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Karl Werdan Hans-Peter Schuster Ursula Müller-Werdan (Hrsg.) Sepsis und MODS 4. vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage
III
Karl Werdan Hans-Peter Schuster Ursula Müller-Werdan (Hrsg.)
Sepsis und MODS 4. vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage Mit 140 Abbildungen
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1
1 2 3 4 5
Prof. Dr. Karl Werdan
PD Dr. Ursula Müller-Werdan
Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III Klinikum Kröllwitz der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Ernst-Grube-Str. 40 06097 Halle/Saale
Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III Klinikum Kröllwitz der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Ernst-Grube-Str. 40 06097 Halle/Saale
Prof. Dr. Hans-Peter Schuster Städtisches Krankenhaus Hildesheim Weinberg 1 31134 Hildesheim
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ISBN 3-540-00004-6 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2005 Printed in The Netherlands Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literarturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Ulrike Hartmann, Heidelberg Projektmanagement: Gisela Schmitt, Heidelberg Copyediting: Dr. Elke Wolf, Garbsen Design: deblik Berlin SPIN 10877556 Satz: medionet AG, Berlin Druck: Krips, Meppel Gedruckt auf säurefreiem Papier
22/2122 – 5 4 3 2 1 0
V
Inhaltsverzeichnis I. Klinische Grundlagen 1
Definition und Diagnose von Sepsis und Multiorganversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Prophylaxe und Therapie der Organdysfunktionen 3
H.-P. Schuster, U. Müller-Werdan
2
Abriss der Pathophysiologie als Grundlage der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
U. Müller-Werdan, K. Werdan
23
U. Müller-Werdan, H.-P. Schuster
3
Sepsismarker, Sepsismonitoring, Verlaufsbeurteilung der Sepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Systematik der Therapie bei Sepsis und Multiorgandysfunktionssyndrom (MODS) . . . .
Epidemiologische und ökonomische Aspekte der Sepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 O. Moerer, L. de Rossi, R. Rossaint, H. Burchardi
II. Antiinfektiosa und Immunmodulation – Prävention und Therapie 6
Prävention der nosokomialen Sepsis . . . . . . . . . 153 F. Ackermann, P. Gastmeier, B. Ruf
7
Endotoxinbindende Proteine, Antiendotoxinantikörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 P. Zabel
9
14 Dysfunktion des Hepatogastrointestinaltrakts 421 M. Winkler
15 Stoffwechsel und Ernährung bei Sepsis . . . . . . . 427 K.G. Kreymann
16 Auswirkungen der Sepsis auf das Nervensystem: Pathophysiologie, Klinik, Prophylaxe und Therapie der »Critical-illness«-Enzephalopathie, -Neuropathie und -Myopathie . . . . . . . . . . . . . . . 461 A. Lindner, S. Zierz
17 Endokrine Störungen und Spurenelementdefizienzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 M.W.A. Angstwurm, R. Gärtner
IV. Sepsis und Gerinnung
Antimikrobielle Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 A.C. Rodloff
8
13 Mediatorenelimination: Hämofiltration, Plasmapherese, Hämoperfusion . . . . . . . . . . . . . . 403 D. Barckow
77
K. Werdan, M. Buerke, C. Kuhn, U. Müller-Werdan, H.-P. Schuster
5
12 Die akute respiratorische Insuffizienz im Rahmen des multiplen Organdysfunktionssyndroms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 H. Burchardi, M. Sydow
63
U. Müller-Werdan, H.-P. Schuster
4
11 Septischer Kreislaufschock und septische Kardiomyopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Prävention und Therapie mit Immunglobulinen – Gesichertes und wenig Gesichertes . . . . . . . . . . . 207 K. Werdan
10 Mediatorblockade und Immunmodulation – Konzepte und Praxisreifes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 W. Seeger, F. Grimminger, D. Walmrath
18 Der Einfluss von Zytokinen auf die Endothelzellfunktion: das Endothel als Motor der Sepsis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 M. Brückmann, M. Riewald, G. Huhle
19 Veränderungen der Hämostase bei Sepsis: disseminierte intravasale Gerinnung, Verbrauchskoagulopathie und sepsisassoziierte Purpura fulminans . . . . . . . . . . . . . . . . 495 C.-E. Dempfle
20 Labordiagnostik der mit Sepsis assoziierten Hämostasestörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 M. Cobas-Meyer, M. von Depka
VI
1 2 3
Inhaltsverzeichnis
21 Heparin, Antithrombin, Gewebethromboplastininhibitor und aktiviertes Protein C: Stellenwert für die Therapie der schweren Sepsis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 C. Putensen, P. Kujath, R. Bouchard, I. Heinze, C. Thees
22 Therapie der Sepsis mit antikoagulanten Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 C. Pechlaner, C.J. Wiedermann
4 5 6 7
V. Sepsis bei speziellen Patientengruppen 23 Sepsis bei Tumorerkrankungen und Neutropenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 H.-J. Fricke, K. Blumenstengel, K. Höffken
24 Neugeborenensepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557
8
H. Stopfkuchen
25 Die Frau als Sepsispatientin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
9 10 11 12 13 14 15
U. Müller-Werdan
26 Der ältere Sepsispatient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 U. Müller-Werdan, K. Werdan
VI. Statt eines Ausblicks 27 Der Sepsispatient in der Postintensivstationsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 K. Werdan, S. Reith, R.R. Flieger, U. Müller-Werdan
Anhang
16
Behandlung der schweren Sepsis und des septischen Schocks – Kurzfassung der Evidenzbasierten Therapie-Empfehlungen der »Surviving Sepsis Campaign« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
17
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
18 19 20
VII
Autorenverzeichnis Ackermann, F., Dr. Städtisches Klinikum St. Georg, 2. Klinik für Innere Medizin, Delitzscher Str. 141, 04129 Leipzig
de Rossi, L. Priv.-Doz. Dr. Boehringer Ingelheim Pharma GmbH, Klinische Forschung, Birkendorfer Str. 65, 88397 Biberach an der Riss
Angstwurm, M.W.A., Dr. Medizinische Klinik Innenstadt der Universität München, Ziemssenstr. 1, 80336 München
Dempfle, C.-E., Priv.-Doz. Dr. I. Medizinische Klinik, Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg, Theodor-Kutzer-Ufer 1–3, 68167 Mannheim
Barckow, D., Prof. Dr. Universitätsklinikum Charité, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Augustenburgerplatz 1, 13353 Berlin
Flieger, R.R. Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Ernst-Grube-Str. 40, 06097 Halle/Saale
Blumenstengel, K., Dr. Praxis für Innere Medizin, Georgenstr. 18, 99817 Eisenach Bouchard, R. Klinik für Chirurgie, Campus Lübeck, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck Brückmann, Martina, Dr. I. Medizinische Klinik, Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg, Theodor-Kutzer-Ufer 1–3, 68167 Mannheim Buerke, M., Priv-Doz. Dr. Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ernst-Grube-Str. 40, 06097 Halle/Saale Burchardi, H., Prof. Dr. Am Weinberge 18, 37120 Bovenden Cobas-Meyer, M., Dr. Innere Medizin und Intensivmedizin, Lilly Deutschland GmbH, Saalburgstr. 153, 61350 Bad Homburg
Fricke, H.-J., Priv.-Doz. Dr. Klinik für Innere Medizin, Innere Medizin II, Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität, Postfach, 07740 Jena Gärtner, R., Prof. Dr. Klinikum Innenstadt der Universität München, Ziemssenstr. 1, 80336 München Gastmeier, Petra, Priv.-Doz. Dr. Institut für Hygiene, Heubergweg 6, 14059 Berlin Grimminger, F., Dr. Medizinische Klinik II, Justus-Liebig-Universität Gießen, Klinikstr. 36, 35392 Gießen Heinze, I., Dr. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Spezielle Intensivmedizin, Universitätsklinikum Bonn, SiegmundFreud-Str. 25, 53105 Bonn Höffken, K., Prof. Dr. Klinik für Innere Medizin II, Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität, Postfach, 07740 Jena
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Autorenverzeichnis
Huhle, G. I. Medizinische Klinik, Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg, Theodor-Kutzer-Ufer 1–3, 68167 Mannheim Kreymann, G., Prof. Dr. Universitätsklinikum Eppendorf, Medizinische Kernklinik und Poliklinik, Martinistr. 52, 20246 Hamburg Kuhn, C., Dr. Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin II, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ernst-Grube-Str. 40, 06097 Halle/Saale Kujath, P., Prof. Dr. Klinik für Chirurgie, Campus Lübeck, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck Lindner, A., Priv.-Doz. Dr. Neurologische Klinik, Marienhospital Stuttgart, Postfach 103163, 70027 Stuttgart Moerer, O. Zentrum für Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin, Georg-August-Universität Göttingen, Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen Müller-Werdan, Ursula, Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Klinikum Kröllwitz der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ernst-Grube-Str. 40, 06097 Halle/Saale Pechlaner, C., Dr. Medizinische Intensivstation und Notfallaufnahme, Abteilung Allgemeine Innere Medizin, Universitätsklinik für Innere Medizin Innsbruck, Anichstr. 35, 6020 Innsbruck, Österreich Putensen, C., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Spezielle Intensivmedizin, Universitätsklinikum Bonn, Siegmund-Freud-Str. 25, 53105 Bonn
Riewald, M. Dept. of Immunology, The Scripps Research Institute, La Jolla, 92037 CA, USA Reith, S. Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Ernst-Grube-Str. 40, 06097 Halle/Saale Rodloff, A.C., Prof. Dr. Institut für medizinische Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie, Universität Leipzig, Liebigstr. 24, 04103 Leipzig Rossaint, R., Prof. Dr. Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Aachen, Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen Ruf, B.R., Prof. Dr. Klinikum St. Georg, 2. Klinik für Innere Medizin, Delitzscher Str. 141, 04129 Leipzig Schuster, H.-P., Prof. Dr. Städtisches Krankenhaus Hildesheim, Weinberg 1, 31134 Hildesheim Seeger, W., Prof. Dr. Medizinische Klinik II, Zentrum für Innere Medizin der Justus-Liebig-Universität, Klinikstr. 36, 35385 Gießen Stopfkuchen, H., Prof. Dr. Kinderklinik, Klinikum der Johannes-GutenbergUniversität, Langenbeckstr.1, 55101 Mainz Sydow, M., Priv.-Doz. Dr. Zentrum für Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin, Georg-August-Universiät Göttingen, Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen Thees, C. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Spezielle Intensivmedizin, Universitätsklinikum Bonn, Siegmund-Freud-Str. 25, 53105 Bonn
IX Autorenverzeichnis
von Depka, M., Priv.-Doz. Dr. Abteilung Hämatologie und Onkologie, Medizinische Hochschule Hannover, Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover Walmrath, D., Dr. Medizinische Klinik II, Justus-Liebig-Universität Gießen, Klinikstr. 36, 35392 Gießen Werdan, K., Prof. Dr. Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Klinikum Kröllwitz der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ernst-Grube-Str. 40, 06097 Halle/Saale Wiedermann, C.J., Prof. Dr. 2nd Department of Internal Medicine, Central Hospital of Bolzano/Bozen, Lorenz Böhler Street 5, 39100 Bolzano, Italy Winkler, M., Dr. Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ernst-Grube-Str. 40, 06097 Halle/Saale Zabel, P., Prof. Dr. Medizinische Klinik, Forschungszentrum Borstel, Parkallee 35, 23845 Borstel Zierz, S., Prof. Dr. Universitätsklinik und Poliklinik für Neurologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ernst-Grube-Str. 40, 06097 Halle/Saale
XI
Vorwort Die Sepsis ist und bleibt eine der größten Herausforderungen für den Intensivmediziner: dies haben die Leser der ersten Auflage der »Intensivtherapie bei Sepsis und Multiorganversagen« sicherlich so empfunden, und die Leser der vorliegenden vierten Auflage werden dies nicht anders sehen. Eines aber hat sich seit dem Erscheinen der dritten Auflage vor fünf Jahren geändert: in die Sepsisbehandlung ist Bewegung geraten! Die vielen Enttäuschungen der letzten Jahre sind verblasst, und innovative, Evidenz-basierte und anscheinend erfolgreiche Therapiekonzepte geben Anlass zur Hoffnung: frühe, zielgerichtete Herz-Kreislauftherapie, Hydrocortisonsubstitution, Erzielen von Normoglykämie, Therapie mit aktiviertem Protein C, das sind neue Behandlungsansätze, die schon heute viele Intensivmediziner in die Tat umzusetzen versuchen, um damit die Überlebenschancen ihrer Sepsispatienten zu erhöhen. Die vierte Auflage der »Intensivtherapie bei Sepsis und MODS« trägt diesen neuen Entwicklungen natürlich Rechnung. Die bewährte Grundstruktur der bisherigen Auflagen wurde zwar beibehalten, aber durch zahlreiche neue Aspekte ergänzt: 5 Vier Kapitel »Sepsis und Gerinnung« (18–22) führen in die enge Verzahnung von Endothel, Gerinnung und Inflammation ein und berichten über die spannenden Ergebnisse der großen Studien mit gerinnungsaktiven Substanzen. Dabei wird das positive Ergebnis der PROWESS-Studie (Kapitel 21) mit Leitlinienempfehlung (Anhang) – die letalitätssenkende Wirkung der Gabe von aktiviertem Protein C – durchaus kritisch und dennoch konstruktiv hinterfragt (Kapitel 22). 5 Wer sich rasch über spezifische Aspekte der Sepsistherapie informieren möchte, kann dies im Kapitel 4 tun. Besonderer Wert wurde auf praktische Empfehlungen zur Antibiotikatherapie der Sepsis gelegt (Kapitel 4 und 7). Erstmals wurde auch die Prävention der nosokomialen Sepsis mit einem Kapitel (6) bedacht. Ökonomische Aspekte (Kapitel 5) werden in Zukunft immer mehr in unsere Überlegungen einzubeziehen sein. 5 Die Themen Prophylaxe und Therapie der Organdysfunktionen wurden um die Kapitel »Hepatogastrointestinaltrakt« (14) und »Endokrine Störungen und Spurenelementdefizienzen« (17) erweitert. Aufmerksamkeit wollen wir lenken auf die Frau (Kapitel 25) und den älteren Menschen (Kapitel 26) als Intensivpatienten. Und wir fragen uns abschließend auch, wie es um die Lebensqualität der Patienten mit Sepsis und MODS nach der Entlassung aus dem Krankenhaus bestellt ist (Kapitel 27). 5 Die Survival Sepsis Campaign hat 2004 ihre Leitlinien zur Behandlung der Sepsis publiziert und damit der Sepsistherapie zu einem qualitativen Sprung nach vorne verholfen. Im Anhang sind die wichtigsten Empfehlungen für unsere Leser zusammengefasst. Dank gebührt den »treuen« und ehemaligen Autoren und den neuen Autoren/Autorinnen F. Ackermann, M.W.A. Angstwurm, R. Bouchard, M. Brückmann, M. Buerke, H. Burchardi, M. Cobas-Meyer, C.-E. Dempfle, M. v. Depka, R. Gärtner, P. Gastmeier, I. Heinze, G. Huhle, K.G. Kreymann, C. Kuhn, P. Kujath, O. Moerer, C. Pechlaner, C. Putensen, M. Riewald, R. Roissant, B. Ruf, L. de Rossi, C. Thees, C.J. Wiedermann, M. Winkler. In die Sepsisbehandlung ist Bewegung geraten! Die vierte Auflage der »Intensivtherapie bei Sepsis und MODS« möchte mithelfen, Erkenntnisse der Grundlagenforschung und klini-
XII
Vorwort
1
scher Studien dem praktisch tätigen Intensivmediziner nutzbar zu machen und ihm bei der Umsetzung einer Evidenz-basierten erfolgreichen Sepsis-Therapie zu helfen!
2
Karl Werdan, Hans-Peter Schuster, Ursula Müller-Werdan Halle/Saale und Hildesheim, im Januar 2005
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I Klinische Grundlagen 1
Definition und Diagnose von Sepsis und Multiorganversagen – 3
2
Abriss der Pathophysiologie als Grundlage der Therapie – 23
3
Sepsismarker, Sepsismonitoring, Verlaufsbeurteilung der Sepsis – 63
4
Systematik der Therapie bei Sepsis und Multiorgandysfunktionssyndrom (MODS) – 77
5
Epidemiologische und ökonomische Aspekte der Sepsis – 135
1 Definition und Diagnose von Sepsis und Multiorganversagen H.-P. Schuster, Ursula Müller-Werdan
Zur Geschichte der Sepsis Definition der Sepsis
–3
–4
Klinische Diagnose der Sepsis
– 10
Prognose von SIRS, Sepsis und septischem Schock – 16 Definition des Multiorgandysfunktions-Syndroms und Multiorganversagens – 16 Diagnose und Klinik des Multiorgandysfunktions-Syndroms und Multiorganversagens – 17 Literatur
– 20
Zur Geschichte der Sepsis [23] Schon Hippokrates beobachtete etwa im Jahr 400 v. Chr. ein Fieber, das verursacht wird durch eine Materie, die fault. Eine »Fäulnis des Blutes«, die ein kontinuierliches Fieber bedingt, wurde von Ibn Sina (Aviceuna) um 1000 n. Chr. beschrieben. In der Neuzeit postulierte H. Boerhaave 1751 eine schädliche Substanz, die über die Luft in die Wunden eindringt und eine systemische Erkrankung hervorruft. Um 1860 etablierten Koch und Pasteur die moderne Mikrobiologie. Die Ära der Endotoxinforschung seit 1892 bis zur Jetztzeit ist verbunden mit Namen wie Pfeifer, Centanni, Boivin, Morgan, Goebel, Shear, Westphal, Rietschel. Seit den 70er-Jahren dieses Jahrhunderts fokus-
sierte sich das wissenschaftliche Interesse auf die Aufklärung des pro- und anti-inflammatorischen Mediator-Zytokinnetzwerkes. Das immense Ausmaß des Sepsisproblems in der Vorantibiotikaära, v. a. das unvorstellbare Leid werdender Mütter und das hohe Schwangerschaftsrisiko quoad vitam, kann anhand einiger Zahlen erahnt werden: 1847 gelang es Ignaz Semmelweis, die Kindbettsterblichkeit durch die Einführung der Händedesinfektion mit Chlorwasser zu verringern in der Vorstellung, dadurch die Übertragung eines putriden Giftes zu verhindern. Die Wöchnerinnensterblichkeit betrug um 1850 an der Wiener Universitätsklinik 31 %, in der Stadt Pest, in der Semmelweis wirkte, dagegen 0,75 %! Prof. Schottmüller, Ordinarius für Innere Medizin in Ham-
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Kapitel 1 · Definition und Diagnose von Sepsis und Multiorganversagen
burg, berichtete 1919 anlässlich seiner Antrittsvorlesung über mehr als 10.000 Patientinnen mit septischem Abort, die er selbst behandelt hatte. Das septische Multiorganversagen ist heute die häufigste Todesursache auf unseren Intensivstationen. Die Sepsis verursacht annähernd so viele Todesfälle wie der akute Myokardinfarkt. Um der Relevanz des Krankheitsbildes Rechnung zu tragen, wurde 2001 die »Deutsche Sepsisgesellschaft« gegründet (http://www.sepsis-gesellschaft.de).
Definition der Sepsis Definition der Sepsis im Wandel Auf Schottmüller geht die infektiologisch-klinische Begriffsbestimmung der Sepsis aus dem Jahr 1914 zurück [42]: Eine Sepsis liegt dann vor, wenn sich innerhalb des Körpers ein Herd gebildet hat, von dem konstant oder periodisch pathogene Bakterien in den Blutkreislauf gelangen, und zwar derart, dass durch diese Invasion subjektive und objektive Krankheitserscheinungen ausgelöst werden.
In dieser Abhandlung geht Schottmüller auch bereits auf die Rolle der bakteriellen Toxine in der Entstehung der klinischen Krankheitserscheinungen ein. Spätere Sepsisdefinitionen aus infektiologischer Sicht haben die Begriffsbestimmung Schottmüllers zwar variiert, aber nicht substantiell geändert: Sepsis ist der pathogenetische Sammelbegriff für alle Infektionszustände, bei denen, ausgehend von einem Herd, konstant oder kurzfristig periodisch, Erreger in den Blutkreislauf gelangen und bei denen die klinischen Folgen dieses Geschehens das Krankheitsbild auf die Dauer beherrschen [19]. Unter Sepsis oder Septikämie* verstehen wir eine bakterielle Allgemeininfektion mit ausgeprägten Krankheitserscheinungen, die das Er-
* Der Begriff Septikämie sollte nicht mehr verwendet werden.
gebnis einer dauernden oder intermittierenden Einschwemmung von Bakterien aus einem Sepsisherd in die Blutbahn darstellt [27].
Auch Sepsisdefinitionen im angelsächsischen Schrifttum lehnten sich an diese ursprüngliche Begriffsbestimmung an: Sepsis is defined as the physiologic alterations and clinical consequences of the presence of microorganisms or their products in the blood stream or tissues. Virtually any organisms infecting any site with or without documented bacteremia can produce the various manifestations of sepsis [18].
Nach dem heutigen Wissensstand kann die mikrobielle Sepsis folgendermaßen definiert werden: Sepsis ist die Gesamtheit der lebensbedrohlichen klinischen Krankheitserscheinungen und pathophysiologischen Veränderungen als Reaktion auf die Aktion pathogener Keime und ihrer Produkte, die aus einem Infektionsherd in den Blutstrom eindringen, die großen biologischen Kaskadensysteme und spezielle Zellsysteme aktivieren und die Bildung und Freisetzung humoraler und zellulärer Mediatoren auslösen.
Diese Definition trägt der Komplexität der Sepsis Rechnung. Sie stützt sich auf die 5 Grundpfeiler des septischen Prozesses: 5 den Infektionsherd oder die Infektionsquelle als Ausgangspunkt (septischer Fokus), 5 die Invasion pathogener Keime und toxischer Keimprodukte (Invasion), 5 die Bildung und Aktivierung von Mediatoren (Mediatorexplosion) 5 die Zellfunktionsstörungen und morphologische Destruktion von Zellmembranen und Zellstrukturen und/oder Auslösung von Apoptose als Grundlage der Organschädigungen (Zellschädigung), 5 die Multiorgandysfunktion/-insuffizienz als deren klinischer Ausdruck und Multiorganversagen als Endpunkt des septischen Prozesses (Multiorgandysfunktion und Multiorganversagen).
1
5 Definition der Sepsis
Diese Definition entspricht der heutigen Theorie, dass der Krankheitsverlauf der Sepsis primär durch Ausmaß und Ablauf der Reaktion des Patienten auf die auslösende Noxe und weniger von der Art, Zahl, Pathogenität und Virulenz der Erreger bestimmt wird. Das Krankheitsbild der Sepsis entsteht, wenn eine an sich sinnvolle Abwehrreaktion (»host response«) aus der Kontrolle der physiologischen Inhibitormechanismen gerät und damit in unkontrollierter, überschießender, generalisierter Form nicht mehr nur die auslösenden Pathogene eliminiert, sondern autodestruktive Schädigungen körpereigener Zellsysteme und Organe verursacht. Dieses Konzept der Sepsis ist nach neuerer Vorstellung dahingehend erweitert, dass nicht nur infektiöse, sondern auch nichtinfektiöse Stimuli zur Auslösung dieser Abwehrkaskaden führen können (. Abb. 1-1) und damit ein der bakteriellen Sepsis klinisch sehr ähnliches Krankheitsbild auslösen [48]. Beispiele solcher nichtinfektiöser Aggressionen sind Traumata, Verbrennungen, nichtinfektiöse Entzündungen, wie die Pankreatitis, Intoxikationen, Ischämie/Reperfusion oder auch Vaskulitiden und Transplantatabstoßungen. Unabhängig von der auslösenden Ursache laufen die Mediatorbildung und -freisetzung analog ab und manifestieren sich als mediatorinduzierte Multiorgandysfunktion und Multiorganversagen. In der deutschen Nomenklatur wird die Situation eines polyätiologisch verursachten Syndroms mit homo-
gener Pathogenese und homogener klinischer Erscheinungsform als ein Syndrom der 2. Ordnung bezeichnet. Dieser Definition entsprechen das mediatorinduzierte Dysfunktionssyndrom bzw. das mediatorinduzierte Multiorganversagen als Syndrome mit vielfältigen ursächlichen Auslösemechanismen bei einheitlicher Pathogenese und einheitlichem klinischem Erscheinungsbild. Die akut entzündliche Allgemeinreaktion wird nach einer Konsensusvereinbarung unabhängig von der auslösenden Ursache als systemisches Inflammationssreaktionsyndrom oder »systemic inflammatory response syndrome« (SIRS) bezeichnet,wenn die in . Übersicht 1-1 genannten klinischen Zeichen vorliegen. . Übersicht 1-1:
Terminologie und Definitionen. (Zusammenstellung nach [3, 29, 48] Infektion: Entzündliche Gewebereaktion auf Mikroorganismen oder Invasion von Mikroorganismen in normalerweise steriles Gewebe. Bakteriämie: Vorhandensein vitaler Bakterien im Blut; die Anwesenheit von Viren, Pilzen, Parasiten oder anderen Pathogenen in der Blutbahn sollte entsprechend benannt werden. SIRS (»systemic inflammatory response syndrome«, »systemisches Entzündungsreaktionssyndrom«): systemisch-entzündliche Reaktion 6
. Abb. 1-1. Ätiopathogenese von Sepsis und SIRS: Bakterielle Toxine führen zur Freisetzung von Mediatoren aus Makrophagen (Ma.) und Granulozyten (Gr.). Auch durch nichtinfektiöse Stimuli kann es zu einem SIRS kommen.
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Kapitel 1 · Definition und Diagnose von Sepsis und Multiorganversagen
auf verschiedene schwere klinische Insulte, charakterisiert durch 2 oder mehr der folgenden Symptome: 1. Körpertemperatur >38,0oC oder 90/min, 3. Atemfrequenz >20/min oder paCO2 12.000/mm3 oder 10 % unreife (stabförmige) Formen; CARS (»compensatory anti-inflammatory response syndrome«): Kompensatorisches anti-inflammatorisches Reaktionssyndrom, das sich – im Anschluss an die proinflammatorische Phase – als Anergie, als erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Infektionen oder als beides manifestiert. MARS (»mixed antagonistic response syndrome«): antagonistisches Reaktionssyndrom, das sich aus mehreren SIRS- und CARS-Phasen zusammensetzt. Sepsis: systemische Reaktion auf eine Infektion, charakterisiert durch 2 oder mehr der folgenden, durch die Infektion hervorgerufenen Symptome: 1. Körpertemperatur >38,0oC oder 90/min, 3. Atemfrequenz >20/min oder paCO212.000/mm3 oder 10 % unreife (stabförmige) Formen; schwere Sepsis: Sepsis, assoziiert mit Organdysfunktion, Minderperfusion oder Hypotonie. Minderdurchblutung und Durchblutungsstörungen können beinhalten, sind aber nicht beschränkt auf: Laktatazidose, Azidose, Oligurie oder eine akute Änderung der Bewusstseinslage; MODS (»multiple organ dysfunction syndrome«): Dermaßen geänderte Organfunktion bei Akutkranken, dass die Homöostase ohne Intervention nicht mehr aufrechterhalten werden kann; 6
sepsisinduzierte Hypotonie: systolischer Blutdruck 40 mmHg des Ausgangswerts bei Fehlen anderer Hypotonieursachen; septischer Schock: sepsisinduzierter Schock mit Hypotonie trotz adäquater Volumensubstitution, einhergehend mit Hypoperfusionszeichen oder Organdysfunktionszeichen; letztere können beinhalten, sind aber nicht beschränkt auf: Laktatazidose, Azidose, Oligurie oder eine akute Änderung der Bewusstseinslage. Patienten, die infolge einer Therapie mit inotropen oder vasokonstriktiven Substanzen nicht mehr hypotensiv sind, aber dennoch Zeichen der Hypotension oder Organdysfunktion aufweisen, werden trotzdem dem Stadium des septischen Schocks zugeordnet; refraktärer septischer Schock: septischer Schock ohne rasches Ansprechen auf Volumengabe (z. B. 500 ml NaCl in 30 min) und Vasopressoren; akute septische Kardiomyopathie: Herzschädigung im Rahmen einer Sepsis mit der Folge einer im Verhältnis zum systemischen Gefäßwiderstand verminderten Pumpfunktion des Herzens.
Wodurch es zur Anstoßung der Mediatorkaskaden bei den nichtentzündlichen Prozessen kommt, ist letztlich nicht geklärt. Häufig wird das Phänomen einer Translokation von Bakterien und Endotoxin aus dem Darm infolge einer Darmwandischämie als Trigger der systemischen Entzündungsreaktion angehen [1a]. Für die mikrobielle Sepsis lassen sich Patienten mit dem Bild einer Sepsis und positivem Keimnachweis in der Blutkultur als Untergruppe abgrenzen. Aus der Sicht des Klinikers und Therapeuten sind die verschiedenen Ätiologien eines mediatorbedingten Multiorganversagens in aller Regel unterscheidbar in Kenntnis des Gesamtbildes des Patienten. Auch erscheint die Differenzierung therapeutisch relevant. Der praktisch tätige Intensivmediziner wird durchaus zu unterschiedlichen
7 Definition der Sepsis
Therapieplänen kommen, je nachdem, ob es sich beispielweise um eine bakterielle Pneumonie, eine Meningitis, eine Pyelonephritis, eine postoperative abdominelle Infektion oder aber um einen Verkehrsunfall mit multiplen Frakturen, eine schwere Paraquatintoxikation oder eine akute generalisierte Vaskulitis handelt. So erscheint es aus klinischer Sicht nach wie vor sinnvoll, das infektionsbedingte Krankheitsbild der mikrobiellen Sepsis von einem primär nichtinfektiös bedingten, wenn auch sehr ähnlichen Krankheitszustand zu unterscheiden und beide als Varianten eines allgemeinen Syndroms zu begreifen.
Aktuelle Definitionen von Sepsis, SIRS und sepsisassoziierten Erkrankungen . Übersicht 1-1, fasst die derzeit gültigen Definitionen der Sepsis und assoziierter Erkrankungen zusammen. Eine amerikanische Konsensuskonferenz aus Vertretern der Thoracic Society und der Society of Critical Care Medicine hat sich 1991 auf Definitionen von Sepsis und SIRS geeinigt [29] . Das »Internationale Sepsis-Forum« hat die Gültigkeit dieser Definitionen im Jahre 2001 bestätigt [28a]. Danach ist SIRS eine allgemeine, entzündliche Abwehrreaktion auf unterschiedliche Aggressionen und manifestiert sich durch das Auftreten von 2 oder mehr der folgenden Reaktionen: Temperatur über 38°C (oder unter 36°C), Herzfrequenz über 90 Schläge/min, Atemfrequenz über 20 Atemzüge/ min oder paCO2 unter 32 mmHg, Leukozytenzahl über 12.000/mm3 oder unter 4.000/mm3 oder mehr als 10 % unreife Neutrophile. Sepsis ist definiert als das Auftreten dieser allgemein entzündlichen Antwort als Reaktion auf eine mikrobiologische Infektion. Der septische Patient ist danach der Patient mit einem SIRS aus infektiöser Ursache. Der Begriff Septikämie sollte nicht mehr verwendet werden. Im Verständnis der deutschen Medizin kommt diese Sepsisdefinition einer Inflation des Sepsisbegriffs gleich. Für unser Verständnis ist Sepsis nach wie vor eine schwere, lebensbedrohliche Erkrankung. Diesen Charakter verliert die Sepsis jedoch, wenn man der Definiti-
1
on der Konsensuskonferenz folgt. Viel eher würden wir die Diagnose einer Sepsis stellen können, wenn die Situation der »severe sepsis« in der Definition der Konsensuskonferenz vorliegt. So wird in den folgenden Abschnitten auch die Diagnose »Sepsis« aufgefasst und dargestellt werden. Der schwere Verlauf wird durch Manifestation von Hypotension/Minderperfusion und/oder Dysfunktion vitaler Organsysteme definiert (. Tabellen 1-1 und 1-2).
. Tabelle 1-1. Klinischer Ablauf der Sepsis. Übersicht über klinische Zeichen und Laborparameter Invasion von Bakterien/ Toxinen
Verschlechterung des Allgemeinzustands, anhaltendes Fieber (seltener Hypothermie), Schüttelfrost, Leukozytose (seltener Leukopenie)
Respiratorische Insuffizienz
Tachypnoe, Hypokapnie bei Hyperventilation, Hypoxämie
Herz-/ Kreislaufinsuffizienz
Herzfrequenzbeschleunigung, Blutdruckinstabilität, Blutdruckabfall, Haut heiß-rot-trocken (seltener kühl-blass-feucht)
Gerinnungsaktivierung
AT-Verminderung, Fibrinmonomere, Fibrin(ogen)spaltprodukteanstieg, Thrombozytenabfall, Thrombozytenfunktionsstörung
Metabolische Störungen
Hyperglykämie (seltener Hypoglykämie), Blutlaktatanstieg, Negativierung der Stickstoffbilanz
Niereninsuffizienz
Diureserückgang, Kreatininclearanceabfall, Serumkreatininanstieg
Enzephalopathie
Somnolenz, Unruhe, Verwirrtheit
Polyneuropathie, Myopathie
Weaning off-Probleme
8
1 2 3 4
Kapitel 1 · Definition und Diagnose von Sepsis und Multiorganversagen
. Tabelle 1-2. Formen und diagnostische Kriterien des Multiorganversagens. Übersicht über klinische Zeichen und Laborparameter Organ
Dysfunktion
Diagnose- und Differentialdiagnosehilfen
Lunge (s. auch 7 Kap. 12)
Lungenödem mit erhöhtem Kapillardruck: kardiales Lungenödem Lungenödem mit erhöhter Kapillarpermeabilität: Acute lung injury (ALI: paO2/FIO238,0°C) oder Hypothermie (Körpertemperatur 90 Schläge/min in Abwesenheit einer ß-Blockerbehandlung, 5 Tachypnoe, definiert als eine Atemfrequenz >20 Atemzüge/min oder als Notwendigkeit mechanischer Beatmung, 5 Hypotension, definiert als ein systolischer Blutdruck 40 mmHg bei adäquater Volumensubstitution, oder Anhalt für systemische Toxizität oder verminderte Endorgandurchblutung, definiert durch 2 oder mehrere der folgenden Kriterien: – metabolische Azidose (arterieller Blut-pHWert 5 mmol/l), – arterielle Hypoxie (pO2 1000 pg/ml [34a].
Einschlusskriterien der SBITS-Studie, einer Behandlungsstudie mit polyvalentem Immunglobulin G [36] Mindestens 4 der folgenden 9 Sepsiskriterien mussten zum Einschluss in die Studie erfüllt sein, zusätzlich mussten der APACHE-II-Score 20 bis einschließlich 35 Punkte und der Sepsisscore nach Elebute u. Stoner 12 bis einschließlich 27 Punkte betragen [37]: 5 Temperatur >38,5°C oder 12 oder 100Schläge/min, 5 Atemfrequenz >28/min oder FIO2>0,21, 5 mittlerer arterieller Blutdruck 4,5 l/min/m² oder systemischer Gefäßwiderstand 100,4oF] oder 20 Atemzüge/min bei Spontanatmung) oder Notwendigkeit einer mechanischen Beatmung. Darüber hinaus muss eines der beiden folgenden Kriterien erfüllt sein: 5 anhaltende Hypotension oder Gebrauch von Vasopressoren (außer Dopamin 100 mmHg ZVD >10 mmHg2 HF3 Spontandiurese >0,5 ml/kgKG/h4 ScvO25 Organmonitoring6
HI9 SVR10 PCWP11 ITBV 950±100 ml/m2KOF12 EVLW 70 mmHg7 SBP >100 mmHg7 ScvO28
7
Bei unzureichendem Erfolg der Volumentherapie: Verbesserung der myokardialen Funktion und Wiederherstellung des peripheren Gefäßtonus
»Herzschock«* HI ↓(z. B.800 Kontraktilität ↓ ⇓ Dobutamin14
8
Weitere Verbesserung des O2-Angebots
Organmonitoring16
2 3 4 5 6
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
»Kreislaufschock«* HI>4,0 SVR ↓ 25 nachzuweisen (. Abb. 22-8). Die Xigrisproduktinformation (http://www.aboutxigris.com) enthält diese Information in Tabellenform (. Tabelle 22-2). Dementsprechend nahm auch die absolute Mortalitätsdifferenz zwischen beiden Studiengruppen mit zunehmender Zahl dysfunktionaler Organe kontinuierlich zu. Bei Patienten mit Schock war a-rhPC mit einer Mortalitätsreduktion assoziiert, aber nicht bei Patienten ohne Schock (. Tabelle 22-3).
Bei Patienten, die während der Studienmedikation zusätzlich (nichtrandomisiert) Heparin erhalten hatten, unterschied sich die Mortalität zwischen a-rhPC und Placebo nur um 3 %. Bei den Patienten ohne zusätzliche Heparingabe war die Mortalität mit a-rhPC um 15 % niedriger als mit Placebo (. Tabelle 22-4). Auffällig hoch war die Mortalität in der Subgruppe ohne Antikoagulation (weder a-rhPC noch Heparin).
22
533 PROWESS – Ist Protein C wirksam?
[ ]
. Abb. 22-8. Mortalität in PROWESS, nach APACHE-II-Klassifikation, in 5-Punkt-Intervallen. a-rhPC aktiviertes rekombinantes humanes Protein C. (Nach [3])
APACHE–II–Score . Tabelle 22-2. Mortalität in PROWESS, nach APACHE-II-Klassifikation: Patienten mit Scores ≥25 vs. Patienten mit niedrigeren Scores. (Nach [3] und Xigris-Produktinformation) APACHE-II-Score
Arm
Patientenzahl (n)
Patienten (n) verstorben (Tag 28)
3–24
Placebo a-rhPC
437 436
83 82
19% 19%
=
25–53
Placebo a-rhPC
403 414
176 128
44% 31%
–13%
a-rhPC aktiviertes rekombinantes humanes Protein C
. Tabelle 22-3. Mortalität in PROWESS: Patienten mit Schock vs. Patienten ohne Schock. (Nach [3]) Schock
Arm
Patientenanzahl
Patienten verstorben (Tag 28)
Nein
Placebo a-rhPC
238 252
53 53
22% 21%
–1%
Ja
Placebo a-rhPC
602 598
206 157
34% 26%
–8%
a-rhPC aktiviertes rekombinantes humanes Protein C.
. Tabelle 22-4. Mortalität in PROWESS: Patientensubgruppen, die Heparin als Zusatzmedikation während der Infusion der Studienmedikation erhielten, vs. Subgruppen ohne Heparin während der Gabe der Studienmedikation. (Nach [3]) Heparin
Arm
Patientenzahl (n)
Patienten (n) verstorben (Tag 28)
Ja
Placebo a-rhPC
637 634
179 158
28% 25%
–3%
Nein
Placebo
203
80
39%
–15%
a-rhPC
216
52
24%
a-rhPC aktiviertes rekombinantes humanes Protein C.
534
21 22 3 4
Kapitel 22 · Therapie der Sepsis mit antikoagulanten Proteinen
Mortalitätssenkung – Gewinn an Lebensqualität?
Subgruppen. Die Publikation gibt explizit an, dass
Die Annäherungsdaten von PROWESS zu Lebensqualität und funktionellem Status bei den Überlebenden legen einen der Mortalitätssenkung proportionalen Gewinn an Lebensqualität nicht nahe (. Tabelle 22-5).
der Behandlungserfolg in allen Subgruppenanalysen konsistent war. In den FDA-Anhörungen wurden Subgruppenunterschiede ausführlich diskutiert, v. a. die Beschränkung der Mortalitätsreduktion mit a-rhPC auf die Patientenuntergruppe mit einem APACHE-II-Score von >25.
PROWESS – Zusammenfassung
5
Herstellung von aktiviertem Protein C
6
Die PROWESS-Publikation definiert das Studienmedikament »Drotrecogin-α (aktiviert)« nicht präzise. Es bleibt offen, ob die angegebene Zelllinie die Vorstufe Protein C bildet, das in einem zweiten Arbeitsschritt durch limitierte Proteolyse aktiviert wird, oder ob die Zelllinie direkt die aktivierte, zweikettige Form (aktiviertes Protein C) bildet. Die Durchsicht der US-Patente des Drotrecoginherstellers legt nahe, dass die Aktivierung in vitro durch bovines Thrombin erfolgt. Tatsächlich enthält das Präparat Spuren von Rinder-Thrombin [12].
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Diskrepanzen zwischen Publikation und FDA-Anhörung Methodenänderung. Die Änderungen von Studienprotokoll und Studienmedikationsherstellungsprozess während der laufenden Studie wurden vor der FDA ausführlich diskutiert, aber in der Publikation nicht einmal erwähnt.
Die Aussagekraft der PROWESS-Studie wird durch methodische Schwächen und Intransparenz eingeschränkt [13–15]. Es bleibt eine nicht unerhebliche Unsicherheit, ob die Mortalitätsreduktion nur die randomisierte Intervention (a-rhPC oder Placebo) widerspiegelt oder unausgewogene Randomisierung oder andere nichtrandomisierte Unterschiede zwischen Verum- und Placebogruppe. Methodenänderungen und Subgruppenanalysen hätten klar beschrieben und diskutiert werden müssen. Die Überlegungen, die hinter den Änderungen des Protokolls standen, könnten dazu beitragen, zukünftige Sepsisstudien methodisch effektiver und aussagekräftiger zu planen. Der bemerkenswerte Mortalitätsrückgang in der a-rhPC-Gruppe in der zweiten Hälfte der Studie könnte z. B. gerade darauf beruhen, dass die Protokolländerungen eine optimale Selektion von Patienten ergaben. Eine optimale Patientenselektion schließt treffsicher Patienten mit ungünstiger Nutzen-Risiko-Relation aus – einerseits Todgeweihte, bei denen jegliche Intervention zu spät wäre, und andererseits Patienten mit derart aus-
. Tabelle 22-5. Aufenthaltsort der Überlebenden an Tag 28 in der PROWESS-Studie. (Nach [3])
17
a-rhPC n
%
Placebo n
%
18
Zuhause, selbstständig
158
25
144
25
Zuhause, hilfebedürftig
117
18
113
19
19
Krankenhaus
304
47
258
44
Pflegeheim
61
10
66
11
Alle Überlebenden
640
100
581
100
20
a-rhPC aktiviertes rekombinantes humanes Protein C.
535 Fazit für die Praxis
potenzieller Nutzen
Selektion
22
. Abb. 22-9. Die Selektion von Patienten beeinflusst das Ergebnis von Therapiestudien: Patienten an beiden Enden des Schweregradspektrums (Leichtestkranke und z. B. Moribunde) profitieren weniger von der Intervention als mittlere Schweregrade
Schweregrad–Mortalitätsrisiko
gezeichneten Heilungschancen, dass die Intervention ebenfalls keinen Nutzen erbringt (. Abb. 229; [5]). ! Die besprochenen Schwächen der PROWESS-
Studie haben dazu geführt, dass die FDA a-rhPC bisher nur mit Einschränkungen und Auflagen zugelassen hat (s. auch 7 Anhang).
Ein Teil der methodischen Bedenken kann wahrscheinlich durch Zusatzinformationen aus dem PROWESS-Datenmaterial reduziert werden, z. B. die Randomisierungsqualität der Patienten unter dem geänderten Protokoll sowie Überleben und Lebensqualität nach 90 Tagen. Eine zuverlässige Einschätzung des Behandlungserfolgs bei Patienten mit niedrigerem APACHE-Score erfordert eine neue klinische Studie.
Fazit für die Praxis Drei antikoagulante Proteine wurden in jeweils einer internationalen, multizentrischen, placebokontrollierten Phase-III-Studie bei Patienten mit schwerer Sepsis geprüft. Für Antithrombin III und TFPI war kein mortalitätssenkender Effekt nachweisbar. Die berichtete Mortalitätssenkung mit a-rhPC in der PROWESS-Studie kann zumindest wegen der besprochenen methodischen Schwä-
chen noch nicht als hinreichend gesichert gelten. Offene Fragen können wahrscheinlich durch Zusatzinformationen aus dem PROWESS-Datenmaterial und zusätzlichen klinischen Studien zumindest teilweise beantwortet werden. Eine überwältigende Vielzahl experimenteller und klinischer Beobachtungen belegt, dass die systemische Gerinnungsaktivierung bei Sepsis eine klinisch relevante pathophysiologische Rolle spielt. Die Senkung der Konzentration von Markern aktivierter Gerinnung und Entzündung wurde gerade für die 3 geprüften Substanzen und teilweise auch in den großen Studien bestätigt. Alle 3 Substanzen sind mit einem erhöhten Blutungsrisiko assoziiert, der Kehrseite jeglicher Gerinnungshemmung. Die besprochenen 3 großen Studien verfehlten den eindeutigen Nachweis, dass antikoagulante Proteine die Sepsismortalität senken. Dies beweist aber keineswegs, dass Gerinnungshemmung bei schwerer Sepsis eine Therapiestrategie ohne klinischen Nutzen ist. Dafür sprechen, zumindest indirekt, auch die hier besprochenen Studien (PROWESS, KyberSept, OPTIMIST). In allen Studien war die Mortalität bei derselben Patientensubgruppe am höchsten, nämlich der Gruppe ohne Antikoagulation (weder Studienmedikament noch Heparin; . Abb. 22-3, . Tabellen 22-4, 22-6). Die Hypothese, dass niedrigdosierte Heparine die Mortalität der schweren Sepsis
536
21 22
Kapitel 22 · Therapie der Sepsis mit antikoagulanten Proteinen
. Tabelle 22-6. Mortalität an Tag 28 und an Tag 90 in der KyberSept-Studie, je nachdem ob die Patienten Antithrombin III (Studie war randomisiert) oder Heparin (Studie war nicht randomisiert) erhalten hatten. (Nach [10])
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Mortalität [%]
Tag 90
AT3
Heparin
28
–
+
36,6
+
–
37,8
+
+
39,4
–
–
43,6
44,9
52,2
AT3 Antithrombin III.
senken, wurde bisher noch nicht in einer großen Studie untersucht [16].
Literatur 1. [Anonym] (2002) Meeting transcript – Food and Drug Administration Center for Drug Evaluation and Research, Anti-infective Drugs Advisory Committee October 16, 2001. http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/01/ transcripts/3797t1.doc 2. Abraham E, Reinhart K, Svoboda P et al. (2001) Assessment of the safety of recombinant tissue factor pathway inhibitor in patients with severe sepsis: a multicenter, randomized, placebo-controlled, single-blind, dose escalation study. Crit Care Med 29: 2081–2089 3. Anti-infective Drugs Advisory Committee (2002) Drotrecogin alfa (activated) [recombinant human activated protein c (rhAPC)], XiGRIS™, BLA #125029/0, Briefing Information. October 16, 2001. http://www.fda.gov/ohrms/ dockets/ac/01/briefing/3797b1.htm 4. Bernard GR, Vincent JL, Laterre PF et al. (2001) Efficacy and safety of recombinant human activated protein C for severe sepsis. N Engl J Med 344: 699–709 5. Cohen J, Guyatt G, Bernard GR et al. (2001) New strategies for clinical trials in patients with sepsis and septic shock. Crit Care Med 29: 880–886 6. Marshall JC (2000) Clinical trials of mediator-directed therapy in sepsis: what have we learned? Intensive Care Med 26 (Suppl 1): S75-S83 7. Natanson C, Esposito CJ, Banks SM (1998) The sirens‘ songs of confirmatory sepsis trials: selection bias and sampling error. Crit Care Med 26: 1927–1931 8. Opal SM, Cross AS (1999) Clinical trials for severe sepsis.
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V Sepsis bei speziellen Patientengruppen 23
Sepsis bei Tumorerkrankungen und Neutropenie – 539
24
Neugeborenensepsis
25
Die Frau als Sepsispatientin
26
Der ältere Sepsispatient
– 557 – 573
– 579
23 Sepsis bei Tumorerkrankungen und Neutropenie H.-J. Fricke, K. Blumenstengel, K. Höffken
Tumorerkrankungen und Neutropenie – neutropenisches Fieber
– 540
Epidemiologische Merkmale von Infektionen in Neutropenie/ bei neutropenischer Sepsis – 543 Diagnostik bei neutropenischem Fieber/neutropenischer Sepsis
– 545
Antimikrobielle Therapie bei neutropenischem Fieber/ neutropenischer Sepsis – 547 Ergänzende Therapiemaßnahmen bei Neutropenie/Infektionen in Neutropenie – 550 Erfolgskriterien der antimikrobiellen Therapie bei Infektionen in Neutropenie – 551 Antimikrobielle Prophylaxe bei Neutropenie
– 551
Allgemeinhygienische Maßnahmen zur Prävention von Infektionen in Neutropenie – 552 Fazit für die Praxis Literatur
– 553
– 553
540
21 22
Kapitel 23 · Sepsis bei Tumorerkrankungen und Neutropenie
Tumorerkrankungen und Neutropenie – neutropenisches Fieber
15
Das Ziel in der Therapie maligner Erkrankungen ist es, in einem möglichst hohen Prozentsatz der Patienten langfristig Krankheitsfreiheit oder eine Heilung zu erreichen. Die dabei in der zurückliegenden Zeit erzielten Erfolge beruhen in erster Linie auf einer Steigerung der antineoplastischen Therapieintensität. Damit verbunden ist die Verstärkung der therapieassoziierten Nebenwirkungen auf den Gesamtorganismus, die im Bereich des hämatopoetischen Systems v. a. zu einer ausgeprägten Neutropenie führen. Sowohl nach Chemotherapieprotokollen in Standarddosierung als auch in viel ausgeprägterem Maße nach Protokollen der Hochdosischemotherapie kommt es zu einer Verringerung der Neutrophilenzahl. Nach Protokollen der Standarddosierung beginnt die Verringerung der Neutrophilen etwa ab Tag 6. Der Tiefpunkt liegt zwischen den Tagen 10 und 14, woran sich eine Erholung der Neutrophilenzahl anschließt. Die Schwankungsbreite der Zeitdauer bis zum Wiederanstieg der peripheren Granulozyten ist individuell unterschiedlich. Faktoren, die darauf Einfluss haben, sind eine vorbestehende Knochenmarkschädigung, die Intensität der Behandlung, die Zahl vorausgehender Behandlungen oder Bestrahlungen sowie der Allgemeinzustand des Patienten. Hochdosistherapien im Rahmen onkologischer Erkrankungen tragen myeloablativen Charakter, sodass zur Behebung der damit einhergehenden Neutropenie eine Stammzelltransplantation notwendig ist.
16
! Im Gefolge der therapieassoziierten Neutro-
23 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
17 18 19 20
penien kommt es bei den meisten Patienten zu Infektionen, deren Häufigkeit und Schwere abhängen von Ausmaß und Dauer der Granulozytopenie. Sind die Granulozyten unter 0,5 Gpt/l verringert, so stellt die Granulozytopenie den bedeutendsten Einzelfaktor für das Angehen einer Infektion dar [74]. Bei Granulozytopenien von 1 Gpt/l auch
bei längerer Dauer selten [15, 21] Die maßgebliche Bedeutung der Neutropeniedauer hat zur Unterteilung in ein Standardrisiko (Neutropenie 10 Tage) geführt [59a]. Infektionen im Gefolge einer therapiebedingten Neutropenie stellen eine ernste Komplikation dar. Bei hämatoonkologischen Erkrankungen beträgt ihr Anteil an tödlichen Verlaufskomplikationen bis 75 % [7, 21, 35, 71].
Das klinische Bild von Infektionen in der Neutropenie ist nicht einheitlich. In 70 % der Fälle treten sie auf als Fieber unbekannten Ursprungs (»fever of unknown origin«, FUO) [63]. In diesen Fällen ist die Infektion weder durch ein klinisches Äquivalent (z. B. Lungeninfiltrate) noch durch einen mikrobiellen Erregernachweis zu belegen 15–20 % aller Patienten mit Infektionen in der Neutropenie entwickeln dagegen klinisch fassbare Zeichen einer Infektion (z. B. pulmonale Infiltrate, Entzündungen von Eintrittsstellen venöser Zugänge), ohne dass damit ein spezifischer Keimnachweis verbunden ist. Bei der verbleibenden 3. Gruppe handelt es sich um Fälle, in denen ein Infektionserreger isoliert werden kann, z. T. auch in Verbindung mit klinisch fassbaren Infektionszeichen [48]. ! Die maligne Grunderkrankung und die antine-
oplastische Therapie führen darüber hinaus zu einer Störung der physiologischen Infektabwehr als Ganzes. Dies betrifft sowohl Mechanismen der zellulären und humoralen Immunität als auch die gewebliche Schrankenfunktion, was Eindringen und Dissemination von Krankheitserregern begünstigt [16, 48, 60, 93].
Sepsis in Neutropenie Jedes Eindringen eines infektiösen Agens kann bei neutropenischen Patienten potentiell eine systemische Entzündungsreaktion auslösen. So wie bei nichtneutropenischen Patienten kommt es dabei initial zu hohen Serumkonzentrationen von proinflammatorischen Zytokinen (TNF-α, IL-1, IL-6, IL-8) und antiinflammatorischen Zytokinen (IL-10, IL- 1ra; [4, 25, 32, 33, 41, 44, 72, 79, 86, 96]).
541 Tumorerkrankungen und Neutropenie – neutropenisches Fieber
Die Art des damit verbundenen klinischen Bildes hängt sowohl vom Ausmaß der Aktivierung als auch vom Gleichgewichtszustand von Agonisten und Antagonisten ab: Ein Überwiegen der proinflammatorischen Zytokine führt zu Schock, Transsudation in die Organe und Gerinnungsstörungen, ein Überwiegen der antiinflammatorischen Zytokine zu Anergie und Immunsuppression [19]. Bei neutropenischen Patienten mit Fieber kommt es darüber hinaus zu erhöhten Spiegeln von G-CSF und M-CSF, wohingegen für GM-CSF eine Erhöhung nicht nachweisbar ist [25]. Ebenso wie bei nichtneutropenischen Patienten sind die Zytokinprofile nach Infektion auch bei neutropenischen Patienten von prädiktiver Bedeutung. Bei neutropenischen Patienten mit manifester Sepsis wurde gezeigt, dass die Serumkonzentration von IL-6, IL-8 und TNF-α 48 h nach Fieberbeginn ihren Spitzenwert haben und auch im Verlauf signifikant höher sind als die Werte bei unkomplizierten fieberhaften Episoden in Neutropenie [72]. In anderen Fällen war eine Persistenz der initial hohen IL-6-Werte bei Patienten mit Sepsis in Neutropenie nur bei denjenigen Krankheitsverläufen zu finden, die einen tödlichen Ausgang nahmen [4]. Darüber hinaus ergaben sich Abstufungen in den Konzentrationen proinflammatorischer Zytokine zwischen unkomplizierten bakteriellen Infektionen und septischem Schock [30]. Die initiale Zytokinreaktion bei neutropenischem Fieber war unabhängig davon, ob eine zeitgleiche Dokumentation einer bakteriellen Infektion gelang [79]. Neben der Zytokinfreisetzung im Gefolge der zellulären Aktivierungen ist bei neutropenischen Patienten auch die Aktivierung humoraler Kaskaden erkennbar. So kommt es mit Beginn des neutropenischen Fiebers zu multifaktoriellen Veränderungen im Gerinnungssystem, die in ihrer Gesamtheit eine Hyperkoagulabilität repräsentieren und sich besonders bei den Patienten signifikant stärker ausprägen, die einen septischen Schock ausbilden [68]. Analog zur Situation bei nichtneutropenischen Patienten [38, 46, 77] konnte auch bei neutropenischer Sepsis die prognostische Bedeutung von AT-III-Spiegelerniedrigung und Erhöhung des PAI-1-Spiegels bestätigt werden [67, 68]. Die pathophysiologischen Gemeinsamkeiten von Sepsis in Neutropenie und Sepsis bei nichtneu-
23
tropenischen Patienten sind die rationale Grundlage dafür, die klinische Diagnosestellung einer Sepsis in Neutropenie ebenfalls anhand der für nichtneutropenische Patienten formulierten Kriterien des American College of Chest Physicians und der Society of Critical Care Medicine (ACCP/ SCCM) [2] vorzunehmen (s. auch . Übersicht 1-1). Allerdings engt sich die Basis für die klinische Diagnose bei neutropenischen Patienten dadurch ein, dass das Kriterium der Leukozytose bzw. Leukozytopenie oder Linksverschiebung entfällt und nur noch die Kriterien Temperatur >38°C oder 90 Schläge/min und Atemfrequenz >20 Atemzüge/min bzw. paCO2 >32 mmHg zur Verfügung stehen. Erschwerend kommt hinzu, dass auch bei der Herzfrequenz und der Atemfrequenz ätiologisch Interferenzen mit der bei diesen Patienten häufig bestehenden Anämie möglich sind. Die Diagnose der Sepsis in Neutropenie verliert dadurch an klinischer Kontur. Insgesamt kann man aber davon ausgehen, dass ein großer Teil der Fälle von neutropenischem Fieber die Eingangskriterien für die Diagnose der Sepsis formal erfüllt, obwohl nicht jede febrile Episode in Neutropenie unkritisch als Sepsis angesehen werden darf. Praxistipp Nach gegenwärtigen Vorstellungen [5] ist bei >90 % der Patienten mit neutropenischem Fieber mit diesen Kriterien die Diagnose einer Sepsis zu stellen.
Bei Patienten mit Fieber nach allogener KMT sind es praktisch 100 %. ! Allerdings fehlt bisher eine prospektive Validie-
rung der ACCP/SCCM-Kriterien für die Sepsisdiagnose bei neutropenischem Krankengut.
Praxistipp Schwere Sepsis und septischer Schock gemäß Definition der ACCP/SCCM [2] sind bei neutropenischen Patienten vergleichsweise seltener. 6
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Kapitel 23 · Sepsis bei Tumorerkrankungen und Neutropenie
Sowohl schwere Sepsis als auch septischer Schock wurden nur in jeweils 10–20 % der beobachteten Sepsisfälle in der Neutropenie registriert [68, 72].
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Belege einer infektiösen Genese Gerade durch die genannte Sondersituation für die Diagnosestellung einer Sepsis bei neutropenischen Patienten erlangt die Suche nach zusätzlichen Parametern zum Beleg einer infektiösen Genese der generalisierten Entzündungsreaktion besondere praktische Bedeutung. Der Endotoxinnachweis ist bei Patienten mit FUO für die Sepsisdiagnose nicht ausschlaggebend. Mit dem Endotoxinnachweis ist es auch nicht möglich, generell zwischen einer bakteriämischen und einer nichtbakteriämischen Infektion zu unterscheiden [34, 41]. Ebenso sind daraus keine Schlüsse auf den verursachenden Erreger zu ziehen. Sowohl Infektionen mit grampositiven Erregern als auch Infektionen mit gramnegativen Erregern können mit einem Endotoxinnachweis einhergehen [34, 65]. Des Weiteren kann es gerade bei Patienten unter Chemotherapie zu einer geringgradigen Endotoxinämie durch endogene Bakterien kommen. Dies ist Ausdruck einer therapieassoziierten Störung der Mukosabarriere [41, 89]. Mit diesen Befunden in Einklang steht, dass das Auftreten von Fieber bei neutropenischen Patienten nicht mit dem Nachweis von Endotoxinen korreliert [41, 79, 89]. Als Beispiel sei eine Untersuchung genannt, bei der bei 22 Patienten mit FUO der Endotoxinnachweis nur in 6 Fällen zu führen war [42]. Allerdings ergeben sich bei neutropenischen Patienten mit manifester Sepsis Anhaltspunkte dafür, dass diejenigen mit hohen Endotoxinspiegeln eine schlechtere Prognose haben [10]. In jüngerer Zeit erhält die Bestimmung des Procalcitonins Gewicht. Das Procalcitonin gilt als früher Marker einer generalisierten Entzündungsreaktion und korreliert mit dem Schweregrad der bakteriellen Invasion [6,13, 28, 56]. Dabei ist seine zu messende Konzentration bei grampositiven und gramnegativen Infektionen gleich und auch
unabhängig davon, ob die mikrobielle Invasion in der Kultur zu belegen ist oder nicht [1]. Allerdings ist bei neutropenischen Patienten mit septischen Infektionen die Dauer des Nachweises erhöhter Procalcitoninspiegel im Serum gegenüber nichtneutropenischen Patienten möglicherweise verkürzt [1]. Nach Fiebereintritt ist bei neutropenischen Patienten schon nach kurzer Zeit ein Anstieg des Procalcitoninspiegels messbar [31a]. Dieser ist bei klinisch oder mikrobiell dokumentierter Infektion signifikant größer als bei nicht dokumentierten Infektionen. Ebenso bestehen signifikante Unterschiede zwischen den Werten bei nachgewiesener Bakteriämie und nichtbakteriämischen Infektionen [31a, 39a]. Dabei tritt bei grampositiven Infektionen der Procalcitoninspiegelanstieg möglicherweise verzögert auf [83a]. Für die Diagnose einer Sepsis bei Neutropenie ist die Tatsache nutzbar, dass bei einer Sepsis schon mit Fieberbeginn höhere Procalcitoninwerte auftreten als beim FUO [39a]. Praxistipp Als »Cut-off«-Wert zwischen FUO und febrilen Reaktionen mit höherem Risiko (Bakteriämie, Sepsis) kann ein Procalcitoninwert von 0,5 µg/l gelten [36a].
Eine erfolgreiche antimikrobielle Therapie der Sepsis in Neutropenie ist nicht nur an den klinischen Sepsisparametern ablesbar, sondern geht auch einher mit der Abnahme der Konzentration des Procalcitonins, proinflammatorischer Zytokine und der Akute-Phase-Proteine [41, 80]. Umgekehrt hat sich gezeigt, dass inadäquate Unterbrechungen der antimikrobiellen Therapie beim FUO zu tödlichen septischen Infektionen führen können [54, 59]. Vor dem Hintergrund der Häufigkeit der Sepsis in Neutropenie und ihrer prognostischen Bedeutung ist neben der interventionellen antimikrobiellen Therapie die orale antimikrobielle Prophylaxe bei neutropenischen Patienten ein zusätzlicher Aspekt der Sepsistherapie. Diese gegenwärtig als Standard etablierte Maßnahme hat ihrerseits zu einer signifikanten Verringerung des
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543 Epidemiologische Merkmale von Infektionen…
Infektionsrisikos in der neutropenischen Phase beigetragen [48].
Epidemiologische Merkmale von Infektionen in Neutropenie/ bei neutropenischer Sepsis Wandel des bakteriellen Erregerspektrums Praxistipp Infektionen im Rahmen einer chemotherapieinduzierten Neutropenie Iassen sich nur in 30 % der Fälle mikrobiologisch belegen, wohingegen dies in 70 % der Fälle nicht gelingt. Für wiederum 30 % der Fälle gelingt es darüber hinaus, aus klinischen Befunden oder bildgebenden Verfahren Anhaltspunkte über deren verursachenden Erreger zu finden [63]. Als initiale Infektion in der Neutropenie sind bakterielle Infektionen am häufigsten. Dabei ist es in den vergangenen 20 Jahren zu einer deutlichen Verschiebung hinsichtlich des verursachenden Bakterientyps gekommen.
Waren anfangs gramnegative Bakterien die Hauptverursacher von Infektionen (insbesondere Pseudomonas aeruginosa, Klebsiella pneumoniae und Escherichia coli [14, 87]), sind es jetzt in erster Linie grampositive Bakterien (v. a. Staphylococcus epidermidis, Staphylococcus aureus, Streptococcus viridans und Streptococcus pneumoniae ([40, 75, 76, 95 ]). Dieser Wandel hat seine Gründe in der Einführung von Antibiotika mit hoher Effektivität gegenüber gramnegativen aeroben Bakterien, wie z. B. Acylaminopenicillinen, Cephalosporinen der 3. Generation, Carbapenemen und Fluorochinolonen. Zum anderen hat auch die breite Anwendung der oralen antimikrobiellen Prophylaxe mit Fluorochinolonen oder Trimethoprim-Sulfamethoxazol zu einer Reduktion gramnegativer Infektionen beigetragen. Demgegenüber bedingen die in jüngerer Zeit zu verzeichnende Zunahme der Anwendung von
zentralen Venenkathetern und die Zunahme von Mukositiden nach dosisintensivierter Chemotherapie eine Zunahme der grampositiven Primärinfektionen [63].
Erregerspektrum nach Fieberbeginn Die für die Infektion verantwortlichen Erreger verändern sich in ihren Häufigkeiten unabhängig vom allgemeinen Trend auch mit dem Zeitpunkt ihrer Isolierung nach Fieberbeginn (. Tabelle 231). Bei den frühen Infektionen stehen die grampositiven Erreger im Vordergrund (50 %), gefolgt von gramnegativen Erregern (40 %), während Pilze (v. a. Candida und Aspergillus) eher selten sind. Bei positivem Erregernachweis mehr als 5 Tage nach Fieberbeginn sind dagegen in erster Linie Pilze nachzuweisen (50 %). Der Anteil gramposi-
. Tabelle 23-1. Neutropenisches Fieber – hauptsächliches Erregerspektrum der Erstinfektion und Häufigkeit des Vorkommens nach Isolierungszeitpunkt)
Erreger
Häufigkeit [%] bis 5. ab 5. Fiebertag Fiebertag
Grampositive Kokken und Bazillen 5 Staphylococcus aureus 5 Koagulasenegative Staphylokokken 5 Streptokokken 5 Enterokokken 5 Corynebakterien
ca. 50
ca. 25
Gramnegative Kokken und Bazillen 5 Pseudomonas aeruginosa 5 Escherichia coli 5 Klebsiellen 5 Proteus spp. 5 Enterobacteriaceae
ca. 40
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Pilze 5 Candida spp. 5 Aspergillus spp.
ca. 5–10
ca. 50
Anaerobier
180 Schläge/min), stinkende Plazenta, stinkendes Kind sowie niedrige Apgar-Werte können Hinweise auf das Vorliegen einer bereits intrauterin erworbenen Infektion sein. Die initialen Zeichen einer Neugeborenensepsis können dabei aber sowohl bei Frühgeborenen und Reifgeborenen als auch bei früh wie spät beginnender Sepsisform außerordentlich diskret sein und oft nicht von den klinischen Zeichen nichtinfektiöser Krankheitsprozesse unterschieden werden (. Übersicht 24-1). Kurze Zeit (evtl. einige Stunden) später (bei foudroyant verlaufender Sepsis, aber auch initial) treten dann schon etwas markantere Symptome auf (. Übersicht 24-2). Hyperthermie (>37,8 °C axillar) muss in den ersten 3 Lebenstagen beim reifen Neugeborenen als Hinweis auf eine Sepsis gewertet werden (in 66 % aller Fälle), wenn diese länger als 1 h andauert und mit anderen potentiellen Infektionszeichen einhergeht. Respiratorische Störungen sind besonders häufige (in über 50 % der Fälle) und wichtige Hinweiszeichen für das Vorliegen einer Sepsis. Ein spezifisches, aber oft auch schon spätes Zeichen ist das Auftreten von Apnoen. Gastrointestinale Symptome wie Trinkschwäche, Spucken, Erbrechen, Durchfall oder aufgetriebenes Abdomen sind meist recht frühe Sepsiszeichen. Klinische Hinweise auf Störungen des kardiovaskulären Systems, wie Tachykardie, Arrhythmie und schlechte periphere Perfusion sind ebenfalls sehr sensitive Sepsiszeichen. Je weiter die Sepsis fortschreitet, desto deutlicher und charakteristischer werden natürlich auch die auftretenden Symptome (. Übersicht 24-3).
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. Übersicht 24-1.
Erste klinische Hinweise auf eine Neugeborenensepsis: 5 5 5 5
Geringere Aktivität, blasses Hautkolorit, schlechtes Trinkverhalten, Spucken von Nahrung.
. Übersicht 24-2.
Dringliche Hinweise auf eine Neugeborenensepsis 5 Temperaturinstabilität bei Reifgeborenen (Hyperthermie öfter als Hypothermie), 5 Beeinträchtigung der Atmung (Apnoe/Zyanose/Tachypnoe), 5 Bradykardie/Tachykardie, 5 Apathie, 5 aufgetriebenes Abdomen, 5 Erbrechen, 5 Hepatomegalie, 5 schlechte Hautdurchblutung, 5 Hyperthermie (s. Text).
. Übersicht 24-3.
Hinweise auf eine manifeste Neugeborenensepsis 5 Temperaturinstabilität; 5 Haut: – Petechien, Pusteln; 5 ZNS: – Hypotonie, – Apathie, – Zittrigkeit, – Krämpfe; 5 Gastointestinaltrakt/Abdomen: – Erbrechen, – Diarrhö, – aufgetriebenes und druckempfindliches Abdomen; 5 Atmung: – Apnoe/Tachypnoe, – Zyanose, – interkostale Einziehungen, Nasenflügeln, Stöhnen; 5 Kardiovaskuläres System: – blasse, marmorierte Haut, – kalte, feuchte Haut, – Tachykardie/Bradykardie, – Hypotonie, – verlängerte kapilläre Füllungszeit (>3 s).
561 Diagnostik
Diagnostik Anlass zur diagnostischen Abklärung einer vermuteten Neugeborenensepsis sind 2 grundsätzlich unterschiedliche klinische Situationen. Zum einen kann eine Faktorenkonstellation vorliegen, die bekanntlich das Risiko des Auftretens einer Neugeborenensepsis erhöht. Zum anderen können aber bereits klinische Zeichen einer Sepsis vorliegen. Demnach stützt sich die Diagnose »Neugeborenensepsis« üblicherweise zunächst auf die Anamnese mit peripartalen oder klinischen Risikofaktoren und/oder auf klinische Symptome, was dann zusätzlich durch die Ergebnisse von geeigneten Laboruntersuchungen erhärtet bzw. sogar bewiesen wird. Praxistipp Abgesehen vom Ergebnis kultureller Untersuchungen gibt es keinen Test, der für sich alIein genommen eine klare Unterscheidung zwischen einem infizierten und einem nichtinfizierten Neugeborenen erlauben würde. Deshalb sollte beim ersten Auftreten von auf eine Sepsis hinweisenden klinischen Zeichen Material für das Anlegen bakteriologischer Kulturen und für die Durchführung von Laboruntersuchungen gewonnen werden, deren Ergebnis dem Kliniker möglichst sofort zur Verfügung steht.
Mikrobiologische Untersuchungen: Voraussetzungen für eine sichere Diagnose Die Voraussetzung für die sichere Diagnose einer bakteriellen Sepsis ist der Nachweis eines Erregers in einer normalerweise sterilen Körperflüssigkeit, wie Blut, Liquor und ggf. Urin. Der Erregernachweis im Bereich der Nasen- und Rachenschleimhaut, der Haut, des Nabels oder des Stuhls weist per se zunächst lediglich auf eine Keimbesiedlung hin. In vielen Fällen gelingt trotz des Vorliegens einer typischen systemischen Entzündungsreaktion ein Erregernachweis jedoch auch nicht und
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die Diagnose muss sich dann allein auf anamnestische Daten und auf den klinischen Befund stützen.
Blutkultur, »gold standard« Als »gold standard« für die Diagnosestellung »bakterielle Sepsis« gilt der Erregernachweis im Blut. Der positive Nachweis gelingt meist innerhalb von 24–48 h. Nach 72 h werden mindestens 98 % aller positiven Kulturen erfasst. Die Zahl der notwendigen Blutkulturen und die notwendige Blutmenge pro Kultur sind umstritten. Die übliche Blutmenge liegt bei etwa 0,5–1,0 ml [19]. Die Abnahme der Kultur, die unter streng antiseptischen Bedingungen erfolgen muss, sollte über eine periphere Vene und – zumindest jenseits der 1. Lebensstunde – möglichst nicht über die Nabelschnurgefäße erfolgen. Blutabnahmen über liegende Katheter gehen mit einer hohen Kontaminationsrate einher. Um die Diagnose einer katheterassoziierten Sepsis stellen zu können, empfiehlt sich die gleichzeitige Blutabnahme über den Iiegenden Katheter und aus einer peripheren Vene.
Liquorkultur: bei Sepsisverdacht und negativer Blutkultur dringend empfohlen! Da eine Neugeborenensepsis häufig mit einer Meningitis einhergeht (in 15 % bei »Early-onset«Sepsis; in bis zu 30 % bei »Late-onset«-Sepsis [40]), sollte bei dringendem Verdacht auf das Vorliegen einer Sepsis immer auch eine Lumbalpunktion und die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis erfolgen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Mutter unter der Geburt ein Antibiotikum erhalten hat, da dann häufig die Blutkultur negativ ausfällt. Allerdings muss bei dieser Entscheidung auch der Allgemeinzustand des Neugeborenen mit berücksichtigt werden. Besteht der Eindruck, dass die Lumbalpunktion zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Vitalfunktionen des Neugeborenen (insbesondere Frühgeborenen) führen könnte, oder besteht eine erhebliche Blutungsbereitschaft, kann deren Durchführung auch verschoben werden: Bei 85 % von Neugeborenen mit einer Meningitis findet sich auch eine positive Blutkultur.
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Kapitel 24 · Neugeborenensepsis
Urinkultur bei Verdacht auf Late-onset-Sepsis
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Praxistipp
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Eine Urinkultur muss beim Verdacht auf das Vorliegen einer Late-onset-Sepsis angelegt werden. Der Urin sollte dazu mittels suprapubischer Blasenpunktion gewonnen werden.
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Zusätzliche Kulturen Bakterielle Kulturen aus Magensaft und Gehörkanalflüssigkeit geben die Keimbesiedlung der Geburtswege wieder. Im negativen Fall spricht dies gegen eine während der Geburt erworbene Infektion.
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Zusätzliche Laboruntersuchungen Alle zusätzlichen Laboruntersuchungen zum Nachweis bzw. Ausschluss einer systemischen Infektion sollten sich grundsätzlich durch eine 100 %ige Sensitivität und eine 100 %ige negative Voraussagegenauigkeit auszeichnen, d. h. alle Neugeborenen mit einer Sepsis sollten erkannt werden, und bei allen nichtinfizierten Neugeborenen sollte die Diagnose Sepsis ausgeschlossen werden können.
Antigennachweis Eine sensitive und rasche Methode zum Nachweis β-hämolysierender Streptokokken der Gruppe B – auch nach bereits begonnener antimikrobieller Therapie (Mutter oder Neugeborenes) – stellt der Latexagglutinationsschnelltest zum qualitativen Nachweis von gruppenspezifischen Zellwandantigenen im Liquor dar [2, 26]. Serum und konzentrierter Urin sind dafür wohl weniger gut geeignet. Sensitivität, Spezifität sowie positive und negative Voraussagegenauigkeit werden u. a. mit 88 %, 98 %, 79 % und 99 % angegeben [26]. Wegen der hohen Rate an falsch-positiven Ergebnissen sollte dieser Test aber bei asymptomatischen Neugeborenen nicht als Screeningtest zum Nachweis einer Sepsis verwendet werden.
Leukozytenzahl Blutbild mit Differentialblutbild [23] werden üblicherweise als Zusatzuntersuchungen zum Nachweis einer Neugeborenensepsis verwendet. Zu den Indikatoren einer Infektion zählen: 5 Gesamtzahl der neutrophilen Granulozyten [12] (Neutropenie bzw. Neutrophilie in Abhängigkeit vom Lebensalter: 5.400/mm3 bei Geburt; 14.400/mm3 nach 12 h; 12.600/mm3 nach 24 h; 5.400/mm3 nach 72 h). Dabei ist die Neutropenie der bessere Indikator für das Vorliegen einer Infektion als die Neutrophilie. 5 Gesamtzahl der unreifen Granulozyten (pathologisch in Abhängigkeit vom Lebensalter: >1.100/mm3 bei Geburt; >1.500/mm3 nach 12 h; >600/mm3 nach 60 h). 5 Neutrophilenquotient = unreife (Stabkernige + Promyelozyten + Myelozyten)/Gesamtneutrophile: normal 75 Jahre) und sehr alte (>85 Jahre) Patienten mit schwerer Sepsis werden auf den Intensivstationen oft weniger aggressiv behandelt als jüngere [5] – zumal Diagnosestellung und Monitoring aufgrund der atypischen Symptomatik oft erschwert sind –, ohne dass jedoch dieses Vorgehen durch kontrollierte klinische Studien belegt wäre. Leider liegen zur Behandlung älterer, alter und sehr alter Sepsispatienten derzeit keine vergleichenden kontrollierten Therapiestudien vor. Es gibt allerdings allgemeine Empfehlungen zur Pharmakotherapie bei geriatrischen Patienten [10]. In Anbetracht des hohen Anteils betagter Menschen am Kollektiv der Sepsispatienten sollten Untersuchungen angestrengt werden, um die Sepsistherapie bei älteren Patienten zu optimieren.
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11.
Kapitel 26 · Der ältere Sepsispatient
aging. An evolutionary perspective on immunosenescence. Ann N Y Acad Sci 908: 244–254 Franceschi C, Bonafe M, Valensin S (2000) Human immunosenescence: the prevailing of innate immunity, the failing of clonotypic immunity, and the filling of immunological space. Vaccine 18: 1717–1720 Nagappan R, Parkin G (2003) Geriatric critical care. Crit Care Clin 19: 249–266 McLeod PJ, Huang AR, Tamblyn RM, Gayton DC (1997) Defining inappropriate practices in prescribing for elderly people: a national consensus panel. Can Med Assoc J 156: 385–391 Schmidt HB, Werdan K, Müller-Werdan U (2001) Autonomic dysfunction in the ICU patient. Curr Opin Crit Care 7: 314–322
VI Statt eines Ausblicks 27
Der Sepsispatient in der Postintensivstationsphase
– 585
27 Der Sepsispatient in der Postintensivstationsphase K. Werdan, S. Reith, R.R. Flieger, Ursula Müller-Werdan
Das Problem
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Ein glückhafter Postintensivstationsverlauf
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Mit diesen Sepsisfolgen müssen Sie rechnen! – 586 Die Postintensivstationsambulanz: Bewusstsein schaffen für die Probleme der Postintensivstationsphase – 590 Literatur
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Das Problem Mit dem Überleben der Intensivstationsphase ist es für den Sepsispatienten nicht getan! Im ersten Jahr nach überlebter Sepsis bleibt die Sterblichkeit hoch, und das erhöhte sepsisassoziierte Sterberisiko persistiert über die nächsten 5 Jahre (Massanari u. Arking 1993; Quartin et al. 1997; Sasse et al. 1995). Weiterhin können Restdefekte des septischen Multiorgandysfunktionssyndroms (MODS) noch Monate und Jahre persistieren, und sie können Ursache anhaltender Symptome wie Dyspnoe, Schwäche und Depression sein. Die Konsequenz daraus ist eine Einschränkung des funktionellen, sozialen und emotionalen Status, und dies kann wiederum die Lebensqualität des Patienten erheblich über eine lange Zeit nach der Krankenhausentlassung beeinträchtigen (Herridge et al. 2003; Hudson u. Lee 2003; Wehler et al. 2004).
Ein glückhafter Postintensivstationsverlauf Kommen wir auf unsere 24 Jahre junge Meningokokkensepsispatientin in 7 Kap. 9 zurück: . Abb. 9-6 und 9-7. Diese Patientin mit einem sehr erfolgreichen Ansprechen auf die Therapie konnte nach 6 Tagen von der Intensivstation auf die Allgemeinstation verlegt und nach insgesamt 3 Wochen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Die Betreuung der Patientin in der Ambulanz unserer Postintensivstation an Tag 40 nach Krankheitsbeginn zeigte eine organisch wieder vollständig gesunde Patientin ohne Einschränkung der subjektiven gesundheitlichen Lebensqualität. Alle während der akuten Krankheitsphase pathologischen Organbefunde hatten sich normalisiert (. Tabelle 27-1), ebenso die Zeichen der Sepsis und der Inflammation, und auch die ausgeprägte autonome Dysfunktion – gemessen als deutlich verminderte Herzfrequenzvariabilität und Baroreflexsensitivität – war abgeklungen.
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Kapitel 27 · Der Sepsispatient in der Postintensivstationsphase
. Tabelle 27-1. 24-jährige Patientin mit Meningokokkensepsis (vgl. 7 Kap. 9, . Abb. 9-6 und 9-7). Verlauf von klinischen und Laborparametern in der Intensivstations- (Tage 1 und 4; Verlegung auf die Allgemeinstation an Tag 6, Entlassung aus dem Krankenhaus nach 3 Wochen) und in der Postintensivstationsphase (Tag 40) Tag 1
Tag 4
Tag 30
Normalbereich
C-reaktives Protein [mg/l]
79,8
41,2
7,1