Kaff gibt es noch?« »Natürlich.« »Können Sie mir denn sagen, wo die Menschen alle verschwunden sind? Führt an Lucas zufällig ein Highway vorbei?« »Das kann ich nicht leugnen.« Sie faltete Papiere zusammen, ohne mich dabei anzuschauen. »Um auf die verschwundenen Menschen zurückzukommen, sehr weit von Lucas ist das nicht passiert. Ich würde ein Limit von dreißig Meilen setzen.« »Interessant.« »In der Tat.« Sie packte die Unterlagen in eine Tasche aus weichem Leder. »Und wie soll es weitergehen?« Doreen schaute wieder hoch. »Ich wäre dafür, daß wir uns diese Umgebung einmal anschauen.« Ich lächelte breit. »Wegen des Sheriffs, nicht wahr?« Sie hob nur die Schultern. Dann stand sie auf, zerrte die Gardine von der Terrassentür weg und sagte: »Es ist verrückt, ich weiß es. Meine Kollegen würden mich auch für verrückt halten, aber ich habe das
Gefühl, daß Sie genau der richtige Mann für Legenden sind, und das hat mir auch Abe Douglas bestätigt.« »Ja, ich liebe sie.« Die FBI-Frau drehte sich um. Ihr Gesicht zeigte einen ernsten Ausdruck. »Auch wenn sich diese im nachhinein als Wahrheit herausstellt?« »In dem Fall ganz besonders.« »Dann wollen wir los…« *** Marcus Richter erwachte aus seiner tiefen Bewußtlosigkeit und wußte nicht, ob es Tag oder Nacht war. Es brauchte ihn auch nicht zu interessieren, denn andere Dinge, die ihn persönlich betrafen, waren weitaus wichtiger. Die Schmerzen! Bisher hatte er von ihnen nur gehört oder gelesen. Selbst hatte er keine erlitten, denn er war nie in diese Lage geraten. Die Schmerzen waren vergleichbar mit einem sehr starken Brennen, das sich auf seinem gesamten Gesicht verteilte, als wäre dort Säure auf die Haut geschmiert worden. Am Körper spürte er sie ebenfalls. Allerdings schwächer, da mußte er sich schon unglücklich bewegen. Wichtig war das Gesicht. Und noch wichtiger war, daß er am Leben war. Und daß sein Gehirn noch funktionierte. Er konnte denken, er konnte gewisse Dinge rekapitulieren; es gelang ihm, sie in die Reihenfolge zu bekommen, und er erinnerte sich nicht nur an sich selbst, sondern auch an Tina. Bei diesem Namen fuhr die heiße Flamme durch seinen Körper. Himmel, was war mit ihr geschehen? Lebte sie überhaupt noch, oder hatte sie dieser Unhold mit dem Stern auf der Brust getötet? Das letzte Bild sah er noch genau vor sich. Tina hatte sich in der Gewalt des Unheimlichen befunden. Er hatte sie umklammert gehalten wie ein Raubtier seine Beute. Es hatte für ihn so ausgesehen, als hätte er mit ihr weglaufen wollen, um sie an einem einsamen Platz auf den Boden zu werfen und zu vergewaltigen. Der Deutsche zitterte. Diesmal nicht um sich, sondern eben um seine Tina, und er fühlte sich selbst viel zu schwach, um ihr helfen zu können. Gerade das machte ihn so fertig. Er kam sich nutzlos vor, er war zu einem Verlierer geworden, und er spürte, wie Tränen in seine Augen stiegen. Marcus hatte es kaum glauben können, es zu schaffen, doch es gelang ihm, sich zur Ruhe zu zwingen. Er schaffte es, er drängte die schrecklichen Gedanken zurück und konzentrierte sich wieder auf sich selbst, um sich später um die Umgebung zu kümmern, die er nicht sah,
weil sie im Stockfinstern lag. Er spürte nur unter sich die Härte eines schmierigen feuchten Gesteins und konnte sich vorstellen, in irgendeiner Höhle dahinzuvegetieren. Tief verborgen unter der Erde, wie eingepackt in einem riesigen Grab. Aber er konnte sich bewegen. Keine Fesseln. Weder Stricke noch Draht oder Handschellen, wie man es von einem Polizisten hätte erwarten können. Innerlich lachte er auf, als er an den Polizisten dachte. Das war eine Bestie in Uniform, ein glattes, grausames Gesicht, und er konnte sich vorstellen, es nicht einmal mit einem Menschen zu tun zu haben. In seinem Kopf herrschte ein Durcheinander, und er wollte nicht wieder in den Zustand der Angst zurückfallen. Nur nicht an ihn denken, immer bei sich selbst bleiben. Er war jetzt wichtiger. Um die Gedanken zu vertreiben, richtete er sich auf. Nicht sehr schnell, das klappte nicht, er drückte sich mit einer langsamen Bewegung in die Höhe, wobei er schon merkte, daß in seinem Körper etwas ablief. Er kam sich vor wie jemand, der plötzlich abhebt, wobei der Körper zurückbleibt und der Geist auf Wanderschaft geht, dann aber wieder zurück in den Körper fährt. Es war alles okay, es war alles normal. Er saß nur im Finstern fest, ansonsten gab es keine Schwierigkeiten. Niemand greift mich an, dachte er, dann keuchte er den Satz, aber nur, um die Schmerzen zu unterdrücken. Normal, alles normal! Marcus schaffte es, sich dies einzureden, und sein Herzschlag näherte sich wieder der Normalität. Er blieb sitzen. Die Erde war kalt, und ihre Feuchtigkeit hatte sich auch in seine Kleidung hineingefressen. Wieder einmal mußte er dafür sorgen, daß sich sein Atem beruhigte, und er schaffte es, sich wieder auf sich selbst zu konzentrieren. Langsam hob er die Arme an. Vor dem, was er vorhatte, fürchtete er sich, aber er kam nicht daran vorbei, und sehr vorsichtig legte er beide Hände gegen sein Gesicht. Schon bei der ersten Berührung zuckte er zusammen. Innerlich verkrampfte er sich, denn schon der Hauch von einem Kontakt durchraste ihn wie ein Blitzgewitter aus Schmerzen. Besonders schlimm war es im Bereich der Nase. Als er dort hintastete, da war ihm klar, daß sie von allein nie mehr so werden würde wie früher. Der Schlag hatte sie zertrümmert. Unterhalb der Nase war sein Gesicht feucht vom Blut, das aus der Wunde geronnen war, und es klebte auf seinen Lippen. An der Stirn fühlte er ebenfalls einige Schrammen. Sie waren nicht mit der Verletzung im Nasenbereich zu vergleichen, er konnte sie einfach vergessen.
Marcus Richter ging methodisch vor, denn er hatte sich wieder soweit gefangen, um dies überhaupt zu ermöglichen. Er tastete seinen Körper ab, suchte nach weiteren Verletzungen. Die Knie taten ihm weh, mit ihnen war er zuerst gegen den harten Untergrund geschlagen. Auch an seinen Ellenbogen stellte er die Prellungen fest, und es gab auch andere Stellen, die in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Das alles gab es, das konnte er nicht wegdiskutieren, damit würde er leben können. Zwei Dinge hatten für ihn Priorität. Erstens seine Freundin Tina Berg. Und zweitens mußte er eine Möglichkeit finden, dieses verdammte Gewölbe, dieses Gefängnis, diesen Tunnel, diese stockdunkle Höhle oder was immer es war, zu verlassen. Er saß da und starrte ins Nichts. Zwar war seine Nase zerschlagen worden, das aber hatte nicht seinen Geruchssinn beeinträchtigt. Er konnte riechen, schnuppern, und er merkte sehr bald, daß in seiner Umgebung etwas nicht stimmte. Es war der Geruch! Bisher hatte sich der junge Deutsche darum nicht gekümmert. Das änderte sich, als er feststellen mußte, daß sich ein derartiger Geruch kaum in einer Höhle sammeln konnte, die normal war. Da war etwas anderes hinzugekommen, und er schnüffelte einige Male weiter, bis ihm plötzlich das Blut in den Kopf stieg, weil er herausgefunden hatte, wonach es roch. Nach Leichen! Das mußte einfach so sein. Er konnte sich nichts anderes vorstellen, denn dieser süßliche und zugleich faulige und ekelerregende Gestank wurde von einem Aas abgegeben, das sich möglicherweise in seinem erreichbaren Umkreis befand. Etwas drückte von seinem Magen her in die Höhe. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, und tatsächlich sah es für eine Weile so aus, als müßte er sich übergeben. Marcus konnte sich beherrschen. Er brauchte nicht zu brechen. Der Anfall ging vorüber. Geändert aber hatte sich nichts. Noch immer hockte er in diesem stockdunklen Verlies, wo er die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Es war leicht zu ändern, er brauchte nur in die Tasche zu greifen, das Feuerzeug hervorzuholen und es anzuknipsen. Das tat er nicht. Irgendeine Kraft hielt ihn davon ab. Es war möglicherweise die Angst, die dazu beitrug. Er kam mit ihr nicht zurecht. Er fürchtete sich vor dem, was er eventuell zu sehen bekam, und er dachte dabei weniger an den Geruch, als an seine Freundin Tina und deren Zustand. Vielleicht war sie auch nicht in seiner Nähe. Es konnte durchaus sein, daß man sie weggeschleift hatte. Irgendwohin, wo sich dieser verfluchte Kerl an ihr vergriffen hatte.
Wenn er zu intensiv an Tina dachte, stieg es wieder in ihm hoch. Da hatte er den Eindruck, die ganze Welt auf den Schultern zu tragen, und dafür fühlte er sich zu schwach. Noch hatte er sich nicht von der Stelle bewegt. Das wollte er ändern. Egal, wie es roch, er mußte versuchen, sein Gefängnis auszumessen, und er rechnete auch damit, daß er sehr schnell gegen eine Grenze oder Mauer stoßen würde. Auf Händen und Füßen kroch er vor. Das Gefühl, nicht mehr wert als ein Wurm zu sein, stieg in ihm hoch. Er preßte die Zähne zusammen, weil er nicht aufgeben wollte. Die Kälte in seinem Innern löste sich mit Hitzewellen ab, und er lauschte dabei den klatschenden Geräuschen, die immer dann auftraten, wenn er mit einer Hand auf den kalten, feuchten Boden tappte. Ein Hindernis! Er spürte es an der rechten Hand, und seine Finger zuckten augenblicklich zurück. Pause – Warten – das Herz schlug schneller. Marcus hatte beim ersten Hintasten nicht herausfinden können, was es gewesen war. Ein Hindernis – okay, aber keine Wand oder Mauer aus Stein. Er kam nicht zurecht, und er dachte darüber nach, was es gewesen sein könnte. Es hatte sich hart und zugleich weich angefühlt. Aber auch kalt, beinahe sogar klebrig, und es hatte keinen großen Umfang besessen. Was konnte es gewesen sein? Ihm kam ein schlimmer Verdacht, und er stöhnte auf. In sein Stöhnen hinein aber traf ihn der Klang der Stimme wie der leise Ruf eines Engels. »Bist du okay, Marcus…?« *** Tina! Himmel, es war seine^ Tina gewesen, die ihn da angesprochen hatte. Er wußte nicht, was er denken und wie er handeln sollte. Alles war plötzlich so anders geworden, obwohl er nicht in der Lage war, sich zu rühren. Er hatte Halluzinationen. Er sah Tina als einen Geist über sich schweben, er dachte daran, sich ihre Stimme nur gewünscht zu haben, und er wußte nicht, ob sie ihm die Worte in der Realität gesagt hatte oder nicht. Spielte ihm die Phantasie einen Streich? »Marcus… Marcus…«, sie drängte. »Bist du das?« Ihre Stimme zitterte durch die Finsternis. »Ich… ich… habe was gehört. Willst du nicht Antwort geben?« »Ja, ich… ich… bin es, Tina.« Er kannte seine Stimme kaum noch wieder, hoffte aber, daß Tina begriff, wer da mit ihr gesprochen hatte.
Sie wiederholte seinen Namen, und es hörte sich noch immer so an, als könnte sie es nicht glauben. »Wo bist du denn?« »Hier.« »Aber ich sehe dich nicht.« Nach diesen Worten riß der Schleier. »Moment«, sagte er hastig. »Moment, du kannst mich gleich sehen. Ich… ich… werde das Feuerzeug einschalten.« »Tu das.« Marcus hatte es plötzlich eilig. Es gab auch nichts mehr, was ihn noch daran hätte hindern können. Es war ihm egal, in welch einer Umgebung er sich befand, und als er nach dem kleinen Einwegfeuerzeug griff, hatte er Mühe, es in seinen schweißnassen Händen zu halten. Mit der Daumenkuppe drehte er das Zündrädchen. Zuerst sah er die Funken, dann die Flamme, die eine kleine Insel in die Finsternis hineinbrannte. Tina würde ihn sehen können, nur das war wichtig. Er hielt den Arm hoch, über seinen Kopf hinweg, und er schaute weder nach rechts noch nach links, weil er noch nicht wissen wollte, was sich dort alles befand. Wichtig war einzig und allein Tina. Die hatte ihn gesehen. Er hörte sie schluchzen, dann drang wieder ihre Stimme abgehackt zu ihm. »Ich komme, ich komme.« Er sah sie noch nicht, weil das Licht nur einen begrenzten Raum ausleuchtete, aber er drehte sich, um ihr entgegenleuchten zu können, wenn sie sich auf ihn zubewegte. Etwas störte ihn. Aus dem linken Augenwinkel hatte er es gesehen. Es sah aus wie ein starrer Schatten, der auf dem Boden klebte, und schreckliche Vorstellungen durchwanderten sein Gehirn. Deshalb schaute er auch nicht näher hin und konzentrierte sich auf Tina, deren Gestalt in sein Blickfeld geriet und die für ihn aussah wie der schönste Engel auf einem Gemälde, obwohl sie auf allen vieren über den schmutzigen Boden hinwegkroch. Sie kam immer näher, und er sah sie deutlicher. Besonders ihr Gesicht, das seinen Liebreiz längst verloren hatte, was Marcus aber nicht einsehen wollte. Der Schrecken sollte ihn erfassen, nicht seine Tina, deren Mund offenstand. Das Haar war verklebt, die Kleidung verschmutzt, aber nicht zerrissen, was ihn sogar freute, da zerrissene Kleidung auf eine Vergewaltigung hingedeutet hätte. Tina lebte, das zählte. Und er lebte auch, das stand ebenfalls fest. Er gehörte zu denjenigen, die nicht aufgaben, und er wollte, daß auch seine Tina nicht aufgab. Sie beide mußten zusammenfinden und sich gegenseitig Kraft geben. Sie steckten in dieser verfluchten Höhle oder
wo auch immer, aber sie waren zu zweit, und der junge Mann hörte sich selbst tief durchatmen. Er kniete ebenfalls. Tina war so nahe an ihn herangekommen, daß sie sich berühren konnten. Er sah das Lächeln auf ihrem Gesicht. Oder war es nur der Versuch, lächeln zu können? Wie auch immer. Ihre Hände fanden zueinander, gaben sich Halt und das Gefühl der Geborgenheit. Irgendwann lagen sie sich in den Armen. Noch immer auf dem harten Boden kniend, und keiner von ihnen spürte den starken Druck dieser steinigen Unterlage. Sie spürten ihre Körper, und sie spürten die gegenseitige Wärme, die sie sich gaben. Die Wärme, die sich umwandelte in ein Vertrauen. Die Flamme des Feuerzeugs war längst verloschen. Marcus hielt es noch in der geschlossenen Faust. Er wollte es auf keinen Fall verlieren, denn ein Lichtmachen gab auch Hoffnung. Sie sprachen durcheinander. Keiner verstand die Worte des anderen, aber sie waren zusammen, und sie genossen die gegenseitige Umarmung, auch wenn sie nur stammeln konnten. »Er hat dir nichts angetan, nicht wahr? Er hat dir doch nichts getan, Tina…« »Nein…« »Er hat dich nicht berührt?« »Nein.« »Er hat dich nur geschlagen.« »Ja.« »Wir werden es ihm nicht gönnen. Er wird uns nichts mehr tun können. Wir sind jetzt stark, Tina, stark.« Marcus Richter wollte ihr Mut machen, aber auch sich selbst. Er konnte nur mit Tinas Hilfe die schreckliche Zeit der Gefangenschaft überstehen, und ihr ging es ebenso. Noch schien alles ins Verderben zu führen, doch irgendwann aber würde es wieder aufwärts gehen. Sie mußten nur das Grauen hinter sich haben, und so hockten sie im Dunkeln zusammen, gaben sich gegenseitig Schutz und versuchten so, das Grauen zu verdrängen. Irgendwann fanden beide den Kontakt zur Realität wieder. Es war Tina, die das lange Schweigen unterbrach. »Wo… wo… sind wir hier? Hast du eine Ahnung, Marcus?« »Nein, ich weiß nichts.« »Es ist dunkel wie in einem Grab.« Er schluckte, als er das Wort hörte. Und es erinnerte ihn auch wieder an den schrecklichen Geruch. »Kein Grab«, sagte er wider besseres Wissen. »Eher eine Höhle, ein Versteck unter der Erde. Etwas sehr Schreckliches, denke ich.« Sie schwieg. Dann fragte sie: »Hast du Angst?« »Und wie.«
»Wovor?« »Ich kann es dir nicht sagen.« »Vor ihm, nicht?« »Auch. Er wird sicherlich zurückkommen, das glaube ich fest. Er wird kommen und…« »Davon hat er nicht gesprochen, nur von einem Grab.« Tina gab ihrer Stimme einen festen Klang, oder sie versuchte es zumindest. »Von einem großen Grab, Marcus. Sag nicht, daß ich aufhören soll, aber ich habe das Gefühl, tatsächlich in einem Grab zu sein. Es ist hier etwas Bestimmtes vorhanden…« »Der Geruch«, sagte Marcus. »Stimmt!« flüsterte sie. »Es ist der Geruch gewesen.« Sie schüttelte sich, was auch er merkte. Dann stöhnte sie auf. »Ein verfluchtes Grab…« »Aber wir sind nicht tot, Tina.« Ein schwerer Atemzug, dann: »Nein, wir sind nicht tot, nicht wir. Andere, denke ich.« »Wieso?« »Hast du es nicht gerochen…?« Er preßte die Lippen zusammen und schwieg. Klar, er hatte es gerochen. So etwas mußte man einfach riechen, das war zu… zu… »Warum sagst du nichts?« »Es stimmt. Ich habe es gerochen. Nach Fäulnis und nach… nun ja, nach Fäulnis eben.« Er wollte den anderen Begriff nicht verwenden. Das wäre zu schlimm gewesen. »Mach Licht, Marcus!« »Bitte?« »Laß dein Feuerzeug leuchten.« »Und dann?« Tina rutschte von ihrem Freund weg. »Ich will es endlich wissen, Marcus. Ich muß es wissen. Die Dunkelheit macht mich verrückt. Ich komme da nicht dagegen an. Ich will es wissen.« »Okay. Und was ist, wenn du…?« Im Dunkeln hatte sie seinen Mund ertastet und legte ihm blitzschnell einen Finger auf die Lippen. »Nichts mehr denken, nichts mehr sagen. Nur noch handeln.« »Wie du willst.« Er hatte seine Faust bereits geöffnet. Die Außenhaut des Feuerzeugs war in seiner verschwitzten Hand glatt geworden. Es war gar nicht einfach, es zu halten, aber er mußte sich jetzt zusammenreißen. Nur nichts falsch machen und zuviel Angst zeigen. Sie hatten es bisher überstanden, und sie würden sich auch nicht aufgeben. Marcus versuchte es. Er schnickte einige Male. Funken zuckten, dann war die Flamme da. In die Dunkelheit hinein riß sie die kleine Insel und vertrieb die Düsternis.
Er sah Tinas Gesicht. Das Lächeln auf den Lippen. Trotz allem den Glanz in den Augen. Es war so schön. Plötzlich erlebte er das Gefühl des Glücks. Für einen Moment war der eigentliche Schrecken vergessen, aber das Gefühl kehrte zurück, als er in Tinas Augen sah. Dort malte sich nicht nur die Flamme ab, er sah auch noch einen anderen Ausdruck. In diesen Augen lag eine schreckliche Angst. Sie war dort wie eingemeißelt. Eine nahezu brutale Furcht, die Tina quälte. »Was hast du?« „ Tina wollte antworten, hatte aber ihre Schwierigkeiten. »Da… da…«, sagte sie, »da ist was…« »Wo denn?« »Du mußt dich drehen – o Gott.« Noch immer kniend drehte er sich auf der Stelle um. Er schaute dorthin, wo Tina das Schreckliche entdeckt hatte, und er sah es auch. Es war kaum zu fassen. Er verglich es mit einem makaberen Theaterspiel, nur gehörte der bleiche Arm mit der leicht verkrümmten Hand bestimmt keinem Schauspieler, denn was sich den beiden jungen Leuten da in einer Grausamkeit präsentierte, war ein Toter. Eine männliche Leiche, halb angezogen, und der junge Deutsche wußte selbst nicht, was ihn dazu trieb, den Arm vorsichtig zu bewegen, um das Gesicht zu sehen. Er sah es. Und er sah noch mehr… *** Wir hatten die kleine Hoteloase verlassen und waren wieder unterwegs. Und darin unterschieden wir uns nicht von den anderen Fahrern und Fahrerinnen, die in Richtung Westen fuhren, als gäbe es dort das große Glück zu fassen. In Europa war Ferienzeit, und das merkten wir auch hier in den Staaten. Man konnte den Leuten in ihren Fahrzeugen ansehen, wer zu den Touristen gehörte und wer nicht, denn viele von ihnen filmten die Gegend, als wäre sie etwas Einmaliges, was sie unbedingt festhalten mußten. »Die Angst scheint nicht sehr groß zu sein«, bemerkte ich. Doreen hob die Schultern. »Wir haben etwas geschafft, was beinahe schon einmalig ist.« »Und was, bitte?« »Die Presse hat nichts von den Taten mitbekommen. Wir haben alles geheimhalten können.« »Das ist eine Leistung.« »Richtig, John. Besonders hier bei uns, wo jeder das Gras wachsen hört und sich wichtig machen will.«
Wir fuhren auf der breiten Interstate 70, würden sie aber bei Sahna verlassen, denn ungefähr dort begann das Gebiet, in dem der geheimnisvolle Killer erschienen war, wobei wir das eigentliche Zentrum mit dem Ort Lucas umschreiben konnten. Nicht etwa, daß er dort wohnte, aber die Morde waren nun mal in der Umgebung dieser Stadt passiert. Zumindest die FBI-Kollegin rechnete dort auch mit einer Aufklärung. »Zwölf Menschen, die verschwunden sind«, flüsterte sie. »Es ist ein Wahnsinn. Es ist verrückt. Ich komme damit noch immer nicht zurecht.« Sie schaute mich kurz an. »Was hat diese Bestie mit ihren Opfern gemacht, John? Wissen Sie es? Können Sie es sich vorstellen?« »Nein, das kann ich wohl nicht.« Sie nickte. »Ich auch nicht. Keiner ist erschienen. Wir haben keinen der Verschwundenen jemals gefunden, weder tot noch lebendig. Es ist unbegreiflich.« Das war es für mich auch. Aus Erfahrung aber wußte ich, daß es immer wieder Motive gab. Für einen normal denkenden Menschen mochten sie auch noch so unverständlich sein, aber sie existierten, und ein krankes Hirn richtete sich danach. Doreen Pratt fuhr ziemlich schnell, und ich wettete, daß uns irgendwann die Highway Police auf den Fersen sein würde. Das sagte ich ihr auch. Sie winkte nur ab. »Macht nichts. Wir sind nicht irgendwer, sondern im Dienst.« »Sie müssen es wissen.« »Und ob.« Manchmal vergaß ich den schrecklichen Fall und ließ mich von meiner Umgebung regelrecht einfangen. Dann sah ich tatsächlich die mächtigen Trucks, an denen wir vorbeihuschten. Sie wirkten bei ihrer Größe wie blecherne und herausgeputzte Dinos der Neuzeit. Sie verkörperten das, was man als American way of life ansah. Hinter ihren Lenkrädern hockten die Ritter der Highways und Interstates, mal stumm, mal singend, mal in das Mikro redend, das von der Kabinendecke nach unten baumelte, so daß sie hineinsprechen konnten, ohne es in die Hand nehmen zu müssen. Die Trucker standen immer miteinander in Kontakt, sie warnten sich gegenseitig oder ließen Grüße bestellen und Ähnliches. Auch Witze wurden gerissen, man machte sich munter, man möbelte sich auf, denn die Straßen waren lang, so verflucht lang. Der Mustang schnurrte über den Asphalt. Er fraß die Meilen. Er war schnell, und die Umgebung huschte nur so an uns vorbei. Ich sah das weite Land, aber auch die schroffen Berge und Ebenen, mal grün, wenn sich das eine oder andere Gewässer in der Nähe befand, dann wieder verbrannt und ausgetrocknet wirkend. Wir fuhren an Orten vorbei, deren Namen ich mir nicht merkte. Sie waren einfach nicht existent, fliegende Wechsel und Landschaften, Motels,
Raststätten, keine Hochhäuser, sondern alles breit gebaut, denn Platz genug war vorhanden. Der Mittlere Westen gab jedem eine Chance, so hatte ich es mal gelesen, aber es war kein Land für mich. Zu heiß. Ich sprach darüber mit Doreen, die mir ansah, daß ich mir über irgend etwas Gedanken machte. Sie lächelte. »Wer hier lebt, der hat sich daran gewohnt. Wenn Sie es kälter haben wollen, brauchen Sie nur in die Berge zu fahren, dort gibt es Schnee und Winter genug.« »Im Tal möchte ich ihn auch haben.« »Sie sind Brite.« »Irgendwo schon.« »Warum nur irgendwo?« »Wissen Sie, allmählich fange ich an, mich als Europäer zu fühlen. Wir stehen erst am Anfang eines Vereinten Europas, und viele Menschen denken noch zu national, doch ich gehe davon aus, daß dies irgendwann verschwinden wird und wir ein Bundesstaat wie die USA werden.« »Mit derart vielen Sprachen?« Doreen war skeptisch. »Das ist ein Problem. Wie auch das Geld. Vor der Jahrhundertwende ist es nicht zu schaffen.« »Das glaube ich auch.« Ich hatte mich zuvor erkundigt. Von Topeka bis Sahna waren es gute hundert Meilen, eine Strecke, die meine Begleiterin so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte, und wir hatten tatsächlich das Glück, von keinem Polizisten der Highway Patrol angehalten zu werden. Doreen saß locker und konzentriert in ihrem Schalensitz. Manchmal nagte sie an ihrer Unterlippe. »Was haben Sie?« fragte ich. »Ach, nicht viel. Aber manchmal kommen einem Menschen schon seltsame und auch erschreckende Gedanken.« »Lassen Sie mich daran teilhaben.« »Nun ja, wenn ich mir vorstelle, daß dieser Killer jetzt wieder unterwegs ist, kriege ich Magenschmerzen.« »Da können wir uns die Hand reichen. Aber ich denke nicht, daß er sich tagsüber zeigen wird.« »Das ist auch meine Hoffnung. Er hat sich seine Opfer bisher immer in der Nacht geholt.« »In der wir unterwegs sein werden.« »Darauf können Sie sich verlassen.« Sie wechselte das Thema. »Haben Sie eigentlich geschlafen? Sind Sie fit? Es ist möglich, daß wir in den folgenden Nächten mit sehr wenig Schlaf auskommen müssen. Das wird eine Jagd, die sich gewaschen hat, und wir werden auch mit Fehlschlägen leben müssen.« »Ich habe während des Flugs geschlafen.« »Haben Sie sich auch erholt?«
»Sie werden es kaum glauben, ja, ich habe mich erholt, Doreen. Wer soviel fliegt wie ich, der sorgt auch für ein dickes Fell. Es ist Gewöhnungssache. Ich werde fit sein, wenn es darauf ankommt.« »Das beruhigt mich. Sie können auch jetzt die Augen zumachen. Zumindest in der nächsten halben Stunde, denn dann haben wir die Interstate hinter uns.« »Danke für den Rat.« »Schaffen Sie es?« Ich schaute sie an. Doreen hatte sich umgezogen, bevor wir Topeka verlassen hatten. Sie trug jetzt Jeans und eine karierte Bluse. Eine schlichte Kette hing um ihren Hals, es war der einzige Schmuck, den sie sichtbar trug. »Machen Sie die Augen ruhig zu.« »Okay.« Als letztes sah ich ihr Lächeln, dann drückte ich die Lehne zurück. Ich wußte ja, daß ich bei Doreen in guten fahrerischen Händen lag, und sollte sich tatsächlich etwas ereignen, würde sie mich wecken. Ich gehörte zu den Menschen, die schnell und auch an beliebigen Orten einschlafen können. Da machte auch der Mustang keine Ausnahme. Sehr bald schon sackte ich weg und tauchte ein in die Dunkelheit des Schlafgottes Morpheus, der mich in seinen Armen wiegte. Es war jedoch kein ruhiger Schlaf. Der vor uns liegende Fall hatte mich auch innerlich mitgenommen. Ich sah einen Killer düster und schattenhaft durch die Nacht huschen, auf der Suche nach irgendwelchen Opfern, denen er die Kehle durchschnitt, nachdem er sie zuvor grausam gequält hatte. Ich sah mich auch gegen ihn kämpfen, aber nicht gegen die Gestalt ankommen, die immer mehr anwuchs, je näher ich kam, und dann zu einem mächtigen Riesen geworden war. Als wir uns so nahe waren, daß es zu einer Berührung gereicht hätte, wachte ich erschreckt auf. »He, was ist los, John?« Im ersten Augenblick kam ich mir fremd vor. Ich wußte nicht, wo ich mich befand. Ich war auch nicht in der Lage, die Stimme einzuordnen. Erst mußte ich Ruhe in meine Gedankenwelt bekommen. Die dunkle Brille war mir während des Schlafs aus der Position gerutscht und hing vorn auf meiner Nase. Ich rückte sie wieder zurecht, da ich nicht von der Sonne geblendet werden wollte. Damit fand ich mich auch wieder zurecht, und ich schwitzte, trotz der Klimaanlage. »Sie sind mir noch eine Antwort schuldig, John.« »Stimmt.« »Und wie lautet sie?« »Ich hatte einen verdammten Traum.« »Alptraum?« »So ist es.«
»Reden Sie darüber.« Ich tat es, und Doreen hörte aufmerksam zu. Dann meinte sie: »Der Fall nimmt uns beide mit.« »Wieso?« Ihr Lächeln wirkte kantig. »Glauben Sie denn, daß diese Scheiße, will ich mal sagen, auch an mir so spurlos vorübergeht? Glauben Sie nur das nicht, John. Auch ich habe meine Probleme, und das nicht zu knapp. Ich hänge oft mehr durch, als mir lieb ist, aber was soll’s? Es hat keinen Sinn, wenn wir uns gegenseitig die Vorwürfe und Träume erzählen, wir würden uns nur nervös machen.« »Das ist möglich.« »Schauen Sie sich um. Was sehen Sie? Keine Interstate mehr, sondern eine Landschaft, die auch Ihnen gefallen müßte.« Doreen Pratt hatte recht. Wir waren in die Berge gefahren, und im ersten Moment kam ich mir vor wie im Voralpengebiet. An der linken Seite schäumte ein Fluß durch sein Bett. Ich war überrascht wegen des klaren fischreichen Wassers, denn am Ufer hockten zahlreiche Angler. Ich ließ die Seitenscheibe nach unten fahren und genoß die in den Wagen eindringende würzige Luft. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Hohe Bäume wuchsen unter dem Blau des Himmels, zumeist Tannen und Fichten, und ich konnte tief durchatmen, was Doreen offenbar gefiel. Wir rollten über einen Highway, aber ich hatte eher den Eindruck, auf einer Landstraße zu fahren. Manchmal wuchsen die Hänge der Berge sehr dicht an die Fahrbahn heran, so daß ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um nach dem satten Gras greifen zu können. Ich lächelte. »Es gefällt Ihnen hier, nicht?« »Das kann ich nicht abstreiten.« »Der Westen ist eben nicht nur staubig, heiß und trocken. Manchem ist er schon zu europäisch.« »Kaum zu glauben, daß sich hier ein Killer herumtreibt oder ein mordendes Phantom.« »Das stimmt.« Wir befanden uns zwar nicht allein auf der Strecke, aber der Verkehr war mit dem auf der Interstate nicht zu vergleichen. Hier fuhren die Menschen, die mehr Zeit hatten, deshalb sahen wir auch weniger Trucks, dafür mehr Personenwagen, wobei die Touristen jetzt in der Minderzahl waren und das Feld den Einheimischen überließen. Hier hätten sie wirklich mehr von der Landschaft sehen und bestaunen können, sie aber mußte ja ihre gesteckten Tagesziele erreichen. Kein Urlaub für mich, obwohl ich mich toll fühlte. Dieser kurze Tiefschlaf hatte mir trotz des Alptraums gutgetan. »Sie sehen energiegeladen aus, John.«
»Danke, so fühle ich mich auch.« »Dann war meine Idee gut?« »Sogar bestens.« »Das freut mich.« »Und mich freut weniger, daß es keinen Hinweis auf diesen verfluchten Killer gibt. Da sind zehn Menschen verschwunden, und man hat keine Spur gefunden. Das in einen Land, das stolz sein kann auf die modernsten Fahndungsmethoden. Also ich stehe da vor einem Rätsel.« Die FBI-Agentin nahm sich einen Moment Zeit. »Vielleicht haben Sie genau das Problem damit angesprochen, John.« »Wie meinen Sie das?« »Die modernen Fahndungsmethoden. Okay, sie sind gut, sie haben auch oft genug Erfolg beschert, aber es fehlt doch die Intuition, die man früher als Polizist haben mußte. Man geht einfach zu kalt an die Sache heran und hört nicht mehr auf seinen Bauch.« Ich stellte die Rückenlehne wieder in die für mich richtige Sitzposition. »Das haben Sie sehr treffend ausgedrückt.« »Dann denken Sie auch so.« »Nicht nur das, ich handle sogar danach. Ich lehne die Technik nicht ab, doch im Endeffekt kommt es auf den Menschen an, finde ich. Und ich habe damit auch oft richtig gelegen.« »Dem kann ich nur zustimmen. Abe Douglas hat mir von Ihnen erzählt. Ich muß zugeben, daß er ins Schwarze getroffen hat.« »Er übertreibt.« Doreen hob die Schultern und wurde danach sehr sachlich. »Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, daß uns schon seit geraumer Zeit jemand folgt?« »Nein, wer denn?« »Ein Wagen der Highway Police!« Ich hatte tatsächlich nicht in den Rückspiegel geschaut, tat dies, sah das Fahrzeug aber nicht, was auch an der Kurve liegen konnte, die hinter uns lag. Doreen Pratt hatte meine Bemühungen erlebt und verringerte die Geschwindigkeit. Damit hatte sie mir einen Gefallen getan, denn tatsächlich erschien der andere Wagen im Rückspiegel, und er holte auf. »Lassen wir ihn vorbei?« Die Agentin hob die Schultern. »Ich denke nicht, daß er etwas von uns will, sonst hätte er uns schon gestoppt, aber es ist die Gegend, in der die Taten passiert sind. Der nächste Ort, den wir erreichen, ist Lucas. Wir werden uns dort einquartieren und unsere Suche aufnehmen.« »Ich sehe die angebliche Verfolgung positiv. Es ist gut, wenn die Polizei präsent ist.« »Stimmt.« Der andere Wagen holte auf. Vor uns lag ein schnurgerades Stück Straße, das zwar etwas bergauf führte, aber trotzdem gut zu überblicken
war. Ich behielt die Rückspiegel im Auge und sah, daß sich der Polizeiwagen immer näher heranschob. Wenig später befand sich das andere Fahrzeug mit uns auf gleicher Höhe. Wie eine Puppe saß der Polizist hinter dem Lenkrad. Er kam mir sehr düster vor, was auch an seiner Sonnenbrille und dem großen Hut liegen konnte. Nicht einen Blick warf der Mann nach links. Statt dessen gab er Gas und huschte an uns vorbei. Ein kalter Luftzug erwischte mich. Er fuhr durch mein Gesicht wie ein Eishauch. Ich saß starr. Doreen hatte etwas bemerkt. »John, was ist mit Ihnen los? Was haben Sie?« »Ich weiß nicht.« »Sie sehen so anders aus. Sie haben sich verändert.« »Stimmt.« »Warum?« »Da war etwas.« »Was?« »Mit dem Wagen.« Ich räusperte mich. »Fahren Sie schneller – bitte! Ich möchte, daß Sie aufholen, ja, ich will sogar mit dem Kollegen ein paar Worte sprechen.« »Ist in Ordnung.« Doreen hatte mich zwar nicht verstanden, aber sie hielt sich an meine Bitte. Der Mustang war ein Wagen, der nicht eben zu den langsamsten Fahrzeugen gehörte. So wunderte ich mich, daß wir den Polizeiwagen plötzlich nicht mehr sahen. Er war einfach verschwunden, als hätte er sich aufgelöst. Vor uns lag der Highway frei, doch der Mann von der Highway Police war nicht mehr zu sehen. Doreen wurde ärgerlich. »Der kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!« schimpfte sie. »Nein, eigentlich nicht. Fahren Sie weiter, bitte.« »Sie geben mir Rätsel auf, John. Was haben Sie gesehen? Was hat Sie zu Ihrer Meinungsänderung veranlaßt?« »Ich spürte einen Hauch. Einen kalten, unsichtbaren Nebelstreif, der mich erwischte, und ich merkte zugleich den kurzen, beinahe schon heißen Schmerz an meiner Brust. Als wäre mir vom anderen Wagen etwas herübergeworfen worden.« »Was denn?« Ich hob die Schultern. »Kann ich nicht genau definieren.« »Sorry, aber ich habe nichts gespürt.« »Sie sind nicht so sensibilisiert«, sagte ich und schaute nach Lücken an den Seiten, wo der Polizeiwagen hätte verschwinden können. Es war mir auch nicht gelungen, mir gewisse Details zu merken, so kannte ich nicht
das Kennzeichen, aber ich wußte, daß mich mein Kreuz gewarnt hatte. Dafür mußte es immer einen Grund geben, und der bezog sich stets auf eine negative Kraft. »Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich anhalten, John. Es wird gleich ein Rastplatz erscheinen, der einer der Tatorte sein soll. Hundertprozentig genau wissen wir es nicht, weil Zeugenaussagen zu weit voneinander abschweifen.« »Na ja, gut«, stimmte ich zu und stellte direkt eine Frage hinterher. »Haben diese Zeugen eventuell auch einen Wagen der Highway Police gesehen?« »Davon ist nie die Rede gewesen.« »Schade.« Doreen gönnte mir einen schrägen Blick. Ihre Gedanken behielt sie für sich. Sekunden später setzte sie den Blinker und ließ den Mustang auf den schmalen Parkplatz rollen. Sie bremste etwas abrupt, direkt hinter einem Chrysler Voyager, aus dem eine Familie mit vier Kindern geklettert war. An einem der aufgestellten Steintische bereiten die Eltern das Picknick vor. Auch ich verließ den Wagen und war froh, ein paar Schritte laufen zu können. Ich spürte im Magen einen nicht unbeträchtlichen Druck. Ein Zeichen der Nervosität. Selbst das Lachen der Kinder störte mich, und so ging ich einige Schritte zur Seite, bis ich eine Buschgruppe erreicht hatte und vor ihr stehenblieb. Die FBI-Agentin war mir gefolgt. Sie sprach mich nicht an. Ihr Gesicht hielt sie gegen den weichen Wind. Von einem Patrol Car war nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte sich der Fahrer zuvor in das Gelände geschlagen, denn Abzweigungen waren vorhanden gewesen. Ich ärgerte mich aber auch darüber, daß ich zu spät reagiert hatte. Auf der rechten Schulter spürte ich Doreens Hand. »John, Sie müssen mir sagen, was Sie herausgefunden haben und was Sie denken. Ich weiß, daß Sie sich mit Dingen beschäftigen, die ins Übersinnliche gehen. Dieser Mörder kommt mir auch so vor…« »Ich habe leider nichts herausgefunden, Doreen. Schauen Sie sich um. Das Corpus delicti ist verschwunden.« »Aber das hat Sie keinesfalls beruhigt.« »So ist es.« »Was störte Sie?« »Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich habe das Gefühl, daß dieser Killer vor einigen Minuten an uns vorbeigefahren ist.« Doreen Pratt schwieg. Sie war überrascht. Ihre Hand rutschte von meiner Schulter nach unten. Durch die Nase holte sie schnaufend Luft.
Dann atmete sie prustend aus. »Darf ich Ihren Gedanken denn weiterführen, bitte sehr?« »Tun Sie das.« »Ihrer Reaktion muß man entnehmen, daß der Mörder ein Kollege von uns ist.« »Ja, da haben Sie recht!« Leichen – nur Leichen! Die Flamme war klein, sie gab dementsprechend wenig Licht, aber die schwache Helligkeit reichte aus, um all das Grauen zu sehen, in dessen Mittelpunkt sie sich als zwei lebende Personen befanden. Die starren Körper, die bleichen Gesichter, die sich in unterschiedlichen Stadien der Verwesung befanden. Die Augen, die keine mehr waren, sondern nur noch starre, glasige Massen, mal trübe, mal klar. Das faulende Fleisch an den Gesichtern, das Hervortreten der weißen Knochen, und die Haare, die aussahen wie Drahtgeflecht. Marcus Richter zählte mit bebenden Lippen nach, ohne jedoch lauter zu sprechen. Zehn Leichen! Zehn Tote, die so lagen, daß sie einen Stern aus kalten, starren Leibern bilden konnten. Die Köpfe waren alle einem Zentrum zugewandt, sie bildeten gewissermaßen den äußeren Ring eines Kreises, den auch die Körper nachzeichneten, bei denen die Arme und Beine vom eigentlichen Rumpf ein wenig abgespreizt waren. Ein Stern aus Leichen! Marcus spürte den Schmerz an seinem Daumen. Das Feuer hatte ihn dort gestreift. Er zuckte zusammen, und die Flamme erlosch, so daß sich die Dunkelheit wieder gnädig über die makabre Szenerie legen konnte. Er wußte nicht, was er denken sollte. Die eigenen Probleme waren verschwunden. Er spürte nicht mal die Schmerzen in seinem Gesicht, er saß nur da, ohne sich zu rühren, und er war zu einer Statue geworden, in der trotzdem das Herz wild klopfte. Damit hätte er nicht gerechnet, damit hätte er auch nicht rechnen können. Alles war so verrückt, so auf den Kopf gestellt, und er selbst kam sich vor, als hätte man ihn an den Flügel einer Mühle gebunden, der sich im Wind drehte. Ihm wurde übel. Er hatte Mühe, sich nicht übergeben zu müssen, und er hörte Geräusche, wie seine Freundin von ihm auf den Knien wegrutschte. Marcus wußte nicht, was Tina alles gesehen hatte. Er hoffte nur, daß es nicht zuviel gewesen war, aber sie hatte etwas mitbekommen, und es war ihr brutal auf den Magen geschlagen, wie für ihn anhand der Würgegeräusche zu hören gewesen war. Er hatte die Fratze des Todes in all ihrer Scheußlichkeit sehen können, und damit kam er nicht zurecht.
Was war hier geschehen? Warum hatte man die Menschen einfach umgebracht? Was hatten sie dem unheimlichen Sheriff denn getan? Und warum lebten Tina und er noch? Würde der Killer irgendwann zurückkehren und sie beide töten? Es war damit zu rechnen. Eigentlich müßte ich durchdrehen, dachte Marcus, und er wunderte sich darüber, daß er es nicht tat. Statt dessen hockte er inmitten des Leichengeruchs und grübelte über das Motiv nach. Da gab es jemand, der Menschen einfach umbrachte, der Leichen sammelte! Mein Gott! Und bald würden auch Tina und er in diesen makabren Kreis eingereiht. Das Herz schlug wie irre. Marcus schwitzte und fror zugleich. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was hier ablief und noch ablaufen würde. Es war alles so unbegreiflich. So etwas hatte er nicht einmal gelesen oder in einem Film gesehen. Aus diesen schrecklichen Streifen konnte man noch hinausgehen, hier allerdings gab es keine Flucht. Hier waren sie Gefangene, denn eine Tür oder einen Ausgang hatten sie noch nicht entdeckt. Tina würgte noch immer. Dabei weinte sie auch, und Marcus riskierte es wieder, die Flamme des Feuerzeugs zucken zu lassen. Auch ihm war übel, und auf dem Weg zu seiner Freundin konnte er dieses Gefühl nicht mehr länger unterdrücken. Irgendwann fanden die beiden wieder zusammen. Sie hatten sich wieder hingekniet, klammerten sich aneinander, zitterten beide, aber sie waren stumm. Das blanke Entsetzen hatte sie sprachlos gemacht. Welch ein Grauen… Marcus merkte, daß Tina etwas sagen wollte. Sofort flüsterte er an ihrem Ohr: »Bitte nicht, Tina, bitte nicht. Du darfst nicht reden. Es ist alles anders, denke nicht daran. Wir… wir… leben, wir gehören nicht zu den anderen.« Sie nickte nur. Marcus wußte, daß er stark sein mußte. So sah ja immer die Rolle des Mannes aus, aber es stimmte nicht. Es war überholt. Der Mann war nicht stärker als die Frau, und Marcus fühlte sich ebenso mies und am Boden wie auch Tina. Er wußte, daß er hier raus mußte. Ja, er mußte weg, er und Tina sollten verschwinden, aber er wußte auch, daß ihm die Zeit dafür wohl nicht mehr bleiben würde. Aus eigener Kraft war es nicht zu schaffen. Auch wunderte er sich darüber, daß sie beide trotz allem diesen schrecklichen Anblick noch so gut verkraftet hatten. Sie hätten durchdrehen müssen, schreiend weglaufen, ihr Geist hätte verwirrt werden müssen, das alles wäre normal gewesen. Es war nicht eingetreten, doch er wußte, daß sie der Schock irgendwann einholen würde. Doch gab es ein Irgendwann…?
Die Zeit floß dahin. Keiner von ihnen hatte die Kraft, auf die Uhr zu schauen, aber sie merkten auch, daß die kniende Haltung nicht eben die beste war, und irgendwann, als der Druck gegen ihre Knie zu groß wurde, stemmten sie sich gegenseitig ab, um auf die Beine zu kommen. Sie standen, stützten sich wieder ab, rangen nach Worten, und Tina hatte ihren Kopf gegen Marcus’ Schulter gelegt, obwohl er den gleichen Trost gebraucht hätte. »Kannst du reden?« hauchte er. Tina nickte. »Wir müssen hier weg – egal wie. Ich und du, wir müssen uns zusammenreißen, auch wenn das kaum geht. Jemand hat uns hier in dieses Grab hineingeworfen. Es gibt einen Eingang, und der Eingang ist auch gleichzeitig der Ausgang. Hast du gehört?« »Ja…«, drang es schwach aus ihrem Mund. »Kannst du gehen?« »Mit dir ja.« »Ich werde noch einmal leuchten, Tina. Dieses Gefängnis, wo immer es auch liegen mag, muß eine Tür haben.« »Und wenn sie verschlossen ist?« »Dann wissen wir zumindest, daß der unheimliche Mann durch diesen Eingang kommen wird.« »Was willst du dann tun?« »Wir müssen versuchen, ihn niederzuschlagen, wenn er tatsächlich kommt. Wir müssen ihn einfach überraschen.« »Womit willst du schlagen?« »Keine Ahnung. Vielleicht finden wir was.« Tina fing wieder an, stärker zu zittern. »Ich… ich… will keine Leichen mehr sehen.« »Schon gut.« Im Dunkeln tasteten sie sich schrittweise voran. Sie hielten sich gegenseitig fest, hatten die freien Arme ausgestreckt, um ein Hindernis so schnell wie möglich erfassen zu können, aber sie fanden zunächst keinen Widerstand. Marcus hatte so etwas wie Führung übernommen. Die Lage der Toten hatte er noch ungefähr in der Erinnerung, und er wollte von ihnen weggehen und nicht über ein steifes Bein stolpern oder gegen einen starren Arm stoßen. Es wäre auch nichts für Tina gewesen. Erst als er glaubte, weit genug von diesem sternförmigen Kreis aus Leichen entfernt zu sein, da wagte er es, das Feuerzeug einzuschalten. Die Flamme tanzte in die Dunkelheit hinein und schuf eine helle Lichtinsel. Da war eine Wand – ein Hindernis! Beide gingen schneller, und sehr bald schon berührten ihre Handflächen die Wand.
Stein. Schmutziger, feuchter und irgendwie auch schmieriger Stein, der ebenfalls stank, aber nicht den üblen Geruch abstrahlte wie die Toten. »Wo eine Wand ist, muß auch eine Tür sein«, flüsterte Marcus, wobei seine Stimme wenig überzeugend klang, denn er hatte schon einen Schritt weitergedacht und ging davon aus, daß die Tür, wenn sie denn eine fanden, geschlossen war. Aber das Entdecken der feuchten Wand ließ die ersten großen Probleme etwas in den Hintergrund treten. An der Wand entlang setzten sie ihren Weg fort. Sie berührten sie auch, weil sie beide das Gefühl hatten, daß von ihr so etwas eine Sicherheit ausging. Die rauhen, kantigen Stellen waren von diesem jahrealten Schmier überdeckt worden. Es störte sie nicht, daß ihre Hände schmutzig wurden, sie wollten nur weiter, und es kroch eine gewisse Furcht über ihren Rücken. Auf Zehenspitzen bewegten sie sich. Der Boden war glatt durch den ebenfalls feuchten Dreck geworden. Sie gingen wie zwei Puppen, die sich selbst kaum gehorchten, sondern nach anderen Gesetzen lebten. Zwei Lebende bewegten sich in einer Welt der Toten, und das konnten sie nicht verkraften. Eines stellten sie fest. Sie befanden sich in einer viereckigen Leichenhalle, in der es keine Tür zu geben schien. Tina fing wieder an zu weinen. Mit den Tränen verließ auch die Kraft ihren Körper, so daß Marcus sie stützen mußte. Er versuchte zumindest nachzudenken und dabei einen klaren Gedanken zu fassen. Es fiel ihm schwer, so irrsinnig schwer. Immer wieder wollten seine Gedanken abstreifen, bis er sich auf den Begriff Grab konzentrierte und darauf, daß Gräber ja in der Erde lagen und nicht außerhalb. Also mußte diese furchtbare Leichenhalle ebenfalls in der Erde liegen und würde nur von einer Richtung aus zugänglich sein. Bisher hatten weder Tina noch er die Decke sehen können. Es mußte sie geben, und die Logik sagte ihm auch, daß dort ein Zugang existierte. Er schaltete das Feuerzeug noch einmal ein und streckte den rechten Arm so weit wie möglich in die Höhe. Vielleicht reichte der Widerschein der Flamme aus, um zumindest die Decke zu berühren und dort einen Zugang zu entdecken. Eine Falltür oder Ähnliches… Er sah nur die Flamme. Über ihr tanzte der Widerschein, doch er streckte sich nicht der Decke entgegen. Sie blieb im Dunkeln, und sie war ein schwammiges Etwas. Sein Arm sank nach unten. Die Flamme erlosch, und mit ihr auch der letzte Funke Hoffnung. Sie waren Gefangene, und Marcus fragte sich, wann auch sie in die Reihe der Toten eingebettet würden…
*** Wir hatten den Ort Lucas erreicht, und Doreen hatte noch immer an meinen Worten zu knacken. Sie konnte sich nicht beruhigen, sie schüttelte den Kopf, wiederholte, was ich gesagt hatte und ballte vor Zorn die Hände, während ich neben ihr saß und an einem kalten Longdrink schlürfte, der uns im Garten des kleinen Hotels serviert worden war, wo Doreen zwei Einzelzimmer bestellt hatte. Das Hotel in Topeka hatte uns nur als Zwischenstation gedient, hier in Lucas mußten wir unter Umständen länger bleiben. Viel hatte ich von der kleinen Stadt nicht gesehen, aber so stellte man sich eine Town eben im Mittleren Westen vor. Ein wenig verschlafen, eine breite Main Street, die von Geschäften flankiert wurde, und auch viel Raum zum Parken, was in den Großstädten Mangelware war. Die Häuser waren teilweise aus Holz errichtet, und in den großzügigen Vorgärten wurden die Rasenflächen gesprengt. Auf dem runden Tisch vor uns standen nicht nur die Gläser, es lag auch ein Handy dort, eines dieser flachen, tragbaren Telefongeräte, ohne das Doreen nicht auskam. Wir saßen im Schatten eines Verandadachs vor dem Hotel und konnten auch die nahe Zufahrtsstraße beobachten. Doreen Pratt war nervös. Sie hatte die Beine zwar übereinandergeschlagen, aber ihre Haltung zeigte nicht die Ruhe, die sie eigentlich ausdrücken sollte. Immer wieder wippte sie mit einem Bein oder schaute auf die Uhr, denn wir beide erwarteten den Sheriff von Lucas, der nicht nur für diese Stadt zuständig war, sondern für einen ganzen Distrikt. Der Anruf hatte ihn auf einer Kontrollroute erreicht, und er hatte versprochen, so schnell wie möglich zu uns zu kommen. Sein Name war Ray Orwick. Doreen und ich hatten uns abgesprochen und waren beide einverstanden gewesen, Orwick mit dem Problem seines Kollegen zu konfrontieren, wobei wir ihm nicht die ganze Wahrheit sagen würden. Da wir als einzige Gäste auf der Veranda saßen, konnten wir uns auch unterhalten. »Und Sie bleiben tatsächlich bei Ihrer Meinung, diesen Hauch gespürt zu haben?« »Ja.« »Ich hätte es an meine Dienststelle weitermelden sollen, John.« »Nein, nur das nicht.« »Aber man hätte…« »Pardon, Doreen, man hätte nicht. Ich hätte mich zumindest gestört gefühlt, der Killer ebenfalls, glauben Sie mir. Ihm wäre ein gewisser Massenauftrieb an Polizisten nicht verborgen geblieben, und er hätte sich bestimmt zurückgezogen.« »Meinen Sie, daß er es trotzdem tut?«
»Das weiß ich nicht.« »Wenn Sie ihn gespürt haben, kann er Sie doch ebenfalls als einen Feind ausgemacht haben.« Ich trank mein Glas leer und schaute einer Ameise zu, die über den hellen Tisch kroch, der teilweise, ebenso wie unsere Sessel, aus Korb hergestellt worden war. Dicke, bunte Kissen hatten sie weich werden lassen. »Das hoffe ich sogar.« »Oh…« »Ich wünsche es mir, Doreen. Wenn er etwas bemerkt hat, wird er zusehen wollen, daß er diesen Feind aus dem Weg räumt. Also konzentriert er sich auf mich und nicht auf irgendwelche anderen Opfer. Das wäre ideal. Ich will nicht sagen, daß ich mich darüber freue, aber in unserem Job muß man mit diesen Dingen rechnen.« »Ja«, murmelte sie, »das denke ich auch.« »Sehen Sie.« Doreen schaute sich um. Dabei lächelte sie etwas verkrampft. »Glauben Sie, daß er uns schon beobachtet?« »Nein. Er wird uns so finden können. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß wir es mit einer Gestalt zu tun haben, die negativ aufgeladen ist. Es gibt den Begriff des Dämons dafür, worüber Sie lachen können oder auch nicht. Aber es stimmt leider. Sie müssen sich damit abfinden, es mit einem Dämon zu tun zu haben.« Doreen nickte. »Ich kann es zwar nicht glauben, aber Ihre Erfahrungen sind besser.« »In der Tat.« Ein Kellner kam und erkundigte sich, ob wir noch Wünsche hätten. Doreen bestellte einen Kaffee, ich noch einen Fruchtdrink, und als der Mann verschwunden war, klopfte sie ungeduldig mit ihrem Knöchel auf das liegende Telefon. »Allmählich könnte Orwick kommen. Ich will hier nicht den ganzen Abend sitzen und auf ihn warten.« »Noch haben wir keinen Abend.« »Aber bald.« Sie war sehr ungeduldig. Verständlich, denn dieser Fall drückte auf den Magen. Die Sonne war schon tiefer gesunken. Sie stand schräg hinter der mächtigen Krone einer großen Platane und verlieh dem Baum einen rötlichen Schimmer. Metallisch schimmerte der Lack des auf die Zufahrt des Hotels einbiegenden Wagens, und wir sahen auch das Blitzen der Antenne. Sheriff Orwick kam. Er parkte, stieg aus und schob seine dunkle Brille in die Höhe. Orwick gehörte zu den Typen, die in diese Westernlandschaft hineinpaßten. Er war groß, hatte breite Schultern, trug ein kariertes Hemd, eine schwere Waffe am Gurt, auch eine Tasche für den Notizblock und sogar Handschellen. Er ging etwas staksig, wie damals die Cowboys, die sich
auf den Rücken ihrer Pferde wohler gefühlt hatten als auf den eigenen Beinen. Orwick trat an unseren Tisch und nahm den Hut ab. Sein Haar schimmerte fast gelb, ausgebleicht von der Sonne, die in seinem Gesicht ebenfalls ihre Spuren hinterlassen hatte. Er war braun wie ein Urlauber. Der Kellner bekam große Augen, als er den Sheriff sah, der neben uns seinen Platz einnahm. »Was darf ich bringen, Sir?« »Wie immer, ein großes Wasser.« »Sofort, Sir!« Ray Orwick war eben ein Mensch, vor dem man hier Respekt hatte. Für mich war ein Filmklischee Realität geworden. Den Hut hatte der Mann auf seine Beine gelegt, er schaute sich um, und sein Blick blieb auf mir haften. »Sie sind also der Engländer, von dem die Kollegin gesprochen hat.« »Ja.« Er grinste breit. »Mal gespannt, was Sie hier reißen wollen. Den Killer haben selbst wir nicht gefunden, und Sie können sich denken, daß wir uns auskennen.« Die Worte sagten mir, daß er sich über meine Mithilfe nicht eben freute. Als der Kellner die Flasche Wasser brachte, kriegte Orwick von mir die Antwort. »Ich stimme Ihnen zu, Sheriff, aber ich bin nun einmal abkommandiert worden, und ich möchte ebenso wie Sie, daß dieser Mensch gefunden wird. Es sind auch Landsleute von mir unter den Opfern.« »Das ist kein Mensch, das ist ein Schwein.« »Stimmt.« Doreen ließ den Sheriff erst trinken, bevor sie ihn ansprach. »Es hat sich also in den letzten beiden Tagen nichts Neues ergeben. Ihnen ist nichts aufgefallen.« »Weder mir noch meinen Deputies. Und wir sind Tag und Nacht unterwegs. Natürlich ist uns klar, daß wir nicht überall sein können, aber wir haben zahlreiche Fahrer angehalten und überprüft. Herausgekommen ist dabei leider nichts.« »Sie haben aber keine Polizei wagen überprüft.« Diese Frage gefiel ihm überhaupt nicht. Er funkelte mich wütend an. »Was soll das denn heißen?« »Ich habe diesen Satz nur in den Raum gestellt.« »Wir sollen also Kollegen anhalten und überprüfen?« »Nicht die bekannten.« »Unbekannte gibt es hier nicht, Mister. Ich lege für alle meine Hand ins Feuer.« »Das ist sehr nobel.«
Er wollte mit der Faust auf den Tisch schlagen, beherrschte sich aber. »Meinen Sie denn, daß der Killer ein Kollege ist?« »Ich dachte nur an die Möglichkeit.« Der Sheriff beugte sich mir entgegen. »Sinclair, Sie kennen die Verhältnisse hier nicht. Ich weiß nicht, wie unser Land drüben bei euch gezeichnet wird. Wir leben weder an der Ost- noch an der Westküste, wo es Dinge geben mag, über die man sich als guter Polizist schämen muß. Hier passiert so etwas nicht. Hier sitzen Sie im Zentrum des wahren, des guten Amerikas. Das sollten Sie sich immer vor Augen halten, Kollege.« »Meinen Sie?« fragte Doreen. Der Sheriff hatte den Unterton in ihrer Stimme nicht überhört. »Denken Sie auch so? Klar, Sie kommen ja von der Ostküste.« »Das hat mit dem Denken nichts zu tun. Man muß nur alle Möglichkeiten durchchecken.« »Aber nicht derartige, die sich auf unsere Polizei beziehen. Wie kommen Sie überhaupt darauf?« »Wir denken eben in alle Richtungen.« »Das ist mir zu theoretisch, Lady. Sie haben mich hergebeten, ich bin gekommen. Bei allem Respekt vor Ihnen und Ihrem Kollegen, ich möchte mir auf keinen Fall irgendwelche Verdächtigungen anhören, die haltlos sind. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen, muß auch zurück in das Büro, um die Leute für die Nachtschicht einzuteilen.« »Wunderbar, Sheriff, das ist sehr löblich. Darf ich fragen, was Sie vorhaben?« »Der Plan ist nicht geändert worden. Wir fahren auch in dieser Nacht Patrouille, ob es Ihnen nun paßt oder nicht. Und irgendwann läuft uns das Schwein in die Falle.« »Ich wünsche es Ihnen.« »Danke, Lady, aber darf man fragen, was Sie vorhaben? Wollen Sie ebenfalls mit Ihrem Fahrzeug auf Patrouille gehen. Wäre zumindest eine Möglichkeit.« »Das ist es.« »Klang nicht begeistert.« »Sie haben recht.« »Und was stört Sie?« »Das Fahren an sich. Wer immer der Killer auch sein mag, ich denke mir, daß er sich längst auf Ihre Touren eingestellt hat und entsprechend reagiert. Er wird schon wissen, wie er Ihnen entwischen kann.« »Es hört sich an, als würden Sie auf der anderen Seite stehen.« »Das ist zwar eine Unverschämtheit, Sheriff, aber ich stehe nicht auf dieser Seite. Ich will, genau wie Sie auch, daß der Killer gefaßt wird, und mein Kollege und ich werden dabeisein.« »Jaaa…«, dehnte er in seinem breiten Slang. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Sonst noch etwas?«
Ich hatte noch eine Frage. »Sagen Sie mal, Sheriff, wie viele Patrol cars haben Sie eigentlich in Ihrem Bezirk?« »Warum wollen Sie das wissen?« »Nur so.« »Es werden sieben unterwegs sein. Reicht das?« Ich breitete die Arme aus. »Das müssen Sie wissen. Aber achten Sie auf einen achten Wagen.« Orwick verengte die Augen. »Verdammt noch mal, was soll das denn wieder? Sind Sie noch immer nicht von Ihrer Manie befreit worden?« »Es war nur ein Hinweis.« Der Sheriff stand auf. Er nickte uns zu, sagte kein Wort zum Abschied und verschwand. Selbst das Wasser hatte er nicht bezahlt. Möglicherweise kriegte er es gratis. Wir schauten ihm nach, wie er zu seinem Wagen ging. Doreen krauste ihre Lippen. »So habe ich ihn mir vorgestellt, ein kleiner Gernegroß. Sie glauben gar nicht, welche Macht diese Sheriffs haben. Vor denen kuscht jeder, nicht nur ein Kellner. Zusätzlich sind sie noch verdammt arrogant. Auch Orwick können Sie nicht so ohne weiteres vom Sockel stoßen, das steht fest.« »Wollen wir das denn?« »Nein, aber seine Reaktion habe ich geahnt. Die Zusammenarbeit wird schwierig. Wir hätten ihm die Füße küssen sollen, aber darauf kann ich verzichten.« »Ich ebenfalls.« Doreen Pratt schaute auf die Uhr. »Kann ich Sie für einige Minuten allein lassen, John?« »Sicher, warum nicht? Wo wollen Sie denn hin?« »Tanken.« »Ich bin dann in meinem Zimmer.« Die FBI-Agentin stand auf und schaute zum Himmel. »Ich denke, daß wir nach meiner Rückkehr losfahren sollten.« »Haben Sie die Route schon festgelegt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sonst würden wir ja so handeln wie Orwick und seine Deputies. Wir werden uns nach unseren Eingebungen richten, meine ich.« »Einverstanden.« Auch ich stand auf, und die Agentin klatschte zum Abschied gegen meine Handfläche. Dann ging ich ins Hotel. *** Da war etwas gewesen! Etwas Schreckliches. Etwas Unerwartetes hatte ihn getroffen. Es war wie ein Blitzschlag gekommen und war auch wie ein Blitz eingeschlagen.
Er hatte es schon zuvor gespürt, als er die Verfolgung des Mustangs aufgenommen hatte. Dann war er an den beiden vorbeigefahren, die für ihn ausgesehen hatten wie potentielle Opfer, doch während des Überholvorganges hatte es ihn dann erwischt. Sheriff Tod fror! Angst verspürte er nicht. Nur Kälte, und sie wiederum hing mit diesem verfluchten Kontakt zusammen, der ihm überhaupt nicht gefallen hatte. Er hatte ihn aufgewühlt, und er ärgerte sich über sich selbst, daß er zum erstenmal seit langer Zeit die Flucht ergriffen hatte. Das wollte ihm nicht in den Sinn, das war für Sheriff Tod etwas völlig Neues. Er hatte einen Gegner gefunden, einen Menschen als Feind, und das hatte er eigentlich nie für möglich gehalten. Er war durcheinander. Kurz nach dem Überholvorgang hatte er seinen Streifenwagen beschleunigt und war vom Highway aus in einen schmalen Weg eingebogen, der von der Straße her kaum zu sehen war, weil biegsame Sträucher die kleine Abfahrt verdeckten. Sheriff Tod war mit seinem Wagen über sie hinweggefahren und hatte im Rückspiegel sehen können, wie sich die Sträucher wieder aufgerichtet hatten. Sehr schnell hatte er den Wagen gestoppt. Er war darin sitzengeblieben, die Blicke immer wieder in die Spiegel gerichtet, doch die Verfolger waren nicht mehr zu sehen gewesen. Vorbei… Er keuchte. Er bewegte seine Hände. Er schaute seine Haut an, die so grau wie die einer Feldmaus wirkte. Er tastete über sein Gesicht. Es fühlte sich glatt an, es ließ sich kaum zusammendrücken, alles war bei ihm anders als bei einem Menschen. Sheriff Tod lauschte in sich hinein. Es gab bei ihm einen Körper, und es gab auch ein Inneres. Aber es funktionierte anders als bei einem Menschen. Es war angefüllt mit negativen Gefühlen und Befehlen. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen, er würde durch ein tiefes Tal schreiten müssen, um alles so zurechtzulegen, wie es sein mußte. Und es war soweit. Zwei Personen hatten ihm noch gefehlt, und die hatte er sich geholt, um auf zwölf zu kommen. Und ausgerechnet jetzt, vor der alles entscheidenden Nacht, hatte ihn dieser Blitz erwischt. Das plötzliche Erkennen, einen Gegner gefunden zu haben. Wieso? Wo kam er her? Er war stärker als die Menschen, er war auch raffinierter. Das hatte er immer wieder beweisen können und auch müssen. Es war ihm gelungen, auf die richtige Schiene zu gelangen, und er war sie entlanggefahren. Alles lief bestens.
Bis jetzt! Er öffnete seinen Mund und knurrte wie ein Tier. Es war einfach die Wut, die sich Platz schaffen mußte. Er lauschte in sich hinein, ob er dieses Gefühl steuern konnte. Nein, es war nichts zu machen. Der andere war zu weit weg, aber die Verbindung stand noch. Sie war sehr schwach, sie kippte beinahe, und er bemerkte, wie ihn die Lust überkam, sich auf die Fersen seines Feindes zu setzen. Er wollte ihn sehen. Der flüchtige Blick beim Vorbeifahren hatte ihm nicht viel gebracht. Den Wagen würde er leicht finden, und wo er stand, war auch sein unbekannter Feind nicht weit. Er dachte auch an die zweite Person im Auto. Es war eine Frau gewesen, und auch sie hatte er auf seine Liste gesetzt. Er brauchte die beiden zwar nicht mehr, doch er wußte, daß es Feinde waren, die sich auf seine Spur gesetzt hatten, und sein Geheimnis sollte nicht entdeckt werden. Sheriff Tod drehte den Zündschlüssel. Der Motor tat seine Pflicht. Aber der Unheimliche hinter dem Lenkrad wendete nicht, er fuhr geradeaus, bis er einen schmalen Querweg erreichte, der relativ sandig war und die Reifen Mühe hatten, sich durch diesen Untergrund zu wühlen. Sheriff Tod gab nicht auf. Er kannte die Strecke, die er fahren mußte, denn sie brachte ihn in ein zweites Versteck. Es lag in einer unwegsamen Umgebung. Von drei Seiten durch dicke Brombeerhecken geschützt, und nur an einer Stelle hatte er freie Bahn, so daß er bis zu der dunklen Öffnung heranfahren konnte. Sie bildete den Eingang zu einer Höhle. Er fuhr den Wagen nicht hinein, sondern stellte ihn neben der Höhle in einer sicheren Deckung ab. Bisher jedenfalls war sein Fahrzeug noch nicht gefunden worden. Dann betrat er die Höhle. Die Plane hing über einem europäischen Kleinwagen. Als er sie wegzog, kam ein sandfarbener Ford Fiesta zum Vorschein. Ein unscheinbarer, der nicht weiter auffiel. Und auffallen wollte er auf keinen Fall, wenn er sich dem Ziel näherte. Er setzte sich hinter das Lenkrad. Den Hut und die Kleidung hatte er zuvor gewechselt. Niemand würde ihn als einen Sheriff erkennen. Er sah jetzt aus wie viele andere auch. Nur wer sehr nahe an ihn herangetreten wäre, der hätte etwas bemerken können. Dem aber würde er entgehen, wie er es schon öfter getan hatte. War der Kontakt da? Ja, er spürte ihn noch. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Dabei bildete sich nicht eine Falte auf seiner übrigen Haut. Das mußte auch so sein, denn er war eben etwas Besonderes…
*** Ich spürte in mir die Unruhe, und ich kam mir vor, als stünde ich unter einer Kontrolle, obwohl niemand zu sehen war. Warum? Am Zimmer lag es nicht. Es war großzügig geschnitten und mir gefiel auch die helle freundliche Einrichtung. Aber die Bedrohung, das Wissen um eine Gefahr, wollte einfach nicht aus meinen Sinnen verschwinden. Ich ging zum Fenster, das mehr einer Terrassentür glich, weil es bis zum Boden reichte. Mein Blick fiel in einen prächtigen Garten, der künstlich bewässert wurde. Dort wuchsen die Gemüse und Kräuter, die später in der Hotelküche verwendet wurden. Jenseits des Gartens begann ein dichter Buschgürtel. Da zahlreiche Mücken an einer bestimmten Stelle über ihm tanzten, schloß ich auf einen kleinen Teich. Die Unruhe in mir verwandelte sich in eine leichte Bedrohung, als hätte es jemand auf mich abgesehen, der sich aber noch nicht aus seinem Versteck hervortraute. Wo konnte er sich verborgen halten? Mein Blick glitt über den Garten hinweg. Er streifte den Buschgürtel, weil ich davon ausging, daß sich der Gegner dort versteckt hielt, aber es war nichts zu sehen. Wenn es Lücken gab, steckten sie voller Schatten, die ich nicht durchdringen konnte. Ich tastete nach meinem Kreuz. Es lag glatt auf meiner Brust, und ich hatte den Eindruck einer leichten Erwärmung. Natürlich dachte ich an die Gestalt im Streifenwagen. Ich hatte sie gespürt, und es war durchaus möglich, daß auch sie mich mit ihren negativen Sinnen aufgefangen hatte. Wir wußten voneinander. Einer jagte den anderen. Das Spiel um Leben und Tod war eingeläutet worden. Eine reine Nervensache eben. Bewußt blieb ich am Fenster stehen. Ich hatte auch die Gardine zur Seite gezogen. Im Zimmer war es still, bis auf das leise Rauschen der Klimaanlage. Es rührte sich nichts im und hinter dem Garten. Der Nachmittag hatte sich bereits verabschiedet, der Abend würde kommen, aber noch gewann der Tag den Kampf. Zwei, drei Minuten vergingen. Die Empfindungen blieben. Sie strömten auf mich ein. Sie wurden weder stärker noch schwächer, für mich ein Beweis, daß sich der Unbekannte nicht von der Stelle gerührt hatte. Ich dachte daran, daß Doreen Pratt bald zurückkehren würde. Bevor sie bei mir im Zimmer war, wollte ich herausgefunden haben, ob dort tatsächlich jemand lauerte. Da der andere die Initiative nicht ergriff, tat ich es, öffnete die Terrassentür und verließ das Zimmer.
Ein schmaler Weg führte durch den Garten. Er war mit hellen Steinen bedeckt, die die Hitze des Tages gespeichert hatten und jetzt wieder abstrahlten. Ich ging langsam, den Blick auf den Buschgürtel hinter dem Garten gerichtet. Je näher ich kam, um so weniger war zu sehen. Kein Durchlaß, alles war dicht. Heckenrosen verteilten sich zwischen den Zweigen. Viele von ihnen wiesen bereits ein sehr dunkles Rot auf, ein Zeichen, daß ihre große Blütezeit vorbei war. Ich ließ mich nicht beirren, ging weiter, setzte einen Schritt vor den anderen. Da sah ich das Blitzen! Kurz nur, es reichte aus, um mich zu warnen und meinen Gang zu stoppen. Ich suchte nach einem Vergleich und fand ihn auch. Das Blitzen hatte auf mich wie ein Reflex gewirkt. Als wäre ein Sonnenstrahl auf ein Stück Glas gefallen oder auf eine winzige Spiegelscherbe. Glas konnte schon richtig sein, denn auch die Augen der Ferngläser und Feldstecher bestanden aus Glas. Ich ging schneller. Das Blitzen wiederholte sich nicht. Dafür kam es mir vor, als würden sich innerhalb des dichten Buschwerks Zweige bewegen. Ziemlich hastig sogar, wippend, wie nach der Aktion eines Menschen, der sehr schnell sein Versteck verlassen mußte. Nur hörte ich nichts. Kein Schaben, keine dumpfen Tritte auf dem Boden, auch nicht das Brechen eines Zweigs. Die Stille innerhalb des Busches blieb. Wer immer mich beobachtet haben mochte, er war längst verschwunden. Dennoch hörte ich ein Geräusch. Jenseits der Buschmauer war es aufgeklungen. So hörte es sich an, wenn jemand den Motor eines Autos startete und davonfuhr. Ich wandte mich wieder um. Viel schlauer war ich nicht geworden, doch wir hatten es geschafft, den Killer auf uns aufmerksam zu machen. Und das einzig und allein bei seinem Überholvorgang. Für mich stand zweifelsfrei fest, daß der Mörder zum Kreis der Polizisten zählte, auch wenn es Sheriff Orwick nicht wahrhaben wollte. Durch den Garten ging ich wieder zurück. Als ich näher an mein Zimmer herankam, sah ich hinter der Scheibe eine Frauengestalt. Doreen Pratt war vom Tanken zurück und wartete auf mich. Sie schaute mich neugierig an und entschuldigte sich, daß sie so ohne weiteres mein Zimmer betreten hatte. Ich winkte ab. »Macht nichts.« »Aber Sie waren weg, nicht?« »Ja, im Garten.« »Just for fun?« »Nein, ich fühlte mich beobachtet.«
Sie pfiff durch die Zähne. »Dann kann ich davon ausgehen, daß uns jemand auf den Fersen ist.« »Können Sie.« Ich setzte mich auf den Bettrand und strich durch mein Gesicht. »Der Kontakt, den ich bei diesem Überholvorgang spürte, ist nicht verschwunden, und ich kann davon ausgehen, daß dieser Killer auch mich gespürt hat.« »Der Mann im Streifenwagen.« »So ist es.« Doreen nickte. »Das ist ein verflucht hartes Stück. Wenn Sie recht haben sollten, wird der gute Ray Orwick umdenken müssen.« »Das ist meine geringste Sorge, Doreen. Ich denke vielmehr etwas anders.« »Und wie?« »Wenn er Bescheid weiß, muß er uns aus dem Weg räumen, und dies so rasch wie möglich. Deshalb denke ich, daß er uns auf den Fersen bleiben wird, wenn wir fahren.« Die Agentin nickte. »Ja, das ist möglich.« Sie streckte mir die Arme entgegen. »Schauen Sie mal.« »Das ist eine Gänsehaut.« »Sicher. Ich bekomme sie selten, aber bei diesem Fall habe ich ein verdammt ungutes Gefühl. Zwölf Menschen sind verschwunden. Ich gehe mal davon aus, daß wir beide uns in die Phalanx einreihen sollen.« »Das können Sie.« Sie stand auf und lachte. Es klang unecht, verdammt unecht sogar… *** Plötzlich hatte er nur eines im Sinn – Flucht! Er hatte sich diesen verfluchten Hundesohn mit Hilfe seines Fernglases näher herangeholt. Er hatte sein Gesicht und seinen Körper studieren können, und er würde ihn nie vergessen. Wie erreichte jemand eine derartige Ausstrahlung? Sheriff Tod wußte es nicht. Nur dachte sein krankes Gehirn daran, daß für beide Personen auf dieser Welt kein Platz mehr war. Einer mußte verschwinden, und das sollte auf jeden Fall dieser verdammte Fremdling sein, seine Begleiterin eingeschlossen. Während der Fremde auf den Beobachtungsplatz zuging und sich Sheriff Tod zurückzog, drehten sich seine Gedanken um die weibliche Person. Er hätte sie ebenso hassen müssen, nur war ihm das nicht möglich. Er haßte Menschen, aber sie nicht. Das brachte ihn ebenfalls durcheinander. Er liebte sie auch nicht, dazu war er nicht fähig, aber er konnte ihr keinen Haß entgegenbringen, sondern nur so etwas wie Neutralität. Warum?
Sheriff Tod wurde nervös. Er fürchtete sich plötzlich vor sich selbst. Das war ihm nie zuvor passiert. Er drehte fast durch, faßte sich an den Kopf und wußte überhaupt nicht, wie er zurechtkommen sollte. Fluchtartig warf er sich in den Wagen. Glücklicherweise sprang der Motor sofort an. Sheriff Tod fuhr davon. Es gab jetzt nur noch ein Ziel, wo er sich erholen und über seine Erfolge freuen konnte. Es war die alte Kirche auf dem Hügel. *** Zeit war verstrichen. Das wußten Tina Berg und Marcus Richter, aber sie hatten nicht auf die Uhr geschaut. So etwas gehörte zu Dingen, über die sie nicht mehr nachdenken wollten. Es spielte einfach keine Rolle, ob eine, zwei oder drei Stunden verstrichen waren. Ihrer beider Leben drehte sich ausschließlich um den Moment und um eine Zukunft, über die sie lieber nicht nachdenken wollten. Sie waren apathisch geworden. Beide standen nicht mehr, sie saßen auf dem Boden. Sie hatten auch ihre Sprache verloren, verharrten in einem dumpfen Schweigen. An die sie umgebenden Toten hatten sie sich zwar nicht gewöhnt, aber sie hatten sie akzeptiert. Die Toten waren da, sie taten ihnen nichts, es war einfach nur der Geruch, der sie immer daran erinnerte. Sie hatten auch kein Licht mehr gemacht, denn es gab ihnen nichts Positives. Helligkeit enthüllte nur immer wieder die Dimension des Schreckens, und den ließen sie lieber in ihren eigenen Gedanken. Sie lehnten gegeneinander, weil einer den anderen spüren wollte. Die Wärme ihrer Körper gab ihnen eine gewisse Sicherheit, und beide waren davon überzeugt, daß nicht nur einer von ihnen sterben würde. Wenn, dann gingen sie gemeinsam in den Tod. Sie hatten darüber gesprochen und sich gewundert, daß sie überhaupt dieses Thema hatten anschneiden können. Wahrscheinlich war es ihnen noch zu fremd, aber sie gaben sich, auch wenn sie nicht miteinander sprachen, gegenseitig Trost. Das machte allein die Nähe zueinander. Tina bewegte sich zuerst. Sie ließ ihren Arm über den Rücken des jungen Mannes zum Hals hin hochgleiten, sie strich durch sein Haar, er hörte ihr Seufzen und dann die leise Frage: »Weißt du, an was ich jetzt denke?« »Nein, wie sollte ich?« »Ich denke an unser Zuhause.« Marcus lächelte, was sie nicht sehen konnte. »An Deutschland, nicht wahr?«
»Ja, an den Garten hinter unserem Haus. Da stehen drei Pflaumenbäume, da gibt es auch eine dichte Brombeerhecke. Jetzt, wo wir August haben, sind die Früchte reif. Ich bin im August immer hingelaufen und habe sie geemtet. Es war toll. Weißt du, ich stelle mir einfach vor, wie ich sie zerbeiße, und ich spüre den Geschmack jetzt noch auf den Lippen und im Mund. Es ist so herrlich, es ist so wunderbar…« Ihre Stimme, die zu Beginn euphorisch geklungen hatte, wurde leiser und endete schließlich in einem Schluchzen. Marcus wollte seine Freundin trösten. Er wußte nur nicht, wie er es anfangen sollte. Er strich über ihr Haar, er ließ seine Handrücken über ihre Wangen gleiten, wo er die frische Feuchtigkeit der Tränen spürte, und er versuchte ihr zu erklären, daß noch nicht alles vorbei war. »So etwas darfst du nie denken. Wir leben, Tina. Man hat uns noch nicht getötet. Noch leben wir. Wie hat mal unser Pfarrer gesagt? Wo Leben ist, da gibt es auch Hoffnung. Und wo Hoffnung ist, da steht auch Gott. Daran muß ich denken, Tina.« »Hat es denn was gebracht?« fragte Tina. »Bist du nicht mehr so…« »Traurig, meinst du?« »Ja.« »Doch, ich bin schon traurig. Aber ich denke oft an die Hoffnung, von der unser Pfarrer gesprochen hat. Und die ist in mir, komischerweise. Vielleicht schaffen wir es doch.« Tina Berg ging auf den letzten Satz nicht ein. »Gebetet habe ich auch, Marcus. Ich habe mich nur nicht getraut, es dir zu sagen, wenn ich ehrlich sein soll.« »Warum denn nicht?« »Aus Furcht, daß du mich auslachen würdest.« »Unsinn.« »Es hat auch etwas geholfen. Ich bin ruhiger geworden. Ich habe gelernt, das zu akzeptieren, was ich gesehen habe. Und die Kraft in mir hat mir gesagt, daß alles nicht so schlimm ist. Daß es ein Danach gibt und ein Davor. Aber ich will noch in diesem Davor bleiben. Das Danach interessiert mich nicht.« »Du hast recht.« »Denkst du auch so?« »Bestimmt«, sagte Marcus. »Dann können wir uns gegenseitig stützen. Ich habe auch daran gedacht, daß man uns suchen wird. Irgendwann werden wir als vermißt gelten, man alarmiert die Polizei, man startet eine Suchaktion.« Sie wechselte sprunghaft das Thema. »Kannst du mir sagen, Marcus, wie lange ein Mensch ohne Wasser überleben kann?« »Nein, kann ich nicht.« »Eine Woche? Oder nur drei Tage…?«
»Ich habe keine Ahnung, Tina. Ich brauchte mich ja bisher nie damit zu beschäftigen.« »Ja, das stimmt. Ich auch nicht, und deshalb weiß ich es nicht. Aber ich habe einen wahnsinnigen Durst, und dann habe ich auch Angst vor Ratten. Irgendwo habe ich mal gelesen, daß Leichengeruch auch Ratten anzieht. Sie eilen zu den Toten und knabbern sie an. Bestimmt kommen sie auch hierher, dann werden sie auch uns anfallen.« »Nein, ich habe nichts gesehen.« »Die Ratten halten sich versteckt. Außerdem hast du Licht gemacht«, flüsterte Tina. »Sie sind schlau, sehr schlau sogar. Ich traue ihnen jedenfalls nicht.« »Warte es ab, bis…« »Pssst!« Das scharfe Geräusch ließ den jungen Deutschen verstummen. Er saß plötzlich kerzengerade und bewegte sich nicht. »Da war etwas«, hauchte Tina. »Was und wo?« »Ein Geräusch, Marcus. Über uns, glaube ich…« Marcus verdrehte die Augen und starrte gegen die für beide nicht sichtbare Decke. Er blieb in einer angespannten Haltung sitzen. Er hatte nichts gehört, was aber nichts heißen mußte, denn Tina hatte sich das Geräusch bestimmt nicht eingebildet. Außerdem warteten sie darauf, daß dieser Mörder zurückkehrte. Er würde zurückkehren, das stand fest, er mußte es einfach tun. Was würde dann passieren? Marcus wußte es, Tina sicherlich auch, aber beide dachten nicht näher darüber nach oder wollten nicht darüber nachdenken. Es reichte ihnen, wenn sie den Schrecken sahen und er… Tinas Griff um seinen Arm war hart. Fast schmerzhaft preßte sie sein Fleisch zusammen. Für einen Moment hielt er den Atem an, und genau in dieser Zeit geschah es. Da hörte er das Geräusch wieder! Es klang, als wären Finger dabei, über die Decke zu kratzen. Auch ein leises Knirschen war zu hören, und plötzlich hatten beide den Eindruck, es würde regnen. Es waren jedoch keine Tropfen, sondern kleine Steine oder Staub, die sich gelöst hatten, weil sich über ihnen etwas verändert hatte. Beide bewegten sich nicht. Sie wußten, daß die Zeit der Ruhe dahin war. Eine schon schmerzhafte Spannung hielt sie umklammert. Unsichtbare Hände mit langen Fingern umkrallten ihre Körper und drückten sie zusammen. Die Furcht ließ ihren Atem stocken, die Muskeln am Hals verspannten sich, weil sie die Köpfe zurückgelegt hatten und in die Höhe starrten, wo sich tatsächlich etwas tat. Dort entstand eine Öffnung.
Ein graues Viereck zeichnete sich dort ab. Trotz ihrer Furcht waren sie in der Lage, realistisch zu denken. Beide wußten nun, warum sie an den Wänden keinen Ausgang gefunden hatten. Es gab ihn einfach nicht. Der Aus- oder Eingang befand sich über ihnen, und er war zugleich für sie unerreichbar. Das Knirschen mußte entstanden sein, als die Abdeckung in die Höhe gehoben worden war. Noch sahen sie ausschließlich das Viereck. Es zeigte sich niemand, aber beide wußten, daß er in der Nähe lauerte. Sekunden verstrichen. Tina und Marcus warteten in einem angespannten Schweigen. Sie kamen sich vor wie auf dem Sprung. Sie waren bereit, wegzulaufen, aber sie wußten nicht, wohin sie gehen sollten, und deshalb starrten sie auch weiterhin in die Höhe, aus der sie jetzt Geräusche hörten. Schritte näherten sich dem Rand der Luke. Bald war er da. Er, der Mörder! Beide sahen den Schatten, die Silhouette des Schreckens, die für beide der Umriß des Teufels war. Die Bestie stand dort hochaufgerichtet. Sie hielt den Kopf gesenkt und starrte in die Tiefe. Die Gefangenen sahen wieder, daß der Mann einen Hut trug, unter dessen Krempe am Gesicht sich zwei dunkle Kreise abzeichneten, die Gläser der Brille. Glas so dunkel wie die Nacht, und trotzdem schimmerte etwas darin. Genau erkennen konnten sie die Bilder nicht, doch aus der Erinnerung heraus wußten sie, daß sich dort die beiden Totenköpfe in den Gläsern der Brille abzeichneten. Die namenlose Gestalt tat nichts. Sie stand einfach am Rand der Öffnung und verbreitete den Schrecken. Bis sie plötzlich in den Knien einknickte und sich bückte. Bei dieser Bewegung griff Tina nach dem Arm ihres Freundes und hielt sich daran fest. Aber der andere sprang nicht. In der Hocke blieb er sitzen, umgeben von einem grauen Dämmerlicht, das aussah, als würde es sich aus zahlreichen Spinnweben zusammensetzen. Er kam nicht. Er setzte nicht zum Sprung an und gab auch mit keiner anderen Bewegung zu erkennen, daß er irgend etwas vorhatte, was in diese Richtung wies. Er wartete nur. Aber er bewegte seinen Kopf und nun auch den rechten Arm. Die Hand brachte er in die Höhe des Gürtels, um dort einen Gegenstand hervorzuziehen. Die Gefangenen konnten nur erkennen, daß er ziemlich dunkel war, er auch geschwenkt wurde und plötzlich an der Oberfläche hell aufflammte. Ein breiter,, weißgelber Strahl drang schräg in die Tiefe und leuchtete einen Teil des Gefängnisses aus. Genau in dem Raum zwischen den
Leichen und den beiden Gefangenen berührte er den Boden und hinterließ dort einen bleichen Kreis. Dann wanderte er. Aber nicht auf Tina und Marcus zu, sondern in die entgegengesetzte Richtung, als wollte er die dort versammelten Toten auf seine Art und Weise begrüßen. Beide hielten die Luft an. Sie spürten im Hals das Kratzen, ihre Herzen schlugen schneller als gewöhnlich, und sie wollten dem Weg des Strahles nicht folgen, aber sie konnten nicht anders. Das Licht war wie ein Magnet, das sie anzog. Sie beobachteten genau den Weg, den der Strahl nahm. Ein Ziel? Ja, er hatte es. Er tastete die zehn Leichen ab. Zum erstenmal sahen Tina und Marcus sie in all ihrer Scheußlichkeit. Sie erlebten die Einzelheiten, sie sahen, wie die Menschen ums Leben gekommen waren, und sie bekamen auch mit, wie sich das Licht in den Augen der sternförmig liegenden Toten sammelte und ihnen ein kaltes, schauriges Leben gab. Es kam ihnen vor, als würden sich die Toten jeden Augenblick erheben und als tumbe Zombies hier durch die Grabkammer wandern. Scheußlich… Der Killer ließ den Strahl langsam wandern. Er nahm sich Zeit, er lachte leise, und dieses Geräusch verstummte erst, als der breite Lichtarm in eine andere Richtung schwenkte und sich als neues Ziel Tina und Marcus aussuchte. Sie schlossen die Augen, weil sie geblendet wurden, aber Sheriff Tod war gnädig und ließ ihn nach unten wandern, so daß er nur einen bleichen Schatten auf ihre dicht zusammengedrückte Körper malte. Dann hörten sie das Lachen. Mehr ein Kichern, aber zugleich einfach ein widerliches Gelächter, wie sie es noch nie gehört hatten. So konnte eigentlich nur der Teufel lachen, zumindest stellten sie es sich so vor. Und wen sollte ein Killer wie dieser Sheriff schon als Verbündeten haben? Das Lachen verstummte. Sheriff Tod verschwand nicht. Er sprach sie an. Seine Stimme war genau zu hören, auch wenn sie ihre Ohren nur als Flüstern erreichte. Er hatte sehr scharf gesprochen und seine Worte mit einem Knurren unterlegt. »Zwölf Leichen brauche ich. Genau zwölf, dann habe ich es geschafft. Ich werde meine Kirche aufbauen. Ich werde mir meine zwölf Diener holen, und ihr seid die letzten beiden, die mir in meiner Sammlung noch gefehlt haben. Ihr werdet den gleichen Weg gehen, wie ihn auch die anderen gegangen sind.« Sein Kichern war schlimm. »Noch in der kommenden Nacht erscheine ich wieder und werde euch töten. Nur wenn es zwölf sind, kann ich richtig leben.«
Schlagartig verlosch das Licht. Tina und Marcus hatten den Eindruck, völlig im Finstern zu stehen. Als sich ihre Augen wieder an die Umgebung gewöhnt hatten, da war eine Veränderung eingetreten. Sheriff Tod hatte sich wieder aufgerichtet. Mit dem Fuß schob er die Holzplatte auf das Viereck zu und drückte es über die Öffnung. Jetzt war es wieder richtig finster. Beide zitterten. Auch Marcus jammerte. Er hatte das >Versprechen< gehört, und er wußte, daß so einer es auch einhalten würde. Angst peitschte ihn. Er schwitzte wie selten in seinem Leben. Tina lehnte sich gegen ihn. Als er nach ihren Händen tastete, da merkte er, daß sie beide gefaltet hatte. Tina betete. Das tat er auch… *** Sheriff Tod war relativ zufrieden. Es war gelaufen wie immer. Er hatte auf die beiden letzten Opfer niedergestarrt, und er war auch davon ausgegangen, daß sie noch lebten und nicht versucht hatten, sich selbst umzubringen. Damit mußte man auch immer rechnen, aber diese jungen Leute gehörten eben zu einer anderen Kategorie. Voll zufrieden hätte er sein müssen, aber er war es nicht. Da spürte er noch immer die Verbindung zu seinem Feind, der für ihn zu einem Jäger geworden war. Jemand hatte sich ihn ausgesucht und war nicht davon abzubringen, seine Fährte zu verlassen. Er würde ihn töten müssen. Die Nacht war lang, und er würde ihn auch finden, wenn das Band nicht riß. Der andere war ebenfalls auf der Suche, so gab es keinen Zweifel, daß sie sich irgendwann treffen würden. Den Zeitpunkt aber wollte er bestimmen. Er grinste. Mit dem Fuß hatte er das Holzbrett über die Luke geschoben. Es unterschied sich von der Farbe her in nichts von dem übrigen Boden. Es war ebenso staubig und von einem klebrigen Schmier bedeckt. Wer diesen Eingang finden wollte, mußte schon sehr gute Augen haben. Der Zugang befand sich dort, wo einmal der Altar in dieser alten Holzkirche gestanden hatte. Sheriff Tod hatte ihn nicht mehr gewollt und in einem rasenden Wutanfall zerstört. Nichts in diesem Raum sollte ihn mehr an die frühere Kirche erinnern, denn das war jetzt seine Welt, seine eigene, die er sich aufgebaut hatte. In dieser Kirche schwebte sein Geist, und der hielt den Raum bis in den letzten Winkel erfüllt. Rechts neben dem Ausgang stieg die Holztreppe in die Höhe. Sie führte zum schmaleren Oberbau der Kirche hoch und weiter hinein in den Turm. Sie endete erst dicht unter der Spitze, wo früher einmal eine
Glocke gehangen hatte. Auch die gab es nicht mehr. Sie war von anderen Menschen entfernt worden, ebenso wie die Bänke. Wahrscheinlich hatte man sie kleingehackt und verfeuert. Da kam einiges zusammen, was andere Menschen für Sheriff Tod schon als Vorarbeit geleistet hatten. Er hatte dann nur die Kirche in seinen Besitz zu nehmen brauchen, und er war bereit, auch seine Gemeinde aufzubauen. Die Menschen sollten dann nach seinen Gesetzen leben. Wer dabei nicht mitspielte, würde sterben, so einfach war das. Er genoß es, durch die Kirche und auf deren Tür zuzugehen. Er kam sich groß und gewaltig vor. Obwohl seine Brillengläser dunkel waren, konnte er scharf und deutlich sehen, als würde er seine Umgebung durch eine Lupe betrachten. An der Tür blieb er stehen und hob die Hand. Ein schwarzer Handschuh war über die Finger an beiden Händen gestreift. Er legte die Rechte auf die Klinke und drückte sie nach unten. Das Quietschen störte ihn nicht. Mit einem leichten Ruck zog er die Tür auf. Die Welt draußen wartete auf ihn, aber er betrat sie noch nicht. Er ging so weit, daß er die Kirchentür zufallen lassen konnte, dann schaute er nach vorn über das Land hinweg. Es schwamm in der Dämmerung. Sie war von blauer und grauer Farbe, tief im Westen zeigte die Sonne noch einen rötlichen Streifen, bevor sie sich dann endgültig verabschiedete. Das Land wies keine festen Konturen mehr auf. Alles hatte sich aufgelöst, alles schwamm ineinander. Es gab weder Bäume noch Sträucher, die genau zu erkennen waren, und der mächtige, düstere Himmel schien sich ebenfalls auf das Land herabgesenkt zu haben, denn wo er endete und der normale Erdboden begann, da war die Grenze fließend. Die Hitze des Tages hatte einer beklemmenden Schwüle Platz geschaffen. Die Luft drückte. Viele Menschen würden Schwierigkeiten mit ihrer Atmung bekommen. Auch war die Luft mit einer gewissen Feuchtigkeit angereichert, und aus den Wänden oder den Flecken, wo sich die kleinen Seen und Teiche verteilten, stiegen Dunstschwaden in die Höhe wie kaum abgedeckte Rauchfeuer. Es würde ein Gewitter geben. Sehr bald schon würde es zu den mächtigen Entladungen kommen. Dann wurde der Himmel zu einem Untier, das Blitze ausspie, die von mächtigen Donnerschlägen begleitet waren. Und es würde Regen geben, der in wahren Sturzfluten aus den Wolken fiel und das knochentrockene Land überschwemmte. Bis es soweit war, verging Zeit. Die wollte Sheriff Tod nutzen. Bis dahin mußte sein Gegner sterben. Er überlegte. Ein Gegner? Nein, da war noch jemand bei dem Mann gewesen. Eine junge Frau, über die er bisher noch nicht nachgedacht hatte. Jetzt kam sie ihm in
den Sinn. Normalerweise wäre er über sie hergefallen, hätte sie getötet, aber er verspürte seltsamerweise keinen Haß gegen sie. Er versuchte, sich auf sie zu konzentrieren und schüttelte den Kopf, um sich durch die Bewegung zu bestätigen. Nein, das war kein Haß! Sheriff Tod war durcheinander. Diese Art von Neutralität kannte er nicht. Er wußte auch nicht, wie er sie einordnen sollte. Er hatte plötzlich den Wunsch, mit dieser Person reden zu wollen, sich mit ihr zu unterhalten. Ein derartiges Bedürfnis war neu für ihn und sorgte in seinem Innern für eine gewisse Unsicherheit. Er fragte sich, was mit ihm geschehen war. Lag es tatsächlich nur an dieser Frau. Er glaubte sogar, sie zu kennen, aber das konnte nicht sein. Irgend etwas war so gelaufen, wie es ihm nicht in den Plan paßte. Aber es durfte ihn von seinen eigentlichen Plänen nicht abbringen. Er gab sich einen innerlichen Ruck, der auch äußerlich zu sehen war, denn er straffte seine Schultern. Dann setzte er seinen Hut korrekt auf und ging die ersten Schritte. Er verließ den Bereich der Kirche, entschwand dabei deren Schatten und bewegte sich durch die Nacht wie ein steifes Monstrum. Er war auf dem Weg zu seinem Wagen, in den er auch einstieg. Wenig später war Sheriff Tod wieder unterwegs… *** Sheriff Ray Orwick war vom Besuch der beiden Fremden nicht unbeeindruckt geblieben. Sie hatten ihm zwar Dinge erzählt, gegen die er sich gewehrt hatte, doch auf dem Weg zu seiner Dienststelle hatte er gemerkt, daß die Zweifel doch tiefer in ihm saßen, als ihm lieb war. War der Killer einer von ihnen? Orwick konnte es sich nicht vorstellen. Er glaubte einfach nicht daran. Er hatte seine Deputies unter Kontrolle. Es waren einige darunter, die sich selbst als harte Hunde bezeichneten und mit manchen Gesetzesbrechern nicht eben sanft umgingen, aber das war auch alles. Zu derartigen Taten wären sie nicht fähig gewesen. Die quälenden Gedanken hatten ihn auch nicht verlassen, als er sein Office betrat, wo er einige seiner Helfer vorfand. Die sahen ihrem Chef an, daß mit ihm etwas nicht stimmte, und sie warteten darauf, eine Erklärung zu bekommen. Orwick sprach über dieses Thema nicht. Statt dessen ging er mit den Helfern zusammen noch einmal die Fahrtrouten durch, auf denen sie sich bewegen würden. Sie arbeiteten in zwei Schichten. Um Mitternacht würden sie von anderen Kollegen abgelöst werden. »Es wird ein Gewitter geben, Chief«, sagte sein direkter Stellvertreter. Er hieß Brad Cameron, war zehn Jahre älter als Orwick und ein kleiner,
gedrungener Typ mit überlangen Armen und sehr großen Händen. Es gab wohl keine Stelle an seinem Körper, die nicht behaart war, deshalb nannten ihn die anderen auch nur den Affen. Aber sie sagten es, wenn er nicht dabei war, denn Camerons Anfälle waren gefürchtet. »Stört uns das?« »Das sollte es nicht. Ich denke nur, daß uns der verdammte Regen behindern kann. Wir sehen dann nur sehr wenig.« Orwick schaute in Camerons dunkle Augen. »Dem Killer wird es ebenso ergehen.« »Stimmt.« »Glauben Sie denn, daß er in dieser Nacht wieder unterwegs ist, Chief?« wollte ein anderer wissen. »Ja.« »Aber Sie wissen nicht.« Orwick holte tief Luft. »Verdammt, nein, denn wenn ich es wüßte, hätte ich ihn schon.« »Okay, Chief, war nur eine Frage.« »Gut.« Orwick nickte. »Ihr seid bereit und habt euch auf die neue Lage eingestellt?« Die Männer nickten. »Dann in die Wagen. Verteilt euch. Fahrt nicht nur auf dem Highway, sucht auch nach Nebenstrecken. Ich will zudem, daß ihr immer zu zweit seid. Kein Alleingang. Es gibt nur eine Person, die allein in seinem Wagen sitzen wird, das bin ich, aber wir werden stets durch Sprechfunk miteinander in Verbindung bleiben.« Die Männer hatten verstanden und nickten. »Dann viel Glück für uns alle.« Orwick schaute zu, wie sie das Office verließen. Ein jeder von ihnen war noch mit einem kurzläufigen Schnellfeuergewehr bewaffnet, und Orwick wäre es am liebsten gewesen, wenn sie die Bestie getötet hätten. Sie und nicht die beiden Fremden, denn ihnen wollte er den Erfolg auf keinen Fall gönnen. Erst als der letzte Deputy das Office verlassen hatte, ging auch er. Zuvor hatte er noch das Licht bis auf die Notbeleuchtung gelöscht, dann stieg er in seinen Wagen. Es war der einzige, der noch vor dem Office parkte. Bevor der Sternträger anfuhr, warf er einen Blick über die breite Main Street, die wie ein schattiger, starr gewordener Fluß aussah. Leben herrschte nur in den Kneipen und Lokalen, ansonsten hatte sich die kleine Stadt nach innen zurückgezogen und war zur Ruhe gekommen. In den Wohnhäusern herrschte kein Trouble, die Menschen saßen lieber vor der Glotze oder feierten mit Nachbarn hier und da eine kleine Party. Eine derartige Stadt konnte man sich als Sheriff nur wünschen, doch dieses Leben war gestört worden von einem Psychopathen, der keine Rücksicht auf irgendwelches Leben nahm.
Orwick ließ Lucas hinter sich und schlug den schmalen Zubringer zum Highway ein. Er fuhr noch nicht hinauf, sondern steuerte erst eine Parkbucht an. Er hatte sein Fahrzeug rückwärts in die Lücke am Straßenrand hineingesetzt. Orwick konnte keinen besseren Blick auf die Straße haben, als von diesem Punkt. Jetzt mußte er warten. Ob er das Glück hatte, daß der Killer an ihm vorbeifuhr, das konnte er nicht sagen. Vielleicht würde diese Nacht auch so enden wie viele zuvor, ergebnislos nämlich. Das ärgerte ihn, das machte ihn frustiert. Er war ein Mann, der gern Erfolge meldete, aber in diesem Fall war ihnen das Pech treu geblieben. Im Licht der Armaturenbeleuchtung sah er aus wie ein grünliches Gespenst. Inmitten der ganzen Technik fühlte er sich nicht sehr wohl. Orwick war ein Mensch, der lieber mit der Waffe in der Hand auf die Straße ging, um dort die Killer zu stellen. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, nahm er Kontakt zu seinen Leuten auf. Die Funkgeräte funktionierten immer ausgezeichnet, in dieser verfluchten Nacht aber waren die Stimmen nur schwer zu verstehen, denn Rauschgeräusche übertönten sie immer wieder. Eine Folge des Wetters, in dem die Luft sich aufgeladen hatte. Soviel er hören konnte, war bei seinen Männern alles okay. Sie hatten nichts Verdächtiges gesehen, und sie bewegten sich auch auf den zuvor abgesprochenen Streckenabschnitten. Einigermaßen zufrieden unterbrach Orwick die Verbindung. Er dachte an Doreen Pratt und John Sinclair. Beide würden auch in dieser Nacht unterwegs sein, um den Killer zu jagen. Doch seine und die Chancen seiner Männer standen besser. Allein schon von der Anzahl an Leuten her, würde es ihnen eher gelingen, die Bestie zu stoppen. Der Sheriff kriegte einen roten Kopf, wenn er an den unbekannten Killer dachte. Zwölf Menschen waren spurlos verschwunden. Niemand hatte den Unbekannten gesehen, es gab keine Beschreibung, und obwohl noch keine Leiche gefunden war, glaubte der Chief nicht daran, daß die Verschwundenen noch lebten. Da war ein Leichensammler unterwegs, der diesem perversen Hobby nachging. Loben mußte der Sheriff die Geheimhaltung. Von der Presse hatte noch niemand Wind von den Entführungen bekommen, doch das galt nicht für ewig. Warten, lauern. Den Geräuschen der Nacht zuhören. Sich auf das Zirpen der Grillen konzentrieren oder auf Laute, die nicht einzuordnen waren. War ein Kollege der Mörder?
Der Stachel saß. Die Pratt und dieser Sinclair hatten sich davon ziemlich überzeugt gezeigt, aber Beweise hatten sie nicht vorlegen können, und so wollte Orwick daran zunächst nicht glauben. Er hatte sich so bequem wie möglich hingesetzt. Wer den Wagen passierte, würde Mühe haben, ihn zu sehen. Die Straße hier war wenig befahren, und in der Dunkelheit fand kaum jemand seinen Weg. Ein Stück weiter verlief der Highway. Dort war Betrieb, denn hin und wieder sah er die Lichter der Scheinwerfer wie einen schwachen Gruß durch die Dunkelheit schimmern. Warten auf den Mörder. Orwick gähnte. Er schüttelte sich, setzte sich anders hin – und erstarrte plötzlich. Er hatte etwas gehört, da war etwas gewesen. Ein Geräusch, das einfach nicht zu den normalen Lauten der Nacht paßte. Es war noch relativ weit entfernt, und Orwick hatte auch nicht herausfinden können, um was es sich handelte, doch in der Stille klangen die Laute ganz anders als in der Helligkeit des Tages. Er war gewarnt. Von der rechten Seite rollte etwas heran. Ein Schatten, ein Auto. Aber eines, das ohne Licht fuhr und sich wie ein kompaktes Ungeheuer durch die Dunkelheit bewegte. Orwick bekam einen starren Blick. Er mußte daran denken, was ihm Sinclair und die Pratt gesagt hatten. Da war von einem Patrol car die Rede gewesen, und was sich seinem Versteck von der rechten Seite her näherte, das war ein solches Fahrzeug. Unglaublich – aber er konnte es nicht wegdiskutieren. Dieses Fahrzeug war vorhanden, und es schob sich näher und näher an sein Versteck heran. Es wurde langsam gefahren, als wäre der Mann hinter dem Steuer dabei, etwas zu suchen. Was suchte er? Ein Opfer? Ray Orwick schluckte. Er hatte plötzlich feuchte Hände bekommen. In seinem Nacken lag ein Film aus kaltem Schweiß. Er zitterte und wußte nicht weshalb. Nervosität kannte er kaum. Er war immer ein Mensch gewesen, der sich den Problemen gestellt hatte. Er war immer direkt auf ein Ziel zugeschritten, warum reagierte er plötzlich so nervös? Der Wagen fuhr weiter. Durch die herabgelassenen Scheiben hörte Orwick das Singen der Reifen. Nichts konnte ihn mehr beruhigen. Er schwitzte plötzlich, und die Furcht wurde größer. Dann rollte der andere Wagen an ihm vorbei. Ein Patrol car! Ein Wagen älterer Bauart, wie sie sie früher gefahren hatten. Verflucht, dieser Sinclair hatte recht behalten. Aber saß darin auch der Killer?
Orwick wußte es nicht. Er spürte die Angst. Ja, zum erstenmal spürte er die Angst. Etwas Unheimliches hatte ihn erwischt, und er schaute mit einer Gänsehaut im Gesicht dem davonfahrenden Schatten nach, an dem keine Lampe brannte. Er verschwand hinter einer Kurve. Erst jetzt erwachte Orwick’aus seiner Erstarrung. Da hatte er den Adrenalinstoß bekommen, der furienhaft durch seinen Körper jagte. Plötzlich wußte er wieder, was er zu tun hatte. Er mußte dem anderen nach, denn das war seine große Chance. Er stellte den Motor an. Seine Hand zuckte schon zum Schalter der Scheinwerfer, als er sie wieder zurücknahm. Nein, kein Licht. Was der andere konnte, das schaffte er auch. Also fuhr er aus der Parklücke auf die Straße, die als Parallele zum Highway und später auf ihn traf. Bis dahin aber wollte er den Wagen gestellt haben. Der Sheriff kannte sich hier aus. Es war sein Revier. Er durchfuhr es beinahe täglich. Er war ein Mensch, der jedem Baum oder Strauch einen Namen hätte geben können, so bekannt war ihm diese Umgebung. Zu dieser Nachtstunde aber fühlte er sich wie ein Fremder, wie jemand, der die Strecke zum erstenmal fuhr. Orwick hatte etwas mehr Tempo gegeben, was sich auch auszahlte, denn er holte auf. Plötzlich sah er den anderen Wagen wieder. Er fuhr noch immer ohne Licht, und das Rollen des Fahrzeugs kam ihm eher wie ein Tasten vor, mit dem sich der andere Wagen voranbewegte. Die Finsternis war wie ein Tunnel, der alles schluckte, was sich ihm in den Weg stellte. Orwick riß sich zusammen. Er schaute auf den Beifahrersitz, wo sein Gewehr lag. Seinen Revolver holte er aus der Halfter und legte ihn auf seinen Schoß. Ein hartes Grinsen spannte seine Lippen. Jetzt war er wieder der alte Sheriff, wie man ihn kannte und auch fürchtete. Er fuhr schneller. Der andere Wagen erhöhte das Tempo nicht. Dessen Fahrer reagierte normal und gelassen. Er schien überhaupt keine Furcht zu haben, obwohl er das fremde Fahrzeug im Innen- und auch im Außenspiegel würde sehen können. Näher, noch näher… Orwick atmete heftig. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, damit er ihm nicht in die Augen rann. Sein Hut klebte ihm auf dem Kopf und wirkte wie angeleimt. Er lauschte dem Schmatzen der Reifen, gab dem Fahrzeug noch einen Kick – und war plötzlich auf gleicher Höhe mit dem anderen Patrol car.
Der Blick nach links, er wollte den Fahrer endlich erkennen können, denn beide Fahrzeuge trennte höchstens eine Armlänge. Orwick sah auch, daß sich auf dem Fahrersitz jemand bewegte, nur erkennen konnte er nichts. Er würde so arbeiten wie immer. Sich vor den anderen Wagen setzen und den Fahrer zum Halten bringen. Dazu kam er nicht mehr. Urplötzlich zerrte der Unbekannte das Lenkrad nach links. Der Platz zwischen den Patrol cars schrumpfte. Es kam zum Crash! Der Sheriff hatte sich darauf nicht einrichten können. Voll bekam er den Stoß mit, und sein eigenes Fahrzeug schmierte ab. Da rutschten die Reifen wie auf einer glatten Eisfläche quer über die Straße hinweg, zusätzlich fing der Wagen noch an, sich zu drehen. Kreiselnd bewegte er sich auf den anderen Straßenrand zu, wo sich auch ein Graben befand, in den er hineingleiten würde. Orwick fluchte, als er wütend und wie wild gegenlenkte und doch einsehen mußte, daß er gegen die anderen Kräfte nicht ankam. Es passierte schneller, als er gedacht hatte, weil ihm der andere Wagen noch einen zweiten Stoß mitgegeben hatte. Da war der Graben, und es sah für Orwick so aus, als sollte er mit seinem Fahrzeug über ihn hinwegfliegen. Plötzlich aber sackte er mit der Schnauze weg. Ray hörte sich selbst schreien, doch dieser Laut ging in einem gewaltigen Krachen unter, denn der verdammte Straßengraben war ziemlich tief, und das Fahrzeug rammte aus einer gewissen Höhe kommend direkt mit seiner Schnauze hinein. Das Auto ähnelte im vorderen Bereich einer Ziehharmonika. Orwick war angeschnallt, zum Glück, doch sein Kopf sauste nach vorn. Mit der Stirn schlug er wuchtig auf den Lenkradring. Orwick bekam nicht mehr mit, daß sein Patrol car auf der Schnauze stehenblieb und senkrecht in den Nachthimmel wies. Das blieb nicht ewig. Nach einigen Sekunden, die so wirkten, als hätte sich das Fahrzeug noch eine Ruhepause gegönnt, sank es langsam zur linken Seite weg und prallte vollends in den Graben. Orwick war nicht bewußtlos, doch seine Sinne waren getrübt. Er konnte nicht sehen, daß sich auf der Straße jemand seinem Streifenwagen näherte. Sheriff Tod war dabei, sich sein nächstes Opfer zu holen… *** Auch Doreen und ich waren unterwegs! Wenn wir uns mit den anderen verglichen, dann mußten wir wie Fremdkörper wirken in einer Welt, die
mittlerweile dunkel geworden war und von den Leuten des Sheriffs kontrolliert wurde. Zweimal waren wir schon angehalten worden und hatten uns ausweisen müssen, obwohl jeder der Deputies wußte, weshalb wir unterwegs waren. Dafür hatte schon Ray Orwick gesorgt. Beim zweiten Stopp stieg ich aus. Der Deputy ging sofort einen Schritt zurück. Sein Kollege stand im Hintergrund nahe der offenen Tür des Streifenwagens und zielte mit dem Gewehr auf mich. »Hat sich Ihr Chef schon gemeldet?« »Nein, nach dem ersten Kontakt nicht mehr.« »Und Ihnen ist auch nichts aufgefallen?« »Kein fremder Wagen, Mr. Sinclair. Wir kontrollieren wirklich jedes Fahrzeug, aber es ist uns nicht gelungen, den Killer zu stellen. Wir haben auch nicht den geringsten Hinweis darauf erhalten, wer er sein könnte und wer nicht.« »Gibt es noch Wege in dieser Umgebung, die nicht kontrolliert werden?« »Mehr als genug.« »Warum fahren Sie nicht dort?« »Weil wir erstens zu wenig Leute sind, und weil sich diese Wege oft in einem dichten Wald- und Erholungsgebiet rund um die Seen befinden und die Bezeichnung Weg kaum verdienen.« »Über ein Versteck des Killers haben Sie auch noch nie nachgedacht – oder?« »Das haben wir alle.« »Aber…?« Der Mann verlagerte sein Gewicht auf den linken Fuß. »Er kann sich überall in den Wäldern verstecken…« Ich unterbrach ihn. »Auch mit zwölf Leichen?« Der Deputy senkte den Blick. »Ich denke, daß dies schwer werden wird.« »Eben, es wird schwer sein. Sie sind doch aus dieser Gegend.« Ich stellte ihm jetzt die Fragen, die ich Orwick auch gern gestellt hätte, aber er hatte es ja zu eilig gehabt. »Versetzen Sie sich mal in die Lage des Mörders, auch wenn es Ihnen schwerfällt. Wo würden Sie zwölf Tote verstecken?« Der Mann vor mir schob seinen Hut zurück. »Sie stellen vielleicht Fragen, Mann.« »Ich bleibe dabei.« »Die würde ich vergraben.« »Gut, das hätte ich auch so gemacht.« »Aber nicht auf einem Friedhof. Irgendwo im Wald, was allerdings auch nicht der Fall gewesen ist.« »Warum nicht?«
»Wir haben das Gelände mit Spürhunden durchsucht. Sie sind bewußt auf das Auffinden von Leichen abgerichtet worden, aber sie haben nichts gefunden.« »Das ist schlecht.« »Weiß ich.« »Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?« »Was sollte mir denn einfallen?« Der junge Deputy hatte eine lange Leitung. »Irgendein Gebäude, das einsam in der Gegend steht.« Der Mann überlegte und schaute dabei gegen den schwarzblauen Nachthimmel, als könnte er ihm die Lösung präsentieren. »Ich weiß nicht so recht, aber da wäre schon etwas, und zwar nicht einmal sehr weit von hier entfernt, wenn Sie mit dem Wagen fahren.« »Und was?« »Eine alte Kirche.« Ich war überrascht. »Wie bitte?« »Na ja, so ein Holzbau aus den Zwanzigern oder Dreißigern. Sie wissen schon.« »Nein, weiß ich nicht.« »Man sieht diese Kirchen oft genug in alten Schwarzweiß-Filmen, wenn diese im Fernsehen wiederholt werden. Und eine derartige Kirche gibt es hier in der Nähe auch noch.« »Sie ist also alt.« »Ja.« »Wird nicht mehr benutzt?« »Nein, dort findet kein Gottesdienst statt.« »Und wie finde ich dorthin?« Der Deputy trat staunend einen Schritt zurück. »Hören Sie, Mister, Sie wollen doch nicht etwa zu dieser Kirche hinfahren…?« »Was sollte mich daran hindern?« »Das ist eine Kirche!« »Und?« »Aber kein Sammelplatz für Leichen, Mister. Um Himmels willen, Sie… Sie begehen da einen Denkfehler. Ich finde, daß es ungeheuerlich ist, was Sie da andeuten.« »Sorry, aber ich habe nichts angedeutet. Ich habe Sie nur etwas gefragt.« »Das ist ein Windei.« »Überlassen Sie das mir. Wie komme ich dorthin?« Der junge Deputy überlegte. »Es ist nicht ganz einfach, Mister. Sie müßten sich hier schon auskennen.« »Das werde ich auch, wenn Sie mir den Weg aufgezeichnet haben, junger Mann.« Der Deputy verdrehte zwar die Augen, bequemte sich aber doch, aus dem Wagen einen schmalen Block zu holen. Im Licht der Scheinwerfer
malte er – von einigen Zwischenfragen meinerseits unterbrochen – den Weg auf, den wir zu fahren hatten, um die Kirche zu erreichen. Er malte sie sogar noch auf. Ich schaute mir die Zeichnung an, die auch teilweise beschriftet worden war. Kurz vor der Kirche würden wir durch ein ödes Gelände fahren, in dem sich kein Wald ausbreitete, sondern nur dürres Strauch- und Buschwerk. »Damit kann ich etwas anfangen, danke.« »Und Sie wollen da wirklich hin?« »Wenn es sich ergibt, schon.« »Na ja, viel Glück.« Es lag auf der Hand, daß er mich für einen Spinner oder Verrückten hielt, was mich nicht weiter störte. Ich ging wieder zum Mustang und stieg ein. Die ganze Zeit über hatte ich mich gewundert, weshalb meine Begleiterin nicht ausgestiegen war. Als ich mich setzte, die Tür noch offen hatte und Doreens Gesicht sah, da entdeckte ich sofort die Blässe auf ihrer Haut. Sie war bleich wie eine Leiche, und ihr Blick zeigte einen Ausdruck, den ich nirgendwo einordnen konnte. Ich zog die Tür zu »Was haben Sie?« »Es geht mir nicht gut«, flüsterte sie. »Das Wetter?« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn es das mal wäre, John. Nein, es ist etwas anderes.« »Reden Sie.« Doreen deutete auf ihren Kopf. »Hier oben spielt sich das ab. Nur hier oben. Ich bin nicht mehr ich selbst. Ich komme mir vor, als wäre ich ein Teil dieses Killers.« »Wie das?« »Weiß ich nicht, John, ich weiß es wirklich nicht. Aber ich meine, er wäre in der Nähe und hätte sogar versucht, sich bei mir zu melden. Ja!« sagte sie laut, als sie mein Lächeln sah. »Sie können es mir glauben, es ist so.« Doreen räusperte sich. »Hören Sie, John. Ist es möglich, daß jemand mit einem anderen Menschen auf dem Weg der Telepathie Kontakt aufnehmen kann? Gibt es so etwas? Ich meine, Sie sind Spezialist in diesen Dingen und können mir eine Antwort geben.« »Das ist möglich.« »Auch bei mir?« »Das möchte ich nicht unterschreiben. Sie müßten zumindest eine Verbindung zu dieser anderen Person haben. Ehrlich, Doreen, haben Sie Verbindung zu diesem Killer? Stehen Sie ihm auf eine gewisse Art und Weise nahe?« »Das weiß ich nicht. Ich kann es mir auch nicht vorstellen.« »Sie sind von hier, nicht?« »Klar, ich bin hier geboren, habe hier die Kindheit und Jugend verbracht, ging aber dann fort, um mein Studium aufzunehmen. Ich bin nur sehr
sporadisch wieder heimgekehrt, John, deshalb können Sie mich nicht als Einheimische, sondern als eine Fremde betrachten.« »Aber ganz so fremd wohl nicht.« »Wie kommen Sie darauf?« Ich hob die Schultern. »Dann hätten Sie wohl nicht diesen seltsamen Kontakt gespürt.« »Ja, das stimmt schon.« »Eben.« »Bitte, John, verrennen Sie sich nicht in etwas. Ich kann es auch nicht genau erklären, weshalb mir so ist. Lassen Sie uns in unserer Arbeit fortfahren.« »Gern. Wir ändern unseren Plan.« »Wieso?« »Wir werden zu einer Kirche fahren.« Die FBI-Agentin schaute mich an, als hätte sie einen durchgedrehten Menschen vor sich. »Habe ich richtig verstanden? Zu einer Kirche sollen wir fahren?« »Ja.« »Wo soll die sein? In Lucas?« »Nein, sie steht auf einem Hügel. Mitten im Gelände, ein einzelnes Schaustück gewissermaßen.« »Die Kirche meinen Sie…«, dehnte Dorren. »Sie kennen den Bau.« »Den kennt jedes Kind. Aber ein Killer verkriecht sich doch nicht in eine Kirche.« »Normalerweise nicht, aber da habe ich schon andere Dinge erlebt, das können Sie mir glauben. Ich möchte auf jeden Fall nichts außer acht lassen und dort trotzdem nachschauen.« »Wissen Sie denn, wie wir hinkommen?« »Ich habe eine Zeichnung. Der Deputy war so freundlich.« »Das ist gut, dann brauche ich mir wenigstens nicht den Kopf zu zerbrechen. Es ist lange her, daß ich überhaupt nur in deren Nähe war. Schon zu meiner Jugend wurden dort keine Messen mehr gelesen, wenn ich mich richtig erinnere.« »Jedenfalls ist die Kirche nicht durchsucht worden, wie ich mir habe sagen lassen.« »Weil niemand nachvollziehen kann, daß sich gerade in einer Kirche ein zwölffacher Mörder verkriecht. Die Kirche ist für mich auch heute noch ein Ort des Guten, etwas Heiliges, und da kann ich Ihre Gedankengänge nicht nachvollziehen, auch wenn ich mir Mühe gebe.« »Werden Sie mich trotzdem begleiten?« »Klar.« »Werden Sie auch fahren können?«
»Auch das. Der Kontakt oder das Gefühl ist nicht mehr so stark, jetzt, wo ich abgelenkt war. Es ist mir außerdem noch immer unbegreiflich, aber was will man machen?« »Eben.« Sie startete wieder. Ich hatte die Scheibe auf meiner Seite ein Stück nach unten gekurbelt, weil ich mich auch auf die Geräusche außerhalb des Wagens konzentrieren wollte. Die Agentin hatte nichts dagegen. Wir mußten auf der Straße wenden und in die andere Richtung weiterfahren. Die Skizze hatte ich auf meinem Schoß liegen. »Wir werden ein kleines Stück über den Highway müssen. Erst wenn wir ein größeres Waldstück passiert haben, biegen wir nach rechts ab ins freie Gelände.« »Stimmt.« Sie fuhr weiter, und ich beobachtete Doreen von der Seite her. So ruhig wie sonst kam sie mir nicht mehr vor. Irgend etwas mußte passiert sein, und ich fragte mich natürlich, ob sie tatsächlich einen Kontakt mit dem Killer gehabt hatte. Vorstellen konnte ich es mir kaum, aber ich wollte nicht voreilig sein. Die Nacht war ruhig. Es herrschte nur wenig Verkehr. Nur auf dem Highway huschten die Wagen entlang, und ihre Fahrer würden auch dort in eine Kontrolle gelangen. Von Sheriff Ray Orwick hatten wir nichts gesehen. Er war an einer anderen Stelle unterwegs, und er würde uns den Triumph nicht gönnen, den Killer zu stellen. Glücklicherweise war der Motor des Mustangs kaum zu hören. So konnte zumindest ich mich auf die Außengeräusche konzentrieren, und ich vernahm einen Laut, der für diese Gegend fremd war. Ein Krachen! Vor uns, aber nicht zu sehen. Es war auch nur schwach zu hören gewesen. Trotzdem ging Doreen vom Gas, drehte den Kopf und schaute mir starr ins Gesicht. »Sie haben es auch gehört?« »Ja«, flüsterte sie. »Das war vor uns«, sagte ich. »Fahren Sie.« Doreen nickte. Ich spürte in mir ein Fieber und saß plötzlich wie auf heißen Kohlen. Zugleich aber merkte ich den Kontakt zwischen mir und dem Bösen. Das Kreuz kam mir vor, als wäre es von Vibrationen geschüttelt. Ich faßte nach ihm. Tatsächlich merkte ich das leichte Zittern. »Was haben Sie?« flüsterte Doreen. »Nichts.« »Ich habe aber bemerkt, daß etwas nicht stimmt.«
»Also gut«, murmelte ich. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir dem Killer dicht auf den Fersen.« »Sie werden lachen, John, aber das denke ich auch…« *** Sheriff Ray Orwick wußte nicht mehr, was mit ihm geschehen war. Seine ganze Welt war auf den Kopf gestellt worden, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Erst war der Wagen nach vorn gekippt, da hatte er das Gefühl gehabt, wegzufliegen, dann hatte sich das Fahrzeug auf die Seite gelegt. Und dort lag Orwick auch! Bei ihm konnte man von einem Glück im Unglück sprechen. Der Sicherheitsgurt hatte ihn gehalten. Wäre er nicht gewesen, wäre es zu schweren Verletzungen gekommen, möglicherweise sogar zum Tode, aber darüber dachte er nicht nach. Er konnte nicht denken, denn er war einfach zu stark mit sich selbst beschäftigt. Nach einer Weile stellte er fest, daß er auf der linken Seite lag. Schmerzen peinigten ihn. Das Blut aus der Kopfwunde sickerte über sein Gesicht. Er war gegen die Tür gefallen, und diese wiederum befand sich in Erdbodenhöhe. Sie war von ihm nicht zu öffnen, denn nicht einmal eine Handbreit konnte sie aufgestoßen werden. Wenn er raus wollte, dann aus der rechten Tür, die aber befand sich über ihm. Noch war er angeschnallt. Um die Tür letztendlich zu erreichen, mußte er beweglicher sein. Seine Finger tasteten sich vor. Sie suchten nach dem roten Druckkontakt, den sie auch fanden, wobei es ihm dann Mühe bereitete, die entsprechende Kraft aufzubringen, um den Kontakt nach unten zu drücken. Nach dieser Aktion fühlte er sich total erschöpft, und die Schmerzen in seinem Kopf wurden allmählich unerträglich. Orwick gehörte nicht zu den Menschen, die eine Flinte so schnell ins Korn warfen. Er war immer ein Kämpfer gewesen, hatte sich durchgewühlt und schon manch riskante Situation überstanden. In diesem Fall aber spürte er eine Furcht, wie er sie zuvor nie gekannt hatte. Da hockte etwas wie ein wahr gewordener Alptraum in ihm, und dieses Etwas hielt ihn auch von seinen klaren Gedanken ab. Er dachte trotzdem an die nahe Vergangenheit, auch wenn er sich dabei Mühe geben mußte. Da war der Wagen gewesen, der Schatten des Fahrers, und dann hatte er den ungemein schnellen und auch gleichzeitig harten Crash erlebt. Er war über die Straße geschlittert und im Graben gelandet. Der andere hatte keine Gnade gekannt, und als sich bei Orwick das Dunkel allmählich lichtete, kam ihm der Gedanke, daß er den zwölffachen Killer gesehen, aber nicht gestellt hatte.
Im Gegenteil, es war etwas eingetreten, mit dem er nicht hatte rechnen können, und nun steckte er bis zur Unterkante Oberlippe in der verdammten Scheiße. Ray Orwick war lange genug Sheriff, um sich auch mit der Psyche der Gesetzesbrecher auszukennen. So mußte er davon ausgehen, daß er als Zeuge nicht am Leben gelassen werden durfte. Wer das Leben von zwölf Menschen vernichtet hatte, der brauchte keinen Grund, um seine Meinung zu wechseln. Er würde also kommen. Dieser letzte Gedanke war es, der in Orwick wieder so etwas wie Energie weckte. Er wußte, daß er aus dem Wagen heraus mußte, um sich in das Gelände schlagen zu können. Dort mußte er sich verstecken oder zumindest versuchen, mit seinen Deputies Kontakt aufzunehmen. Nur fand er das Gerät nicht. Es mußte während des Unfalls quer durch den Wagen katapultiert worden sein. Er streckte den Arm aus. Ein erster Versuch und zugleich eine hilflos anmutende Bewegung, denn es gelang ihm nicht, die Tür zu erreichen und sie aufzudrücken, und fluchend ließ er den Arm wieder sinken. So ging das nicht. Er würde es auf diese Art und Weise nicht schaffen. Trotzdem bemühte er sich. In einem normalen Zustand wäre es kaum ein Problem gewesen, aber nicht bei den Verletzungen. Er hätte schreien können, als die Schmerzen durch seine Rippen brannten. Als er Luft holen wollte, war ihm dies kaum möglich, und er brach jammernd zusammen. Aber er machte weiter. Ein zweiter Versuch. Wieder war es nicht zu schaffen. Schluchzend und auch fluchend sank Orwick zusammen. Er schaffte es nicht, er war in den letzten Minuten zu einem Häufchen Elend geworden. Es klappte nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte, alles war zu schwer für ihn, und der verdammte Killer hatte gewonnen. Noch etwas kam hinzu. Er war nicht mehr allein! Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoß, da glaubte er, sein Blut würde einfrieren. Er sah den anderen nicht, doch er hörte ihn, wie er über den weichen Boden schritt, denn diese Vibrationen erreichten sogar seinen Wagen und damit auch ihn. Der Sheriff wartete. Die Angst nahm zu. Er konnte nichts sehen. Hinter den Scheiben über ihm lauerte die tiefe Dunkelheit wie ein zu einem Schatten gewordenes Monstrum, das sehr bald zupacken wollte. Wann kam er?
Orwick stierte gegen die dunkle Fensterscheibe. Er rechnete damit, daß sich sehr bald ein Schatten dahinter bewegen würde, und dieser Schatten würde auch die Kraft haben, ihn aus dem zertrümmerten Fahrzeug zu befreien. Er sah den Revolver nicht, er entdeckte auch sein Gewehr nicht. Orwick kam sich so schrecklich hilflos vor. Und dann war der Killer da! Hinter dem Fenster bewegte sich etwas. Er stand direkt vor dem gekippten Wagen und glotzte durch die nicht zerstörte Scheibe nach innen. Orwick schaute hoch, und vor Staunen blieb ihm der Mund offenstehen. Er hatte damit gerechnet, ein Gesicht zu sehen, aber dieser Schatten konnte einfach kein normales Gesicht sein. Es war so, als wäre es in die Luft gemalt worden und mit zwei Kreisen versehen, in denen sich etwas abzeichnete, was Orwick nicht erkennen konnte. Der Wagen schwankte plötzlich, weil der andere den Türgriff gefunden und an der Tür gezerrt hatte. Noch blieb sie verschlossen. Wahrscheinlich war sie verkantet oder verklemmt. Aber der andere gab nicht auf. Wieder ein Versuch, dann noch einer, und plötzlich riß er die Tür so schwungvoll auf, daß es auf Orwick den Anschein hatte, als wollte er sie ganz abreißen. Durch den Schwung wäre der andere beinahe in den Wagen hineingefallen, er konnte sich im letzten Augenblick an der Seite abstützen und blieb auch in dieser Haltung stehen, den Kopf nach vorn geneigt, dabei nickend. Orwick sah ihn jetzt zum erstenmal, und er mußte zugeben, daß er sich den Killer so niemals vorgestellt hätte. Er war ein Mensch, das stimmte schon, aber er war auch ein Monster, das sich in der Dunkelheit weiter nach unten beugte, als wollte er in den gekippten Wagen hineinkriechen. Orwick sah die Sonnenbrille. Dunkel getönte Gläser, in denen etwas schimmerte, und zwar zwei identische Bilder. Der Sheriff wollte es nicht glauben, er hätte am liebsten hinausgeschrien, daß er sich irrte, doch dies war nicht der Fall. Kein Irrtum. Auf den beiden Brillengläsern waren zwei identische Totenschädel zu erkennen, als wären sie ein Omen für das Jenseits, vor dessen Tür der Sheriff stand. Er wußte, daß der andere ihn holen würde, um ihn eben durch diese Tür zu wuchten. Er tauchte noch tiefer, und dann griff Sheriff Tod zu. Seine Hände steckten in den schwarzen Handschuhen, die Finger sahen durch dieses Schwarz viel schlimmer aus, als sie es tatsächlich waren, aber sie hatten nichts von ihrer Kraft verloren. Mit einer nahezu lässigen Bewegung hob er Ray Orwick an, der in diesen Augenblicken nichts so sehr vermißte wie seine Waffe und sich
hilflos und verletzt den Klauen des Killers ergeben hatte. Er war der Mörder, er fuhr einen alten Polizeiwagen. Dieser Sinclair hatte recht behalten, nur nutzte Orwick das in diesem Augenblick nichts. Man zerrte ihn mit einem Ruck durch die Öffnung, er fühlte sich durch die Luft gewirbelt, und plötzlich kippte er weg, wobei er hart und mit eingezogenem Kopf zu Boden prallte. Zum Glück war die Erde so weich, daß er sich nichts brach, nur die Schulter bekam eine Prellung ab. Er lag auf dem Rücken, starrte nach oben und kam sich dabei vor wie ein hilfloses Kind, das die Arme in die Höhe gestreckt hatte. Über ihm stand der Killer. Durch die Gläser mit den schimmernden bleichen Totenschädeln schaute er Ray Orwick an. Der normale Sheriff konnte die Augen des anderen nicht erkennen, aber er stellte sich vor, daß sie mit einer unaussprechlichen Grausamkeit gefüllt waren. Augen, die den Tod ankündigten! Orwick wollte schreien. Alles Männliche fiel von seinem Körper ab. Es ging bei ihm nur um das nackte Leben. Als hätte es das zweibeinige Monstrum geahnt, bückte es sich und streckte dem Liegenden abermals die Arme entgegen. Orwick wurde in die Höhe gerissen. Nicht mal für die Dauer einer Sekunde blieb er in der Senkrechten, denn Sheriff Tod wuchtete ihn wieder nach unten. Diesmal prallte er mit dem Bauch zuerst auf, denn er hatte sich während des Falls gedreht. Schwärze zuckte vor seinen Augen. Es war noch nicht die Schwärze des Todes, ging aber unmittelbar in sie über, als ihm der Killer tatsächlich das Genick brach… *** Scheinwerfer erhellten vor uns die Nacht und zerrissen die Dunkelheit, als wäre sie ein schlimmer Feind. Wir befanden uns noch immer auf dem Weg zur Kirche, fuhren jetzt aber langsamer, da wir uns auf das ungewöhnliche Geräusch konzentriert hatten, möglicherweise ein Autounfall. Fernlicht strahlte über die Fahrbahn. Es schimmerte weiß und bläulich zugleich. Aber wir sahen kein Ziel. Der lange Lichtteppich stach ins Leere hinein. Doreen war nervös. Und ich war es auch, obwohl ich äußerlich so ruhig wirkte, denn mein Kreuz hatte nicht damit aufgehört zu reagieren. Die leichten Vibrationen waren noch immer vorhanden. Ebenso wie der Wärmestreifen, der über das Metall hinwegglitt und auch meine Haut berührte.
»Haben wir uns geirrt?« fragte Doreen. »Nein.« »Dann muß es doch bald zu sehen sein.« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als wir an der linken Seite der Straße die dunkle Unebenheit entdeckten. Zuerst dachten wir an einen aufgeworfenen Hügel, dann aber zeichnete sich kantig und starr ein auf der Seite und im Graben liegendes Fahrzeug ab, das zur Ausrüstung der Highway Police gehörte. Freiwillig war der Fahrer sicherlich nicht in den Graben gefahren. Doreen stoppte am linken Straßenrand und wollte die Tür aufreißen. Ich aber hielt sie fest. »Vorsicht.« »Was ist denn?« »Es kann sich durchaus noch jemand hier herumtreiben.« »Der Killer?« hauchte sie. Ich nickte. »Was sollen wir tun?« »Ich werde zuerst aussteigen und mich umsehen. Sie bleiben startbereit, Doreen.« »Trauen Sie mir nichts zu?« »Reden Sie keinen Unsinn!« »Okay!«, sagte sie mit nervös klingender Stimme. »Ich bleibe schon im Wagen.« Ich bewegte mich vorsichtig. Sicherheitshalber hatte ich die Beretta gezogen. Auf der Straße war nicht viel zu sehen, doch trotz der schlechten Lichtverhältnisse fielen mir die dunklen Streifen auf, die quer über die Straße radiert waren und nur von Reifen stammen konnten. Ich sah auch einige Glassplitter blitzen und konnte mir einen Reim darauf machen, was hier abgelaufen war. Da war ein Wagen von einem zweiten gerammt worden. Ich kümmerte mich um das Wrack. Dazu mußte ich in den relativ breiten und auch tiefen Straßengraben klettern. Ein großer Schritt brachte mich nach unten. Ich fand Widerstand unter meinen Füßen und sah im Licht der kleinen Lampe, was mit Sheriff Ray Orwick geschehen war. Er lag neben dem Wagen und rührte sich nicht mehr. Entweder war er bei dem Aufprall herausgeschleudert worden oder aber man hatte sich ihn geholt. Jedenfalls lebte er nicht mehr, denn jemand hatte ihm das Genick gebrochen. Ich atmete schnaufend aus. Ein kalter Schauer kroch über meinen Rücken hinweg. Das war genau der Augenblick, wo ich mich mehr als bescheiden fühlte und zugleich hilflos, weil ich zu spät gekommen war. Gleichzeitig stieg mir das Blut in den Kopf, für einen Moment drehte sich auch der Boden, dann war es vorbei. Und auch die Reaktion meines Kreuzes hatte nachgelassen. Ich kletterte aus dem Graben und spürte kaum noch etwas an meiner Brust. Doreen Pratt war ebenfalls ausgestiegen. Sie stand neben ihrem Mustang und
schaute mir starr entgegen. An meinem Gesicht erkannte sie, was geschehen war, trotzdem fragte sie: »Tot…?« Ich nickte. Sie räusperte sich. »Und wie?« »Man brach ihm das Genick.« »Verdammt!« Sie starrte zu Boden. Ihre Hände ballten sich dabei zu Fäusten. Ich gab der FBI-Kollegin einige Sekunden, dann fragte ich sie. »Sollen wir?« »Ja, zur Kirche?« »Sicher.« »Und Sie glauben, daß Sie ihn dort finden?« »Das denke ich schon…« *** Er war auf der Flucht! Er hatte gesiegt, aber er fühlte sich trotzdem als Verlierer, denn er wurde den anderen nicht los. Seinen Verfolger, seinen Feind, den er nur einmal durch das Fernglas am Fenster stehend gesehen hatte. Jetzt war er davon überzeugt, daß er ihn wiedersehen würde, und zwar in einem Gebiet, das ihm genehm war, in seiner Kirche eben. Sheriff Tod nickte. Er gab sich durch diese Bewegung selbst den Befehl, auf der einmal eingeschlagenen Route zu bleiben. Das Land war einsam, das Land war leer, da bestanden schon gewisse Chancen, sich auch in einem Wagen sitzend zu verbergen. Man mußte natürlich nicht die offiziellen Wege nehmen. Wer sich auskannte, der fuhr auf Pfaden, die nur wenigen bekannt waren. Sheriff Tod gehörte dazu. Er prügelte sein Fahrzeug voran. Der Wagen schaukelte auf dem unebenen Boden, er wurde in die Höhe geschleudert oder setzte hart auf. Das Blech ächzte. Dem Flüchtenden machte das nichts aus. Er würde sich ein anderes Fahrzeug besorgen, wenn er seinen verdammten Feind erledigt hatte. Alles andere war schon in die Wege geleitet, denn er hatte die ersten Mitglieder seiner Kirche beisammen. Zwölf! So wie vor über zweitausend Jahren, da hatte es schon einmal zwölf Männer gegeben. Aber Sheriff Tod wollte es anders angehen. Er brauchte Männer und Frauen, er benötigte die Toten, und er würde dafür sorgen, daß sie ein anderes Leben zurückbekamen, damit er weiterhin seinen Weg gehen konnte. Er lachte. Es war ein häßlich klingendes und auch altes Lachen. Keiner wußte, wer er tatsächlich war. Man hatte ihn damals – wie lange war es eigentlich schon her? – gefangen, und man hatte Versuche mit ihm angestellt. Er war der Zeuge
eines seltsamen Experiments gewesen. Ja, die Versuche, sie waren von Erfolg gekrönt gewesen, denn so war es ihm gelungen, sich gedanklich auf eine andere Zukunft zu konzentrieren. Wenn nur nicht immer wieder die schneidenden Schmerzen gewesen wären, die sein Gehirn durchbohrten. Er mußte auch zugeben, daß es ihm immer schwerer fiel, sich zu konzentrieren. Da herrschte dann Leere in seinem Hirn, als wäre er ein alter Mann. Und noch etwas störte ihn. Abgesehen von seinem Feind war es die Begleiterin des Fremden. Sie mischte sich in sein Denken hinein, sie hatte es tatsächlich geschafft, ihn unsicher zu machen. Da hatte ihn etwas eingeholt, das eigentlich tief in der Vergangenheit hätte begraben sein müssen. Er wollte nicht daran denken. Er konnte sich nicht ablenken lassen. Die Kirche war wichtiger. Sie war seine Zuflucht, in ihr würde er sich wohl fühlen, und zwischen ihren alten Holzwänden, die zu seiner Heimat geworden waren, würde er die anderen vernichten. Ohne Gnade, ohne Pardon! Plötzlich kippte der Wagen nach links weg. Die Räder wühlten sich durch Sand. Sheriff Tod hatte nicht achtgegeben, er erschrak. Nur nicht steckenbleiben. Er schaffte es. Wieder frei – endlich. Versuchen, die Gedanken zurückzudrängen, denn nun zählte der Erfolg. Endlich die Kirche erreichen. Er schaute zum Himmel. Seine Färbung hatte sich verändert. Das Grau war intensiver geworden, und die Wolkenstreifen wirkten wie lange, schwarze Zungen. Für ihn sah der Himmel aus wie Flickenteppiche, überall gab es Lücken, in die das kalte Mondlicht hineinstrahlte. Der Erdtrabant selbst war nicht zu sehen. Er hielt sich irgendwo im fernen Hintergrund verborgen. Aber es bahnte sich ein Gewitter an. Im Südwesten sah der Himmel manchmal aus, als würde ein Spinnennetz aus Licht über ihn hinweggleiten. Dünne, helle Arme teilten sich auf, trafen in Lücken oder rissen selbst welche. Das Gewitter zog näher. Noch nicht mehr als ein fernes Wetterleuchten, doch in einer halben Stunde würde es anders aussehen. Er fuhr. Der Wagen schlug immer wieder mit dem Bodenblech gegen die Unebenheiten des Erdreichs. Es war kein Weg für ein Auto. Er war ihn auch nie gefahren, aber er war trotz allem die kürzeste Entfernung zu seinem Ziel. Er konnte sie bereits sehen. Sehr klein malte sie sich auf dem Hügel ab. Gar nicht mal weit entfernt, aber Sheriff Tod mußte zunächst dieses schräge Hindernis überwinden. Auch er ging es schräg an. Manchmal war es gefährlich für ihn, denn der Wagen kriegte oft genug eine so starke Schräglage, daß er umzukippen drohte.
Er hatte Glück. Sein Wagen schaffte es. Er stand auf seiner Seite. Er wollte, daß alles klappte. Das Gesicht mit der Sonnenbrille vor den Augen verzerrte sich. Es zeigte einen wilden Triumph. Schon jetzt wußte er, daß er nicht mehr aufzuhalten war. Die Kirche war vorhanden. Er würde sie packen. Er würde… er würde… nein, nicht mehr denken. Es fiel ihm auch immer schwerer. Nur noch handeln. Er fuhr den Rest. Den Hang hatte er hinter sich gebracht, was vor ihm lag, war ein Kinderspiel. Und er sah die Kirche. Er sah sie, aber er sah sie anders als normal. Für ihn war sie eingepackt in ein wunderbares, strahlendes Licht, das nicht existent war, das er aber trotzdem sah. Und er sah auch die Quelle des Lichts. Es drang nicht aus dem Himmel, es kroch aus dem Boden hervor und hüllte seine Kirche ein. Er sah die Hoffnung. Er sah auch den Sieg! Sheriff Tod legte die letzten Meter zurück. Sein glattes Gesicht zuckte. Ein Beweis, daß er lächelte, und er fuhr seinen Wagen um die Kirche herum, damit er ihn an der Rückseite abstellen und das Fahrzeug nicht so schnell entdeckt werden konnte. Er stieg aus. Die Luft war schwer zu atmen. Der Himmel zeigte nach wie vor das gleiche Bild, und auch das Wetterleuchten war geblieben. Aber die hellen Schatten waren jetzt kräftiger geworden und näherten sich allmählich seiner Umgebung. Er ging an der Seite vorbei und stellte fest, daß seine Schritte schleppend waren. Es gefiel ihm nicht, weil er sich dabei so kraftlos vorkam. Manchmal schleiften die Schuhe sogar über den Boden, als wollten sie das Gras glätten. Er war sauer, wütend. Er spürte den Feind. Stiche im Kopf. Sheriff Tod blieb stehen, um seine Hände gegen den Schädel zu pressen. Gedanken erwischten ihn, verzerrten sich zu Erinnerungen. Irgendwo in seinem nicht mehr normal und voll funktionierendem Gedächtnis formierte sich ein Bild. Für ihn war es zu schwammig. Er konnte nichts erkennen, nur einen Schatten. Aber er wußte auch, daß dieses noch so verschwommene Bild wichtig für ihn sein würde. Nur jetzt nicht aufhalten lassen. Keine Sekunde verlieren. Er hatte noch eine Aufgabe zu erledigen. Er wollte die beiden Gefangenen töten. Zehn
hatte er nur, aber zwölf mußten es sein. Erst dann war er der Messias der Hölle. An der Tür blieb er stehen und warf einen Blick zurück. Er untersuchte das Land. Auch in der Dunkelheit war der Blick etwas Besonderes. Er konnte die fernen Lichter der Autos sehen, wenn diese auf dem Highway fuhren. Sie sahen aus wie lange, helle, starre Schlangen, wobei die eine in die andere überging. Alles war so perfekt. Niemand hatte direkt manipuliert. Trotzdem spürte er den Druck. Von zwei Seiten packte er ihn. Der Himmel bekam den hellen Schein intervallweise. Das Unwetter rückte näher heran. Wenn er sich nicht täuschte, hörte er in der Ferne sogar einen leichten Donner. Kam ein Wagen? Er sah ihn nicht. Es gab einen offiziellen Weg, den er sonst auch immer genommen hatte. Keine Straße, mehr ein Pfad und auch nicht besonders gut zu befahren, aber von einem Wagen durchaus zu schaffen. Sheriff Tod saugte hechelnd die Luft ein. »Ich bin besser!« flüsterte er. »Ich bin raffinierter. Ihr werdet es nicht schaffen, das könnt ihr mir glauben.« Dann drehte er sich abrupt um. Ein Griff nach der Klinke, er drückte die Tür auf, und als er vor sich die Leere des alten Kirchenraums sah, da fühlte er sich wie zu Hause. Ja, das war seine Welt! Nur hier fühlte er sich wohl. Er beherrschte hier alles. Die Tür fiel hinter ihm zu. Sheriff Tod betrat den düsteren Raum. Die Fenster malten sich schwach ab. Seine Gedanken drehten sich um sein großes Ziel, und er dachte auch daran, daß er nichts gesehen hatte bei seinem letzten Blick über das Land. Sollten ihm die Verfolger auf den Fersen ein, würde es noch eine Weile dauern, bis sie den Zielort erreicht hatten. Also konnte er die Zeit nutzen. Sheriff Tod dachte an die beiden letzten Gefangenen. Sie fehlten in seiner Sammlung. Waren sie tot, dann… »Zwölf«, flüsterte er und näherte sich während dieser Worte der Luke. »Genau zwölf.« Als Sheriff trug er einen Revolver. Es war ein gepflegter Sechsschüsser, eine Waffe, auf die er immer sehr stolz gewesen war. Noch nie hatte sie ihn im Stich gelassen, und das würde auch heute so sein. Neben der Luke blieb er stehen. Dort hatte er auch die Handleuchte abgestellt, die einen sehr breiten Strahl abgab. Mit ihr konnte er das Gefängnis dort unten ausleuchten. Und wenn sie sich verstecken wollten, würde er sie jagen wie die Hasen. Er kicherte in seiner schon kindlichen Vorfreude.
Dann machte er sich daran, die Luke zu öffnen… *** Einmal – sie warteten noch immer zitternd –, da hatte Tina Berg gefragt: »Wie lange haben wir wohl noch zu leben?« Marcus Richter hatte geschwiegen. »Sag es!« drängte seine Freundin. »Wir werden es schaffen, Tina. Wir werden überleben, das verspreche ich dir.« »Aber wie?« »Du wirst sehen. Ich habe einen Schutzengel, du hast ihn ebenfalls. Wir kommen durch.« Darauf hatte Tina nichts mehr gesagt. Sie war sehr ruhig geworden, hockte auf dem kalten Boden, wobei sie hin und wieder stöhnend atmete oder aufschluchzte. Marcus hatte es nicht auf der feuchten Erde gehalten. Immer wieder durchquerte er im Schein seiner kleinen Flamme ihr Gefängnis. Er wußte selbst, daß er keinen Ausgang finden würde, aber er mußte einfach etwas tun. Er konnte nicht nur dasitzen und darauf warten, daß ein Wunder eintrat und sie rettete. Wenn möglich, ging er nicht zu nahe an die Leichen heran. Sie waren da, er konnte sie nicht wegdiskutieren, aber er wollte sie einfach vergessen. Sie sollten nicht mehr in sein Leben treten. Aber der Geruch blieb. Dieser verdammte Gestank, der sich wie eine Pestwolke in diesem Grab versammelt hatte und alles andere überdeckte. Auch wenn er die Leichen nicht sah, er mußte einfach immer wieder an sie denken, und er würde sich auch nie an den Geruch gewöhnen können. »Komm doch her«, erreichte ihn Tinas flüsternde Stimme aus der Dunkelheit. »Ja, ich…« »Bitte!« drängte sie. »Mir ist so kalt.« Marcus ging zu ihr. Im Dunkeln ließ er sich neben Tina nieder und legte seinen rechten Arm um sie. Sie preßte ihren Kopf gegen seine Schulter. Er hörte sie leise weinen, seine Hand streichelte ihr Haar. Es war verklebt und fettig, als hätte es jemand mit Ol beschmiert. Das machte ihm nichts aus, es erging ihm ja nicht anders. Sie beide fühlten sich schmutzig, sie waren schmutzig, aber das Schlimmste war ihre Hoffnungslosigkeit. Es würde für sie keine Chance auf Rettung geben. Dieses Monstrum mit der Totenkopf-Sonnenbrille war wie ein Tier auf der Jagd nach Beute. Zehn Menschen hatte er bereits getötet. Was hielt ihn davon ab, noch zwei andere ins Jenseits zu schicken?
Tina summte ein Lied vor sich hin. Es war eine traurige Melodie, und Marcus hörte, wie sie dabei weinte. »Nicht doch, Tina, bitte nicht…« »Ich kann nicht mehr!« flüsterte sie. »Wir schaffen es!« »Wie denn?« Marcus Richter senkte den Kopf. Die Frage hatte ihn mitten ins Herz getroffen und dabei eine Wunde gerissen. Ja, wie? Er wußte es nicht. Er hatte nur Hoffnung, und daran klammerte er sich, obwohl es eigentlich keinen Balken gab, der ihm als Haltepunkt hätte dienen können. Sie befanden sich in einer Welt der Toten, und diese wiederum wurde von einer lebenden Person beherrscht, die anscheinend Macht über die Toten ausübte. Sie blieben sitzen. Stille hüllte sie ein. Manchmal warf der junge Deutsche einen Blick zur Decke. Er wartete immer darauf, daß sich die Luke wieder öffnen würde, wenn der Killer erschien, um seinen Auftrag zu erledigen. Noch blieb sie geschlossen, noch… Nein, nicht mehr. Sein mittlerweile sensibilisiertes Gehör vernahm ein vertrautes Geräusch. Trotz des dicken Steins glaubte er, Trittgeräusche zu hören. Tina hatte nichts bemerkt, sie wurde erst aufmerksam, als sie das Kratzen über ihrem Kopf vernahm. Da bewegte sich etwas. Eine viereckige Öffnung entstand. Sie war heller als diese stickige Finsternis und zeichnete sich auch ziemlich scharf ab. Beide saßen günstig, sie konnten schräg in die Höhe schauen, und sie sahen auch, wie der Killer sich dort bewegte. »Er ist da!« hauchte Tina zitternd. »O Gott, er ist da. Jetzt sind wir verloren!« Marcus schwieg. Auch ihn hatte die Angst gepackt. Nur wollte er darüber nicht reden, Tina sollte nicht noch stärker beunruhigt werden. Sheriff Tod stand am Rand der Luke und schaute in die Tiefe. Er war noch nicht ganz fertig, er hantierte mit irgendwelchen Gegenständen, sie hörten ihn sogar lachen, und einen Moment später flammte der harte Lichtstrahl auf und stach schräg in die Tiefe. Tina riß die Arme hoch. Sie wollte nicht geblendet werden, aber der Lichtkreis erwischte sie und ihren Freund nur kurz, dann wanderte er weiter, kam aber in einem derartig günstigen Winkel zur Ruhe, das ihnen eine gute Sicht erlaubt wurde. Sie wollten ihre eigene Umgebung nicht unbedingt betrachten, für sie war es wichtig, den anderen zu sehen, der da über ihnen am Rand der Luke stand und nach unten glotzte. Er fixierte sie. Er war ein Schatten, der seinen rechten Arm vorstreckte, als er sich hinkniete. In der Hand sahen sie etwas schimmern, und es zeichnete
sich an der Seite des Lichtstrahls der Umriß eines Revolvers mit einem relativ langen Lauf ab. »Ihr könnt laufen, wenn ihr wollt! Los, steht auf und rennt weg. Ich schieße gern auf Hasen, auch wenn sie zweibeinig sind.« Sie taten es nicht. Sie hielten sich umklammert. Wenn, dann wollten sie gemeinsam sterben. »He, ihr wollt nicht?« Beide schwiegen. Obwohl sie nicht darüber sprachen, spürten sie das Gefühl der Todesangst wie einen gewaltigen Druck in sich hochsteigen, der immer schlimmer wurde, als wollte er letztendlich ihre Körper auseinandersprengen. »Schade.« Das Licht bewegte sich wieder. Es wanderte auf sie zu. Der Killer hatte die Lampe mit der linken Hand gefaßt, und er suchte sich jetzt sehr genau das Ziel aus. Dabei blendete er die beiden nicht. Zuerst leuchtete er den Körper des Mädchens an. Es war für ihn eine wunderbare Zielscheibe, die er durchlöchern konnte. Er lachte noch einmal. Sie hörten ihn kurz danach sprechen. »Ich werde jetzt schießen, und ich werde das Mädchen zuerst treffen. Du kannst zuschauen, wie sie von den Kugeln durchlöchert wird und schon daran denken, wie es dir wenig später ergehen wird.« Ein bestimmtes und typisches Geräusch war zu hören, als Sheriff Tod den Hahn spannte. Er hatte seinen Spaß! Marcus spürte den Griff seiner Freundin. Deren Fingernägel durchdrangen die Kleidung, sie stachen sogar wie kleine Messer in seine Haut, doch auf Schmerzen achtete er nicht. Er wartete auf die Schüsse, die Explosionen, die Echos. Darauf, daß der Killer sein Versprechen einlöste. Er schoß nicht. Statt dessen fluchte er. Wütend und zischend. Es paßte nicht zu dem, was er versprochen hatte. Plötzlich hoben die beiden wieder ihre Köpfe. Sie hörten das Kratzen, und sie bekamen etwas mit, was sie kaum glauben wollten. Die Luke an der Decke wurde wieder geschlossen. Dunkelheit fiel über sie. Beide fingen an zu weinen. Sie wußten nicht, ob aus Erleichterung oder ob andere Gründe dafür verantwortlich waren. Zunächst einmal waren sie einem schrecklichen Tod entkommen, aber der Killer würde sich damit nicht zufrieden geben. »Er kommt zurück«, murmelte Marcus und war froh, daß seine Freundin den Satz nicht gehört hatte… Der Weg zur Kirche war so gut skizziert worden, daß ich mich nicht verfahren konnte. Ja, ich fuhr, denn Doreen Pratt hatte mich darum gebeten. Sie selbst fühlte sich nicht stark genug.
Etwas war mit ihr geschehen. Sie hatte sich dermaßen stark verändert, daß ich mir allmählich Sorgen um sie machte. Immer wenn ich sie anschaute, sah ich ihre Nervosität. Sie selbst konnte nicht still sitzenbleiben. Sie rutschte auf dem Sitz hin und her, sie strich durch ihr Gesicht, sie stöhnte auf, sie drehte den Kopf und schaute sogar durch die Heckscheibe zurück. »Wir werden nicht verfolgt, Doreen.« »Ich weiß es.« »Aber…« »Fragen Sie mich nicht, John, ich kann es mir ja selbst nicht erklären. Hier ist etwas geschehen, mit dem ich nicht zurechtkomme. Je näher wir uns an das Ziel herantasten, um so mehr spüre ich den Druck, der auf mir lastet. Er ist wie eine finstere Botschaft. Er sagt mir etwas, mit dem ich nicht zurechtkomme. Dieser Killer… dieser verdammte Hundesohn… ich… ich weiß es auch nicht. Ich will es auch nicht akzeptieren, John.« »Was wollen Sie nicht akzeptieren?« »Ich habe das Gefühl, ihn zu kennen.« Bisher hatte ich mich sehr stark auf das Fahren konzentrieren müssen. Im Dunklen durch eine fremde Gegend zu rollen, ist nicht eben angenehm, doch nach dieser Antwort wäre mein Fuß beinahe vor Schreck vom Gaspedal gerutscht. »Bitte?« »Halten Sie mich nicht für verrückt und übergeschnappt, aber ich glaube tatsächlich, ihn zu kennen. Je mehr wir uns unserem Ziel nähern, um so stärker wird das Gefühl.« »Können Sie es genauer beschreiben?« »Reicht Ihnen das Wort Bande vielleicht?« Ich zerrte den Mustang in eine Rechtskurve. Die Hinterreifen wühlten sich in den Boden und ließen Sand in die Höhe spritzen. Ich sah es im Rückspiegel. »Bande?« »Ja.« »Damit komme ich nicht zurecht.« »Ich auch nicht, John, aber sie sind da. Regelrechte Bande, die immer stärker werden. Und gleichzeitig keimt ein gewisses Schuldgefühl in mir hoch.« »Sie sind doch nicht die Mörderin.« »Das weiß ich.« »Weshalb also dann ein Schuldgefühl?« »Das möchte ich selbst gern wissen!« flüsterte sie. »Aber es ist etwas vorhanden, John. Ich kann es einfach nicht wegdiskutieren. Die Verbindung steht.« »Mehr können Sie nicht sagen?« »Nein.«
»Aber Sie gehen davon aus, daß wir diesen Massenmörder in der Kirche finden.« »Das ist sicher.« »Dann wird sich bald alles geklärt haben.« Sie bewegte ihre Hände, als wäre sie dabei, sie zu waschen. »Genau davor habe ich Angst.« Ich konnte nichts erwidern, denn mir waren ihre Gedanken fremd. Dafür merkte ich den anderen Druck, den mein Kreuz abgab. Es war in diesem Fall zu einem Empfänger für das Böse geworden, und ich ging davon aus, daß wir es bei diesem Mörder mit einem Dämonen und nicht mit einem Menschen zu tun hatten. Wir befanden uns bereits auf der Hochebene, und wenn wir nach vorn schauten, dann malte sich auf dem höchsten Punkt, der dennoch flach wie eine Kappe war, bereits die kleine Kirche ab, und über der Kirche lag nur die Weite des Himmels, dessen Starre hin und wieder durch das Wetterleuchten unterbrochen wurde. Das leise Grollen des Donners war ebenfalls zu hören. Die Gewalten der Natur würden sich entladen und die verfluchte Schwüle endlich vertreiben. »Sie wollen hinauffahren, John?« »Ja.« »Einen Wagen sehe ich nicht«, meinte Doreen. »Ob er ihn irgendwo hat stehenlassen?« »Kann durchaus sein.« Sie wischte wieder über ihr Gesicht und strich dann ihr Haar glatt. »Himmel, ich bin so schrecklich nervös, aufgedreht und spüre gleichzeitig einen wahnsinnigen Druck. Das ist nicht normal, John, überhaupt nicht normal. Da stimmt etwas nicht.« Ich wußte nicht, was ich ihr antworten sollte und enthielt mich deshalb einer Bemerkung. Ich gab noch einmal Gas und ließ den abgedunkelten Mustang direkt bis vor die Holzkirche rollen. Ich stieg aus. Auch Doreen Pratt verließ den Wagen. Sie schaute sich scheu um und machte den Eindruck einer Person, die damit rechnete, rasch fliehen zu müssen. Einen Schritt, zwei zurück, so ähnlich. Ich wollte mich an die Atmosphäre gewöhnen. Sie war so ungewöhnlich und seltsam. Kalt, trotz der Schwüle. Die Kälte kroch in mich hinein, sie füllte mich aus, und ich konzentrierte meinen Blick einzig und allein auf die Kirche. Normalerweise bekommt der Mensch beim Anblick einer Kirche ein gutes Gefühl. Das war zumindest bei mir der Fall. Hier aber spielte sich das Gegenteil ab. Die Wände der Kirche strahlen etwas aus, das mir gar nicht gefiel.
Es war diese böse Kälte, die ich schon vor Sekunden gespürt hatte. Auch mein Kreuz reagierte, aber es erwärmte sich nicht. Es schien schwerer geworden zu sein und lag wie ein dicker Klumpen Blei auf meiner Brust. Er war in der Kirche, das wußte ich genau. Er wartete auf uns, wir mußten vorsichtig sein. Ich schaute mir die Außenseite der Kirche an. Auf dem Dach stand ein großes Kreuz. Es war kein Kirchturm, dieses Gebäude glich eher einem Haus, das aus zwei Hauptteilen zusammengesetzt war. Dort befand sich auch die Eingangstür. Sie war nicht sehr breit, aber in der oberen Hälfte gebogen, wie auch die beiden Fenster, die die Tür rechts und links flankierten. »Gehen wir, John?« Doreens Stimme hatte gezittert, was mir nicht gefallen wollte. »Sie brauchen nicht unbedingt mit hinein, Doreen. Ich möchte nicht, daß Sie irgendwelche Unannehmlichkeiten bekommen, die Sie…« Die Agentin unterbrach mich. »Ich muß hinein, John. Ich muß es einfach. Sie werden es nicht verstehen, aber ich denke fest daran, daß es dort etwas gibt, das mich anzieht. Es hat einzig und allein auf mich gewartet…« »Warum denken Sie so?« »Weil es stimmt!« Ich kam mit ihrer Haltung nicht zurecht. Es war auch sinnlos, Fragen zu stellen. Doreen und ich mußten hindurch, und wir würden es schaffen, das stand fest. Bevor ich die Kirchentür öffnete, hängte ich mein Kreuz nach außen und zog die Beretta. Noch ein tiefer Atemzug, ein Blick zu meiner Partnerin, deren Gesicht blaß wie Schafskäse geworden war, und in deren Augen ich ein Flackern sah. »Packen wir’s!« Ich zog die Tür auf. Es ging leider nicht lautlos, und die quietschenden Geräusche störten uns schon. Ich warf einen Blick in den leeren, kalten Raum, und die Atmosphäre hier hatte nichts mit der gemein, die normalerweise in einer Kirche herrscht. Sie gab mir keine Ruhe, sie war völlig anders – kälter und abweisender, und über meinen Körper rann ein kalter Hauch. Durch die Fenster drang wohl tagsüber Licht, aber nicht in der Nacht. In der Kirche herrschte ein ungewöhnliches Zwielicht, das uns trotz allem erlaubte, gewisse Umrisse zu erkennen. So fiel mir auf, daß keine Bänke mehr vorhanden waren. Man hatte sie kurzerhand weggeschafft. Ich schrak noch einmal zusammen, als die Tür hinter uns zufiel. Neben mir hörte ich den Atem der FBI-Agentin. Ich wollte ihr keine Fragen
stellen, und die erste Furcht war verschwunden, denn wir hatten auch damit rechnen müssen, sofort angegriffen zu werden. Der Mörder ließ sich nicht blicken. Dennoch ging ich davon aus, ihn in der Nähe zu finden, aber die Dunkelheit war einfach zu dicht, und wir hörten auch kein fremdes Geräusch. Wo gab es Verstecke? Erst als ich einige Schritte in den Kirchenraum hineingegangen war, holte ich meine schmale Lampe hervor, ich schaltete sie ein und leuchtete auf den Boden, wo er einen hellen Kreis auf den schmutzigen Bohlen hinterließ. »Hier riecht es erbärmlich«, flüsterte Doreen mir zu. »Ich weiß.« Den Geruch hatte ich ebenfalls wahrgenommen, hatte aber mit Doreen nicht darüber reden wollen. Es war, da mußte ich ehrlich sein, der Gestank von verwesenden Leichen! Fanden wir hier die verschwundenen Menschen? Befand sich in dieser alten, entweihten Kirche ein Massengrab? Es wollte mir nicht in den Sinn, und ich fühlte mich wie eingeklemmt. Ich bekam Furcht, ich wollte mit einem derartigen Grab nichts zu tun haben, und ich mußte mich zusammenreißen, um den Arm zu heben, damit der Strahl durch die Dunkelheit kreisen konnte. Er riß die Finsternis auf. An den Seiten traf er auf kleine Fenster. Hinter dem schmutzigen Glas tanzte das blasse Licht des heranziehenden Wetterleuchtens. Die Kirche stand an exponierter Stelle. Sie war wie dafür ausersehen, von einem Blitz getroffen zu werden. Der Killer zeigte sich nicht. Schritt für Schritt bewegte ich mich tiefer in die Kirche hinein, gefolgt von Doreen Pratt, deren Atem ich hörte. Dann blieb ich stehen. Die langsame Drehung, vom Schein meiner kleinen Lampe begleitet. Ich leuchtete wieder in Richtung Tür, wo ich nicht nur sie und die beiden Fenster sah, sondern noch etwas anderes aus der stumpfen Finsternis hervorgerissen wurde. Die ersten Stufen einer Treppe, die in die Höhe führte. Wahrscheinlich in den zweiten Teil der Kirche. Der Strahl wanderte höher, hatte die Treppe verlassen und das Geländer der Empore erreicht. Jede Kirche, mochte sie auch noch so klein sein, besitzt eine Orgel oder ein Harmonium, und ich ging davon aus, daß sich auf dieser Galerie ein derartiges Instrument befand. Zudem eignete sie sich besonders gut als Versteck. Neben mir hob Doreen Pratt den rechten Arm. Sie hielt jetzt ihre Dienstwaffe in der Hand, einen stupsnasigen Smith & Wesson. Mit der Mündung deutete sie nach oben. »Da muß er sein.« »Das denke ich auch.«
»Sollen wir hoch?« »Sicher.« Wir hatten nur leise gesprochen, denn auch das Flüstern klang in der Stille laut genug, um verstanden zu werden. »Nein, ihr könnt bleiben, ich werde mich zeigen!« Ein Satz, der uns zusammenzucken ließ, dem ein Gelächter folgte, das schaurig durch die Kirche hallte. Ich bekam mit, wie Doreen Pratt neben mir schwankte. Ihr rechter Arm sank nach unten, als hätte die Waffe das Dreifache an Gewicht bekommen. Ihr Gesicht sah aus wie das einer Fremden. »Was haben Sie?« flüsterte ich. »Diese… diese Stimme…« »Was ist mit ihr?« »Ich kenne sie!« Mit dieser Antwort hatte sie mich überrascht. Ich kriegte weiche Knie und wollte sie fragen, warum sie nicht gleich etwas gesagt hatte, aber auf der Galerie entstand eine Bewegung. Wir hörten die schleichenden Schritte und das leise Knarren von Bohlen. Ich hielt meine Leuchte etwas vom Körper entfernt, um nicht ein direktes Ziel zu bilden, trotzdem befanden wir uns noch in einer nicht zu unterschätzenden Gefahr. Über dem Rand des Geländers erschien die Gestalt. Sie tauchte aus dem Hintergrund auf, als wäre sie von einem Band immer weiter hervorgezogen worden. Zum erstenmal sahen wir unseren Gegner, doch ich hatte Mühe, ihn bei diesen Lichtverhältnissen zu erkennen. Mir fiel allerdings auf, daß er eine dunkle Brille trug. Auf seinem Kopf klemmte ein Stetson, wie ihn die Polizisten trugen. Vorn am Hut schimmerte das Metallschild der State Police, und in den Gläsern der Brille schienen sich vorbeiziehende Wolken abzuzeichnen. Was es war, konnte ich nicht erkennen, ich konzentrierte mich auch auf den anderen Teil des Gesichts, der glatt aussah wie eine dunkle Maske. Für einen Moment wurde es aus der Finsternis hervorgerissen, als der Widerschein des Wetterleuchtens durch die Fenster drang. Hatte ich tatsächlich zwei Totenschädel in den Brillengläsern gesehen? Ich wußte es nicht und machte mir auch darüber keine weiteren Gedanken, Doreen lenkte mich ab. Ich hörte sie stöhnen und weinen zugleich. Dieser Anblick mußte sie getroffen und geschafft haben, vielleicht auch deshalb, weil die Gestalt einen glänzenden Sheriffstern trug. »Was ist denn?« zischelte ich, ohne den Blick von dem Sheriff zu nehmen. »Das ist er, John, mein Gott, das ist er!« Ihre Stimme war leise, sie schrillte trotzdem. »Wer ist es?«
»Sheriff Tod«, schluchzte sie. »So ist er damals genannt worden, glaube ich. Aber er hat noch einen anderen Namen.« Sie sprach jetzt schnell, als sollte ein Wort das andere einholen. »Er hieß Duncan Pratt, und er ist mein Großvater!« Nach diesen Worten brach sie zusammen! *** Ich sah Doreen fallen, ich konnte sie nicht auffangen, aber sie hatte sich abgestützt und kniete jetzt auf den schmutzigen Holzbohlen des alten Baus. Durch meinen Kopf schössen Gedanken, mit denen ich nicht zurechtkam. Ich dachte zuerst an einen Irrtum, dann verscheuchte ich diese Folgerung wieder aus dem Kopf und erinnerte mich daran, wie ungewöhnlich und seltsam Doreen schon die ganze Zeit über reagiert hatte. Das war die Verbindung gewesen, von der sie gesprochen hatte, aber sie hatte sie nicht realisieren können. Duncan Pratt, der Großvater! Eine alptraumhafte Gestalt, eine Legende, die hier Sheriff Tod genannt wurde. Warum war das so? War er tatsächlich tot? Lebte er nur mehr als Zombie weiter? Hatte er deshalb so oft gemordet, um einem anderen einen Gefallen zu tun? Mir schössen unheimlich viele Gedanken und Vermutungen durch den Kopf, und ich wußte selbst, daß ich, ohne Fragen zu stellen, keine Lösung finden würde. Pratt hatte sich gezeigt, er war also durchaus in der Lage, mir gewisse Fragen zu beantworten, und ich startete einfach den ersten Versuch. »Sie sind Duncan Pratt? Hat sie recht?« »Ja.« Ich schaute zur Galerie hoch. Er hatte die linke Hand auf das Geländer gelegt und sich leicht vorgebeugt. Die Totenschädel in seinen Brillengläsern schimmerten wie geschliffenes Blei. »Dann sind Sie der Mörder. Dann haben Sie die zwölf Menschen getötet.« »Elf nur mit dem Sheriff Orwick. Die anderen beiden leben noch. Aber nicht mehr lange.« »Ja, so denken Sie. Aber warum haben Sie das getan? Ich sehe darin keinen Grund.« »Es gibt ihn«, sagte er. Beim Sprechen bewegte sich der Mund in seinem grauen Gesicht wie ein breiter Schnabel, und er kam mir auch lippenlos vor. »Berichten Sie.« »Das werde ich.« »Okay, ich höre zu.«
»Es gab eine Zeit, da war ich hier der Sheriff. Mehr als fünfzig Jahre liegt es zurück. Ich herrschte in diesem Land. Ich war das Gesetz, ich wurde respektiert, und ich war sehr lange Sheriff. Es gab den großen Krieg und die Zeit danach, den kalten Krieg. Da versuchten die Mächte, sich gegenseitig aufzubauen, sie rüsteten auf, das Wort des Jahres war Atomkraft. Aber keine Kraft, die friedlich genutzt werden sollte. Man dachte an Waffen, und man dachte auch an einige Experimente, die nicht unbedingt in das Blickfeld der Öffentlichkeit hineingeraten sollten. Deshalb errichtete man an verschiedenen Orten des Landes geheime Forschungsstätten, die nur Eingeweihten bekannt waren. Eine davon hier. Ich entdeckte sie und entriß ihr auch die Tarnung. Ich wußte, was hinter den Betonmauern geschah. Man experimentierte mit Menschen. Man wollte wissen, wie sie auf bestimmte Dosen von Strahlen reagierten, und ich haßte diese Experimente. Ich wollte es im Alleingang versuchen, ich war mir meiner Sache so sicher, aber ich rechnete nicht mit ihrer Brutalität und mit ihrem Einfluß. Eines Tages war ich verschwunden, sie hatten mich geholt, und sie hielten mich hinter den verfluchten Betonmauern versteckt. Es war in den Fünfzigern, die damals dem Ende zugingen. Ich konnte keinen Freund mehr sehen, auch nicht die Familie, ich war ihr Objekt geworden.« »Man hat mit Ihnen Experimente angestellt?« »Ja.« »Welcher Art?« »Gene!« Ich schluckte. Dieses Wort hinterließ bei mir immer wieder einen kalten Schauer. Diese Experimente mit dem Erbgut der Menschen waren gefährlich, man hatte noch keinen genauen Durchblick, und damals war er erst recht nicht vorhanden gewesen. »Was passierte?« »Ich wurde jahrelang behandelt.« »Und dann?« »Entließ man mich!« »Was hat man mit Ihnen gemacht?« Er lachte meckernd. »Ich weiß es nicht genau, aber ich war ein anderer geworden. Ich war auf die Gegenseite übergetreten. Ich fühlte mich wahnsinnig stark, ich war zu einem neuen Messias geworden. Ich drehte alles das um, was mir in der Zeit vor den Experimenten hoch und heilig gewesen war. Ich ging jetzt auf Killertour. Ich war der neue Messias, der sich seine zwölf Diener holte. Zwölf Leichen brauchte ich, um unsterblich zu werden, das wußte ich tief in meinem Innern, denn ich hatte es einer dämonischen Macht geöffnet. Es war so wunderbar, da ich erleben konnte, daß es noch eine andere Seite der Welt gab. Kannst du dir das vorstellen? Ich fühlte mich sogar sehr wohl unter dem Schutz und versprach, dieser anderen Seite zu dienen.« »Ja, ich kann es mir vorstellen.«
Sheriff Tod drückte seinen Kopf zurück. »Es waren völlig neue Erfahrungen für mich, und ich konnte mich daran gewöhnen. Es war einfach herrlich, ich fühlte mich wohl. In der Nacht war ich unterwegs. Ich wollte erfahren, ob man mich vergessen hatte. Ja, man hatte mich vergessen, aber ich war trotzdem noch existent, denn ich war mittlerweile zu einer Legende geworden, die Sheriff Tod hieß. Noch immer wurde darüber gerätselt, was mit mir geschehen war. Man sprach von Selbstmord, man redete von Mord, aber der Wahrheit kam niemand nahe. Außerdem war die geheime Forschungsstation längst abgebaut worden. Mich aber gab es noch, und ich mußte mich versteckt halten. Dabei suchte ich gleichzeitig nach einem Versteck. In dieser alten Kirche habe ich es gefunden. Hier baute ich meine Welt auf, und hierher schaffte ich meine Opfer. Es war das Neue in mir, das danach verlangte, aber ich kam diesem Verlangen gern nach.« Er grinste wieder. »Wer verdächtigte schon einen Sheriff? So konnte ich schalten und walten, und ich habe meine zwölf Diener beisammen.« Auch Doreen hatte die Worte gehört. Zwar in einer anderen Haltung als ich, nur war sie wieder soweit, daß sie die Kraft gefunden hatte, sich zu erheben. Pratt schaute ihr zu. Von der Brüstung her lachte er nach unten. »Soll ich stolz auf dich sein, daß du auf mich herausgekommen bist? Ich war Polizist, du bist ebenfalls im Staatsdienst.« »Klar, das bin ich, Pratt.« Sie redete ihn nicht mit Großvater an und bewies damit, wie stark sie sich von dieser Bestie distanzierte. »Ich bin FBI-Agentin, wenn du verstehst. Und ich bin hierhergekommen, um einen verfluchten Massenmörder zu jagen, auch wenn ich jetzt erfahren mußte, daß es mein eigener Großvater ist!« Nach dem letzten Wort riß sie den Arm mit dem Revolver hoch, zielte nicht erst groß, sondern streute rasend schnell hintereinander die Kugeln aus dem Mündungsloch… *** Die kleine Kirche schien zu explodieren. Zwischen den Schüssen gellten Doreen Pratts Schreie auf. Schreie der Enttäuschung, denn sie hatte, ebenso wie ich, die blitzschnelle Reaktion ihres Großvaters erlebt. Sheriff Tod war schon beim ersten Schuß abgetaucht und in der Dunkelheit hinter dem Geländer verschwunden. Ich löschte das Licht. »Weg!« brüllte ich Doreen zu, denn wir durften auf keinen Fall ein Ziel abgeben. Sie lief rückwärts, die Galerie im Auge behaltend, und mit dem >Speed loader< füllte sie die Trommel des Revolvers. An der Wand neben der Tür blieb sie stehen.
Ich war zur anderen Seite gehuscht, denn dort wußte ich die Treppe. Ich nutzte noch den Nachklang der Schüsse aus, um die erste Stufe zu erreichen. Auf ihr blieb ich stehen und schaute in die Höhe. Die Treppenstufen verschwammen mit der Dunkelheit. Was am Ende lag, sah ich nicht, und auch von Pratt hörte ich nichts. Er steckte noch dort oben auf der Galerie, davon mußte ich einfach ausgehen. Ich wollte nicht auf der Treppe bleiben, denn freiwillig würde er mir nicht entgegenkommen. Das Holz der Stufen war im Laufe der Zeit nicht nur feucht, sondern auch weich geworden. Ich wußte sehr gut, daß ich die Treppe nicht geräuschlos hochgehen konnte. Er würde mich hören. Dann brauchte er nur am Ende zu warten und darauf zu lauern, daß sich mein Schatten abzeichnete. Durch diese Rechnung wollte ich ihm einen Strich machen. Bevor ich mich bückte, schaute ich zurück. Doreen Pratt hatte ihren Platz nicht verlassen, was auch gut war. Dann hörten wir Schreie. Sehr schnell fanden wir heraus, daß sie unter dem Kirchenboden aufgeklungen waren. Dort würden wir die beiden lebenden Personen finden, sicherlich im Massengrab der zehn Leichen. Auf Händen und Füßen bewegte ich mich vor. So flach wie möglich schob ich mich über die Kanten der Stufen hinweg. Doreen hatte mitbekommen, was ich wollte, und sie reagierte so prächtig, als wären wir beide ein eingespieltes Team. Sie feuerte zweimal zur Galerie. Durch ihre Schüsse lenkte sie Sheriff Tod ab, und sie gab mir Gelegenheit, mich schneller nach oben zu bewegen. Als die beiden Schüsse verklungen waren, lag das Ende der Treppe vor mir, und draußen ertönte ein kräftiger Donnerschlag. Die letzte Strecke war am gefährlichsten. Ich konnte nur hoffen, daß Doreen ihren Großvater abgelenkt hatte, so daß ich die nötige Zeit bekam. Ich huschte hoch. Plötzlich lag die Treppe hinter mir. Ich befand mich auf der Galerie, wo ich mich sofort umschaute und meine Blicke die verdammten Schatten durchdringen mußten. Dann sah ich die Bewegung. Er war es! Spiegelnde Brillengläser mit aufgemalten Totenschädeln. Ich hörte ein wütendes Knurren und schoß. Der Schrei! Sheriff Tod mußte direkt in meine Silberkugel hineingerannt sein. Ich sah ihn hochspringen, als wollte er zu einem grotesken Tanz ansetzen, aber er kam nicht weit, denn er brach auf der Stelle zusammen.
Doreen war Fachfrau genug, um am Klang der Waffe erkannt zu haben, wer da geschossen hatte. »John…?« rief sie fragend und leicht vibrierend in der Stimme. »Ist alles in Ordnung? Hast du ihn erwischt?« »Scheint so.« »Klasse. Soll ich kommen?« »Nein, warte noch, ich sage dir Bescheid.« Es war einfach zu dunkel gewesen, um genau feststellen zu können, was mit Pratt passiert war. Das würde in wenigen Sekunden anders sein, wenn ich bei ihm war. Das Leben hatte mich gelehrt, vorsichtig zu sein. Mit gezogener Waffe näherte ich mich Duncan Pratt. Draußen spielte die Natur verrückt. Blitze zerteilten die Nacht, als würden sie die Dunkelheit hassen. Gewaltige Donnerschläge folgten, als wollten sie tiefe Gräben in den Erdboden reißen. Die Hölle hatte ihre Pforten geöffnet, und der Widerschein des Lichts huschte selbst durch die dunkle Scheibe des Fensters an der Rückseite der Galerie. Sheriff Tod lag auf dem Rücken. Die Sonnenbrille vor den Augen. Blaß schimmerten die beiden Totenschädel auf den Gläsern. Mit der Rechten hielt er seinen Revolver fest, als wäre dies der letzte Rettungsanker für ihn. Das war er sicherlich nicht. Ich zielte auf ihn, während ich ein Bein hob, um ihm die Waffe aus der Hand zu treten. Ob es ein Fehler gewesen war oder nicht – nun ja, später ist man immer schlauer. Blitzartig wurde der Sheriff lebendig. Er drosch mir eine Handkante in die Kniekehle des Standbeins, und kein Mensch der Welt hätte dabei sein Gleichgewicht halten können. Auch ich fiel zurück, ich krachte mit dem Rücken gegen das morsche Holz der Galerie, das diesem Druck nicht mehr standhielt. Ich hörte einen Schuß, wußte nicht, ob mich die Kugel erwischt hatte, denn ich befand mich auf dem Weg nach unten. »John!« Doreens Stimme überschlug sich, als ich aufprallte, und gleichzeitig geschah noch etwas, denn über mir auf der Galerie zersplitterte eine Fensterscheibe. Da mußte Sheriff Tod nach draußen gesprungen sein, was mir in diesem Augenblick völlig egal war, denn ich hatte mit mir selbst genug zu tun. Es war mir zum Glück gelungen, den Körper während des Falls zu drehen und gleichzeitig zu strecken. So hatte ich das unverschämte Glück, mit den Füßen zuerst aufzukommen. Den Aufprall spürte ich dennoch bis in die Haarspitzen, ich fiel auch nach vorn und rollte mich über die Schulter hinweg ab. Ein Vorteil, daß ich immer in Action und so beweglich blieb. Ich kam auf die Füße, spürte nur
ein leichtes Ziehen im linken Fuß, mehr nicht, und vor mir tauchte das Gesicht der FBI-Agentin aus der Dunkelheit auf und starrte mich an. »Er ist weg!« »Ich weiß!« »Wir müssen ihm nach!« Sie hatte sich schon gedreht, um zu laufen, aber mein Arm war schneller, und ich hielt Doreen an der Schulter fest, um sie mit einem harten Ruck zurückzuzerren. »Wir laufen nicht in die Falle. Dein Großvater wird auf uns warten, verdammt!« »Ja, ja, aber…« »Wir nehmen ein Fenster!« »Oben?« »Ja!« Wir mußten beide schreien, denn draußen tobte das Unwetter mit vehementer Wucht. Es blitzte oder donnerte nicht nur, jetzt hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet, und was da auf die Erde niederfiel, das waren mächtige Sturzfluten. Das Wasser hämmerte mit gewaltigen Schlägen gegen das Kirchendach, und bald regnete es durch. Wir waren auf dem Weg nach oben. Doreen hielt sich an meiner Seite. Sie stand wie unter Drogen. Sie war zu einer Kämpferin geworden, die den Sieg wollte. Ich mußte sie wieder einmal zurückhalten, sonst wäre sie direkt auf das zerstörte Fenster zugerannt, um nach draußen zu schauen, wo unter uns Duncan Pratt lauerte. »Langsam, Lady, langsam…« »Und wenn er flieht?« Ich schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Nach allem, was wir gehört haben, hat er hier seine neue Heimat gefunden, und die wird er unter allen Umständen verteidigen und letztendlich auch behalten wollen. Es ist nur schade, daß ich ihn nicht erwischt habe, es ist einfach zu dunkel gewesen hier oben.« Das traf nun nicht mehr zu. Am Himmel spielten sich wahre Dramen ab. Gewaltige Blitze, gespeist von einer wahnsinnigen Energie, rasten der Erde entgegen. Die Donnerschläge dröhnten in unseren Ohren. Mal peitschend, dann wieder grollend und wummernd. Es war das Inferno! Die Scheibe des Fensters war nicht mehr vorhanden. Bei seinem Sprung hatte Sheriff Tod die Reste zusammen mit seinem Körper nach außen gedrückt. Sie lagen irgendwo auf dem tiefen, schlammigen Boden, wo auch er sich aufhielt.
Von zwei Seiten näherten wir uns dem Fenster. Doreen rechts, ich links. Ein Schwall Wasser traf die FBI-Agentin und näßte sie durch. Sie schob das klatschnasse Haar zurück und warf, ebenso wie ich, einen ersten Blick in die Tiefe. Viel war nicht zu sehen. Dichte Regenschleier verdeckten das meiste. Sie hatten die warme, staubige und ausgetrocknete Erde getroffen und hatten durch ihre Kälte für Dunst gesorgt, der sich wolkenartig vor der kleinen Kirche verteilte. Am Himmel tobten die Gewalten. Blitze bildeten immer neue, grelle Muster. Donnerschläge ließen die Erde erschüttern, und der Regen rauschte in einer nie abreißenden Melodie in die Tiefe, wobei er den Untergrund immer weiter aufwühlte. Aber Duncan Pratt war nicht zu sehen. Unsere Rechnung war nicht aufgegangen. Wir konnten bis zum Mustang schauen, danach wurde es schwierig, und er hielt sich auch nicht nahe des Fahrzeugs auf. »Scheiße, John, der hat das Weite gesucht!« »Glaube ich nicht.« Doreen hob die Schultern. »Hast du vorhin in der Kirche auch die Schreie gehört?« »Ja, das waren die Überlebenden.« »Ob er dort ist?« Ich gab keine Antwort, weil ich sie auch nicht zu geben brauchte, denn von links nach rechts huschte geduckt die Gestalt des Sheriff Tod vor uns her. Er wollte wieder zu seiner Kirche. Wir hörten ihn sogar schreien. Er war sich seiner Sache sicher. »Pratt!« brüllte ich, wobei ich nicht glaubte, daß er mich wegen der Außengeräusche überhaupt gehört hatte. Aber er hatte den Schrei mitbekommen und blieb stehen. »Pratt!« schrie ich noch einmal. Diesmal änderte er seinen Blick und starrte nach oben, nicht mehr gegen die Kirchentür. Ich verließ meinen Platz und brauchte zwei kleine Schritte, um auf der Veranda und damit auch im Regen zu stehen, der auf mich niederfuhr wie eine nie abreißende Woge. Sheriff Tod sah mich. Er sah auch die plötzlich neben mir stehende Doreen, seine Enkelin. Beide hielten wir die Waffen so, daß die Mündungen schräg nach unten wiesen. Auch Pratt hielt seine Waffe fest, hatte sie aber noch nicht auf uns gerichtet. »Weg mit dem Revolver!« brüllte ich. Er schüttelte den Kopf und lachte böse. »Können Sie auf Ihren Großvater schießen?« fragte ich die Agentin. »Das werde ich wohl müssen!« erklärte sie.
»Okay, wir machen es gemeinsam! Ich weiß, daß er nicht aufgeben wird. Es hat keinen Sinn, wenn wir…« Ein lautes Krachen über uns riß mir die nächsten Worte von den Lippen. Kurz zuvor war ein mächtiger Blitz wie ein langer, greller Arm in die Tiefe gerast, und er hatte etwas getroffen und aus der Verankerung gelöst, was noch auf dem Dach der Kirche gestanden hatte. Es war das Kreuz gewesen! Und das rutschte nach unten und hätte auf seinem Weg in die Tiefe auch uns getroffen, wo wir auf dem Balkon standen. Ich hechtete zurück, und neben mir bewies Doreen Pratt, wie toll sie ebenfalls reagieren konnte, denn sie war um keinen Deut langsamer als ich. Wir landeten mit den Oberkörpern im Innern der Kirche, und das war gut so, denn das schwere Kreuz stürzte auf die Veranda, und mit dieser vehementen Wucht durchstieß es auch das Holz. Das Krachen verlor sich in dem gewaltigen Donnerschlag. Das Kreuz raste nach unten, es entschwand unseren Blicken, aber ich war sofort wieder auf den Beinen. Den Balkon gab es nicht mehr. Ich hatte einen freien Blick in die Tiefe, wo das Kreuz ein Ziel gefunden hatte. Ob Zufall oder nicht, wahrscheinlich war es sogar Schicksal gewesen, denn das schwere Eisenkreuz hatte den fliehenden Sheriff Tod unter sich begraben. Er lag da wie in den Schlamm genagelt und rührte sich nicht mehr. Doreen schaute mich an. Ich las die Frage in ihren Augen und gab ihr die entsprechende Antwort. »Gehen wir…« *** Aus dem Himmel rauschte noch immer der Regen. Er traf uns mit der Wucht einer voll aufgedrehten Dusche. Am Himmel jagten sich die Wolken gegenseitig, die Erde war zu einer fließenden Schlammfläche geworden, aber die Stärke der Blitze und die Macht des Donners waren etwas in den Hintergmnd getreten. Neben Duncan Pratt blieben wir stehen. Zum erstenmal sahen wir das Kreuz aus der Nähe und erkannten auch, daß seine Ausmaße mit der Größe eines Menschen konkurrieren konnten. Es hatte den Körper des Sheriffs zu Boden gewuchtet. Die Sonnenbrille war verrutscht, wir konnten in Augen schauen, die einem Menschen kaum zu gehören schienen. Sie waren fast pupillenlos, und die Gesichtshaut hatte die Farbe einer Maus. War er tot?
Nein, er richtete sich noch einmal auf, eigentlich nur den Kopf, und dabei öffnete er die Augen noch weiter. Er starrte seine Enkelin an. Sie ließ ihren Großvater nicht aus den Augen. Sheriff Tod röchelte. >Blut< drängte sich aus seinem Mund. Verzweifelt versuchte er, die richtigen Worte zu finden. Es wurde nicht mehr als ein Röcheln. Sein Kopf fiel zurück. Das Kreuz blieb liegen. Für mich war es ein Zeichen. Hier hatte das Gute auf seine Art und Weise gesiegt. »Und ich kann nicht mal weinen«, sagte Doreen Pratt. Dann drehte sie sich um und ging in die Kirche… *** Wenig später hatten wir zwei Menschen befreit, die ihr Glück kaum fassen konnten. Ich ließ sie bei Doreen Pratt zurück, während ich mich in dem Massengrab umschaute, das ich unter der Kirche gefunden hatte und das Tina und Marcus als Gefängnis gedient hatte. Über eine Leiter war ich hinabgestiegen und mußte mir das Taschentuch vor den Mund halten, denn der Geruch der verwesenden Körper war einfach unerträglich. Blaß im Gesicht kletterte ich wieder an die Oberwelt. Das Gewitter war weitergezogen. Schon in der Kirche spürte ich die Veränderung der Luft. Keine Schwüle mehr, sie war so herrlich klar geworden und reizte dazu, tief durchzuatmen. Das tat ich denn auch, und seit langem erfaßte mich wieder ein gutes Gefühl…
ENDE