Gruselspannung pur!
Schrei, wenn dich der Werwolf packt!
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Die Gefangene bäum...
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Gruselspannung pur!
Schrei, wenn dich der Werwolf packt!
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Die Gefangene bäumte sich in ihren Fesseln auf und schrie, bis ihre Stimme versagte. »Aber wer wird denn so ein Theater machen?« Die Worte des großen, breitschultrigen Mannes wurden durch den Mundschutz gedämpft, der sein Gesicht bis zu den Augen verdeckte. Langsam trat er aus dem Schatten auf die junge Frau zu. Sie sah seine ganz in Weiß gekleidete Gestalt. Die von Gummihandschuhen bedeckten Hände. Und sie sah die eisgrauen Augen, in denen jegliches Gefühl fehlte. Als die junge Frau in diese Augen blickte, wußte sie, daß sie von diesem Mann keine Gnade zu erwarten hatte. Trotzdem flehte sie ihn an. Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
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»Bitte - bitte nicht…« In dem Kellerraum war es kalt. Doch weder die nackte Frau noch ihr Peiniger schienen die Kälte zu spüren. Sie lag auf dem ausgedienten Behandlungsstuhl einer Zahnarztpraxis und war mit Klebeband daran gefesselt worden. Nur die Finger konnte sie bewegen. Gesicht und Oberkörper der Frau glänzten vom Angstschweiß. Verzweifelt bäumte sie sich auf, stemmte sich gegen ihre Fesseln. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie den Mann in Weiß, der an ihre Seite trat. »So, dann wollen wir mal…« murmelte er unter der Gesichtsmaske, streckte sich und schaltete ein gleißendes, kreisrundes OP-Licht an. Die junge Frau schloß sofort die Augen, als der grelle Lichtstrahl ihr Gesicht traf. Als sie Augenblicke später die Lider hob, fiel ihr Blick auf den Mann in Weiß und auf die Zange, die er in der Rechten hielt. Seine behandschuhte Linke drückte ihre Schulter zurück. Mit einem Ruck kippte die Lehne des Behandlungsstuhls. Der Mann in Weiß hob die Zange. Das grelle OP-Licht brach sich an dem blanken Metall. »Entspannen Sie sich, meine Liebe«, bat der Vermummte fast höflich. »Bitte, tun Sie das nicht«, bat die junge Frau. »Tun Sie mir nicht weh! Bitte…!« »Nun öffnen wir ganz weit den Mund und sagen laut Aah…« Die Zange näherte sich dem angstverzerrten Gesicht, und die junge Frau verlor die Beherrschung. Sie schrie wie niemals zuvor… * Die junge Kripobeamtin mit dem kurzgeschnittenen Haar preßte sich an die Wand neben der Stahltür. Sie hielt ihre Dienstpistole schußbereit. Ihr Atem bildete in der kalten Winterluft kleine verräterische Wölkchen. »Nun mach schon, Chef«, murmelte Tessa Hayden ungeduldig. Immer wieder schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach neun Uhr morgens. Die Fahnderin stand dicht vor der Lösung des schwersten Falls ihrer Laufbahn. Es ging um die Aufklärung 3
mehrerer brutaler Morde. Der Leiter der Soko, Hauptkommissar Peter Langenbach, akzeptierte, daß Tessa nicht wie ein zerbrechliches Zier-Püppchen aus gefährlichen Situationen herausgehalten, sondern als vollwertiges Mitglied der Soko akzeptiert werden wollte. Dennoch hätte er sie wegen der Gefährlichkeit des Serienkillers am liebsten im Hintergrund oder am Schreibtisch gewußt. Am Heiligabend hatte das Phantom in einer Wohnung in der Leipziger Südstadt unter den Partygästen ein wahres Blutbad angerichtet. Mit einem makabren Sinn für Humor hatte der Mörder dann seine Opfer mit Geschenkpapier und Schleifchen versehen. Das konnte doch nur ein Wahnsinniger sein! Das Verbrechen war an Scheußlichkeit kaum zu überbieten. Etliche Beamte der Soko hatten sich bei der Besichtigung des Tatorts übergeben müssen. Der Heiligabend-Mord hatte in Tessa eine ohnmächtige Wut aufkeimen lassen. Sie verbiß sich regelrecht in den Fall, um den grausamen Mörder so bald wie möglich zu stellen. Der entscheidende Hinweis kam aus dem Rotlichtmilieu. Tessa hatte ihre Informantin zwar nicht mehr retten können, aber noch im Sterben hatte das Mädchen der Fahnderin eine Information geben können, die Tessa an diesen Ort geführt hatte. Die Polizistin ließ ihre Blicke über den Hof vor der Halle schweifen. Sie befand sich auf dem Gelände einer ehemaligen Buchdruckerei in der Nähe der Alten Messe. Trostlose Backsteingebäude wechselten sich mit flachen Hallen ab. Die Fensterscheiben in den Gebäuden waren längst von frustrierten Jugendlichen eingeworfen worden. Abgesehen von einigen Zeitungsfetzen, die über den Hof flatterten, regte sich nichts. Alles war ruhig. »Mensch, Chef, rück an! Ich halt's nicht mehr aus!« stieß die Fahnderin zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. Tessa platzte schier vor Ungeduld. Wenn ihre Informationen stimmten, hielt sich der »Schnitzer« in dieser Halle auf. Tessa hatte ihren Vorgesetzten über Funk benachrichtigt und mit ihm vereinbart, daß er sie hier treffen sollte. Der Hauptkommissar wollte ein Sondereinsatzkommando als Verstärkung mitbringen. Aber Tessa war ungeduldig, und ihr Walkie-talkie schien defekt. Ein weiterer Blick auf die Armbanduhr. Tessa gab dem Hauptkommissar und seinen Männern noch fünf Minuten. Wenn 4
sie dann nicht eingetroffen waren, würde sie einen Alleingang wagen. Die Zeit verstrich, ohne daß jemand auf dem Schlachthofgelände auftauchte. »O Shit!« fluchte Tessa leise vor sich hin. Sie wußte, daß es äußerst riskant war, ohne Rückendeckung gegen so einen Gewaltverbrecher vorzugehen, aber sie wollte unbedingt verhindern, daß er noch ein Opfer fand. Noch zögerte Tessa. Schweißtropfen perlten auf ihrer Stirn. Ihre Anspannung wuchs. Ein dumpfer, leiser Schrei nahm Tessa die Entscheidung ab. Der Kopf der Fahnderin ruckte herum. Sie hielt den Atem an, lauschte. Sie hatte sich nicht verhört. Wieder drang ein leiser Schrei an ihr Ohr. Ein Schrei, der in höchster Todesangst ausgestoßen worden war! »Sorry, Chef, aber jetzt hol ich mir die Ratte!« hauchte Tessa. Ihre behandschuhten Finger schlossen sich um den Knauf der Stahltür. Ohne Schwierigkeiten ließ sich die schwere Tür aufziehen. Tessa huschte in die Halle und schaute sich im Halbdunkel um, während hinter ihr die Stahltür zuschnappte. Erneut waren Schreie zu hören. Für Tessa Hayden gab es kein Halten mehr. Gewandt hastete sie zwischen gewaltigen Papierrollen hindurch, bis sie eine schmale Treppe erreichte. Mit schußbereiter Waffe bewegte sich die Fahnderin über die Stufen. Der Herzschlag hämmerte in ihren Ohren. Die Soko-Beamtin erreichte eine schmale Galerie, von der. sie einen weiß gekachelten Kellerraum überblicken konnte. Sie entdeckte einen hufeisenförmigen Arbeitstisch, eine OP-Lampe und einen Behandlungsstuhl, auf dem sich eine nackte Frau in ihren Fesseln wand. Von dem »Schnitzer« war nichts zu sehen. Die Fahnderin hastete eine Stahltreppe hinunter. Dumpf hallten ihre Schritte auf den Metallstufen. Am Fuß der Treppe sicherte Tessa nach allen Seiten. Ihr kaltblütiger Gegner ließ sich jedoch nicht blicken. Rasch durchquerte Tessa den Raum und beugte sich über die gefesselte Frau. »Beruhigen Sie sich«, sagte sie leise. »Ich hol Sie hier raus.« Das Opfer des »Schnitzers« konnte Tessa nicht antworten. Klebeband verschloß ihren Mund. Die Frau rollte mit den Augen 5
und versuchte den Kopf zu bewegen, was ihr jedoch nicht gelang. Einen Moment lang fragte sich Tessa, wieso die Frau mit verklebtem Mund hatte schreien können, verwarf aber den Gedanken gleich wieder. Auf dem Arbeitstisch fand sie ein Chirurgenbesteck. Edelstahlzangen, Messer, Klemmen, Scheren und Sägen. Tessa wählte ein Messer mit einer breiten Klinge aus und machte sich an den Klebebändern zu schaffen. Die Nackte gab gutturale Laute von sich, bis Tessa behutsam den Klebestreifen von ihren Lippen zog. »Vorsicht!« stieß die Gefesselte hervor. »Er ist…« »Bleiben Sie ganz ruhig«, unterbrach Tessa. »Gleich sind Sie frei!« Sie lächelte der Frau zu. Den Schatten des weiß gekleideten Mannes hinter ihr bemerkte sie nicht. Tessa hielt der Frau das Messer hin. »Machen Sie selbst weiter. Ich sehe mich hier noch etwas um.« Die Frau starrte mit angstverzerrtem Gesicht zu Tessa auf und schrie. Im nächsten Augenblick wischte ein gewaltiger Schlag das Messer aus Tessas Hand. Und ein muskulöser Arm legte sich von hinten um ihren Hals und zog sie hoch. Frau Hayden wurde von der Attacke des »Schnitzers« völlig überrascht. Verzweifelt versuchte sie, den Griff zu lockern. Es gelang ihr nicht. Tessa schlug, kratzte und trat um sich. Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen den wahnsinnigen Mörder, der unschuldigen Menschen unerträgliche Schmerzen zugefügt hatte. Der Killer zerrte Tessa nach hinten. Die Fahnderin griff zu ihrer Pistole, aber auch damit hatte der Unbekannte gerechnet. Blitzschnell schoß seine Hand nach vorn und umklammerte Tessas Handgelenk. Der Fahnderin wurde die Luft knapp. Immer weiter entfernte sie sich von der gefesselten Frau und damit aus dem Bereich des OPLichts. Von einem Augenblick zum anderen gab Tessa ihre Gegenwehr auf. Ihr Körper erschlaffte. Sie sackte im Griff des Wahnsinnigen zusammen. Der Mann schleifte die zierliche Gestalt ohne große Anstrengung mit sich. Der Klammergriff um ihren Hals und an ihrem Handgelenk lockerte sich irgendwann. Tessa Hayden hatte erreicht, was sie wollte. Mit einer blitzartigen Anspannung ihrer Muskeln warf sie sich hoch und dann nach vorn. Es gelang ihr tatsächlich, sich aus der 6
Umklammerung des »Schnitzers« zu befreien! Die Soko-Beamtin wirbelte herum und erstarrte. Sie schaute in ein Gesicht, das vor Wut und Haß zu einer furchterregenden Fratze verzerrt war. Schwarzes, mit grauen Strähnen durchsetztes Haar hing wirr vom Kopf. Das Gesicht war fahl. Geifer kam über die Lippen des Wahnsinnigen und tropfte in langen Fäden über das Kinn. Der Killer fauchte. »Du wirst mich nicht aufhalten! Niemand wird mich aufhalten! Ich habe die Macht über Leben und Tod! In mir lebt der Gefallene Engel!« Ein irres Lachen löste sich aus der Kehle des Wahnsinnigen. »Ihr habt mich die ganze Zeit nicht erwischen können, und dir wird es auch nicht gelingen, Kleine!« Der Irre strich Tessa über die Wange. »Ich werde mir besonders viel Mühe mit dir geben«, versprach er. »Es wird mir Freude bereiten, mich mit dir zu befassen.« »Und mir erst!« Tessa trat dem Wahnsinnigen mit voller Wucht gegen das Schienbein, befreite ihre Schußhand und rammte ihm den Pistolenlauf gegen das kantige Kinn! Mit einem gurgelnden Schmerzensschrei wich der »Schnitzer« zurück. Tessa ging in Combatstellung und zielte auf den Mann. »Ich verhafte Sie unter dem dringenden Verdacht des mehrfachen Mordes«, sagte sie mit harter Stimme. »Hände auf den Kopf - und drehen Sie sich um!« Ein Zittern lief durch die breitschultrige Gestalt des Serienmörders. Langsam hoben sich seine großen Hände. Dabei gab der Mann einen Ton von sich, der an das leise Wimmern eines Kindes erinnerte. Die Kopfbewegungen des Wahnsinnigen wurden immer schneller. Unwillkürlich wich die Fahnderin einen Schritt zurück und hob die Waffe. »Haben Sie nicht gehört? Sie sollen sich umdrehen!« Der Angriff des Killers erfolgte blitzartig und unvorhersehbar. Die massige Gestalt warf sich auf Tessa, stieß die Pistole zur Seite und versetzte der jungen Frau einen Stoß, der sie von den Beinen riß. Sofort war von dem wahnsinnigen Killer nichts mehr zu sehen. Die Polizistin sprang auf, hastete zu der Nackten hinüber und half ihr aus den Fesseln. Dann legte sie einen Arm um die Schultern der Frau und stützte sie. »Sehen wir zu, daß wir hier rauskommen«, entschied Tessa. Schrilles Gelächter war die Antwort. »Niemand entkommt dem 7
Gefallenen Engel!« Die Stimme des Irren brach sich an den kahlen Wänden. Tessa ließ ihre Blicke durch den Raum gleiten, schaute auch nach oben zur Galerie. Nirgends war eine verdächtige Bewegung zu erkennen. Langsam setzten sich die beiden Frauen in Bewegung. Sie wankten zu der Metalltreppe, die auf die Galerie führte. »Niemand wird mir mein Opfer nehmen! Niemand!« Die weißgekleidete Gestalt tauchte plötzlich riesengroß am Kopf der Treppe auf. Tessa gelang es gerade noch, einen Blick auf das jetzt unverhüllte Gesicht ihres Gegners zu werfen, bevor sie der wuchtige Tritt traf. Tessa wurde gegen die Wand geschleudert. Der Killer sauste die Treppe hinab, riß die schreiende Frau aus Tessas Griff, warf sie sich über die Schulter und stieß Tessa die Stufen hinunter. Stöhnend richtete sich die Polizistin auf, erhaschte einen Blick auf den fliehenden Irren und feuerte auf seine Beine. Das Krachen der Schüsse schien ihr das Trommelfell zerreißen zu wollen. Die Kugeln spritzten von den Wandkacheln weg. »Mist!« entfuhr es Tessa. Die Fahnderin hastete über die Metallstufen nach oben und rannte die Galerie entlang. »Komm, meine Kleine!« lockte die Stimme des Killers. Vorsichtig stieg Tessa die schmale Treppe hoch, die in die Druckereihalle führte. Sie folgte einem schmalen, verwinkelten Gang zwischen Regalen und Maschinen. Hinter jeder Ecke vermutete sie ihren Gegner. Als sie mit der Pistole ins Leere zielte, ertönte hämisches Kichern. Mit einem wütenden Aufschrei wirbelte Tessa um die nächste Ecke - und sah sich einem grobschlächtigen Kerl gegenüber, der sie angrinste. Tessa schrie erschrocken und drückte ab. Mehrmals. Dann mußte sie erkennen, daß sie ein lebensgroßes Reklameschild aus Emaille vor sich hatte. Zitternd warf sich Tessa gegen eine der großen Papierrollen und wechselte mit fliegenden Fingern das Magazin ihrer Waffe. Ruhig! schalt sie sich in Gedanken. Bleib ruhig, verdammt! Zögernd schob sich Tessa aus ihrer Deckung. In der Halle war es düster. Durch die verschmutzten Scheiben der schmalen Oberlichter drang schwach das Licht des trüben Wintermorgens. Irgendwo begann eine Maschine zu hämmern. Es war 8
ohrenbetäubend! Tessa biß die Zähne zusammen und schob sich vorwärts, nutzte jede Deckung aus. Dann mischte sich lautes Stampfen unter den Lärm! Tessa atmete tief ein. Sie wollte den Spielchen dieses Perversen ein Ende setzen. Jetzt und hier. Mit einem entschlossenen Nicken stieß sie sich ab und rannte in die Richtung, aus der das lauteste Geräusch kam. Sie gelangte an eine gigantische Druckerpresse. Ein dunkler Schacht tat sich vor Tessa auf. Tief unter sich sah sie den Stempel der Presse, der immer wieder nach unten rammte und die stampfenden Geräusche verursachte. Die Fahnderin blickte suchend an dem Maschinenkörper entlang, bis sie einen rechteckigen Kasten entdeckt hatte, der am Ende eines Kabels hing. Aus dem Kasten ragten ein roter und ein grüner Druckknopf. Mit zwei raschen Schritten hatte Tessa den Schaltkasten erreicht und rammte ihren Handballen gegen den roten Knopf. Das Getöse verstummte schlagartig. »Feierabend!« raunte Tessa Hayden. Das Gestampfe der Druckerpresse wurde von einem metallischen Klirren abgelöst. Gleichzeitig erklang ein gequälter Schrei. Tessas Kopf ruckte hoch. Die nackte Geisel des Wahnsinnigen raste schreiend auf Tessa zu! Nur knapp entging die Fahnderin dem herabsausenden Körper. Der »Schnitzer« hatte die Beine seines bedauernswerten Opfers an einer rostigen Kette befestigt. Die Frau sauste nach unten, an Tessa vorbei und in den Schacht hinein. Nur wenige Zentimeter oberhalb des Preßstempels blieb sie hängen. »Buh!« machte es hinter Tessa, die den Fall der Frau verfolgt hatte. Die Fahnderin fuhr herum. Vor ihr stand - der »Schnitzer«! »Hüte dich vorm Weißen Mann!« zischte der Irre in Abwandlung des alten Kinderreims. »Weil er dir sehr weh tun kann!« Seine Fäuste packten unvermittelt zu. Tessas Hand wurde hart gegen die Presse geschlagen. Die Pistole fiel ihr aus den Fingern. Der Wahnsinnige hatte Tessa an der Kehle gepackt und hievte sie nun über den Schacht der Druckpresse. »Siehst du, meine Kleine? Nun werde ich doch noch mein Opfer bekommen!« Tessa strampelte mit den Beinen, wehrte sich mit aller Kraft 9
und hatte dem »Schnitzer« doch nichts entgegenzusetzen. Dann hob der Wahnsinnige die strampelnde Fahnderin hoch und warf sie in den Preßschacht. Tessa landete auf einer Lage Papier und schaute nach oben. Sofort bemerkte sie das schreckerfüllte Gesicht ihrer Leidensgenossin und das gefletschte Gebiß des Psychopathen. Der beugte sich über die Öffnung und hob den rechteckigen Schaltkasten hoch, so daß Tessa ihn sehen konnte. Der Irre winkte ihr zu wie einem kleinen Kind. Gebannt beobachtete Tessa, wie sich die. Finger des Mannes den Schaltknöpfen näherten. »Paß gut auf, meine Liebe«, sagte der Irre zu der Nackten, die kopfüber an der Kette hing. »Dir ist kein so schneller Tod vergönnt. Mit dir habe ich noch Großes vor!« »Wir mit Ihnen auch!« zischte da eine sonore Stimme hinter dem Mann in Weiß. Der Irre erstarrte, als sich ein Pistolenlauf in seinen Nacken bohrte. »Wenn Sie eine falsche Bewegung machen, sind sie tot!« Eine Hand schob sich an dem Serienmörder vorbei und nahm ihm den Schaltkasten ab. Hauptkommissar Langenbach beobachtete, wie man dem »Schnitzer« Handschellen anlegte und ihn nach draußen schaffte. »Das hätte aber ins Auge gehen können!« tadelte er Tessa Hayden, die aus dem Schacht gezogen worden war und jetzt neben ihm stand. »Sorry, Chef«, murmelte Tessa. »Ihr habt euch aber auch ziemlich Zeit gelassen. Ich mußte was unternehmen, sonst hätte dieser Irre die Frau abgeschlachtet.« »Ich hoffe trotzdem, daß solche Alleingänge in Zukunft unterbleiben, Tessa.« Der Hauptkommissar deutete mit dem Kopf auf den Teufel in Weiß, der eben die Halle verließ. »Waldemar Ligusta. So heißt er. Ich weiß es von einem Informanten. Deswegen waren wir auch so spät dran. Wir mußten erst noch in Ligustas Wohnung.« Langsam verließen Pit und Tessa die Halle. »Ich komme wieder, denn niemand kann dem Gefallenen Engel Einhalt gebieten.« Waldemar Ligustas gellende Stimme jagte den Polizisten eiskalte Schauer über den Rücken. Und ein Jahr später machte Waldemar Ligusta seine Drohung wahr…
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* 6. Februar 1999. Die Ruhe der Nacht senkte sich über die Dächer der kleinen Stadt Schkeuditz bei Leipzig. Auch die Sächsische Klinik für Psychiatrie lag still und friedlich. Laternen strahlten die Klinik an, doch das Innere des Gebäudes lag weitgehend im Dunkeln. Auf den kahlen Fluren der einzelnen Stationen war die Nachtbeleuchtung eingeschaltet worden. Ein gedämpftes, grünes Licht, das den gebohnerten Linoleumböden einen schwachen Glanz verlieh. Niemand bemerkte den fledermausähnlichen Schatten, der sich aus dem Dunkel der Nacht auf das Klinikdach senkte. Niemand bemerkte die schattengleiche Gestalt, die durch einen Kamin in die Klinik gelangte und durch die dunklen Gänge huschte. Und niemand bemerkte, wie sich die Gestalt in ein Rauchgebilde verwandelte und unter der Türritze einer Zelle verschwand. Eine Ärztin und ein Pfleger versahen in dieser Nacht im Hochsicherheitstrakt der Klinik ihren Dienst. Der Pfleger blätterte im Playboy. Schon mehrmals hatte er das Faltbild in der Mitte des Heftes aufgeklappt und den nackten Körper des braungebrannten Playmates mit lüsternen Blicken verschlungen. Die diensthabende Arztin kam in die Pflegerloge, von wo aus man den Korridor durch eine breite Fensterfront überblicken konnte. Der Pfleger zuckte zusammen und legte das Magazin auf den Schreibtisch. Die Ärztin, eine attraktive Frau Ende Dreißig, nahm die Brille ab, reckte sich und schenkte sich etwas Kaffee ein. »Mir reicht's für heute«, sagte sie zwischen zwei Schlucken. »Scheint eine ruhige Nacht zu werden.« Die Neurologin trat hinter dem Pfleger an den Schreibtisch, drehte das Magazin um und schlug es in der Mitte auf. »Nicht übel«, sagte die Ärztin. »Die verstehen was vom Fotografieren. Ich übrigens auch.« Sie lächelte den verdutzten Pfleger an, dem vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht stieg. »Ich geh schlafen. So gegen eins drehen Sie noch mal Ihre Runde, Hartmut, und das war's dann. Sie wissen, wo Sie mich finden, falls Sie mich brauchen.« Die Ärztin nickte ihm zu und verließ das Pflegerzimmer. Und ob ich dich brauche, dachte Hartmut und verfolgte jede Bewegung der Ärztin. Mit dir würde ich auch gerne mal… 11
Achselzuckend griff er wieder nach dem Magazin. Diesmal sah er das Playmate allerdings mit anderen Augen. Es hatte das Gesicht einer gewissen Ärztin. Hartmut »las« sich fest und ließ fast eine Stunde verstreichen, ehe er die letzte Runde antrat. Langsam trottete er an den weißen Türen vorbei, die nur von außen geöffnet werden konnten. Hartmut schaute nicht in jedes Zimmer. Er wunderte sich, warum es in dieser Nacht so ruhig war. Sonst waren die Insassen in diesem Trakt kaum zu bändigen. Je weiter der Pfleger ging, desto stärker überkam ihn das Gefühl, als wäre hier die Ruhe vor dem sprichwörtlichen Sturm eingekehrt. Er sah durchs Guckloch die Patienten, die in ihren Zellen standen und lautlos vor sich hin lamentierten. Patienten, die in ihrer eigenen Phantasiewelt lebten. Und Patienten, die still in ihren Betten lagen. Oder auf einem Stuhl saßen und durch vergitterte Fenster in die Nacht hinausstarrten. So wie Waldemar Ligusta. Er war der gefährlichste Insasse der Klinik. Seine abscheulichen Verbrechen waren damals durch alle Medien gegangen. Hier in der Klinik gab sich der Killer sanft. Er starrte aus dem Fenster, sprach nicht, bewegte sich kaum, schien wie erstarrt. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Der Pfleger stutzte. Jetzt war der Stuhl vor dem Fenster leer! »Ich glaub, ich spinne!« stieß der Pfleger hervor, schob die Riegel zurück und schloß die Zellentür auf. »Was ist los, Ligusta? Wieso sitzen Sie nicht auf Ihrem Stuhl?« Hartmut erhielt keine Antwort. Ligusta war verschwunden! Da flirrte auf dem Bett plötzlich die Luft, verdichtete sich zu einer menschlichen Gestalt. Ein haariger Geselle manifestierte sich, dessen Körper mit einem schwarzbraunen Pelz bedeckt war. Ein langer Schwanz peitschte die Decken. Ein spitz zulaufendes Gesicht mit gräßlichen gelben Zähnen und leuchtend gelben Augen grinste dem Pfleger entgegen. Dann wuchsen dem Wesen Hörner und ein Ziegenbart! Hartmut war entsetzt. »Das ist deine Gelegenheit, diesen ungastlichen Ort zu verlassen, Freund Waldemar«, sagte Mephisto mit leisem Meckern in der Stimme. Stinkender Schwefelatem drang aus seinem Mund. Bevor der Pfleger die Worte des Höllenfürsten registrierte, 12
tauchte hinter ihm Waldemar auf. Mephisto hatte es geschickt verstanden, den Killer vor den Blicken des Pflegers zu verbergen. Hartmut wirbelte herum. Eine schwere Hand legte sich auf seine breite Schulter. Ein gewaltiger Ruck ging durch seinen Körper. Mit ungläubigem Staunen beobachtete Hartmut, wie Ligusta eine blutende Hand hob. Darin lag ein pulsierendes Herz. Hartmuts Herz! »Niemand hält den Gefallenen Engel auf!« Diese Worte aus Ligustas Mund waren das Letzte, was der Pfleger hörte, bevor ihn die Schwingen des Todes umfingen. »Du bist nicht der Gefallene Engel«, widersprach Mephisto meckernd. »Aber deine Anmaßung und Überheblichkeit gefallen mir. Ich habe dich beobachtet. Damals, vor einem Jahr. Jetzt ist die Zeit reif, daß du wichtige Aufgaben für mich erledigst. Du fühlst dich der Hölle verbunden, und ich werde dich zu einem meiner Wegbereiter auf Erden machen! Du wirst mächtig sein, aber du wirst auch einen mächtigen Gegner haben. Bist du bereit, der Hölle zu dienen?« Ligusta nickte. Der Höllenfürst bleckte triumphierend die Zähne. »Und jetzt hör zu. Ich habe mir eine hübsche kleine Überraschung für meine Gegner ausgedacht…« Nach Mephistos Abgang kam Bewegung in die Insassen des Sicherheitstraktes. Sie brüllten, sangen, lachten, kreischten und hieben ihre Köpfe und Fäuste gegen die Wände und Türen ihrer Zellen… Unberührt von dem Getöse schritt der »Schnitzer« durch den dunklen Korridor. Auf der rechten Seite öffnete sich eine Tür. Eine Ärztin trat schlaftrunken heraus. »Hartmut?« rief sie. »Was, zum Teufel, ist denn los?« Da sie keine Antwort erhielt, rannte die Ärztin den Korridor entlang, schaute kürz in die Pflegerloge, fand aber niemanden vor. Dann bemerkte sie die offene Tür von Ligustas Zelle, und ihr Blick fiel auf die blutüberströmte Leiche des Pflegers. »O mein Gott!« »Der kann dir auch nicht mehr helfen, meine Schöne«, sagte Ligusta leise hinter ihr. Seine Pranke schloß sich um die Kehle der Neurologin. Ihre Schreie gingen in dem Krach unter, den die Patienten in ihren Zellen vollführten. 13
Waldemar Ligusta aber, der »Schnitzer«, war zurückgekehrt! * Noch in dieser Nacht machte sich Ligusta an die Erfüllung seiner Aufgaben. Mit dem Wagen der Arztin war er ins rheinische Bedburg gefahren, um dort den ersten Teil von Mephistos teuflischem Plan zu erfüllen. Mit einem Spaten bewaffnet, schlich er über den Friedhof und begab sich in den Teil, wo die ältesten Gräber lagen. Hier hatte er im Mondlicht bald gefunden, was er suchte. Vor einem verwitterten Grabstein beugte er sich nieder, schabte mit dem Daumennagel über die kaum noch lesbaren Buchstaben und Zahlen und las: Peter Stubbe, gestorben am 28. Oktober A.D. 1589. Ein fanatisches Glitzern lag in Ligustas Augen, als er zu graben begann. Er spürte weder die Kälte noch die Anstrengung. Mühelos stieß er das Spatenblatt in die gefrorene Erde. Einen Sarg gab es nicht mehr. Dafür aber eine Lage hellgrauer Asche, aus der noch winzige Knochensplitter ragten. Mephistos Helfer zog eine Glasphiole aus der Tasche und füllte vorsichtig etwas von der Asche hinein. Dann eilte er zum Wagen. Ligusta gönnte sich keine Ruhe. Er verließ Bedburg und fuhr nach Sachsen zurück. Sein Weg führte ihn in die Nähe eines Dorfes, das zwischen Wernigerode und Magdeburg lag. Hier lenkte er am nächsten Nachmittag den Wagen auf einen Waldweg, um vor den Blicken unerwünschter Beobachter sicher zu sein. Kurz vor Mitternacht verließ der »Schnitzer« den Wagen und eilte zu einer Lichtung. Nichts regte sich. Alles war still. Nur Ligustas Atemzüge waren zu hören. Der Mond tauchte die Lichtung in silbriges Licht. Dunkel erhob sich ein gewaltiger Felsen an einer Seite der Lichtung, dessen Form an die Menhire keltischer Hünengräber erinnerte. Ligusta kniete neben dem Felsen nieder, rammte ein Messer in den Boden und hob eine flache Kuhle aus. Vorsichtig öffnete er die Phiole und schüttete die Asche in die Vertiefung. Mit dem Messer brachte sich Ligusta dann einen Schnitt im 14
Handballen bei. Die ersten dunklen Blutstropfen wurden von der Asche rasch aufgesaugt… »Es ist vollbracht!« schrie er, und seine Stimme hallte durch den nächtlichen Forst. Der wahnsinnige Satansdiener trat zurück und beobachtete den Stein und die Kuhle davor. Lange tat sich nichts. Stille und Einsamkeit umgaben Ligusta und den Felsen. Fast eine Stunde verstrich. Dann begann sich der Boden zu heben, und unter dem Felsen erklang ein dumpfes Grollen. Aufsteigender Rauch hüllte den gewaltigen Stein ein. Fasziniert beobachtete Waldemar Ligusta, was geschah. Der Boden rings um den Stein schien zu beben. Erde wurde aufgeworfen. Der Rauch verdichtete sich. Das Grollen nahm zu und wurde irgendwann von einem Stöhnlaut durchbrochen. Der Satansdiener traute seinen Augen nicht. Aus dem nebelartigen Rauch schälte sich eine Hand! Der Rauch schien zurückzuweichen. Ein nackter Arm wurde sichtbar. Alte, schmutzige Stoffetzen. Eine Schulter. Und dann ein Kopf! Langes, schwarzes Haar hing in Strähnen bis auf die Schultern. Das Gesicht war hager, zerfurcht und wurde von einer mächtigen Hakennase und stechenden, pechschwarzen Augen beherrscht. Um die schmalen Lippen lag ein verächtlicher Zug. »Endlich!« stöhnte der Unbekannte, der dem Waldboden entstiegen war. »So viele Jahre - eine Ewigkeit! Und doch bin ich zurückgekehrt! Aaah!« Der hagere, hochgewachsene Mann hob den Kopf zum Himmel und breitete die sehnigen Arme aus. Das bleiche Mondlicht beschien das zerfurchte Gesicht. Tief atmete der Unheimliche ein, schien Kraft zu tanken. Wieder stöhnte er laut. Und dann geschah etwas, das selbst Waldemar Ligusta aus der Fassung brachte. Die gespreizten Finger des Unheimlichen veränderten sich. Borstige Haare durchbrachen die Haut und bedeckten die Handrücken. Die Fingernägel wurden zu Krallen. Unter dem zerfetzten Gewand des Unheimlichen spielten die Muskeln und Sehnen. Lautes Knacken war zu hören. Der Unheimliche warf den Kopf in den Nacken. Auch hier begann ein schrecklicher Veränderungsprozeß. Was Waldemar Ligusta in Gang gesetzt hatte, konnte nicht mehr aufgehalten werden. 15
Augenblicke später erhob sich eine hünenhafte Gestalt neben dem Felsbrocken. Ein gellender Schrei löste sich aus der Kehle der Gestalt und ging in ein klagendes Geheul über. * Wir hatten mit Langenbachs nachträglich den Jahreswechsel gefeiert, denn nur an diesem Wochenende hatten wir alle frei gehabt. Peters achtjährige Tochter Anna, genannt »Floh«, war wieder mal in ihrem Element und hielt uns mit immer neuen Ideen auf Trab. Außer Tessa und mir waren noch einige andere Freunde der Familie anwesend. Susanne Langenbach hatte allerlei kulinarische Köstlichkeiten vorbereitet. Auch ein Fondue wartete ungeduldig darauf, unsere hungrigen Mägen zu stopfen. Daß dabei nicht nur gegessen wurde, ist klar. Pit schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, mich unter den Tisch zu trinken. Er merkte nicht, wie seine Zunge immer schwerer wurde und ich immer weniger trank. »Mein lieber Likolaus«, lallte er fast und fuchtelte mit dem Zeigefinger vor mir herum. »So leicht kommst du mir - hicks - nicht davon. Die Geschenke sind verteilt. Dein Sack ist leer!« Er legte Tessa die Hand aufs Knie und kicherte. »Tut mir echt leid, kleine Tessa! Jetzt kriegt dein Likolaus nicht mal mehr den - Klüppel aus dem Sack…« Pit wollte mir nachschenken, als seine Tochter wie ein Wirbelwind auf ihn zustürzte und ihm aus dem Lauf auf dem Schoß sprang. »Autsch!« deklamierte Pit. »Nich so stürmisch, Floh.« »Knüppel aus dem Sack paßt aber nicht zum Nikolaus, Paps«, flötete die Kleine. »Der Knüppel aus dem Sack kommt in Tischlein Deck Dich! vor.« Verblüffung zeichnete sich auf Pits Gesicht ab. Er schaute Anna, die so gern Annika geheißen hätte, ernst an und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Jawoll, Fräulein - Annika. Bitte vielmals um Verzeihung. Wird nicht wieder vorkommen!« Als er sich uns zuwandte, strahlte sein Gesicht vor Vaterstolz. Und Anna freute sich über ihren Lieblingsnamen. »Komm, Floh, sehen wir mal, wem zuerst das Fleisch vom Spieß fällt«, schlug ich vor und nahm Anna bei der Hand. 16
»Au fein! Und wer verliert, muß nachher beim Aufräumen helfen!« Floh war nicht nur so clever wie ihr Vater, sondern auch so gewitzt. Ich verlor. Tessa und ich verließen erst am frühen Morgen die Party. Wir hatten Susanne noch geholfen, die Reste des Abendessens wegzuräumen. Pit war dazu leider nicht mehr in der Lage. »Zu dir oder zu mir?« stellte mir Tessa die obligatorische Frage. »Laß uns in die Stadt fahren, Tess«, schlug ich vor. »Ein kleiner Spaziergang wird uns gut tun.« Arm in Arm schlenderten wir durch Weimar. Es war herrlich, in der kalten, klaren Nachtluft durch die stillen Straßen zu spazieren. »Woran denkst du?« unterbrach Tessa unser Schweigen und schmiegte sich eng an mich. Ich hob den Kopf. »An dich«, antwortete ich. »An uns.« »Du lügst«, sagte sie mir auf den Kopf zu. »Du fragst dich, ob das die Ruhe vor dem Sturm ist.« »Laß uns nicht die Zeit mit häßlichen Gedanken verschwenden«, bat ich. »Die Nacht ist so friedlich - ich könnte immer so mit dir Spazierengehen.« »Schmeichler. Gehen wir noch runter zu den Anlagen?« Wir schwenkten nach rechts ab und schlenderten an der Ilm entlang. Nicht weit vor uns brannte ein Lagerfeuer. Dick vermummte Jugendliche standen um das Feuer herum und sangen, vielleicht hörten sie deshalb nicht das Wolfsgeheul! * Einen Augenblick glaubte ich, mich verhört zu haben. In Deutschland gab es keine freilaufenden Wölfe! Dumpf drang der Gesang an mein Ohr und verstummte allmählich. Alles um mich herum verschwamm: Tessa, die Jugendlichen sowie die dunkle Umgebung. Aus den Flammen des Lagerfeuers aber kristallisierte sich ein dreieckiges Gebilde. Es drehte sich um sich selbst, wurde immer größer und schien mir entgegenzustürzen. Das seltsame wirbelnde Gebilde und die Flammen bildeten eine Einheit, deren Bewegungen in meinen Augen schmerzten. Ich bemühte mich, einen klaren Blick zu bekommen. Als es mir 17
endlich gelang, stand das dreieckige Gebilde riesengroß vor mir. Es war ein Kopf. Ein Kopf mit Mephistos abscheulicher Fratze! »Welche Scheußlichkeit hast du dir jetzt wieder ausgedacht, Schwefelfurzer?« schrie ich. Der Höllenfürst zeigte seine schwefelgelben Zähnen. Meine Trommelfelle erzitterten unter dem meckernden Gelächter. Riesengroß wuchs der Kopf des Höllenfürsten vor mir auf. Ich kam mir recht hilflos vor und schrie, aber kein Laut drang über meine Lippen. Sein Maul senkte sich über mich. Ich wurde in einem riesigen Strudel herumgewirbelt. Wußte nicht, ob ich alles real erlebte oder ob es sich um einen Traum handelte. Verzweifelt versuchte ich, irgendwo Halt zu finden. Es gelang mir nicht. Der Wirbel hörte dann plötzlich auf. Ich stand auf festem Boden. Um mich herum war es dunkel. Ich hob den Kopf und sah Mond und Sterne am klaren Nachthimmel. Kopfschüttelnd betrachtete ich meine Umgebung, eine Waldlichtung. Ich drehte mich im Kreis, wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte. An einem Ende der Lichtung entdeckte ich einen gewaltigen Felsbrocken. Er erinnerte mich an die Hinkelsteine, die ich aus Comics kannte. Zögernd wandte ich mich dem Riesenstein zu. Bevor ich den Felsen erreichte, hörte ich im Wald einen unterdrückten Schrei. Ich bog nach rechts ab und suchte mir einen Weg zwischen den Bäumen. Trockene Zweige knackten unter meinen Schritten. Blätter raschelten. Aber darauf nahm ich keine Rücksicht. Der Schrei hatte ängstlich geklungen. Jemand war in Not und brauchte meine Hilfe. Mit eiligen Schritten brach ich zwischen den Bäumen hervor und befand mich auf einem Richtplatz! Hier wimmelte es von Menschen. Drei Henkersknechte und ein wimmernder Delinquent befanden sich auf dem Holzpodest. Schwarze Kapuzen mit Augenschlitzen bedeckten die Köpfe der Henkersknechte und verliehen ihnen ein furchterregendes Aussehen. Auf einen hölzernen Rahmen war der nackte Körper eines Mannes gespannt worden. Jammernd und flehend warf der arme Kerl seinen Kopf hin und her und bäumte sich in seinen Fesseln auf. Einer der Henkersknechte trat auf den Verurteilten zu und schlug ihn mit einer glühende Eisenstange. Ich schloß angewidert die Augen und öffnete sie gleich wieder, denn der Schmerzensschrei des Gemarterten verwandelte sich in 18
das Geheul eines Wolfs! Bevor ich mich durch die Menschenmenge drängen konnte, um mir den Mann genauer anzusehen, begann sich alles um mich herum zu drehen. Wie bei einem Karussell. Ich drehte mich mit, um aufkommenden Schwindelgefühlen entgegenzuwirken, und senkte die Augenlider. Das Drehen ließ nach und hörte dann auf. Ich befand mich wieder im Wald. Langsam wandte ich mich nach links und tauchte tiefer zwischen den Stämmen unter. Vor mir wurde es heller. Das Mondlicht riß eine weitere Schreckensszene aus der Dunkelheit. Der Mann trug einen weißen Kittel und eine weiße Gesichtsmaske. Wie ein Chirurg. Der Fremde schaute zu mir herüber und hob eine Edelstahlschere. Der unheimliche Arzt beugte sich über einen Behandlungsstuhl, auf dem sich eine nackte Frau wand. Sie warf den Kopf zurück und starrte auf die blinkende Schere, die sich ihrem weit geöffneten Mund näherte. Ein gellender Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Ich kannte die Stimme. Sie gehörte Tessa Hayden. »Tessa!« schrie ich und stürzte auf meine Freundin und ihren Peiniger zu. »Tessa! Neeeiinn!« Die Schere senkte sich, und Tessas Schrei wurde zu einem gequälten Gurgeln. Mit langen Sprüngen hetzte ich über die Lichtung und sprang den Mann in Weiß an. Ich fiel ins Leere und prallte hart auf den Waldboden. Benommen richtete ich mich auf. Tessa, der Mann in Weiß und der Behandlungsstuhl hatten sich in Luft aufgelöst. Dafür erhob sich ganz in meiner Nähe der riesige Felsbrocken, den ich anfangs gesehen hatte. Ich kam hoch und betrachtete den Hinkelstein mißtrauisch. Zögernd näherte ich mich dem Felsen. Mephisto hat sich bestimmt noch eine Schweinerei für mich aufgehoben, überlegte ich. Ist halt so seine Art. Ich erreichte den Menhir und legte meine Hand darauf. Der Stein war lauwarm und schien mit Leben erfüllt zu sein. Ich bemerkte, wie die Oberfläche des Steins pulsierte. Aber das konnte auch Einbildung oder eine Gaukelei des Megadämons sein. Ich wollte den Stein umrunden und mir die Rückseite ansehen, als sich eine schwere, knochige Hand auf meine Schulter legte. Ich wirbelte herum und sah mich einem alten Mann gegenüber, der wie ein Mönch gekleidet war. Er trug ein kuttenähnliches Gewand. Um die Körpermitte hatte er eine Kordel geschlungen. 19
Langes, graues Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Ein eisgrauer Bart bedeckte sein Kinn. »Wer sind Sie?« wollte ich wissen. »Was ist schon ein Name? Ich habe ihn vergessen. Überall nennt man mich nur den Alten.« »Was wollen Sie von mir?« »Ich will dich auf dein Schicksal vorbereiten, denn Du wirst einer von uns werden, Mark Hellmann. Du wirst den Keim in dir tragen und gehetzt werden. Du wirst den Keim verbreiten und andere an deinem Schicksal teilhaben lassen. Und vielleicht wirst du enden wie der arme Peter Stubbe, geschunden und unter unsagbaren Schmerzen. Der Fluch der Hölle wird sich an dir erfüllen, Mark Hellmann, wie er sich an mir erfüllt hat.« »Ich hab keine Lust zum Raten. Erklär mir, was du meinst!« forderte ich den seltsamen Greis auf. »Du bist jung. Du bist stark. Doch Mephistos Fluch ist stärker!« Der Alte trat aus dem Schatten des Hinkelsteins und hob den Kopf und beide Arme zum Himmel. Die Ärmel seiner Kutte rutschten nach unten und gaben den Blick auf sehnige, knochige Arme frei. Der Körper des Alten badete im Mondlicht. Es schien ihm sichtliches Wohlbehagen zu bereiten. Das graue Sackleinen der Kutte bewegte sich, als ob sich darunter dicke Schlangen wanden. Ein lautes Stöhnen drang aus der Kehle des Alten. Ich trat zu ihm hin, als er sich wie unter einem Krampf zusammenkrümmte. Knochen knackten, Sehnen ächzten. Schwer ging der Atem des Alten. Er mußte furchtbare Schmerzen haben. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und wollte ihn aufrichten. Aber ich kam nicht mehr dazu. Er tat es selbst, und zwar so ruckartig, daß ich nach hinten taumelte. Der Alte riß den Kopf herum und fauchte mich an. Er hatte sich auf grauenvolle Weise verändert. Vor mir stand ein Werwolf! Bevor ich reagieren konnte, schoß eine krallenbewehrte Tatze nach vorn und fetzte über meine Brust. Das Hemd zerriß. Die Krallen furchten mir die Haut auf. Blut quoll aus den Striemen. Ich bekam Angst. Ein Werwolf hatte mich verletzt. Wahrscheinlich war der Keim des Bösen bereits gelegt. In der nächsten Vollmondnacht war es dann wohl soweit. Ich würde mich in eine reißende Wolfsbestie verwandeln! Und mein erstes Opfer würde wohl Tessa heißen. 20
So durfte es nicht kommen! Mit einem Kampfschrei warf ich mich der Bestie entgegen. Sie hatte nicht mit meinem Gegenangriff gerechnet. Ich prallte gegen den pelzbesetzten Körper und drosch auf ihn ein. Der Werwolf knurrte protestierend, schlang seine Arme um mich und drückte mich gegen seine Brust. Mir stockte der Atem. Ich hieb nun auf die geifernde Wolfsschnauze ein. Die Krallen gruben sich in meinen Rücken. Die Schmerzen waren schier unerträglich. Ohne größere Kraftanstrengung schleuderte mich der Werwolf gegen den Felsbrocken. Dann riß der Dämonenwolf das Maul auf und zeigte mir seine Reißzähne. »Tu es!« ächzte ich. »Tu es endlich!« Es schien, als lächelte der Wolf. Im nächsten Moment jedoch stürzte er sich über mich. Das furchtbare Gebiß des Werwolfs raste mir entgegen. Ich starrte direkt in den Wolfsrachen hinein. Und kurz bevor sich die scharfen Zahnreihen um meine Kehle schlossen, wurde mir klar, daß er mich nicht töten würde. Der Keim des Bösen würde in mir weitergedeihen. Mephistos Fluch würde sich tatsächlich erfüllen. »Neeiinn« schrie ich gellend. Dunkelheit senkte sich über mich. Und aus dieser Dunkelheit trafen schmerzhafte Schläge mein Gesicht. Jemand verpaßte mir Ohrfeigen. Meine Wangen brannten. War dieser furchtbare Alptraum denn noch immer nicht zu Ende? »Mark!« hörte ich weit entfernt eine Stimme. »Komm zu dir! Mark, hörst du mich?« Blinzelnd öffnete ich die Augen. Ich starrte in die verschwommenen Flammen eines Lagerfeuers. Allmählich klarte sich mein Blick. Ich erkannte die erschrockenen Gesichter der Jugendlichen. Tessa beugte sich über mich. Sie war es wohl auch gewesen, die mich geohrfeigt hatte. Ich kniete vor dem Feuer auf dem Boden, beide Arme um mich geschlungen. »Hast du zu viel gesoffen, Alter?« rief einer der Jugendlichen. Ich schüttelte den Kopf. »Nee. War wohl der Kreislauf. Bin gleich wieder in Ordnung.« *
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Wir blieben nicht mehr lange beim Lagerfeuer. Tessa bestand darauf, daß wir zu ihr fuhren. »Dein Kreislauf ist völlig in Ordnung, Mark«, sagte sie, während sie bibbernd darauf wartete, daß die Heizung meinen BMW etwas gemütlicher machte. »Du bist topfit. Du hattest wieder einen deiner Träume, stimmt's?« Tessa spielte auf meine unregelmäßig auftretenden Alpträume an, die mich überfielen, seit ich zum ersten Mal als Dämonenjäger tätig geworden war. Diese Alpträume hingen eng mit meiner Berufung als Träger des Rings zusammen. Als Antwort auf Tessas Frage nickte ich stumm. »Willst du darüber reden?« »Später, Tessa. Laß uns erst mal aufwärmen, dann sehen wir weiter.« Es dauerte nicht lange, bis wir die Weimarer Innenstadt durchquert hatten und vor dem Haus hielten, in dem Tessa ein Apartment bewohnte. »Brühst du uns einen Tee mit Rum auf?« fragte meine Freundin, als wir ihre Wohnung betreten hatten. »Und was machst du inzwischen?« »Laß dich überraschen«, wich Tessa aus, hauchte mir einen Kuß auf die Wange und entschwand aus meinem Blickfeld. »Du weißt, wo du alles findest.« Achselzuckend begab ich mich in die kleine Küche… »Mark? Kannst du mal bitte kommen?« hörte ich Tessas Stimme, als ich gerade den Tee mit Rum abgeschmeckt hatte. »Sicher. Jetzt gleich oder erst, wenn ich dich im Arm halte?« »Angeber!« Ich trabte ins Bad. Mir blieben die Worte im Hals stecken. Zwei weiße Kerzen spendeten gedämpftes Licht. Die Badewanne war mit dampfendem Wasser gefüllt, auf dessen Oberfläche Schaumberge schwammen. Inmitten dieser Schaummassen erhob sich die fleischgewordene Venus von Weimar. Schaum und Wasser rannen an Tessas nacktem Körper entlang. Ich verfolgte atemlos eine kleine Schaumkrone, die zwischen Tessas hübschen Brüsten entlangglitt. »Nun steh nicht da wie zur Salzsäule erstarrt«, hauchte Tessa und streckte mir die Hände entgegen. »Dir ist doch genauso kalt wie mir.« »Jetzt nicht mehr.« 22
Tessa beugte sich vor, um mir das Tablett aus den Händen zu nehmen. Sie stellte es am Fußende der Wanne ab. Sie riß mir die Kleider förmlich vom Leib, zog mich in die Wanne, und eng umschlungen versanken wir in den Schaumfluten. »Erzählst du mir jetzt deinen Traum?« fragte Tessa, als wir längst im Bett lagen und sie mit dem Zeigefinger Kreise um das siebenzackige Mal auf meiner Brust malte. »Willst du die Stimmung trüben? Ich meine, der Traum hatte es wirklich in sich. Und du kamst darin vor, Tess.« »Ein Grund mehr, mich aufzuklären«, beharrte sie. Widerstrebend erzählte ich ihr von den Geschehnissen auf dem Richtplatz. »Danach fand ich mich im Wald wieder und stieß auf eine Lichtung, auf der dich ein maskierter Mann in Weiß zu Tode foltern wollte.« Tessa zuckte zusammen und hörte auf, mit dem Finger Kreise zu malen. »Was hast du?« »Dieser Mann in Weiß - kannst du ihn näher beschreiben?« Ich grübelte. »Na ja, er war groß, beinahe so groß wie ich. Breitschultrig. Muskulös. Er trug einen weißen Arztkittel. Vor dem Gesicht hatte er einen Mundschutz. Nur die Augen waren zu sehen, aber ich kann sie nicht näher beschreiben.« »Und - ich?« fragte Tessa leise. »Dich brauche ich ja wohl nicht zu beschreiben, Tess. Du weißt, wie du aussiehst.« Ich drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Wunderschön.« »Ich meine, war ich bekleidet oder nackt?« Ich überlegte wieder. »Könnte ich jetzt nicht genau sagen, Tess. Du weißt, nicht alles aus meinen Träumen bleibt mir in Erinnerung. Ich wundere mich sowieso, daß ich mich ausgerechnet bei diesem Traum an so viele Einzelheiten erinnern kann.« »Er hat mich gefoltert, sagst du?« Ich nickte. »Mit einem chirurgischen Instrument.« »Und ich lag auf einem Behandlungsstuhl, wie ihn Zahnärzte benutzen«, ergänzte Tessa. »Woher weißt du?« »Nur so eine Vermutung.« »Willst du den Rest auch noch hören?« Tessa entspannte sich wieder. »Ja. Mit halben Sachen gebe ich 23
mich nicht zufrieden.« »Ich wurde von einem Werwolf zerfleischt.« Tessa wartete. Als ich nichts mehr sagte, schaute sie auf. »Das ist alles?« »Was willst du mehr?« fragte ich. »Wenn das, was ich im Traum sah, eintritt, werde ich bald selbst zu einem Werwolf und falle dich an.« »Kannst du nicht«, widersprach Tessa. »Wieso?« »Weil ich dann schon tot bin. Du vergißt, daß ich in deinem Traum getötet wurde, bevor dich der Werwolf angefallen hat.« Ich atmete tief durch. »Jetzt bin ich aber froh…« * Wir erwachten erst am späten Nachmittag und beschlossen, einen Überraschungsbesuch bei meinen Eltern zu machen. Danach wollten wir noch zu den Langenbachs und nachschauen, ob sich Pit schon wieder erholt hatte. »Mark, mein Junge!« rief Mutter überrascht, als wir in der Siedlung Landfried im Weimarer Norden eintrafen. »Hallo Tessa!« Ich umarmte die Frau, die mir genauso ans Herz gewachsen war wie eine leibliche Mutter. Lydia war die Gutmütigkeit in Person. Zwar schlecht zu Fuß, aber immer zu einem verschmitzten Lächeln aufgelegt. Nach Vaters Begrüßung zogen sich Mutter und Tessa in die Küche zurück, wo Mutter ihren unnachahmlichen Kaffee kochen und wohl mit Tessa über unsere Hochzeit sprechen wollte. Mutter gab nie auf. Ich folgte meinem Vater in sein Arbeitszimmer. »Na, wie war eure Feier, mein Junge?« wollte Ulrich wissen. »Tessa und ich haben bis in den frühen Morgen bei Langenbachs gefeiert. War ganz nett.« »Hoffentlich willst du mich nicht weiter mit bloßen Andeutungen füttern. Du weißt, die Karten gehören offen auf den Tisch. Also raus damit! Was war los?« »Ich hatte einen Traum«, begann ich. »Wäre nicht das erste Mal.« Ulrich Hellmann musterte mich ernst durch seine dicken Brillengläser. Er stand auf, hinkte zu 24
einem antiken Sekretär, öffnete ein Seitenfach und fischte eine Flasche Scotch hervor. »Auch einen?« »Man gönnt sich ja sonst nichts.« Vater prostete mir zu und trank genießerisch. »Was hast du geträumt?« kam er dann auf unser Thema zurück. »Ich machte die Bekanntschaft eines Werwolfs.« »Und?« Die Stimme meines Vaters klang ungeduldig. »Er hat mich zerfleischt…« Nachdenklich nippte Ulrich an seinem Glas, nachdem ich geendet hatte. »Könnte es sich dabei um eine Warnung handeln?« fragte er schließlich. »Frühere Träume enthielten oft eine Warnung vor einem Angriff der Dämonen.« »Bis jetzt gibt es keine Anzeichen dafür. Ich hatte noch nicht allzu oft mit Werwölfen zu tun. Du erinnerst dich an Kagunin, den Werwolf von Eisenach. Und an die Werwolfsbrut von Weimar. (Siehe MH 9 und 20!) Mephisto hat sich darauf beschränkt, andere Höllenwesen auf mich loszulassen. Wieso sollte er ausgerechnet jetzt wieder auf Werwölfe zurückgreifen?« Ulrich Hellmann hob die Achseln. »Wer kennt schon Mephistos Beweggründe? Vielleicht glaubt er, dir mittels eines Werwolfs beizukommen, weil du im Kampf gegen die Wölfe noch nicht so viel Erfahrung hast. - Und wenn dieser Werwolf aus deinem Traum nur Blendwerk war?« sinnierte mein Vater weiter. »Wie meinst du das?« Ulrich Hellmann beugte sich vor. »In deinem Traum kam dieser weißgekleidete Mörder vor, der Tessa peinigte. Wenn Mephisto nun tatsächlich diesen Mann als Gegner für dich erkoren hat, was dann?« »Dann werde ich mich ihm genauso stellen wie einem Werwolf. Aber ich habe nicht die geringsten Anhaltspunkte, um Nachforschungen anzustellen. Diesmal muß ich wohl wirklich abwarten, bis die Gegenseite zuschlägt.« »Schlimm wäre nur, wenn es Tessa treffen würde, mein Junge.« Darauf antwortete ich nicht, sondern kippte den Inhalt meines Glases in meine Kehle. Ulrich Hellmann schenkte mir einen Fingerbreit nach. »Hoffen wir, daß es nicht soweit kommt«, murmelte Vater. Er starrte an mir vorbei in eine Ecke des Zimmers und strich gedankenverloren über seinen Schnauzbart. »Etwas läßt mich nicht los, Mark«, sagte er. »Dieser Alte, der sich in einen Werwolf verwandelte, 25
erwähnte einen Namen.« »Peter Stubbe«, sagte ich sofort. »Den Namen Stubbe gibt es in der Gegend von Dresden ziemlich häufig, aber ich kenne niemanden persönlich, der so heißt.« Mir kam ein Gedanke. »Der Alte meinte, Stubbe sei unter unsäglichen Schmerzen gestorben. Vielleicht handelt es sich dabei um den Mann, dessen Hinrichtung ich beobachtet habe.« Mein Vater nippte an seinem Glas. »Gut möglich. Ich werde auf jeden Fall mal nach dem Namen und diesem seltsamen Alten forschen.« Er grinste. »Ein bißchen Arbeit kann nicht schaden. Aber kein Wort darüber zu Mutter, sonst…« »Sonst was?« fragte Lydia von der Tür her. Sie betrat den Raum mit einem frisch gebackenen Streuselkuchen. Tessa folgte ihr mit Kaffeekanne und Geschirr. »Was soll Mark mir nicht erzählen?« Vater war sichtlich überrumpelt. Hastig schaute er sich nach einem Ausweg um und nahm dann rasch die Whiskyflasche vom Schreibtisch, um sie in einer Seitenlade zu verstauen. »Äh - ich, also…« stammelte er und warf mir einen flehenden Blick zu. Wenn ich jetzt das Falsche sagte, war Ulrich dazu verdammt, seiner Frau mindestens drei Wochen lang bei der Hausarbeit zu helfen. Ich grinste, als ich meinen Vater auf seinem Ledersessel zappeln sah wie einen Karpfen an der Angel. »Mark?« Lydia Hellmann blickte mich fordernd an. »Was soll ich nicht erfahren?« »Nichts Besonderes. Es ist nur…« Ich druckste absichtlich verlegen herum. »Vater hat einen mehr als üblich getrunken«, griff ich zu einer Notlüge. »Und er weiß doch, daß du es nicht gern hast, wenn er mehr trinkt, als er vertragen kann.« Lydia schaute streng zu Ulrich hinüber und dann zu mir. »Ihr habt wieder eines eurer Männergespräche geführt. Über den Teufel, Dämonen und anderes scheußliches Zeug. Hast du deinem Vater etwas erzählt, das ich wissen müßte? Etwas - Schlimmes?« Ich schüttelte den Kopf und versuchte, unschuldig auszusehen. »Und dabei habt ihr einen gebechert?« Ulrich und ich nickten gleichzeitig. Vielleicht eine Spur zu heftig, denn Tessa schaute hinter dem Rücken meiner Mutter zu mir her und schüttelte lächelnd den Kopf. »Dann will ich mal nicht so sein. Männer müssen auch mal einen heben. Einen, wohlgemerkt!« fügte sie mit einem raschen 26
Blick auf meinen Vater hinzu. »Solange euch der Appetit auf meinen Streuselkuchen nicht vergangen ist.« Vater erhob sich freudestrahlend. »Wir warten schon mit Heißhunger darauf.« »Männer«, murmelte Mutter, und damit war das Thema für sie erledigt. * Es war schon dunkel, als Tessa und ich uns verabschiedeten und zu Langenbachs fuhren. Anna begrüßte uns an der Tür. »Paps hat keine Zeit. Er ist schwer beschäftigt.« Ich runzelte die Stirn. »Warum? Was macht er denn so spät am Abend?« »Er hütet einen Kater.« »Habt ihr ein Haustier bekommen?« »Nö. Der ist noch von gestern abend.« Susanne Langenbach winkte uns herein und deutete auf Pit, der zusammengekrümmt auf der Couch lag. Ein Eisbeutel zierte seinen Kopf. Also ging es ihm mehr als dreckig. »Müßt ihr so brüllen?« rief Pit, obwohl wir nur flüsterten. »Beruhige dich mal wieder, Alter! Susanne kocht dir jetzt einen starken Kaffee und massiert dir den Nacken. Du fühlst dich dann wie neu geboren.« »Wenn ich noch einen Kaffee trinke, werde ich coffeinsüchtig!« Pits Gesicht erhellte sich. »Aber die Idee mit der Massage ist nicht schlecht.« »Von mir aus kannst du deinen Eisbeutel die nächsten drei Tage mit dir rumschleppen!« war Susannes Kommentar. Nun ertönten aus Flohs Zimmer schrille Hip-Hop-Klänge irgendeiner Boy Group. Pit verzog noch mehr das Gesicht, und wir verabschiedeten uns vorzeitig. »Eine Nackenmassage?« nahm Tessa den Faden wieder auf. »Wer redet denn vom Nacken?« fragte ich grinsend. Voller Vorfreude fuhren wir durch die Nacht, nicht ahnend, daß die Hölle bereits ihre Weichen für uns gestellt hatte…
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* Sie rannte durch den Wald. Ihr Atem ging stoßweise. Gehetzt schaute sie sich nach ihrem Verfolger um. Aber nichts war zu erkennen. Sie eilte einen ausgefahrenen Waldweg entlang. Ihre Lungen brannten. Sie war am Ende ihrer Kraft. Keuchend stützte sie sich an einem Baumstamm ab. Ihr Atem bildete helle Wölkchen in der kalten Winterluft. Sie stand vornübergebeugt und versuchte, ihre Atemzüge zu regulieren, um die Schmerzen in der Seite zu verringern. Ein Ast knackte. Laut schluchzend warf die Frau den Kopf herum, schaute in die Richtung, aus der sie gekommen war, doch sie entdeckte nichts Auffälliges. Sie stieß sich vom Baumstamm ab und lief weiter. Zuerst taumelnd, dann festigten sich ihre Schritte. Sie erreichte eine Weggabelung. Vielleicht hatte sie eine Chance, wenn sie den Weg nach rechts nahm. Doch der war schmal. Zweige peitschen den Körper der jungen Frau, rissen an ihrer Kleidung. Weiter! Immer weiter! Ich muß es schaffen! Dieser Gedanke beherrschte die Frau, erst recht, als sie bemerkte, daß man ihr dicht auf den Fersen war. Mit angstgeweiteten Augen beobachtete sie, wie sich das Buschwerk bewegte, doch zu sehen war niemand. Gequält schrie sie auf und hetzte weiter. Versuchte, die mondbeschienene Lichtung so rasch wie möglich zu durchqueren. Da gaben ihre Beine nach. Kraftlos sackte sie zusammen und zitterte am ganzen Leib. Verfolgergeräusche waren nicht mehr zu hören. Auch kein Keuchen und Hecheln. Stille. Totenstille. Die junge Frau hielt sich an einem Baumstamm fest und stemmte sich hoch. Kam auf die Füße und blieb zitternd stehen. Sie schaute sich um. Ängstlich. Lauernd. Die Lichtung war leer. Still und ruhig lag sie da. Die junge Frau schüttelte den Kopf. Ihr langes, blondes Haar flog. Sie drehte sich um und wollte zwischen die Bäume taumeln. Aus der Dunkelheit heraus raste die krallenbewehrte Tatze auf das Mädchen zu. Die Frau zuckte zurück. Die Krallen fetzten mit einem ratschenden Geräusch quer über ihre Brust, rissen ihr Pullover und Bluse entzwei. Die Frau stieß einen gellenden Schrei aus. 28
Sofort zog sich die Tatze zurück. Die Frau berührte die zerrissenen Kleiderfetzen mit ihren Fingerspitzen und spürte etwas Warmes, Feuchtes. Dann kam der Schmerz. Mit Schrecken erkannte die junge Frau, daß die Krallen sie verletzt hatten, ihr die Haut am Bauch aufgerissen hatten. Sie blutete! »Mein Gott!« stieß die junge Französin keuchend hervor. »Er hat mich verletzt! Es darf nicht sein!« Sie schaute wieder an sich hinunter und berührte die, Bauchwunde. Dadurch entging ihr die dunkle, riesenhafte Gestalt, die sich aus dem Schatten der Bäume löste und sich drohend und lautlos vor dem Mädchen aufrichtete. Als die junge Französin aufblickte, starrte sie direkt in die gelben Augen der Bestie. Kalte, gnadenlose Augen! Sie sah den weit geöffneten Rachen mit den scharfen Reißzähnen und roch den stinkenden Atem. »Nein! Bitte nicht!« flehte sie. Vergeblich. Die beiden Pranken packten sie, hoben sie hoch und warfen sie weit in den Wald hinein. Die junge Frau prallte gegen einen Baumstamm und fiel zu Boden. Wimmernd blieb sie liegen. Ihr Gesicht und ihre Brust schmerzten. Sie wagte nicht, die schmerzenden Stellen zu berühren. Sie hatte Angst. Unbeschreibliche Angst. Angst vor einem Tod, wie er schrecklicher nicht sein konnte. Wütendes Knurren erklang hinter der jungen Frau. Sie fühlte sich hochgehoben und wieder fortgeschleudert. Benommen kauerte die junge Französin am Baumstamm und starrte auf die riesige Gestalt des Wolfes, die vor ihr aufragte. Sie hob den rechten Arm zur Abwehr. »Bitte nicht«, flehte sie wimmernd. Die Luft um den Wolf flirrte. Das struppige Fell wurde licht, trat zurück, verschwand ganz. Die Schnauze bildete sich zurück, ebenso die teuflischen Krallen. Ein Mann stand vor ihr. Mitte Dreißig, gutaussehend und - splitternackt! »Du wirst zu uns gehören, Cousine. Bald wirst du eine von uns sein. Du bist eine Garnier und dazu berufen, den Keim des Bösen weiterzutragen. Zusammen mit dem Alten wirst du die Unsrigen führen und dem einen dienen, der unser aller Meister ist.« Die Stimme des Mannes war angenehm. Und er sprach Französisch mit ihr! »Wer - sind Sie?« Erst jetzt fiel ihr auf, daß er sie Cousine 29
genannt hatte. »Ich bin Gilles Garnier«, stellte sich der nackte Fremde mit einer leichten Verbeugung vor. »Weshalb fügen Sie mir Schmerzen zu, wenn wir verwandt sind?« »Schmerzen sind ein Teil unseres Lebens. Du wirst noch viel stärkere Schmerzen erleiden. Du wirst tausend Tode sterben und doch nicht tot sein. Heute nacht wirst du eine von uns.« »Ich will nicht…« Gilles lachte. »Es ist bereits entschieden!« Der Franzose verneigte sich im Mondlicht erneut. Er hob den Kopf und breitete die Arme aus. Gilles stieß einen Schrei aus. Sein Körper begann sich zu verändern. Die Französin beobachtete, wie sich die Sehnen und Muskelstränge unter der Haut wie Schlangenleiber wanden, wie sich Finger, Zehen und Gesicht veränderten, wie der zottige Pelz wuchs. Das Wesen, das einmal Gilles Garnier gewesen war, stieß sich ab und katapultierte seinen Körper in die Dunkelheit zwischen den Bäumen. Die junge Frau atmete auf. Sie schaute sich um. Nichts war mehr zu sehen. Sie stemmte sich hoch, benutzte den Baumstamm als Stütze. Jeder Atemzug, jede Bewegung schmerzte. Das Geheul setzte plötzlich ein und trieb der Frau eine Gänsehaut über den Rücken. Sie bemühte sich, mit ihren Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Doch sie konnte nichts entdecken. Weder die gelben Augen noch das blitzende Gebiß oder das Fell der Bestie. Die junge Frau wollte schon Ihren Weg fortsetzen, als das Geheul erneut den Wald durchdrang. Diesmal näher. Viel näher. Die Frau weinte. Tränen liefen über ihre aufgerissene Gesichtshaut. Die Französin schaute sich ein letztes Mal um. Und wieder entdeckte sie keine Spur von der Wolfsbestie. Die Frau hatte sich doch überall umgesehen. Glaubte sie. Nur durch Zufall legte sie den Kopf in den Nacken und starrte in den weit aufgerissenen Rachen der Bestie! Der Wolf schoß mit geifernden Lefzen aus luftiger Höhe auf die junge Frau zu. Sie schrie verzweifelt! Dann hatte der Dämonenwolf sein Opfer erreicht, und die 30
Schmerzen kamen. »Nein, nicht! Bitte nicht…!« Die junge Frau warf den Kopf hin und her. Strähnen ihres blonden Haares klebten an ihrer schweißnassen Stirn. Die Bettdecke war verrutscht. Schweiß glänzte auf dem nackten Oberkörper der jungen Frau. Mit einem Ruck fuhr die junge Frau in die Höhe, saß keuchend in ihrem Pensionsbett, starrte vor sich auf die Bettdecke und rang nach Atem. Mit fliegenden Fingern tastete Nadine nach dem Schalter der Nachttischlampe. Das Licht erschien ihr wie eine Erlösung. Ein Blick auf den Reisewecker sagte ihr, daß es kurz nach halb vier Uhr morgens war. Mit zitternden Gliedern stand Nadine auf. Sie konnte nicht mehr schlafen. Sie streifte einen dicken Pullover über, der ihr bis über die Knie reichte, setzte sich in den Sessel und schaute auf die stille, hell beleuchtete Straße hinunter. Nichts regte sich. Nadines Gedanken kehrten zu dem Traum zurück. Vor einigen Wochen hatte es mit den Alpträumen angefangen. Damals hatte man ihr mitgeteilt, daß sie für sechs Wochen als Austauschstudentin nach Deutschland reisen sollte. Nach Leipzig. Inzwischen hatte sie diese Alpträume jede zweite Nacht. Und jetzt bereits das dritte Mal hintereinander! Nadine war zweiundzwanzig, lebenslustig und unbeschwert. Sie stammte aus dem Elsaß, studierte in Paris Journalistik und Psychologie. Durch ihre Herkunft war sie zweisprachig aufgewachsen und beherrschte die deutsche Sprache ausgezeichnet. Bei ihrer Ankunft in Deutschland hatte sich ein netter Reporter ihrer angenommen. Vincent van Euyen hieß er und war als Bildreporter für eine Tageszeitung tätig. Er sollte sich im Wechsel mit anderen Kollegen um die jungen Damen und Herren von der Sorbonne kümmern. Nadine gefiel der Reporter. Er war zwar als Mann nicht gerade ihr Typ, weil er einen recht umfangreichen Bauch vor sich herschob, aber er war lustig und immer guter Laune. Nadine Garnier überlegte, ob sie van Euyen ins Vertrauen ziehen sollte. Vielleicht konnte er ihr einen Rat geben, wie sie mit ihren Alpträumen umgehen sollte. Um halb acht war sie mit ihm zum Frühstück verabredet.
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* »… ist nach unseren Erkenntnissen davon auszugehen, daß der Patient Waldemar Ligusta aus seiner Zelle im Hochsicherheitstrakt der Sächsischen Klinik für Psychiatrie in Schkeuditz ausgebrochen und aus der Klinik entkommen ist«, sagte der Vertreter der Staatsanwaltschaft monoton. Blitzlichter erhellten den Raum. Kameras surrten. Bleistifte huschten über Stenoblöcke. Diktiergeräte nahmen jedes gesprochene Wort auf. Lautes Rascheln überlagerte plötzlich die anderen Geräusche. Alle Augen richteten sich auf einen beleibten Mann in der vorletzten Reihe, dessen Haar in wirren Strähnen vom Kopf abstand. Der beleibte Mensch fischte ein paar »Katzenpfötchen« aus einer Lakritztüte und schob sie mit bedauerndem Grinsen zwischen seine Lippen. »Wenn ich nun fortfahren dürfte«, sagte der Vertreter der Staatsanwaltschaft indigniert und verschaffte sich wieder die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft. »Bei seiner Flucht tötete Ligusta einen Pfleger und die diensthabende Ärztin. Der Entflohene scheint nicht therapierbar und ist nach wie vor als äußerst gefährlich einzustufen. Die Polizei wurde in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Die Fahndung läuft.« »Stimmt es, daß Ligusta mit dem Serienmörder identisch ist, der unter dem Namen Schnitzer vor einem Jahr sein Unwesen trieb?« erfolgte ein Zwischenruf. »Das ist korrekt«, bestätigte der Mann von der Staatsanwaltschaft. »Waldemar Ligusta konnte damals in einer Druckerei in Leipzig festgenommen werden, als er einen weiteren Mord verüben wollte.« »Wieso wurde er nicht besser bewacht?« »Ligusta war im Hochsicherheitstrakt untergebracht. In einer Einzelzelle, die nur von außen zu öffnen war. Ein Ausbruch war so gut wie ausgeschlossen«, verteidigte sich der Staatsanwalt. »Und wieso konnte er dann ausbrechen?« Die Reporter ließen nicht locker. »Hat ihm jemand dabei geholfen?« kam eine andere Zwischenfrage. »Zunächst ist noch unklar, wieso der Pfleger allein Ligustas Zelle betrat. Fest steht, daß Ligusta den Pfleger getötet hat, um 32
aus der Zelle zu gelangen. Auf eine Beteiligung weiterer Personen deutet nichts hin.« »Gibt es konkrete Hinweise, wo sich Ligusta derzeit aufhält?« »Leider nicht. Ligusta hat den PKW der von ihm getöteten Ärztin entwendet. Auch nach diesem Fahrzeug läuft die Fahndung.« »Wie stehen die Chancen, daß Ligusta geschnappt wird, bevor er wieder unschuldige Frauen abschlachtet?« Der Staatsanwalt bedachte den Reporter mit einem eisigen Blick. »Wie bereits gesagt, die Fahndung läuft auf Hochtouren.« Nachdem er einige Fragen bezüglich Ligustas Vergangenheit beantwortet hatte, erklärte der Staatsanwalt die Pressekonferenz für beendet. »Dieser Ligusta scheint ein sehr gefährlicher Verbrecher zu sein«, meinte Nadine Garnier, als sie Vincent nach draußen folgte. Der Reporter raschelte wieder mit seiner Lakritztüte und hielt sie der Französin, hin. Sie lehnte dankend ab. »Einer der gefährlichsten, die mir je untergekommen sind«, bestätigte van Euyen. »Ich gebe mich nicht gerne mit diesen Schwerverbrechern ab. Aber beim Schnitzer hab ich doch mitgemischt. Der Fall ließ mich einfach nicht los, wenn Sie verstehen, was ich meine. Eine Bekannte von mir hat ihn dann zur Strecke gebracht.« Er grinste. »Ich bin also persönlich betroffen, wenn Sie so wollen.« »Eine Bekannte?« Vincent nickte. »Die Freundin eines Freundes. Fahnderin bei der Kripo. Hat den Schnitzer damals im Alleingang geschnappt. Ganz schön draufgängerisch, das Mädchen.« Er musterte die Französin. »Interessieren Sie sich für den Fall?« Nadine hob die schmalen Schultern. »Ich weiß noch nicht. Eigentlich müßte ich, weil mein Studiumsschwerpunkt die Kriminalpsychologie ist. Aber ich bin hier, um von Ihnen zu lernen, Vincent. Und zwar, wie man gute Reportagen schreibt und recherchiert.« Van Euyen schloß schwärmerisch die Augen. »Ich liebe es, wenn Sie meinen Namen mit Ihrem bezaubernden französischen Akzent aussprechen. Vincent«, imitierte er die Französin. »Köstlich.« Beim Frühstück hatte van Euyen die Studentin zu der Pressekonferenz eingeladen. Nadine war sofort bereit gewesen, ihn zu begleiten. So kam sie wenigstens auf andere Gedanken und wurde von ihren Alpträumen abgelenkt. 33
Der beleibte Reporter war ein angenehmer Gesellschafter und ein wunderbarer Gesprächspartner. Bisher hatte Nadine Garnier noch keine Gelegenheit gehabt, ihn mit ihrem Problem zu konfrontieren. Gab er was auf Alpträume? Noch dazu, wenn ein Werwolf darin die Hauptrolle spielte? »Was steht für heute auf dem Programm?« fragte Nadine. »Ich dachte mir, wir laden Ihre Kommilitonen in einen Bus und fahren zu der Klinik in Schkeuditz, schauen uns dort ein wenig um und machen dann eine kleine Spazierfahrt nach Magdeburg. Dort quartieren wir uns in einem kleinen Hotel ein, und morgen zeige ich euch den Harz, damit ihr mal Deutschland von einer seiner schönsten Seiten erlebt. Der Harz im Winter. Ein Gedicht!« »Ein Gedicht - für die Augen?« Vincent rieb sich über den Bauch. »Und für den Gaumen, meine Liebe.« Er grinste verschmitzt. »In Ordnung«, stimmte Nadine zu. »Ich trommle die anderen zusammen, dann kann es losgehen. Wo treffen wir uns?« »Gegen elf am Hauptbahnhof. Der Bus ist für halb zwölf bestellt.« »Wir werden pünktlich sein.« »Prima. Sonst kommen wir zu spät zum Mittagessen.« Nadine verabschiedete sich, und Vincent van Euyen ließ sich von einer Taxe zu den Redaktionsräumen einer Leipziger Tageszeitung befördern. Hier kannte man den Reporter gut und bot ihm jegliche Unterstützung an, obwohl er überwiegend für die Konkurrenz arbeitete. Aber van Euyen hielt seinerseits mit Informationen nicht hinter dem Berg. Außerdem war er auch schon für das hiesige Blatt tätig gewesen. »Morgen, Helga. Gutes Neues, nachträglich. Liegt was an?« begrüßte van Euyen die Kollegin in der Lokalredaktion. »Tote Hose. Ein paar Raufereien in der Nacht. Sonst nüscht.« »Und außerhalb? Irgendwelche Meldungen unserer Freunde von der Fahndung?« »Nur der Ausbruch von diesem Ligusta. Da kann einem als Frau ja richtig angst und bange werden.« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Helga. Wenn er dich schnappt und du richtig loslegst, bringt er dich freiwillig zurück.« Sie legte die Stirn in Falten. »He, wie meinst 'n das? Er bringt mich freiwillig zurück?« Van Euyen grinste. »Nur im Scherz, Helga. Nur im Scherz.« Er 34
klopfte ihr beruhigend auf die Schulter und marschierte nach nebenan. Dort stöberte er in den reinkommenden Meldungen herum. Er stieß auf Berichte über Einbrüche, Autodiebstähle, Randalierer. Alles nicht das, was ihn jetzt interessierte. Er wußte selbst nicht, wonach er suchte. Ein Hinweis auf den entflohenen »Schnitzer« würde ihm sicherlich nicht in den Schoß fallen. »Hier - ganz frisch«, meldete der Kollege. »Klingt ganz schön komisch. Da hat einer auf einem Friedhof rumgebuddelt. Drüben im Rheinland.« »Und?« Der Kollege zuckte die Achseln. »Ist schon eine komische Beschäftigung für jemanden, in einem vierhundert Jahre alten Grab rumzubuddeln.« Van Euyen bedankte sich. Wieder nichts dabei. Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und begab sich in eines der Büros. »Darf ich mal telefonieren?« »Aber immer.« Der rundliche Reporter telefonierte die Liste seiner Informanten ab. Nach dem dritten Anruf wirkte er bedrückt. Nach dem vierten wurde er sauer. Heute schien nicht sein Tag zu sein. »Siggi?« rief van - Euyen ins Telefon. »Vincent hier. Hast du was für mich?« Van Euyen lauschte. Plötzlich setzte er sich kerzengerade hin, soweit ihm das bei seinem Leibesumfang möglich war. »Im Ernst? Wo hat man den Wagen gesehen?« Van Euyen überlegte fieberhaft, während er der Stimme am anderen Ende der Leitung lauschte. »Sonst noch was?« »Gut. Halte mich auf dem laufenden. Meine Nummer hast du ja, Siggi?« Auf einmal kam Bewegung in den fülligen Reporter. So schnell es ihm seine Beine erlaubten, wieselte er ins Archiv zurück. »Diese Grabschändung. Wo war das noch mal?« rief er schon an der Tür. Der Kollege zuckte zusammen. »Bedburg. In der Nähe von Köln. Warum fragst du?« Van Euyen schüttelte den Kopf. »Bin noch nicht sicher. War das ein besonderes Grab?« »Wie gesagt, über vierhundert Jahre alt. Man hat es als Beweis einer Legende bestehen lassen. Angeblich hat man dort im Mittelalter einen Werwolf begraben. Peter Stumpe oder Stube oder so ähnlich.« Vincent van Euyen machte sich eifrig Notizen und schob dann 35
sein Buch in die Tasche. »Danke. Wenn was dran ist, erfahrt ihr es zuerst.« Mit zufriedenem Lächeln verließ van Euyen die Redaktionsräume und zündete sich eine Pfeife an. Er hatte eine Spur. Und was für eine! Sein Informant hatte ihm mitgeteilt, daß ein silbergrauer BMW wegen rücksichtslosen Überholmanövern auf der Autobahn bei Köln aufgefallen war. Und zwar in der Nacht, als das Grab in Bedburg geöffnet worden war. Und Waldemar Ligustas Fluchtfahrzeug war - ein silbergrauer BMW. Vincent ahnte nicht, daß er dabei war, in ein Wespennest des Grauens zu stoßen. * Der Bus war klein, bot aber ausreichend Platz. Sie hatten damit das Sanatorium in Schkeuditz aufgesucht, aus dem Ligusta entflohen war. Noch waren die Ermittlungen der Polizei in vollem Gange, aber van Euyens Presseausweis verschaffte ihm und seinen Schützlingen Zutritt zum Klinikgebäude, wo sie von einem Pfleger in den Hochsicherheitstrakt geführt wurden. »Hier ist es passiert«, sagte der Pfleger bereitwillig, nachdem ihm Vincent einen Schein zugesteckt hatte. »Hier hat er den Hartmut abgemurkst.« »Was bedeutet abgemurkst?« fragte Nadine flüsternd. Der rundliche Reporter fuhr sich in einer vielsagenden Geste mit dem Zeigefinger quer über den Hals. »Und die Ärztin?« fragte Vincent. »Hat er in ihrem Dienstzimmer… War kein schöner Anblick.« Wände und Boden des Ärztezimmers waren noch mit Blut bespritzt. Vincent konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Leiche der Ärztin ausgesehen haben mußte. Nadine schluckte, als sie das Zimmer sah. Einige Studenten wandten sich würgend ab. »Und keiner ist darauf aufmerksam geworden? Hat die Ärztin denn nicht geschrien?« Der Pfleger hob die Schultern. »Es hat keiner was gehört.« Er schüttelte den Kopf. »Das muß man sich mal vorstellen. Ein Jahr lang hat er immer nur auf seinem Stuhl gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Und dann killt er plötzlich zwei Leute und haut 36
ab.« »Er hat sich nicht bewegt, sagen Sie?« fragte Nadine nach. »Nicht mal zum Schlafen hat er sich hingelegt.« »Hat man ihn vielleicht provoziert oder Medikamente verabreicht?« »Sie stellen vielleicht Fragen, Frolleinchen. Nee, soviel ich weiß, war alles in bester Ordnung. Das Ganze ist unerklärlich. Aber wir müssen es ja auch nicht erklären. Das überlassen wir der Polizei.« Vincent bedankte sich. Zusammen mit seinen Schützlingen begab er sich zum Ausgang der Klinik. »Wäre es denkbar, daß sich Ligusta gleich in der ersten Nacht weit vom Tatort entfernt hat? Zum Beispiel ins Rheinland?« fragte Vincent, während er dem Pfleger die Hand schüttelte. »Denkbar wäre alles. Aber wenn Sie mich fragen, treibt sich der Kerl noch hier irgendwo rum. Ich an seiner Stelle wäre in den Harz abgehauen. Dort gibt es viele Verstecke.« »Das trifft sich gut. Dort wollen wir nämlich auch hin.« »Na dann passen Sie auf, daß Ihnen Ligusta nicht über den Weg läuft. Und wenn doch, bestellen Sie ihm schöne Grüße von der Pflegerschaft. Wir warten schon auf ihn.« Vincent van Euyen führte die Studentenschar in einen gutbürgerlichen Gasthof. Der beleibte Reporter fühlte sich ausgesprochen wohl. Auch den Franzosen schien die kräftige Hausmannskost zu schmecken. Nach dem Essen erteilte van Euyen dem Fahrer Anweisungen. Bevor sich dann der Bus in Bewegung setzte, drehte. sich der Reporter um und bat um Aufmerksamkeit. »Herrschaften, nachdem nun der offizielle Teil unserer Exkursion beendet ist, darf ich Sie zu einer kleinen Rundreise mit Übernachtung einladen. Viel Vergnügen.« Nadine übersetzte, und die Freude war bei allen groß. Am späten Nachmittag erreichten sie das Landhotel Schwarzer Adler in Osterweddingen, nicht weit von Magdeburg entfernt. Das Hotel lag in ländlicher Umgebung, umrahmt von Feldern und Wald. Die Nacht hatte sich längst über das Landhotel und die Umgebung gesenkt, als Vincent van Euyen von einem zaghaften Klopfen aus dem Schlaf geschreckt wurde. Er knipste die Nachttischlampe an und öffnete verschlafen die Tür. Vor ihm stand Nadine Garnier. 37
»Vincent, ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Kommen Sie erst mal rein, Nadine. Wie sehen Sie denn aus, Mädchen? Haben Sie schlecht geträumt?« Nadine war leichenblaß. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Das Haar klebte auf ihrer verschwitzten Stirn. Sie trug einen langen, weißen Pulli und dicke Wollsocken. »Was haben Sie denn auf dem Herzen?« fragte der Reporter und ließ sich auf der Bettkante nieder. »Ich hatte wieder diesen Traum«, begann Nadine. »Ich habe die Träume schon seit ein paar Wochen. Doch noch nie so intensiv wie heute.« »Schlimm?« fragte Vincent. Blöde Frage! schalt er sich. Brauchst sie doch nur anzuschauen. Nadine nickte. »Es klingt verrückt, aber ich werde im Traum von einem Werwolf verfolgt. Er fügt mir schreckliche Schmerzen zu. Er hat sich als mein Cousin zu erkennen gegeben. Und heute nacht wurde ich im Traum ebenfalls zu einer - Bestie.« Tränen kullerten aus Nadines blauen Augen. »O Vincent, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Werde ich verrückt?« »Bestimmt nicht. Aber diese Träume müssen einen Grund haben. Und ein Verwandter von Ihnen spielt auch noch eine Rolle?« Nadine schüttelte schluchzend den Kopf. »Ich habe mich mit der Geschichte unserer Familie nie eingehend befaßt«, sagte sie. »Ist aber möglich, daß ich einen Cousin namens Gilles habe oder hatte.« Vincent grübelte. »Ich wüßte im Augenblick nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, Nadine. Diese Traum-Werwölfe sind nicht real. Nichts, was man anfassen kann, verstehen Sie? Es würde schwer werden, jemanden zu irgendwelchen Nachforschungen zu veranlassen.« »Aber Sie glauben mir doch?« Der beleibte Reporter nickte. »Sicher. Aber damit ist Ihnen auch nicht geholfen.« »O doch, Vincent. Mehr, als Sie denken.« Vincent van Euyen reichte Nadine den Arm. »Gehen Sie wieder schlafen, Nadine. Ich wünschte, ich könnte mehr für Sie tun.« Die Französin nickte, bedankte sich und ging zur Tür. »Sagen Sie, Nadine, ist Ihnen der Name Stube oder Stumpe 38
schon mal untergekommen?« fragte Vincent, einer plötzlichen Überlegung folgend. Die Studentin schüttelte den Kopf. »Nein. Nie gehört. Wieso fragen Sie?« »Nur so ein Gedanke. Vergessen Sie es. Gute Nacht.« Vincent blieb grübelnd auf der Bettkante sitzen. Hier gab es einige Zufälle, die ihm nicht gefielen. Das aufgebrochene Grab eines angeblichen Werwolfs im Rheinland. Nadines Träume, in denen sie von Werwölfen gejagt wurde. Gab es hier einen Zusammenhang? Und wenn ja, wie paßte dann der entflohene Waldemar Ligusta ins Bild? Der Reporter fand keine Antwort auf seine Fragen. Dann zuckte er zusammen. Angestrengt lauschte er. Und da war es wieder. Das Wolfsgeheul! * Nadine kehrte auf ihr Zimmer zurück und legte sich ins Bett. Nachdenklich starrte sie an die Zimmerdecke. Das schauerliche Geheul eines Wolfs riß sie in diesem Augenblick aus ihren Gedanken! Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Ängstlich zog sie die Bettdecke bis zum Kinn hoch und starrte zum Fenster. Sie sah den Mond, der den Platz vor ihrem Zimmer und die nähere Umgebung des Hotels in blasses Licht tauchte. Wieder ertönte das schaurige Geheul des Wolfs. Nadine fühlte, wie die eisige Faust der Angst sie gepackt hielt. Sie versuchte, ihren Kopf vom Fenster abzuwenden, doch es gelang ihr nicht. Es war wie ein Zwang, der sie dazu nötigte, nach draußen zu schauen, ihr Bett zu verlassen und ans Fenster zu treten. Insgeheim flehte Nadine darum, daß es sich um einen streunenden Hund handelte, der den Mond anheulte. Der Wolf saß mitten auf dem freien Platz vor ihrem Hotelzimmer und schaute zu Nadine hoch. Dabei ließ er erneut sein durchdringendes Geheul hören. Nadine wandte sich ab und versuchte, sich zu beruhigen. Dieser Wolf war anders als die Bestie aus ihrem Traum. Er war größer, dunkler und sah nicht so furchterregend aus. Eher wie ein großer 39
Schäferhund. Langsam drehte sie sich wieder um und spähte aus dem Fenster. Der Platz vor ihrem Fenster war leer! Laut wurde an die Tür geklopft. Nadine öffnete. »Haben Sie das Geheul auch gehört?« fragte Vincent. Nadine Garnier nickte. »Es war ein Wolf. Ein riesiges Tier. Es saß auf dem Platz dort unten.« Vincent überlegte nicht lange. »Ziehen Sie sich an. Wir sehen nach. Diesem Wolfsspuk müssen wir auf den Grund gehen!« Wenig später schlichen Vincent und die Französin nach unten in die Empfangshalle und weiter zum Ausgang. Leise verließen sie das Landhotel. Sie schauten sich aufmerksam auf dem mondbeschienenen Platz um. Von dem unheimlichen Wolf war keine Spur zu entdecken. Van Euyen führte Nadine über den Platz und den angrenzenden Rasen auf den nahen Waldrand zu. »Mal sehen, ob wir hier Spuren finden. Hell genug ist es ja. Und ein Tier dieser Größe muß einfach Spuren hinterlassen haben.« »Sollten wir nicht lieber bis zum Morgen warten?« fragte Nadine. »Ach was. Bringen wir es hinter uns, dann können Sie beruhigt schlafen.« Auf dem Rasen waren keine Spuren zu entdecken, und auch am Waldrand gab es keine Anzeichen für die Existenz eines Wolfs. Keine Kratzer an einer Baumrinde. Keine Wolfshaarbüschel an den Zweigen. »Aber wir können uns doch nicht beide geirrt haben, Vincent.« »Stimmt. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Seltsam ist nur, daß sich dieses Vieh in Luft aufgelöst haben soll.« Leicht vornübergebeugt schritt Vincent noch mal den Waldrand ab, während Nadine ihre Blicke über den dunklen Wall der Bäume gleiten ließ. Und dann sah die Französin etwas, das ihren Herzschlag aussetzen ließ: gelbe, stechende Augen! »Passen Sie auf, Vincent!« Nadines Schrei hallte durch die Nacht. Vincent fuhr hoch, schaute zum Wald und sah den dunklen Schatten auf sich zufliegen. Trotz seiner Leibesfülle verfügte der Reporter über hervorragende Reflexe. Mit einem gewaltigen Satz warf er sich zur Seite. 40
Eine Tatze des Wolfs erwischte ihn an der Schulter. Die Krallen zupften an seiner Jacke, verletzten ihn jedoch nicht. Doch der Aufprall war stark genug gewesen, um Vincent van Euyen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wie eine überdimensionale Kugel rollte der Reporter über den Waldboden. Zweige und Äste knackten unter seinem Gewicht. Riesengroß wuchs der Wolf vor Nadine Garnier hoch. Wild fauchend und knurrend fuhren die Pranken der Bestie vor Nadine durch die Luft. Geifer troff von den Lefzen des Wolfs. Die gelben Augen starrten Nadine gnadenlos an. Und Nadine wußte, daß sich in dieser Nacht ihr Alptraum erfüllen würde… Der Dämonenwolf machte einen weiteren Schritt nach vorn. Mit dem nächsten Hieb würden die scharfen Krallen Nadines Kleidung und ihre Haut zerfetzen. Als die Wolfsbestie ihre Pranke zum alles entscheidenden Schlag hob, krachte ein starker Ast mit Wucht in den Nacken des Werwolfs. Der Hieb schien das Höllenwesen zwar nicht sonderlich zu beeindrucken, genügte aber, um seine Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegner zu lenken. Auf Vincent van Euyen! Der Zeitungsmann wich zurück, als sich der Werwolf umdrehte. »Bringen Sie sich in Sicherheit, Nadine!« brüllte der Reporter. Vincent holte weit aus. Mit einem Rundschlag ließ er seinen behelfsmäßigen Knüppel gegen den Schädel der Wolfsbestie prallen, bevor sie sich ganz umgedreht hatte. Die Wucht des Schlages brachte den Werwolf ins Wanken. Nadine wartete nicht länger. Sie wirbelte herum und rannte über die Wiese zum Hotel. Doch die Französin kam nicht weit. Mit Schrecken mußte sie erkennen, daß der Werwolf ihre Flucht bemerkt hatte und ihr folgte. Nadine schrie. Die Bestie war nicht mehr weit von ihr entfernt. Die Studentin warf einen raschen Blick über die Schulter. Das hätte sie besser nicht getan, denn im selben Augenblick stolperte sie und stürzte. Sie rollte sich ab, warf sich auf die Seite und riß die Beine hoch. Das geschah genau in dem Augenblick, als sich der Werwolf über sein Opfer hermachen wollte. Nadines Füße stießen gegen die breite Brust des Wolfs. Mit aller Kraft schleuderte sie die Bestie von sich. 41
Der Dämonenwolf war verwirrt. Er hatte nicht mit soviel Gegenwehr gerechnet. Wild knurrend bleckte er die Reißzähne. Wie ein mächtiger Rammbock walzte Vincent heran. Sein ganzes Körpergewicht lag in dem Rammstoß, mit dem er den Werwolf von den Beinen riß. Die Bestie winselte erschrocken, rollte über den Boden, kam hoch und fegte Vincent mit einem Prankenhieb zur Seite. Wieder verfehlten die rasiermesserscharfen Krallen den Reporter. Nadine sprang auf die Füße und suchte ihr Heil erneut in der Flucht, aber der Wolf war darauf vorbereitet. Eine grauenvolle Pranke schlang sich um ihren Hals. Nadine wurde herumgerissen. Zwei Klauen packten zu, hoben sie hoch und schüttelten sie. In Todesangst schloß die junge Frau die Augen und schrie sich die Angst von der Seele. Dann, ging ein gewaltiger Ruck durch den struppigen Körper des Dämonenwolfs. Die Bestie warf den Kopf zurück und brüllte. Geiferfetzen spritzten durch die Luft. Nadine schaute verständnislos nach unten und bemerkte die blutige Spitze eines abgebrochenen Astes, die aus der Brust des Werwolfs ragte. Vincent hatte keinen Ausweg mehr gesehen, als der Wolfsbestie den Ast in den Leib zu rammen. Er kannte sich mit dämonischen Wesen nicht besonders gut aus. Er wußte zwar aus Filmen und von Mark, daß man Vampire töten konnte, indem man ihnen einen Holzpfahl ins Herz stieß. Aber funktionierte das auch bei Werwölfen? Die Kräfte des Dämonenwolfs erlahmten. Ein zweiter Ruck schüttelte den Körper der Bestie. Ihre Arme sanken nach unten und gaben Nadine frei. Das Mädchen taumelte und sackte vor dem Wolf zusammen. Die Luft um die Bestie begann zu flimmern. Der Werwolf heulte ein letztes Mal gequält auf. Das Fell lichtete sich, die Schnauze bildete sich zurück. Die Krallen verschwanden. Wenige Augenblicke später stand ein nackter, bleicher Mann vor Nadine. Nur der blutige Ast, der seinen Körper durchbohrt hatte, zeugte noch von dem, was der Mann noch vor kurzem gewesen war. Langsam sank er in die Knie und fiel vornüber, ohne einen Laut von sich zu geben. Vincent ging zu Nadine und half ihr auf die Beine. »Kommen Sie, es ist vorbei«, sagte er leise. Er legte seinen Arm um die schmalen Schultern der Französin. Nadine wurde von stummem 42
Schluchzen geschüttelt, während sie auf ihr Zimmer begleitet wurde. »Was wird aus dem Toten?« fragte Nadine. »Um den wird sich jemand kümmern, der sich mit so was auskennt«, versicherte Vincent. * »Der Schnitzer ist wieder draußen!« wetterte Pit und warf Tessa eine Akte zu. Pit sah bleich aus. Ob das an den Nachwirkungen seines Alkoholkonsums oder an der Hiobsbotschaft über Ligustas Ausbruch lag, ließ sich schwer bestimmen. Auf jeden Fall war mein Freund und Kampfgefährte alles andere als gut drauf. Tessa begann einen Spaziergang durch das Büro, während sie aufmerksam die Aktennotizen studierte. Pit qualmte ein Zigarillo. Eigentlich hatte er die Dinger schon längst absetzen wollen, aber er konnte es nicht, wenn er ehrlich zu sich selbst war. »Wäre wohl jemand so freundlich, mich aufzuklären?« fragte ich. Eigentlich hätte ich gar nicht hier, auf der Weimarer Polizei, sein sollen, sondern in der Redaktion der Weimarer Rundschau. Aber ich wollte Tessa ins Büro zu begleiten, als Pit sie angefunkt hatte. »Aus dem Alter der Bienen und Schmetterlinge bist du ja inzwischen raus«, meinte Pit. »Und wie Pflanzen bestäubt werden, weißt du auch.« »Sprühen wir aber heute wieder vor Witz und Charme, Herr Hauptkommissar«, gab ich gehässig zurück. »Noch so einer, und ich lache mich tot.« »Du kannst wenigstens lachen. Mir ist eher zum Heulen zumute.« »Schieß los! Um was geht's?« »Da fragst du besser Tessa.« »Und wieso, wenn man fragen darf?« »Es war mein bisher größter Fall«, informierte mich Tessa. »Waldemar Ligusta, genannt der Schnitzer. Ein Psychopath. Ehemaliger Gesichtschirurg. Hat vor rund einem Jahr einige Leute umgebracht. Äußerst brutal. Während wir bei Langenbachs 43
gefeiert haben, ist er aus der Psycho in Schkeuditz abgehauen. Hat dabei einen Pfleger und eine Ärztin getötet. Seitdem ist er spurlos verschwunden.« Tessa reichte mir die Akte. Ich überflog die Einträge. Tessa hatte eher untertrieben. Waldemar Ligusta war ein Schlächter. Eine blutrünstige Bestie in Menschengestalt. »Das heißt dann also, daß die Soko Schnitzer erneut ins Leben gerufen wird«, vermutete Tessa. »Und Pit übernimmt wieder die Leitung.« »Noch sind wir nicht soweit«, bremste er. »Die Fahndung nach Ligusta und dem Fluchtwagen läuft auf Hochtouren. Erst wenn die Fahndung keine konkreten Ergebnisse bringt, tritt die Soko in Aktion. Bis dahin heißt es abwarten.« »Shit!« fluchte Tessa. »Ich warte nicht ab, Chef! Ich sehe mich in Schkeuditz um. Bestimmt finde ich etwas, das die Kollegen übersehen haben.« »Spar dir die Mühe, Tessa. Ligusta ist wahrscheinlich schon kilometerweit entfernt.« »Ich kann aber nicht hier rumsitzen und Däumchen drehen, während dieser Satan dort draußen frei rumläuft und die Messer für sein nächstes Opfer wetzt!« Ich warf die Akte auf den Schreibtisch. »Der Vergleich mit Satan dürfte nicht mal weit hergeholt sein. Wäre doch möglich, daß unser Freund aus der Hölle die schwefligen Finger im Spiel hat.« Pit warf mir einen zweifelnden Blick zu. »Nun mach aber mal halblang, Mark. Seit du den Dämonen den Kampf angesagt hast, siehst du hinter allem einen Angriff der Hölle. Waldemar Ligusta ist ein Psychopath. Ein Irrer. Er verhält sich zwar so wie ein Teufel, aber er ist keiner!« »Du wirst vielleicht überrascht sein, zu hören, daß ich vor kurzem einen meiner Alpträume hatte. Und darin kam dieser Psychopath vor. Tessa hat sich auch an ihn erinnert, als ich ihr den Traum erzählte. Stimmt doch, Tessa…« Sie bestätigte durch ein Kopfnicken. Auch sie erinnerte sich, wie sie zusammengezuckt war, als ich ihr den Traum schilderte. »Außerdem ist es komisch, daß Ligusta so lange ohne jede Regung in seiner Zelle hockt und eines Tages plötzlich stürmische Aktivität entwickelt«, fuhr ich fort. »Er muß doch einen Grund gehabt haben. Oder findest du nicht?« Ich schaute zu Pit hinüber. »Was weiß ich, was dahintersteckt! Ich bin kein 44
Seelenklempner!« Tessa schaute auf die Uhr und griff nach ihrer Jacke. »Ihr beide könnt euch ruhig noch weiter unterhalten«, meinte sie. »Ich fahre rauf nach Schkeuditz. Ich muß mir vor Ort ein Bild von Ligustas Ausbruch machen.« »Jetzt noch?« Pit runzelte die Stirn. »Es ist kurz nach zwei. Bis du dort oben fertig bist, ist es dunkel.« »Wenn es zu spät wird, übernachte ich in Leipzig. Einwände, Chef?« Pit hob hilflos die Arme. »Bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Aber keine Alleingänge, Tessa.« »Sagtest du nicht, der Kerl sei Hunderte von Kilometern weit entfernt, Pit?« »Das ist eine Annahme, Tessa.« Ich erhob mich und trat neben meine Freundin. »Dann fahre ich mit Tessa und spiele den Schutzengel. Damit deiner besten Fahnderin nichts passiert.« * Tessas Dienstausweis verschaffte uns ungehindert Zutritt zu dem Trakt der Psychiatrischen Klinik. In Ligustas Zimmer selbst gab es nicht viel zu sehen, aber im Dienstzimmer der Ärztin wurde uns das ganze Ausmaß von Ligustas Wahn deutlich. Ein Pfleger zeigte sich sehr gesprächig und teilte mir seine Vermutung mit, daß sich der Flüchtige in den Harz abgesetzt hätte. »Warum in den Harz?« wollte ich wissen. »Verstecke gibt es auch hier.« »Stimmt«, pflichtete mir der Pfleger bei und beugte sich vor. »Aber hier sucht ihn doch jeder Dorfpolizist.« Ich lachte. »Lesen Sie viele Kriminalromane?« »Während der Nachtschicht ist hier öfter mal tote Hose, da lese ich halt.« Ich informierte Tessa über das Gespräch mit dem Pfleger, winkte dem hilfsbereiten Mann zum Abschied zu und geleitete die Fahnderin zu meinem BMW. »Was hältst du davon?« fragte ich. »Gut möglich, daß sich Ligusta im Harz verkrochen hat. Wir müssen mit ihm rechnen.« 45
»Zurück nach Weimar?« Tessa schüttelte den Kopf. »Ich sterbe vor Hunger. Und müde bin ich auch; Wir suchen uns eine gemütliche Unterkunft und entscheiden morgen früh, wo und wie wir ermitteln.« In einem kleinen Dorfgasthof außerhalb Leipzigs bekamen wir ein rustikal eingerichtetes Doppelzimmer und nahmen ein deftiges Abendessen zu uns. Wir gingen früh zu Bett. Tessa war derart geschafft, daß nicht mal meine Streicheleinheiten sie wachhalten konnten. Eng an mich gekuschelt schlief sie ein. Das Summen meines Handys weckte mich. Blinzelnd schaute ich zum Fenster. Draußen war noch alles dunkel. Ich schob Tessas Kopf sanft von meiner Schulter und bettete ihn auf das Kissen, schwang die Beine aus dem Bett und meldete mich. »Es ist mitten in der Nacht, da weckt man niemanden zum Spaß.« »Es ist kein Scherz, Mark. Es ist Ernst«, drang eine hohe Stimme an mein Ohr. »Vincent, alter Tulpenzüchter!« begrüßte ich den Fotoreporter, mit dem mich eine jahrelange Freundschaft verband. »Was macht die Kunst?« »Mark, es wäre mir recht, wenn du so schnell wie möglich herkämst.« - »Wo steckst du, und um was geht es?« Vincent schnaufte ins Telefon wie ein aufgeregtes Walroß. »Es geht um ein aufgebrochenes Grab, einen entflohenen Serienmörder und - du wirst mir vielleicht nicht glauben, was ich dir jetzt sage, - ich habe vorhin einen Werwolf erlegt!« Ich glaubte ihm. Die Nachricht kam zwar überraschend, aber ich erinnerte mich an meinen Alptraum. Darin hatte ein Werwolf eine bedeutende Rolle gespielt. Und das Wolfsgeheul, das ich am Ufer der Ilm gehört hatte, paßte wie die Faust auf das berühmte Auge. »Warum sollte ich deine Worte anzweifeln, Vincent?« fragte ich ruhig. »Erklär mir, wo du bist. Ich komme morgen früh zu dir.« Er beschrieb mir, wie ich zu dem Landhotel gelangte… »Deine Freunde werden auch immer unverschämter«, maulte Tessa in ihr Kissen, als ich neben ihr unter die Decke rutschte. »Nimm es ihm nicht übel. Er hat einiges hinter sich. Diese Nacht wird er wohl nicht so schnell vergessen.« Tessas Hand ging auf die Wanderschaft. »Ich sorge dafür, daß du diese Nacht auch nicht so schnell vergißt, mein Lieber«, murmelte sie. 46
»Ich dachte, du bist hundemüde.« »War ich auch. Aber jetzt bin ich fit. Und komm bloß nicht auf die Idee, den müden und erschöpften Krieger zu spielen. Wer in aller Herrgottsfrühe telefonieren kann, ist auch zu anderen Leistungen fähig.« * Ligustas Wahn hatte sich gewandelt. Mephisto hatte ihn sozusagen teilweise kuriert. Der Psychopath hatte zwar immer noch eine Vorliebe für brutale, abstoßende Verbrechen, aber er stellte seine Fähigkeiten nun ganz in den Dienst der Hölle. Seine Leidenschaft kam an zweiter Stelle. Ligusta wußte, daß er sein Fluchtfahrzeug so rasch wie möglich austauschen mußte. Und er hatte den Auftrag, dem Alten vom Wolfsstein Nahrung und neue Gefolgsleute zuzuführen. Warum also sollte er nicht das eine mit dem anderen verbinden? Ligusta lud den Alten in den silbergrauen BMW und verließ den Wald. Sie waren erst wenige Kilometer gefahren, als Ligusta auf einen Wagen aufmerksam wurde, der in einen Seitenweg einbog. Der Mörder mit den eisgrauen Augen gab Gas. Im Scheinwerferlicht des BMW erkannte er einen Geländewagen. Was trieb den Fahrer um diese Zeit in den Wald? Hinter dem Jeep hielt Ligusta an, stieg aus und winkte dem Alten. Der Fahrer des Geländewagens wurde auf die beiden Männer aufmerksam und stieg ebenfalls aus seinem Fahrzeug. Es handelte sich um einen Jäger. Roland Diemer war der zuständige Förster für die Region und auf einer seiner nächtlichen Kontrollfahrten. »Kann ich Ihnen behilflich sein, meine Herren?« fragte er und lächelte freundlich. Sein Lächeln wurde nicht erwidert. »Und ob Sie das können, Herr Förster«, antwortete Ligusta. »Sie werden uns Ihren Wagen zur Verfügung stellen. Und Ihre Dienste.« »Ich verstehe nicht…« meinte Diemer. »O doch, Förster!« zischte Ligusta und schnippte mit den Fingern. 47
Der Alte vom Wolfsstein trat hinter ihm ins Scheinwerferlicht. Er breitete die Arme aus und hob den Kopf. Das Mondlicht badete sein zerfurchtes Gesicht. »Was soll dieses Theater?« rief Diemer. »Können Sie mir nicht endlich sagen, was Sie wollen?« »Aber gerne«, antwortete Ligusta. »Wir wollen - dich!« Unter dem kuttenähnlichen Gewand des Alten spielten die Muskeln und Sehnen. Häßliches Knacken war zu hören. Mit Schrecken beobachtete Diemer, wie sich der alte Mann veränderte. »Das ist nicht möglich! Das gibt es nicht!« hauchte Diemer. Der Werwolf wuchs riesengroß vor ihm auf, warf den Kopf zurück und heulte durchdringend. Roland Diemer wich zwei Schritte zurück, wirbelte dann herum und hastete zu seinem Wagen. Er holte die Frankonia-Büchse aus dem Jeep, lud durch und legte auf den Dämonenwolf an. Der knurrte wütend und griff an. Da drückte Roland Diemer ab. Die Kugel rammte in die breite Brust des riesenhaften Werwolfs und trat auf dem Rücken wieder aus. Blut und Fleischfetzen spritzten auf die Windschutzscheibe des silbergrauen BMW. Doch die Wolfsbestie fiel nicht! Mit ungläubigen Blicken beobachtet Diemer, wie sich die Wunde in der Brust des Untiers schloß. Der Wolf heulte dabei. Roland Diemer lud erneut durch und feuerte. Diesmal jagte er in rasender Schnelle drei Kugeln in den Körper der Bestie. Die Wucht der Geschosse warf den Wolf nach hinten. Langsam lud Diemer sein Gewehr nach, während er Zeuge wurde, wie das Blut vom Rücken des Untiers verschwand und sich die Schußwunden schlossen. »Stirb endlich, Bestie!« brüllte Diemer in fassungsloser Wut, hob die Büchse und drückte ein letztes Mal ab. Die Kugel drang mitten in den weit geöffneten Wolfsrachen und riß der Bestie den halben Schädel weg. »Sie veranstalten hier aber eine ganz schöne Sauerei, Förster«, meinte Ligusta. »Schauen Sie sich an, was Sie mit meinem Wagen gemacht haben.« Der silbergraue BMW war mit Blutspritzern übersät. Roland Diemer packte die Wut. »Sie sind Schuld! Sie haben diese Bestie auf mich gehetzt. In meiner Eigenschaft als 48
Forstbeamter nehme ich Sie fest, Mann! Legen Sie die Hände auf das Wagendach!« Ligusta grinste und entblößte die Reißzähne. Sie hatten sich ebenfalls verändert, ohne daß Ligusta davon Notiz genommen hatte. Sie liefen spitz zu und verliehen ihm ein furchteinflößendes Aussehen. »Ich glaube nicht, daß Sie mich verhaften werden, Forstmeister«, sagte Waldemar Ligusta leise. Die Wolfsbestie gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Roland Diemer wandte seinen Blick von Ligusta ab und schaute fassungslos zu dem Werwolf, dessen Kopf sich bereits regeneriert hatte. Der Dämonenwolf bleckte die Reißzähne und machte einen Schritt nach vorn. »Nein!« Diemer schüttelte den Kopf. »Bleib weg von mir!« Diemer griff zum letzten Mittel. Er drehte seine Büchse um und drosch dem Dämonenwolf den Kolben gegen Brust und Kopf. Der Wolf ließ den Förster zweimal zuschlagen. Den dritten Hieb blockte eine Wolfspranke mühelos ab. Und dann schlug der Werwolf zu. Roland Diemers Schreie mischten sich mit dem Triumphgeheul des Wolfs. Ligusta wartete geduldig, bis der Werwolf seinen Blutdurst gestillt hatte. Doch der Wolf hatte den Förster nicht völlig zerfleischt. Noch steckte Leben in Roland Diemer. Der Wolf schleifte sein Opfer ins Silberlicht des Vollmonds, packte den Förster und riß den Kopf des Mannes nach hinten. Das Mondlicht traf auf das blutverschmierte Gesicht des Försters. Wenig später begann der Keim der Lykanthropie zu wirken. Die Metamorphose setzte ein. Die von dem Dämonenwolf gerissenen Wunden schlossen sich. Rauhe Haarborsten brachen durch die bleiche Haut. Das Gesicht des Försters zog sich in die Länge. Roland Diemer verwandelte sich in einen Werwolf! Dafür bildete sich die Wolfsgestalt des Alten zurück. Bald stand er in seiner menschlichen Gestalt vor dem neu geschaffenen Dämonenwolf. »Ich rieche sie«, sagte der Alte mit rauher Stimme. »Ich rieche die Nähe einer Frau, die zu uns gehört. Zu uns gehören muß! Du holst sie. Nimm ihre Witterung auf. Locke sie. Bring sie zu mir! Aber unverletzt!« Der Werwolf, der einmal Roland Diemer gewesen war, jaulte 49
ergeben. »Aber zunächst soll er uns sagen, wie wir zu einer Unterkunft kommen. Wir brauchen einen Ort, wo wir uns verstecken können, bis du genügend Anhänger hast. Und wo ich meiner kleinen Leidenschaft frönen kann.« Ligusta rieb sich erwartungsvoll die Hände. Der Werwolf jaulte wieder und rannte los. Ligusta versteckte den BMW, ließ den Alten und die Wolfsbestie in den Geländewagen steigen und fuhr in die angegebene Richtung. Der Jeep rumpelte über eine weite Ebene, die in Felder überging. Der gefrorene Erdboden stellte kein Hindernis für den Geländewagen dar. Weit voraus bemerkte Ligusta Licht. Er lenkte den Jeep darauf zu. Ein zufriedenes Lächeln spielte um Ligustas Lippen, als er erkannte, woher das Licht stammte. Es brannte im Zimmer eines Forsthauses, in dessen Nähe sich ein Gehöft befand. Und dort wohnten die Angehörigen des Försters! »Geh jetzt!« befahl der Alte dem Werwolf. »Hol die Frau! Aber wehe dir, wenn du versagst!« Leise jaulend und mit eingezogenem Schwanz jagte der Dämonenwolf über die Felder und verschwand im Wald. * Heidelore Diemer wurde durch ein Geräusch im Erdgeschoß wach. Verwirrt schaute sie sich um. Das Bett neben ihr war leer. Roland war also schon im Wald. Die Diemers bewohnten das Haus zusammen mit den beiden jüngeren Brüdern des Försters. Die bewirtschafteten auch den Gutshof nebenan, während sich Roland Diemer ganz dem Försteramt widmete. Frau Diemer knipste das Licht an und stand auf. Sie schlüpfte in einen Morgenmantel, verließ das Schlafzimmer und stieg die Holztreppe zum Erdgeschoß hinab. In der geräumigen Wohnküche machte sie sich erst mal einen Kaffee. »Das ist aber nett von Ihnen, daß Sie uns Kaffee kochen, meine Liebe«, sagte Waldemar Ligusta und trat aus dem Schatten des Korridors in die Wohnküche. Mit einem leisen Schrei fuhr Frau Diemer herum. »Wer - sind 50
Sie? Was wollen Sie?« »Sagen wir, ich bin ein Freund. Und was ich will, werden Sie bald erleben. Sozusagen am eigenen Leib.« Ligusta grinste und ließ die Fingerknöchel knacken. Die ausdruckslosen Blicke glitten über den üppigen Körper der Förstersfrau. Heidelore Diemer wirbelte herum und stürzte zur Tür. Dabei mußte sie an einem der kleinen Fenster vorbei. Hinter der Scheibe zeichnete sich eine schreckliche Fratze mit gelben Augen und einem Maul voller Reißzähne ab! Frau Diemer wich schreiend zurück. Ligusta grabschte nach ihr, doch immer noch war sie schneller. Sie sauste durch die Tür und kreischte laut um Hilfe. Ihre beiden Schwäger wurden durch die Hilfeschreie der Frau aus dem Schlaf gerissen. Sie polterten schlaftrunken die Stiege hinunter. »Was ist denn los? Warum schreist du denn so?« »Da - draußen«, stieß Heidelore Diemer hervor. »Ein Wolf!« »So ein Quatsch!« brummte einer der beiden Männer. »Wölfe hat es hier seit zig Jahren nicht mehr gegeben. Du wirst schlecht geträumt haben.« »Sieh doch selbst nach, wenn du mir nicht glaubst. Aber sei vorsichtig!« Der junge Mann war mit zwei Schritten bei der Tür und legte seine Hand auf die Klinke. »Wölfe…«, brummte er und kam nicht mehr dazu, die Tür zu öffnen. Das besorgte der Werwolf für ihn. Krachend flog die Tür auf. Die riesige Gestalt der Wolfsbestie stand vor dem verdutzten jungen Mann. Bevor der reagieren konnte, raste eine Pranke auf ihn zu und schlitzte seinen Leib auf. Der Werwolf packte zu, riß den blutüberströmten Mann hoch und stieß ihn weit von sich. Der zuckende Körper landete auf der Stiege. Während sich die Bestie dem zweiten Bruder des Försters zuwandte, stürzte die Frau aus dem Haus und schrie laut um Hilfe. In den Unterkünften der Saisonarbeiter ging das Licht an. Der Dämonenwolf machte auch mit seinem zweiten Gegner kurzen Prozeß. Er schleifte die beiden blutüberströmten Körper nach draußen und ließ sie im Hof fallen. Doch dort blieben sie nicht lange liegen. Ein neues, schwarzmagisches Leben erfüllte sie. Muskeln und Sehnen begannen zu knacken. Der Verwandlungsprozeß setzte ein, während sich der riesenhafte Werwolf um die Angestellten »kümmerte«, die zur Zeit auf dem 51
Hof lebten. Nur Heidelore Diemer und einer jungen Magd gelang die Flucht durch das Hoftor. Sie rannten barfuß auf das schneebedeckte Feld hinaus. Panik trieb sie voran. Und doch waren sie nicht schnell genug. Die junge Magd bemerkte ihren Verfolger zuerst. Sie wirbelte herum, sah den geifersprühenden Rachen der Bestie vor sich und wollte schreien, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Ein gewaltiger Prankenhieb fegte die junge Frau in den Schnee. Heidelore Diemer sah den riesigen Dämonenwolf vor sich aufragen. Er hob den Kopf und stieß ein lautes Triumphgeheul aus. Seine Pranke schoß vor, schloß sich um ihren Hals und hob sie hoch. Das Opfer strampelte und wehrte sich gegen den Griff. Dabei zerriß das dünne Seidenhemd. Im Mondlicht sah Frau Diemer, wie sich der Rachen der Bestie weit öffnete. Sie schrie gellend, als der furchtbare Hieb auf sie niedersauste. Ihr Todesschrei ging in ein dumpfes Gurgeln über. Der Werwolf betrachtete die halb ohnmächtige Magd, deren Kleidung vom Blut der Gepeinigten bespritzt war. Das Untier hob die junge Frau hoch, schleifte sie zum Haus und in die Wohnküche und warf sie auf einen Stuhl, wo sie ängstlich zitternd umherschaute. Sie entdeckte den hochgewachsenen, muskulösen Mann mit den eisgrauen Augen, der sich eine Schürze umgebunden hatte und eine ganze Reihe von Küchenutensilien vor sich aufreihte. Ligusta musterte die Magd mit gefühllosem Blick. »Die Französin wird bald hier sein. Wenn das Mondlicht ihren Körper trifft, wird sie zu meinem Gefolge gehören«, sagte der Alte, der seine Wolfsgestalt abgelegt hatte. »Bald werde ich so mächtig sein, daß uns nichts und niemand gewachsen ist. Dieser Hof wird unsere Zufluchtsstätte sein. Jede Nacht werden wir neue Opfer finden. So ist es vorbestimmt!« »Wie kannst du so sicher sein, daß er auch kommt?« fragte Ligusta und wählte eine blitzende Klinge aus. »Er ist bereits unterwegs. Ich spüre es«, war die Antwort. Ligusta. wandte sich der verängstigten Magd zu. »Erst die Arbeit und jetzt das Vergnügen«, meinte er. »Mal sehen, was du zu bieten hast, Kleine.« Die Magd wurde immer kleiner in ihrem Stuhl. In dieser Nacht wünschte sie sich, einen ebenso raschen Tod gestorben zu sein 52
wie die Frau des Försters. * Wir trafen kurz nach halb elf am Landhotel Schwarzer Adler ein. Vincent van Euyen wälzte seinen beachtlichen Leibesumfang auf uns zu und begrüßte uns überschwenglich. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich hier zu sehen«, versicherte er. »Schon gut. Wo ist denn nun der Werwolf? Oder das, was du von ihm übriggelassen hast.« »Laßt uns erst einen Schluck Kaffee trinken. Ich erzähle euch dann alles der Reihe nach.« Vincent führte uns in das Kaminzimmer des Hotels und machte uns mit Nadine Garnier bekannt. Wir erfuhren von Vincents Ausflugsfahrt mit den französischen Studenten, von Nadines Alpträumen und dem Angriff des Werwolfs. Ich ließ mir das Ganze noch mal durch den Kopf gehen. »Du hast am Telefon ein aufgebrochenes Grab und einen Serienmörder erwähnt. Was haben die denn mit dem Werwolf zu tun?« Der Bildreporter leerte die Kaffeetasse und hob die Schultern. »Das ist es ja, was mich stutzig macht. Bevor wir hierher gefahren sind, hab ich mich in einer Lokalredaktion in Leipzig nach Neuigkeiten umgehört. Dabei bin ich auf eine Meldung aus Bedburg bei Köln gestoßen. Dort soll ein vierhundert Jahre altes Grab geschändet worden sein. Man hat damals angeblich einen Werwolf darin begraben. Und Nadine träumt nachts von einem Werwolf. Das war mir dann doch ein Zufall zuviel. Ich fragte Nadine, ob sie einen gewissen Peter Stube oder Stumpe kennt, so hieß der Kerl in dem Grab in Bedburg nämlich.« »Peter Stubbe«, informierte ich. »Woher hast du denn die Weisheit?« Ich grinste. »Auch ich habe meine Quellen, Mijnheer. Wo kommt der Serienmörder ins Spiel?« Vincent beugte sich vor. »Ich weiß ja nicht, ob ihr davon gehört habt, aber in der Nacht ist ein Psychopath namens Waldemar Ligusta aus der Psychiatrischen in Schkeuditz abgehauen.« Tessa und ich nickten gleichzeitig und wechselten einen Blick. 53
»Dieser Ligusta benutzt den Wagen der Ärztin, die er umgebracht hat, als Fluchtfahrzeug. Aus sicherer Quelle weiß ich, daß eben dieses Fahrzeug auf der Autobahn bei Köln aufgefallen ist.« Tessa und ich wechselten wieder einen Blick. »Na?« fragte Vincent. »Na, was?« Mein lakritzlutschender Freund verdrehte die Augen. »Bei dir ist der Groschen aber auch schon mal schneller gefallen.« »Ich weiß. Jetzt rieselt schon der Kalk. Nun sag's schon.« Ich ließ ihm seinen Triumph. »Ligusta trieb sich ausgerechnet dann im Rheinland rum, als Stubbes Grab geschändet wurde. Geht man davon aus, daß Ligusta das Grab geöffnet hat und ein Zusammenhang zwischen Stubbes Grab und unserem Werwolf besteht, dann muß auch Ligusta in der Sache mit drin hängen.« »Fragt sich nur, wie. Eines ist mir noch nicht klar: Wo sollen wir diesen Cousin von Nadine einordnen? Wie hieß er doch gleich?« »Gilles Garnier«, antwortete Nadine. »Ich habe nie zuvor von ihm gehört.« »Auf jeden Fall muß er mit der hiesigen Sache irgendwie zu tun haben. Ich frage mal bei meinem Vater nach. Kann sein, daß er was in Erfahrung bringen kann. Dürfte ich mir jetzt den Werwolf ansehen?« »Wir haben ihn in den Keller geschafft. Ich konnte die Hotelbesitzer davor zurückhalten, die Polizei zu informieren. Ich wäre dir dankbar, Tessa, wenn du das in die Hand nehmen würdest. Damit die Leutchen beruhigt sind.« Tessa nickte und zeigte den Hotelbetreibern ihren Dienstausweis. Sie versprach, umgehend die Kollegen aus Magdeburg zu benachrichtigen. Der Tote hatte immer noch den abgebrochenen Ast im Leib. Als ich mich über den reglosen Körper beugte, vibrierte der Siegelring an meinem Finger und sandte ein leichtes Glimmen aus. Er zeigte schwache dämonische Ausstrahlung an. »Hat jemand den Mann identifiziert?« fragte ich. Vincent schüttelte den Kopf. »Wundert mich sowieso, daß er nicht zu Staub zerfallen ist.« »Das passiert wohl nur bei alten Werwölfen oder Vampiren. Dieser hier dürfte noch nicht allzu lange in dem Gewerbe tätig 54
gewesen sein.« »Stellt sich zwangsläufig die Frage, wie er zum Werwolf wurde.« Ich schaute auf. »Indem er von einem anderen Werwolf gebissen oder verletzt wurde. Der Keim der Lykanthropie wird von Verletzungen und Bissen durch einen Werwolf übertragen«, erklärte ich. »Das heißt dann also, daß hier noch so ein Biest rumkreucht.« Der rundliche Zeitungsmann schüttelte sich bei dem Gedanken. »Mindestens einer. Davon muß man ausgehen«, bestätigte ich. Ich nickte Tessa zu. »Du kannst die Kollegen antanzen lassen. Aber kein Wort von einem Werwolf. Ihr habt die Leiche im Wald gefunden.« »Und sie dann hier in den Keller geschleppt? Das glaubt uns doch kein Mensen.« »Deshalb werden wir zwei Hübschen den Leichnam wieder dorthin schaffen, wo er letzte Nacht gelegen hat. Auf die Wiese.« Vincent blies die rosigen Backen aus. »Das artet ja langsam in Arbeit aus«, moserte er. Wir schnappten uns den blutleeren Leichnam und trugen ihn hinaus. Tessa informierte die Hoteleigentümer, Stillschweigen zu bewahren. Sie würde mit ihren Kollegen von der Magdeburger Mordkommission entsprechend reden. »Ich mach mich dann mit meinen Franzosen wieder auf den Weg«, verkündete Vincent. »Wo soll's denn hingehen?« fragte ich. »Rüber in den Harz. Kleine Rundreise.« »Viel Vergnügen. Und wenn du wieder auf Werwölfe stößt, ruf mich an, ja?« »Hallo, Vater«, meldete ich mich. »Ich wollte nur mal nachhören, ob du inzwischen was über Peter Stubbe rausgefunden hast.« »Ist doch was dran an deinem Alptraum?« »Kann man wohl sagen. Hast du was für mich?« »Ja, paß auf. Peter Stubbe lebte Ende des sechzehnten Jahrhunderts in Bedburg bei Köln. Dort hat er mehrere Menschen, vorwiegend junge Frauen und Kinder, bestialisch ermordet und anschließend verzehrt. Während der Gerichtsverhandlung gab er zu, mit dem Teufel im Bunde zu sein und sich in einen Werwolf verwandeln zu können. Mit Gerichtsbeschluß vom 28. Oktober 1589 wurde Peter Stubbe auf dem Marktplatz zu Bedburg 55
öffentlich hingerichtet. Man vierteilte ihn, schälte ihm das Fleisch von den Knochen und verbrannte seinen Körper. Die Asche wurde auf dem Friedhof von Bedburg beigesetzt.« »Dann hat also jemand das Grab geöffnet, um an die Asche zu gelangen.« Ich erzählte Vater, was ich über die Öffnung von Stubbes Grab erfahren hatte. »Ja, da könnte durchaus ein Zusammenhang bestehen«, meinte er. »Aber ich habe noch was für dich. Der Alte, von dem du geträumt hast, existierte wirklich. Seinen wahren Namen kannte niemand. Jedermann nannte ihn nur den Alten. Er dürfte ungefähr zu der Zeit gelebt haben, als man Stubbe hinrichtete. Jedenfalls soll sich der Alte ebenfalls in einen Werwolf verwandelt haben und wurde von einem Schäfer im Wald bei dem Dorf Eggenstedt erschlagen. Sein Körper wurde unter einem gewaltigen Felsbrocken, dem sogenannten Wolfsstein, verscharrt.« »Damit wäre der Felsen erklärt, den ich im Traum gesehen habe. Wo liegt dieses Eggenstedt?« »Zwischen Magdeburg und Wernigerode, am Rande des Harz.« Mir lief es eiskalt über den Rücken. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß Vincent mit seinen Schäflein direkt in den Rachen des Wolfes fuhr. »Eine Frage habe ich noch, Vater. Sagt dir der Name Gilles Garnier etwas?« »Garnier. Garnier. Moment mal. Als ich über Stubbe nachforschte, stieß ich auf den Namen. Einen Augenblick, mein Junge.« Ich wartete geduldig, obwohl mir die Zeit unter den Nägeln brannte. »Hier haben wir es«, meldete sich mein Vater zurück. »Gilles Garnier trieb im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert im Französischen Jura sein Unwesen als Werwolf. Er wurde im Februar 1574 verurteilt und hingerichtet. Hilft dir das weiter?« »Ungemein, Vater. Vielen Dank. Grüße an Mutter.« Ich legte auf und hastete hinaus. Ich wollte Tessa informieren, wohin ich unterwegs war, doch aus einem raschen Abgang wurde nichts. Der leitende Kripobeamte von der Magdeburger Mordkommission legte Wert auf meine Anwesenheit, und ich mußte dem Erkennungsdienst beim Spurensammeln zusehen. Die Tatsache, daß eine Weimarer 56
Kollegin an dem Fall arbeitete, schien den Kripomann herzlich wenig zu interessieren. Schließlich mußten wir ihn auch noch nach Magdeburg begleiten, wo die Fragestunde von vorne begann. Es war schon Abend, als wir uns endlich verabschieden durften. Etwas Gutes hatte die Warterei jedoch gehabt. Wir hatten die Identität des Toten erfahren. Er hieß Roland Diemer, war Forstbeamter und stammte aus der Nähe von Eggenstedt. Alle Fäden liefen in dem kleinen Ort am Rande des Harz zusammen. In einem Wald in der Nähe des Dorfes befand sich auch der Wolfsstein, jener Felsen aus meinem Traum. Und dort würde ich wohl auch auf eine Spur des Alten stoßen, der sich in einen Werwolf verwandelt hatte. Wenig später saßen wir in meinem alten BMW und brausten nach Westen. Irgendwo dort, im Forst bei Eggenstedt, würde ich mich dem Dämonenwolf und meinem Schicksal stellen. * Sie waren nicht weit gefahren. In Oschersleben hatten sie Halt gemacht, das mittelalterliche Schloß und das Rathaus besichtigt und ein Mittagessen eingenommen. Düstere Schneewolken bedeckten den Himmel, als der Bus am Nachmittag seine Tour Richtung Harz fortsetzte. Vincent van Euyen steckte sich eine Pfeife an. Dichte Rauchwolken umrahmten seinen Kopf. »Wir werden nochmals im Harz übernachten«, sagte er zu Nadine. »Die Sache mit dem Werwolf hat uns doch länger aufgehalten, als ich dachte.« »Es tut mir leid«, kam Nadines leise Entschuldigung. »Muß es nicht, Mädchen«, meinte Vincent. »Sie können schließlich nichts dafür, daß es das Biest auf Sie abgesehen hatte.« »Meinen Sie, daß es noch mehr Werwölfe gibt?« Van Euyen verzog schmerzlich das Gesicht. »Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Mädchen! Eines dieser haarigen Ungeheuer reicht mir. Aber Mark ist Fachmann auf dem Gebiet. Wenn er sagt, daß es noch mehr davon gibt, wird es wohl stimmen. Hoffentlich begegnen wir ihnen nicht. Mir sitzt der Schreck von letzter Nacht noch in den Knochen.« 57
Nadine schenkte ihm ihr wärmstes Lächeln, ergriff seinen Arm und schmiegte sich an ihn. »Sie dürfen stolz sein, Vincent. Immerhin haben Sie mir das Leben gerettet. Sie sind ein richtiger Held!« Van Euyen schluckte. Er kam mit der Situation nicht zurecht. Er hatte nur getan, was im Augenblick höchster Not getan werden mußte. Verlegen rückte er sich auf seiner Sitzbank zurecht. »Machen Sie sich mal keine Sorgen, Nadine. Es ist alles halb so schlimm. Um die Werwölfe kümmert sich jetzt mein Kumpel Mark, und wir genießen die schöne Gegend. Morgen hat uns der Journalistenalltag wieder.« Vincent irrte sich gewaltig. Aus einem Seitenweg kam ein Mann in Jägertracht auf die Straße gelaufen. Er tauchte so plötzlich auf, daß der Busfahrer eine Vollbremsung hinlegen mußte. Vincent schaute zu dem Jäger hin und entdeckte in dem Seitenweg einen Geländewagen. Der Bus schlitterte noch einige Meter auf der verkehrsarmen Landstraße und kam zum Stehen. Der Fahrer öffnete die vordere Tür. »Was gibt's?« fragte er kurz, als sich der Mann in Jägertracht genähert hatte. »Mein Name ist Diemer. Ich bin der Förster für diese Region«, stellte sich der Jäger vor. »Wo wollen Sie denn hin?« »Rüber nach Schöningen und weiter in den Harz.« »Das wird kaum möglich sein, Leute. Die Straße ist gesperrt. Wegen Reparaturarbeiten. Ich schlage vor, ihr fahrt die nächste rechts ab Richtung Eggenstedt. Ist kein großer Umweg.« »Eggenstedt? Nie gehört«, meinte der Fahrer. »Ist der Ort ausgeschildert?« »Hier noch nicht. Die reguläre Zufahrtsstraße liegt hinter dem blockierten Teilstück. Sie müssen einen Forstweg fahren. Ich erteile Ihnen hiermit die Genehmigung.« »Die nächste rechts, sagen Sie?« Der Förster nickte. Seine eisgrauen Augen richteten sich einen Moment lang auf Nadine Garnier. Sie hatte das Gefühl, in die kalten Augen einer Schlange zu blicken. Ein Schauer lief der jungen Französin über den Rücken. Der Busfahrer winkte, startete und fand bald den Seitenweg, den ihm der Förster beschrieben hatte. Vorsichtig lenkte er den Bus von der Straße auf den verschneiten Forstweg. 58
Der war an manchen Stellen ziemlich holprig. Von der Kälte erstarrte Zweige schabten über das Dach des Busses. Im Schneckentempo ging es jetzt weiter. Hinter jeder Wegbiegung vermutete der Fahrer das Dorf Eggenstedt. Aber er wurde jedesmal enttäuscht. Der Waldweg schien endlos. Endlich lichtete sich der Wald. Vor dem Bus breiteten sich weite, schneebedeckte Felder aus. In der Ferne konnte man ein Haus mit verzierten Fensterläden und einen Gutshof erkennen. »Wo, zum Donnerwetter, hat uns der Kerl denn hingeleitet?« beschwerte sich der Fahrer. »Von dem Dorf ist weit und breit nichts zu sehen!« Vincent beugte sich vor und schaute an dem Fahrer vorbei. »Wenn wir hier an den Feldern entlangfahren, müßten wir einen Zufahrtsweg zum Bauernhof finden. Dort kann man uns bestimmt den Weg zum Dorf zeigen.« Der Fahrer kam Vincents Vorschlag nach und lenkte den Bus nach links. Kaum war er auf den schmalen Weg eingebogen, der zwischen der Baumgrenze und den Feldern entlangführte, mußte er jedoch schon wieder auf die Bremse treten. Zwischen den kahlen Bäumen war die hochgewachsene, bleiche Gestalt eines Mannes aufgetaucht und direkt vor den Bus getaumelt. Kalte, ausdruckslose Augen stierten durch die Windschutzscheibe. Der Busfahrer öffnete das Seitenfenster. »Sind Sie noch zu retten, Mann? Ich hätte Sie beinahe überfahren!« Der Kopf des bleichen Gesellen ruckte herum. Mit linkischen Bewegungen ging er auf die Fahrertür zu, blieb dabei aber dicht am Fahrzeug. »Haben Sie nicht verstanden? Hauen Sie ab, Mensch!« rief der Fahrer. Der Mann mit den kalten Augen stierte den Busfahrer verständnislos an. Dann zuckte seine Hand hoch, und kalte Finger schlossen sich um den Hals des Fahrers. Der Fahrer bemühte sich, den harten Griff des Unheimlichen zu sprengen, aber der Kerl verfügte über Riesenkräfte. Er zog den Fahrer nach vorn, bis sein Kopf vollständig aus dem Seitenfenster hing. Das bleiche Gesicht näherte sich dem Fahrer. »Nach rechts!« zischte der Unheimliche. Mit Schwung stieß der Unheimliche sein Opfer zurück. Der Fahrer rieb sich erschrocken den schmerzenden Hals. »Er will, 59
daß wir nach rechts fahren. Aber wieso? Dort ist doch nichts!« Vincent beobachtete, wie der Unheimliche einen armdicken Ast abbrach und sich drohend dem Bus näherte. »Ich glaube, wir erfüllen ihm besser seinen Wunsch«, meinte er leise. Hastig legte der Fahrer den Rückwärtsgang ein, stieß zurück und kurbelte am Steuer. Schwerfällig setzte sich der Bus in Bewegung, rumpelte den Feldweg entlang und kam an einer weiteren Abzweigung zum Stehen. »Was ist denn jetzt wieder?« stieß der Fahrer hervor. Auch auf dieser Seite stellte sich ihnen jemand in den Weg. Es war ein alter Mann mit runzligem Gesicht und Hakennase. Lange, strähnige Haare hingen ihm bis zu den Schultern. Er trug eine zerrissene Kutte. Langsam streckte er den Arm aus und deutete auf Nadine, die ihn erschrocken durch die Frontscheibe anschaute. »Das ist sie!« rief der Alte. »Das ist die Auserwählte, die heute nacht am Wolfsstein eine von uns werden soll!« Dumpf drang die Stimme durch die Scheibe. »Von was faselt der Opa?« rief der Fahrer. »Sie trägt das Blut eines von uns in sich!« dröhnte die Stimme des Alten. »Sie weiß es nicht, aber sie ist dazu berufen, unsere Meute an meiner Seite zu führen. In dieser Nacht wird sie zu uns gehören!« »Ich denke, wir sollten versuchen, den Bauernhof zu erreichen. Dort sind wir vor diesen Verrückten relativ sicher.« Vincent bemühte sich, zuversichtlich zu klingen. »Ich geh da nicht raus!« antwortete der Fahrer mit Bestimmtheit. »Und Sie sollten auch hier im Bus bleiben. Das ist im Moment der einzig sichere Zufluchtsort.« Der Fahrer gab Gas. Laut ließ er den Motor aufheulen. Der Bus ruckte an und rollte auf den Alten zu, der immer noch den Arm ausgestreckt hatte. »Der Kerl geht einfach nicht zur Seite!« rief der Fahrer. »Ist der lebensmüde?« Ein peitschender Knall zerriß die winterliche Luft. Gleich darauf krachte es ein zweites Mal. Der Bus sank vorne ein wenig tiefer. »Jemand hat die Reifen zerschossen!« schrie der Busfahrer. Wieder krachte ein Schuß. Langsam trat der Alte zur Seite und machte einigen Gestalten Platz, die aus dem Wald traten. Sie alle waren mit Ästen 60
bewaffnet und nahmen eine drohende Haltung ein. Und alle hatten die gleiche blasse Gesichtsfarbe wie der Mann, der den Bus aufgehalten hatte. Unruhe kam unter den Studenten auf. Sie redeten wild durcheinander. Die bleichen Gestalten stapften durch den Schnee auf den Bus zu. Mit Befremden erkannte Vincent, daß einige von ihnen nur leicht bekleidet waren. Die beißende Kälte schien ihnen nichts auszumachen. Drohend hoben sie die Äste und schlugen auf das Fahrzeug ein. Ein Hieb traf die Windschutzscheibe genau vor dem Gesicht des Fahrers. Ein Spinnwebmuster zog sich über das Glas. Erschrocken riß der Fahrer seinen Arm zur Abwehr hoch. »Los, alle nach hinten!« befahl van Euyen. »Wenn wir dicht zusammenbleiben, fällt es ihnen schwerer, sich einen einzelnen auszusuchen. Verriegeln Sie die Türen!« wies er den Fahrer an. Ängstlich kauerten sich die Studentinnen auf den hinteren Sitzen zusammen. Ihre männlichen Kameraden umringten sie, um sie so gut wie möglich vor Angriffen zu schützen. Bei jedem Hieb, der den Bus traf, wimmerten einige Mädchen laut. Bei aller Bedrohlichkeit der Situation hatte der rundliche Reporter den Eindruck, daß die bleichen Angreifer nur mit halbem Herzen bei der Sache waren. Die Schläge mit den Ästen hätten kraftvoller geführt werden können, dessen war er sich sicher. Wahrscheinlich diente der Angriff nur dazu, das Nervenkostüm der Businsassen zu strapazieren. »Na endlich!« rief der Busfahrer, als ein olivgrün gekleideter Mann vor dem Bus erschien. »Der Förster ist da. Jetzt ist gleich Schluß mit dem Theater!« »Bleiben Sie hier!« schrie van Euyen. »Das ist nicht…« Der Förster hob sein Gewehr und feuerte einen Schuß auf den nach vorn hastenden Fahrer ab. Die Kugel durchschlug die Windschutzscheibe, sauste am linken Ohr des Fahrers vorbei und bohrte sich in die Deckenverkleidung. Mit einem Schreckensschrei preßte der Fahrer die Hand auf sein Ohr, wirbelte herum und starrte die Businsassen verstört an. »Warum schießt der Kerl auf mich? Er sollte sich lieber die Verrückten da draußen vornehmen!« »Das wird er nicht tun«, sagte van Euyen leise. »Er gehört zu ihnen.« Stille breitete sich aus. Quälend langsam verstrichen die 61
Minuten. Von den bleichen Gestalten außerhalb des Busses erfolgte kein Angriff mehr. Dunkelheit senkte sich über das Land. Der Fahrer wagte nicht, die Innenbeleuchtung anzuschalten. »Sonst knallen die uns ab wie die Hasen«, begründete er seine Entscheidung. Van Euyen widersprach nicht. Ein dumpfer Schlag ertönte. Schritte waren auf dem Dach des Fahrzeugs zu hören. Jemand war auf den Bus gesprungen und rüttelte nun mit brutaler Gewalt an den Dachkanten. Mittlerweile war es stockdunkel geworden. Van Euyen schaute aus einem der Fenster nach oben. »Der Mond ist aufgegangen«, meinte er. Wie zur Bestätigung ertönte schrilles Wolfsgeheul. Der Fahrer wieselte aufgeregt im Bus herum. »Was, zum Teufel, war das denn?« rief er. Vincent und Nadine wechselten einen Blick. Sie wußten beide, was dieses Geheul zu bedeuten hatte. »Ein Wolf«, sagte sie leise. »Er will mich holen.« »Beruhigen Sie sich. Wir überlassen Sie auf keinen Fall diesen Bestien«, versprach der Bildreporter. Der Fahrer schaute hinaus. Ein bleiches Gesicht mit gefletschten Zähnen klatschte gegen die Scheibe. Erschrocken prallte der Fahrer zurück. »Ich halte das nicht mehr länger aus«, jammerte er. »Die treiben mich noch in den Wahnsinn!« Um die Sache für den Fahrer noch schlimmer zu machen, warf die blaßgesichtige Frau ihren Kopf in den Nacken, jaulte laut und begann sich zu verändern. Helles Borstenhaar durchbrach die Haut. Die Kiefer verlängerten sich, wurden zu einem kräftigen Raubtiergebiß. Gelbe Augen starrten den verängstigten Fahrer an. »O mein Gott! Das gibt es doch nicht!« keuchte er. Der Mann in Försterkleidung hieb mit der Büchse auf die Windschutzscheibe ein. »Gebt die Frau raus!« Nadine warf van Euyen einen flehenden Blick zu. Der Reporter drückte ihr beruhigend die Schulter, schob sich an dem Fahrer vorbei und ging nach vorn. »Sie werden das Mädchen nicht bekommen!« erklärte er bestimmt. »Wenn wir sie ausliefern, greifen Ihre Kumpane sowieso den Bus an. Habe ich recht?« Ligusta, der seine Anstaltskleidung mit der Uniform des Försters vertauscht hatte, verneigte sich leicht. »Sie sind clever«, sagte er anerkennend. »Aber wir benötigen das Mädchen, das haben Sie vorhin gehört. Sie haben die Wahl. Liefern Sie sie aus, oder die 62
Angelegenheit hier artet aus.« »Das Mädchen bleibt hier!« »Ich nehme das Kompliment von vorhin zurück, Dicker! Sie sind nicht clever!« Ligusta trat zurück und nickte dem Alten zu. Der Kuttenträger hob beide Arme. »Nadine Garnier! Wir holen dich!« Er deutete auf den Bus. »Bringt sie her! Alle!« Mit Brachialgewalt warfen sich die Wolfsbestien gegen das Fahrzeug. Donnernde Schläge verbeulten das Metall und zersplitterten die Scheiben. »Nehmt alles, was ihr als Waffe benutzen könnt!« rief van Euyen. »Flaschen, Taschen, Kameras. Versucht, aus dem Bus zu kommen und den Bauernhof zu erreichen. Das ist unsere einzige Chance.« Ihre Stimme ging im Zerplatzen einer Fensterscheibe unter. Die Studenten richteten sich auf. Vincent und Nadine wirbelten herum. Im Mittelgang vor ihnen stand ein Wolf und starrte sie mit leuchtend gelben Augen und weit aufgerissenem Rachen an. Vincent ergriff eine Limonadenflasche und hieb sie über den Metallrahmen einer Sitzbank. Scherben und Limonade ergossen sich über das Polster. »Du kriegst Nadine nicht! Weil du nicht an mir vorbeikommst!« zischte er und baute sich in voller Größe vor den Studenten auf. Die Bestie hechelte und spannte die Beinmuskeln. Der Wolf sprang! * Wir rasten auf der Landstraße durch die Nacht. Die Gegend war einsam. Kaum ein Wagen unterwegs. Vor mir riß das Scheinwerferlicht das Ortsschild von Eggenstedt aus der Dunkelheit. Ich hielt am Straßenrand und holte aus meinem Einsatzkoffer Magazine mit geweihten Silberkugeln für unsere Pistolen. Den Silberdolch zückte ich ebenfalls und schob ihn in den Gürtel. Sicher war sicher. In einem Gasthaus in der Ortsmitte erkundigte ich mich nach dem Wolfsstein. Der Wirt zuckte zusammen, antwortete aber trotzdem. »Der ist im Brandsleber Forst. Durch den Ort, dann 63
links halten, am Forsthaus vorbei und durch die Felder bis zum Wald. Dort noch mal links und den übernächsten Waldweg rechts. Sie fahren dann direkt darauf zu.« Mondlicht beleuchtete die Umgebung. Ich hätte beinahe auf Scheinwerfer verzichten können. Trotzdem war ich gleich darauf froh, sie zu haben, denn im Scheinwerferlicht machte ich eine huschende Gestalt aus, die mit langen Sätzen aus dem Wald sprang. »Wenn mich nicht alles getäuscht hatte, war das eben ein Wolf gewesen!« Der BMW holperte über den Waldweg. Tessa zog die Pistole und entsicherte sie. Sie wollte keine Zeit verlieren, falls uns der Werwolf angriff. Die Bestie schien bemerkt zu haben, daß sie verfolgt wurde. Sie schaute zu uns herüber und verschwand mit zwei, drei langen Sätzen im Wald. Ich trat auf die Bremse. »Verflucht! Ich hätte zu gern gewußt, ob es ein Werwolf war!« Kaum hatte ich meinen Satz beendet, ging mein Wunsch auch schon in Erfüllung. Die Bestie stürzte knurrend aus dem Dunkel der Bäume auf uns zu. Der gewaltige Körper prallte auf die Motorhaube meines Wagens. Die Krallen kratzten wild über die Frontscheibe. Geifer troff aus dem weit geöffneten Rachen des Wolfs. Kurz entschlossen warf ich den Rückwärtsgang rein. Das Untier verlor den Halt, fiel zu Boden und überschlug sich. Sofort kam es wieder auf die Beine, richtete sich auf und brüllte uns wütend an. Die gefährlichen Pranken hieben wild durch die Luft. »Wenn das kein Dämonenwolf ist, weiß ich es auch nicht«, brummte ich und legte den ersten Gang ein. Ich gab Gas und raste dem Untier entgegen. Mein Siegelring erfaßte die dämonische Ausstrahlung der Bestie. Er vibrierte, erwärmte sich und begann zu leuchten. Der Werwolf schien sich dem heranbrausenden Wagen gewachsen zu fühlen, denn er bewegte sich nicht von der Stelle. Ich rammte ihn frontal. Der pelzige Körper wurde hoch in die Luft geschleudert. Wie der Blitz war ich aus meinem Fahrzeug heraus, riß die Pistole hoch und zielte auf - ja, worauf eigentlich? 64
Da war nichts, worauf ich hätte schießen können! Der Werwolf war spurlos verschwunden! »Gib acht, Tessa, er lauert hier noch irgendwo!« rief ich. Vorsichtig näherte ich mich der Stelle, an der ich den Wolf auf dem Boden vermutet hatte. Ich beobachtete den dunklen Forst. Tessa stand neben dem Wagen und hielt die Waffe schußbereit in der Hand. Den Schatten, der sich hinter ihr aufrichtete und eine Pranke zum verhängnisvollen Schlag hob, bemerkte sie nicht. Der Wolf bewegte sich lautlos, hechelte nicht mal. Mir sträubten sich die Nackenhaare, als ich zufällig zum Wagen schaute und die tödliche Gefahr in Tessas Rücken sah. Ich durfte mir nichts anmerken lassen und mußte doch so schnell wie möglich reagieren. Ich hatte nur einen Schuß. Wenn Tessa eine falsche Bewegung machte… Zeit zum Zielen hatte ich nicht. Ich mußte schnell sein. Verdammt schnell. Die Pranke hob sich immer höher. Das Maul des Wolfs war weit geöffnet, schien mich anzugrinsen. Tessa kam mir zu Hilfe, ohne es zu ahnen. »Kannst du was erkennen?« fragte sie und lenkte die Aufmerksamkeit des Werwolfs damit für einen winzigen Augenblick ab. »Nein«, antwortete ich, drehte mich um und feuerte. Tessa schrie, als sie den Mündungsblitz aufzucken sah. Die Silberkugel sauste an ihrem Kopf vorbei und traf den Dämonenwolf an der Halswurzel. Die Pranke wischte zwar noch nach unten, doch durch die Wucht des Geschosses taumelte der Wolf nach hinten und verfehlte Tessa mit seinen Krallen. Die Fahnderin wirbelte herum und richtete die Pistole auf den Wolf, schoß jedoch nicht. Sie sah die blutbesudelte Brust des Tieres und die Schußwunde. Der Werwolf brach in die Knie, winselte gequält und legte den Kopf in den Nacken. Ein letztes Mal suchte er Kraft im Mondlicht, doch es war zu spät. Die reinigende Kraft des geweihten Silbers setzte seinem dämonischen Leben ein Ende. »Sag mal, spinnst du?« fauchte Tessa. »Du hättest mich treffen können!« »Hab ich aber nicht.« Ich hauchte ihr einen Kuß auf die Wange. »Es ging doch nicht anders.« 65
Ein paar Minuten standen wir schweigend da. Während Tessa ihren Schrecken überwand, beobachtete ich, wie sich der Werwolf vor meinen Augen in eine nackte, junge Frau verwandelte. Zusammengekrümmt lag ihr bleicher Körper auf dem Waldweg. Deutlich war die Schußwunde zwischen den Schlüsselbeinknochen zu sehen. Vor uns, aus der Richtung, in die wir fahren wollten, hörten wir Schreie. Dazwischen war wildes Knurren und Fauchen zu hören. Ich schob Tessa von mir, zog die Tote ins Gebüsch und warf mich hinter das Steuer des BMW. Tessa saß noch nicht richtig, als der Wagen bereits nach vorn schoß. Augenblicke später beleuchteten die Scheinwerfer meines Wagens eine bizarre Szenerie. Fliehende Menschen, ein reißendes Wolfsrudel. Ein alter Mann mit erhobenen Armen. Und dazwischen kauerte auf dem Boden die voluminöse Gestalt meines Freundes Vincent! * Vincent hatte unverschämtes Glück. Der Werwolf hievte seinen massigen Körper auf den Reporter zu. Vincent ließ sich auf die Knie fallen und warf den Oberkörper nach vorn. Die Krallen des Wolfs verfehlten den Reporter um Haaresbreite. Das dämonische Tier segelte über meinen Freund hinweg, prallte auf den Boden und wirbelte herum. Als es sich aufrichtete, war Vincent bereits auf den Beinen und holte seinerseits aus. Das gezackte Ende der Limonadenflasche wischte quer über das Gesicht der Bestie und zerfetzte die Augen des Untiers. Wild schrie die Bestie auf und ruderte mit den Armen durch die Luft. »Raus! Alleraus!« rief Vincent. »Draußen haben wir größere Chancen. Versucht, den Bauernhof zu erreichen! Nadine, du bleibst bei mir!« Der Dämonenwolf jaulte. Es würde eine Weile dauern, bis sich seine Augen regeneriert hatten. Vincent wartete nicht, bis es soweit war. Er stieß die abgebrochene Flasche mit aller Kraft in den Rachen und den Hals der Bestie. Blut spritzte ihm in hohem Bogen entgegen. Angewidert wandte sich Vincent ab. Der Wolf war schwer angeschlagen. Gurgelnd brach er 66
zusammen. Die Studenten warfen sich nach draußen und rannten auf das verschneite Feld. Mädchen schrien, Wölfe knurrten und fauchten. Vincent versetzte einem der Wölfe einen Tritt in die Schnauze, fegte ihn aus dem Weg und warf sich nach draußen. Eine weitere Bestie hielt er sich mit der abgebrochenen Flasche vom Leib, bevor ihn die Krallen des dämonischen Tiers treffen konnten. Vincent half Nadine aus dem Bus und stieß sie in Richtung auf das Feld. »Lauf, Mädchen! Ich halte die Meute auf!« »Haltet sie!« brüllte der Alte. Seine Stimme übertönte das Durcheinander der Geräusche. »Sie darf nicht entkommen! Sie muß eine von uns werden!« Waldemar Ligusta sprang dem dicken Reporter in den Weg, rammte van Vincent den Gewehrkolben in den Bauch und schlug ihm die abgebrochene Flasche aus der Hand. Vincent ging in die Knie, schaute auf und sah das verzerrte Gesicht des Psychopathen. Tief lagen die eisgrauen Augen in den dunklen Höhlen. Das breite Gebiß mit den spitzen Zähnen grinste den Reporter an. Ligustas Gesicht ähnelte einem Totenschädel. Irgendwo knallte ein Schuß. Ligusta wirbelte herum und schaute sich um. Aber nichts war zu erkennen. Keiner der Studenten hatte eine Waffe bei sich. Ein anderer Jäger? Ligusta zuckte die Achseln. Er machte sich keine Sorgen. Wer immer den Schuß abgegeben hatte, er würde den Wölfen zum Opfer fallen. Der Irre richtete seine Waffe auf den Reporter. Vincents Blick fiel direkt in die dunkle Mündung der Büchse und auf Ligustas Grinsrübe. »Du hast Angst, mein Freund«, zischte der Wahnsinnige. »Im Angesicht des Todes hast du Angst. Wie alle! Deine jungen Begleiter flüchten in eine trügerische Sicherheit. Der Gutshof! Dort werde ich mich mit ihnen befassen.« Ligustas Augen leuchteten voll Vorfreude. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Vincent schluckte und schloß die Augen, doch der Schuß kam nicht. »Eine Kugel wäre zu schade für dich, mein Lieber. Viel besser wäre es, wenn du meinen Freunden hier Gesellschaft leisten würdest! Sie warten schon auf dich!« Ligusta wirbelte von dem Reporter weg und lachte laut. 67
Ein Werwolf, der auf dem Dach des Busses lauerte, nahm Ligustas Gelächter als Zeichen, daß der Reporter ihm gehörte. Vincent sah die blitzenden gelben Wolfsaugen. Dann schnellte sich das Tier durch die Luft. * Helles Scheinwerferlicht strahlte den muskulösen Wolfskörper an, der sich vom Dach des Busses abstieß und durch die Luft flog. Zwei Schüsse peitschten und klangen wie einer. Das Untier erreichte meinen Freund nicht mehr. Die beiden Silberkugeln, die Tessa und ich abgefeuert hatten, rammten seitlich in die Brust des dämonischen Tiers und warfen es aus der Sprungbahn. Ich war in Bewegung, noch bevor der tödlich getroffene Wolf den Boden erreicht hatte. Tessa folgte mir und feuerte auf jeden Wolf, den sie entdeckte. Einige der dämonischen Biester suchten mit eingezogenem Schwanz Zuflucht im Wald. Ich kümmerte mich um Vincent. Flüchtig sah ich einen Mann in Jägertracht, der in der Dunkelheit untertauchte und noch rasch einen haßerfüllten Blick über die Schulter warf. Sein bleiches Gesicht ähnelte einer Totenfratze. »Das ist doch…« hörte ich Tessa murmeln. »Halt! Stehenbleiben!« schrie sie und hetzte dem Jäger hinterher. »Der Alte! Er will - Nadine! Hilf ihr! Rasch!« preßte Vincent hervor. Mit zitternder Hand deutete er auf die fliehenden Studenten und ein Mädchen, das von zwei, drei Wölfen abgedrängt wurde. Nicht weit entfernt erkannte ich den Alten aus meinem Traum. Er bedeutete den Wölfen, die junge Französin zu ihm zu bringen. Ich richtete mich auf und wollte mich dem Alten nähern, aber ich kam nicht mehr dazu. Ein Werwolf warf sich mir entgegen. Er erwischte mich an der Schulter, wirbelte mich herum und riß mich von den Beinen. Die Bestie holte zu einem Schlag aus, doch ich rollte mich herum. Zum Schuß kam ich im Augenblick nicht, die Bestie war zu schnell. Mit einer Rolle rückwärts brachte ich mich aus der Reichweite der tödlichen Krallen. Ich hob die Pistole. 68
Der Wolf warf sich mit seinem gesamten Körpergewicht auf mich. Mein Schuß ging fehl. Gemeinsam prallten wir auf den Waldboden. Die Pistole wurde mir dabei aus den Fingern geprellt. Entfernt hörte ich einen gellenden Schrei und gleich darauf noch einen, konnte mich jedoch nicht darum kümmern. Der Werwolf erforderte meine ganze Aufmerksamkeit. Das Untier rollte sich auf mir herum und versuchte, mich zu beißen. Ich zog den Kopf weg. Stinkender Geifer traf mich im Gesicht. Ich packte die Pranken des Dämonenwolfs, drückte das Untier nach hinten und hievte mich hoch. Ich benutzte den Schwung der Bestie, rollte mich über die breite Brust des Untiers ab, kam auf die Füße und sprang von dem Wolf weg, der jetzt auf dem Rücken lag. Sofort wirbelte der Werwolf herum und richtete sich auf. Ich hatte genug von dem gefährlichen Spiel und zog den armenischen Silberdolch. Die lange Klinge blinkte matt im Mondlicht. »Komm schon, mein haariger Freund. Dir ziehen wir die Reißzähne!« forderte ich meinen Gegner heraus. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich Vincent aufrichtete. »Vorsicht, Mark! Hinter dir!« brüllte der dicke Reporter. Ich handelte reflexartig, ohne groß zu überlegen. Kaum hatte ich Vincents Warnung vernommen, als ich in die Knie ging, herumwirbelte und dem aufgerichteten Werwolf hinter mir den Dolch bis zum Heft in die Brust stieß. Ich riß die Klinge aus dem Körper des Wolfs und rammte sie ein zweites Mal in die haarige Brust, dann ließ ich mich nach hinten fallen. Die Pranken meines ersten Gegners griffen über mir ins Leere. Ich rollte zur Seite weg, kam hoch und schleuderte den blutigen Dolch. Die Klinge flirrte durch die Luft und fand unbeirrt ihr Ziel. Tief bohrte sie sich in den Rachen der Bestie. Sekundenlang stand der Werwolf hoch aufgerichtet, während bei seinem Artgenossen bereits die Rückwandlung eingesetzt hatte. Es sah grotesk aus, wie der Werwolf stocksteif dastand und der Dolchgriff aus seinem weit geöffneten Maul ragte. Der Dämonenwolf stand nicht lange. Wie vom Blitz getroffen, brach er zusammen. 69
Ich holte meine Pistole und den Dolch und schaute mich nach dem Alten um. Er war nirgends zu sehen. »Sie haben Nadine«, sagte Vincent leise. »Wir konnten es nicht verhindern. Sie haben Nadine und werden das Mädchen heute nacht in einen Wolf verwandeln. Verflucht! Warum haben wir es nicht verhindert?« Tränen der Wut schimmerten in den Augen meines Freundes. Ich half ihm hoch. »Geh zu den anderen. Auf dem Bauernhof seid ihr einigermaßen sicher. Tessa wird bestimmt bald zu euch stoßen. Ich werde sehen, was ich für Nadine tun kann.« »Wo willst du hin?« rief Vincent. »Zum Wolfsstein. Wenn alles klappt, ist der Spuk morgen früh vorbei. Haltet durch!« Ich winkte Vincent zu und rannte zwischen die Bäume. Bald stieß ich auf den Waldweg, der mich nach der Beschreibung des Gastwirts direkt zum Wolfsstein führen sollte. Unterwegs waren meine Gedanken bei Tessa und Vincent. Ich hastete den Waldweg entlang und erreichte eine Lichtung. Und dann sah ich ihn. Den Wolfsstein. Den Felsen aus meinem Traum! Quer über die Lichtung jagte ich darauf zu. Der Felsbrocken sah tatsächlich aus wie ein Menhir und erinnerte mich an die Abbildungen alter Hünengräber, die ich während meines Völkerkundestudiums oft betrachtet hatte. Ich umrundete den Wolfsstein und begutachtete den Felsen und den Boden ringsum. Eine Stelle fiel mir besonders auf. Es war eine Vertiefung, in der ich Spuren einer grauen Masse fand. Ich kniete nieder und strich durch das graue Pulver. Es war Asche. Ich mußte an das Telefonat mit meinem Vater denken. Sollte es sich bei der Asche um die Überreste von Peter Stubbe handeln? Wenn dem so war, mußte es einen Grund geben, warum man sie ausgerechnet hier, am Fuß des Wolfssteins, verstreut hatte. Der Gedanke an eine Beschwörung ließ mich nicht los. Kaltes Metall bohrte sich schmerzhaft in meinen Nacken. Ich erstarrte und hielt den Atem an. »Wir stehen jetzt ganz langsam auf, mein Freund!« befahl eine kalte, unpersönliche Stimme. Ich folgte dem Befehl. »Und wir heben die Hände in Kopfhöhe, damit wir nicht auf dumme Gedanken kommen.« Auch diesem Befehl kam ich nach. 70
Der Mann hinter mir verstärkte den Druck in meinem Nacken. Also setzte ich mich in Bewegung. Er dirigierte mich zu der Lichtung. Am Waldrand bewegte sich etwas. Ich kniff die Augen zusammen. Zwei Wölfe traten unter den Bäumen hervor. In ihrer Mitte schleppten sie Nadine Garniers zierliche Gestalt. Und hinter ihnen, fast zwei Köpfe größer als die beiden Wölfe, folgte der Alte aus meinem Traum! »Willkommen, Mark Hellmann!« begrüßte mich der alte Mann. Ein zufriedener Ausdruck lag auf seinem zerfurchten Gesicht. Die mächtige Hakennase verlieh ihm Ähnlichkeit mit einem Geier. Die dunklen Augen blickten mich wachsam an. »Du kennst mich also. Bist du meinetwegen zurückgekommen? Du bist schon lange tot, wenn ich mich recht erinnere.« Der Alte nickte. »Nicht nur deinetwegen, Hellmann. Ich wurde mit der Asche dessen, der einmal einer von uns war, beschworen, um wie einst über die Wölfe zu herrschen. Um sie zu neuer Macht zu führen. Ich wurde aus dem Reich der Toten zurückgerufen, um dich endgültig in die Schranken zu weisen, Hellmann. Als Träger des Rings bist du vielen ein Dorn im Auge.« »Aber einem ganz besonders. Mephisto.« Wieder senkte der Alte den Kopf. »Mephistos Gnade hat mich ins Leben zurückgerufen. Eine große Gunst, für die ich ihm nur einen kleinen Gefallen erweisen werde. Ich werde dich zu einem Teil meines Rudels machen, Mark Hellmann!« Der Alte wandte sich Nadine zu. »Sie trägt das Blut eines unserer Brüder in sich, ohne es zu wissen. Heute nacht wird sie ihr Erbe antreten und zu einer Königin der Wölfe werden. Und du, Mark Hellmann, wirst an ihrer Seite sein!« »Welches Erbe? Wieso hat er ausgerechnet mich ausgesucht?« rief Nadine. »Weil dein Cousin Gilles ein Werwolf war«, erklärte ich. »Er hat im Mittelalter schrecklich gewütet und wurde im Jahre 1574 hingerichtet.« »Ich trage das Blut eines - Werwolfs in mir?« fragte Nadine fassungslos. »Der Verwandtschaftsgrad zu deinem Cousin ist so gering, daß er kaum ins Gewicht fällt. Allerdings dürftest du die letzte in der Verwandtschaftslinie sein, die für eine Führung der Wölfe in Frage kommt.« Ich schaute die Französin bedauernd an. »Dein Pech, 71
Nadine.« Der Sprecher trat hinter meinem Rücken hervor. Ich erkannte den Mann in Jägertracht, den Tessa verfolgt hatte. Er drückte den Lauf der Flinte unter mein Kinn. »Wirklich zu schade, daß wir nicht mehr Zeit miteinander verbringen können, Hellmann.« Ich antwortete nicht. Der Alte trat vor. »Ich persönlich werde dich zu einem von uns machen, Mark Hellmann. Danach, wenn der Mond dich mit seiner Kraft erfüllt hat, wirst du die Ehre haben, gemeinsam mit mir diese junge Frau zu deiner Königin zu machen!« Der alte Mann schaute zum Mond und breitete fächerförmig die Arme aus. Ich wartete nicht länger. Mit dem Unterarm stieß ich den Gewehrlauf zur Seite, packte zu und riß dem grinsenden Kerl die Büchse aus der Hand. Dann hieb ich ihm den Kolben der Waffe in den Leib. Er krümmte sich und ließ nicht mehr los. »Netter Versuch, Hellmann!« stöhnte er. Seine Finger krallten sich in meine Jacke. Er hielt mich eisern fest. In die Wölfe kam Bewegung. Mit wildem Knurren näherten sie sich. Ich mußte den Alten erledigen! Riß deshalb den Dolch aus dem Gürtel und zog die Klinge über das Gesicht des Mannes in Grün. Er stieß einen gellenden Schrei aus, ließ das Gewehr fahren und taumelte zur Seite, beide Hände vor das Gesicht gepreßt. Gurgelnde Laute drangen unter seinen Händen hervor. Ich riß die SIG Sauer heraus und verschoß fast das gesamte Magazin auf die beiden Dämonenwölfe, die sich auf mich stürzen wollten. Die Werwölfe prallten gegen eine unsichtbare Wand. Die Silberkugeln fetzten in ihre Körper, drangen hindurch und traten auf dem Rücken wieder aus. Die beiden Dämonenwölfe stießen jaulende Schreie aus und brachen in die Knie. Ich packte Nadine, wirbelte herum und hetzte mit ihr über die Lichtung. Hinter uns heulte der Alte in blinder Wut. Seine Veränderung hatte bereits Gesicht, Hände und Füße erfaßt. Ich drehte mich um und sah, wie er uns nachstürzte. Auch der Mann in Jägerkleidung setzte uns nach. Er hatte das Gewehr 72
aufgehoben und legte auf uns an. Ein Schuß krachte. Die Kugel zischte jedoch über uns hinweg. Als wir den Wolfsstein erreichten, krachte die Büchse erneut. Das Geschoß klatschte über uns in den Felsen. Wieder jaulte der Alte. Sein Geheul wurde erwidert. Jeden Augenblick konnten weitere Wölfe die Lichtung betreten. Ich zog den Dolch. Als ich die Klinge durch die Luft sirren ließ, wußte ich, daß sie ihr Ziel nicht verfehlen würde. Bis zum Heft bohrte sie sich in die Brust des halb verwandelten Alten. »Neeiinn!« schrie der Mann in Grün. »Nein, verdammt! Was hast du getan, Hellmann? Das darf nicht sein!« Er stürzte auf den Alten zu, um ihn zu stützen. Doch der halb verwandelte Werwolf wischte seinen Helfershelfer mit einer lässigen Armbewegung zur Seite. Eine haarige Tatze legte sich um den Dolchgriff. Unendlich langsam zog der Werwolf die silberne Klinge aus seinem Körper. Ich traute meinen Augen nicht. Ein Werwolf, für den Silber nicht tödlich war! Der Alte stieß ein wütendes Knurren aus und warf mir den Dolch. Er schickte sich an, uns zu folgen. Auch der Mann in Grün hob wieder sein Gewehr. Für Nadine und mich gab es nur noch einen Ausweg. Und ich kannte nur eine Person, die vielleicht wußte, wie man den Alten, den Herrn der Wölfe, vernichten konnte. Ich packte Nadine und zog sie in die Hocke. Das Licht, das mein Siegelring in Gegenwart der dämonischen Ausstrahlung des Alten aussandte, war stark genug, um damit die Runen für das keltische Wort Reise auf den Waldboden neben dem Felsen zu malen. Ich umarmte Nadine. Sie würde mich auf dieser Reise begleiten und so ihrem Peiniger entgehen. Sphärenklänge erfüllten die Luft. Der stilisierte Drache auf meinem Ring wuchs zu riesiger Größe an, öffnete weit sein Maul, um uns zu verschlingen. Nadine Garnier schrie. Der helle Schacht, in den wir fallen sollten, öffnete sich vor uns. Nadine schrie wieder. Der Rachen des Lindwurms näherte sich. Etwas packte zu und erfaßte die junge Französin. Verzweifelt versuchte ich, Nadine festzuhalten, doch es gelang mir nicht. Die andere Kraft war stärker, riß mir Nadine aus den 73
Armen. Allein stürzte ich in den hellen Schacht und wirbelte durch Raum und Zeit… * Benommen rollte ich mich herum. Unter meinen Händen fühlte ich kalten, harten Boden. Vogelgezwitscher war zu hören. Blinzelnd schaute ich mich um. Ich lag auf einem schmalen Grasstreifen, zwischen einem dichten Gebüsch und einem Waldstück. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wohin und in welche Zeit mich meine Reise geführt hatte. Vorsichtig erhob ich mich und spähte über den Rand des Gebüschs hinweg. Nicht weit vor mir sah ich kleine Fachwerkhäuser. Aus Schornsteinen kräuselte sich Rauch in den winterlichen Himmel. Zwischen den Häusern und dem Gebüsch zog sich eine staubige Straße entlang, die gerade breit genug war, um einem Karren Platz zu bieten. Ich überlegte, ob ich in eines der Häuser einsteigen sollte, um mich mit Kleidung zu versorgen. Die Gefahr war jedoch groß, dabei entdeckt zu werden. Wenn man Alarm schlug, landete ich vermutlich in irgendeinem Kerker. Dann konnte ich mein Vorhaben vergessen. Von den Häusern drangen Stimmen zu mir herüber. Irgendwo kläffte ein Hund. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Wenn der Kläffer meine Witterung aufnahm, war ich geliefert. Nackt und unbewaffnet würde ich mich kaum lange zur Wehr setzen können. Ich huschte an dem Gebüsch entlang, suchte nach einem Ausweg. Das Hundegebell entfernte sich, wurde leiser. Dafür hörte ich ein dumpfes Rumpeln und Knarren. Ich kauerte mich hinter den Büschen nieder und lauschte. Die Geräusche näherten sich. Ich konnte auch Hufschlag ausmachen. »Wenn das kein Fuhrwerk ist, fresse ich einen Besen«, flüsterte ich, um die Spannung von mir zu nehmen. Geduckt harrte ich der Dinge, die auf mich zukommen sollten. Ich mußte nicht lange warten. Ein müder, hagerer Klepper kam in mein Blickfeld. Behutsam schob ich einige Zweige auseinander und bemerkte einen vierrädrigen Karren. Die kleinen Räder 74
gruben sich tief in den Straßenstaub. Über den Karren spannte sich eine Plane, die aus zusammengenähten Flickenteppichen zu bestehen schien. Das Gefährt war schwer beladen. Eines war mir klar: Ich mußte hier weg. Entweder fand ich auf dem Wagen etwas zum Anziehen, oder ich konnte die Gegend zumindest unbemerkt verlassen. Mein Entschluß war rasch gefaßt. Ich beobachtete den kleinen, stämmigen Mann, der neben dem Karren herging und eine lange Fuhrmannspeitsche in der Hand hielt. Er bemerkte mich nicht. So leise wie möglich schob ich mich zwischen den Büschen hindurch. Mit einigen raschen Sprüngen war ich am hinteren Wagenteil. Fransenteppiche, Gewänder, Stoffe und Hausrat ragten mir entgegen. Ich hielt mich nicht mit einer eingehenden Besichtigung der Wagenladung auf, sondern schwang mich behende in den Karren und blieb eine Weile regungslos liegen. Hoffentlich reagiert der Gaul nicht auf das zusätzliche Gewicht, hoffte ich. Eilig durchsuchte ich die Waren des Krämers. Und bald hatte ich was zum Anziehen gefunden. Die Art der Klamotten ließ darauf schließen, daß ich mich im späten Mittelalter befand. Ich streifte Hemd, Leinenhosen, Lederwams und Stiefel über und schickte mich an, den Karren wieder zu verlassen. Ein gewaltiger Ruck lief durch das Gefährt. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings zwischen die durcheinandergeworfenen Waren. Dann hörte ich den Krämer fluchen und die Peitsche knallen. Wut erfüllte mich. Was konnte das gebeutelte Pferd dafür, daß der Wargen durch ein Schlagloch geholpert war? Mein Blick fiel auf einen Kasten, in dem mehrere verkorkte Fläschchen mit verschiedenfarbenen Tinkturen standen. Meine Neugier war geweckt. Die Flaschen waren mit grob bekritzelten Etiketten versehen. Es gab Tinkturen gegen allerlei Wehwehchen, angefangen vom Zipperlein über den Hexenschuß, bis hin zu Bauchkrämpfen und »furchtbaren Plagen und Schmerzen im Kopfe und am Zahn.« Der Fuhrmann war also nicht nur ein Krämer, sondern auch ein Heiler. Oder ein Scharlatan. Aber die Wundermittelchen brachten mich auf eine Idee. Ich nahm eines der Fläschchen mit einer braunen Flüssigkeit an mich und schwang mich danach aus dem Karren. Die Straße führte in weitem Bogen um den Ort herum. Ich 75
überholte mit raschen Schritten das Gefährt und klopfte dem Fuhrmann auf die Schulter. Der kleine Mann mit den krummen Beinen erschrak so heftig, daß er die Peitsche fallen ließ. »Heilige Mutter Gottes, habt Ihr mich erschreckt!« stieß er hervor. »Tut so was nicht noch mal, edler Herr, Ihr könntet sonst den Tod einer unschuldigen Krämerseele auf Euer Gewissen laden.« »Na, so schlimm wird's schon nicht gewesen sein«, beschwichtigte ich, hob die Peitsche auf und drückte sie ihm wieder in die Hand. »Ihr reist allein, edler Herr? Ohne Troß und Pferd?« Die listigen Äuglein des Krämers musterten mich von Kopf bis Fuß. Daß ich mich in seinem Karren bedient und eingekleidet hatte, fiel ihm dabei nicht auf. »Mein Pferd scheute einige Meilen von hier und warf mich ab. Bin schon stundenlang zu Fuß unterwegs. Du bist die einzige Menschenseele, die mir seitdem begegnet ist, Krämer.« »Ja, es ist manchmal ein Kreuz mit den Pferden. Sie haben ihren eigenen Kopf und lassen sich nur schwer befehlen.« »Wohin führt dich dein Weg, Krämer?« erkundigte ich mich beiläufig. Der Krämer deutete mit dem Kopf zu den nahen Häusern hinüber. »In jenen Marktflecken dort«, antwortete er. »Da ist heut ein gutes Geschäft zu machen. Es wird vor Menschen nur so wimmeln.« Mit einem Kichern rieb sich der Krämer die Hände. »Da wird einer hingerichtet.« »Wer denn?« Der Krämer beäugte mich mißtrauisch. »Ihr müßt aber von sehr weither kommen, wenn Ihr das nicht wißt, edler Herr.« Ich nickte. »An den Gestaden nach Dänemark liegt das Schloß meines Herrn«, erklärte ich. »Und ich habe erst die Hälfte meiner Reise hinter mir. Ich muß in den Süden, ins Bayernland.« »Ei, das ist ein langer, gefahrvoller Weg. Aber Ihr seid jung, Herr. Ihr werdet es schon schaffen.« Der Krämer schnalzte mit der Zunge und ließ die Peitsche über dem Kopf des Gauls knallen. »Du wolltest mir von der Hinrichtung erzählen, Krämer«, rief ich dem kleinen Mann ins Gedächtnis zurück. »Ach ja. Richtig. Mich wundert's nicht, daß Ihr noch nichts von dem unseligen Werwolf gehört habt, wo Ihr doch von so weit her 76
kommt, Herr.« »Ein Werwolf?« Der Krämer nickte eifrig. »Er stand mit dem Leibhaftigen, dem Teufel im Bunde, sagt man. Er stammt hier aus dem Flecken Bedburg. Hat viele Menschen gerissen, vornehmlich Frauen. Junge, zarte Mägdelein.« Der Krämer kicherte. »Aber seine ganze Schläue hat ihm nichts genützt. Sie haben ihn doch gekriegt. Und heute drehen sie ihm den Hals um, dem Peter Stubbe! Recht geschieht ihm!« Ich hätte jubeln können. Meine Zeitreise hatte mich an das gewünschte Ziel geführt. Peter Stubbes Hinrichtung stand kurz bevor. Ich mußte mich beeilen. »Wie gelangst du in den Flecken, Krämer?« »Ich muß mit meinem Karren auf dieser Straße ganz um den Flecken herum. Die Straße führt direkt zum Marktplatz, wo man das Richtgerüst erstellt hat.« Der Kleine beäugte prüfend den Himmel. »Muß mich beeilen, bald wird es soweit sein. Die Leute sollen ja noch etwas kaufen, bevor das Spektakulum beginnt.« »Dann will ich dich nicht länger aufhalten, Krämer. Viele Erfolg wünsche ich.« »Wo wollt Ihr denn hin, edler Herr?« rief der Krämer. »Ich will mich um ein Pferd bemühen. Gehab dich wohl!« Ich winkte dem Krämer zu, setzte über einen Graben, in dem die Stadtleute stinkenden Unrat entsorgt hatten, und huschte in eine schmale Gasse zwischen zwei Fachwerkhäusern. Normalerweise war es üblich, daß man eine Stadt durch das Stadttor betrat. Zumindest hatte ich eine patrouillierende Wache erwartet, die den Stadtrand bewachte. Aber heute schien man darauf keinen besonderen Wert zu legen. Ganz Bedburg befand sich in heller Aufregung. Heute war ein besonderer Tag. Immerhin ging es um die Hinrichtung eines Geschöpfes der Hölle, eines Teufelsbuhlen. So etwas zog die Leute magisch an. Ich schaute über die Menschenmenge vor mir, die sich rund um das hölzerne Richtgerüst drängte. Händler hatten ihre Stände und Karren auf dem Platz aufgebaut. Wenn der kleine Krämer noch ein Plätzchen erhaschen wollte, mußte er sich wirklich beeilen. Ich suchte den Stadtturm und schob mich durch die Menge. Am Rande des Platzes kam ich relativ zügig voran. Mein Weg führte mich an einer Apotheke vorbei. Ich hatte das 77
schmale Fachwerkhaus, aus dem allerlei Kräuterdüfte drangen, schon fast passiert, als ich stehenblieb und das Gebäude nachdenklich betrachtete. Ich griff unter mein Hemd und holte die Flasche mit der braunen Tinktur hervor, die ich aus dem Krämerkarren entnommen hatte. Mit raschem Schritt betrat ich das Haus des Apothekers. Düsteres Zwielicht herrschte in der schmalen, niedrigen Stube. Ich trat an den Verkaufstisch und hieb mit der flachen Hand auf die grob gezimmerte Oberfläche. Eine Staubwolke stieg auf. Die feinen Staubkörnchen kitzelten in der Nase. Ich mußte niesen. »Gesundheit, edler Herr!« Ein spindeldürres Männchen, das sich eine Schürze umgebunden hatte, kam aus einem Nebenraum herbeigewieselt. »Womit darf ich dem edlen Herrn dienen?« »Mein Herr, der Graf von Glücksburg, weilt wenige Stunden von hier bei einem Vetter. Er verspürt starke Erregung und bedarf dringend der Ruhe, da er schon alt und am Herzen schwach ist. Er hat nun diese Tinktur von einem reisenden Heilkundigen bekommen, doch sie hilft nicht. Habt Ihr vielleicht ein Mittelchen, das meinem geplagten Herrn zur Ruhe verhilft?« Ich hielt dem Apotheker zur Bekräftigung meiner Lügengeschichte das Fläschchen aus dem Krämerkarren unter die Nase. Das Männchen entkorkte die Flasche und schnupperte, um im nächsten Moment angewidert das Gesicht zu verziehen. »Hinweg mit diesem Teufelszeug, junger Herr!« rief er mit piepsiger Stimme. »Mich nimmt es nicht Wunder, daß euer Herr von diesem Gebräu keine Erleichterung verspürt! Der Mensch, der ihm das Mittel aufgeschwatzt hat, ist ein Scharlatan übelster Sorte! Da könnte Euer Herr auch gleich Jauche trinken!« »Was empfehlt Ihr, Herr Apotheker?« fragte ich. Die Zeit drängte. Ein verschmitzter Ausdruck huschte über das spitze Gesicht des Männchens. »Nun, Ihr habt Glück, junger Herr. Es ergibt sich, daß ich just zur Zeit ein Mittelchen parat habe, das Euren Herrn bestimmt in einen wohligen Schlummer versetzen wird.« Der Apotheker wieselte in den Nebenraum und kehrte gleich darauf mit einem Schälchen zurück, das ein weißes Pulver enthielt. »Nur eine Messerspitze hiervon in etwas Wasser aufgelöst wirkt wahre Wunder«, versicherte er mir. 78
»Das mag sein«, sagte ich zögernd. »Aber vermag Euer Wundermittel auch Schmerzen zu lindern?« Das Männchen lachte glucksend. »Man nehme hierzu eben etwas mehr als eine Messerspitze voll«, riet er. »Gut. Würdet Ihr mir das Pulver einpacken, Herr Apotheker?« Das Männchen gab sich geschäftig, suchte einen kleinen Beutel, der aus der Haut einer Schweinsblase gefertigt war, und füllte den Inhalt der Schale vorsichtig hinein. »Das macht dann zwei Dukaten, edler Herr«, sagte er unterwürfig. Ich schnappte mir den Beutel und die Flasche aus dem Krämerwagen und grinste den Apotheker an. »Ich muß sofort zu meinem Herrn eilen, um ihm Linderung zu verschaffen. Morgen werde ich zurückkommen und Euch nicht zwei, sondern vier Dukaten und den Dank des Grafen überbringen. Gehabt Euch wohl!« Ohne auf eine Antwort zu warten, eilte ich zur Tür. »Haltet den Dieb!« zeterte hinter mir der Apotheker und sauste auf seinen kurzen Beinen hinter mir her. »Ihr müßt die Medizin bezahlen, Herr, denn umsonst ist nur der Tod!« Ich huschte aus der Apotheke und hastete zum Stadtturm, der gleichzeitig als Gefängnis diente. Zwei Wachtposten standen mit gekreuzten Hellebarden vor dem Eingang und beobachteten regungslos den Menschenauflauf. Ich versuchte, mich an ihnen vorbeizudrücken, doch ein starker Arm hielt mich auf. »Wohin des Wegs, Fremdling? Was ist Euer Begehr?« »Ich bin Markus von Hellemann, ein Gesandter des Grafen Hasso von Glücksburg, und weit gereist. Ich begehre, zum Obristen vorgelassen zu werden. Und nimm deine schmutzigen Finger von mir, Landsknecht!« herrschte ich den Wachtposten in arrogantem Ton an. Sofort zog er seine Hand zurück. »Verzeiht, Herr, aber ich - äh also, ich wußte nicht…« stotterte der Posten. »Vergewissere dich künftig vorher, wen du vor dir hast, bevor du ihn anrührst! Gib den Weg frei, Landsknecht!« »Ich führe Euch zum Obristen, Herr von Hellemann«, dienerte der Soldat. Bevor ich ihn zurückhalten konnte, verschwand er vor mir im Eingang des Turms. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und eilte ihm nach. Rechts führte eine Wendeltreppe zu den Verliesen. Der Posten 79
wandte sich nach links. Ich war eben im Begriff, den Treppengang zu betreten, als der Posten mich anrief. »Herr Markus, folgt mir hier entlang. Oder wollt Ihr das Gefängnis besuchen?« »Wenn du wüßtest, mein Freund«, murmelte ich und wandte mich dem Posten zu. Dabei knickte ich auf einem Fuß ein. »Verflucht!« schrie ich. »Nun stauche ich mir auch noch den Fuß. Hilf mir, Trottel, und steh hier nicht so nichtsnutzig nun!« »Jawohl, Herr! Ihr könnt Euch auf die Hellebarde stützen, Herr!« Der Posten eilte dienstbeflissen herbei. Er lief genau in meine Faust, die ihn am Kinn erwischte. Der Landsknecht verdrehte die Augen und drehte sich um die eigene Achse. Ich versetzte ihm einen Hieb in den Nacken, der dem Landsknecht vollends die Besinnung raubte. »Angenehme Träume, mein Freund!« sagte ich leise. »Hoffentlich erwischen sie dich nicht, wie du während der Wache schläfst. Sonst gibt es verschärften Arrest!« Ich zerrte den besinnungslosen Wachtposten die Wendeltreppe hinunter, nahm sein Schwert an mich und ließ den Bewußtlosen in einer Nische vor sich hin schlummern. Der Zellengang am Fuß der Treppe war von blakenden Pechfackeln erleuchtet. Ich eilte an den Zellen vorbei und rief leise Peter Stubbes Namen. Niemand antwortete. Ich stieß auf ein weiteres Hindernis. Ein dicker Gefängniswärter saß auf einem Stuhl, hatte die Beine gegen die Wand gelegt und schnarchte. Ich weckte ihn unsanft aus seinen Träumen, indem ich ihn mit der Schwertspitze am Hals kitzelte. Erschrocken fuhr der Dicke hoch. »Wo ist Peter Stubbe?« fragte ich leise. Der Dicke schaute mich verständnislos an. Ich verstärkte den Druck der Schwertspitze. »Führ mich zu dem Werwolf!« zischte ich. »Ihr wollt ihn doch nicht etwa befreien?« fragte der Dicke ängstlich. »Ihr bringt Unglück über unsere Frauen und Kinder!« »Bring mich nur zu ihm. Los, rasch!« Der Gefängniswärter führte mich um einige Ecken, eine weitere Treppe hinab zu einer Zelle, die ganz hinten im Gang lag. »Du setzt dich dort in die Ecke!« herrschte ich den Wärter an. »Und rühr dich nicht, sonst erlebst du die Hinrichtung des 80
Werwolfs nicht mehr!« Zitternd folgte der Dicke meinem Befehl. Ich wandte mich der Zelle zu, in der eine stille Gestalt auf fauligem Stroh kauerte. Durch die Gitterstäbe drang ein furchtbarer Gestank. Ich hieb die Schwertklinge gegen die Gitterstäbe. Die kauernde Gestalt drehte sich langsam um und schaute aus dunklen, lebhaften Augen zu mir her. Peter Stubbes Gesicht zeigte Spuren der rohen Behandlung, die man ihm, dem Werwolf, hatte angedeihen lassen. Gemächlich erhob sich Stubbe und schlurfte zu mir her. »Peter Stubbe, ich habe mit dir zu reden. Es ist wichtig. Wenn du meine Fragen beantwortest, soll es dein Schaden nicht sein!« versprach ich und sah das Leuchten in seinen Augen. »Stell deine Fragen, Fremder!« sagte Stubbe heiser… * Keuchend und weinend erreichten die fliehenden Studenten den Gutshof. Sie stolperten durch das breite Tor auf den gepflasterten Innenhof. Laut schrien sie, aber niemand antwortete ihnen. Nur das Gackern einiger Hühner, die aus dem Schlaf geschreckt worden waren, war zu hören. Vincent wälzte seine rundliche Gestalt ebenfalls quer über das verschneite Feld und rang nach Atem, als er verschwitzt den Hof erreichte. »Sucht euch Waffen!« rief er. »Alles, womit man stechen oder schlagen kann!« Verständnislos blickten ihn die Studenten an. »Ah, ihr versteht mich ja nicht!« erinnerte sich Vincent. »So was Blödes aber auch!« Er rannte an seinen Schützlingen vorbei auf einen Stall zu, riß ihn auf und drehte den Lichtschalter. Wärme schlug dem Reporter entgegen. Es roch nach Kühen, Heu und Mist. Eine Heugabel interessierte ihn. Er zog sie aus einem Heuhaufen, eilte zu seinen Schützlingen zurück und drückte sie einem verstörten Jungen in die Hand. »Suchen!« rief der Reporter. »Sucht alles, womit man stechen und schlagen kann!« Vincent begleitete seine Worte mit den entsprechenden Armbewegungen. Endlich verstanden die Studenten. Einer von 81
ihnen sagte etwas auf Französisch. Sofort fächerten die jungen Leute auseinander, öffneten Scheunen - und Stalltüren, suchten in Garagen und im Hauptgebäude. Van Euyen nahm eine Studentin in den Arm, die ängstlich aus tränenverschleierten Augen zu ihm aufschaute. »Es wird alles gut«, versicherte der dicke Reporter. »Nadine?« fragte das Mädchen leise. Vincent spürte den Kloß in seinem Hals, als er schweigend den Kopf schüttelte. Er schickte das Mädchen zu ihren Kameraden und suchte seinerseits nach einer Gabel oder einem Dreschflegel. Auf einem Misthaufen wurde er fündig. Die jungen Leute hatten sich überall auf dem Gutshof verteilt, legten sich hinter Traktoren, Strohballen und Scheunentüren auf die Lauer. Die Studenten waren fest entschlossen, einen Angriff der Dämonenwölfe abzuwehren. Das Mädchen, das eben noch bei Vincent gestanden hatte, betrat einen Seitenbau. Sie hatte keine Waffe bei sich, nur ihre Kamera, und tastete an der Wand nach einem Lichtschalter, fand und betätigte ihn. Eine nackte Glühbirne beleuchtete die Vorratskammer. Auf Holzregalen standen Gläser mit selbstgekochter Marmelade und eingemachten Früchten und vieles andere mehr. Das Mädchen schaute sich aufmerksam in der Kammer um, entdeckte einen Durchgang zu einem Nebenraum und fand hier auch nur Gemüse und Obst. Achselzuckend nahm sie sich einen Apfel, biß hinein und kehrte in die Vorratskammer zurück, um wieder auf den Hof zu gehen. Der Werwolf schlug in dem Augenblick zu, als die Französin an der Kartoffelschütte vorbeikam! Explosionsartig flogen die Kartoffeln durch die Luft, als der Werwolf, der unter den Kartoffeln verborgen gewesen war, in die Höhe fuhr. Das Mädchen stieß einen schrillen Schrei aus und duckte sich seitlich weg. Die tödliche Klaue des Wolfs verfehlte sie. Die Studentin wirbelte herum und starrte in die geifernde Fratze des Wolfs. Wild entschlossen holte sie aus und drosch dem Untier die Kamera mitten auf die Schnauze. Der Werwolf knurrte unwillig und wischte mit der Pranke durch die Luft, als das Mädchen zum zweiten Schlag ansetzte. Die Krallen verfingen sich in der Umhängeschnur des Apparats. Die 82
Kamera wurde dem Mädchen aus der Hand gerissen. »Merde!« stieß sie hervor, grinste den Werwolf an, machte beschwichtigende Handbewegungen und wich Schritt für Schritt vor dem Werwolf zurück. Die junge Frau brachte gut zwei Meter zwischen sich und die Bestie, bevor sie sich umdrehte und zur Tür rannte. »Loup Garöu!« Ihr Schrei, das französische Wort für Werwolf, hallte über den Hof. Ihre Kameraden waren gewarnt. Erneut stieß die Französin den Schrei aus und schaute angsterfüllt über die Schulter zurück. Der Prankenhieb des Untiers sauste auf sie zu. Das Mädchen duckte sich. Die Krallen bohrten sich in ihren Rucksack. Eine gewaltige Kraft packte das Mädchen, riß sie hoch in die Luft und schleuderte sie zur Seite. Die Französin krachte gegen ein Regal mit Einmachgläsern. Der Wolf brüllte und näherte sich seinem Opfer. Das Mädchen würde ihm nicht entkommen. Die Französin schaute von dem Wolf auf das Regal und wieder zu der Bestie zurück. Und dann hatte sie die Idee. Der Wolf machte einen weiteren Schritt auf die Studentin zu, als ihn das erste Einweckglas im Gesicht traf. Die Bestie schüttelte unwillig den Kopf und knurrte. Immer mehr gläserne Wurfgeschosse flogen auf ihn zu. Die Französin bombardierte den Wolf regelrecht mit Einweckgläsern. Dabei schrie sie laut um Hilfe und immer wieder das französische Wort für Werwolf. Keiner ihrer Kommilitonen wagte sich aus seinem Versteck, um ihr zu helfen. Die Französin warf das letzte Einweckglas. Dann griff sie zu den Marmeladegläsern. Doch der Wolf hatte genug von den Wurfgeschossen und stürzte mit gewaltigen Sätzen auf das Regal zu. Schreiend rannte die Französin um das Regal herum und stieß mit dem Fuß gegen einen Tonkrug mit Schnaps. Sie hob den großen Krug und wirbelte herum. Die Pranke des Werwolfs fetzte über die Lederjacke der jungen Frau und zerriß sie. Haarscharf verfehlten die Krallen die Haut der Französin. Gleichzeitig krachte der Tonkrug seitlich gegen den Schädel der Wolfsbestie und zerschellte. Eine Flut von Selbstgebranntem ergoß sich über den Wolf. Der beißende Schnapsdampf drang in die Augen der Bestie und 83
blendete sie. Gequält schrie das Untier auf. Die Französin hieb einen zweiten Tonkrug gegen den Leib der Bestie und tränkte das Fell mit Alkohol. Sie wich zurück und schob die Finger in die Tasche ihrer Jeans. Der Werwolf brauchte einige Augenblicke, um einen klaren Blick zu bekommen. Als er wieder deutlich sehen konnte, flackerte die kleine Flamme eines Benzinfeuerzeugs vor seinem Gesicht. Die Bestie wußte nicht, was sie davon halten sollte. Verwundert legte sie den Kopf schief und betrachtete das Flämmchen. »Au revoir!« stieß die Französin hervor. »Auf Wiedersehen!« Mit diesen Worten hielt sie die Flamme gegen das Fell des Werwolfs. Der Selbstgebrannte fing sofort Feuer und hüllte den Werwolf ein. Die Bestie wirbelte brennend durch den Raum, stieß gegen Regale und Wände und fuchtelte wild mit den Armen. Doch der Selbstgebrannte war nicht genug, um den Werwolf zu vernichten. Bald würden die Flammen in dem dichten, struppigen Fell verlöschen. Die Studentin hatte die Gefahr erkannt. Fluchend rannte sie zur Tür. Der Werwolf erkannte ihre Absicht und flog mit einem gewaltigen Satz durch die Luft. Das Mädchen floh mit einem Sprung durch die Tür - und schrie gellend! Vor ihr stand ein massiger, dunkler Schatten. Die gekrümmten Zinken einer Mistgabel rasten dem Mädchen entgegen, verfehlten sie und gruben sich mit einem satten Geräusch tief in den Leib des Dämonenwolfs. Dabei zerbrach der Schaft von Vincents Mistgabel. Der Reporter starrte ungläubig auf den spitzen, abgebrochenen Schaft und die kreischende Bestie, die sich auf ihn stürzte. »Das hatten wir doch schon mal!« keuchte er, fiel auf die Knie und nach vorn, unterlief die tödlichen Pranken des Wolfs und rammten ihm den hölzernen Schaft der Mistgabel tief in den Leib. Auf Händen und Knien kroch Vincent von dem tödlich verwundeten Werwolf weg. Die Bestie taumelte in die Vorratskammer zurück und brach zusammen. Vincent erhob sich und nahm die kleine Französin wieder in die Arme, die sich so tapfer gewehrt hatte und dankbar zu ihm aufschaute. »Ich hab doch gesagt, daß alles gut wird.« Den zweiten Wolf, der sich vom Dach der Vorratskammer auf 84
die beiden stürzen wollte, bemerkte der Reporter nicht. Dafür aber die grelle Mündungsflamme, die aus dem Lauf der Pistole vor ihm zuckte. Hinter sich hörte Vincent ein schmerzerfülltes Jaulen und einen dumpfen Fall. »Das dürfte der letzte gewesen sein.« »Hoffen wir es«, meinte Vincent. »Allmählich hängen mir nämlich diese Wolfsviecher zum Hals raus.« * Ich sprach den eingekerkerten Werwolf an. »Ich komme aus einer Zeit, die viele Hundert Jahre in der Zukunft liegt. Und ich habe ein Problem in meiner Zeit, bei dem du mir bestimmt helfen kannst.« »Du treibst deine Spaße mit einem zum Tode Verurteilten!« beschwerte sich Stubbe. »Das ist nicht besonders menschlich von dir.« »Komm mir nicht damit!« zischte ich. »Wo war deine Menschlichkeit, als du unschuldige Frauen und Kinder abgeschlachtet hast?« Stubbe schwieg und schaute betreten vor sich nieder. »Du bist ein Werwolf, Stubbe. Du hast dich mit Mephisto, dem Höllenfürsten, eingelassen und unsägliches Leid über deine Mitmenschen gebracht. Und dafür wirst du heute sterben.« »Bist du nur gekommen, um mir meine Vergehen vorzubeten? Spar dir die Mühe und laß mich allein. Ich habe nicht mehr lange zu leben!« »Ich bin nicht gekommen, um dir Vorwürfe zu machen, Peter Stubbe, sondern weil ich deine Hilfe brauche. Die Hilfe eines Werwolfs.« Stubbe lachte. »Du sprichst irre. Wie kann ich, ein Todgeweihter, ein Günstling der Hölle, dir helfen?« »Ich habe in meiner Zeit Probleme mit Werwölfen«, sagte ich ruhig. »Besser gesagt, mit einem Werwolf. Er nennt sich der Alte und treibt im Sächsischen sein Unwesen. Auch er fand sein Schicksal, aber in meiner Zeit wurde er zu neuem Leben erweckt und haust schlimmer als je zuvor. Es muß einen Weg geben, wie ich ihm beikommen kann. Und ich glaube, daß du diesen Weg kennst.« 85
»Wieso sollte gerade ich dir helfen, einen meiner Brüder zu töten?« »Weil du damit einen Teil des Unrechts, das du begangen hast, wiedergutmachen kannst.« »Und deine Gegenleistung? Holst du mich hier raus?« Ich schüttelte den Kopf. »Das kann und darf ich nicht. Aber ich kann die Schmerzen, die dich erwarten, lindern.« Weit entfernt hallten Schritte durch den Turm. Ich hatte das dumpfe Gefühl, daß die Zeit drängte. »Ich kenne den Alten«, sagte Peter Stubbe endlich. »Oder besser, ich kannte ihn. Er ist tot.« »In der Zeit, aus der ich komme, lebt er wieder. Ich habe gegen ihn gekämpft, aber ich konnte ihn nicht bezwingen. Er ist stark. Sogar gegen geweihtes Silber ist er gefeit.« Stubbe nickte. »Geweihtes Silber konnte ihm noch nie etwas anhaben. Er ist ein König der Wölfe und nennt sich Volkodlak.« Diesen Begriff hatte ich noch nie gehört. Peter Stubbe sprach ihn ehrfürchtig aus. »Aber er ist getötet worden«, sagte ich. »Also muß es einen Weg geben, ihn zu besiegen.« »Ein Schäfer hat ihn erschlagen. Aber auch er tat sich schwer. Sehr schwer. Der Volkodlak stammt weit aus Böhmen. Dort war er gefürchtet, aber man hat ihn aus seiner Heimat vertrieben. Also ging er nach Sachsen. Alle Werwölfe kennen ihn. Seine Macht ist groß.« »Wie konnte es dann einem einfachen Schäfer gelingen, ihn zu töten?« Stubbe grinste. »Es war kein einfacher Schäfer, sondern ein Sonntagskind. Ein Mann, der an einem Sonntag zur zwölften Stunde geboren wurde. Ein gottesfürchtiger Mann, der seine Seele dem Herrgott empfahl, bevor er sich dem Volkodlak stellte. Und ein Mann, der eine besondere Waffe hatte, gegen die der Alte machtlos war.« »Welche Waffe ist das? Stubbe, ich muß es wissen.« Die Schritte, die ich zuvor gehört hatte, wurden lauter. »Rasch, Stubbe, sie kommen dich holen. Welche Waffe hat der Schäfer benutzt?« »Seinen Schäferstab. Er ist aus dem Holz einer Buche geschnitten, die auf einem Kirchhof wuchs. Der Griff des Stabes ist mit Silber verstärkt, wie auch die Spitze. Der Stab wurde von einem Erzbischof geweiht. Nur deshalb gelang es dem Schäfer, 86
Volkodlak zu töten.« »Und wo finde ich diesen Stab?« schoß ich meine nächste Frage ab. »Dort, wo Volkodlak erschlagen wurde. Man erzählt sich, daß der Stab im Boden vergraben wurde, um unsere Brüder und Schwestern aus jener Gegend fernzuhalten.« Der Wolfsstein! Der Schäferstab muß beim Wolfsstein vergraben sein! Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los. Wenn Stubbe die Wahrheit sprach, hatte ich eine reelle Chance, den Alten zu erledigen. Ich war zwar kein Sonntagskind wie der Schäfer, aber ich war der Kämpfer des Rings. Und das war hoffentlich genauso viel wert. Falls mich Stubbe belogen hatte, waren meine Tage als Kämpfer des Rings gezählt, und die Hölle würde durch die Mitwirkung der Wölfe unzählige Menschenleben fordern. »Ich glaube dir, Peter Stubbe«, sagte ich bestimmt. »Und ich danke dir.« »Meine Belohnung!« rief Stubbe, als die herannahenden Schritte durch den Gang hallten. Ich zog die Tinkturflasche hervor, entkorkte sie und träufelte das weiße Pulver hinein. Mit dem Daumen verschloß ich die Öffnung und schüttelte kräftig. Das Pulver löste sich sofort auf. »Trink das!« Ich reichte die Flasche zwischen den Gitterstäben hindurch. »Du wirst von deiner Hinrichtung nicht viel mitbekommen, Peter Stubbe. Dein Tod ist gewiß, aber die Schmerzen werden dir genommen. Es ist alles, was ich für dich tun kann.« Stubbe nickte und wandte sich ab. Es gab nichts mehr zu sagen. Ich rannte zur Treppe und drückte mich in eine Nische. Zwei Henkersknechte mit schwarzen Kapuzen betraten den Gang, gefolgt von vier bewaffneten Schergen. Sie gingen zu Peter Stubbes Zelle. Ich wartete nicht, bis sie mich entdeckten. Ich sah, wie Stubbe hastig die Flasche ansetzte und den Inhalt gierig schluckte. Im nächsten Moment rannte ich bereits die Stufen hoch, jagte durch den nächsten Zellengang und tauchte wenig später am Eingang des Stadtturms zu Bedburg auf. »Dein Kamerad ist noch beim Obristen, Landsknecht!« erklärte ich dem Wachtposten. »Er wird die Hinrichtung verpassen.« »Ja, zu schade. Man sieht nicht jeden Tag, wie ein Werwolf zur 87
Hölle fährt!« Ich tauchte in der. Menschenmenge unter. Jetzt mußte ich mir nur noch ein ruhiges Plätzchen suchen, von wo ich meine Rückreise antreten konnte. Die Menge wich unter unwilligem Gemurmel zur Seite, als man Peter Stubbes halb bewußtlose Gestalt aus dem Stadtturm und zum Richtgerüst schleifte. Wahrscheinlich spürte Stubbe nicht mal mehr, wie man ihm die Kleider vom Leib riß und ihn auf einem hölzernen Gestell festband. Was folgte, war die Szene aus meinem Traum. Angewidert beobachtete ich, wie der Henkersknecht mit einer glühenden Eisenstange auf Peter Stubbe zutrat und die Stange hoch über den Kopf hob. »Räuber! Mörder! Diebsgesindel!« hörte ich neben mir die piepsende Stimme des Apothekers. Ich wirbelte herum. Das Männchen stand ganz in meiner Nähe und hatte zwei Landsknechte bei sich. »Das ist er! Das ist der Dieb! Kerkert ihn ein!« Die beiden Landsknechte drangen auf mich ein. Ich wehrte mit dem Schwert ihre Hellebarden ab und versetzte ihnen harte Schläge mit der flachen Klinge, daß ihnen die Ohren unter ihren Helmen dröhnten. Um die Verwirrung zu vergrößern, stützte ich mich an den Schultern des verdutzten Apothekers ab, riß die Beine hoch und schleuderte die Landsknechte mit kräftigen Tritten in die Zuschauermenge. Den Apotheker stieß ich hinterher und rannte auf eine Gasse zwischen den Häusern zu. Mein Ring begann zu glimmen. Ich hatte erreicht, was ich wollte. Für die Rückreise war alles bereit. Ich kauerte mich im Schatten einer Hauswand nieder. Der stilisierte Drache löste sich aus der Siegelfläche meines Rings und wuchs ins Unermeßliche. Wie durch einen Schleier sah ich die beiden Landsknechte, die sich mit ihren Hellebarden auf mich stürzten. Die Klingen erreichten mich nicht mehr. Ich löste mich auf und stürzte in den Schacht, der mich in eine andere Zeitebene bringen würde. * 88
»Ich hab ihn nicht erwischt! Verdammt noch mal, ich war so nah dran!« Tessa Hayden tobte. »Von wem, bitte, sprichst du, meine Liebe?« Van Euyen hatte die Studenten auf dem Hof versammelt und beobachtete mit gerunzelter Stirn die tobende Fahnderin. » Ligusta!«, rief Tessa.» Waldemar Ligusta. Der Schnitzer, verstehst du?« »Wenn ich ehrlich sein soll, nein.« Tessa rollte genervt mit den Augen. »Der Mann in Jägerkleidung, der beim Bus war. Das war kein Jäger. Das war Waldemar Ligusta, der entflohene Psychopath!« Vincent sah das zu einer Totenfratze verzerrte Gesicht des »Försters« vor sich. »Bist du sicher?« fragte er vorsichtig. Tessa stemmte beide Fäuste in die Hüften. »Ich habe Ligusta damals geschnappt und werde ja wohl wissen, wie der Kerl aussieht!« Die Fahnderin lief vor den Studenten auf und ab. »Das Gesicht werde ich nie vergessen!« »Beruhige dich, Tessa. Wenn Mark wieder da ist, könnt ihr euch gemeinsam auf die Suche nach Ligusta begeben. Und die Polizei wird auch bald hier sein. Du hast doch deine Kollegen verständigt, oder?« »Ich kann doch wohl schlecht meinen Magdeburger Kollegen erklären, daß wir hier gegen ein Rudel Werwölfe kämpfen! Weißt du, wie die reagieren würden? Sie würden mich an Ligustas Stelle in die Klapsmühle einliefern!« »Dann schieb eben Ligusta vor! Gib ihn als Grund dafür an, daß du Verstärkung brauchst. Ist ja nicht gelogen.« »Dann tanzt die Kavallerie hier an, und weit und breit ist kein Ligusta zu sehen! Die Folgen wären mindestens genauso schlimm. Ich könnte meinen Job an den Nagel hängen.« Tessa blieb stehen und schaute auf. »Außerdem ist das mein Fall.« Die Fahnderin atmete tief ein. »Ich schlage vor, du bringst deine Schützlinge in das Hauptgebäude. Ich schätze, die Leute auf diesem Hof sind alle in Wölfe verwandelt worden. Die meisten dürften wir erwischt haben.« »Und was machst du, während wir auf den Zimmern die Wände anstarren?« »Ich stöbere hier noch ein wenig rum«, meinte Tessa. »Ruht euch aus. Ihr habt genug durchgemacht.« 89
»Gib auf dich acht, Tessa«, sagte Vincent leise. »Ich komm schon zurecht.« »Ich mach mir nicht nur um dich Sorgen, Tessa. Mark und Nadine sind auch schon viel zu lange weg. Wir könnten sie suchen…« »Und dem nächstbesten Werwolf in die Arme laufen. Nein, wir bleiben hier. Mark weiß, was er tut.« Tessa wandte sich ab. »Hoffe ich jedenfalls«, fügte sie so leise hinzu, daß Vincent es nicht verstand. Die Fahnderin schaute zu, wie sich der Reporter mit den Studenten in das Bauernhaus zurückzog. Mit schußbereiter Waffe schlenderte Tessa über den Hof. Nichts regte sich. Auch in den dunkelsten Winkeln blieb alles ruhig. Tessa erreichte das Hoftor. Die Zufahrt war durch eine einsame Laterne beleuchtet, aber der Großteil des Hofes lag im Dunkeln. Hell beschien der Mond die Felder vor dem Tor. Auch auf der weiten Schneefläche war keine Bewegung zu erkennen. Schwach zeichneten sich die beiden Fahrzeuge am Waldrand ab. Sie standen noch so wie zu dem Zeitpunkt, als der Angriff der Werwölfe erfolgt war. Tessa wandte sich nach rechts. Etwas abseits zeichnete sich ein weiteres Haus in der Dunkelheit ab. Die Fahnderin runzelte die Stirn. Dort hatte sie noch nicht nachgesehen. Vincent und seine Studenten vermutlich auch nicht. Tessa bewegte sich auf das Haus zu. Es lag völlig im Dunkeln. Kein Licht brannte. Leise schlich die Kommissarin um das Haus herum. Die bunt verzierten Fensterläden waren offen. Kein Wagen stand neben dem Haus oder vor der Garage. Tessa entdeckte keine Spur der Wölfe. Insgeheim war sie überzeugt davon, daß alle Wolfsbestien vernichtet waren. Aber sie ging lieber auf Nummer Sicher. Die Fahnderin legte eine Hand auf die Klinke der Eingangstür und drückte sie nach unten. Es war nicht abgeschlossen. Leise schwang die Tür auf. Tessa sprang in den dunklen Hauseingang und wandte sich sofort nach links. Preßte sich an die Wand, um möglichst wenig Ziel zu bieten. 90
Im Haus war alles still. Tessa schaltete das Licht an. Die Eingangshalle war leer. Langsam durchsuchte Tessa Raum für Raum. Sie betrat ein Arbeitszimmer, dessen Wände mit Geweihen und ausgestopften Tieren verziert waren. Auf dem Schreibtisch entdeckte die Polizistin Unterlagen, die an den Forstbeamten Diemer gerichtet waren. Jetzt wußte Tessa, wo sie sich befand. Roland Diemer würde dieses Arbeitszimmer nie mehr betreten. Ein schrecklicher Verdacht keimte in Tessa auf. Waldemar Ligusta hatte Jägerkleidung getragen. Nichts lag näher als die Annahme, daß er sich die Kleider in diesem Haus besorgt hatte. Und falls Diemer Angehörige gehabt hatte, waren sie Ligusta und seinen teuflischen Vorlieben hilflos ausgeliefert gewesen! Tessa durchsuchte das Wohnzimmer, das Eßzimmer und gelangte zu einer geschlossenen Tür. Sie drückte die Klinke und schob mit dem Pistolenlauf die Tür auf. Das erste, was Tessa bemerkte, war Blut! Ein großer, verschmierter Blutfleck auf dem gefliesten Küchenboden. Ligustas Visitenkarte! Tessa spannte alle Muskeln und warf sich durch die Tür. * Vincents Handy summte. Er entschuldigte sich bei den Studenten und ging nach nebenan. »Was gibt's?«, fragte er kurz. »Ich bin's, Siggi«, meldete sich sein Informant. »Hab Neuigkeiten für dich.« Van Euyen verzog schmerzlich das Gesicht, als ihn Siggi wie einen alten Freund begrüßte. Aber er hatte es ihm nun mal erlaubt. »Schieß los«, bat er. »Das Netz um Ligusta zieht sich zusammen. Du wirst es nicht glauben, aber er hat noch ein Ding gedreht. In Leipzig.« Vincent verdrehte die Augen. »Mensch, laß dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!« »Er ist in eine Arztpraxis eingebrochen. Hat sich einen Behandlungsstuhl und einen Haufen Instrumente gekrallt. Er ist wieder da, Mann!« 91
»Woher weißt du, daß es Ligusta war?« »Er hat sich geschnitten. Es war eindeutig Ligustas Blut.« Vincent ließ das Handy sinken. Der Schnitzer hatte jetzt alles, was er benötigte, um seine abartigen Spielchen zu spielen. Er saß in Leipzig und wartete. Es fehlte ihm nur noch ein Opfer. Quatsch! Er ist nicht in Leipzig. Er ist hier! Wie in Trance hörte van Euyen die quakende Stimme seines Informanten aus dem Handy dringen. Er hob es wieder an sein Ohr. »Na, ist das vielleicht kein Hammer?« fragte Siggi. »Der Schnitzer macht Leipzig wieder unsicher! Stell dir mal die Schlagzeile vor!« »Ja, Siggi. Ist prima. Gute Arbeit. Ich muß jetzt Schluß machen«, sagte Vincent gedankenverloren und unterbrach die Verbindung. Tessa hatte den Schnitzer hier gesehen und ihn verfolgt. Ich muß sie warnen! schrie es in Vincent. Er hastete die Stiege zum Erdgeschoß hinunter. Den Gewehrkolben, der sich in seinen Bauch grub, sah er nicht. Dafür spürte er ihn umso deutlicher. Van Euyen krümmte sich zusammen. Er schaute zur Seite und sah das totenkopfähnliche Gesicht des wahnsinnigen Killers. »So viele nette Leute, mit denen ich spielen kann«, sagte Ligusta heiser. »Aber zuerst ist die kleine Polizistin dran. Und du darfst dabei zusehen, Dicker!« Der Gewehrkolben kollidierte schmerzhaft mit van Euyens Hinterkopf, und der Reporter stürzte in einen dunklen, bodenlosen Schacht. * Tessa flog durch die Küchentür, prallte auf den Boden und kam sofort wieder auf die Beine. Sie sah den Stuhl in der Mitte der Küche, den blutüberströmten Körper einer jungen Frau,: die blutverschmierten Wände, den besudelten Boden und die Küchenutensilien, die Ligusta für seine Metzelei verwendet hatte. Der Schnitzer hatte wieder zugeschlagen! Eiskalt und gnadenlos. Tessa ging zu der Toten und drückte ihr sanft die vor Schreck geweiteten Augen zu. 92
Die Fahnderin wirbelte in plötzlicher Erkenntnis herum. Ligusta war hier! Er war hier irgendwo, dessen war sie ganz gewiß. Es war nicht seine Art, sich im Wald zu verstecken. Er würde hier irgendwo auf sie oder auf die Franzosen lauern. Tessa verließ die Küche und wollte zum Eingang des Forsthauses laufen, als sie die angelehnte Kellertür bemerkte. Sofort spannte die Kommissarin sämtliche Muskeln. Ob sich der Wahnsinnige im Keller aufhielt? Tessa würde es herausfinden. Sie schob die Kellertür auf, hielt die SIG Sauer schußbereit mit beiden Händen und stieg Stufe für Stufe, den Rücken an die Wand gestützt, die Kellertreppe hinunter. Sie gelangte in einen schmalen Gang, von dem mehrere Türen abzweigten. Am Kopfende mündete der Gang in einen großen Kellerraum. Tessa öffnete nacheinander die Türen zum Heizungskeller, dem Abstellraum und dem Weinkeller. Die Kommissarin bewegte sich auf die Tür an der Stirnseite des Ganges zu. Langsam zog sie sie auf. Der Raum war kahl und ganz in Grau gehalten. Zwei kleine Oberlichter mit Gittern davor. Der Boden war gefliest. An einer Wand befand sich eine Werkbank mit Schraubstock. Die Werkzeuge hingen fein säuberlich an der Wand. In der Mitte des Raumes aber stand der Stuhl! Tessa kriegte Gänsehaut. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Sie fühlte sich ein Jahr zurückversetzt, in einen kalten Kellerraum unter einer Druckereihalle. Ihre Schritte hallten auf dem Kachelboden, als sie zur Werkbank ging. In Reih und Glied lagen die Edelstahlinstrumente auf dem Arbeitstisch. Ordentlich aneinandergereiht. Sogar der Größe nach sortiert. Tessa schaute wieder zu dem Behandlungsstuhl in der Mitte des Raumes. Ligusta hatte alles vorbereitet. Lederriemen hingen an den Armlehnen, der Fußleiste und der Nackenstütze des Stuhls. Es schien, als warte der Stuhl geradezu darauf, daß jemand Platz nahm. Er wartet auf mich. Dieser Gedanke stand mit absoluter Klarheit in Tessas Kopf. Er hat den verdammten Stuhl für mich 93
vorgesehen! Von draußen erklang ein dumpfes Geräusch, ein Ächzen und Stöhnen; es riß Tessa in die Realität zurück. Die Kripobeamtin hob die Pistole und war wie der Blitz bei der Tür. Sie schaute den Kellergang entlang und sah die reglose Gestalt des Reporters am Fuß der Kellertreppe liegen. »Ligusta! Du verdammtes Schwein!« Tessas Wut machte sich in einem Schrei Luft, der von den Kellerwänden zurückschlug. Tessa eilte auf den reglosen Reporter zu und beugte sich über ihn. »Vincent! Kannst du mich hören?« Die Kommissarin tätschelte die Wange des Reporters. »Und ob er dich hören kann, meine Kleine!« Die Stimme war hinter Tessa erklungen. Mit einem wütenden Schrei wirbelte sie herum, zielte mit der Pistole auf nichts! Der Kellergang war leer! »Verdammt, Ligusta, komm endlich aus deinem Loch!« brüllte Tessa. Keine Antwort. Und Vincent war immer noch bewußtlos. Wieder diese Stimme. »Wir werden miteinander spielen. Nur du und ich. Und der Dicke darf in der ersten Reihe sitzen und zusehen.« Tessa sprang hoch. Überlaut peitschte der Schuß durch den Keller. Die Kugel pfiff an Tessa vorbei und klatschte in die Kellerwand. Verputz rieselte auf die Kommissarin nieder. Ein weiterer Schuß dröhnte durch den Gang. Die Kugel furchte den Boden zwischen Tessas Beinen auf. Der Fahnderin blieb keine Wahl. Sie zog sich zur Stirnseite des Kellergangs zurück. »Willst du, daß dein dicker Freund stirbt?« fragte Ligusta. Seine Stimme wurde immer deutlicher. Tessa hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Bevor die Kommissarin antworten konnte, wummerte die Büchse erneut. Die Kugel sauste über van Euyen hinweg. »Leg deine Pistole auf den Boden!« befahl Ligusta. Der Kommissarin blieb keine Wahl. »Geh in den Keller, schließ die Tür und setz dich auf den Stuhl.« Ligusta kicherte. Tessa tat, wie man ihr befohlen hatte. Einsam saß sie in dem kahlen Kellerraum. Von außen waren keine Geräusche zu hören. Keine Schritte. Nichts. 94
Tessa wartete. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Dann wurde es ihr zu dumm. Sie sprang vom Stuhl und riß die Kellertür auf. Ihre Pistole war verschwunden. Dafür lag Vincent vor der Tür. Die Fahnderin schaute in den Kellergang. Von Ligusta war nichts zu sehen, dafür bemerkte sie aber die kleinen, schießschartenartigen Löcher in der Wand des Weinkellers. Durch sie hatte Ligusta sie und Vincent im Visier gehabt und jeden ihrer Schritte beobachtet. Tessa schleifte den beleibten Reporter in den Keller. Der Wahnsinnige kicherte. »Setz dich!« Tessa nahm wieder Platz. Ligusta befahl ihr, ein Handgelenk an die Armlehne zu schnallen. Während sie damit beschäftigt war, schlang Ligusta blitzschnell den Lederriemen um ihre Stirn und schnallte ihren Kopf an der Nackenstütze fest. Die Pistole glitt über Tessas Gesicht. Ligusta legte die Armriemen zurecht und band den zweiten Arm auf der Lehne fest. »Damit kommen Sie nicht durch, Ligusta! Glauben Sie, ich hätte keine Verstärkung angefordert?« Tessa versuchte es mit einem Bluff. »Du hattest auch damals Verstärkung angefordert, meine Kleine. Und fast wäre sie zu spät gekommen. Soll ich dir was verraten?« Der Schnitzer beugte sich vor. »Ich glaube, diesmal wird keine Verstärkung kommen.« Ligusta schälte sich aus dem Jägerkittel und schlüpfte in einen weißen Arztkittel. Er setzte sich eine Operationshaube auf und legte sich eine Gesichtsmaske zurecht. »Nun werde ich an dir nachholen, was du damals verhindert hast, meine ungezogene Kleine.« Der Psychopath griff zu einem Chirurgenmesser und schnitt Tessa die Kleider vom Leib. Langsam. Systematisch. Achtlos warf er die Kleidungsstücke beiseite. Tessa fror. Sie trug nur noch ihren Slip. Den ließ ihr Ligusta. Der Wahnsinnige ließ das Chirurgenmesser langsam über die Haut gleiten und freute sich, als Tessa zusammenzuckte. »Du hast Mut, Kleine. Das habe ich schon damals an dir bewundert. Dein Freund Hellmann übrigens auch. Er hat dem Alten wirklich einen hervorragenden Kampf geliefert. Aber mittlerweile dürfte er schön zu den Wölfen gehören. Ich glaube, er hätte mir wirklich gefährlich werden können. Er 95
hatte das Zeug dazu, dem Gefallenen Engel zu trotzen.« Ligusta fuhr sich an der blutigen Narbe entlang, die sich über sein Gesicht zog. »Dieses Andenken habe ich ihm zu verdanken. Und dafür werde ich mich an dir schadlos halten.« Ligusta band die Gesichtsmaske um. »Willst du nicht um dein Leben flehen, meine Kleine?« »Geh zum Teufel!« »Er wird noch ein Weilchen auf mich warten müssen. Schließlich hat er dafür gesorgt, daß wir beide uns heute abend hier vergnügen können, nicht wahr?« Ligusta wählte eine Edelstahlschere aus seinen Instrumenten und wandte sich seinem Opfer zu. Tessa sah die gnadenlosen Augen über dem Rand der Maske, die auch schon das Mädchen damals gesehen hatte, und verlor jede Hoffnung. Tränen schossen in ihre Augen. Angstschweiß glänzte auf ihrer Haut. Aber Tessa flehte nicht um Gnade. * Ich rollte mich über die Lichtung und prallte mit dem Rücken gegen den Felsen. Dort sah ich den reglosen Körper eines nackten Mannes. Meine Erinnerung kehrte zurück. Der Alte! Ich durfte keine Zeit verlieren. Ich mußte diesen Anführer der Wölfe stellen! Eilig erhob ich mich, stützte mich einen Moment lang an dem Hinkelstein ab und umrundete ihn. Im Mondschein sah ich meine Kleider, die bei Antritt meiner Zeitreise automatisch zurückgeblieben waren. Mitnehmen konnte ich auf diesen Reisen nichts. Mein Blick fiel auf den Menhir und ich sah - Nadine Garnier! Der Werwolf hatte sie mit langen Efeusträngen und Ranken an den Felsen gefesselt. Das Mondlicht beschien den schlanken Körper der jungen Frau. Ihre zerfetzte Kleidung war ringsum auf dem Boden verstreut. »Hilfe!« flehte sie leise. »Kann mir denn niemand helfen?« Sie schien mich noch nicht bemerkt zu haben. Ich schaute mich aufmerksam um. Wenn Nadine hier war, mußte der Alte ebenfalls in der Nähe sein. Ich erkannte seine 96
Absicht. Er wußte, daß ich zurückkehren würde, deshalb hatte er Nadine als Köder für mich an den Felsen gefesselt. Tastend suchte ich meine Pistole und schob ein neues Magazin in den Griff. Nicht weit entfernt sah ich den armenischen Silberdolch im Gras liegen. Ich schlich hin, nahm ihn auf und wandte mich Nadine zu, um ihre Fesseln zu lösen. Urplötzlich war der riesige Werwolf da! Mit einem gewaltigen Satz katapultierte er sich zwischen mich und die junge Französin und brüllte laut. Die Studentin schrie. Der Werwolf wirbelte zu ihr herum, knurrte und hieb mit den Pranken vor Nadine durch die Luft, um sie zum Schweigen zu bringen. Ich versetzte dem Werwolf einen Tritt in den Rücken, der das Untier gegen den Hinkelstein stieß. Wütend warf sich der Dämonenwolf herum. Genau in die Klinge des Silberdolchs! »O Mark! Ich bin so froh, daß du zurückgekommen bist«, hauchte sie. »Ich habe noch nie eine schöne Frau in Lebensgefahr allein gelassen«, erwiderte ich, wandte mich aber rasch um, denn Volkodlak griff an! Ich durchtrennte die restlichen Fesseln und sprang mit Nadine vom Felsen. »Lauf zum Waldweg und dann nach rechts. Du kommst dann zu dem Bus. Ich komme nach.« »Die Werwölfe werden mich zerreißen«, sagte Nadine ängstlich. »Wenn noch welche übrig wären, hätten wir sie längst gesehen. Es gibt nur noch den Alten.« Während sie dann etwas mutiger loslief, wandte ich mich der Stelle zu, an der ich den Werwolf vermutete. Aber er war verschwunden. Hastig suchte ich die Stelle, an der ich die Vertiefung mit Peter Stubbes Asche entdeckt hatte. Ich ging in die Hocke. In der Kuhle ertastete ich nicht nur Asche und lockeres Erdreich, sondern auch - Holz. Sofort begann ich zu graben. Bald schlossen sich meine Finger um einen hölzernen Schaft. Daran zerrte ich mit aller Kraft und betrachtete bald fasziniert den Schäferstab. Über vierhundert Jahre hatte der Stab, in dem die Macht des Guten ruhte, im Waldboden überdauert, ohne Schaden zu nehmen. Das Buchenholz war stark wie eh und je, und auch das Silber an Griff und Spitze war noch vorhanden. Ich hob den Stab hoch. Das Mondlicht brach sich am 97
silberverstärkten Hakengriff. Es war ein eigenartiges Gefühl. Eine seltsame Kraft schien von dem Stab auszugehen und meinen Körper zu erfüllen. In diesem Augenblick traf mich ein heftiger Stoß in den Rücken. Ich prallte gegen den Wolfsstein und verlor den Stab. Vor mir stand der riesige Werwolf. Er keuchte mich an, daß die Luft flirrte. Ein Teil des Dämonenwolfs veränderte sich und wurde zu dem Alten. »Du bist erledigt, Volkodlak!« warf ich ihm entgegen. »Du weißt also, wer ich bin. Dann weißt du auch, daß du mich nicht besiegen kannst.« »Vor vierhundert Jahren hat dich ein einfacher Schäfer besiegt. Wieso sollte mir heute nicht dasselbe gelingen?« Der Volkodlak schüttelte den Kopf, dessen obere Hälfte immer noch das Aussehen eines Wolfs hatte. »Der Schäfer hatte Glück, nichts weiter. Aber ich habe gelernt. Du willst mich mit dem Schäferstab besiegen, doch ich werde ihn an mich nehmen. Mit deinen lächerlichen Waffen kannst du mich zwar schwächen, aber du wirst mich nicht töten. Und der Stab hat über die Jahrhunderte viel von seiner Kraft eingebüßt. Es ist sinnlos, Hellmann. Du wirst zum Wolf und gemeinsam mit mir die junge Frau, der du zur Flucht verholten hast, zur Führerin des Rudels machen!« »Von welchem Rudel sprichst du, Volkodlak? Schau dich um. Deine Wölfe sind vernichtet.« »Dann werde ich eben mit dir und der Frau neu beginnen, Hellmann! Bald wird ein Heer von Wölfen das Land beherrschen.« Der Alte bückte sich und hob den Schäferstab auf. »Falsch, Volkodlak! Du wirst sterben.« Ich zog die Pistole hoch und gab mehrere Schüsse auf ihn ab. Die Kugeln hieben in die Brust des Alten und stießen ihn zurück. Er ließ den Hakenstab fallen… Ich stieß mich vom Felsen ab, stürzte zu dem Buchenstab und versetzte damit dem Mischwesen aus Mensch und Werwolf einen heftigen Schlag. Doch der Volkodlak hatte recht behalten. Die Kraft des Stabes reichte nicht aus, ihn in die Knie zu zwingen. Erneut drosch ich auf den Alten ein, konnte ihn jedoch nicht von den Beinen holen. Der Alte stieß ein lautes Geheul aus und schloß die Verwandlung in den Dämonenwolf ab. Ich hob den Stab, drehte mich um die eigene Achse, um möglichst viel Schwung zu holen, und schlug zu. 98
Der Hieb ging ins Leere! Ich sah den Dämonenwolf über die Lichtung hetzen. Er brauchte nur drei, vier Sätze, bevor er unter den Bäumen verschwand. Dort war er im Vorteil, denn wir kämpften auf seinem Terrain. Ich betrachtete den Stab. Wenn ich ihn als Waffe einsetzen wollte, mußte ich seine Kraft vergrößern. Noch strahlte mein Ring von der dämonischen Atmosphäre, die der Volkodlak verbreitet hatte. Mit dem Lichtstrahl schrieb ich die Runen für das keltische Wort Waffe auf den Buchenschaft. Bläuliche Flämmchen zuckten über den Stab, tauchten ihn in ein blauschimmerndes Licht und verliehen ihm zusätzliche Kraft gegen das Böse, die etwa eine Stunde anhalten würde. In dieser Zeit mußte ich den Werwolf erledigt haben. Ich schlüpfte in meine Kleider und jagte in großen Schritten über die Lichtung. Überall erwartete ich die gelben Augen des Dämonenwolfs zu sehen, doch ich wurde enttäuscht. Kein Hecheln, kein Keuchen drang zu mir herüber. Der Wolf war verschwunden. Ich schob ein neues Magazin in meine Pistole. »Volkodlak!« Meine Stimme hallte durch den Wald. Nichts regte sich. Ich ging einige Schritte und blieb neben dem Stamm einer mächtigen Eiche stehen. Der Werwolf war ganz in der Nähe. Aber wo? Etwas klopfte auf meine Schulter. Meine Muskeln spannten sich. Ein zweites Schulterklopfen. Unendlich langsam wandte ich den Kopf. Meine Jacke glänzte feucht an der Schulter. Zum dritten Mal fiel ein Tropfen auf meine Jacke und perlte ab. Ich atmete tief ein und rümpfte die Nase. Das feuchte Zeug stank bestialisch. Instinktiv riß ich den Kopf hoch und starrte in die weit aufgerissene Fratze des Werwolfs, deren Geifer mich getroffen hatte! Ich warf mich gegen den Stamm der Eiche und feuerte das gesamte Magazin in den Rachen der herabschießenden Bestie! Die Kugeln hielten ihn jedoch nicht auf. Er würde mich erreichen. Seine Pranken und Zähne würden mich verwunden und den tödlichen Keim der Lykanthropie in mir verbreiten. Ich ließ die jetzt nutzlose Pistole fallen und nahm den Schäferstab. 99
Ich schrie und hörte den Volkodlak ebenfalls schreien. Ein furchtbarer Ruck lief durch meinen Körper. Mir war, als würden meine Arme aus den Schulterpfannen gerissen. Ich ließ den Stab los. Vor mir auf dem Boden lag der im Todeskampf zuckende Körper des Werwolfs. Der Schäferstab war in seinen Rachen gedrungen und hatte den gesamten Körper durchbohrt. Um den Werwolf herum flimmerte die Luft. Die Wolfsgestalt bildete sich zurück und gab den Blick auf den ausgemergelten Körper des Alten frei. Das Zittern hörte auf. Der Körper trocknete aus, wurde zu einem Skelett und zerfiel zu Staub. Volkodlak war vernichtet. * »Schrei endlich! Sag etwas!« Ligusta verlor die Beherrschung. »Ich will deine Stimme hören!« Tessa schwieg beharrlich. Dafür meldete sich van Euyen zu Wort. »Hören Sie auf, Sie Teufel!« brüllte er. »Treiben Sie Ihr Spiel lieber mit jemandem, der sich wehren kann, verdammt!« Der Psychopath fuhr herum und starrte den beleibten Reporter an, der sich eben mühsam aufrichtete. Ligusta war mit wenigen Schritten bei ihm, packte Vincents Haare und riß seinen Kopf nach hinten. »Du kommst auch noch dran, mein Lieber. Aber zuerst ist sie an der Reihe!« Ligusta kehrte an Tessas Seite zurück und zückte ein Chirurgenmesser. »Es gibt Mittel und Wege, dich zu zwingen, meine Kleine. Du wirst dich wundern!« Dann flog die Tür, die von der Garage in den Keller führte, mit lautem Knall auf. »Sie sind derjenige, der sich wundern wird!« stieß ich rauh hervor. Ich hatte Nadine aus dem Wagen geholt und auf den Bauernhof gebracht. Dort hatte ich erfahren, daß Tessa und Vincent spurlos verschwunden waren. Ich hatte mich zu dem abseits gelegenen Forsthaus begeben und war auf die Blutspuren in der Küche gestoßen. Als ich die Garage durchsuchte, hörte ich die Stimmen aus dem angrenzenden Kellerraum. 100
Der Satan in Weiß starrte mich ungläubig an. »Sie!?« schrie er. »Ich dachte, der Alte hätte Sie…« »Falsch gedacht. Der Alte existiert nicht mehr. Und Sie gehen zurück in die Klapsmühle, wo Sie hergekommen sind!« Der Psychopath legte die Klinge an Tessas Kehle. »Keinen Schritt, weiter, Hellmann! Ich warne Sie!« Ich schüttelte den Kopf. »Wieder falsch, Ligusta. Ich warne Sie. Wenn Sie Tessa auch nur ein Haar krümmen, werden Sie sich wünschen, niemals ausgebrochen zu sein.« Ligusta lachte. »Hellmann, Sie sind verdammt gut! Aber Mephisto höchstpersönlich steht hinter mir. Für ihn habe ich den Alten zum Leben erweckt. Ich werde seinen Helfern und Heerscharen den Weg ebnen. Und niemand wird mich daran hindern. Auch Sie nicht, Hellmann! Denn in mir lebt der Gefallene Engel!« »Warten wir's ab, Ligusta!« Ich erwiderte den Blick seiner eisgrauen Augen. Lange standen wir so, bis er meinem Blick nicht mehr standhielt. Mit einem schluchzenden Laut riß er den Behandlungsstuhl herum, bis Tessa direkt vor ihm lag, und hob das Messer. Ich hatte mich beim ersten Ruck des Stuhls bereits in Bewegung gesetzt und befand mich in der Luft, als Ligusta ausholte. Mein gestreckter Fuß traf ihn mitten im Gesicht, schubste ihn von Tessa weg. Ligusta taumelte Richtung Werkbank, wo seine Instrumente lagen. Ich stürzte mich auf den Wahnsinnigen. Ein furchtbarer Kampf entbrannte. Ligusta gebärdete sich wie ein Berserker. Ich riß ihm den Mundschutz herunter, blickte in das haßverzerrte, totenkopfgleiche Gesicht mit der blutigen Narbe und den spitzen Zähnen. Ligustas Finger krallten sich um meine Kehle. Ich spannte sämtliche Muskeln an, war seiner Kraft aber nicht gewachsen. Immer weiter drückte mich der Wahnsinnige, dessen Kräfte durch seine Krankheit verdoppelt wurden, zurück. Mein Kopf rutschte zwischen die Backen des Schraubstocks. Ligusta lachte schrill. »Siehst du, was du mir angetan hast, Hellmann? Mein Gesicht ist eine häßliche Fratze geworden. Du wirst dafür bezahlen. Tausendfach!« Und seine Finger schlossen sich um den Hebel des Schraubstocks. 101
Ich zog die Beine an und quetschte ihm beide Knie in die Hüften. Ligusta stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus und bäumte sich auf. Ich stieß ihm beide Beine vor die Brust und warf ihn mit Schwung zurück. Mit Karatetritten setzte ich nach. Ligusta wehrte sich. Der Wahn machte ihn höllisch stark. »Schieß, Mark!« hörte ich Tessas Stimme hinter mir. Ich hätte natürlich die Waffe benutzen können, aber ich wollte Ligusta lebend haben. Ich trieb Ligusta mit Tritten und Schlägen vor mir her. Der Kampf zog sich bis in die Garage. Ligusta gelang es, mich gegen ein Regal mit Lacken und verschiedenen Kanistern zu werfen. Das Zeug ergoß sich über meine Kleidung. Waldemar Ligusta lachte irre und fummelte mit einem Schweißgerät herum. »Jetzt hab ich dich, Hellmann! Fahr zur Hölle! Der Teufel freut sich schon auf dich!« »Er freut sich zu früh.« Ich stemmte mich hoch. Ligusta wirbelte zu mir herum. Eine blau-gelbe Flamme stand fauchend vor der Düse des Schweißgerätes. Der Psychopath fuchtelte mit dem Schweißbrenner herum. Mir wurde es nun doch etwas zu heiß. Ich griff zur Pistole, aber Ligusta erkannte meine Absicht. Mit einem Wutschrei warf er sich nach vorn. Ich konnte der Schweißerflamme eben noch ausweichen und versetzte Ligusta einen Tritt, der ihn zwischen die Farbdosen und einige Benzinkanister schleuderte. Ein weiterer Tritt fegte ihm den Schweißbrenner aus der Hand. »Es ist vorbei, Ligusta«, sagte ich ruhig. Ligustas Augen musterten mich kalt. »Du hast recht, mein Junge. Es ist vorbei.« Er versetzte dem Schweißbrenner einen Tritt, der die Düse in die Lache aus Farben und Lacken schleuderte. Mit einem dumpfen Laut fing das Gemisch Feuer und fraß sich auf mich zu. Ligusta lachte gellend und tanzte zwischen den Kanistern hin und her. Ich brachte mich mit einem Sprung aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich und rannte zum Garagentor. Mit dem Handballen drückte ich den Knopf, der das Tor automatisch öffnete. Draußen standen Tessa und Vincent. Er hatte eine alte Decke aufgetrieben und sie Tessa um die Schultern gelegt. Ich bückte mich, um unter dem halbgeöffneten Tor hindurchzuschlüpfen, als mich Tessas Schrei warnte. »Paß auf, 102
Mark! Er greift an!« Ich wirbelte in der Hocke herum, sah Ligusta mit dem Schweißbrenner auf mich zustürzen und feuerte. Die Kugel traf Ligusta hoch in der Schulter, stieß ihn zurück und ließ ihn zwischen den Kanistern landen. Den Schweißbrenner hielt er krampfhaft fest und brüllte vor Wut. Ich verließ die Garage, nahm Tessa und Vincent am Arm und rannte los. Wir waren erst wenige Schritte von der Garage entfernt, als ein dumpfer Knall Ligustas Gebrüll übertönte. Die nachfolgende Detonation riß uns von den Beinen. Ich warf mich schützend über Tessa. Ein gewaltiger Feuerball schoß aus der Garage und über uns hinweg. Hohe Stichflammen zuckten aus dem Dach der Garage, griffen auf das Wohnhaus über. Eine weitere Detonation ließ die Gebäude erzittern. Hilflos mußten wir zusehen, wie das Haus und die Garage ein Raub der Flammen wurden. Einen Augenblick lang glaubte ich, inmitten der Flammenhölle Ligustas haßverzerrtes Gesicht zu erkennen und seine Schreie zu hören, aber das war wohl nur Einbildung. Ich hob Tessa hoch und trug sie auf meinen Armen, als wir zum Gutshof und den Studenten zurückkehrten. * Die Mordkommission zeigte sich alles andere als begeistert über Tessas Alleingang, was den Psychopathen Ligusta betraf. Erst als Pit aus Weimar auftauchte und die Kollegen beschwichtigte, gaben sie Ruhe. Noch weniger begeistert waren die Herren von der Kripo über die Leichen der unglücklichen Leute, die von Volkodlak in Werwölfe verwandelt worden waren. Die Geschichte mit den Dämonenwölfen kaufte man uns nicht ab. Jedenfalls nicht offiziell. Man gab einem plötzlichen Massenwahn die Schuld, der die Frau des Försters und ihre Leidensgenossen befallen haben sollte. Ich hatte den Schäferstab wieder am Fuße des Wolfssteins vergraben. Dort sollte er bis in alle Zeiten liegen, um weiteres Unheil von der Gegend fernzuhalten. »Der Fall Ligusta dürfte nun endgültig der Vergangenheit 103
angehören«, meinte Pit und schlug mir auf die Schulter. »War ein ganz schön harter Brocken, nicht?« »Ja. Aber dieser Volkodlak war auch nicht ohne.« Nadine kam mir aus dem Gutshof entgegengelaufen. »O Mark, es ist so schade, daß wir schon wieder weiter müssen. Ich habe mich noch gar nicht richtig bedankt«, flötete sie und schmiegte sich küssend an mich. Ich bemerkte, wie Tessa die Szene beobachtete, und räusperte mich. »Nadine, der Bus wartet!« rief Vincent ultimativ. »Laß den alten Herzensbrecher sausen. Andere Mütter haben auch schöne Söhne.« »Aber sie sind nicht so mutig wie Mark«, erwiderte Nadine mit schmachtendem Blick. »Isch 'abe misch noch gar nischt rischtig bei disch bedankt«, äffte Tessa die kleine Französin nach. »Du hast das Dankeschön ja richtig genossen.« »Spricht die Eifersucht aus dir?« Tessa packte mich am Kragen. »Du gehörst mir, vergiß das nicht. Und dabei fällt mir ein, daß ich mich auch noch nicht bedankt habe.« Ich ließ meine Hand unter die Decke gleiten, die Tessas Körper verhüllte, und umfaßte ihr wohlgerundetes Hinterteil. »Das kannst du bald nachholen, mein Schatz. Ich kenne hier rein zufällig ein nettes Landhotel mit Kaminzimmer und Sauna.« Ich verabschiedete mich von Pit. »Auf deine beste Fahnderin mußt du noch zwei Tage verzichten. Ich muß sie erst wieder hochpäppeln. Kein Wunder, nach allem, was sie durchgemacht hat.« »Mir scheint eher, daß Tessa dich hochpäppeln muß.« »Immer diese eindeutigen Zweideutigkeiten.« Ich ging zu meinem BMW und schaute dabei zu dem Leichenwagen hinüber, neben dem eine offene Kunststoffwanne stand. Sie war leer. »Ist die für Ligusta bestimmt?« fragte ich einen Beamten vom Erkennungsdienst. »War bestimmt«, meinte er. »Wieso?« »Wir haben Ligustas Überreste noch nicht gefunden.« Er ließ seinen Blick über die schwelenden Trümmer des Forsthauses 104
wandern. »Wenn Sie mich fragen, finden wir da drin auch nichts mehr. Der Kerl ist verbrannt.« Nachdenklich ging ich zum Wagen und schob mich hinter das Steuer. »Ist was nicht in Ordnung?« fragte Tessa besorgt. »Sie haben Ligusta noch nicht gefunden.« Tessa legte mir eine Hand auf den Schenkel. »Vergiß ihn. Der Schnitzer lebt nicht mehr. Aus und vorbei.« »Hoffen wir, daß du recht hast.« Tessa ließ die Hand höher wandern. »Laß uns von was anderem reden, ja? Zum Beispiel davon, was du vorhast, wenn wir dieses verschwiegene Landhotel erreichen…«
ENDE 13 kleine Bilder zählte ich in dem Doppelring des Pentagramms. Und sie schienen alle zu leben. Ich erkannte ein Herz, das pulsierte. Ein Vampirgebiß grinste mich an, und die Knochenhand eines Skeletts griff nach mir. Nach Kreuz, Sarg und Sonne fiel mein Blick auf einen Ring und schließlich auf einen Frauenkopf. Ja,
Das Pendel zeigte auf Tessas Kopf. Ich ahnte Schreckliches!
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