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Ein Amphibienwesen, halb Mensch, halb Hai, zer stört das empfindliche Gleichgewicht im Atlanti schen Ozean. ...
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Inhalt:
Ein Amphibienwesen, halb Mensch, halb Hai, zer stört das empfindliche Gleichgewicht im Atlanti schen Ozean. Nach über fünfzig Jahren auf dem Meeresgrund wird das einst von den Nazis als Wunderwaffe konstruierte Lebewesen, der Shark, von einem ehrgeizigen Fotografen befreit. Mecha nisch muß es seiner teuflischen Programmierung gehorchen und immer blutrünstiger töten. Aber der Nazi-Shark hat seine Rechnung ohne Simon Chase gemacht. Der Meeresbiologe und ehemalige Greenpeace-Aktivist ist zusammen mit seinem zwölfjährigen Sohn, einer jungen Wissenschaftlerin und Indianerkapitän Tall Man dem mordenden Ge schöpf auf der Spur. Zuletzt stehen sie sich auf ei ner einsamen Insel in einem gnadenlosen Zwei kampf gegenüber ...
Peter Benchley
SHARK DIE RÜCKKEHR DES WEISSEN HAIS
Roman
Ullstein
ISBN 3-550-06733-X Die amerikanische Originalausgabe erschien bei Random House Inc., New York, unter dem Titel: White Shark
© 1994 by Peter Benchley
© der deutschsprachigen Ausgabe 1995
by Verlag Ullstein GmbH, Berlin • Frankfurt am Main
Aus dem Amerikanischen von Veronika Dünninger Die Verwertung des
Textes, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung
des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die
Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Satz: MPM, Wasserburg
Druck und Verarbeitung: Grafischer Großbetrieb Pößneck
Ein Mohndruck-Betrieb
Printed in Germany
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem
Zellstoff
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Benchley, Peter Shark: Die Rückkehr des weißen Hais; Roman / Peter Benchley.
[Aus dem Amerikan. von Veronika Dünninger]. —
Berlin; Frankfurt/M.: Ullstein 1995
ISBN 3-550-06733-X
Für Jeff Brown und im Gedenken an Michael W. Cogan und Paul D. Zimmerman — Vermißte —
Danksagung
Für ihren Rat und ihre Korrekturen, was Wale, Haie, Fische, Vögel, Physik und Paramedizin angeht, bin ich Richard Ellis und Stanton Waterman zu Dank verpflichtet. Jede eventuell noch bestehende Ungenauigkeit oder Spekulation ist mein und nicht ihr Verschulden. Und für ihre Geduld, Ausdauer, Klugheit, Unterstützung und Freundschaft danke ich, wie auch in den letzten nahezu zwei Jahrzehnten, mehr, als Worte es sagen können, der un vergleichlichen Kate Medina.
Erster Teil 1945
1 Das Wasser in der Mündung des Flusses war seit Stunden völlig bewegungslos. Es war so glatt wie ein schwarzer, gläserner Spiegel. Kein einziges Windchen regte sich. Dann schwoll das Wasser plötzlich an und bäumte sich auf. Es schien wie von einem riesigen Ungeheuer aufgewühlt, das aus der Tiefe emporsteigt. Der Spiegel drohte zu bersten. Vom Hügel aus verfolgte ein Mann das Schauspiel. Zunächst tat er es als weitere Sinnestäuschung ab, hervorgerufen durch seine Erschöpfung und das schimmernde Licht des von Wolken verhangenen Monds. Unentwegt starrte er auf das Wasser, das immer weiter anschwoll. Schließlich zersprang der Spiegel, und ein gräßli cher Kopf tauchte auf. Vor dem dunklen Hintergrund war das schwarze Haupt kaum sichtbar. Vom Was ser hob es sich lediglich durch die glitzernden Tröpfchen ab, die auf seiner glatten Haut perlten. Das Meeresungeheuer kam weiter zum Vorschein. Man konnte die spitze Schnauze und den glatten, zylindrischen Körper erkennen. Regungslos ließ es sich auf der seidigen Wasseroberfläche treiben und wartete, wartete auf den Mann. In der Dunkelheit blitzte dreimal ein Licht auf: kurz,
lang, lang, Punkt, Strich, Strich. Das internationale Morsezeichen für W. Der Mann antwortete. Er zün dete drei Streichhölzer im selben Rhythmus an. Dann nahm er seinen Tornister und stieg den Hügel hinab. Er stank, wurde von Juckreiz geplagt und kratzte sich wund. Seine Kleider hatte er schon vor Tagen einem Toten gestohlen, der am Straßenrand gele gen hatte. Sie waren schmutzig, voller Ungeziefer und saßen schlecht. Seine eigene paßgenau ge schneiderte Uniform und seine handgearbeiteten Stiefel hatte er in einem schlammigen Granattrichter versenkt. Wenigstens war er nicht mehr hungrig. Am frühen Abend hatte er zwei Flüchtlinge überfallen und ih nen mit einem Ziegelstein die Schädel eingeschla gen. Dann hatte er sich über das ekelerregende Büchsenfleisch hergemacht, das sie von den ein marschierenden US-Truppen erbettelt hatten. Im nachhinein fand er es interessant, daß er die beiden umgebracht hatte. Er hatte mit seinen Befehlen den Tod unzähliger Menschen verursacht, doch von ei gener Hand hatte er niemals getötet. Es war er staunlich einfach gewesen. Der Mann hatte sich seit Tagen auf der Flucht be funden. Waren es fünf Tage? Oder sieben? Er hatte keine Ahnung. In seltenen Momenten hatte er auf durchnäßten Heuschobern Schlaf gefunden. Diese Augenblicke waren nahtlos mit den langen Stunden verschmolzen, in denen er sich auf zerbombten Landstraßen dahingeschleppt hatte. Er war zu sammen mit dem erbärmlichen Abschaum labiler Völker dahingeschwemmt worden.
Die Erschöpfung hatte ihn begleitet und geplagt. Dutzende Male war er in Gräben zusammengebro chen oder im hohen Gras gestürzt. Dann war er keuchend liegengeblieben, bis er wieder Leben in sich spürte. Doch wen wunderte seine Erschöp fung? Er war fünfzig Jahre alt und korpulent. In den letzten zehn Jahren hatte er sich nur dann körper lich betätigt, wenn er den Ellbogen geknickt und abgestützt hatte, um an einem Glas zu nippen. Und doch trieb ihn seine Erschöpfung zur Weißglut. Sie kam einem Verrat gleich. Er mußte nicht gut in Form sein. Rennen war nicht seine Aufgabe. Er war kein Athlet oder Krieger. Er war ein Genie, das et was in der Geschichte der Menschheit noch nie Da gewesenes vollbracht hatte. Seine Bestimmung war es stets gewesen, zu führen, zu lehren, zu begeis tern und nicht wie eine erschrockene Ratte davon zurennen. Ein- oder zweimal war er nahe daran gewesen, sich zu beugen, sich zu ergeben. Doch er war standhaft geblieben, fest entschlossen, seine Pflicht zu erfül len. Seine Mission war ihm vom Führer selbst über tragen worden, einen Tag, bevor dieser sich er schossen hatte. Er würde diese Mission erfüllen, ganz gleich, was es kosten und wie lange es dauern würde. Er war weder Politiker noch Visionär, er war lediglich Wissenschaftler. Aber er wußte, daß seine Aufgabe weit über die Forschung hinaus von Be deutung war. Erschöpfung, Angst und Hunger waren überstan den. Ernst Krüger lächelte in sich hinein, während er vorsichtig den steilen Hang hinabstieg. Seine jahrelange Arbeit würde Früchte tragen. Es hatte
sich gelohnt, zuversichtlich zu bleiben. Nie hatte er ernsthaft daran gezweifelt, daß sie kommen würden. Kein einziges Mal in den endlosen Tagen der Flucht und den unzähligen Stunden des Wartens. Er hatte gewußt, daß sie ihn nicht im Stich lassen würden. Die Deutschen waren vielleicht nicht so schlau wie die Juden. Aber sie waren zuverläs sig. Sie taten, was man ihnen sagte.
2 Krüger erreichte den Kiesstrand. Dort wartete ein kleines Schlauchboot auf ihn. Ein Mann hielt das Ruder, ein zweiter war ausgestiegen. Beide waren ganz in Schwarz – Schuhe, Hosen, Pullover, Woll mützen – , und ihre Hände und Gesichter waren mit Holzkohle geschwärzt. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Der Mann an Land streckte hilfsbereit eine Hand aus, um Krüger sein Gepäck abzunehmen. Der lehnte ab. Den Tornister fest an sich gedrückt, stieg er an Bord und ging vor zum Bug. Mit einer Hand hielt er sich an der Schulter des Ruderers fest, um das Gleich gewicht nicht zu verlieren. Man hörte, wie das Schlauchboot auf dem Kies knirschte. Dann ertönte nur noch das sanfte Schlagen der Ruder, die durch das spiegelglatte Wasser gezogen wurden. Zwei weitere Männer standen an Deck des U-Bootes. Als das Schlauchboot an seine Seite glitt, halfen sie Krüger an Bord, begleiteten ihn zur vorderen Ein stiegsluke und hielten sie für ihn auf. Er kletterte die Leiter hinunter ins Innere des Bootes. Krüger stand im Kontrollraum. Knappe Befehle und prompte Antworten schwirrten hin und her. Die Luft im U-Boot war dunstig und trübe. Ein nebliger Schein hüllte die Glühbirnen ein. Die Metalloberflä chen fühlten sich naß an. Die Luft war nicht nur feucht, sie roch auch abscheulich. Eine Mischung aus Salz, Schweiß, Dieselöl, Kartoffeln und etwas unangenehm Süßem wie Eau de Cologne. Krüger fühlte sich wie in einem Höllensumpf. Er
vernahm das gedämpfte Geräusch von Elektromo toren. Eine leise Bewegung war zu spüren, sie ging vorwärts und abwärts. Ein Offizier mit weißer Mütze trat vom Periskop zurück. Er winkte Krüger zu und verschwand. Krüger zog den Kopf ein, er mußte durch eine offene Luke hindurchschlüpfen. Die beiden Männer zwängten sich in eine winzige Kabine, die nur aus einer Koje, einem Stuhl und einem Klapptisch bestand. Der Kommandant stellte sich vor: Kapitänleutnant Hoffmann. Ein junger Mann, nicht älter als dreißig. Er war bärtig, hager und blaß, so wie man sich den typischen U-BootVeteranen vorstellte. Er trug ein Ritterkreuz. Als es sich am Hemdkragen verhakte, schnippte er es bei seite. Krüger gefiel diese beiläufige Geste. Sie zeigte ihm, daß Hoffmann das Ritterkreuz schon geraume Zeit besaß und ihm keinen besonderen Wert beimaß. Er verstand sein Handwerk. Das bewies allein schon die Tatsache, daß er überlebt hatte. Nahezu neun zig Prozent aller im Krieg eingesetzten U-Boote wa ren verlorengegangen. Von den neununddreißigtausend Mann Besatzung waren dreiunddreißigtausend ums Leben gekom men oder in Gefangenschaft geraten. Krüger erin nerte sich, daß der Führer sehr zornig gewesen war, als er diese Zahlen gelesen hatte. Krüger ü berbrachte Hoffmann die neuesten Nachrichten. Von der chaotischen Lage im Land, dem Rückzug in den Bunker, dem Tod des Führers. »Wer ist jetzt Führer?« fragte Hoffmann. »Dönitz«, erwiderte Krüger. »Aber eigentlich Bor mann.« Er überlegte einen Augenblick, ob er Hoff
mann die Wahrheit sagen sollte. Es gab kein Reich mehr, jedenfalls nicht in Deutschland. Wenn das Reich überleben sollte, dann lag der Neuanfang hier in diesem U-Boot. Hoffmann brauchte die Wahrheit nicht zu wissen, beschloß Krüger. »Ihre Mannschaft?« fragte er. »Fünfzig Mann, Sie und mich eingeschlossen, alles Freiwillige, alle Parteimitglieder, alle ledig.« »Wieviel wissen sie?« »Nichts«, sagte Hoffmann, »außer daß sie ihre Heimat vermutlich nie wiedersehen werden.« »Und wie lange dauert die Fahrt?« »Normalerweise dreißig oder vierzig Tage. Aber momentan ist nichts normal. Wir können nicht auf dem kürzesten Weg rauskommen. Der Golf von Biscaya ist eine Todesfalle. Da wimmelt es nur so von alliierten Schiffen. Wir müssen die Route um Schottland herum nehmen, in den Atlantik und dann Richtung Süden steuern. An der Oberfläche schaffe ich achtzehn Knoten. Aber ich weiß nicht, wie weit wir an der Oberfläche werden fahren können. Ich werde die Geschwindig keit auf etwa zwölf Knoten drosseln müssen, um unsere Reichweite von etwa acht tausendsiebenhundert Meilen zu halten. Wenn es zur Feindberührung kommen sollte, werden wir mehr Zeit unter Wasser verbringen. Unter Wasser schaffen wir nur sieben Knoten. Unsere E-Motoren laufen nur vierundsechzig Meilen. Dann müssen wir sieben Stunden lang an der Oberfläche fahren, um sie wieder aufzuladen. Ich kann also bestenfalls schätzen, wie lange wir brauchen werden. Etwa fünfzig Tage.«
Krüger spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Fünfzig Tage! Er war noch nicht mal eine Stunde in dieser eisernen Gruft. Aber er fühlte sich schon jetzt so, als ob eine gepanzerte Faust seine Lunge zer malmte. »Sie werden sich daran gewöhnen«, sagte Hoff mann. »Und wenn wir erst in den Süden kommen, können Sie auch an Deck. Das heißt, falls wir in den Süden kommen. Wir haben schlechte Karten. Wenn es zum Kampf kommt, sind wir quasi wie armampu tiert. Wir haben vorne keine Torpedos mehr.« »Warum nicht?« »Wir haben sie ausgeladen, um Platz für Ihr… Frachtgut zu schaffen. Es paßte nicht durch die Lu ke, und wir haben die Deckplatten entfernt. Dann merkten wir, daß es ebensowenig zwischen die Torpedos passen würde, also mußten sie ver schwinden.« Krüger stand auf. »Ich will es sehen«, sagte er. Sie passierten einen winzigen Raum nach dem an deren, den Funkraum, die Offiziersquartiere, die Kombüse. Als sie den Schiffsbug erreicht hatten, schwang Hoffmann die Luke auf, die zum vorderen Torpedoraum führte, und Krüger trat hindurch. Da stand es, sicher untergebracht in einem gewaltigen bronzenen Behälter. Einen Augenblick lang stand Krüger reglos, blickte es an und erinnerte sich. Jah relange Arbeit, unzählige fehlgeschlagene Versu che, Spott, erste winzige Erfolge und schließlich sein Triumph. Er hatte eine neue und einzigartige Waffe gefunden. Er merkte, daß die Bronze bereits etwas angelaufen war und trat einen Schritt vor. Aber es waren keine
Mängel zu entdecken. Er legte eine Hand seitlich an den Behälter. Er war maßlos stolz. Hier lag nicht nur die revolutionärste Waffe des Dritten Reiches, son dern der Wissenschaft überhaupt. Nur sehr wenige Männer, die Geschichte gemacht hatten, konnten das von sich behaupten. Er, Ernst Krüger, hatte die Welt verändert. Er dachte an Mengele. Josef Mengele war privat sein Freund und beruflich sein Rivale. War Mengele auch entkommen? War er noch am Leben? Würden sie sich in Paraguay begegnen? Mengele, aufgrund seiner Menschenversuche als der Todesengel be rüchtigt, hatte Krügers Werk verachtet. Er hatte es für wirklichkeitsfremd und allzu phantastisch erklärt. Doch Krüger verfolgte mit seiner Forschung einen sehr praktischen und sehr tödlichen Zweck. Krüger hoffte inständig, daß Mengele noch am Le ben war. Er konnte es kaum erwarten, dem Konkur renten die Waffe schlechthin zu zeigen: den weißen Hai. Er wandte sich ab und verließ den Torpedoraum.
3 Als das U-Boot die Nordspitze Schottlands umrun dete, kam plötzlich ein scharfer Westwind auf. Es stampfte und schlingerte wie ein Jahrmarktkarus sell. Zentimeter um Zentimeter schob es sich nach Süden vor, in den Westen von Irland. Langsam bahnte es seinen Weg zum Atlantik. Am 8. Mai be richtete Hoffmann Krüger, daß eine Nachricht über Funk gekommen war: Deutschland hatte sich erge ben, der Krieg war zu Ende. »Nicht für uns«, erwiderte Krüger. »Nicht für uns. Für uns wird der Krieg nie zu Ende sein.« Ein Tag nach dem anderen verstrich. Die Tage ver gingen so gleichförmig wie Lindenblätter im Herbst. Hoffmann hatte die großen Schiffahrtsstraßen ver mieden und war deshalb keinen alliierten Schiffen begegnet. Dreimal hatte der Posten am Horizont Rauchfahnen gesehen. Ein halbes dutzendmal hat te Hoffmann Befehl zum Tauchen gegeben. Aber das waren eher seichte Tauchübungen und keine Ernstfälle gewesen. Krüger hatte die Zeit als monotonen Kreislauf erlebt. Er aß, schlief und arbeitete im vorderen Torpedoraum. Seine Arbeit war von entscheidender Bedeu tung. Sie allein spornte ihn an, zu leben und diese endlose Fahrt zu ertragen. Im Torpedoraum drückte Krüger einen Knopf. Er war in dem riesigen Behälter unter einem winzigen, in die Bronze gestanzten Hakenkreuz verborgen. Der Deckel öffnete sich. Mit dem Vergrößerungs glas untersuchte Krüger die dicken Gummiringe, die
den Behälter luft- und wasserdicht hielten. Auf jede Stelle, die auszutrocknen oder brüchig zu werden drohte, trug er Schmierfett auf. Krügers Vorgesetzte hatten sofort erkannt, von wel chem militärischem Nutzen seine Experimente wa ren. Was er als wissenschaftlichen Durchbruch an sah, war in ihren Augen eine großartige Waffe. Und so floß reichlich Geld, und Krüger war gedrängt worden, das Projekt fertigzustellen. Aber unmittel bar vor dem Gelingen war die Zeit abgelaufen. Das Reich war auf einen Bunker in Berlin zusammenge schrumpft. Krüger hatte man gesagt, daß man die Waffe trotz der unvollständigen Programmierung verschiffen wolle. Sie waren vier Wochen auf See, als Krüger in den Kontrollraum beordert wurde. Hoffmann hatte sich auf die Periskopgriffe gestützt. Er hatte das Gesicht an das Okular gepreßt und bewegte sich langsam im Kreis. Hoffmann sagte, ohne aufzublicken: »Auf diesen Augenblick haben wir gewartet, Herr Doktor. Es ist windstill, es dämmert und es regnet. Wir kön nen an Deck gehen und duschen.« Hoffmann wand te sich vom Okular ab und lächelte. »Und gemäß Ihrer Stellung gehören Sie zur ersten Schicht.« Es war über einen Monat her, seit Krüger das letzte Mal gebadet, sich rasiert und die Zähne geputzt hatte. Im Boot konnte nur ein begrenzter Vorrat an Frischwasser mitgeführt werden. Die tägliche Aus beute der Entsalzungsanlagen reichte nur für die Küche und den Batteriebetrieb. Krüger sehnte sich danach, frisches Wasser auf seiner übelriechenden Haut zu fühlen. »Ist es sicher?« fragte er.
»Ich glaube schon. So weit im Süden ist nicht viel los -wir befinden uns etwa zweitausend Kilometer östlich der Bahamas.« Hoffmann drehte sich wieder zum Okular um: »Wieviel Wasser unterm Kiel?« »Kein Grund hier, Herr Kapitänleutnant«, erwiderte ein Matrose an einer Kontrolltafel. »Kein Grund?« sagte Krüger. »Wieso denn das?« »Es ist zu tief für unser Echolot. Der Impuls kommt nicht mehr zurück. Wir müssen uns über einem der mittelatlantischen Gräben befinden… drei Kilome ter, fünf Kilometer… wer weiß? Jede Menge Was ser. Wir werden wohl kaum irgendwo auflaufen.« Als ein Matrose die Luke im Kommandoturm öffne te, empfand Krüger den frischen Wind wie den Duft süßer Veilchen. Am Fuß der Leiter, ein Stück Seife in der Hand, genoß er die Regentropfen, die über sein Gesicht rollten. Der Matrose suchte mit dem Fernglas den Horizont ab, rief »Alles klar!« und glitt die Leiter rückwärts hinunter. Krüger überwand den Brückenrand und kletterte die Außenleiter zum Deck hinab. Hinter ihm turnten vier Besatzungsmitglieder behende wie Spinnen über die Leitern. Auf dem Achterdeck trafen sie zusam men, nackt, und reichten ein Stück Seife herum. Weich und stetig fiel der Regen, kein Lüftchen ging. Die See war ruhig und glatt. Die lange, sanfte Dü nung des Ozeans hob das U-Boot so langsam, daß Krüger mühelos das Gleichgewicht halten konnte. Er entledigte sich seiner Kleider und breitete sie auf dem Deck aus. Der Regen würde hoffentlich den schlechten Geruch wegspülen. Er seifte sich ein und streckte die Arme weit aus. »Herr Doktor!«
Krügers Arme fielen herunter. Er starrte nach ach tern. Die vier nackten Matrosen turnten eilig die Lei ter zur Brücke hinauf. »Ein Flugzeug! Schnell!« Der letzte Mann auf der Leiter zeigte zum Himmel und kletterte rasch weiter. »Ein was?« Dann hörte Krüger einen Motor dröh nen. Der Lärm übertönte seine eigene Stimme. In der angegebenen Richtung sah Krüger zuerst nichts. Dann entdeckte er vor dem helleren Grau der westlichen Wolken einen schwarzen Punkt. Er glitt über die Wellenkämme und steuerte direkt auf ihn zu. Krüger raffte seine Kleider zusammen und rannte zurück zur Leiter. Er stieß mit dem Fuß gegen ir gendein Hindernis, fiel nach vorne auf die Knie und verlor dabei seine Kleider. Das Dröhnen der Flug zeugmotoren kam näher. Es ging bereits in ein Kreischen über. Ein heftiger, höllischer Schmerz schoß von Krügers großer Zehe durch die Wade hoch. Krüger vergaß seine Kleider und rappelte sich hoch. Da bemerkte er, worüber er gestolpert war. Eine der Deckplatten genau achtern der vorderen Luke sah verbogen aus, so als ob eine Schweißstelle aufgeplatzt und der Rand hochgeschnellt sei. Er kletterte die Leiter hinauf. Der Motorenlärm war inzwischen ohrenbetäubend. Krüger duckte sich reflexartig, als das Flugzeug über ihm kreischte. Er sah, wie es am Himmel eine Schleife zu drehen be gann. Einer der Matrosen lehnte sich von der Brücke her ab. Drängend hielt er Krüger die ausgestreckte Hand entgegen. Aus dem Bootsrumpf hörte Krüger
das Signal. Es meldete den Notfall. Als er über den
Brückenrand fiel und auf der Innenleiter Halt suchte,
spürte er das Trommeln der Motoren und die
gleichzeitig vor- und abwärts gerichtete Bewegung.
Die Luke knallte schallend über ihm zu, und der
Matrose glitt behende neben ihm an der Leiter hin ab. Dann stand Krüger auf der untersten Sprosse,
nackt und durchnäßt. Seifenschaum lief an seinen
Beinen herunter.
Hoffmann beugte sich über das Periskop. »Fluten«,
sagte er zum Chefingenieur, »wir tauchen.«
»An Deck ist eine der – «, begann Krüger.
»Periskoptiefe«, rief der Chefingenieur. »E-Motoren
halbe Geschwindigkeit.«
Hoffmann drehte das Periskop um neunzig Grad.
»Scheißkerl«, sagte er. »Der Halunke kommt wie der.«
»Er hat nicht auf uns gefeuert«, sagte Krüger. »Ich
glaube, Sie – «
»Er wird es diesmal tun. Er wollte nur auf Nummer
Sicher gehen. Er wird kaum ein U-Boot den Atlantik
überqueren lassen, ganz gleich, ob Krieg oder nicht.
Vorne fünfzehn nach unten, achtern zehn nach un ten. Runter auf hundert Meter.«
Hoffmann ließ die Griffe des Periskops nach oben
schnellen und drückte einen Schalter. Die glänzen de Stahlröhre glitt nach unten. Er sah Krüger an,
bemerkte dessen betroffenen Gesichtsausdruck
und sagte: »Keine Sorge, wir sind die Nadel im
Heuhaufen. Es wird Nacht und die Chancen, daß
man uns findet – «
»Fünfzig Meter«, rief der Chefingenieur.
»Auf Deck«, sagte Krüger, »hab’ ich gesehen…
eines der Metallteile… sind Sie mit dem Boot schon mal auf hundert Meter getaucht?« »Natürlich. X-mal.« »Siebzig Meter, Herr Kapitänleutnant.« Siebzig Meter unter der Wasseroberfläche preßten nahezu fünfzehn Pfund Wasser auf jeden Quadrat zentimeter des U-Boot-Rumpfs. Das Boot war so gebaut, daß es in mindestens doppelt so tiefem Wasser sicher operieren konnte. Das hatte es oft bewiesen. Doch als man eine der vorderen Deck platten entfernt hatte, um Krügers Fracht an Bord zu nehmen, hatte einer der Schweißer, der sie erset zen sollte, zu hastig gearbeitet. Ein paar oberflächliche, unwichtige Schweißstellen waren bei den seichten Tauchfahrten geplatzt. Alle wesentlichen hatten bisher gehalten. Doch jetzt quetschten viele Tausend Tonnen Wasser den Rumpf wie eine Faust zusammen. Eine der Platten gab nach. Vom Bug her dröhnte es laut. Das Boot schlingerte nach unten. Männer kullerten von ihren Plätzen. Krüger fiel gegen eine Leiter. Er prallte zurück und klammerte sich an ihr fest, um nicht den Gang hin abzufallen. Hoffmann wurde der Boden unter den Füßen weggerissen, und er umkrallte das Periskop. »Notauftauchen!« schrie er. »Bringt es rauf. Volle Kraft zurück! Bug und Heck anblasen!« Sein Blick streifte Krüger. »Haben Sie die Vorderluke zuge dreht?« »Ich kann mich nicht erin – « Dann hörte man wieder ein Krachen. Die Vorderlu ke flog auf. Ein kräftiger Wasserstrahl, eineinhalb Meter hoch und einen Meter breit, schoß vom Tor
pedoraum durch die Unteroffiziersquartiere. Er strömte in die Kombüse und die Offiziersmesse. »Neunzig Meter, Herr Kapitänleutnant!« schrie eine Stimme. Das Boot sank weiter. Krüger fühlte sich plötzlich schwerelos, als wäre er in einem Fahrstuhl. Es krachte laut, irgendwo brach ein Rohr, Dampf zisch te. Der Kontrollraum stank plötzlich nach säuerli chem Schweiß, dann nach Urin und schließlich nach Öl und Kot. In zweihundert Metern Tiefe krachte es ein letztes Mal. Dunkelheit. Schreie. Wehklagen. In der Millise kunde, bevor er starb, streckte Ernst Krüger eine Hand nach vorn aus, zum vorderen Torpedoraum, zur Zukunft.
4 Das U-Boot sank rasch. Mit dem Bug voran stürzte es auf dreihundert Meter hinab. Dort gab der Druck körper weit unter seiner erprobten Tauchtiefe schließlich an einem Dutzend Stellen gleichzeitig nach. Luft strömte aus dem zerborstenen Metall. Das Boot wurde gerüttelt und taumelte. Seine Hyd rodynamik war zerstört – es begann, wild zu pur zeln. Tiefer und tiefer sank es, erst sechshundert Meter, dann fünfzehnhundert. Und alle zehn Meter preßten weitere fünfzehn Pfund Wasser auf den Druckkör per, strömten in die winzigen noch verbliebenen Luftreste und zerquetschten sie wie Weintrauben. Bei dreitausend Metern Tiefe preßten über zwei Tonnen Wasser gegen jeden Quadratmillimeter Stahl. Das letzte bißchen Luft entwich aus dem zer trümmerten Rumpf und stieg in der Dunkelheit nach oben. Das U-Boot sank wie eine weggeworfene Geträn kedose, bis es schließlich auf einen Abhang auf schlug, abprallte und langsam zu rutschen begann. Es riß Schlammassen mit sich, die nie ein Men schenauge erblickt hatte. Es brachte Felsblöcke ins Rollen, die ihm in eine unheimliche Schlucht folgten. Dort schließlich kam es zum Stillstand, ein Häuflein verbogenen Stahls. Im Schutt des einstigen Bugs lag der riesige, aus Bronze gegossene und mit Gummi abgedichtete Behälter. Er verwehrte der See den von ihr begehr ten Einlaß. Der Schlamm setzte sich, und die Zeit
verstrich. Unzählige Mikroorganismen, die dort un ten ihre Runden drehten, verzehrten, was möglich war. Auf dem Meeresgrund kehrte wieder Ruhe ein, und der unerbittliche Kreislauf von Leben und Tod setzte sich fort.
ZWEITER TEIL Entdeckungen 5 Absolute Dunkelheit gibt es selten auf der Erde. Selbst in einer mondlosen Nacht, wenn auch die Sterne von Wolken verhangen sind, strahlen die Lichter der Zivilisation gen Himmel. In den Tiefen der Ozeane dagegen herrscht absolute Dunkelheit vor. Die Sonnenstrahlen, von denen man jahrtau sendelang glaubte, sie seien die einzige lebens spendende Quelle auf der Erde, durchdringen kaum eine halbe Meile Meerwasser. Weite Ebenen, riesige Canyons, Gebirgsketten, die es mit dem Himalaya aufnehmen – nahezu drei Viertel des Planeten sind in immerwährendes Schwarz gehüllt. Von Zeit zu Zeit wird es von bio lumineszierenden Organismen durchbrochen. Sie funkeln, um Beute anzulocken oder sich fort zupflanzen. Zwei Tauchboote schwebten mit weißen Körpern und helleuchtenden Augen nebeneinander wie zwei Wesen von einem anderen Stern. Die Fünftausend Watt-Scheinwerfer auf ihren konkaven Vorderseiten strahlten etwa sechzig Meter weit. »Viertausend Meter«, sagte einer der Steuermänner in sein Funkgerät. »Der Paß müßte direkt vor uns liegen. Ich fahr’ jetzt rein.« »Verstanden!« funkte der andere Steuermann zu
rück. »Ich fahr’ genau dahinter.« Die Propeller begannen sich zu drehen, als die E lektromotoren ansprangen. Das erste Tauchboot setzte sich langsam in Bewegung. In der gerade einmal drei Meter langen und zwei Meter breiten Stahlkapsel kauerte David Webber, halb liegend, halb sitzend, neben dem Steuermann. Er preßte das Gesicht gegen ein fünfzehn Zentimeter großes Bullauge. Die Scheinwerfer strahlten schier unendli che graue Steilabbrüche aus Schlamm und Felsge stein an. Sie schienen von oben aus dem Nichts und nach unten in das Nichts zu fallen. Viertausend Meter, dachte Webber. Dreizehntau send Fuß Wasser. Zweieinhalb Meilen. Unmengen von Wasser über ihm, unglaublicher Druck um ihn herum. Wieviel Druck? Unberechenbar. Aber mit Sicherheit genug, um ihn zu Mus zu zerquetschen. Denk nicht darüber nach, sagte er sich. Wenn du darüber nachdenkst, tickst du aus. Und hier ist we der die richtige Zeit noch der richtige Ort, um auszu ticken. Du brauchst die Arbeit, du brauchst das Geld. Mach deinen Job und dann sieh zu, daß du hier rauskommst. Ein paar Tropfen Kondenswasser fielen von oben herab und landeten auf seinem Nacken. Er fuhr hoch. Der Steuermann streifte ihn mit einem Sei tenblick und lachte. »Schade, daß ich nicht schnell genug geschaltet habe«, sagte er. »Ich hätte ge schrien und Ihnen vorgespielt, wir müßten dran glauben.« Er grinste. »Das mache ich gerne mit Anfängern. Ich finde das lustig, wenn sie vor Schreck erstarren.« »Nett von Ihnen«, sagte Webber. »Ich hätte Ihnen
die Rechnung meiner Reinigung geschickt.« Er frös telte und rieb sich mit gekreuzten Armen die Schul tern ab. An der Oberfläche herrschten dreißig Grad. Dort hatte er im Wollpullover, in Wollsocken und Cordhose geschwitzt. Drei Stunden hatten sie für die Tauchfahrt gebraucht, und die Temperatur war um über dreißig Grad abgefallen. Ihm war eiskalt. Er schwitzte noch immer, aber jetzt vor Angst. »Welche Temperatur hat das Wasser hier drau ßen?« fragte er, nicht aus wirklicher Neugier, son dern weil ihn die Unterhaltung beruhigte. »So um null Grad«, sagte der Steuermann. »Mit Sicherheit so kalt, daß dir der Arsch abfriert.« Webber wandte sich wieder dem Bullauge zu. Eine Hand lag auf der Steuerung von einer seiner vier Kameras. Er hatte sie in verstellbaren Gehäusen an der Außenhaut des Tauchbootes installiert. Das Boot glitt an einer wüsten Felsschlucht entlang, an einem endlosen Gelände einfarbigen Gerölls. Da wirkte selbst die Oberfläche des Mondes einladen der. Webber rief sich immer wieder in Erinnerung, daß er und der Steuermann als erste Menschen diese Landschaft zu Gesicht bekamen. Mit seinen Objektiven würden die ersten Aufnahmen gemacht werden. »Kaum zu glauben, daß es hier unten tatsächlich Leben gibt«, sagte er. »O doch, gibt es, aber nichts von der Art, wie Sie’s kennen. Hier gibt’s so Albinoviecher und Dinger oh ne Augen. Ein Bulle hat keine Titten, und die hier haben keine Augen. Dann gibt’s noch so durchsich tige Dinger. Teufel, es gibt hier alles mögliche. Na türlich weiß ich nicht, was am Grund ist, so etwa
zehntausend Meter tief. Da unten war ich noch nie. Aber klar gibt’s hier überall Leben. Was alle so ver blüfft, ist die Tatsache, daß irgendwelche Lebens formen hier überhaupt erst beginnen.« »O ja, davon habe ich auch schon gehört«, sagte Webber. »Man nennt es Chemosynthese.« Chemosynthese, deshalb war er hier. Deshalb fror er sich in absolut undurchdringlicher Dunkelheit zwei Meilen unter dem Meeresspiegel den Arsch ab. Chemosynthese: Leben entstand ohne Licht. Sie kennzeichnete das Prinzip, wonach Lebewesen allein durch chemische Stoffe erzeugt werden konn ten. Faszinierend. Revolutionär. Noch nie dagewe sen. Er mußte einen Beweis aufspüren, daß Chemosyn these möglich war. Wenn er den mit der Kamera festhalten und damit die Zweifel zerstreuen könnte, dann wäre für ihn der Traum eines jeden Fotografen wahr geworden. Webber arbeitete als freier Foto graf für National Geographic. Er sollte als erster Fotos von Tiefseeschloten im kürzlich entdeckten Kristofgraben schießen, auf dem Grund des Mittel atlantischen Rückens, genau westlich der Azoren. Diese Schlote, Eiterbeulen auf der Erdoberfläche vergleichbar, spien flüssiges Gestein aus dem Erd inneren in das eisige Wasser. Die Schlote selbst waren Miniaturvulkane. Man vermutete Lebensformen in ihnen, die von den chemischen Stoffen in den Schloten hervorgebracht und ernährt wurden. Mit anderen Worten, Chemo synthese. Chemisch erzeugte Lebensformen, die das Sonnenlicht weder benötigten noch kannten. Die ohne Sonnenlicht geboren werden, leben und
sterben konnten. Man hatte Webber deshalb ausgewählt, weil er für den genialen Umgang mit seinen Kameras, Objekti ven und Gehäusen bekannt war. Und er war jung und mutig. Er hatte den Auftrag wegen des Hono rars angenommen und weil ihn der gute Ruf der Zeitschrift lockte. Vor allem aber hatte ihn das pri ckelnde Gefühl gereizt. Er wollte als erster den Be weis dafür erbringen, daß dieses wissenschaftliche Kuriosum tatsächlich im Meer, in der Natur, vorkam. An Angst hatte er nicht gedacht, er hielt sich für ab gehärtet. In den vergangenen fünfzehn Jahren hatte er so manches überlebt. Dreimal war ein Flugzeug abgestürzt, in dem er saß. Eine verwundete Löwin hatte ihn angegriffen. Haie und Muränen hatten ihn gebissen, und Skorpione hatten ihn gestochen. Di verse exotische Parasiten und Amöben hatten sich bei ihm eingenistet. Das hatte ihn neben anderen Unannehmlichkeiten zeitweilig sämtliche Körper haare und die Haut auf Zunge und Penis gekostet. Kurz, er war an Überraschungen gewöhnt. Die Na tur konnte einem die absonderlichsten Streiche spielen. Eines aber hatte er nicht vermutet, ja nicht einmal geahnt. Er hatte in den letzten Stunden mit Erstaunen feststellen müssen, daß er mittlerweile unter Klaustrophobie litt. Seit wann? Und warum? Webber fühlte sich unwohl. Blindlings irrte er in ei nem Unterwassergebirge herum, das tiefer war als die Rocky Mountains hoch. Sein Leben hing vom Geschick eines lässig-lockeren UnterwasserJockeys am Steuer einer winzigen Kapsel ab. Ver mutlich war das Ding auch noch vom billigsten An bieter zusammengeschweißt worden. Der Fotograf
glaubte zu ersticken. Er fühlte sich eingequetscht, gefangen, krank. Warum hatte er nicht auf seine Freundin gehört und lieber den anderen Auftrag übernommen? In der Korallensee hätte er Nahaufnahmen von giftigen Seeschlangen machen können. Dort wäre er jetzt weitaus glücklicher. Zumindest wäre er halbwegs Herr seiner Lage. Wenn’s brenzlig werden würde, könnte er einfach aus dem Wasser gehen. Aber nein, er mußte die Ehre einheimsen, der erste zu sein. Idiot. »Wie weit noch?« fragte er, um sich mit dem Klang seiner Stimme von seinen Herzgeräuschen abzu lenken. »Bis zu dem rauchenden Schlot? Nicht allzuweit.« Der Steuermann tippte auf das Thermometer. »Die Wassertemperatur klettert rauf. Wir müssen nah dran sein.« Das Tauchboot umrundete eine Gesteinsspitze in der Felswand, und plötzlich verdunkelte eine dicke, schwarze Rauchwolke seine Scheinwerfer. »Da wären wir«, sagte der Steuermann, bremste ab und legte den Rückwärtsgang ein. Sie sanken tiefer, bis die Scheinwerfer wieder heller wurden. Webber krümmte sich vor und griff nach den Kontrollhebeln der Kameras. »Sagen Sie Charlie, er soll auf die andere Seite fah ren«, sagte er. »Ich will ihn aufs Bild bekommen.« »Wird gemacht.« Der Steuermann sprach in sein Mikrophon, und Webber sah den weißen Umriß des anderen Tauchbootes durch die schwarze Wolke gleiten. Es schwebte gespenstisch. Aus dieser Entfernung hat
te der Schlot nichts Besonderes an sich. Man sah eine sich windende schwarze Rauchfahne vor schwarzem Wasser. Gelegentlich blitzte eine oran gerote Flamme auf, wenn die Erde aus ihrem Inne ren flüssiges Gestein durch die Oberfläche em porspie. Doch Geographic wollte Bilder von allem, was er sah, ganz gleich, wie gewöhnlich es auch war. Also fing Webber zu fotografieren an. In jeder Ka mera war ein 35-Millimeter-Film mit zweihundert Einzelbildern, und die Röhrenblitze erneuerten sich sofort. Er konnte also eine Aufnahme nach der an deren machen, während der Steuermann das Tauchboot langsam auf die Öffnung des Schlotes zusteuerte. Webber war erleichtert, daß er endlich arbeiten konnte. Er konzentrierte sich auf Winkel und Belich tung und versuchte, den grellen Scheinwerferstrahl des anderen Tauchbootes zu umgehen. Seine Angst war wie weggeblasen. Er zitterte und fror nicht mehr. Im Gegenteil, ihm war so heiß wie an der Oberfläche. »Wie warm ist es jetzt da draußen?« fragte er. »Über neunzig Grad«, sagte der Steuermann. »Der Schlot ist der reinste Ofen. Er heizt alles um sich herum auf.« Plötzlich stieß etwas gegen Webbers Bullauge, prallte ab und verschwand in der Rauchwolke. Er schrocken zuckte er zurück: »Was zum Teufel war das?« Es war zu schnell und zu nah gewesen, als daß er Einzelheiten hätte erkennen können. Das einzige, was er gesehen hatte, war ein vorbeihu schender weißer Schatten.
»Warten Sie«, sagte der Steuermann. »Verschie ßen Sie nicht Ihren ganzen Film. Hier draußen gibt’s alle möglichen Viecher. Vielleicht finden wir sogar irgendwas, was noch nie einer gesehen hat.« Sie näherten sich der Öffnung des Vulkans. Man nahm an, daß hier Tiere von den chemischen Stof fen des Schlotes lebten. Ein tiefes, stoßweises, rumpelndes Geräusch war zu hören. Es wurde von roten und orangefarbenen Blitzen begleitet. Aus den Felsspalten schoß flüssiges Gestein. Noch ein Tier flitzte vorbei und noch eines. Das Tauchboot kam über einem kleinen Plateau aus kurz zuvor erstarrter Lava zum Stehen. Da war ein ganzer Schwarm von Garnelen. Sie waren riesig, aschfahl, ohne Augen. Tausende, Hunderttausende von Garnelen, vielleicht Millionen. So viele, daß sie das gesamte Blickfeld ausfüllten. Sie wimmelten umher und pulsierten wie ein Gebirge, das lebendig war. »Großer Gott – «, sagte Webber, gefesselt und ent setzt zugleich. »Was machen die denn?« »Sie fressen alles«, sagte der Steuermann, »was in diesem Rauch herumschwirrt.« »Garnelen können in neunzig Grad warmem Was ser leben?« »Sie können darin geboren werden, leben und ster ben. Ab und zu purzelt mal eine in die Öffnung des Schlotes. Darin sind es annähernd vierhundert Grad – und verbrennt… zack, wie eine Mücke in einer Streichholzflamme.« Nachdem Webber ein Dutzend Aufnahmen ge macht hatte, bewegte der Steuermann das Tauch boot langsam vorwärts und teilte die Garnelen wie
einen dicken Perlenvorhang. Rings um die Öffnung des Schlotes befanden sich lange, knochige Sten gel. Sie waren zwei oder drei Meter hoch, wurzelten in der Lava und wucherten wie in einem schauerli chen Märchenwald. Aus ihren Enden ragten rote und gelbe federartige Finger, die sich geschmeidig in die Rauchschwaden hinein und wieder hinaus schlängelten. »Was zum Teufel ist das?« fragte Webber. »Röhrenwürmer. Sie bauen sich ihr Zuhause aus irgendeinem Zeug, das sie absondern. Und dann strecken sie ihre Fächer aus, um sich zu ernähren. Sehen Sie mal.« Der Steuermann griff nach einem Kontrollhebel und fuhr einen mechanischen Greifarm bis zum nächs ten Stengel aus. Als die Stahlkrallen des Armes sich näherten, schienen die Fächer zu erstarren. Im Bruchteil einer Sekunde verschwanden sie, bevor sie berührt worden wären. Wie von Zauberhand wurden sie in ihre schützenden, kalkartigen Röhren gezogen. »Haben Sie das aufgenommen?« fragte der Steu ermann. »War zu schnell«, sagte Webber. »Versuchen wir’s noch mal. Ich stelle die Belichtungszeit auf ein Zweitausendstel ein.« Eine Stunde später hatte Webber über dreihundert Einzelbilder aufgenommen. Er hatte von den Garne len und den Röhrenwürmern Nah- und Fernauf nahmen gemacht. Teilweise hatte das andere Tauchboot das Hintergrundmotiv abgegeben. Er hoffte, daß mindestens zwanzig dieser Fotos den Ansprüchen von Geographic entsprachen.
Er hatte keine Ahnung, ob man seine Bilder als Be weis für die Existenz chemosynthetischer Spezies akzeptieren würde. Vielleicht belegten sie einfach nur, daß zweieinhalb Meilen unter der Meeresober fläche blinde Albinogarnelen in neunzig Grad war mem Wasser lebten. Egal, er wußte, daß ein paar spektakuläre Aufnahmen darunter waren. Sicherheitshalber hatte er den Steuermann gebe ten, mit den Greifarmen ein halbes Dutzend Garne len und zwei Röhrenwürmer einzusammeln. Sie lagen nun in einem Auffangkorb an der Außenseite des Bootes. Im Labor des Mutterschiffes würde er von ihnen einige Großaufnahmen machen. »Das dürfte reichen«, sagte er zum Steuermann. »Fahren wir.« »Sind Sie sicher? Ihr Chef macht bestimmt nicht noch mal fünfzig Riesen locker, um uns hier runterzuschicken.« Webber zögerte einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich bin mir sicher.« Er war überzeugt, daß er die Fotos im Kasten hatte, die viel Geld bringen wür den. Er kannte seine Kameras. Bisweilen hatte er das Gefühl, daß sein Gehirn ihre Verlängerung war. Er konnte die Bilder schon vor seinem geistigen Auge betrachten. Sie waren hervorragend, da war er sicher. »Okay.« Der Steuermann sprach ins Funkgerät: »Wir gehen raus hier.« Im Rückwärtsgang entfernte er sich von dem Schlot. Webber machte sich auf einem Block Notizen. Plötzlich hörte er den Steuer mann fluchen: »Teufel noch mal…« »Was?« »Sehen Sie mal dort drüben.« Der Steuermann
deutete auf etwas am Grund, vor seinem Bullauge. Webber lehnte sich zu seinem eigenen Bullauge vor und hielt den Atem an, um das Glas nicht zu be schlagen. »Ich kann nichts erkennen«, sagte er. »Dort unten. Garnelenschalen. Millionen und Aber millionen. Sie liegen über den ganzen Sand ver streut.« »Na und? Können Sie sich nicht vorstellen, daß diese Tiere sich gegenseitig auffressen?« »Na, ich weiß nicht. So was hab’ ich noch nie gese hen. Kann schon sein, daß sie sich gegenseitig auf fressen, aber ob sie sich auch gegenseitig auspu len? Vielleicht ist es einer von den Tiefseehaien gewesen, ein Sechskiemer oder ein Grönlandhai. Aber machen die sich die Mühe, eine Garnele aus zupulen, bevor sie diese fressen? Macht alles kei nen Sinn.« »Könnte so einer sie ganz fressen und die Schalen ausspucken? Sie erbrechen?« »Ein Hai verdaut alles. Da würde nichts übrigblei ben.« »Ich versteh’ das nicht«, sagte Webber. »Ich auch nicht, aber irgend etwas muß diese Gar nelen ausgepult und gefressen haben, Tausende von ihnen. Ich glaube, wir sollten uns mal umse hen.« Die Schalen schienen sich in einer Spur zu verlau fen, und der Steuermann wendete das Boot und folgte ihr. Er schwebte wenige Meter über dem Grund und richtete die Scheinwerfer nach unten. Das Tauchboot bewegte sich nur langsam vorwärts, nicht mehr als hundert Meter pro Minute. Nach zwei
oder drei Minuten wirkten das monotone Surren des Motors und die eintönige karge Landschaft ein schläfernd. Webber spürte, wie seine Augen glasig wurden. Er schüttelte den Kopf. »Wonach suchen wir?« fragte er. »Ich weiß nicht. Vermutlich wie üblich nach irgend einem Hinweis, der uns auf irgend etwas bringt, was die Natur nicht gemacht hat. Eine gerade Linie… ein perfekter Kreis… irgend etwas Symmetrisches. In der Natur gibt es verdammt wenig, was symmet risch ist.« Wenige Sekunden später glaubte Webber, am Rande des Lichtkegels eine Anomalie entdeckt zu haben. »Dort drüben«, sagte er. »Das ist zwar nicht gerade symmetrisch, aber sehr natürlich sieht es auch nicht aus.« Der Steuermann wendete das Boot. Die Scheinwer fer glitten über den Grund hinweg, und eine Masse zerborstenen schwarzen Metalls wurde auf dem pulvrigen Schlammteppich sichtbar. Eine Form war nicht zu erkennen. Manche Teile schienen zermalmt worden zu sein, andere aufgerissen und verbogen. »Sieht aus wie Schrott«, sagte Webber. »Ja, aber was für Schrott? Was war es?« Der Steu ermann gab seinem Kollegen seine Position durch und ging dann tiefer hinunter. Schließlich ruhte das Boot mit der Unterseite auf dem Schlamm. Die Metallmasse war über eine so große Fläche verstreut, daß die Scheinwerfer sie nicht vollständig beleuchten konnten. Der Steuermann richtete die gesamten zehntausend Watt auf ein beliebiges En de und bewegte die Lichter Stück um Stück, um jedes Teil genau zu betrachten. Er versuchte, sie
wie ein Puzzle zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammenzusetzen. Webber bot ihm keine Hilfe an. Er konnte nichts Nützliches beitragen. Er war Fotograf und kein Ingenieur. Wegen ihm hätte der Haufen Stahl dort draußen eine Lokomotive, ein Schaufelraddampfer oder ein Flugzeug sein können. Während er wartete, spürte er, wie die Angst zurückkehrte. Sie waren nun schon seit fast fünf Stunden in diesem Ding, und sie würden mindestens weitere drei Stunden brauchen, um wieder an die Oberfläche zurückzukehren. Ihm war kalt, er hatte Hunger, und er mußte mal. Vor allem mußte er sich bewegen, irgend etwas tun. Und zusehen, daß er hier rauskam. »Los jetzt«, sagte er. »Belassen wir’s dabei und hauen ab.« Der Steuermann schwieg einen langen Augenblick, bevor er antwortete. Schließlich wandte er sich Webber zu und sagte: »Ich hoffe, Sie haben noch einen Stapel Filme übrig.« »Warum?« »Weil wir gerade auf eine verdammt gute Sonderzu lage gestoßen sind.«
6 Das andere Tauchboot kam und postierte sich fünf zig Meter weiter hinten am anderen Ende des mit
Wrackteilen übersäten Geländes. Die vier Schein werfer tauchten es in ein zwanzigtausend Watt star kes Licht, und man konnte nahezu die gesamte Flä che überblicken.
Der Steuermann grinste Webber an und sagte:
»Na?«
»Na was?«
»Na, was ist es?«
»Wie zum Teufel soll ich das wissen?« schnauzte
Webber ihn an. »Verstehen Sie, mir ist eiskalt, ich
bin müde, ich muß ‘ne Runde schlafen. Tun Sie mir
den Gefallen und hören Sie auf – «
»Es ist ein U-Boot.«
»Tatsächlich?« sagte Webber und preßte sein Ge sicht gegen das Bullauge. »Woher wissen Sie
das?«
»Sehen Sie mal dort drüben.« Der Steuermann
zeigte in eine Richtung. »Das ist ein Tiefenruder.
Und dort. Das muß ein Schnorchelrohr sein.«
»Sie meinen, ein Atom-U-Boot?«
»Nein, ich glaube nicht. Ich bin mir ziemlich sicher,
daß es keins ist. Es sieht nach Stahl aus. Sehen Sie
mal, wie es oxydiert – richtig langsam, weil es hier
unten kaum Sauerstoff gibt. Aber es oxydiert – und
die Verdrahtung ist absolut schlecht, völlig veraltet.
Ich würde sagen, Zweiter Weltkrieg.«
»Zweiter Weltkrieg?«
»Ja. Wir versuchen mal, näher ranzukommen.« Der
Steuermann sprach ins Mikrophon. Im Schnecken tempo fuhren die beiden Tauchboote aufeinander zu, nur so weit über dem Grund, daß sie den Schlamm nicht aufwühlten. Webber hatte laut Zählwerk nur noch sechsund achtzig Bilder übrig und fotografierte sparsamer. Er versuchte, sich das Wrack als Ganzes vorzustellen. Aber es war so grundlegend zerstört, daß wohl niemand einzelne Bestandteile des Schiffes identifi zieren konnte. »Wo befinden wir uns auf dem Ding?« fragte er. »Sieht mir nach dem Heck aus«, sagte der Steuer mann. »Das Boot liegt auf der Steuerbordseite. Die Rohre dort drüben müßten die hinteren Torpedoroh re sein.« Sie fuhren an einem der Deckgeschütze des UBootes vorbei. Das machte nun wirklich etwas her, und Webber nahm es ein paar Mal auf. Sie kamen zu einem klaffenden Loch in der Seite des Schiffs. Auf dem Schlamm, nur wenige Meter entfernt, lagen ein paar Schuhe. Sie schienen nur darauf zu war ten, daß jemand hineinschlüpfte. »Wo ist der Bursche, der sie anhatte?« fragte Web ber, während er die Schuhe aus verschiedenen Perspektiven fotografierte. »Wo ist sein Körper?« »Vermutlich haben Würmer ihn gefressen«, sagte der Steuermann. »Und Krabben.« »Mit Knochen und allem? Die Würmer fressen Kno chen?« »Nein, aber das Meer. Tiefes und kaltes Salzwasser löst Knochen auf… ein chemischer Vorgang. Früher wollte ich mich auf See bestatten lassen, heute nicht mehr. Mir paßt die Vorstellung nicht, von ir
gendwelchem Gewürm zum Mittagessen verspeist zu werden.« Sie tasteten sich langsam zum Bug vor. Neue Ge genstände tauchten auf: Töpfe aus der Kombüse, der Rahmen einer Koje, ein Funkgerät. Webber fo tografierte alles. Er war gerade dabei, eine seiner Kameras neu einzustellen, als er im Augenwinkel etwas bemerkte. Es wirkte wie ein Buchstabe, der auf eine Stahlplatte gemalt war. »Was ist das?« Er deutete fragend hinüber. Der Steuermann wendete das Boot und bewegte es langsam vorwärts. Er blickte durch das Bullauge, und plötzlich sagte er: »Bingo! Wir haben das Boot identifiziert.« »Tatsächlich?« »Jedenfalls den Typ. Was da auf eine der Kom mandoturmplatten gemalt ist, ist ein U. Es ist ein deutsches U-Boot.« »Ein deutsches U-Boot?« »Es war eines. Aber was es so weit südlich ge macht hat, völlig im Abseits, das weiß nur Gott.« Webber fotografierte das U aus verschiedenen Blickwinkeln, während der Steuermann das Boot zum Bug des U-Bootes vorbewegte. Als sie in den Bereich des Vorderdecks kamen, stellte der Steu ermann den Motor ab und hielt sein Tauchboot in der Schwebe. »Deswegen ist es gesunken«, sagte er und richtete die Scheinwerfer auf ein riesiges Loch im Deck. »Es ist implodiert.« Die Deckplatten waren nach innen gebogen. An den Rändern waren sie gekräuselt, als hätte jemand mit einem riesigen Hammer auf sie eingeschlagen. Als Webber eine Aufnahme davon machte, spürte er,
wie ihm der Schweiß lief. Er stellte sich den Augen blick vor einem halben Jahrhundert vor, als die Männer auf diesem Boot plötzlich erfuhren, daß sie sterben würden. Er konnte sich das Getöse des he reinbrechenden Wassers vorstellen, die Schreie, den Aufruhr, die Panik, den Druck, das Ersticken, die Agonie. »O mein Gott…«, sagte er. Der Steuermann warf den Motor an, und das Tauchboot schob sich Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Die Scheinwerfer leuchteten in das Loch und erhellten ineinander verhedderte Drähte, ein Gewirr von Rohren, ein… »Hey!« schrie Webber. »Was?« »Da ist etwas drin. Etwas Großes. Es sieht aus wie… ich weiß nicht…« Der Steuermann manövrierte das Tauchboot über das Loch. Er kippte den Bug nach unten und zerrte mit Hilfe der Krallen an den mechanischen Greifar men die Drähte weg und schob die Rohre beiseite. Er bündelte die Scheinwerfer zu einem einzigen Zehntausend-Watt-Lichtstrahl und richtete ihn direkt in das Loch. »Nicht zu glauben…« »Es sieht aus wie ein Behälter«, sagte Webber, während er den Lichtern zusah, die über der grün lichgelben Oberfläche eines perfekten Rechtecks tanzten. »Eine Truhe.« »Ja, oder ein Sarg.« Der Steuermann hielt einen Augenblick inne und überlegte. »Nein. Für einen Sarg ist es zu groß.« Einen Augenblick lang schwiegen beide. Staunend und nachdenklich starrten sie den Behälter an.
Schließlich sagte Webber: »Wir sollten ihn nach oben bringen.« »Ja.« Der Steuermann nickte. »Es fragt sich nur wie. Das Ding ist gut und gerne zweieinhalb Meter lang. Ich wette, es wiegt eine Tonne. Mit diesem Boot kann ich es nicht heben.« »Und mit beiden Booten zusammen?« »Nein, wir können jeder keine tausend Pfund he ben. Wir könnten nicht…« Er brach ab. »Moment mal. Ich glaube, auf dem Schiff oben liegen acht tausend Meter Kabel. Wenn man an einem Ende ein Gewicht befestigt und es herunterläßt, und wenn es uns gelingt, eine Schlinge um den Behälter zu legen, vielleicht… haben wir dann eine Chance…« Nach fast einer Stunde hatten die beiden Tauch boote das mit dem Gewicht belastete Kabel des Mutterschiffs gefaßt und den Behälter in einer Drahtschlinge festgezurrt. Das Schiff konnte endlich mit dem Heben beginnen. Sie selbst hatten ihre Sauerstoffvorräte erschöpft. Sobald die Männer sich davon überzeugt hatten, daß der Behälter nicht am Schiffsrumpf festhing und gleichmäßig stieg, warfen sie Ballast ab und begannen, nach oben zu schwe ben. Webber war erschöpft. Aber er fühlte sich auch mo tiviert und begeistert. Er brannte darauf, an die O berfläche zu kommen, den Behälter zu öffnen und zu sehen, was sich darin befand. Der Tiefenmesser registrierte Meter um Meter, den sie auf ihrem Weg nach oben, zum Tageslicht, zurücklegten. »Wissen Sie, was daran seltsam ist?« fragte Web ber. »Die ganze Geschichte ist seltsam«, sagte der
Steuermann. »Denken Sie an etwas Bestimmtes?« »Diese Wrackteile. Alles war mit Schlamm bedeckt. Alles war mit einem grauen Schleier überzogen… bis auf den Behälter. Er war sauber. Deswegen ha be ich ihn wohl auch entdeckt. Er hob sich ab.« Der Steuermann zuckte die Schultern. »Haftet Schlamm an Bronze? Keine Ahnung.«
7 »Das ist doch unglaublich!« sagte Webber. »Metal lurgen, Archäologen, Chemiker… wen kümmern die einen Dreck? Das einzige, was zählt, ist doch, was drin ist! Was denken die sich eigentlich?« »Na ja, Sie kennen doch die Bürokraten«, sagte der Steuermann, der sich verständnisvoll zeigen wollte. »Den ganzen Tag sitzen sie nutzlos auf ihren brei ten Ärschen, und jetzt auf einmal kriegen sie was zu tun und müssen ihre Existenz rechtfertigen.« Sie standen am Heck des Schiffes, das mit hoher Geschwindigkeit westwärts in Richtung Massachu setts fuhr. Der Behälter war auf einem Gestell auf dem Hecküberhang befestigt. Webber hatte Stun den damit zugebracht, Beleuchtungen an den Deckaufbauten des Schiffes zu installieren. Er woll te eine geheimnisvolle Atmosphäre für den Augen blick schaffen, in dem der Behälter geöffnet werden sollte. Er hatte sich für den Sonnenuntergang ent schieden, die »magische Stunde« der Fotografen. Dann waren die Schatten lang und die Lichter weich, kräftig und ausdrucksvoll. Und dann, keine halbe Stunde, bevor er mit den Aufnahmen beginnen wollte, hatte ihm der Schiffs kapitän ein Fax von Geographic mit dem Vermerk »Dringend« in die Hand gedrückt. Er solle den Be hälter unberührt und verschlossen lassen, bis das Schiff in den Hafen einlief. Ein Stab von Wissen schaftlern und Historikern wolle das Schiff in Emp fang nehmen und den Behälter in Anwesenheit ei nes Journalisten, eines Redakteurs und eines Ka
merateams der Fernsehserie National Geographic Explorer öffnen. Webber war am Boden zerstört. Er wußte, was ge schehen würde. Seine Beleuchtungsanlagen wür den heruntergerissen werden. Er würde beiseite geschoben, von dem Fernsehteam in den Hinter grund gedrängt und von den Fachleuten herum kommandiert werden. Er würde keine Chance ha ben, genügend Film zu verknipsen, um »Ausschuß« übrig zu haben. Das waren die Bilder, die Ge ographic nicht wollte und die er an andere Zeit schriften verkaufen konnte. Nicht nur die Qualität seiner Bilder würde leiden, sondern auch seine Brieftasche. Trotzdem war er machtlos dagegen. Und was noch schlimmer war: Er war selbst schuld. Er hätte seine Aufregung im Zaum halten und den Zeitschriftenleu ten erst später von dem Behälter berichten sollen, den sie entdeckt hatten. Jetzt schrie er laut »Schei ße!« in die Abendluft. »Na, na«, sagte der Steuermann. »Nehmen Sie’s nicht so tragisch. Gehen wir in die Offiziersmesse. Da wartet ein Freund von mir namens Jack Daniels. Er brennt darauf, Sie kennenzulernen.« Webber und der Steuermann saßen in der Offi ziersmesse und leerten die Flasche Jack Daniels. Je länger der Steuermann über die Bürokraten schimpfte, desto überzeugter wurde Webber davon, daß man ihn übergehen wollte. Er hatte den Behäl ter entdeckt. Er hatte ihn fotografiert, wie er im UBoot gelegen hatte. Er sollte derjenige sein, der die ersten, die besten und die einzigen Bilder von dem machte, was darin war.
Um Viertel vor neun erklärte sich der Steuermann für sternhageldicht und torkelte zu seiner Koje da von. Um zehn vor neun faßte Webber einen Plan. Er ging zu Bett und stellte seinen Wecker auf Mit ternacht. »Das ist Montauk Point«, sagte der Kapitän und deutete auf den äußeren Kreis des Radarschirms, »und dort drüben liegt Block Island. Wenn wir Windstille hätten, würde ich vor Woods Hole ankern und warten, bis es Tag wird.« Er warf einen Blick auf die Uhr am Schott. »Jetzt ist es Viertel nach eins. In vier Stunden werden wir schon ganz gut sehen können. Aber bei diesem verdammten Ost wind fahre ich lieber in den Schutz von Block Island und dann bei Tagesanbruch die Küste rauf. Hat ja keinen Sinn, wenn es allen schlecht wird und man vielleicht noch ein Getriebe ruiniert.« »Stimmt«, sagte Webber, den der bittere Kaffee quälte. Er schwappte in seinem Magen hin und her, als das Schiff in ein Wellental geriet und dann schräg hoch auf einen Wellenkamm stieg. Von einer nachfolgenden hohen Woge gestoßen, schlingerte das Schiff mühsam durch die Nacht. »Ich glaube, ich gehe wieder zurück und versuche, ein wenig zu schlafen.« »Stellen Sie einen Eimer neben Ihre Koje«, riet ihm der Kapitän. »Es gibt nichts Schlimmeres, als in einem vollgekotzten Bett zu schlafen.« Webber war zur Brücke gegangen, um festzustel len, wie viele Seeleute Dienst hatten. Er hatte nur zwei bemerkt, den Kapitän und einen Maat. Beide waren im Steuerhaus und blickten nach vorne. Das Heck war leer und unbeobachtet.
Als er wieder in seiner Kajüte war, steckte er einen Finger in den Mund und zwang sich zum Erbrechen. Er wartete fünf Minuten und versuchte es noch ein mal. Es kam nur noch Galle. Er putzte sich die Zäh ne und schulterte, nachdem er sich klarer im Kopf und stabiler fühlte, eine Nikon mit aufgesetztem Blitz. Er nahm eine Taschenlampe, die er kurz aus probierte, und ging nach achtern, hinaus an Deck. Der Wind blies mit fünfundzwanzig oder dreißig Knoten, aber es regnete nicht. Das Schiff fuhr fünf zehn Knoten mit dem Wind, wodurch seine Kraft abgeschwächt wurde. Man konnte über das flache, weitläufige Heck gehen, und es war, als ob man nur durch eine frische Brise stapfte. Zwei Fünfhundert Watt-Lampen überfluteten das Achterdeck mit Licht. Die Tauchboote hockten auf ihren Schlitten wie zwei mutierte Käfer. Sie schienen den grünlichgelb schimmernden Behälter zu bewachen, der zwischen ihnen lag. Webber hielt sich im Schatten, während er die drei ßig Meter des Achterdecks zurücklegte. Er kauerte sich hinter dem Tauchboot auf der Backbordseite zusammen und vergewisserte sich, daß ihn nie mand von der Brückennock aus beobachtete. Dann richtete er den Strahl der Taschenlampe seitlich auf den Behälter. Er hatte keine Ahnung, wie schwer dessen Deckel war. Wahrscheinlich wog er Hunderte von Pfund. Mit Sicherheit mehr, als er jemals alleine heben konnte. Eventuell könnte er die Kranvorrichtung ei nes der Tauchboote benutzen. Es war ein großer Stahlhaken an einem Flaschenzug, der von einer elektrischen Winsch angetrieben wurde. Aber viel
leicht hatte der Deckel auch einen Schnapp verschluß. Vielleicht gab es irgendwo einen Riegel oder einen Knopf? Er trat aus dem Schutz des Tauchboot-Gestells heraus, überquerte das Deck und kniete sich neben die Kiste. Nach achtern gewandt, um den Strahl der Taschenlampe mit dem Rücken abzuschirmen, folg te er dem Deckelrand von einem Ende zum ande ren. Nur wenige Meter vom Rand des Hecküber hangs entfernt, wo das Kielwasser schäumend stieg und fiel, entdeckte er ein in die Bronze gestanztes Emblem. Es war ein winziges Hakenkreuz. Darunter befand sich ein Knopf. Er drückte auf den Knopf. Erst hörte er ein Klicken, dann ein zischendes Geräusch. Der Deckel begann sich zu öffnen. Einen Augenblick lang war er wie gelähmt. Der Deckel bewegte sich quälend langsam nach oben, nicht schneller als zwei Zentimeter pro Sekunde. Als er etwa bis zur Hälfte offen war, stand Webber auf. Er schaltete die Kamera ein, hielt sie vors Au ge, stellte die Schärfe ein und wartete. Ein Piepton würde signalisieren, daß das Blitzlicht geladen war. Es war düster. Der Deckel warf einen Schatten auf das Innere des Behälters. Durch das Objektiv sah man nur einen amorphen Schimmer. Der Behälter war mit Flüssigkeit gefüllt. War das ein Gesicht?… dachte er. Nein, kein… aber es war etwas, und ge sichtsähnlich. Plötzlich schlug etwas in der Flüssigkeit wild um sich. Etwas blitzte auf. Es sah wie Stahl aus. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand Webber Schmerz, dann einen Wärmeschub, dann das Ge
fühl, unter Wasser gezogen zu werden. Und dann, während er starb, hatte er die absonderliche Wahr nehmung, gefressen zu werden.
8 Es mußte fressen. Und es fraß, bis es nicht mehr fressen konnte. Es schlürfte gierig und verschwen derisch und trank, bis seine Eingeweide sich wei gerten, noch mehr von der warmen, salzigen Flüs sigkeit aufzunehmen. Nun war es zwar gesättigt, aber immer noch desorientiert und verwirrt. Es spür te Bewegung und Schwankungen. Als es aus sei nem Behälter aufstieg, fühlte es einen alarmieren den Mangel. Seine Kiemen bebten. Sie schnappten nach Wasser. Das fanden sie jedoch erst, als es wieder untertauchte. Nervenimpulse schossen aufs Geratewohl durch sein Gehirn. Sie irrten an toten Synapsen vorbei, die keine Reaktionen hervorzurufen vermochten. Es war mit Antworten programmiert. Doch es steigerte sich in eine solche Raserei hinein, daß es sie nicht finden konnte. Es spürte, daß Nachschub in der Nähe war. In seiner Verzweiflung tauchte es wieder aus der Sicherheit seines Behälters auf und tastete die Umgebung ab. Da, genau da. Die dunkle und wohltuende Welt, in die es zurückkehren mußte. Es besaß kein Wissen, aber einen ausgeprägten Instinkt. Es erkannte nur wenige Befehle. Aber die ihm bekannten mußte es befolgen. Um zu überleben, benötigte es Treibstoff und Schutz. Es besaß kein Denkvermögen, aber eine ungeheure Stärke. Und diese Stärke setzte es nun ein. Eine schleimige Spur zurücklassend, bewegte es sich zum anderen Ende des Behälters und begann
zu stoßen. Obwohl es zunehmend unter Sauer stoffmangel litt, gelang es seinem Gehirn, elektri sche Impulse zu erzeugen, die seine Muskelfasern aufluden. Der Schiffsbug sank tief in ein Wellental, dann stieg das Heck. Der Behälter schlitterte nach vorn und riß das Geschöpf mit sich. Doch dann hob sich der Bug wieder und stieg gen Himmel, und als das Heck rapide abfiel, war der Behälter einen Augenblick lang schwerelos. Den Behälter zog es nach achtern. Er rutschte an den Rand des Hecküberhangs und stürzte ins Meer. Sobald es die kalte, beruhigende Geborgenheit des Salzwassers spürte, reagierte sein System mit so fortiger Regeneration. Es schnellte durch die nächt liche See in die Tiefe hinab. Es war von der primiti ven Vorstellung beherrscht, wieder dort zu sein, wo es sein sollte. Das Schiff stampfte und schlingerte vor sich hin, bis es die Leeseite einer Insel erreichte. Auf dem Ach terdeck rutschte eine blutbespritzte Nikon-Kamera hin und her.
DRITTER TEIL Waterboro 9 Simon Chase stand in der Schiffskajüte vor dem Monitor und beschattete ihn mit einer Hand. Die Sommersonne stand noch immer niedrig am Him mel. Ihre Strahlen fluteten durch die Fenster und ließen die Auflösung des Bildschirms unscharf er scheinen. Der sich langsam bewegende weiße Punkt war kaum erkennbar. Mit dem Finger folgte Chase einer Linie auf dem Bildschirm, verglich sie mit seinem Kompaß und sagte: »Hier kommt sie. Dreh auf eins-acht-null.« »Was macht sie gerade?« fragte der Maat, Tall Man Palmer. Er drehte das Steuerrad nach rechts und hielt Kurs auf Süd. »War wohl draußen in Block zum Frühstück und kommt jetzt zu Mittag nach Waterbo ro zurück.« »Ich glaube kaum, daß sie hungrig ist«, sagte Cha se. »Sie ist wahrscheinlich noch so voll mit Wal fleisch, daß sie eine Woche lang nichts fressen wird.« »Oder länger«, sagte Chases Sohn Max. Er saß vor dem Monitor und übertrug die Daten mit akribischer Genauigkeit auf Millimeterpapier. »Manche Blau haie können über einen Monat ohne Nahrungsauf nahme auskommen.« Er ließ die Bemerkung ge wollt beiläufig fallen, als ob solch meeresbiologi
sches Spezialwissen für einen Zwölfjährigen selbst verständlich wäre. »O verzeihen Sie, Jacques Cousteau«, kicherte Tall Man. »Kümmer dich nicht um Tall Man, er ist nur nei disch«, sagte Chase und klopfte Max auf die Schul ter. »Du hast recht.« Er war stolz und gerührt, denn er wußte, daß Max sein Bestes dazu beitrug, um eine Brücke zu bauen, die unter anderen Umstän den schon vor Jahren gebaut worden wäre. Tall Man wies mit einem Kopfnicken zur Küste und sagte: »Wir sollten den Leuten am Strand sagen, daß die Dame keinen Hunger hat. Sie werden sich freuen, das zu hören.« Chase sah durch das Fenster hinüber zum felsigen Strand von Watch Hill, Rhode Island. Obwohl es noch nicht einmal neun Uhr morgens war, hatten sich schon einige Familien mit ihren Picknickkörben, Frisbeescheiben und Luftmatratzen am Strand ein gefunden. Ein paar Surfer in nassen Anzügen tän zelten auf den winzigen Wellen und warteten auf einen Trip, zu dem es vielleicht nie kommen würde. Zumindest nicht heute. Denn es war windstill, und auch in der Wettervorhersage war von Wind nicht die Rede. Er lächelte bei dem Gedanken an das Durcheinan der und die Panik, die ausbrechen würden, wenn die Leute eine Ahnung davon hätten, warum dieses unschuldig aussehende weiße Boot hier draußen kreuzte, keine fünfhundert Meter vom Strand ent fernt. Die Leute lasen schrecklich gern über Haie, gingen ins Kino, um Filme über Haie zu sehen, und glaubten am liebsten, daß man Haie verstehen und
schützen müsse. Doch sobald man ihnen sagte, daß sich in einem Umkreis von zehn Meilen irgend wo im Wasser ein Hai befand, verwandelte sich ihre Liebe augenblicklich in Angst und Abscheu. Vor allem, wenn es sich um einen großen weißen Hai handelte. Wenn sie wüßten, daß er, Max und Tall Man einem fünf Meter langen weißen Hai auf der Spur waren, der gut und gerne eine Tonne oder mehr wog, wür de sich ihre Liebe in einen Blutrausch verwandeln. Brüllend würden sie verlangen, ihn zu töten. Doch dann, sobald ihn jemand getötet hätte, würden sie wieder groß tönen, wie sehr sie Haie liebten und wie sehr doch jedes von Gottes Geschöpfen be schützt werden müßte. »Der Hai kommt nach oben«, sagte Max, der die Digitalanzeige auf dem Bildschirm ablas. Chase beugte sich wieder zum Monitor, um ihn et was abzudecken. »Ja, bei sechzig Meter hat sie sich etwas beruhigt, aber jetzt ist sie schon auf we niger als dreißig.« »Wo sollte sie zwischen hier und Block Island sech zig Meter finden?« fragte Tall Man. »Muß dort draußen wohl einen Graben geben. Ich sage dir, Tall, sie kennt ihr Gebiet. Jedenfalls kommt sie jetzt den Abhang rauf.« Von einem Ha ken am Schott nahm Chase eine Standbildkamera mit einem 85 bis 200-Millimeter-Zoomobjektiv und hängte sie sich um den Hals. »Mal sehen, ob sie für uns posiert«, sagte er zu Max, und zu Tall Man sag te er: »Wirf ab und zu einen Blick auf den Monitor, um sicherzugehen, daß sie uns nicht abhaut.« Er ging zur Tür und blickte noch einmal zur Küste.
»Hoffentlich kommt sie nicht zwischen uns und den Strand. Massenhysterie können wir nicht gebrau chen.« »Du meinst, wie in Matawan Creek«, sagte Max, »1916.« »Ja, aber damals hatten sie Grund, hysterisch zu sein. Der Hai hat drei Menschen getötet.« »Vier«, sagte Max. »Vier. Verzeihung.« Chase lächelte und sah auf Max hinab. Noch konnte er hinabsehen, allerdings nicht mehr lange. Der Junge maß bereits einen Me ter fünfundsiebzig. Er war Chases schlaksiges E benbild, nur feiner gebaut und attraktiver, denn er hatte die scharf geschnittene Nase und den schma len Mund seiner Mutter. Chase nahm ein Fernglas aus einem Regal und gab es Max: »Hier, sieh mal, ob du sie findest.« Tall Man rief Chase zu: »Streite dich nie mit einem Kind über Haie. Kinder kennen Haie. Haie und Di nosaurier.« Es stimmte, dachte Chase. Kinder waren Dinosau rier- und Haifreaks. Aber er war noch nie einem Kind begegnet, das auch nur halb soviel über Haie wußte wie Max. Das freute ihn und betrübte und schmerzte ihn zugleich. Denn Haie waren stets das stärkste, wenn nicht sogar das einzige Bindeglied zwischen Vater und Sohn gewesen. Die vergange nen acht Jahre hatten sie nicht zusammengelebt. Sie hatten sich nur gelegentlich gesehen. Ihre wö chentlichen Telefongespräche boten keine Möglich keit, sich wirklich nah zu sein. Auch wenn die Tele fongesellschaften in ihren Fernseh-Werbespots et was anderes behaupteten.
Chase und Max’ Mutter hatten zu jung und zu schnell geheiratet. Sie war die Erbin eines gewinn trächtigen Holzunternehmens und er ein mittelloser Greenpeace-Aktivist. Sie hatten naiverweise ge glaubt, daß ihr Geld und sein Idealismus dem Pla neten gemeinsam nutzen und sie im Paradies leben würden. Doch schon bald stellten sie fest, daß sie lediglich dieselben Ideale besaßen. Aber die Mittel, mit denen sie diese verwirklichen wollten, waren alles andere als miteinander zu vereinen. Corinne stellte sich den Kampf an vorderster Front der Umweltschutzbewegung so vor, daß sie Tennis , Schwimm-und Cocktailpartys sowie festliche A bendgesellschaften gab, um die Bewegung zu un terstützen. Simon hingegen diente ihr dadurch, daß er wochenlang von zu Hause fort war, auf den übel riechenden Vorderdecks rattenverseuchter Schiffe lebte und auf hoher See skrupellosen ausländi schen Schiffen die Stirn bot. Sie versuchten, einen Kompromiß zu finden. Simon lernte, Tennis zu spielen und Reden zu halten. Corinne lernte Sporttauchen und zwischen Zahn- und Bartenwalen zu unterscheiden. Doch nach vier Jah ren hatten sie sich gründlich auseinandergelebt und einigten sich darauf, uneinig zu sein… auf Dauer. Die einzige Synergie, die aus der Beziehung kam, war Max. Und er war hübscher als die beiden, ge witzter, sensibler. Corinne erhielt das Sorgerecht für Max. Sie hatte Geld, eine große und fürsorgliche Familie und ein eigenes Haus oder genauer gesagt, mehrere. Als die Scheidung rechtskräftig wurde, hatte sie eine feste Beziehung mit einem Neurochirurgen, der in
Nordkalifornien im Tennis-Einzel die Nummer Eins gewesen war. Simon war der einzige Sohn seiner verstorbenen Eltern. Er hatte kein regelmäßiges Einkommen, keinen festen Wohnsitz und unterhielt flüchtige Beziehungen zu wechselnden Frauen. De ren hervorstechendste Merkmale waren ihr gutes Aussehen und ihre Leidenschaft. Corinnes Anwalt hatte Chase eine großzügige fi nanzielle Regelung angeboten. Seine Ex-Frau war weder grausam noch rachsüchtig. Sie wollte, daß Max’ Vater ihrem Sohn ein anständiges Zuhause bieten konnte, wenn er zu Besuch kam. Doch in einem Anfall selbstgerechten Edelmuts hatte Chase abgelehnt. Er hatte diesen Schritt schon mehrfach bereut. Er sah ihn inzwischen als völlig unangebrachten sexis tischen Irrsinn an, denn er hätte das Geld gut gebrauchen können. Gerade jetzt, wo das Institut, sein Institut, sich am Rande des Konkurses beweg te. Er war versucht gewesen, nochmals darüber nachzudenken, Corinne anzurufen und diesen letz ten Akt der Wohltätigkeit anzunehmen. Doch er konnte sich nicht dazu durchringen. Was ihn irritierte und was ihm unergründlich war, war etwas ganz anderes. Sein Sohn war über die Jahre und die Tausende von Meilen hinweg irgend wie in der Lage, durch den behütenden Schleier der Privatschulen, Country-Clubs und Mündelgelder hindurchzublicken. Er hatte sich ein Bild von seinem Vater als Abenteurer bewahrt… als jemandem, nach dem man sich nicht nur sehnte, sondern dem man nacheiferte. Als Chase Max ins Freie, auf das offene Heck des
Sechzehn-Meter-Boots folgte, schob er die Son nenbrille von der Stirn nach unten. Es war ein glüh endheißer Tag, fünfunddreißig Grad selbst hier draußen auf dem Ozean. Einer jener Tage, wie sie früher selten waren, die sich aber in den letzten paar Jahren häuften. Vor zehn Jahren war in Wa terboro die Temperatur im Sommer an acht Tagen auf über dreißig Grad gestiegen, vor drei Jahren bereits an neununddreißig Tagen. Und für dieses Jahr kündigten die Meteorologen fünfzig Tage an, an denen es über dreißig Grad warm werden sollte, und zehn Tage mit über achtunddreißig Grad. Er benutzte das Zoomobjektiv als Teleskop und suchte das spiegelglatte Meer ab. »Irgendwas zu sehen?« fragte er Max. »Noch nicht.« Max stützte sich mit den Ellbogen auf das Schanzkleid, um das Fernglas stabil zu halten. »Wie soll sie denn aussehen?« »Wenn sie an einem Tag wie heute nach oben kommen sollte, um sich in der Sonne zu aalen, würde ihre Rückenflosse wie ein Segel herausra gen.« Chase sah einen Autoreifen, ein PlastikMilchkännchen und eine jener todbringenden Plas tikhalterungen für Sixpacks, die Seeschildkröten und Vögel strangulierten. Er sah Öltröpfchen, die als Teer verflucht werden würden, wenn sie den Strand erreichten und an den Fußsohlen der Kinder klebten. Wenigstens entdeckte er heute keine Körperteile oder Injektionsspritzen. Im letzten Sommer hatte man einer Frau am Stadtrand Beruhigungsmittel verabreichen müssen. Ihr vierjähriger Sohn hatte ihr
einen Schatz überreicht, den er in der Brandung gefunden hatte: einen menschlichen Finger. Und ein Mann hatte seinem Hund etwas abgenom men, was zunächst wie ein Gummiball aussah, sich jedoch bald als ein kreisrunder Klumpen Klär schlamm entpuppte. Er blickte über das Heck zu dem mit Gummi um mantelten Draht, an dem der Sensor hing, und ü berprüfte den Knoten an der Schnur, die den Sen sor in der vorgesehenen Tiefe hielt. Die Kabelrolle hinter ihm an Deck war hundert Meter lang. Aber da der Grund seicht und uneben war, hatten sie den Sensor nur fünfzehn Meter tief hinabgelassen. Die Schnur scheuerte sich allmählich durch. Heute a bend würde er sie ersetzen müssen. »Kannst du den Hai noch sehen?« rief er Tall Man zu. Es entstand eine kurze Pause. Tall Man sah auf den Monitor. »Er ist jetzt ungefähr bei fünfzehn«, sagte er. »Treibt sich nur ein bißchen herum, scheint mir. Das Signal kommt aber gut und deutlich an.« Chase sprach im Geist mit dem Hai, bat ihn, nach oben zu kommen und sich zu zeigen. Nicht nur ihm, sondern Max zuliebe. Vor allem Max zuliebe. Sie waren ihm seit zwei Tagen auf der Spur und zeichneten Meßwerte über seine Geschwindigkeit, Richtung, Tiefe und Körpertemperatur auf. Sie wa ren erpicht auf jede Information, die sie über dieses seltenste der großen Meeresraubtiere bekommen konnten. Gesehen hatten sie von ihm lediglich ei nen weißen Punkt auf dem grünen Bildschirm. Cha se wollte, daß sie den Hai noch mal zu Gesicht be
kamen, damit Max sich an seiner Vollkommenheit, an seiner Schönheit freuen konnte. Aber auch, um sich zu vergewissern, daß dem Hai nichts fehlte. Möglicherweise hatte er sich durch den Pfeil, den sie auf ihn abgeschossen hatten und der die elekt ronische Signalvorrichtung enthielt, eine Infektion oder ein Geschwür zugezogen. In dem robusten Stück Haut hinter der Rückenflosse saß er zwar perfekt. Aber diese Tiere waren so selten gewor den, daß selbst die entfernteste Möglichkeit, ihm Schaden zuzufügen, Chase beunruhigte. Sie waren beinahe zufällig auf ihn gestoßen, und gerade noch rechtzeitig, um ihn davor zu bewahren, zur Trophäe an der Wand eines Bierausschanks zu werden. Chase unterhielt gute Beziehungen zu den Berufsfi schern aus der näheren Umgebung. Er achtete sorgfältig darauf, daß er sich nicht in den Streit um die Begrenzung der Fangquoten einmischte. Der Anlaß waren die dezimierten Bestände, und die Auseinandersetzung wurde immer erbitterter ge führt. Da er nicht überall gleichzeitig sein konnte, brauchte er die Hilfe der Fischer. Diese hielten Au gen und Ohren offen und informierten ihn über na türliche und künstliche Anomalien. Das konnten ein Massensterben unter den Fischen oder eine plötzli che Algenpest oder Ölunfälle sein. Seine beharrliche Neutralität hatte sich am Don nerstag abend bezahlt gemacht, als ein Blaufischjä ger das Institut angerufen hatte. Dieser war klug genug gewesen, nicht den Funk zu benutzen, der in drei US-Bundesstaaten von jedem Boot aus abge hört werden konnte. Auf dem Weg nach Hause, so berichtete er Chase, habe er zwischen Block Island
und Watch Hill einen toten Wal treiben sehen. Haie fraßen bereits an dem Kadaver, aber meist nur Blauhaie, die in Schulen kamen. Die seltenen und einzeln auftretenden Weißen hatten die Spur noch nicht aufgenommen. Aber sie würden es tun, die wenigen, die in der Bucht zwischen Montauk und Point Judith noch ihre Runden drehten. Und zwar bald. Es würde sich bis zu den Charter-Fischerbooten herumsprechen. Die Kapitäne würden ihre Lieb lingskunden anrufen und ihnen für fünfzehnhundert oder zweitausend Dollar pro Tag eine der begehr testen Meerestrophäen versprechen. Nämlich das riesige Raubtier, den größten fleisch fressenden Fisch der Welt, den Menschenfresser: den großen weißen Hai. Den Wal würden sie rasch finden. Sein Kadaver würde auf dem Radar zu erkennen sein. Sie würden ihn umkreisen, während ihre Kunden mit der Video kamera das ehrfurchterregende Schauspiel filmten, das die rollenden Augäpfel boten und die Kieferbe wegungen, mit denen der Hai fünfzig Pfund schwe re Brocken aus dem Wal herausriß. Dann würden sie berauscht sein von der Vorstellung, den Kiefer für fünf- oder zehntausend Dollar zu verkaufen. Sie wären blind gegenüber der Tatsache, daß sie mehr Geld scheffeln konnten, wenn sie den Hai in Ruhe ließen und den Kunden Geld für das Privileg abnahmen, ihn filmen zu dürfen. Also würden sie das Tier zu Tode harpunieren… denn, so würden sie sich sagen, wenn wir es nicht tun, dann tut es jemand anders. Sie würden es Sport nennen. In Chases Augen war es ungefähr so sportlich, wie
wenn man einen Hund beim Fressen erschoß. Er und Wissenschaftler von Massachusetts über Florida bis Kalifornien hatten jahrelang darauf ge drängt, die großen weißen Haie offiziell für gefähr det zu erklären. In Teilen Australiens und Südafri kas war dies heute schon der Fall. Aber weiße Haie waren keine Säugetiere, sie waren nicht niedlich und sahen nicht so aus, als ob sie Kindern zulächel ten. Weder »sangen« sie noch begrüßten sie sich mit rührenden Geräuschen. Sie sprangen auch nicht vor Publikum durch Reifen. Sie waren allesfressen de Fische. Und ab und zu – selten allerdings, weit aus seltener als Bienen, Schlangen, Tiger oder Blit ze – töteten sie Menschen. Alle waren sich einig: Weiße Haie waren Wunder der Evolution, die nahezu unverändert Zigmillionen von Jahren überlebt hatten. Aus biologischer Sicht waren sie wundervoll und aus medizinischer faszi nierend. Sie erfüllten eine wesentliche Funktion. Sie halfen, das Gleichgewicht in der Nahrungskette des Meeres aufrechtzuerhalten. In einer Zeit der knap pen Budgets und widerstreitenden Interessen küm merte sich die Öffentlichkeit nur mäßig um den Schutz dieses Tiers. Es wurde für nichts anderes gehalten als für einen Fisch, der Menschen fraß. Früher oder später, davon war Chase überzeugt, vielleicht noch vor der Jahrtausendwende, würden sie alle verschwunden sein. Weiße Haie würden für Kinder nur noch als Ausstellungsstücke im Museum oder als Filmaufnahmen im Discovery Channel exis tieren. Binnen einer Generation würde man sich nicht einmal mehr an sie erinnern. Sie würden e
benso ausgestorben sein wie die Dinosaurier. Sein erster Gedanke nach dem Gespräch mit dem Blaufischjäger war es gewesen, Sprengstoff zu be sorgen und den Wal in die Luft zu jagen. Das war die beste Lösung, die schnellste und die wirkungs vollste. Der Wal würde vom Radar der Charterfi scher verschwinden, und die Haie würden sich zer streuen. Doch es war auch die gefährlichste Lö sung, denn offiziell galt das als Verbrechen. Das Gesetz, mit dem die Meeressäugetiere ge schützt werden sollten, war meisterhaft, was die Widersprüche anging. Niemand – weder Wissen schaftler noch Laie, weder Filmemacher noch Fi scher – durfte sich einem toten oder lebenden Wal nähern. Dabei waren doch die gesamte Bewegung zur Rettung der Wale sowie das Gesetz selbst erst wegen der hervorragenden Filme engagierter Profis ins Leben gerufen worden. Ein Walkadaver konnte sich zwar zu einer Umweltkatastrophe entwickeln. Aber wer sich an einem Wal zu schaffen machte, war kriminell. Chases Zeit als umweltschützender Rabauke ge hörte der Vergangenheit an. Vor fünf Jahren hatte er beschlossen, lieber mit dem System als dagegen zu arbeiten. Er hatte seine Wut geschluckt, war ver schiedenen Leuten in den Arsch gekrochen und hatte sich Stipendien für ein Aufbaustudium erschli chen. Und er war nach Waterboro zurückgekehrt, ohne genau zu wissen, was er eigentlich wollte. Er könnte unterrichten oder weiterstudieren, doch er konnte es nicht mehr erwarten, den Hörsälen und Labors zu entkommen. Er sehnte sich nach Berufs praxis. Er könnte sich um eine Stellung in Woods
Hole oder Scripps oder irgendeinem anderen der Meeresforschungsinstitute des Landes bewerben. Aber zu seinem Doktorhut fehlte ihm immer noch eine wissenschaftliche Arbeit, und er machte sich keine Illusionen. Ohne Titel konnte er allenfalls auf einen Job als Hilfswissenschaftler hoffen. Chase hatte nur einen Anhaltspunkt in seinem Le ben: Er wollte seine Zeit in, auf, am und unter dem Meer verbringen. Er liebte das Meer seit seiner frü hesten Kindheit. Sein Vater hatte ihn an milden Ta gen mit an Bord der Miss Edna genommen und ihn das Meer schmecken, hören und riechen lassen. Er hatte Liebe und Respekt gelernt. Gegenüber dem Meer selbst, den Lebewesen, die es darin gab, und den Männern, die von ihnen lebten. Haie hatten ihn ganz besonders fasziniert, was sein Vater ziemlich übertrieben fand. Haie schien es damals überall zu geben. Sie aalten sich in der Sonne, attackierten die Netze, die randvoll mit zap pelnden Fischen waren, und folgten dem blutigen Kielwasser des Bootes, wenn die Fische geputzt und ihre Eingeweide über Bord geworfen wurden. Anfangs hatten sie Simon vor allem mit ihrem er barmungslos bedrohlichen Aussehen beeindruckt. Dann las er immer mehr über Haie. Ihm wurde klar, daß sie wunderbar die gleichförmige Entwicklung der Natur verkörperten: seit Jahrmillionen unverän dert, leistungsfähig, gegen nahezu alle Krankheiten immun, an denen andere Tiere litten. Es war, als ob die Natur sie geschaffen und sich dabei gedacht hatte: gut gemacht. Noch immer liebte er Haie. Nun hatte er keine Angst mehr vor ihnen, sondern er hatte Angst um sie.
Weltweit wurden sie ignorant, rücksichtslos und verschwenderisch abgeschlachtet. Ihre Flossen und ihr Fleisch wanderten in den Suppentopf. Manchmal störten sie auch einfach nur. Zufällig kehrte Chase ausgerechnet da nach Water boro zurück, als eine kleine Insel zwischen Block Island und Fishers Island zum Verkauf stand. Sie war dem Bundesstaat Connecticut zugefallen, weil die Vorbesitzerin, eine Bank, in finanzielle Schwie rigkeiten geraten war. Nun versteigerte der Staat die Insel, um die Steuerschulden einzutreiben. Das fünfunddreißig Morgen große Stück Land bestand aus Gestrüpp und Felsenriffen. Es war zu abgele gen und deshalb zu unattraktiv, um kommerziell erschlossen zu werden. Es hatte keinen Anschluß an kommunale Einrichtungen, und man konnte es schlecht in private Grundstücke aufteilen. Chase jedoch sah in dem winzigen Osprey Island ein ideales Fleckchen für ozeanographische For schungen. Er verkaufte das Haus und das Fischer boot seiner Eltern und leistete eine Anzahlung auf die Insel. Für den Rest nahm er einen Kredit auf und gründete das Meeresforschungsinstitut »Osprey Island«. Mühelos fand er wissenschaftlich lohnende Projek te: schwindende Fischbestände, vom Aussterben bedrohte Meeresarten, die Umweltverschmutzung. Alles verlangte Beachtung. Natürlich arbeiteten an dere Gruppen und Institute an ähnlichen Themen. Chase versuchte, ihre Arbeit mit seiner zu ergän zen. Aber stets hielt er soviel Zeit und Geld wie möglich für sein eigenes Spezialgebiet zurück: die Haie.
Er war vierunddreißig Jahre alt, Leiter eines Insti tuts, Besitzer diverser Kreditkarten und Mitglied des Establishments. So sehr er es auch haßte, das zu zugeben. Unter Wissenschaftlern erwarb er sich mit seiner Forschung über Haie einen beachtlichen Ruf. Seine Aufsätze über ihr Immunsystem wurden von wichtigen Zeitschriften veröffentlicht. Man nahm sie interessiert auf, wenn man sie auch für ein wenig exzentrisch hielt. Er selbst galt als Wissenschaftler, der Beachtung verdiente. Einer, der noch öfter von sich reden ma chen würde. Wenn man ihn nun dabei erwischte, wie er einen Wal in die Luft jagte, würde er seinen guten Ruf verlieren und zu einer Geld- oder sogar Haftstrafe verurteilt werden. Deshalb wählte er einen Kompromiß. Er hatte die Umweltschutzbehörde in Washington und das Um weltministerium von Connecticut in Hartford ange faxt und eine Sondergenehmigung beantragt. Er wolle den Wal wegbringen, bevor er an einen öffent lichen Strand geschwemmt werden konnte. Chase hatte keine Ahnung, in welcher Richtung der Kada ver trieb. Aber eines war klar: Die Drohung saß. Keine Regierung – weder auf nationaler noch auf bundesstaatlicher oder kommunaler Ebene – wollte die Kosten tragen. Es konnte bis zu hunderttausend Dollar kosten, einen fünfzig Tonnen schweren, ver wesenden Wal vom Strand zu entfernen. Er machte den Behörden nur ungenaue Angaben, wo der Wal gegenwärtig trieb. Er nannte in etwa die Stelle, zu der er den Wal schleppen wollte. Falls er die Ge nehmigung nicht bekam, konnte er behaupten, er habe den Wal nicht von der Stelle bewegt. Falls er
grünes Licht bekam, konnte er ihn noch weiter weg schleppen, aufs hohe Meer hinaus. Dort würden vermutlich keine Sportfischer auf ihn stoßen. Er hatte keine offizielle Antwort abgewartet. Er und Tall Man hatten Enterhaken und eine Taurolle in das Boot des Instituts geladen und sich auf die Su che nach dem Wal gemacht. Sie hatten ihn sofort gefunden. Gegen Mitternacht, im Dämmerschein des Mondes, hatten sie die Haken in das verwe sende Fleisch geschlagen und begonnen, den Ka daver über Block Island hinaus auf den Atlantik zu schleppen. Ein ekelerregender Gestank war ihnen gefolgt. Die Haie sprangen mit gräßlich grunzenden Lauten aus dem Wasser hoch, um Stücke aus dem fetthaltigen Fleisch herauszureißen. Es war ein junger Buckelwal, und beim ersten Ta geslicht sahen sie, warum er verendet war. Er war in riesige Fangnetze geraten, die sich wie ein Lei chentuch um Maul und Kopf gelegt hatten. Um sich zu befreien, hatte er wie wild um sich geschlagen. Dabei hatte er sich noch tiefer verheddert und sich zu Tode stranguliert. Der weiße Hai war kurz nach Sonnenuntergang ge kommen. Es war ein großes, ausgewachsenes Weibchen, vermutlich fünfzehn oder zwanzig Jahre alt, im besten Fortpflanzungsalter. Und sie war trächtig. Chase hatte es entdeckt, als der Hai sich auf den Rücken legte und seinen wuchtigen Kopf in das rosarote Fleisch an den Flanken des Wals bohrte. Dabei ließ er seinen prallen Bauch und den Genitalschlitz sehen. Niemand wußte genau, wie alt Große Weiße wur den oder wann sie zum ersten Mal Junge hatten.
Aber die herrschende Lehrmeinung war, daß sie bis zu achtzig oder hundert Jahre alt werden konnten. Den Beginn des Fortpflanzungszyklus vermutete man bei etwa zehn Jahren: Jedes zweite Jahr konn ten dann ein oder zwei Junge geboren werden. Den Hai zu töten, seinen Kopf an die Wand zu hängen und seine Zähne an Schmuckdesigner zu verkau fen, hieße viel mehr, als einen einzelnen großen weißen Hai zu erledigen. Es hieße vielleicht, bis zu zwanzig Generationen von Haien auszulöschen. Den Pfeil mit dem Sender hatten sie rasch und leicht einsetzen können. Der Hai hatte nicht ge spürt, daß ein Widerhaken in sein Fleisch drang. Er hatte sein Fressen nicht unterbrochen. Sie hatten ihn ein paar Minuten beobachtet, und Chase hatte Fotos von ihm geschossen. Dann, als sie aufbre chen wollten, hatte Tall Man den Funk eingeschaltet und gehört, wie sich die Charterfischer über den Wal unterhielten. Es war eindeutig: Der Blaufischjäger war in eine Bar gegangen und hatte der Versuchung nicht wider stehen können, bei seinen Kumpels Punkte zu ma chen, indem er ihnen von dem Wal erzählte. Er hat te ja seine Pflicht erfüllt und als erstes das Institut informiert. Wohin war der Wal verschwunden, hatten sich die Fischer gefragt. Wer hat ihn weggebracht? Die ver dammte Regierung? Diese sentimentalen Schwät zer vom Institut? Osten. Sie mußten ihn in den Os ten von Block gebracht haben. Die Fischer kamen. Sie kamen, um den trächtigen Hai abzuschlachten. Chase und Tall Man hatten nicht lange gefackelt. Sie hatten sich von unten etwas Sprengstoff geholt
– ein Plastikpäckchen, das noch vom Bau der Docks ihres Instituts übrig war – und hatten vorsich tig Ladungen an verschiedenen Stellen des Wals plaziert. Möglichst weit weg von der Stelle, an der der Hai fraß. Eine Ladung nach der anderen war detoniert. So hatten sie den Walkadaver in Stücke gesprengt, die sich sofort zu zerstreuen und zu sinken begannen. Das Radarziel der Fischer existierte nicht mehr. Jetzt konnten sie die Überreste des Wals und damit den Hai niemals finden. Der Hai tauchte unter und folgte den Brocken von Walfischspeck in die sichere Tiefe. Die Umweltschutzbehörde oder das Umweltministe rium könnten versuchen, sie anzuklagen, dachte Chase. Sollten sie doch. Es gab keine Zeugen und allenfalls dürftiges Beweismaterial. Wenn irgend welche Charterfischer schlau genug waren, ihm auf die Spur zu kommen, wären sie schön dumm, Klage einzureichen. Dann würden sie sich selbst ans Messer liefern. Denn dann müßten sie zugeben, daß sie eigentlich näher an den Wal heranfahren wollten, als es das Gesetz erlaubte. Das Wichtigste war, daß der Hai überlebte. Sie hat ten den Sensor hinabgelassen und waren dem Weißen noch ein paar Stunden gefolgt. Er entfernte sich nach Osten ins tiefere Wasser und dann nach Norden. Normalerweise wäre Chase dem Hai unun terbrochen auf der Spur geblieben. Jede Unterbre chung bedeutete das Risiko, ihn zu verlieren. Er könnte außer Reichweite geraten, und sie würden ihn vielleicht nicht wiederfinden. Und die Batterien des Senders würden in zwei, allenfalls drei Tagen
zu Ende gehen. Doch Max war für jenen Abend am Flughafen von Groton in New London angekündigt. Er kam aus Sun Valley über Salt Lake und Boston. Zum ersten Mal überhaupt sollte Max einen vollen Monat mit seinem Dad verbringen. Chase würde den Teufel tun, seinen Sohn von einem Taxifahrer aus dem nahegelegenen Stonington abholen zu lassen. An schließend hätte er allein und in der Dämmerung mit der Fähre zu einem Felsen fahren müssen, der ihm etwa so einladend erschienen wäre wie Alcat raz. Also hatten er und Tall Man den Hai allein gelassen und gebetet, daß er nicht bis nach New Hampshire oder Maine oder nach Nantucket hinaufzog. Mit et was Glück konnten sie dem Tier in sechs Stunden wieder auf der Spur sein. Chase hatte keine Ah nung, wie nahe die Geburt bevorstand. Im Falle ei nes Falles würde der elektronische Sensor das Er eignis registrieren. Er würde die chemischen Ver änderungen und die abweichende Körpertempera tur übermitteln. Vielleicht könnten sie die Geburt sogar mitansehen, wenn sie nahe der Oberfläche stattfinden würde. Niemand, weder Wissenschaftler noch Sportler, hatte je die Geburt eines großen weißen Hais miterlebt. Max hatte gesagt, er müßte nichts auspacken. Sie waren aus dem Flughafengebäude gehastet, in den Lastwagen, auf die Fähre, hinaus zur Insel und aufs Boot. Auch der Junge, erschöpft und mit geröteten Augen, war bei dem Gedanken, einen lebenden weißen Hai zu sehen, wie elektrisiert gewesen. Als er vom Bordtelefon aus seine Mutter anrief, war das
einzige Adjektiv, das er hervorbrachte: »Umwer fend«. Corinne war alles andere als begeistert gewesen. Sie hatte Simon sprechen wollen und ihm eine Pre digt zum Thema Vorsicht gehalten. Max hatte die Angelegenheit geregelt. Er hatte Chase den Hörer aus der Hand genommen und gesagt: »Beruhig dich, Mum, es ist schon okay. Die Großen Weißen wollen keine Menschen verletzen.« »Was soll das heißen?« Max hatte gelacht und gesagt: »Sie wollen sie nur fressen.« Doch als er hörte, wie seine Mutter nach Luft schnappte, hatte er hinzugefügt: »War nicht ernst gemeint, Mum… nur ein kleiner Haischerz.« »Hast du deine Windjacke?« hatte Corinne gefragt. »Es geht uns gut, Mum, wirklich… ich hab’ dich lieb.« Dann hatte Max aufgelegt. Es dauerte keine Stunde, da hatten sie den Hai wieder ausfindig gemacht. Chase wertete dies als zufällige Bestätigung einer seiner Tiertheorien. Sein Lieblingsthema war das Revierverhalten der großen weißen Haie. Vielleicht würde er darüber seine Dis sertation schreiben. In Australien unterlag die Wassertemperatur an Or ten wie Dangerous Reef und Coffin Bay nur sehr geringen jahreszeitlich bedingten Schwankungen. Dort beschränkten sich die Weißen eindeutig auf ein bestimmtes Gebiet, schlußfolgerten Wissen schaftler. Die Nahrungsquelle der Haie, Kolonien von Seehunden, blieb dieselbe. Im Verlauf von etwa einer Woche drehte jeder Weiße eine Runde durch sein Revier und kehrte dann zum Ausgangspunkt
zurück, um von neuem zu beginnen. Hier, an der Ostküste der USA, wo die Wassertem peratur zwischen Winter und Sommer um etwa fünfzehn Grad schwankte und wo Nahrungsreser ven überraschend auftauchten und wieder ver schwanden, wäre ein abgegrenztes Revier unprak tisch. Obwohl niemand Genaues wußte, hatte Cha se Beweismaterial für seine These gesammelt, daß diese Weißen Wanderhaie sein könnten. Es sah so aus, als ob sie im Winter in den Süden zogen und im Frühling oder Frühsommer wieder auftauchten. Einige von ihnen stießen im Norden und Osten bis zu den kanadischen Küstenregionen vor. Wahrscheinlich blieben die Haie bis Ende Sep tember oder Anfang Oktober und zogen dann wie der Richtung Süden. Mit Hilfe von Sensoren hatte Chase jahrelang Auf zeichnungen gemacht. Er war fasziniert. Allmählich zeigte sich, daß manche Weiße jedes Jahr in das selbe Gebiet zurückkehrten und dort während ihres Aufenthalts im wesentlichen wieder das gleiche Ter ritorium aufbauten. Es mußte doch möglich sein, sich wiederholende Muster zu beweisen. Das wäre der Beginn einer neuen Forschungsrichtung: Man könnte die navigatorischen Fähigkeiten und den Einprägemechanismus bei großen weißen Haien erschließen. Das heißt, solange es noch große wei ße Haie gab, die man beobachten konnte. »Sie geht wieder runter«, rief Tall Man aus der Ka jüte. »Ich habe den Eindruck, die Dame ist recht lau nisch«, sagte Chase enttäuscht. Er blickte zur Küs te. Napatree Point lag querab, Waterboro genau
dahinter. »Wohin jetzt?« »Nach Montauk, wie es aussieht. Aber ohne große Absichten. Sie treibt sich nur herum.« Chase ging in die Kajüte, hängte die Kamera ir gendwohin und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Willst ‘n Sandwich?« rief er Max zu. »Aber keins von diesen dicken Sardinen-ZwiebelDingern.« »Nein, ich hab’ dir eins mit Erdnußbutter und Mar melade aufgehoben.« »Mach mir ‘n Bier auf«, sagte Tall Man und warf einen Blick auf die Uhr. »Die Uhr hier sagt vielleicht, daß es Viertel nach neun ist. Aber die hat keine Ah nung, wie spät es wirklich ist.« Die letzten vierzig Stunden hatten sie abwechselnd in unregelmäßigen Vier-Stunden-Schichten geschlafen. »Mein Bauch sagt mir, es ist genau Bierzeit.« Chase ging einen Schritt auf die Leiter zu, die zur Kombüse hinabführte, als das Boot plötzlich einen Ruck machte, dann noch einen und sich nicht mehr weiterbewegte. Der Bug schien sich zu heben und das Heck abzufallen. »Was zum Teufel ist das?« fragte Chase. »Bist du auf etwas aufgelaufen?« »Bei dreißig Metern?« Stirnrunzelnd schaute Tall Man auf den Fadenmeter. »Wohl kaum.« Der Motor hörte sich gequält an. Sie hörten ein Geräusch, als ob Gummi gedehnt wurde. Es quietschte erbärmlich. Dann begannen der Monitor und der Signalempfänger auf ihren So ckeln zentimeterweise nach hinten zu rutschen. Das Verbindungskabel spannte sich straff durch die Tür. »Rückwärts!« schrie Chase und rannte zur Tür.
Tall Man legte den Rückwärtsgang ein. Das Verbin dungskabel ließ nach und senkte sich auf das Deck. Im Cockpit sah Chase, daß das gesamte Kabel von der Rolle verschwunden war. Hundert Meter hatten sich abgespult. »Die Schnur muß gerissen sein«, sagte er. »Der Sensor ist irgendwo am Grund hän gengeblieben.« Chase nahm das Kabel und begann zu ziehen, und Max spulte es hinter ihm auf. Als das Kabel sich wieder straffte, rüttelte Chase daran, zog von links und rechts, ließ es locker und spannte es wieder an, aber es gab nicht nach. Der Sensor hing fest. »Ich kann mir nicht vorstellen, wo er sich verhakt haben könnte«, sagte er. »Da unten ist doch nichts als Sand.« »Vielleicht«, sagte Tall Man. Er legte den Leerlauf ein, ließ das Boot treiben und ging zu Chase und Max zum Heck. Er nahm Chase das Kabel ab und hielt es mit spitzen Fingern. Es wirkte, als wolle er aus seinen Schwingungen eine Nachricht entziffern. »Dieser Nordostwind letzte Woche… eine Vierzig Knoten-Brise, und das eineinhalb Tage lang, das wirbelt verdammt viel vom Boden auf. Sand verla gert sich. Es könnte alles sein: ein Felsen oder ein Auto, das jemand hier versenkt hat.« »Vielleicht ein Schiffswrack?« fragte Max. Chase schüttelte den Kopf. »Nicht in dieser Ge gend. Wir haben hier jedes Wrack erfaßt.« Zu Tall Man gewandt, sagte er: »Haben wir irgendwelche Sauerstoffflaschen an Bord?« »Nein. Ich hatte nicht vor zu tauchen.« Chase ging in die Kajüte und stellte auf dem Fa denmeter die Skala mit der größten Meßgenauigkeit
ein. Als er wiederkam, hielt er eine Tauchermaske und einen Schnorchel in der Hand. »Dreißig Meter«, sagte er. »Willst du nach diesem Sensor tauchen?« fragte Tall Man mit erhobener Stimme. »Frei tauchen? Bist du wahnsinnig?« »Es ist einen Versuch wert. Ich bin schon mal fast dreißig Meter tief getaucht.« »Aber bestimmt nicht ohne Sauerstoffflasche. Nicht mehr, seit du achtzehn warst. Zum Teufel, Simon, du wirst bewußtlos, wenn du zwölf Meter ver suchst.« »Willst du es versuchen?« »Nichts da. In diesem Land gibt es schon genug tote Rothäute.« »Dann haben wir ein Problem. Ich will verdammt sein, wenn ich das Geld in den Sand setze. Drei tausend Dollar für das Kabel und noch mal dreitau send für den Sender.« »Markier die Stelle mit einer Boje«, sagte Tall Man. »Wir holen ein paar Sauerstoffflaschen und kom men später zurück.« »Bis dahin ist uns der Hai endgültig entwischt.« »Vielleicht… aber du bleibst uns wenigstens erhal ten.« Chase zögerte. Noch juckte es ihn in den Fingern, frei nach dem Sensor zu tauchen. Wenigstens so tief, daß er sehen konnte, wo dieser festhakte. Er hätte gerne gewußt, ob er noch immer so tief tau chen konnte. Als Teenager waren er und Tall frei getaucht. Wo man den Grund von der Oberfläche aus nicht erkennen konnte, waren sie um die Wracks alter Fischerboote geschwommen und hat
ten Hummer aus Körben in tiefen Riffspalten ge stohlen. Doch Tall hatte recht. Er war kein Teenager mehr, kein Athlet, der die Nächte auf Parties und die Tage mit Schwimmen verbringen konnte. Er könnte es hinunter auf den Grund schaffen, aber niemals bis ins Boot zurück. Sein Gehirn würde aus akutem Sauerstoffmangel abschalten, und er würde das Bewußtsein verlieren. Mit ein bißchen Glück nicht weit von der Oberfläche entfernt, ansonsten weit unten. »Red mit dem Mann, Junge«, sagte Tall Man zu Max. »Sag ihm, daß du nicht den weiten Weg auf dich genommen hast, um deinen Daddy in einer Kiste nach Hause zu bringen.« Max erschrak über Tall Mans unverblümte Rede weise. Er legte seinem Vater eine Hand auf den Arm: »Komm schon, Dad…« Chase lächelte. »Okay, wir markieren die Stelle mit einer Boje«, sagte er. »Können wir uns ein paar Sauerstoffflaschen be sorgen und dann zurückkommen und tauchen?« fragte Max. »Das wäre klasse.« »Kannst du denn tauchen?« Chase verspürte einen Stich, beinahe einen Schmerz. Wenn Max an einem anderen Ort von jemand anders tauchen gelernt hatte, war das wie ein Vorwurf an ihn als den leibli chen Vater. »Wo hast du es gelernt?« »Zu Hause, im Swimmingpool. Opa hat mir ein paar Stunden gegeben.« »Ah«, sagte Chase. Er fühlte sich sofort besser. Zumindest hatte der Junge noch nicht richtig ge taucht. Er hatte sich nur auf seinen Besuch vorbe
reitet. »Wir lassen dich zwar ins Wasser, aber ich glaube, wir fangen lieber an einer seichteren Stelle an.« Tall Man ging zur Kajüte. Er wollte das Kabel he rausziehen und den Stecker mit Schmierfett und Klebeband wasserdicht machen. Chase öffnete eine Luke am Heck und holte eine gelbe Gummiboje mit einem halben Meter Durchmesser hervor. Mit leuchtendrotem Klebeband prangten die Initialen »O. I.« darauf. Tall Man, auf dem Weg nach achtern, hängte sich das Kabel um Schulter und Ellbogen. Er hatte sein durchgeschwitztes Hemd ausgezogen. Die Muskeln auf seinem kräftigen Oberkörper, die sich unter der zinnoberroten Haut bewegten, glänzten, als hätte er sich eingeölt. Er maß nahezu zwei Meter, wog etwa zweihundertzwanzig Pfund, und wenn irgendwo an ihm Fett war, dann mußte es hinter seinen Ohren sein. Das sagte jedenfalls seine Mutter, die ihm ständig mehr Essen aufdrängte. »Mann!« sagte Max, als er Tall Man sah. »Rambo begegnet dem Terminator! Trainierst du jeden Tag?« »Trainieren?« lachte Chase. »Sein einziges Trai ning heißt Essen und Trinken. Seine Ernährung be steht zu hundert Prozent aus Salz und Fett. Er ist eine Ungerechtigkeit des Universums.« »Ich bin die Rache des Großen Geistes«, sagte Tall Man zu Max. »Er mußte endlich mal die fünfhundert Jahre Unterdrückung durch den weißen Mann aus gleichen.« »Wenn du das glaubst«, sagte Chase zu Max, »kannst du gleich an Märchen glauben. Sein Gro
ßer Geist heißt Ronald McDonald.« »Na und?« Tall Man lachte schallend. »Irgend je manden muß man schließlich anbeten.« Max strahlte überglücklich. Das waren Männerge spräche, und er gehörte dazu. Sie bezogen ihn mit ein, rechneten ihn zu den Erwachsenen. Seit er denken konnte, kannte er vom Hörensagen Tall Man, Dads besten Freund seit seiner Kindheit. Der hünenhafte Pequot-Indianer war für den Jungen zu einer mythischen Gestalt geworden. Er hatte sich fast davor gefürchtet, ihn kennenzulernen. Vielleicht würde die Wirklichkeit sein Bild zerstören. Doch dieser Mensch war dem Mythos ebenbürtig. Chase und Tall Man waren mehrmals getrennte Wege gegangen. Während Chase im College lern te, diente Tall Man bei den Marines. Als Chase sein Aufbaustudium absolvierte, versuchte sich Tall Man als Stahlarbeiter in Albany. Doch ihre Lebenswege hatten sich wieder gekreuzt, als Chase das Institut eröffnete. Er brauchte einen Assistenten, der die technischen Fähigkeiten besaß, die ihm selbst ab gingen. Als er sich an Tall Man wandte, arbeitete dieser ge rade als Mechaniker bei einem Lkw-Händler. Ihm machte die Arbeit nichts aus, sagte er Chase. Und zwanzig Dollar pro Stunde wären okay. Aber er haßte es, wenn ihm jemand vorschrieb, wann er zur Arbeit zu kommen und wann er zu gehen hatte, und es gefiel ihm nicht, im Haus eingesperrt zu sein. Obwohl Chase ihm kein festes Gehalt und keine Sicherheit bieten konnte, hatte Tall Man auf der Stelle seinen Job geschmissen und sich dem Insti tut angeschlossen.
Hier war er Mädchen für alles, angefangen bei der Wartung der Boote bis hin zu den Hydrotests der Tauchausrüstungen. Tall Man arbeitete sehr gern mit Tieren. Anderen blieb es ein Rätsel, wie er mit ihnen kommunizierte. Er konnte sie beruhigen, und er gewann ihr Vertrauen. Seevögel, in deren Schnäbeln sich Angelhaken verfangen hatten, lie ßen sich geduldig von ihm behandeln. Ein Delphin, der mit seinem Schwanz in Monofilnet zen hängengeblieben war und ihn aufgeschlitzt hat te, kam an einer seichten Stelle auf Tall Man zuge schwommen. Er ließ sich ruhig die Plastikstränge entfernen und Antibiotika spritzen. Tall Man war bei diesem neuen Job sein eigener Herr, und er nutzte es nicht aus. Er kam früh, ging spät und hatte sein eigenes Arbeitstempo. Insge heim war er sehr stolz, daß er zum Schwung des Instituts maßgeblich beitrug. Sie machten die Kabelrolle sorgfältig an der Boje fest und warfen beide über Bord. Sie beobachteten sie noch einen Moment, um auf Nummer Sicher zu gehen. Das Kabel durfte sich nicht verheddern, und die Boje mußte das Gewicht aushaken. So ein Drahtseil war sehr schwer. Aber im Wasser hatte es praktisch keinen Auftrieb. Die Boje war so ausge legt, daß sie im Wasser ein Gewicht von über zwei hundert Pfund tragen konnte. »Kein Problem«, sagte Tall Man. »Wenn niemand sie klaut…« »Stimmt. Aber was will jemand mit hundert Metern Kabel anfangen?« »Das weißt du ganz genau. Die Leute stehlen die Lampen an den Häusern, um das Messing zu krie
gen. Sie lassen die Laternenpfähle mitgehen, weil sie das Aluminium reizt. Sie reißen sich die Bade zimmerarmaturen unter den Nagel, weil sie das Kupfer haben wollen. Der Haufen Leute, den deine Blutsbrüder mit ihrem Kasino oben in Ledyard ange lockt haben, hält es mit Mein und Dein auch nicht so genau. Heutzutage hält ein kluger Mann auf der Straße den Mund. Sonst läuft er Gefahr, daß je mand seine Füllungen klaut.« »Da hast du’s.« Tall Man grinste Max an: »Der Rassist schiebt alles auf die armen Indianer.« Chase lachte und startete das Boot.
10 »Vögel«, rief Tall Man von der Brücke herab und deutete nach Süden. Chase und Max standen auf dem Vordeck. Am En de der zwei Meter langen Holzkanzel, die über den Bug hinausragte, spähte Max ins Wasser. Er hoffte, einen Delphin zu sehen. Chase hatte ihm erzählt, daß manchmal Delphine in der Bugwelle des Boo tes umhertollten. Chase schützte mit einer Hand seine Augen und blickte nach Süden. Ein Schwärm Möwen und See schwalben kreiste über einem halben Morgen Was ser, der von Lebewesen zu wimmeln schien. Die Vögel tauchten und planschten, stiegen wieder auf und nickten mit den Köpfen. Sie verschlangen has tig ihre Beute, um nach der nächsten tauchen zu können. Die südwestliche Brise wehte schrille, krei schende Laute herüber. »Was machen sie?« fragte Max. »Sie fressen«, sagte Chase. »Kleine Fische. Irgend etwas attackiert die Fische von unten und treibt sie an die Oberfläche.« Er sah zu Tall Man hinauf. »Sehen wir mal nach.« Tall Man steuerte das Boot nach Süden. Sie ließen den weit entfernten grauen Buckel von Block Island im Norden liegen und die nähere, aber kleinere und flachere Silhouette von Osprey Island im Osten. Als das Boot sich dem Getümmel im Wasser näher te, sagte Tall Man: »Blaufische.« »Bist du sicher?« fragte Chase. Er hoffte, daß Tall Man recht hatte: Ein großer Schwarm Blaufische
wäre ein gutes Zeichen dafür, daß die Blauen sich wieder vermehrten. In letzter Zeit waren ihre Be stände stark zurückgegangen. Sie fielen der Überfi schung zum Opfer. Auch das von PCB, Pestiziden und Phosphaten aus landwirtschaftlichen Abwäs sern verschmutzte Wasser machte ihnen zu schaf fen. Die Fische, die überlebten, litten häufig unter Tumoren, Geschwüren oder bizarren genetischen Mutationen. Manche kamen mit einem Magen zur Welt, der nach etwa einem Jahr einfach aufhörte zu arbeiten. Folglich mußten die Fische verhungern. Das Institut und verschiedene Umweltschutzgruppen hatten geholfen, die Flüsse zu säubern, von denen die mit dem Ozean verbundenen Buchten gespeist wurden. Es war gelungen, die Schadstoffmenge beträchtlich zu verringern, aber man hatte sie keineswegs voll ständig beseitigt. Wenn die Blaufische sich wieder erfolgreich vermehrten… nun, dann war das ein kleiner Schritt. Aber es war ein Schritt vorwärts und nicht zurück. »Es müssen Blaue sein«, sagte Tall Man. »Was richtet denn sonst ein solches Blutbad an?« Ein Vogel verließ den Schwarm und schwang sich über dem Boot in die Lüfte. Chase sah die verräteri schen Anzeichen eines Blaufischgemetzels: Die weißen Bauchfedern des Vogels waren mit Fisch blut getränkt. Die Blauen massakrierten einen riesi gen Schwärm in Panik geratener Beutefische, hack ten auf sie ein und rissen sie in Stücke. Das Blut aus den Wunden färbte das Wasser rot. Tall Man nahm das Gas weg und ließ das Boot trei ben, um den Schwarm nicht zu verjagen. »Müssen
große Jungs sein«, sagte er. »Fünf- oder Sechs pfünder.« Die Blaufische wälzten sich im Wasser, schnellten hoch und machten wilde Sprünge. Das metallische Blaugrau ihrer Körper blitzte in der Sonne. Leichtfer tig schnappten sich die Vögel zwischen ihnen Beu tefische aus dem blutigen Wasser. »Wahnsinn.« Max war wie gebannt. »Können wir es uns ansehen?« »Das tun wir doch gerade.« »Nein, ich meine, können wir die Masken aufsetzen und runtergehen?« »Bist du wahnsinnig?« sagte Chase. »Völlig ausge schlossen. Diese Fische würden dich in Stücke rei ßen. Du wolltest mich nicht in einer Kiste nach Hau se bringen… Aber ich soll dich deiner Mutter als Hundefutter zurückschicken?« »Blaufische greifen Menschen an?« »So rasend, wie sie jetzt sind, greifen sie alles an. Vor ein paar Jahren kam in Florida ein fressender Schwarm an einem Rettungsschwimmer vorbei, der auf einem Surfbrett saß. Er verlor vier Zehen. Sie haben kleine, dreieckige Zähne, so scharf wie Ra siermesser, und wenn sie fressen – « »Es sind einfach hundsgemeine Mistkerle«, unter brach Tall Man. »Phantastisch«, sagte Max. Wie aufs Stichwort stieß eine große Möwe herab und schnappte nach einem Fisch. Aber sie verfehlte ihn, bremste mit den Flügeln ab und landete auf dem Wasser. Sie packte den Fisch und wollte wie der abheben, als plötzlich ein bläulicher Körper seit lich an sie heranrollte. Die Möwe zögerte, machte
einen Satz zurück und stieß einen Schrei aus – ein Blaufisch hielt sie an den Beinen fest. Der Vogel schlug hilflos mit den Flügeln. Er krümmte seinen Hals nach vorne, um nach seinem Peiniger zu pi cken. Dann mußte ein anderer Blaufisch die Möwe ge schnappt haben, denn sie taumelte zur Seite, tauch te unter und wieder auf. Wieder stieß sie einen Schrei aus und schlug mit den Flügeln. Aber nun witterten die anderen Fische den Leckerbissen. Sie sprangen aus dem Wasser hoch und stürzten sich auf die blutgetränkten Federn. Mit dem Schwanz zuerst wurde der Vogel unter die Wasseroberfläche gezerrt. Schließlich riß es seinen Kopf nach hinten. Das letzte, was sie von ihm sa hen, war sein gelber Schnabel, der gen Himmel zeigte. Chase sah Max an. Der starrte noch immer auf die Stelle, wo der Vogel im Wasser verschwun den war. Sein Gesicht hatte sich grünlichgrau ver färbt. Sie fuhren weiter auf die Insel zu, Max und Chase auf dem Vordeck, Tall Man als Steuermann auf der Brücke. Ab und zu winkte Chase Tall Man, damit er das Tempo drosselte. Dann tauchte Chase ein Netz ins Wasser. Seine Ausbeute zeigte er Max. Einmal fischte er einen Klumpen Seetang heraus. In sei nem Innern versteckten sich kleine Schalentiere, Krabben und Garnelen. Sie suchten Unterschlupf, bis sie groß genug waren, um auf dem Grund selbst für sich zu sorgen. Ein anderes Mal ging ihnen eine faustgroße Qualle ins Netz. Sie war mit einer licht durchlässigen violetten Membran bedeckt, die wie ein Segel aussah. Mit ihren lang baumelnden Ten
takeln konnte sie, wie Chase erklärte, ihre Beute tödlich verbrennen. Es war eine Portugiesische Ga leere. Fasziniert berührte Max einen der Fangarme und schnellte mit einem Aufschrei zurück. Seine Fingerspitze war verbrannt. »Sie sind früh dran«, bemerkte Tall Man. »Das Wasser erwärmt sich anscheinend ziemlich schnell.« Etwa eine halbe Meile vor der Insel wies Chase auf eine kleine Boje, die vor dem Steuerbordbug auf dem Wasser schaukelte. Sie gehörte dem Institut. Tall Man legte den Leerlauf ein und steuerte das Boot langsam auf die Boje zu. Chase nahm den Bootshaken, hakte die Boje ein und zog sie an Bord. Sie war an einem Stück Tau befestigt. »Zieh«, sagte er zu Max. Max nahm das Tau und begann, es an Bord zu zer ren. »Was ist das?« fragte er. »Ein Experiment«, antwortete Chase. Er warf den Bootshaken beiseite und half Max, an dem Tau zu ziehen. »Ein großes Problem in dieser Gegend sind verlorengegangene Hummerkörbe. Schiffsschrau ben schneiden die Bojen ab, oder der Sturm trägt sie fort, oder die Taue verrotten einfach und fallen auseinander. Jedenfalls liegen diese Körbe über den ganzen Grund verstreut.« »Na und?« »Sie sind tödlich für alle möglichen Tiere. Nicht nur Hummer, auch Fische, Krabben und Kraken krie chen wegen der Köder hinein und können nicht wieder heraus. Sie sterben und werden selbst zu Ködern. Und dann kommen immer mehr Tiere und sterben. Die Körbe bilden jahrelang eine Todesfal
le.« Der Korb schlug gegen den Bootsrand. Chase hiev te ihn aufs Dollbord. Es war ein rechteckiger Draht käfig, der mit Holzleisten verstärkt war. Am einen Ende befand sich als Eingang ein Drahtschacht. Am anderen Ende saß eine quadratische Tür. Sie war aus einem leichten Geflecht und mit einer Schnur befestigt. »Tall Man und ich versuchen«, erklärte Chase, »ei ne biologisch abbaubare Tür zu konstruieren. Die Körbe sollten mindestens einmal pro Woche, besser sogar zweimal, hochgezogen werden. Wir haben nach einem billigen Material für die Tür gesucht, das sich nach etwa zehn Tagen abbaut. Der Fischer kann die Tür jede Woche auswechseln. Und wenn der Korb verloren geht, kommen die Viecher frei und müssen nicht sterben.« Max spähte in den Korb hinein. »Er ist leer«, sagte er. »Wir haben keinen Köder hineingetan«, erklärte Chase. »Wir wollen die Dinger nicht fangen. Wir versuchen, sie zu retten.« Er zog leicht am Geflecht in der Tür, und einige Stränge rissen. »Das könnte der Dreh sein«, rief er zu Tall Man hinauf. »Diese Baumwollmischung zerfällt ganz gut.« Tall Man antwortete nicht. Chase blickte zur Brücke hinauf und sah, wie Tall sich zum UKW hinabbeug te, eine Hand an das Ohr gelegt, um besser verste hen zu können. Plötzlich richtete Tall Man sich auf. »Es gibt Probleme, Simon«, sagte er. »Ein paar Lümmel grölen über Kanal Sechzehn, daß sie gera de einen Hai an die Angel bekommen haben.« »Verdammt!« sagte Chase. »Kannst du sie orten?«
»Klingt nach etwa drei Meilen nordöstlich. Noch auf dieser Seite von Block.« »Los«, sagte Chase. Er schleuderte den Hummer korb über Bord. Tau und Boje flogen hinterher. Tall Man legte den Gang ein und drückte den Gas hebel vor. Das Boot machte einen Satz nach vorn, und er wendete es in einem scharfen Bogen und steuerte auf Block Island zu. Max hielt sich an der Reling fest und ging in die Knie. Der Bug des Boo tes stieß gegen die Wellen. »Meinst du, es ist unser Hai?« rief er seinem Vater zu. »Jede Wette«, sagte Chase. »Er ist der einzige, den wir gesehen haben.« Das Boot hob an und glitt schnell über die Wasser oberfläche. Der Buckel von Block Island wurde rasch größer. Sie starrten konzentriert aufs Wasser. Ein kleiner weißer Fleck nahm Gestalt an und ent puppte sich bald als Schiffsrumpf. »Was willst du tun?« fragte Max. »Was kannst du tun?« »Ich bin mir nicht sicher, Max«, sagte Chase, der grimmig nach vorn blickte. »Aber irgend etwas wer de ich tun.« »Es sind zwei Jungs«, sagte Tall Man, der durchs Fernglas sah. »Sechzehn, achtzehn vielleicht… sie fischen auf einem sechs Meter langen Außenbor der. Diese verdammten Idioten. Sie sollten besser hoffen, daß sie den Hai nicht an Bord kriegen. Er würde ihr Boot in einen Haufen Splitter verwan deln.« Tall Man drosselte den Motor, als er sich dem Au ßenborder näherte. Er legte den Leerlauf ein und ließ das Boot dreißig oder vierzig Meter von der
Backbordseite des Außenborders entfernt treiben. Ein Junge saß in einem Kampfstuhl am Heck. Das Ende seiner Angelrute steckte fest in einer Halte rung zwischen seinen Beinen. Die Rute war so stark gebogen, daß sie jeden Moment zu brechen schien, und die Leine ging schnurgerade hinter dem Boot ins Wasser. Der Hai bewegte sich in der Nähe der Oberfläche, aber er war noch mindestens fünfzig Meter entfernt. Der andere Junge stand vorn am Kontrollpult. Er drehte am Steuerrad und blieb mit dem Heck des Außenborders dem Hai genau ge genüber. »Kann er wirklich einen so großen Hai fangen?« fragte Max. »Mit einer Angelrute?« »Wenn er weiß, was er tut«, sagte Chase. »Er be nutzt eine Thunfischausrüstung. Vermutlich eine Sechzig- oder Achtzig-Pfund-Testleine mit Stahlvorfach.« »Aber du hast doch gesagt, der Hai wiegt eine Ton ne?« »Er kann ihn trotzdem erledigen. Große Weiße sind keine großen Kämpfer, keine richtigen Sportfische. Sie ziehen und ziehen einfach und geben irgend wann auf.« Sie sahen, wie der Junge an der Rute versuchte, Leine aufzuspulen. Doch das Gewicht war zu stark, und die Trommel der Rolle verschob sich unter der aufgespulten Leine. Der am Steuerstand legte den Rückwärtsgang ein und fuhr ein Stück auf den Hai zu. Damit gewann der Angler Spielraum, um Leine aufzuspulen. Wie Chase befürchtet hatte, wußten die Jungen, was sie taten. »Geh näher ran«, sagte er zu Tall Man. »Ich will mit
ihnen reden.«
Tall Man manövrierte das Boot so, daß sein Heck
keine zehn Meter mehr von der Seite des Außen borders entfernt war. Chase ging nach achtern und
stellte sich ans Heckwerk.
»Was habt ihr da?« fragte er.
»Einen Hai, Mann«, sagte der Junge am Kontroll pult. »Und zwar den verdammt größten weißen Hai,
den Sie je gesehen haben.«
»Was habt ihr mit ihm vor?«
»Ihn fangen… die Kiefer verkaufen.«
»Ihr kriegt den doch nie an Bord von so einem klei nen Boot.«
»Müssen wir nicht… wir töten ihn und schleppen ihn
dann ab.«
»Töten? Der Hai da ist groß und wütend.«
»Damit.« Der Junge langte unter den Steuerstand
und holte eine Schrotflinte hervor. »Wir müssen nur
nahe genug ran. Und dann reicht ein einziger sau berer Schuß.«
Chase schwieg einen Augenblick und überlegte.
Dann fragte er: »Wißt ihr, daß es ein Weibchen
ist?«
»Hä?«
»Das ist ein Weibchen, und es ist trächtig. Wir ha ben einen Sender an ihr befestigt und beobachten
sie. Wenn ihr sie tötet, bringt ihr sie und ihre Kinder
und Kindeskinder um.«
»Es ist ein Fisch«, sagte der Junge. »Warum sollte
ich mich einen Dreck darum kümmern?«
»Die weißen Haie sind fast ausgerottet. Ich mache
euch einen Vorschlag. Ihr laßt den Hai frei – «
»Du kannst mich mal!« schrie der Junge mit der
Rute. »Ich hab’ mich hier abgerackert – « »- und ich sorge dafür, daß ihr in der Zeitung steht. Das ist viel lukrativer, als den Hai einfach umzu bringen.« »Nichts zu machen.« Der Junge mit der Rute rief über die Schulter: »Komm’ noch weiter zurück, Jimmy. Er nimmt wieder Leine.« Sein Kumpel legte den Rückwärtsgang ein, und Chase sah, wie sich der Winkel der Leine vergrö ßerte, je weiter sich das Boot dem Hai näherte. »Dad«, sagte Max, »wir müssen etwas tun.« »O ja«, sagte Chase, der sich auf das Schanzkleid lehnte und spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Legal waren ihm die Hände gebunden. Die Jungen brachen kein Gesetz. Aber er selbst würde sich niemals verzeihen können, wenn er jetzt nicht ein griff. Er wandte sich ab, ging nach unten und kam mit einer Tauchermaske auf dem Gesicht und Schwimmflossen in der Hand zurück. Im Gürtel sei ner Shorts steckte eine Drahtschere. »Mein Gott, Simon…« sagte Tall Man auf der Brü cke. »Wo ist er, Tall?« Tall Man machte eine Handbewegung. »Etwa zwanzig Meter in dieser Richtung. Aber du kannst nicht – « »Er ist so erschöpft und verwirrt, er wird mich nicht beachten. Der hat momentan andere Probleme, als mich aufzufressen.« »Bist du sicher?« »Klar.« Chase zog die Schwimmflossen an und lä chelte gezwungen. »Ich hoffe es zumindest.« »Dad«, sagte Max, der plötzlich realisierte, was
Chase vorhatte. »Du kannst nicht – « »Vertrau mir, Max.« Chase zog sich die Maske ü bers Gesicht und rollte sich rückwärts über das Schanzkleid ab. Der Steuermann des Außenborders sah, wie das Wasser aufspritzte, als Chase hineinsprang, und schrie: »Hey! Was zum Teufel hat er vor?« »Was ihr schon längst hättet tun sollen«, sagte Tall Man. Der Junge nahm seine Schrotflinte und spannte den Hahn. »Sag ihm, er soll sofort umkehren, sonst – « »Leg das weg, du kleines Arschloch«, sagte Tall Man mit messerscharfer Stimme, »sonst komm’ ich rüber, und du frißt sie.« Der Junge sah zu dem dunkelhäutigen Mann hin auf. Wie ein Riese ragte er auf der Brücke des weit aus größeren Bootes empor. Der Junge ließ die Schrotflinte sinken. Chase entdeckte die Leine des Außenborders. Er folgte ihr mit den Augen, bis er den Hai sah. Dreioder viermal holte er an der Oberfläche tief Luft, hielt zuletzt den Atem an und stieß sich mit den Schwimmflossen nach unten ab. Der Hai hatte den Kampf aufgegeben. In seiner an fänglichen Raserei hatte er sich erst im Stahlvorfach und dann in der Leine selbst verfangen. Nun war er von Monofilsträngen umgeben, die sich in sein Fleisch bohrten. Er ließ sich auf die Seite hängen. Vielleicht machte er nur eine Ruhepause vor dem letzten vergeblichen Fluchtversuch. Vielleicht hatte er sich auch schon dem Tod ergeben. Chase schwamm zu ihm hin, bis der Schwanz des Hais in seiner Reichweite war. Die verhedderten
Stellen der Leine hatte er vermieden. Er war noch nie im offenen Meer mit einem großen weißen Hai konfrontiert gewesen. Er hatte sie vom sicheren Käfig aus beobachtet und ihren Schwanz berührt, wenn sie auf der Jagd nach Beute an den Gitterstä ben vorbeiglitten. Er hatte ihre Kraft bewundert, doch nie war er mit diesem vollkommensten aller Raubtiere allein im Meer gewesen. Er nahm sich die Freiheit, einen Augenblick lang mit der Hand über die stahlglatte Rückenhaut zu strei chen. Er bewegte sie gegen den Strich der Haut dentikel, die sich wie Schmirgelpapier anfühlten. Er fand den Pfeil mit dem kleinen Sender, der noch immer fest in dem Stück Haut hinter der Rücken flosse saß. Dann beugte er sich über den Hai. Des sen Auge starrte ihn an, weder furchtsam noch feindselig. Es hatte den leeren Ausdruck abgrund tiefer Neutralität. Sechs Schlingen hielten das Tier gefangen – eine aus Stahl, fünf aus Monofil. Sie begannen genau vor dem Schwanz und reichten bis hinter die Brust flossen. Chase schwebte über dem Hai. Er lag bei nahe auf dessen Rücken, zog die Drahtschere aus dem Gürtel und schnitt eine Schlinge nach der an deren durch. Mit jedem Muskelabschnitt, der die Freiheit in sich ahnte, begann der torpedoähnliche Körper zu be ben und sich zu schütteln. Die letzte Schlinge fiel. An dem Draht in seinem Maul, der zu dem Haken tief in seinem Bauch führte, baumelte der Hai nach unten. Chase faßte in das Riesenmaul und zwickte die Metallschnur ab. Der Hai war frei. Er begann, rücklings zu fallen. Ei
nen Augenblick lang befürchtete Chase, er wäre verendet. Vielleicht hatte ihm die fehlende Vor wärtsbewegung Sauerstoff entzogen, und er war erstickt. Doch dann schlug der Hai einmal mit dem Schwanz hin und her und rollte sich herum. Er öffnete das Maul, und über seine Kiemen strömte Wasser. Er machte eine Drehung und bewegte sich auf Chase zu. Das Fischauge fixierte ihn. Der Hai näherte sich langsam und unaufhaltsam, ohne An zeichen von Erregung oder Furcht. Sein Maul war halb offen, er wurde von seinem Schwanz vor wärtsgeschoben. Chase drehte sich nicht um, er trat nicht rückwärts, und er floh nicht. Er sah dem Hai ins Angesicht und beobachtete seine Augen. Die einzige Warnung vor einem bevorstehenden Angriff würden seine rollen den Augäpfel sein. Das war eine instinktive Schutzmaßnahme gegen die Zähne oder Scheren seiner Opfer. Er hörte seine Schläfen hämmern und spürte, wie ihm das Adrenalin durch die Glieder schoß. Der Hai kam immer näher, direkt auf ihn zu. Einen guten Meter von Chase entfernt rollte er sich plötz lich auf die Seite. Er zeigte seinen schneeweißen, von Jungen prallen Bauch und schoß dann wie ein Jagdflieger im Kurvenflug hinab. Die blaugrünen Tiefen verschlangen ihn. Chase blickte dem Hai nach, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Dann tauchte er auf, schnappte ein paarmal nach Luft und schwamm zum Boot zu rück. Er stemmte sich aus dem Wasser. Als er auf der Tauchplattform saß und seine Schwimmflossen auszog, bemerkte er, daß der Bugspriel des Insti
tutsboots über dem Rumpf des Außenborders schwebte. Er hörte Tall Man sagen: »Wir sind uns also einig, ja? Die Geschichte geht so: Ihr habt den Hai an die Angel bekommen und gesehen, daß er einen Sen der trägt. Das habt ihr uns berichtet. Und wir wer den den Zeitungen erzählen, was für feine Kerle ihr seid.« Die beiden Jungen standen mit mürrischen Gesich tern am Heck des Außenborders. Einer von ihnen sagte: »Ja, in Ordnung…« Tall Man blickte nach unten, sah, daß Chase an Bord war und legte den Rückwärtsgang ein. »Dan ke«, rief er den Jungen zu. Chase gab Max seine Schwimmflossen und kletter te durch die Tür im Heck hinauf. Max sah wütend aus. »Das war wirklich dumm von dir, Dad«, sagte er. »Du hättest – « »Es war ein kalkuliertes Risiko, Max«, sagte Chase. »Das ist es immer bei wilden Tieren. Ich war mir ziemlich sicher, daß er mich nicht beißen würde. Für das Leben dieser Haimutter habe ich das gerne riskiert.« »Und wenn du dich geirrt hättest? Ist das Leben eines Hais genausoviel wert wie deins?« »Das ist nicht der Punkt. Ich wußte, was ich zu tun hatte. In der Bibel steht vielleicht, der Mensch solle sich die Tiere Untertan machen. Aber deswegen haben wir noch lange nicht das Recht, sie auszurot ten.« Max stand am Ende der Kanzel und Chase hinter ihm auf dem Vordeck. Zwischen den Inseln kamen sie in tieferes Wasser.
»Dad!« rief Max plötzlich und deutete ins Wasser. Aus heiterem Himmel war ein Delphin aufgetaucht. Er ritt mühelos auf der Bugwelle, die durch die Vor wärtsbewegung des Boots entstand. Sie konnten seinen glänzenden grauen Rücken erkennen, die spitze Schnauze, das runzlige Blasloch oben auf seinem Kopf. Sie konnten Laute hören. Das leise Schnalzen und Trillern entstand irgendwo im Innern des Tiers. »Er spricht!« rief Max aufgeregt. »So sprechen sie! Was er wohl sagt?« »Wahrscheinlich plappert er nur so vor sich hin… vielleicht ruft er seine Kameraden, oder er sagt ein fach nur >hui!< oder so was Ähnliches.« Einige Augenblicke lang verharrte der Delphin fast bewegungslos. Er ließ sich von der Schwungkraft des Boots tragen. Dann beschleunigte er plötzlich, stieß mit seiner waagerechten Schwanzflosse auf und ab und ließ das Boot hinter sich zurück. Er ver langsamte sein Tempo, und als das Boot ihn einhol te, nahm er seinen Ritt wieder auf. »Sieh dir mal den Schwanz an«, sagte Chase. Max beugte sich über die Kanzel. »Was ist damit?« »Die linke Schwanzfluke. Sieh dir mal die Narben an.« Als Max genauer hinsah, bemerkte er im Fleisch der Schwanzfluke fünf tiefe weiße Einschnitte, etwa drei oder vier Zentimeter auseinander. »Woher stam men die?« fragte er. »Etwas hat den Delphin angegriffen«, sagte Chase. »Wenn du mich fragst: Er hat Glück gehabt, daß er davongekommen ist.« »Ein Hai?«
»Nein. Das war kein Hai. Ein Haibiß wäre halbkreis förmig.«
»Ein Schwertwal?«
»Nein. Dann würde man Stich- oder Bißwunden wie
von kegelförmigen Zähnen sehen. Das hier sind
scharfe Einschnitte.« Chase runzelte die Stirn. »Se hen aus wie von einer Tiger- oder Bärenklaue.«
»Was lebt im Meer und hat fünf Krallen?«
»Nichts«, sagte Chase. »Nichts, wovon ich je gehört
habe.«
11 Der Kai befand sich in einer kleinen Bucht am nordwestlichen Zipfel der Insel. Als das Boot darauf zutuckerte, stieß Chase Max an und wies lächelnd in den Himmel. Ein Fischadlerpaar flog hoch über dem Wasser und suchte nach Nahrung für seine Jungen. Die befanden sich sicher auf den Niststan gen, die Chase aufgestellt hatte. »Fischadler waren schon einmal so gut wie ausge storben«, sagte er zu Max. »Aus irgendeinem Grund waren ihre Eier so zerbrechlich geworden, daß sie zersprangen, bevor die Jungen schlüpfen konnten. Ein Wissenschaftler entdeckte die Ursache dafür. Schuld daran war DDT. Das Pestizid sickerte ins Wasser und vergiftete die Nahrungskette. Die Fischadler fraßen die Fische, und so zerstörten sie ihre Eier. Diese Entdeckung war der Beginn des Umweltschutzfonds. Als das DDT schließlich verbo ten wurde, kamen die Fischadler wieder. Jetzt geht es ihnen ganz gut.« Ein Fischreiher hielt an einem Tümpel am Kai Wa che. Er hatte nur noch einen Flügel. »Hey Chief«, rief Tall Man dem Vogel zu, sah dann zu Chase hinüber und sagte: »Der Chief ist stock sauer. Sein Mittagessen kommt zu spät.« »Das ist Chief Joseph«, erklärte Chase Max. »Ein paar Kinder haben ihn drüben am Stadtstrand ge funden. Er hatte sich einen Flügel gebrochen. Der Tierarzt, zu dem sie ihn brachten, sagte, der Flügel sei zu schwer beschädigt, er würde nicht mehr hei len. Er wollte den Vogel einschläfern lassen. Aber
ich habe nein gesagt. Er hat nur den Flügel ampu tiert und mir den Vogel überlassen. Chief Joseph hat sich zu einer richtigen Primadonna entwickelt. Zweimal am Tag stolziert er im seichten Wasser auf und ab. Die restliche Zeit steht er hier und beklagt sich, daß wir ihn nicht ausreichend füttern.« »Warum heißt er Chief Joseph?« fragte Max. »Tall hat ihm den Namen gegeben, nach dem Häuptling der Nez Perce… du weißt schon, die Schlacht bei den Bear Paw Mountains. Er meinte, mit dem einen Flügel erinnerte der Reiher ihn an das, was Chief Joseph nach der Schlacht sagte: >Ich werde niemals wieder kämpfen. O. I.