Martin Nehring
Schwerer Ausnahmefehler Irrungen und Wirrungen in der Computerwelt
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Vervielfältigung des Buches oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. © 2003 Carl Hanser Verlag München Wien Internet: http://www.hanser.de Lektorat: Martin Janik Technisches Lektorat: Lisa Hoffmann-Bäuml Herstellung: Ursula Barche Umschlaggestaltung: Wolfgang Perez, büro plan.it unter Verwendung einer Fotografie von Jason Hindley/getty images Satz: Kösel, Kempten Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany ISBN 3-446-22286-3
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Inhalt PROCEDURE: **** Comment
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2000 DECLARATION SECTION: . . . . . . . . 15 2010 2020 2030
Die Hose . . . . . . . . . . . . . 15 Blues . . . . . . . . . . . . . . 23 Wake up! . . . . . . . . . . . . . 34
3000 EXECUTE: 3010 3020 3030 3040 3050 3060 3070 3080
Visionen . . . . . . . . . . . Gipfelsturm . . . . . . . . . Glattes Parkett . . . . . . . Vom Genuss sinnerfüllter Arbeit Bist du dabei? . . . . . . . . Das Orakel . . . . . . . . . . König Kunde? . . . . . . . . . Sprödes Plastik . . . . . . .
4000 BREAK: 4010
5050 5060 5070 5080
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41 49 60 65 68 73 84 94
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Kontrollverlust
5000 LOOP: 5010 5020 5030 5040
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Keine PV . . . . . . . . . . Mensch-Maschine-Dialog . . . Ein systematischer Spaßvogel Die Gefahr, die Hoffnung, die Liebe . . . . . . . . . Infovisionen . . . . . . . . Wie ernst ist die Lage? . . Sei spontan! . . . . . . . . Power Woman . . . . . . . .
. . . 107 . . . 112 . . . 115 . . . . .
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. 119 . 127 . 134 . 144 . 152
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5090 5100 5110 5120 5130 5140 5150
Wake up! II . . Fluchtversuch . Telefonalarm . . Brandkatastrophen Probleme . . . . Sand im Getriebe Wake up! III . . Kapitulation . .
6000 SUBROUTINE: 6010 6020 6030 6040 6050 6060 6070 6080 6090 6100 6110 6120 6130
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. . . 161 . . . 164 . . . 167 . . . .
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. 172 . 179 . 183 . 185
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. 191 . 195 . 200 . 206 . 212 . 219 . 226 . 234 . 238 . 246 . 254 . 263 . 265
. . . . . . . . . . . . . . 275
Wake up! IV . . . . . . . . Erlebte Erfahrung . . . . . Kriechgang . . . . . . . . . Ein neuer Rosengarten . . .
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. . . . . . . . . . . . andere . . . . . . . . . . . . . . . .
Einsichten eines Patienten Intensivkurs Weltökonomie Eine sportliche Lektion . Vorboten des Unheils . . . Bullshit-Bingo . . . . . . Abschied vom Traumschiff . Barocke Impressionen . . . Strategic Chance Management OE . . . . . . . . . . . . Viele Farben Blau . . . . Machtschock . . . . . . . Neue Energie . . . . . . . Kein Grün in Sicht . . . .
7000 RESTART: 7010 7020 7030 7040
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Literaturempfehlungen
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**** Comment In erfolgreichen Unternehmen arbeiten Experten des Lebens. Warum? Weil das Leben auch in der Wirtschaft eine Hauptrolle spielt. Es verläuft nach eigenen Gesetzen, und wer das Leben »managen« Was Was heißt Was tun? will, als Führungskraft an- passiert? das? erkannt sein oder als MitarNeben der – hoffentlich unterhaltbeiter produktiv sein möchsamen und anregenden – Handte, der muss sich auskennen lung dieser ganz bestimmt frei mit dem »Regelwerk«, welerfundenen Geschichte soll der ches das Spiel des Lebens Hintergrund nicht zu kurz kommen. kennzeichnet. Das Leben Fachliche Bemerkungen zum »Management des Lebens« begleientwickelt sich auch ohne ten Sie deshalb durch den Text. unser Zutun, unaufhaltsam schreitet es voran, ohne dass Diese Fragen sind relevant: wir es zu kontrollieren verWas passiert? – Zur Bedeutung mögen. Folglich geht es häuder Wahrnehmung. fig im Leben um Dreierlei: die Wahrnehmung von Was heißt das? – Signale entEntwicklungen, die Einschlüsseln, Möglichkeiten erkennen. schätzung der Signale und die Möglichkeiten der EinWas tun? – Chancen wahrnehmen flussnahme. und rechtzeitig handeln. So steuert auch die HEIWenn Sie den Roman lieber unbeMEL Vismatik AG, von der helligt von sachlichen Einwürfen nun zu erzählen sein wird, lesen möchten, dann ignorieren Sie durch »natürliche« Gewäsdie Kommentare doch einfach! Die ser. Die Mitarbeiter und Mitarbeiter der HEIMEL Visimatik Manager machen Erfahrunsprechen für sich. gen, indem sie sozusagen auf Das Spiel des Lebens hoher See kreuzen oder im Wildwasser paddeln. Sie lernen dazu, erleiden Rückschläge und sind dann doch erfolgreich. Und so manches kommt anders als geplant, denn auch in der Softwarefirma zeigt sich das Leben in all seinen Facetten. Es folgt einer eigenen Dramaturgie, und 1
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es interessiert sich nicht im geringsten für den Shareholder Value. Entwicklung kann nicht erzwungen werden, persönliche Erfahrung und Beziehungen – ob privater Natur oder unter Kollegen – sind wichtig. Dabei helfen ein wenig Courage und Freiraum, die sich letztlich auch die Helden unserer Geschichte zu nehmen wagen.
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Nach drei Seiten hörte Robert Kurz auf zu lesen. Das war ein Fehler. Womöglich hätte der Text ihnen geholfen, die Firma zu retten oder Robert gar eine Peinlichkeit erspart, doch er sah keinen Was Was heißt Was tun? Zusammenhang. Stattdes- passiert? das? sen musste er seine eigenen Die Situation der HEIMEL Visimatik Erfahrungen machen, wie AG scheint klar zu sein: Die Firmenjeder Mensch. Also schlitterleitung hat die Probleme erkannt te er der Zukunft entgegen, und Maßnahmen eingeleitet. Die die er allseits unter Kontrolweitere Unternehmensentwicklung le wähnte. Robert legte die ist vorgezeichnet, die Ziele werden Stirn in Falten, er war sichtdurch konsequentes Management lich verärgert. Reiner Mossicher bald erreicht. – Wie bitte? ler, den Henning erst vor Sie glauben das nicht? Sie meinen, es könnte auch einiges dazwischen einigen Wochen eingestellt kommen? hatte, wusste anscheinend Also gut. Dann lohnt es sich nicht, worum es ging: Die vielleicht, den Weg der Helden und HEIMEL Visimatik AG der Softwarefirma weiter zu verstand vor wichtigen Bewähfolgen … rungsproben. Die PPS-Software, die seit fast fünfzehn Die Zukunft im Visier Jahren in vielen Fabriken erfolgreich zum Einsatz kam, musste grundlegend überarbeitet werden. PPS stand für »Produktionsplanung und -steuerung«, aber schon dieses Kürzel galt als völlig veraltet. Neuerdings verkaufte man keine PPS-Systeme mehr, sondern SCM-Produkte. Mit Supply Chain Management vernetzte man alle Firmen mit ihren Kunden und Zulieferern, alle kaufmännischen und produktionstechnischen Probleme sollten damit auf einen Streich gelöst werden. Sicher hätte man einwenden können, dass Unternehmen schon von jeher Beziehungen zu Kunden und Lieferanten unterhielten, schließlich lag darin ihre Existenz begrün3
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det. Warum musste man die Firmen nun plötzlich elektronisch auf komplizierte Weise »vernetzen«? Darauf wusste Robert auch keine Antwort. Aber wie auch immer, die Konkurrenz hatte die Zeichen der Zeit erkannt und war bereits auf den »SCM-Zug« Richtung Zukunft aufgesprungen. Höchste Zeit also, dass auch die Heimel AG sich auf den Weg machte. Gegen die großen Mitbewerber wie Macrohard, SAQ und SAH hatte man es sowieso schwer, aber auch kleinere Softwarehersteller wie NAVISON oder PSJ drohten HEIMEL allmählich zu überholen. Doch zum Glück stand an der Spitze des Softwarehauses ein energischer Lenker. Henning Eimel würde die Sache richten, davon war Robert überzeugt. Der Firmengründer hatte bisher alle Probleme gelöst, und das würde auch so bleiben. Angesichts der heiklen Lage hatte Eimel sich für einen Wachstumskurs entschieden und einen genialen Plan ausgeheckt. Man würde ein System entwickeln, das die Probleme aller Firmen, egal welcher Art lösen sollte. Die neue Software war völlig branchenunabhängig konzipiert und würde den Markt revolutionieren. Die HEIMEL AG steuerte also auf eine blühende Zukunft zu, sie würde prachtvoll gedeihen. Deshalb wurden viele Mitarbeiter eingestellt, ein größeres Firmengebäude war in Bau. Die Neuausrichtung war teuer, doch bei den Banken hatte die Firma Kredit. Noch hatte sie einen guten Ruf. Außerdem setzte man auf den Shareholder Value: Schon lange war die HEIMEL AG ein börsennotiertes Unternehmen, der Aktienkurs dümpelte jedoch eher unbeachtet von der Finanzwelt vor sich hin. Doch das sollte sich ändern, Henning Eimel wollte künftig den Erfolg am Unternehmenswert messen. Dem Aktienkurs sollte von nun an erhöhte Aufmerksamkeit zuteil werden. Etwas, das Robert Kunz nur allzu recht sein konnte, denn als Mitbegründer besaß er einen ansehnlichen Firmenanteil. 4,57 Prozent der 3,9 Millionen Aktien gehörten ihm. Daraus ergab sich bei dem gegenwärtigen Stückpreis von 17 Euro – schnell tippte Robert die Zahlen in seinen Taschenrechner – die
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Summe von 3 029 910 Euro. Das waren sogar fünfmillionenneunhundertfünfundzwanzigtausendneunhundertachtundachtzig Deutsche Mark! Der Manager war kein Freund des Euro, noch immer rechnete er alle Beträge gern in die gute alte D-Mark um. Durch die neue Währung wurde – so schien es ihm zumindest – sein Vermögen fast halbiert. Der Ärger verrauchte ein wenig, die Summe war schön anzusehen. Und das war erst der gegenwärtige Preis. Vielleicht würde es ihnen gelingen, den Kurs sogar zu verdoppeln! Leider konnte Kunz diese Multiplikation für seinen Anteil nicht berechnen – jedenfalls nicht in D-Mark, denn der geradezu schwindelerregende Wert sprengte selbst die Rechenkapazitäten des Kalkulators, dessen siebenstellige Digitalanzeige bei solchen Summen den Dienst quittierte: ERROR. Und nun riss dieser neue Kollege Robert Kunz auch noch aus seinen fantastischen numerischen Träumen. In dem Papier mit dem sperrigen Titel »Grundlagen der entwicklungsorientierten Organisation unter Berücksichtigung spezifisch menschlicher Eigenheiten und neuester handlungstheoretischer Erkenntnisse« faselte dieser Mosler etwas von Weltbildern. Widerwillig versuchte Robert noch einmal seine Gedanken auf den Text zu lenken: Angeblich könne man sich die Welt entweder als Mechanismus oder als Organismus vorstellen. In einem Mechanismus, wie zum Beispiel einem Uhrwerk, sind alle Teile und Zusammenhänge bekannt. Man weiß genau, wie die Zahnräder ineinander greifen. Damit sei die Funktionsweise des »Systems Uhr« berechenbar und vorhersehbar. Wenn man eine Uhr aufzieht, könne man sicher sein, dass sie für eine bestimmte Zeit funktionieren würde. Ach was! Irgendjemand hat sie ja entsprechend konstruiert, dachte Robert nicht ohne gewissen Spott. Aber was sollte er mit dieser Binsenweisheit anfangen? Man könne diese mechanistische Perspektive auf alle »Systeme« übertragen, also auch auf die Natur, auf Pflanzen, Tiere, Menschen und Unternehmen, fuhr Mosler in 5
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
seinem Aufsatz ungerührt fort. Diese Denkweise nannte er Weltbild »X«. Im Gegensatz dazu sei es aber auch möglich, sich die Welt als lebendiges, organisches Gebilde vorzustellen, was Mosler als Weltbild »Y« bezeichnete. Demnach wäre es unsinnig anzunehmen, dass das Leben vollständig voraussehbar und beeinflussbar ist. Die Natur, die Pflanzen, Tiere und »sogar« Menschen, führten sozusagen ein Eigenleben. Als Beispiel nannte Mosler das Wetter. Zwei Welten: »X« und »Y« Auch mit den ausgefeiltesten Methoden und den schnellsten Computern sei es oft unmöglich, zutreffende Wettervorhersagen zu berechnen. Schließlich behauptete der neue Mitarbeiter, dass es manchmal besser sei, die Welt aus dem Blickwinkel »Y« zu betrachten. Leider hätten sich die Menschen aber angewöhnt, vor allem in den Vorstellungen von Technik und Mechanik – und damit im Stil »X« – zu leben. Gelangweilt warf Robert das Papier zur Seite. Er wusste nicht, was er mit allgemeinen Weltansichten anfangen sollte. Der Text war ihm zu grundlegend, und er sah keinen Praxisbezug. Wie konnten der Firma solche Thesen helfen, die Märkte zu erobern oder die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen? Auch wenn Robert zugeben musste, dass die Wettervorhersagen tatsächlich des öfteren kläglich ausfielen. Erst in der Vorwoche hatte ein Sturm die große Kastanie im Hof vor seinem Haus gefällt, obwohl die Meteorologen für diesen Tag Sonne pur versprochen hatten. Doch mangelhafte Wetterprognosen waren zwar unerfreulich, aber für Kunz kein ernstes
Vielleicht kennen Sie die Modelle »X« und »Y«, sie gehen auf Douglas McGregor zurück. Weltbilder sind Grundvorstellungen der Wirklichkeit, die unser Handeln beeinflussen. Wir gestalten das Leben zumeist unbewusst mit ihrer Hilfe. Kann es sein, dass wir für den Umgang mit »belebten Systemen« andere Annahmen zugrunde legen sollten, wie für die Handhabung von Technik? Die Frage mag philosophisch klingen. Robert Kunz jedenfalls ärgert sich über Moslers Papier. Behalten auch wir solche Grundsatzfragen zunächst im Hinterkopf.
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Problem. Denn erstens würden die Voraussagen mit der nächsten Computergeneration bestimmt besser werden und zweitens war der Dienstwagen gut versichert – leider hatte er es versäumt, das Auto rechtzeitig in die Garage zu fahren. Die Natur sollte ein Eigenleben führen! Dann kann ich auch gleich an Gespenster glauben, folgerte er. Die Perspektive »Y« war für Robert Kunz Unsinn und Mosler ein schlimmer Theoretiker. Den Text würde er auf keinen Fall zu Ende lesen. Schließlich ging es immer noch darum, die Softwarefirma in die Zukunft zu führen. »Kommst du, Schatz?«, lockte eine Stimme von unten. »Gleich!« Klar, es gab schon Phänomene auf der Welt, die ein Eigenleben zu führen schienen. Ein Beispiel war Sandra. Roberts Frau konnte irgendwie reizvoll und irgendwie lästig sein. Frauen waren für Robert irgendwie undurchschaubar. Nur eines war klar: Sie waren auf starke Männer angewiesen, die ihnen Schutz gewährten, und als Vertreter der Gattung »starker Mann« war der Topmanager gern bereit, seinen Verpflichtungen nachzukommen – meistens jedenfalls, vor allem dann, wenn Sandra nicht gerade unbequem war. Im Moment störte sie ihn nicht. Das sonntägliche Mittagessen kam wie gerufen, um den Groll über Moslers abstruse Theorien zu verdrängen. »Es gibt Rotbarschfilet mit Fenchel und Kartoffeln«, säuselte Sandra, als Robert sich am Esstisch niederließ. »Hoffentlich schmeckt es dir. Es ist ein Rezept aus deinem Kochbuch für Sportler.« »Es wird sicher sehr lecker sein«, gab Robert sich zuversichtlich. »Gehst du denn heute noch zum Training?« »Nein, es wird wohl reichen, wenn ich das Sturmholz beseitige.« Robert musste auf seinen Trainingsplan achten. Regelmäßig ging er ins Fitness-Center, aber Holz hacken schien ihm eine angemessene Ersatzbeschäftigung zu sein. 7
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»Es wäre schön, wenn wir wieder einmal zusammen ausreiten würden«, wünschte sich seine Frau. »Du bist oft unterwegs, und wir sehen uns so selten.« »Es wird sich bestimmt bald eine Gelegenheit ergeben, aber in nächster Zeit geht es auf keinen Fall«, wehrte Robert ab. Sandra war kurz davor, lästig zu werden. Es war erstaunlich, wie abrupt Frauen ihr Wesen ändern konnten. »Ich habe viel zu tun. Du weißt, wir bereiten die Kapitalerhöhung vor. Die Banker rennen uns die Bude ein und wollen alles ganz genau wissen.« »Mein armer Held!« Sandra war einfühlsam, natürlich verstand sie ihren Robert gut. Schweigend verzehrten sie den Fisch, er schmeckte tatsächlich vorzüglich. Das Gemüse harmonierte mit dem aromatischen Fischfilet und irgendwie waren auch Sandra und Robert füreinander bestimmt. Nach dem Essen fuhr sie zur Reithalle, und er machte sich an die Arbeit. Der Baum lag noch quer in der Hofeinfahrt. Mühevoll hatten sie das Auto mit einem Traktor unter dem Stamm hervorgezogen. Nun befand es sich auf dem Schrottplatz – vielleicht schon zu einem handlichen Stahlklotz gepresst –, und der ehemalige Besitzer trauerte der schweren Limousine mit dem 8-ZylinderMotor doch etwas nach. Er holte die Motorsäge aus der Garage. Die MONSTERCUT MC 720 hatte Robert erst kürzlich im Baumarkt erstanden. Es war eine Profi-Säge mit elektronischer Zündung und sechs PS. So wie er es mit dem Euro hielt, so weigerte Robert sich auch, in Kilowatt zu denken. Diese neumodischen Trends! Warum musste sich alles ändern? »Kilowatt« klang nach Staubsauger und Steckdose. Überhaupt: Sechs PS wollte Robert Kunz nicht gegen 4,4 kW eintauschen und damit basta! An eine angemessene Arbeitsausrüstung hatte Robert keinen Gedanken verschwendet, obwohl ihn die Bedienungsanleitung eindringlich auf die Bedeutung von Gesichts- und Gehörschutz, robuster Kleidung und
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Sicherheitsschuhen aufmerksam machen wollte. Doch damit gab er sich nicht ab. Das wäre ja lächerlich, er konnte doch nicht im eigenen Hof wie ein Clown herumspazieren! In einem weiteren Kapitel erklärte das Handbuch die richtige Arbeitstechnik, die Robert allerdings auch nicht interessierte. Speziell der Umgang mit einer derart starken Maschine wie der MC 720 wollte geübt sein. Normalerweise war es ein Werkzeug für Waldarbeiter, die täglich Bäume zu fällen hatten, doch Kunz verspürte keine Lust, sich mit der korrekten Handhabung zu befassen. Er hatte das Gerät genommen, weil es ihm angemessen erschien. Schluss, aus! Kurz taxierte er die Kastanie, die ihre Äste in alle Richtungen von sich streckte. Das Blattwerk war dicht, das Laub wurde aber schon welk. Robert wollte dem Gegner den Rest geben. Zuerst würde er die Äste abtrennen, um dann den Stamm in handliche Teile zu zerlegen. Er packte die MONSTERCUT, die gut in der Hand lag. Spontan dachte er an die Kettensägen-Horrorfilme, die er sich früher so gern angesehen hatte: »Der Ketten-Killer« und »Mord im Morast« zum Beispiel. Inzwischen hatte sein Interesse aber nachgelassen, denn Sandra war nicht sonderlich begeistert von diesem Genre. Robert startete die Maschine. Gleich beim ersten Versuch erwachte der Motor knatternd zum Leben. Robert kannte keine Waffe, mit der man mehr Entsetzen verbreiten konnte als mit einer Motorsäge. Der Killer ergötzte sich an der panischen Angst seines Opfers, während der Motor dumpf im Leerlauf vor sich hin grummelte. Robert wollte zunächst den mächtigsten Ast am unteren Ende des Baumes kappen, danach würde er mit den restlichen Zweigen kurzen Prozess machen. Zweimal ließ er den Motor aufheulen, um sich dann dem Astansatz zu nähern. Der Todgeweihte versuchte zu fliehen, aber in dem Sumpfgebiet hatte er keine Chance. Bei jedem Schritt versank er knietief im Moder, doch auch Roberts Business-Schuhe gaben kaum Halt, so dass er unsicher zwischen den Ästen balancierte. Doch um der9
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leí Nebensächlichkeiten kümmerte er sich nicht weiter. Stattdessen erinnerte er sich der schaurigsten Szenen aus »Mord im Morast« – es war einer der besten Horrorstreifen, die je produziert worden waren. Dann setzte er die Säge an und gab Vollgas. Während das Opfer im Film nur noch ein Stoßgebet stammelte, spürte er plötzlich den Ruck. Die glatten Ledersohlen rutschten ab, Robert verlor das Gleichgewicht und taumelte nach hinten, während ein Arm mit der Gewalt von 4,4 kW durchtrennt wurde. Robert hatte zwar die Sicherheitshinweise ignoriert, doch aus dem Kino wusste er, dass Motorsägen nicht nur als Werkzeug zu gebrauchen waren. Diesmal aber war es anders. Robert war nicht im Kino, selbst die besten Horrorstreifen konnten die Wirklichkeit manchmal nicht annähernd real ausmalen. Das Holz knackte, die Blätter rauschten bedrohlich, dann stürzte sich der stolz gen Himmel weisende Ast mit seinen stachelbewährten Kastanien auf ihn. Robert ließ die Waffe fallen und versuchte den Angriff zu kontern, doch es war zwecklos. Was Was heißt Was tun? Der Gegner war überlegen. passiert? das? Ein mächtiger Arm rang Offenbar geraten Roberts Fantasie den Hobbyholzfäller nieund die Ereignisse durcheinander. der und zwang ihn mit Was hier so spektakulär wirkt, seiner ausladenden Pranpassiert oft im Alltag, ohne dass ke in den Schwitzkasten. wir uns dessen bewusst sind. Die Säge grollte, der Motor Vor allem dann, wenn wir unsere Wahrnehmung vernachlässigen lief noch. Der unterlegene und den Kontakt zur Realität Kämpfer war benommen, verlieren, können Erinnerungen zum Glück schien er sich und Stimmungen die Ereignisse nichts Ernsthaftes zugebeeinflussen. zogen zu haben. Nur: Robert Kunz konnte sich Fantasie oder Wirklichkeit? kaum bewegen. Wie ein Käfer lag er auf dem Rücken, das tote Holz lastete bleiern auf seiner Brust. Er hatte keine Chance, sich zu befreien.
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Ein letztes Mal noch röchelte der Sterbende, dann endlich verbarg der Abspann die barbarische Szenerie. Gerhard Frank war Nachbar der Familie Kunz. Als der Maler an jenem Sonntagnachmittag vor seiner Staffelei stand und durch das geöffnete Fenster die Säge, ein Krachen und den panischen Schrei hörte, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Er ahnte, was passiert war, obwohl er von Horrorstreifen wie »Mord im Morast« bisher höchstens – rein zufällig – die Kinoplakate wahrgenommen hatte. Sofort legte er den Pinsel zur Seite, um dem Opfer zu Hilfe zu eilen. In der Einfahrt hörte er zunächst nur das zufriedene Tuckern der MC 720. Der Verunglückte blieb ihm, durch das Blattwerk geschützt, verborgen. »Herr Kunz?«, rief Gerhard Frank ängstlich. Zwischen den Blättern erschien eine Hand. Wie eine Boje auf wogender See machte sie winkend Meldung. »Hier!« »Du liebe Zeit.« Herr Frank erschrak. »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte er sich, noch bevor ihm bewusst wurde, wie töricht die Frage war. Zu seiner Erleichterung erhielt er jedoch die Bestätigung. »Ja, ich bin okay. Wenn Sie mir nur heraushelfen könnten. Achten Sie aber auf die Säge.« Schnell hatte Frank das Gerät zwischen den Zweigen entdeckt und die Zündung ausgeschaltet. Sofort, wenn auch erkennbar unwillig, erstarb ihr Grollen. Danach stemmte sich der Künstler mit der Schulter gegen den verendeten Ast und zog an dem Arm, der noch immer wankend nach oben wies. Ächzend kroch Robert aus seinem Versteck. Nun glaubte er zu wissen, wie sein Auto sich gefühlt haben musste, bevor sie es unter der Kastanie geborgen hatten. »Sind Sie verletzt?«, fragte der Nachbar besorgt. »Nein, vielen Dank.« Robert entfernte einige Kastanien, die sich mit ihren Stacheln in seiner Kleidung festkrallten. Der Gerettete war an Händen und im Gesicht 11
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zerkratzt, auf der Stirn bildeten sich Bluttropfen. Im Brustkorb, wo ihn der Gegner am Boden umklammert hatte, fühlte er einen dumpfen Schmerz. Der linke Fuß tat weh, dort war die MC 720 nach vollbrachter Tat zu Boden gepoltert. Inständig hoffte er, dass er sich nichts gebrochen hatte. »Danke, Herr Frank«, wiederholte Robert lahm. »Ich bin völlig okay.« Der Vorfall war ihm unangenehm, ausgerechnet Frank musste ihn finden. Robert Kunz hielt nicht viel von Künstlern. Wenn überhaupt, dann war Kunst etwas für Frauen. Aber ein Mann, der zusammen mit Farben und Pinseln in einem Atelier sein Leben fristete, das war ihm nicht geheuer. Der Maler hielt nun ein Papiertaschentuch in Händen und deutete auf die Stirn des unterlegenen Ringers. Noch bevor Robert es verhindern konnte, pflückte ihm der Künstler einen Kastanienstachel aus der Haut, tupfte das Blut ab und reichte ihm das Taschentuch. »Danke«, knurrte er. Es kam nicht oft vor, dass Robert sich in so kurzer Zeit so oft zu bedanken hatte. »Sie haben es gut. Bei Ihrem Job kann Ihnen nichts passieren.« »Das stimmt. So innig hat meine Staffelei mich noch nie umarmt«, lachte Herr Frank. »Ich muss jetzt weiterarbeiten. Der Baum muss heute endlich weg von hier«, erwiderte Kunz kurz angebunden. Er wollte das Gespräch so schnell wie möglich beenden. Als Gerhard Frank außer Sichtweite war, tastete Robert behutsam sein Gesicht ab. Die Schrammen bluteten kaum noch. Ärgerlich griff er erneut zur Säge, nahm die Arbeit aber betont vorsichtig wieder auf. Wären ihm solche Gefühle vertraut gewesen, dann hätte er nun so etwas wie Respekt gegenüber dem Baum empfunden. Den ganzen Nachmittag hatte Robert Kunz mit der Kastanie gekämpft, nun endlich fühlte er sich als Sieger. In handliche Stücke zersägt lagen die Äste auf einem Haufen, den Stamm hatte er zu Holzscheiten verarbeitet. Robert war erschöpft, der Druck auf der Brust war stärker gewor-
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den, und er humpelte, weil der Fuß bei jedem Schritt schmerzte. Doch alles in allem war er zufrieden. Als er die letzten Scheite stapelte, kam Sandra von ihrem Reitausflug zurück. Strahlend lief sie auf ihn zu. »Mein Herkules hat aufgeräumt«, freute sie sich, bevor sie stutzte. »Du siehst aber nicht gut aus. War es anstrengend? Was ist eigentlich mit deiner Stirn passiert?« Zärtlich streichelte sie sein Gesicht. »Nichts Schlimmes, mein Schatz. Es ist alles in Ordnung. Ich werde jetzt duschen.« Insgeheim – auch wenn Robert es sich nicht so recht Was Was heißt Was tun? eingestehen wollte –, so passiert? das? freute Herkules sich doch Robert hat sich dem Kampf mit über Sandras Anteilnahme dem Kastanienbaum gestellt. Zwei und darüber, dass sie wieder Welten scheinen aufeinander zu bei ihm war. prallen, vielleicht die von Mosler »Ja, mach das. Ich werde zitierten Welten »X« und »Y«. inzwischen den Hof fegen.« Wer ist als Sieger aus dieser Sandra war hilfsbereit Schlacht hervorgegangen? Letztlich hat Robert sein Ziel zwar erund fleißig, wie immer. reicht und den Baum zerlegt. Doch Robert fand sie in diesem zu welchem Preis? Es dürfte ihn Moment kein bisschen läseinige Kraft gekostet haben, sich tig, fast war er ein wenig so gegen die Natur zu stemmen. stolz auf seine Frau. Während er ins Haus ging, beDas Leben: ein Kampf? gann Sandra die Arena zu reinigen. Sorgfältig kehrte sie die Späne zusammen. Wenn sie etwas von dem Drama gewusst hätte, das sich kurz zuvor hier zugetragen hatte, dann hätte sie sich bestimmt noch größere Sorgen gemacht. Aber Horrorfilme hatte Sandra noch nie gemocht, außerdem lebte sie zum Glück in ihrer eigenen Welt.
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Die Hose
Schon einge Jahre bevor die HEIMEL AG die Zukunft und Robert Kunz den Kastanienbaum in Angriff nahmen, kam es zu einer Begegnung, die den Verlauf der Ereignisse nachhaltig beeinflussen sollte. Ausgangspunkt war ein typisches Problem, mit dem der künftige Entwicklungschef des Softwarehauses zu kämpfen hatte: Wie gern hätte Holm Kenning sich ein Sweatshirt gekauft! Das war selbst für ihn als Mann und Computerexperten kein Problem. Man nehme: XL. Die Größe passte immer. Doch leider war Holms Schrank schon mit einer beachtlichen Anzahl Sweatshirts der Sorte EXTRA LARGE gefüllt. Er hatte gerade sein Studium abgeschlossen, und jetzt sollte er seinen ersten Job bei der HEIMEL Visimatik AG antreten. Dafür brauchte er etwas Vorzeigbares. Eine ordentliche Hose musste her. Doch es ist schlicht eine Tatsache: Nirgends ist ein Mann so hilflos ausgeliefert wie in der Herrenabteilung eines Kaufhauses. Für Männer ist es generell schwer sich einzukleiden, aber die zähesten Gegner sind Hosen. Nichts lauert apathischer auf dem Bügel als eine Hose im Kaufhaus. Es gibt zig Formen, Farben und Varianten, aber aufgereiht sind alle Hosen gleich gefährlich. Jedes Exemplar wird inmitten der Fronten seiner Artgenossen zum hinterhältigen Textilprodukt. Mann kann nur verlieren, es gibt keine Erfolgschance. Entweder zwickt es bei der Anprobe oder es schlabbert hinten und vorne. Entweder sind die Beine so lang, dass man sich bei jedem Schritt den Saum unter der Sohle einklemmt oder man muss befürchten, den nächsten Hochwasseralarm auszulösen. Es gab also keine andere Möglichkeit, als sich von einer Verkäuferin helfen zu lassen. Im Kaufhaus seiner Wahl wurden offenbar nur Damen in der Herrenabtei15
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lung eingestellt. Das war die nächste Hürde. Wie ließ man sich eigentlich helfen, noch dazu von einer Frau? In der Computerwelt war Holm der Kommandeur. Er war es gewohnt, Legionen von Bits und Bytes zu befehligen. Auf dem Gebiet besaß er die Kontrolle, Computerprogramme waren berechenbar. Sie gehorchten seinen Anordnungen. Zugegeben, manchmal entschied die Software sich anders. Gelegentlich meuterten die Streitkräfte, einige Bits desertierten und brachten den Rechner zum Absturz, aber dann gab es einen Fehler in der Befehlskette – oder Bug, wie die Experten sagen –, den es zu finden und zu beseitigen galt. Die gefürchteten Bugs firmierten auch unter der Bezeichnung »Schwerer Ausnahmefehler«. Allerdings machte Holm Kenning im Drillen von digitalen Truppen niemand etwas vor. Er war ein exzellenter Informatiker, während des Studiums hatte er viele Programme geschrieben und noch mehr Bugs gestellt. Im Umgang mit Frauen war er dagegen weniger erfolgreich. Schon oft war er auf dem Terrain in Fallen – oder Hinterhalte, wie Militärstrategen den gestoppten Vormarsch nennen würden – geraten, aus denen er sich nur mit Mühe wieder hatte befreien können. Oder lagen die Probleme bei den Frauen selbst? Waren sie mit angeborenen Eigenheiten ausgestattet, von denen er nichts ahnte? Sich von einer Frau beim Hosenkauf helfen zu lassen, erschien ihm jedenfalls wie ein Himmelfahrtskommando. Ärgerlich hämmerte Holm mit der Hand auf den Tisch. Ein Blitz zuckte über den Computerschirm, die Bildröhre reagierte sensibel auf emotionale Beben. »Entschuldigung«, murmelte er. »Es geht nicht gegen dich.« Sein Entschluss stand fest, er musste vorstoßen. Nach der Arbeit würde er noch einmal dieses Kaufhaus in der Innenstadt aufsuchen, für eine Verkäuferin hatte er sich immerhin bereits entschieden. Verglichen mit der Auswahl einer Hose war das ein Leichtes. Wenn er sich schon helfen lassen musste, dann wenigstens von einer
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Frau, die ihm gefiel. Holm bevorzugte den »lebendigen«, »humorvollen«, »lieben« Typ, was auch immer mit dieser Charakterisierung gemeint Was Was heißt Was tun? war. Mehrfach hatte er das passiert? das? Terrain sondiert. Dabei hatte Holm Kenning ist Softwarespeziaer mehr auf sie als auf die list und scheint Schwierigkeiten Hosen geachtet. Sie machte im Privatleben zu haben. Vielleicht einen temparamentvollen denken Sie: Ein typischer InformaEindruck, manchmal trug tiker! Am Computer ist der Mann sie ein unergründliches Lägenial, aber im praktischen Leben cheln auf den Lippen, und ein Tölpel. Stellen wir solche Gedanken zunächst zurück und sie schien freundlich zu sein; geben wir Holm eine Chance. das Ziel war identifiziert. Es könnte sich lohnen, ihn ein Einmal hätte sie ihn beinahe Stück durchs Leben zu begleiten, aufgegriffen und verhört: ohne ihn einer bestimmten SchubMit »Kann ich Ihnen behilflade zuzuordnen. lich sein?« – wahrscheinlich Grundsätzlich haben wir die wird keine Taktik in KaufWahl, unsere Mitmenschen diffehäusern häufiger genutzt –, renziert zu betrachten oder mit wäre sein Plan um ein Haar Hilfe vertrauter Schablonen einzuschätzen. Beides hat Vorteile: Das vereitelt worden. Was hätte Denken in Kategorien erleichtert er denn sagen sollen, so das Leben, die Mühe der gänzlich unvorbereitet? Er differenzierten Beurteilung lohnt wollte den Schauplatz doch sich, wenn es um Potenziale und nur ausspähen, und natürEntwicklungsmöglichkeiten geht. lich konnte ihm niemand helfen. Sollte er vielleicht Typ oder Individuum? bekennen, dass er unfähig war sich einzukleiden? Nein, so konnte es nicht funktionieren. Er musste die Kontrolle behalten und die Verkäuferin zuerst ansprechen. Zum Glück hatte er noch eben rechtzeitig hinter einem Regal in Deckung gehen und sich zurückziehen können. An jenem Tag also ergriff Holm Kenning die Initiative. Er sah sie sofort, nachdem die Rolltreppe ihn in den ersten Stock befördert hatte. Sie war in ein Gespräch verwickelt, etwas anderes hatte Holm nicht erwartet. Auch während 17
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seiner Beobachtungen hatte er sie nie untätig erlebt. Entweder kümmerte sie sich um die Kundschaft, oder sie war auf der Jagd nach unschlüssig herumlungernden Männern, um sie mit ihrer Hilfsbereitschaft zu düpieren. Im Moment umgarnte sie einen Herrn mittleren Alters, der von einer Frau begleitet wurde. Gut gelaunt reichte sie ihm eine Hose nach der anderen. Holm hörte ihn sagen: »Jetzt bitte keine mehr, das ist ja unheimlich. Die passen alle!« Der Mann war offensichtlich zufrieden. »Was meinst du, Schatz?«, fragte er seine Frau. Er schien zwar zufrieden, aber auch verunsichert zu sein. Die wie für ihn geschneiderten Hosen verlangten eine Entscheidung. Zum Glück verfügte der Kunde über die finanziellen Mittel, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien: »Meistens tue ich mich schwer beim Hosenkauf, aber Sie haben mich wirklich gut beraten. Ich nehme alle vier.« Holm fühlte sich beinahe erleichtert, er war also nicht allein mit seinem Problem. »Aber bitte gern. Ich begleite Sie zur Kasse.« Die Verkäuferin zupfte ihren Pulli zurecht. Holm beobachtete das nicht zum ersten Mal an ihr: Wie beiläufig strich sie mit ihrer rechten Hand am Oberschenkel entlang, fasste den Pulli seitlich in Taillenhöhe und zog ihn ein wenig nach unten. Dabei spannte sich der Stoff und betonte die Wölbungen. Abgesehen davon schien der Handgriff keinen Zweck zu haben, denn der Pulli hüpfte anschließend befreit in seine Ausgangsposition zurück. Aber Holm beeindruckte nicht nur diese Fingerfertigkeit. Die Beraterin hatte aus all den gleichartigen Hosenreihen auf Anhieb vier passende Exemplare herausgesucht. Das war unglaublich, aber so leicht würde sie es mit ihm nicht haben! Holm Kenning war überzeugt, dass er von allen Männern der schwierigste Hosenkunde war. Nun musste er los, sie kam zurück. Sie lächelte, er hielt auf sie zu. Holm wähnte sich im Vorteil: »Wenn mir jemand helfen kann, dann Sie!« Sie hatte keine Chance, seine
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Zuversicht mit dem unsäglichen Angebot »Kann ich Ihnen behilflich sein?« zu torpedieren. Aber das hatte sie auch gar nicht nötig: »Ja?« Selbst beim besten Willen konnte Holm ihr in diesem Moment keine Hinterhältigkeit unterstellen. »Ich vermute, Sie möchten eine Hose.« »Das stimmt. Das ist das erste Problem. Wissen Sie, ich habe ungewöhnliche Beine. Ich finde nur selten etwas Passendes. Sie sind meine letzte Hoffnung, eine Hose würde auch genügen. Es müssen nicht gleich vier sein.« Es war erstaunlich, wie klar Holm seinen Wunsch nach Unterstützung plötzlich ausdrücken konnte. Es kam eben doch darauf an, sich überlegen zu fühlen. »Ja, Sie sind außergewöhnlich.« Ohne sich anmerken zu lassen, ob sie von Holm oder den Beinen sprach, musterte sie ihn. »Schlanke Beine, kein Bauch. Eine seltene Spezies. Das kommt davon: zu viel Sport, zu wenig Bier.« Die Verkäuferin wirkte amüsiert. »Ich kann nichts versprechen. Zur Not müssen Sie sich in der Sportabteilung eine Jogginghose besorgen.« »O, bitte nein. Nur das nicht. Ich hatte sowieso vor, mit dem Sport aufzuhören«, flunkerte Holm. Auch er hatte nun seinen Spaß. »Gut, vielleicht haben wir ja Glück. An welche Art Hose haben Sie denn gedacht?« Die Frage hatte Holm befürchtet. Er hatte gehofft, sie vermeiden zu können, aber immerhin traf sie ihn nicht unvorbereitet. »Ja, vielleicht ein dunkler Ton? Keine Jeans. Vielleicht könnten Sie mir etwas zeigen?« »Eine dunkle Hose. Hm, mal sehen. Da haben wir Braun, Grau, Oliv, Anthrazit, Schlamm, Dunkelblau und Schwarz. Probieren Sie doch diese hier.« Sie reichte ihm ein dunkelgraues Exemplar. Holm zog sich in eine der Kabinen zurück und untersuchte das Kleidungsstück. Die Hose war elegant, der Stoff fühlte sich weich und wollig an. Noch nie hatte er ein so feines Teil besessen. Er hatte zwar keine Ahnung, aber seiner Meinung nach saß die Hose perfekt. Sie war 19
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nicht zu eng an den Beinen, und obendrein gefiel ihm der Schnitt. Versonnen betrachtete er sich minutenlang im Spiegel. »Kommen Sie zurecht, oder soll ich Ihnen eine andere Farbe bringen?« Die Verkäuferin riss Holm aus den Gedanken. »Entschuldigung.« Holm öffnete den Vorhang. »Woher wissen Sie, dass die Größe stimmt?« Die Antwort war ein Lächeln. »Also, wenn Sie mich für jede Frage mit diesem Lächeln beglücken, dann Was Was heißt Was tun? möchte ich noch viel von passiert? das? Ihnen erfahren.« Holm zöDie Verkäuferin und Holm flirten gerte einen Moment, dann miteinander. Vielleicht entwickelt probierte er es gleich noch sich etwas aus dieser Begegnung, einmal: »Finden Sie denn vielleicht auch nicht. Die Szene ist die Länge in Ordnung?« jedenfalls interessant, weil sie der Anfang einer Beziehung sein »Ja, besser kann das bei könnte. Und Beziehungen – ob Ihren ungewöhnlichen Beizwischen Arbeitskollegen, Freunnen auch der beste Schneiden, Chefs und Mitarbeitern – der der Welt nicht machen«, haben viel mit persönlicher Entantwortete sie ernst. wicklung zu tun. »Und Sie meinen, oben herum wäre auch alles Beziehungen okay?« Holm wollte das Lächeln wiedersehen, aber offensichtlich war es nicht immer mit einer Frage hervorzulocken. Auch diesmal hatte er Pech. »Tja, es kommt darauf an, wie viel Bauch in Zukunft noch Platz haben soll. Sie wollten ja ab jetzt keinen Sport mehr treiben.« Sie umkreiste ihn und gab sich noch eine Spur sachlicher. »Hinten ist aber alles prima – knackig und rund.« »Ich denke, ich werde wohl doch keine weiteren Fragen mehr stellen«, empörte Holm sich nun schmunzelnd. Sie lächelte und zupfte in dieser zauberhaften Art an ihrem Pulli. Das war nicht zu überbieten. Wenn Holm
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schon dieses Lächeln allein gehörig aus der Fassung brachte, so raubte es ihm zusammen mit dieser Geste der Zufriedenheit gänzlich die Sinne. »Aber nicht doch, ich bitte Sie. Fragen Sie ruhig, dafür bin ich ja da. Die Hose gefällt Ihnen also?«, meinte sie freundlich. Das war zweifellos der Fall. Holm war äußerst zufrieden. Er ging zurück in die Kabine, um sich wieder seine Jeans überzustreifen. Gut, sie hatte noch einmal gelächelt, aber zuletzt hatte er keine Frage gestellt. Frauen waren tatsächlich komplizierte Wesen, die er nicht verstehen konnte, das zeigte sich immer wieder. »Sie sprachen vorhin von Ihrem ersten Problem«, erinnerte die Verkäuferin den Computerexperten an seine einleitende Äußerung, während sie ihn zur Kasse lotste. »Das wäre damit ja gelöst. Kann ich Ihnen außerdem noch behilfich sein?« Holm blieb stehen. Sein Plan schien aufzugehen, aber nun fing sein Herz doch an Was Was heißt Was tun? zu stolpern. Eigentlich hatte passiert? das? ihn nämlich, mehr noch als Begegnungen sind oft vieldeutig. die Hose, vor allem eine FraWas tatsächlich passiert, kann nur ge in das Kaufhaus gelockt: erschlossen werden. Vordergrün»Es würde mich interessiedig geht es Holm um den Kauf einer ren, wo ich Sie außerhalb Hose, doch den Beteiligten scheint dieses Kaufhauses noch anklar zu sein, dass sich auf einer zweiten Ebene eine andere Handtreffen könnte?« lung abspielt. Aber über diesen Zu seiner Überraschung Hintergrund wird nicht gesprochen. erhielt Holm eine schnörWas am Freitag um 21 Uhr kellose Antwort: »Nichts wohl passieren wird? leichter als das. Ich schreibe Ihnen eine Adresse auf.« Sie Begegnungen deuten notierte etwas auf einem Zettel. »Kommen Sie doch am Freitag um 21 Uhr, ich würde mich freuen. Und viel Spaß mit der Hose!« Mit einem letzten Lächeln ließ sie den perplexen Kunden allein. 21
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»Zahlen Sie Bar oder mit Karte?«, hörte der Kunde jemanden fragen. Er konnte es schier nicht glauben, so einfach war das: Man spähte ein Kaufhaus aus, wählte die richtige Strategie, rückte entschlossen vor und eroberte die Hose im Sturm und ein Herz obendrein. Mit verträumtem Blick zahlte Holm in Bar.
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2020
Blues
Auf dem kleinen Zettel stand stand: Dani Waldstr. 98 Freitag, 21.00 Dani hieß sie also. Das steht vermutlich für Daniela, dachte Holm. Er freute sich, dass seine Strategie zum gewünschten Ergebnis geführt hatte. Wie eine Trophäe bewahrte er den Zettel auf. Kaum größer als eine Zigarettenschachtel, verankerte Holm ihn mit vier Reißnägeln in der Mitte seiner Pinwand. Die Zeit bis Freitag erschien ihm wie eine Ewigkeit. Er konnte es kaum erwarten, so gern wollte er sich wieder an ihrem Lächeln versuchen und sie für ihren Pullovertrick bewundern, obgleich Dani nicht die erste Frau war, die Holm bis dahin angehimmelt hatte. Er war überzeugt davon, dass er mit seinen vierundzwanzig Jahren schon einige Erfahrungen gesammelt hatte. Manchmal fiel es Holm leicht, Frauen anzusprechen. Er führte das auf die gute Vorbereitung und Planung der Begegnungen zurück. Perfekte Rendezvous glichen sauber kodierten Computerprogrammen: Sie liefen problemlos ab – ohne von Bugs gestört zu werden – und generierten ein exakt definiertes Ergebnis, das meistens in der Vereinbarung einer Fortsetzung bestand. Hin und wieder hatte Holm natürlich auch Pleiten erlebt. Dann hatte es ihn gebeutelt wie einen Computer bei einem Systemabsturz, etwa einer Division durch Null. Das war der größte Schrecken aller Programmierer, ausgelöst durch einen gefährlichen Bug. Das Elektronengehirn erleidet einen Schock, die Bits fliehen kopflos und verlieren jede Bedeutung. Das Ergebnis einer Division durch Null würde einer unendlichen Zahl entsprechen, und einen solchen Wert kann sich kein Computer der Welt vorstellen. 23
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Vor etwa einem Jahr hatte Holm sich in Astrid verliebt. Sie hatten eine kurze gemeinsame Zeit erlebt, doch eines Tages hatte sich seine Freundin merkwürdig benommen. Sie verabredeten sich nicht mehr, sie rief ihn nicht mehr an und war plötzlich unerreichbar. Noch immer rätselte Holm, was passiert war und warum sie ihn nicht mehr hatte sehen wollen. Es war ihm wie einem Computer bei einem Systemzusammenbruch ergangen, Astrids Verhalten war »unvorstellbar«. Irgendein Unterprogramm produzierte einen Fehler: Division durch Null. Verwirrung, Panik, Trauer folgten. Holm Kenning hatte viel Zeit benötigt, um alle Systeme neu zu starten. Nach diesem Desaster hatte er beschlossen, dass ihm derartiger Kummer nicht wieder zustoßen sollte. Deshalb machte er sich ausführliche Gedanken über das Treffen mit Dani am Freitag. Er hatte sich sogar noch ein Hemd und gute Schuhe zugelegt. Wenn Shopping nur nicht so schwierig wäre! Drei Stunden hatte er benötigt, um das Hemd auszusuchen, und anschließend hatte er sich durch sieben Schuhgeschäfte quälen müssen. Fünfmal war er mit der Drohung »Kann ich Ihnen behilflich sein?« gestellt worden. Nein, zum Teufel, niemand konnte ihm helfen! Endlich war es Freitagabend. Ein letztes Mal prüfte Holm die Checkliste: Er war gut gekleidet, rasiert, die Koteletten scharf konturiert. Die Rose lag sorgfältig in Papier gewickelt bereit; er hatte sich für eine gelbe »Graham Thomas« entschieden – selbstverständlich aus eigener Zucht auf seinem Balkon, denn Rosen waren Holms großes Hobby. Lange hatte er überlegt, ob er eine englische Rose oder eine »Focus« nehmen sollte. Schließlich fand er das Lachsorange der »Focus« doch eher unpassend. Die »Graham Thomas« verströmte einen süßen Duft und beeindruckte mit ihrer voluminösen Blüte. Vielleicht würde Dani für ihn kochen. Wenn nicht, dann würden sie ins Café LOGO fahren und plaudern. Gern würde er mit ihr auch ins Kino gehen, sein Lieblingsfilm
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Was passiert?
war »Men in Black«. Aber Kino kam nur in Frage, wenn sie bis zur Spätvorstellung in der Stadt sein konnten. Schließlich würde er Dani wieder nach Hause bringen und fragen, ob sie Lust hätte, sich am Wochenende erneut mit ihm zu treffen. Dann kam das abschließende Kompliment: »Du bist wirklich ein Schatz, der Abend hätte nicht schöner sein können!« Mehrfach memorierte er den Spruch, bis er ihn auswendig und ohne zu stottern aufsagen konnte. Das war der Plan. Holm fühlte sich bestens vorbereitet.
Was heißt das?
Was tun?
Holm geht bei der Vorbereitung des Rendezvous wie bei der Programmierung eines Computers vor: Er plant den Ablauf und berücksichtigt die verschiedenen Möglichkeiten. Ein gutes Programm ist auf alle Eventualitäten vorbereitet. Der Ablaufplan kann kompliziert sein, aber immerhin dient Software nur jeweils einem Zweck. Damit reduziert sich der Aufwand erheblich. Doch wie kreativ kann das Leben sein! Sicher haben Sie schon Tage erlebt, an denen nichts lief wie geplant. Kein Computer der Welt würde mit dem Leben zurecht kommen. Holm glaubt sich allerdings gut gerüstet. Doch vielleicht beschleicht auch Sie so ein Gefühl, denn wer hat eigentlich von einem Rendezvous gesprochen? Mach nur einen Plan …
Punkt zwanzig vierzig – die Digitaluhr zeigte es präzise an – machte er sich auf den Weg. Die Waldstraße lag am Stadtrand. Es war dunkel, und Holm hatte Mühe, die Hausnummern zu erkennen. In der Nähe von Nummer 90 parkte er, in dem Bereich standen auffällig viele Autos am Straßenrand. Es war wohl besser, die Suche zu Fuß fortzusetzen. Er erblickte eine Einfahrt, die in einen Hof mündete. Dort standen weitere Fahrzeuge. Die Gebäude wirkten ziemlich heruntergekommen, eines davon musste Nummer 98 sein. Was für eine merkwürdige Wohngegend, dachte Holm. Die Umgebung passte nicht zu dem Bild des netten Mädchens, das er sich im Kopf zurechtgebastelt hatte. Eine Leuchtschrift am gegenüberliegenden Gebäude wies aber auf die Lösung des Rätsels. »MOVE 98 – Music and More« stand dort in großen Lettern, und neben 25
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der Tür hing ein Plakat: »Blues und Jazz-Nacht mit DIFFUSION, Freitag 22. Oktober, 21 Uhr. Eintritt 11 Euro«. Sie hatte ihn zu einem Konzert eingeladen! Das war eine Überraschung, seinen Plan konnte er nun vergessen. Gut, dann würde er sich eben Live-Musik anhören. Der Saal glich einer Räuberhöhle: gemütlich und größer, als man von außen vermuten würde. Es gab eine Bar, und auf einem Podest standen die Instrumente bereit. Die Decke wurde von filigranen Säulen getragen, der Raum wirkte merkwürdig hohl – etwa so, wie Holms Magen sich anfühlte. Die angenehme Stimmung verflog rasch, etwas fehlte Holm noch zum vollendeten Glück. Lederjacken und Jeans dominierten das Bild. Für diesen Anlass war Holm zu gut gekleidet. Aber woher hätte er das auch wissen sollen? Ein Rockkonzert war in seinem Plan nicht vorgesehen gewesen. Wie sollte er hier nur seine Dani finden? Dieses Problem war allemal gravierender als die Frage nach dem angemessenen Outfit. Holm drängte durch die Menge der Konzertbesucher, peinlich bedacht, die zarte Rose mit beiden Händen schützend an seinen Körper zu drücken. Er beschloss, zuerst einmal ein Bier zu trinken, und hatte Glück, an der Bar einen freien Hocker zu ergattern. Außerdem bescherte ihm der Platz eine gute Übersicht, aber Dani konnte er trotzdem nicht erspähen. Als er sein Glas zum Mund hob, sagte jemand: »Prost, spüls ’runter!« Neben ihm saß ein Kerl mit längeren Haaren, der ihm ein Pils entgegenhielt. Holm stieß mit ihm an und fragte irritiert: »Was? Was soll ich ’runterspülen?« »Deinen Frust natürlich. Wenn du nicht versetzt worden bist, dann sind alle Frauen Engel, und das kann wirklich nicht sein.« Nacheinander deutete der Typ auf Schuhe, Hose, Hemd und die papierne Hülle, die die Rose nicht ganz zu verbergen vermochte. »Ich bin nicht versetzt worden. Ich kann sie bloß nicht entdecken hier in dem Gewühl«, widersprach Holm. Er klang überzeugt, hätte aber nicht sagen kön-
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nen, woher er die Zuversicht nahm. Etwas gab ihm die Sicherheit, dass er Dani noch treffen sollte. »Ich bin Holm«, stellte er sich vor. »Thomas.« Noch einmal prosteten sie sich zu. »Kennst du die Band, die hier spielt?«, fragte Holm. »DIFFUSION? Machen einen prima Blues und haben eine tolle Sängerin.« Das klang viel versprechend, Holm hörte gern Blues. Es versetzte ihn aber immer wieder in Erstaunen, wie gute Musiker zu improvisieren verstanden. Beim Improvisieren spielte man einfach drauflos, scheinbar ohne Konzept und ohne sich abzustimmen. Trotzdem entstand tolle Musik dabei, meistens jedenfalls. Dann »groovte« es, man spürte es im Bauch. Das Gefühl hatte freilich nichts mit dem unangenehmen Druck zu tun, der in dem Moment auf Holms Magen lastete. Inzwischen war es halb zehn, und die Band ließ sich noch immer nicht blicken. Die Bühne war nach wie vor verwaist, nur die roten Lämpchen der Verstärker glimmten im Dunkel und kündigWas Was heißt Was tun? ten an, dass bald etwas ge- passiert? das? schehen würde. Aber was? Vielleicht fragen Sie sich, warum wir Wo steckte sie nur? Langsam uns so eingehend mit dem Privatverließ Holm der Optileben des Softwarespezialisten bemismus. Er wusste nicht, in schäftigen. Es geht in diesem Buch welches Programm er verdoch um die Entwicklung eines Unternehmens, oder nicht? Sicher, zweigen sollte und befürchaber mit der Firma verändern sich tete einen Absturz. Dann auch die Mitarbeiter. Und wir haben würde er sich zusammen mit es mit bestimmten Menschen zu Thomas betrinken, abwechtun, mit jeweils eigenen Anlagen selnd würden sie die »Graund Stärken. Es hätte wenig Sinn, ham Thomas« entblättern: etwa einen »typischen« Informatiker »Ssssiliebdichch … !« Er vorzustellen. Machen wir uns also stellte sich Thomas’ lallende die Mühe, diesen Informatiker Holm Stimme vor. Kenning kennen zu lernen. »Silmichnichch …«, würVielfalt verstehen de er antworten. Auf einer 27
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imaginären Leinwand tauchten leuchtend gelbe Schiffchen traurig in die Tiefe. Das Konzert begann zum Glück, bevor er sich noch länger seinen Fantasien hingeben konnte. Die Musiker besetzten die Bühne, ein Schlagzeuger, ein Bassist, ein Keyboarder, ein Saxophonist und ein Gitarrist. Es waren nur Männer, die Sängerin fehlte. Wo steckte Dani bloß? Vorsichtshalber bestellte Holm ein weiteres Bier. Vielleicht hatte sie ihn doch versetzt, er war bereit, den aufkommenden Kummer zu ertränken. DIFFUSION begann mit einem Instrumentaltitel, der die Zuhörer in Stimmung brachte. Die Fans belohnten die Musiker mit überschwänglichem Applaus. Dann mischte sich der Beifall mit ungeduldigen Rufen, und schließlich forderten die Stimmen im Rhythmus der ausklingenden Musik: »Dani! … Dani! … Dani! …« Während der Gitarrist mit einem Solo das zweite Stück anspielte, erschien sie auf der Bühne. Ruhig begann sie zu singen, wie vom Donner gerührt krallte Holm sich an seinem Hocker fest. »Das ist sie«, murmelte er. »Was hast du gesagt?«, fragte Thomas. Es war zu laut, man konnte sich kaum verstehen. »Das ist sie!«, schrie er Thomas ins Ohr. Er konnte es kaum glauben, mit offenem Mund starrte er Richtung Bühne: Sie hatte sich verändert, Holm hätte sie beinahe nicht wiedererkannt. Im Kaufhaus war sie relativ »konservativ« gekleidet gewesen. Nun trug sie eine leichte Kombination, bestehend aus weißem Top und enger Hose – kein Zweifel, sie war außergewöhnlich. Zum ersten Mal studierte er ihr Gesicht genau. Es war nicht unbedingt »hübsch«, aber auch nicht »unansehnlich«. Holm fand es »interessant«, über eine andere Bezeichnung verfügte er nicht. Die kinnlangen braunen Haare umschmeichelten ihre Wangen, während der Text sich in ihrer Miene spiegelte. Sie sang ihre Lieder nicht einfach, sie lebte die Musik. Souverän führte sie die Band
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vom Blues über Funkeinlagen zum Soul und zurück, manchmal erkannte Holm auch Rockakzente. Er war fasziniert, das war »seine« Dani, das Publikum bewunderte sie und jubelte ihr zu. Als die Band eine Pause einlegte, spürte er einen Stoß in der Seite. »Du bekommst einen steifen Hals, wenn du nur noch geradeaus schaust«, warnte ihn Thomas. »Außerdem wird dein Bier schal.« Holm musste lachen, erneut prosteten sie sich zu. »Woher kennst du sie?«, wollte Thomas wissen. »Sie hat mir eine Hose verkauft.« »Ach ja?« Thomas grinste verschmitzt. »Beim Bäcker wärst du billiger zu einer Verabredung gekommen.« »Ich meine es ernst. Ich finde, sie ist mindestens eine Hose wert.« Thomas pfiff durch die Zähne. »Anscheinend hat sie dir ziemlich den Kopf verdreht. Weißt du schon, wie es weitergeht? Ich schätze, du hast einige Mitbewerber.« Auch Holm war die Horde der versammelten Fans nicht geheuer. »Denen werde ich keine Chance lassen«, antwortete er dennoch, um seinen großspurigen Ton sogleich zu bereuen. Er hatte nicht die leiseste Idee, wie er an Dani herankommen sollte. Thomas hielt ihm wieder das Glas entgegen. Offensichtlich war das Zuprosten unter Kumpeln ein wichtiges männliches Ritual. Holm tat es gut, er war froh, jetzt nicht allein zu sein mit seiner Aufgabe. »Auf gutes Gelingen!« Die zweite Konzerthälfte konnte Holm nicht genießen. Nervös rutschte er auf seinem Hocker herum. Wo konnte er sie nach dem Konzert ansprechen? Was sollte er sagen? Wie würde sie reagieren? Die Band spielte zum Abschluss drei Zugaben, die Menge toste. Das letzte Stück war eine Ballade, und die Stimmung wurde ruhiger. Es wurden Feuerzeuge und Wunderkerzen angezündet, Danis Stimme klang nun sanft. Einen Moment lang war Holm so, als würde sie ihn anschauen. Er sah dieses Lächeln in ihrem Gesicht, aber es war unwahr29
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scheinlich, dass sie ihn auf die Entfernung erkennen konnte. Dann war das Konzert beendet, die Musiker verneigten sich, und Dani winkte ein letztes Mal ins Publikum. Holm war immer noch ratlos, doch Thomas wusste weiter. »Wenn du links um das Haus herumläufst, kommst du zum Bühneneingang. Dort könntest du sie erwischen.« Das schien ein guter Plan zu sein. Holm fand es schade, dass er Thomas wohl nicht wiedersehen würde. Oder vielleicht doch? Kurz entschlossen sagte er: »Du scheinst dich ja in der Musikszene ganz gut auszukennen. Wenn du mal wieder von einem guten Konzert hörst, könntest du mir Bescheid geben.« Thomas nickte, und Holm kritzelte seine Telefonnummer auf einen Bierdeckel. Natürlich verabschiedete er sich mit »Prost!« von seinem neuen Freund und verließ den Saal, nicht ohne an seine Rose zu denken. Kurz darauf umrundete Holm das Gebäude, bis er eine Tür erreichte. Das musste der Bühneneingang sein. Ein Bewegungsmelder ließ einen Scheinwerfer aufblitzen, plötzlich war es taghell. Holm sah einige Kombis, wahrscheinlich gehörten sie den Musikern. Unschlüssig blickte er zur Tür, zum Glück ließ sich von den anderen Fans hier niemand blicken. Nur entfernt hörte er Stimmen und die startenden Autos der Gäste, die sich auf den Heimweg machten. Das war gerade seine Chance, er musste sie nutzen! Endlich öffnete sich die Tür. Drei Männer kamen heraus und schleppten Verstärker, Instrumentenkoffer und Trommeln zu den Autos. Einer der Männer war der Schlagzeuger, die anderen kannte Holm nicht, wahrscheinlich waren es Helfer des Clubs. Es folgten weitere Schwertransporte, und die Autos federten unter der Last tief ein. Auch der Druck auf Holms Magen, der zwischenzeitlich nachgelassen hatte, nahm wieder zu. Schließlich hörte er doch die vertraute Stimme, und Dani
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erschien leibhaftig im Eingang. Sie erkannte Holm nicht sofort, doch dann lächelte sie: »Hübsche Schuhe hast du an. Sind die selbst ausgesucht?« Alles hätte sie sagen dürfen, nur das nicht. Es war schlimm genug, dass Holm immer noch nicht wusste, was er hier eigentlich machen sollte, doch mit dieser Anspielung auf seine Schwächen brachte sie ihn vollends aus dem Konzept. Verlegen kratzte er sich am Kopf. Er wollte ihr ein Kompliment machen, ihr sagen, dass ihm die Musik gefallen hatte, doch er war blockiert. Holm hatte den Eindruck, dass Minuten verstrichen, in denen ihr Lächeln ihn bestrahlte, ihn regelrecht paralysierte. Krampfhaft überlegte er, was er sagen konnte, sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, wie ein Motor im Leerlauf bei Vollgas. Endlich legte er einen Gang ein, mit Gewalt, ohne zu kuppeln. Ein Satz drängelte sich vor, wollte unbedingt gesagt werden und musste gesagt werden, weil es keine Alternative gab. Das Betriebssystem kapitulierte und überließ die Kontrolle irgendeinem Subsystem. »Du bist wirklich ein Schatz. Der Abend hätte nicht schöner sein können!«, stotterte der Mund, während der Arm Dani die Rose entgegenhielt. »Graham Thomas, für dich.« Einen Moment lang war es still wie im Vakuum des Weltalls bei Nacht, ihr Lächeln wie festgefroren. Holm und Dani standen sich einfach gegenüber, die Zeit schien abgelaufen zu sein, endgültig – dann begann sie schallend zu lachen. Die Musiker, die mit dem Verladen der letzten Gerätschaften beschäftigt waren, hielten inne und gafften Holm an, der wie ein Android mit Kurzschluss und ausgestrecktem Arm vor Dani stand. Sofort begriff er, dass etwas schief lief. Irgendetwas lief sogar entsetzlich schief. Er verwünschte sich und Dani und alle Frauen und hätte sich am liebsten weggebeamt. Doch Dani nahm keine Rücksicht und hielt sich den Bauch, sie bebte herzhaft, ihr Lachanfall wollte nicht enden. Hätte er sich doch in Luft auflösen oder im Boden versinken können! Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen entschloss sich das autonome 31
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Nervensystem, Holms Gesicht rot anlaufen zu lassen und den Puls zu beschleunigen. Damit war ihm natürlich nicht geholfen. »Das ist ja süß von dir, Graham Thomas. Darf ich sie gleich auspacken, oder muss ich sie so mit nach Hause nehmen?«, fragte Dani, nachdem sie sich beruhigt und eine vergnügte Träne aus dem Augenwinkel gewischt hatte. Nein, nicht das noch! Er hatte vergessen, die Rose vom Papier zu befreien. Er Was Was heißt Was tun? war ein dämlicher Android passiert? das? mit Kurzschluss und ausDer Abend entwickelt sich zum gestrecktem Arm. Aber Reinfall. Holm hat sich zu sehr auf jetzt musste der Tiefpunkt seinen Plan verlassen, doch das erreicht sein, schlimmer »Programm« funktionierte nicht, weil konnte es nicht werden. Er es von falschen Voraussetzungen riss hastig das Papier in ausging. Fetzen und reichte ihr die Offenbar ist Planung im Leben Blume. doch nicht alles, manchmal entwickeln sich die Dinge ganz unabhän»Wie schön, eine gelbe gig von unseren Vorstellungen. Dann Rose. Das ist meine Liebist Flexibilität gefragt, womit wir lingsfarbe.« Dani schnupwieder beim Thema Wahrnehmung perte an der Blüte und wären, denn Flexibilität setzt den strahlte mit ihr um die angemessenen Kontakt mit der SituWette. »Und dieser Duft!« ation voraus. Doch Holm ist überlasIhre Stimme baute tet. Er befasst sich mit Problemen, Holm etwas auf; dann erdie nicht existieren. Wäre er in der schien der Bassist mit einem Lage gewesen, die Situation zu erfassen, hätte er besser reagieren Wäschekorb in der Tür. können. Andererseits hätte Dani sich »Das ist die letzte Ladung. dann nicht so königlich amüsiert … Wir können losfahren.« Holm lief es kalt über Keine Flexibilität ohne den Rücken, er sackte noch Wahrnehmung ein Stück tiefer durch. Der Korb war randvoll mit Karten, Stofftieren, Blumen und anderem Kram – die Rosen fielen ihm besonders auf. Die Fans hatten ihre Anerkennung für das Konzert großzügig in floraler und schriftlicher Form zum Ausdruck ge-
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bracht. Holm war einer von vielen, von Hunderten, die Dani anhimmelten. Und er hatte sich eingebildet, besonders schlau zu sein, indem er sie persönlich am Bühneneingang abfing. Dabei war er nur ein dämlicher Android mit Kurzschluss und immer noch vorgerecktem Arm. Sie lachte ihn an. »Hoffentlich sehen wir uns bald wieder!«, erklärte sie, setzte sich in eines der wartenden Autos und verschwand. Holm blickte dem Kombi lange nach. Bis auf einen lächerlichen Satz hatte er kein Wort herausbekommen. Wie hatte sie sich verabschiedet? Hoffentlich sehen wir uns bald wieder? Das war undenkbar. Nie wieder würde Holm es wagen, Danis Blickfeld zu streifen. Als die verkrampften Muskeln schon zu schmerzen begannen, ließ der Android endlich den Arm sinken. Wie in Trance fuhr Holm nach Hause, legte sich ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf.
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Wake up!
Holm erwachte am Samstag erst gegen Mittag. Er fühlte sich wie ein abserviertes Abendgedeck. Das Menü hatte man kaum angerührt, die schmutzigen Teller über Nacht im Geschirrspüler vergessen. Ohne die Augen zu öffnen, quälte er sich aus dem Bett und zog sich die Schuhe aus. Es war eine alte Angewohnheit. Nicht, dass er mit Schuhen schlief, das war ungewöhnlich. Holms Marotte war, dass er morgens stets einige Zeit brauchte, bis er die Augen öffnen konnte. Er hatte keine Ahnung, woran das lag. Die Lider gehorchten ihm direkt nach dem Aufwachen noch nicht, da konnte er sich anstrengen, so viel er wollte. Inzwischen hatte er sich aber mit dem Phänomen arrangiert; den Weg vom Bett bis ins Badezimmer fand er blind. Was war passiert? Man hatte ihn abserviert. Leider kam Holm nicht an der Tatsache vorbei, dass er sein peinliches Erlebnis mit Dani nicht geträumt hatte. Er wollte nicht daran denken, aber er fühlte sich klebrig und wie achtlos weggestellt. Immer noch ohne Sichtkontakt mit der Realität – vielleicht sogar ohne jegliche Fühlung mit der Wirklichkeit – tastete er sich voran. Dumpf prallte der Schädel gegen einen Türrahmen. Offenbar hatte Holm sich die Gefahrenpunkte seiner Wohnung doch noch nicht gut genug eingeprägt. Die Hand fand den Lichtschalter immerhin problemlos. Sie knipste die Beleuchtung an, aber nichts geschah. Dann öffneten sich endlich die Lider. Von der Lampe geblendet, schützte Holm die Netzhaut sogleich wieder mit dem Arm und stöhnte. Kopfweh hatte er außerdem. Diese hinterhältige Sängerin hatte ihn ganz schön reinrasseln lassen! Ach nein, die Kopfschmerzen rührten vom Stoß gegen die Tür. Holm ermahnte sich, fair zu bleiben und nicht alle Schuld der Welt den Frauen zu geben – auch wenn ihm das in dem Moment schwer fiel. Er stellte sich unter die Dusche und drehte den Hahn auf rot. Der Vorwaschgang tat seinem Kopf gut, das
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warme Wasser entspannte Holm leidlich. Nacheinander zog er auch Socken, Hose und Hemd aus. Er musste die gute Hose sorgsam behandeln, vielleicht war sie empfindlich und durfte nur mit kaltem Wasser gewaschen werden. Bei Gelegenheit würde er Dani nach Pflegehinweisen fragen. Halt! Dani? Er verwarf die absurde Idee und schleuderte die triefende Kleidung in den Wäschekorb. Nachdem er den Armaturenhebel etwa ein Dutzend Mal von rot nach blau und zurück geschwenkt hatte, fühlte er sich etwas besser. Beim Rasieren begrüßte er sich im Spiegel: Hallo Schatz, hast du gestern auch einen tollen Abend gehabt? Er hätte nicht schöner sein können, schien sein Gegenüber zu antworten. Das gequälte Grinsen war kaum zu erkennen. Nach der etwas fahrigen Rasur zog Holm sich an und trabte zum Bäcker, um sich ein Frühstück zu holen. Er kam gerade noch rechtzeitig, kurz vor Ladenschluss, doch seine Lieblingsbrötchen waren bereits ausverkauft. Gut, dann hatte er das Recht, sich übellaunig aufzuführen: »Ein Brot … Ja, das da … Zwei Brötchen, eine Zeitung, Milch! … Was kriegen Sie? … Hier … Tschüs.« Wieder zuhause kochte er sich Kaffee und vertilgte die Brötchen; dann begann er, in der Zeitung zu blättern. Irgendwie musste er die Zeit überbrücken, bis er sich wieder halbwegs leiden konnte. Er las die Katastrophenmeldungen: In Afrika wütete ein Krieg, in Indien war ein Flugzeug abgestürzt, in der Türkei hatte die Erde gebebt, in den Alpen war eine Lawine abgegangen. Die Artikel beschrieben – zusammen genommen – sein persönliches Waterloo recht angemessen. Holm glaubte noch immer, dass er mit Frauen schon einige Erfahrungen gesammelt hatte, aber das, was er am Tag zuvor erlebt hatte, konnte er nur als phänomenales Desaster einstufen. Als er den nächsten Unglücksbericht las – ein Kleinkind war in der Nähe von Schweinfurt in einen Teich gestürzt und von einem Hund gerettet worden, wie erfreulich! –, klingelte das Telefon. Das war ungewöhnlich, normalerweise kam das nicht vor an einem Samstag35
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nachmittag. Einen Moment zögerte Holm, aber als es nicht aufhörte zu läuten war klar, dass der Anrufer es nicht anders wollte. »Hallo?«, knurrte er. »Hallo, hier ist Daniela«, kam es aus dem Telefonhörer. »Spreche ich mit Holm?« »Daniela? Ich kenne keine Daniela. Sie müssen sich verwählt haben«, entschied Holm brüsk und ohne nachzudenken, um sofort aufzulegen. Doch gleich darauf durchfuhr es ihn heiß und kalt und unangenehm zugleich: Daniela, Dani – Dani, Daniela. War es möglich? Was hatte er getan? Da rief sie ihn an, und er brach das GeWas Was heißt Was tun? spräch einfach ab. Aber war passiert? das? es wirklich Dani gewesen? Wieder wird Holm überrascht. Woher hatte sie die TeleOffenbar hat Dani die Begegnung fonnummer? Woher kannte nach dem Konzert anders erlebt sie seinen Namen? Er hatte als er. sich doch – oh Gott! – als Wir machen uns persönliche verstockter »Graham ThoBilder der Realität. Damit eine Verständigung möglich ist, müssen mas« vorgestellt. wir die Perspektiven unserer MitNein, sie konnte es nicht menschen verstehen. Die Fähigkeit gewesen sein. Aber die der »Perspektivenübernahme« Stimme hallte seltsam vererwerben wir meist früh im Leben. traut in ihm nach. FeindManchmal haben wir aber trotzdem selig fixierte Holm das TeleProbleme, »unsere Welt« nicht für fon. Sein größtes Problem die »einzig wahre« zu halten. war seine Spontaneität, das Besonders in Stresssituationen wusste er. Er musste sein scheint die Berücksichtigung mehrerer Perspektiven schwierig zu Leben noch besser kontrolsein. Diese »egozentrische Haltung« lieren! Es war töricht, Teleführt dazu, dass wir Chancen und fonhörer einfach so auf die Risiken übersehen. Gabel zu werfen. Es klingelte erneut. Holm Andere Perspektiven berücksichtigen war so erleichtert, dass er sofort seinen Vorsatz vergaß. Ohne eine Sekunde zu verlieren, geschweige denn einen weiteren Gedanken zu verschwenden, sprang er an den Apparat. »Dani?«
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»Hallo! Nein, hier ist immer noch Daniela.« Dani kicherte. »Ich dachte, ich frage zur Sicherheit noch einmal nach, ob du wirklich keine Daniela kennst.« »Äh, nein, … äh, na klar!« Holm musste sich orientieren. Sie war es tatsächlich! »Das heißt, ich kenne eine Verkäuferin und eine Sängerin, aber eigentlich kenne ich die beiden auch nicht. – Ich hoffe, du bist nicht sauer wegen gestern.« »Sauer? Warum? Es kommt nicht oft vor, dass sich jemand so nett und persönlich für ein Konzert bei mir bedankt.« »Ja, weißt du, ich hatte das eigentlich anders geplant.« Holm war halbwegs erleichtert. »Verstehe. Ich hab dich überrumpelt, aber wie wäre es, wenn wir über heute sprechen würden? Ich wollte dich fragen, ob du schon etwas vor hast. Ich habe frei und gebe auch kein Konzert.« Wie gesagt, Holm war felsenfest davon überzeugt, einige Erfahrung im Umgang mit Frauen zu besitzen, Danis Initiative verunsicherte ihn trotzdem. War es denn nicht seine Aufgabe, ihr eine Verabredung vorzuschlagen? »Äh, … das kommt überraschend. Ich hab noch nichts geplant … Bin eben aufgestanden. Hab erst die Zeitung gelesen. Viele Katastrophen sind passiert gestern. Ich muss mir erst Gedanken machen …«, stammelte er. Zusammen mit ihrer sanften Stimme schickte Dani ein freundliches Lachen durch die Leitung. »Bevor du dich völlig verhedderst, würde es vielleicht genügen, wenn wir einen Treffpunkt vereinbaren. Dann können wir immer noch entscheiden, was wir unternehmen wollen.« »Gut.« Freilich war Holm einverstanden. »Wie wäre es mit dem Café LOGO?« »Um acht?« »Perfekt. Ich werde auf alles gefasst sein.« Das war eine Überraschung, schon wieder. Nur kurz war Holm noch verwirrt, dann ordneten sich seine Gedanken in gewohnter Weise. Ihm fiel sein Plan vom Vortag ein, den er nun doch noch in die Tat umsetzen konnte. 37
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Wie praktisch! Café LOGO, Kino, Wiedersehen vereinbaren. So würde Holm Kenning den Abend gestalten. Mit Fön und Bügeleisen begann er, seine frisch geduschte Hose zu trocknen und wieder in Form zu bringen. Pünktlich wartete Holm im LOGO, es war sein Lieblingscafé. Das LOGO war der Treffpunkt für Informatikstudenten. Holm war zwar kein Student mehr, doch wer ändert schon gern lieb gewonnene Gewohnheiten? Das Ambiente wirkte auf den ersten Blick kühl. Aluminiumzuckerstreuer standen auf Aluminiumtischen, die angehenden Computerspezialisten saßen auf Aluminiumstühlen. Einige abstrakte Bilder hingen aluminiumgerahmt an den Wänden, und die meisten Gäste blickten sachlich – teils durch alu-gerahmte Brillengläser – auf ihre Drinks. Holm hatte an einem Tisch in einer Nische Platz genommen. Als Dani das LOGO betrat, zeigte seine Digitaluhr – mit Leichtmetallarmband – genau zwanzig null sechs. Klar, dass er auch dieser Verabredung ein wenig aufgeregt entgegensah, dennoch hielt sich sein Lampenfieber in Grenzen. Er hatte ja schon genügend Erfahrungen mit Frauen gesammelt. Aber es sollte der letzte Tag im Leben des Holm Kenning sein, an dem er sich dieser dummen Illusion hingab. Nun kam Dani ihm entgegen. »Hallo!«, sagte er und reichte ihr förmlich die Hand. »Hallo!«, erwiderte sie. »Das ist ja interessant. Hier bin ich noch nie gewesen.« Sie bestellten Bier und weißen Martini, und sofort war Holm wieder von Danis Ausstrahlung fasziniert. Allmählich kam ein Gespräch in Gang. »Warum heißt das Café LOGO?«, wollte sie wissen. »LOGO ist eine Programmiersprache, hauptsächlich geeignet für Kinder und Anfänger. Sie unterstützt konstruktives Lernen«, erklärte Holm. »Also wäre das auch etwas für mich.« »Wenn es dich interessiert. Programmieren lernen
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kann jeder, das ist heute kein Problem mehr. Logos bedeutet auf Griechisch auch Wort, Vernunft, Grund oder Sinn.« »Aha.« Sie sprachen über ihre Musik und seinen Beruf. Computer waren für Dani ein Buch mit sieben Siegeln, Holm fand ihren Gesang ganz geheimnisvoll. Sie gestand ihm, dass sie gern einmal in einer großen Stadt leben würde, im Gegenzug erzählte Holm ihr, dass er noch zwei Geschwister hatte. Einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Abgesehen von einigen Stockungen, unterhielten sie sich Holms Meinung nach angeregt. Nach dem dritten Bier und dem zweiten Martini lief es noch besser, sie flachsten und knüpften an ihre erste Begegnung im Kaufhaus an. »Bist du zufrieden mit der Hose?«, wollte sie wissen. »Ja. Ich kann mich gar nicht mehr von ihr trennen.« Holm dachte daran, dass er sie in der letzten Nacht sogar im Bett anbehalten hatte. »Ich habe beschlossen, sie nie wieder auszuziehen.« »Wirklich? Und heute möchtest du wahrscheinlich testen, wie viel Bier sie verträgt, bevor sie platzt.« »Genau!« Sie zeigte ihm dieses Lächeln, nach dem er inzwischen ganz verrückt war. Es war »sinnlich«, »fröhlich«, »herzlich«, »ironisch«. Sein Gedächtnis enthielt keine Vokabel, um den Ausdruck angemessen zu beschreiben. Es kramte lediglich ein Sammelsurium von Eigenschaften hervor, während Dani sich die Haare aus dem Gesicht strich, die manchmal ihre Augen verschleierten. Holm dachte an die Frauen, die er bisher kennen gelernt hatte, und stellte nun endlich fest, dass er noch keine vergleichbare Erfahrung vorweisen konnte. Selbst das metallgepanzerte LOGO strahlte auf einmal eine Wärme aus, die er nie für möglich gehalten hätte. Und dann passierte es: Tief blickte er ihr in die Augen, und im selben Moment verlor er jedes Gefühl für Zeit und Raum. Holm wusste plötzlich nicht mehr, wer er war, noch wo er sich befand. Er vergaß sogar – vorübergehend – sein vorbereitetes Abendprogramm. Diesen Augen39
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blick hatte er nun wahrlich nicht vorausberechnet, und niemand hätte ahnen können, was nun geschah. Langsam löste er sich von seinem Körper, die Gesetze der Schwerkraft waren aufgehoben. Er blickte auf das Paar herab: auf die himmlische Daniela und den menschlichen Torso des Holm Kenning, zwei Wesen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Genau in der Mitte des Tisches verschmolzen ihre Blicke und verbanden sie zu einer Einheit. Er sah die Lust in seinen Augen und das Lächeln in ihrem Gesicht. Es war ein magischer Moment, und obwohl Holm ihn nicht vorausgeplant hatte: Seinetwegen hätte er ewig andauern können. »Hallo! Ist jemand zu Hause?«, fragte das Lächeln und rückte den Aluminiumkerzenständer zur Seite. Abrupt landete Holm wieder in der Gegenwart. Dani wedelte mit der Hand vor seinen Augen, als wollte sie ihm neues Leben zufächern, verjagte damit aber lediglich die zauberhafte Stimmung. Schnell vereinigte sich der Geist wieder mit seiner Behausung. »Sicher, klar, Entschuldigung«, stotterte Holm. »Was machst du mit mir?« »Was ich mit dir mache?« Sie gab sich unschuldig. »Ich glaube eher, die Sache Was Was heißt Was tun? mit dem Bier ist schon gepassiert? das? klärt: Deine Hose verträgt Holm erlebt einen »magischen« mehr als du.« Moment – vielleicht zum ersten Mal »Auf keinen Fall!«, widerin seinem Leben. Niemand hat sprach Holm. »Gehen wir diese Situation vorbereitet, kein ins Kino? Mein Lieblings»Programm« läuft ab, und trotzdem passiert etwas Wesentliches. Holm film läuft im KINOTAUund Dani begegnen sich, womögRUS: »Men in Black«. Hast lich verlieben sie sich eben in diedu den schon gesehen?« sem Moment ineinander. »Nein, aber ich war bis heute ja auch noch nie im »Magische« Momente LOGO.« Sie verließen das Café, um den Abend – wieder der Planung folgend – im Kinocenter fortzusetzen. Der Tag versprach angenehm auszuklingen.
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Visionen
Henning Eimel, Robert Kunz und Holm Kenning trafen sich in dem Hotel, in dem die Analystenkonferenz stattfinden würde. Henning war der Vorstandsvorsitzende der HEIMEL Visimatik AG und hatte die Firma vor fast fünfzehn Jahren zusammen mit Robert gegründet. Das Silbenkonglomerat Visimatik stand für »Visionen« und »Informatik«, beide Teile der Firmenphilosophie prägte Henning Eimel entscheidend. Im Zuge der anstehenden Veränderungen und der Realisierung weiterer Visionen sollte Holm bald auch einen Vorstandsposten erhalten. Empfohlen hatte er sich durch seine hervorragenden Leistungen als Chef der Softwareentwicklung, und ein dritter Vorstand würde HEIMEL als künftigem Weltkonzern ohnehin gut zu Gesicht stehen. Robert leitete das Projektgeschäft, um alle anderen wichtigen Aufgaben kümmerte sich Henning persönlich: Konzernstrategie, Marketing, Personal und Finanzen unterstanden seiner Regentschaft. Seit ihm klar war, wie er die Probleme lösen und die Firma in die Zukunft führen würde, strotzte er vor Energie und Tatkraft. So kannten ihn seine Mitstreiter. Wenn Henning Eimel von einer Idee überzeugt war, setzte er alles daran, sie zu realisieren. Noch einmal schärfte der Firmengründer Robert und Holm ein, worum es ging: »Ihr kennt die Lage: Unsere Software ist ausgereift, aber veraltet. Außerdem müssen die Module besser vernetzt werden, auch die Konkurrenz wird immer stärker. Als Firma mit kaum dreihundert Mitarbeitern haben wir auf dem Weltmarkt keine Chance. Es ist abzusehen, dass wir Schwierigkeiten bekommen werden, wenn wir nicht bald etwas unternehmen. Lange Jahre hat sich HEIMEL Visimatik kaum verändert, doch nun sind wir zum Wachstum gezwungen. Dazu benötigen wir zunächst 41
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viel Geld, doch unsere Stärken sind der gute Ruf und unsere Visionen.« Er stutzte einen Moment, dann fragte er: »Was ist eigentlich mit deiner Stirn passiert, Robert? Du sollst dich da doch nicht rasieren!« Roberts Gesicht war noch immer von dem Gefecht mit der Kastanie gezeichnet. Auf der Stirn klebte ein weißes Pflaster. Es sah albern aus, und passte so überhaupt nicht zu dem durchtrainierten Robert. Seine Frau aber hatte darauf bestanden, ihn zu verarzten. Wenn es um Roberts Gesundheit ging, duldete Sandra keinen Widerspruch. »Ach, das ist nichts weiter«, wiegelte Robert ab. Er verspürte wenig Lust, von seinem »Missgeschick« zu berichten. »Auf nichts weiter würde ich aber kein Pflaster kleben«, kommentierte Eimel trocken. »Wie auch immer: Dort drinnen sitzen unsere Geldgeber.« Er wies auf die Tür zum Konferenzraum. »Analysten, Großaktionäre, Fondsmanager, Bankvorstände. Die interessieren sich nur für die Zukunft von HEIMEL Visimatik. Aktionäre spekulieren auf Morgen, Heute interessiert die nicht. Wir müssen also die Fantasie dieser Leute anregen, damit sie spendabel werden und die Kapitalerhöhung zeichnen.« Robert und Holm nickten, sie hatten den Plan verstanden. Es war nicht das erste Mal, dass Henning ihnen einen Vortrag hielt. Er sprach oft und überzeugend von ihren Zielen. Es war wichtig, die künftige HEIMEL AG so gut wie möglich zu verkaufen. Mit der Aussicht auf steigende Aktienkurse würden die Investoren der Firma den finanziellen Spielraum verschaffen, auf den sie angewiesen waren. »Also, es geht los.« Henning Eimel, der Vorstandsvorsitzende der HEIMEL Visimatik AG, blies zur Attacke auf die Reserven des Kapitalmarktes. Als er kurz darauf mit dem Vortrag begann, war Eimel sofort in seinem Element. Robert bediente den Laptop
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und blätterte jeweils auf ein Zeichen von Henning zur nächsten Folie. Die Zuschauer starrten gebannt auf die bunten Diagramme und Texte, die an der Wand flimmerten. Zunächst erläuterte Eimel die Unternehmenslage – freilich ohne auf die drückenden Probleme einzugehen: »Sie kennen unsere Firma sicher. HEIMEL ist eine Marke im IT-Bereich. Demnächst werden wir unser fünfzehnjähriges Firmenjubiläum feiern. Wir haben also unsere Erfahrungen gesammelt und immer solide gewirtschaftet. Doch nun ist die Zeit reif, die Zukunft zu gestalten. Wir werden expandieren und zu den großen der Welt gehören.« An Selbstbewusstsein mangelte es Henning nicht. Sich derart ambitioniert zu geben, hätte sich nicht jeder getraut. Aber den Zuhörern Was Was heißt Was tun? gefiel das, so einen wie passiert? das? Henning stellten sie sich Henning Eimel, der Firmengründer, als erfolgreichen Unternehist der maßgebliche Kopf im Mamensvorstand vor. nagement der HEIMEL Visimatik. Robert ließ eine WeltOffenbar hat er zusammen mit seikarte an der Leinwand aufnen Mitstreitern schon viel erreicht. leuchten. Auf jedem KontiKlar, dass er darauf stolz sein kann. nent war das Logo der Abgesehen davon mag der VorHEIMEL AG – ein »H« und standsvorsitzende aber dominant, ein »E«, deren rechte bezieehrgeizig oder arrogant wirken. Doch versuchen wir, ihn ebenso wie hungsweise linke Schenkel Robert und Holm kennen zu lernen. zu einer gemeinsamen mittDen ersten Eindruck von einer leren Säule miteinander Person bilden wir uns meist schnell verschmolzen – mehrfach und intuitiv. Oft bemerken wir verzeichnet. »Wir werden zunächst (oder vor allem) negative überall präsent sein«, erklärEigenschaften. te der Vorstandsvorsitzende gelassen, als würde er von Der erste Eindruck seinem nächsten Wochenendausflug und nicht von der Eroberung der Welt sprechen. »Wir werden in allen wichtigen Industrieländern Niederlassungen errichten. Wo nötig, werden wir Konkurrenten übernehmen.« 43
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Eimel legte eine Pause ein, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Er sprach ausschließlich über Zukünftiges, was seine Zuhörerschaft aber nicht zu stören schien. Trotz seiner langjährigen Erfahrung wunderte Henning sich noch immer, wie am Kapitalmarkt Zukunft und Gegenwart ineinander zu fließen schienen. Wenn man nur selbstsicher genug auftrat, dann war es möglich, jede Idee als Realität erscheinen zu lassen. Die Finanzfritzen hatten offenbar verlernt, zwischen Visionen und der Wirklichkeit zu unterscheiden. Jemand hob folglich die Hand: »Auf der Karte ist in Schweden keine Filiale verzeichnet. Erwarten Sie dort kein Wirtschaftswachstum?« »Sicher«, antwortete Eimel. »Skandinavien ist ein wichtiger Markt. Wenn Sie noch etwas Geld zuschießen möchten, dann eröffnen wir gern auch in Uppsala eine Vertriebsniederlassung.« Spontane Lacher schallWas Was heißt Was tun? ten durch den Raum, nun passiert? das? hatte er das Publikum auf seiPointiert kann man sagen: Hinsichtner Seite. Wie viele Niederlich ihrer Schwächen sind alle Menlassungen er dem Kapitalschen gleich. Angesichts der Vielmarkt versprach, das war zahl an Fähigkeiten und Eigenheiten unverbindlich und deshalb die Menschen entwickeln können, egal. Es würde ihn auch nieunterscheiden wir uns »nur« in mand daran hindern könBezug auf die (relativ wenigen) nen, seine Expansionspläne Stärken. Sie machen jede Person einzigartig. womöglich schon morgen Ich schlage Ihnen ein Experiwieder zu ändern. ment vor: Denken Sie bei der wei»Lassen Sie mich nun teren Lektüre des Kapitels doch zum Marktpotenzial uneinmal ausschließlich über Eimels serer nächsten Softwarepositive Eigenschaften nach. generation kommen. Sie wissen: Wir arbeiten an Stärken und Schwächen einem neuen Release auf modernster Basis. In fünf Jahren werden die weltweiten Investitionen in dem für uns relevantem Segment bei zwanzig Milliarden US-Dollar liegen.« Angesichts dieser ungeheuren Zahl schlich ein Raunen durch die Reihen.
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Eimel ließ den Betrag einen Moment lang auf die Zuhörer wirken. »Sie haben richtig gehört«, betonte der Vorstandsvorsitzende. »Ich spreche von Milliarden, es geht nicht um Kleingeld. Wenn wir – konservativ gerechnet – von zehn Prozent Marktanteil ausgehen, dann kommen wir für 2008 auf einen möglichen Umsatz von zwei Milliarden USDollar. Unter Umständen wird der Absatz noch höher sein, ich möchte Sie jedoch seriös informieren. Deshalb beziehe ich mich auf ein konservatives Szenario.« Genau genommen ist jede Prognose »seriös«, da sich Vorhersagen auf die Zukunft beziehen, die höchstens Hellseher kennen. Wichtig war allein, möglichst hohe Zahlen und Wachstumsraten zu nennen, die den Anlegern nicht nur den Atem, sondern auch den Verstand raubten. Dann war der Weg frei für die Gier, die jeden normalen Menschen spendabel macht. Offene Münder signalisierten Eimel, dass er sein Ziel erreicht hatte. Ein Diagramm mit dem Titel »Umsatzexplosion 2003 bis 2012 – konservative Berechnung« zeigte nun die geplanten Einnahmen der nächsten Jahre. Steil ansteigende Balken illustrierten die jeweils auf vier Nachkommastellen berechneten Beträge. Demnach sollte der Umsatz von 0,0174 Milliarden Dollar im Jahr 2003 auf 12,8812 Milliarden Dollar im Jahr 2012 klettern. Auch diesmal hatte niemand der Anwesenden den Eindruck, dass Eimel lediglich Wunschvorstellungen präsentierte. Die Zahlen schienen Fakten einer Art »vorzeitig realisierten Zukunft« zu sein. Das Raunen wich minutenlangem Gemurmel, dann kehrte wieder Ruhe ein. Man konnte fast spüren, wie das Auditorium die Luft anhielt und das noch verbliebene Denkvermögen der Investoren elendig erstickte. »Sie sehen, dass die Anlaufinvestitionen, verglichen mit diesem Potenzial, vernachlässigt werden können«, flößte Eimel seinem nunmehr wehrlosen Publikum ein. Statt »Anlaufinvestitionen« hätte er auch »Anfangsverluste« sagen können, doch er mied die Vokabel »Verlust« 45
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konsequent. »Investition« hatte dagegen einen positiven Klang. Aber ohnehin kam niemand auf die Idee, genau nachzufragen. Die wenigen Einwände, die die Zuhörer vorbrachten, parierte Eimel souverän. Ein Analyst wollte zum Beispiel wissen, ob die HEIMEL Visimatik AG mit ihren Produkten in eine Marktlücke stoßen oder gegen etablierte Softwarehersteller antreten würde. »Alle Organisationen, ob Dienstleister oder produzierende Firmen, brauchen ein EDV-Konzept, das die Unternehmensabläufe steuert. HEIMEL ist das erste Softwarehaus, das eine universelle Lösung anbietet, die jedes Unternehmen – gleich welcher Branche – nutzen kann. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal. Wir können alle Organisationsformen abbilden und werden auch in Zukunft Trends rechtzeitig erkennen und unterstützen.« Statt die Frage zu beantworten, hatte Eimel geschickt Werbung in eigener Sache gemacht. Er verschwieg, dass sich HEIMEL in einem Markt tummelte, der schon von einigen Anbietern besetzt war. Diese Konkurrenten musste Eimel erst aus dem Feld schlagen, um den gewünschten Erfolg zu erzielen. Aber das wollte man so genau auch wieder nicht wissen. Es war angenehmer, sich schönen Träumen hinzugeben, als sich kleinmütig zu zeigen. Ein weiterer Zuhörer erkundigte sich immerhin, ob das Softwarekonzept von anderen Unternehmen nachgeahmt werden könnte. Immerhin sei HEIMEL noch eine kleine Firma. Doch auch dieser Einwand konnte Eimel nicht aus der Ruhe bringen. »Wir tüfteln schon lange an unseren Ideen und haben einen Entwicklungsvorsprung von drei Jahren«, argumentierte er. »Da ist mit Geld nichts zu machen. In unserer Software stecken geniale Ideen, auf die andere erst einmal kommen müssen.« Während er das sagte, nickte er Holm zu, der in den letzten Jahren die meisten guten Einfälle gehabt hatte und deshalb auch zum Entwicklungschef befördert worden war. Wie groß der »Entwicklungsvorsprung« tatsächlich war, konnte niemand sagen. Wer kann schon entscheiden,
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wie viel Zeit nötig ist, um eine gute Idee auszubrüten? Es kann drei Jahre, drei Monate, drei Tage oder die noch kürzere Zeit eines Geistesblitzes dauern; also schätzte Eimel großzügig. Es gehörte mit zu den Spielregeln, einen großen Entwicklungsvorsprung vorzuweisen, denn die Investoren verlangten danach. Um den Eindruck der technologischen Überlegenheit zu unterstreichen, beschloss Eimel, seinen besten Softwarespezialisten noch einige Sätze sagen zu lassen. Nur so viele natürlich, bis die Zuhörer sich langweilten. Erfahrungsgemäß wirkte die Diskussion computertechnischer Einzelheiten schnell, die letzten kritischen Stimmen würden bald verstummen. Holm erhob sich und begann seinen Vortrag, den er natürlich gut einstudiert hatte: »Unsere Software unterstützt alle gängigen Computerplattformen, Rechnernetzwerke und selbstverständlich das Internet. Grundlage ist ein Dreizehn-Schichten-Modell der Datenarchitektur, um den reibungslosen Informationsaustausch zu gewährleisten. Ich beginne mit der ersten Schicht, der so genannten binären Formaltheorie digitaler Kommunikation:« Holm war im Umgang mit einer größeren Zuhörerschaft nicht so gewandt wie Henning, doch er machte seine Sache gut. Er musste nur wenige Zwischenfragen beantworten und nach einiger Zeit – er war soeben erst bei der dritten Schicht, dem parallelen Subprotokoll des sekundären Steuercodes, angelangt – wurden die Finanzexperten unruhig. Das war das Signal für Henning Eimel, seinen Entwicklungschef zu unterbrechen. Das Expertenreferat hatte seinen Zweck erfüllt. »Wahrscheinlich sollten wir jetzt nicht tiefer in die fachlichen Details eindringen. Herr Kenning würde Sie sonst mit den vielen Einzelheiten erschlagen. Außerdem müssen wir einige Informationen für uns behalten, wir wollen ja nicht unseren Entwicklungsvorsprung in alle Welt hinausposaunen. Wenn Sie einverstanden sind, dann überspringen wir auch den Punkt ›Projekte‹, der von Herrn Kunz vertreten wird.« Der Angesprochene hatte ebenso wenig einzuwenden wie die potenziellen Investo47
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ren. Robert war froh, keinen Vortrag halten zu müssen. Er hielt sich mit seiner gezeichneten Stirn lieber im Hintergrund. »Alle Informationen zu unseren Projekten finden Sie auch in den schriftlichen Unterlagen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir uns engagiert für jeden Kunden ins Zeug legen. Herr Kunz kämpft an dieser Front wie ein Löwe, Sie können es ihm ansehen.« Alles lachte. Jeder im Sall starrte auf das Pflaster auf Roberts Stirn. Er lächelte gequält, während Eimel weitere Sympathiepunkte für sich und die Firma verbuchen konnte. Damit war die VeranstalWas Was heißt Was tun? tung beendet. Die Manager passiert? das? konnten zufrieden sein, sie Haben Sie das Experiment gemacht, hatten ihr Ziel erreicht: Die Henning Eimel ausschließlich als Finanzwelt wusste nun von Manager mit bestimmten Stärken den Plänen der Firmenund Fähigkeiten zu betrachten? leitung und würde den Kurs Sicher haben Sie Ihren eigenen des Unternehmens aufEindruck gewonnen, es gibt keine merksam verfolgen. AndeMusterantwort. rerseits wartete auf das Können Sie sich vorstellen, dass Management nun sehr viel Menschen Ihnen allgemein sympathischer werden, wenn Sie über ihre Arbeit. Die Versprechen Stärken und Leistungen statt über mussten eingelöst werden. ihre Schwächen und Fehler nachVor allem Holm sah zudenken? Dem liegt die Idee zugrunsätzliche Aufgaben auf sich de, dass Personen Eigenheiten zukommen. Neben der nicht »besitzen«, sondern dass wir Weiterentwicklung der Softsie ihnen »zuordnen«. Demnach haware hatte er sich um die ben wir Einfluss darauf, wie attraktiv Einarbeitung der neuen Koloder abstoßend jemand für uns ist. legen zu kümmern und sich in seine künftige Funktion Sympathie und Antipathie als Vorstandsmitglied einzufinden. Aber diese Herausforderungen kamen ihm gerade recht, er war für jede Ablenkung dankbar. Seit er und Dani sich getrennt hatten, konzentrierte er sich ganz auf seinen Job. Die Arbeit lenkte seine Gedanken in die Zukunft und hielt ihn davon ab, der Vergangenheit nachzutrauern.
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Gipfelsturm
Der neue Firmensitz lag am Stadtrand innerhalb eines Gewerbegebietes. Das U-förmige Bauwerk war imposant: Mit den beiden Seitenflügeln, der vorgewölbten Front, auf der die HEIMEL-Flaggenparade mit den HELogos im lauen Wind flatterte, wirkte es wie ein Ozeanriese – die Chefetage war leicht als Kommandobrücke zu erkennen. Die Mitarbeiter hatten das Gebäude folglich auf den Namen »Traumschiff« getauft. Man munkelte, dass es auf dem Dach sogar eine Freiterrasse geben sollte. Die Matrosen und Offiziere, die ihr Traumschiff erst vor wenigen Monaten in Dienst gestellt hatten, versammelten sich auf dem Vorplatz. Die verspiegelten Fensterfronten glitzerten verheißungsvoll in der Sommersonne. Anlässlich des Firmenjubiläums sollte eine Party gefeiert werden, doch zunächst wollte Eimel zu seinen Leuten sprechen. Er nutzte jede Gelegenheit, um so ihre Motivation zu fördern. »Meine lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!« Henning Eimel stand auf der halbrunden Treppe vor dem Haupteingang und sprach ohne Manuskript und Mikrofon. Seine Stimme war laut genug, jeder konnte ihn verstehen. »Ich bin stolz auf euch und auf diesen Tag. Als ich vor fünfzehn Jahren HEIMEL Visimatik gegründet habe, konnte ich mir nicht vorstellen, was ich jetzt hier sehe.« Ab und zu vergaß Henning, dass er nicht der alleinige Firmengründer war, sondern zusammen mit Robert und anderen Vertrauten das Unternehmen aufgebaut hatte. Doch um so wohlwollender betrachtete er seine Mannschaft. In den letzten Monaten hatte sie sich stark vergrößert, einige der Gesichter sah er zum ersten Mal. »Wir haben hart gearbeitet und viel erreicht«, fuhr er fort. »Aus einer Hand voll Leuten mit guten Ideen ist ein erfolgreiches Unternehmen geworden. Dafür möchte ich mich bei euch bedanken, und deshalb werde ich in Kürze 49
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zum gemütlichen Teil überleiten. Doch lasst uns zuvor den Blick nach vorn richten. Wir wollen die Zukunft gestalten. Wir werden Vertretungen im Ausland eröffnen, wir müssen unsere Software ausbauen, und wir wollen noch viele Kunden für uns gewinnen. Ihr dürft also nicht nachlassen in euren Anstrengungen! Um uns stets an die anstehenden Aufgaben zu erinnern, möchte ich euch den Erfolgsmonitor präsentieren, der uns von nun an begleiten wird. Ihr habt euch sicher schon gefragt, was sich hinter dem Vorhang verbirgt.« Er deutete auf einen Wandabschnitt unterhalb der Chefetage, der seit einigen Tagen von einem blauen Tuch bedeckt wurde. Die Verkleidung hatte in der Tat allen zu denken gegeben. Als Eimel an einer Schnur zog, segelte das Tuch zu Boden und enthüllte eine übergroße Digitalanzeige. Die Leuchtschrift zeigte allen die Zahl 26,20. »Das ist unser Aktienkurs. Während der Börsenzeiten wird die Anzeige ständig aktualisiert, denn der Shareholder Value ist von nun an unsere wichtigste Kennzahl. Es ist unser vordringliches Ziel, den Wert des Unternehmens zum Wohle unserer Aktionäre zu steigern. Deshalb soll uns die Anzeige helfen, den Aktienkurs im Auge zu behalten.« Holms Gedanken wanWas Was heißt Was tun? dert zur vergangenen Wopassiert? das? che zurück. Eimel hatte auf Wir erfahren noch mehr über Heneiner Echtzeitverbindung ning Eimel. Er engagiert sich sehr mit der Börse bestanden. für sein Lebenswerk, wahrscheinDer Wunsch war nicht lich führt er die Firma mit hohem leicht zu realisieren gewepersönlichen Einsatz. Er spricht oft sen, denn normalerweise und gern zu seinen Leuten. Das ist werden Wertpapierkurse wichtig, und er macht seine Sache um einige Minuten zeitvergut. Doch kann er seine Angestellten durch Ansprachen und den zögert übertragen. Holm Hinweis auf die Bedeutung des und drei seiner Mitarbeiter Shareholder-Value auch motiviehatten Tage benötigt, um ren, den Umbruch mit zu tragen? die Standleitung aufzubauen, die Daten durch ihr Eine Frage der Ansprache internes Rechnernetz zu
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schleusen und an das Display zu senden. Schließlich hatten sie es geschafft – wie immer. Holm konnte einen maximalen Zeitverzug von drei Sekunden garantieren. Sie waren also direkt mit der Börse in Frankfurt verbunden, und niemand konnte behaupten, dass die Angestellten nicht ausreichend informiert wären. »Der Service der Deutschen Börse ist leider nicht umsonst. Aber das wichtigste Kapital der Firma seid ihr, die Mitarbeiter. Für euch und zum Wohle unserer Firma ist mir keine Investition zu hoch.« Mitarbeitermotivation war für Henning eine Frage der Ansprache, gern spickte er seine Reden mit Appellen – in einigen Fällen erreichte er seine Leute damit auch. »Jetzt darf ich euch zum gemütlichen Teil des Tages bitten.« Endlich eröffnete Henning Eimel das Barbecue. Damit erreichte er seine Mitarbeiter mit Sicherheit. Der Innenhof wurde an drei Seiten von den Flanken des Traumschiffes begrenzt, ein Drahtgitterzaun am Heck gab den Blick auf das benachbarte Bürogebäude frei. Die Chefetage warf ihren langen Schatten auf die Anwesenden, von oben hätte man das Fest gut überblicken können. Ein kleiner Rundweg wurde in den Pausen gern für Spaziergänge genutzt. Sah man einmal ab von den Gebäudemauern, dem Zaun, dem Fußweg und der Aussichtskanzel, so erinnerte der Ort wirklich nicht an einen Gefängnishof. Während man sich – zunächst zaghaft, dann immer hemmungsloser – am Büfett versorgte, entwickelten sich erste Gespräche. Eimel hatte sich mit seiner Sekretärin, seinen Vorstandskollegen und anderen Mitarbeitern an einem der Biertische niedergelassen. Der neue Marketingchef stellte sich vor: »Für alle, die mich noch nicht kennen: Mein Name ist Schmecker. Ich darf künftig die Werbetrommel für die HEIMEL AG rühren«, erklärte er forsch. Die Kollegen begrüßten ihn. »Hallo, wir kennen uns ja schon«, sagte Eimel, der Schmecker eingestellt hatte. Nacheinander stellten sich 51
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auch die anderen vor und schüttelten dem Neuen die Hand. »Ich bin Holm. Willkommen im Team.« »Robert. Toi toi toi!« »Michael, ich arbeite in der Entwicklungsabteilung.« »Karl. Viel Erfolg!« Die massive Herzlichkeit irritierte Schmecker. Er musste die Firmenkultur wohl erst kennen lernen. Regelrecht gerührt sah er sich genötigt, ebenfalls seinen Vornamen preiszugeben. »Danke für den freundlichen Empfang. Ich heiße übrigens Günther. Bisher habe ich nur für große Firmen gearbeitet, da ging es immer sehr hierarchisch und förmlich zu. Außerdem bin ich ja schon sechsunddreißig. Aber ich freue mich darauf, hier jetzt wirklich etwas zu bewegen.« Mit seinen sechsunddreißig Jahren gehörte Günther Schmecker tatsächlich zu den älteren Mitarbeitern. »Wir sind ein junges, dynamisches Team, aber wir halten zusammen. Es wird sicher keine Probleme geben«, beruhigte Holm den Marketingdirektor. »Euer PR-Spot zur Imagepflege hat mir gut gefallen, darauf können wir aufbauen«, erklärte Schmecker eifrig. Oh Gott, der Fernsehspot! Holm zuckte bei der Erinnerung zusammen. Vor einigen Wochen hatten sie ihn produziert. Henning, Holm und Robert, das Dreigestirn der HEIMEL AG, waren bei der Besteigung eines Alpengipfels gefilmt worden. Der Spot sollte die Firma bei potenziellen Kunden und Investoren bekannt machen. Alles war bis ins Detail geplant gewesen. Das Wetter war schön, und das Filmteam stand vollzählig bereit. Die PRBerater hatten einen mächtigen Berg ausgesucht, vom Gipfel sollten die Helden die wunderbare Aussicht genießen. Doch vor dem Triumph lauerten die Mühen der Besteigung und die Tücken der professionellen Filmproduktion, mit denen unsere Amateurschauspieler nicht gerechnet hatten.
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Xaver Obermayr, der Regisseur, war ein barscher Typ, der seine Kommandos in alle Richtungen verschoss. Der Kameramann, die Maskenbildnerin und die Techniker hatten nichts zu lachen. »Kamera!«, schrie Obermayr in die dunstige Morgenlandschaft. »Kamera läuft.« »Klappe!« »HEIMEL im Tal die Erste.« »Action!« Die Helden verließen die einsame Hütte, um den Berg zu bezwingen. Das Skript sah zunächst eine Wanderung von zehn Sekunden über Felder und Wiesen vor. »Etwas forscher gehen!«, brüllte der Regisseur. Die Szene wurde wiederholt. »Action!« Die Schauspieler traten zu ihrem zweiten Spaziergang an. »Halt! Der eine sieht ja aus, als wäre er gerade erst aufgestanden!«, bellte Obermayr und zeigte auf Holm, der erst kurz zuvor das Bett verlassen hatte. »Susi, renovier dem mal das Gesicht!«, wies er die Visagistin an. An dem Tag hatte Holm tatsächlich besonders lange gebraucht, um das Tageslicht zu erblicken. Die Augen würden ihm noch zuwachsen, fürchtete er, und gelobte sich Besserung. Nachdem Susi ihren Job verrichtet und Holm die Lider geweitet hatte, wiederholte sich das Spiel. »Action!« »So geht das nicht!«, intervenierte Obermayr erneut und deutete mit dem Zeigefinger auf Henning. »Du musst optimistischer schauen, ihr wollt doch erfolgreich sein! Es sieht besser aus, wenn der Typ mit den breiten Schultern vorausgeht.« Nun zielte er auf Robert. Das war zu viel für den Vorstandsvorsitzenden, Obermayr hatte Hennings Ego ins Visier genommen und getroffen. »Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie reden?«, schnauzte Eimel. »Sehen Sie zu, dass Sie Ihren Job machen. Und beim Du sind wir noch lange nicht!« Doch Obermayr ließ sich nicht so leicht beeindru53
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cken, immerhin war er ein bekannter Regisseur. Eimel befand sich auf seinem Territorium, und im Skript stand nichts davon, dass es Schauspielern erlaubt war, Widerworte zu geben. »Ich will hier einen ordentlichen Streifen machen«, polterte Obermayr. »Wenn Ihnen meine Arbeitsweise nicht passt, dann suchen Sie sich doch ein anderes Team!« Obermayr hatte zwar zur förmlichen Anrede gewechselt, doch die beiden Streithähne standen sich weiterhin schnaubend gegenüber. Es war absurd, denn gewinnen konnte keiner. Eimel konnte sich keinen anderen Regisseur suchen, weil die Zeit drängte, und Obermayr würde seinen Job nicht hinschmeißen, weil er zu gut bezahlt wurde. »Wir machen es ein letztes Mal«, grollte Eimel schließlich. Für den Rest des Tages schlossen die Kontrahenten einen Nichtangriffspakt. »Action!« Gut gelaunt verließen die drei Vorstände die Hütte: zuerst Henning, dann Robert, dann Holm. Die Szene war endlich im Kasten. Natürlich hatten die Wanderer nicht wirklich vor, den Berg zu erklimmen. Ein Helikopter flog sie zum nächsten Drehort. Dabei wurde Robert schlecht, er hatte Flugangst, leichenblass stieg er aus der Maschine. Der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn, so konnte man ihn auf keinen Fall der Öffentlichkeit präsentieren. Aber auch das war kein Problem für Susi, sie tupfte ihm das Gesicht ab und schminkte seine Wangen mit einer kräftigen Abdeckcreme. Wer Robert Kunz kannte, der wusste, dass er sich das nicht gern gefallen ließ und dass er sich jetzt noch schlechter fühlte. Aber die Dreharbeiten mussten weitergehen. »Action!« Sie waren im Wald und sollten einen Steg überqueren, der an einem kleinen Wasserfall vorüberführte. Die Brücke war aus Holz und hatte kein Geländer, doch die Passage sah heikler aus, als sie war. Es wäre sicher nichts
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passiert, wenn das Holz nicht glitschig vom Wasser oder Robert nicht unsicher infolge seiner Kreislaufprobleme gewesen wäre. Doch unter diesen Umständen schien der Sturz geradezu unvermeidlich. Robert Kunz landete der Länge nach auf den Brettern, hatte Glück, dass er nicht in den Bach purzelte, und Pech, weil er sich mit der Hose an einem Nagel verfing, der eigentlich eine Latte mit der Trägerkonstruktion verbinden sollte. Holm, der Robert folgte, konnte rechtzeitig stoppen und half ihm auf. Dabei machte der Pechvogel ein merkwürdiges Geräusch, es klang wie »Schrrrrt« und zeigte an, dass der Nagel sich nur ungern von der Hose lösen wollte. »Mist!«, murmelte der Verunglückte verstört. »Oh!«, machte der Helfer hilflos. »Nein!,« rief der Vorstandsvorsitzende vorerst. »Jesses!«, stöhnte der Regisseur resigniert. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir für diesen Set Stuntleute brauchen würden.« Der helle Stoff war dreckig und zerrissen. Obermayr tobte, und Eimel konnte sich nur mit Mühe zurückhalten. Diesmal waren sich die Rivalen einig: Robert war ein Tölpel, so konnte nicht weitergedreht werden. Es blieb nichts anderes übrig, als den Hubschrauber zur Produktionsfirma zu schicken. Dort hatte man die Mimen eingekleidet. »Am besten, du fliegst mit«, wies Henning Robert an. »Dann kannst du die Ersatzhose gleich anprobieren. Es darf jetzt nichts mehr schief gehen.« »Gut.« Robert blieb einsilbig und dachte an den unnötigen zusätzlichen Flug, fügte sich aber in sein Schicksal. Nach kurzer Zeit kehrte der Hubschrauber zurück. Nachdem Susi Robert wieder Farbe verliehen hatte, wurde der Steg diesmal achtsam und erfolgreich bewältigt. Der nächste Drehort befand sich schon oberhalb der Baumgrenze. »Action!« 55
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
Ohne Mühe überquerten die Wanderer ein steiles Geröllfeld in der sengenden Mittagssonne, das Ziel war zum Greifen nah. Es war nur ein kurzer Flug mit dem Helikopter und ein Hüpfer hinab auf das Gipfelplateau für die Helden. Aber für die HEIMEL Visimatik AG sollte es ein entscheidender Schritt sein. »Action!« Sie reichten sich die Hände und sahen mit bedeutungsschweren Mienen ins Tal herab. Dann schweiften ihre Blicke zu den schneebedeckten Höhen entfernter Gebirgszüge. Tonlos streckte Eimel den Arm aus und wies seinen Mitstreitern die korrekte Richtung. Das Material wurde zu einem zweiundvierzig SeRollenverteilung kunden langen Spielfilm geschnitten und mit Naturgeräuschen – vorlaut krakelenden Vögeln im Morgengrauen und einem schadenfroh gurgelnden Wasserfall – sowie Musik vertont. Robert votierte für Richard Wagner; er dachte dabei wohl an Hubschrauber und den Soundtrack von »Apocalypse Now«. Doch bei Holm und Henning stieß er damit auf wenig Verständnis. Da sich sonst niemand mit klassischer Musik auskannte, wählte folglich Obermayr die passende Untermalung aus. Schließlich klang die Filmmusik wie »Vier Jahreszeiten« von Vivaldi in der 42-Sekunden-Fassung. Eimel krönte das Werk mit einer Erklärung:
Obwohl der Umgang der Manager miteinander eher informell zu sein scheint, gibt es eine klare Rollenverteilung: Henning hat als Chef das Sagen. Robert scheint für jegliches Missgeschick zuständig zu sein, und Holm bleibt als Mitläufer ohne Profil. Man kann vermuten, dass die Konstellation aus ihrer Entstehungsgeschichte erklärbar ist, und wahrscheinlich arbeitet die Führungsmannschaft in dieser Form nicht sonderlich effizient zusammen. Wenn das Unternehmen erfolgreich sein soll, dann wird sich das Führungstrio ändern müssen. Und diese Aufgabe wird jeden unserer drei Helden betreffen: Wenn Holm seine Fähigkeiten einbringen soll, muss Henning sich zurücknehmen, und wenn Robert seine Rolle als Tölpel aufgeben soll, dann werden seine Kollegen darauf verzichten müssen, dass er meist diesen Part für sie übernimmt.
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»Die HEIMEL Visimatik AG gestaltet die Zukunft. Wandern Sie mit uns zu fernen Horizonten!« Während der Vorstandsvorsitzende die entscheidenden Worte sprach – hinterher war sogar ihm aufgefallen, dass Horizonte immer fern waren und man sie eigentlich nie erreichen konnte, aber man sollte sich ja auch keine zu leichten Ziele setzen –, stand er wieder einmal auf der Treppe vor dem Firmensitz. Nachdrücklich redete er auf die Kamera ein, sein Appell verlängerte den Film um weitere sechs Sekunden. Der Spot wurde ein paar Mal im Fernsehen gezeigt, um die neue Strategie der Firma publik zu machen. Außerdem mussten ihn einige Kinobesucher erdulden, bevor sie den Film sehen durften, für den sie bezahlt hatten. Holm hätte an dem Drehtag lieber etwas Produktives getan, er war kein Freund von PR-Aktionen. Aber er hatte eingesehen, dass eine gute Öffentlichkeitsarbeit wichtig war. Trotzdem wollte er jetzt nicht mehr an den unsäglichen Gipfelsturm erinnert werden. Schmecker tat ihm den Gefallen aber nicht. »Großartig! Toll, wie die positive Stimmung vermittelt wird. Sicher hattet ihr einen Helikopter. Ihr hattet bestimmt jede Menge Spaß in den Bergen.« Günther Schmecker war schließlich Marketingprofi. Er wusste, wie Werbefilme produziert wurden, aber von den Unannehmlichkeiten am Drehtag konnte er natürlich nichts ahnen. Deshalb unterliefen ihm gleich drei Fehler: Ohne es zu wissen, kam er auf das falsche Thema zu sprechen. Außerdem passte er sich zu schnell der Du-Kultur an. Der persönliche Umgangston wurde ihm zwar regelrecht aufgenötigt, doch trotzdem hätte er zurückhaltender sein müssen. Darüber hinaus zeigte er Engagement, was ihn in den Augen einiger Kollegen zur Bedrohung werden ließ. Die neuen Mitarbeiter wurden genau beobachtet. Womöglich hoben sie den Leistungsstandard, was nicht gern gesehen war. Günther sollte noch erfahren, wie es Angestellten der HEIMEL AG 57
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ergehen konnte, die sich kompetent und engagiert zeigten. Zunächst genoss er aber die Feier und biss herzhaft in seine Bratwurst. »Zum Stichwort Marketing fällt mir der Text von Mosler über die Grundlagen der entwicklungsorientierten Organisation ein. Was haltet ihr davon?« Henning wechselte das Thema, und Robert fühlte sich ertappt. Er hätte das Papier, das ihn so gelangweilt hatte, vielleicht doch zu Ende lesen sollen. Wenn Henning es erwähnte, dann musste es wichtig sein. Doch der Firmenchef fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Die entwicklungsorientierte Organisation könnte ein Was Was heißt Was tun? neuer Trend sein. Mir ist passiert? das? zwar nicht klar, was genau Henning setzt auf die Wirkung des damit gemeint ist, aber du Shareholder Value. Einerseits will weißt ja, Günther, wir müser die Firma mit Hilfe des Kapitalsen mit unserer Software alle marktes sanieren, andererseits hofft Unternehmensformen aber, seine Mitarbeiter durch den steidecken. Nimm dir diesen genden Aktienkurs zu motivieren. Text einmal vor. Überlege Das turbulente Börsengeschedir, was man daraus machen hen der letzten Jahre haben Sie bekann. Eine Kampagne, eine stimmt noch in Erinnerung. Oft wurde versucht, mit Aktienoptionen die Anzeige, ein Memo für unMitarbeitermotivation zu steigern, sere Vertriebsleute oder so. meistens mit wenig Erfolg. Ein ProSprich mit Mosler.« Eimel blem liegt im geringen Zusammenblickte sich um, um Mosler hang zwischen dem Firmenwert zu suchen. »Er scheint nicht und der Leistung des einzelnen hier zu sein. Robert kann dir Mitarbeiters. Deshalb machen steiaber helfen, er kennt das gende Kurse die Anteilseigner vor Papier auch.« allem zufrieden. LeistungsbereitKunz und Schmecker schaft hängt mit Zufriedenheit aber nur bedingt zusammen. Sicher ist nickten sich zu. »Ich werde allerdings, dass die Fokussierung dich am Montag in deinem auf den Aktienkurs nicht ohne AusBüro besuchen«, kündigte wirkungen auf die weitere EntwickGünther an. Damit hatte er lung der Firma bleiben wird. seine erste Aufgabe übernommen. Shareholder Value
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Man feierte noch eine Weile sich selbst und die Firma. Das Grillfest war eine gute Gelegenheit, die neuen Kollegen kennen zu lernen. Man sprach vor allem über den Aktienkurs. Seit dem Beginn der Werbekampagne war er um einige Euros gestiegen. Die Glücklichen, die schon länger Papiere besaßen, freuten sich über den Profit. Die wenigen Angestellten, die noch nicht zu den Teilhabern ihrer Firma zählten, nahmen sich vor, ihren Fehler so bald wie möglich gutzumachen. Holm hingegen war mit anderen Dingen beschäftigt. Er besaß zwar auch einige HEIMEL-Aktien, doch Geld war für ihn kein vorrangiges Thema, denn er leistete sich kein anspruchsvolles Leben. Holm dachte an den Rest des Wochenendes. Abends würden die offiziellen Feierlichkeiten zum Firmenjubiläum in der Kongresshalle stattfinden. Eingeladen waren die Führungskräfte, wichtige Kunden und Großaktionäre. Vertreter aus Wirtschaft und Politik würden Reden halten und Eimels unternehmerischen Erfolg, seinen Mut und Weitblick loben. Klassische Musik und ein Ball sollten die Feierlichkeiten krönen. Die Gäste würden sich mit ihren Partnern amüsieren. Derweil würde Holm sich einsam fühlen, eine freundliche Miene zur öden Veranstaltung machen und langweilige Gespräche führen müssen.
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Glattes Parkett
Die örtlichen Honoratioren aus Politik und Wirtschaft hatten sich versammelt. Alle, die etwas mit der HEIMEL Visimatik AG zu tun hatten oder zu tun haben wollten, sowie alle, die sich für unentbehrlich hielten, waren zu dem gesellschaftlichen Ereignis in der Kongresshalle erschienen. Somit fand das Firmenjubiläum die dem Anlass entsprechende Beachtung in der Öffentlichkeit. Zunächst wurden Reden gehalten. Sie waren so inhaltslos, wie Holm befürchtet hatte. Der Bürgermeister betonte die Bedeutung der HEIMEL AG für die Stadt, der Landtagsabgeordnete unterstrich den Stellenwert der Firma für den regionalen Arbeitsmarkt, der Vorsitzende der Industrie- und Handelskammer erhob sie sogar zum beachtlichen Beispiel für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich. Henning Eimel, der sich als Firmengründer im Fokus der Auszeichnungen wiederfand, lobte schließlich seine Vorredner, ohne deren Unterstützung die Erfolgsgeschichte angeblich nicht hätte geschrieben werden können. Im Saal verbreitete sich Zufriedenheit, wahrscheinlich auch deshalb, weil die Anwesenden als Aktionäre der HEIMEL AG vom wachstumsorientierten Kurs zu profitieren hofften. Dabei hörte man den Rednern nur mit einem Ohr zu. Am eifrigsten verfolgten noch die Vertreter der Presse die Vorträge. Nachdem der formelle Teil des Festakts abgespult war, lud eine Big Band zum Tanzen ein. Da Holm keine Partnerin vorzuweisen hatte, konnte er sich zunächst nicht aufs Parkett flüchten. Einige lästige Gespräche waren unvermeidlich. Als künftiger Geschäftsführer war der Softwarespezialist nun plötzlich ein offizieller Vertreter des Unternehmens. Unversehens konfrontierte man ihn mit den unterschiedlichsten Wünschen und Erwartungen. Ein Industriemanager erzählte Holm von seinem Sohn, der vor kurzem den Abschluss in Betriebswirt-
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schaft gemacht und im Fach Controlling beachtliche Noten vorzuweisen hätte. Er würde sicher einen guten Finanzchef abgeben, plauderte der stolze Vater. Sein Zögling habe zwar nur wenig Erfahrung, dafür sei er jung und würde gut zu HEIMEL passen. »Sie wissen ja, wie das im Personalmarketing so läuft«, raunte der Manager. Holm wusste es, er verwies den eloquenten Vater im Nadelstreifenanzug an das Personalbüro – der Herr Sohn möge doch so freundlich sein, sich mit den üblichen Unterlagen zu bewerben. Der EDV-Chef eines Kundenunternehmens wollte gleich selbst bei der HEIMEL AG anheuern. »Ganz unter uns«, flüsterte Herr Frieser in vertraulichem Ton. »Sicher wollen Sie als Vorstand jetzt einen Gang zurückschalten. Sie haben doch genug geackert, um dahin zu kommen, wo sie jetzt sind«, spekulierte er, um Holm großzügig anzubieten, ihm die Führung der Entwicklungsabteilung abzunehmen. Dann erkundigte er sich diskret nach den Verdienstmöglichkeiten und der Dienstwagenregelung. »Das Auto interessiert mich nur am Rande, Sie verstehen mich doch richtig?«, vergewisserte sich Herr Frieser und nestelte an seiner Krawatte, die zu kurz gebunden war. Eine Handbreit über dem Hosenbund hing sie in der Luft. Freilich verstand Holm das generöse Angebot trotzdem so, wie es gemeint war. Beinahe war er gerührt, dass man sich derart um ihn sorgte, doch den Umgang mit Typen wie Herrn Frieser fand er nicht zum ersten Mal heikel. Letztlich aber war die HEIMEL AG auf ihre Kunden angewiesen, Holm durfte den EDV-Leiter nicht verprellen. Zum Glück drängte es ihn just in diesem Moment zur Toilette. Er entschuldigte sich für seine Unpässlichkeit und achtete den Rest des Abends darauf, Herrn Frieser, der nun unauffällig das Sakko zuknöpfte – vielleicht um seine Krawatte abzuschirmen –, nicht wieder über den Weg zu laufen. Auch ein »Finanzberater« – Holm wunderte sich, wer ihn eingeladen hatte – witterte eine Chance. Er bat um 61
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eine Liste der sicherlich gut situierten Angestellten der HEIMEL AG, um ihnen Lebens-, Unfall-, Kranken-, Arbeitsunfähigkeits-, Rentenzusatz- und Haftpflichtversicherungen anzubieten. Im Gegenzug für diese Gefälligkeit ließ er Holm sogar die Wahl zwischen einer persönlichen Vergütung und einer offiziellen Beteiligung der Firma an den Provisionen. »Im Vertrauen«, flüsterte der Makler, nicht ohne sich zu vergewissern, dass keine Lauscher in Hörweite waren, »es ist klar, dass Sie bei einer persönlichen Vereinbarung einen guten Schnitt machen würden.« Das konnte Holm sich in der Tat vorstellen, am Einlass erkundigte er sich nach der Legitimation des Mannes. Kurz darauf wurde der eifrige Makler unauffällig von einem Ordner aus der Kongresshalle befördert. Selbst der Chef der Reinigungsfirma, die das Traumschiff in Schuss hielt, war Was Was heißt Was tun? gekommen. Er wollte sich – passiert? das? der guten KundenbezieHolm hat den Karriereschritt vom hung wegen – nur blicken Software-Spezialisten zum Manalassen und genoss die Häppger zu bewältigen. Damit verbunchen und den Sekt. »Herr den sind ungewohnte AnforderunKenning«, flüsterte der Gegen, vor allem die Erwartungen schäftspartner, »den Tipp seiner Gesprächspartner machen gebe ich nur Ihnen persönihm zu schaffen. Mit beruflichen Rollen sind jeweils typische Erwarlich: Wussten Sie, dass die tungshaltungen verknüpft, die es Lachsröllchen mit Spargelzu (er-)kennen gilt. Während des Gurken-Füllung und dem Festaktes gelingt Holm dies recht extravaganten Dill-Dekor gut, doch auch im Alltag wird ganz ausgezeichnet sind?« er sich bewähren müssen, um als Das war endlich eine Manager akzeptiert zu werden. interessante Neuigkeit. Eilig labte Holm sich an den Berufliche Rolle Lachsröllchen, bevor sich der Tipp herumsprach und ihm andere die vorzüglichen Bissen vor der Nase wegschnappten. Offenbar hatte Holm als junger Manager schon viel begriffen. Er war sich der Macht bewusst, die ihm seine
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neue Position verlieh. Es war ein gutes Gefühl, Einfluss zu haben und wichtige Entscheidungen fällen zu können. Dies sowie seine finanzielle Unabhängigkeit gaben ihm eine gewisse Sicherheit, doch er hatte sich vorgenommen, »sich nicht auf die billige Tour einfangen zu lassen«, wie er sich auszudrücken pflegte. Auch als Manager wollte er »unabhängig«, »gerecht« und »vernünftig« handeln, so wie es bisher stets seine Art gewesen war. Was den Umgang mit Geschäftspartnern anging, unterschied er sich aber wesentlich von Eimel: Henning nutzte jede Gelegenheit, um Geschäfte einzufädeln, Kontakte zu knüpfen und Beziehungen zu pflegen. Er war ein Meister des Smalltalks, und Holm war froh, dass Henning diese Stärken besaß. Einige seiner aufdringlichen Gesprächspartner konnte er abwimmeln, indem er sie an den ersten Vorstand verwies. Schließlich sollte der Abend aber auch für Holm ein angenehmes Ende nehmen, denn er lernte Dr. Mai kennen, eine der wenigen Frauen, die nicht als Ehefrau des wichtigen Herrn Soundso geladen waren. Sie war als Abgesandte der Hausbank Was Was heißt Was tun? das? erschienen und als Leiterin passiert? der Abteilung »KreditgeDiesmal kommt Holm das Komschäfte Firmenkunden« für pliment locker über die Lippen. Wir HEIMEL zuständig. Nicht haben ihn bei seiner zweiten Beeine Sekunde dachte Holm gegnung mit Dani ja schon anders daran, Frau Dr. Mai an Henerlebt: »gut vorbereitet«, verkrampft ning »abzuschieben«. Aufund blockiert. Wie hat er es gemerksam registrierte er ihren schafft, sich diesmal nicht zu blaTitel und dass sie vielleicht mieren? Vielleicht liegt es daran, dass er keine Chance hatte, sich zehn Jahre älter war als er. auf die unverhoffte Begegnung Sie machte nicht den Einvorzubereiten. In diesem Fall war druck einer typischen Kares jedenfalls das Beste, dem Leben rierefrau, wenn es die typiselbst die Regie zu überlassen – sche Karrierefrau überhaupt zum Vergnügen aller Beteiligten. gab. Jedenfalls unterhielten sie sich angeregt, diese BeUnverhofft kommt oft gegnung konnte er genie63
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ßen. Dennoch rätselte Holm, was die Bankmanagerin von ihm wollte. Nach einer Weile aber bat Holm gut gelaunt Frau Dr. Mai, die inzwischen Karin hieß, sogar zum Tanz. Zusammen mit Dani hatte Holm einige Tanzkurse besucht. Von seiner Ex-Freundin hatte er viel gelernt, nicht nur die Grundschritte. Das kam ihm nun zu gute. »Karin, ganz unter uns: Sie tanzen ausgezeichnet, es macht Spaß mit Ihnen den Abend zu verbringen – wenn Sie verstehen, was ich meine.« Holm gestand der Geschäftsfrau seine Freude in einem Anflug von Verwegenheit. »Gewiss, ich verstehe Sie gut«, antwortete Karin belustigt und überraschte Holm mit einem Augenzwinkern, das ihn beinahe aus dem Takt gebracht hätte.
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Vom Genuss sinnerfüllter Arbeit
Die Werkstatt befand sich in einem Backsteingebäude, das als Lagerhalle auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs ausgedient hatte. Die Halle war ansehnlich groß und bot den idealen Rahmen für die Aufführungen, die dort inszeniert wurden. Den Ziegeln war ihre Geschichte anzusehen, einige Steine bröckelten, andere waren von Spinnweben bedeckt. Gute und schlechte Zeiten hatte das Gemäuer überstanden, so dass es nun gelassen der Zukunft entgegenblicken konnte. Nicht zuletzt deshalb war der Raum von einer ganz eigenen Atmosphäre erfüllt. Der Besucher fühlte sich fremd in der fast unwirklichen Umgebung, obwohl er herzlich willkommen war. Vorsichtig sog er die mit Harz gewürzte Luft ein. Licht flutete durch eine Fensterfront, es ergoss sich auf das Inventar und beleuchtete die Bühne. Beinahe unwirklich schien das Arrangement. Aber die Maschinen waren kalt, die Hobel scharf, das Schleifpapier rau. Morgens, bei schräg einfallender Sonne, meinte der Gast, die Lichtbündel beinahe mit Händen greifen zu können. Er war versucht, sie zu ertasten. Unmöglich, sie mit den Augen zu erfassen, der Blick konnte nicht folgen, die staubige Luft flirrte, die tanzenden Kegel beleuchteten den Schauplatz in stets wechselnder Art. Manchmal wurde die Hobelbank wie von einem Scheinwerfer in Szene gesetzt, dann wieder schimmerte die Kettensägemaschine. Kurze Zeit später spielten womöglich die Astlochfräsmaschine und die Plattenkreissäge die Hauptrollen. Die Geräte und Werkzeuge standen abwechselnd im Mittelpunkt – vom Schichthobel bis zur Kantenschleifmaschine hatten sie alle ihren großen Auftritt. Der Meister hatte die Maschinen gebraucht gekauft, viele robuste Arbeitskräfte waren um ihn herum versammelt. Man sah es ihnen an, sie hatten über die Jahre so etwas wie Persönlichkeit entwickelt, ihrer Funktionen und Rollen schienen sie sich bewusst zu sein. Auch der 65
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allgegenwärtige Staub und die Späne konnten die Ausstrahlung der Darsteller nicht dämpfen, im Gegenteil: die Patina unterstrich ihre Würde. Keiner der Akteure musste sich in den Vordergrund spielen, das Ensemble brillierte als Ganzes. Die scheinbar planlos verWas Was heißt Was tun? streuten Holzplatten und halb passiert? das? fertigen Möbel gehörten zur KuArbeit kann Spaß bereiten, hoffentlisse. Der Meister war Intendant lich haben Sie diese Erfahrung und Regisseur in einer Person. auch schon gemacht. Thomas, der Zur Aufführung kam nur ein Schreinermeister, gibt zusammen Stück, geprobt wurde nie. Die mit seinem »Ensemble« ein Beispiel Künstler waren Profis der Improdafür, wie zufriedenstellend ein visation, keine Vorstellung glich Beruf sein kann. der anderen. Jeder Tag war PreNun ist Thomas sein eigener mierentag, doch der Titel des StüChef, doch auch für »normale« Arbeitsplätze in Betrieben gilt: Arbeit ckes lautete immer gleich. Man kann mehr oder auch weniger günhätte ihn in Leuchtschrift über stig für die Entwicklung der Mitardem Werkstatteingang anbringen beiter gestaltet und organisiert sein. sollen: »Vom Genuss sinnerfüllter Leider wird oft behauptet, dass Arbeit.« es allein von der Einstellung zur Arbeit abhinge, ob jemand zufrieden und motiviert ist. Die Aussage ist abwegig. Nicht nur der Vergleich von Gruppen und Fließbandarbeit zeigt die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Mitarbeiter und die Arbeitsleistung deutlich. Es lohnt sich darauf zu achten, dass den Mitarbeitern Handlungsspielräume und Lernmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Thomas arbeitete gern mit Holz und mit seinen Maschinen, aber er beschäftigte weder Lehrlinge noch Gesellen. Die meiste Zeit verbrachte er allein in der alten Lagerhalle, wenn nicht zufällig ein Gast einer der Aufführungen beiwohnte. Manchmal kam Holm auf einen Sprung im Schauspielhaus vorbei. In den letzten Jahren hatten er und Arbeitsgestaltung Thomas einige gemeinsame Interessen entdeckt, inzwischen hatte sich ihre Bekanntschaft zu einer Männerfreundschaft entwickelt. Begeistert erzählte Holm ein paar Tage nach dem Jubiläumsfest Thomas von den ambitionierten Plänen,
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aufgekratzt sprach er von den Zielen der HEIMEL AG und den aktuellen Ereignissen. Holm berichtete, wie Henning die Analysten von der Zukunft überzeugt hatte, von Hennings Zukunft natürlich, und erklärte seinem Freund, wie sie einen weltweiten Konzern aufbauen würden. Der Softwarespezialist war euphorisch wie selten. Meist hielt Holm sich gern in der Schreinerei auf. Oft staunte er über die exakte Ausführung der Tische, Truhen und Schränke, die Thomas anfertigte. Doch diesmal hatte er weder einen Blick für die schönen Möbel noch das geringste Gespür dafür, welchem schöpferischen Werk er hier beiwohnte. Selbst wenn man Holm noch so eindringlich die Bedeutung der Aufführung vor Augen geführt hätte, er hätte nichts verstanden. »Vom Genuss sinnerfüllter Arbeit« hatte er keine Ahnung. Unterdessen lauschte der Schreinermeister den Erzählungen des Unternehmensvorstandes; er versuchte redlich sich vorzustellen, was Holm ihm schilderte. Aber es gelang ihm nicht. Ab und zu zerteilte die Säge kreischend den Redefluss des Gastes. Die Akteure ließen sich in ihrer Aufführung nicht stören, sie schienen sich gegen die konstruierten Vorstellungen des Managers zu wehren. Die Informationen flogen wie Hobelspäne durch die Luft, unnütz und unförmig, in keiner Weise passten sie zusammen. Während das Buchenregal, an dem Thomas werkelte, Teil für Teil Gestalt annahm, blieben die Visionen, die Holm seinem Freund vermitteln wollte, schemenhaft und blass. Doch wie so oft bestrahlte die Sonne den Raum, wie immer war das Spiel der Lichtkegel lebendig und leicht – vielleicht war es an diesem Tag sogar ein wenig frecher als sonst.
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Bist du dabei?
Nach den Feierlichkeiten überfiel der Arbeitsalltag die HEIMEL Visimatik AG hinterrücks. Die neuen Angestellten hatten es nicht leicht, sich im Kollegenkreis zurecht zu finden, und die altgedienten Kollegen hatten ihrerseits unter dem Interesse der vielen Neulinge zu leiden. Wie in jedem Unternehmen, so regelten zahlreiche ungeschriebene Gesetze, die sich im Lauf der Zeit etabliert hatten, das Miteinander. Wichtig war die persönliche Anrede. Der informelle Umgang stärkte das Gefühl der Zusammengehörigkeit und bestätigte die Angestellten in dem Glauben, anders und dynamischer zu sein, als die Mitarbeiter in den anderen Firmen, gegen die man sich durchsetzen musste. Vor allem den behäbigen Großkonzernen, die wie Ozeanriesen ziellos auf den Weltmeeren dümpelten, fühlte die Besatzung des Traumschiffs sich nicht zuletzt durch das freundschaftliche Gebaren überlegen. Es war allerdings ratsam, trotz der scheinbar herzlichen Wärme, die jeden Neuling umschlang, nicht zu übermütig zu werden. Günther Schmecker war unvorsichtig gewesen, als er mit Eimel gleich bei erster Gelegenheit den Gepflogenheiten entsprechend umging. Die Wirkung der persönlichen Anrede verstärkte noch ein spezielles Ritual. Wie viele Menschen »Guten Morgen!«, »Guten Tag!« oder »Guten Abend!« sagen und sich dabei die Hand reichen, so klopfte man sich bei HEIMEL auf die Schulter und begrüßte den Kollegen mit »Bist du dabei, Peter?« oder wie auch immer der Angesprochene hieß. Die korrekte Antwort hatte zum Beispiel »Ich bin dabei, Sabine!« zu lauten. Man wurde sozusagen zum Ritter der HEIMEL AG geschlagen und zwar vielfach täglich. Wie das Begrüßungsritual entstanden war, wusste niemand wirklich. Wie meistens in Fällen von kollektiver Unwissenheit, kursierten allerdings Gerüchte. Eines davon erzählte die Geschichte der Gründung der HEIMEL Visimatik:
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Nachdem damals alle Einzelheiten besprochen worden waren, hatten sich Henning und Robert mit erhobenen Gläsern und feierlichen Mienen gegenübergestanden. »Bist du dabei, Robert?«, hatte Henning wissen wollen. »Ich bin dabei!«, hatte Robert bestätigt und dem Freund vor Begeisterung so wuchtig auf die Schulter geschlagen, dass das feierliche Gesicht versteinert war, die Hand gezuckt hatte und der Champagner übergeschäumt war, um schließlich an Roberts Sakko abzuperlen. Wenn man dieser Anekdote Glauben schenken wollte, dann war der ungewöhnliche Willkommensgruß – und womöglich auch Roberts Was Was heißt Was tun? Ruf als Tollpatsch – so passiert? das? und nicht anders entstanden. Wie in jedem Unternehmen, so hat Deshalb spielten sich in den sich auch innerhalb der HEIMEL Büros vor allem morgens AG eine eigene Kultur entwickelt. skurrile Szenen ab: Da jeder Die Rituale sind tatsächlich ungedabei sein und sich von wöhnlich – für Außenstehende, doch für die Beteiligten haben sie jedem anerkannt wissen einen Sinn. Jeder Mitarbeiter muss wollte, kam es in einem Büsich in das ungeschriebene Regelro, das sechs Kollegen beherwerk fügen, der Einfluss des Einzelbergte, täglich zu immernen auf die Spielregeln ist gering. hin fünfzehn BegrüßungsSelbst Manager haben kaum zeremonien – einer der direkte Einflussmöglichkeiten, Informatiker hatte das exakt aber sie sollten die Bedeutung der ausgerechnet. Oft sah das Firmenkultur verstehen. nach einem Handgemenge Was meinen Sie, was die Mitarbeiter der HEIMEL AG mit ihren aus, aber nur ein ahnungsloRitualen zum Ausdruck bringen ser Außenstehender hätte wollen? über das »absurde« Verhalten den Kopf geschüttelt. Denn Rituale was wussten schon Außenstehende? Sie ahnten ja nicht, wie wichtig den Mitarbeitern der HEIMEL AG ihr Zusammengehörigkeitsgefühl war. Die Handgreiflichkeiten wiederholten sich, sobald ein Kollege das Zimmer betrat. Das kam oft vor, denn es gehörte auch zu den Gepflogenheiten, Besprechungen 69
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persönlich, unmittelbar und mündlich durchzuführen. Obwohl die Angestellten via Computernetzwerk verbunden waren, wurde die elektronische Post kaum genutzt. Ebenso selten verabredete man sich am Telefon, und niemand mochte den digitalen Terminplaner verwenden. Wann immer jemand ein Anliegen oder einen Geistesblitz hatte und sich mitteilen wollte, stürzte er in das Büro der Kollegen, die er für zuständig hielt, oder einfach Anteil nehmen sollten an seiner Idee. Nicht selten kam es vor, dass sich diese in der Erregung des Begrüßungsrituals schon wieder davonstahl; was allerdings nicht allzu schlimm war. Man trank dann einen Kaffee zusammen oder ging im Innenhof spazieren – gelegentlich stellte sich der entschwundene Gedanke in entspannter Atmosphäre sogar wieder ein. In den Anfangszeiten der HEIMEL Visimatik hatte sich die Angewohnheit dieser »spontanen Kommunikation« als effizient erwiesen. Ständig mussten Informationen ausgetauscht werden, und mit wenigen Mitarbeitern funktionierte das am besten auf direkte Art. Doch angesichts der vielen neuen Gesichter, die man kaum kannte, geschweige denn wusste, wofür die Kollegen zuständig waren, störte man sich inzwischen öfter bei der Arbeit, als dass man sich half. Zusätzliche Unruhe brachten die neuen Kollegen in das Unternehmen. Manche waren sehr motiviert. Sie wollten wissen, in welchen Projekten sie mitarbeiten sollten, wem sie helfen konnten, wer ihr Chef war. Aber niemand konnte diese Fragen zufriedenstellend beantworten. Mit dem geballten Ehrgeiz der Kollegen kamen die wenigen erfahrenen Mitarbeiter nicht zurecht, sie waren überfordert. Diesem Problem begegnete die Organisation mit einer Legende: Die Parole »Training – on – the – Job« wurde zur HEIMEL-Kultur hinzugefügt. Eimel meinte damit, dass die neuen Mitarbeiter in die Teams und Arbeitsgruppen integriert werden sollten, um die notwendigen Kenntnisse am Beispiel praktischer Aufgaben zu erwerben. Damit schien ihm die Einarbeitung im
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Sinne der dynamischen Firmenphilosophie ein für alle Mal geregelt zu sein. Leider wurde das Konzept »Training – on – the – Job« so verstanden, dass jeder sich die Aufgaben suchen konnte, die ihm gefielen. Das kam den Gruppen- und Bereichsleitern gelegen, denn entsprechend konnten auch sie den Tätigkeiten nachgehen, die ihren Neigungen entsprachen. Die meisten Führungskräfte entschieden sich vorzugsweise dafür, am Computerbildschirm zu tüfteln. Viele eiferten Holm nach und wollten auch geniale Programmierer werden. In Führungspositionen waren sie vor allem deshalb gerutscht, weil die HEIMEL AG wuchs und viele neue Posten zu vergeben waren. Das Traumschiff war, um es auf den Punkt zu bringen, die Heimat einer eingeschworenen Gruppe mit einem gemeinsamen Ziel: Sie alle wollten dazugehören. Im übrigen hatte jeder Mitarbeiter seine eigenen Vorstellungen. Zwar wurde in den Büros gearbeitet, getüftelt, probiert, programmiert und problematisiert. Freilich wurden Probleme aufgeworfen, diskutiert, disputiert, gewälzt, gelöst. Und selbstverständlich wurden Lösungen gefeiert, geprüft, realisiert – und manchmal leider wieder verworfen. Aber es kann nicht verwundern, dass das Unternehmen insgesamt nicht sonderlich effizient funktionierte. Die Integration der neuen Kollegen war ein Kernproblem. Man war auf alle Mitarbeiter angewiesen, man brauchte jeden Einzelnen, weil HEIMEL wachsen sollte und musste. Doch niemand wusste, wie man die Mannschaft des Traumschiffes zu einem Team integrieren konnte. Es schien unmöglich, die Individuen mit ihren Einzelinteressen, Erwartungen, Stärken und Schwächen auf ein Ziel auszurichten. Schlimmer noch, die HEIMEL AG schien sich sogar gegen die dringend notwendigen Veränderungen zu stemmen. Lieber hielt man an den vertrauten Formen fest, als sich den Herausforderungen zu stellen. Die Mitarbeiter wurden auf subtile Weise gedrängt, die »Standards« einzuhalten. Zu engagierte oder nur wenig ehrgeizige Kollegen liefen Gefahr, zu Außen71
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seitern zu werden. Der Erhöhung des Leistungsstandards wurde mit weiteren Legenden entgegengewirkt: Zum Thema »Training – on – the – Job« gesellte sich zu allem Überfluss das Gerücht, dass andere Einarbeitungs- und Fortbildungsmethoden bei Androhung von Abmahnung und Kündigung verboten seien. Ganz verpönt waren Schulungen und schriftliche Aufzeichnungen, sie galten als ineffizient und praxisfremd. Der absurde Mythos wirkte zuverlässig. Wer nicht die Gelegenheit bekam sich einzuarbeiten und die Produkte der Firma kennen zu lernen, der konnte auch nicht das Leistungsniveau heben. Niemand kam auf die Idee, das Gerücht zu hinterfragen. Wen hätte man auch ansprechen sollen? Die VerWas Was heißt Was tun? ordnung kam angeblich von passiert? das? »ganz oben«. Henning ist schlecht informiert. Von Aber »ganz oben« wussden Gerüchten und den Problemen te man nichts von den der Zusammenarbeit hat er kaum Gerüchten, die sich heimtümehr als eine Ahnung. Doch ähnckisch ausbreiteten. Immerlich, wie man »oben« die Probhin ahnte Eimel inzwischen, leme der Basis nicht versteht, weiß dass seine Mitarbeiter nicht man »unten« nichts von der prekären wirtschaftlichen Lage der an einem Strang zogen. HEIMEL Visimatik. Eimel hat seine Ganz durchschaut hatte er Mannschaft nicht über die tatsächdie Situation zwar nicht, liche Situation unterrichtet, stattdennoch glaubte er, etwas dessen verbreitet er optimistische unternehmen zu müssen. Visionen. Schließlich war er der Chef Doch die Probleme sind spürdes Hauses. Er war ein Mabar, die nahende Krise drückt sich nager, und als solcher hatte in dem übersteigerten Zusammener konsequent zu handeln. gehörigkeitsgefühl aus. Doch in welcher Richtung soll es weitergeAuf der nächsten Vorstandshen? Kein Wunder, dass die Zusitzung würde Henning sammenarbeit nicht klappt, denn Eimel deshalb das Problem weder die Probleme noch die Ziele ansprechen und lösen. der Firma sind konkret benannt. Die Kultur verstehen
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Das Orakel
Die wöchentlichen Vorstandssitzungen gehörten ebenso zur Firmenkultur wie das permanent im Raum lauernde Zusammengehörigkeitsgefühl. Henning, Robert und neuerdings auch Holm besprachen Freitags alle wichtigen Angelegenheiten, Henning Eimel traf dann die Entscheidungen. Manchmal zog das Führungstrio zur Klärung bestimmter Fragen noch bestimmte Mitarbeiter hinzu. Es blieb allerdings unbestimmt, wann dies geschah, denn Henning hielt breite Diskussionen nur selten für nötig. Diesmal stand jedoch auch Günther Schmecker auf der Teilnehmerliste des Meetings. Der Marketingchef hatte sich in Unkenntnis der Gepflogenheiten selbst eingeladen und wollte seine Überlegungen zur »Entwicklungsorientierten Organisation« vortragen. »Hallo, Frau Ziegler«, begrüßte Holm die Sekretärin. Die Sitzung fand wie immer im Besprechungsraum der Kommandobrücke statt. Wie üblich würde Frau Ziegler, Eimels Assistentin, für die Dauer der Besprechung alle Anrufer und ungebetenen Besucher abwimmeln. Die Vorstandssitzung war geradezu heilig, und dass das so blieb, darum kümmerte sich Marion Ziegler. Sie war mit ihren dreiundfünfzig Jahren die älteste Mitarbeiterin der HEIMEL AG und ließ sich als erfahrene Sekretärin nie etwas vormachen. Angestellt war sie als Vorstandsassistentin, doch den Titel hielt sie für Schnickschnack. Sie hatte eine Ausbildung als Sekretärin absolviert, schon immer hatte sie als Sekretärin gearbeitet, auch das sollte so bleiben. Vor allem hatte sie loyal zu ihren Vorgesetzten zu sein. Für Frau Ziegler, die keine eigenen Kinder hatte, waren die drei Vorstände fast wie Söhne. Wenn sie an ihre alten Chefs dachte – gestandene Manager mit abgestandenen Ansichten – und sie mit Henning, Robert und Holm verglich, musste sie schmunzeln. Sie fand ihre jungen Schützlinge so begeisterungsfähig, naiv und hilflos den Gefahren des Lebens ausgesetzt. Jemand musste sie behüten, und diese Aufgabe wollte 73
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Frau Ziegler gern übernehmen. Im Grunde war sie als eine Art Schutzengel für die HEIMEL Visimatik AG tätig. »Guten Tag, Herr Kenning«, antwortete Frau Ziegler. Sie war die einzige Mitarbeiterin, die nicht am allgemeinen »Bist du dabei?«-Ritual teilnahm. Holm wäre nie auf die Idee gekommen, Frau Ziegler zu duzen oder ihr auf die Schulter zu schlagen, was nicht hieß, dass die Chefsekretärin nicht dazugehörte. Im Gegenteil, es zeugte von Respekt, dass sie eine Sonderstellung genoss. Sie schaute ihn ernst an, ihre schmale Brille wirkte streng. Holm hatte das Gefühl, regelrecht durchleuchtet zu werden. Es war nicht direkt unangenehm, aber Frau Ziegler verunsicherte ihn immer ein wenig. Immer wenn er sie traf, fürchtete er, über seine Arbeitsleistungen befragt zu werden. Kläglich würde er dann Bericht erstatten. Herr Kenning, Ihre Leistungen sind gerade noch ausreichend. Wenn Sie sich nicht bessern, ist Ihre Versetzung gefährdet, hörte er sie urteilen. – Frau Ziegler war eine der Hauptfiguren in Holms Albträumen. Immer noch traf ihn ihr ernster Blick. »Sie sind der Erste!« In Holms Ohren klang das, als hätte die Vorstandssekretärin den Manager für seine Überpünktlichkeit getadelt. Als sich auch Eimel, Kunz und Schmecker eingefunden und am Besprechungstisch Platz genommen hatten, eröffnete der Vorstandsvorsitzende das Meeting. »Wir haben eine gute Woche hinter uns. Der Erfolgsmonitor zeigt inzwischen 29,50. Ihr wisst das sicher.« Henning sprach von der Digitalanzeige über dem Haupteingang, die den Aktienkurs neuerdings in die Welt posaunte. Keiner der Anwesenden hatte die Ziffern ignorieren können. »Wir können stolz sein! Auch die Angelegenheiten mit den Banken sind geregelt, wir haben keinen finanziellen Engpass mehr.« Damit bezog Henning sich auf die Kapitalerhöhung, die erfolgreich platziert worden war. Die monetären »Angelegenheiten«
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waren damit geklärt. Vorerst. »Wir dürfen unser frisches Kapital natürlich nicht verjubeln. Wir müssen vor allem unsere Projekte vorantreiben.« Hennings Begrüßung begann, wie so oft, in eine Rede auszuufern. Dadurch erübrigte sich eine Tagesordnung, denn die Themen ergaben sich aus dem Vortrag. Günther Schmecker begann – trotz der vereinfachten Besprechungsorganisation – unruhig seinen Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger zu kneten. »Ein Problem ist die Projektorganisation«, fuhr Eimel dennoch fort. »Jeder macht anscheinend, was er will: Die Berater besprechen sich mit den Programmierern, die Programmierer beraten die Kunden, die Kunden beklagen sich bei mir. So geht das nicht!« Die Mannschaft der HEIMEL AG konnte man – abgesehen von Verwaltung, Marketing und Vertrieb – grob in zwei Gruppen einteilen: Die Programmierer, die für die Entwicklung der Software zuständig waren, unterstanden Holm Kenning. Außerdem gab es Berater, die sich gern auch »Consultants« nannten, die mit der Projektabwicklung bei den Kunden betraut waren. Ihr Chef war Robert Kunz. Eimels Blick schweifte von Robert zu Holm und zurück, während Schmecker seinen Kuli zur Abwechslung zittern ließ. Das tat er sehr geschickt, mit hoher Frequenz federte das Schreibwerkzeug wie ein Paar Libellenflügel zwischen den Fingerkuppen hin und her. »Das Problem ist, dass die Kunden bei den Programmierern anrufen, wenn es mit der Software Schwierigkeiten gibt. Und die Entwickler schicken oft eigenmächtig Korrekturen oder Erweiterungen. Meine Leute bleiben dabei außen vor«, beklagte sich Robert. »Die Programmierer wissen eben am besten Bescheid, weil sie die Software entwickeln«, verteidigte Holm seine Spezialisten. »Aber so haben wir bald ein wildes Durcheinander an Programmen, mit denen sich niemand mehr auskennt. Im Moment haben wir nur wenige große Kunden, bald 75
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sollen es Hunderte sein. Es kann nicht jeder bekommen, was er will, sonst versinken wir im Chaos. Am liebsten wäre es mir, die Programmierer säßen im Keller und würden sich nur noch darum kümmern, was meine Leute ihnen auftragen«, erklärte Robert kraftlos. Den Vorschlag meinte er nicht wirklich ernst. Er hatte einfach keine bessere Idee, wie man die vielen Mitarbeiter, die an den verschiedenen Projekten beteiligt waren, koordinieren konnte. »Es ist aber doch unsere Stärke und Unternehmensstrategie, dass wir für alle Firmen, egal welcher Branche, die richtige Lösung anbieten«, warf Henning ein. »Genau«, meinte Kunz. »Aber was ist das Richtige? Das kann doch nicht jeder Kunde selbst bestimmen und einfach bei den Entwicklern bestellen. Die programmieren doch alles, weil es ihnen Spaß macht. Und letztlich laufen diese Aktionen auch an der Buchhaltung vorbei.« Auf den ersten Blick schien Roberts Situationsanalyse zutreffend zu sein: Die Kunden hatten Wünsche, und die Programmierer gingen motiviert und mit Spaß ans Werk. Genau darin lag das Problem! Günthers Finger waren inzwischen ein wenig feucht geworden, dennoch konnte er die Frequenz und Amplitude seiner imaginären Libellenflügel auf konstant hohem Niveau halten. Nur ab und zu hielt das Insekt in seiner Bewegung inne, um Schmecker Gelegenheit zu geben, einige Stichworte zu notieren. »Gut, dann ist die Sache doch klar: Wir müssen unseren Kundenprozess besser beherrschen«, folgerte Eimel. »Prozess« war eines der modernen Schlagworte, die in keiner Besprechung ungesagt bleiben durften. Günther Schmecker notierte auch diese Vokabel und unterstrich sie doppelt, obwohl er ihre Bedeutung kannte: Als Prozess bezeichnete man eine bestimmte Abfolge von Arbeitsschritten, in der wiederkehrende Aufgaben bearbeitet wurden. Der so genannte »Einkaufsprozess« eines Unternehmens könnte zum Beispiel aus den Schritten »Angebote einholen«, »Lieferant auswählen«, »Bestellung ab-
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
schicken«, »Ware entgegenEs ist nicht immer einfach, Probnehmen« und »Rechnungsleme und Ursachen auseinander zu betrag begleichen« bestehen. halten. Das Problem äußert sich Die Einkaufsabteilungen der darin, dass die Kunden sich nicht an den »richtigen« Ansprechpartner meisten Unternehmen arwenden und dass ein gewisses beiteten schon immer so, an»Durcheinander« entsteht. In komders wäre der Ablauf kaum plexen Systemen liegen die besten denkbar. Doch seit einigen Ansatzmöglichkeiten zur Lösung Jahren wurden derartige Arvon Problemen aber oft ein Stück beitsabfolgen »Prozesse« gevon den augenscheinlichen »Signannt. Leider waren Prozesnalen« entfernt. Es kann sogar sein, se nicht immer so einfach dass die wirksamsten Maßnahmen aufgebaut, wie das vielleicht weder mit den Problemen noch mit den Ursachen direkt in Verbinhier den Anschein hat. dung stehen. Oft gab es Verzweigungen Jedes Unternehmen sollte und Sonderfälle. Wurde etsich über Kunden und motivierte wa innerhalb des EinkaufsMitarbeiter freuen. Geeignete prozesses festgestellt, dass Maßnahmen zur Verbesserung der die gelieferte Ware fehProduktivität sollte Henning Eimel lerhaft war, so musste in also besser woanders suchen. den »Reklamationsprozess« Doch wer sagt ihm, dass selbst das verzweigt werden. Dort war Verhalten des obersten Managers in dem Geflecht der Ursache-Wirfestgelegt, wie bei einer Bekungs-Beziehungen einer Firma anstandung mit der Ware eine entscheidende Rolle spielt? und dem Lieferanten zu verfahren war. In dieser Art Probleme und Ursachen hingen alle betrieblichen Abläufe auf komplizierte Weise zusammen. Zur besseren Übersicht wurden Prozesse in Form spezieller Ablaufdiagramme dokumentiert. Die vollständige Sammlung aller Abläufe eines Unternehmens bestand aus Hunderten von Diagrammen, die vielfältig miteinander verflochten waren. Die Arbeitsschritte griffen wie Räder einer gewaltigen Mechanik ineinander. Das Unternehmen funktionierte perfekt, jedenfalls auf dem Papier. Leider hielten sich die Mitarbeiter nicht immer an die vorgeschriebenen Abläufe. Kompliziert wurde es außerdem, wenn sich Prozesse änderten oder 77
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hinzugefügt werden mussten. Doch Henning Eimel verspürte wenig Lust, sich mit diesen Problemen der praktischen Umsetzung zu beschäftigen. Im Übrigen war es ein Muss, als prozessorientiertes Unternehmen zu gelten. Das Prädikat zeichnete moderne Firmen aus, und auch die HEIMEL AG war fortschrittlich. Die Probleme mussten also durch verbesserte Unternehmensprozesse zu lösen sein. Was Was heißt Was tun? »Ich werde bis zur nächpassiert? das? sten Woche über unsere Um nicht missverstanden zu werProzesse nachdenken«, entden: Ich möchte mich nicht gegen schied Eimel. »Und deine prozessorientierte OrganisationsIdee, Robert, die Programformen aussprechen. Allerdings mierer in den Keller zu verhalte ich Unternehmen für ebenso setzen, ist gar nicht so »individuell« wie Menschen. Jede Firma muss ihren Weg finden. schlecht.« Dabei ist die Prozessorientierung Als der auf Hochtoulediglich eine von zahlreichen ren wippende Libellenflügel Möglichkeiten. durch Günther Schmeckers Henning scheint die Methode klamme Finger flutschte außerdem falsch verstanden zu und mit Effet über den Tisch haben. Er benutzt sie, um sein kegelte, um als KugelschreiUnternehmen besser zu »beherrberprojektil zwischen Henschen«. Das kann nicht gut gehen, ning und Holm hindurch denn wer versucht, auf komplexe Systeme wie Unternehmen zu viel Richtung Boden zu schieDruck und Kontrolle auszuüben, ßen, blickte Robert verdutzt. der wird bald unangenehme ÜberWomit er das Lob verdient raschungen erleben. hatte, wusste er nicht. »Entschuldigung.« Den Prozessorientierung Zeitpunkt, das Schreibgerät abzufeuern, hatte Schmecker denkbar schlecht gewählt. Aber auch er konnte Hennings Logik nicht folgen und wollte seine Erfahrungen einbringen. »Wenn ich noch etwas zur Zusammenarbeit mit den Kunden sagen könnte. In meiner alten Firma hatten wir das so geregelt …« »Ich fürchte, wir haben jetzt keine Zeit, um das ausführlich zu diskutieren«, unterband Eimel die Initiative, denn für ihn war das Thema abgeschlossen. Mit einem
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schmallippigen Lächeln reichte er Schmecker einen Ersatzkugelschreiber; leihweise. »Wir brauchen schnell eine Lösung, nächste Woche kommen wir auf das Thema zurück. Erzähl uns lieber etwas über das Konzept der entwicklungsorientierten Organisation. Deswegen bist du ja hier, und diesen Trend dürfen wir auf keinen Fall verschlafen.« »Gut, Mosler habe ich zwar nicht erreicht, dafür habe ich mit Robert gesprochen.« Schmecker nickte betreten. Vieles hätte er zum Umgang mit Kunden sagen können, immerhin war er schon in mehreren Firmen erfolgreich tätig gewesen. Doch unter den gegebenen Umständen war es wohl besser, nicht auf einer Diskussion mit Eimel zu beharren. Sorgfältig achtete er auch darauf, das Schreibwerkzeug des Firmengründers nicht wieder in spielerischer Weise zu missbrauchen und unkontrolliert abzuschießen. »Moslers Text ist tiefschürfend, aber interessant. Ich habe einige Folien vorbereitet, mit denen das Konzept präsentiert werden kann. Zusätzlich sollten wir alle Mitarbeiter schulen. Die Leitgedanken sollten jedem in Fleisch und Blut übergehen, damit sie auch nach außen kompetent vertreten werden können. Das Modell der entwicklungsorientierten Organisation beruht auf guten Ideen. Menschliche Potenziale sollten in Unternehmen vor allem genutzt, entwickelt und nicht wie Verschleißteile von Maschinen verbraucht werden …« Schmecker sprach geradezu begeistert von der »entwicklungsorientierten Organisation«, die er auch als Leitidee für die HEIMEL AG selbst nützlich fand. Kurz ging er auf die beiden Weltbilder ein, die Mosler »mechanistisch« und »organismisch« nannte und die für das gesamte Papier wegbereitend waren. Das Konzept einer effizienten und zukunftsorientierten Unternehmung fußte auf drei Säulen: einer Führungsphilosophie, die den Mitarbeitern Spielräume ließ, der Betonung gegenseitiger Unterstützung und Zusammenarbeit und der so genannten bedingungsorientierten Arbeitsgestaltung. Schmecker fuhr 79
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fort: »Ein wichtiger Punkt ist die Eigenverantwortung der Mitarbeiter für ihre Tätigkeitsbereiche. Sie sollen so genannte vollständige Aufgaben übernehmen, statt nur mechanisch Teilschritte durchzuführen. So werden Potenziale erschlossen, und die Organisation wird flexibler. Damit verbunden sind Konsequenzen für die Gestaltung der Arbeitsgeräte und Hilfsmittel, zu denen auch Computerprogramme gehören. Sie sollten Werkzeugcharakter haben und die Leute nicht gängeln. Die Angestellten müssen durch die Technik unterstützt werden, sonst leidet die Einsatzbereitschaft. Diese Sicht hat auch Auswirkungen auf den Aufbau und die Anwenderschnittstelle unserer Software. Die Details können wir später besprechen, Holm, ich habe schon eine Liste wichtiger Punkte zusammengestellt. Außerdem habe ich hier den Entwurf eines Artikels, den wir in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichen Was Was heißt Was tun? sollten. Damit könnten wir passiert? das? uns als Vorreiter dieser Wieder begegnet uns die »entIdee profilieren.« Günther wicklungsorientierte Organisation«. Schmecker war mit Elan bei Womöglich handelt es sich dabei der Sache, wobei ihm allerum ein alternatives Konzept zur »Prozessorientierung«. Vielleicht dings entging, dass er seine könnten Moslers Ideen der HEIMEL Zuhörer gedanklich längst AG helfen, doch Eimel geht nicht abgehängt hatte. Als noch auf Schmeckers Vorschläge ein. Er mehr Ideen aus ihm herbeteiligt seine Mitarbeiter nicht an aussprudeln wollten, bremder Lösung der Probleme. Der ste Henning ihn endlich. Firmengründer könnte mehr errei»Halt, halt! Herr Schmechen, wenn er weniger kontrollieren cker!« Henning war vor und seinen Mitarbeitern Freiräume lauter Empörung wieder zur zugestehen würde – so, wie es die »entwicklungsorientierte Organiformellen Anrede übergesation« vorschlägt. gangen, während Robert und Holm ihren neuen KolBeteiligung legen entgeistert anglotzten. Derart umfassende Vorträge waren bisher nur Henning vorbehalten gewesen. »Sie sind sehr fleißig«, meinte der Vorstandsvorsitzende. »Das ist schön, aber wir müssen
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auch bedenken, was machbar ist. Wir können jetzt nicht unsere ganze Software auf den Kopf stellen.« Robert und Holm nickten zustimmend. »Sie haben ja gerade gehört, dass wir genügend Probleme damit haben, unsere Kunden zufrieden zu stellen. Es sollte reichen, wenn wir ein kurzes Papier formulieren – sagen wir eine Seite – und verteilen. Die Idee mit dem Artikel ist auch gut. Sehen Sie zu, dass Sie ihn möglichst oft in den relevanten Fachzeitschriften unterbringen können.« »Aber es ist ein grundlegendes Konzept. Wir müssen es gründlich durchdenken und verstehen, bevor wir es erfolgreich vermarkten können.« Noch einmal engagierte Schmecker sich für seine Idee, doch sein Elan begann nachzulassen. »Nein, das geht einfach nicht. Wir können nicht mehr tun«, entschied Eimel. Inzwischen war er wirklich verärgert. Es kam nicht oft vor, dass ihm jemand gute Ideen vortrug und dann auch noch widersprach. »Es wäre mir lieber, Sie würden sich noch ein paar Vorschläge für unsere Imagekampagne überlegen. Wir müssen bekannter werden, unser Firmenlogo muss sich den Leuten einprägen. Ich denke an Sport- oder Kulturveranstaltungen. Wir könnten als Sponsor auftreten. Überlegen Sie doch da mal was.« Für Henning Eimel war die Diskussion beendet, und Schmecker gab ihm seine Leihgabe zurück. Sein eigenes Schreibgerät sammelte er unter der Heizung auf, wo es eingeschlagen und sich in die Einzelteile eines Kugelschreibers zerlegt hatte. Schmecker puzzelte die Feder, Mine und die beiden Gehäusehälften wieder zusammen; manch einer hätte ihm seine Unzufriedenheit in dem Moment angemerkt. Holm wusste nicht, was er von der Sitzung und von seinem neuen Kollegen halten sollte. Er fand Schmecker ein wenig übereifrig und verkrampft. Der Lapsus mit dem Kugelschreiber hätte ihm nicht passieren dürfen. Außerdem fühlte Holm sich überfordert. Das Tagesgeschäft war aufreibend genug, dazu häuften sich in letzter 81
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Zeit die Anfragen der Kunden. Die Ideen zur entwicklungsorientierten Organisation, die Mosler in seinem Manuskript beschrieb, interessierten den Entwicklungschef nicht. Es kam ihm nicht ein einziges Mal in den Sinn, dass Schmeckers Vorschläge nützlich sein könnten. »Wie soll es bloß weitergehen?«, fragte Holm Frau Ziegler, die während des Meetings im Vorzimmer die Stellung gehalten hatte. Diese Frage stellte er der Chefsekretärin des öfteren und jedes Mal bekam er eine andere Antwort. Frau Ziegler war sein Orakel, und wie es sich für ein gutes Orakel gehörte, waren die Hinweise derart verschlüsselt, dass Holm mit ihnen kaum etwas anzufangen wusste. Trotzdem fühlte er sich nach den Begegnungen mit Frau Ziegler meistens besser. Es war so, als würden ihre Worte wohltuend auf ihn wirken, obwohl sein Verstand sie nicht verarbeiten konnte. Das war natürlich unmöglich – jedenfalls konnte Holm sich nicht vorstellen, dass ihn jenseits seines rationalen Vorstellungsvermögens etwas zu beeinflussen vermochte. Es gab ganz sicher eine Erklärung für den beruhigenden Was Was heißt Was tun? passiert? das? Effekt, den Frau Zieglers Worte auf ihn ausübten! Holm hat einen besonderen Draht »Es ist immer irgendwie zu Frau Ziegler. Sie beeindruckt ihn weitergegangen, sonst gäbe auf eine Art, die er nicht versteht. es kein Heute«, orakelte Doch die Beziehung zur ChefseFrau Ziegler. kretärin tut ihm offensichtlich gut. Oft sind es diese anregenden BeBeinahe hätte Holm gegegnungen mit anderen Menschen, antwortet: Früher war die die motivieren und Entwicklung Welt ja auch einfacher. Es voranbringen können – wenn auch hatte keine Aktien, keine oft auf unerklärliche Weise. Prozesse, keine Computer und all die anderen neuBegegnungen bereichern modischen Dinge gegeben. Doch er hielt sich zurück. Es gehörte mit zu ihrem Spiel, dass er die Weisheit des Orakels nicht in Frage stellte. »Tschüs, Frau Ziegler«, sagte Holm nur.
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Die Sekretärin erwiderte nichts. Stattdessen blickte sie Holm ernst und streng hinterher. Der Computerspezialist fühlte sich besser. Erstaunlich, wie die gute Frau Ziegler das wieder einmal hinbekommen hatte.
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König Kunde?
Holm hatte seinen Platz seit seiner Beförderung zum Manager in einem repräsentativen Büro in der Chefetage, doch bei »seinen Leuten«, den Informatikern, fühlte er sich wohler. In der Entwicklungsabteilung stand noch immer ein Schreibtisch für ihn bereit, an dem er viel Zeit zubrachte, wenn er nicht gerade durch die Gänge schlenderte, um dem geschäftigen Treiben nachzuspüren. Trotz der vorgerückten Stunde waren fast alle Mitarbeiter anwesend. Wie stets standen die Bürotüren offen, damit sie die Computerfreaks nicht behinderten, falls diese es eilig hatten und wieder einmal unterwegs zu einer der spontanen Besprechungen waren. Holm konnte das Klappern der Tastaturen hören. Er vernahm konzentrierte Gespräche, surrende Computerlüfter und brummende Drucker. Nur der Verstand arbeitete lautlos, trotzdem meinte der Chefentwickler die analytische Intelligenz seiner Experten regelrecht zu spüren. Sie war allgegenwärtig, inspirierte die Mitarbeiter, um sich schließlich in Geistesblitzen zu entladen und in Was Was heißt Was tun? Form genialer Computerpassiert? das? software Gestalt anzunehManchmal kann man aus den difmen. fusesten Signalen einen GesamtHolm genoss die Ateindruck gewinnen. Holm hat ein mosphäre, allmählich entGespür für seine Abteilung entspannte er sich. Nach der wickelt. Dagegen kann er seine Vorstandssitzung war der Wahrnehmung des VorstandsmeeAufenthalt in seinem Betings nicht interpretieren. Unterreich so erholsam wie ein schwellig merkt er, dass das GeKurzurlaub. Er freute sich spräch nicht gut verlaufen ist, doch Einflussmöglichkeiten sieht er nicht. über die Erfolge, die er mit Die Unsicherheit kostet ihn viel seiner Mannschaft schon erEnergie, denn kaum etwas ist anrungen hatte. Warum bloß strengender als eine Situation, der waren die Meetings mit man sich ausgeliefert fühlt. Henning und Robert oft so mühsam? An Schmecker alDiffuse Wahrnehmung lein konnte es nicht liegen,
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denn der Marketingleiter war zum ersten Mal dabei gewesen. Und Holm selbst hatte sich kaum beteiligt, im wesentlichen hatte er – wie meistens – nur zugehört. Die Unterredungen ermüdeten ihn auf eine merkwürdige Art. Dabei hatte er nichts weiter zu tun, als sitzend Haltung zu bewahren. Während der Entwicklungschef noch damit beschäftigt war, das Vorstandsmeeting zu vergessen, ließen ihn Misstöne aufhorchen. Die klaren Gedanken seiner Spezialisten wurden gestört, Holm registrierte die Veränderung sofort. »Wenn Sie alles so gemacht haben, wie ich es Ihnen erklärt habe, dann kann es kein Problem mehr geben«, behauptete jemand. Es war die Stimme von Franz Hiesel, Holms bestem Mitarbeiter. Er telefonierte mit einem Kunden, so viel war klar. Diskussionen zwischen Programmierern und Computerbenutzern waren leicht zu erkennen. Die Softwareexperten wirkten dann meistens gereizt oder gelangweilt, je nachdem. Außerdem fehlte den Gesprächen die in Informatikerkreisen übliche Klarheit – offenbar war Franz in Schwierigkeiten. »Bist du dabei, Franz?«, fragte Holm leise und schlug dem Mitarbeiter freundschaftlich auf die Schulter. »Ich bin dabei, Holm!«, vervollständigte Franz das Begrüßungsritual, wobei er die Sprechmuschel mit der Hand bedeckte. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Telefonat. Er machte ein ernstes Gesicht; fast hätte man es begriffsstutzig nennen können. Man sah Franz in diesem Moment nicht an, dass er im Grunde ein netter Kerl war. Wie gesagt, Unterhaltungen mit den Anwendern ihrer Software quälten die Programmierer; nicht nur die Stimmen wurden brüchig, in den Mienen spiegelte sich Unsägliches. Franz litt aus zwei Gründen: weil er von seiner Arbeit abgehalten wurde und weil er sich von seinem Gegenüber nicht verstanden fühlte. »Wer ist es?«, flüsterte Holm. 85
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»Steinbrecher, AP AG«, antwortete Franz. »Oje, nicht schon wieder!« Die Absolute Plastics AG war der beste Kunde von HEIMEL Visimatik. Der Konzern stellte fast alles her, was man aus Kunststoffen fertigen konnte. Die Produktpalette reichte von der Autostoßstange bis zur Zahnbürste. Die AP AG produzierte CD-Hüllen, Wäschekörbe, Gießkannen, Basketbälle, Heizöltanks, Blumenkübel, Staubsaugergehäuse, Gummidichtungen und Kleiderbügel in allen Farben und Formen. Die Produktvielfalt war unüberschaubar, was auch das größte Problem des Unternehmens darstellte: Die richtigen Erzeugnisse mussten zum richtigen Termin und in der richtigen Menge hergestellt werden. Man konnte es sich nicht leisten, weiße Kochlöffel zu produzieren, wenn der Kunde rote nachgefragt hatte. Deshalb musste irgendjemand den Überblick behalten und den Fabriken der Absolute Plastics AG sagen, was sie zu tun hatten. Genau das taten die Programme der HEIMEL AG. Sie bildeten das Gehirn des Konzerns und registrierten alles, was sich in den Produktionshallen abspielte. In der Software waren alle Artikel, Maschinen, Werkzeuge und Fertigungskapazitäten gespeichert. Das System hielt die Bearbeitungszeiten, Gewichte, Abmessungen, Herstellungskosten und viele weitere Daten für alle Erzeugnisse bereit. Die Computer wussten, welcher Kunde was bestellt hatte und wann die Produkte auszuliefern waren. Wurden kurzfristig gelbe Blumentöpfe der Größe 22 benötigt, so rechneten die Programme sogar aus, welche Mitarbeiter Überstunden zu machen hatten, damit die Bestellung termingerecht abgewickelt werden konnte. Bei AP munkelte man, dass der Kollege Computer sogar darüber informiert war, wann die Angestellten ihre Zigarettenpausen einlegten und welche Marken sie bevorzugten – das war allerdings nun wirklich nicht zutreffend, nicht nur die Unternehmenskultur der HEIMEL AG wurde durch Gerüchte bereichert.
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Jedenfalls steuerten die universellen Programme der Softwarefirma die Fabriken wie ein allmächtiger Herrscher – vorausgesetzt die Computer funktionierten wie vorgesehen. Wenn es ein Problem mit den Rechnern oder der Software gab, wenn ein Bug die elektrischen Schaltkreise verwirrte, dann konnten die Betriebe nichts mehr produzieren. Ohne die Anweisungen des Elektronengehirns waren sie wie gelähmt. Die Arbeiter wussten nicht mehr, was sie zu tun hatten, und die teuren Maschinen signalisierten gelangweilt mit roten Lämpchen, dass Kapazitäten verschwendet wurden. Wenn Steinbrecher sich in derartigen Fällen nicht anders zu helfen wusste, rief er bei HEIMEL an. Genau diese Situation war eingetreten: Werner Steinbrecher, der bei AP für den reibungslosen Betriebsablauf zu sorgen hatte, war mit seinem Latein am Ende. »Hast du das LATS schon geprüft?«, fragte Holm seinen Mitarbeiter. »Sicher, es liegt auch nicht am Extended-InterruptBit – Einen Moment bitte«, gab er Steinbrecher am Telefon zu verstehen. Das Fachgespräch, das Holm und Franz führten, war für einen Laien nicht nachvollziehbar. Es würde auch kaum helfen zu wissen, was LATS bedeutete und was ein Extended-Interrupt-Bit war. Es waren Fachausdrücke aus einer anderen Dimension, dem Universum der Informatik. Jedenfalls informierte Franz seinen Chef über seine Anstrengungen, den Fehler zu finden. Doch obwohl die Spezialisten von ihrem Expertenvokabular ausgiebig Gebrauch machten, kamen die beiden nicht weiter. Holm musste selbst mit dem Kunden sprechen. »Er ist schon etwas emotional«, flüsterte Franz ihm zu. Als »emotional« wurden bei der HEIMEL AG jene Mitmenschen bezeichnet, die sich nicht im Zustand »vernünftiger Zurechnungsfähigkeit« befanden. Der Begriff umfasste alle Gefühlsregungen, die Menschen auszudrücken vermögen: von Trauer bis Freude und von Ärger bis zur besinnungslosen Wut. Gleichzeitig disqualifizierte 87
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
das Etikett die »emotionale« Person für alle Formen der »sachlichen« Kommunikation und Zusammenarbeit. Für die Programmierer der HEIMEL AG waren »vernünftige« Gespräche nur bei völliger emotionaler Neutralität der Beteiligten denkbar. Deshalb versuchten sie, sich jeglicher Emotionen zu enthalten. Wenn jemand »Emotionalität« nutzen der Versuchung einer öffentlichen Gefühlsregung zu erliegen drohte, wurden die Gespräche unterbrochen: »Sei doch nicht so emotional!«, hieß es dann. Leider konnte man mit den Kunden nicht ebenso verfahren. Es war nicht zu ändern, dass Steinbrecher »emotional« war, was in diesem Fall etwa so viel wie »ungehalten« hieß. Als Holm den Hörer übernahm, kam Steinbrecher sofort zur Sache: »Diesmal ist es ganz schlimm. Nichts geht mehr und das schon seit Stunden. Der Produktionsausfall kostet uns enorme Summen …« »Wo genau liegt denn das Problem?« »Die Fabriksteuerung spinnt. Außerdem kann ich keine Produktionsaufträge mehr freigeben. Wenn ich mich anmelden will, erscheint die Meldung: »Schwerer Ausnahmefehler. Sie sind nicht autorisiert!« Sie wissen ja, dass ich die Produktionsaufträge freigeben muss. Das ist wichtig, damit wir hier arbeiten können.« Natürlich wusste Holm das. »Ich bin mir auch sicher, dass ich autorisiert bin. Ich muss hier nämlich die Produktionsaufträge freigeben«, wiederholte Steinbrecher verzweifelt. »Das mache ich seit zwanzig Jahren und dafür werde ich bezahlt! Würden Sie mir bitte helfen, dem Computer das klarzumachen.« Steinbrecher rettete sich in Galgenhumor. Er musste sich zusammenreißen, um nicht wütend zu werden und damit eine Stufe der »Emotiona-
Sei doch nicht so emotional! Kennen Sie diese Maxime? Gemeint ist der Ausdruck von Emotionen, denn Gefühlsregungen sollen die Arbeit nicht stören. Doch egal, wie wir uns nach außen hin geben: Emotionen gehören zum Leben. Natürlich sollten wir nicht jede innere Regung öffentlich kundtun, aber Empfindungen beinhalten Informationen, die nützlich sein können.
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lität« zu erreichen, mit der bei HEIMEL niemand hätte umgehen können. Holm setzte sich an einen Bildschirm und verband sich per Ferndiagnose mit dem Netzwerk der AP AG. Er überflog einige Dateien der Datenbank, um sich einen Überblick zu verschaffen, dann prüfte er verschiedene Parameter und Protokollinformationen. Es war wie bei einem Gesundheitscheck beim Arzt: Der Mediziner prüft Puls und Blutdruck (»Hm, etwas zu hoch.«), fragt nach den Lebensgewohnheiten (»Treiben Sie Sport? Essen Sie genügend Obst?«), klopft den Bauch ab und bittet den Patienten zu husten (»Bitte lauter!«), während er die Lunge abhorcht (»Da rasselt etwas. Rauchen Sie etwa?«). Ähnlich ging Holm vor. Er drang in die persönlichsten Winkel des Systems vor und suchte nach verborgenen Bugs, die sich manchmal wie Bakterien auszubreiten schienen und zu schwerwiegenden Symptomen führen konnten (»Ich fürchte, wir brauchen ein Antibiotikum.«). Zum Glück erkannte Holm bald, dass sein Patient kein Fieber hatte; er diagnostizierte lediglich eine leichte Erkältung. Er korrigierte rasch einige Einstellungen und veränderte die Grenzwerte eines Parameters. »Drücken sie jetzt bitte ›Strg-Q‹ zusammen mit der ›Alt‹-Taste, danach ›F5‹«, verordnete Holm. »Damit wird das Steuerungssystem neu gestartet und das LSS-Flag zurückgesetzt.« »Aha. Moment …«, antwortete Steinbrecher hoffnungsvoll und konzentrierte sich, um die Behandlung korrekt durchzuführen. Er war ein erfahrener Computerbenutzer, sonst hätte er noch nicht einmal das Rezept verstanden. Er unterließ aber den Versuch, die Ursachen des Problems verstehen zu wollen. Es interessierte ihn nicht, was ein LSS-Flag war und wozu man es erfunden hatte. Ihm war klar, dass er keine Chance hatte, die Untiefen des Systems zu begreifen. Aber er wusste, dass er einige Tasten gleichzeitig betätigen sollte: Die »Strg«und die »Alt«-Tasten schickten unsichtbare Botschaften von seiner Tastatur zum Rechner. Zu diesen mysteriösen 89
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Knöpfen kam noch der Buchstabe »Q« hinzu. Er schaffte es sogar, die drei Tasten mit den Fingern einer Hand zu treffen, anschließend tippte er auf »F5«. Einige Fenster verschwanden vom Bildschirm, andere entstanden scheinbar aus dem Nichts. Meldungen tauchten auf, aber nur so kurz, dass der Computerlaie sie nicht lesen konnte. Steinbrecher war auch das egal. Er wollte nur, dass ihn das System nicht weiter daran hinderte, seiner Arbeit nachzukommen. Schließlich erkannte er seine gewohnte virtuelle Welt wieder: »Legitimieren Sie sich!«, forderte ihn der Rechner auf. Es funktionierte tatsächlich! Nachdem Steinbrecher seinen Berechtigungsschlüssel eingegeben hatte, fragte ihn der Computer, was er nun zu tun gedachte. »Es klappt!«, meldete er stolz, als hätte er allein mit seiner Fingerübung das Problem gelöst. »Warum finde ich diesen wunderbaren Zaubertrick nicht im Handbuch?« Allen Vorbehalten der Informatik gegenüber hätte Steinbrecher auf diese Frage nun doch gern eine Antwort gehabt. »Es ist ein undocumented und unsupported feature«, verriet Holm dem Kunden. »Das sind Funktionen für besondere Fälle, die wir für künftige Programmversionen nicht garantieren können. Deshalb erwähnen wir sie nicht in der Bedienungsanleitung.« In der Softwarebranche war diese Vorgehensweise allgemein üblich. Es kam oft vor, dass bestimmte Funktionen eines Programms nicht im Handbuch erläutert wurden. Somit hatte man als Experte einen komfortablen Wissensvorsprung, mit dem man auch die cleversten Anwender immer wieder beeindrucken konnte. »Sie meinen, es sind Tricks für bestimmte Personen, die nicht jeder kennen soll«, übersetzte Steinbrecher den Begriff undocumented und unsupported feature treffend. »Nicht unbedingt«, wand sich Holm. »Man muss sich gut im System auskennen, um sie richtig anzuwenden.« »Aha«, meinte Steinbrecher zweifelnd. »Es wäre mir jedenfalls lieb, wenn es nicht so viele Störungen geben
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würde. Der ›Schwere Ausnahmefehler‹ muss die Ausnahme bleiben. Sie sollten ihn sonst in ›gravierenden Normalfall‹ umbenennen.« Holm grinste, die Anspannung löste sich. Er mochte Steinbrechers Hang zur Ironie und glaubte noch immer, ihn beruhigen zu können. »Sicher, wir müssen da besser werden. Sie wissen, wir expandieren zurzeit. Aber wir werden demnächst unseren Kundenprozess optimieren.« »Ihren Kundenprozess?« Der Kunde klang ratlos. »Die Abläufe, mit denen wir Ihre Anfragen bearbeiten. Die Bearbeitung erfolgt in Zukunft nur noch über die Berater, die für Sie zuständig sind.« Aus irgendeinem Grund sah Holm sich genötigt, auf die neue Ablauforganisation hinzuweisen, die Eimel demnächst einführen wollte. »Sie meinen die Herren Dumpert und Janz?«, erkundigte sich Steinbrecher. »Die können mir doch meistens nicht weiterhelfen. Ich glaube, die kennen Ihre Zaubertricks nicht.« »Wir müssen die Arbeitsabläufe aber neu organisieren.« Holm versteifte sich immer mehr auf den Prozessgedanken, so dass ihm entging, dass sein Gesprächspartner allmählich frostig reagierte. »Es wird bald ein Customer Interface geben, welches die Kunden-Lieferanten-Beziehung definiert«, erklärte er gestelzt. »Ein Customer Interface? Die Kunden-LieferantenBeziehung?« echote Steinbrecher verstört. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon Holm sprach. Customer Interface war ein Wortungetüm, das im Zusammenhang mit dem prozessorientierten Organisationsmodell verwendet wurde. Damit war der Punkt innerhalb eines Prozesses gemeint, an dem Informationen mit dem Kunden ausgetauscht wurden. In diesem Sinne hätte man auch das Telefon als Customer Interface bezeichnen können, das Holm mit Steinbrecher verband – rein technisch versteht sich, denn im Übrigen hatte Holm den Kontakt zu seinem Gesprächspartner nun endgültig verloren. Die Kunden-Lieferanten-Beziehung war längst 91
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gestört. »HEIMEL Visimatik ist ein prozessorientiertes Unternehmen«, erklärte Holm unverdrossen. »Der Kundenprozess …« »Herr Kenning!« Steinbrecher war plötzlich die Ruhe selbst. Der sarkastische Unterton war aus seiner Stimme verschwunden, und im Büro der Entwicklungsabteilung sank die Temperatur fühlbar. Aus dem Telefon schien ein eisiger Wind Holm direkt ins Ohr zu blasen. »Wir hatten schon einige Pannen mit Ihrer Software. In solchen Fällen brauche ich eine Lösung und keinen Kundenprozess. Dazu haben wir mit Ihnen einen Wartungsvertrag abgeschlossen, und deshalb werde ich Sie auch in Zukunft direkt anrufen, bis Sie mir einen anderen kompetenten Gesprächspartner nennen.« »Gut, natürlich.« Holm blieb keine andere Wahl, als klein beizugeben. Der Kunde war König und hatte außerdem Recht. Die Software hatte schon einige Probleme bei AP verursacht. Nicht nur, dass sie schon oft die Fertigungsstraßen lahmgelegt hatte, ab und zu produzierten die Kunststofffabriken auch die falschen Artikel oder die falschen Mengen, weil der Computer sich verrechnete. Da sich die Mitarbeiter von AP auf die Programme der HEIMEL AG verließen, fiel es zunächst nicht auf, wenn die automatischen Pressen zum Beispiel eine Million orangefarbene Aschenbecher statt tausend in rotweißem Dekor ausspuckten. Das Malheur wurde erst entdeckt, wenn sich die unverkäufliche Ware im Lager stapelte oder der Abnehmer die Lieferung reklamierte. Fieberhaft suchte man dann nach der Ursache des Problems. Jede Minute zählte, denn inzwischen hatte sich das System womöglich entschlossen, weitere überflüssige grüne Aschenbecher produzieren zu lassen. Missmutig betrachtete Holm die Plastikaschenbecher, die nicht nur in diesem Büro zu finden waren, sondern fast alle Schreibtische der Entwicklungsabteilung schmückten. Das Orange leuchtete penetrant und biss sich mit dem viel zu hellen Grün. Jedes Mal, wenn es bei AP einen Steuerungsfehler gab, schickte Stein-
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Was passiert?
brecher dem Entwicklungsleiter einige Exemplare der nicht verwendbaren oder missratenen Produkte; sozusagen als Andenken für gemeinsam durchgestandene Abenteuer. So verstand Holm die Zuwendungen jedenfalls. »Wenn es nicht anders geht und dringend ist, dann werden wir in Zukunft natürlich auch so flexibel wie möglich reagieren«, entschied Holm, was nicht zu entscheiden war. Nachdem Steinbrecher sich mit freundlichem Gruß verabschiedet hatte, sahen Holm und Franz sich erleichtert an. Ein weiteres Mal hatten sie sich tapfer bewährt.
Was heißt das?
Was tun?
Apropos Kundenorientierung: Sollte der Kunde wirklich König sein? Dies wäre eine fatale Auslegung einer prinzipiell wünschenswerten Unternehmensphilosophie. Denn wenn der Kunde König ist, wer ist dann der Lieferant? Es bleibt nur die Rolle des untertänigen Dieners. Ein Unternehmen, das sich ganz dem Wohle des Kunden verschrieben hat, käme mit dieser extremen Rollenverteilung nicht weit. Derart asymmetrische Beziehungen können sich nicht entwickeln, sie engen ein und kosten Kraft, da sie auf einem festgefügten Machtverhältnis basieren. Kundenorientierung bedeutet dagegen Kunden-LieferantenPartnerschaft. Es geht um die gemeinsame Arbeit oder Verhandlungen zum gegenseitigen Nutzen. Kundenorientierung
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Sprödes Plastik
Holm hatte sich einen Kaffee nach dem Gespräch mit Steinbrecher nun redlich verdient. Zur Befriedigung der Grundbedürfnisse gab es in der Entwicklungsabteilung eine Küche, die mit Kühlschrank, Mikrowelle, Herd und einer großen Kaffeemaschine ausgestattet war. Es stand immer eine gefüllte Kanne Kaffee bereit – vorausgesetzt, es hatte jemand daran gedacht, die Maschine in Gang zu setzen. Das war aber meistens der Fall. Als er den Raum betrat, fiel Holm eine Anleitung auf, die an der Wand angebracht war. Den Zettel musste jemand erst vor kurzem dort befestigt haben:
Die Kaffeemaschine sollte wie folgt bedient werden: 1. Filtertüte in den Filtertrichter legen. 2. Ein ganzes Portionspäckchen in die Filtertüte schütten. 3. Den Messbecher mit 2,2 l Wasser füllen (wenn der Kaffee stärker sein soll, entsprechend weniger, aber mindestens 1 l) und oben in die Kaffeemaschine einfüllen. 4. Kaffeemaschine einschalten. 5. Wenn der Brühvorgang abgeschlossen ist, schaltet die Maschine ab. Vorn rechts erlischt die grüne Lampe, und es ertönt ein akustisches Signal. ACHTUNG: Es kann noch Wasser im Filter sein, das noch durchlaufen muss. 6. Die Kanne kann nun verschlossen werden. Unter die Kaffeemaschine den Messbecher stellen, um nachtropfendes Wasser aufzufangen. 7. Beim Trinken bitte vorsichtig sein, der Kaffee hat eine Temperatur von 97 Grad. Guten Appetit!!!
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Da hatte sich einer der Mitarbeiter Gedanken gemacht. Holm fand die Hinweise gut, sie waren im Sinne aller. Jeder Schritt zur Herstellung des unverzichtbaren Getränks wurde präzise beschrieben. Selbst ein in praktischen Dingen des täglichen Lebens ungeübter Informatiker musste nun in der Lage sein, Kaffee zu kochen. Holm fiel die Parallele zum Kundenprozess und den anderen Unternehmensprozessen auf, die Henning für die HEIMEL AG definieren wollte: Die Anleitung glich einer perfekt ausgearbeiteten Prozessbeschreibung. Holm ergänzte deshalb den Titel »Kaffeeprozess« auf dem Papier. So hatten alle Kollegen der Entwicklungsabteilung das Beispiel eines mustergültigen Prozesses stets vor Augen. Anschließend schenkte Holm sich eine Tasse des schwarzen Gebräus ein und verrührte zufrieden ein wenig Milch darin. Dazu Was Was heißt Was tun? das? benutzte er einen der pink- passiert? farbenen Plastiklöffel, von Der »Kaffeeprozess« ist ein weitedenen sie mehr als genug res Beispiel dafür, wie die Mitarbeihatten. Steinbrecher – der ter der HEIMEL AG miteinander Produktionsplaner von AP umgehen. Einerseits ist der Text freundlich formuliert. Vielleicht war eben nicht ohne Grund möchte die Autorin oder der Autor sein liebster Kunde – hatte einfach hilfsbereit sein. Anderervor einiger Zeit fünftausend seits wird die Information anonym Stück geschickt, woraufhin und schriftlich verbreitet. Warum Holm das Paket zur allgesprechen die Kollegen nicht mitmeinen Verfügung in der einander? Küche deponiert hatte. Freilich kann man den Zettel Doch als er den Löffel in die so wie Holm auch überinterpretieSpüle warf, zersprang er in ren. Als Prozessvorschrift war die Anleitung sicher nicht gedacht. tausend Stücke. Mist! – Holm vergaß imDie Zukunft im Visier Bedeutungen erschließen mer wieder, dass der Kunststoff falsch zusammengemixt worden war. Die HEIMEL-Software hatte sich bei der Berechnung der Rezeptur vertan, so dass die Löffel bei Hitze zerbrechlich wurden. Sie zersplitterten dann bei der kleinsten 95
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Erschütterung wie Glas. Das war ungewöhnlich, denn die meisten Kunststoffe wurden bei Erwärmung weich und biegsam. Zufällig war durch die Computerpanne ein neues Plastikmaterial entdeckt worden. Bei AP wusste man nicht, wofür man sprödes Plastik verwenden konnte, für Besteck jedenfalls nicht. Vorsichtshalber hatte man die Erfindung aber zum Patent angemeldet, vielleicht ließ sich das seltsame Material irgendwann doch für einen sinnvollen Zweck einsetzen. Nachdem er die Bruchstücke des Löffels eingesammelt und entsorgt hatte, probierte Holm den ersten Schluck diesmal besonders vorsichtig. Bis zu diesem Tag hatte er sich noch nie bewusst gemacht, dass Kaffee mit fast hundert Grad aus der Maschine kam. Wie gut, dass sie nun den Kaffeeprozess hatten, der alle vor der Gefahr warnte.
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Kontrollverlust
Vor einer anderen Gefahr hatte Holm leider niemand rechtzeitig gewarnt. Wie beim Kaffeegenuss, so verbargen sich auch hinter der romantischen Fassade der Liebe tückische Gefahren, die gravierendere Folgen heraufbeschworen als eine läppische verbrühte Zunge. Als Meike wie jeden zweiten und vierten Samstag im Monat auf Besuch zu ihrem Vater kam, wurde Holm wieder einmal – und wie gesagt zu spät – daran erinnert. Links hielt sie Daniela fest, mit der anderen Hand schleifte sie ihren Teddy hinter sich her. Hilflos rutschte Bodo über den Teppich, ein Arm verrenkt ausgestreckt und eingeklemmt zwischen Meikes Fingern. Sie war schon vier Jahre alt, ein großes Mädchen. Dani sah müde aus. Aber erschöpft oder munter, das war egal: Holm konnte es kaum ertragen, sie zu sehen. Zu sehr hatte er seine Dani geliebt, zu sehr mochte er sie noch immer und zu dramatisch musste ihre Beziehung scheitern. Wieder kamen die Erinnerungen zurück. Sie hatten eine wunderbare Zeit verlebt, damals, nachdem sie sich kennen gelernt hatten. Doch ihre Beziehung veränderte sich, einfach so. Der Zauber der ersten Monate verflog, und der Alltag lastete auf ihrer Liebe. Es erging ihnen ähnlich wie vielen Paaren, und auch Holm und Dani versuchten verzweifelt, ihre Träume zu retten. Er fühlte sich nicht mehr verstanden, sie hatte nur wenig Zeit für ihn. Ihren Job als Verkäuferin hatte sie zwar aufgegeben, mit ihrer Musik und der gemeinsamen Tochter Meike, die ein Jahr, nachdem sich Holm und Daniela kennen gelernt hatten, das Licht der Welt erblickte, führte sie aber ein erfülltes Leben. Eigentlich war das für ihn kein Problem gewesen, anfangs war er ganz stolz auf seine lebenslustige Freundin. Schließlich kam es 97
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aber doch zu den Szenen, von denen sie geglaubt hatten, dass sie nur in anderen Familien stattfinden würden. Er nervte seine Partnerin mit Fragen nach ihren Verehrern, die sie nach den Konzerten immer wieder mit Geschenken bedachten. Besonders gereizt reagierte er auf die Blumen, die sie mit nach Hause brachte, denn er fand seine selbst gezogenen Rosen viel hübscher als die holländische Massenware, die die Fans seiner Freundin vor die Füße warfen. Manchmal beschwerte sie sich im Gegenzug darüber, dass er ihr ins Leben hineinkommandieren würde. Solche Argumente brachten sie allerdings nicht weiter, im Gegenteil: Die Aussprachen wucherten wie Geschwüre, die ihre Gefühle erdrückten. Sie entfernten sich immer weiter voneinander, ohne etwas daran ändern zu können. Sie hielt ihm vor, dass er zu »vernünftig« sei. Sie erklärte, dass die meisten Menschen zufriedener und auch erfolgreicher wären, wenn sie sich ihr Leben nicht von ihrem Kopf diktieren lassen würden. Das, was Menschen wirklich bräuchten, unterschied sich ihrer Meinung nach häufig von dem, was sie taten, dachten und behaupteten. Jeder besäße auch eine Art »körperliche Intelligenz«, die aber oft vom angeblich rationalen Verstand unterdrückt würde. Diese »verkopfte Intelligenz«, wie sie es formulierte, würde überbewertet. Sie dagegen fand es ganz natürlich, nicht alles begreifen zu können. Es hatte keinen Zweck, alles zu analysieren und verstehen zu wollen. Leidenschaftlich vertrat sie ihre Philosophie. Doch Holm begriff nicht, worauf sie hinauswollte. Eines Tages stritten Dani und Holm sich zum letzten Mal. »Was hat das mit uns zu tun? Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst. Ich bin froh, dass ich klar und logisch denken kann«, erklärte Holm. »Ich mag dich ja auch, weil du so schlau bist«, antwortete Dani. »Aber Intelligenz ist nicht alles. Ohne Sensibilität macht sich der Verstand selbstständig. Dann
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dominiert er das Leben, ohne Rücksicht auf andere und dich selbst.« »Die erfolgreichsten Menschen sind auch die intelligentesten«, behauptete Holm, anstatt ihren Wunsch nach Anerkennung zu spüren. Ohne es zu merken, bestätigte er Danis Ansicht. Sein Verstand war damit beschäftigt, Argumente zu finden. Er suchte nach Gründen und Erwiderungen, aber was sein Intellekt auch konstruierte, in diesem Fall war es sinnloser Selbstzweck. »Erfolg? Was meinst du mit Erfolg? Deinen Kontostand? Die Fähigkeit, andere für eigene Ziele auszunutzen? In kürzester Zeit die Gesundheit zu ruinieren, wie es Workaholics machen? Erzähl mir nichts vom Erfolg! Von den ach so erfolgreichen Persönlichkeiten dieser Welt, von den ignoranten Industriebossen und den selbstverliebten Politikern kann ich jeden Tag in der Zeitung lesen. Was ist denn mit den Megafusionen, die Fortschritt bringen sollen, dann aber reihenweise scheitern? Wer steht denn für die Folgen gerade? Wer übernimmt die Verantwortung für die Arbeitslosen, die Firmenbankrotte, das vernichtete Kapital? Doch nicht die so genannte Managerelite! Hochintelligent mögen diese Leute ja sein. Leider haben sie die Konsequenzen ihres Verhaltens völlig aus den Augen verloren.« Dani kam in Fahrt. Holm liebte auch ihre energische Seite. Sie wusste, wie die Welt sich drehte, manchmal wollte Dani allerdings das Unmögliche erzwingen. Sie ließ sich von seinen Einwänden provozieren und erlag der Versuchung, gegen die Mauern der Sachlichkeit anzurennen. Und Holm fühlte sich angegriffen: Daniela sprach von den Vorbildern, denen Holm nacheiferte. Er war selbst auf dem besten Weg, ein Manager zu werden. Sie griff seine Kompetenzen und Ziele an, die Stützen, die ihm Halt und Sicherheit gaben. »Es ist schon viel Nützliches erfunden worden von schlauen Leuten, die sich für ihre Ideen eingesetzt haben.« Holm war entschlossen, die Ehre aller Genies der Geschichte zu verteidigen. »Denk an Medikamente, 99
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Elektronik, Computer, Autos und meinetwegen Musikinstrumente. Ohne Mikrofone, Verstärker, Gitarren und was weiß ich noch alles, würde sich deine Musik ganz anders anhören.« »Ja, das würde sie. Ich würde aber auch ohne diese Apparate Musik machen, und sie wäre genauso schön und zwar ohne Nebenwirkungen – im Gegensatz zu den tollen Autos, Atomkraftwerken, Panzern und Pflanzenschutzmitteln, die die Natur und die Menschen vernichten, denen sie eigentlich zu Diensten sein sollten. Ihr Männer lebt in dem Wahn, Was Was heißt Was tun? alles kontrollieren zu könpassiert? das? nen. Dabei lasst ihr euch Nicht immer geht es im Leben um bloß von eurem Verstand das vordergründige Thema. Oft gängeln.« handeln wir nicht so »rational« wie Holm wusste genau, dass wir meinen, und die eigentlichen er nicht irgendein DurchInteressen, Bedürfnisse und Konschnittskerl war. Mit »den flikte bleiben unausgesprochen. Männern« hatte er nichts Wie im Theater spielt eine Handzu tun. »Du musst mich lung auf der Bühne, während hinter den Kulissen ganz andere nicht mit allen Männern in Geschehnisse ablaufen, ohne die einen Topf werfen. Wenn das vordergründige Schauspiel ich für dich nur ein beliebifreilich nicht gezeigt werden ger Typ bin, dann hättest du könnte. Oft ist es hilfreich, die auch einen anderen nehmen verschiedenen Ebenen zu unterkönnen.« scheiden und anzusprechen. Dani zog den Pullover auf ihre mittlerweile so verHinter die Kulissen blicken traute Art zurecht. Beinahe hätte sie sogar geschmunzelt, aber es war zu spät. Ausdruckslos starrte sie ihn an, als habe sie noch nie gelächelt. »Was glaubst du eigentlich, wie viel Prozent deines Lebens du kontrollieren kannst?« »Wie viel Prozent von was? Wie meinst du das?« Angriffslustig stemmte sie die Hände in die Hüften. »Ganz einfach: Wie viel Prozent aller Vorgänge, die dich betreffen, hast du willentlich im Griff? Los, sag eine Zahl!«
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»Fünfundneunzig.« Sie schleuderte ihm ihre Verachtung ins Gesicht. »Ha, fünfundneunzig! Ich hab’s mir gedacht. Männlicher Allmächtigkeitswahn! Was ist, wenn du schläfst? Wie schläfst du ein? Auf Knopfdruck? Und wie träumst du eigentlich: Planst du deine Träume wie einen Videoabend?« »Also gut, schlafen kann ich natürlich nicht auf Kommando. Wenn du es so meinst, dann ziehe ich die Nacht ab. Es bleiben fünfundsechzig Prozent.« Sie jagte ihn vor sich her. »Wie ist es mit der Atmung, der Verdauung und mit deinem Herzschlag? Machst du dir darüber auch Gedanken? Wachstum und Zellteilung lasse ich jetzt mal weg. Ich will es dir ja nicht zu schwer machen.« »Herrje, sechzig. Das ist aber mein letztes Wort.« Mittlerweile war Dani Was Was heißt Was tun? rasend vor Zorn. Das Un- passiert? das? glück schien unabwendbar. Über wie viel Kontrolle verfügen »Wenn du gehst: Überwir eigentlich? Kann man das legst du dir jeden Schritt?«, Leben »beherrschen«? Wer das bohrte sie weiter. »Oder Staunen nicht verlernt hat, der kann sich nur wundern, was Menschen wenn du etwas vergisst – ohne Willensanstrengung leisten. was ja selbst dir schon pasVieles funktioniert »automatisch«, siert sein soll –, nimmst du und manche Gewohnheit, die uns dir das vor? Hast du etwa nur selten bewusst wird, eignen wir mit Absicht meinen Geburtsuns an. Das Leben kann oft besser tag vergessen?« »funktionieren«, wenn man ihm Das war zu viel. Sicher, nicht ins Handwerk pfuscht. er hatte ihren GeburtsDoch für Manager könnte diese tag vergessen. Er war auf Vorstellung unangenehm sein. Ist es nicht ihre Aufgabe, zu kontrollieDienstreise und beschäftigt ren und Einfluss zu nehmen? gewesen. Am nächsten Tag war ihm sein Fauxpas aber Das Leben beherrschen? aufgefallen, und er hatte sich sofort entschuldigt. Es war unfair, ihm das nun vorzuhalten. »Jetzt reicht es aber, das ist ziemlich gemein von dir!« Er wollte sich nicht aufregen. Um sich zu 101
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beruhigen, musste er für einen Moment allein sein. »Ich muss auf die Toilette. Du brauchst dir keine weiteren Beispiele auszudenken.« Holm stellte sich vor dem Klo in Position. Was wollte sie von ihm? Er hatte ihr nichts getan! Als er sich bemühte, seinem Innersten freien Lauf zu lassen, stand sie plötzlich hinter ihm. – Dani legte ihre Hand auf seine Schulter, als hätte ihre Auseinandersetzung nie stattgefunden. »Ich wollte dich nicht ärgern.« »Ja, Schatz. Wir können gleich weiter sprechen.« Ihre Hand konnte zaubern, sofort wurde Holm ruhiger. Aber es ist leider so, dass viele Männer nicht pinkeln können, wenn sie beobachtet werden. Bislang gibt es darüber nur wenige Theorien, aber aus welchem Grund auch immer, es ist nun einmal so, dass bestimmte Körperfunktionen unwillkürlich gesteuert werden, da konnte Holm sich anstrengen, wie er wollte. Das wusste auch Dani, sie kannte die spezielle männliche Physiologie und wusste sie auszunutzen. »Komm, beeil dich! Ich mach uns ein Abendessen, und dann können wir uns einen schönen Film zusammen anschauen«, spornte sie ihn an. Sie tat übertrieben liebevoll, jeder Unbeteiligte hätte Verdacht geschöpft. Nicht so Holm, der viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. »Ich kann nicht, wenn du hinter mir stehst. Das weißt du doch!« Sie schien ganz friedlich. »Du kannst nicht?«, fragte sie ungläubig. »Aber du sagtest doch, dass du pinkeln willst.« »Es geht so nicht«, wiederholte er geduldig. Holm stand auf der Leitung. Hätte er geahnt, welches Unheil über ihn hereinbrechen sollte, er hätte sich bedauert. Ein Orkan zog auf, ganz plötzlich. »Los, jetzt mach endlich!«, schrie Dani jäh. »Du hast doch alles im Griff! Das hast du mir doch eben so überzeugend erklärt.« Jetzt wurde Holm endlich klar, welches Spiel sie mit
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ihm trieb. »Du Hexe!«, zischte er, ohne eine Wirkung zu erzielen. Der Sturm flaute ab, vorübergehend. »Warte, ich helfe dir.« Sie griff nach seinem besten Freund. Der ließ sich nicht zweimal auffordern und reagierte sofort. »Sieh mal! Es tut sich schon etwas«, rief sie, um angeblich verwundert hinzuzufügen: »Aber das sieht mir nicht nach pinkeln aus … Ah, jetzt verstehe ich, du hast geflunkert. Du musst gar nicht! Du willst mich!« »Ich will nicht mit dir schlafen!«, brüllte Holm nun. »Ich will hier in Ruhe und allein …« »Du musst nicht so schreien«, unterbrach sie ihn. Wieder gab sie sich unbedarft. »Dass du es willst, das sehe ich doch. Es ist ja auch kein Problem, du musst mir nur sagen, wie du es haben möchtest.« »Raus!!!« Sein Gehirn fühlte sich an, als würde es sich aufblähen. Irgendetwas lief fürchterlich schief. Wütend versuchte Holm, Dani wegzuschieben, doch sie ließ sich nicht beeindrucken. »Magst du es im Bett, auf dem Tisch oder soll ich mich lieber auf den Boden legen?« Er hatte die freie Wahl. Was wollte er mehr? »Raus!!!« Holm wollte allein sein, er forderte sein Recht mit letzter Kraft. Vergeblich. Hilflos stand er da – mit offener Hose, er war außer sich. Sein Kopf war nun aufgepumpt wie ein Ballon und fing an zu dröhnen. Ihr Gesicht war eine einzige hässliche Fratze. »Ich bin heute gut drauf. Du kannst mit mir machen, was du willst.« Dani zog sich den Pulli aus, die nächste Woge peitschte ihm ins Gesicht. Sie ließ auch noch den BH fallen und zog ihren Slip unter dem Rock hervor. Er konnte nicht mehr standhalten, der Druck überschritt den kritischen Punkt. Es schien ihn schier in Stücke zu reißen. Holm war nur noch Zuschauer in einem 103
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Drama, dessen Drehbuch er nicht kannte. Er hatte nicht den geringsten Einfluss auf die Handlung und die Darsteller. Dani schien verrückt geworden zu sein. Seine Hände packten sie, seine Stimme überschlug sich kreischend: »Spinnst du eigentlich? Was glaubst du, wer du bist?« Sie wurde ins Wohnzimmer gezerrt. Sie war blass, erwiderte nichts mehr. Weder Dani noch Holm begriffen wirklich, was geschah. Es ging schnell, danach waren die Beteiligten erschöpft – nur einer der Was Was heißt Was tun? Akteure schien Spaß gehabt passiert? das? zu haben und zog sich zuHolm erlebt ein Desaster. Dagegen frieden zurück. war sein unbeholfener Auftritt nach Holm taumelte erneut Danis Konzert eine Lappalie. In ins Bad, nicht ohne sich eine dieser Situation scheint es viele Flasche aus der Bar zu Akteure zu geben: Das Leben greifen. Er musste sich bebricht sich Bahn, und niemand kontäuben. Er hatte soeben trolliert irgendetwas. die schlimmste vorstellbare Wenn man Holm für sein gewaltNiederlage erlebt: den totatätiges Verhalten verantwortlich machen wollte, müsste man sich len Kontrollverlust. Er hatte überlegen, welchen Teil man bestranicht erreicht, was er sich fen sollte: Sein Hormonsystem? Die vorgenommen hatte, obArme? Oder vielleicht seinen »freien wohl er nur einem einfaWillen«, der aber doch hoffnungslos chen Bedürfnis hatte nachunterlegen war? Bei Dani sieht es kommen wollen. Und er ähnlich aus. Zweifellos hat sie Holm hatte getan, was unbedingt provoziert. Aber es ist kaum vorstellhätte vermieden werden bar, dass irgendein Teil von ihr diese müssen. Er hatte sich provoSzene herbeiführen wollte. Jedenfalls ist Holm nicht zu bezieren lassen und schlimneiden. Er scheint tatsächlich auf mer: Er hatte seine Liebe einem fremden Planeten gelandet zerstört. Die Säulen seiner zu sein. Seine Grundhaltungen Existenz zerbrachen. wird er revidieren müssen. Die Er stürzte ins Bodenlose. Macht, mit der er seine Computer Nach einiger Zeit hörte beherrscht, hat er im Leben nicht. er wie aus weiter Ferne, dass die Wohnungstür ins Illusion der Kontrolle Schloss fiel.
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Am nächsten Tag war Dani zurückgekehrt, um nach ihm zu sehen. Sie hatte mit Meike bei einer Freundin übernachtet und fand Holm in der Badewanne. Die Flasche lag in Scherben auf dem Boden. Sie erschrak und gab ihm eine Ohrfeige, um ihn wiederzubeleben. »Bitte, nicht mehr schlagen.« Holm befand sich noch im Sturzflug, und ihm war übel von der andauernden Schwerelosigkeit – oder vom Alkohol. Seine Organe tanzten befreit durcheinander, als hätten sie nicht die Pflicht, ihn am Leben zu halten. Weit unter sich erkannte er die zerklüftete Oberfläche einer Mondlandschaft, die sich schnell näherte. Dani half ihm aus der Wanne, aber die Bergung war schwierig, denn auch die Beine gehorchten ihm nicht mehr. Als er sich plötzlich vom Rand abstieß, konnte sie ihn nicht mehr halten. Der Planet stürzte auf ihn zu, im Zentrum eines Kraters schlug er ein. Oder hatte er selbst den Trichter verursacht? Es war schwer zu sagen, auf jeden Fall zerbrach sein Fahrgestell, es knickte einfach ein. Diese Welt war öde, die Aussichten trostlos. Bei der Bruchlandung zog Holm sich unzählige Verletzungen zu – innere und äußere. Oder hatte er sie schon zuvor erlitten? Auch das konnte er nicht entscheiden. »Mist!«, fluchte Dani. »Was?«, wunderte sich Holm. »Du hast dir die Füße an der blöden Flasche aufgeschnitten.« »Nein.« »Doch!« »Mist!« Sie lächelte nun endlich. Bittere Tränen liefen ihr über das Gesicht und offenbarten ihre zarte Schönheit … – Und auch Holm erinnerte sich an ihren ersten gemeinsamen Abend. Das alles hatte sich vor einem Jahr ereignet. Es war das Ende gewesen.
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»Wann bringst du sie wieder?«, wollte sie wissen. Sie hatten ihr Familienleben so organisiert, dass sie Meike alle zwei Wochen zu ihm brachte und er für den Rücktransport zu sorgen hatte. »Um 17.13 Uhr«, antwortete er – nur so, um sie zu necken. »Sag tschüs, Bodo!« Als Dani sich zum Gehen umwandte, rappelte sich der Bär vom Boden auf und winkte ihr hinterher. Im gleichen Rhythmus bewegte sich Meikes Hand dazu.
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Keine PV
Seit dem schmerzhaften Crash lebte Holm nun schon fast ein Jahr allein. Das war genug, seiner großen Liebe länger nachzutrauern, brachte nichts ein. Das erklärten ihm viele Bekannte und seine Eltern, also beschloss Holm, die einsame Zeit mit einem Satz zu beenden:
Zuverlässiger und treuer Informatiker, 30, sucht nach großer Enttäuschung kinderliebe und treue Partnerin. Zuschrift Chiffre V235402598
Nachdem die Annonce im STADTGEFLÜSTER, dem lokalen Anzeigenblatt, erschienen war, bekam Holm nur vier Zuschriften von Partnervermittlungsinstituten, die ihm für 1000 bis 5000 Euro zwischen drei und siebzehn treue und kinderfreundliche Damen, die sich sehr nach einem enttäuschten Informatiker sehnten, zur Ansicht anbieten wollten. Holm hätte sogar einige Asiatinnen erwerben können, doch er verzichtete großherzig, obwohl die professionellen Agenten der Liebe einfühlsam auf seine tragische Situation eingingen und das Briefpapier mit Herzchen verziert hatten. Er nahm einen neuen Anlauf:
Zuverlässiger und treuer Informatiker, 30, sucht nach herber Enttäuschung kinderliebe und treue Partnerin. Keine PV. Zuschrift Chiffre V235392575
Holm hatte sich überlegt, dass seine Enttäuschung mehr als groß war. »Herb« kam der tatsächlichen Intensität seiner Gefühle schon näher. Schnell passte er sich auch den 107
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Gepflogenheiten und der Kürzelsprache für Annoncen der Rubrik »Er sucht Sie« an. »PV« stand für Partnervermittlung; Holm war aufgefallen, dass fast alle Anzeigen mit dem Zusatz »Keine PV« versehen waren – sicher hatte das einen Grund. Durch die Verwendung von Abkürzungen schrumpften die Texte außerdem, man konnte auf diese Weise viel Geld sparen. Es war ohnehin klar, was die Inserenten im Schilde führten: Sie wollten eine Frau, da waren keine vollständigen Vokabeln vonnöten. Doch dieses Mal bekam Holm nicht eine einzige Antwort, er hätte noch mehr Geld gespart, wenn er ganz auf das Inserat verzichtet hätte. Ärgerlicherweise hätte er das eigentlich voraussehen müssen. Durch sein unbedachtes Vorgehen hatte er nur Zeit vergeudet. Wenn er auf den Text ohne den Zusatz »Keine PV« keine Briefe verlassener Herzen erhielt, dann war mit dieser Einschränkung erst recht nicht mit Zuschriften zu rechnen! Das lernte man im Informatikstudium schon im Grundkurs »Boolesche Algebra«. Offensichtlich war mit seinem Text etwas nicht in Ordnung. Holm blätterte in der Zeitung, um sich von den Einfällen der anderen enttäuschten Männer anregen zu lassen. Seine Leidensgenossen erfanden geistreiche und stupide, witzige und langweilige, ehrliche und verlogene Texte. Manche Inserenten zählten ausschließlich ihre Schokoladenseiten auf, andere lieferten eine Art Anforderungskatalog für interessierte Leserinnen, die in die engere Wahl kommen wollten. Eine Anzeige fiel Holm besonders auf:
Stuntman, Heilprakt.-Ausb., 28/188/96, attr., südl.Typ. Leidenschaften:Tanz, Party, Tantra- und Aura-Magie, Astrologie, Kung-Fu. Charakter: intens., verrückt, gefühlsecht, gefährl. Sucht: hüb., zierl., gefühlstiefe, böse Prinzessin. Keine PV. Zuschrift Chiffre V701948372
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Der Text war zwar nicht sehr flüssig zu lesen, aber der Mann wusste offenbar, was er wollte. Gekonnt jonglierte der vielseitige »südl. Typ« mit der eigenwilligen Kürzelsprache, prägnant brachte er seine Qualitäten und das anvisierte Frauenmodell zu Papier. Vielleicht sollte Holm sich Gedanken über seine Leidenschaften und seinen Charakter machen? Schließlich hatte auch er diverse Passionen und Macken zu bieten. Nachdem er seine Eigenarten eruiert hatte, formulierte er den folgenden Text:
Informatiker, Programmier-Stud., 30/180/ 78, attr., nördl. Typ. Leidenschaften: Logik, Computer, Botanik. Charakter: sachl., kreat., beg.-fähig, harmlos. Sucht n. gr. Entt. treue, häusl. Sie. Keine PV. Zuschrift Chiffre V005883753
Bei der Angabe seiner Größe hatte er – trotz einiger Skrupel – gemogelt und zwei Zentimeter aufgeschlagen, denn Frauen bevorzugen bekanntlich Männer von Größe. Holm war sich auch nicht sicher, ob er »attr.« hätte schreiben dürfen. Dennoch fand er den Mut, die Anzeige abzuschicken. Er rechnete fest damit, dass die treuen und häuslichen Frauen aus den Karteikästen der Partnervermittlungsfirmen sich nun direkt an ihn wenden würden. Doch erneut wurde er enttäuscht, wieder bekam er keinen einzigen Brief. Dabei hatte er den Text doch komplett überarbeitet! Auch seine Reklamation beim STADTGEFLÜSTER half nicht weiter. Man versicherte ihm, dass keine Nachrichten für Chiffre V005883753 eingegangen waren. Man sagte, es käme oft vor, dass sich auf bestimmte Inserate niemand melden würde. Das Gegenteil sei aber ebenso häufig der Fall. »Eigentlich dürfte ich Ihnen das nicht verraten, Diskretion ist für uns Ehrensache«, erklärte die Kleinanzeigenberaterin mit honigsüßer Stimme. »Aber erst 109
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
vor kurzem hat uns ein Stuntman viel Arbeit gemacht. Sie verstehen, was ich meine?« Holm verstand nur zu gut: Er hatte den falschen Beruf. »Geben Sie die Hoffnung nicht auf«, ermutigte ihn das verschwiegene Mädchen mit Engelszungen. »Der liebe Gott hat jedem einen treuen Partner zugedacht.« »Haben Sie heute Abend schon etwas vor?« Holm interessierte sich mehr für die irdischen Realitäten, als für die himmlische VorseSelbst- und Fremdbild hung. »Man findet seinen Traumpartner am besten über die Zeitung. Es bedanken sich fast wöchentlich Paare bei uns, die wir zusammengeführt haben.« Die inzwischen bittersüße Stimme tat so, als hätte Holm keine Frage gestellt. Immerhin wusste er nun, was er zu tun hatte. Holm zeigte sich wie er war, denn er wollte endlich Antworten bekommen:
Holm scheint sich selbst nicht zu kennen. Mit immerhin wachsendem Erfolg verfasst er seine Annoncen. Doch welcher Text ist »zutreffend«? Festzuhalten bleibt, dass es nicht leicht ist, sich zu charakterisieren. Selbst wenn wir uns unserer Eigenschaften sicher sind, schätzen unsere Mitmenschen uns oft anders ein. Selbst- und Fremdbild heißen die entsprechenden Fachbegriffe. Es geht nicht darum, welche Einschätzung »richtiger« ist als eine andere. Wichtig ist, sich über die Differenzen im Klaren zu sein. Es kann nützlich sein, die Meinungen von Freunden, Kollegen und Vorgesetzten, also die eigenen »Fremdbilder«, zu kennen.
Geschäftsführer, gebildet, 30/180/78, attr., toller Typ. Leidenschaften: Frauen, Tanzen, Sport, Rosen. Charakter: kreativ, impulsiv, aggressiv. Sucht n. gr. Abent. neue Herausf. in Gestalt einer vollb., bösen Hexe. Zuschrift Chiffre V396604492
Obwohl er den Zusatz »Keine PV« weggelassen hatte, meldete sich kein einziges Vermittlungsinstitut. Viel-
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leicht hatten die professionellen Partneragenten ihn inzwischen als hoffnungslosen Fall abgehakt? Es war egal, denn der Erfolg war überwältigend, der gebildete Geschäftsführer bekam nun reichlich Fanpost. Holm zählte schließlich sechsundvierzig Zuschriften, die er ordentlich nach Eingangsdatum sortiert aufbewahrte. Bald würde er sie bearbeiten, es schien nur noch eine Frage von Tagen zu sein, bis er seinen neuen Schatz in die Arme schließen würde.
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Mensch-MaschineDialog
Bevor Holm zu Bett ging, ließ er die Ereignisse der letzten Tage Revue passieren. Wieder einmal hatte er an einem Sonderauftrag für Henning gearbeitet. Wie so oft hatte die Aufgabe ihn und seine Leute viel Zeit gekostet; Zeit, die für die Weiterentwicklung der Software und die Betreuung der Kunden fehlte. Sie mussten ihre Programme unbedingt verbessern, das zeigten schon die Probleme bei AP, doch Holm standen nur wenige erfahrene Spezialisten zur Verfügung. Wenn Henning mit seinen – inzwischen berüchtigten – Sonderwünschen dazwischenfunkte, dann waren so viele Kapazitäten der Entwicklungsabteilung gebunden, dass andere Aufgaben zurückgestellt werden mussten. Langsam ließ Holm die elektrische Zahnbürste im Mund kreisen. »Rrrrrr …«, machte der Apparat. Holm bleckte die Zähne und kontrollierte das Weiß im Spiegel. Es ging noch weißer, erneut machte sich das nützliche Gerät an die Arbeit. Henning lag viel an guter Unternehmenskommunikation, jedenfalls ließ der Vorstandsvorsitzende das immer wieder verlautbaren. Deshalb hatte er den Entwicklungschef beauftragt, in der Eingangshalle einen Bildschirm zu installieren. Direkt neben dem Empfangstresen sollten in Zukunft die neuesten Nachrichten verbreitet werden: zum Beispiel Informationen für alle Mitarbeiter sowie allgemeine Richtlinien. Die Idee schloss sich nahtlos an die Aktion mit der Aktienkursanzeige über dem Haupteingang an, auch diesmal hatte Henning die Innovation mit Hinweis auf höchste Priorität vorangetrieben. »Rrrrrrrrrr …«, brummte die Zahnbürste. Sie reinigte die Zähne ausdauernd und gründlich. Um sicherzustellen, dass alle Mitarbeiter die Informationen gelesen hatten, sollte die Kenntnisnahme mit einem Fingerabdruck direkt auf dem Monitor bestätigt werden. Die neueste Technologie ermöglichte auf diese
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Art die Identifikation jeder Person, keine zusätzliche Apparatur oder Chipkarte waren nötig. Henning fand die Idee genial, die Einrichtung würde ihren Zweck erfüllen und zudem jeden Besucher schon im Foyer spüren lassen, dass die HEIMEL Visimatik AG ein fortschrittliches Unternehmen war. Ab und zu würde man natürlich den Bildschirm putzen müssen. Aber Heike Kelch, die Empfangsdame, hatte ihren Platz direkt neben dem Monitor. Sie würde sich um den einwandfreien Zustand der Bildschirmoberfläche kümmern, man brauchte ihr nur einen Lappen und etwas Glasreiniger zu geben. »Grrrrrrrrrrrrrrr …« Die Bürste polierte immer noch gewissenhaft die Zähne. Holm hatte inzwischen Schaum vor dem Mund. Die schmierigen Fingerabdrücke würde der Computer mit den gespeicherten Mustern der Mitarbeiter vergleichen, damit war die Person identifiziert. Man konnte auswerten, welche Kollegen über welche Nachrichten informiert waren. Falls jemand etwas vergessen sollte, was selbst bei HEIMEL gelegentlich vorkam, war dies allerdings nicht nachvollziehbar. Wahrscheinlich würde Henning Eimel seinem Entwicklungschef bald die Anweisung erteilen, über die Flüchtigkeit von Informationen in den Gehirnen der Angestellten Buch zu führen. Online, versteht sich. Holm hätte sich über einen derartigen Auftrag jedenfalls nicht gewundert. In den letzten Tagen hatte er eine Identifikationsdatenbank angelegt und mit den Fingerabdrücken der Mitarbeiter gefüttert. Dazu hatte Holm das Personalbüro kurzzeitig in eine Art Polizeidienststelle verwandelt. Die Angestellten mussten Muster ihrer Fingerkuppen auf Karteikarten abgeben, alle hatten die merkwürdige Prozedur über sich ergehen lassen. Holm hatte noch weitere Probleme zu lösen gehabt, aber wie immer funktionierte das System nun zu Hennings Zufriedenheit. Demnächst konnte der Info-Bildschirm in Betrieb genommen werden, und Holm freute sich doch, einmal mehr gute Arbeit geleistet zu haben. 113
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»GRRRRRRRRRRRR …« Die Zahnbürste klang inzwischen knurrig, der Schaum färbte sich allmählich rot. Schließlich spülte Holm sich den Mund aus und leckte sich das Blut von den Zähnen, dann kontrollierte er nochmals den Glanz: Weißer Was Was heißt Was tun? ging es nun wirklich nicht passiert? das? mehr. Er war zufrieden, Einem aufmerksamen Beobachter gähnte herzhaft und schaltewäre die Parallele vielleicht aufgete die Zahnbürste aus. Sofort fallen: So, wie Holm seine Zahnerstarb das brummige Knurbürste verwendet, so bedient sich ren des Elektromotors, geHenning Eimel der Arbeitskraft seines besten Mannes. So zuverhorsam ließ sich das Gerät lässig wie die Maschine die Zähne zurück in die Halterung stelsäubert, so geflissentlich kommt len. Dort würde es warten, Holm Hennings Wünschen nach. bis es erneut zu Diensten Henning Eimel möchte die sein musste. Wie immer Unternehmenskommunikation würde sich die Maschine verbessern, doch für den Firmendann wieder die größte gründer ist Kommunikation ein einMühe geben, Holm zufrieseitiges Geschäft. Er will die Mitarden zu stellen. beiter informieren, aber die Möglichkeit, darauf mit einer Antwort zu reagieren, sieht das neue System nicht vor. Nicht einmal mit Holm steht Eimel im Dialog. So können die Aufgaben, die die HEIMEL AG zu bewältigen hat, weder abgestimmt noch optimal bearbeitet werden. Monolog und Dialog
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Ein systematischer Spaßvogel
Sechsundvierzig Briefe lagen vor Holm ausgebreitet auf dem Tisch; endlich kam er dazu, die Zuschriften zu lesen. Er wollte allen Bewerberinnen antworten, vielleicht würde er eine Zwischennachricht versenden, sich für die netten Zeilen bedanken und wegen des großen Andrangs um etwas Geduld bitten. Er schlürfte seinen Kaffee – vorsichtig wie immer, seit es den Kaffeeprozess gab – und schlitzte den ersten Umschlag mit dem Brieföffner auf. Der Schnitt war chirurgisch-präzise geführt, die Hülle öffnete sich und offenbarte den intimen Inhalt, der allerdings Holms Sorgfalt nicht gerecht werden konnte. Auf einen abgegriffenen, karierten Zettel hatte jemand diese Aufforderung gekritzelt: »Machs dir doch selbst! – Eine sehr böse Hexe«. »Sehr« war doppelt unterstrichen. Das Papier war weder mit einer Telefonnummer noch mit einem Absender versehen. Die feige Autorin hatte noch nicht einmal ihre Identität preisgegeben, Holm hätte ihr gern die passende Entgegnung zukommen lassen. Was war das nun wieder für ein Spiel? Er hatte eine ernsthafte Annonce aufgegeben, und nun verpasste man ihm einen anzüglichen Kommentar. Ärgerlich widmete er sich der zweiten Zuschrift. Doch auch dieser Brief – der Öffner fuhr schon etwas fahrlässiger durch das Papier – enthielt eine Enttäuschung. Die Absenderin beschimpfte Holm als »Chauvi«, Männer wie ihn sollte man »aus dem Verkehr ziehen«. Wenn Zenia, so nannte sich die aggressive Dame, Holm erwischen würde, dann … Holm verspürte keine Lust weiterzulesen. Die Freude über die vielen Antworten war ihm vergangen, seine Anzeigenaktion schien sich endgültig als Fehlschlag zu erweisen. Aber wie sollte er bloß sonst eine Freundin finden? Seine Arbeit nahm ihn so in Anspruch, dass er noch nicht einmal Zeit hatte auszugehen. »Such dir doch eine Frau, die uns nützlich sein kann«, hatte Henning, 115
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der wie immer zuerst an das Wohl der Firma dachte, ihm einmal geraten. »Wie wäre es mit Frau Mai? Die macht uns permanent die Hölle heiß, wenn wir neue Kredite brauchen. Du könntest sie beruhigen, wenn du mit ihr verheiratet wärst.« Frau Dr. Mai? Nein, die Bankmanagerin, mit der Holm auf der Börsenfeier getanzt und sich so gut unterhalten hatte, war ihm zu alt, zu souverän und zu promoviert. Er hatte großen Respekt vor ihr, deshalb kam Frau Mai auf keinen Fall in die engere Wahl. Was hatte er bloß angestellt mit seiner Annonce! Aber die Briefe lagen nun einmal vor ihm, jetzt konnte er sie auch lesen. Gereizt – und nun mit eher distanziertwissenschaftlichem Interesse – begann er, die restlichen vierundvierzig Zuschriften zu erforschen. Der Brieföffner behandelte die unschuldigen Umschläge immer ruppiger, die Holm auf zwei Stapeln sortierte, um den Überblick zu behalten. Der erste Stapel umfasste die Nachrichten, die sich als »nett« oder »viel versprechend« erwiesen. Nachdem alle Mitteilungen gesichtet waren, bestand diese Gruppe aus vier Umschlägen. Die anderen zweiundvierzig Briefe verteilte Holm auf Untergruppen, die er mit den Attributen »dubios«, »sachlich-kritisch« und »beleidigend-obszön« versah. Einige Briefe waren unverständlich, die Autorinnen schienen verwirrt zu sein. Alexia zum Beispiel warnte Holm vor der Apokalypse. Die Raffgier der Menschen nehme immer mehr zu und alles drehe sich nur ums Geld. Die Weltwirtschaft werde bald zusammenbrechen, das Ende der Menschheit sei nah. Auch wenn Holm in Wirtschaftsfragen keine umfassenden Kenntnisse besaß, derartigen Weltuntergangshumbug wollte er grundsätzlich nicht glauben. Die Zuschrift von Alexia war jedenfalls typisch für die Kategorie »dubios«. Sieben Leserinnen seiner Anzeige setzten sich kritisch mit Holm auseinander. Die Frauen unterbreiteten ihm Vorschläge, die ihn weiterbringen sollten. Man riet Holm, nicht so egoistisch zu sein und gelegentlich zu meditieren. Angeblich habe es schon schlimmere Fälle von Selbst-
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sucht gegeben; Bescheidenheit und innere Einkehr seien erste Maßnahmen in der Not. Holm war dankbar für diese Ratschläge, er war grundsätzlich aufgeschlossen für rationale Auseinandersetzungen. Die Hinweise sammelte er deshalb unter der Rubrik »sachlich-kritisch«. Unter den Zuschriften befanden sich manche, die inhaltlich eher an die ersten beiden erinnerten, und wurden der Klasse »beleidigend-obszön« zugeordnet. Die Pamphlete beschrieben zum Teil durchaus plastisch, was er mit sich oder man mit ihm am besten anstellen sollte. Holm musste einigen Autorinnen – ganz grundsätzlich freilich – eine gewisse Kreativität im Umgang mit der deutschen Sprache attestieren. Die besten Verwünschungen würde er sich merken, für alle Fälle. Holm staunte, wie unterschiedlich Frauen ihn beurteilten. Am besten gefielen ihm natürlich die Zuschriften der ersten Kategorie. Es hatten zwar nur vier Frauen »nette« oder »viel versprechende« Texte gedichtet, aber vier waren genug. Eine »Zukünftige« würde ihm schon genügen. Melanie schrieb, dass sie schon seit jeher Sehnsucht nach einem starken Mann verspürte. Ausführlich berichtete sie von ihren Erfahrungen mit Partnervermittlungsagenturen. Man hatte Melanie über 3000 Euro abgeknöpft, trotzdem hatte sie niemanden kennen gelernt, der Holm nur annähernd gleich kam – genau genommen hatte sie keinen einzigen Mann auf diesem Weg kennen gelernt. Aber nun hatte sie Schulden, noch immer keinen Partner und immer noch Sehnsucht. Holm konnte Melanie gut verstehen, sie bekam sein Mitgefühl, aber nicht sein Interesse. Sie war erst zweiundzwanzig und auch nur 1,57 m groß. Klara, ganz Rubensfrau, leidenschaftlich, hatte ebenfalls geschrieben. Ihr Angebot hatte sie auf eine Kunstpostkarte gemalt, auf der ein Mädchen posierte: ganz schön pummelig, die Lippen von einem sämigen Lächeln überzogen – nannte man den Ausdruck lasziv? Holm war ein lausiger Kunstkenner, im Lexikon schlug er deshalb unter »R« wie »Rubens« nach. Dort erfuhr er einiges über den flämischen Maler, der humanistisch und 117
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katholisch erzogen worden war: »R. malte relig., geschichtl., mytholog., allegor. Bilder.« Die Erklärung las sich wie ein Stoppelfeld und erinnerte Holm an eine Bekanntschaftsanzeige. Klara war sicher nicht sein Typ. Die beiden anderen Frauen, die ihn ins Herz geschlossen hatten, waren ihm aber auf Anhieb sympathisch. Asja war ein »sportWas Was heißt Was tun? licher Typ« und direkt: passiert? das? »Wenn du kein Schlaffi bist Sechsundvierzig Frauen sagen und was abkannst, dann bist Holm die Meinung, die meisten du der Richtige für mich. geben ihm eine negative RückmelMelde dich! Die böse Hexe dung angesichts seiner »ambitioAsja.« Holm gefiel der klare nierten« Selbstbeschreibung. Stil und der ungewöhnliche Holm bearbeitet die Antworten in Name. Er glaubte zu wisgewohnt systematischer Weise. Die sen, woran er war. Sorgfalt könnte sich lohnen, denn es wird klar, dass nicht nur SelbstAußerdem wollte er Kaund Fremdbild sich regelmäßig rin antworten. Sie war ein unterscheiden. Auch die einzelnen Schelm, denn sie textete die Fremdsichten sind unterschiedlich. folgenden Zeilen: »Deine Das ist nicht ungewöhnlich, sondern Anzeige hat mir gefallen. vielmehr der Normalfall. Du musst ein Spaßvogel Die Personenwahrnehmung sein, besser kann man Mänkann nie objektiv sein. Man könnte ner nicht karikieren. Ich bin sich ununterbrochen damit befaslustig und lebendig, ich mag sen, andere Menschen kennen zu Ironie und Fantasie. Ruf lernen, was freilich nicht realistisch ist. Gerade im Beruf ist es aber mich bald an, ich will dich wichtig, die Kollegen zu kennen. unbedingt kennen lernen. Weichen Selbst- und Fremdsichten Karin.« Sie hatte nur ihre zu stark voneinander ab, dann Telefonnummer vermerkt, sind Probleme der ZusammenHolm musste schmunzeln. arbeit oft die Folge. Die Gute hatte ihn zwar völlig falsch verstanden, aber Personenwahrnehmung Karins Brief war so unverkrampft und frisch. Dabei war sie schon achtunddreißig. Es war spät geworden, Holm war müde. Er bündelte die Kuverts jeder Gruppe mit Gummiringen. Die weiteren Maßnahmen würde er sich demnächst überlegen.
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Die Gefahr, die Hoffnung, die Liebe
Mist! Sie waren hinter ihm her. Wie sehr hatte er gehofft, dass sie ihn in Ruhe lassen würden, doch nun standen sie auf der Straße, direkt vor seinem Haus, in aller Herrgottsfrühe. Wahrscheinlich hatte ihn die Anzeigenberaterin verpfiffen. STADTGEFLÜSTER! Die Zeitung hätte sich keinen besseren Namen geben können. Es war eine Gruppe vermummter Frauen, tuschelnd drohten sie mit ihren Schildern. Wie komme ich jetzt zur Arbeit? Das Haus hatte keinen Hinterausgang, aber vielleicht wussten sie nicht, dass er bei HEIMEL arbeitete. Er musste sich unbemerkt aus dem Staub machen, doch hetzen ließ er sich nicht! Er löschte das Licht, dann tastete er nach Brot und Kaffee. Wie komme ich bloß zur Arbeit? – Autsch! Das Gebräu war 97 Grad heiß. Das geschah ihm recht, ermahnte er doch sich und seine Mitarbeiter permanent, sich an die Vorschriften zu halten! Im Kaffeeprozess wurde schließlich ausdrücklich vor der Temperatur gewarnt. Ich muss ins Büro! Endlich kam ihm die Idee: Er würde sich vom Balkon abseilen und über die Wiese hinter dem Haus schleichen. Er musste unbedingt zur Arbeit, denn heute war ein wichtiger Tag: Henning wollte eine Rede halten. Er schob einige Blumenkübel beiseite und bahnte sich den Weg zum Geländer, die Stacheln zerkratzten seine Hände. Rosen hatten angeblich Stacheln und keine Dornen. Wusste der Himmel, warum die Botaniker auf diese Unterscheidung Wert legten, so oder so, die Stacheln symbolisierten Gefahr, die Blätter Hoffnung, und die Blüten waren Zeichen der Liebe. Also, was denn jetzt? Soll ich ängstlich sein, zuversichtlich oder freudig erregt? 119
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Er war durcheinander. Klar war nur, dass das Empfangskomitee ihm nicht aus Zuneigung auflauerte. Am Bettlaken rutschte er abwärts, das letzte Stückchen ließ er sich fallen. Uff! Fünf Meter tiefer plumpste er auf den Rasen, robbte durch das nasse Grün, dann versperrte ihm nur noch der Zaun den Weg. Auf der anderen Seite stand Dani und hielt ihm den Draht herunter. Wie nett von ihr! Der Stacheldraht spannte sich unter dem Druck ihrer Hand – verglichen mit Rosen ließ sich seine symbolische Botschaft leicht erschließen. Warum sind Stacheldrahtzäune immer genau auf Schritthöhe angebracht? »Nun mach dir bloß nicht gleich ins Hemd«, riet sie ihm. »Es sind doch nur Frauen.« Eben! Während er sich anschickte, die Aufgabe zu meistern, lächelte sie dieses Lächeln, dass diese Welt so bereicherte. Fehlte nur noch, dass sich seine Liebe in ihrer aufreizenden Art den Pullover zurecht zupfte. Und tatsächlich, genau das tat sie im nächsten Moment, exakt in der Sekunde, als Holm den Zaun zur Hälfte überwunden hatte. Klar, sie hätte auch die andere Hand nehmen können, doch den Pulli zog sie immer mit der Rechten nach unten – mit der Hand, die eben noch hilfsbereit die Bedrohung kontrollierte. Kurz bevor sich der Stoff über ihre Brüste spannte, hüpfte der Draht befreit in seine Ausgangsposition. Ahrgh! »Was?«, fragte sie scheinheilig. Du hast den Draht losgelassen. »Nein.« Doch! »Aha! Hast du dir weh getan?« Stacheldraht steht für Gefahr, ich habe es doch gewusst!
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Ihm tränten die Augen. »Machs gut, Paps«, wünschte ihm Meike, die er erst jetzt bemerkte. Als er sich davonstahl, winkte sie ihm hinterher, während sie Bodo, den Teddy, fest im Arm hielt. Er war aber viel zu ängstlich und zu verletzt, um sich umzudrehen. An das Auto kam er nicht heran, es stand vor der Haustür und wurde von seinen Häscherinnen observiert. Er musste versuchen, zu Fuß das Traumschiff zu erreichen. Immer wieder blickte er zurück, während er durch die Häuserschluchten marschierte – zunächst konnte er nichts erkennen, trotzdem überkam ihn die Angst. Dann plötzlich waren sie da, sie folgten ihm. Er beschleunigte seine Schritte, doch sie kamen unaufhaltsam näher. Die Frauen waren in rote, wallende Gewänder gekleidet, ihre Gesichter hatten sie scheu hinter Tüchern versteckt. Nichts war zu hören außer den pochenden Stiefeln und den unverständlichen Parolen, die sie laut skandierten. Auch sein Herz pochte, er rannte um eine Straßenecke und versuchte Haken zu schlagen, doch es gelang ihm nicht, sie abzuhängen. Sie hetzten ihn weiter. Jetzt spurtete er so schnell er konnte, schoss zwischen Autos über die Straße, Reifen quietschten hinter ihm, hoffentlich wurden sie überfahren! Dann kam der Marktplatz, die Händler bauten gerade ihre Stände auf, es war wie im Film. Welcher Film? Egal, die Meute war jedenfalls nicht überfahren worden und half ihm, den Platz zu verwüsten. Warum ist jetzt kein Filmteam hier? Sein Lauf war eine gute Hetzt-ihn-über-den-Platzund-nehmt-keine-Rücksicht-auf-Obst-und-Gemüse-Verfolgungsjagd. Die Früchte, die er verschonte, wurden von der Front der Racheengel niedergemetzelt. Äpfel wurden getreten, Bananen zerquetscht und Gurken von Absätzen erdolcht. Er sprang über eine Bäuerin, die sich vor ihm in Deckung warf und flüchtete in eine schmale Gasse, nicht ohne ihnen einige Obststände in den Weg zu schleudern. 121
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Wohin jetzt? Rechts oder links oder geradeaus? Links war die falsche Richtung, er lief einer rot gekleideten Lady direkt in die Arme, erschrak zu Tode, prallte ab von ihrer Brust und sank ohne Hoffnung auf die Knie. Gnade! Stumm deutete sie auf ihr Schild: »Museum für alte und neue Kunst«, ein Pfeil wies auf das Gebäude nebenan. Inzwischen waren auch die anderen Dämonen angekommen; sie umzingelten ihn. In Ruhe konnte er nun die Plakate entziffern; es waren nur einzelne Begriffe, mit denen sie ihn bedrohten: Macht, Pracht, Genuss, Lebenslust, Liebe, Tod. Was soll das? Er hatte mindestens »H. K. soll der Kuckuck holen!« erwartet. Aber solche Drohungen hatten sie nicht nötig, sie machten ihm auch so gehörig Angst und ließen ihm nur eine Chance. Durch die Gasse, die sich auftat, betrat er das Museum. Es war ein Gebäude wie eine Kathedrale, weit verzweigt. Meike saß hinter der Glasscheibe am Kassenschalter und erklärte ihm, dass man schon für ihn bezahlt habe. Er sei der einzige Besucher, das Haus stünde ihm zur Verfügung. »Du könntest mir ruhig zurückwinken«, verlangte seine Tochter und förmlich: »Wenn Sie bitte dem Rundgang folgen würden.« Was macht sie bloß hier? Warum ist sie nicht im Kindergarten? In der ersten Halle entdeckte er eine »Rubens Sonderausstellung«. Stämmige Frauen wurden früher in schwere Rahmen gesperrt. Seitdem hingen sie geduldig an irgendwelchen Wänden. Sie betrachteten ihn von allen Seiten, etwas zwang ihn zurückzuglotzen. Er studierte die altmodischen Kleider, die hellen Locken, die pausbäckigen Gesichter, die gepuderten Stupsnasen und die abgrundtiefen Dekolletés, deren Sog sich niemand entziehen konnte. Sie zogen ihn zu sich hin, doch aus der Nähe fehlte der räumliche Eindruck – die Brüste waren platt wie abgestempelte Briefmarken.
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Faszinierend! Im nächsten Raum gab es weitere barocke Gemälde: Pferde, Edelmänner und immer wieder diese Frauen; sie schauten lieb und scheinbar nachsichtig auf ihn herab. Er schlenderte durch das Museum, bog mal links ab, mal rechts, es machte keinen Unterschied. Überall erwartete ihn dasselbe Bild: die starken Frauen verfolgten ihn. Das Lebenswerk Rubens’ schien in dem Gebäude versammelt zu sein. Langsam hatte er genug von der alten Kunst. Wo ist der Ausgang? Wieder kam Panik auf, die Blicke der Matronen fixierten ihn auf Schritt und Tritt. Endlich fand er eine Tür, durch die er das Museum verlassen konnte. Es war schon Abend, siedend fiel ihm ein, dass er auf dem Weg zur Arbeit war. Er würde zu spät kommen und Hennings Ansprache versäumen! Er wird sauer sein! Wie soll es bloß weitergehen? Natürlich erschien in dem Moment Frau Ziegler. Sie musterte ihn ebenso eindringlich wie zuvor die RubensDamen und sagte zu ihm: »Sie laufen die Straße entlang bis zur nächsten Kreuzung. Dort biegen Sie rechts ab und nehmen die dritte Abzweigung links. Dann sehen Sie schon das Albtraumschiff.« Na also, warum nicht immer so? Das war endlich ein klarer Hinweis. Er war so erleichtert, dass er sie gern umarmt hätte. Danke, Frau Ziegler. Hatte sie »Albtraumschiff« gesagt? Das Wort lag ihm wie ein Stein im Bauch. Ihm wurde schlecht, und er versuchte aufzuwachen, aber es gab keinen Ausweg. Das Orakel hatte Recht, wie immer. Nach der dritten Abzweigung erkannte er das Firmengebäude, aber etwas schien nicht in Ordnung zu sein. Der Erfolgsmonitor zeigte »487«, das war doch unmöglich! Gestern erst hatte der Aktienkurs bei 32 gelegen. Er war noch einige hundert Meter entfernt, als ihm auffiel, dass die Anzeige rückwärts zählte: … 448 … 447 … 446 … 123
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Oh, mein Gott! Er wurde langsamer, obwohl er sich wie wild ins Zeug legte. Er kämpfte, keuchte und sah schließlich, dass der Eingang mit Paketen zugestellt war. Hunderte von Pappkartons türmten sich vor ihm auf, es schienen mehr und mehr zu werden, während das Zählwerk ungerührt den Countdown abspulte. … 312 … 311 … 310 … Als er die ersten Kisten erreichte, durchbrach der Kurs die 200er- Marke. Hastig wühlte er sich durch die Schachteln, sie waren leicht, er warf sie einfach hinter sich. … 169 … 168 … 167 … Mein Gott, was soll das mit diesen Kartons? Er riss eine Kiste auf: Kondome! Sie purzelten ihm entgegen, er schwamm in Millionen dieser kleinen Gummisäckchen, doch die Päckchen waren ungewöhnlich dick, wie aufgebläht. … ??? … ??? … ??? … … 112 … 111 … 110 … Er erspähte einen Brief, er war an Chiffre V396604492 adressiert. Das bin ich! Es war ein Schreiben der Absolute Plastics AG:
Lieber Holm, ich schicke dir einige Präservative, die wir leider nicht verkaufen können. Dein Programm hat die Päckchen mit zu viel Gleitmittel befüllt. Ich hoffe, du hast Verwendung für die Ware. Gönne dir und deinen Mitarbeitern etwas Freude im Leben, denn wer weiß, vielleicht kommen schwere Zeiten auf euch zu. Viel Spaß wünscht dein Werner Steinbrecher
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Auf den Packungen stand: »sensationellsensitiv – klatschnass«. Ach so! Nun war alles klar. Steinbrecher war ein netter Kerl, sobald wie möglich würde er sich für die freundliche Aufmerksamkeit bedanken. Aber jetzt musste er mit Henning sprechen. … 77 … 76 … 75 … Schon hörte er die Stimme des Vorstandsvorsitzenden. Henning sprach zu seinen Leuten, aber er verstand nur Fragmente: » … Motivation … Shareholder Value … so wird’s gemacht … Kundenprozess … unternehmerisches Denken … nicht labern …« Das ergibt doch keinen Sinn! Ob Henning wusste, dass der Kurs dramatisch einbrach? Endlich hatte er sich durch den Kartonberg gearbeitet, doch nun stand er vor dem nächsten Problem: Der Eingang war versperrt. Gusseiserne Stangen verweigerten ihm den Zutritt. Er rüttelte an der Absperrung, doch es hatte keinen Zweck. … 34 … 33 … 32 … Verzweifelt stemmte er sich gegen das Gitter, Henning musste es erfahren! Da entdeckte er den Bildschirm, der neben dem Eingang in der Wand eingelassen war. Das war die letzte Chance! »Unser Personal ist unser wichtigstes Gut«, behauptete der Computer. »Wir tun alles, um die Entwicklung unserer Mitarbeiter zu fördern und die Zusammenarbeit zu optimieren. Bitte bestätige hier:« Logisch! Schnell presste er den Finger auf das blinkende Rechteck … »Sie sind nicht überzeugt! Zutritt verweigert«, entschied das Elektronengehirn konsequent. Nein!!! …3…2…1… Zu spät, aber um so verzweifelter, schrie er: 125
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
Der Traum konfrontiert Holm mit zahlreichen Fragen. Diese können anregend sein und hinführen zu neuen Ideen und Lösungen. Dagegen bedeuten vorschnelle Antworten oft unnötige Festlegungen. Sie können Kreativität blockieren und Entwicklung hemmen. In der Praxis werden oft Antworten auf Fragen gegeben, die weder relevant noch zielführend sind. Manchmal scheinen Fragen nicht offen im Raum stehen zu dürfen, sie müssen sofort beantwortet werden. Wie aber soll sich Entwicklung ohne die nötige Geduld und Nachdenklichkeit vollziehen?
Henning, die Kondome sind klatschnass! Null.
Schweißgebadet schreckte Holm hoch. Aufrecht saß er im Bett, sein Puls raste, die Welt drehte sich. Noch. Er kniff die Augen zusammen. Vielleicht sollte er sie heute überhaupt nicht öffnen? Komisch, dass Träume häufig genau dann aufhörten, wenn es am schlimmsten wurde. Der Traum war schrecklich genug gewesen, da hätte er Fragen statt Antworten den Show-down auch noch durchgestanden. Wie würde die Geschichte weitergehen? War die HEIMEL AG in die Luft geflogen oder ins Weltall gestartet? Zu gern hätte Holm es gewusst. Abgesehen davon waren noch andere Fragen zu beantworten: Warum konnte sich Frau Ziegler nicht immer so klar ausdrücken? Musste Rubens nicht irgendwann verrückt geworden sein, nachdem er sich ein Leben lang mit diesen drallen Tatsachen beschäftigt hatte? Und warum tat Dani ihm noch immer so weh?
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Infovisionen
In den nächsten Tagen nahm das Leben wieder seinen gewohnten Gang und Holm konnte sich von seinen fantastischen nächtlichen Eskapaden erholen. Morgens kontrollierte er, ob vor dem Haus ein Empfangskommando auf ihn lauerte, und wenn er sich in der Stadt aufhielt, vergewisserte er sich gelegentlich, dass sie nicht hinter ihm her waren. Aber er konnte keine Gefahr erkennen, so sehr er auch nach ihnen Ausschau hielt. Nur gelegentlich entdeckte er Frauen in roten Mänteln und Mädchen mit schwarzen Stiefeln, doch sie waren allesamt nicht vermummt. Bei der HEIMEL Visimatik AG funtkionierten die neuen Unternehmensprozesse mehr oder weniger gut – eigentlich nicht anders als sonst auch, als die Prozesse noch nicht Prozesse hießen. Was Was heißt Was tun? Werner Steinbrecher hatte passiert? das? keine Kondome geschickt, Über den TELEVISOR liegen auch der Haupteingang war nicht mir nur wenige Informationen vor. vergittert, das fingerabDas Gerät ist jedenfalls älter als druckgesteuerte KommuniHennings Erfindung, denn bereits kationssystem arbeitete einein gewisser Orwell hat seine Funktion vor einigen Jahrzehnten dokuwandfrei. Die Mitarbeiter mentiert. tauften die Einrichtung auf den Namen INFOVISOR, TELEVISOR weil es Eimel offenbar um Informationen und Visionen ging. Einige der Angestellten meinten, schon einmal von einem Gerät namens TELEVISOR gehört zu haben, aber Genaueres wusste niemand. Hennings erste Botschaft an die Belegschaft lautete: »Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße euch zum ersten Mal mit Hilfe unserer innovativen Einrichtung. Ich werde euch nun täglich über alles Wissenswerte informieren. Für heute bitte ich darum, stets auf den Erfolgsmonitor zu achten. Wie ihr sicher festgestellt habt, 127
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verläuft die Entwicklung der HEIMEL Visimatik AG weiterhin erfreulich.« Erleichtert stellte auch Holm fest, dass das Display an der Fassade des Firmengebäudes steigende Werte meldete und den Countdown nicht eingeleitet hatte. Das Traumschiff war weder explodiert, noch hatte es zum Weltraumflug abgehoben. »Bitte bestätige hier:« verlangte der INFOVISOR, und die Mitarbeiter hinterließen ihren Fingerabdruck auf dem blinkenden Rechteck, das der Bildschirm anzeigte. Heike Kelch entfernte die fettigen Spuren regelmäßig mit einem Lappen, Was Was heißt Was tun? der von nun an ihr wichtigpassiert? das? stes Arbeitsmittel sein sollte. Eimel setzt die Entwicklung der HEIMEL AG mit dem Aktienkurs gleich. Aber es wäre besser, zwischen der Unternehmensentwicklung und dem Kursverlauf zu unterscheiden. Der Aktienkurs spiegelt vor allem die Wachstumschancen der Branche und die Erwartungen der Investorengemeinde wider. Zur Einschätzung der Entwicklung eines Unternehmens müssen andere Indikatoren herangezogen werden. Neben den betriebswirtschaftlichen Daten sind hier zum Beispiel Variablen zur Kennzeichnung der Belegschaft wie Qualifikation, Fluktuation, Krankenstand, Zufriedenheit und Motivation.
Vielleicht sollte er sich ein wenig mit Kunst beschäftigen?, ging es Holm durch den Kopf. Angeregt durch die Kunstpostkarte von Klara, der »Rubensfrau«, las Holm in einem Handbuch der barocken Malerei, dass der Meister im Alter nicht verrückt geworden war und nur an Gicht zu leiden hatte. Das schien Holm ein angemessener Preis für ein Leben voller Genuss und Hingabe zu sein. Irgendwie fühlte er sich auch als Künstler. Je länger Entwicklung beobachten er darüber nachdachte, umso mehr Ähnlichkeiten entdeckte er zwischen Softwaresystemen mit ihrer perfekten Anordnung tausender Befehlszeilen und den unzähligen Pinselstrichen der Kunstwerke großer Maler. Allerdings war Holm sich nicht sicher, ob er behaupten wollte, dass er seine Hingabe an
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die Softwareentwicklung tatsächlich in vollen Zügen genoss. Außerdem fasste sich Holm eines Tages ein Herz und fragte Frau Ziegler, ob sie in Zukunft weniger in Rätseln sprechen könnte. Er wisse nun, dass sie durchaus in der Lage sei, sich verständlich auszudrücken. Holm hatte es in seinem Traum ja selbst erlebt. Frau Ziegler gab sich allerdings erstaunt. Sie sah ihn streng und ernst an und behauptete, dass sie keine Ahnung habe, wovon die Rede sei. »Herr Kenning, könnten Sie Ihr Anliegen bitte deutlicher formulieren?«, bat sie ihn. »Ach, vergessen Sie’s. Manchmal weiß ich eben nicht, wie es weitergehen soll.« Frau Ziegler schien ernstlich besorgt. Ob er schlecht geschlafen habe, wollte sie wissen. »Herr Kenning, Sie sollten mal wieder richtig ausspannen.« Wie er das anstellen sollte, das verschwieg sie ihm. Sie war eben immer noch das HEIMEL-Orakel. Einstweilen beschloss Holm, sich noch mehr seiner Rosenzucht zu widmen. Es war erstaunlich, man musste nicht wissen, wie eine Knospe entstand und sich öffnete. Dafür sorgte die Pflanze selbst. Die geheimen Baupläne erzeugten immer wieder die herrlichsten Blüten. Holm hatte lediglich auf die richtigen Bedingungen zu achten. Rosen liebten die Sonne und reagierten empfindlich auf Staunässe, doch die verschiedenen Arten hatten auch ihre Eigenheiten. Manche waren frosthart und resistent gegen Schädlinge, andere bevorzugten trockene Standorte und mussten besonders vor Ungeziefer geschützt werden. Manchmal kam es Holm so vor, als hätte sogar jede einzelne Pflanze eine Persönlichkeit. Nachdenklich wässerte er die Blumenkübel, mittlerweile dekorierten sieben Rosenstöcke seinen Balkon. Schon vor Jahren hatte er angefangen, sich mit Rosen zu beschäftigen. »Graham Thomas« und »Focus« waren 129
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seine ersten Sorten gewesen. Am liebsten mochte er die stark gefüllten Blüten der englischen Züchtungen. Aber eigentlich freute er sich über jede Blüte, wenn seine Mühen im Sommer zum Erfolg führten. Wenn die Knospen sich öffneten, dann hatte er alles richtig gemacht, und sein bescheidener Balkon verwandelte sich in einen duftenden Garten. Geduldig bemühte Holm sich, seine Pflanzen kennen zu lernen. Er wollte herausfinden, wie sie auf die verschiedenen Einflussfaktoren reagierten. Das war nicht einfach, denn Licht, Boden, Wasser und Standort wirkten sich nicht unmittelbar, sondern erst nach einiger Zeit auf das Wachstum der Pflanzen aus. Anfangs hatte Holm Fehler gemacht; manchmal mit fatalen Folgen, manchmal mit Auswirkungen, die er wiedergutmachen konnte. Bei seiner ersten Gloria Dei, einer gelb-roten Edelrose, hatte er die feinen Wurzeln vor dem Einpflanzen austrocknen lassen. Das MalWas Was heißt Was tun? heur hatte er erst bemerkt, passiert? das? als die Pflanze auch nach Die Botanik bietet gute Beispiele Monaten nicht austrieb, sie dafür, wie unterschiedliche Bedinwar abgestorben. Schließgungen sich auf Pflanzen auswirlich sammelte Holm die abken. Was die eine Pflanze mag, gefallenen Blätter vom Bokann die andere zu Grunde richten. den auf, suchte sie nach Bei Menschen ist es ähnlich. Schädlingen ab und schnupAnders als Pflanzen können wir perte an den Blüten. Er zwar auf unser Umfeld Einfluss nehmen, jedoch nur in Grenzen. konnte die Sorten allein am Holm hat schon viel über die Duft unterscheiden, sofern Vorlieben und Abneigungen seiner sie ein Aroma verströmten. Rosen gelernt. Vielleicht wird Leider war in vielen Fällen es ihm noch gelingen, sein Wissen der Duft bei der Züchtung auf seine berufliche Funktion als verlorengegangen. Manager zu übertragen. Das Hegen der Pflanzen hatte eine Art meditativen Bedingungen gestalten Effekt, und wenn Holm einige Rosen schnitt, für sich in eine Vase stellte oder an gute Freunde verschenkte, erfüllte ihn das mit Stolz.
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Meistens jedenfalls. Damals, als er Dani die »Graham Thomas« überreicht hatte, war die Situation höchst peinlich gewesen. Graham Thomas, der Android vom fernen Stern, war zu doof gewesen, der Erdenfrau ein Kompliment zu machen. Wie blöd hatte er sich angestellt! Trotzdem hatte Dani sich über das persönliche Geschenk gefreut. Doch die Zeiten mit Dani waren vorbei. Es hatte keinen Sinn, in der Vergangenheit zu graben, wie er sich immer wieder einzureden versuchte. Deshalb wandte er sich der Gegenwart zu, die sechsundvierzig Briefe bereit hielt, die es zu beantworten galt. Holm formulierte zunächst einen Text für die nächste Ausgabe des Anzeigenblattes:
Leider kann ich mich nicht bei allen persönlich melden, die mir (Chiffre V396604492) geschrieben haben. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle für die vielen Antworten bedanken. Über die netten Briefe und guten Ratschläge habe ich mich gefreut. Den Autorinnen der anderen Zuschriften wünsche ich viele surreale Träume! Keine PV.
Den Seitenhieb auf die Autorinnen der unerfreulichen Zuschriften – hauptsächlich jenen der Kategorie »beleidigend-obszön« – konnte Holm sich nicht verkneifen. Die Arbeit an der Anzeige brachte ihn so weit in Stimmung, dass er sich nun zutraute, es mit Asja aufzunehmen. Für seine Verehrerin, die sich als böse Hexe zu erkennen gegeben hatte, verfasste Holm eine passende Antwort: Liebe böse Hexe, vielen Dank für deine Zuschrift, sie ist erfrischend klar. Das gefällt mir. Ich denke, wir würden gut zusammenpas-
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sen. Natürlich bin ich kein Schlaffi, und ich kann auch was ab, um mit deinen Worten zu sprechen. Lass uns die Welt verhexen! Schreib mir oder ruf mich an unter 7 36 85. Holm, der Magier
Der Magier schrieb der »lieben bösen« Hexe, was hatte er eigentlich vor? Holm, der Analytiker, schien die Kontrolle an einen anderen Holm abgegeben zu haben, an ein Unterprogramm, das er nicht kannte und das geheimnisvolle Operationen ausführte. Aber er ließ die Unterroutine gewähren, noch war Asja weit genug entfernt, und ein Briefkuvert verlieh doch erstaunlich viel Sicherheit. Nachdem er das Schreiben in den Umschlag gesteckt hatte, wollte er auch mit Karin Kontakt aufnehmen. Sie hatte den zweiten Brief geschrieben, auf den er persönlich antworten wollte. Holm wählte die Telefonnummer, doch es meldete sich nur ein Anrufbeantworter: »Hallo, hier ist der Anschluss 4 66 52. Momentan bin ich leider nicht erreichbar. Hinterlassen Sie bitte Ihren Namen und Ihr Anliegen, ich rufe Sie zurück.« Warum erwähnen die Leute bloß so oft ihre Nummer im Ansagetext? Dass er 4 66 52 gewählt hatte, das wusste Holm selbst. Mit ihrem Namen hätte er mehr anfangen können. Trotzdem wollte er eine Nachricht hinterlassen. »Hallo! Wenn du Karin bist und einen Brief auf meine Annonce geschrieben hast, dann vielen Dank! Wenn nicht, dann vergiss es«, erklärte Holm schroffer als beabsichtigt. Aber er wollte sich so gut wie möglich absichern, schließlich hatte er keine Lust, unberechenbaren Frauen noch länger als Zielscheibe zu dienen, und am Telefon schützte ihn noch nicht einmal ein Papierumschlag. »Dein Brief ist sehr nett, aber du hast mich vielleicht nicht richtig verstanden. Es könnte sein, dass ich
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nicht der Spaßvogel bin, für den du mich hältst. Aber wenn du möchtest, dann gebe ich dir gern die Gelegenheit, mein Wesen zu studieren. Wie wäre es mit einem Museumsbesuch? In letzter Zeit interessiere ich mich für einen Maler namens Rubens. Ruf mich doch zurück unter 7 36 85. Mein Name ist Holm Kenning.«
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Wie ernst ist die Lage?
Währenddessen war der Kundenprozess bei der HEIMEL Visimatik AG fertiggestellt worden. Henning hatte ihn wie angekündigt entsprechend Roberts Idee ausgearbeitet, Holm und Robert hatten ihn abgenickt und nun wurden die organisatorischen Veränderungen vorgenommen. Der INFOVISOR präsentierte Einzelheiten zur Verlegung der Entwicklungsabteilung in den Bauch des Traumschiffs: »Heute beziehen die Programmierer ihre neuen Räume im Untergeschoss. Wir brauchen für den Umzug keine Möbelpacker. Wenn jeder mithilft, dann werden wir die Aktion noch heute abschließen können. Außerdem fördern wir so eure Zusammenarbeit und die Gruppendynamik. Bitte bestätige hier:« Die Angestellten der HEIMEL Visimatik AG gaben wie jeden Tag mit ihrem Fingerabdruck bekannt, dass sie den Text verstanden hatten. Auch Holm packte seine Sachen zusammen. Er würde im Keller wieder einen zweiten Schreibtisch haben, denn er wollte es sich nicht nehmen lassen, so oft wie möglich bei seinen Leuten zu sein. Vor einer Woche hatte er alle zusammengetrommelt und über die neue Ablauforganisation informiert. Niemand hatte etwas gegen den Umzug einzuwenden gehabt, Programmierer fühlen sich sowieso meistens irgendwie als Underdogs. Für sie war es nicht weiter schlimm, dass es im Untergeschoss kaum Tageslicht gab. Die meisten Räume waren, wenn überhaupt, nur mit Oberlichtern ausgestattet. Deshalb wurde es nie hell genug, um die Neonbeleuchtung auszuschalten. Aber wenn Informatiker konzentriert am Bildschirm arbeiten, dann interessieren sie sich nicht für ihre Umgebung. Trotz der erstaunlichen Anpassungsfähigkeit seiner Mitarbeiter war Holm missmutig gestimmt. Obwohl niemand Bedenken oder Vorschläge zur Reorganisation vorgebracht hatte, fühlte Holm, dass die Atmosphäre sich veränderte. Seine Leute waren schweigsam. Es kam ihm so vor, als würden sie etwas zurückhalten.
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Mit einem Rollwägelchen karrte er seine Kartons zum Lastenaufzug. »Hallo, Franz, könntest du meine Kisten bitte mit nach unten nehmen?«, bat er Franz Hiesel, der ebenso wie alle anderen mit dem Transport seiner Ordner und Möbel beschäftigt war. »Hallo Holm, ich bin dabei!« Er hatte die Grußformel vergessen! Das war Holm noch nie passiert. Zerknirscht versuchte er, seinen Lapsus auszubügeln: »Ich bin natürlich auch dabei! Bist du auf dem Weg nach unten?« »Ja, kein Problem. Ich nehme deine Sachen mit.« »Du brauchst den Wagen nur in mein Zimmer zu schieben.« Während Franz den Aufzug belud, ging Holm in die Küche, um seine persönlichen Utensilien zu holen: sein Kaffeegeschirr und die pinkfarbenen Plastiklöffel der AP AG. Immer wieder waren einige der seltsamen Rührwerkzeuge durch unachtsamen Gebrauch zersplittert, doch fünftausend Löffel waren selbst bei unsachgemäßer Handhabung nicht so schnell aufgebraucht. Holm lag viel daran, im Keller eine produktive Atmosphäre herzustellen. Dazu sollten auch Steinbrechers nette Aufmerksamkeiten beitragen. Sein Blick fiel auf den Kaffeeprozess. Schon vor einigen Tagen hatte jemand mit blauem Filzschreiber eine Frage auf dem Papier ergänzt: »Bin ich doof, oder was?«, wollte der unbekannte Naseweis wissen. Nun waren weitere Graffitis hinzugekommen. Jemand hatte in roter Schrift zugestimmt: »Manfred ist doof!« Einem anderen Kollegen schien der Kaffee nicht heiß genug. »Mein Kaffee hat nur 96 Grad!«, nörgelte er. Die Prozessvorschrift gab dagegen unter Punkt 7 tatsächlich eine Solltemperatur von 97 Grad an. Ein weiterer Schlaumeier hatte zwischen den Schritten 1 und 2 Absatz 1b hinzugefügt: »Portionspäckchen mit einer Schere (zweite Schublade links) aufschneiden.« Dem war nicht zu widersprechen. Bevor man den Kaffee in die Filtertüte füllen konnte, musste die Packung geöffnet werden – Holms Missmut steigerte 135
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sich zum mittelmäßigen Ärger. Offensichtlich hatte niemand den Sinn der Anleitung verstanden. Vorsichtig löste er die Klebestreifen und nahm das Papier mit in sein Büro. Dort übermalte er die Kommentare mit Tipp-Ex. »Diese Anleitung hilft uns, gut miteinander auszukommen. Bitte unterlasst die Schmierereien!«, fügte er hinzu. Holm hatte das Gefühl, als Führungskraft einschreiten zu müssen, und zeichnete das Papier mit seinem Namenskürzel ab. Im Kellergeschoss gab es ebenfalls eine kleine Küche, dort würde er die Instruktion wieder aufhängen. Nachdem Holm den Kaffeeprozess in Ordnung gebracht hatte – die weiße Korrekturflüssigkeit vermochte die Ansichten der InformatiWas Was heißt Was tun? ker aber nur unzureichend passiert? das? zu übertünchen –, konnte er Holm spürt die negative Entwicksich wieder um die Umsetlung. Sein Unmut hat einen Grund, zung des Kundenprozesses doch der ist ihm nicht bewusst. kümmern. Er besaß einige Eben jetzt wäre es wichtig, zu hanTopfpflanzen, die sein Zimdeln, um weitere fatale Folgen zu mer schmückten. Keine Rovermeiden. senstöcke, die edlen GeEntwicklungen verlaufen oft wächse würden eingehen, zunehmend beschleunigt, sie eskalieren und werden unbeeinflussdenn für sie war es im Inbar. Der Appell, den Holm auf dem nern des Traumschiffs zu »Kaffeeprozess« formuliert, wird duster. Holm machte sich keine Wirkung zeigen. Er scheint aber auch Sorgen um die gelediglich Ausdruck seiner Hilflosignügsameren Pflanzen, denn keit zu sein. das mickrige Licht, dass die schmalen Fenster des neuen Rechtzeitig handeln Büros zur Verfügung stellten, war vielleicht selbst für die anspruchslosesten Gewächse nicht ausreichend. Als er mit den Umzugsarbeiten fertig war, inspizierte Holm die Baumaßnahmen, die in den letzten Wochen ausgeführt worden waren. Die neuen Räume waren vom Rest der Firma regelrecht abgeschottet, damit die Spezialisten konzentriert arbeiten konnten. Man würde den Bereich in Zukunft nur über die Treppe erreichen, die
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Aufzüge sollten demnächst stillgelegt werden. Selbstverständlich gab es Notausgänge, diese waren aber nur von innen zu öffnen. Ein fingerabdruckgesteuertes Schließsystem sicherte – ähnlich dem INFOVISOR am Haupteingang – den Zugang zur Abteilung. Zutritt hatten nur die Programmierer, Holm und Henning; nicht einmal Robert durfte den Bereich betreten. Er sollte nicht an Holm vorbei Einfluss auf die Entwickler nehmen können. Außerdem waren zusätzliche Wände eingezogen worden, in den kleinen Büros saßen sich nur jeweils zwei Kollegen an ihren Schreibtischen gegenüber. Eimel wollte Störungen durch Gespräche und Telefonate reduzieren. Deshalb waren auch die Türen mit automatischen Schließmechanismen ausgestattet, so dass sie nicht mehr offen stehen bleiben konnten. Nun störten weder die Kollegen, die auf dem Gang entlangschlurften, noch irgendwelche Geräusche von außen, denn die Fenster waren nicht nur klein, sondern auch fest verschlossen. Die Büros wurden so zu optimalen Arbeitszellen für hochkonzentrierte Softwareentwickler. Schon bald würden die Programmierer ihre neuen Räume »Grübelkammern« nennen – auf »Konzentrationszelle« konnte man sich selbst nach langer Diskussion dann doch nicht einigen. Zusätzlich zu den Grübelkammern gab es einen Besprechungsraum. Die räumlichen Arbeitsbedingungen waren damit definiert, sie würden die Softwareentwickler bei der sorgfältigen Ausführung der Prozessschritte – also ihrer Programmieraufgaben – unterstützen. Übertroffen wurde die Klarheit der räumlichen Organisation nur noch von Hennings Ideen zur Gestaltung der Kommunikationsabläufe. Das augenfälligste Merkmal des Kundenprozesses war nämlich die neu installierte Rohrpoststation, die in einem eigenen Raum untergebracht war. Die Einrichtung verband die Softwarespezialisten mit der Chefetage. Eine weitere Rohrpoststrecke war zwischen der Kommandobrücke und der Consulting-Abteilung installiert worden. Robert sollte in Zukunft mit 137
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seinen Beratern die Kundenkontakte pflegen, die Aufträge und Wünsche erfassen und an die Chefetage weiterleiten. Dort würden die Formulare von Frau Ziegler aus den Transportkapseln befreit und Eimel zur Genehmigung vorgelegt werden. Alsdann sollten nur die »vernünftigen« und vom Kunden verbindlich beauftragten Arbeiten an die Entwicklungsabteilung weitergereicht werden. Dazu würde die Chefsekretärin die Aufträge via Rohrleitung in den Keller schicken. Die Auftragsbestätigung und die fertige Software gelangten in gleicher Weise zurück zu Robert, der dann die Kunden zu informieren hatte. Die Mitarbeiter der HEIMEL AG wunderten sich, warum dieses anachronistische Rohrpostsystem eingeführt wurde. Aufträge und Software konnten auf elektronischem Wege viel einfacher verschickt werden, das Internet bot schließlich alle Möglichkeiten der Kommunikation. Für den Transport der Software mussten sogar spezielle Magnetbänder angeschafft werden. Wieso also wurde eine derart antiquierte Anlage installiert, die nur den Kontakt zwischen jeweils zwei Stationen zuließ? – Nun, genau aus diesem Grund! Die Mitarbeiter sollten den Ablauf einhalten, den der Kundenprozess vorschrieb. Er definierte die beste Vorgehensweise, Abweichungen waren nur störend und ineffizient. Darüber hinaus waren sich die Geschäftsführer einig, dass sie kreative Mitarbeiter beschäftigten. Die Entwickler kamen auf die unglaublichsten Ideen, wenn man sie einfach arbeiten ließ, wie sie wollten. Das hatten sie schon oft bewiesen: Sie sprachen direkt mit den Kunden oder tüftelten spontan Lösungen für kleine Probleme aus. Sie halfen unbürokratisch, doch manchmal vergaßen sie ihre genialen Kniffe zu dokumentieren. Es kam vor, dass selbst die besten Programmierer ihre eigene Software nach einiger Zeit nicht mehr verstanden, weil sie sich nicht mehr erinnern konnten, warum sie bestimmte kryptische Befehle eingeflochten hatten. Oft verbissen sie sich außerdem in Detailfragen oder sie diskutierten Algorithmen im Internet in speziellen Chat-Foren für Softwarespezialisten.
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
Diese Unordnung musste Henning hat den Kundenprozess mit geordnet werden! Darum aller Konsequenz umgesetzt. Es ist ließ der Kundenprozess keieine »verrückte« Idee, doch was hat ne eigenmächtigen Entscheiman in der Managementpraxis nicht schon alles ausprobiert! Was bedungen mehr zu. Nebenbei wirkt Eimel mit seinen Maßnahmen? machten die undurchschauEr nimmt seinen Mitarbeitern die baren Arbeitsmethoden seiFreiräume. Doch der Handlungsner Mitarbeiter Henning spielraum ist einer der wichtigsten Eimel Angst. Auch deshalb Einflussfaktoren auf die individuelle hatte er Decken und Wände Entwicklung und Motivation. durchbohren lassen, um die Es ist aber unmöglich, diesen Kommunikationskanäle beFreiraum beliebig weit einzugrentonfest zu zementieren. Deszen. Die Angestellten werden sich wehren: Sie werden aufbegehren, halb auch hatten die Comkündigen oder in ihren Leistungen puter im Keller keinen nachlassen – eben diese SelbstänInternetanschluss. Selbst die digkeit unterscheidet uns Menschen Telefonanlage war nur für (zum Glück) von jeder Technik. den internen Gebrauch bestimmt, Gesprächspartner Handlungsspielraum außerhalb des Firmengebäudes konnten nicht angewählt werden. Schließlich musste man Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, damit die Angestellten nicht rückfällig wurden. Nicht klar war Henning und Holm zu diesem Zeitpunkt allerdings, dass man nie genügend Vorsichtmaßnahmen ergreifen konnte, um den Angestellten ihre Selbständigkeit auszutreiben. Noch war Eimel so fasziniert von der Idee und Umsetzung seines Kundenprozesses, dass er sich wunderte, warum niemand vor ihm darauf gekommen war. Holm war ebenfalls fasziniert, wenn auch eher von Henning selbst. Außerdem war er gespannt, wie das neue Organisationsmodell funktionieren würde. Seine anhaltende Übellaunigkeit führte er auf die Geschichte mit dem beschmierten »Kaffeeprozess« zurück. »Zscht – Plop – Klack«, machte es, als der Luftdruck die Botschaft mit einer Geschwindigkeit von zwölf Metern pro Sekunde in den Keller presste, das Ventil sich öffnete und die Kapsel in den Eingangskorb fiel. 139
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
Wie schon angemerkt, sind Eimels Ideen nicht so originell, wie er denkt. Es war im Jahr 1984, als ein Ministerium alle Vorgänge innerhalb des Landes zu kontrollieren versuchte. Es beanspruchte das Wahrheitsmonopol über die Gegenwart und sogar die Vergangenheit. Auch in diesem Ministerium wurde übrigens eine Rohrpostanlage zum Transport aller Schriftstücke verwendet.
Holm befand sich im Rohrpostraum. Eine Kunststoffröhre – wahrscheinlich ein Produkt der AP-Fabriken – ragte durch die Decke in den Raum und hing lauernd über dem Auffangbehälter, in dem der Transportzylinder zur Ruhe gekommen war. Neugierig öffnete Holm die Kapsel und entnahm ihr einen Zettel. Es Totale Kontrolle war eine Notiz von Frau Ziegler: »Lieber Herr Kenning, dies ist ein Test. Funktioniert die Anlage? Ich bin so gespannt, ob ich eine Antwort bekommen werde. Gruß Z.« Holm schmunzelte, selbst Frau Ziegler war also gespannt an diesem Tag. Außerdem passierte es nur selten, dass das Orakel ihm eine Frage stellte. »Liebe Frau Z.«, schrieb er auf die Rückseite ihrer Anfrage. »Machen Sie sich keine Sorgen! Rohrpostanlagen sind bewährte Systeme, die erste wurde schon 1853 in London betrieben. Auch heute noch werden Rohrpostsysteme im militärischen Bereich eingesetzt, vor allem in Kommandobunkern. Da sie ohne komplizierte Elektronik auskommen, sind sie selbst gegen Atomschläge unempfindlich. Der von Kernwaffen ausgelöste elektromagnetische Impuls kann nämlich elektronische Geräte lahm legen. Unser Kundenprozess könnte somit höchstens durch einen Volltreffer beeinträchtigt werden. Es wird also schon irgendwie weitergehen. Ihr H. K.« Natürlich hatte sich Holm gründlich über die Geschichte und Funktionsweise von Rohrpostanlagen informiert, denn wie immer nahm er seinen Job sehr ernst. »Plop – Zscht«, machte es, als er die Patrone in das Einschubmagazin steckte und an Frau Ziegler zurückschickte. Gierig saugte der Kommunikationskanal die Nachricht an und beförderte sie in Windeseile nach oben.
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Der Test bestätigte es: Das System funktionierte einwandfrei. Sie waren bestens gerüstet. Wenn selbst das Militär der Rohrposttechnik vertraute, dann war sie auch für HEIMEL tauglich. Holm wusste allerdings nicht, dass sie es in Kürze mit einem Gegner zu tun bekommen sollten, dessen Waffen viel subtiler wirkten als gewöhnliche Atombomben. Unterschwellig spürte er die Vorboten der Verwerfungen, doch der Manager war nicht in der Lage, seine diffusen Ahnungen zu verstehen, geschweige denn wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen. »Zscht – Plop – Klack«, hörte er, als der Plastikrüssel erneut eine Botschaft in den Eingangskorb spuckte: »Lieber Herr Kenning«, schrieb die Chefsekretärin. »Ich melde gehorsamst den Empfang Ihrer Nachricht. Vielen Dank für die historischen und militärischen Einzelheiten. Halten Sie durch! Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Ihre Z.« Wieder einmal gab ihm Frau Ziegler Stoff zum Nachdenken. Wieso war die Lage ernst? Was wollte das Orakel damit sagen? Am frühen Nachmittag war der Umzug abgeschlossen. Holm belohnte seine Leute für das tatkräftige Engagement mit Kaffee und Kuchen im Besprechungszimmer. Die Mitarbeiter drängten sich in dem Raum, der für alle eigentlich zu klein war. Man verdrückte den Kuchen und schlürfte Kaffee, die Stimmung war gedämpft. Nur hier und da unterhielt man sich; man wartete ab, was kommen würde. Holm wollte die Gelegenheit nutzen, um seine Abteilung auf die neue Situation und den Kundenprozess einzuschwören: »Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst für die reibungslose Durchführung des Umzugs bei euch bedanken. Wenn wir weiter so engagiert unsere Arbeit verrichten, dann hat die HEIMEL Visimatik AG eine glänzende Zukunft vor sich. Bisher waren wir sehr erfolgreich, ich brauche wahrscheinlich nicht immer wieder auf den steigenden 141
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Aktienkurs hinzuweisen.« Das war korrekt, alle waren über die Entwicklung der Aktie informiert. Unschlüssig stand man sich gegenüber. »Um die künftigen Herausforderungen zu bewältigen, war die Restrukturierung notwendig«, fuhr Holm fort. Er sprach wie Eimel: Ohne es zu merken, hatte er sich den Stil seines Vorbilds angewöhnt. »Von nun an werdet ihr von mir oder meinem Vertreter – das wird in der Regel Franz sein – die Programmieraufträge erhalten.« Er nickte Franz Hiesel zu, der Holm entlasten sollte, der zukünftig mehr Aufgaben als Geschäftsführer übernehmen musste. »Die Termine und Ziele werden wir jeweils festlegen und nach oben melden. Um die Kunden brauchen wir uns nicht mehr zu kümmern, das wird Robert mit seinen Consultants erledigen.« Holm versuchte zwar wie Henning zu klingen, erzielte aber längst nicht dessen Wirkung. Lethargie machte sich breit, die Atmosphäre im Raum wurde ungemütlich. Die Angestellten reagierten nicht, man wartete anscheinend nur darauf, endlich abtreten zu dürfen. Holm hatte noch über den verunstalteten Kaffeeprozess und den Wert gegenseitiger Rücksichtnahme sprechen wollen. Angesichts der Stimmung verzichtete er jedoch darauf, heikle Themen direkt zur Sprache zu bringen. »Ich will euch nicht zu lange mit großen Reden von der Arbeit abhalten«, versuchte er vergeblich die Situation aufzulockern. »Wir haben schon im Vorfeld alles besprochen. Ich wünsche euch und uns viel Erfolg. – Und ihr wisst ja, ihr könnt mich jederzeit ansprechen. Meine Tür steht jedem offen.« Sofort fiel ihm der Widerspruch auf. Auch die Zuhörer dachten in dem Moment an die neuen Türen, die von den automatischen Schließern stets zugedrückt wurden. Doch niemand sprach aus, was alle betraf. Stattdessen erklärte Holm die Veranstaltung zur allgemeinen Erleichterung für beendet. Offenbar musste man sich erst an die neue Umgebung gewöhnen. Als sich die Mitarbeiter wieder auf die Grübelkammern verteilten, blieb Holm ratlos zurück.
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Gewöhnlich blieben die Mitarbeiter der Entwicklungsabteilung bis spät abends in der Firma, an diesem Freitag allerdings verließen Was Was heißt Was tun? sie ihre Büros schon zeitig. passiert? das? Als Holm gegen 17 Uhr eiHolm müsste die Führung übernen Rundgang durch die nehmen, nur: Er traut sich nicht. neuen Räume machte, traf Und seine Mitarbeiter zeigen sich er niemanden mehr an. Der passiv. Es gibt kein Aufbegehren, vielleicht weil klar ist, dass man so Entwicklungschef atmete keinen Erfolg haben würde. Offentief durch. Hatte er doch die heit ist eben kein Bestandteil der vielen schweren Türen nur HEIMEL-Kultur, und den Weg, geöffnet, um verdrossen sie zu erstreiten, wählen die Angefeststellen zu müssen, dass stellten nicht. Aber sie werden mit kein einziger Programmiegroßer Wahrscheinlichkeit andere rer mehr an seinem ArbeitsMöglichkeiten finden. platz weilte. Offenheit
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Sei spontan!
»Hallo Thomas!« – Holm freute sich und boxte Thomas freundschaftlich in die Rippen. Sie trafen sich in ihrer Stammkneipe »Zur Schaumkrone«, um es laufen zu lassen – das Bier und die Gedanken. »Hi Holm! Du siehst nicht gut aus«, stellte Thomas fest. Er war noch immer so freiheraus wie früher. Er konnte sich seine Offenheit nicht abgewöhnen, und warum sollte er auch? Sie prosteten sich zu, wie vor Jahren im MOVE 98. »Was ist los? Immer noch das alte Problem?« Thomas war geduldig. Auch wenn sie oft auf seine Schwester zu sprechen kamen, es nervte ihn nie. Thomas war tatsächlich Danis Bruder. Er hatte ihr damals Holms Telefonnummer verraten, und so waren die beiden schließlich doch noch ein Paar geworden. »Nein, keine Sorge. Heute ist es wegen meinem Job. Wir haben unseren Kundenprozess eingeführt, ich habe dir ja schon davon erzählt.« »Du hast mir erklärt, dass ihr eure Arbeitsabläufe neu organisieren wollt.« Wie beiläufig zwinkerte Thomas der Bedienung zu, die damit beschäftigt war, Bier zu zapfen. Da die blonde Mähne und das Grübchen im Mundwinkel Holm und Thomas mehr imponierten als der Kneipenname, hatten die Freunde die Gaststätte kurzerhand umgetauft. Seitdem trafen sie sich nicht mehr in der »Schaumkrone«, sondern »Bei Julia«. Vielleicht war Julia die Auszeichnung bewusst; souverän retournierte sie Thomas’ Augenaufschlag – mit einer Rückhand longline, beidhändig ausgeführt, wie Tennisspieler sagen würden. Dabei sah sie leicht verlegen oder selbstbewusst aus, Holm konnte das nicht entscheiden. »Ich glaube, es läuft nicht so gut.« Das Match zwischen Thomas und Julia konnte Holm damit nicht meinen. »Der Umzug war kein Problem. Ich sitze mit meinen Programmierern jetzt im Keller, aber die Leute verhalten sich merkwürdig. Sie sind so ruhig und unmotiviert. Das war früher anders.«
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»Hm«, machte Thomas, »das kann ich kaum nachvollziehen. Du weißt, ich bin mein eigener Chef, und ich habe keine Mitarbeiter.« Thomas arbeitete gern allein in seiner Schreinerei. Am liebsten baute er Möbel nach eigenen Plänen, manchmal restaurierte er aber auch Antiquitäten nach den Vorstellungen ihrer Besitzer. »Ich brauche keinen Kundenprozess, denn alles was ich mache, zielt letztlich auf meinen Auftraggeber ab. Dafür brauche ich einen guten Kontakt zu meinen Kunden, denn es gibt immer viel zu besprechen. Und je besser die Verständigung klappt, umso zufriedener sind alle. Außerdem macht mir die Arbeit so am meisten Spaß.« Noch während er das sagte, lachte er Julia an. Für einen Moment vergaß sie, auf ihre Getränke zu achten. »Es ist genug, Julia«, warnte Thomas sie. »Du solltest dich nicht so leicht ablenken lassen.« Erst schaute sie verdutzt, dann bemerkte sie, wie das Bier überschäumte. Thomas hatte sie mit einer starken Vorhand überrascht. Schnell drehte sie den Zapfhahn zu und zog ab – mit ihrem Tablett voller Getränke und einem Schmollmund, der gut zu dem frechen Grübchen passte. »Unsere Jobs sind nicht vergleichbar, obwohl ich dir grundsätzlich zustimme«, sinnierte Holm. »Ich bespreche auch am liebsten alle Probleme direkt mit den Anwendern unserer Programme. Dennoch würde ich manchmal gern mit dir tauschen.« Er schaute Julia hinterher und beobachtete, wie sie die Gläser an die Gäste verteilte. Thomas und Holm grinsten sich an. Julias Schnute – und der Punktgewinn – waren natürlich ein gegebener Anlass, um sich zuzuprosten. »Bloß nicht! Deinen Posten möchte ich nicht geschenkt bekommen«, nahm Thomas das Gespräch wieder auf. »Wenn ich mir vorstelle, wie viele Mitarbeiter sich bei euch um einen Auftrag kümmern: Vertriebsleute, Berater, Abteilungsleiter, Programmierer und wer sonst noch alles. Es wäre für mich ein Albtraum, für solche Projekte verantwortlich zu sein.« »Du sagst es. Manchmal ist es ein Albtraum.« Nie145
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mand wusste das besser als Holm, der seinen letzten nächtlichen Horrortrip noch in guter Erinnerung hatte. »Aber einer allein könnte bei uns keinen Auftrag abwickeln. Das funktioniert vielleicht bei Möbeln, aber nicht bei komplexer Software, wie wir sie entwickeln. Wir brauchen für die verschiedenen Aufgaben Spezialisten, die gut zusammenarbeiten.« »Klar, aber eben deshalb verstehe ich nicht, warum ihr diesen Kundenprozess erfindet und eure Programmierer in den Keller verbannt, damit sie sich nur ja nicht absprechen oder mit den Kunden abstimmen können«, gab Thomas zu bedenken. So gesehen wusste Holm dem kaum etwas zu entgegnen. Thomas hatte ihn schon oft verblüfft, indem er seine Logik in Frage stellte. »Softwareentwickler sind so. Denen gefällt es ganz gut im Untergeschoss, denn dort können sie ungestört tüfteln«, erwiderte Holm schwach. Dass der Kundenprozess eigentlich auf Hennings Mist gewachsen war, wollte er nicht als Argument anführen. Holm hatte der Reorganisation zugestimmt, also musste er sie jetzt auch verteidigen. »Außerdem gilt bei uns das Prinzip des ›internen‹ Kunden. Die Entwicklungsabteilung arbeitet nun für die Berater statt direkt für die ›externen‹ Kunden. Es macht ja grundsätzlich keinen Unterschied, mit wem wir zusammenarbeiten.« Holm war froh, dass ihm diese Erwiderung noch eingefallen war. Er hatte gelernt, dass es in prozessorientierten Firmen viele Kunden-Lieferanten-Beziehungen gab, in der jeder Mitarbeiter abwechselnd als Kunde beziehungsweise Lieferant agierte. Als Kunde nahm er die Vorarbeit eines Kollegen entgegen, als Lieferant leitete er das Produkt seiner Tätigkeit an die nächste Abteilung. »Aber es geht mir schon besser, wenn ich dir beim Flirten zusehe.« Holm beendete das Thema lieber, bevor Thomas weitere unbequeme Bemerkungen machen konnte. Womöglich hätte er noch erklärt, dass er sein Holz auch in der Holzhandlung erwarb, die es ihrerseits vom Sägewerk bezog. So gesehen war ein Schreiner auch ein Glied einer
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Was tun?
Holm ist noch nicht so weit, ge»Prozesskette«. Vielleicht nauer auf seine Ahnungen hätte er ihm die Vorteile von einzugehen, die in ihm schlumguten Beziehungen zu »exmern. Selbst Thomas kann ihm ternen« Kunden und Liefedabei nicht helfen. Vielleicht ranten beschrieben. Nicht schreckt Holm vor den Konauszuschließen, dass Thosequenzen zurück. Noch konmas dann auch noch gefragt trolliert sein Verstand, was gehätte, warum man die Notdacht werden darf und was nicht wendigkeit »interner« Zuwahr sein kann. Doch zweifellos passiert Wichtiges unter der sammenarbeit betonen musOberfläche. ste, wenn doch die Vorteile guter »externer« KooperaUnter der Oberfläche tion auf der Hand lagen. Letztlich fürchtete sich Holm vor der Schlussfolgerung, dass es bei HEIMEL mit der Zusammenarbeit nicht weit her sein konnte. So zog er es vor, seine Zweifel an der neuen Ablauforganisation, ebenso wie seine Bedenken gegenüber der Rohrpostanlage und dem Nutzen des INFOVISOR weiter zu verdrängen. Julia kam mit einem Tablett leerer Gläser zurück. Sie beugte sich ein wenig vor und nahm die Grundstellung ein, um den nächsten Ball zu erwarten. Während sie die Spülmaschine füllte, trafen sich ihr und Thomas’ Blick erneut. Es war erstaunlich, wie Holms Freund sie dazu brachte. Im Vergleich zu Thomas fühlte er sich wie ein Stümper. »Selbst flirten ist noch besser. Das kannst du auch.« Thomas schien Holms Gedanken erraten zu haben. Klar, dachte Holm, manchmal, wenn ich gut vorbereitet bin. »Du musst locker und spontan sein«, erklärte Thomas. »Du darfst dabei an nichts denken, vor allem nicht an vergangene Zeiten.« Holm rätselte, wie das mit der Spontaneität funktionieren sollte. Wie konnte er spontan sein? Sollte er tatsächlich unvorbereitet auf eine Frau zugehen? Unmöglich, das schien ihm viel zu riskant. Aber Thomas zeigte ihm das Gegenteil, er bewies ihm regelmäßig, dass er
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Recht hatte, auch an diesem Abend. In welche Ecke würde er diesmal zielen? »Julia, Schatz«, rief Thomas. »Mach uns doch bitte noch zwei Bier. Aber sei diesmal vorsichtig beim Zapfen, es wäre schade um den guten Saft.« »Mach dir keine Sorgen!« Sie warf den Kopf in den Nacken. »Pass du lieber auf, dass du von deinem Saft nichts verkleckerst.« Diesmal war ihre Gestik eindeutig. Selbst Holm konnte erkennen, dass Julia ausgesprochen selbstsicher war – und schlagfertig außerdem. Am liebsten wäre sie cool geblieben, doch sie schaffte es nicht ganz und schmunzelte kaum wahrnehmbar. Dennoch ging der Punkt eindeutig an sie. »Das klappt ja prima! Danke für die Lektion«, spottete Holm, als Julia außer Hörweite war. »Ich bin schon viel lockerer. Vielleicht sollte ich es jetzt auch einmal versuchen, was meinst du?« Natürlich mussten sie auf Julias perfekten Konter anstoßen. »Verkleckere deinen Saft nicht!«, riet auch Holm seinem Freund lachend. Sie hatten Julia einen neuen Trinkspruch zu verdanken. Nachdem sie sich ausgiebig zugeprostet hatten, rückte Holm mit seinem Geheimnis heraus. »Ich werde deine guten Ideen bald testen. Ich werde mich nämlich gleich mit zwei Frauen verabreden: Asja und Karin«, prahlte Holm und berichtete Thomas von seiner fantasievollen Bekanntschaftsanzeige sowie von den vielen Zuschriften, die er geerntet hatte. Allerdings erwähnte er lediglich die »netten« und »viel versprechenden« Briefe, denn die Antworten der »dubiosen« und »beleidigend-obszönen« Kategorien waren ihm unangenehm. Darüber wollte er nicht einmal mit seinem besten Freund sprechen. »Das ist ja spannend«, meinte Thomas. »Mit solchen Anzeigen habe ich noch keine Erfahrungen gemacht. Ich hoffe nur, du wirst dir für deine Rendezvous keine Prozesse ausdenken.« »Auf keinen Fall! Ich werde spontan und locker sein, so wie du es mir geraten hast.« Holm gab sich überzeugt.
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»Was weißt du denn von deinen neuen Freundinnen?« Was Was heißt Was tun? das? »Nicht viel. Asja ist sport- passiert? lich, und mit Karin habe ich Spontaneität scheint für unseren noch nicht direkt gesproVerstand schwer fassbar zu sein. chen. Wir haben uns bisher Sie ist der Gegenpol zur überlegten Handlung und bringt damit nur über unsere Anrufbeantdas Leben selbst mit all seinen worter ausgetauscht, sie ist Unwägbarkeiten und Überraschunschwer erreichbar.« gen am klarsten zum Ausdruck. »Dann wird eure VerabEs wäre gut, Verstand und redung ja eine echte ÜberraSpontaneität sich abwechseln und schung!« ergänzen zu lassen. Wir könnten »Genau. Aber sie hält gelegentlich versuchen, unsere mich für einen Witzbold. häufig doch nur vordergründig Damit liegt sie natürlich »rationalen« Ansichten zurückzufalsch.« stellen, um dem Leben mehr Raum zu lassen. »Meinst du?«, zweifelte Thomas. »Ich würde sie in Spontaneität ist Leben dem Glauben lassen, wenn ich dir noch einen Tipp geben darf. Du hättest mit deiner Anzeige auch einen schlechteren Eindruck machen können.« Wie wahr. Holm dachte an die zahlreichen Drohbriefe, die er bekommen hatte. »Außerdem ist es egal wie man wirklich ist«, fuhr Thomas fort. »Das lässt sich sowieso nicht endgültig feststellen. Entscheidend ist, was andere von dir denken. Also sei froh, dass sie dich witzig findet.« Das war einleuchtend. Holm war kurz davor, sich selbst für einen Spaßvogel zu halten. »Es ist immer wieder eine Bereicherung, sich mit dir zu unterhalten«, lobte er seinen Freund. »Ich werde dich auf dem Laufenden halten.« »Ich bestehe darauf!« Bald darauf riefen sie Julia, um zu bezahlen. Und wie immer, wenn sie die »Schaumkrone« besuchten, fragte Thomas die selbstsichere Blondine mit dem vorlauten Grübchen nach ihrer Telefonnummer. Er hatte es schon 149
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oft versucht und seinen ganzen Charme eingesetzt, doch bisher hatte sie ihn abblitzen lassen. Das schien Thomas aber nicht weiter zu stören, der Meister des Flirts war ausdauernd. »Julia«, sprach er sie an. »Da du sowieso schon den Stift in der Hand hältst, könntest du mir gleich noch deine Nummer aufschreiben.« »Du bist wirklich hartnäckig«, attestierte sie ihm. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich eine Geheimnummer habe? Und die ist nur so lange geheim, wie ich sie dir nicht verrate.« Sie schaute ihn milde an und tippte ihm mit dem Kugelschreiber auf die Finger. »O Julia! Du geheimnisvollste aller Frauen!«, rief Thomas plötzlich pathetisch, um zum Angriff ans Netz zu stürmen. »Wann wirst du mich erhören? Ich verzehre mich nach dir.« Thomas stand von seinem Hocker auf und streckte ihr beide Arme entgegen. »Nichts und niemand kann uns trennen, ich werde ewig auf dich warten, sollte es mir auch das Herz brechen.« Er griff sich an die Brust, das Gesicht vor unsäglichem Schmerz verzerrt. Langsam senkte er den Blick zu Boden. »Aber wie dem auch sei, ich werde mein Schicksal tragen«, erklärte er unvermittelt mit fester Stimme. So schnell, wie er sich in Thomas den verschmähten Liebhaber verwandelt hatte, so flink saß Thomas der Kneipengast wieder auf seinem Platz. »Also, was bin ich dir schuldig?«, fragte er freundlich. Andächtig hatte Julia dem Bekenntnis gelauscht, nun sah sie ihn direkt an; ihre Mundwinkel zuckten nur einmal. Nach einer Pause, die einer besonderen Frau zustand, zeigte sie sich endlich gütig: »Du bist ein tapferer Held. Ich denke, du hast eine Belohnung verdient. Wenn du dir 4 73 55 68 merken kannst, dann darfst du mich anrufen.« Holm war überrascht, nicht so der Freund. »Ich danke dir, ich werde dich nicht enttäuschen«, versprach Thomas und beglich die Rechnung. Bevor sie die Kneipe verließen, leerten sie ihre Gläser. »O Thomas! Du mein bester Freund! Mach’s gut, viel
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Spaß und verkleckere deinen Saft nicht!«, feixte Holm im Stil von Thomas dem Eroberer. »Dito!«, war alles, was Thomas dazu einfiel. Genau in diesem Moment protokollierte Holms Anrufbeantworter einen weiteren Anruf von Karin: »Lieber Holm, du sprichst in Rätseln. Ich weiß nicht, was du mir sagen möchtest. Dafür machst du mich neugierig. Wer sich so geheimnisvoll gibt wie du, der muss einiges zu bieten haben. Wir könnten uns am Sonntag um 15 Uhr im Museum für alte und neue Kunst treffen. Was hältst du davon?« Nun hatte sie also Zeit für ihn! Mit ihrem Anruf setzte Karin Holm aber gehörig unter Druck. Jetzt sollte er nicht nur als Spaßvogel auftreten, sondern auch ihre Neugierde befriedigen. Außerdem hatte er jetzt gleich zwei Blind Dates an diesem Wochenende zu bewältigen.
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Power Woman
Holm musste nun beweisen, was er in seiner Annonce so großspurig verkündet hatte, denn am Samstag war er mit Asja zur Radtour verabredet. Laut Ihrer Aussage, trainierte sie am liebsten mit dem Rennrad auf den Landstraßen der Umgebung. Auch Holm besaß ein Rennrad, allerdings hatte er es lange nicht mehr benutzt. Dennoch bot es sich an, mit Asja einen Ausflug ins Grüne zu unternehmen. Holm hatte daraufhin sein Rad durchgecheckt: die Kette geschmiert, die Bremsen geprüft und die Reifen aufgepumpt. Acht Bar hatten es schon schon sein müssen, praktisch ohne Rollwiderstand würde er über den Asphalt fliegen. Wie ein Profi. Natürlich wollte er nicht übertreiben, gelegentlich würde er auf Asja warten, bevor sie ihn aus den Augen verlor. Sie wollten sich ja kennen lernen, und selbstverständlich bot man sich gegenseitig Windschatten, wenn man zum gleichen Team gehörte. Leicht nervös machte sich Holm auf den Weg zum verabredeten Treffpunkt. Schon von weitem erkannte er Asja, sofort beeindruckte sie ihn mit ihrer durchtrainierten Figur. In der Radlerhose steckten kräftige Beine, unter dem Trikot schien kein Gramm überflüssiges Fett verborgen zu sein. Unwillkürlich schaute Holm an sich herab, auch er hatte sich in seinen Rennfahrerdress gezwängt. Anders als bei Asja deutete sich bei ihm jedoch eine Halbkugel unterhalb der Brust an. Sein Bauch wies etwa die Konturen einer Melonenhälfte auf – immerhin, es war keine bedeutende Erhebung, keine plumpe Wassermelone, eher eine dieser handlichen Honigmelonen. Nahezu unvermeidlich führten Holm diese Gedanken aber zurück zu seiner ersten Begegnung mit Dani, die seine Statur schon im Kaufhaus so nett gelobt hatte. Wie sich die Zeiten änderten! »Du bist also die böse Hexe«, begrüßte er Asja. »Vielleicht … Wenn du der Magier bist …«
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»Wartest du schon lange?«, fragte Holm, ohne auf die Anspielung auf seinen Antwortbrief einzugehen. Mit ihrem von Sommersprossen übersäten Gesicht wirkte Asja nicht wie die böse Hexe, für die sie sich ausgegeben hatte. »Kommt darauf an, was Was Was heißt Was tun? du meinst. Auf dich warte passiert? das? ich erst seit fünf Minuten.« Ganz offensichtlich »brütet» Holm Offensichtlich war Asja eine etwas aus. Berufliche VeränderunFrau der verschlossenen gen stehen an, und es könnte sein, Sorte, die sich erst einmal in dass er wichtige Anstöße auch von Zurückhaltung üben wollte. privater Seite erhält. Sie nahmen die Strecke, Berufs- und Privatleben beeindie Asja ausgesucht hatte flussen sich wechselseitig. Bedürfund fuhren los. Es war ein nisse und Interessen, die im Beruf zu kurz kommen, werden häufig ins idealer Tag für eine schöne Private verschoben und umgekehrt. Tour. Die Temperatur war Außerdem wirken sich Erfahrungen angenehm, die Sonne strahlauf den »ganzen« Menschen aus – te mit Kraft vom Himmel, wir sind ja keine zweigeteilten Weund sie fühlten den Wind im sen, die Arbeit und Freizeit getrennt Rücken. – Was konnten sie voneinander leben. sich mehr noch wünschen? Der Wind schob das Arbeit und Freizeit eigenartige Paar hinaus aus der Stadt. Auf der Landstraße konnten sie sogar nebeneinander bleiben und sich unterhalten. Noch brauchte Holm seiner neuen Freundin keinen Windschatten zu gewähren. »Frag mich bloß nicht, ob ich schon öfter auf Kontaktanzeigen geantwortet habe«, warnte Asja ihn. »Okay.« »Ich brauche keinen Smalltalk. Ich will Rad fahren, und ich werde dich auch nicht fragen, ob du dir regelmäßig solche bescheuerten Anzeigen ausdenkst.« Asja legte ihre Zurückhaltung unvermittelt ab. »Okay, ich frag dich nicht. Aber wieso bescheuert?«, fragte er sie. »Weil ich keine Probleme habe, Männer kennen zu lernen.« 153
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»Aha. Ich dachte schon, mein Text hätte dir nicht gefallen.« Mit hochgezogenen Brauen blickte Asja ihn von der Seite an. Sie trug eine dieser in jeder Dimension gerundeten Sonnenbrillen, die bei Radfahrern gerade angesagt waren. Holm konnte nicht erkennen, was in ihr vor ging, weil sie sich hinter den verspiegelten Gläsern versteckte. Gut möglich, dass Asja in dem Moment nur mit den Augen rollte und an nichts weiter dachte, doch damit hätte Holm am wenigsten gerechnet. Dafür war ihr Tempo nicht allzu hoch, gemächlich strampelten sie sich warm; sie hätten die Natur und den schönen Tag genießen können. Stattdessen dachte Holm an Thomas und seine Tipps. Sein Freund hatte ihm geraten, locker und spontan zu bleiben. – Holm war locker und spontan, und bisher hatte er auch erst einmal an Dani gedacht. »Und du führst also ein Geschäft«, stellte Asja fest. Holm hatte zusammen mit Daniela in der Gegend oft Ausflüge unternommen. An dem Bach, der sich mühsam durch die Wiesen wand, hatten sie oft ihr Lager aufgeschlagen und Picknick gemacht. Meike hatte sich ausgetobt, Blumen gepflückt und sich jauchzend vor Freude von ihm fangen lassen. »Wie?« Jetzt erst bemerkte er, dass Asja ihn ansprach. »Du bist doch Geschäftsführer? Das stand jedenfalls in der Anzeige. Oder war das auch gelogen?« »Ach so.« Schwach erinnerte sich Holm an seine Annonce. Er fühlte sich ertappt, die verordnete Lockerheit schien dahin. »Nein, es stimmt alles. Nur bei der Größe ist der Zeitung ein Druckfehler unterlaufen«, schwindelte er. »Ich bin nur 1,78.« »Na, dann hoffe ich, dass mein Busen wenigstens deinen Vorstellungen entspricht.« Asja schaltete einen Gang hoch. Inzwischen fuhren sie mit einer Geschwindigkeit von gut dreißig Stundenkilometern. Das war nicht besonders flott – jedenfalls nicht in der Ebene bei Rückenwind und mit acht Bar Luft in den Reifen –, aber das Tempo reichte
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aus, dass der letzte Rest Spontaneität auf der Strecke blieb. Richtig! Seinen Anzeigentext hatte Holm fast vergessen. Hoffentlich war sie nicht gekränkt, weil er sich eine »vollb., böse Hexe« gewünscht hatte. Wie war er bloß auf diese Idee gekommen? Während Holm ebenfalls einen Gang zulegte – im Gegensatz zu Asja nur per Handschalthebel –, riskierte er einen Blick zur Seite. Unter ihrem Trikot zeichnete sich eine viel versprechende Füllung ab. Die Konturen erreichten zwar nicht die Melonengröße seines Bäuchleins, aber immerhin hatten sie Orangenformat. »Na, zufrieden?« Asja erwischte ihn in flagranti. Sie musste regelrecht darauf gewartet haben, Holm ärgerte sich. »Da vorn geht’s durch den Wald und dann einen Hügel hinauf«, erklärte Asja nach einer Pause, die beinahe schon peinlich gewesen wäre. Holm kam ins Schwitzen. Inzwischen hatten sie sich warm getreten und das Tempo kontinuierlich gesteigert. »Alles klar?«, fragte sie ihn. »Alles bestens!«, beschied er ihr. Kurz darauf erreichten sie das Waldgebiet, in dem die Bergfahrt begann. Stetig nahm die Steigung zu, Holm wählte nun das kleine Kettenblatt. Der Schatten tat gut, die Sonne hatte im Tal doch recht intensiv vom Himmel gebrannt. Aber weder die Sonne noch der Anstieg und schon gar nicht ihr Begleiter vermochten Asja zu irritieren. Ruhig und gleichmäßig arbeitete sie sich voran, während der angebliche Hügel sich für Holm als respektabler Berg entpuppte. Aber irgendwann war die Anhöhe erreicht, sie konnten die Räder wieder laufen lassen. »Alles klar?« »Alles klar!«, wiederholte er. Holm war außer Atem, für seinen Trainingsstand hatte er schon genug geleistet. »Du solltest auf längeren Touren immer etwas zu essen mitnehmen«, tadelte Asja Holm und gab ihm einen Energieriegel. 155
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»Danke. Hab ich vergessen. Ich fahre auch nicht so oft Rad.« »Das ist keine Begründung. Wenn du nichts isst, dann kommt irgendwann der Einbruch. Das ist unvermeidlich«, erklärte sie sachlich. Holm musste ihr Recht geben. Schweigend kaute er an dem Snack, der fast alles enthielt, was er jetzt dringend benötigte: Kohlenhydrate, Vitamine und Mineralstoffe – was Holm betraf, so hätte der Hersteller dem Kraftfutter noch eine Dosis Unbekümmertheit beimischen können. »Jetzt geht es richtig los. Hügeliges Gelände ist mir am liebsten«, informierte ihn Asja mit hörbarer Begeisterung in der Stimme. Bisher hatte sie sich keine Gefühlsregungen anmerken lassen. Holm befürchtete, dass »hügeliges Gelände« für Asja auch Bergwertungen der oberen Kategorien einschloss und schon bald wurde die Vermutung zur Gewissheit. Asja war eine Kletterspezialistin, die selbst die schwierigsten Steigungen unwiderstehlich bezwang. Nach weiteren Berg- und Talfahrten war Holm mit seinen Kräften mehr oder weniger am Ende. Er fuhr jetzt nur noch hinter seiner Begleiterin, obwohl ihm das an den Steigungen auch nicht half. Bei niedrigem Tempo war der Windschatten unbedeutend. Dafür konnte er ihren Bewegungsablauf studieren: Asja fuhr mit rundem Tritt, ihre Oberschenkel arbeiteten wie hydraulische Pumpen, die die Pedale energisch nach unten zwangen, während die Muskelbündel sich rhythmisch spannten und entspannten. Das Kraftwerk schien in der engen Hose versteckt zu sein, Holm erkannte es am deutlichsten, wenn sie aus dem Sattel ging. Er betrachtete die pulsierenden Pohälften und stellte sich zwei schwarze Atommeiler im Miniaturformat vor, die ihre Beine mit Energie versorgten. Als er realisierte, dass er sich erneut ablenken ließ, ermahnte er sich, spontan und locker zu bleiben und bloß nicht auch noch an Dani zu denken. Natürlich fiel Holm genau in diesem Moment wieder eine Episode ihrer gemeinsamen Zeit ein. Sofort ver-
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krampfte er sich, er keuchte, schwitzte, der Puls raste, während Asja von seiner Zerrissenheit nichts zu ahnen schien – der lange Zopf ruhte gelassen auf ihrem Rücken. Dann erreichten sie eine weitere Erhebung, endlich ging es wieder abwärts, und er schaffte es, sich neben sie zu setzen. »Alles klar!«, log Holm, bevor sie ihn fragen konnte. »Sicher? Es kommt noch ein letzter Anstieg.« Abgesehen von der bevorstehenden finalen Prüfung war das eine gute Nachricht. »Du machst das sehr gut«, lobte Holm Asja ohne Was Was heißt Was tun? Grund. »Du hast sicher gut passiert? das? trainiert.« Sie gab ihm keine Holms Radtour könnte man mit Antwort. Du Hexe, dachte dem Titel »Kräftemessen« kenner, du sommersprossenbezeichnen. Damit wird aus dem sprenkelte Hexe! gemeinsamen Nachmittag eine Zügig rollten sie einige schweißtreibende Angelegenheit, Serpentinen hinunter, der bei der Holm den Kürzeren zieht. Von einer Abstimmung der InteresFahrtwind war erfrischend. sen kann nicht die Rede sein. Der Genuss währte aber In der Wirtschaft konkurrieren nicht lange, denn der folgenUnternehmen zwar auch oft, aber de Anstieg wurde zur Qual. die meisten Mitarbeiter betrifft dies War Holm schon vorher nicht. Sie sollten vor allem gut zuausgezehrt und kraftlos gesammen arbeiten. Doch oft ist das wesen, so brach er nun völlig Gegenteil der Fall: Abteilungen und ein. Es kam so, wie Asja es Angestellte streiten um Einfluss, vorhergesehen hatte. Zu seiAnerkennung, Budgets etc. Die Kosten und Nachteile, die so entner untrainierten Kondition stehen, sollten nicht unterschätzt addierte sich der Hungerast. werden. Auch Holm wird die RechDie Reserven waren vernung für seinen übertriebenen Ehrbraucht, sein Kraftwerk – so geiz begleichen müssen. Holm denn auch eines im Hintern oder anderswo mitKonkurrenz und Kooperation führte – lieferte keine Energie mehr. Die Muskeln wollten nicht mehr arbeiten – sie streikten, und die Schenkel verwandelten sich in hohle Tonkegel. Immer wieder musste Asja auf ihn warten. Wenn sie genervt war, so ließ sie es sich wenigstens nicht 157
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anmerken. Rettung war allerdings noch lange nicht in Sicht, Holms Mund war trocken, längst hatte er die Trinkflasche geleert. Er war kurz davor abzusteigen, aber diese Schmach konnte er gerade noch vermeiden. Endlich erreichten sie den höchsten Punkt. Ohne einen einzigen Tritt ließ Holm sich ins Tal rollen. Dort hatten sie noch einige Kilometer vor sich, und der Wind, der sie anfangs aus der Stadt gepustet hatte, stemmte sich den Sportlern nun mit Wucht entgegen. Holm blieb nur eine Möglichkeit, um überhaupt zurück nach Hause zu kommen: Asjas Windschatten. Er näherte sich ihrem Hinterrad bis auf wenige Zentimeter und verbarg sich hinter ihrem Rücken – ihre wohlgeformte Energiequelle direkt vor Augen. Die letzten Kilometer zogen sich trotzdem schier endlos dahin. Holm registrierte kaum, dass sie die Stadt irgendwann doch erreichten, nur noch reflexartig hielt er sich am Lenker fest. Im übrigen hatte er das Denken eingestellt – mag sein, dass er in diesem Stadium der völligen Erschöpfung die ersehnte Lockerheit erreicht hatte, doch nun nütze sie ihm nichts mehr. Als Asja anhielt, wäre Holm beinahe mitsamt dem Fahrrad umgestürzt. Er strauchelte, konnte aber noch rechtzeitig den Fuß aus der Pedale lösen, um sich abzustützen. »Du bist mir ja ein Held, Herr Geschäftsführer …« Meinte sie es spöttisch oder mitfühlend? »Heute ist nicht mein Tag.« »Wer kann schon immer kreativ, impulsiv und aggressiv sein.« Asja spielte mit ihm und mit seinem Anzeigentext. »Ich schätze, dich kann ich so nicht nach Hause fahren lassen. In deinem Zustand kommst du mir sonst noch unter die Räder. Komm mit! Du kannst dich frisch machen bei mir.« Sie hatten offenbar ihr Zuhause erreicht, und Holm gehorchte widerspruchslos. Nachdem sie einige Treppen erklommen hatten, die Holm wie eine weitere Bergwertung erschienen, schob Asja ihn ins Badezimmer und begann ohne Umstände sich zu entkleiden. »Na los, zieh
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dich schon aus. Bei mir wird ohne Klamotten geduscht«, klärte sie ihn auf. Offenbar war Holm nicht mehr Herr der Lage. Die Situation kam ihm bekannt vor, er erlebte sie wie ein Déjà-vu, obwohl er noch nie zuvor mit einer Frau Rennrad gefahren war, um anschließend in ihrem Bad zu stranden. Aber er fühlte sich wie erschlagen, und eine warme Dusche konnte nicht schaden. Als er sich entschloss, die dünnen Beine und die Melonenhälfte zu entblößen, erkannte Holm erschrocken, wie er aussah. Und Asja bedrohte ihn mit ihrer perfekten Erscheinung, die nicht einmal die Sommersprossen entwerten konnten. Während die Bündchen des Trikots sich in seinem Fettgewebe abzeichneten, wies ihr Körper keinerlei Makel auf. »Du hast dir einen Sonnenbrand geholt«, ergänzte sie zu allem Überfluss die Mängelliste. Rote Stellen an Hals und Armen kontrastierten mit hellen Hautpartien, die von der Kleidung normalerweise bedeckt waren. Ausgiebig betrachtete Holm sich im Spiegel und konfrontierte sich noch einmal mit Asja, die ihm nahtlos gebräunt den Rücken anbot. »Du könntest mir die Haare aufflechten!« Ein Vorschlag war das nicht. »Du bist ganz schön vertrauensselig.« Ungeschickt verwandelte Holm den Zopf in eine kastanienbraune Haarpracht. »Ich glaube nicht, dass mir etwas zustoßen wird.« Zum ersten Mal zeigte sie den Anflug eines Lächelns. War das ein Ausdruck von Überheblichkeit oder Überlegenheit? »Wenn ich mich schon veralbern lasse, dann will ich wenigstens etwas davon haben.« Sie griff nach seiner Hand und ohne Umschweife zog sie ihn mit in die Duschkabine. Es war Überlegenheit, entschied Holm. Vielleicht war es sogar Überlegenheit und Überheblichkeit. Das warme Wasser tat ihm trotzdem gut. Vorsichtig – als wäre er zerbrechlich – begann sie, seine Schultern zu massieren. Langsam drückte sie 159
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sich an ihn. Sie nahm sich Zeit, der Strahl der Dusche prasselte auf sie herab. Er spürte ihre Brüste, die sogar ein wenig größer als Orangen waren. Holm begriff, dass Asja genau die Frau war, die er in seiner Anzeige gefordert hatte: eine »vollb., böse Hexe«. Die Zauberkraft des Magiers allerdings blieb er schuldig. Holm ließ sie gewähren – er fühlte sich bedroht von ihrem entsicherten Körper und ihren scharfen Rundungen, er war völlig erschöpft. Er wehrte sich nicht, war doch alles so gekommen, wie es kommen musste.
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Wake up! II
Die Begegnung mit Asja würde Holm nicht so schnell vergessen. Und schon einmal hatte er einen Abend mit einer Frau verbracht, der ihm noch klar im Gedächtnis war. Damals hatte Dani mit einer speziellen Technik dafür gesorgt, dass die Erinnerung daran für Holm unvergänglich bleiben sollte. Das KINOTAURUS war eines jener neumodischen Kinos, die täglich Horden vorwiegend jugendlicher Filmfans verschlangen. Die Großkinos versprühten aber leider nicht den Charme der alten Lichtspielhäuser, die früher das Freizeitangebot in jedem Dorf verdoppelten. Die knarrenden Sitze waren bequemen Sesseln gewichen, der knisternde Ton vergangener Zeiten hatte sich zu einem fantastischen Sound entwickelt, und die Gemütlichkeit war durch viel Beton, Stahl und Plastik ersetzt worden. Doch Holm ignorierte die sterile Atmosphäre, und Dani schien die Architektur nicht zu stören. Immerhin förderten die Marketingstrategen des Kinokettenbetreibers die Bier- und Popcornkultur. Daniela erstand einen Riesenbecher Maisflocken und ein Bier für Holm. Während sie auf den Beginn des Films warteten, bereitete Holm Dani auf die Handlung vor. »Die Men in Black – für Eingeweihte auch MIBs – sind Geheimagenten, die die Welt vor der extraterrestrischen Invasion schützen. Sie tragen immer schwarze Anzüge. Niemand darf wissen, dass sich bereits Aliens auf der Erde befinden, weil es sonst zu einer Panik kommen würde.« »Verstehe«, murmelte Dani und blickte sich vorsichtig im Saal um. »Sie sind also schon unter uns!« »Ja.« Holm flüsterte jetzt auch. »Und sie sehen aus wie normale Menschen, wie du und ich. Aber sie haben keine Chance. Die Aliens werden von den MIBs enttarnt und eliminiert. Erdenbürger, die Außerirdische entdecken, dürfen ihre Beobachtungen natürlich nicht ausplaudern. 161
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Deshalb wird ihr Gedächtnis von den Agenten gelöscht. Dazu benutzen sie ein stabförmiges Gerät, ich glaube es nennt sich Eraser. Bei der Anwendung müssen die Retter der Menschheit aber extrem coole Sonnenbrillen tragen, um nicht selbst der Amnesie zum Opfer zu fallen.« »Aha«, machte Dani. »Etwa so?« Sie zog eine Sonnenbrille aus ihrer Handtasche und setzte sie auf. »Ja, genau.« Im gleichen Moment zuckte Holm zusammen. Erst jetzt fiel ihm Was Was heißt Was tun? auf, dass Dani ganz in passiert? das? schwarz gekleidet war – mit Wie Danis und Holms Beziehung der Brille sah sie extrem cool enden musste, wissen wir bereits. aus. »Du bist also auch eine Vom ersten zweisamen Abend fehvon ihnen! Aber bitte, lass len uns aber noch einige Stunden. mir meine Erinnerungen. Die Entwicklung vollzieht sich Ich mach auch alles, was du wie von selbst – »automatisch« willst!« wäre übrigens ein unpassender, Holm gab sich schoweil technischer Begriff. Weder Holm noch Dani verlieren auch nur ckiert, und er war tatsächlich ein Wort über den »Zweck« ihrer zu allem bereit, doch Dani Verabredung. Das Wichtige, der kannte kein Mitleid. Erneut Zauber eines Anfangs, geschieht griff sie in ihre Tasche, wieder einmal im Hintergrund. holte einen länglichen Parfumzerstäuber heraus und Entwicklung vollzieht sich drückte auf den Auslöser. wie von selbst Das Opfer wurde in Parfumnebel gehüllt, der Duft raubte Holm zum Glück nicht das Gedächtnis, sondern nur die Sinne. Zufrieden lächelte Dani ihr unergründlichstes Lächeln. Während die Agentin sich ungeniert das Dekolleté besprühte, fasste Holm sich an Kopf und Hals und sackte röchelnd im Sessel zusammen. »Wer bin ich? Wer bist du? Was tun wir hier?«, fragte Holm scheinbar benommen. »Du stellst gute Fragen. An dir ist ein Philosoph verloren gegangen«, stellte Dani nüchtern fest. »Aber keine Sorge. Das war ein Diffusor, er wirkt wie ein Anti-Eraser und sorgt dafür, dass du diesen Abend nie vergessen wirst!«
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Als er wieder zu sich kam, konnten sie sich nicht mehr zusammenreißen und kicherten wie Kinder. Auch der Film schien Dani zu gefallen. Sie lachte oft bei einem coolen Spruch der coolen MIBs oder wenn ein Alien von einer Laserkanone getroffen wurde. Holm kannte den Film aber schon gut, mehr noch interessierte ihn seine Begleiterin. Die ganze Zeit behielt sie die Sonnenbrille auf, und bedauerlicherweise musste er im dunklen Kino auf ihr Lächeln verzichten. Dafür berührten sich ihre Arme, zunächst beiläufig, doch später konnte von Zufall keine Rede mehr sein. Sie kamen sich näher, einfach so. Gegen Mitternacht verließen sie das Kino, damit hielt Holm das Abendprogramm für beendet. Als er sie auf ein Wiedersehen ansprechen wollte, kam Dani ihm zuvor. Sie nahm seine Hand und zog ihn hinter sich her: »Jetzt möchte ich tanzen gehen. Es ist genau die richtige Zeit für das IMAGE.« Im Prinzip war nichts dagegen einzuwenden, jetzt noch eine Diskothek aufzusuchen. Abgesehen davon, dass Holm selten bis nach Mitternacht ausging, dass er kaum tanzen konnte und dass das IMAGE nicht in seiner Abendplanung vorkam, sprach absolut nichts dagegen. Dani wirkte äußerst überzeugend, und inzwischen tat das Bier ein Übriges, seine Willenskraft zu unterspülen.
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Fluchtversuch
Irgendwann Samstagnacht erwachte Holm Kenning, langsam kam er zur Besinnung. Er hatte von Männern in dunklen Anzügen geträumt, die ihn mit einem stabförmigen Gerät bedrohten. Und er hatte eine Frau gesehen, die ihn mit einem Parfumzerstäuber schockierte. Was war bloß los mit ihm? Angestrengt versuchte er zu rekonstruieren, was unter Asjas Dusche passiert war, doch er konnte sich nicht erinnern. Fakt war jedenfalls, dass er sich in einem unbekannten Bett befand. Er konnte es fühlen und riechen. Unbekleidet lag er neben einer Frau, die sich Asja nannte, die sich als böse Hexe zu erkennen gegeben hatte und angeblich seelenruhig schlief – als wäre sie die gestaltgewordene Harmlosigkeit. Holm wusste es besser. Wer konnte schon ahnen, was sie mit ihm angestellt hatte? Beinahe hätte er sich bedankt bei ihr, dass sie ihn nicht achtlos verstoßen, sondern sorgfältig in ihrem Bett verstaut hatte. Doch er wollte sie nicht wecken, für rührige Abschiedsszenen blieb keine Zeit. Er musste verschwinden, so schnell wie möglich. Das Blind Date mit Asja hatte sich zum Drahtseilakt entwickelt, jeden Moment konnte er abstürzen. Seine Albträume schienen sich zu bestätigen. Ob sie einen roten Mantel besaß? Bestimmt hatten sie sich eine perfide Methode überlegt, um ihm einen Denkzettel zu verpassen: Sie verführten ihn mit einer attraktiven Frau. Nachdem die Radtour ihn zermürbt hatte, wollten sie ihn nun zu einer Dummheit verleiten und ihm beweisen, dass er auch nicht besser war als alle anderen Männer; wahrscheinlich eher schlechter. Holm schien desorientiert, vielleicht war er nicht ganz wach. Aber er musste fliehen, so schnell wie möglich, am besten sofort. Nachdem die obligatorischen Minuten verstrichen waren, bis er die Augen öffnen konnte, schob er sich vorsichtig aus dem Bett und schlich ins Bad. Dort lagen noch seine Sachen. Er zog sich an, setzte den Radhelm auf und nahm die Schuhe in die Hand, um möglichst keine Ge-
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räusche zu verursachen. Aus dem gleichen Grund ließ er die Wohnungstür offen. Sollte sie doch der Teufel holen! Er musste Prioritäten setzen, und am wichtigsten war, dass er unbemerkt davonkam. Soweit er seinem Gedächtnis trauen konnte, sollte Asjas Wohnung sich etwa im dritten Stock des Hauses befinden. Das war richtig, doch nun unterlief Holm ein Fehler. Als er im Treppenhaus nach dem Schalter tastete und ihn betätigte, blieb alles dunkel. Kein Licht erstrahlte, um Holm heimzuleuchten. Dafür schrillte Asjas Klingel, der Alarm verriet seine Flucht. Das ganze Haus war nun informiert, dass er sich retten wollte. Undenkbar, dass Asja von diesem Lärm nicht geweckt wurde. Sie würde ihn stellen! Starr vor Schreck hielt Holm einen Moment inne, dann rannte er in Panik in die Richtung, in der er die Treppen vermutete. Er irrte sich nicht, endlich zahlte sich sein Orientierungssinn, auf den er sich als Mann viel zugute hielt, einmal aus. Leider währte die Freude nur kurz, denn Holm erriet zwar die Richtung, verschätzte sich aber in der Entfernung und erreichte die Stufen einen Schritt eher als vermutet – der letzte Tritt ging ins Leere. Verzweifelt bemühte er sich, das Unglück zu vermeiden, doch in der Dunkelheit hatte Holm keine Chance. Der Sturz begann wie in Zeitlupe. Die wild rudernden Arme versuchten vergeblich den Handlauf zu erreichen oder sonst etwas auszurichten, was dazu beigetragen hätte, den Fortgang der Ereignisse günstig zu beeinflussen. Dabei glitten ihm die Schuhe aus den Händen, in hohem Bogen flogen sie davon. Gleichzeitig verlor Holm auch den Boden unter den Füßen und stürzte kopfüber nach unten. Zum Glück hatte er nur zehn Stufen bis zum nächsten Treppenabsatz zu überwinden. Kurz bevor die Schuhe durch entferntes Poltern ihre Ankunft im Keller anzeigten, schlug er auf. Er versuchte sich abzurollen, stöhnte, dann wurde es auch im Untergeschoss still. Sterne tanzten vor seinen Augen, sonst spürte er nichts. Als das Licht aufflackerte, rappelte Holm sich sofort auf und nahm die restlichen Stufen im Eiltempo. 165
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»Holm?«, rief eine Frauenstimme durch das Treppenhaus. »Holm, bist du das?« Er packte das Fahrrad, das er im Hausflur abgestellt hatte und rannte auf die Straße. Es blieb ihm keine Zeit, um nach den Schuhen zu suchen. Holm fühlte das Blut, das von der Nase über seine Lippen rann, sich um den Mund herum verteilte und vom Fahrtwind zu den Mundwinkeln Was Was heißt Was tun? und über die Wangen diripassiert? das? giert wurde. Tropfen lösten Holm ist nicht zu beneiden. Wieder sich vom Kinn, um ihren einmal gerät er in Schwierigkeiten. Weg zu Hals und Brust zu Statt sich in Sicherheit zu bringen – suchen. Sein Helm hatte ihn vor welcher Gefahr auch immer –, gerettet, gottlob hatte er ihn fügt er sich selbst nur Schaden zu. schon in der Wohnung aufDie «Flucht« ist für Außenstehende gesetzt, sonst hätte er sich bei nicht nachvollziehbar, aber sie hat ihren inneren Hintergrund. Eine seinem Treppensturz woErklärung gibt es bestimmt, denn möglich den Schädel eingescheinbar »irrsinnige« Dinge passchlagen. Auch sonst schien sieren tausendfach jeden Tag. er sich nichts Ernsthaftes zuWenn man die Hintergründe kennt, gezogen zu haben. dann bekommen auch »VerrücktWas für ein Irrtum! Mit heiten« einen Sinn. leerem Kopf fuhr er weiter. Die roten Tropfen, die ihm Der Sinn des »Irrsinns« aus dem Gesicht fielen, verteilten sich gleichmäßig auf dem Trikot und den Beinen, sie besprenkelten das Fahrrad und markierten die Route zwischen Asjas Wohnung und seinem Zuhause. Ihm wurde kalt, nur spärlich bekleidet begann er zu frieren. Aber Holm ignorierte auch die Kälte. So spät in der Nacht lagen die meisten Bewohner der Stadt längst geborgen in ihren Betten. Doch den wenigen Nachtschwärmern, die noch unterwegs waren, bot sich ein bizarrer Anblick. Sie wunderten sich über eine merkwürdige Gestalt, die ohne Schuhe, dafür über und über mit Blut verschmiert, auf einem Rennrad kauerte und mit irrem Blick an ihnen vorbeiraste.
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Telefonalarm
Holm erschrak, als er sich im Spiegel betrachtete. Er konnte seinen Körper in rote Flächen und bläulich-grüne Abschnitte unterteilen. Außerdem entdeckte er von Sonnenbrand und Blutergüssen entstellte Partien. Die Blutungen waren versiegt, dafür musste er niesen, was seine Rippen mit einem Stich in die Lunge quittierten. Vor Schmerz verzog er das Gesicht. Und nicht nur die Brust tat Holm weh, fast jedes Körperteil meldete unangenehme Signale an sein Gehirn, sobald er es wagte, sich zu bewegen. Wie leicht hätte ihn sein Treppensturz auch einige Zähne kosten können! Er fühlte sich ein wenig besser, als er darüber nachdachte, wie viel Dusel er gehabt hatte: Er war Asja entkommen, während seiner Flucht über lediglich zehn Stufen gestürzt, dabei hatte er seinen Helm getragen und sich weder den Schädel einnoch Zähne ausgeschlagen. So betrachtet hatte er einen abwechslungsreichen Tag verlebt. Holm grinste den Idioten im Spiegel an, der aber sofort wieder ernst wurde, weil ihn die lädierte Lippe zur Mäßigung zwang. Vielleicht wäre ein heißes Bad für den geschundenen Körper besser als positives Denken. So war es: Das Bad war eine Wohltat, nur die Füße brannten höllisch. Holm erkannte nun auch, warum er kaum noch gehen konnte. Die scharfen Haken der Klick-Pedalen seines Rennrads hatten nicht nur die Socken zerfetzt, sondern auch die Fußsohlen aufgeschlitzt. Blutverkrustete Furchen zogen sich durch das Fleisch. So gut es ging, hielt Holm seine Füße über Wasser – sie waren im Moment auf das Fichtennadelschaumbad nicht erpicht. Nach dem Bad wickelte er sich in seinen Bademantel und versorgte die Füße mit einem Verband. Im Gegensatz zum Badezusatz beruhigte die Salbe die Wunden, sein Gang verbesserte sich durch die Behandlung aber kaum. Wie ein alter Mann humpelte Holm durch die Wohnung und ließ sich ächzend auf das Sofa fallen. 167
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Die nächsten Stunden dämmerte er im Halbschlaf vor sich hin. Unruhig wälzte er sich von einer Position in die andere, aber wie er sich auch drehte, ständig meldete irgendein Körperteil Beschwerden an. Von Zeit zu Zeit stöhnend und niesend verbrachte er den Sonntag auf der Couch. Manchmal klingelte das Telefon; es war erstaunlich, wie rührend sich die Menschheit ausgerechnet an diesem Tag um ihn sorgte. Um die Anrufer wiederum sorgte sich der Automat. Holm hörte zwar interessiert zu, wollte aber auf keinen Fall mit irgendjemandem Kontakt aufzunehmen. Zuerst riss Henning ihn aus seinem Dämmerzustand: »Henning hier. Wo steckst du denn?«, tönte der Lautsprecher. »Du weißt doch, dass du immer erreichbar sein sollst. Es gibt Probleme bei AP, wir müssen sofort hinfahren! Sie drohen damit, die Verträge platzen zu lassen. Und schalt sofort dein Handy ein!« Sofort! Unbedingt! – Typisch Henning! Wenn es schwierig wurde, dann alarmierte er Holm; selbst der Sonntag war ihm nicht heilig. Doch der Entwicklungschef der HEIMEL AG lächelte Was Was heißt Was tun? nur bei dem Gedanken, wie passiert? das? sich seine Freunde mit dem Zum ersten Mal leistet Holm sich Vorstand der Absolute Plaseine Art Widerstand. Freilich so, tics AG zur Krisensitzung dass niemand ihm einen Vorwurf treffen würden. Viel Spaß, machen kann. Es ist Sonntag, sein ihr werdet euch schon durchZustand erlaubt es ihm nicht, seischlagen! Diesmal würde nen Pflichten nachzukommen. Also kann Holm sich einen geheimen Holm nicht dabei sein. Zum Aufstand und eine neue Erfahrung ersten Mal würde er sich den leisten: die Erfahrung, dem scheinLuxus gönnen, nicht zu bar allmächtigen Unternehmensspringen, wenn Henning lenker zu trotzen. rief. Schöne Grüße an Steinbrecher! Widerstand? Holm dachte an den Kundenprozess, er hatte ja nichts mehr mit den so genannten »externen« Kunden zu tun. Sollte sich doch Robert um die Probleme der AP kümmern und ihm –
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den neuen Vorschriften gemäß – einen Auftrag schicken; Per Rohrpost. Holm räkelte sich genüsslich auf seiner Couch und dachte nicht daran, sein Handy einzuschalten. Dann nickte er wieder ein. Es klingelte erneut, der Telefondiener sagte seinen Spruch auf: »Hallo, hier ist der Kommunikationsapparat von Holm. Mein Chef ist mal wieder nicht zu sprechen, tut mir Leid. Seien Sie bitte nicht böse, Sie können auch gern eine Nachricht hinterlassen.« »Du Arsch! Und ob ich böse bin! Mach nächstes Mal die Sauerei selbst weg, du hast mir das ganze Treppenhaus mit deinem Blut versaut.« Es war eindeutig, wer nicht gut auf Holm zu sprechen war. Selber Arsch, dachte er und stellte sich Asjas knackigen Po vor. Gern hätte Holm dem Kraftwerk einen Klaps verpasst, doch nun war es zu spät. Er war selbst schuld, hatte er doch die Gelegenheit vertan. Ob sie ihre Chance genutzt hatte? Hatte Asja sich über seinen Bauch lustig gemacht, während er ihr erschöpft ausgeliefert war? Noch immer hatte Holm eine Gedächtnislücke, was die Ereignisse der letzten Nacht zwischen Dusche und Bett betraf. Aber er war zu schwach, um weiter darüber nachzusinnen, welche Chancen er möglicherweise verschlafen hatte, und sank zurück in die Sofakissen. Bevor er die Augen schließen konnte, erreichte ihn der nächste Anruf. Diesmal war es Frau Ziegler: »Guten Tag, Herr Kenning. Ich habe Ihnen eine Nachricht von Herrn Eimel mitzuteilen. Er braucht Sie dringend und ist schon mit Herrn Kunz zu AP unterwegs. Fahren Sie bitte auch direkt dorthin, Sie brauchen vorher nicht ins Büro zu kommen.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Es ist Sonntag, 15 Uhr, aber Sie wissen ja: Der Chef kennt kein Wochenende. Vielleicht haben Sie Glück, und hören meine Nachricht erst am Abend ab. Dann ist es natürlich zu spät, und womöglich war es von Nachteil für HEIMEL, dass Sie an dem Meeting nicht teilnehmen konnten – andererseits hat Ihnen das freie Wochenende vielleicht gut getan.« 169
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Das freie Wochenende hatte ihm nicht gut getan. Unabhängig davon klang Frau Zieglers Mitteilung merkwürdig verschlüsselt, aber Holm ahnte die Botschaft. Die Vorstandssekretärin war fürsorglich, so als ob sie wusste, in welch desolater Verfassung er war. Ein wohliger Schauer überwältigte Holm, noch einmal stellte er sich das Treffen von Eimel und Kunz mit dem Management der AP AG vor. Er sah seine Kollegen schwitzen, er hörte Hennings Ausflüchte, er meinte Roberts verlegene Anspannung zu spüren. Zum Abschluss hatte Frau Ziegler Holm noch etwas mitzuteilen: »Wussten Sie eigentlich, Herr Kenning, wie man Freiheit definieren kann? Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei gleich vier ist. Ein interessanter Gedanke, nicht wahr?« »Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei gleich vier ist«, memorierte Holm. Frau Ziegler wäre nicht Frau Ziegler gewesen, wenn Was Was heißt Was tun? sie Holm nicht eine Denkpassiert? das? sportaufgabe hinterlassen In Frau Ziegler hat Holm offenbar hätte. Dabei hatte er kurz eine Verbündete gefunden. Die zuvor noch geglaubt, ihre Chefsekretärin scheint zu versteBotschaft verstanden zu hahen, was geschieht und was Holm gut tut. Mit ihrer Andeutung spricht ben. Ihre einfühlsame Art sie die persönliche Freiheit des war immerhin rührend, und Einzelnen an. Holm nahm sich vor, über das Rätsel der »tautologiGleichung der Freiheit schen Definition der Freiheit mittels einfacher algebraischer Rechenoperationen« demnächst nachzudenken. Jetzt aber war er dafür zu müde. Er nickte wieder ein und verfiel in einen unruhigen Traum von Zahlen, die, vom Korsett der numerischen Algebra befreit, durcheinander tanzten und sich zu den absurdesten Formeln vereinigten. »Hallo, hier ist Karin«, meldete der Anrufbeantworter. Karin! Holm saß sofort aufrecht auf der Couch, nur um seine Spontaneität, die er tags zuvor so dringend benötigt hätte, sogleich zu bereuen – vor allem die schnel-
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len Bewegungen verursachten große Schmerzen. Er unterdrückte einen Seufzer und biss die Zähne zusammen, um den Rest von Karins Mitteilung zu verstehen. »Ich dachte, wir wollten uns heute im Museum treffen. Aber jetzt ist es schon halb vier. Ich hoffe, du hast eine gute Ausrede, ich lasse mich nicht gern versetzen. Ich werde jetzt allein einen Rundgang machen. Vielleicht kommst du ja noch. Möglich, dass du mich im Museumscafé findest.« Karin! Natürlich, er hatte ja auch mit ihr eine Verabredung vereinbart. Das hatte er ganz vergessen. Eigentlich hätte ihm der Anruf genauso egal sein können wie die anderen Mitteilungen, aber aus irgendeinem Grund sah Holm sich genötigt, nun doch zum Hörer zu greifen. Er glaubte sich entschuldigen zu müssen. Da Karin vom Museum aus angerufen hatte, wählte er ihre Nummer zuhause, um wenigstens eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. »Hallo, Karin, es tut mir Leid. Ich konnte nicht absagen, ich hatte einen Unfall.« Das war zwar nur zum Teil korrekt, denn er hatte sich ja auf der Flucht so zugerichtet, aber ein Unfall schien ihm die unverfänglichste Erklärung zu sein. »Ich hoffe, du bist nicht sauer und wir werden das Treffen nachholen. Ich melde mich wieder, sobald es mir besser geht.« Es tat ihm wirklich Leid, zu gern wollte er Karin kennen lernen.
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Brandkatastrophen und andere Probleme
Am Montag fühlte Holm sich kaum besser. Eigentlich war er nicht in der Verfassung, einen Tag im Büro durchzustehen, doch er fuhr trotzdem zur Arbeit. Sein Pflichtbewusstsein hinderte ihn daran, seinem Arbeitsplatz grundlos fernzubleiben. Und die blauen Flecken, die er sich bei seinem »Unfall« eingehandelt hatte, waren kein Grund. Das Gehen fiel Holm besonders schwer, aber ein paar Krücken mussten reichen, ihn durch den Tag zu tragen. Er holte sie auf dem Weg zur Firma bei seinem Hausarzt ab, der ihn gleich krank schreiben wollte. Doch Holm ließ sich nicht einmal untersuchen. »Es war so«, erklärte er dem Mediziner. Freilich dachte Holm nicht daran, Dr. Klemm über den wahren Unfallhergang zu unterrichten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm jemand den absurden Report seiner sportlichen Demütigung mit anschließendem Treppensturz abgenommen hätte. »Ich war zu einer Party eingeladen, und irgendein Idiot hat mit seiner Zigarette den Vorhang angezündet. Wir konnten das Feuer nicht unter Kontrolle bringen, es gab keinen Ausweg. Uns blieb nur der Sprung vom Balkon in den Garten. Bei der Landung auf dem Kiesweg habe ich mir die Füße aufgerissen.« Die Arzthelferin reichte ihm zwei Krücken und schüttelte den Kopf. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Holm an und hielt sich die Hand vor den Mund. »Merkwürdig«, murmelte Dr. Klemm. »Eigentlich hätten Sie sich bei der Aktion eher die Knöchel brechen müssen. Außerdem hatten Sie doch sicher Schuhe an …« Die etwas verträumt blickende Helferin mischte sich ein: »Soll ich nicht wenigstens den Verband nachsehen?«, fragte sie den vorgeblichen Partyhelden. Die Mullbinden quollen aus den Socken wie Schaum aus einer frisch geöffneten Bierflasche und schleiften lässig über den Boden. Holm hatte die ungeschickt verbundenen Füße nur unter Mühen in die bequemsten Schuhe
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zwängen können, die er besaß. »Danke, ich habe es eilig«, erwiderte er und humpelte davon. Schon bald stellte Holm fest, dass seine Füße auch mit den Gehhilfen nahezu unerträglich schmerzten. So oder so, ständig musste er wenigstens ein Bein belasten, wenn er nicht springen wollte. Und zu hüpfen, das kam ihm wirklich nicht in den Sinn. Nur vorsichtig, immer auf beide Stöcke gestützt, konnte er sich fortbewegen. Als er mit seinem Auto schließlich das Traumschiff erreichte, signalisierte der Erfolgsmonitor wie gewohnt den zunehmenden Wert der Firma. Der Höhenflug der Aktie dauerte nun seit Monaten an. »Guten Morgen, Heike. Bist du dabei?« Heike Kelch sah erschrocken von ihrem Schreibtisch auf. Unbemerkt hatte sich Holm angeschlichen, inzwischen schob er sich fast elegant – und geräuschlos – mit seinen Krücken vorwärts; die Füße glitten nur wenige Millimeter über dem Boden. Seine Lippen waren aber derart angeschwollen, dass er jedem – ausgenommen wahrscheinlich Asja – mit seinem Anblick Angst einjagen konnte. »Mein Gott, Holm!« Immerhin hatte Heike ihn erkannt. »Was ist denn mit dir passiert?« Eine Frage, die Holm wohl in nächster Zeit noch häufiger zu hören bekommen würde. »Es ist nicht weiter schlimm.« Vergeblich versuchte Holm, auch Heike die Geschichte von der Brandkatastrophe auf der Party des Freundes aufzutischen: »Es war absolut aussichtslos«, schloss er sein Märchen. »Wir hatten noch nicht einmal Decken, um das Feuer zu ersticken. Schließlich versuchten wir, die Flammen mit unseren Schuhen zu bekämpfen, doch dann blieb uns nur der Sprung vom zweiten Stock in den Garten – immerhin habe ich mir dabei nicht die Knöchel gebrochen.« Heike schaute nur verständnislos, während Holm die neueste Nachricht auf dem INFOVISOR las. Henning begrüßte die Angestellten an diesem Tag mit einer Mit173
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teilung zum Kundenprozess: »Der Umzug der Entwicklungsabteilung ist abgeschlossen, die Rohrpostanlage wurde in Betrieb genommen. Somit werden wir ab heute entsprechend dem Kundenprozess arbeiten. Bitte haltet euch genau an den vorgesehenen Ablauf, damit wir alle von der verbesserten Auftragsabwicklung profitieren. Bitte bestätige hier.« Holm hustete, schon den ganzen Morgen war ihm kalt gewesen. Der Sommer schien zu Ende zu gehen, wie schade. Er schnäuzte in sein Taschentuch, behutsam, denn er durfte seine lädierte Oberlippe nicht berühren, und bestätigte dem Computer mit einem Fingerzeig, dass er des Lesens mächtig war. In Eimels Vorzimmer hatte Holm ein ähnliches Gespräch wie mit Heike Kelch. Frau Ziegler äußerte sich besorgt, und auch in diesem Fall blieb Holm eine zufriedenstellende Erklärung schuldig. »Der Typ hielt beim Knutschen eine Zigarette in der Hand. Die beiden haben sich in den Vorhang gewickelt, und als schließlich nicht nur die Gardinen, sondern auch schon ihre Haare brannten, war es zu spät. Wir mussten barfuß in den Garten springen. Leider war es ein Steingarten, aber das konnten wir uns ja nicht aussuchen.« Obwohl Holm den Bericht weiter verfeinerte, schien auch Frau Ziegler ihm nicht zu glauben. Zweifelnd zog sie die Brauen zusammen und blickte – wie so oft – ernst und streng zugleich. »Deshalb konnte ich nicht zum Meeting bei AP erscheinen. Trotzdem vielen Dank für Ihren Anruf«, fügte Holm mit einem zum Dank nach oben gereckten Daumen hinzu. Er genoss es, sich gut mit Frau Ziegler zu verstehen. »So habe ich das aber nicht gemeint«, widersprach die Chefsekretärin der Geste der Verbundenheit und teilte Holm mit, dass Eimel schon auf ihn warte. Der Einzige, der an diesem Tag nicht von Holms Verfassung schockiert sein sollte, war Henning Eimel. Auch er hatte eine Katastrophe erlebt und kam sofort zur Sache.
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»Es war ein Desaster! Wir konnten sie nur beschwichtigen, sie waren vollkommen aufgebracht. Warum hast du dich denn nicht gemeldet?« Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort. »Robert war keine Hilfe. Zum Glück habe ich noch Franz erreicht, aber der war auch bald mit seinem Latein am Ende. Sie haben uns erzählt, was in den letzten Monaten alles schief gelaufen ist, und Robert hat eine Mängelliste mitgeschrieben. Übrigens: Hast du schon etwas von angeblich spröden Plastiklöffeln gehört?« Während Holm sich wunderte, dass Henning offenbar seit langem keinen Kaffee mehr in der Entwicklungsabteilung getrunken hatte, informierte der Vorstandsvorsitzende ihn schon über den Verlauf der Krisensitzung. Die Stimmung sei schlecht gewesen, einer der Vorstände der AP hatte sogar unverhohlen mit der Aufkündigung der Verträge gedroht, falls sich die Probleme mit der Software weiter häufen sollten. Man hatte HEIMEL ein Ultimatum gestellt: Innerhalb von acht Wochen hatten Holm und seine Spezialisten die gröbsten Systemmängel zu beseitigen. Offensichtlich gab es häufig Pannen in den AP-Fabriken, die von den Programmen der HEIMEL AG verursacht wurden. Aufträge wurden falsch ausgeführt, Kunden zu spät oder gar nicht beliefert, und die Auslastung der Maschinen, die eigentlich durch ausgeklügelte Berechnungen konstant gehalten werden sollte, variierte ständig. Manchmal türmten sich die Materialien in den Fertigungshallen, so dass die Mitarbeiter die Arbeit nicht bewältigen konnten, dann wieder hatten sie nichts zu tun, weil die Computer zu wenig Fertigungsaufträge starteten. Zusätzliche Probleme ergaben sich durch unvorhergesehene Störungen des Betriebsablaufes. Defekte Maschinen und unplanmäßig fehlende Mitarbeiter machten die aufwändigen Planungen oft zur Makulatur. Die Zusammenhänge innerhalb der AP AG waren komplex, selbst die beste Software hätte nicht alle Einflussfaktoren auf das Betriebsgeschehen berücksichtigen und korrekt verarbeiten können. Allerdings versprach 175
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HEIMEL ihren Kunden genau das. Mit der »universellen« Software sollte es angeblich möglich sein, die betrieblichen Abläufe exakt abzubilden und vorherzusagen. Den Berechnungen lagen entsprechende Daten zugrunde. Die Programme konnten nur Ergebnisse liefern, wenn dem Rechner alle Informationen über Kunden, Aufträge, Termine, Produkte und Kapazitäten vorlagen. Bei AP war eine ganze Abteilung ausschließlich damit beschäftigt, diese Datengrundlage zu pflegen. Eine weitere Voraussetzung für die korrekte Funktion der Software war, dass sich die Mitarbeiter an die berechneten Abläufe hielten. Manchmal scherten sich die Angestellten jedoch nicht um die AnWas Was heißt Was tun? weisungen des Kollegen passiert? das? Computer. Sie trafen eigene Eimels Art zu kommunizieren ist Entscheidungen, um bemittlerweile bekannt: Er bevorzugt stimmte Maschinen besser den Monolog. Auch in Bezug auf auszulasten oder drohende die Probleme der AP, bleibt er sich Engpässe zu vermeiden, treu und wünscht sich mehr Konoder einfach, weil sie aus Ertrolle. Doch ein Irrweg bleibt ein fahrung wussten, dass sie Irrweg, egal wie verbissen man auf mit ihrer persönlichen Arihm voranschreitet. Eimels Vorstellungen können beitsweise besser zurecht nicht funktionieren. Menschliche kamen. Tatsächlich – HenEigenheiten unterscheiden sich ning mochte es kaum glaugrundsätzlich von denen der Techben – waren die Mitarbeiter nik, und je mehr Druck er ausübt, der AP AG gelegentlich der desto mehr unterdrückt er die StärMeinung, bessere Entscheiken der Mitarbeiter, wie Kreativität, dungen treffen zu können, Initiative, Leistungsbereitschaft als das Elektronengehirn und Flexibilität, die eben nicht mit seiner irrsinnigen Redurch Technik ersetzbar sind. Gute Konzepte der Organisationsgestalchengeschwindigkeit, seiner tung streben deshalb die Optimiewahnwitzigen Datengrundrung der Technik und die Abstimlage und mit Hennings gemung auf die Stärken der Belegnialer Software! schaft an. Für Eimel war die Situation klar. Er wusste, was zu Mensch und Technik tun war: »Die sollten alle
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Daten fehlerfrei eingeben, und die Meister müssten ihren Leuten besser auf die Finger schauen! Wenn ich bei AP etwas zu sagen hätte, dann würde ich durchgreifen!« Eimel dachte, dass die Fabriken dann wie von seinen Programmen berechnet funktionieren würden. Zum Glück hatte er bei AP nicht das Sagen, sondern lediglich dafür zu sorgen, dass die Software wie versprochen arbeitete. »Nimm dir die Mängelliste von Robert vor, sie müsste schon unten sein«, wies er Holm an. »Und sprich mit Steinbrecher! Du kannst ihm sicher noch einige Tipps geben.« Die Lage war ernst. Nun verstand Holm, was Frau Ziegler ihm schon vor einigen Tagen beim Test der Rohrpostanlage zu verstehen geben wollte. Während Hennings Zusammenfassung der Probleme der Absolute Plastics AG war es Holm kalt über den Rücken gelaufen. »Aber sollte nicht ab jetzt nur noch Robert mit den Kunden verhandeln?« »Ach was! Du kommst am besten mit Steinbrecher klar. Ruf ihn gleich an, du musst ihn beruhigen.« Die Lage war sogar so ernst, dass Henning den Kundenprozess und seine eigenen Anweisungen ignorierte. Es kribbelte Holm in der Nase. Gut, er würde tun, was Henning von ihm wollte. Mit einem lauten »Hatschi!« setzte er den Schlusspunkt unter die Besprechung. Das Telefonat mit Steinbrecher war insgesamt unerfreulich. Holm gab dem Kunden Hinweise und verriet ihm sogar einige »nicht dokumentierte und nicht unterstützte Funktionen« – jene »undocumented and unsupported features«, die normalerweise sorgsam gehütet wurden. Damit konnte Steinbrecher sich teilweise selbst helfen, doch der Leiter der Arbeitsvorbereitung wirkte entnervt. Besonders er war auf die Software angewiesen und hatte entsprechend unter den Schwachstellen zu leiden. Trotzdem blieb Steinbrecher ein gutmütiger Zeitgenosse. Er fragte Holm schließlich sogar, ob er bedarf an Gartenmöbeln hätte; Tische, Bänke, Liegestühle und so weiter. 177
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Er hätte gehört, dass es auf dem Dach des Traumschiffes eine Terrasse gäbe, die man doch mit bequemen Sitzgelegenheiten ausstatten könnte. Bei der Absolute Plastics AG würden sich die Möbel im Auslieferungslager aus einer Überproduktion bereits bis unter die Decke stapeln. »Vielleicht wollen Sie ja einmal eine Party feiern oder sich bei einem Sonnenbad entspannen«, schlug Steinbrecher vor. Das war eine originelle Idee. Doch woher wusste man bei AP von ihrer Dachterrasse? »Gern, Herr Steinbrecher. Sie haben immer so gute Ideen. Ich freue mich auf die Lieferung – solange Sie uns nur keine Kondome schicken …« »Wie bitte!?« Was wusste Steinbrecher schon über Holms Albträume. Hastig verabschiedete Holm sich von seinem besten Kunden, um sich die Mängelliste vorzunehmen.
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Sand im Getriebe
Das Papier lag schon auf Holms Schreibtisch bereit; mit den besten Wünschen von Frau Ziegler. Die Mängelliste war lang, bei AP hatte man penibel die Macken der Software aufgedeckt und dokumentiert. Holm seufzte. Wenn er bei dem Meeting dabei gewesen wäre, dann hätte sich manches sofort aufgeklärt. Es gab offenbar einige Missverständnisse, manchmal wurden die Funktionen der Software nicht richtig verstanden oder falsch angewendet. Das führte zu Folgeproblemen, zusätzlicher Arbeit und Unmut bei den Mitarbeitern der AP AG. Aber Henning und Robert wussten nicht genügend über die Zusammenhänge und Möglichkeiten des Systems, sie konnten die Probleme nicht durchschauen. Deshalb hatten sie die Einwände von Steinbrecher und dessen Kollegen nicht hinterfragt, sondern sogar Verbesserungen versprochen, die nicht nötig gewesen wären. Umgekehrt kamen Holm bei der Durchsicht der Liste Ideen, die vielleicht nützlich sein könnten. Sicher war er sich allerdings nicht, dazu hätte er mit den Anwendern sprechen müssen. Am liebsten wäre Holm zu Steinbrecher gefahren, um mit ihm die Liste noch einmal durchzugehen. Aber Henning hatte die Ausführung der Arbeiten zugesagt, und der Zeitrahmen war eng. Holm würde ohnehin Mühe haben, den vereinbarten Termin zu halten. Außerdem war es nicht mehr seine Aufgabe, sich mit den Kunden zusammenzusetzen und über optimale Lösungen nachzudenken. Holm war nur noch ein Glied innerhalb des Kundenprozesses. Er war eine Verteilerstation mit der Funktion, Roberts Liste entgegenzunehmen und die Aufgaben zu delegieren. Als Leiter der Entwicklungsabteilung war er schließlich verantwortlich für die rechtzeitige und korrekte Erledigung der beauftragten Leistungen. Je länger Holm über die Mängelliste und seine Position innerhalb des Kundenprozesses nachdachte, umso unzufriedener wurde er. Er fühlte sich degradiert, als Aufga179
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benverteiler und Kontrolleur hatte er nur zu funktionieren. Er hatte dem Kundenprozess zwar zugestimmt, doch erst jetzt wurden ihm die Konsequenzen klar. Er konnte nicht mehr so arbeiten, wie er es für richtig hielt, weil der gesamte Prozess sonst gestört würde. In einem ineinander verzahnten Getriebe können die Einzelteile nicht einfach machen, was sie wollen. Die Räder haben sich nach der Antriebswelle auszurichten und wie vorausberechnet zu drehen. Bei einem Defekt, egal welcher Art, versagt das Gesamtsystem. Allmählich dämmerte Holm, wie gravierend die Auswirkungen der Was Was heißt Was tun? neuen Organisation waren. passiert? das? Bisher hatte er immer eigenDie Auswirkungen von übermäßiger ständig, aber auch pflichtbeKontrolle und überregulierten Abwusst gehandelt. Das hatte läufen erfährt Holm nun am eigenen ihm Spaß gemacht, ihn moLeib. Er verliert die Lust, sich zu tiviert und meistens zum engagieren und Verantwortung zu Erfolg geführt. Doch nun übernehmen, weil ihm der Spielwurde er gezwungen, seine raum fehlt, den er bisher kompetent Selbstständigkeit aufzugenutzen konnte. Das oft verwendete Bild ist ben und sich dem Kundenfalsch: Ein lebenstüchtiges Unterprozess unterzuordnen. nehmen hat wenig mit einem kompliHolm kam sich vor wie zierten Räderwerk gemein. Wo ein ein Verurteilter, der seine Rad ins andere greift, gibt es weder Strafe anzutreten hatte. Man Spielräume noch Entwicklungsmögnahm ihm seine persönliche lichkeiten, noch Flexibilität. Habe, seine Identität und händigte ihm eine Quittung Entwicklung braucht Raum und die Sträflingskluft aus. Die Zelle war schon vorbereitet, er hatte keine Wahl. Sträfling Holm, Nummer 1056, musste sich einer höheren Macht fügen. Aber alles in ihm sträubte sich, die Aufgaben einfach weiterzuleiten. Holm wusste, dass er letztlich ein schlechtes Ergebnis abliefern musste. Andererseits: Hatte der Kunde es nicht ausdrücklich so gewünscht? Holm hatte den Auftrag schriftlich, er war dazu verurteilt, ihn auszuführen, jederzeit könnte er sich auf den Richterspruch berufen. Wo also lag das Problem? Holm ver-
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suchte krampfhaft, seiner Position innerhalb des Kundenprozesses etwas Positives abzugewinnen. Er könnte doch einfach seinen Job erledigen und zufrieden sein. Aber genau das konnte er eben nicht. Feindselig starrte Holm Roberts Aufstellung an. Es gärte in ihm, er war zerrissen, und nun fing er auch noch an zu zittern. Es schien immer kühler zu werden. Holm drehte den Temperaturregler der Klimaanlage etwas höher. Schließlich gab er nach: Also gut, er würde es machen. Zuerst überlegte sich Sträfling 1056, welche Aufgabe er wem zuweisen würde. Das war nicht sonderlich schwierig, denn bei HEIMEL gab es drei Entwicklergruppen mit festgelegten Aufgabenbereichen. Die »Datenbankprogrammierer« waren für die Kodierung der Datenbankzugriffe zuständig. Die so genannten »Serverprogrammierer« hatten die Programmteile zu entwickeln, die auf den zentralen Computern liefen, wohingegen die »Clientprogrammierer« für die Gestaltung der Bildschirmoberflächen auf den lokalen Rechnern verantwortlich zeichneten. Natürlich sollten sich die Spezialisten abstimmen, denn die im Netzwerk verteilten Systemkomponenten mussten zusammenpassen. Doch es gab Standards, die den Datenaustausch zwischen den Computern regelten. Die Teile der Software waren so miteinander verzahnt, wie Henning Eimel es auch von den Angestellten seiner Firma verlangte. Nachdem Holm den Programmierern die Aufgaben zugeordnet hatte, humpelte er durch die Büros, um seine Leute zu informieren. Überall wiederholte sich der folgende Gesprächsablauf: Holm begrüßte die Kollegen und erläuterte den betroffenen Gesichtern mehr oder weniger ausweichend seinen Gesundheitszustand – nur anfangs machte er sich die Mühe, das Märchen der in Flammen aufgehenden Party zu erzählen. Dann verteilte er die Aufgaben. Einige der erfahrenen Entwickler äußerten Bedenken. Sie dachten mit und hatten Ideen, wie die Probleme möglicherweise besser gelöst werden 181
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könnten. Sie argumentierten ähnlich, wie Holm bis vor kurzem ebenfalls gedacht hatte. Doch der Entwicklungschef war inzwischen im Getriebe des Kundenprozesses gefangen, die Zellentür hinter ihm zugeschlagen und verriegelt. Nummer 1056 antwortete nun so, wie er es sich selbst zurecht gelegt hatte: Der Kunde habe die Arbeiten beauftragt, es gebe keine Zeit für Diskussionen und überhaupt – die Entwicklungsabteilung habe zu realisieren, was versprochen war. Das sei ihre Funktion innerhalb des Kundenprozesses. Punktum. Abschließend wies Holm ausdrücklich auf den Fertigstellungstermin hin: In acht Wochen müssten die Probleme gelöst sein. Auftrag und Kunde seien wichtig für die Firma; letzteres war die einzige Feststellung, die niemand in Zweifel zog.
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Wake up! III
Holm fühlte sich so unwohl wie kaum je zuvor in seinem Leben. In solchen Momenten dachte er an Zeiten, in denen das völlig anders gewesen war. So auch an jenem Abend, an den er oft zurückdachte. Als er mit Dani das IMAGE erreichte, war die Diskothek übervoll, doch seine Begleiterin schien das nicht zu bemerken. Sie schlängelte sich geschickt durch die Menge, und Holm hatte Mühe ihr zu folgen. An der Bar bestellte sie das obligatorische Bier für ihn und einen Martini, diesmal in rot. »Prima Disco!«, schrie Holm. Dani nickte nur. Die Musik war gut, aber so laut, dass jede Unterhaltung unterbunden wurde. Man Was Was heißt Was tun? war gezwungen, sich an- passiert? das? ders zu verständigen, doch Holm übersieht die Vorteile analoleider fehlte Holm in der ger Kommunikation. Sie ist zwar Hinsicht die Übung. Wenn mehrdeutig, dafür weniger störanschon Informationen auszufällig. Sogar unter den extremen tauschen waren, dann am Bedingungen einer Diskothek funktioniert sie robust. Holm und Dani besten digital. Wie sollte verstehen sich perfekt, auch ohne Holm sich also verständlich Worte. machen? Bevor er weiter über die UnvollkommenAnaloge Kommunikation heit der menschlichen Kommunikation grübeln konnte, legte Dani ihm die Hand auf die Schulter und zeigte auf die Tanzfläche. Holm verstand sofort. Er verspürte wenig Lust zu tanzen, aber wie sollte er ihr das klar machen? Eine ablehnende Geste hätte Dani vielleicht als Zurückweisung interpretiert. Das konnte er nicht riskieren, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit ihr aufs Parkett zu wagen. Nach einer Weile hatte Holm seine Probleme mit der menschlichen Kommunikation vergessen. Dafür war er lockerer geworden und bewegte sich nun beinahe rhythmisch zur Musik. Zum Glück war es auf der Tanzfläche so eng, dass man keine raumgreifenden Schritte machen 183
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konnte; zudem kam er Dani dabei sehr nah. Manchmal lächelten sie sich an, und das Stroboskoplicht half ihm, ihr Gesicht zu studieren. Danis Mimik wirkte durch das Blitzlicht wie in Scheiben zerhackt und eingefroren, Holm konnte sie Schicht für Schicht analysieren. Kein Bild war wie das andere, ihr Ausdruck wechselte zwischen Ernsthaftigkeit, Freude, Müdigkeit und Ironie. Funkelte da manchmal auch Ärger in ihren Augen? Holm hatte noch nie ein Gesicht so eindringlich studiert. Aber Dani hatte etwas bemerkt, provozierend streckte sie ihm die Zunge entgegen. Einige stroboskopbeleuchtete Augenblicke später trug sie plötzlich wieder ihre Sonnenbrille und begann herzhaft zu lachen. Gerade noch rechtzeitig konnte Holm ihr den »Diffusor« entreißen, den sie aus irgendeiner Tasche hervorgezaubert hatte. Die berauschende Wirkung der Waffe kannte er seit dem Kinobesuch, nun besprühte er großherzig die anderen Tänzer. So wie er, sollten sie alle einen unvergesslichen Abend erleben. Ihrer Waffe beraubt, versetzte ihm Dani einen Knuff in den Bauch. Drei Biere später hatten sie genug getanzt und verließen die Diskothek. Jetzt wollte Dani auch noch eine Cocktailbar ansteuern. Holm getraute sich nicht, auf die Uhr zu sehen; es wäre auch zwecklos gewesen. Längst hatte er jenes Bewusstseinsniveau erreicht, in dem selbst digitale Ziffern zu einem Zahlenbrei verschmelzen. Die Welt, wie Holm sie kannte, zerfloss vor seinen Augen und wechselte in den analogen Modus, der ihm so wenig vertraut war. Er wusste allerdings noch, dass er längst hatte zu Hause sein wollen. Aber als Dani nach seiner Hand griff, ließ er sich einfach treiben.
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Kapitulation
Ein paar Stunden später konnte Holm den letzten Punkt der Mängelliste abhaken. Er hatte seine Pflicht erfüllt und die Aufgaben verteilt, dafür ging es ihm immer schlechter. Die Wunden an den Füßen peinigten ihn, und es war noch kühler geworden; inzwischen zitterte er vor Kälte. Außer der Temperatur im Keller hatte sich mit der Einführung des Kundenprozesses noch etwas verändert. Er bemerkte es schon jetzt, am ersten Tag nach dem Umzug. Während er den Gang entlangschlurfte, spürte er – abgesehen freilich von seinen Schmerzen – nichts als Leere. Genau das wurde ihm nun unangenehm bewusst. Alle Türen waren geschlossen, die Schließautomatik drückte sie fest gegen die Zargen. So wie die Schotten den Rumpf eines Motorschiffes zerschneiden, so wurde der Bauch des Traumschiffes in hermetisch getrennte Kammern zerteilt. Oberflächlich betrachtet schien die HEIMEL AG optimal vor Was Was heißt Was tun? Gefahren gefeit zu sein. Die passiert? das? Rohrpostanlage schützte die Nicht-lineare Abläufe sind typisch Firma vor einem Kernwaffür komplexe Systeme, Entwicklunfenangriff, die Schotten begen beginnen oft schleichend. Das wahrten sie vor dem Untermacht sie unkalkulierbar, und desgang, sie machten das halb ist es wichtig, frühzeitig auf erTraumschiff unsinkbar. Daste Anzeichen zu achten. Vermutran glaubten jedenfalls der lich wird Holm scheinbar plötzlich mit der Eskalation der Ereignisse Kapitän und die Offiziere, konfrontiert werden. Doch eben ähnlich wie die Konstruknur scheinbar, denn die Vorboten teure der Titanic sich diesem des Unheils sind schon seit langem Irrtum hingegeben hatten. zu beobachten. Doch umso mehr Holm darüber nachdachte, desto Eskalation intensiver fühlte er es. Die Leere schien allgegenwärtig zu sein und dann endlich begriff er, was fehlte: Es waren die brummenden Drucker, die klappernden Tastaturen und die surrenden Computerlüfter. Er vernahm keinen Laut, die Türen ließen nicht das 185
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leiseste Geräusch auf die Gänge dringen. Nichts war zu ahnen von den Fachgesprächen der Experten, sofern sie in den Büros überhaupt stattfanden. Es fehlte die anregende Atmosphäre, das war das Unangenehme. Hier im Keller des Gebäudes war nichts zu spüren von der Energie, die im ersten Stock die Arbeit der Softwareexperten befruchtet hatte. Sie hatten ihre Energiequelle verloren, bei dem Umzug war die Basis ihrer Erfolge unbemerkt über Bord gegangen. Plötzlich verdrängten jedoch Gesprächsfetzen die beängstigende Stille. Sie entflohen der Kaffeeküche, dem einzigen Raum mit offenem Durchgang, und sie klangen alles andere als beruhigend. »… Ist doch sowieso egal …« –, »Ich mach das eben, wie er es will …« –, »Geld verdient man eh nicht mit Arbeit, sondern an der Börse.« Holm glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. So schnell er konnte stocherte und schob er sich mit seinen Krücken voran, um sich vor seinen Mitarbeitern aufzubauen, die sich angeregt vom Kaffee – oder von was auch immer – unterhielten. »Was heißt das: Geld verdient man nicht mit ehrlicher Arbeit? Wer hat das gesagt?« Holm dachte nicht daran, das »Bist-du-dabei?«-Ritual zu befolgen, jetzt zitterte er nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Zorn. Richard Gass, einer der Serverprogrammierer, und Michael Heske, ein Datenbankspezialist, tauschten betretene Blicke miteinander. »Äh, na ja, das war ich«, gab Richard zu. Er arbeitete erst seit einigen Monaten für HEIMEL. »Ich meine damit ja nur, dass es zur Zeit toll läuft an der Börse. Es ist einfach fantastisch, wie gut unsere Aktie performt.« Tatsächlich hatte sich die HEIMEL-Aktie – und mit ihr fast der gesamte Markt – in letzter Zeit hervorragend entwickelt. So sehr, dass es Holm beinahe schon unheimlich war. Er wusste, wie schwer es war, neue Kunden zu gewinnen und die Umsatzziele zu erreichen. »Sicher, aber das ist doch kein Grund, sich nur noch mit den Aktienkursen zu beschäftigen«, hielt Holm seinen
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Mitarbeitern entgegen. »Wenn wir nicht gut sind, dann wird der Boom bald ein Ende haben.« »Aber Eimel hat uns doch angewiesen, den Kurs zu beobachten«, warf Michael ein. »Außerdem meint Kiener, dass es noch einige Zeit so weitergehen wird. Die Kursziele der meisten AkWas Was heißt Was tun? tien sind noch lange nicht passiert? das? erreicht.« Ein steigender Aktienkurs befrieKiener! Jetzt kam Midigt zwar, er motiviert jedoch nicht. chael ihm auch noch mit Der von Eimel erhoffte Effekt des Kiener. Holm verstand zwar Shareholder-Value tritt nicht ein. nicht, was genau sich an der Die Leistungsbereitschaft der Börse abspielte, aber MiMitarbeiter hängt kaum mit dem Aktienkurs zusammen. Nun hat chael musste entweder naiv Holm auch noch Mühe, seine oder ziemlich doof sein, Spezialisten davon abzubringen, wenn er diesem Kiener auch ihre Energien auf das Börsengenur ein Wort abkaufte. »Das schehen zu fokussieren. ist doch wohl nicht zu fassen«, stöhnte Holm. »Meint Motivation und Zufriedenheit ihr wirklich, Kiener würde auch nur ein einziges wahres Wort verbreiten? Der pflegt doch nur sein Image und verdient sich eine goldene Nase damit!« Für Holm war Bernd Kiener der größte Blender aller Zeiten, ein selbsternannter Guru, der in Börsensendungen seine Prognosen kundtat und sich in nahezu allen Wirtschaftszeitungen breit machte. Er prophezeite einen unbegrenzten Boom, niemals wieder würde es zu Kurseinbrüchen kommen, denn die Zeiten hätten sich geändert. »Bis jetzt hat Kiener mit seinen Vorhersagen jedenfalls Recht gehabt. Er meint, wer immer nur arbeitet, dem bleibe keine Zeit Geld zu verdienen. Der Ansicht war schon Rockefeller.« Richard war wirklich unglaublich naiv. In den beiden Softwareexperten schien der vorgebliche Börsenexperte treue Anhänger gefunden zu haben. Ihr Erfahrungshorizont erstreckte sich aber nur über Monate, denn die Hausse war nicht älter als ein Jahr. Ebenso 187
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lange schwamm Kiener auf dieser Erfolgswelle. Er nutzte die Gunst der Stunde und profilierte sich so gut er konnte. Dazu musste er nur die Euphorie anheizen, indem er seinen Anhängern das erzählte, was sie hören wollten. Offensichtlich reichte die Fantasie von Richard und Michael aber nicht so weit, dass sie die eigennützigen Visionen des Herrn Kiener von den Realitäten unterscheiden konnten. Holm wusste sich nicht zu helfen. Mit welchen Argumenten konnte er die verblendeten Jünger eines charismatischen Scharlatans erreichen? Er hatte keine Idee, und eigentlich war ihm auch alles zu viel. Holm hatte genug von Eimels autoritärer Art, er wollte nichts mehr wissen von Robert Kunz und der Mängelliste der AP, er konnte das Wort »Kundenprozess« nicht mehr hören, und er hatte die Nase voll davon, sich nur als passives Rad der betrieblichen Abläufe zu erleben. Der Sträfling rebellierte, Nummer 1056 hatte genügend gelitten, irgendwie musste der Unmut sich entladen. So tat Holm Kenning etwas, was ihm nur selten passierte: Ihm platzte der Kragen. »Wie dämlich seid Ihr eigentlich?«, brüllte er unvermittelt. »Den Namen Kiener will ich nie wieder hören von euch! Ich möchte, dass ihr eure Arbeit erledigt. Ihr werdet dafür von HEIMEL bezahlt und nicht von irgendwelchen Börsenpropheten.« Mit sich überschlagender Stimme schleuderte der Chef seinen Mitarbeitern die Sätze entgegen. Holm kochte vor Wut. Er schnaubte verächtlich und bedachte die beiden mit wilden Blicken. Der Angriff kostete ihn die letzten Reserven. Immerhin zuckten die Programmierer zusammen; sie wussten nicht, wie ihnen geschah. War das ihr Chef, der sie so zornentbrannt attackierte? War das der angesehene Entwicklungsvorstand der HEIMEL Visimatik AG? Holm ließ sie stehen. Dabei entging ihm, wie der anfängliche Schock sich einen Moment später in Empörung über das unfassbare Verhalten des Managers entlud. Nach seinem Wutausbruch zog sich Holm in sein Büro zurück, er war immer noch außer sich, nur lang-
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sam verrauchte sein Ärger. Wieso hatte er solche Typen eingestellt? Die Mitarbeiter genossen doch alle Freiheiten, sie konnten sich einbringen und am Erfolg eines aufstrebenden Unternehmens teilhaben. Stattdessen vertrödelten sie ihre Zeit in der Kaffeeküche. Erneut musste er niesen und schnäuzte in sein Taschentuch. Die Anstrengung verursachte einen Schwindelanfall, der ihn nötigte, sich hinzusetzen. Endlich registrierte er, wie schlecht es ihm ging. Jetzt zitterte er so stark, dass er mit den Zähnen klapperte. Offensichtlich hatte er Fieber. Der Schüttelfrost zwang ihn zur Kapitulation. Mit letzter Kraft schleppte er sich zur Rohrpoststation, kritzelte eine Botschaft auf einen Zettel und überließ ihn dem Leitungssystem. Kurze Zeit später las Frau Ziegler den Notruf:
S.O.S. Liebe Frau Z., bin auf verlorenem Posten, ergebe mich. Bitte schicken Sie Sanitäter! H. K.
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Einsichten eines Patienten
Nun war Holm doch krank geschrieben, zunächst für drei Wochen. Frau Ziegler hatte ihn zu Dr. Klemm gefahren und anschließend nach Hause gebracht. Da lag er nun in seinem Bett, begraben unter sämtlichen Decken, die er besaß. Zusätzlich half eine Wärmflasche, die Kälte zu vertreiben, die seinen Körper erst durchrüttelte und dann erstarren ließ. Die Diagnose, die der Hausarzt in seinem Krankenbericht stellte, gemahnte eher an einen Todesschein: Holm war immer noch erschöpft von den Anstrengungen der Rennradtortour und im fortgeschrittenen Stadium der Dehydrierung. Dadurch wurde die Entwicklung des Infekts begünstigt, den er sich auf dem Heimweg von Asja in der Nacht eingefangen hatte. Deshalb fror Holm so erbärmlich, der Schüttelfrost hatte den Fieberschub eingeleitet. Diverse Gliedmaßen waren vom Sonnenbrand gezeichnet. Außerdem enthielt die Krankenakte eine Liste schwerer Prellungen. Der Verdacht auf einen Rippenbruch hatte sich nach der Röntgenuntersuchung aber als unbegründet herausgestellt. Am unangenehmsten war die Behandlung der Fußsohlen. Die Wunden hatten sich entzündet, und Dr. Klemm musste die Verletzungen säubern. Das tat er mit Messern, Nadeln, Zangen, Schabern und Säuren – so schien es Holm jedenfalls. Im Detail wollte er sich die Methoden des Arztes nicht erklären lassen; das Wissen um die Auswirkungen der Behandlung genügten ihm völlig. Die Arzthelferin, die Holm morgens noch ein gutmütiges Wesen vorgegaukelt hatte, verwandelte sich in ein bärenstarkes Biest, während Dr. Klemm sein Werk rücksichtslos verrichtete. Dabei schreckte die Gehilfin der rohen Gewalt auch nicht davor zurück, ihren Ober191
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körper einzusetzen, wobei das Gewicht zweier ansehnlicher Melonen zusätzlich zu ihrem Catcher-Griff auf seinen Schenkeln lastete! Holm hatte keine Chance. Es war zum Lachen und Jaulen zugleich, ein besonders gemeiner Stich in die Fußsohle trieb ihm Tränen in die Augen und verjagte jeden weiteren Gedanken an die Früchte der Natur. Die Aufgabe, Holm nach der Behandlung nach Hause zu bringen, übernahm die rührende Frau Ziegler zusammen mit der nunmehr alles andere als wohl gesonnenen Arzthelferin. Sie verfrachteten den Patienten ins Auto und hievten ihn in sein Appartement im zweiten Stock. Die Aktion hätte dem Geschäftsführer eigentlich peinlich sein müssen, aber er war zu erschöpft, um sich genierlich zu fühlen. Schließlich hatte Holm nur noch einen Wunsch: Er wollte schlafen. Und das tat er dann auch. Als es Holm nach ein paar Tagen etwas besser ging und das Fieber nachließ, hatte er viel Zeit für sich. Für ihn, der es gewohnt war, ständig irgendwelchen Aktivitäten nachzugehen oder Aufgaben zu erledigen, war das eine neue Situation. Nun, da Holm nichts weiter zu tun hatte, als gesund zu werden, überfiel ihn eine merkwürdige Unruhe. Er konnte seinen rastlosen Geist nicht beschäftigen. Trotz seiner Erkrankung plagten ihn überschüssige Energien, die ihn nervös machten. Zum Glück hatte Holm einen guten Freund, der ihn gelegentlich ablenken konnte. »So ist es gewesen. Ich glaube, ich war nicht spontan genug«, schloss Holm seinen Bericht über den Radausflug mit Asja. Thomas, der fast jeden Tag zu Besuch kam, um Holm zu versorgen und aufzuheitern, war nun selbst derjenige, der seine Heiterkeit kaum zügeln konnte. Besser gesagt: Er krümmte sich vor Lachen. Schon während der Schilderung des sportlichen Desasters und der anschließenden Nacht konnte er sich kaum zusammenreißen. Holm hatte sich lange überlegt, ob er seinem Freund die Wahrheit erzählen konnte, und nun wusste er nicht, ob er ebenfalls
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belustigt oder beleidigt sein sollte. Da hatte er sich entschieden, Thomas nicht das Märchen vom Wohnungsbrand unterzujubeln, und jetzt wurde er dafür ausgelacht. »Sie hat dich richtig nass gemacht während der Tour?«, wollte Thomas wissen. »Auch hinterher unter der Dusche«, meinte Holm trocken. »Und du weißt nicht, was sie anschließend mit dir angestellt hat?« »Nein.« »Du lernst eine tolle Frau kennen und leistest dir einen solchen Black-out?« »So toll war sie nicht«, korrigierte Holm seinen Freund lahm. »Und du machst dich mitten in der Nacht auf und davon, ohne sie auch nur anzurühren?«, bohrte Thomas weiter. »Ich hatte es eilig«, antwortete Holm und grinste. Langsam realisierte er, wie absurd sich seine Erzählung anhören musste. »Stimmt, jetzt verstehe ich dich.« Thomas tat so, als ging ihm ein Licht auf. »Du wolltest dich noch schnell die Treppe hinunterstürzen und dann nach Hause fahren.« »Genau. Und noch nie Was Was heißt Was tun? war ich so locker wie in dem passiert? das? Moment, als ich über die Holm kann sich nun eingestehen, Stufen flog. So, wie du es mir was jedem Unbeteiligten längst klar geraten hast. Du hättest seist: Asja gegenüber hat er sich hen sollen, wie elegant ich dämlich verhalten. Er gewinnt eine mich abgerollt habe!« neue Einsicht, und einmal mehr Nun amüsierten sich kann er sich über seine Freundbeide über Holms Wochenschaft zu Thomas freuen. Die Beziehung bietet genügend Sicherendabenteuer, immer wieheit, so dass Holm sich – sogar der brachen sie in schallenbelustigt – mit seinen Schwächen des Gelächter aus. konfrontieren kann. »Aufhören!«, schrie Holm schließlich. Er hatte nicht geUnangenehme Wahrheiten nügend Hände, um seine 193
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lädierten Körperteile, die heftig und unangenehm bebten, im Zaum zu halten. Jetzt war Holm sogar mutig genug, ein weiteres Geständnis abzulegen: »Es kommt noch besser: Am Tag danach habe ich auch noch Karin versetzt.« »Nein!« »Doch.« »Du bist verrückt«, urteilte Thomas. »Aber vielleicht kannst du es dir ja leisten.« »Wie ist es bei dir gelaufen? Ich hoffe, dass du wenigstens meinen Rat befolgt und deinen Saft nicht verkleckert hast.« Holm wollte wissen, ob Thomas sich mit Julia getroffen hatte, die seiner Hartnäckigkeit bei ihrem letzten Kneipenbesuch endlich erlegen war. »Ach ja«, seufzte Thomas. »Nicht gut. Leider konnte ich mir ihre Nummer nicht merken. Als ich zu Hause war, hatte ich sie vergessen.« »Nein!« Holm war überrascht, eine solche Panne hätte er Thomas nicht zugetraut. »Dein phänomenaler schauspielerischer Einsatz war also umsonst. So ein Mist.« »Ja, so ein Mist«, murmelte Thomas tonlos. Er wirkte nun tatsächlich traurig, was Holm nicht unberührt ließ. Er war kurz davor, ihn aufzumuntern und einen Besuch »Bei Julia« vorzuschlagen, sobald er wieder das Bett verlassen konnte, als Thomas scheinheilig hinzufügte: »Ich kann mich an nichts erinnern. Ich hatte wohl einen Black-out.« »Du Schuft«, knurrte Holm, der die Anspielung auf seinen eigenen Fauxpas verstand. »Mach dich davon! Freunde wie dich kann ich nicht gebrauchen.« »Gut«, nickte Thomas. »Ich weiß jetzt Bescheid über dich. Du bist einfach ein fieser Kerl. Du versetzt die nettesten Frauen und verstößt auch noch die besten Freunde.« »Und trau dich nicht, beim nächsten Mal ohne Julia hier aufzukreuzen«, rief Holm, als Thomas schon fast die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte. »Ich werde sie fragen, ob du sie anständiger behandelst als mich.«
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Intensivkurs Weltökonomie
Nach einer Woche konnte Holm wenigstens das Bett wieder verlassen. Er fühlte sich noch schwach, aber von Zeit zu Zeit musste er sich ein wenig bewegen. Wie gesagt: Es bereitete ihm große Probleme, die Zeit mit Nichtstun zu verbringen. Die Genesung erledigte der Körper allein, der rastlose Geist war dabei eher hinderlich. Gleichwohl konnte Holm mit einem Anruf etwas Abwechslung in sein Leben bringen. Aus irgendeinem Grund hatte er seit Thomas’ Besuch das Gefühl, Karin noch etwas sagen zu müsWas Was heißt Was tun? sen. Fast zwei Stunden in- passiert? das? vestierte Holm in die AusarVerantwortung übernehmen heißt, beitung der Nachricht, die sich die Konsequenzen der eigenen er wie üblich auf ihrem AnHandlungen oder Versäumnisse berufbeantworter hinterließ: wusst zu machen. Wie Holm merkt, »Ich möchte dir sagen: Es ist das in der Tat nicht leicht, da er tut mir wirklich Leid, dass nicht weiß, wie sehr er Karin verletzt ich dich versetzt habe. Ich hat. Doch genau darauf kommt es an: Es gilt, die Folgen aus Sicht habe einfach nicht daran gedes Gegenübers zu akzeptieren – dacht abzusagen. Leider bin die bereits erwähnte Perspektivenich noch immer krank. Auf übernahme hilft auch hier. Vorbald!« sorglich entschuldigt Holm sich War man eigentlich auch noch einmal ausdrücklich bei Karin; verantwortlich für das, was schaden kann es sicherlich nicht. man ohne Absicht, also unbewusst, tat? Offensichtlich Verantwortung übernehmen ja, wer sonst sollte dafür zuständig sein? Problematisch fand Holm allerdings, dass er oft nicht erfuhr, was er angestellt hatte, eben weil ihm das eigene Verhalten nicht immer bewusst war. Wie konnte man in solchen Fällen Verantwortung übernehmen? Eine interessante Frage, aber Holm erkannte nicht, dass Dani ihn schon vor Jahren eben darauf hatte aufmerksam machen wollen. Geschickt wuchtete Holm sich auf seinen Schreibtischstuhl. Das Sitzmöbel war eine komfortable – und 195
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außerdem flotte – Fortbewegungsmöglichkeit, denn laufen durfte er noch nicht. Holm drehte sich in Zielrichtung, stieß sich mit wohldosiertem Krückeneinsatz ab und rollte exakt bis zur Couch. Wie gut, dass sich der Fernseher mit Hilfe der Fernbedienung von jedem Punkt des Zimmers aus kommandieren ließ. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte Holm begonnen, sich mit den Wirtschaftsnachrichten zu beschäftigen. Er wollte verstehen, wie die Weltökonomie funktionierte. Als Geschäftsführer eines aufstrebenden Unternehmens war es wohl geradezu seine Pflicht, die wirtschaftlichen Zusammenhänge zu begreifen. Zunächst verfolgte er die Börsenberichte im Fernsehen, später durchforstete er auch die einschlägigen Finanzportale im Internet nach Informationen, Kommentaren und Analysen. Die Nachrichtensender überfluteten ihre Zuschauer mit Fakten und Hintergrundrecherchen; sie schwirrten Holm nur so um die Ohren. Nachdem er einige Tage die Sendungen verfolgt hatte, war Holm verwirrt und gereizt zugleich. Nur so viel war klar: Die europäischen Börsen folgten meistens den so genannten »Vorgaben« aus Amerika. Fielen die Kurse in New York, so war die Stimmung in Frankfurt schlecht. Befanden sich Dow Jones und NASDAQ, die wichtigsten amerikanischen Börsensegmente, im Aufwind, so konnte man auch beim DAX, dem Index der größten deutschen Unternehmen, mit Zuwächsen rechnen. Das schien aber die einzige Konstante am Aktienmarkt zu sein. Die Zusammenhänge aller anderen Faktoren erwiesen sich als äußerst komplex. Oft wurde über den Euro-Dollar-Wechselkurs geklagt. Der Euro war im Vergleich mit der amerikanischen Währung offenbar niedrig bewertet. Das stützte einerseits die deutschen Exporte in die USA, die im Jahresvergleich um über vierzig Prozent gestiegen waren. Andererseits verteuerten sich durch den ungünstigen Wechselkurs die Importe. Insbesondere stieg der in USDollar gerechnete Rohölpreis, was vor allem den Auto-
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fahrern die Laune verdarb – Stimmungen waren von besonderer Bedeutung im Börsenengeschäft, auch das sollte Holm bald lernen. Einigen »Marktteilnehmern« wäre eine höhere Bewertung des Euro lieber gewesen, wobei Holm nicht wusste, wer zu den oft zitierten »Marktteilnehmern« zählte. Waren es Aktionäre, Investoren, Volkswirte? Oder etwa auch Autobesitzer, da sie als Benzinverbraucher Einfluss auf den Ölpreis nahmen? So gesehen musste jeder ein Marktteilnehmer sein, da jedermann als Konsument unweigerlich das preisbestimmende Verhältnis von Angebot und Nachfrage beeinflusst. Die Leitzinsen schienen auch »irgendetwas« mit dem Eurokurs zu tun zu haben. In einer Fernsehsendung äußerte ein Devisenexperte die Vermutung, dass die Europäische Zentralbank die Leitzinsen demnächst erhöhen könnte. Allein die Meldung führte zu einem leichten Anstieg des Euro. Doch die Enttäuschung war groß und der Rückschlag für die europäische Währung um so heftiger, als sich die Information als Gerücht entpuppte. Apropos Enttäuschung: Den größten Einfluss auf die Aktienkurse hatten geplatzte Erwartungen, wie Holm feststellte. Entsprachen die Daten den Prognosen, so reagierten die Kurse kaum. Doch fast immer kam es zu Einbrüchen, wenn die Hoffnungen der Marktteilnehmer sich nicht erfüllten. Die Anleger schienen ihre Enttäuschung dadurch auszudrücken, dass sie ihre Wertpapiere hemmungslos und zu jedem Preis auf den Markt warfen. So betrachtet, handelte es sich bei den Marktteilnehmern offensichtlich um lauter Kinder. Holm dachte an seine Tochter Meike, die sehr ungemütlich werden konnte, wenn sie nicht bekam, was ihr versprochen wurde. Holm machte es sich wahrhaftig nicht leicht. Er absolvierte sozusagen einen Intensivkurs Weltökonomie für Anfänger. Nahezu ununterbrochen beobachtete er die vielen Daten, die ein Wirtschaftsprofi offenbar im Auge behalten musste: den Euro-Dollar-Wechselkurs, die Leitzinsen, den Rohölpreis, das Leistungsbilanzdefizit, die Bilanzen, die Analystenmeinungen, die Auftragseingänge 197
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
langlebiger Güter, die Anzahl der monatlichen Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe, die Warenhausumsätze, das Bruttoinlandsprodukt, das Verbrauchervertrauen und – nicht zu vergessen – die Launen der Marktteilnehmer. Holm versuchte die Beziehungen zwischen den Fakten herzustellen, doch sobald ihm eine Verknüpfung plausibel erschien, entdeckte er an anderer Stelle einen Widerspruch. Die Materie verfolgte ihn bis in den Schlaf. Eines Nachts erschien ihm sogar Alan Greenspan persönlich. Der Chef der US-NotenKomplexität handhaben bank und oberste Weltwährungshüter wies ihn darauf hin, dass er die Zinsen um einen winzigen Prozentsatz anheben und damit die HEIMEL AG in den Abgrund stoßen werde. Holm wehrte sich, er wälzte sich hin und her und versprach Greenspan, die Liquidität zu erhöhen. Doch verglichen mit dem volkswirtschaftlichen Goliath war er noch nicht einmal ein David. Greenspan ließ sich nicht überzeugen, und so erwachte Holm am nächsten Tag erschöpft und zerschlagen. Kein Wunder, dass Dr. Klemm seinen Patienten noch für zu schwach hielt und ihn für weitere zwei Wochen krank schrieb. Schließlich las Holm in einem Börsenmagazin die angeblich wichtige Nachricht, dass der Verkauf gebrauchter Häuser in den USA um 10,7 Prozent (gegenüber revidierten 0,2 Prozent im Vormonat) zurückgegangen sei. Aha! Na und? Die häuslichen Lebensverhältnisse der Ameri-
Wie funktioniert unsere Wirtschaft? Die Variablen sind komplex miteinander verwoben. Holm identifiziert viele Kenngrößen, doch die Volkswirte beziehen noch mehr in ihre Analysen ein. Wie soll man mit all diesen Daten umgehen, wenn selbst Supercomputer Mühe damit haben? In der Wirtschaft können wir höchstens eine Auswahl treffen und einfache Modelle der Wirklichkeit verwenden. Für das Leben allerdings gilt, dass es sich nicht so vereinfachen lässt; es bleibt so komplex, wie es nun mal ist. Doch mit gescheiten Modellen, Erfahrung und unverkrampfter Nachdenklichkeit lässt sich so manche Erkenntnis gewinnen.
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kaner interessierten ihn eigentlich nicht. Außerdem quälte Holm das unbestimmte Gefühl, dass sich diese Zahlen mit dem »Einkaufsmanager-Index«, der im letzten Monat immerhin von 56,3 auf 56,9 Punkte angestiegen war, widersprachen. Sicher war er sich allerdings nicht. Wie auch immer, er hatte vorläufig genug, entnervt erklärte der Patient seinen privaten Fortbildungslehrgang für beendet. Von da an mied Holm die Nachrichtensender und zappte sich, bequem auf seinem Sofa lümmelnd, bevorzugt durch die Sportprogramme. Irgendwie musste er seine Unruhe schließlich dämpfen.
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Eine sportliche Lektion
Holm freute sich, als Thomas ihn eines Tages in Julias Begleitung besuchte. »Du hättest mich ruhig vorwarnen können«, maulte der Patient, als er die hübsche Kneipenbedienstete sah. »Ich bin nicht vorbereitet.« Holm begrüßte seine Gäste dann doch und humpelte ins Bad, um sich umzuziehen. Einige Schritte weit konnte er sich mittlerweile auf eigenen Füßen fortbewegen. »Schön, dass es dir wieder besser zu gehen scheint«, meinte Julia, nachdem Holm sich gekämmt und die Jogginghose gegen ein ansehnlicheres Beinkleid getauscht hatte. »Thomas hat mir erzählt, dass es dich übel erwischt hat.« »Hoffentlich hat er nicht nur schlecht von mir gesprochen.« Natürlich bekam Holm auf diese Bemerkung keine Antwort. Frauen waren doch alle gleich, immer waren sie verschlossen, stänWas Was heißt Was tun? dig taten sie geheimnisvoll. passiert? das? Julia schien da keine AusHolm hält Julia – zu unrecht – für nahme zu sein. Kein Wunverschlossen. Er meint sogar, dass der, dass sie ihn nun zualle Frauen immer geheimnisvoll sätzlich mit einem Lächeln wären. Dem könnte man entgegnen: Immer stimmt nie! Das Leben verunsicherte. ist vielfältig, es wäre schade, es in »Deine Rosen sind simple Kategorien zu pressen. himmlisch«, schwärmte Julia bald darauf. Neugierig Immer stimmt nie! schaute sie sich auf dem Balkon um, der in leuchtenden Farben schwelgte. Die Rosenstöcke standen in voller Blüte, alles glühte in gelb, rosa, rot, orange und weiß. »Mir scheint, du hast ein grünes Händchen«, lobte Julia den Hobbygärtner. Sie gab sich keineswegs zugeknöpft. Eigentlich hätte Holm während seiner Zwangspause viel Zeit in sein Hobby investieren können. Dem war aber nicht so, ganz im Gegenteil hatte er die Pflanzen vernachlässigt und dabei kaum bemerkt, wie die Blüten
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von Tag zu Tag prächtiger gediehen. Nun staunte Holm selbst, wie gut sich die Pflanzen in den letzten Wochen entwickelt hatten. Offenbar kamen sie auch ohne seine permanente Betreuung zurecht. »Mir ist vor allem langweilig«, klagte der rastlose Patient. »Am liebsten würde ich zur Arbeit gehen, aber mein Arzt lässt mich noch nicht. Deshalb muss ich mich mit dem Fernseher begnügen. Habt ihr letzten Sonntag das Autorennen gesehen?« Nein, das Rennen hatten Thomas und Julia sich nicht angeschaut. Das frisch verliebte Paar hatte am Wochenende anderes im Sinn gehabt. Sicher, dafür hatte Holm Verständnis, obwohl er sich derzeit kaum etwas Packenderes als Motorsport vorstellen konnte. Er hatte eine neue Methode entdeckt sich abzulenken – insbesondere seit er beschlossen hatte, sich nicht weiter mit Wirtschaftsnachrichten zu plagen. Er war fasziniert von den Rennwagen, den mutigen Fahrern, den perfekt organisierten Teams und vielleicht auch von den attraktiven Frauen, die vor den Starts mit großen Schirmen die Sportler vor der Sonne schützten. Kurz vor den Rennen konnte Holm die Anspannung kaum ertragen. Er fieberte mit dem roten Team, weil es am professionellsten zu arbeiten schien. Die Rennwagen waren genial konstruiert, die Motoren bärenstark und die Aerodynamik ausgefeilt bis ins Detail. Die Fahrer waren erfahren, fit und hochkonzentriert. Die Arbeit im Hintergrund erledigte eine eingespielte Boxenmannschaft, jedes Teammitglied war Spezialist auf seinem Gebiet. Auch wenn die Mannschaft während des Rennens kaum in Erscheinung trat, die perfekt organisierten Boxenstopps ließen ahnen, wie gut das Team funktionierte. In Sekunden wurden die Reifen gewechselt und die Tanks gefüllt. Nicht zu unterschätzen waren schließlich die Aufgaben der Teamleitung. Während des Rennens hatte sie über die Taktik zu entscheiden: Wie viele Stopps waren einzuplanen? Wann sollten die Fahrer 201
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zum Nachtanken hereingeholt werden? Wie waren die Telemetriedaten zu interpretieren? Holm, der Manager und Abteilungsleiter, wusste die Leistungen einzuschätzen. Vor den Teambossen zog er den Hut. Alle Teams bemühten sich nach Kräften, aber wie gesagt favorisierte Holm die roten Boliden, und im nächsten Rennen wurde seine Einschätzung bestätigt. Wie so oft in den letzten Wochen saß Holm auf seinem Sofa, inzwischen vollständig genesen. Dr. Klemm hatte grünes Licht gegeben, so dass er am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen würde. Doch zunächst freute er sich auf das Rennen in Hockenheim und er drückte seinen »Roten« die Daumen. Der Start war ein kritischer Moment: Kamen alle Fahrer gut weg oder versagte einer der Motoren? Diesmal ging alles glatt. Zunächst lagen die silbernen Autos vorn, die roten Wagen nahmen die Verfolgung auf. Das Rennen verlief spannend, teilweise dramatisch, die Spitzengruppe bestand aus fünf Boliden, die um die Führung kämpften. Immer wieder kam es zu haarsträubenden Überholmanövern, einmal berührten sich zwei der Wagen. Weil er keine entscheidende Phase versäumen wollte, traute Holm sich nicht, auf die Toilette zu gehen. Also hielt er seinen Drang zurück, er würde bis zur Zielflagge durchhalten. Seine Ausdauer wurde belohnt, die beiden Helden in den roten Autos konnten sich schließlich durchsetzen. Sie eroberten die Spitze des Feldes und erstritten einen Doppelsieg. Ihre Reifen hatten über die gesamte Distanz besser funktioniert als die ihrer Gegner. Durch die überlegene Traktion und die stärkeren Motoren konnten sie bessere Rundenzeiten erreichen. Außerdem half die optimale Boxenstrategie den »Roten«, weitere Sekunden zu sparen. Als Holm nach der Zieldurchfahrt endlich seinem Bedürfnis nachgeben konnte und danach ins Wohnzimmer zurückkehrte, hörte er gerade noch, wie sich der Anrufbeantworter abschaltete. Er wusste sofort, wer versucht hatte ihn zu erreichen. Wochenlang war er nun schon zu
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Hause, aber Karin schien einen günstigen Moment abgewartet zu haben, um eine Mitteilung zu hinterlassen. So war es auch: »Hallo Holm!« sprach Karin vom Band zu ihm. »Wie nett, dass du dich noch einmal gemeldet hast. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, weil schon wieder so viel Zeit verstrichen ist. Vielleicht geht es dir inzwischen besser, und wir können einen neuen Termin ins Auge fassen. Was sagst du dazu?« Das war eine gute Idee. Holm wollte aber nicht sofort zurückrufen, er würde Karin sonst womöglich persönlich erreichen. Er fand es reizvoller, sich nur per Anrufbeantworter – quasi maschinenvermittelt – zu verabreden. Die erste Begegnung würde für beide eine Überraschung sein, die Holm nicht mindern wollte. Unterdessen standen die drei erstplatzierten Fahrer auf dem Podest und lauschten den Nationalhymnen. Dann feierten sie den Champion, indem sie sich die obligatorischen Duschen aus den Mega-Magnumflaschen verabreichten. Sie spritzten sich den Schampus in die Gesichter und über die Overalls, die Freude war überschäumend. Die Fans jubelten ihren Helden zu, jene mit den roten Fahnen, Wimpeln und Kappen feierten ausgelassen. Die Anhänger der unterlegenen Teams, die mit den silbernen, gelben und bunten Rennautos gefiebert hatten, waren zurückhaltender. Doch auch sie genossen die Stimmung. Die Saison war noch lang, und nicht alle Teams verfolgten das Ziel, ihre Fahrer auf die vorderen Plätze zu befördern. Man hatte die Erwartungen realistisch den unterschiedlichen Budgets angepasst. Deshalb war niemand über das Rennergebnis wirklich enttäuscht. Auch Holm ließ sich von der Atmosphäre anstecken. Entspannt lehnte er sich zurück, er hatte es ja gewusst. Das rote Team war überlegen, und es war von vornherein klar gewesen, dass es sich durchsetzen würde. Es verfügte über die mutigsten Fahrer, die fortschrittlichste Technik, die beste Boxenmannschaft, die kreativsten Konstrukteure und das erfahrenste Management. Doch dann geschah etwas eigenartiges. Genau in 203
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dem Augenblick, als Holms Freude am größten, die Zufriedenheit am tiefsten und die Entspannung vollkommen war, durchzuckte es Was Was heißt Was tun? ihn. passiert? das? Natürlich! Warum hatte Während Holm sich vom Fernseher er das nicht schon früher unterhalten lässt, befasst sich bemerkt! Der Geistesblitz irgendein Abschnitt seines Gehirns elektrisierte seine grauen ungefragt mit einer anderen AufZellen. Der Verstand, der gabe. Erst Tage zuvor hatte Holm sich verschreckt durch die vergeblich versucht, die Wirtschaftswelt durch angestrengtes wochenlange Flut der WirtNachdenken zu ergründen. Nun schaftsdaten und Analysen stellt sich eine wichtige Erkenntnis in den hintersten Winkel wie von selbst ein, gerade in einem der Schädelhöhle zurückgeMoment, in dem er sich gelöst zogen hatte, wagte sich wiezurücklehnt. der hervor, und zwar sponVielleicht kennen Sie das: tan und ungefragt. WähDie besten Ideen kommen uns rend Holm sich beim Sport manchmal in völlig unerwarteten entspannte, hatte sich sein Momenten, vor allem dann, wenn Geist unbemerkt mit der wir guter Laune sind. Nicht jedes Ziel lässt sich mit Kraft und VerLage der HEIMEL AG und bissenheit erreichen. Manchmal den Fakten zur Weltwirtbringen Ablenkung und Gelassenschaft beschäftigt. Nun erheit Erstaunliches hervor. kannte er mit einem Mal, dass die Börseneuphorie Kreativität zulassen bald ein Ende haben musste. Und es würde kein Happy End werden, sondern ein dramatisches Finale mit vielen Verlierern. So, wie im Rennsport nur drei Piloten auf dem Siegerpodest Platz fanden, so konnten auch nur wenige Unternehmen die Weltspitze erklimmen. Das allein war noch nicht bemerkenswert, denn wie der sportliche Wettbewerb zeigte, konnten viele Teams gut leben, weil sie sich realistische Ziele setzten. Doch eben diese Einschränkung war wichtig: Es kam darauf an, angemessene Ziele anzustreben. Fatalerweise war HEIMEL eine von vielen Firmen, die sich vorgenommen hatten, Weltmeister zu werden. Doch eigentlich war das ein Ding der Unmöglichkeit,
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nicht alle konnten die Welt gleichzeitig erobern. Außerdem gab es die etablierten Großkonzerne, die amtierenden Champions, die mit aller Macht daran arbeiteten, ihre Positionen zu verteidigen. Holm erinnerte sich daran, wie er sich erst vor wenigen Stunden ausgemalt hatte, welche Stärken nötig waren, um einen Sieg zu erringen: Die Reifen, das Auto, das Team, die Taktik und all die anderen Details mussten optimal abgestimmt sein. Kurz, das Gesamtpaket war entscheidend. Als er sich überlegte, welche Qualitäten er der HEIMEL AG zusprechen mochte, war Holm plötzlich unwohl. Die Mannschaft war jung und unerfahren, das neue Produkt unreif. Die Unternehmensstrategie war selbst ihm unklar. Was die Qualitäten der Führungsriege anging – und es war bitter, dass er sich dabei an die eigene Nase fassen musste –, fiel seine Bilanz gleichfalls ernüchternd aus. Er hatte sich als Chef und Manager bisher nicht gerade geschickt verhalten, Holm kam nicht umhin, das zuzugeben. Die Firma lebte allein von vagen Zielen und von den Visionen, die Henning – zugegeben – gut vertrat. Das allein aber würde nicht ausreichen, um sich im Haifischbecken der konkurrierenden Konzerne durchzusetzen. Die Parallelen zwischen der Rennsportveranstaltung und den Aussichten der HEIMEL AG waren niederschmetternd: Die durch Eimels Visionen gespeiste Euphorie würde sich als Strohfeuer erweisen, sie musste in Ernüchterung enden. Die Konkurrenz der Firmen, die siegreich sein wollten, würde viele Verlierer produzieren. Auch im Wirtschaftsleben hielt das Ehrenpodest nur einen ersten Platz bereit. Entsprechend desillusioniert saß Holm noch eine Weile auf seiner Couch und starrte auf den Fernseher, in dem der Sieger des Rennens von Reportern umlagert wieder einmal von der überragenden Qualität seines »Gesamtpaketes« sprach.
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Vorboten des Unheils
Als Holm sich gesund zurückmeldete, empfing Henning ihn keineswegs überschwänglich. Er war verärgert, dass sein Mitarbeiter ihm ganze sechs Wochen nicht zur Verfügung gestanden hatte. Die fehlende Herzlichkeit gehörte zu Hennings Art, Anerkennung auszudrücken, denn Holm hatte immer gute Arbeit geleistet und HEIMEL in der letzten Zeit tatsächlich gefehlt. Holm kannte Henning gut genug, er nahm die unberechtigten Vorwürfe mit Gleichmut entgegen. Mehr noch als die Abwesenheit seines wichtigsten Gehilfen erzürnte Henning, dass kurz nach der Krankmeldung des Entwicklungsleiters fast die halbe Belegschaft die Arbeit ebenfalls vergrippt niedergelegt hatte. Die Krankmeldungen hatten sich gehäuft, und der Firmengründer hatte getobt. Das kam selten vor, doch erschien Eimel die massenhafte »Arbeitsverweigerung« als derartige Katastrophe, dass er seinen emotionalen Ausnahmezustand für gerechtfertigt hielt. Niemand hätte ihn mit dem Spruch »Sei doch nicht so emotional!« besänftigen können, und es fand sich auch kein Mutiger, um den obersten Manager auf die HEIMEL-Kultur der »affektiven Enthaltsamkeit« hinzuweisen. Holm hatte Henning noch nie wütend gesehen, beinahe bedauerte er es, die Gelegenheit versäumt zu haben. Aber er wusste, dass dies erst der Auftakt war. Die Turbulenzen würden zunehmen, er würde wahrscheinlich noch häufiger die Möglichkeit haben, einen cholerischen Vorstandsvorsitzenden zu erleben. Henning aber hatte sofort versucht, die Kontrolle wieder an sich zu reißen und nach dem Auslöser der Epidemie gefahndet. Schon kurz darauf waren die Zusammenhänge klar: Holm war schuld. Er hatte nicht nur selbst die Arbeitsleistung verweigert, sondern per INFOVISOR auch seine Kollegen angesteckt. Durch seinen Fingerabdruck hatte er die Grippeviren auf dem Bildschirm platziert. So hatten sich die Kollegen infiziert, die nach ihm zur Arbeit eincheckten und ihrerseits das Virus in den folgenden
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
Tagen an die restlichen Lachen Sie nicht! Eingriffe in komMitarbeiter weitergereicht. plexe Systeme haben oft NebenHenning war ein ausgewirkungen, die nicht im Voraus zeichneter Detektiv, das abzusehen sind. Der geplagte Eimel, der mit dem INFOVISOR musste Holm ihm lassen. Er doch nur die Unternehmenserinnerte sich gut daran, wie kommunikation verbessern wollte, er an besagtem Tag gehustet, muss sich nun mit der Grippesich mit Heike unterhalten, epidemie auseinandersetzen. geschnäuzt und den Begrüßungstext bestätigt hatte – Unerwartete Nebenwirkungen mit seinem virenverseuchten Finger. Henning wäre freilich nicht Henning gewesen, wenn er das Übel nicht an der Wurzel gepackt hätte. Um die Ansteckungsgefahr für alle Zeiten zu bannen, hatte er Heike Kelch ein Desinfektionsmittel gegeben. Nun sterilisierte sie den INFOVISOR in regelmäßigen Abständen mit dem medizinischen Keimtöter; der Fensterreiniger hatte ausgedient. Überhaupt war die Gesundheit der Belegschaft in den letzten Wochen ein überragendes Thema gewesen. Immer wieder hatten einige Mitarbeiter über Schulterprobleme geklagt, und auch in diesem Fall war Henning tätig geworden, als sich die Fehlzeiten häuften. Merkwürdig war, dass die Betroffenen einhellig von Schmerzen in den linken Schultern berichteten; niemand klagte über Probleme mit der rechten Körperhälfte. Die Ursache der Schulterbeschwerden war aber bald identifiziert, und Holm war froh, dass er diesmal nicht als Übeltäter herhalten musste. Schuld allein hatte das Begrüßungsritual. Die häufigen Ritterschläge per rechter Hand auf die linke Schulter führten bei den Informatikern offenbar zur Überlastung des Knochenapparates. Einige Mitarbeiter zuckten mittlerweile schon in Erwartung der Begrüßungsattacke zusammen, wenn sie morgens ihre Kollegen erblickten, und verkrampften die Muskulatur in einer Art Abwehrhaltung. Auf Dauer konnte dieses reflexartige Reiz-Reak207
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tionsmuster zu chronischen Fehlhaltungen und sogar arthritischen Abnutzungserscheinungen der Gelenke führen. Das jedenfalls war die Meinung der konsultierten Orthopäden, die den Betroffenen dringend abrieten, Kampfsportarten auszuüben. Holm konnte schon nicht mehr ernst bleiben, als er von dieser grotesken Geschichte erfuhr, doch gänzlich belustigt war er, als er hörte, wie Henning dem Problem entgegengetreten war. Mittels des nunmehr klinisch einwandfreien INFOVISORS wurde ein Maßnahmenkatalog verfügt:
Maßnahmen zur Gesundheitsförderung der Mitarbeiter: 1. Aus gegebenem Anlass üben wir bei der Begrüßung der Kollegen ab sofort Zurückhaltung. Überschwängliches Gebaren ist zu vermeiden. 2. Unser Willkommensritual gehört zur Firmenkultur, das wird immer so bleiben. Trotzdem müssen wir kleine Änderungen zur Durchführung der Begrüßung einführen. 3. Niemand braucht vor dem HEIMEL-Gruß Angst zu haben. Zuckungen und Verkrampfungen bitte ich deshalb in Zukunft zu unterlassen. 4. Um einseitige Belastungen zu vermeiden, legt der Grüßende an geraden Kalendertagen seine rechte Hand sanft auf die linke Schulter des zu Begrüßenden. An ungeraden Tagen sind entsprechend die anderen Hände und Schultern zu verwenden. gez. H. Eimel
Was sollte Holm dazu sagen? Henning hatte gründliche Arbeit geleistet, so wie stets, allerdings auch so, als gäbe es keine wichtigere Aufgabe als eine Art »Begrüßungsprozess« zu erfinden. Den Effekt bekam Holm bald zu spüren. Die Schulterprobleme der Angestellten waren zwar verschwunden, mit ihnen aber auch das originelle Ritual.
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
Henning Eimel hatte es mit Henning Eimel hat keine Macht seinen Anweisungen ausgeüber die Unternehmenskultur. Sie verändert sich oder bleibt, wie löscht, die »Kultur« hielt sie ist, ohne das der Firmenchef sich nicht an Absatz 2 seiner Einfluss darauf hat. Verordnung. Bei HEIMEL Rituale werden umso wichtiger, grüßte man sich jetzt nicht je stärker die Freiheit eingeschränkt mehr mit »Bist du dabei?« ist. Damit bewahren die Mitarbeiter und dem Handgriff zur sich einen Rest Eigenständigkeit. Schulter des Kollegen. WeEs mag gerade für Manager unander mit der linken noch mit genehm sein, sich ab und zu ohnder rechten Hand bestätigte mächtig zu erleben, denn ihre Aufgabe scheint darin begründet man sich in dem Glauben, zu sein, Einfluss auszuüben. Doch eine eingeschworene Geniemand hat uneingeschränkten meinschaft zu sein, sondern Zugriff auf das Leben. man begnügte sich nunmehr damit, ein »Guten MorMacht und Ohnmacht gen!«, »Tach«, »Hallo« oder etwas anderes Unverständliches zu murmeln. Bei aller Heiterkeit über Hennings verschrobenen Erlass, fühlte Holm den Verlust. HEIMEL hatte eine weitere Schwächung erlitten, ein Teil ihrer Identität war unwiderruflich verloren. Doch was sollte der Entwicklungschef tun? Holm hatte keinerlei Vorstellungen, wie er dem drohenden Unheil begegnen könnte. Zu unvermeidlich schien es ihm, und zu übermächtig waren die Schwierigkeiten, die er kommen sah. Außerdem war er offenbar der einzige Mitarbeiter bei HEIMEL, der die fatale Entwicklung realisiert hatte. Aber mit wem hätte er sich austauschen sollen? Mit Henning auf keinen Fall, der Berufsoptimist würde ihn höchstens als Bedenkenträger bezeichnen. Seit seiner Genesung fühlte Holm sich allein in der Firma, er war nicht mehr dabei. Die Gedanken, die er im Stillen hegte, entfremdeten ihn der Gemeinschaft. Er war ausgeschlossen worden. Oder hatte er selbst den Schritt aus dem Kreis der Kollegen getan? Bewusst jedenfalls nicht, noch hielt er die Stellung, aber was um ihn herum geschah, nahm er nur noch als unbeteiligter Beobachter wahr, der 209
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mit mehr oder weniger großem Interesse die Vorboten des nahen Desasters registrierte. Nun erkannte er die Zeichen, die er auch vor Monaten schon hätte bemerken können. Hilflos musste Holm sich damit begnügen, immer mehr Symptome des Zerfalls zur Kenntnis zu nehmen. So war es auch mit der Anleitung zur pfleglichen Benutzung der Kücheneinrichtung. Eines Tages entdeckte Holm neben dem »Kaffeeprozess« einen weiteren Aushang in der Küche der Entwicklungsabteilung:
An alle Küchenbenutzer! Um allen den täglichen Umgang in der Küche zu erleichtern, wird gebeten, folgende Punkte einzuhalten: 1. Schmutziges Geschirr gehört in den Geschirrspüler und nicht ins Becken. 2. Ist der Geschirrspüler voller schmutzigem Geschirr, so ist dieser einzuschalten. 3. Ist der Geschirrspüler voller sauberem Geschirr, so ist dieser auszuräumen, um Platz für schmutziges Geschirr zu schaffen. 4. Wer zuerst von den Kaffeetrinkern kommt, reinigt die Kannen und setzt neuen Kaffee auf. 5. Wer eine Kanne bis 16 Uhr leert, setzt selbst eine neue Kanne auf. 6. Wer bemerkt, dass die Kaffeemaschine sich ausgeschaltet hat und der Kaffee durchgelaufen ist, schließt die Kanne und leert den Filtereinsatz. 7. Ist der Kaffeevorrat (Tüten) aufgebraucht, dann auch nicht wegschleichen, sondern bei Ulli neuen Kaffee (1 Karton) holen und in den Schrank einräumen. 8. Bitte reinigt die Arbeitsflächen (auch Kühlschrank, Wasserkocher, Mikrowelle), wenn diese verschmutzt sind. Wenn jeder etwas von der Arbeit übernimmt und jeder seine verursachten Verschmutzungen bereinigt, ist das für alle zum Vorteil, und keiner muss sich ärgern. Vielen Dank!
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
Anders als bei der VeröffentDie Umstände haben sich kaum verlichung des »Kaffeeprozesändert. Was sich gewandelt hat, ist Holms Sicht auf die Symptome der ses« vor einigen Monaten, negativen Entwicklung. Im neuen freute Holm sich diesmal Licht erkennt er die Unzufriedennicht über den Aushang. heit des Verfassers des »KüchenNun war ihm klar, dass die prozesses«. Vielleicht realisiert er Anweisungen bevormunauch, dass der anonyme und unkladend formuliert waren, auch re Umgang miteinander kennzeichwenn der abermals ungenend ist für die HEIMEL AG. Seine nannte Autor Recht haben Aufgabe als Führungskraft wäre es, mochte. Es war in der Tat für Offenheit zu sorgen. Allerdings so, dass Ordnung und Sauist es nun schon etwas spät, um noch einzugreifen, außerdem verberkeit nachgelassen hatten, fügt Holm nicht mehr über die nötiwas dem Verfasser der ge Energie. Nachricht offensichtlich unangenehm aufgestoßen war. Neues Licht Doch die detaillierte Vorschrift hatte wiederum einen anderen Kollegen geärgert, der den Autor auf dem Blatt als »Küchenprozessfurzer« gebrandmarkt hatte. Holm konnte nicht anders, er musste einfach schmunzeln. Reiß dich zusammen! Du bist der Chef, du solltest ernst nehmen, was hier passiert, tadelte er sich selbst. Ach was. Nimm es locker, du musst dich nicht um jede Kleinigkeit kümmern!, entlastete ihn eine andere innere Stimme. Holm entschloss sich, der zweiten Eingebung zu folgen und nichts zu unternehmen. Außerdem musste er sich eingestehen, dass auch er zu jenen Kandidaten zählte, die häufiger als früher die Tassen nicht spülten und »vergaßen«, den Kaffeevorrat aufzufüllen. Schließlich rechtfertigte der Entwicklungsleiter seinen Entschluss, nichts weiter zu unternehmen, damit, dass er sowieso keinen Ansprechpartner hatte. In seiner Abteilung schien es sich eingebürgert zu haben, schriftlich und anonym zu kommunizieren.
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Bullshit-Bingo
Ganz so schlimm, wie Holm die Firmenkommunikation beurteilte, war es allerdings nicht. Man unterhielt sich bei HEIMEL noch miteinander, manchmal sogar im größeren Kreis. Auch Holm kam nicht umhin, eine Sitzung einzuberufen, obwohl er wenig Lust verspürte. Immer weiter distanzierte er sich von der Firma und seiner Tätigkeit. Doch es ging um die Probleme der AP AG, und Holm war nicht sicher, ob sie den Zeitplan einhalten konnten. Ihm war zu Ohren gekommen, dass sich einige der Aufgaben als kaum realisierbar erwiesen hatten. Da der Fertigstellungstermin aber immer näher rückte, rief er seine Mitarbeiter zusammen, um die Probleme gemeinsam zu lösen. Die Besprechung verlief schleppend, nicht nur Holm merkte man die Unlust an, auch seine Mitarbeiter hingen schlaff auf ihren Sitzen. Die Aktiveren nörgelten, dass sie keine Rückfragen beim Kunden mehr stellen konnten, der Kundenprozess hindere sie daran. Manchmal bekämen die unzufriedenen Informatiker nicht einmal Antworten auf die Botschaften, die sie dem Rohrpostsystem anvertrauten. Der Prozess glich eher einem Schlauch mit Verstopfungen als einem geölten Getriebe. Holm erinnerte daran, dass es sich bei HEIMEL um ein modernes UnterWas Was heißt Was tun? nehmen handele und dass es passiert? das? nur eine Frage der Zeit sei, Offensichtlich verläuft die Besprebis sich die neuen Abläufe chung nicht gut. In diesem Fall hat eingespielt hätten. Er musste es wenig Sinn, die Tagesordnung die offizielle Linie vertreabzuspulen. Vielmehr sollte Holm ten, schließlich war er Vorklären, was seine Mitarbeiter umstandsmitglied. Halbherzig treibt, sonst werden auch die Probleme der AP AG kaum zu lösen erklärte er, dass eine prozesssein. Aber wieder versagt der Entorientierte Firma über ein wicklungsleiter als Führungskraft. definiertes Customer Interface verfügen müsse, das in RoProbleme ansprechen berts Zuständigkeitsbereich
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fiel. Holm erläuterte seinen Mitarbeitern, was sie sowieso bereits wussten. Die HEIMEL AG hätte die Ansprüche der Aktionäre zu erfüllen und im Sinne des Shareholder Value zu handeln. Es ging also darum, die Anleger reich zu machen. Allen war das klar, doch niemand hatte mehr die Energie, sich darüber aufzuregen. Die Sitzungsteilnehmer sackten noch schlaffer in sich zusammen – manche schienen sich ab und zu wenigstens Notizen zu machen. Schließlich erinnerte Holm sich, dass man eigentlich zusammengekommen war, um die AP-Probleme zu lösen. Der erste Punkt der Aufgabenliste betraf Richard Gass, den Programmierer, den Holm in der Kaffeepause »erwischt« hatte, als er sich mit Michael über den Börsenguru Kiener unterhalten hatte. Holm war noch immer empört über Richards Naivität, doch hier ging es um eine konkrete Aufgabe. Er wollte sich bemühen, sachlich zu bleiben und seine Vorbehalte gegen den Mitarbeiter zurückzustellen. Das gelang ihm aber nur teilweise, denn Richard war mit seinem Auftrag noch kaum vorangekommen. »Ich bin erst seit vier Monaten dabei. Ich verstehe die Datenstrukturen einfach nicht«, rechtfertigte Richard sich. »Die Programme sind so verflochten. Ich kann nicht einschätzen, ob ich mit meinen Verbesserungen an anderer Stelle womöglich Fehler verursache.« Richard hatte Recht, die Software war derart komplex, dass selbst ein erfahrener Spezialist die Konsequenzen von Programmänderungen kaum abzuschätzen vermochte. »Aber deshalb gilt doch das Prinzip ›Training on the Job‹ bei uns«, belehrte ihn Holm. »Alle neuen Mitarbeiter werden von Anfang an mit konkreten Aufgaben betraut. Wenn du etwas nicht verstehst, dann wende dich bitte an deine Kollegen oder an mich.« Richard nickte schwach und versprach, seine Fragen gleich am nächsten Tag mit Franz zu erörtern. Er hatte keine Lust, sich mit Holm auseinander zu setzen. Aber auch die anderen Programmierer, die Holm nach dem Stand der Arbeiten befragte, waren nicht weit gekom213
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men. Mal lag es an der unklaren Problemstellung, mal an der fehlenden Vorarbeit eines Kollegen und dann wieder an einer Rückfrage, die seit Wochen im Kundenprozess feststeckte. Der Arbeitsfortschritt konnte insgesamt nur als ernüchternd gering bezeichnet werden. Holm seufzte. Er riet allen, mehr miteinander zu sprechen und sich gegenseitig zu helfen. Jemand murmelte, dass der »Kundenprozess« dies nicht vorsehe, doch der Entwicklungsleiter überhörte die spitze Bemerkung. Stattdessen betonte Holm, dass sie den zugesagten Termin unbedingt einhalten müssten, AP sei ein wichtiger Kunde. Letzteres war nicht gerade eine neue Erkenntnis, davon hatte man schon mehrfach gehört. »Wenn die Zeit nicht ausreichen sollte, dann stellt die Dokumentation zurück.« Es war die übliche Methode, mit Terminproblemen umzugehen. Wenn der Stichtag näher rückte, schien es am wichtigsten zu sein, das Programm »irgendwie« zum Funktionieren zu bekommen. »Wir reichen das Handbuch nach und führen die neuen Funktionen zunächst als undocumented and unsupported feature ein«, ordnete Holm an. Es war die letzte Anordnung überhaupt, die Holm seinen Mitarbeitern geben sollte, denn kurz nachdem er den Satz beendet hatte, kam Leben in die Versammlung. Verblüfft verfolgte Holm, was nun geschah. Die reglosen Gestalten erwachten urplötzlich aus ihrer Passivität, die Mienen hellten sich auf, die Körper rutschten aus ihren gekrümmten Positionen in aufrechte Stellungen. Stühle schrammten durchdringend über den Boden, jemand klatschte in die Hände. Die Besprechungsteilnehmer schienen wie ausgewechselt. Es war kaum zu glauben, dass es sich um dieselben Personen handelte, die noch kurz zuvor den Eindruck erweckt hatten, als würden sie demnächst wie narkotisiert von ihren Sitzen kippen. Nicht nur das, die sonst so bedächtigen Informatiker sprangen auf und schrien wild durcheinander. »Bingo, zweite Spalte!«, riefen einige.
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»Bingo, zweite Reihe!«, brüllten andere. »Doppelbingo!«, war außerdem zu vernehmen. Holm entglitt offenbar die Kontrolle über das Geschehen – sofern er sie überhaupt je besessen hatte. Konsterniert musste er nun erleben, wie seine Mitarbeiter sich stritten, wer zuerst »Bingo« gerufen hatte. »Ich war der Erste!«, rief jemand. »Nein, ich!«, polterte ein anderer. »Doppelbingo sticht Einfachbingo!«, behauptete ein Dritter. Holm wusste nicht, wie ihm geschah. Seine Leute tobten, sie schienen verrückt geworden zu sein. Es war nicht das erste Mal, dass er einen Kontrollverlust erleiden musste. In Sekundenbruchteilen rauschten Bilder einer Radtour mit Asja und eines letzten – und endgültigen – Streits mit Dani durch seinen Kopf. Diese Katastrophen hatten sein Privatleben heimgesucht, dass ihm ein derartiges Unglück nun auch im Beruf widerfuhr, war neu. Er war bestürzt, nun auch als Manager zu erfahren, dass er keinen Einfluss hatte, doch gleichzeitig war er zu ausgelaugt, um sich zu wehren. Er versuchte erst gar nicht, die wild gewordenen Informatiker, die immer noch gestikulierend aufeinander einredeten, zur Ordnung zu rufen. Wieder entfernte er sich ein Stück von seiner HEIMEL AG und während das Meeting in tumultartigen Szenen ausartete, stahl er sich wortlos aus dem Raum. Keiner der Anwesenden nahm Notiz davon. »Es tut mir Leid …, äh …, das war wohl ziemlich blöd.« Franz Hiesel, der auch an der bemerkenswerten Besprechung teilgenommen hatte, wand sich. Er wollte sich entschuldigen. Zögernd erklärte er Holm, wie es zu dem spektakulären Finale gekommen war. Die Teilnehmer hatten ein Spiel namens Bullshit-Bingo gespielt. Angeblich diente es dem Zweck, die Aufmerksamkeit in Besprechungen zu erhöhen. Dazu lag jedem Mitspieler ein Blatt mit neun quadratisch angeordneten Begriffen vor:
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Bullshit-Bingo
Globalisierung
Kundenprozess
Vision
Customer Interface
undocumented unsupported feature
Training on the job
97 Grad
Shareholder Value
INFOVISOR
Holm kannte die Phrasen. Sie gehörten zum bevorzugten Wortschatz der HEIMEL-Manager. Auch er redete immer wieder von Visionen, Was Was heißt Was tun? vom Kundenprozess und dem passiert? das? Customer Interface. Oft wurde Bullshit-Bingo gibt es tatsächlich – von der unvermeidlichen ob es je in Besprechungen gespielt Globalisierung der Weltwirtwurde, weiß ich allerdings nicht. schaft und dem Shareholder Ob ein Begriff sinnentleert scheint Value, dem Wert der Firma und damit tauglich ist für dieses für die Aktionäre, gesproSpiel, hängt vom Kontext ab. Die Informatiker der HEIMEL AG könchen. Die neuen Mitarbeiter nen jedenfalls mit den Phrasen, die hatten sich selbst einzuarbeiHolm strapaziert, nichts anfangen. ten, ihnen wurde Training on Sie helfen ihnen nicht dabei, ihre the Job verordnet. Die univerAufgaben zu bewältigen. selle Software der Visimatik AG bestand zum Teil aus Worthülsen nicht dokumentierten und nicht
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unterstützten Funktionen, und das Mittel der Unternehmenskommunikation war der INFOVISOR. Selbst die Kaffeetemperatur hatte sich zur geflügelten Redewendung entwickelt. Seit einiger Zeit genügte die Frage »97 Grad?«, um die Kollegen zu einer Kaffepause aufzufordern. Während der Besprechung ging es darum, die Begriffe zu markieren, sobald sie genannt wurden. Ziel des Spiels war, möglichst schnell »Bingo« zu rufen, wenn eine Zeile, Spalte oder Diagonale des Quadrats komplett war. Genau das war passiert, als Holm von den »undocumented and unsupported features« gesprochen hatte: alle Phrasen der zweiten Reihe und zweiten Spalte waren damit erwähnt worden. Fast alle – außer Holm – hatten es bemerkt und sich lautstark zu Wort gemeldet. Man konnte wirklich nicht behaupten, dass die Anwesenden Holm nicht gut zugehört hätten. Immerhin ging es um eine Flasche Sekt, die man für den aufmerksamsten Kollegen ausgelobt hatte, wie Franz erläuterte. Der Name des Spiels war gut gewählt, es führte Holm treffend vor Augen, dass nicht nur er zu oft Worthülsen strapazierte, die alles und nichts zu bedeuten hatten. Er entließ Franz, der mit schlechtem Gewissen davonschlich. Holm wollte nur noch seine Ruhe haben, doch so weit war es noch nicht, weitere Unannehmlichkeiten erwarteten ihn. Als Franz das Büro des Entwicklungsleiters verließ, gab er Richard direkt die Klinke in die Hand. »Ich kündige«, erklärte Richard ohne Umschweife und überreichte Holm ein Schreiben. »Muss das sein?« Holm war keineswegs überrascht. »Du weißt, wir brauchen jeden Mann.« »Ja. Es läuft nicht so, wie es im Einstellungsgespräch vereinbart wurde. Mir wurde zugesichert, dass ich professionell eingearbeitet werde, dass interessante Aufgaben auf mich warten und dass ich auch die Kunden kennen lernen würde. Nichts davon ist passiert.« »Aber ich habe dir doch eben erst erklärt …«, setzte Holm an, um den Satz noch rechtzeitig abzubrechen. Beinahe hätte er wieder die Phrase vom »Training on 217
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
the Job« gedroschen, doch er unterdrückte den Impuls. Richard hatte ihn auch so verstanden. »Ich weiß, aber »Training on the Job« kann doch nicht heißen, dass ich mit allem allein gelassen werde und dass Vereinbarungen nicht gültig sind.« Richard war zweifellos entschlossen, HEIMEL zu verlassen. Holm war zerknirscht. Richard hatte Recht, doch er konnte es nicht zugeben. Der psychologische Vertrag Holm hielt die Fassade aufrecht, als er das Kündigungsschreiben entgegennahm. »Klär bitte die Formalitäten mit Frau Ziegler.« Richard Gass war ein weiterer Mitarbeiter, der nicht länger dabei sein wollte. Mehrere Programmierer hatten in den letzten Wochen gekündigt, und auch Günther Schmecker, der Marketingdirektor, gehörte nicht mehr zum Kreis der Angestellten. Er hatte sich schon vor einiger Zeit im Einvernehmen mit der Firmenleitung verabschiedet – so hatte Henning Holm gegenüber den »Vorgang« jedenfalls erklärt.
Der »psychologische Vertrag«, mit dem alle ungeschriebenen Vereinbarungen zwischen Mitarbeiter und Organisation gemeint sind, wurde verletzt. Die Erfüllung der Erwartungen wirkt sich auf Motivation, Zufriedenheit und Loyalität aus. Diskrepanzen können verschiedene Folgen bis hin zur Kündigung, nach sich ziehen. Es zeigt sich außerdem, wie wichtig der Abgleich der Vorstellungen ist. Auch Missverständnisse können zu Vertrauensverlust und weiteren Konsequenzen führen.
Es war eine trostlose Situation, für alle Beteiligten. Etwas Zuspruch konnte Holm jetzt gebrauchen, deshalb meldete er sich noch am selben Abend bei Karins Anrufbeantworter gesund zurück: »Hallo Karin! Ich würde mich sehr freuen, dich nun endlich persönlich kennen zu lernen. Ich bin soweit wiederhergestellt, und wenn mich nicht alles täuscht, dann werde ich demnächst viel Freizeit haben. Lass uns noch einmal ein Treffen am nächsten Sonntag im Museum anvisieren. Wie wäre es mit 15 Uhr?«
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Abschied vom Traumschiff
Einige Stunden als Manager und Bereichsleiter musste Holm noch durchstehen. Er wusste nun, was er zu tun hatte: Nach dem Vorstandsmeeting würde er Henning seinen Entschluss mitteilen. Nicht nur Holm und Robert nahmen diesmal an der Sitzung teil, auch eine Abordnung der Hausbank war geladen. Es war ein wichtiger Termin – Henning betonte nochmals, was er nicht extra hätte hervorheben müssen: Holm und Robert sollten vor allem ihn sprechen lassen. Es ging um die weitere Unterstützung durch ihre Bank. Der Firmengründer wollte und musste höhere Kreditlinien aushandeln, denn um die Liquidität stand es inzwischen schlecht. Das Geld, das die Kapitalerhöhung eingebracht hatte, war nahezu aufgebraucht. Doch einen Einblick in die finanzielle Lage hatte nur Henning selbst. Ungebrochen optimistisch verkündete er, die Situation wäre keineswegs kritisch. »Meine Strategie wird bald greifen«, hatte er seinen Vorstandskollegen eingeflößt. Holm wusste es besser. Seitdem er bei der Siegerehrung der Rennfahrer jene erstaunliche Erleuchtung erlebt hatte, konnte Henning ihm nichts mehr vormachen. Die visionären Appelle des Firmengründers waren zu Durchhalteparolen verkümmert. Der Informatiker wunderte sich allein darüber, dass er so lange gebraucht hatte, um das zu begreifen. Holm freute sich, Frau Dr. Mai, die von einem jungen Mitarbeiter begleitet wurde, so unerwartet wiederzusehen. Die Leiterin der Kreditabteilung machte einen verbindlichen Eindruck, der dem Anlass der Zusammenkunft entsprach. Aber für Holm versprühte sie zudem eine Energie, die sich in keiner Weise von der herzlichen Wärme ihrer ersten Begegnung während der Jubiläumsfeier der Visimatik AG unterschied. Nachdem einige Nettigkeiten ausgetauscht waren, eröffnete Henning die Sitzung. Routiniert begann er die weitere Entwicklung der Firma in leuchtenden Farben zu zeichnen: Schon bald würde HEIMEL auf der ganzen 219
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Welt präsent sein und als »Global Player« eine marktbeherrschende Stellung einnehmen. Um seine Sätze zu unterstreichen, bestrahlte ein Beamer die Wand mit Diagrammen der exponentiell ansteigenden Umsätze und Gewinne der Zukunft. Immer engagierter erzählte er von seinen Plänen. Es war deutlich zu spüren, dass nicht nur Henning von seinen Visionen zehrte, sondern auch die Visionen ohne ihren Gestalter leblos wären. Insoweit hielt Henning eine jener Reden, wie er sie schon oft vor großem Publikum eingeübt hatte. Auf die aktuelle Lage, die mageren Umsätze und die Verluste der grauen Gegenwart, ging der erste Vorstand nicht ein. Es war auch nicht nötig, denn Frau Mai war mit den Zahlen vertraut. Sie kannte die Daten ebenso gut wie Eimels Absichten; sie hatte alle Berichte und Bilanzen der HEIMEL Visimatik AG studiert. Insoweit unterschied sich die Finanzexpertin von jenen, denen Henning Eimel sonst seine Ideen präsentierte. Doch auch in einem weiteren Punkt verhielt sich Frau Mai anders als Hennings sonstige Zuhörerschaft. Höflich ließ sie den Firmengründer einige Minuten sprechen, dann mischte sie sich ein. »Entschuldigung, Herr Eimel, wenn ich Sie unterbrechen darf? Sie haben sicher genauso viel zu tun wie wir. Ihre Pläne kenne ich, Sie waren schon so nett, mich an Ihren Vorstellungen teilhaben zu lassen. Wir können Zeit sparen, wenn wir gleich auf die Dinge zu sprechen kommen, die im Moment am wichtigsten sind.« Henning hielt abrupt inne. So hatte ihn noch niemand unterbrochen. Genau genommen hatte ihn noch nie irgendjemand bei einer Rede gestört, aber Frau Mai hatte sich eloquent ausgedrückt. Man konnte ihr nicht böse sein. »Äh, wie meinen Sie das? Ich spreche von der Zukunft. Gibt es etwas wichtigeres als die Ziele, die wir ansteuern?« »Sicher nicht.« Frau Mai wollte den Vorstandsvorsitzenden nicht kränken, allerdings ging es ihr um etwas anderes. »Heute interessiert mich aber, was Sie zu tun gedenken, um Ihre Ziele zu erreichen.«
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»Wie?« Erneut war Henning verunsichert. »Ziele sind das eine«, erklärte Frau Mai unverändert freundlich. »Man muss natürlich wissen, wohin man will. Aber ich bin so neugierig, dass ich auch gern erfahren würde, welchen Weg Sie eingeschlagen haben. Was tun Sie zum Beispiel im Marketing und im Vertrieb? Wie kommen Sie mit dem Personalaufbau voran? Was unternehmen Sie, um die Mitarbeiter bei der Stange zu halten, und welche Schwerpunkte setzen Sie im Produktmanagement?« Interessant, dachte Holm. Bisher hatte noch niemand Henning so detailliert nach seinen Aktivitäten befragt. Doch Frau Mai war anzumerken, dass es ihr ernst war mit ihrem Anliegen, mehr über die Firma zu erfahren. Dabei hätte sie es sich leicht machen können, denn Eimel wollte ja etwas von ihr: ihn drückte die finanzielle Situation, er war an der Gunst der Bank interessiert. Sie hätte mit Hinweis auf die angespannte Lage der Softwarefirma auch Druck machen und Informationen einfordern können. Doch die Finanzexpertin war so klug, dies nicht zu tun. »Ach so!« Jetzt hatte Henning verstanden. »Ja, natürlich. Ich habe da zwar nichts vorbereitet, aber wenn Sie möchten, dann erzähle ich Ihnen etwas aus dem Stegreif.« »Gerne.« Frau Mai und ihr Mitarbeiter nickten. Schon kurz darauf nahm Henning wieder Fahrt auf. Nicht ohne Stolz sprach der Traumschiffkapitän von seinen jüngsten Ideen: dem Aktienkursmonitor an der Gebäudefassade, der die Mitarbeiter motivieren sollte, dem INFOVISOR, der die Kommunikation verbessern würde und dem Kundenprozess, der HEIMEL in eine moderne Firma verwandelt hätte. Frau Mai hörte aufmerksam zu, immer wieder stellte sie Zwischenfragen. Als Eimel sogar von dem Rohrpostsystem berichtete entfuhr ihr ein »Ach wirklich?« Auch Holm war verblüfft. Henning plauderte aus dem Nähkästchen, Frau Mai brachte ihn zum Reden. Nur wenn der Vorstandsvorsitzende wieder in Zukunfts221
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Was passiert?
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Was tun?
visionen abzudriften drohte, lenkte sie ihn behutsam zurück zum Tagesgeschäft. Ab und zu schaltete sich Herr Lamprecht, ihr junger Kollege, in das Gespräch ein, während Robert und Holm nur zur Dekoration mit am Tisch zu sitzen schienen. Frau Mai war auch über das Ausscheiden Schmeckers, den Marketingleiter, Interesse und Zusammenarbeit informiert. Trotzdem hakte sie nach, um aus erster Hand mehr über die Gründe der Vertragsauflösung zu erfahren. Henning reagierte in diesem Fall allerdings ausweichend. Er war der Meinung, dass Fehlgriffe bei der Mitarbeiterauswahl unvermeidlich seien. Danach fuhr er fort mit der Aufzählung der Tochtergesellschaften, die kürzlich gegründet worden waren. Leider liefen gerade im Ausland die Geschäfte nicht so gut wie erhofft. Die »Markteintrittsbarrieren« waren hoch, denn zahlreiche Konkurrenzunternehmen hielten die ausländischen Märkte schon besetzt. »Markteintrittsbarriere« war eine der Phrasen, die auch Henning Eimel trotz seiner rhetorischen Fähigkeiten beanspruchte. Holm zuckte innerlich zusammen. Bei der Fülle der universellen Schlagworte, die er Henning hatte sagen hören, wäre er schon mehrfacher BullshitBingo-König geworden. Ob Frau Mai die Worthülsen auch unangenehm auffielen? Jedenfalls hatte Holm keine Lust aufzuspringen und sie mit einem hysterischen »Bingo-Schrei« darauf aufmerksam zu machen. Erst nach vollen zwei Stunden neigte sich die Sitzung dem Ende zu. Henning hatte seinen Zuhörern immer freizügiger über die Interna der Firma Auskunft gewährt. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, als hätte ihm die Berichterstattung Spaß gemacht: »Haben Sie noch weitere Fragen?«
Frau Mai zeigt Interesse für Hennings Pläne und Leistungen. Sie will begreifen, wie die HEIMEL AG funktioniert, und erreicht damit Erstaunliches. Statt Fronten aufzubauen wird die Zukunft der Firma zum gemeinsamen Anliegen. Gern berichtet Henning Einzelheiten, während Frau Mai zuhört, ohne vorschnell ein Urteil zu fällen. Damit legt sie den Grundstein für eine gute Zusammenarbeit.
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»Nein, vielen Dank. Sie vielleicht?« Frau Mai blickte zu ihrem Begleiter, der ebenfalls zufrieden abwinkte. »Sie haben uns umfassend ins Bild gesetzt. Vielen Dank, Herr Eimel.« »Keine Ursache. Sie beehren uns viel zu selten.« Auch Henning hatte eine charmante Seite. »Wir werden uns bessern«, versprach Frau Mai. »Sie wissen ja, es gibt zwei Möglichkeiten, ein Unternehmen erfolgreich zu führen: Entweder Sie landen einen Glückstreffer oder Sie schrauben ausdauernd an vielen Details. Man merkt, dass Sie einer Firma der zweiten Art vorstehen.« »Das ist sehr nett von Ihnen.« Ohne die Botschaft wirklich verstanden zu haben, nahm Henning das Kompliment gern an. »Ich vermute, dass Sie Ihren Beschluss in nächster Zeit fassen werden?« »Sie werden bald von mir hören. Ich muss mich natürlich noch mit meinen Mitarbeitern und unserem Vorstand besprechen.« Die Chefin besprach sich mit ihren Mitarbeitern! Offenbar unterschieden sich die Gepflogenheiten der Bank deutlich von der HEIMEL-Kultur. Und noch etwas war bemerkenswert: Frau Mais Stimme kam Holm irgendwie bekannt vor; als ob er sie erst vor kurzem gehört hätte. Aber das konnte nicht sein, ihre erste und einzige Begegnung lag lange zurück, er musste sich täuschen. Man verabschiedete sich freundlich, wenn auch in aller Förmlichkeit. Holm hatte gleichwohl den Eindruck, dass Frau Dr. Mai ihm besonders herzlich die Hand drückte. Nachdem die Besucher gegangen waren und Holm allein mit Henning im Raum zurückblieb, war es so weit. Die Sitzung hatte ihn noch bestärkt, Frau Mai schien ihm zusätzliche Energie gespendet zu haben. Vielleicht hatte sie ihm mit dem Händedruck den entscheidenden Impuls gegeben, der Holm den Mut verlieh, den letzten Schritt zu wagen. Und es war ein Risiko, denn er hatte beschlossen, vieles aufzugeben, was ihm bisher so wichtig schien. 223
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»Eine interessante Person, diese Frau Mai«, meinte Henning. »Aber es ist doch gut gelaufen. Wir werden die Zusagen sicher bekommen.« »Bestimmt«, antwortete Holm ohne Überzeugungskraft, um dann entschlossen hinzuzufügen: »Henning, ich muss dir etwas sagen: Heute ist mein letzter Tag. Ich werde die Firma verlassen.« Holm war überrascht, wie leicht es ihm fiel, den Satz auszusprechen. Dabei war er sich der Tragweite seiner Entscheidung bewusst. Niemand kannte die Software, die für die Zukunft der HEIMEL AG von zentraler Bedeutung war, so gut wie er. Und niemand wusste, welche Zukunft ihm bevorstand. Henning mochte es zuWas Was heißt Was tun? nächst nicht glauben, erst als passiert? das? Holm seine Aussage wiederDie Entwicklung erreicht einen vorholte, sank der visionäre Firläufigen Höhepunkt. Nun gibt es für menlenker betroffen in sich Holm keine andere Möglichkeit zusammen. Das war ein harmehr, als die Firma zu verlassen. ter Schlag für ihn. PlötzDas ist sogar Henning klar. lich fühlte Holm mit dem SeDie Regel lautet: Mit zunehmender Eskalation verringert sich niorpartner. Der Treffer hatte die Zahl der Alternativen, bis den menschliche Züge bloßgeBeteiligten keine Wahl mehr legt, die Holm nicht kannte. bleibt. Er hatte sein Denkmal vom Sockel gestoßen, unwiderrufEskalation und Spielraum lich. Nun erst wurde ihm bewusst, wie schmerzlich seine Entscheidung für ihn und die anderen war. Damit hatte er nicht gerechnet. Eine Weile saßen sich die ehemaligen Weggefährten stumm gegenüber. »Du meinst es wirklich ernst?«, fragte Henning. »Ja.« »Es gibt keine andere Möglichkeit?« »Nein.« »Du weißt, ich brauche dich dringend.« »Ich weiß das, aber es geht nicht anders. Ich bin kein guter Manager, mir fehlt deine Zuversicht.« Henning erinnerte Holm nicht an seine vertraglichen
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Pflichten, er versuchte nicht, ihn zum Bleiben zu überreden. Auch er begriff, dass es kein Zurück mehr gab. Noch am selben Tag verabschiedete sich Holm so schnell wie möglich von seinen Kollegen und Mitarbeitern. Die Tour durch die Büros war kein Vergnügen; alle waren überrascht, immer wieder musste er sich erklären und seine Entscheidung begründen. Am schwersten fiel Holm der letzte Gang durch »seine« Entwicklungsabteilung, die ihm ans Herz gewachsen war. Er fühlte sich wie ein Rabenvater, der sein Kind verstieß und schutzlos der Zukunft auslieferte. Bei einigen der Programmierer entschuldigte er sich sogar dafür, ein schlechter Chef gewesen zu sein. Seine Mitarbeiter waren nett, sie widersprachen ihm heftig. Und so schutzlos wie Holm dachte, waren sie gar nicht. Das letzte Wort – wie hätte es anders sein können – überließ Holm Frau Ziegler. »Ich glaube, ich bin anders als die meisten Manager. Mir fehlen die Visionen, die Begeisterung und Zuversicht. Ich kann nicht mehr Was Was heißt Was tun? an die Zukunft glauben. passiert? das? Vielleicht bin ich verrückt Menschen werden oft als »vergeworden, aber meine Entrückt« abgestempelt, wenn sie in scheidung steht fest.« irgendeiner Weise vom DurchWie immer blickte die schnitt abweichen. Wieso eigentChefsekretärin ernst, aber lich? Warum schränken wir die Vielfalt ein, indem wir die Außennur scheinbar streng, und positionen brandmarken, statt sie wie immer fiel ihre Antwort zu nutzen? kryptisch aus: »Ich finde, Sie sind mutig, Herr KenVielfalt und Statistik ning. Geistige Gesundheit ist keine statistische Angelegenheit. Zu einer Minderheit zu gehören, selbst zu einer Minderheit von einem einzigen Menschen, stempelt einen noch nicht als verrückt.« Was damit wohl gemeint war? Die Zeit drängte nicht, Holm würde viel Muße haben, um Marion Zieglers Andeutungen zu entschlüsseln. 225
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Barocke Impressionen
Nun hatte Holm also die unvermeidlichen Konsequenzen gezogen. Ohne Ziel streifte er durch die Stadt und beobachtete teilnahmslos das Leben um ihn herum. Man schien es eilig zu haben. Kreuz und quer rannten die Menschen durch die Gassen, bahnten sich ihre Wege, rempelten sich an, blickten vorwurfsvoll oder entschuldigten sich flüchtig, um sofort wieder den eigenen Interessen hinterherzuhetzen. Holm setzte sich in ein Café und bemühte sich, seine Außenseiterposition zu genießen. Offenbar war er der einzige Mensch der Welt, der nichts zu tun hatte, der keinem Termin nachjagen musste und der seinen Tag nicht verplant hatte. Es war ein ungewohntes Gefühl, der Einschnitt war ihm bewusst. Sein Leben würde sich verändern. Nur wie es sich wandeln sollte, das ahnte er nicht. Aber er hatte Zeit, um seine finanzielle Situation brauchte er sich nicht zu sorgen, denn er hatte fleißig gespart, für die Rente. Von diesen Reserven würde er zunächst zehren, denn vor allem die Ruhe, die sich allmählich ausbreitete, gab ihm nun Sicherheit. Er beschloss, die nächste Zeit einfach in den Tag hineinzuleben. Ganz freiwillig wie er glaubte, handelte er allerdings nicht. Holm war viel zu erschöpft, um sich gleich neuen Aufgaben zu stellen. Die Firma hatte ihn ausgelaugt, er war leer. Als er an seinem Kaffee nippte, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Es war gelogen, der Kaffee war nicht so heiß, wie er gebrüht wurde. Keinesfalls hatte er 97 Grad. Er ließ sich gut trinken, die Temperatur war angenehm. So vorsichtig, wie der »Kaffeeprozess« befahl, musste man nicht sein. Von Prozessen jeder Art hatte er definitiv genug. Vielleicht würde er sich einen Urlaub gönnen. Ja, wahrscheinlich würde er eine Reise unternehmen. Holm nahm sich vor, demnächst ein Reisebüro aufzusuchen und Pläne für eine Weltreise zu schmieden. Und da war sie wieder: die liebe Gewohnheit, die Zukunft kontrollieren zu wol-
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len. Unbemerkt und unerlaubt schlich sich die vertraute Lebensart wieder an, kaum dass er sie abgeschüttelt hatte. Auch wenn es nur um einen Erholungsurlaub ging, schon begann der Verstand die Unternehmung vorzubereiten. Es war eben nicht so einfach, »nur« zu leben. Doch der Rückfall in alte Gewohnheiten fiel Holm gar nicht auf. Gedankenverloren starrte er vor sich hin und genoss seinen Kaffee. Am Sonntag stand Holm pünktlich vor dem Eingang zum Museum. Ob er sie erkennen würde? Nur wenig wusste er von Karin. Oft schon hatten sie sich zwar Nachrichten hinterlassen, doch nie persönlich erreicht. Kurz nach seinem letzten Anruf hatte sie zugesagt, er freute sich. Natürlich hatte er ihr eine Rose mitgebracht. Die »Elina« war zwar keine englische Rose, doch Gelb war noch immer seine Lieblingsfarbe. Damit wollte er sich nochmals entschuldigen, auch wenn er Karin bei ihrer ersten Verabredung nicht absichtlich versetzt hatte. Es war eine sonderbare Situation, unbehaglich fühlte er sich an die Hintertür einer Musikkneipe erinnert. Schon einmal hatte er mit einer Rose eine Frau erwartet. Seine Uhr zeigte schon fünfzehn null drei, als in einiger Entfernung eine Frau auf das Museum zuhielt. Nicht nur das Museum selbst schien ihr Ziel zu sein, vielmehr steuerte sie geradewegs auf den Mann zu, der vor dem Portal wartete. Noch konnte Holm sie nicht erkennen, noch hatte er Zeit, sich zu überlegen, wie er sie ansprechen sollte. Sei spontan! Ob Thomas’ Rat auch für diese Verabredung galt? Bestimmt, und diesmal würde er es besser machen, heute würde er keinen Reinfall erleben. Langsam kam die Frau näher, noch war sie zu weit entfernt, als dass er sie erkennen konnte, doch ihre Bewegungen schienen ihm merkwürdig vertraut. Das Papier knisterte verschreckt, als sich die Finger fester um die Rose krampften. Mit jedem Schritt wurde Holm un227
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sicherer und überzeugter zugleich. Diese Haltung und Gestik hatte er vor kurzem erst erlebt, er kannte diese Frau: Es war Frau Mai, die Bankmanagerin Dr. Mai! Fast enttäuscht ließ er die Hand mit dem Blumengeschenk sinken. War es denn möglich? Da hatte er endlich diese Verabredung mit Karin, und ausgerechnet jetzt kam ihm Frau Mai in die Quere. Doch es war zu spät. Er konnte sich nicht mehr wegdrehen und so tun, als hätte er sie nicht bemerkt; zu auffällig hatte er ihr entgegen gesehen. Und wollte er sich überhaupt verbergen? »Frau Mai, was für eine Überraschung!«, rief er aus, als sie ihm nah genug war. »Hallo, Herr Kenning. Wieso sind Sie erstaunt? Wen erwarten Sie denn?« Einen Moment lang war Holm verdutzt. Frau Mai lächelte dieses Lächeln, das offenbar alle Frauen einzusetzen wussten, wenn sie sich im Vorteil wähnten. Eigentlich bin ich mit Karin verabWas Was heißt Was tun? redet, wollte er sagen, doch passiert? das? nur kurz dauerte seine Holm hat ähnliches schon einmal Verwirrung. Dann lächelte erlebt: damals, als er Dani nach auch er dieses Lächeln, das dem Konzert an der Hintertür abnicht nur Frauen vorbehalfing. Auch diesmal wird er überten war. Ohne zu zögern rascht, doch er reagiert besser. nahm er einen zweiten AnSpontan lässt er sich auf die unerlauf. »Hallo, Karin! Wie wartete Begegnung mit Karin ein. Es mag daran liegen, dass er sich schön, dass es nun endlich nicht »vorbereitet« hat, oder auch geklappt hat mit unserer daran, dass mit dem Abschied von Verabredung.« HEIMEL eine Last von ihm abfiel. Während Holm ihr die Jedenfalls hat er einen persönRose überreichte – nicht lichen Schritt gemacht. ohne sie vom Papier zu befreien –, lachten sie herzlich. Déjà-vu »Ich wusste doch, dass wir uns verstanden haben«, erklärte Karin Mai. »Vielen Dank, wie lieb von dir.« Einvernehmlich fanden sie zum »Du« zurück. Nun konnten sie anknüpfen an ihre erste Begegnung auf dem Parkett der Jubiläumsfeier.
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»Ich habe dir zu danken. Und vor allem möchte ich mich entschuldigen, dass du schon einmal hier umsonst auf mich warten musstest.« »Nicht doch, das ist schon vergessen.« »Du hast es die ganze Zeit gewusst?«, wollte Holm wissen. »Nicht von Anfang an, aber nachdem du deinen Namen auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hast. Nun lass uns hineingehen. Ich freue mich auf die Kunst und darauf, mehr über dich zu erfahren. Deine Anzeige war so viel versprechend.« Sie schmunzelte. Amüsiert erinnerte sich Holm an seine protzige Bekanntschaftsanzeige. Diesmal hatte er keine Probleme damit, er würde Karin schon zeigen, wie der Text zu verstehen war. Und zum Glück hatte sie ja angedeutet, dass sie ihn für einen Spaßvogel hielt. Karin und Holm folgten dem Rundgang, der sie durch die Hallen führte. Auch an einen solchen Museumsbesuch konnte Holm sich erinnern. Er sah die barocken Meisterwerke noch vor sich, die er schon im Traum studiert hatte und wunderte sich nicht im geringsten, dass sich das städtische Museum auf Rubens spezialisiert zu haben schien. Genau genommen hatte er nichts anderes erwartet. »Warst du schon einmal hier?«, fragte Karin. »Es kommt mir so vor«, murmelte Holm. »Rubens war einer der bedeutendsten Künstler des Barock«, erläuterte Karin, während sie an den opulenten Vermächtnissen jener Zeit vorbeischlenderten. »Die Bilder strotzen nur so vor Pracht, Kraft und Lebenslust. Ludwig XIV. hat damit seine Macht unterstrichen. Aber die Kunst des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts war nicht nur Werkzeug der Herrschenden, sie drückt auch die Gegensätze des Lebens aus: Leben und Tod, Endlichkeit und Ewigkeit, Pracht und Vergänglichkeit, weltlicher Genuss und religiöse Verzückung. Siehst du, wie die Maler mit Licht und Dunkelheit gearbeitet haben?« 229
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Ja! Während Holm die Fülle der Dekolletés bisher je nach Entfernung mit Briefmarken oder Südfrüchten verglichen hatte, erkannte er nun, dass die zarte Haut mit dem Hintergrund enorm kontrastierte. Rubens war ein Kenner, exzellent hatte er das Leben für die Nachwelt verewigt. Holm konnte seine schöngeistige Unwissenheit nur kaschieren. Um sich nicht zu verraten, nickte er stumm. Sein Respekt Karin gegenüber wuchs noch mehr. Trotzdem hatte Holm das Gefühl, dass er ihr allmählich näher kam. Vielleicht waren Was Was heißt Was tun? Wertschätzung und Nähe ja passiert? das? auch zwei Pole des Lebens. Sie erinnern sich vielleicht, dass Wie auch immer, nicht einMosler in seinem Papier zur »dezenmal ihr Doktortitel, der ihn tralen Organisation« von der technibisher eher eingeschüchtert schen Weltvorstellung »X« schrieb. Descartes’ Position entspricht hatte, spielte nunmehr eine diesem Gedankenmodell, die WarRolle. nehmung spielt für ihn so gut wie Karin wusste noch mehr keine Rolle. Doch auch die scharfzu erzählen. sinnigste Analyse muss bedeu»Das Frühbarock war tungslos bleiben, wenn sie nicht mit auch die Zeit René Desder Wirklichkeit in Verbindung cartes’. Er hat mit seiner steht. Unsere Wahrnehmung mag ›Cartesianischen Wende‹ sowohl subjektiv sein, doch Descartes zusagen eine Revolution im hat übersehen, dass Menschen in der Lage sind, dies zu berücksichtiDenken angezettelt. Der gen. Die Perspektivenübernahme, Philosoph war der Meinung, also die Weltsicht vom Standpunkt dass die Vernunft die einzig anderer, ist sogar Grundvoraussetsichere Quelle der Erkenntzung für ein funktionierendes Mitnis ist. Mit der Methode der einander. Es geht nicht nur darum, Analyse wollte er jedes Pro»vernünftig« zu denken, sondern blem in kleinste Teile zerauch dafür zu sorgen, dass unser legen und jeweils mit VerVerstand mit einer angemessenen nunft prüfen. So kam er »Datengrundlage« arbeitet. Die Wahrnehmung auszublenden, wäre auch dem Ursprung des daher eine fatale Entscheidung. menschlichen Seins auf die Schliche: ›Cogito ergo sum‹. Rationalismus und Wahrnehmung Ich denke, also bin ich. Des-
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cartes war fähig zu zweifeln, folglich musste er ein denkendes Wesen sein.« Aha, dachte Holm. Dieser Descartes war offenbar ein gescheiter Mensch. Er wusste seinen Verstand einzusetzen. Und das zu jener Zeit! Gern ließ er sich von Karins Stimme, die Descartes aber nicht nur zu loben wusste, tiefer in fremde Welten entführen. »Der Kopf war für Descartes die Quelle der Erkenntnis, die Wahrnehmung hielt er dagegen für die Ursache von Fehlern, da unsere Sinne uns oft täuschen. Deshalb spielte die Wahrnehmung für ihn eine untergeordnete Rolle. Er bemühte sich, die Subjektivität so weit wie möglich auszuschalten. Seine Philosophie ist der Rationalismus.« Nachdenklich fügte Karin hinzu: »Eigentlich schade, der arme Descartes. Ein Museumsbesuch war sicher kein Genuss für ihn.« Neugierig schlenderten sie durch das Museum und bewunderten die Zeugnisse dieser noch gar nicht so weit zurückliegenden Zeit. Holm fühlte sich vage daran erinnert, ähnliche Gedanken zur Wahrnehmung und zum Gebrauch des Verstandes schon gehört zu haben, obwohl er von der Philosophie des Barockzeitalters nichts verstand. Nichtsdestotrotz genoss er Karins Gesellschaft, die er als angenehm und anregend empfand. Auch die Gemälde wirkten inzwischen friedlich und nicht mehr bedrohlich wie im Traum. Einige berühmte Naturwissenschaftler und geniale Erfindungen kamen ihm in den Sinn. Holm war versucht anzumerken, dass die Menschheit der Vernunft viel zu verdanken hatte, doch stattdessen sagte er endlich: »Ich habe gekündigt. Freitag war mein letzter Arbeitstag.« Nun war Karin überrascht, damit hatte sie nicht gerechnet. »Du machst Witze! Ich wusste doch, dass du ein Spaßvogel bist.« Doch Holm konnte sie überzeugen, dass es ihm ernst war. »Ich hoffe, eure Bank wird HEIMEL trotzdem nicht hängen lassen.« »Ich vermute, dass es ohne deine Fachkompetenz für 231
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die HEIMEL AG nicht leichter wird. Aber Eimel hat ja viele Ideen. Ich hoffe, er schafft den nächsten Entwicklungsschritt.« Karin zeigte sich mäßig zuversichtlich. »Du hast ihm erstaunlich viel entlockt. Einiges habe selbst ich nicht gewusst, und vielleicht waren manche Gedanken sogar für ihn selbst neu. Das hast du clever gemacht«, lobte Holm die Kunstexpertin. »Vielen Dank.« »Und was sagst du zu unserem Kundenprozess? Findest du die Rohrpostidee nicht ein wenig verrückt?« »Sicher, aber was soll ich tun? Wenn ich diese Vorstandsentscheidung kritisiert hätte, würde Eimel umso energischer an seinen Ideen festhalten und sich verschließen. Damit wäre keinem geholfen. Wenn ich mir seine Überlegungen anhöre, dann wird er viel eher selbst die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.« Eben, dachte Holm, den Kundenprozess hatten sie mit einer gemeinsamen Vorstandsentscheidung beschlossen. Verschämt musste er sich eingestehen, dass es seine Aufgabe gewesen wäre, auf diesen Beschluss einzuwirken. Stattdessen hatte er nur schweigsam wie immer mit am Tisch gesessen. »Außerdem habe ich viel übrig für so genannte verrückte Ideen. Manchmal sind diese Einfälle gar nicht so verrückt, wie man zunächst glaubt«, ergänzte Karin. »Was wirst du nun tun?« »Ich werde eine Weltreise machen, vielleicht eine Kreuzfahrt. Morgen gehe ich ins Reisebüro.« »Das klingt auch nach einer Verrücktheit. Du tauschst deinen guten Job gegen eine Reise und eine unsichere Zukunft ein. Aber es könnte eine gute Idee sein. Descartes lebte übrigens lange Zeit zurückgezogen, andererseits war er weit gereist. Er schrieb einmal: Wenn man zu leben versuche, ohne zu philosophieren, dann sei das, als halte man die Augen geschlossen, ohne daran zu denken, sie zu öffnen.« Aufmunternd zwinkerte Karin ihm zu, und Holm dachte unweigerlich an sein allmorgendliches Ritual, den Tag mit verschlossenen Augen zu begrüßen.
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Während sie auf ein ansehnliches Bildnis des Sonnenkönigs in gebieterischer Pose zusteuerten, sagte Karin: »Ich hoffe, dass du mir von unterwegs berichten wirst. Ich möchte auf dem Laufenden bleiben, was deinen weiteren Weg angeht.« »Abgemacht«, versprach Holm. »Und ich hoffe, dass du HEIMEL Visimatik auch weiterhin so wohlwollend begleiten wirst wie bisher.« Gemeinsam verweilten sie einige Minuten vor dem imposanten Porträt und Holm wurde klar, dass selbst Ludwig XIV. trotz all seiner zur Schau gestellten Macht, keinerlei Herrschaft über ihn hatte. Plötzlich erkannte er, dass zwei plus zwei tatsächlich vier ergaben! Frau Ziegler hatte also völlig Recht, beinahe hätte Holm es laut herausgeschrien. Aber Holm musste sich benehmen, ohnehin spielte es keine Rolle mehr: Er war nun so frei, seine Entscheidungen selbst zu treffen.
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Strategic Chance Management
Wie kritisch die Lage der HEIMEL AG damals war, welche Fehler er gemacht hatte und wie sehr ihn Holms Abschied getroffen hatte, erkannte Henning, der stolze Firmengründer, erst Jahre später. Nur allmählich dämmerte ihm die Wahrheit, und inzwischen war ihm klar, dass er sowieso nie eine absolute, sondern immer nur eine vorläufige, persönliche Wahrheit erkennen konnte. So manche Einsicht stellte sich erst ein, als er an seinem Computer saß, um ein Buch über seine Erfahrungen als Firmengründer und Manager zu verfassen. Mit jeder neuen Seite schien sich die Vergangenheit weiter zu klären. Als Aufsichtsratschef realisierte Henning nun, dass Holm seine Weltreise gebraucht und davon profitiert hatte. Und genauso wichtig war es für ihn und die HEIMEL AG gewesen, die Probleme Was Was heißt Was tun? ohne den genialen Softwarepassiert? das? entwickler zu lösen. Zum Henning blickt zurück auf sein MaGlück war Karin Mai zu nagerleben. Aus dieser Perspekeben diesem Zeitpunkt auftive sieht manches anders aus, getaucht. Henning konnte vieles wird klarer. Leider wollen mittlerweile zugeben, dass er Probleme meist in der Gegenwart Frauen im Beruf bis dahin gelöst werden, nicht erst in ferner nie ernst genommen hatte. Zukunft. Wir können also nicht warten, bis wir älter und weiser Aber Karin hatte ihn durch sind. Aber wir können uns vorstelihre Art und ihre Fähiglen, wir wären es. Manchmal ist es keiten beeindruckt. Und sie hilfreich, ein paar Jahre voraus zu hatte ihm geholfen, zu ihm denken und sich zu fragen: Was gehalten und nie im Stich wirst du wohl später einmal zu diegelassen. Als er noch einmal ser Entscheidung sagen? auf jenes Meeting zurückblickte, in dem er zum ersZukunftsperspektive ten Mal wirklich offen über die Firma berichtet hatte, vermischte sein Respekt vor Karin sich mit Scham. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn,
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wenn er daran dachte, wie naiv und überheblich er sich früher verhalten hatte. Wenigstens hatte er sich helfen lassen, nicht nur von Karin. Die komplette Liste der Unternehmensberater der Stadt, die sie ihm zugefaxt hatte, wurde systematisch bearbeitet. Auch die kleinste Consulting-Bude rief Henning an, um die Experten für »Change Management« nach ihren Kompetenzen zu fragen. Wie viele Berater bestellte er zum Gespräch! Was er dabei erleben musste, konnte er in seinem Buch Was Was heißt Was tun? allerdings mit einem kurzen passiert? das? Satz zusammenfassen: Es Wie findet man den »richtigen« Bewar ernüchternd. Die so gerater? Ein Berater sollte nicht nur nannten »Consultants« trafachlich kompetent, sondern auch ten geschniegelt an und präneugierig sein. Um helfen zu können, muss er sich für den Kunden sentierten ihre Konzepte, und das Unternehmen interessieohne Aufwand und Mühen ren. Wenn der Kandidat ungefragt zu scheuen. Fast alle hatten eine Standardlösung anbietet, bunte Folien und ihre Lapdann kaufen Sie sich lieber ein tops dabei und versprachen Buch über die Methode. Jede Situaihm das Blaue vom Himtion, jede Firma ist einmalig, darauf mel – damals ahnte Henmuss ein guter Berater eingehen. ning natürlich noch nicht, Vorschnelle Lösungen für womögdass man ihm damit auch lich nicht existierende Probleme bedeuten eine Einschränkung von einen Spiegel seiner eigenen Chancen. Arbeitsweise vorhielt. Mehr als deutlich war jedoch zu Der »richtige« Berater spüren, dass die Berater HEIMEL für einen Sanierungsfall hielten. Das entsprach zwar den Tatsachen, aber das wollte Henning nicht wissen. Dabei waren die Berater schlecht informiert, manche hatten sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, den Internetauftritt zu studieren. Schlimmer noch: Fast keiner konnte zuhören, kaum einer stellte Fragen. Am ehesten interessierten sich die vorgeblichen Managementexperten noch für »Probleme«. In der »Schwachstellenanalyse« waren sie alle gut, aber damit hatten sie Henning nur verärgert. Einige dieser Herren sah er noch 235
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vor sich: wie sie herummäkelten an seiner Firma, in die er so viel Energie und Herzblut investiert hatte. Als er einmal zugab, dass er manchmal nicht mehr wüsste, wo ihm der Kopf stand, und trotz Siebzig-Stunden-Woche nicht überall gleichzeitig sein könnte, hatte einer der Berater ihm eine Packung Papiertaschentücher zugeworfen. Jammern hilft nicht, war offenbar der Ratschlag. Schließlich sei Henning Unternehmensvorstand, und als solcher hätte er wohl unendlich belastbar sein sollen. Hochkant hatte er den Kerl hinausgeworfen! Henning spürte noch immer die Befriedigung, diesem Ignoranten die Tür gewiesen zu haben. In einem waren sich die Kandidaten einig: Alle wollten sie Henning irgendwelche Konzepte verkaufen. Er erinnerte sich kaum noch an die Namen dieser angeblichen Allheilmittel. Er musste in seinen Unterlagen nachschlagen, denn niemand sprach inzwischen mehr von BPR, TQM, SCM oder CRM. Doch eigentlich existierten diese Managementansätze noch immer. Der Unterschied war nur, dass die Ideen sich nicht mehr »Business Process Reengineering«, »Total Quality Management«, »Supply Chain Management« und »Customer Relationship Management« nannten, sondern unter anderen Namen firmierten. Aber Henning wollte die Beratergilde nicht schlecht machen. Ihm war klar, dass jedes Produkt auch von seinem Label lebte. Immerhin hatte Henning mit Karins Hilfe und dank seines gewissenhaften Auswahlverfahrens auch gute Erfahrungen gemacht. Einen Berater hatte er schließlich ausgewählt und beauftragt, ihn zu unterstützen. Aber es dauerte noch einige Zeit, bis es aufwärts ging, und Henning bekannte in seinem Buch zum ersten Mal, dass selbst er nicht mit jener Wende gerechnet hatte, die sich schließlich doch abzeichnete. Es gab eben immer Chancen im Leben, man musste sie nur nutzen. Der Glaube an den Erfolg, das war seine Managementtheorie. SCM hieß so gesehen nicht »Supply Chain Management«, sondern »Strategic Chance Management«. Die ganze Software-
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welt betete damals das Kürzel SCM an wie einen Götzen, doch nun endlich, Jahre später, hatte Henning die wahre Bedeutung entschlüsselt. Kurz amüsierte Henning die Idee. Dann machte er sich an die Schilderung der Turbulenzen, die er und seine Mitarbeiter noch hatten durchstehen müssen.
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OE
Etwas musste passieren, doch was? Henning blieb nichts anderes übrig, als das Traumschiff ohne Radar durch den Nebel zu steuern. Auch die Präsentationen der vielen Berater, die er nach Vorschlägen befragte, brachten ihn kaum weiter. Einige dieser Consultants beschäftigten sich mit den so genannten »hard facts«, also vor allem mit den Bilanzen und wirtschaftlichen Kennzahlen, die man scheinbar problemlos quantifizieren konnte. Eine andere Beratergruppe betonte die Bedeutung der »soft skills« der Mitarbeiter, von denen Henning nur vage Vorstellungen hatte. Leider konnte man die »weichen« Erfolgsfaktoren meistens nicht einmal in Zahlen fassen, was Hennings Berührungsängste mit diesen Variablen nicht unbedingt verringerte. Er nahm an, dass es sich bei den »soft skills« um natürliche Fähigkeiten handelte, über die aber leider nicht allen Zeitgenossen in ausreichendem Maße verfügten. Vielleicht gab es in seinem Unternehmen auch Mitarbeiter mit persönlichen Defiziten? Ausschließen konnte er das nicht. Schließlich entschied Henning sich, enger mit der Hausbank zusammenzuarbeiten, was die »harten« wirtschaftlichen Fakten betraf. Er blieb zwar auf der Hut, weil Frau Mai seiner Meinung nach nicht seine, sondern in erster Linie die Interessen ihres Arbeitgebers vertrat, aber immerhin hatte sie HEIMEL durch die Erhöhung der Kreditlinien soeben aus einer akuten finanziellen Klemme geholfen. Mehrfach hatte sie sich auch in Fragen der Buchhaltung und des Controllings hilfsbereit gezeigt, so dass Henning seine Vorbehalte zusehends ablegte. Fast war Karin Mai ihm schon sympathisch. Als er mit der Auswahl eines Beraters für die »weichen« Erfolgsfaktoren nicht weiterkam, verließ Henning sich ebenfalls auf einen ihrer Tipps. Armin Elling, der Inhaber eines kleinen Expertenbüros namens OE-Consult, erläuterte dem Vorstandsvorsitzenden seine Vorschläge unter vier Augen: »Mit einer
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ganzheitlichen Vorgehensweise haben wir die besten Erfahrungen gemacht. Es ist gut, dass Sie neben den harten Wirtschaftsfaktoren auch an die persönlichen Kompetenzen der Mitarbeiter und Führungskräfte denken«, lobte der Berater Eimel. »Nur wenn Sie alle relevanten Faktoren optimieren, können Sie nachhaltigen Erfolg erzielen.« Henning runzelte nachhaltig die Stirn. Er erinnerte sich, ein ähnliches Lob auch von Frau Mai gehört zu haben. Aber bisher hatte er immer Fortune gehabt in seinem Leben. Warum sollte er sich nun belehren lassen, wie er seine Firma zum Erfolg zu führen hatte? Etwas reizte ihn zum Widerspruch, Henning musste sich beherrschen, um Elling nicht ins Wort zu fallen. Der Berater setzte seinen Vortrag fort, indem er einige Grundgedanken der professionellen Organisationsentwicklung, die er als »OE« bezeichnete, erläuterte: »Hauptziel einer gelungenen OE ist die Verbesserung der Zusammenarbeit. Dazu müssen vor allem die persönlichen Kompetenzen im Hinblick auf Kommunikation und Konfliktfähigkeit erweitert werden. Außerdem werden die Führungsfähigkeiten der leitenden Mitarbeiter gefördert. Es ist nicht leicht, auf derart grundlegende Bereiche der Persönlichkeit Einfluss zu nehmen. Wer lässt sich schon gern sagen, dass er persönliche ›Schwachstellen‹ hat? Das erregt zurecht Unmut und Widerstand.« Henning konnte vorbehaltlos zustimmen. Von »Schwachstellen« wollte er nichts wissen, damit hatten ihn schon Ellings Beraterkollegen geärgert. »Wir können auf individuelle Eitelkeiten im Interesse der Firma keine Rücksicht nehmen«, mischte er sich trotzdem ein, ohne wirklich verstanden zu haben, dass der Berater mit »leitenden Mitarbeitern« auch das obere Management ansprach. »Wir müssen Fortschritte machen und zwar schnell. Ich nehme an, Sie werden die zurückgebliebenen Mitarbeiter herausfiltern und entsprechend schulen.« Eimels Vorstellungen von moderner OE waren nur von rudimentärer Art. Armin Elling wollte keine Mitar239
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beiter – weder zurückgebliebene noch vorausgeeilte – »herausfiltern«: »Persönliche Entwicklung ist eine vielschichtige Angelegenheit, die nicht erzwungen werden kann«, erklärte der Chef von OE-Consult geduldig. »Sie können zwar Maschinen oder Computerprogramme nach Ihren Vorstellungen ›entwickeln‹, aber das ist nicht die Art von Entwicklung, die ich meine. Deshalb spreche ich im Fall von technischen Errungenschaften lieber von Konstruktionen als von Entwicklungen. Menschliche Entwicklung kann man nur anregen, niemals erzwingen. Statt sich mit vermeintlichen Defiziten zu beschäftigen, konzentriere ich mich lieber auf die Stärken und Kompetenzen. Viele Fähigkeiten sind oft schon vorhanden und liegen ungenutzt brach.« Damit hatte Elling den Was Was heißt Was tun? Firmenchef endgültig überpassiert? das? zeugt. OE-Consult würde Elling vertritt eine ressourcenden Beratungsauftrag beorientierte Grundhaltung, er will kommen. Es tat Henning die Stärken der Mitarbeiter aktigut, endlich einen Mitstreivieren. Es hätte wenig Sinn, nach ter gefunden zu haben, der Schwachstellen zu suchen oder nicht nur kritisch war und »Druck zu machen«. Wenn Berater überall nach Schwachstellen engagiert werden, dann ist die Not oft schon groß und die optimale fahndete. Zeit zu handeln vorbei. Nun kommt Elling kam nun zu den es darauf an, dass Elling zusammen Einzelheiten:» Ich würde mit der Unternehmensleitung an alle Mitarbeiter einbeziehen einem Strang zieht. und jedem die Möglichkeit geben, seinen nächsten Stärken aktivieren Schritt zu machen.« »Muss man wirklich jeden an diesem Entwicklungsprojekt beteiligen?«, zweifelte der Firmengründer, der wenigstens sich selbst gern aus dem Projekt »OE der HEIMEL Visimatik AG« ausklammern wollte. Nachdem Elling nochmals erklärt hatte, dass wirklich alle Mitarbeiter gemeint waren, legte er Eimel einen Plan vor, der auf den ersten Blick recht simpel erschien:
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Organisationsentwicklung der HEIMEL Visimatik AG 1. Mitarbeiterbefragung 2. Kommunikationstraining 3. Teamentwicklung Führungskräfte Planung und Ausführung: OE-Consult
»Zunächst schlage ich eine schriftliche Befragung vor. Damit erreichen wir mehrere Ziele: Sie setzen ein Signal, dass der OE-Prozess nun beginnt. Jeder Mitarbeiter bekommt die Gelegenheit, sich anonym einzubringen. Damit gewinnen wir wichtige Informationen über die Probleme aus Sicht der Angestellten und über die Stimmung innerhalb der Firma. Das ist aber nicht alles, denn wir brauchen eine Grundlage für die folgenden Schritte. Deshalb werden die Ergebnisse in den einzelnen Bereichen rückgemeldet und diskutiert. Ihre Aufgabe, Herr Eimel, wird es sein, die Ideen aufzugreifen und wenn möglich umzusetzen. Sie sollten Ihre Angestellten wissen lassen, was realistisch ist und was nicht. Eine Mitarbeiterbefragung ist also nicht nur eine Datenerhebung, sondern ein wichtiges Element einer partizipativen Unternehmenskultur.« Besonders der letzte Satz forderte Hennings Aufmerksamkeit. Er hatte Mühe zu erfassen, was Elling unter einer Mitarbeiterbefragung verstand. Dass sie Teil einer »partizipativen Unternehmenskultur« sein sollte, half ihm kaum weiter, denn der Ausdruck war ihm nicht geläufig. Doch gleichzeitig ließ ihn das Gefühl nicht los, dass Ellings Ideen durchaus nützlich sein könnten. Der Manager nickte bedächtig. Der Mann würde schon wissen, was er tat, immerhin hatte Frau Mai ihn empfohlen. »Gut«, sagte er eine Spur zu forsch. »Wir machen also diese Mitarbeiterbefragung. Anschließend 241
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lernen wir, wie wir uns zu unterhalten haben, wenn ich mich salopp ausdrücken darf.« »Richtig. Kommunikation ist zwar die natürlichste Sache der Welt – uns allen wird sie in die Wiege gelegt –, trotzdem klemmt es oft beim Informationsaustausch. Es gibt Konflikte, Missverständnisse, wichtige Dinge bleiben ungesagt, Unwichtiges wird breit getreten. Wir kommunizieren häufig nur einseitig und vergessen, die Perspektiven unserer GesprächspartWas Was heißt Was tun? ner zu beachten. Sie wissen passiert? das? bestimmt, was ich meine.« Es gibt zahlreiche Methoden der »Man kann also nicht professionellen Personal- und nicht kommunizieren. DaOrganisationsentwicklung. Elling von habe ich schon gehört.« versucht mit seiner Auswahl der Henning war erfreut, sich Situation der HEIMEL AG gerecht zu werden. mit der einzigen KommuniEine Mitarbeiterbefragung ist kationsregel, die ihm geläumehr als eine »Stimmungsmesfig war, kompetent zeigen sung«, als Einstieg in ein Entwickzu können. Er glaubte in lungsvorhaben eignet sie sich gut. der Tat zu verstehen, wovon Die Befragung soll helfen, Elling sprach. Dass er einer den Monolog zwischen FirmenTäuschung aufsaß, wurde leitung und Belegschaft in einen ihm erst später bewusst, Dialog zu überführen. Freilich denn Kommunikation war wird Elling noch Mühe haben, Henning vom Nutzen einer »partiein umfassendes Thema. Exzipativen Unternehmenskultur« zu zellente Kommunikatio war überzeugen. für den Berater mehr als eine schematisch lernbare Mitarbeiterbefragung »Informationsvermittlungstechnik« – vergleichbar mit dem digitalen Protokoll einer Datenautobahn –, sie war vielmehr Ausdruck der Identität einer Person und deren Beziehungen. Trotzdem bestätigte Elling Eimels Anmerkung. »Ja. Selbst wenn Sie sich verbal nicht äußern, interpretiert man Ihr Verhalten. Das ist unvermeidlich. Paul Watzlawick, der bekannte Kommunikationsexperte und Autor, hat dieses Phänomen untersucht und als ersten pragmatischen Aspekt menschlicher Kommunikation beschrieben.«
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»Ich lege großen Wert darauf, mich klar auszudrücken«, ergänzte Henning angeregt durch die Bestätigung seines Gesprächspartners und dachte an seine letzte Rede vor versammelter Mannschaft. Elling sparte sich den Hinweis, dass ein weiterer Aspekt gelungener Kommunikation im wechselseitigen Austausch von Informationen zu sehen war. Auf das Thema würde er zu gegebener Zeit zurückkommen. Vorerst erwähnte der Berater noch den letzten Punkt seines Plans: »Schließlich kann ich Ihnen eine Spezialität unseres Hauses anbieten: Eine Art Event, an dem alle leitenden Mitarbeiter teilnehmen. Dazu möchte ich nicht zu viel vorwegnehmen. Punkt 3 soll sozusagen die Krönung des Projekts sein. Damit wird Ihr Führungsteam befähigt, die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen.« »Sie machen mich neugierig! Dann lassen Sie uns so schnell wie möglich beginnen, damit ich möglichst bald erfahre, was es mit dieser geheimnisvollen letzten Maßnahme auf sich hat.« Die Durchführung der Mitarbeiterbefragung wurde auf Anraten von Armin – gemäß der »persönlichen« Unternehmenskultur war man schon bald zum Du übergegangen – ausnahmsweise nicht per INFOVISOR angekündigt. Die Angestellten erhielten stattdessen einen Brief des Vorstandsvorsitzenden zusammen mit einem Fragenkatalog. Mitarbeiterbefragung Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in turbulenten Zeiten. Schon viel haben wir mit unserer jungen Firma erreicht, aber weitere Herausforderungen sind zu bewältigen. Um uns auf die Zukunft vorzubereiten, starten wir heute mit diesem Fragebogen einen Organisa-
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tionsentwicklungsprozess, der von unserem Berater Armin Elling wohlwollend begleitet wird. Zunächst bitten wir euch, den Fragebogen auszufüllen. Ich würde gern wissen, wie eure Stimmung ist, welche Probleme ihr seht und welche Vorschläge ihr habt. Die Fragebögen werden anonym ausgewertet, dafür bürgt Armin mit seinem Team von OE-Consult. Ihr könnt euch darauf verlassen, dass ich eure Meinungen und Anregungen ernst nehmen werde. Die Ergebnisse werden umgehend bekannt gegeben und in den einzelnen Bereichen verarbeitet. Eure Meinung zählt! Euer Henning Eimel
Die Reaktionen auf das Anschreiben waren unterschiedlich. Vor allem der Begriff »Organisationsentwicklungsprozess« löste Vorbehalte aus. Noch ein Prozess? War das wirklich nötig? Viele Mitarbeiter waren zudem skeptisch, ob man die Ergebnisse wirklich ernst nehmen würde. Die Aufgeschlossenheit für die Anliegen der Belegschaft, die Eimel in Was Was heißt Was tun? dem Schreiben versprach, passiert? das? war man von der UnternehDie Mitarbeiter wundern sich. Das mensleitung nicht gewohnt. Interesse der Firmenleitung an Aber warum sollten nicht ihren Ansichten ist neu und kommt auch Manager in der Lage ihnen verdächtig vor. Das Misssein, sich zu ändern? trauen ist verständlich, Vertrauen Der Fragebogen gliederte kann nicht herbeigeredet werden. Henning muss sein Versprechen sich in mehrere Abschnitte. einlösen, die »Restoffenheit« der Es ging um die ZufriedenMitarbeiter sollte nicht erneut entheit mit der Arbeit (»Erlebst täuscht werden. du deine Arbeit als reizvolle Herausforderung?«), um die Vertrauen stärken Einstellung der Angestellten
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zum Aktienkurs (– viel zu niedrig, – zu niedrig, – angemessen, – zu hoch, – viel zu hoch) und die Fähigkeiten der Führungskräfte (»Wie beurteilst du die Zusammenarbeit mit deinem Chef?«.) Neben den so genannten »geschlossenen Fragen« mit vorgegebenen Antwortalternativen zum Ankreuzen, gab es außerdem die Möglichkeit, allgemeine Hinweise, Kritik und Anregungen zu notieren. Dazu hatte man bei OE-Consult einige »offene Fragen« formuliert (zum Beispiel: »Was muss sich ändern, damit HEIMEL erfolgreich sein kann?«) Nicht alle Mitarbeiter verspürten Lust, sich zu äußern. Die meisten machten allerdings ihre Kreuzchen dort, wo sie es für richtig hielten. Zudem kommentierten manche die offenen Fragen recht ausführlich, dann steckten sie das Papier in den anonymen Rücksendeumschlag. Die Kollegen der Entwicklungsabteilung nutzten natürlich die Rohrpost, um die Briefe nach oben in die Zentrale zu Frau Ziegler zu schießen, die sie an Armin zur Auswertung weiterleitete.
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Viele Farben Blau
Holm schaute nach draußen, um sich in der neuen Umgebung zu orientieren. Aber wohin er auch blickte, er sah blau. Bis zum Horizont war alles von dunkelblauem Licht durchtränkt. Kein Mensch irritierte das Auge, kein Baum behinderte die Sicht, keine Straße verschandelte die Landschaft. Darüber schwebte der Himmel, natürlich in himmelblau. Für Holm war es wieder einmal eine neue Erfahrung: Er fand keine Fixpunkte, auf die er sich verlassen konnte. Die Aussichten waren neutral, in jeder Hinsicht. Nicht einmal der eigene Standort war definiert, denn unter den Füßen spürte er sanfte Wogen. Holm befand sich in der Luxus-Außenkabine der MS Giant Dominator of the Seas, die er für seine Kreuzfahrt ausgewählt hatte. Genau genommen hatte er das Schiff nicht selbst ausgesucht. Es war ihm von der Touristikfachfrau im Reisebüro empfohlen worden, nachdem er ihr seinen Wunsch nach einer Weltreise vorgetragen hatte. Im Grunde war die MS Giant Dominator of the Seas auch kein Schiff, sondern als größter Luxusliner der Welt ein Monstrum. Und letztlich befand er sich in dem Meeresungeheuer auch nicht nur deshalb, weil ihm eine wildfremde Person eben dieses Angebot unterbreitet hatte. Bestimmt hatten sich auch Holms Vorstellungen von einer Traumreise auf die Entscheidung ausgewirkt. Er wollte etwas sehen von der Welt und Außergewöhnliches erleben. Geld spielte keine Rolle, es war nur Mittel zum Zweck. Das hatte Holm Frau Bantin, der Spezialistin in Sachen Fernweh, klar gemacht; ihr Verständnis hatte sie mit einem Augenzwinkern quittiert. Möglich, dass dieser Wimpernschlag Einfluss auf sein Leben nahm, sinnierte Holm, während seine Augen die unterschiedlichsten Schattierungen dieser Welt entdeckten – von marine bis azur. Je länger er durch das Bullauge spähte, um so differenzierter nahm er seine Umwelt wahr. Die anfangs uniforme Fläche gliederte sich bald in vielfältige Segmente, die als glitzerndes Ensemble auf dem Wasser tänzelten.
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Der Flügelschlag des Schmetterlings kann die Welt verändern, davon hatte Holm im Zusammenhang mit der so genannten Chaostheorie schon gehört. War es tatsächlich möglich, dass Frau Bantins Augenaufschlag über seine Zukunft entschieden hatte? Sie war bezaubernd gewesen, Frau Angelika Bantin, so viel hatte ihr Namensschild preisgegeben, aber trotzWas Was heißt Was tun? dem: Ging es nicht ein bis- passiert? das? schen weit, dass sie sich so Holm hat sein altes Leben hinter in sein Leben einmischen sich gelassen. Es scheint paradox: durfte? Wie auch immer, es Indem er sich der Unsicherheit war nicht zu leugnen, dass einer neuen Zukunft stellt, beweist Holm sich in einer der er den Mut, der ihn als guten Manakomfortabelsten Kabinen ger auszeichnen würde. Doch Mitdes größten je gebauten Pasarbeiter hat er nicht mehr anzuleiten. Stattdessen muss er sich neu sagierschiffes aufhielt. orientieren, und man kann sich Schon seit mehreren Tavorstellen, dass das auf den gleichgen war Holm auf großer förmigen Ozeanen dieser Welt Fahrt. Nach und nach ernicht einfach ist. Holm muss sich kundete er das Monstrum nun ganz auf sich selbst verlassen. der Weltmeere, doch noch immer erwies sich die Unsicherheit und Mut Orientierung außerhalb wie innerhalb des Stahlkolosses als schwierig. Das Labyrinth der Gänge, Decks, Säle, Lounges, Einkaufs- und Unterhaltungszentren war schlicht überwältigend. Das Schiff war eine Kleinstadt für sich. Alles, was man zum Leben benötigte, war vorhanden. Und sogar ein wenig mehr, selbst einen Golfplatz sollte es geben. Holm hatte ihn noch nicht entdeckt, obwohl es sich um einen richtigen Golfplatz und nicht um eine Minigolfanlage handeln musste. Er würde bei Gelegenheit danach suchen, denn die Möglichkeit, Golf spielen zu lernen, wollte er sich nicht entgehen lassen. Doch abgesehen davon, dass Holm den Golfplatz noch nicht gefunden hatte, war der Aufenthalt auf dem Motorschiff äußerst angenehm. Jedenfalls für die Urlauber, die von einem Heer Bediensteter umfassend ver247
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wöhnt wurden. Ständig fühlte Holm sich von hilfsbereiten Geistern begleitet, die ihm seine Wünsche von den Augen abzulesen suchten. Am ersten Tag war er von einem Steward in den Speisesaal geleitet und dem Kapitän persönlich vorgestellt worden. Der Zimmerservice war perfekt, und selbst die Schuhe wurden täglich frisch gewienert. Holm bekam deutlich zu spüren, dass er in der teuersten Kategorie eingebucht war. Frau Bantin hatte sein Anliegen einwandfrei verstanden und ihren Augenaufschlag wohl begründet zum Einsatz gebracht. »Möchten Sie einen Drink, Herr Kenning?«, erkundigte sich jemand in nahezu akzentfreiem Deutsch. Das fragende Gesicht strahlte mit der weißen Uniform samt Goldtressen um die Wette. Wenn Holm es nicht besser gewusst hätte, dann hätte er den Gentleman mindestens für einen Offizier der Kriegsmarine im GalaOutfit gehalten. Doch inzwischen kannte er Mike, den freundlichen Getränkesteward, er musste nicht stramm stehen zum militärischen Gruß. Stattdessen räkelte sich der Weltenbummler auf seinem Liegestuhl in der Südseesonne. Vielen Dank, Mike, im Moment bin ich zu müde, um einen erfrischenden Cocktail entgegenzunehmen. Fragen Sie mich doch in fünf Minuten noch einmal, hätte er beinahe gesagt. Doch Mike war ein netter Typ, es gab keinen Grund, ihn zu provozieren. Abgesehen davon, würde er in fünf Minuten ohnehin noch einmal fragen. »Vielen Dank, Mike, im Moment nicht. Das Wetter ist einfach traumhaft schön.« So war es, seitdem Holm sich an Bord befand. »Von mir aus bräuchte es nie mehr zu regnen.« »Sehr wohl, Sir.« Mike gab Holm das Gefühl, dass er ihm sogar diesen Wunsch erfüllen konnte. Die Steigerung von Luxus musste Bevormundung sein, dachte Holm, bevor er sich wieder seiner Lektüre zuwandte. Da er sein Leben noch nicht wirklich untätig genießen konnte, hatte er sich vor der Abfahrt eine stattliche Reisebibliothek zugelegt. Beinahe wahllos hatte
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Holm die Wirtschaftsabteilung der Buchhandlung geplündert. Nach seinem ersten Misserfolg vor einigen Monaten, die Gesetze der Weltwirtschaft zu durchschauen, wollte er nun einen neuen Versuch wagen. Vielleicht konnte er in entspannter Atmosphäre ergründen, wie erfolgreiche Firmen funktionierten und warum andere Unternehmen in den Ruin drifteten. Die Werke, die er in einem eigenen Koffer eingeschifft hatte, beanspruchten ein ganzes Regal in seiner Kabine. Die Bücher handelten von ehrgeizigen Unternehmern, sie dokumentierten den Aufstieg weltbekannter Konzerne, den Abstieg anderer Firmen, die nicht mehr so berühmt waren, und sie erklärten angeblich unverzichtbare Managementmethoden. Der Bogen spannte sich von Themen wie Führung und Motivation bis hin zu Fachgebieten wie dem Shareholder-Value-Ansatz und der unvermeidlichen Prozesstheorie. Die Abhandlungen erschienen als Biografien, in Form von Erfahrungsberichten oder als wissenschaftliche Elaborate. Neuerdings wurde Wirtschaftswissen sogar in Romanform angeboten! Holm staunte über die Vielfalt, die meisten Werke waren auch recht interessant und unterhaltsam zu lesen. Gerade war er vertieft in ein Buch von Henry Tim Simmons, der vor Jahrzehnten als kleiner Unternehmer mit einem Haushaltswarenladen angefangen hatte. Akribisch beschrieb der Autor seine Laufbahn vom Kaufmann zum Chef eines weltweiten Handelskonzerns. Die Leistungen dieses H. T. Simmons waren beeindruckend, dabei war sein Erfolgsrezept überaus einfach. Vor allem ging es darum, dem Leben Sinn zu verleihen. Damit meinte der Multimillionär, dass man möglichst das tun sollte, was man aus tiefster Seele befriedigend fand. Holm schien das einfacher gesagt als getan in einer Zeit, in der Machtgier und Konkurrenz die Welt beherrschten und die Werbung den Einzelnen in alle Richtungen zerrte. Wie konnte man in einer solchen Welt, in der man eher fremd- als selbstbestimmt leben musste, Bedürfnisse überhaupt wahrnehmen? 249
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»Möchten Sie nun einen Drink, Herr Kenning?«, fragte Mike den vor sich hin sinnierenden Gast im Liegestuhl. Unwillkürlich hatte Holm seine bedeutungsschwere Überlegung mit einem Seufzer untermalt. Mike war nicht nur freundlich, sonWas Was heißt Was tun? dern auch zuvorkommend. passiert? das? Angenehm war, dass er daHolm spürt seinen Bedürfnissen rauf verzichtete, Holm mit nach. Was will er und was braucht seinem Angebot zu bedräner tatsächlich in seinem Leben? gen. »Gern, Mike. Bringen Die Frage ist alles andere als trivial. Sie mir bitte einen CocoWir hetzen nur allzu oft den falschen Zielen hinterher, ohne zu kiss.« Eine alkoholfreie Ermerken, welchen Preis wir dafür frischung mit Kokosmilch, bezahlen. Ananassaft und anderen leckeren Zutaten würde ihm Was brauchen wir wirklich? gut tun. Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn war Simmons offenbar ganz in seinem Job aufgegangen. Die Verkaufstätigkeit hatte ihm Spaß gemacht. Es war ihm gleichgültig gewesen, ob seine Kunden ein 64-teiliges Service erstehen wollten oder ihn nur um eine Beratung baten. Die Arbeit war notwendiger Broterwerb und Lebensinhalt zugleich gewesen. Simmons betonte, dass er in den Anfangsjahren nie damit gerechnet hätte, einmal ein Firmenimperium zu leiten, und doch war es eines Tages so weit gewesen. Als CEO – also Chief Executive Officer, wie man den Vorstandsvorsitzenden neuerdings nannte – hatte er auf dem Chefsessel Platz genommen. »Ihr Cocokiss, Sir«, sagte Mike und reichte Holm den Drink, der in dem beschlagenen Glas mit Zuckerrand und exotischer Garnierung zur unwiderstehlichen Versuchung wurde. »Vielen Dank, Mike. Sagen Sie: Gefällt Ihnen Ihr Job hier an Bord?«, erkundigte sich Holm. »Ja Sir, sehr gut sogar.« »Können Sie sich vorstellen, irgendwann selbst ein Touristikunternehmen zu leiten?«
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»Sie meinen, ob ich einmal Firmenchef sein möchte? Das ist eine gute Frage. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Holm probierte seinen Cocokiss, der ihn mit sahnigem Schaum und fruchtigem Aroma verführte. »Mike«, erklärte er bestimmt, »Ihre Drinks sind großartig. Ich denke, Sie haben die besten Voraussetzungen.« »Danke, Sir.« Der Reedereiangestellte strahlte noch ein wenig intensiver als üblich im Sonnenlicht. Eine sinnvolle Tätigkeit war für Simmons die wichtigste, aber nicht die einzige Voraussetzung eines erfüllten und erfolgreichen Berufslebens. Vor allem durfte die Karriere nie Selbstzweck Was Was heißt Was tun? sein. Es klang paradox, doch passiert? das? genau dies war die zweite An zwei Leitsätzen hat sich H.T. Erkenntnis, die Simmons Simmons in seinem Managerleben seinem Managerleben abgeorientiert. Das klingt nach wenig, in wann: Sobald man die Ereinem Ratgeber habe ich kürzlich folgsleiter emporstieg und die 93 wichtigsten Regeln der zu den Mächtigen gehörte, Managementkunst entdeckt. Doch vielleicht ist es weitaus entscheihatte man eben diese Macht dender, unser Tun als sinnhaft zu wieder zu teilen und die erleben, und vielleicht ist es wichMitarbeiter partizipieren zu tig, Erfolge zu teilen, weil man sich lassen. Der Umgang mit 93 gutgemeinte Tipps einfach nicht Macht wollte geübt sein. merken kann. Simmons berichtete in seinem Buch auch von RückSinn und Erfolg schlägen und Enttäuschungen. Trotzdem trugen Manager seiner Meinung nach die Verantwortung, die Rahmenbedingungen abzustecken und die Arbeit so zu gestalten, dass sich auch die Mitarbeiter im Bereich ihrer Möglichkeiten entwickeln konnten. Diese Grundhaltung sei zum Vorteil aller und bilde nicht zuletzt die Basis des wirtschaftlichen Erfolges und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Holm ließ sich die Thesen des Henry Tim Simmons durch den Kopf gehen. Man konnte ahnen, dass sie die Summe der Lebenserfahrung eines reifen Menschen 251
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waren. In zwei Sätzen fasste der Manager schließlich seine Überzeugungen zusammen: Gib deinem Leben Sinn Lass andere teilhaben an deinen Erfolgen Die Botschaften waren an Schlichtheit kaum zu übertreffen und doch in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Nachdenklich klappte Holm das Buch zu, um kurz darauf zufrieden einzunicken. Die Sonne der Südsee brannte vom Himmel und sorgte dafür, dass sein Körper zunehmend Farbe annahm. Doch Holm konnte unbesorgt schlafen. Mike würde ihn rechtzeitig wecken, bevor er sich die Haut verbrennen würde. Der Steward besaß tatsächlich die besten Voraussetzungen, eines Tages ein guter Firmenchef zu werden. So fern war Holm der Heimat, und doch genügte ein Tastendruck, um die Botschaft via Datenautobahn um die halbe Welt zu jagen und in Karins elektronischem Postkorb abzulegen: Liebe Karin, nun melde ich mich wie versprochen von unterwegs. Mit dem größten Schiff der Welt kreuze ich in der Südsee und übe mich in Faulheit. Es ist sehr schön hier auf dem Pott. Es fehlt mir kaum etwas, abgesehen von deiner anregenden Gesellschaft. Oft denke ich an deine »barocke Philosophie«, und gern würde ich interessante Fragen mit dir besprechen. Zum Beispiel: Wie lebt man ein sinnerfülltes Leben, und wie lässt man andere teilhaben an seinen Erfolgen? Ich hoffe, es geht dir gut. Gib mir Bescheid, falls Henning dich ärgern
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sollte! Dann werde ich ihm die Leviten lesen und ihm beibringen, wie man mit Schätzen wie dir umzugehen hat. Es grüßt dich ganz lieb Holm, irgendwo in der Südsee
Holm saß an dem Computer, der samt Internetanschluss zur Ausstattung der Luxussuite der MS Giant Dominator of the Seas gehörte. Von dort pflegte er den Kontakt zu seinem alten Leben. Jeder Internettrip riss ihn zwar ruppig aus der Urlaubsstimmung, doch Holm konnte auf die regelmäßige Verbindung mit der Heimat noch nicht verzichten. Auch die Entwicklung der HEIMEL AG, die er anhand des Börsenkurses verfolgte, lag ihm am Herzen. Leider bereitete ihm das wenig Freude, denn der Kursverlauf seiner Ex-Firma zeigte eindeutig abwärts.
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Machtschock
Inzwischen war Armin Elling in den Räumen der HEIMEL AG ein bekanntes Gesicht. Um sich zu informieren und seinen Eindruck vom Unternehmen zu vertiefen, hatte der Berater sich in allen Abteilungen vorgestellt, Gespräche geführt und an Meetings teilgenommen. Langsam tauten die Mitarbeiter ihm gegenüber auf, manchmal traten sie sogar schon von sich aus mit bestimmten Anliegen an ihn heran. Doch trotz der guten Akzeptanz bewahrte sich Armin seinen Abstand und wehrte sich geschickt gegen eine Vereinnahmung durch einzelne Interessenvertreter. Nur dadurch, dass er seine Rolle als außenstehender Beobachter schützte, konnte er der Firma eine Hilfe sein. Auch Eimel gegenüber nahm er diese Position ein, Elling ließ sich nicht zum verlängerten Arm des Was Was heißt Was tun? Vorstands machen. Das passiert? das? zeigte sich deutlich, als der Es ist wichtig, dass der externe BeBerater dem Firmenchef die rater seine außenstehende PosiErgebnisse der Mitarbeitertion beibehält. Auch er kann Veränbefragung vorlegte. derungen nicht erzwingen. Dank Henning musste sich seiner Rolle hat er jedoch spezielle zusammenreißen, obwohl Möglichkeiten, positiv auf die SituaElling ihm nur die bloßen tion einzuwirken. Daten präsentierte und sich Außenstehend heißt allerdings mit Schlussfolgerungen zunicht »neutral«, selbstverständlich muss Elling sich ein Bild des Unterrückhielt. Mehrmals musste nehmens machen und Stellung beder Firmengründer schluziehen. Das Vertrauen der Auftragcken, Armin konnte sehen, geber ist unerlässlich, nicht zuletzt wie Henning mit sich rang. deshalb, um der Unternehmenslei»Das sind also die tung nötigenfalls auch unbequeme Ansichten meiner MitarbeiWahrheiten vermitteln zu können. ter?« Es war eine rhetorische Frage. Henning rechDer externe Berater nete nicht ernsthaft damit, dass man bei OE-Consult die Fragebögen mit denen einer anderen Firma verwechselt hatte. »Am liebsten
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würde ich Ihnen den Auftrag entziehen. Aber Sie sind nur Überbringer der Botschaft, wenn ich Ihnen auch unterstellen möchte, dass Sie mit diesen Ergebnissen gerechnet haben. Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?« Während Henning sich um Fassung bemühte, war Armin froh, dass er in einer Zeit leben durfte, in der die Übermittler schlechter Nachrichten nicht gesteinigt wurden. Zufrieden registrierte er, dass die meisten Mitarbeiter an der Befragung teilgenommen hatten und der Vorstandsvorsitzende die Ergebnisse nicht rundum ignorierte, sondern sich ernsthaft betroffen zeigte. Mehr hätte er zu diesem Zeitpunkt nicht erreichen können. »Es ist wichtig, dass die Mitarbeiter Ihre Ansichten frei äußern können.« Eimel zuckte merklich zusammen, doch schließlich erfasste er, worauf sein Berater hinauswollte. »Partizipation scheint eines Ihrer bevorzugten Hobbys zu sein.« Nachdenklich blätterte Henning durch den Ergebnisreport. Von Anfang an hatte er nur Gutes im Sinn gehabt. Er wollte seine Ideen verwirklichen, erfolgreich sein und Arbeitsplätze schaffen. Und nun das! Sicher, als Firmenchef besaß er Macht. Das war angenehm, aber nie hatte er geplant, jemanden auszunutzen oder seine Angestellten gar zu missbrauchen. Doch genau das hielten die Mitarbeiter ihm mehr oder weniger unverblümt vor. Die Fragebögen enthielten Anmerkungen, die direkt an den Vorstand gerichtet waren. Kommentare wie »Autoritäres Management«, »Vereinbarungen werden nicht eingehalten« und »Eimel schwingt nur große Reden« gehörten zu den kritischen Unmutsäußerungen. Auch die Ergebnisse zur Stimmung, Zufriedenheit und den Leistungen der Vorgesetzten waren ernüchternd. Für Henning war das Befragungsergebnis ein Schock. »Wieso haben mir die Leute ihre Ansichten nicht längst schon mitgeteilt?«, wunderte sich der Firmenlenker. »Wir haben doch ein gemeinsames Ziel und profitieren zusammen vom Unternehmenserfolg.« 255
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Elling hätte Eimels Fragen beantworten können, doch er widerstand der Versuchung. Es schien ihm wichtiger, dass sein Auftraggeber seine Angestellten ernst nahm. Jetzt war nicht der Moment für vorschnelle Antworten, Henning brauchte Zeit. Was Armin auch gesagt hätte, er hätte Hennings Nachdenklichkeit höchsten gestört. Einige der neuen Mitarbeiter beklagten sich heftig über die Art ihrer Einarbeitung. »Es ist unglaublich, dass jegliche organisierte Fortbildung verboten ist« und »Training on the job grenzt an Ausbeutung« lauteten zwei weitere Kommentare, die Eimel lesen musste. Der Vorstandsvorsitzende Was Was heißt Was tun? hatte bis dahin nichts von passiert? das? dem Gerücht zur Aus- und Manchmal ist es nahezu unmöglich, Weiterbildung gehört, das den Zusammenhang zwischen dem innerhalb des Traumschiffs eigenen Verhalten und bestimmten wucherte. Die Angestellten Ereignissen zu erkennen. Selbst hielten ihn nach wie vor für Nachdenken hilft oft nicht weiter, den Urheber der vermeintwir sind stattdessen auf Informatiolichen Richtlinie; Eimel war nen von außen angewiesen. Deshalb benötigt Henning Ellings Hilfe fassungslos. »Wie konnte es und die Rückmeldung seiner Mitnur zu diesem Missverständarbeiter, um endlich zu verstehen, nis kommen?«, fragte er Elwie sein Führungsstil sich auf das ling. Zum ersten Mal keimte Unternehmen auswirkt. in Henning die Erkenntnis, dass seine Firma nur durch Blinde Flecken entscheidende Veränderungen zu retten war und dass vor allem er neue Wege einschlagen musste. Es wurde nicht alles gut, nur weil er es sich wünschte und weil er nichts Schlechtes wollte. So einfach war es nicht. Mit ehrenwerten Absichten, Visionen und Ansprachen allein war es nicht getan. Elling schlug vor, die weiteren Schritte nicht sofort zu planen. Er wollte Eimel Zeit geben, damit er die unangenehmen Wahrheiten verdauen konnte. Trotzdem – und gerade deshalb – würde er jederzeit ansprechbar sein. »Zum nächsten Termin bringe ich Ihnen die Vorschläge zur Durchführung der Kommunikationstrainings mit.«
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Henning Eimel hatte keine Einwände. Er fühlte sich überhaupt sprachlos, was selten genug vorkam. Als Elling sich im Sekretariat verabschiedete, berichtete Frau Ziegler, dass sie ein Lebenszeichen von Holm erhalten habe; per E-Mail: »Herr Kenning grüßt Sie recht herzlich. Er dümpelt in der Südsee, und es geht ihm offenbar blendend.« »Wie schön!« Eimel kommentierte die Nachricht mit verkniffener Miene. »Antworten Sie ihm bitte, dass wir auf Erfolgskurs sind. Er wird sich wundern, falls er eines Tages zurückkommen sollte.« Kurz hielt er inne, dann überlegte er es sich anders. »Nein, Frau Ziegler, lassen Sie das. Ich werde ihm nachher selbst ein paar Zeilen schreiben.« Es war bemerkenswert, wie sich die Themen glichen, mit denen Holm und Henning sich unabhängig voneinander beschäftigten. Beide waren auf eigenen Wegen auf die Fragen zum Umgang mit Macht gestoßen. Henning war in Ellings Begleitung an einen Punkt gelangt, an dem er diesem Thema nicht mehr ausweichen konnte, dagegen hatte Holm in entspannter Position im Liegestuhl einen anderen Zugang durch das Buch von H. T. Simmons gefunden. Holm sollte auch noch das Glück haben, seine Einsichten mit zusätzlicher Unterstützung zu vertiefen. Doch zunächst machte ihm etwas anderes allmählich zu schaffen: Auf dem Schiff war er nahezu ausschließlich von älteren Damen und Herrschaften umgeben. Trotz seiner guten Vorbereitung hatte er übersehen, dass Luxusreisen kaum von jungen Leuten gebucht wurden. Es war schon eine Frage der Finanzkraft, ob man es sich leisten konnte, sich auf der MS Giant Dominator of the Seas einzumieten. Abgesehen davon wurden Kreuzfahrten offenbar als krönender Abschluss einer steilen Karriere angesehen. Allmählich wurde Holm bewusst, dass er eine für sein Alter untypische Reise unternahm. Ob in den zahlreichen Pools oder auf den noch unzähligeren Lie257
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gen, überall erholten sich sorgfältig getönte Damen und in Ehren ergraute Herren von den Strapazen des Lebens. Sie bevölkerten die Einkaufszentren und Boutiquen, sie besetzten die Fitnessstudios, sie vereinnahmten die Spielkasinos und okkupierten allabendlich die Tanzsäle. Trotz der großzügigen Abmessungen des Schiffes empfand Holm eine zunehmende Enge, bald fühlte er sich wie ausgeschlossen von dieser eigentümlichen schwimmenden Miniwelt. Langsam ärgerte ihn diese Invasion von Rentnern, die offenbar der Meinung waren, das Schiff für sich allein beanspruchen zu können. So war es natürlich nicht, niemand sperrte Holm von irgendeiner Veranstaltung oder Vergnügungsmöglichkeit aus, doch trotzdem fühlte er sich immer unwohler. Besonders missmutig sah Holm den Mahlzeiten entgegen; man hatte ihm einen festen Platz an einer großen Tafel zugewiesen. Gerade Abends erschien ihm das Ritual zwanghaft, denn man hatte in gepflegter Kleidung im Restaurant zu erscheinen. Der vornehme »Dresscode« war zwar nicht ausdrücklich vorgeschrieben, aber ebenso wenig zu umgehen, und mit seinen Tischnachbarn hatte Holm auch nach Tagen nicht mehr als zehn Sätze gewechselt. Das reichte ihm, um die seiner Meinung nach uninteressante Gesellschaft gut genug zu kennen. Ein paar Tage später allerdings musste er seine Ansicht revidieren, denn sein Gegenüber, ein Herr, den Holm im Stillen »Grauschläfe« nannte, begann ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Offenbar hielt der Mann es nicht länger aus, Abend für Abend mit einem schweigenden jungen Burschen bei Tisch konfrontiert zu sein. So erfuhr Holm, dass Grauschläfe eigentlich Simonis hieß und ursprünglich auch aus Deutschland stammte. Vor vielen Jahren war er ausgewandert, um sein Glück in den Vereinigten Staaten zu suchen, wo er es schließlich auch gefunden hatte. Interessiert plauderte Herr Simonis zunächst über Belanglosigkeiten, schließlich entlockte er Holm einige Informationen über seinen Beruf.
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»Geschäftsführer waren Sie also schon? In Ihrem Alter?«, zweifelte Herr Simonis. »Und Sie haben Ihren Job einfach hingeschmissen?« »Nicht einfach«, widersprach Holm. »Es gab einige Schwierigkeiten. Es ist nicht leicht, ein Unternehmen zu lenken.« »Sicher. Ein Südseetrip ist verglichen mit dem Manageralltag natürlich angenehmer.« Abgesehen von Holm selbst registrierten alle am Tisch, dass Grauschläfe ihn provozieren wollte. Die anderen Gespräche verstummten, etwas Außergewöhnliches unterbrach die Urlaubsroutine. Niemand wollte eine mögliche Abwechslung versäumen. »Man hat hier den Kopf endlich frei, um über grundlegende Dinge nachzudenken. In meiner Firma war das nicht möglich. Es war einfach zu hektisch, immer hatte das Tagesgeschäft vorrang.« Holm ließ sich nicht aus der Ruhe bringen; fast enttäuscht über die ausbleibende Eskalation nahmen die Tischgenossen ihre Gespräche wieder auf. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen«, antwortete Simonis nun sachlich. »Man fühlt sich wie in einer Tretmühle, ständig ist man mit angeblich dringenden Dingen beschäftigt, doch im Grunde bleibt keine Zeit für die wichtigen Aufgaben.« »Genau«, erwiderte Holm. Grauschläfe schien ihn zu verstehen. »Hier kann man zum Beispiel interessante Bücher lesen. Kennen Sie H. T. Simmons, den erfolgreichen amerikanischen Manager? Er schreibt, dass es wichtig sei, seinem Leben einen Sinn zu geben und eine partizipative Unternehmenskultur zu entwickeln. Jetzt überlege ich, wie man diese Ideen wohl umsetzen könnte.« Zu Holms Überraschung entpuppte sich sein Gesprächspartner als Kenner von Simmons’ Büchern und zudem als Ex-Firmenchef im Ruhestand. Auch Herr Simonis hatte Jahre gebraucht, um seinen persönlichen Managementstil zu finden. Simmons’ Grundhaltungen fand er ebenso beeindruckend wie Holm. 259
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Was passiert?
Was heißt das?
Was tun?
Im Lauf der nächsten Tage gestaltete sich der Aufenthalt auf der MS Giant Dominator of the Seas weitaus angenehmer für Holm. Die Mahlzeiten bedeuteten jetzt keine lästigen Unterbrechungen mehr im Tagesablauf, oft und angeregt unterhielt er sich von nun an mit seinem erfahrenen Gesprächspartner. Holm erzählte von den Managementbüchern, die er in raVerschiedene Entwicklungswege santem Tempo verschlang, während Simonis Anekdoten aus seinem beruflichen Erfahrungsschatz zum Besten gab.
Holm und Henning wandern auf unterschiedlichen Pfaden, allerdings in ähnliche Richtungen. Beide beschäftigen sich mit dem verantwortungsbewussten Umgang mit Macht. Während Holm entspannt in Büchern schmökert und eine interessante Bekanntschaft macht, kämpft Henning mit Armins Hilfe um die Zukunft seiner Firma. Es gibt eben verschiedene Möglichkeiten zu lernen; wieder begegnet uns die Vielzahl der Optionen, die das Leben anzubieten hat.
Unterdessen hatte Henning Eimel sich die Kritik seiner Mitarbeiter tatsächlich zu Herzen genommen. Noch Tage nach der Besprechung mit Armin war er in sich gekehrt. Mehrfach war er zwar versucht, die Meinungen seiner Mannschaft zu ignorieren – so wie er es bisher oft getan hatte –, dann wieder wollte er entschlossen Konsequenzen ziehen. Doch welche? Henning hatte noch nie unter einem übermäßigen Drang zur Nachdenklichkeit gelitten, auch anhaltende Sorgen waren ihm fremd. Als Manager wollte er ein Mann der Tat sein, deshalb fühlte er sich nun unsicher und unbeholfen. Es war eine scheußliche Situation. Mit Armin Ellings Hilfe versuchte der Vorstandsvorsitzende aber weiter, dem Niedergang der Firma entgegenzusteuern. Als nächster Schritt wurden die Befragungsergebnisse innerhalb der Abteilungen besprochen. Henning signalisierte seine Bereitschaft, auf Kritik einzugehen, und Arbeitsgruppen sollten schließlich die Anliegen und Vorschläge der Belegschaft formulieren. Nach zum Teil heftigen Diskussionen, die Elling trotz
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manchmal aufbrausender Emotionen gekonnt moderierte, war Eimel auf alles gefasst. Doch die Wunschliste war erstaunlich kurz. Den Mitarbeitern schien es nur um Kleinigkeiten zu gehen: Sie beschäftigten sich mit der Planung des jährlichen Betriebsausfluges und bestanden darauf, an individuellen Fortbildungen teilnehmen zu können. Eimel und selbst sein Berater waren verwirrt. Der Vorstandsvorsitzende wunderte sich, dass niemand die nunmehr auch seiner Meinung nach verbesserungswürdige Unternehmensorganisation kritisierte. Im Gegenteil, die Softwarespezialisten wollten in ihren Kellerräumen bleiben, der Zugang sollte weiter vom INFOVISOR kontrolliert werden, und die Rohrpost hatte mittlerweile sogar Kultstatus erreicht. Man wollte sich nicht von der altmodischen Anlage trennen, sie gehörte nun zur Firmenkultur – so wie früher das Begrüßungsritual. Es galt inzwischen als cool, die Nachrichten in den klobigen Transportkapseln zu verstauen, den robusten Klappenmechanismus eigenhändig zu verriegeln und die Zylinder mit zischender Pressluft abzufeuern. Es gab sogar eine Projektgruppe, die sich damit befasste, das graue Rohrleitungssystem künstlerisch in Pop-Art-Manier zu verschönern. Auch an dem »Erfolgsmonitor« über dem Haupteingang störte sich kein Mensch, bis Henning selbst es leid war, permanent an den sinkenden Aktienkurs erinnert zu werden. So kam es, dass die Anzeige eines Tages sangund klanglos verschwand. Die Demontage des Gerätes, dass den Niedergang der Softwarefirma ungeniert hinausposaunt hatte, war das deutlichste und einzig sichtbare Zeichen für den Kurswechsel des Traumschiffes. Während die Crew im Zuge der zweiten Phase von Armins Entwicklungskonzept in Seminaren geschult wurde, trafen Eimel und Elling sich weiterhin regelmäßig. Sie diskutierten wieder und wieder die Position und die Möglichkeiten, ruhige Gewässer zu erreichen. Doch die Situation wurde immer bedrohlicher. Selbst Elling wirkte bald ratlos, trotz der eingeleiteten Maßnahmen 261
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schien der Erfolg sich nicht einstellen zu wollen. Es gelang Eimel und seiner Vertriebsabteilung nicht, neue Kunden zu gewinnen, und auch die Zufriedenheit der so genannten Altkunden mit den Produkten der HEIMEL AG war unverändert mäßig. Armin und Henning machten sich nichts vor. Düstere Wolken waren aufgezogen. Ein Sturm braute sich zusammen, dem die HEIMEL Visimatik AG wohl weder ausweichen noch trotzen konnte.
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Neue Energie
Wahrscheinlich hätte Holm im Gegensatz zu Henning und Armin die Veränderungen bemerkt, wenn er durch die Gänge im Bauch des Visimatik-Traumschiffes geschlendert wäre. Doch der ehemalige Entwicklungsleiter befand sich auf seinem eigenen Traumschiff fernab in der Südsee. Niemand spürte, dass sich innerhalb der Firma erneut ein Stimmungswandel vollzog. Zwar wurden die Büros nach wie vor hermetisch durch die automatischen Türen voneinander getrennt, auch jetzt drangen keine akustischen Anzeichen etwaiger Betriebsamkeit nach außen auf die Gänge, doch es war eine eigenartige Ruhe eingekehrt. Noch immer konnte man außerhalb der Büros keine surrenden Drucker, klappernden Tastaturen oder brummenden CompuWas Was heißt Was tun? terlüfter hören, doch nach passiert? das? den Diskussionen um die Was passiert in der EntwicklungsabMitarbeiterbefragung hatte teilung? Wenigstens die Angestelleine anregende Energie das ten, die bisher nicht ganz resigniert lähmende Vakuum aus dem haben, scheinen aktiv zu werden. Untergeschoss des FirmenEs ist kaum vorstellbar, dass gebäudes verdrängt – aber Armin schon nach kurzer Zeit mit weder Henning Eimel noch seinen Maßnahmen einen grundlegenden Wandel herbei geführt Armin Elling ahnten etwas haben könnte. Sollte sich etwa die von dieser neuen konzenSelbständigkeit der Spezialisten trierten Gelassenheit. trotz der widrigen Bedingungen Oft saßen die Programdurchsetzen? mierer beisammen und diskutierten miteinander, was Initiative aber wenig mit den Kommunikationsseminaren zu tun hatte, die inzwischen alle Angestellten der HEIMEL AG durchlaufen hatten. Die Trainings spielten keine Rolle, vielmehr unterhielt man sich über Konzepte und systemtechnische Details, so wie das früher auch der Fall gewesen war. Die Spezialisten trafen sich auch gelegentlich zum Plausch in der Kaffeeküche, doch über Aktienkurse und Börsengurus wurde 263
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nicht geredet, solche Themen spielten keine Rolle mehr. Gleiches galt für die Anleitung zur Kaffeeherstellung und die Richtlinien zur ordnungsgemäßen Nutzung des Kücheninventars. Folglich hatte jemand den »Kaffeeprozess« und die »Anweisungen an alle Küchenbenutzer« von der Wand entfernt. Stattdessen schien ein gemeinsames Thema die Mitarbeiter zu einen. Was sie ausbrüteten, hätten sie allerdings nie preisgegeben, das Vorhaben war geheim. Den Programmierern kam es gerade recht, dass sie in einem nach wie vor isolierten Bereich der Firma ihrer Arbeit nachgingen, wo ihnen noch nicht einmal Henning oder Armin in die Karten sehen konnten.
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Kein Grün in Sicht
Wo hatten die Schiffbauer nur diesen Golfplatz versteckt? So lange hielt Holm sich schon auf der MS Giant Dominator of the Seas auf, doch die Golfanlage hatte er immer noch nicht entdeckt. Keine Spur Grün hatten seine Augen während der zahlreichen Erkundungsgänge durch das Schiff erspäht. Überall dominierte das penetrante Blau. Mittlerweile hatte Holm sich satt gesehen an dieser Farbe, wie sehr hätte er sich über ein Stück naturgrünen Rasens gefreut! Doch nach dem Golfplatz fragen wollte er auch nicht. Jederzeit hätte er sich bei einem der Stewards erkundigen können, die allgegenwärtigen Schiffsbediensteten warteten nur darauf, angesprochen zu werden. Auch Mike hätte ihm sicher geholfen, wahrscheinlich hatte selbst Herr Simonis schon eine Golfpartie gespielt. Doch Holm wollte sich in diesem Fall selbst durchbeißen; ohnehin wurde ihm auf dem Luxusliner jede Anstrengung abgenommen. Deshalb hatte er es sich in den Kopf gesetzt, den Golfplatz selbst zu finden. Schließlich war er auf Entdeckungsreise, und entdeckt hatte er schon einiges während seiner Streifzüge: die Wäscherei im Bugbereich, das Casino mittschiffs hinter der Kommandobrücke, den Maschinenraum tief unterhalb der Wasserlinie – ein Ingenieur hatte ihm sogar eine Führung durch die Motorenhallen angeboten – sowie die Tenniscourts auf dem dritten Achterdeck. Doch von dem Golfplatz, der im Reiseprospekt so vollmundig angepriesen wurde, fehlte jede Spur. Müde kehrte Holm von einer weiteren Tour zurück, die ihn vom Hundezwinger über das Schiffshospital und die Kletterwand bis zum Bowlingcenter mit vierundvierzig Bowling- und zwölf Kegelbahnen geführt hatte. Nach diesem abermals ereignislosen Ausflug ließ Holm sich auf dem Liegestuhl, der stets nur für ihn reserviert war, nieder. Über ihm strahlte die Sonne, wie jeden Tag, vor ihm glitzerte einer der vielen Süßwasserpools, in dem einige Urlauber Schwimmversuche unternahmen. 265
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Kaum dass Holm Platz genommen hatte, kam auch schon Mike auf ihn zu, um ihn mit einem Cocokiss zu trösten. »Guten Tag, Herr Kenning«, begrüßte ihn der Steward. »Möchten Sie einen Drink?« »Sehr gern, Mike.« Der Cocokiss am Nachmittag war ein Ritual, auf das Holm nicht verzichten mochte. Dankbar nahm er den mit bunten Strohhalmen dekorierten Cocktail entgegen. Inzwischen hatte Holm sich beinahe durch seinen gesamten Büchervorrat gearbeitet. Fast alle Werke über die beeindruckenden Unternehmerpersönlichkeiten, die erfolgreichsten Konzerne und die genialsten Managementkonzepte hatte er gelesen. Nur ein Manuskript war noch übrig, der schmale Hefter hatte sich bisher seiner Aufmerksamkeit entzogen. Doch nun, da Holm all die Werke bekannter Autoren abhaken konnte, griff er zu diesem noch verbliebenen Text. Der Titel trug nicht gerade dazu bei, seinen Frust über den wie von der Meeresoberfläche verschluckten Golfplatz vergessen zu lassen: »Grundlagen der entwicklungsorientierten Organisation unter Berücksichtigung spezifisch menschlicher Eigenheiten und neuester handlungstheoretischer Erkenntnisse – Ein Thesenpapier von Rainer Mosler«. Die Schrift hatte sich irgendwo in seinem Schreibtisch versteckt und kurz vor Reiseantritt noch in den Koffer gemogelt. Oje, dachte Holm. Sein erster Impuls glich Roberts Reaktion, der sich viele Monate zuvor unwillig mit dem Text abgeplagt hatte. Mosler?, überlegte Holm, was sagte ihm der Name? Er wusste, dass Rainer Mosler ein HEIMEL-Mitarbeiter gewesen war, der ebenso wie andere Kollegen relativ bald seine Papiere wieder abgegeben hatte. Aber sonst verband er nichts mit dem Namen. Er war sicher, den Autor des Manuskripts nie kennen gelernt zu haben. Schwach erinnerte er sich aber, dass Schmecker, der ehemalige Marketingchef, sich mit dem Papier beschäftigt und es recht interessant gefunden hatte. Vielleicht war das der Grund, warum Holm beschloss, sich den Text trotz des unbequemen Titels ernst-
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haft vorzunehmen. Vielleicht trieb ihn auch sein schlechtes Gewissen, das er als Vorstandsmitglied seine Mitarbeiter besser hätte kennen müssen. Nun konnte er mit der Lektüre dem ehemaligen Mitarbeiter Mosler wenigstens nachträglich die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Wie Robert Kunz so erfuhr auch Holm zunächst einiges über zwei Weltbilder, die »X« und »Y« genannt wurden. Lange sann er über die Beispiele Moslers zur mechanistischen und organismischen Weltsicht nach: die Uhr und das Wetter. Natürlich! Über den Rationalismus hatte Holm ja auch mit Karin im Museum gesprochen. Er erkannte, dass Descartes’ Philosophie das Fundament der mechanistischen Perspektive »X« war, auch Mosler wies auf diese Wurzeln hin. Ob diese Grundhaltung sich tatsächlich entscheidend auf das menschliche Verhalten und die Gesellschaft auswirken konnte? Während Holm sich einen Schluck von dem köstlichen Kokosnussdrink gönnte, versuchte er zu ergründen, wie er selbst dachte und wie er mit seinen Mitmenschen umging. War es möglich, dass er zwischen CompuWas Was heißt Was tun? tern und seinen Freunden passiert? das? keinen Unterschied machHolm schwant Unglaubliches: te? Der Gedanke widerEinerseits versuchen wir, Maschistrebte ihm, aber womöglich nen Verstand einzuhauchen – mit war das aus seiner Perspekbisher mäßigem Erfolg, wie die tive heraus kaum zu beurteiForschungen zur Künstlichen Intelligenz zeigen. Andererseits stellt len. sich die Frage, ob wir in umgekehr»Mike«, rief er den Steter Richtung vielleicht schon große ward. »Sagen Sie mir doch »Fortschritte« erzielt haben: Haben bitte: Fühlen Sie sich von sich die Menschen etwa den mir wie ein Roboter behanMaschinen angenähert und dabei delt?« ihre natürlichen Stärken geopfert? »Wie bitte? Das ist eine Das Szenario einer »künstlichen merkwürdige Frage, Herr Technik« wäre doch geradezu unKenning. Ich weiß ehrlich geheuerlich! gesagt nicht, wie ein RoboKünstliche Technik? ter sich fühlen könnte.« Der 267
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gute Mike war verunsichert. »Soll ich Ihnen den Schirm etwas besser ausrichten?« Entweder war die Sonne wie jeden Tag auf ihrer Bahn ein Stück vorgerückt oder das Schiff hatte seinen Kurs geändert. Auch das war eine Frage der Perspektive und für den wissbegierigen Urlauber nicht zu entscheiden. Ein Beobachter außerhalb der Giant Dominator hätte die Antwort geben können, aber ein solcher Beobachter existierte nicht. Jedenfalls kroch die Sonne langsam vom Haaransatz über die nachdenkliche Stirn, bald schon würde sie Holm blenden. Mit einigen routinierten Handgriffen richtete Mike den Sonnenschirm aus, so dass Holm sich erneut und nunmehr vollständig beschattet den »Grundlagen der entwicklungsorientierten Organisation« nach Mosler zuwenden konnte. Immer intensiver konzentrierte sich Holm auf den Text. Nach dem ersten Abschnitt, über den Robert seinerzeit nicht hinausgekommen war, wurde es noch interessanter. Mosler beschrieb die praktischen Konsequenzen der beiden Grundhaltungen für die Funktion und Effizienz von Organisationen, sowie die Entwicklung der Mitarbeiter. Dieser Teufelskerl formulierte ein Modell, das zahlreiche Schlussfolgerungen im Hinblick auf Führung, Motivation, Zusammenarbeit, Arbeitsgestaltung und andere Aspekte des Managements von Unternehmen zuließ. Um seine Vorstellungen zu verdeutlichen, nannte Mosler häufig Beispiele, die Holm wie aus seinem Leben und seiner Zeit als HEIMEL-Mitarbeiter entnommen zu sein schienen. Ihm wurde klar, dass organisatorische und menschliche Entwicklung eben nicht auf deterministische Weise à la Descartes zu verstehen sind, diese Erklärungsversuche mussten scheitern. Mosler betonte, dass jedem Individuum ein eigener Antrieb innewohne. Er war der Meinung, dass dies eine nicht zu unterschätzende Stärke der Menschen sei, die leider allzu oft ungenutzt blieb. Dem konnte Holm nur zustimmen, auch er hatte ja immer wieder die Initiative seiner Mitarbeiter verlangt. Als Chef
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wäre es jedoch seine Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass seine Mitarbeiter ihr Engagement auch hätten entfalten können. In dem Punkt hatte er versagt. Statt seinen Aufgaben nachzukommen, hatte er sich am Ende selbst nur als ein Rädchen der Unternehmensmaschinerie gefühlt. Holm erinnerte sich, wie er sich in Hennings Kundenprozess hatte einfügen müssen, wie unwohl ihm dabei auch rückblickend noch war und wie widerwillig er die Aufgaben zur Verbesserung der Programme für die AP AG seinen Mitarbeitern zugewiesen hatte. Der Vergleich eines Unternehmens mit einem Räderwerk war laut Mosler grundfalsch. Die Zahnräder eines Getriebes brauchen keinen eigenen Antrieb, sie sind passiv, sie werden angetrieben. Mit menschlichen Eigenheiten und mit der Forderung nach der Initiative jedes Mitarbeiters ist dieses Bild nicht vereinbar. Menschen können sich »unmenschlichen« BeWas Was heißt Was tun? dingungen zwar anpassen, passiert? das? allerdings zum Nachteil der Ich bin mir nicht sicher, ob es gesamten Unternehmung. »entwicklungsorientierte OrganiMotivation und Initiative sationen« tatsächlich gibt. Mosler werden »verlernt« oder ins scheint jedenfalls einige ungePrivatleben verlagert, die wöhnliche Ideen formuliert zu Flexibilität geht verloren, die haben. Er will vor allem auf dieses Organisation erstarrt. Auch Missverständnis hinweisen: dass menschliche Entwicklung eben wenn sich die Räder der nicht in technischen Begriffen imaginären Unternehmensfassbar ist. konstruktion noch drehen Jede Firma muss selbst entmögen, von positiver Entdecken, welche Art Organisation wicklung kann unter solsie sein will. Aber es ist schade, chen Umständen keine dass der deutschen Sprache eine Rede sein. Immer zäher beVokabel fehlt: ein Wort, das uns wegt sich der Mechanismus, helfen könnte, technische und und immer mehr zentrale natürliche »Entwicklungen« auseinander zu halten. Antriebskraft wird benötigt. Derweil häufen sich die Die »entwicklungsorientierte »Verschleißerscheinungen«, Organisation« die Organisation zeigt deut269
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lich die fatale Entwicklung an. Man musste nur auf die Symptome achten. Holm staunte, wie exakt Moslers Schrift auf die Entwicklung der HEIMEL AG zutraf. Sofort kamen dem ehemaligen Abteilungsleiter zahlreiche »Symptome« in den Sinn: der »Kaffeeprozess«, die anonymen Anweisungen zum Umgang mit dem Kücheninventar, die Fixierung der Mitarbeiter auf den Aktienkurs, die schlechte Zusammenarbeit, sein Streit mit Richard und Michael über den Börsenguru Kiener, die zunehmenden Kündigungen, Hennings einseitige Unternehmenskommunikation, seine Unzufriedenheit, die permanente Anspannung und, und, und. Er fand genügend Beispiele für die Alarmsignale einer Fehlentwicklung, die nur der korrekten Interpretation bedurft hätten. Wie blind war er doch gewesen! An den Symptomen hatte er sich aufgerieben, die Zusammenhänge allerdings hatte er nicht erkannt. Ein Unternehmen war also etwas anderes als eine technische Konstruktion. Um die Entwicklungsdynamik zu begreifen, bedurfte es folglich nichttechnischer Ansätze. Dazu erläuterte Mosler in der zweiten Hälfte seines Aufsatzes einige Vorschläge. Gebannt las Holm weiter. Er vergaß die Südsee, das Traumschiff, Mike und sogar seinen Drink. Als Mosler aufzeigte, dass die Welt in ihren Zusammenhängen eben vielfältig und weder kontrollierbar noch beherrschbar war, dachte Holm sofort an Thomas, der ihn mit seiner Spontaneität immer wieder zu beeindrucken wusste. Von Thomas schließlich war es kein weiter Gedankensprung hin zu Dani, die Holm oft genug auf seine Technikgläubigkeit hingewiesen hatte. Wie Thomas, so war auch dessen Schwester ein Musterbeispiel an lebendiger Gelassenheit. Und das war nur eine von vielen Eigenschaften, die Holm so an ihr geliebt hatte. »Was glaubst du eigentlich, wie viel Prozent deines Lebens du kontrollieren kannst? Los, sag eine Zahl!«, hatte sie kurz vor der Katastrophe von ihm gefordert. Sein Magen krampfte sich zusammen, an jenem Tag hatte Dani ihm wirklich übel zugesetzt.
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Als Mosler mit seinen originellen Gedanken zur »Entwicklungsorientierten Organisation« nun in diesen kaum verheilten Wunden stocherte, hätte Holm das Manuskript am liebsten in den Pool zu den planschenden Senioren geworfen. Doch so etwas tat man auf einem Traumschiff nicht. Auf dem Luxusliner musste man höflich, nett und freundlich sein; Gefühle hatte man wohl zu kontrollieren oder in der Kabine zu verstauen. Auch hier regierte ein Gebot der »affektiven Enthaltsamkeit«, genauso wie innerhalb der HEIMEL AG. Man durfte sich nicht geben wie man war, stattdessen musste man sich dem ungeschriebenen Regelwerk unterordnen. Das Leben schien Holm dabei auf der Strecke zu bleiben. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass auf dem Ozeanriesen kein Platz war für seine Trauer und den Schmerz, für seine Kreativität und Energie, und für vieles andere, was seine Person ausmachte. Das Leben an Bord kam ihm mit einem Mal künstlich vor. Die Besatzung und die Urlauber schienen nur die Marionetten einer sich täglich wiederholenden Seifenoper zu sein. Nun war es an der Zeit, den nächsten Schritt zu wagen und den behüteten Teil der Reise zu beenden. Wieder einmal würde das vermeintliche Traumschiff am nächsten Tag vor einer der Trauminseln der Südsee vor Anker gehen. Bisher hatte Holm die Möglichkeit zum Landgang noch nicht genutzt, morgen würde er die Gelegenheit wahrnehmen – und zwar endgültig. Er verabschiedete sich lediglich von den beiden Personen, zu denen Holm während seines Aufenthalts an Bord mehr als höflichen Kontakt gepflegt hatte. Bei Mike bedankte er sich für dessen zuvorkommende Aufmerksamkeit und wünschte ihm eine erfolgreiche Karriere. Holm war sicher, dass der Steward seinen Weg gehen würde. Beim letzten Abendessen erzählte er auch Herrn Simonis von seinem Plan, die ziellose Kreuzfahrt zu beenden. 271
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»Sie überraschen mich«, erklärte Herr Simonis. »Sie sind doch spontaner, als ich dachte.« Das war eindeutig ein Kompliment. Der erfahrene Ex-Manager schien überzeugt zu sein, dass der junge Unternehmer seinen Weg finden würde. »Ich glaube, es ist eine gute Idee«, fügte er hinzu und überreichte Holm seine Visitenkarte. »Hans T. Simonis« stand darauf in vornehmen Lettern gedruckt. Holm achtete nicht weiter darauf und verstaute das Kärtchen ungelesen in seiner Brieftasche. Grauschläfe bat ihn sogar ausdrücklich, ihm von den kommenden Abenteuern auf den vor Grün nur so strotzenden Tropeninseln zu berichten. Das wollte Holm gern tun und zur rechten Zeit würde ihm auch die Ähnlichkeit auffallen zwischen dem Namen auf der Visitenkarte und dem eines ihm wohlbekannten Autors eines Managementbestsellers. In der folgenden Nacht schlief Holm schlecht, unruhig wälzte er sich hin und her. Als er schon gegen vier Uhr erwachte, fühlte er sich etwas zerschlagen, aber doch erleichtert. Wie selbstverständlich öffnete er die Augen und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Erst im nächsten Moment realisierte er die Veränderung: Tatsächlich, problemlos konnte er seine Lider öffnen! Solange Holm zurückdenken konnte, hatte er immer Minuten benötigt, um morgens klar sehen zu können. Es war einfach erstaunlich! Was hatte ihm Karin über Descartes erzählt? Wenn man zu leben versuche, ohne zu philosophieren, dann sei das, als halte man die Augen geschlossen, ohne daran zu denken, sie zu öffnen. Der Philosoph war tatsächlich ein kluger Geist, auch wenn man seinen Rationalismus nicht uneingeschränkt akzeptieren mochte. Holm wollte sich seine Blindheit nun endgültig abgewöhnen. Aufgeregt tigerte Holm einige Schritte durch seine Kabine. War es die Ungewissheit vor dem, was kommen würde? Er hatte keine Pläne, niemand würde ihm bei der Organisation der nächsten Zeit helfen, und er kannte noch nicht einmal den Namen der Insel, die er dem-
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nächst entdecken sollte. Dennoch bereitete ihm die Ungewissheit diesmal keine Sorgen. Holm freute sich sogar darauf, endlich dieses Monstrum von Schiff zu verlassen, auf dem es nichts zu entdecken gab. Vielmehr beschäftigte ihn etwas ganz anderes: Bevor er den nächsten Schritt tun konnte, musste er etwas loswerden, er hatte noch Ballast abzuwerfen. Kurz entschlossen griff er nach dem Koffer mit seiner Büchersammlung, der schon zum Abtransport bereit stand. Dann schleppte er seine »Handbibliothek« durch die Gänge der Giant Dominator bis zum Heck des Schiffes. Als er sich über die Reling des letzten Achterdecks beugte, konnte er das rauschende Meer ahnen, dass tief unten von den Schrauben des Luxusliners zerpflügt wurde. Einige Scheinwerfer kämpften vergeblich gegen das Dunkel der Nacht; ihr Licht verlor sich in der Weite des Ozeans. Selten nur schimmerte die Gischt hell genug, dass Holm glaubte, den Unmut des aufgekratzten Meeres zu spüren. Nun würde er seine Literatur doch in den Pool werfen, dachte er amüsiert. Nicht in die Süßwasserpfütze, in der die verwöhnten Passagiere des Kreuzers zu baden pflegten, sondern in den riesigen Salzwasserbottich, in dem das vorgeblich mächtigste Schiff der Welt umhertrieb wie eine Nussschale in der Badewanne. Einzeln entnahm er die Werke dem Koffer und übergab sie dem Ozean. Von einer warmen Brise einige Meter weit getragen, flogen die Bücher zunächst aufgeregt raschelnd davon, bevor sie lautlos verschwanden. Sicher war es ein Frevel, so mit diesen Schätzen in Schriftform umzugehen, immerhin hatten die Autoren ihn manches gelehrt. Viele kurzweilige Stunden hatte er mit den interessanten Gedanken der Manager, Wissenschaftler, Berater und Wirtschaftsjournalisten verbracht, doch nun wollte er frei sein. Die Ideen waren in seinem Kopf, er trug sie in sich, zu gegebener Zeit konnte er auf die wertvollen Erfahrungen zurückgreifen. Jetzt aber musste er alles über Bord werfen. Auch das Werk H.T. Simmons teilte dieses 273
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Schicksal, ebenso ein auffälliges Buch, dessen Cover bunt gestaltet und mit lustigen Fischen verziert war. Wie passend, dachte Holm, als er auch dieses dem Meer übergeben hatte. Bei Moslers Manuskript machte er sich sogar die Mühe, die Blätter der »Grundlagen der entwicklungsorientierten Organisation« einzeln dem Hefter zu entnehmen und in die Nacht zu entlassen. Wie Möwen segelten die Bögen eine Weile im Wind und vollführten einen Abschiedstanz in den Heckwirbeln des Schiffes.
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Wake up! IV
Der Kontrast zwischen dem IMAGE und der Cocktailbar hätte nicht größer sein können. Im Gegensatz zur Diskothek verirrten sich in die Bar nur wenige Nachtschwärmer; im Hintergrund war leise Musik zu hören. Frank Sinatra sang »My Way«, elegant manövrierte Holm Kenning Dani durch den wunderbaren Abend, selbst Franky hätte das nicht souveräner gemacht. Das musste begossen werden. Dani bestellte einen Daiquiri, während Holm sich kaum an sein Lieblingsgetränk erinnern konnte. Hatte ihm vielleicht doch jemand mit dem »Eraser« das Gedächtnis gelöscht? Nein, Gott sei Dank, jetzt erinnerte er sich vage: »Einen Martini bitte!«, rief er dem Barkeeper zu. »Mein Lieblingsfilm handelt auch von Sonnenbrillen und von Männern in schwarzen Anzügen.« Dani kam auf den Kinobesuch und die »Men in Black« zurück. »Kennst du die Blues Brothers?« »Na klar!« Wieder beschwor Dani einen dieser magischen Momente herauf. Jake und Elwood Blues betraten wahrund leibhaftig die Bar und setzten sich zu ihnen an den Tisch: Die Blues Brothers waren im Auftrag des Herrn unterwegs. Ihre Band hatte sich aufgelöst, sie wollten sie wieder vereinen. »Blues Brothers ist dein Lieblingsfilm?« Holm war erfreut. Natürlich gefiel auch ihm der Streifen, der von coolen Helden mit coolen Sprüchen handelte. Außerdem war die Musik nicht zu verachten; die Songs der Blues Brothers Band waren mitreißend. Jake und Elwood nickten stumm. »Ich dachte, der Film wäre frauenfeindlich«, gab 275
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Holm zu bedenken. »Die zwei gehen ja nicht gerade liebevoll mit Jakes Ex-Freundin um.« Jake und Elwood schüttelten die Köpfe. »Ach was. Der Film ist toll. Er zeigt nur, wie simpel ihr Männer funktioniert«, neckte ihn Dani. »Kennst du den besten Dialog der Kinogeschichte?« »Shit!«, sagte Elwood. »What?«, antwortete Jake. »Rollers.« »No.« »Yeah!« »Shit!« Holm grinste. »Mist!« »Was?«, fragte Dani. »Die Bullen.« »Nein.« »Doch!« »Mist!« »Extrem cool!« Sie lachten und prosteten sich zu. Dani nahm seine Hand und lehnte sich an ihn, während sein Blick an ihrem Körper hinabglitt. Holm fühlte sich angenehm leicht. Doch die Blues Brothers wurden von der Polizei gestoppt und mussten sich ausweisen. »Wie lautet Elwoods Führerscheinnummer?« Holm stellte sie auch auf die Probe, während sein Kopf bedenklich kippte und in ihr Dekolleté abzugleiten drohte – als ob dort die Antwort auf seine Frage verborgen sein könnte. »B263-1655-2187«, antwortete Dani noch eben rechtzeitig. Echte Fans konnten den Code im Schlaf zitieren. Elwood nickte ihr zu und tippte sich mit der Hand an den Hut. Es war die größte – und einzige – Ehrenbezeugung, die er jemals einer Frau erwiesen hatte. Im letzten Moment hob Holm den Kopf und blickte in ihre strahlenden Augen. »Du gehst ganz schön ran. Was hast du eigentlich vor?«, flüsterte sie. »Wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs«, verkün-
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dete Jake und schlug Holm anerkennend auf die Schulter. Die Blues Brothers gaben ihnen ihren Segen und verließen die Bar, um nun auch ihre Band endlich wieder zu vereinen. Holm war sich keiner Absicht bewusst, ihre Frage konnte er nicht beantworten. Er wusste nicht, was er wollte, seine Entschlusskraft hatte ihn ja schon kurz nach dem Besuch des IMAGE im Stich gelassen. Vorsichtig küsste er sie auf den Mund. Noch nie zuvor hatte er sich so gefühlt wie jetzt. Zum Glück verhinderte der Alkohol, dass er sich deshalb Sorgen zu machen begann. Als sie die Bar verließen, nahm er sie in den Arm. »Taxi?«, fragte Dani. »Ich möchte nicht, dass wir von der Polizei aufgehalten werden.« Kurz darauf hielt das Taxi vor Danis Tür. Sie bewohnte ein kleines Appartement, das Holm aber nicht mehr genau in Augenschein nehmen konnte. Dazu war er nicht nur zu betrunken, sondern auch zu müde. Sie kontrollierte seine Hose, sein alkoholgefüllter Bauch hatte sie nicht gesprengt. »Es ist alles in Ordnung, du kannst sie jetzt ausziehen. Was Was heißt Was tun? Du hast die Wette gewon- passiert? das? nen«, stellte sie fest und half Nun wissen wir, wie Dani und Holm ihm, den Gürtel zu öffnen. schließlich zueinander gefunden »Woher hast du eigenthaben: Es war ein schöner Abend, lich meine Telefonnumihre Beziehung entwickelte sich mer?«, war alles, was Holm einfach so. Niemand hätte die Begegnung in dieser zauberhaften Art noch einwenden konnte. voraussehen oder planen können. Dass Thomas, Danis Bruder, Freilich sind nicht alle Begegsie ihr verraten hatte, sollte nungen zauberhaft, und in UnterHolm erst viel später ernehmen geht es nicht um Liebesfahren. beziehungen. Aber ich würde mich Als die Sonne aufging, wundern, wenn Beziehungen in schmiegten sie sich aneinIhrer Organisation keine Rolle spieander. Obwohl er nicht len sollten. einschlafen wollte, konnte Beziehungen zauberhafter und Holm letztlich auch das anderer Art nicht verhindern. 277
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Erlebte Erfahrung
Der Trainer war kein Trainer, sondern ein so genannter »Drill-Inspector«. Er leitete die letzte Maßnahme des Organisationsentwicklungsprogramms der HEIMEL AG oder besser formuliert: Er befehligte sie. »Männer!«, brüllte der Inspector, der sich gern »Chief Tom« nannte und zum Kreis der Mitarbeiter von OEConsult gehörte. »Ich werde euch nun eure Mission erläutern.« Die Männer zuckten zusammen. In zwei Reihen waren sie auf der Wiese angetreten. Der Nebel kroch langsam durch die Öffnungen ihrer grün-braun gemusterten Monturen, die aussahen wie Kampfanzüge einer militärischen Spezialeinheit. Insoweit war die Gruppe angemessen bekleidet, denn es ging in der Tat darum, einen Wettstreit auszutragen. Welche Auseinandersetzung auf sie zu kam, wurde von Tom mit seinem Tagesbefehl aber lediglich angedeutet. »Ihr habt eine Woche Zeit, den Gipfel zu bezwingen. Die Etappen sind festgelegt. Ihr bekommt eine Karte zur Orientierung und müsst das Lager jeweils vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.« In großer Entfernung konnte man das Bergmassiv erkennen, von dem der Chief sprach. Obwohl Henning Eimel den Kragen hoch geschlossen hielt, fand die feuchte Kälte Zugang zu seinem Nacken und strömte von dort aus abwärts. Ein scheußlicher Schauer kroch ihm über den Rücken. Und dieser »Chief« duzte ihn schon seit der ersten Begegnung! Warum hatte er sich bloß auf diese »Maßnahme« eingelassen? Armin hatte dieses so genannte »gruppendynamische Training« zur Fortbildung der Führungskräfte der HEIMEL AG dringend empfohlen. Möglich, dass Henning auch Frau Mai nicht enttäuschen wollte, die wirklich kaum etwas unversucht ließ, um der Firma zu helfen. Vielleicht war es aber die pure Verzweiflung, die Henning antrieb, denn mit HEIMEL ging es immer steiler bergab. Selbst der Firmengründer konnte diese Tatsache nicht mehr leugnen.
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»Es geht darum, dass ihr zu einem effizienten Führungsteam zusammenwachst«, schrie Tom unvermindert gellend. »Ihr werdet sehen, zu welchen Leistungen ihr gemeinsam in der Lage seid. Aber dazu müsst ihr euch gegenseitig helfen. Meistens probt man solche Szenarien als Planspiel. Vielleicht kennen einige von euch das so genannte NASA-Spiel oder ähnliche Überlebensübungen. Wir von OE-Consult haben diese Methode weiterentwickelt. Wir spielen das Szenario nicht im Seminarraum, sondern führen es ganz real durch. Ihr werdet von dieser Woche erlebter Erfahrung euer Leben lang profitieren.« »Erlebte Erfahrung« klang Was Was heißt Was tun? maßlos übertrieben und ein passiert? das? wenig widersinnig in HenBei dieser »Übung« geht es darum, nings Ohren. Wurde nicht dass die Teilnehmer Erfahrungen jede Erfahrung erlebt? Aber machen. Es ist eben ein Untervielleicht gab es tatsächlich schied, ob man sich Wissen anliest Situationen, in denen es anoder eigene Schlussfolgerungen auf Grund persönlicher Erlebnisse gezeigt war, bestimmte Sachziehen kann. verhalte besonders hervorFreilich müssen solche Maßzuheben, weil sonst niemand nahmen auf die Situation der Teilauf die Selbstverständlichnehmer abgestimmt sein. In diesem keit achten würde. Natürlich Fall geht es um das Thema »Fühwar der Firmenchef ohnehin rung«. Schon mehrfach haben wir skeptisch, dass die Unternehuns damit beschäftigt, wie Eimel mung Erfolg haben konnte. sein Unternehmen leitet. Führung Am meisten störte ihn, dass ist immer eine wechselseitige er nicht selbst zu seiner EinAngelegenheit zwischen mehreren Beteiligten. Auch Eimels Mitarbeiheit sprechen durfte, sonter werden Gelegenheit bekomdern wie alle anderen dem men, ihre Erfahrungshorizonte zu Inspector zuhören musste. Das erweitern. gehörte mit zu den Regeln dieses realen Planspiels. Erfahrung zählt Tom befahl die praktische Durchführung: »In den Camps werdet ihr von mir oder anderen Instruktoren empfangen. Den Anweisungen der Übungsleiter habt ihr Folge zu leisten, denn davon hängt euer Erfolg ab. Ihr könnt uns jederzeit ansprechen, aber 279
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wir sind keine Kindermädchen. Wenn ihr Probleme habt, dann klärt eure Schwierigkeiten untereinander. Und noch etwas: Diese Expedition ist keine Kaffeefahrt. Im Notfall wird kein Hubschrauber kommen, um euch zu retten.« Klar, dass Henning und Robert sich spätestens jetzt an ihren werbewirksamen Ausflug auf den Alpengipfel erinnerten. Diesmal waren sie also nicht als Schauspieler unterwegs, ihnen stand keine bequeme Transportmöglichkeit zur Verfügung. Ganz ohne Ausrüstung überließ man die Männer jedoch nicht ihrem Schicksal. Chief Tom erklärte, welche Hilfsmittel bereit standen: »Ihr dürft keine privaten Gegenstände bei euch tragen. Alles, was ihr in der nächsten Woche möglicherweise brauchen werdet, seht ihr dort.« Chief Tom, der seinen Ton noch immer nicht mäßigen konnte, zeigte auf die Paletten, auf denen die Ausrüstung lagerte. Die Männer erkannten Rucksäcke, Zelte, Schlafsäcke, Proviantpakete, Kletterseile, Steigeisen und Körbe voller Karabinerhaken, Taschenmesser, Streichhölzer, Taschenlampen, Verbandszeug, Signalpistolen und unzähliger weiterer Utensilien. Die Vorräte hätten fast für eine Himalaya-Expedition ausgereicht – Sherpas waren allerdings weit und breit nicht in Sicht. »Ihr entscheidet selbst, was ihr mitnehmen wollt. Dann marschiert ihr los in östlicher Richtung. Das ist alles, was ich zu sagen habe. Ich wünsche euch viel Glück.« Ohne eine Miene zu verziehen, setzte sich Tom in seinen Jeep und verschwand Richtung Westen. Langsam entspannten sich die Männer, die die Anweisungen in hab-acht-Stellung entgegengenommen hatten. Endlich war dieser unsympathische »Chief« weg, dachte Eimel. Es war höchste Zeit, dass er das Kommando wieder übernahm. »Also, Männer!«, rief er eine Spur zu laut. Seine leitenden Mitarbeiter – es waren etwa zwanzig Kollegen aus allen Abteilungen der HEIMEL AG versammelt – wandten sich trotzdem ihrem eigentlichen Boss zu.
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»Packen wir’s an! Wir wollen uns keine Blöße geben und den Herren von OE-Consult zeigen, wozu wir in der Lage sind. Wir werden die komplette Ausrüstung mitnehmen. Sicher hat jedes Teil einen Sinn, denn wir haben einen langen Marsch vor uns, und wir wissen nicht genau, was auf uns zukommt.« Wie immer wähnte Henning sich kompetent, die Lage »richtig« einzuschätzen, und kurz entschlossen fällte er die »richtige« Entscheidung. Und brav, wenn auch ohne überschwängliche Begeisterung, begannen die Männer, sich die Lasten aufzubürden – wie immer. Sie packten die Rucksäcke und stopften sich die kleineren Gerätschaften in die Taschen. Es lag eine Unmenge an Gepäck auf den Paletten bereit. Auch scheinbar unbrauchbare Dinge, wie Taschenrechner, Bücher, Gesellschaftsspiele, Bälle, Champagner und sogar ein Haarfön, standen den Männern zur Verfügung. Es schien kaum möglich, alles ohne einen Lastwagen zu transportieren, doch Eimel bestand darauf. Also schulterte man die prall gefüllten Rucksäcke. Obenauf schnallten Hennings Mannen die Schlafsäcke, die Seile hängten sie sich gegenseitig über die Schultern, die großen Zelte trugen sie zu zweit. Endlich konnten sie aufbrechen. Henning Eimel übernahm die Spitze der merkwürdigen Wandergesellschaft und auch die Steigeisen, die unter den Rucksäcken baumelten und sich bei jedem Schritt mit ihren Zacken in die Kniekehlen bohrten, behinderten die Männer. Wie es Holm Kenning erging, während seine ehemaligen Kollegen zu ihrem gruppendynamischen Abenteuer aufbrachen, ist nicht bekannt. Zuletzt beobachtete ihn der Steward Mike dabei, wie er von Bord der MS Giant Dominator of the Seas ging und mit einem Boot auf eine der paradiesischen Inseln der Südsee zuhielt. Danach verlor sich seine Spur zunächst. Wahrscheinlich genoss Holm das satte Grün der Natur und das Leben. Vielleicht lag er entspannt am Strand und lauschte den Erzählungen der Brandung, womöglich amüsierte er sich in einer gemüt281
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lichen Bar mit anderen netten Menschen und einigen Drinks. Doch zu seinen Erfahrungen in dieser Zeit müsste man den Informatiker selbst befragen. Im Gegensatz dazu fällt es nicht sonderlich schwer zu erraten, wie es dem Fußtrupp unter Henning Eimels Befehl erging. Die Gruppe erreichte das erste Etappenziel nicht vor Einbruch der Nacht, obwohl man sich redlich mühte. Doch die Ausrüstung, die die Männer zu schleppen hatten, war zu umfangreich. Nur langsam kamen sie voran, wenngleich Henning mit Appellen und Ansprachen alles andere als sparsam umging. Auch als die Dunkelheit das Fortkommen zusätzlich erschwerte, ließ der Vorstandsvorsitzende nicht locker. Unverdrossen redete er auf seine Leute ein. Schließlich betonte er sogar stolz den Nutzen der Taschenlampen, die nun gut zu gebrauchen waren. Teilweise führte der Weg durch dichte Wälder, in denen man ohne Licht tatsächlich keinen Schritt weit hätte gehen können. Eimel war froh über seine Anordnung, keinen Ausrüstungsgegenstand zurückzulassen. Doch mit diesem Eigenlob machte er sich keineswegs beliebt, im Gegenteil. Seine Männer mutmaßten zu recht, dass sie das Ziel ohne die schweren Lasten schon längst und noch dazu bei Tageslicht erreicht hätten. Aber es sollte für lange Zeit das letzte Mal sein, dass Henning Eimel, der selbstbewusste Gründer der HEIMEL Visimatik AG, den Mund so voll nahm. Denn als die Gruppe schließlich das Camp erreichte, war nicht nur die Erschöpfung, sondern auch die Überraschung groß. Die Männer glaubten ihren Augen nicht zu trauen: Ein Feuer knisterte im Mittelpunkt des Platzes, daneben luden Biertische zur Rast ein. Einige Meter abseits standen Zelte, die sogar mit Feldbetten bestückt waren. Grillduft lag in der Luft, sofort lief allen das Wasser im Mund zusammen. Langsam ließ man das umfassende und zwecklose Gepäck zu Boden sinken. Niemand sprach ein Wort, als die Steigeisen, die den ganzen Tag die Übungs-
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teilnehmer klappernd begleitet hatten, im Gras zur Ruhe kamen und die Wanderer sich daneben hockten. Es dauerte nicht lange, bis Chief Tom erschien und sich vor den entgeisterten Lasteseln aufbaute. Das Feuer sandte eine wohlige Wärme in alle Richtungen und flackerte im Gesicht des Inspectors, der erneut die Befehlsgewalt übernahm. Niemand mochte sie ihm streitig machen, noch nicht mal Henning. »Männer«, sprach Tom auffallend leise, aber mit schneidendem Unterton. »Ihr habt versagt. Ihr kommt zu spät. Die Aufgabe war, das Camp vor Einbruch der Nacht zu erreichen.« »Absolut unmöglich«, versuchte Robert Kunz sich zu verteidigen. Er kauerte direkt vor dem Chief auf dem Boden. »Das Gepäck … Wir sind völlig fertig.« »Niemand hat gesagt, dass ihr den ganzen Krempel mitschleppen müsst. Ihr solltet rechtzeitig hier eintreffen«, wiederholte Tom unvermindert scharf. »Aber Henning hat …«, setzte Robert an, merkte aber sofort, dass dieses Argument nicht besonders hilfreich war. Zu allem Überfluss fiel sein Blick auf das Kabel des Föns, das wie zum Hohn aus seiner Jacke hervorlugte. Wie beiläufig schob Robert die vorwitzige Leitung zurück in die Innentasche. Selbst Henning begriff stillschweigend, dass sie alle an diesem Tag eine echte »erlebte Erfahrung« gemacht hatten. Keiner der Teilnehmer an diesem Erlebnis hätte in dem Moment auch nur ein Wort des Vorstandsvorsitzenden ertragen können, ohne ihm ein paar Steigeisen oder Schlimmeres an den Kopf zu werfen. Die Drohung lag deutlich in der Luft, dass selbst Henning sie verstehen musste. Er dachte nicht daran, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Stattdessen erteilte der Inspector die letzten Anweisungen für den Abend: »Da ihr zu spät gekommen seid, fällt das vorbereitete Abendessen aus.« Enttäuscht sah man zu, wie einige Hilfskräfte das Büfett abbauten und die Grillwaren – die Ursache des herzhaften Aromas, das allen in die Nasen stieg – in luftdichten Verpackungen verschlos283
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sen. »Ihr könnt euch mit eigenem Proviant versorgen. Genug davon habt ihr ja dabei.« Mit dieser Bemerkung ließ Tom das Häufchen der Versager allein. Kaum jemand mochte etwas sagen, frustriert versorgte man sich mit haltbarem, dafür zähem Dosenfleisch, trockenen Keksen und etwas Bitterschokolade aus Armeebeständen. Robert fühlte sich so unglaublich dämlich! Er beschloss einiges zu tun, damit ihm solche Niederlagen in Zukunft erspart blieben. Auch seinen Kollegen ging es ähnlich. Nach der kargen Mahlzeit verteilte man sich auf die Zelte. Nur Henning verspürte keine Lust, sich in ein bequemes Bett zu legen. Er zog es vor, sich abzusetzen und unter freiem Himmel in seinem Schlafsack zu nächtigen. Am nächsten Tag änderte sich die Stimmung. Henning gab sich zwar weiter wortkarg, doch alle anderen sprachen angeregt miteinander, während Toms Helfer für ein gutes Frühstück sorgten. Man unterhielt sich über alles Mögliche, erzählte schon wieder Witze und half sich gegenseitig beim Verarzten der Wehwehchen, die man sich während des beschwerlichen Marsches zugezogen hatte. Es galt Blasen und kleine Verletzungen an den Füßen zu versorgen, um für die nächste Etappe gerüstet zu sein. Robert ließ sich sogar bereitwillig von Franz den Rücken behandeln, den die Rucksackriemen wund gescheuert hatten. Wieder verkündete der Chief den Tagesbefehl, erneut bestand die Aufgabe darin, das Etappenziel vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Aber anders als am Vortag ergriff Henning wohlweislich nicht das Wort. Wer konnte schon wissen, was passiert wäre, wenn er doch wieder die Führung hätte übernehmen wollen. Henning verspürte nicht die geringste Lust, die möglichen Reaktionen der Männer zu testen. Und außerdem waren es sowieso nicht mehr seine Männer. Der Vorstandsvorsitzende stand plötzlich keinen Befehlsempfängern mehr gegenüber, sondern selbstständig denkenden
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und handelnden Menschen, die Verantwortung übernahmen. Es war erstaunlich zu erleben, wie die Gruppe nun diskutierte, welche Ausrüstungsteile man tragen wollte. Die Männer zeigten sich nun tatsächlich in der Lage, ihre Interessen kompetent selbst zu vertreten. Man besprach den möglichen Weg, das Wetter, die Jahreszeit, und als jemand mit einem einfachen Blick durch ein Fernglas feststellte, dass der anvisierte Gipfel unterhalb der Schneegrenze lag, war klar, dass man die Steigeisen in jedem Fall aufgeben konnte. Geteilter Meinung war man dagegen, was die schweren Schlafsäcke und Zelte anging. Das erste Camp war zwar perfekt vorbereitet, doch konnten sie sicher sein, dass dies immer so sein würde, wie einige leichthin annahmen? Andere Kollegen waren vorsichtiger. Sie trauten Tom und den Leuten von OEConsult noch einige Überraschungen zu. Schließlich entschied jeder mehr oder weniger selbst, was er zu tragen bereit war. Als der Trupp aufbrach – ohne dass jemand die Anordnung zum Abmarsch erteilt hätte –, ließen sie fast die halbe Ausrüstung zurück. Auch ein Elektrokabel, dass zu einem Fön gehörte, blieb einsam und vergessen im Gras liegen. Henning Eimel, der abseits gestanden und sich nicht an den taktischen Überlegungen zur Expeditionslogistik beteiligt hatte, folgte seinen Leuten als Nachhut. So, wie es einige der Führungskräfte der HEIMEL AG vorausgesagt hatten, war es tatsächlich: Die Organisatoren hielten noch so manche Überraschung für die Übungsteilnehmer bereit. Die zweite Etappe erwies sich als ausgesprochen kurz, was niemand ahnen konnte, da die skizzenhafte Wegbeschreibung weder Zeit- noch Entfernungsangaben enthielt. Der erwartete Marsch entpuppte sich als Spaziergang, und so verwendete man den Rest des Tages zur Erholung. Jemand kam auf die Idee, Fußball zu spielen, allerdings hatte man die Bälle am Morgen aussortiert. Doch es fand sich schnell ein Freiwilliger, der die Strecke zum alten Lagerplatz noch einmal zurücklegte, so dass man sich bald beim Kicken vergnügen konnte. 285
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Nur Henning war noch nicht lange genug gewandert. Er nutzte die Gelegenheit, um seinen Gedanken bei einer einsamen Runde durch den Wald nachzuhängen. Abends genoss er allerdings zusammen mit seinen Leuten das Barbecue, das ihnen diesmal nicht verweigert wurde. Am folgenden Tag hatte die Gruppe allerdings wieder einen anspruchsvollen Abschnitt zu bewältigen, der, bedingt auch durch schlechtes Wetter, zur Herausforderung wurde. Die Teilnehmer setzten trotzdem alles daran, das Ziel rechtzeitig zu erreichen. Alle waren motiviert, man unterstützte sich gegenseitig, so gut es ging. Vor allem Robert konnte nun seine Kraft in Verbindung mit einer verblüffenden Geschicklichkeit, die bis dahin selbst ihm unbekannt war, zum Nutzen aller einsetzen. Mehrfach half er den Kameraden, schwierige Passagen – wie Bachüberquerungen oder Felsabbrüche – zu überwinden. Durchweicht vom Regen, aber früh genug, erreichte man das Lager, das wieder sorgfältig vorbereitet war. Es war das erste Mal, dass die Führungskräfte der HEIMEL AG das gute Gefühl genossen, einen Erfolg gemeinsam errungen zu haben. Den Gipfel, auf den sie eine Woche hingearbeitet hatten, erkletterten sie planmäßig am letzten Tag. Doch diesmal war kein Lager errichtet worden, das Areal rund um das Gipfelkreuz war verwaist. Weder Tom noch seine Helfer begrüßten den Trupp mit harschen Worten. Stattdessen wurden die Männer von einem Schreiben empfangen, dass sie unter einem Stein fanden:
Männer! Ihr habt diesen Erfolg gemeinsam errungen. Dazu gratulieren wir euch herzlich. Uns hat die Woche mit euch viel Spaß gemacht, aber nun braucht ihr uns nicht mehr. Für die Zukunft wünschen wir euch Glück und viele weitere nützliche Erfahrungen. Armin
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Ein merkwürdiges Gefühl ergriff die Übungsteilnehmer. Es war eine Mischung aus Stolz, Erschöpfung, Freude, Anspannung und Unsicherheit, was die weitere Zukunft betraf. Darüber hinaus bemerkte Henning auch endlich das Wort »Männer« , dass er in letzter Zeit vor allem aus Toms Mund so oft gehört hatte und nun auch in dem Schreiben las. Seine Führungscrew bestand tatsächlich ausschließlich aus MänWas Was heißt Was tun? nern. Wieso eigentlich? Si- passiert? das? cher hatte dies etwas mit Die »Übung« wird doch noch von ihm zu tun, denn letztlich Erfolg gekrönt. Man kann sich vorführte Henning selbst alle stellen, dass die außergewöhnliche Einstellungsgespräche, und Woche den Beteiligten in Erinnerung bleiben wird. er entschied über die BesetHenning hat eine wichtige Erzung der leitenden Positiofahrung gemacht und erkannt, dass nen. Der Vorstandsvorsitsein autoritäres Verhalten am ersten zende wollte sich demnächst Tag ein Fehler war. Mag sein, dass überlegen, ob es nicht besser ihn diese Einsicht erschüttert hat. wäre, auch Frauen als FühManchmal ist Entwicklung eben rungskräfte zu beschäftigen. auch mit solchen unangenehmen Doch leider war die UnterBegleiterscheinungen verbunden. nehmenslage inzwischen so Insofern müssen Erfahrungen auch verkraftet werden. Doch die Invesprekär, dass die Einsicht tition lohnt sich, nicht nur weil die wohl zu spät kam. Aufgabe schließlich doch gelöst Während mürrische Gewurde. danken Henning Eimel Auch die Mitarbeiter haben heimsuchten, begannen seisich kompetent zeigen können. ne Mitarbeiter damit, das Bleibt zu hoffen, dass sie sich auch Lager so gut wie möglich künftig im Beruf mutig und selbstselbst herzurichten. Es störte ständig verhalten werden. niemanden, dass weder Zelte noch eine Mahlzeit vorIn Erfahrung investieren bereitet waren. Eine Nacht im Freien würde man schon überstehen, wenn alle weiterhin zusammenhielten. Die Schlafsäcke hatten zum Glück alle noch dabei, es würde hoffentlich auch nicht zu kalt werden. Die letzten Proviantrationen wurden geteilt, und schließlich zog Robert sogar zwei Flaschen Champagner 287
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aus seinem Rucksack. Bei aller Mühe mit der Last des Gepäcks, die auch er gehabt hatte: Das prickelnde Getränk hatte er – zur großen Freude aller – wohl gehütet. Kurz darauf kreiste der Schampus, ausgelassen prostete man sich zu. Niemand konnte richtig schlafen in dieser Nacht. Alle hingen unter dem klaren Himmel ihren Gedanken nach und konnten so einen Sonnenaufgang genießen, wie ihn noch keiner der Übungsteilnehmer je zuvor erlebt hatte.
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Kriechgang
Leider trug die gute Stimmung, die auf dem Gipfelplateau geherrscht hatte, die Führungscrew der HEIMEL AG nicht allzu weit. Schon am folgenden Montag holten die Probleme die Männer wieder ein. Aber die Expedition zeigte Wirkung, allein in der Empfangshalle des Traumschiffes war das überdeutlich erkennbar: Der INFOVISOR blieb dunkel. Zum ersten Mal seit seiner Erfindung verkündete das Gerät keine Tagesparole, und zum ersten Mal seit der Gründung von HEIMEL Visimatik kam Henning Eimel zu spät ins Büro. Aber ihm war ohnehin die Lust vergangen, sich Informationen und Visionen auszudenken. So mancher Kollege presste trotzdem gedankenverloren seinen Finger auf die Stelle des Bildschirms, an der sich normalerweise das blinkende Feld befand, ohne zu merken, dass sich der hauseigene Kommunikationsstil verändert hatte. Die mehr oder weniger tief greifenden Wandlungen in Eimels Wesen würden die Mitarbeiter aber noch früh genug zu spüren bekommen. An diesem Tag sollte es sogar Wichtigeres zu bedenken geben, als die Bedeutung wechselseitigen Informationsaustauschs zwischen dem Management und den Angestellten. Doch zunächst wartete Armin zusammen mit Frau Ziegler ungeduldig auf die Ankunft des Chefs. Der Berater wollte seinen Klienten nach dessen Ausflug in die Gipfelregionen der Berge – und die Untiefen seiner Persönlichkeit – nicht allein lassen. Als Elling schon begann, sich um Eimels Verbleib zu sorgen, traf dieser endlich ein. »Frau Ziegler, wie habe ich Sie vermisst in der letzten Woche!« Überraschend überschwänglich begrüßte Henning seine Assistentin. »Es ist schön, Sie wieder an Bord zu wissen. Ohne Sie läuft nichts in dieser Firma«, erwiderte Marion Ziegler höflich. »Sie sollen mich doch nicht anlügen.« Henning hatte 289
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mittlerweile die bemerkenswerte Einsicht gewonnen, dass er nicht immer unersetzlich war. Ohne sich dessen wirlich bewusst zu sein, legte er außerdem Wert darauf, nicht nur Nettigkeiten mit seiner engsten Mitarbeiterin auszutauschen. Frau Ziegler – mit dem sensiblen Sensorium weiblicher Intuition ausgestattet – registrierte die Veränderung sofort. »Herr Elling, wir müssen uns umgehend miteinander besprechen«, entschied der seltsam verwandelte Vorstandsvorsitzende in gewohnt souveräner Manier. Als er mit Elling allein im Besprechungszimmer war, vergingen einige Minuten – dem Berater kamen sie vor wie Stunden –, bis Eimel den ersten Satz fand: »Sie Wahnsinnskerl«, brachte er endlich hervor. »Sie haben bestimmt gewusst, was passieren würde. Aber trotzdem wünschte ich, wir hätten uns früher kennen gelernt.« Schweigend beäugten sich Henning und Armin, die Situation war klar. Die von Elling eingeleiteten Maßnahmen hatten zu zwiespältigen Effekten geführt. Einerseits hatte Eimel Möglichkeiten entdeckt, seine Firma besser zu leiten, andererseits stand diesen Chancen eine traurige Tatsache gegenüber: Es war zu spät. Henning konnte die Unternehmenslage nun realistisch einschätzen – für einen guten Manager war das eine brauchbare Fähigkeit. Doch neu erworbene Stärke hin oder her: Es war einfach zu spät. Die finanziellen Mittel waren erschöpft. Es blieben höchstens einige wenige Wochen, dann würde Eimel beim Insolvenzgericht vorsprechen müssen. Daran war nicht zu rütteln. Was für eine Horrorvorstellung für den Firmengründer, der so viele Jahre in seinen Traum investiert hatte! Sein Lebenswerk wankte bedrohlich, genau genommen war der Kollaps nicht mehr zu verhindern. Auch Elling war ratlos, und dass er unter diesen Umständen wahrscheinlich auf seinen Honorarforderungen sitzen bleiben würde, das war ihm in dem Moment nicht einmal wichtig. Armin Elling und seine Mitarbeiter hatten gute Arbeit geleistet, doch ihre Mühen wurden nicht belohnt.
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Alles, was es zu sagen gab, war gesagt. So schien es jedenfalls in dem Moment, denn von dem sonderbaren Stimmungswandel im Untergeschoss der Firma, der sich vor einiger Zeit vollzogen hatte, wussten Henning und Armin ja noch nichts. Als die Stille fast unerträglich zu werden drohte, platzte Franz Hiesel in den Konferenzraum. Noch nie hatte es jemand gewagt, Henning während einer Sitzung zu unterbrechen. Störer wurden stets zuverlässig von Frau Ziegler abgefangen, aber diesmal konnte sie ihrem Chef nicht helfen. Energisch stürmte der neue Entwicklungsleiter durch das Vorzimmer, um zu Henning und Armin vorzudringen. Wild gestikulierend verscheuchte er die geradezu andächtige Ruhe, mit der Eimel und sein Berater der HEIMEL AG vorsorglich nachtrauerten. »Henning! Armin!«, rief Franz aufgeregt. »Es ist unglaublich, was letzte Woche passiert ist.« Dass sich in der Vorwoche Außergewöhnliches ereignet hatte, war den Angesprochenen bekannt. Auch Franz hatte während der Gebirgsexpedition sicherlich eindrückliche Erfahrungen gesammelt. Das gab ihm allerdings noch nicht das Recht, das vorgezogene Requiem auf die HEIMEL AG zu stören. Henning und Armin sahen sich fragend an: Was war bloß in Franz gefahren? »Die Programmierer! Sie, sie, sie … haben programmiert!«, stotterte Hiesel, ohne auf die im Raum stehende Frage einzugehen. Nach und nach brachte Franz schließlich doch noch heraus, was er zu sagen hatte. Die bruchstückhaften Äußerungen des aufgewühlten Entwicklungsleiters konnten kaum in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden, doch zusammengefasst sprach Franz davon, was seine Mitarbeiter in den letzten Monaten programmiert hatten. Offensichtlich hatten sie nicht mehr die Arbeit verrichtet, für die sie bezahlt wurden. Sie arbeiteten nicht mehr an der allgemeingültigen Software zur Lösung aller betrieblichen Probleme jedweder Firma gleich welcher Branche, die die HEIMEL AG in ihren Marketingbroschüren anpries. Das erzürnte Franz. Aber 291
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die Softwareentwickler waren nicht untätig gewesen. Statt ihren Pflichten nachzukommen, hatten sie ein Computerspiel entwickelt. Auch das erregte Franz, doch seinem Verhalten war außerdem zu entnehmen, dass es sich um ein besonderes Spiel handeln musste. Seiner Gestik und Mimik war zu entnehmen, dass er nicht nur erbost war über die kollektive Meuterei seiner Mannschaft, sondern gleichfalls beeindruckt war von der Initiative. Den Angestellten war längst klar geworden, dass ihre Firma keinen Erfolg haben konnte, wenn sich nicht Entscheidendes verändern würde. Insofern verfügten die Mitarbeiter wie selbstverständlich über jene Managementqualität, die Henning soeben erst erworben hatte. Schon zu Zeiten, als Holm Kenning noch ihr Chef gewesen war, hatten die SoftwareWas Was heißt Was tun? spezialisten sich ungefragt passiert? das? Gedanken zur UnternehOft wird gefordert, dass Mitarbeiter menslage gemacht. Schließsich wie Unternehmer im Unternehlich hatten sie begonnen – men verhalten sollen – was aber wann genau, das ließ sich nicht möglich ist! Mitarbeiter sind ebenso wenig nachträglich Angestellte, sie haben nicht die klären wie die Frage nach Chancen und tragen nicht die Risidem Initiator des »Proken eines Unternehmers. Dennoch können Mitarbeiter selbstständig jekts« – an einer eigenen handeln, wenn die Bedingungen Idee zu werkeln. Die Entes erlauben. wickler verwandelten sich Die Spezialisten der HEIMEL sozusagen in Unternehmer AG entwickeln sogar trotz widriger im eigenen Unternehmen. Umstände Initiative. Die rigide Die überforderten FühOrganisation hat nicht alle gelähmt, rungskräfte, die nichts von einige Mitarbeiter hatten genügend diesen geheimnisvollen AkMut, sich ihren Freiraum zu erhaltivitäten bemerkten, unterten. Kaum vorstellbar, wie viel Engagement freigesetzt worden wäre, stützten unbeabsichtigt die wenn die Angestellten schon früher Mitarbeiter durch ihren fehwie selbstständige Menschen belenden Kontakt zur Realität. handelt worden wären. Auch die Abgeschiedenheit der Abteilung im umgebauUnternehmer im Unternehmen? ten Untergeschoss erwies
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sich als förderlich für das »innovative Vorhaben«. Besonders produktiv waren die Mitarbeiter in der Vorwoche gewesen, eben in jener Zeit, als alle leitenden Angestellten in den Bergen ihr Abenteuer erlebten. Kurz und gut, die Softwarespezialisten hatten ungestört das Programm »Sumpfschnecke« fertiggestellt. Stolz, wenn auch mit gemischten Gefühlen, hatten sie Franz ihr Werk nun präsentiert. Der Abteilungsleiter beruhigte sich nur langsam. Der Grabesruhe, die er so ungestüm vertrieben hatte, folgte ein Moment intensiver Stille. Henning konnte seine Gedanken am schnellsten ordnen. »Das Programm ist wirklich gut?«, fragte er, anstatt angesichts der ungeheuerlichen Nachricht aufzubrausen. »Es tut mir Leid«, entschuldigte sich Franz. »Ich hätte besser aufpassen müssen. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass …« »Ist das Programm gut?«, wiederholte Eimel, ohne sich um das schlechte Gewissen des Entwicklungschefs zu kümmern. Wie sich herausstellte, war das Programm in der Tat sehr gut. Die Spezialisten der HEIMEL AG hatten ihre originelle Idee ausgezeichnet umgesetzt. »Sumpfschnecke« war keines jener Schieß- und Ballergames, wie es sie schon zu Tausenden für den Heimcomputergebrauch gab. Was die Softwareentwickler ausgetüftelt hatten, war von ganz anderer Art: Die Aufgabe des Spielers war es, in einer Sumpflandschaft Schnecken zu fangen, ohne sie zu töten. Das Biotop, das der Computerbildschirm zeigte, war liebevoll mit Gräsern, Büschen, Bäumen und Wasserlöchern gestaltet. Überall versteckten sich die unterschiedlichsten Schneckenarten. Da die Bauchfüßer als Lungen- und Kiementiere vorkamen, konnte man sie auch in den Tümpeln finden, die zum Teil von Seerosen bedeckt waren. Um die Landschaft zu untersuchen, war das Programm mit einer Zoom-Funktion ausgestattet, herabgefallenes Laub konnte der Spieler anheben, um 293
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darunter nach Schneckenhäusern Ausschau zu halten. Dem Schneckenjäger stand zudem ein ganzes Arsenal von Hilfsmitteln zur Verfügung, um die Tierchen anzulocken und einzufangen. Man durfte sich der unterschiedlichsten Gerätschaften, wie Fallen und Stöcke, bedienen. Darüber hinaus Was Was heißt Was tun? konnte man sein Glück mit passiert? das? Lockstoffen und Futter verVon den bedächtigen Schnecken suchen. Man durfte die unkönnen wir einiges lernen. Oft schuldigen Kreaturen nur ja meinen wir, alles müsste möglichst nicht umbringen, das beschnell passieren, doch am strafte der Computer mit schnellsten sind schlechte EntPunktabzug. scheidungen gefällt. Nichts ist Als Henning sich zum leichter als einfach loszulaufen, aber wenn man die falsche ersten Mal an dem Spiel verRichtung wählt, nützt auch das suchte, stellte er sich noch höchste Tempo nichts. Es lohnt recht ungeschickt an. Für sich, ab und zu innezuhalten, den einen Anfänger der SchneStandort zu bestimmen und auf ckenkunde war es schon Abzweigungen zu achten. schwer genug, die Tiere überhaupt zu finden. MühDer Wert der Langsamkeit sam durchkämmte der Vorstandsvorsitzende die Wiesen, doch als er sich mit den Eigenheiten der verschiedenen Arten auskannte, wurde es leichter. Überhaupt forderte und förderte das Spiel die Geduld. Dafür steht schon allein die Spezies der so genannten Gastropoden als Sinnbild der Langsamkeit. Auch wenn man eines der Tiere entdeckt hatte, war Nachdenklichkeit gefordert. Man musste das Verhalten der jeweiligen Art kennen, um eine Erfolgschance zu haben – und wer noch nie »Sumpfschnecke« gespielt hat, der ahnt nichts von der unglaublichen Vielfalt dieser sonderbaren Weichtiergattung. Die Eigenheiten der Tiere waren so zahlreich und interessant wie ihre Gattungsbezeichnungen es andeuteten: Schnirkelschnecken, Rosenmundschnecken, Tigerschnecken, Schraubenschnecken, Sumpfdeckelschnecken und viele andere Arten robbten gemächlich über den Bildschirm. Sobald man mit den
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falschen Mitteln auf die Tiere losging, verzogen sie sich allerdings irritiert in ihren Gehäusen oder Verstecken. Dann war die Gelegenheit zunächst vertan, denn für Schnecken, die nicht aus freien Stücken dem Häscher entgegenkamen, gab es keine Punkte. Man tat also gut daran, die Kreaturen nicht zu vergrätzen oder zu intensiv an ihren Fühlern zu fummeln. Immerhin konnte es einige Minuten dauern, bis sie wieder aus ihren Häuschen hervorlugten, wenn sie sich einmal – beleidigt oder auch nicht – darin verkrochen hatten. Die Spielidee wirkte zunächst verschroben, vielleicht auch deshalb, weil es noch kein vergleichbares Spiel gab. »Sumpfschnecke« war eine Innovation, Henning Eimel begriff das als geborener Visionär sofort. Franz rechnete allerdings noch immer mit dem Schlimmsten; er war darauf gefasst, dass sein Chef womöglich die Kontrolle verlieren würde. Vielleicht würde er ausrasten, ihn anbrüllen und fristlos entlassen. Doch nichts dergleichen geschah, nachdem der Vorstandsvorsitzende und Armin sich das Produkt der ungezügelten Informatikerfantasien hatten vorführen lassen. Zu Hiesels Verwunderung fanden die beiden sogar einigen Spaß an dem Spiel. Henning gefielen besonders die menschlichen Züge, die die Entwickler der eher unbeliebten Tiergattung verliehen hatten. Es war komisch anzusehen, wie dümmlich, schlau, erstaunt, beleidigt oder listig die Kriechtierchen sich zeigten. Eimel hatte sofort die Chance erkannt. Keine Sekunde dachte er daran, sich zu entrüsten. Das Schreckensszenario der baldigen Insolvenz vor Augen, arbeitete sein Verstand sogleich an einem Plan zur Rettung des Unternehmens. Alles schien sich mühelos und wie von selbst zusammenzufügen. Was nun folgte, könnte man vielleicht am besten mit der Managementstrategie umschreiben, die Eimel später in seinen Erinnerungen eher scherzhaft »Strategic Chance Management« – also die konsequente Nutzung von Chancen und Möglichkeiten – nennen würde. Zunächst lobte Henning den verblüfften Franz und 295
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die Entwicklungsmannschaft für die Initiative und die hervorragende Arbeit, anschließend setzte er alle verfügbaren Hebel in Bewegung. Was Was heißt Was tun? Er besprach mit Robert passiert? das? Kunz und den anderen AbNun kann Henning wieder eine teilungsleitern die künftige seiner Stärken ausspielen: Er erStrategie. Auch seinen perkennt die Chance sofort. Vielleicht sönlichen Berater Armin, gelingt es ihm nun, das Engagement seiner Mitarbeiter mit seinen dem er inzwischen völlig Fähigkeiten zu kombinieren. Für vertraute, bezog er in seine die HEIMEL AG könnten sich daPläne ein. Henning war klar, durch neue Möglichkeiten eröffnen. dass er in nächster Zeit kompetente Unterstützung Die Chance nutzen brauchen würde, denn manches wollte er besser machen. Er wollte seine Mitarbeiter arbeiten lassen und sie so gut wie möglich dabei unterstützen. Und wie freute er sich darauf, auch mit Karin Mai weiter zusammenarbeiten zu können. Einiges sollte sich also ändern in den Räumen der HEIMEL AG. Ein anderer Wind würde wehen und den aufziehenden Sturm hinwegblasen. Nur die Firmenphilosophie sollte überdauern: Auch in Zukunft würde das Unternehmen universelle Software für beliebige Kunden gleich welcher Branche herstellen und vertreiben.
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Ein neuer Rosengarten
Gemeinsam schafften sie es tatsächlich, das Traumschiff wieder flott zu machen. Mitarbeiter und Management trugen jeweils ihren Anteil dazu bei, dass sich der Erfolg doch noch einstellte. So, wie HEIMEL zuvor Programme zur universellen Produktionslogistik erstellt hatte, so wurde nun die allgemeingültige Spielsoftware vermarktet. Innerhalb kürzester Zeit kannte und spielte man »Sumpfschnecke« allerorten. Die Computerfreaks der ganzen Welt waren die Ersten, die sich mit den sensiblen Kriechtierchen anfreundeWas Was heißt Was tun? ten, dann luden immer passiert? das? mehr Menschen die SoftHenning hat seinen Teil dazu beigeware auf ihre privaten Rechtragen, die Havarie des Traumschifner. Auch in vielen Unterfes zu verhindern. Endlich gelingt es nehmen jedweder Sparte ihm, seine Stärken mit den Fähigkeiten seiner Mitarbeiter und den kam das Spiel zum Einsatz. Chancen des Lebens zu verknüpDie Angestellten versuchten fen. In dieser Integration der sich in den Arbeitspausen an Vielfalt und der Kombination von der kurzweiligen SchneStärken liegt das größte Potenzial, ckenjagd. Die Gastropoden das geschicktes Management zu förderten so eine Kultur der erschließen vermag. Nachdenklichkeit, die in fortschrittlichen Firmen siVielfalt integrieren – cher auch den »Prozess« der Stärken kombinieren so genannten »Entschleunigung« unterstützte – wie gesagt, welche Spezies könnte die Potenziale der Langsamkeit auch besser symbolisieren als Schnecken? Aber grundsätzlich hatte das Spiel in allen Firmen eine subtile Wirkung auf die Unternehmensentwicklung. Freilich darf nicht verschwiegen werden, dass »Sumpfschnecke« manchmal auch zur regulären Arbeitszeit aktiviert wurde. In dieser Hinsicht trug das Spiel dazu bei, dass Arbeitszeit für die Firmen verloren ging. Doch der Verlust hielt sich wahrscheinlich in Grenzen. Welches Potenzial an Kreativität, Konzentration und Ein297
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fühlungsvermögen gleichzeitig freigesetzt wurde, kann hingegen kaum abgeschätzt werden. Kein Manager der Welt hätte außerdem den Kult verhindern können, der durch Eimels Engagement bei der Vermarktung der Software ausgelöst wurde. HEIMEL profitierte auch von Werbeverträgen, denn viele Unternehmen wollten die witzigen Tierchen als Imageträger nutzen. Henning Eimel überzeugte die Aktionäre, Analysten und Geldgeber mit flammenden Reden. Der Firmengründer übertraf sich selbst. Auch Frau Mai, die fortan nicht nur als Prüfstein für Hennings Visionen fungieren sollte, konnte er für die neue Geschäftsidee gewinnen. Darauf war der Firmenchef besonders stolz. Die Bankmanagerin begegnete ihm nach wie vor kritisch und wohlwollend zugleich. Langsam realisierte der Vorstandsvorsitzende, wie wertvoll diese beiden nur scheinbar konträren Einstellungen für ihn waren. Auch dem Aktienkurs kam die erfreuliche Entwicklung zu Gute, so dass man das siebzehnjährige Firmenjubiläum auf dem Dach des Traumschiffes unbeschwert feiern konnte. Nur die wirklich wichtigen Menschen hatte Eimel diesmal eingeladen. Anders als bei dem Festakt zwei Jahre zuvor standen keine Redner aus Politik und Wirtschaft auf der Tagesordnung. Genaugenommen gab es keine Tagesordnung, überhaupt wurden keine Vorträge gehalten, selbst Henning begnügte sich mit einer kurzen Ansprache. Stattdessen verteilten sich die Mitarbeiter, die Freunde der HEIMEL AG und einige Kunden angeregt plaudernd zwischen den Gartenmöbeln, die Steinbrecher der Firma schon vor einiger Zeit großzügig überlassen hatte. Eine außerordentlich schöne Rosendekoration schmückte die Terrasse. Niemand anders als Holm konnte für die Farbenpracht verantwortlich sein, die die fröhliche Gesellschaft überstrahlte. Er hatte sich noch immer nicht entschieden, ob er wieder für die Softwarefirma tätig sein wollte, doch sein Balkon war ihm schon
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kurz nach der Rückkehr von seiner Weltreise zu klein geworden. Also hatte Holm die sonnigen Flächen auf dem Dach der HEIMEL AG für sein Hobby in Beschlag genommen. Mit immer neuen Rosensorten konnte er nun Erfahrungen sammeln, bald wollte er seine erste eigene Sorte kreieren. Holm wollte versuchen, eine »Elina« mit einer »Graham Thomas« zu kreuzen. Schon jetzt war er gespannt darauf zu erfahren, welche Blüten die neue Art treiben würde. Ob er die neue Rose »Dani« nennen sollte? Holm beobachtete sie, wie sie in einer Gruppe zusammen mit Armin, Robert und Henning, der seine Karin fest im Arm hielt, lachte und den anderen mit einem Sektglas zuprostete. Auch Frau Ziegler fehlte natürlich nicht. Oft erinnerte Holm sich an die gelehrigen Bemerkungen der Chefsekretärin: »Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei gleich vier ist.« Eine Erkenntnis, die sich inzwischen schon mehrfach als äußerst nützlich für sein Leben erwiesen hatte. Bestimmt würde sie Holm auch bei Dani die Richtung weisen. Während er so vor sich hin sinnierte, hatte Armin offenbar einen Scherz gemacht. Man amüsierte sich ungezwungen, und Dani zwinkerte dem Berater belustigt zu. Mit einer Hand – natürlich mit der Rechten – fuhr sie sich über den Oberschenkel und zupfte ihren Pulli in der nur ihr eigenen Art zurecht. Dabei lächelte sie dieses Lächeln, das Holm wohl ewig ein Rätsel bleiben würde. Und vielleicht war auch das einfach gut so.
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**** Comment So manches hätte anders kommen können. Sicher wäre das Schicksal der HEIMEL Visimatik AG und ihrer Mitarbeiter auch ohne Happyend vorstellbar. Einige Szenen dieser Geschichte könnten unwirklich erscheinen. Doch was ist schon fantastisch und was real? Vieles ist möglich, die »Was wäre wenn?« Frage kann – auf das Leben bezogen – nur zu einer Vielzahl von Antworten führen: »Eine Ironikerin weiß, dass alles auch anders sein könnte.« Damit bezieht sich der Autor Felix Frei auf die »Kontingenzen« des Lebens. »Kontingent heißt zufällig, bedeutet, dass etwas tatsächlich so ist, wie es ist, dass es aber keineswegs notwendig so hat kommen müssen.« Vielleicht ist das für manchen eine beängstigende Perspektive. Wie sollen wir uns orientieren? Welchen Einfluss haben wir überhaupt auf den Fortgang des Lebens? Frei weist zum Glück auch darauf hin, dass Ironie etwas Feines und Warmes an sich hat. Sie ist niemals zynisch oder verbittert. Aus ihrer Gelassenheit folgt die Freiheit eines selbstbestimmten Lebens – was für eine erstaunliche Kontingenz, dass der Autor, dem ich diese Anregungen zu verdanken habe, ausgerechnet Frei heißt! Folglich heißen die Ironikerinnen dieses Buches Dani, Karin, Asja und Frau Ziegler. Sie eint die Gelassenheit, die letztlich Freiheit ermöglicht und Entwicklung zu unterstützen vermag. Dass die augenfälligsten Ironikerinnen dieses Romans Frauen sind, könnte Zufall sein. Es bedeutet keinesfalls, dass Männer (und Manager) nicht in der Lage wären, die Fähigkeit der Ironie zu erwerben – was hoffentlich Holm, Thomas, Herr Simonis und andere Beispiele belegen können. Dass die ersten Ironikerinnen, denen ich für die Unterstützung während der Ausarbeitung des Textes danken möchte, ebenfalls Frauen sind, ist mit Sicherheit Zufall – oder Konsequenz eines Gebotes der Höflichkeit. 301
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Wie dem auch sei, danke ich Monika für ihre großartige Anteilnahme ganz herzlich. Auch über die Anteilnahme anderer Freunde habe ich mich gefreut. Nennen möchte ich Andrea, Katy, Manu, Mirjam und nicht zuletzt so männliche Namen wie Detlef, Rüdiger, Stefan und Volkmar. Nicht alle Begegnungen, die dazu beigetragen haben, dass dieses Buch entstanden ist, kann ich hier aufzählen; es sind sehr viele. Aber ich bin dankbar für die hilfreichen Signale und Anregungen. Doch letztlich bleibt es ein Rätsel, wie sich eine Idee zu diesem Roman mausern konnte. Wahrscheinlich hätte auch in diesem Fall alles ganz anders kommen können.
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Literaturempfehlungen
Falls Sie weiter schmökern und sich vielleicht – so wie Holm Kenning auf seiner Kreuzfahrt – von einigen Büchern inspirieren lassen wollen, möchte ich Ihnen hier einige empfehlen. Darunter befinden sich nicht nur Fachbücher, sondern auch Werke von Autoren, die etwas über das Leben zu erzählen haben. Bücher sind nützlich, wenn sie Lust machen, sich mit einem Thema zu beschäftigen – auf kompetente, kreative, humorvolle Weise: Borg, Ingwer: Führungsinstrument Mitarbeiterbefragung. VfAP, Göttingen 2000. Breuer, Reinhard (Hrsg.): Der Flügelschlag des Schmetterlings – Ein neues Weltbild durch die Chaosforschung. DVA, Stuttgart 1993. Claxton, Guy: Die Macht der Selbsttäuschung – Der gesunde Menschenverstand und andere Irrtümer. Piper, München 1997. DeMarco, Tom: Spielräume – Projektmanagement jenseits von Burn-out, Stress und Effizienzwahn. Hanser, München 2001. Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen. Rowohlt, Reinbek 1989. Feynman, Richard P.: »Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!« – Abenteuer eines neugierigen Physikers. Piper, München 2002. Forgas, Joseph P.: Soziale Interaktion und Kommunikation. Beltz, Weinheim 1999. 303
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Frei, Felix u.a.: Die kompetente Organisation. Qualifizierende Arbeitsgestaltung – die europäische Alternative. Mit einer Methodik zum Business Reengineering. vdf Hochschulverlag, Zürich 1996. Frei, Felix: Voodoo-Management. Unveröffentlichtes Manuskript zum Management des Wandels (www.aoc-consulting.com). Frisch, Max: Homo Faber. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1957. Gaarder, Jostein: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie. Hanser, München 1993. Irving, John: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker. Diogenes, Zürich 1989. Maier, Christian: Spielraum für Wesentliches – Inner Game, mit mehr Leichtigkeit leben, lernen und arbeiten. Bildung und Wissen, Nürnberg 2002. Malik, Fredmund: Führen, Leisten, Leben – Wirksames Management für eine neue Zeit. Heyne, München 2001. Nadolny, Sten: Die Entdeckung der Langsamkeit. Piper, München 1983. Neuberger, Oswald: Führen und führen lassen. Ansätze, Ergebnisse und Kritik der Führungsforschung. UTB, Stuttgart 2002. Orwell, George: 1984. Ullstein, München 2000. Sprenger, Reinhard K.: Mythos Motivation – Wege aus der Sackgasse. Campus, Frankfurt 2002. Strohm, Oliver, Ulich, Eberhard (Hrsg.): Unternehmen arbeitspsychologisch bewerten. vdf Hochschulverlag, Zürich 1997.
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Vester, Frederic: Die Kunst vernetzt zu denken – Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. DVA, Stuttgart 2000. Watzlawick, Paul: Vom Schlechten des Guten – oder Hekates Lösungen. Piper, München 1997. Zähme, Volker: Schnellkurs Barock. DuMont, Köln 2000.
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art matters hall, 1999: Die Leuchtkastenarbeit »hall« gehört zu einer Gruppe von Fotoarbeiten, die von Felix Weinold im Stadtteil Chelsea von New York aufgenommen wurden. Die Idee war, möglichst lapidare und thematisch unspektakuläre Motive zu wählen, die erst durch nachträgliche Bearbeitung am Computer bildhaft wurden. Im Falle von »hall« handelt es sich um eine Nachtaufnahme der Eingangshalle eines Bürogebäudes. Der entscheidende manipulative Eingriff ist das Unscharfstellen des gesamten Bildes bis auf die Bereiche, die einen bestimmten Schwärzegrad übersteigen. Damit wird das Bild zerlegt in Bereiche, die in einen Nebel getaucht sind, und schwarzen Bereichen, die harte Kanten aufweisen. Die Zerlegung führt gleichzeitig zu einer Umwandlung des Motivs in ein Bild, das sich auf dem Grat zwischen unwirtlicher Gegenständlichkeit und geheimnisvoller Ungegenständlichkeit bewegt. Felix Weinold, geb. 1960, stellt mit seinen fotografischen Arbeiten die Frage nach der Wirklichkeit der Bilder in der Epoche der Digitalisierung. Durch computergestützte Eingriffe in die fotografischen Ergebnisse seiner Entdeckungsreisen manipuliert er vordergründig seine Bilder, tatsächlich jedoch die Wahrnehmung des Betrachters. Felix Weinhold studierte an der Akademie der Bildenden Künste, München. art matters ist ein Beratungsunternehmen an der Schnittstelle von Wirtschaft und Kunst. Die gezielte Auseinandersetzung mit Künstlern und künstlerischen Positionen stärkt Identität, Image und Innovationskraft von Unternehmen, die von art matters beraten werden. art matters GmbH Ismaninger Straße 51 81675 München 0 89 - 41 90 29 99
[email protected] www.artmatters.de
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