Waris Dirie
Schmerzenskinder
Genitalverstümmelung wird nicht nur in Afrika praktiziert, sondern auch hier vor unserer ...
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Waris Dirie
Schmerzenskinder
Genitalverstümmelung wird nicht nur in Afrika praktiziert, sondern auch hier vor unserer Haustür. Mindestens 500 000 Mädchen und Frauen in Europa sind davon betroffen, täglich kommen neue Opfer hinzu. Die Bestsellerautorin und UN-Sonderbotschafterin Waris Dirie, die im Alter von fünf Jahren die Qualen der Beschneidung erlebte, war die erste Frau, die öffentlich über diese schlimme Folter sprach. In diesem Buch erzählte sie ihr Leben weiter, von dem Tag an, als sie ihr Schweigen brach.
Waris Dirie Mit Corinna Milborn
Schmerzenskinder
Marion von Schröder
Marion von Schröder ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN 3-547-71067-7 © 2005 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Recherche und Text: Lea Friessner, Julia Raabe Aufgezeichnet von Christian Nusser Alle Rechte vorbehalten Gesetzt aus der Minion bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
Mein drittes Leben
Schweißgebadet wache ich auf. Es ist sehr früh, noch nicht einmal sechs Uhr morgens. Die Nacht war kurz und unruhig. Schwere, düstere Träume haben mich immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Noch einmal mache ich die Augen zu, doch sofort sehe ich die schrecklichen Bilder wieder vor mir: ein billiges Hotelzimmer, eng, mit vergilbten Tapeten an den Wänden. Auf dem großen Bett liegt ein Mädchen, das zehn, höchstens zwölf Jahre alt ist. Es ist nackt. Vier erwachsene Frauen stehen um das Bett herum und halten das Mädchen fest. Vor seinen gespreizten Beinen sitzt eine alte Frau, die ein Skalpell in der Hand hält. Das Bettlaken ist tiefrot, von Blut durchtränkt. Das Mädchen schreit durchdringend, es hört nicht auf zu schreien. Es schreit direkt in mein Herz. Dieser Schrei hat mich immer wieder geweckt. Und es ist so, als würde er sogar in meinem Zimmer nachhallen. Verstört stehe ich auf und hole mir ein Glas Wasser aus der Küche. Ich blicke zum Fenster hinaus. Es beginnt hell zu werden. Ich bin in Wien, niemand schreit, es war alles nur ein Traum, versuche ich mich zu beruhigen. Erst gestern Abend kehrte ich von einem Wochenendtrip aus Cardiff zurück. Bevor ich nach Wien gezogen bin, habe ich knapp zwei Jahre lang in der walisischen Hauptstadt gelebt. Eigentlich wollte ich dort nur Freunde treffen und mich ein bisschen entspannen, auf zwei erholsame Tage hatte ich mich gefreut. Doch es kam anders. Am Tag meiner Abreise war ich bei Freunden zum Mittagessen ein-geladen. Es war eine aufgeweckte Runde, wir kannten uns alle von früher, und es gab jede Menge zu erzählen. Nur einer der
jüngeren Männer, Mariame, sagte die ganze Zeit nichts. Mir fiel auf, dass er mich während des Essens ein paar Mal eindringlich anschaute. Ich konnte mir jedoch nicht erklären, was es zu bedeuten hatte. Als ich schließlich aufbrechen musste und mich von allen verabschiedet hatte, begleitete er mich hinaus. Ich nutzte die Gelegenheit, ihn zu fragen, was denn los sei. »Waris«, antwortete er mir, »ich bewundere deine Kraft. Jetzt weiß ich endlich, mit welchen Qualen Beschneidungen verbunden sind. Ich würde gerne helfen, die Leute darüber aufzuklären. Viele wissen nichts darüber. Die Eingriffe werden einfach nur gemacht, weil es immer schon so üblich war. Keiner denkt über die Folgen nach.« Ich musste lächeln. Es gibt immer mehr Männer, die es ablehnen, dass Mädchen beschnitten werden. Das macht mir Mut. Wenn doch schon alles der Vergangenheit angehören würde. Plötzlich wurde Mariame ganz ernst: »Ich wollte dir aber noch etwas ganz anderes erzählen. Mir ist vor wenigen Tagen eine schreckliche Geschichte zu Ohren gekommen.« Und dann erzählte er mir von einer afrikanischen Familie aus Cardiff, die ihre zehnjährige Tochter beschneiden lassen wollte. Sie habe hier ein Hotelzimmer gemietet und eine alte libysche Frau dorthin bestellt, die für 200 Pfund die grausame Prozedur durchführen sollte. Doch die Beschneiderin habe danebengeschnitten – und das Mädchen habe so stark geblutet, dass sie zum Arzt gebracht werden musste. »So habe ich davon erfahren«, sagte Mariame, »sie wäre fast verblutet.« »Ja, hat denn niemand die Polizei gerufen?«, fragte ich. »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Wie heißt die Familie? Wo wohnt sie? Wie geht es dem
Mädchen jetzt?«, bohrte ich weiter nach. Mariame kannte keine Details. »Deshalb bedrückt mich diese Geschichte auch so. Ich weiß, dass es passiert ist, und kann einfach nichts dagegen machen.« Es war nicht das erste Mal, dass ich von einer Genitalverstümmelung in Europa erfuhr. Durch meine Bücher bin ich so etwas wie eine Symbolfigur für den Kampf gegen Genitalverstümmelung geworden, und deshalb höre ich immer wieder von diesem schrecklichen Ritual in afrikanischen und arabischen Familien. Doch jedes Mal, wenn ich Details wissen wollte, um endlich einen Täter anzeigen zu können, wurde ich mit Ausflüchten abgespeist. Dass Genitalverstümmelung vor Staatsgrenzen nicht Halt macht und daher auch Frauen und Mädchen in Europa betrifft, ist in den afrikanischen Communities ein offenes Geheimnis. Mehr wurde mir gegenüber bisher nicht preisgegeben. Hier in Cardiff war nun offenbar ein Arzt oder ein Krankenhaus involviert, diesmal würde ich bestimmt Genaueres herausfinden können. Die kurze Zeit, die mir noch bis zum Abflug blieb, nutzte ich, um mit möglichst vielen Bekannten in Cardiff telefonisch Kontakt aufzunehmen: Hatte jemand etwas gehört? Wusste jemand, um welches Mädchen es sich handeln könnte? Es war enttäuschend. Niemand konnte mir Auskunft geben, ja, mehr noch, keiner wollte über ein solches Thema sprechen. Auch über Krankenhäuser, die Polizei und soziale Einrichtungen konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Dann war es schließlich so weit: Mein Flug zurück nach Wien war zum Einsteigen bereit. Ich ließ Cardiff hinter mir. Das Bild von dem Mädchen im Hotelzimmer jedoch nahm ich mit – bis in meine Träume. An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich hole meine Joggingschuhe aus dem Schrank, ziehe einen
Trainingsanzug an und gehe hinunter auf die Straße. Laufen ist die beste Medizin für mich, besonders in Momenten, in denen mich etwas innerlich sehr aufwühlt. Beim Joggen kann ich mich beruhigen, aber auch nachdenken. Draußen ist es kalt. Als ich am Fluss entlanglaufe, sind bereits die ersten Schulkinder unterwegs. Langsam wird mein Kopf wieder klar. Wie schön es ist, in Österreich zu sein, denke ich erleichtert. Hier kann man sicher sein, dass den Mädchen nichts passiert. Kann ich mir denn da wirklich so sicher sein? Am Ende sind die Fälle von Genitalverstümmelung in Europa, von denen ich gehört habe, nicht nur Einzelfälle? Geschieht das vielleicht überall? Sogar hier in Wien? Und wieder muss ich an meine Albträume denken. An den Schrei des Mädchens, mitten in einer europäischen Industriestadt. Mir fallen die Interviews ein, die ich im Zusammenhang mit meinen Buchveröffentlichungen gegeben habe. Die Kongresse, an denen ich als UN-Sonderbotschafterin teilgenommen habe. Immer haben wir über Afrika gesprochen, immer wurde ich zu Somalia befragt. Habe ich schon jemals mit einer Expertin aus Europa gesprochen? Nein, das hätte ich nicht vergessen. Ich kenne keine Studien und keine Zahlen über Genitalverstümmelung in Europa. Gibt es etwa noch mehr Opfer? Ich setze mich auf die nächste Parkbank. Waris, sage ich zu mir, du musst etwas tun. Du musst Antworten finden. Damals hoffte ich, meine Befürchtungen würden sich nicht bestätigen. Heute weiß ich, dass ich mit meinen Vermutungen richtig lag. Der Entschluss, mich diesem Thema zu widmen, sollte meinem Leben eine neue Wendung geben. Ich bin jetzt keine »Wüstenblume« und keine »Nomadentochter«
mehr. An jenem Morgen begann mein drittes Leben.
* Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, UN-Resolution, 10. Dezember 1948 Eine Woche später sitze ich in einem Kaffeehaus an der Wiener Ringstraße. Draußen rattern die rotweißen Straßenbahnen vorbei, die Gebäude gegenüber sind alt und pompös. Die Leute an den Tischen um mich herum lesen Zeitung. Viele verweilen hier stundenlang, oft nur bei einer Tasse Kaffee, und keiner regt sich darüber auf. Diese typisch wienerische Gelassenheit schätze ich sehr. Seit einem Jahr lebe ich nun schon hier, und es gefällt mir sehr gut. Oft werde ich gefragt: Warum bist du gerade nach Wien gezogen? Und ich antworte darauf immer: Warum nicht? Wien ist eine wunderschöne Stadt. Ich habe hier viele neue Freunde gefunden. Ja, ich habe tatsächlich das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Die letzten Jahre bin ich viel gereist. Als UN-Sonderbotschafterin habe ich überall auf der Welt Vorträge gehalten und bin auf vielen Charity-Veranstaltungen aufgetreten. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, zu wenig zu tun. Daher entschloss ich mich, selbst etwas auf die Beine zu stellen: Ich gründete hier in Wien die »Waris Dirie Foun-
dation«. Mit einem kleinen Team sammeln wir Geld für Projekte gegen Genitalverstümmelung in meinem Heimatland Somalia. Im Moment ist Somalia weit weg für mich. Ich warte auf Corinna. Sie ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin, und wir haben schon oft zusammengearbeitet. Meist recherchiert sie für mich Daten über Frauen in Afrika und über dortige Projekte gegen Genitalverstümmelung. Vor ein paar Tagen bat ich sie, mir so schnell wie möglich all die Informationen zusammenzustellen, die ihr über dieses Thema in Europa zugänglich sind. Sie kommt ein paar Minuten zu spät, aber jemanden wie mich, der selbst ein legeres Verhältnis zu Uhrzeiten und Terminen hat, kümmert das wenig. Jetzt bin ich gespannt, was sie mir zu erzählen hat. Sie setzt sich, knallt einen grünen Leitz-Ordner mit Hunderten von Seiten auf den Tisch. »Da drin steht alles, was ich bisher weiß«, sagt sie atemlos. Sie bestellt sich einen Kaffee, biegt den Ordner auseinander, nimmt die erste Seite in die Hand und beugt sich in meine Richtung: »Waris«, flüstert sie. »Du hast Recht. Alle glauben, Genitalverstümmelung sei im Rückzug. Aber das stimmt überhaupt nicht. Sie wird in immer mehr Ländern praktiziert. In Asien, in Europa – aber es gibt nur bruchstückhafte Informationen darüber.« Es stimmt, denke ich. Auch im arabischen Raum, im Jemen, in Pakistan erfuhr ich von Tausenden Mädchen, deren Geschlechtsteile entfernt wurden. In Indonesien und Malaysia tauchen immer mehr Fälle auf. Und jetzt auch in Europa. Darüber wusste ich bisher allerdings wenig – hier muss es wohl ein Randproblem sein. Das dachte ich zumindest noch. Corinna klappt den Ordner zu, drückt ihn mir in die Hand. »Am besten, du schaust selbst einmal in meine Unterlagen.
Du wirst schnell merken, wie groß das Problem bei uns in Europa schon ist.« Ich schlage die erste Seite auf, überfliege den Text mit den unzähligen Randnotizen von Corinna. An einem Absatz bleibe ich hängen. Hier werden die unterschiedlichen Namen aufgelistet, mit denen das große Unrecht bezeichnet wird, das uns Frauen geschieht: weibliche Genitalverstümmelung, FGM (Female Genital Mutilation), MSF (Mutilations Sexuelles Feminines), weibliche Zirkumzision, das arabische Wort »khafd«. Achtung! Den Begriff Beschneidung finden viele Opfer abstoßend, weil er verharmlost, hat Corinna mit Bleistift vermerkt. »Stimmt«, sage ich zu Corinna. »Beschneidung erinnert an männliche Beschneidung – doch das ist überhaupt nicht vergleichbar. Im Grunde genommen ist mir aber egal, wie man es nennt. Ich will, dass es aufhört. FGM ist nichts anderes als Gewalt an Frauen, eine Menschenrechtsverletzung. Das haben auch die Vereinten Nationen festgestellt.« Corinna nickt, blättert in ihren Unterlagen und zieht ein Blatt Papier mit der UN-Erklärung von 1993 heraus. Nach Schätzung der UNO und der Weltgesundheitsorganisation WHO wurden bisher 150 Millionen Frauen und Mädchen Opfer von Beschneidungen. 150 Millionen! Wahrscheinlich ist die tatsächliche Zahl noch viel, viel höher. Denn Dutzende Länder gelten als »blinde Flecken«: Man weiß schlicht nicht, ob und wie viele Opfer es dort gibt. 150 Millionen Mädchen und Frauen – das sind mehr Menschen, als zusammengerechnet in Deutschland, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Belgien und Dänemark leben. Zu den Opfern gehören sieben bis acht Tage alte Babys, Mädchen in der Pubertät bis hin zu dreißigjährigen Frauen. Jedes Mal, wenn ich über Beschneidungen spreche, muss
ich an meine eigene denken. Dann bin ich wieder fünf Jahre alt und sitze auf einem Felsen in meiner somalischen Heimat. Es ist ganz früh am Morgen. Ich habe Angst. Meine Mutter sitzt hinter mir, hat ihre Füße um mich geschlungen und steckt mir das Stück einer abgebrochenen Wurzel in den Mund, um zu verhindern, dass ich mir vor Schmerz die Zunge abbeiße. »Waris«, sagt sie, »du weißt, dass ich dich nicht halten kann. Ich bin hier ganz allein mit dir. Also sei brav, meine Kleine. Sei tapfer, um meinetwillen, dann hast du es bald hinter dir.« Ich sehe die Fratze der alten Frau, die strengen Blicke aus ihren toten Augen, die alte Tasche aus Teppichstoff, ihre langen Finger, mit denen sie die zerbrochene Rasierklinge aus der Tasche herausnimmt, das eingetrocknete Blut auf der Klinge. Meine Mutter verbindet mir die Augen. Dann spüre ich, wie mein Fleisch, meine Geschlechtsteile weggeschnitten werden. Dieses Gefühl kann ich bis heute nicht richtig beschreiben. Für diesen Schmerz gibt es keine angemessenen Worte. Ich höre das Geräusch der stumpfen Klinge, die wieder und wieder in meine Haut fährt. Ich erinnere mich an das Zittern meiner Beine, an das viele Blut und daran, wie ich vergeblich versuche, ruhig sitzen zu bleiben. Ich schicke Stoßgebete zum Himmel. Schließlich werde ich ohnmächtig. Als ich wieder aufwache, ist mein erster Gedanken, nun habe ich es wenigstens hinter mir. Die Augenbinde ist weggerutscht. Ganz deutlich sehe ich die Alte, diese Schlächterin, und den Haufen Akaziendornen, der neben ihr liegt. Der Schmerz ist unsäglich, als sie beginnt, mit den Dornen Löcher in meine Haut zu stechen. Dann fädelt sie den weißen Zwirn durch die Löcher, um mich zuzunähen. Meine Beine werden taub. Dieser Schmerz macht mich wahnsinnig. Ich habe nur einen Gedanken: Ich möchte sterben.
Ich sehe das Gesicht meiner Mutter vor mir, als wenn es gestern gewesen wäre. Sie ist fest davon überzeugt, das Beste für mich zu tun. Das einzig Richtige. Ich weiß nicht, wie oft ich meine Geschichte schon erzählt habe. Jedes Mal kommt es mir so vor, als würde ich über jemand anderen sprechen. Als wäre die kleine Waris ein anderer Mensch. »Vielleicht wollen Sie doch noch etwas trinken?«, fragt mich plötzlich ein freundlicher Kellner in klassischem Schwarz-Weiß. Ich schaue dem jungen Mann überrascht ins Gesicht. Schnell bestelle ich einen Orangensaft. Ob er bemerkt hat, durch welches Tal der Erinnerungen ich gerade gegangen bin? Corinna ist völlig vertieft in ihre Unterlagen. Oder sie tut zumindest so. Sie ist sensibel genug, mich jetzt nicht zu fragen, was mit mir los ist. Ein kleines Kind, das am Nebentisch sitzt, schaut mir direkt in die Augen und lacht. Schnell nehme ich eine weitere Studie zur Hand: Es geht um die medizinischen Auswirkungen von Beschneidung. Ich muss sie nicht lesen, ich kenne sie – die Schmerzen bei der Menstruation, die Infektionsgefahren, die Angst vor Berührung. Ich erinnere mich an eine alte Redensart in meiner Heimat Somalia: »Liebe tut dreimal weh«, heißt es, »bei der Beschneidung, bei der Vereinigung mit dem Mann und bei der Geburt der Kinder.« Verstümmelte Frauen werden nach der Hochzeit ein Stück weit und vor Geburten meist ganz aufgeschnitten. »Das vielleicht Allerschlimmste für uns Frauen steht hier aber nicht«, sage ich zu Corinna. »Dass es nämlich dieses furchtbare, ungeschriebene Gesetz gibt: Du musst schweigen. Du darfst mit niemandem über die Schmerzen sprechen.« Ich muss eine kurze Pause machen, trinke einen Schluck Saft. Vieles, was hier schwarz auf weiß steht, habe ich am
eigenen Leib erlebt. Ich kenne die Schmerzen, aber die Zeit war gnädig mit meiner Erinnerung. Viele Erlebnisse sind mir zumindest nicht mehr ständig präsent. Doch sie lassen sich leider jederzeit wieder abrufen, so, als wären sie niemals weg gewesen. »Hast du irgendeine Studie, Daten, Analysen über FGM in Europa gefunden?«, frage ich Corinna. Sie fischt einen Zettel aus dem Ordner und deutet auf die hingekritzelten Zahlen. Frankreich 70000 steht da, Großbritannien 80000, Italien 35000. Wie? Was sind das für Zahlen? Die Namen einiger afrikanischer und arabischer Staaten sind aufgelistet, des Weiteren irgendwelche Prozentangaben. Und darunter, doppelt unterstrichen, mit rotem Filzstift geschrieben, diese Zahl: 500000! Ungläubig schüttle ich den Kopf und frage nach: »Was bedeutet diese Zahl? 500 000 was? Etwa betroffene Frauen? Hier in Europa? Das kann doch nicht sein.« Corinna nickt. Als sie ansetzt, mir zu antworten, unterbreche ich sie. »Warte«, sage ich zu ihr. Ich bin zutiefst schockiert. Dass wir von einer halben Million Frauen sprechen, die in Europa von FGM betroffen sind, damit habe ich nicht gerechnet. »Wie kommst du darauf? Kannst du die Zahl belegen?« Laut Corinna gibt es in manchen europäischen Staaten genaue Statistiken darüber, wie viele Einwanderinnen aus Ländern kommen, in denen FGM praktiziert wird. Von der Weltgesundheitsorganisation weiß man den Prozentsatz der Frauen, die in diesen Herkunftsländern verstümmelt werden – so kommt man auf die Zahl der beschnittenen Frauen. »Aber diese Zahlen gibt es nicht für jedes Land«, sagt Corinna. »Und viele Afrikanerinnen, Araberinnen und Asiatinnen haben keine Papiere und tauchen in den Statistiken nicht
auf.« Ich schaue sie fragend an. Sie schluckt: »Das heißt: Eine halbe Million ist die Mindestzahl.« Ich muss tief durchatmen. Um mich herum verschwimmt alles, mein Kreislauf bricht für einen Moment zusammen. 500000 betroffene Mädchen und Frauen in Europa. 500 000, die wieder Töchter haben, die umso mehr auf ihren Traditionen bestehen werden, als sie hier in Europa nicht gut aufgenommen werden. Eine halbe Million Opfer hier vor unserer Haustür, und wahrscheinlich kommen jeden Tag neue dazu. Und niemand weiß es, niemand kümmert sich darum. »Corinna«, sage ich schließlich. »Ich will das genauer wissen. Wer sind diese Frauen? Wie leben sie hier in Europa? Gibt es Gesetze, Vorsorgeuntersuchungen, Hilfestellungen? Wie wird mit ihren Töchtern umgegangen und wer arbeitet zu diesem Thema in Europa?« Wieder muss ich an die Geschichte in Cardiff denken, an das Mädchen in dem Hotelzimmer. Ein Mädchen, das sich von den seelischen und körperlichen Verletzungen dieses Tages nie erholen wird. »500 000 Frauen sind 500 000 potenzielle Mütter. Wir müssen diese Frauen erreichen, sie unterstützen!« Ich klappe den Ordner zu und fasse einen Entschluss: Vom heutigen Tag an gehört mein Leben dem Kampf gegen Genitalverstümmelung in Europa. Bis zu dem Tag, an dem jedes Kind hier sicher ist. Bis zu dem Tag, an dem allen bewusst ist: FGM ist nicht Kultur. FGM ist Folter. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, auf welch lange und beschwerliche Reise ich mich begeben würde.
* Als ich mich von Corinna verabschiede, sagt sie zu mir: »Schau doch mal ins Internet, in eines der Diskussionsforen. Das sind die Seiten, auf denen jeder anonym schreiben kann, was er will. Du wirst staunen, wie offen hier über FGM geredet wird.« »Corinna, du weißt doch, dass ich keinen PC zu Hause habe. Außerdem kenne ich mich nicht so gut mit dem Internet aus. Natürlich interessiert mich das sehr. Treffen wir uns doch morgen im Büro! Dann kannst du mir auch dabei helfen, die richtigen Seiten zu finden«, bitte ich sie. Tags darauf sitzen wir in meiner Foundation gemeinsam vor dem Computer. Wenn ich hier aus dem Fenster schaue, habe ich einen wunderbaren Blick über Wien. Ich kann die Donau sehen und die Berge im Hintergrund. Alles wirkt sehr harmonisch und friedlich. Der Gegensatz könnte nicht größer sein zu der Welt, in die ich nun abtauche. Corinna tippt die erste Internet-Adresse ein. Eine Seite mit einem violetten Titelkopf öffnet sich. Mehrere Forumseinträge zum Thema sind hier aufgeführt. Ich klicke den ersten Artikel an – und zucke zusammen: Eine offenkundig genital verstümmelte Frau schildert detailliert, wie sie unter unglaublichen Schmerzen ihr Baby zur Welt brachte, weil sich ihre Vagina aufgrund der Verletzung nicht ausreichend dehnen konnte. »Ich wäre beinahe gestorben«, schreibt sie. Ich bin wie gebannt, kann meine Augen von diesem Text nicht lösen. Selten in meinem Leben hat sich mir jemand so direkt über FGM mitgeteilt wie hier und jetzt. Ich klicke weiter – und weiter.
Medyna: Ich wurde mit zwölf Jahren verstümmelt und bin jetzt neunzehn, und ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Seitdem habe ich keine Lust mehr zu leben. Ich habe mehrere Selbstmordversuche hinter mir und ich ertrage es nicht, dass ein Typ mich berührt. Ich habe mir geschworen, nie sexuelle Beziehungen zu haben, aus Scham. Bitte helft mir – es ist nicht einfach, davon zu sprechen, es ist hier das erste Mal, dass ich davon spreche. Mya: Ich bin Malierin mit französischer Staatsbürgerschaft. Ich bin mit dreizehn nach Mali gekommen und wurde dort verstümmelt. Marissam: Wenn ich mit meinem Freund geschlafen habe, habe ich überhaupt nichts Positives gespürt. Aber weil ich weiß, dass es ihm gefällt, wenn ich sage, »ja, es ist gut so, mach weiter«, habe ich es gesagt – damit wenigstens er etwas davon hat. Es ist hart, überhaupt keine Lust zu verspüren, wenn man mit dem Liebe macht, den man liebt. Es ist sehr, sehr hart!!! Samia: Ich wurde sehr jung verstümmelt, ich erinnere mich nicht daran. Ich habe sehr darunter gelitten, weil ich es nicht verstanden habe. Als junge Frau hatte ich Beziehungen, aber ohne Lust. Maia: Ich weiß fast gar nichts über Genitalverstümmelung. Ich habe es durchgemacht, als ich sehr jung war, ich erinnere
mich an gar nichts mehr. Ich habe es eines Tages von meiner Mutter erfahren. Man hat mir auch gesagt, dass ich keinen Spaß daran haben würde, mit einem Jungen zu schlafen. Das hat mir Angst gemacht. Ich hatte große Probleme mit den Typen, denn ich wollte nie mit einem ins Bett, weil ich dachte, das geht mit mir nicht. Ich verstehe Leute nicht, die für Genitalverstümmelung sind. Sie bringen mich in Rage. Ich habe nie darum gebeten. Wer hat das Recht, mir etwas zu nehmen, was mir gehört? Die Schmerzenskinder – hier sprechen sie offen. In der Anonymität des Web trauen sie sich, von ihrem Schicksal zu erzählen. Hier tauschen sie sich mit anderen Betroffenen aus, hier holen sie sich Rat – hier fassen viele zum ersten Mal ihr Leid in Worte. Eine Stunde lang habe ich Dutzende solcher Einträge gelesen. Einige gehen mir ganz besonders zu Herzen: Sie stammen von Mädchen, die offenbar außerhalb der Anonymität des Internets niemanden haben, mit dem sie sprechen können. Warum wird nirgendwo sonst so offen über diesen Albtraum gesprochen? Diese Frauen brauchen dringend Unterstützung. Solche Probleme kann man alleine nicht lösen, denke ich mir. Ich rufe weitere Texte auf und stoße durch Zufall auf »Kadi«. Sie scheint sich häufig in den Chatroom einzuklicken, manchmal sogar täglich. Ich greife mir wahllos einen ihrer Einträge heraus und bin sofort gefesselt: Bitte helft mir! Ich wurde beschnitten, als ich vier Jahre alt war. Meine Eltern sind dafür mit mir in mein Heimatland gereist. Ich habe nicht die geringste Lust auf eine Beziehung. Beschnittene Frauen, bitte erklärt mir, was ihr wirklich spürt? Stimmt es, was die Ärzte erzählen? Danke für alle, die mir
weiterhelfen. Ich bin wirklich verzweifelt. Irgendetwas fasziniert mich an ihr. Ihre nüchterne Art vielleicht oder die Unsicherheit, die sie im Umgang mit ihrem Körper, ihrer Sexualität offenbart – das, was sie umtreibt, erinnert mich jedenfalls sehr an mein eigenes Leben. Deshalb entschließe ich mich ganz spontan, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Liebe Kadi, schreibe ich ihr, ich habe deine Einträge im Forum gelesen und dein Schicksal hat mich sehr berührt. Du musst wissen: Du bist nicht allein mit deinen Problemen. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, schreibe mir. Dann habe ich fürs Erste genug und schalte den Computer ab. Ein paar Tage später antwortet Kadi. Von nun an tauschen wir uns regelmäßig aus, in der ersten Zeit besonders intensiv. Kadi schildert mir ihr Leben und ich berichte ihr von meinen noch vagen Plänen im Kampf gegen FGM in Europa. Ich wurde vor zwanzig Jahren in Paris geboren und wohne mit einer meiner Schwestern im 14. Bezirk, schreibt sie. Meine Eltern sind aus Mali, genauer aus der Ethnie Bambara. Mein Vater ist polygam, er hatte drei Frauen und insgesamt 22 Kinder. Meine Mutter ist vor sechs Jahren an den Folgen eines ärztlichen Kunstfehlers gestorben, der bei meiner Geburt gemacht wurde. Erst vor kurzem habe ich davon erfahren, und es hat mich tief erschüttert. Ich bin mir sicher, dass dies nicht passiert wäre, wenn meine Mutter nicht verstümmelt worden wäre. Ich respektiere die Polygamie meines Vaters. Für mich
war es nie schockierend, drei Mütter zu haben, es war eher normal. Fast alle Familien in Mali sind polygam. Meine Cousine ist 27 Jahre alt und lebt seit zwei Jahren in Frankreich. Ihr Mann hat nur eine Frau, und sie beschwert sich darüber – ich verstehe sie wirklich nicht. Sie sagt: Wenn ich sterbe, dann ist niemand mehr da für meinen Mann ... Mein Vater hat dreizehn Töchter. Elf davon hat er beschneiden lassen. Die zwei Ältesten sind in Mali geboren, also hatte er keine Probleme. Die Dritte ist in Frankreich geboren und ist hier verstümmelt worden, vor dem Verbot, das seit 1983 gilt. Wo der Eingriff gemacht wurde und wer ihn gemacht hat, kann ich nicht sagen. Bei mir ist es auf einer Reise mit meiner Mutter nach Mali passiert, in einem Busch, weit weg vom Dorf meines Vaters. Ich kann mich erinnern, dass man mir sehr wehgetan hat. Aber meine Erinnerungen waren verschwommen, und ich wusste nicht, worauf sie sich bezogen – bis ich Bilder von einem anderen Fall gesehen und eine Erklärung dazu gelesen habe. Da habe ich alles verstanden, und ich war sehr schockiert. Ich muss damals fünf Jahre alt gewesen sein. Später hat mir eine Cousine erzählt, dass ich fast daran gestorben wäre. Ich kann mich erinnern, dass das Blut rann und es gar nicht mehr aufhörte. Nach unserer Rückkehr nach Frankreich hat die Beschneiderin ihre Arbeit verloren, weil ihr niemand mehr seine Tochter >anvertrauen< wollte. Sie hatte auch einen Finger zu wenig. Ich erinnere mich, dass mich Erwachsene festhielten, an beiden Armen und Beinen. Ich erinnere mich auch, dass ich mit aller Kraft um mich geschlagen und laut geschrien habe. Ich erinnere mich auch, dass man mir ein seltsames Stück
Stoff um die Taille gebunden hat, das mir als Slip diente, und ich erinnere mich genau, wie ich das weiße Fleisch zwischen meinen Beinen gesehen habe. Ich war danach sehr schockiert und ich konnte nicht gehen – und ich habe so lange geweint, bis ich keine Tränen mehr hatte. ( ...) Wenn ich daran denke, was man mir als kleines Mädchen angetan hat, ohne Betäubung, zittere ich immer noch. Ich hatte danach sehr viele Albträume. Ich hatte Angst, dass sie meine zwei kleinen Schwestern attackieren würden, die noch nicht angerührt worden waren. Kein einziger Tag vergeht, ohne dass ich daran denken muss. Wenn ich Klassenkameradinnen sehe oder einfach nur irgendwelche Frauen auf der Straße oder in der U-Bahn, dann denke ich daran, dass man diesen Frauen nichts weggenommen hat, und ich frage mich, warum hat man gerade mir so etwas angetan. Aber, so ist vielleicht das Leben! Ich habe sogar schon daran gedacht, zu einem Psychologen zu gehen, weil ich niemanden habe, dem ich mich anvertrauen kann – niemanden in meiner Familie und niemanden in meinem Umfeld. (...) FGM, das ist ein totales Tabuthema. Mein Vater hat darüber mit uns nie gesprochen, und ich habe ihn auch nie mit anderen darüber sprechen hören. Die erste von meinen Stiefmüttern ist dafür, und die zweite ist dagegen. Die zweite hat sogar erfolgreich ihre jüngere Schwester eingeschüchtert, die um jeden Preis ihre zweite Tochter beschneiden lassen wollte, trotz der Drohungen der Polizei, der das Gemetzel an der ersten Tochter nicht entgangen war. (...) Heute fühle ich mich behindert. In deinem Buch »Wüstenblume« habe ich mich wiedererkannt, Waris. Sehr lange Zeit hatte ich große Angst vor Jungen, und ich habe mir geschworen, nie eine sexuelle Beziehung einzugehen. Ich
habe bisher in meinem Leben nur einen Freund gehabt. Mit ihm bin ich immer noch zusammen. Seit einem Jahr und drei Monaten kennen wir uns nun schon, aber es passiert nichts zwischen uns. Ich habe ihm gesagt, dass ich lieber warten will, bis wir verheiratet sind, weil es mir meine Religion, ich bin muslimisch, befiehlt. Aber das ist nicht der wahre Grund. Er ist zwar auch aus einer Mali-Familie, aber er ahnt nichts, und ich weiß immer noch nicht, wie ich es ihm sagen soll. Eigentlich wollte ich es ihm überhaupt nie sagen, aber es wird doch nötig sein, dass ich das eines Tages mit einem Mann bespreche. Im Moment steht es nicht an. Es ist wahr, dass die Männer, besonders die, die in Frankreich geboren sind, sehr wenig darüber wissen, was ihren Schwestern in der Heimat angetan wird. Ich glaube nicht, dass meine Brüder auch nur eine Ahnung davon haben. Niemand spricht zu Hause darüber. Alles, was ich gerade erzählt habe, habe ich noch nie jemandem gesagt, mein ganzes Leben lang nicht. Es hat mir gut getan, darüber zu reden.« In den vergangenen Monaten habe ich die Mails von Kadi immer wieder gelesen. Sie gaben mir die Kraft, weiterzukämpfen, gerade dann, wenn mir die Arbeit über den Kopf wuchs. Kadi wurde so etwas wie mein Leuchtfeuer. Ihr Schicksal war mir Warnung und Auftrag zugleich. Durch sie erkannte ich, dass beschnittene Frauen in Europa noch mit einem weiteren Problem zu kämpfen haben: nämlich damit, dass sie in zwei Welten leben, in der afrikanischen Welt ihrer Eltern und in der europäischen Welt, in die sie geboren wurden und in der sie aufgewachsen sind. In meiner Heimat ist es leider normal, beschnitten zu sein. Die Frauen kennen es nicht anders und alle haben deswegen
große Probleme – aber: Sie kämpfen alle mit denselben Problemen. Die jungen Frauen, die hier in Europa aufwachsen, spüren, dass sie anders sind. Das ist eine schwere Bürde: Sie können sich niemandem mitteilen, und wenn sie es tun, bringen sie ihre Familie und ihre Kultur in Misskredit. Ich habe schon oft in europäischen Schulen Vorträge gehalten. Die Schülerinnen und Schüler reagierten immer mit großem Entsetzen. Was rufen solche Reaktionen bei denen hervor, die aus diesen Kulturkreisen kommen? Wie müssen sie sich fühlen, wenn von »barbarischen Sitten« und »unfassbarer Folter« die Rede ist? Es trifft doch auf ihre Familien zu. Kein Wunder, dass die meisten sich nicht öffnen wollen und mit ihren Problemen lieber alleine bleiben.
*
Mit ein paar Freundinnen habe ich ein kleines Rechercheteam gebildet: Corinna ist dabei, außerdem noch Lea und Julia, zwei junge Journalistinnen. Alle drei kennen sich sehr gut in Menschenrechtsfragen aus. Uns ist inzwischen auch klar, dass Genitalverstümmelung tatsächlich ein großes Problem in Europa ist. In jedem europäischen Land gibt es Tausende Opfer – und Tausende Menschen, die wissen, wo und von wem die Eingriffe gemacht werden. Aber niemand außerhalb dieser Gruppe der »Bescheidwisser« erfährt etwas darüber. Das Netz scheint ziemlich dicht zu sein. Ich fasse es nicht! Wir treffen uns zu einer Besprechung in einem winzigen Fischrestaurant am Naschmarkt. Diesen Platz in Wien mag ich besonders gern: Berge von Obst und Gemüse werden hier
feilgeboten, die Händler kommen aus aller Welt, und das Treiben dort erinnert mich ein bisschen an die Märkte in Afrika. Selbst spezielle afrikanische Lebensmittel wie Maniok und Kochbananen kann man hier problemlos kaufen. Als ich das Restaurant betrete, sitzen Julia und Corinna bereits an einem Tisch und diskutieren heftig – vor ihnen aufgetürmt ein Stapel Ordner, Mappen und Papier. »Jetzt wird erst einmal gegessen«, sage ich bestimmend und schiebe den ganzen Packen zur Seite. Nun kommt endlich auch Lea. Sie hat Österreich zum Schwerpunkt ihrer Recherche gemacht. Immerhin ist hier die Gesetzeslage nicht ganz so schwammig wie in vielen anderen europäischen Ländern. Seit 2002 ist sogar eine Passage ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden. FGM gilt als Körperverletzung, die mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe geahndet wird. Dass es dieses Gesetz gibt, ist wiederum einer Undercover-Recherche zu verdanken, mit der das österreichische Nachrichtenmagazin profil 2001 herausfinden wollte, ob es in Österreich Ärzte gibt, die Genitalverstümmelungen vornehmen. »Ich bin der Geschichte nachgegangen und habe mit einigen Beteiligten gesprochen«, erzählt uns Lea. Und das, was sie uns nun berichtet, ist ziemlich erschreckend. Ala (Name geändert) ist in Österreich geboren. Ihr Vater ist Araber, ihre Mutter Österreicherin. Dem Arzt, einem Chirurgen, stellte sie sich als Araberin vor, die plane, einen Ägypter zu heiraten. Sie habe das Problem, nicht mehr Jungfrau zu sein, und wolle sich deshalb auf Wunsch ihres künftigen Ehemanns einer »reinigenden Beschneidung« unterziehen. Der Arzt stimmte dem Eingriff umgehend zu.
Die dafür nötigen Instrumente, Medikamente sowie Verbandsmaterial würde er mitbringen. Das OP-Besteck habe er einem Wiener Krankenhaus abgekauft und auf Flohmärkten erstanden. »Aber keine Angst, das sind keine rostigen Blechteile«, habe er ihr gegenüber geäußert. Er wolle die Operation in einer Privatwohnung durchführen, da dies den Vorteil habe, dass seine Patientin nach dem Eingriff in Ruhe ausschlafen könne. Schließlich sei die Gefahr groß, dass es zu starken Nachblutungen kommt. Er gab an, über keine eigenen Praxisräume zu verfügen, aber jederzeit die Praxis eines Kollegen für siebzig Euro anmieten oder die Räume einer Kollegin nutzen zu können, mit der er bereits gesprochen habe. Die Operation würde er gerne mit einer Videokamera aufzeichnen. »Danach kann ich Sie ja mit dem Auto heimfahren. In so einer Situation ist es besser, nicht die Straßenbahn zu nehmen«, habe er Ala angeboten. Nach mehreren Vorgesprächen wurde schließlich ein Termin für den Eingriff festgelegt. Die Operation sollte in zwei Etappen durchgeführt werden. Das war dann der Zeitpunkt, an dem Ala das Ganze abbrach. Noch mindestens zwanzigmal habe der Arzt in den folgenden Wochen bei ihr angerufen. Er wollte die Operation unbedingt durchführen. Er bot ihr sogar an, dies gratis zu tun, »als Hochzeitsgeschenk«, wie er sagte. Nur die siebzig Euro Miete müsse er von ihr verlangen. Das profil-Team nahm ein paar Wochen später Kontakt mit dem Chirurgen auf und konfrontierte ihn mit den Ergebnissen der Undercover-Recherche. Seine fadenscheinige Ausrede lautete, er hätte den Eingriff nur durchgeführt, wenn er juristisch unbedenklich gewesen wäre. Außerdem habe er Schlimmeres verhindern wollen. »Wäre Ala zu jemand anderem gegangen, hätte es durchaus sein können, dass ihr die gesamte Klitoris weggeschnitten worden wäre. Das wäre
chirurgischer Murks gewesen«, sagte er. »Ich habe nachgeforscht«, schließt Lea mit großer Empörung ihre Ausführungen, »der Arzt praktiziert auch heute noch. Immerhin wurde nach diesem Vorfall das Anti-FGM-Gesetz erlassen. Heute ist es in Österreich auch verboten, Genitalien zu verstümmeln, wenn eine Frau das selbst verlangt.« »Immerhin«, wiederhole ich. »Das klingt ja nicht so schlecht.« »Auf dem Papier sieht es ganz gut aus«, fährt Lea fort. »Aber in der Realität nicht. Bisher fand noch kein einziger Prozess statt. Kein einziger Täter, keine einzige Täterin landete vor Gericht.« »Aber das gibt es doch nicht«, entrüste ich mich. »Doch, doch. Ich gebe dir noch ein anderes Beispiel. Eltern, die ihre Töchter in Afrika beschneiden lassen, gelten nach dem Gesetz als Anstifter. Aber bisher wurde auch noch kein einziger Anstifter angezeigt. Und das, obwohl viele wissen, dass Mädchen auf Heimaturlauben, aber auch bei uns beschnitten werden.« »Aber warum gibt es dann keine Anzeigen?«, frage ich. »Es gibt doch auch Organisationen, die davon wissen müssten!« »Weil es so ist wie in allen anderen Ländern Europas auch«, antwortet Lea. »Ich glaube, die Organisationen haben Angst, ihren Kontakt zur Afrikanischen Gemeinde zu verlieren, wenn sie Täter auffliegen lassen. Denn wer plaudert, gilt sofort als Verräter.« Ich schüttle ungläubig den Kopf und ziehe eine Studie der »African Women's Organisation«, der Organisation afrikanischer Frauen in Wien, aus den Unterlagen. Lea hat auf einer Seite die wichtigsten Ergebnisse dieser repräsenta-
tiven Umfrage unter afrikanischen Migrantinnen und Migranten in Österreich zusammengefasst. Ich bin schockiert: 30,5 Prozent der Befragten lassen ihre Töchter beschneiden. Über drei Viertel tun dies aus Gründen der »Tradition«, fast die Hälfte meint, FGM sei »gut für die Moral der Frau«, und ein Viertel denkt, dass »Frauen dadurch mehr Kontrolle über ihre Sexualität« bekommen würden. Die meisten, die ihre Töchter beschneiden lassen, fahren dazu nach Afrika – aber 11,5 Prozent der Eingriffe werden in Europa gemacht, 1,9 Prozent davon in Österreich und 9,6 Prozent in Deutschland oder Holland. Ich überfliege die Zahlen noch einmal, rechne hoch: »Das bedeutet ja, dass in Europa schon Tausende Genitalverstümmelungen stattgefunden haben«, rufe ich erstaunt aus. Kann das sein? Kann es sein, dass Tausende Mädchen vor unseren Augen einer grausamen Folterung unterworfen wurden – und niemand hat etwas davon mitbekommen? Wo sind die Menschen, die so etwas tun? Sind es Ärzte? Krankenschwestern? Medizinische Laien? Bald darauf fand ich heraus, dass die Antwort auf meine Fragen direkt vor meiner Haustür lag.
*
Laut der Studie der afrikanischen Frauenorganisation leben allein in Österreich 8000 verstümmelte Frauen. Wie geht man hier, wo viele noch nie etwas von FGM gehört haben, mit ihnen um? Wie ist es, wenn sie einen Mann kennen lernen oder wenn sie einen Arzt aufsuchen müssen? Und vor allem: Wie bringt man sie dazu, dass sie ihren Töchtern dieses
Drama ersparen? Langsam wird mir eines immer klarer: Es geht gar nicht nur darum, herauszufinden, wer in Europa die Eingriffe vornimmt. Es ist mindestens ebenso wichtig, sich um die Frauen zu kümmern, die bereits beschnitten waren, als sie nach Österreich kamen. In meiner Heimat ist es leider »normal«, beschnitten zu sein. Aber hier? Hier wendet man sich angeekelt ab, wenn man davon hört. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Das Schlimmste für mich ist: Egal, wo ich hinkomme, jeder weiß, was mir widerfahren ist. Ich werde nicht mehr als Frau wahrgenommen, ich bin überall nur die »Beschnittene«. Als ich mein erstes Buch schrieb, entblößte ich mich, indem ich öffentlich sagte: »Schaut her, das ist mir passiert. Menschen haben mir Gewalt angetan, als ich ein Kind war. Sie haben meine Geschlechtsorgane auf grausame Art und Weise verstümmelt.« Seither will jeder, der mich trifft, von mir wissen, wie ich da unten ausschaue und ob ich Sex haben kann und wie. Die Menschen, denen ich begegne, müssen mir nichts sagen, ich spüre es an ihren Blicken. Vielleicht ist es sogar schlimmer, wenn sie nichts sagen und nur gaffen. Ich weiß zwar, dass es die meisten gar nicht böse meinen. Viele wollen mir helfen, mir etwas Gutes tun. Aber gut gemeint ist eben oft das genaue Gegenteil von gut. Eines von vielen Beispielen: Vor einem Jahr fand eine Messe in Österreich statt, auf der es auch einen Stand gab, an dem meine Bücher verkauft und Spenden für meine Projekte in Somalia gesammelt wurden. Als ich dorthin kam, fiel mir als Allererstes ein großes, gelbes Plakat auf, auf dem ein Foto von einer Beschneidungsszene zu sehen war. Noch mehr schockierte mich allerdings, dass unter diesem Foto in großen Buchstaben stand: Treffen Sie das Beschneidungsopfer Waris Dirie. Wer hat das Recht, so mit mir umzugehen? Stellen Sie
sich vor, eine Frau würde Geld für missbrauchte Kinder sammeln und auf einem Plakat stünde: »Treffen Sie Missbrauchsopfer Marta Mustermann?« Würden Sie die Frau bei jedem Interview zuallererst fragen, wie es war, als sie mit sieben Jahren von ihrem Onkel missbraucht wurde? Nein, natürlich nicht. Es gehört sich doch, eine gewisse Intimsphäre zu respektieren. Uns Opfern von FGM gegenüber werden solche Grenzen nicht eingehalten. Man zeigt mit dem Finger auf uns, bezeichnet unsere Gesellschaften als barbarisch und zurückgeblieben und merkt dabei gar nicht, wie barbarisch der Umgang mit uns hier in Europa ist. An all das muss ich denken, als ich mich mit Ishraga Hamid unterhalte. Wir treffen uns in ihrer Wiener Wohnung. Sie begrüßt mich in einem bunten, afrikanischen Kleid und bittet mich, im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Ishraga heißt mit vollem Namen Ishraga Hamid Mustafa, trägt einen Magister-Titel und kommt aus dem Sudan. Die heute 43-Jährige hat in Khartoum, dann in Österreich Publizistik studiert und arbeitet als Lektorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Zwischen 1997 und 2004 hat sie mehrere wissenschaftliche Studien über die Lebensbedingungen afrikanischer, schwarzer, muslimischer und arabischer Frauen in Wien durchgeführt. Sie weiß, was es heißt, als afrikanische Frau in Europa zu leben. Die angenehme, mädchenhafte Stimme dieser zarten und freundlichen Frau beeindruckt mich. Trotz der sanften Ausstrahlung wirkt sie während des Gesprächs energisch und resolut. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen lassen wenig Raum für Illusionen. Nur drei Prozent der befragten Afrikanerinnen arbeiten in Jobs, die ihrer Qualifikation entsprechen, obwohl achtzig Prozent einen Mittelschulab-
schluss und sogar 37 Prozent einen Hochschulabschluss haben. »Ich selbst habe mir früher mein Geld als Putzfrau verdient«, sagt Ishraga Hamid. »Das trägt sicher nicht gerade dazu bei, sich hier zu Hause zu fühlen«, sage ich. Sie nickt. »Achtzig Prozent der Frauen fühlen sich in Wien nicht zu Hause, und alle geben an, wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft und ihrem Geschlecht diskriminiert zu werden. Die Vorstellungen, die Europäer von Afrikanerinnen haben, sind häufig stereotyp, sexistisch und rassistisch. Die Aussage eines Österreichers bei einer Umfrage 2001 bringt es ganz gut auf den Punkt: >Europäerinnen sind gut im Büro, Afrikanerinnen gut im Bett.Ist das Mädchen gemacht?< Mal ist es eben ein Park, mal die Straße in der Nachbarschaft, mal ein Einkaufszentrum, wo sie
angesprochen wurde, oder sie traf die Beschneiderin im Bus. Die Variationsbreite ist nicht besonders groß. Die betreffende Mutter habe die Frage verneint, daraufhin habe die Frau zu ihr gesagt: >Kein Problem. Ich mache das schnell, sauber und vertraulich. Rufen Sie mich an, wenn Sie meine Hilfe brauchen.< Ein paar Tage später habe diese Frau dann die Familie zu Hause besucht, sei mit der Tochter im Badezimmer verschwunden und nach einer Viertel- oder halben Stunde wieder herausgekommen mit der Bemerkung: >Alles gemacht.< Den Namen dieser Frau kenne sie nicht, sie wisse auch nicht, woher sie komme, sie wisse nur, dass sie Afrikanerin sei. Auf meine Frage, ob sie während der Verstümmelung im Raum nebenan ihr Kind habe schreien hören, antwortet sie natürlich mit Nein. Und auf die Frage, ob das Kind geblutet habe, antwortet sie dann etwa so: >Na ja, es kamen ein paar Tröpfchen Blut, aber die habe ich mit einem Lappen abgewischt, und das war es dann.< Es werden immer die gleichen Lügengeschichten erzählt.« »Aber ein Richter muss doch merken, dass hier gelogen wird«, werfe ich ein. »Nicht, wenn er sich nicht in der Materie auskennt. Ein Richter, der nicht Bescheid weiß, ist gar nicht in der Lage, die richtigen Fragen zu stellen. Die Beamten wissen nicht, dass nicht jede Afrikanerin Verstümmelungen machen kann. Sie wissen nicht, dass Beschneiderin ein richtiger Beruf ist, dass die Frauen einer bestimmten Kaste angehören und ihre Namen in den Kreisen meist allen bekannt sind.« »Aber die Geschichte mit dem Blut«, sage ich, »die ist doch grotesk.« »Natürlich fließt viel das Blut«, antwortet Linda. »Es ist absolut lächerlich, zu behaupten, das Mädchen habe nicht geblutet. Genitalien sind bestens durchblutete Körperteile!«
Linda holt tief Luft. »Das Kind hat nicht geschrien? ... Lächerlich. Das sind ganz besondere Schreie! Sie gehen einem durch Mark und Bein. Wenn man die einmal gehört hat, vergisst man sie nicht wieder.« Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. »Nach den ersten Prozessen sind die Leute dazu übergegangen, ihre Kinder nach Afrika zu schicken und die Verstümmelungen in ihrem Heimatdorf machen zu lassen. Aber selbst das nützt den Eltern nichts: Wer in Frankreich geboren ist, ist Franzose und damit vom französischen Recht geschützt – im Inland wie im Ausland. Wenn ein Kind in den Ferien in Afrika beschnitten wird, machen sich die Eltern auch strafbar.« Als sie solche Fälle vor Gericht brachte, sagten die Eltern aus, die Verstümmelung sei ohne ihr Wissen geschehen. »Regelmäßig wird die Großmutter beschuldigt: Sie habe die Verstümmelung ohne das Einverständnis der Eltern veranlasst«, erzählt Linda. »Wenn ich dann nach der Oma frage, heißt es, die sei kürzlich verstorben. Es ist ganz schön gefährlich für Großmütter, Besuch aus Frankreich zu bekommen – viele sterben kurz danach.« Linda lacht. Natürlich gibt es durchaus Möglichkeiten, sein Kind nach Afrika zu schicken und dafür zu sorgen, dass es unversehrt wieder nach Hause kommt. »Wer wirklich sichergehen will, geht vorher zu einem Mutter-Kind-Zentrum oder zu einer anderen Anlaufstelle, lässt sein Mädchen untersuchen und sich ein Zertifikat ausstellen, das amtlich festhält, dass es intakt ist«, erklärt Linda. »Darüber hinaus lässt man sich bestätigen, dass die Tochter auch nach ihrer Rückkehr aus Afrika kontrolliert wird. Auf den Papieren ist dann ein ganzer Haufen offizieller Stempel. Wenn beispielsweise die Mutter nun mit ihrer Tochter nach Afrika fährt, kann sie im Dorf die Papiere vorzeigen und sagen: >Ich werde bestraft, wenn ihr
meine Tochter beschneidet.< Und wenn vielleicht der Vater noch einen Brief mitgibt, in dem steht: >Wenn ihr meine Tochter verstümmelt, wandere ich ins GefängnisNatürlich respektieren wir deine Kultur, und wir wissen ja, du willst deiner Tochter nur etwas Gutes tunDas möchte ich meinem Kind nicht antun.< Sobald sich eine Frau erinnert, ist die Sache gewonnen. Von diesem Moment an kann man fast sicher sein, dass sie ihre Tochter nicht verstümmeln lassen wird. Wenn sich die betreffende Frau allerdings nicht daran erinnert, mache ich mir Sorgen. Dann frage ich sie, ob sie ihre Tochter auch beschneiden lassen will. Ich habe seit fünfzehn Jahren keine Frau mehr getroffen, die auf diese Frage mit >ja< geantwortet hätte. Sie sagen alle sofort: >Nein, ich weiß sehr genau, dass es in Frankreich verboten ist.< Sie wissen es alle.« Emanuelle schenkt mir eine Tasse Tee nach. Sie ist eine zierliche und zurückhaltende Frau, aber auch eine Kämpfernatur, die ganz klare Vorstellungen hat. Sie erzählt mir von einer Afrikanerin, die letztes Jahr zu ihr gekommen sei, weil ihr Mann die gemeinsame Tochter zur Beschneidung nach Afrika schicken wollte. »Da haben wir uns an den Staatsanwalt gewandt, der den Vater zu sich bestellt hat: >Monsieur, wir haben hier ein medizinisches Zertifikat, das bestätigt, dass Ihre Tochter ganz normale, heile Genitalien hat. Wenn sie verstümmelt aus Afrika zurückkommen sollte, wandern Sie ins Gefängnis.< Sie ist heil zurückgekommen.«
Es sind diese kleinen Erfolge, für die es sich lohnt, zu kämpfen. »Es gab zum Beispiel ein kleines Mädchen, das zu seiner Lehrerin sagte: >Ich werde in den Ferien in das Land fahren, aus dem meine Mutter kommt, und ich werde ein paar Tage früher aus der Schule in die Ferien gehen, weil ich zu einem Fest eingeladen bin, das nur für Mädchen ist!«Nein, nein, wir werden natürlich keine Verstümmelung machen!< Trotzdem haben wir das Mädchen untersucht und angekündigt, dass wir sie nach ihrer Rückkehr erneut untersuchen werden – und voilá, es ist unversehrt nach Hause gekommen.« »Es gibt also doch Möglichkeiten, die Kinder zu schützen«, rufe ich aus. »Mir wurde bisher immer das Gegenteil gesagt. Vor allem, dass man im Ausland keinen Einfluss darauf hätte.« »Unsinn«, erwidert Emanuelle. »Erstens: Wenn ein Jugendrichter den Eindruck hat, er kann ein Kind nicht ausreichend schützen, dann kann er ein Ausreiseverbot verhängen.« »Und zweitens?« »Zweitens gibt es in einigen afrikanischen Ländern mittlerweile Gesetze gegen FGM, zum Beispiel an der Elfenbeinküste. Es ist schon vorgekommen, dass der Staatsanwalt von Seine-Saint-Denis den Staatsanwalt an der Elfenbeinküste angerufen hat. Dann haben die Großeltern dort Besuch vom Staatsanwalt bekommen, der sagte: >Sie wissen, dass man in Frankreich das Mädchen heil zurückerwartet – und wir erwarten das auch.< Und so war es dann auch. Das
sind zwar noch Ausnahmen – aber es gibt durchaus Möglichkeiten einzugreifen.« Die Zeit vergeht wie im Flug. Inzwischen ist es schon spät am Nachmittag. Wir sind nicht mehr allein. Ein junger Mann hat sich zu uns gesellt. Er sieht aus wie ein afrikanischer Popstar, trägt Jeans und T-Shirt und hat die schulterlangen Haare zu Zöpfen geflochten. Bafing Kul ist Musiker. Er wirkt sensibel, fast schüchtern und verletzlich. Erst wenn er von seiner Arbeit spricht, blüht er auf, dann fangen seine Augen an zu leuchten. Bafing ist 28 Jahre alt, kommt aus Mali und setzte sich in seinen Liedern schon immer für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte ein. Sie handeln von versklavten Kindern, von Kindersoldaten oder von Armut. Als er von dem grausamen Ritual der Genitalverstümmelung erfuhr, schrieb er den Reggae-Song »Exciser, c'est pas bon« – »Mädchen zu beschneiden, ist nicht gut«. Zunächst lief der Song in ganz Mali ein, zwei Wochen lang ständig im Radio. Dann plötzlich gar nicht mehr. Bafing gab sich nicht geschlagen, er überzeugte einige prominente Musiker aus Mali, mit ihm gemeinsam dieses Lied noch einmal neu einzuspielen. Und wieder – Funkstille bei den Radiosendern. »In Mali sind achtzig Prozent der Frauen verstümmelt«, sagt Bafing. »Da gibt es Prediger, die verbreiten, dass nach dem Islam eine Frau, die nicht beschnitten ist, unrein sei. Das stimmt nicht. Das steht nirgendwo so im Koran. Das ist gelogen.« Als Bafing eine CD von seinen Songs aufnehmen wollte, sagte man es ihm ins Gesicht: CD ja, aber dieser Song muss weg, über alles kannst du singen, aber nicht über verstümmelte Mädchen. Das macht man nicht, darüber redet man nicht. Der Druck wuchs. Er bekam Morddrohungen, wurde
auf der Straße angepöbelt. Er musste fliehen und ging nach Frankreich. Dort endlich konnte er seinen Song aufnehmen. »Genitalverstümmelung ist für mich ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit der Frau. Es ist purer Egoismus.« »Kannst du mir das Lied vorsingen?«, frage ich ihn. Er nimmt seine Gitarre und legt los. Seine Stimme ist einprägsam, der Rhythmus reißt sofort mit. Ich setze mich neben ihn, singe den Refrain. Es ist ein schöner Moment. Das ist ein Weg, um an das Herz der Menschen zu kommen, denke ich. Musik. Als ich mich verabschiede, sagt Emanuelle: »Schau dir Seine-Saint-Dennis doch einmal genauer an. Es reicht nicht, das Problem nur mit dem Kopf begreifen zu wollen. Man muss es auch fühlen, man muss sehen, wie es so weit kommen konnte.« Ich nicke. »Gleich morgen«, verspreche ich, »fahre ich dorthin.« Es wird für mich ein Besuch in einer anderen Welt. Halb vertraut, halb fremd. Ein Planet für sich.
*
Die meisten Afrikaner, die sich in Frankreich niedergelassen haben, leben in Seine-Saint-Denis. Vororte wie dieser sind inzwischen Bestandteil fast jeder europäischen Großstadt. Ob London, Berlin oder Stockholm – Metropolen haben ihre Mini-Ghettos. Hier wohnen fast ausschließlich Immigranten. Meist sind sie ohne Arbeit, ohne Schulabschluss, ohne Zukunft – ein explosiver Mix. Seine-Saint-Denis liegt im Norden von Paris, die Métro-
Linie 5 fährt direkt zum zentralen Knotenpunkt, zur Station »Bobigny Pablo Picasso«. Von hier aus gelangt man per Bus weiter stadtauswärts in die vielen Wohnviertel des Départements. Ein großes Einkaufszentrum befindet sich direkt neben der Station, vis-á-vis erhebt sich die Präfektur, ein hässlicher Bau, der aus zwei riesigen schwarzen Klötzen mit verdunkelten Fenstern besteht. Davor flattert eine einsame blau-weiß-rote Flagge im nasskalten Herbst-wind. Der große, grob gepflasterte Platz ist menschenleer. Rundherum ragen Hochhäuser in den Himmel, die zehn, fünfzehn Stockwerke hoch sind, manche in Beige-Braun gehalten, andere in schmutzigem Weiß-Grau. Auf der Suche nach der richtigen Busverbindung stoße ich auf eine Menschentraube. Beamte der Verkehrsbetriebe haben alle drei Türen eines Busses blockiert und kontrollieren jeden, der aussteigt. Es sind fast ausschließlich Afrikaner. Viele haben keine Tickets und müssen Strafe zahlen. Gleich hinter den Kontrolleuren stehen Polizisten, die jeden Einzelnen noch einmal visitieren: Es geht um Aufenthaltsbewilligungen, erklärt mir einer der Polizisten. Immer wieder wird jemand herausgefischt und auf das Kommissariat mitgenommen. Das ist wohl der häufigste Kontakt, den die Menschen hier haben: die Staatsgewalt. Werden sie heute noch zu ihren Familien zurückkehren können? Oder wird der eine oder andere gleich in Gewahrsam genommen und abgeschoben, weil seine Papiere nicht in Ordnung sind? Ich werde es nicht erfahren und mache mich bedrückt auf die Suche nach einem der Mutter-Kind-Zentren, von denen mir Emanuelle erzählt hat. Leider ist es geschlossen. Die Ärztin, die die Geschäftsräume gerade absperrt, empfiehlt mir eine andere Organisation im Viertel. Fünf Minuten später sitze ich im Bus 234. Unter den
Fahrgästen sind nur wenige Weiße. Die meisten Menschen sind afrikanischer Abstammung: ältere Frauen, Familien, Männer im Anzug, die von der Arbeit kommen, Jugendliche mit viel zu großen Jeans und dicken Silberketten um Hals und Handgelenke. Aber es gibt auch Afrikanerinnen und Afrikaner in traditionellen, farbenprächtigen Gewändern. Ich komme an einen kleinen Platz, der umringt ist von dreistöckigen Wohnblocks aus den siebziger Jahren. Die kleinen Balkone sind vollgestopft mit Fahrrädern, Fußbällen, Holzstühlen und sonstigem Gerümpel; auf manchen hängt frisch gewaschene Wäsche zum Trocknen oder ein Teppich über dem Geländer. Nicht nur die Häuser sind heruntergekommen, auch auf der Straße liegt Müll. Im Erdgeschoss der Gebäude gibt es ein paar Geschäfte, einen Ein-Euro-Laden – daneben befindet sich das Büro einer Selbsthilfegruppe für Migrantinnen. Schon vor der Eingangstür höre ich Kindergeschrei. Es findet gerade ein Sprachkurs statt: Tische und Stühle stehen dicht gedrängt nebeneinander, zehn, vielleicht zwölf schwarze Kinder starren mich an, als ich die Tür öffne. In einem winzigen Büro dahinter sitzt eine kleine schwarze Frau an einem Schreibtisch, auf dem sich Papierberge stapeln, und lächelt mich an. Es ist Eleonore, die das Zentrum leitet. »Ich würde mich gerne mit Ihnen über FGM unterhalten«, sage ich. Sie hat Zeit für mich. Die Organisation hilft ausländischen Frauen, die kein Französisch sprechen oder verstehen, bei der Eingliederung in die französische Gesellschaft. »Wir bieten auch Alphabetisierungskurse an, damit die Frauen in der Lage sind, alltägliche Dinge wie einkaufen allein zu erledigen«, sagt Eleonore. »Wir helfen ihnen beim Schreiben von Bewerbungen und bei der Arbeitssuche, damit die Frauen
unabhängig werden.« »Was machen Sie, damit Mädchen nicht genital verstümmelt werden?«, frage ich sie. »Wir klären auf. Wir gehen in die Schulen, in die Collége-Klassen, um über das Thema zu sprechen. Zwei Stunden lang. Denn die Kinder, die in Frankreich geboren sind, wissen nicht, was FGM ist, selbst wenn sie afrikanischer Herkunft sind. Wir sensibilisieren die Klassen für dieses Thema – nicht nur die afrikanischen Kinder.« Eleonore spricht über jedes Detail – die Kinder hören ihr immer sehr aufmerksam zu. »Es gibt auch jedes Mal einige Mädchen, die schon beschnitten sind. Sie wissen nicht einmal, was eine Klitoris ist, weil sie keine haben.« »Aber für diese Mädchen muss es doch ein riesiger Schock sein, wenn sie plötzlich mit solchen Realitäten konfrontiert werden?« »Natürlich ist es für sie schwierig, zu verstehen, was passiert ist. Zunächst sind sie ziemlich schockiert. Das sieht man ihnen an. Schon über Sexualität zu sprechen, ist eigentlich ein Tabu. Aber dann stellen diese Mädchen trotzdem Fragen.« Ich muss plötzlich an Kadi denken – die junge Frau, die mir per Mail ihre Lebensgeschichte erzählt hat. Sie hatte nie die Möglichkeit, sich mit anderen offen austauschen zu können, geschweige denn die Hilfe von Fachleuten in Anspruch zu nehmen. »Wie stellen Sie fest, wer beschnitten ist?«, frage ich. »Das spürt man. Diese Mädchen ziehen sich zurück, wenn ich über das Thema spreche. Einige reden auch ganz offen darüber. Die, die sich verschließen, muss man dann zum Sprechen ermuntern. Das ist nicht leicht. Wenn man sie fragt, ob sich beschnitten sind, sagen sie: Nein, ich weiß nicht ... – dann fragen wir, woher sie kommen, und ob sie schon einmal
in den Ferien in der Heimat waren. Wenn es ein Land ist, in dem dieses grausame Ritual praktiziert wird, ist die Sache klar.« »Wissen die Eltern, dass Sie in die Klassen gehen?« »Nein. Sie wissen nur, dass es Aufklärungsunterricht gibt. Der gehört zum offiziellen Lehrplan.« Eleonore lächelt. Sie lächelt während des ganzen Gesprächs. Es ist keine falsche Freundlichkeit, die sie ausstrahlt, kein Zynismus, nein, hier sitzt eine Frau, die mit sich im Reinen, natürlich und offen ist. Ganz nebenbei sagt sie plötzlich: »Ich bin übrigens auch beschnitten.« Und lächelt wieder: »Es hilft den Kindern enorm, dass ich selbst betroffen bin. Es ist natürlich weniger schockierend, wenn ich mit ihnen spreche, als wenn es eine Weiße tut. Ich erzähle ihnen, dass ich beschnitten bin und welche Konsequenzen das für mich hatte. Ich erzähle ihnen, dass beispielsweise meine Kinder alle per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen sind. Ich erzähle meine Geschichte, spreche über meine persönlichen Erfahrungen. Dann erzählen die Kinder wiederum ähnliche Dinge: >Ja, meine Mutter hatte auch einen Kaiserschnitt!gemacht< werden«, erklärte Eleonore. Beschneidung steigert den Marktwert – auch im Europa des 21. Jahrhunderts. Wütend wende ich meinen Blick von den Häusern ab. Auf den Grünflächen zwischen diesen hässlichen Wohnblocks hocken Gruppen von Jugendlichen. Mütter mit Kinderwagen gehen spazieren, Kinder kommen von der Schule zurück und Erwachsene von der Arbeit. Laute Musik ist zu hören: Ein paar junge Leute machen Werbung für das Konzert eines afrikanischen Sängers. Sie haben dazu große Lautsprecherboxen aufgebaut und verteilen Flyer. In den Erdgeschossen der Wohnblocks waren ursprünglich wohl Geschäfte vorgesehen. In einem der Häuser scheint es dort einmal gebrannt zu haben. Nur ein einziges Geschäft kann ich entdecken. Es ist nicht sehr groß und von oben bis unten mit Waren vollgestopft: Maniokmehl und Kochbananen werden verkauft, die Limonaden haben arabische Aufschriften, hinter der Kasse steht eine Menge Haar- und Hautpflegeprodukte – zum Haareglätten, zum Aufhellen der Haare, zum Bleichen der Haut. Ein junger schwarzer Mann steht vor dem Geschäft. Er verkauft gerösteten Mais für einen Euro das Stück. Er hat einen Einkaufswagen, an dem noch die abgerissene Kette baumelt, mit frischen Maiskolben gefüllt und darüber ein Eisenblech gelegt, auf dem die Kohlen glühen. Ich kaufe einen Maiskolben und frage ihn, woher er den Mais hat. »Na von den Feldern, woher sonst.« »Lebst du denn von dem Verkauf?«, frage ich erstaunt. »Wovon denn sonst?«, gibt er patzig zurück. »Arbeit gibt es hier nicht. Nicht für uns. Niemand würde hier einem Schwarzen Arbeit geben.«
Ich treffe an diesem Tag noch Dutzende junge Männer mit solchen Einkaufswagen voller Maiskolben. Es ist wohl ihre einzige Chance, um hier an Geld zu kommen. Kein Wunder also, dass viele Afrikaner hoffen, irgendwann einmal wieder nach Afrika zurückkehren zu können. So war es auch bei Eleonores Vater. »Er hat sich hier nie auch nur ein Möbelstück gekauft«, erzählte sie mir, »sondern sein ganzes Geld für ein Haus in Afrika gespart. Jetzt ist er vierzig Jahre hier und wird nie mehr nach Afrika ziehen. Das Afrika, das er im Kopf hat, gibt es gar nicht mehr.« Kein Wunder, dass die alten Traditionen hochgehalten werden, die guten wie die schrecklichen. Kein Wunder, dass die Gesetze gegen FGM hier nicht ankommen. Hier kommt überhaupt wenig an von Europa. Auf dem Rückweg zur Haltestelle sehe ich eine alte afrikanische Frau in einem traditionellen, blau-weiß gemusterten Gewand. Sie kauert am Boden und nagt an einem Maiskolben. Diese Frau könnte genauso gut auf einem Dorfplatz in meiner Heimat hocken – es sieht aus, als wäre sie in eine fremde Umgebung gebeamt worden: Hinter ihr ist statt der Savanne ein Wartehäuschen aus zerkratztem, beschmiertem Plexiglas, vor ihr brettern die Busse und Autos vorbei. Wenn die europäische Gesellschaft ernsthaft etwas gegen FGM tun will, muss sie solchen Frauen eine Chance geben, denke ich. Sie haben einen Anspruch auf Bildung, Gleichberechtigung und vor allem darauf, respektiert zu werden. Solange diese Frauen keine Möglichkeit haben, sich gesellschaftlich zu integrieren, klammern sie sich an dem fest, was sie von daheim mitgenommen haben. Nachdenklich mache ich mich auf den Weg zurück ins Hotel. Saint-Denis und La Courneuve sind Ghettos. Orte,
nicht europäische, nicht afrikanische. Eigene, kleine Kontinente mit eigenen Gesetzen.
*
Mir ist mulmig zumute. Heute ist der Tag der Tage. Ich habe einen Termin bei dem Mann, auf den Tausende verstümmelte Frauen ihre ganzen verzweifelten Hoffnungen richten: Er heißt Dr. Pierre Folks, ist Arzt und hat eine Technik entwickelt, mit der er angeblich die Klitoris wieder herstellen kann. Geht das wirklich? Kann er auch mir helfen? Will ich überhaupt, dass er mir hilft? Wir schlängeln uns mit dem Taxi über den breiten Platz Charles de Gaulle am Triumphbogen vorbei und fahren dann die Avenue Grande Armée hinunter. Walter und Julia begleiten mich, sie spüren meine Unsicherheit und Aufregung. Wir durchqueren einige Tunnel, sausen an schmuddeligen Hochhäusern der Pariser Außenbezirke vorbei und bleiben dann lange auf der Autobahn, die in nordwestlicher Richtung aus Paris hinausführt. Nach circa einer halben Stunde biegen wir auf eine Landstraße ab. Bald liegt St-Germain-en-Laye vor uns, ein idyllischer Ort mit 40 000 Einwohnern, kleinen, beigefarbenen Häusern, verwinkelten Gassen und einem Schloss aus dem 12. Jahrhundert, in dem Ludwig XIV., der Sonnenkönig, geboren wurde. Das Krankenhaus ist gut ausgeschildert. Wir fahren eine kurvige, steil ansteigende Straße hinauf, das Taxi hält vor einem Komplex, der aus mehreren niedrigen Gebäuden
besteht, und wir steigen aus. Es ist kühl und windig, die Wolken hängen tief. In einem dieser Häuser hat Dr. Foldes sein Büro. Über dreihundert Frauen soll der Chirurg bereits operiert haben. Hunderte Patientinnen stehen auf der Warteliste. Noch ist er der einzige Arzt, der diese Art der Operation durchführen kann, er sei jedoch im Begriff, auch andere in diese Technik einzuweisen. Mit einem Mal werde ich immer unruhiger. Ich habe es nicht erwarten können, ihn kennen zu lernen, aber jetzt ist mir ganz flau im Magen. Hier geht es nämlich um etwas, was mich ganz persönlich betrifft und sehr intim ist – um meine Klitoris, den Teil meines Körpers, der mir wie vielen anderen auch einfach abgeschnitten worden ist. Es geht um meine Sexualität. Dr. Foldes wartet schon auf mich – und ich fühle mich erleichtert, als ich ihn sehe. Er ist ein großer Mann mit ruhiger Ausstrahlung. Er hat graue Haare und lächelt mich herzlich an. Ein wenig sieht er aus wie ein Arzt aus einer TVSerie. Ich fühle mich sicherer. Sein Sprechzimmer ist ein kleiner Raum, der ganz weiß gestrichen und hell erleuchtet ist. Rechts neben der Tür steht eine Liege für Patienten, an der Wand darüber hängen in zwei großen Bilderrahmen unzählige Fotos aus Afrika. Es sind keine schönen Bilder: Man sieht halb verhungerte Kinder, kleine Jungen mit schlimmen Verletzungen an Armen und Beinen, Blut, Ärzte in Operationskleidung, Abbildungen von Gliedmaßen, auf denen irgendeine Krankheit zu erkennen ist. Dr. Folks fordert mich auf, Platz zu nehmen. »Ich bin Chirurg und Urologe, außerdem Asienverantwortlicher von >Ärzte der WeltMachst du Witze? Nein, nie und nimmer!< Andere wiederum sind zögerlich und fragen sich, ob sie dem Druck standhalten werden.« »Haben Sie den Eindruck, dass sich die Einstellung der Afrikaner gegenüber FGM in Großbritannien geändert hat?«, will ich wissen. Comfort denkt kurz nach. »Mit Sicherheit. Es tut sich sehr viel. Vor fünf bis zehn Jahren kamen vor allem Frauen, die vor der Heirat standen und deshalb eine Rückoperation wollten. Aber heute kommen auch junge Frauen und wollen sie machen lassen. Sie fühlen sich anders als die westlichen Frauen, sie kommen und sagen: >Comfort, ich will einfach, dass es gemacht wird. Ich will mich wieder wohl fühlen.« Ich erzähle ihr von meiner Begegnung mit Dr. Foldes. Comfort nickt. »Ich bin skeptisch, was das betrifft«, sagt sie. »Ich bin mir seiner guten Absichten sicher. Ich glaube aber, dass man da nicht noch einmal hineinschneiden sollte. Warum sollte man die Frauen noch einmal verletzen? Wir machen die einfache Variante: Wir schneiden die vernähte Narbe auf. Die Vagina hat sich nicht verändert, wie viele glauben: Innen bleibt alles gleich. Aber die Frauen sind mit einem Schlag ihre körperlichen Probleme los. Sie müssen keine riesigen Hoffnungen in einen neuen Körperteil setzen.« Das Körperliche sei nur eine Seite. »Viele der Mädchen, die zu mir kommen, leiden auch psychisch gewaltig. Ich versuche ihnen zu helfen. Spezialisten glauben häufig, nach der Operation passt wieder alles. Aber sie vergessen, dass die jungen Mädchen sehr viel Unterstützung brauchen. Viel Information, viel Anerkennung und Zärtlichkeit.« Ich muss an das denken, was uns Maligaye gestern erzählt hat: dass viele Frauen während der Operation einen
Flashback erleiden und in Tränen ausbrechen. »Deshalb ist die Beratung vorher so wichtig«, stimmt Comfort zu. »Ich zeige den Frauen auch Bilder, damit sie nicht in Panik geraten, wenn unten plötzlich nicht mehr nur dieses kleine Loch zu sehen ist, sondern alles offen ist. Für viele ist dieser Anblick ein Schock, und sie finden, dass es hässlich aussieht. Sie haben Angst, dass ihr Mann nach der Öffnung der Vagina keinen Genuss mehr beim Sex habe, und fürchten, dass er sie dann verlassen könnte. Ich helfe den Frauen dabei, ihren neuen Körper zu akzeptieren.« Comfort ist rund um die Uhr erreichbar. Alle Patientinnen bekommen auf Wunsch ihre Telefonnummer, können bei ihr anrufen, wann immer sie wollen: »Das ist mir egal. Ich weiß ja, dass es nicht viele Kliniken gibt, die diese Frauen betreuen.« »Ist denn die Unwissenheit über FGM auch hier in Großbritannien so groß?«, frage ich sie. »Enorm groß, bei allen«, sagt Comfort. »Sogar bei Krankenschwestern, Hebammen und Ärzten. Es gibt immer noch einige Ärzte, die sagen zu ihren Patientinnen: >Wenn Sie schwanger werden, müssen Sie mit einem Kaiserschnitt gebären.< Völliger Blödsinn. Die Vulva wird durch FGM nicht verkleinert. Das müssen Frauenärzte und Hebammen wissen. Man muss die Narbe nur aufschneiden, und damit hat es sich. Innen ist alles hundert Prozent identisch.« »Auch viele praktische Ärzte«, fährt sie fort, »haben keine Ahnung von FGM. Die können gesundheitliche Probleme, die damit zusammenhängen, nicht diagnostizieren. Wenn eine Frau ihnen sagt, sie habe eine Infektion und beim Urinieren große Schmerzen, dann bekommt sie Antibiotika und aus. Wenn sie zum vierten Mal mit demselben Problem kommt, werden ihr wieder Antibiotika verschrieben, weil der
Arzt nicht daran denkt, dass das Problem eine Infibulation sein könnte. Viele Frauen haben enorme Schmerzen während der Menstruation, weil das Blut nicht abrinnen kann, andere bekommen Zysten in allen möglichen Größen. Wieder andere kommen mit ihren Partnern, weil sie Probleme beim Sex haben ...« »Bis zu welcher Woche kann eine schwangere Frau geöffnet werden? Geht es auch direkt bei der Geburt?«, frage ich. »Ja. Aber ich empfehle, es während der Schwangerschaft machen zu lassen. Ab der zwanzigsten Woche ist es ideal. Wenn man es während der ersten beiden Monate durchführt und die Frau eine Fehlgeburt erleidet, dann könnte sie meinen, es würde an der Rückoperation liegen. Sie wird dann sagen: >Sie haben mein Baby umgebracht!Wenn Sie geöffnet werden, kann ich Sie nicht mehr zunähen.< Die Frauen brauchen diese Information, bevor die Geburt beginnt.« Ich stutze. Exakt darüber haben wir vor meinem Abflug diskutiert. Mir war nämlich zu Ohren gekommen, dass in deutschen Krankenhäusern Frauen nach der Entbindung wieder zugenäht werden, weil die Frauen so stark bluten würden. Ich nutze die Gelegenheit und frage sie direkt. Comfort antwortet wie aus der Pistole geschossen: »Leute, die so etwas machen, haben einfach keine Ahnung. Ich führe
pro Woche drei bis vier Rückoperationen durch und weiß, wovon ich spreche. Die Blutungen sind minimal. Viele Ärzte haben dennoch Angst, die Frauen könnten dabei zu viel Blut verlieren. Fakt ist jedoch, dass die meisten überhaupt nicht bluten. Die großen Blutungen passieren während der Beschneidung, und viele Frauen sterben dabei. Aber beim Öffnen gibt es kaum Blutungen. Dass Frauen nach der Entbindung wieder zugenäht werden, ist wirklich absoluter Schwachsinn. So etwas macht mich total wütend. Können Sie sich vorstellen, was das für eine durchschnittliche afrikanische Mutter von sechs Kindern bedeutet? Sie wird so oft geöffnet und zugenäht, dass am Ende alles komplett ruiniert ist.« Für kurze Zeit herrscht Stille. Beklemmende Stille. »Gibt es dagegen keine Gesetze in Deutschland?«, fragt Comfort schließlich. »Es gibt kein spezielles Gesetz gegen FGM, nur gegen Körperverletzung«, antworte ich ihr. »Da muss dringend etwas gemacht werden. Wenn wir FGM als Verstümmelung definieren, bedeutet Zunähen, dass die Frauen immer wieder verstümmelt werden. Immer wieder.« Nach diesem Besuch bin ich wie benebelt. Aber ich habe auch einen neuen Entschluss gefasst: Ich muss den Skandal in Deutschland an die Öffentlichkeit bringen. Dass es nur die Spitze eines Eisbergs sein würde, das wusste ich damals noch nicht.
*
Als ich zum ersten Mal meine Regel bekam, da wollte ich mich umbringen. Wirklich, ich wollte Selbstmord begehen. Heute werde ich eine Frau sehen, die ich über meine Internetseite kennen gelernt habe. Sie wollte mich unbedingt persönlich treffen, weil sie sich im Kampf gegen Genitalverstümmelung engagieren möchte. Als ich Bashra (Name geändert) spontan anrufe, bittet sie mich: »Komm mich doch besuchen, ich kann nicht in die Stadt fahren, ich habe ja die Kinder da.« Jetzt stehe ich vor der Tür eines typisch englischen Vorstadthauses. Um mich herum ist alles symmetrisch angelegt: die Straßen, der Abstand zwischen den Bäumen, die aneinander gereihten Häuserblocks. Alle Häuser sind gleich groß, die Vorgärten auch. Ich muss an die Lego-Stadt denken, mit der mein Sohn Aleeke so gerne spielt. Bei Bashras Nachbarn wird gerade die Regenrinne repariert. Die Maschinen der Handwerker machen einen ohrenbetäubenden Lärm. Eine afrikanische Frau empfängt mich schüchtern. Sie ist zart, eher klein, trägt ein graues Gewand und ein graues Kopftuch. »Wir haben telefoniert, ich bin Waris«, begrüße ich sie. Sie nickt lächelnd, hinter ihr steht ein kleines Mädchen, das mich neugierig beobachtet. »Ich habe nicht gedacht, dass du so schnell da bist, ich muss zuerst noch meine Kleine in den Kindergarten bringen«, sagt sie. Ich frage sie, ob ich sie begleiten kann. Bashra ist ziemlich aufgeregt. Es dauert ein wenig, bis wir ins Gespräch kommen. Sie erzählt mir von ihren Kindern, der Nachbarschaft,
ihrem Leben hier in England. Bashra ist Sudanesin. Sie ist vor fünf Jahren mit ihrem Mann aus Afrika nach England geflohen. »Die meisten Leute hier grüßen nicht einmal zurück, wenn ich sie grüße«, empört sie sich. Sie würde gerne im Zentrum von London leben: Dort gebe es mehr schwarze Menschen, und die Atmosphäre sei nicht so kleinbürgerlich. Freundinnen in der Nachbarschaft? Fehlanzeige. Wir erreichen den Kindergarten, Bashra küsst ihre Tochter zum Abschied, wir drehen uns um und Bashra macht ein ziemlich besorgtes Gesicht: »Manchmal habe ich Angst, dass mit ihr niemand spielt, weil sie ein schwarzes Kind ist.« Wenn sie ihre Tochter am Abend frage, mit wem sie denn gespielt habe, würde die meistens antworten: »Mit Karin.« Karin sei aber die Kindergärtnerin. Inzwischen sitzen wir im Wohnzimmer des kleinen Hauses, und Bashra macht gerade Tee. »Waris, ich will gegen Genitalverstümmelung kämpfen«, sagt sie völlig unvermittelt, als sie mit dem Tablett ins Zimmer zurückkommt. Ich muss lächeln. Die zarte Frau wirkt plötzlich kämpferisch, ihre Schüchternheit ist gänzlich verschwunden. »Ich habe solche Sehnsucht, mit einer Frau, der das auch angetan wurde, offen darüber zu sprechen« sagt sie. Ihr Gesicht ist jetzt wieder etwas besorgter, ängstlicher. Als sie sechs Jahre alt war, wurde sie Opfer der menschenverachtenden Tortur. Sie erlitt – wie ich – die schwerste Form der Genitalverstümmelung. Sie erzählt, ich höre nur Blitzlichter: ein dunkler Raum. Sie, nackt und festgehalten. Eine alte Frau, vielleicht siebzig. Mit dicken Brillen-gläsern. Die Schnitte, immer und immer wieder. »Meine erste Frage war: Warum? Und die letzte war auch: Warum? Es ist schrecklich schmerzhaft und es ist ja nicht einmal islamisch!«, sagt Bashra. Sie ist aufgewühlt, ich kenne diese
Situation. Auch bei mir tauchen sofort wieder unvermittelt die Bilder von dem Tag meiner Beschneidung auf. »Ja«, sie nickt. »Auch heute noch ist die Erinnerung daran sofort wieder da, obwohl es ja schon 29 Jahre her ist.« Bashra lag danach drei Monate auf dem Krankenbett. Jahrelang hat sie sich danach gesehnt, die Beschneiderin wieder zu treffen. »Ich wollte sie damals umbringen.« Auch sie selbst wollte sich schon einige Male das Leben nehmen. »Als ich zum ersten Mal meine Regel bekam, habe ich ernsthaft daran gedacht.« Ich spüre ihre Ohnmacht, ihr Leid, ihre Angst. »Es gibt Sachen, die kann ich dir nicht erzählen. Niemandem. Ich kann nicht, egal, wie sehr ich mich bemühe. Es ist wie ein Film, den ich gelöscht habe. Nachts habe ich oft Albträume, ich will nicht darüber nachdenken.« Bashra zittert, steht kurz auf und sagt: »Weißt du, was eine der schlimmsten Fragen in meinem Leben war, Waris? Ich bin als Kind mit meiner Familie nach Nigeria gezogen, mit zwanzig habe ich mich in meinen jetzigen Mann verliebt. Er kommt aus einer Gegend in Nigeria, wo FGM nicht praktiziert wird. Einen Tag vor unserer Hochzeit nahm er mich zur Seite: Er habe von den infibulierten Frauen im Sudan gehört, und bete, dass ich nicht beschnitten sei. Es war einer der bittersten Augenblicke meines Lebens, als ich sagen musste: >Doch, leider bin ich beschnitten.Das ist schlecht, was ihr da macht! Ihr schadet euren Kindern!Wir müssen zu den Afrikanerinnen hingehen.< Alle haben mich verdutzt angeschaut. >Aber das können wir doch nicht tunIhr nichtAber ich!«< 1999 gründete sie zusammen mit anderen Frauen Forward Germany und arbeitet seither in dieser Organisation: Sie stellte unter anderem Arbeiten von nigerianischen Künstlern zum Thema Genitalverstümmelung aus und hat bereits zahlreiche Diskussionsabende und Gesprächskreise in der Community veranstaltet, nicht um die Betroffenen vorzuführen, sondern um mit ihnen über ihre Erfahrungen zu sprechen. Forward bietet auch Wochenendseminare für Mädchen mit »afrikanischem Hintergrund« an. Immer wieder betont Asili, wie wichtig es sei, den Mädchen und Frauen sensibel zu begegnen; egal, ob es darum geht, beschnittenen Mädchen zu erklären, dass sie trotzdem voll-ständige Frauen sind, oder um Mütter dazu zu bringen, ihre Töchter nicht beschneiden lassen. Die Somalierin arbeitet gern mit anderen Vereinen zusammen. »Aber es sind immer verschiedene Blickwinkel, verschiedene Ansätze. Ich versuche stets, in direktem Kontakt mit den Betroffenen zu sein. >GrassrootSchaut mal, da geht eine Beschnittene.< Ich habe auch schon erlebt, dass in der Schule über das Thema gesprochen wurde und der Lehrer dann ein Mädchen aus Afrika gefragt hat: >Bist du auch verstümmelt?Afrikanisches Viertel< geht ursprünglich auf Pläne des Hamburger Tierparkbesitzers Carl
Hagenbeck zurück«, erklärt uns die Stadtführerin. »Hagenbeck sorgte damals mit seinen Völkerschauen für großes Aufsehen. In Berlin wurde bereits 1896 eine große Kolonialausstellung aufgebaut, in der hundert Afrikaner gezeigt wurden. Wegen des großen Erfolgs plante Hagenbeck, in der Dünenlandschaft der Rehberge einen exotischen Park anzulegen, in dem neben afrikanischen Tieren auch afrikanische Menschen dauerhaft ausgestellt werden sollten. Der Erste Weltkrieg machte diese Pläne zunichte, der Name aber blieb.« Hier wurden also Afrikaner und Afrikanerinnen ausgestellt, zur Belustigung der Berliner. Sie konnten sie anglotzen und mit Erdnüssen füttern. Die deutschen Besucher werden kein schlechtes Gewissen gehabt haben. Denn sie werden die Afrikaner kaum als Menschen wahrgenommen haben. Meine Vorfahren in den Käfigen. Während der NS-Zeit bekam die Kolonialbewegung neuen Auftrieb: So wurde 1939 die Petersallee eingeweiht. Carl Peters, der von den Nazis als Kolonialheld gefeiert wurde, hatte gewaltsam Verträge im Osten Afrikas erpresst und damit den Grundstein für die Kolonie Deutsch-Ostafrika gelegt. Der Sadismus, mit dem er afrikanische Menschen behandelte, trug ihm den Spitznamen Hänge-Peters ein. Menschen, die ihm nicht passten, ließ er einfach aufknüpfen. Ebenfalls 1939 erhielt die Kleingartensiedlung in der Mitte des Viertels den Namen Togo. Noch heute hängt über dem Eingang ein Schild mit der Aufschrift: »Dauerkolonie Togo«. Ist so etwas überhaupt zulässig, fragen wir uns. »Das hat doch nichts mit Kolonialgeschichte zu tun«, wehrt ein Passant genervt ab. »Kolonie bedeutet einfach Siedlung, und das ist eine Dauersiedlung.« Die typische Reaktion des Mannes auf der Straße: wegschauen und verdrängen. Aber
auch die Stadtverwaltung in Berlin geht nicht besser damit um, erklärt uns die Stadtführerin: »Schon 1946 gab es erste Bemühungen, Straßen umzubenennen. Ohne Erfolg! In den achtziger Jahren wurde versucht, der Petersallee einen neuen Namen zu geben. Zur Auswahl standen Namen afrikanischer Persönlichkeiten aus Vergangenheit und Gegenwart, zum Beispiel Samuel Maherero oder Nelson Mandela. Die Streitereien im Berliner Parlament führten schließlich dazu, dass die Petersallee nicht mehr für Carl Peters stand, sondern für Hans Peters, einen weitgehend unbekannten Lokalpolitiker.« Ist hier jemand etwa ernsthaft stolz auf diese abstruse Idee?
* Das Gesundheitssystem in Deutschland ist auf Opfer von Genitalverstümmelung nicht richtig eingestellt. Erst seit einem Jahr gehört FGM auch zur Ärzteausbildung, wie in Österreich übrigens auch. Trotzdem kennen sich viele Ärzte und Krankenschwestern mit Genitalverstümmelung überhaupt nicht aus. Vor allem aber wissen sie nicht, wie sie mit den Opfern umgehen sollen. Für die Frauen spielen sich in deutschen Arztpraxen und Krankenhäusern immer wieder entwürdigende und unmenschliche Szenen ab. Etwa, wenn Ärzte Genitalverstümmelung diagnostizieren und dann Kollegen hinzuziehen, damit diese sich »das einmal anschauen können«. Es gibt keinen Verhaltenskodex, nach dem sich Mediziner und Schwestern zu richten haben – nur wenige lassen den Opfern die Sensibilität zuteil werden, die die Patientinnen verdienen und auch so dringend nötig haben.
Ich denke an Kadi, an ihre Angst, zu einem Arzt zu gehen. Kein Wunder bei diesem Umgang mit uns Betroffenen. Hier in Berlin gibt es nur eine Spezialistin für 2500 FGMOpfer. Lea und Julia haben sich während unserer Stadtrundfahrt mit ihr getroffen. Die Gynäkologin Sabine Müller arbeitet in einem Familienplanungszentrum. Die Beratungsstelle namens »Balance« ist im zweiten Stock eines Berliner Einkaufszentrums untergebracht. Informationen, Beratung und medizinische Leistungen rund um Schwangerschaft, Verhütung, Sexualität und Partnerschaft werden hier angeboten. Unabhängig vom Versicherungsstatus der Frauen. Endlich! Es tut so gut, so etwas zu hören. Einmal Menschen, die zuerst den Menschen und dann das Papier sehen. Als Lea und Julia die Arztpraxis aufsuchen, sitzen drei junge Frauen und ein Paar im Wartezimmer. Die Stimmung ist bedrückt, und die Sekretärin schwer beschäftigt. »Die Journalistinnen sind da«, gibt diese knapp per Telefon weiter. Es ist offenkundig, dass sie das Gefühl hat, es gebe wichtigere Dinge zu tun, als Interviews zu geben. Knapp eine halbe Stunde später erscheint Sabine Müller, sie wirkt im ersten Augenblick etwas distanziert. Ihre braunen kurzen Haare stehen in alle Richtungen ab. Lea, Julia und sie ziehen sich in eines der Zimmer zurück. Sabine Müller zündet sich eine Zigarette an. Sie erzählt nun, wie sie mit dem Thema Genitalverstümmelung zum ersten Mal in Berührung kam: »Die Zeitschrift Emma hat in den achtziger Jahren einen Artikel über FGM veröffentlicht. Damals war ich Medizinstudentin und hatte keine Ahnung, dass es Frauen gibt, die untenherum völlig anders aussehen. Beim Studium hat man es natürlich versäumt, uns darüber aufzuklären.« Vor zehn Jahren wurde sie das erste Mal persönlich mit
einem FGM-Opfer konfrontiert. »Das war eine Frau, die lebte in Äthiopien, war beschnitten und infibuliert. Als ihr Mann nach Deutschland ging, wurde sie wieder infibuliert, damit sie ihm auch ja die Treue hielt. Irgendwann holte ihr Mann sie nach Deutschland nach. Sie suchten meine Praxis auf und baten um die Wiederöffnung der Hautbrücke, da sie sich ein zweites Kind wünschten. Sie hatte bereits ein Baby geboren, per Kaiserschnitt, weil sich keiner getraut hatte, die Infibulation zu öffnen.« »Waren Sie vorbereitet, als Sie damit konfrontiert wurden?«, will Lea wissen. »Ich hatte den Emma-Bericht noch sehr gut im Hinterkopf und hatte auch noch die Bilder vor Augen«, antwortet Sabine Müller. »Ich war nicht geschockt, sagen wir es einmal so. Vielleicht auch deshalb nicht, weil die Frau so normal damit umging, für sie war es ja normal.« »Wie begegnen Sie einer verstümmelten Frau?«, fragt Julia. »Man muss FGM-Opfer mit derselben Sensibilität behandeln wie etwa vergewaltigte Frauen, sehr behutsam, sehr einfühlsam. Man muss vorsichtig sein, aufpassen, dass man nicht etwa Dinge sagt wie: >O Gott; das sieht ja schrecklich aus.pullernDas ist eine Schweinerei und das machen wir jetzt auf, und das bleibt dann offen, und damit bastaunschönen Variationen< der Natur, seien sie angeboren oder im Laufe des Lebens entstanden«, schreibt etwa ein deutscher Arzt auf seiner Webseite. »Sauna, FKK sowie das Entkleiden vor anderen Personen können zur Tortur werden, psychische und Partnerprobleme sind vorprogrammiert«, warnt ein anderer Arzt in Deutschland. Und fügt hinzu: »Schamlippenkorrekturen kann man nicht isoliert betrachten, sie bilden in unseren Augen eine ästhetische Einheit mit dem Klitorismantel und den großen Schamlippen. Aus diesem Grund werden nicht selten die beiden Letztgenannten ebenfalls korrigiert bzw. gestrafft, um ein harmonisches und ästhetisch ansprechendes Gesamtbild zu erreichen.« Nur ein einziger Chirurg warnt in seinem Angebot: »Es ist
wie bei jeder anderen Operation mit Infekt, Schwellung und Diskomfort zu rechnen.« In den Foren, in denen Frauen über ihre Erfahrungen diskutieren, liest man allerdings Schlimmeres: Von Taubheitsgefühlen, Lustverlust, Empfindungsverlust, Schwellungen und großen Schmerzen ist da die Rede. Ich stoße auf viele Leidensgeschichten junger Frauen. Hier ein kleiner Auszug: Kamille: Bei mir sind die inneren Schamlippen immer noch ein klein wenig länger als die äußeren, was an der Wäsche reibt und eine Entzündung der Narben hervorruft. Ich wollte jetzt nur mal wissen, ob das bei euch auch so ist, dass die inneren ein bisschen hervorsehen, und ob das dann irgendwann vielleicht so verheilt, dass es dann auch nicht mehr schmerzt. Hexe: Ich habe die OP erst am Montag machen lassen. Bis jetzt ist noch alles richtig arg geschwollen und schmerzt auch noch. Kamille: Nach der OP konnte ich erst mal tagelang nur liegen und ich dachte, ich würde sterben vor Schmerzen. Es stimmt wirklich: Lange Schamlippen sind NICHT hässlich. Aber das habe ich zu spät gecheckt. ... naja, nun ist es zu spät. Ich bereue den Eingriff? Elisa: Bei mir wurde die Operation mit Laser und in Vollnarkose durchgeführt, ein anderer Arzt war jedoch der Meinung, er
würde es nur mit dem Skalpell machen, da der Laser keine Vorteile bringt, nur den Nachteil von eventuellen Verbrennungen. Dazu hat scheinbar jeder Arzt eine andere Meinung. jodyjody: Bei mir ist es drei Monate her. Ich habe keine Schmerzen. Allerdings schwellen meine kleinen Schamlippen bei langem oder heftigem Sex manchmal stark an und tun dann auch etwas weh. Das kannte ich vor der OP nicht. Hexe: Frage an alle: Ist bei jemandem von euch auch ne Naht aufgegangen? Bei mir ist ein Teil der rechten aufgegangen, und das schaut jetzt ziemlich krass aus. Weiß nun nicht, ob das normal verheilt, oder ob ich da noch mal zum Doc muss? Bin mittlerweile gar nimmer so begeistert von dem Eingriff. jodyjody: Bei mir hat's 1020 Euro gekostet. Das war es absolut wert, weil ich jetzt nicht mehr dieses Problem habe, dass ich meine Muschi »verstecken« will. Lass es mit Laser oder Elektroverödung machen, sonst blutet's stark, und es muss sehr straff genäht werden, was Probleme verursachen kann! Selina: Ich komme aus Luxemburg und habe es in Brüssel in einer Schönheitsklinik machen lassen, die Adresse hatte ich aus dem Internet. Im Moment bin ich gar nicht zufrieden, es ist jetzt fünf Tage her, ich habe immer noch Schmerzen, und es ist alles noch sehr geschwollen, kann durch die enorme Schwellung kein richtiges Resultat erkennen. Ich mache mir
jetzt große Sorgen, auch weil ich hier im Forum über misslungene OPs gelesen habe.
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Afrikanische Frauen werden verstümmelt, europäische Frauen legen sich freiwillig unters Messer. Ich kann es kaum glauben: Hier, wo so viele sich vor bestimmten afrikanischen Bräuchen schaudernd abwenden, lassen sich Frauen aus Gründen der Schönheit verstümmeln. Hier, wo auf uns, auf die Opfer von FGM, mit dem Finger gezeigt wird. Hier, wo wir herumgereicht werden wie exotische Schaustücke. Hier, wo man uns barbarisch nennt und zurückgeblieben: In diesem so zivilisierten, so aufgeklärten Europa wird in Dutzenden, Hunderten Kliniken FGM praktiziert – ganz offiziell. Nicht nur das: Es wird Frauen sogar das Gefühl vermittelt, die durchschnittliche Schamregion sei »nicht normal« und »unschön«. Klar: Man kann das natürlich nicht mit den FGM-Praktiken unter Afrikanerinnen vergleichen. Dort werden meist Kinder, die sich nicht wehren können, einer schrecklichen Prozedur ausgesetzt. Hier sind es erwachsene Frauen. Dort wird in einigen Regionen sogar die Vulva zugenäht. Hier geht es »nur« um die Verkleinerung von Schamlippen und Klitoris. Dort wird die Klitoris oft ganz entfernt – hier wird sie »nur« freigelegt, verkleinert, »verschönert«, wenn auch oft mit dramatischen Folgen. Aber trotzdem gilt hier wie dort: Es wird geschnitten, und die Frau ist hier wie dort das Opfer. Auch dann, wenn sie sich selbst zum Opferlamm macht.
In westlichen Ländern gibt es offenkundig ein bestimmtes Schönheitsideal für die Schamregion einer Frau, und dieses Traumbild weicht nicht weit ab vom afrikanischen: Eine Frau soll optisch und anatomisch aussehen wie ein kleines Mädchen. Es herrscht offenbar Angst vor all dem, was eine reife Frau ausmacht. Ihre Sexualität soll eingeschränkt werden und kontrollierbar bleiben. Über Afrika sagt man, dass es die Männer sind, die das verlangen, selbst wenn die Frauen es durchführen. Wie verhält es sich in Europa? Auch hier wollen die Frauen wohl einem – männlichen – Schönheitsideal entsprechen: Für wen bitte schön sollte man sonst seine Vagina redesignen lassen?
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Ich stehe noch immer unter Schock. Dass Menschen auf die Idee kommen, aus Gründen der Schönheit an ihren Geschlechtsorganen herumschnipseln zu lassen – das haut selbst mich um. Mal abgesehen von der Frage der Sinnhaftigkeit: Ist es denn legal, eine Vagina operativ hübsch zu machen? In Großbritannien nicht. In Österreich ebenfalls nicht: Da sind alle Operationen verboten, die das »sexuelle Empfinden« der Frau beeinträchtigen, auch wenn sie den Eingriff selbst verlangt. Aber wo ist die Grenze? Ich frage nach bei einem, der es wissen müsste. Edwin Turkov ist Chirurg und Universitätsprofessor in Wien und betreibt eine Schönheitsklinik, in der auch Schamlippenkorrekturen durchgeführt werden. »Wo ist die Grenze zu FGM?«, frage ich ihn ganz direkt.
Er hat eine ganz klare Meinung: »Das eine sind die Schamlippen, die kann man korrigieren, wenn sie störend vergrößert sind. Das andere ist die Klitoris — und das ist die Grenze. Die darf man nicht anrühren.« »Aber es gibt in Deutschland Ärzte, die Klitorisverkleinerungen anbieten?« »Ich sage Ihnen das so klar, wie es ist: Jeder, der die Klitoris anrührt, ist ein Verbrecher.« Die Betreiber deutscher Schönheitskliniken sehen das offenbar nicht so streng. Nach einigen Telefonaten ist uns klar: Es ist gar kein Problem, jemanden zu finden, der die Klitoris verkleinert, die Klitorisvorhaut beschneidet oder gar die Klitoris versenkt. Mit dem nötigen finanziellen Background und der gebotenen Diskretion müsste es doch sicherlich auch möglich sein, einen Arzt aufzutreiben, der einen solchen Eingriff bei einer jungen Frau vornimmt. Steckt vielleicht mehr hinter dem Satz »Wer es sich leisten kann, geht in eine Schönheitsklinik«? Wir rufen bei Dr. N. an (Name geändert), einem der Dutzend Spezialisten auf diesem Gebiet. »Guten Tag, Herr Doktor, mein Name ist Maria Berger. Sie sind mir empfohlen worden für Operationen im Genitalbereich. Ich habe gehört, dass Sie auch Klitorisverkleinerungen machen.« Dr. N.: »Ja, wir machen das sehr oft, wir haben da große Routine.« »Kann ich offen sprechen, Herr Doktor?« Dr. N.: »Natürlich.« »Ich werde in Kürze heiraten, und zwar einen Mann aus Marokko. Dort sind recht radikale Verkleinerungen der Klitoris üblich. Ich möchte da möglichst nah drankommen.«
Dr. N.: »Möchten Sie, dass die Klitoris nicht mehr sichtbar ist?« »Geht denn das, nicht mehr sichtbar?« Dr. N.: »Ja, das geht. Dabei wird die Klitoris zuerst enthäutet und dann versenkt. Dann sieht man gar nichts mehr.« »Und die kleinen Schamlippen werden dabei auch beschnitten?« Dr. N.: »Nicht zwingend, aber das kann man zusätzlich machen, ja.« »Ihnen sagt sicher die Sunna-Beschneidung etwas. Das möchte ich haben.« Dr. N.: »Das bedeutet allerdings eine Verstümmelung. Da wird die Klitoris weggeschnitten.« »Ja, das will ich. Machen Sie das?« Dr. N.: »Frau Berger, es muss Ihnen klar sein: Weg ist weg. Da kann man dann nichts mehr reparieren. Chirurgisch ist das kein Problem, das ist sogar ein sehr einfacher Eingriff. Aber wollen Sie das denn wirklich?« »Ja, ich habe mir das gut überlegt.« Dr. N.: »Naja, gehen tut das schon. Aber da müssten Sie mir noch ein bisschen Zeit zum Überlegen geben. Das ist ja doch eine Verstümmelung, und ich muss mir überlegen, ob ich das ethisch vertreten kann.« »Wissen Sie denn vielleicht einen Kollegen, der das machen kann?« Dr. N.: »Nein, nein, melden Sie sich ruhig noch einmal _bei mir. Ich muss das nur einmal durchdenken. Ich bin ja dazu da, Leute schöner zu machen.« »Aber was schöner ist, ist ja doch eine kulturelle Frage.« Dr. N.: »Ja, das stimmt natürlich.« »Wissen Sie, ich möchte das nicht dort machen lassen,
sondern lieber in Deutschland. Sie sind ja Spezialist.« Dr. N.: »Wissen Sie was, Sie geben mir jetzt ein bisschen Zeit. Ich muss jetzt ohnehin in den Behandlungsraum. Machen wir einen Termin aus.« »Also würden Sie es machen?« »Wir müssen das persönlich besprechen. Sie müssen es sich wirklich gut überlegt haben.« »Was würde das denn kosten?« Dr. N.: »Die Schamlippenverkleinerung kostet 2000 Euro, und die Klitorisversenkung kommt dann auf noch einmal 1000. Und über den Rest müssen wir noch sprechen.« Mehrere Anrufe ergeben dasselbe Bild: Die meisten Schönheitschirurgen sind schnell zu überreden, für einen entsprechenden Betrag auch die Klitoris zu beschneiden. Sie reagieren hilflos, wenn man ihnen vorwirft, Schönheitsideale anderer Kulturen nicht zu akzeptieren. Auszug aus einem anderen Gespräch mit einem Arzt, der zunächst ablehnte: »Sie schneiden doch auch Brüste auf und stopfen Plastik hinein. Dort, wo ich wohne, sieht man das als völlig barbarisch an – denn die Brust der Frau spendet Leben.« Arzt: »Ja, aber recht viele Frauen leiden sehr darunter, dass sie zu kleine Brüste haben. Wir helfen ihnen. Das ist ja etwas anderes.« »Sehen Sie, mir können Sie auch helfen. Ich lebe in einer Gesellschaft, in der eine glatte Scham das Schönheitsideal ist. Sie können ja ohnehin nicht bestimmen, was schön ist – nur Frauen helfen, ihr Schönheitsideal zu erreichen. Mir auch.« »Ja, da haben Sie natürlich Recht. Schönheit ist kulturell unterschiedlich. « »Wo ist denn für Sie der Unterschied, die Schamlippen zu verkleinern oder die Klitoris zu entfernen?«
»Naja, rein medizinisch ist das unproblematisch. Nur müssen Sie dann damit leben, dass Sie kein sexuelles Empfinden mehr haben.« »Das ist doch aber wohl meine Entscheidung.« »Ja, da haben Sie auch Recht. Kommen Sie am besten vorbei, dann besprechen wir das hier.« In Österreich wäre das verboten. In Deutschland muss man für eine Klitoris-Beschneidung einfach ein paar hundert Euro hinlegen. »Man müsste doch meinen, dass die Menschen innerhalb von vielen Tausenden Jahren gelernt hätten, die Genitalien in Ruhe zu lassen«, schreibt Sabine Müller. »Traurigerweise war dies niemals der Fall. Als Organe, von der Natur geschaffen, uns Freude zu bereiten, wurden sie in allen Kulturen einer Vielzahl von Torturen unterworfen, und noch ist kein Ende in Sicht.«
*
Noch ist kein Ende in Sicht. Das gilt vor allem für die afrikanischen und arabischen Mädchen. Und das Schockierende ist: Die Hinweise häufen sich, dass Genitalverstümmelungen auch in Europa durchgeführt werden. »Es wird auch hier gemacht. Wir wissen das.« Egal, in welchem Land in Europa ich in den letzten Monaten auch war, diesen Satz habe ich überall gehört. Die Frage aber, wo und von wem diese schrecklichen Eingriffe gemacht werden, ist schwierig zu beantworten. Es gibt wohl drei Möglichkeiten: bei Ärzten, in Schönheitskliniken oder mit Hilfe einer traditionellen Beschneiderin. Wer immer es macht, ist sich jedoch durchaus bewusst,
dass er etwas Verbotenes tut. Immer wieder höre ich von Listen oder handgeschriebenen Zetteln mit den Namen und den Telefonnummern der Verstümmler, die nur innerhalb der Community weitergegeben werden. Wer wie ich gegen FGM kämpft, hat kaum eine Chance, an diese Adressen zu kommen. Außerdem gibt es einen regelrechten »Beschneidungstourismus«. Mädchen werden quer durch Europa gekarrt, weil die Eingriffe anderswo einfacher und billiger zu haben sind, etwa in Amsterdam, vor allem aber auch in Sheffield/Großbritannien. Das sind derzeit offenbar die »hot Spots« für Verstümmelungen in Europa. Reporter in ganz Europa haben in verdeckten Recherchen Dutzende Fälle von Genitalverstümmelungen aufgedeckt. In Großbritannien enttarnten Zeitungen zwei Ärzte – beide praktizieren noch heute. In Deutschland filmte das TVMagazin »Monitor« einen Arzt, der sich vor laufender Kamera zu einer Beschneidung bereit erklärte. Das Opfer war jedoch nicht in der Lage, vor Gericht auszusagen, und so wurde der Fall zu den Akten gelegt. Von dem Fall in Österreich, den die Zeitschrift profil 2001 durch UndercoverRecherche ermittelte, habe ich bereits ausführlich berichtet. Auch dieser Arzt praktiziert immer noch.
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Während in Europa hauptsächlich Ärzte die Verstümmelungen durchführen, sind es in Afrika vor allem Frauen. Sie haben eine wichtige Stellung in der Gesellschaft und sie verdienen nicht schlecht an ihrem schrecklichen Beruf. Ich
habe schon gehört, dass Beschneiderinnen Geld und Jobs angeboten wurden, damit sie ihren Beruf aufgeben. Was für eine bodenlose Frechheit! Millionen Frauen in Afrika haben kein Einkommen, geschweige denn genug zu essen. Warum sollten gerade die Beschneiderinnen belohnt wer-den, die so viele Mädchen umgebracht haben? In meiner Heimat stirbt ein Drittel der Mädchen an den Folgen der Prozedur, an Blutverlust oder an Infektionen. Und alle Opfer sagen dasselbe: Ihrer Mutter haben sie verziehen, den Beschneiderinnen jedoch nicht – die würden sie am liebsten umbringen. Auch in Europa sind Beschneiderinnen aktiv, man denke an den Fall in Cardiff. Doch nur drei Mal wurde eine Beschneiderin hier verurteilt. Das letzte Mal war 1999 in Frankreich, und sie konnte nur vor Gericht gebracht werden, weil ein Opfer zum ersten Mal Anzeige erstattete. Die junge Frau aus einer malischen Familie war damals 23 Jahre alt. Sie war selbst von der Beschneiderin verstümmelt worden. Als sie erfuhr, dass auch ihre kleine Schwester der Prozedur unterzogen worden war, ging sie zur Polizei. Die Beschneiderin wurde von da an wochenlang beschattet. Auch ihre Telefongespräche wurden abgehört. Schließlich hatte die Polizei genügend konkrete Hinweise. Es dauerte noch weitere fünf Jahre, bis die Ermittlungen abgeschlossen und der Prozess beendet war. Dann wurde sie in 48 Fällen zu acht Jahren Haft verurteilt. Vor ein paar Tagen habe ich von einer Sozialarbeiterin aus Deutschland erfahren, dass einige nigerianische Familien planten, eine Hebamme für die Beschneidung ihrer Töchter kommen zu lassen. Auf meinen Druck hin gab mir diese Frau schließlich die Telefonnummer von Pastor Anthony (Name geändert), dem nigerianischen Pfarrer, von dem sie die
Information hatte. Sofort setzte ich mich mit ihm in Verbindung. Er sprach Englisch mit einem typisch nigerianischen Akzent. Ich nannte ihm zügig den Grund meines Anrufs. Er gab jedoch nichts preis, weil er sich, wie er mir erklärte, an das Beichtgeheimnis gebunden fühle. »Sie sollten wissen, ich bin Priester – ich kann nicht einfach Informationen weitergeben, ich habe ein Vertrauensverhältnis mit meiner Community. Das kann und will ich nicht gefährden.« Als ich ihn schließlich noch einmal frage, ob an meinen Informationen etwas Wahres dran sei, gibt er zumindest Folgendes zu: »Ich kann Ihnen das bestätigen, aber nicht mehr. Ja, ich habe gehört, dass es die Pläne gibt, in der Community eine Beschneidung durchzuführen. Aber weitere Details kann ich nicht verraten.« Kurze Zeit später klingelt das Telefon und eine afrikanische Frau ist am anderen Ende der Leitung. Sie klingt sehr aufgeregt. »Einige Familien wollen eine Beschneiderin kommen lassen. Sie soll in den nächsten Wochen aus Holland anreisen und mehrere Mädchen verstümmeln.« Einzelheiten weiß sie nicht – oder sie will sie uns nicht sagen. Überall das gleiche Spiel: Egal, wo wir nachfragen, wir stoßen sehr schnell auf eine Mauer des Schweigens. Immer wieder gibt es irgendwelche Hinweise, und diese sind oft sehr ähnlich. Aber an ganz konkrete Informationen kommen wir nicht. Es ist zum Wahnsinnigwerden! Viele wissen es. Aber niemand sagt etwas.
Das hat nichts mit Religion zu tun Ich träume von einem Mädchen. Es ist fünf, vielleicht sechs Jahre alt. Es ist kohlrabenschwarz, hat struppige Locken und riesige Kulleraugen. Es liegt auf einer Eisenpritsche, die mit einem grünen Laken bedeckt ist. Der Raum, in dem es sich befindet, ist ansonsten leer, kahl und düster. Das Mädchen hat Angst. Es zittert, aber es bewegt sich kaum. Erst jetzt erkenne ich den Grund. Es ist festgeschnallt mit dicken dunkelbraunen Ledergurten, an den Handgelenken und an den Fußknöcheln. Die Beine sind gespreizt. Die Tür geht auf. Fünf Frauen treten ein. Ihre Gesichter kann ich nicht sehen. Niemand sagt etwas. Eine Frau trägt eine kleine, weiße Nierenschale in der Hand. Darin liegt eine Rasierklinge. Die anderen Frauen halten weiße Tücher. Die Beschneiderin stellt sich an das Fußende der Pritsche, die in der Mitte des Raumes steht. Die Frauen gruppieren sich um sie herum. Immer noch hat keine ein Wort gesagt. Die Beschneiderin kniet sich vor den gespreizten Beinen des Mädchens hin, stellt ihre Schüssel auf die Pritsche und nimmt die Rasierklinge in die rechte Hand. Dann führt sie die Hand Richtung Scham des Mädchens. Mit einem Mal wird der Raum von oben herab mit grellem weißen, gebündelten Licht erhellt. Alle schrecken zusammen und schauen nach oben. Eine Stimme ertönt: »Hört auf damit. Es ist gegen unsere Religion.« Dann ist es wieder totenstill. Das grelle Licht ist verschwunden. Die Beschneiderin legt ihre Rasierklinge zurück in die Schüssel, sie steht auf und verlässt mit langsamen
Schritten den Raum. Die Frauen folgen ihr wortlos. Die Riemen an den Armen und an den Beinen des Mädchens sind nicht mehr da. Das Mädchen richtet sich auf, reibt sich die Augen und sitzt inmitten einer bunten Blumenwiese. Daneben kniet seine Mutter und sagt: »Es ist vorbei. Es ist für immer vorbei.« Auf wen hören Menschen auf der ganzen Welt am ehesten? Auf geistliche Führungspersönlichkeiten, davon bin ich absolut überzeugt. Genitalverstümmelung wäre von heute auf morgen kein Thema mehr, wenn die Oberhäupter aller Religionen sagen würden: »Die Verstümmelung widerspricht den ethischen Grundsätzen unserer Glaubensgemeinschaft. Lasst ab davon.« Kein Gesetz, keine Aufklärungskampagne, keine Polizei, keine Gerichtsstrafe, keine politische Überzeugungsarbeit hat eine solche Macht wie die kirchlichen Würdenträger. Mit nur fünf Worten – »Es ist gegen unsere Religion« – könnten sie diesen Horror beenden. Eine Vision? Vielleicht noch heute. Hoffentlich nicht für immer.
* Ich bin Muslimin. Ich glaube und ich bete. Trotzdem steuere ich keine Boeings in Hochhäuser, trotzdem setze ich mich nicht mit Sprengladungen am Körper in voll besetzte Autobusse und trotzdem meuchle ich keine Menschen, die anderen Glaubens sind. Es muss in Zeiten wie diesen noch einmal klar und deutlich gesagt werden: Die Mehrheit der Muslime – in Europa oder sonst wo auf der Welt – ist friedlich und verabscheut Gewalt genauso wie ich. Es sind einige Scharfmacher, die im Begriff sind, das zu zerstören, was das
gemeinsame Ziel von Tausenden toleranten Menschen in Europa ist: das friedliche Nebeneinander verschiedener Kulturen, Hautfarben und Religionen möglich zu machen. Heute regiert die Gewalt. Heute brennen Moscheen. Das Schiff »Europa« ist ins Schwanken geraten. Was wird alles über Bord gehen? Und: Wohin geht die Reise? Der 2. November 2004 war ein Tag wie viele in Amsterdam. Das Thermometer quälte sich auf herbstliche Temperaturen. Gegen neun Uhr radelte ein kräftiger, blonder Mann mittleren Alters durchs Grachtenviertel. In der Linneaustraat wurde er von einem anderen Fahrradfahrer eingeholt. Als die Männer fast auf gleicher Höhe waren, zog der Verfolger eine Pistole und feuerte sechs Schüsse ab. Das Opfer versuchte noch auf die andere Straßenseite zu flüchten und stürzte. Nun warf sich der Täter auf den Blonden, zog ein Schlachtermesser und schnitt ihm wie einem Tier die Kehle durch. Dann spießte er ein fünfseitiges Bekennerschreiben auf ein Messer und steckte es dem Mann in die Brust. Eine Busfahrerin fotografierte den Toten mit ihrer Handykamera. Das Bild ging um die Welt. Der Attentäter mit dem langen Bart und in der weißen Dschallabah blieb noch einige Minuten lang triumphierend neben seinem Opfer stehen, flüchtete und wurde eine halbe Stunde später nach einem Schusswechsel verhaftet. Ein Holländer aus marokkanischer Familie, 26 Jahre alt, Anhänger der islamistisch ausgerichteten terroristischen Szene des Landes. Das Opfer: Theo van Gogh, 47, Urgroßneffe des großen Malers, Filmregisseur, Provokateur, Enfant terrible. Er produzierte neunzehn Lowbudget-Filme (sechs davon auf eigene Kosten), die allesamt sehr provokant sind. Er galt als größter Kritiker des islamischen Fundamentalismus, radikale Muslime nannte er einmal »eine
Horde mittelalterlicher Ziegenficker«. Er äußerte öffentlich, er habe vor, auszuwandern, »weil sich die Niederlande zu einem anderen Belfast mit brennenden Kirchen und Moscheen« entwickelt hätten. Und: »Ich werde auf der Straße ermordet.« Diesen Satz sagte er ein Jahr, bevor er umgebracht wurde. An jenem 2. November war er auf dem Weg ins Büro, um dem Dokumentarfilm »06/05«, ein Porträt über den 911 Tage zuvor ermordeten Politiker Pim Fortuyn, den letzten Schliff zu geben. Es war der Tag, an dem die Niederlande, das gefeierte Paradies der Liberalität, ihre Unschuld verloren. »Flammen im Multikulti-Land« schrieben damals die Zeitungen in aller Welt. Elf Minuten reichten aus, um ein Land aus den Angeln zu heben. Elf Minuten – so lange dauert der Film »Submission, Teil 1«, bei dem Theo van Gogh Regie führte und der Ende August 2004, versteckt im Kulturprogramm des holländischen Staatsfernsehens VPRO, lief. Dieser Kurzfilm hat die Unterdrückung der Frau in der islamischen Gesellschaft zum Thema. Der Film ist auf Englisch mit holländischen Untertiteln. Vier junge, islamische Frauen, die von Schauspielerinnen dargestellt werden, schildern darin, wie sie vom Vater zwangsverheiratet, von ihren Ehemännern versklavt und misshandelt, vom Onkel vergewaltigt und geschwängert wurden. Die Bildsprache ist drastisch. Die Frauen knien in einem Gebetshaus, sind nur mit einem durchsichtigen Tschador bekleidet, das Gesicht ist bis auf die Augen verschleiert. Bauch, Beine und Arme sind mit Suren aus dem Koran beschrieben und mit blutigen Striemen übersät. Eine kurze Szene, in der eine geschundene Frau mit ruhiger Stimme im Zwiegespräch mit Gott ihr Herz ausschüttet, ist immer wieder dazwischengeschnitten. Im
Hintergrund sind Schläge zu hören. »0 Allah, Allmächtiger, du sagst, dass Männer Beschützer und Besitzer der Frauen sind, weil du ihnen mehr Kraft gegeben hast«, betet diese Frau, »ich fühle mindestens einmal in der Woche die Kraft meines Ehemanns am Kinn meines Gesichts. 0 Allah, Allmächtiger, das Leben mit meinem Ehemann ist schwer zu ertragen, aber ich unterwerfe mich deinem Willen (...) Ich fühle mich eingesperrt wie ein Tier, das auf seinen Schlächter wartet.« Das Drehbuch für diesen Kurzfilm stammt aus der Feder der in den Niederlanden lebenden somalischen Muslimin Ayaan Hirsi Ali, einer streitbaren Politikerin, die sich für die Befreiung der islamischen Frau stark macht – auch und vor allem aus der kulturellen Umklammerung durch die Genitalverstümmelung. Ayaan Hirsi Ali ist Mitte dreißig. Sie wurde in Mogadischu geboren. Ihre Mutter war die vierte Frau eines somalischen Politikers, der seine Tochter streng nach konservativen islamischen Grundsätzen erzog. Die Familie musste aus politischen Gründen aus Somalia fliehen, landete erst in Saudi-Arabien und dann in Kenia. Als Ayaan Hirsi Ali Teenager war, wurde sie gegen ihren Willen mit einem Neffen verheiratet. Sie sollte ihr restliches Leben als Hausfrau und Mutter verbringen. Sie entkam dem »Gefängnis«, reiste mit Hilfe von Freunden durch Europa und landete schließlich in den Niederlanden. Sie verstand kein Wort Holländisch und schlug sich zunächst als Putzfrau und Briefsortiererin durch. Als sie die Sprache gut genug konnte, absolvierte sie ein Politikwissenschaftsstudium und arbeitete währenddessen nebenbei in Frauenhäusern und in Kliniken, die Abtreibungen durchführten. In jener Zeit brach sie mit dem Islam. Heute nennt sie den Propheten Mohammed einen
»Tyrannen« und hält den Islam für »eine rückständige Kultur«. Nach dem Studium engagierte sie sich bei der sozialdemokratischen PvdA, vor den Parlamentswahlen 2003 wechselte sie zur rechtsliberalen VVD und ist seitdem Parlamentsabgeordnete. Der 2. November 2004 veränderte auch ihr Leben. Denn das fünfseitige Bekennerschreiben des Attentäters enthielt auch eine Todesdrohung gegen sie persönlich. »Ich weiß, dass dein Ende naht! Ich weiß, oh Ungläubige, dass euer aller Ende naht«, war da zu lesen. Welcher Kampf wird hier ausgetragen? Ein Kampf der Kulturen? Ein Kampf der Religionen? Ein Kampf gegen Genitalverstümmelung und für die Befreiung der Frauen? Die Niederlande gelten als Europas Musterland der Toleranz. Erlaubt ist, was nicht verboten ist. Zwei Millionen der sechzehn Millionen Niederländer sind Ausländer, darunter 1,4 Millionen Muslime. Sie leben isoliert, in ihren eigenen Welten, in Amsterdam, Den Haag oder Rotterdam. Ein Drittel der Bevölkerung ist »nicht westlicher Herkunft«, der Islam hier die am weitesten verbreitete Religion. In Amsterdam sind zwei Drittel der Jugendlichen Kinder von muslimischen Immigranten. 75 Prozent der Ausländer heiraten innerhalb ihres Herkunftsmilieus. Soziologen sprechen von so genannten Parallelwelten. In den anderen großen europäischen Städten sieht es nicht anders aus. Wer mit den Frauen in den Ausländervierteln dieser Städte spricht, merkt schnell, dass sie nicht in einer parallelen Welt leben, sondern wie auf einem anderen Planeten. Sie wissen mitunter gar nicht, wie die Stadt heißt, in der sie wohnen. »Kaum jemand lebt in Holland so isoliert von der Gesellschaft wie die muslimischen Frauen«, bestätigt auch Ayaan Hirsi Ali, »wie in einem Käfig.«
Meine somalische Schwester kämpft für ein neues AntiFGM-Gesetz, das sich stark an das Gesetz in Frankreich anlehnt. Sie fordert, dass Mädchen aus Risikogebieten von der Geburt an bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr regelmäßig untersucht werden, des Weiteren, dass den Eltern und dem Täter oder der Täterin der Prozess gemacht wird, wenn man eine Verstümmelung feststellt, dass Menschen, die FGM durchführen oder unterstützen, in eine Meldekartei aufgenommen werden und ihnen der Zutritt zur EU verwehrt wird. Die holländische Rechtsnorm ist momentan noch so, dass derjenige, der seine Tochter in Somalia oder dem Sudan genital verstümmeln lässt, straffrei ausgeht, weil in beiden afrikanischen Ländern FGM nicht verboten ist. In den Niederlanden leben 39 000 Frauen, die aus Risikostaaten stammen. Die meisten wanderten in den achtziger und neunziger Jahren aus Somalia ein. Wie viele Mädchen und Frauen in den Niederlanden Opfer von FGM wurden, weiß keiner. »Es könnten zehn im Jahr sein, aber auch hundert am Tag«, meint Anke van der Kwaak, die niederländische Anthropologin und FGM-Forscherin. Ein neues Gesetz? Schnell meldeten sich Bedenkenträger. So sei es etwa inhuman und rassistisch, Mädchen aus bestimmten Herkunftsländern herauszupicken und zu untersuchen. Die Niederländer diskutieren eifrig, während weiterhin Tausende Mädchen pro Jahr verstümmelt werden.
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Ich bin keine Koran-Expertin. Meine Erfahrungen, meine Erziehung und meine Instinkte prägen meinen Lebensstil und
meine Einstellungen, so wie bei vielen anderen Menschen auch. Ich lehne Gewalt, Polygamie, Unterdrückung von Frauen und Genitalverstümmelung ab, weil ich in meinem Innersten spüre, dass all das nicht richtig ist, und nicht etwa deshalb, weil ich mich wissenschaftlich damit beschäftigt hätte. Religion ist für mich persönlich nicht allein das geschriebene Wort, sondern vielmehr das, was wir Menschen daraus machen. Egal, ob wir Christen, Juden oder Moslems sind. Da ich aber genauer wissen möchte, warum sich so viele Menschen, die FGM befürworten, auf den Koran berufen, und gleichzeitig so viele sagen, dass FGM darin mit keiner Silbe erwähnt wird, treffe ich mich mit Amina Baghajati. Sie ist gebürtige Deutsche. Durch ihren Mann kam sie mit dem Islam in Verbindung und konvertierte »nach reiflicher Überlegung«. Amina lebt heute in Wien, ist Vorstandsmitglied der österreichischen Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch, Mutter von vier Kindern und widmet sich »mit besonderer Liebe« dem Koran-Studium. Als sie die Tür ihrer Wohnung öffnet, erkenne ich sie im ersten Moment gar nicht. Die schlanke Frau mit dem langen geflochtenen Zopf habe ich noch nie zuvor ohne Kopftuch gesehen. Ihre Kinder toben im Wohnzimmer. »Mittlerweile ist FGM in unserer Glaubensgemeinschaft ein Thema«, sagt Amina. »Aber man muss mit sehr viel Fingerspitzengefühl dieses Tabu brechen.« Sie bietet mir Tee an und wir tauschen uns über ein paar private Dinge aus. »Wie steht der Islam zu FGM?«, frage ich sie schließlich ganz direkt. »Die islamische Position ist eindeutig«, antwortet Amina. »Es besteht Konsens darüber, dass FGM nicht praktiziert werden soll. FGM ist ein Verbrechen gegen die Frauen.«
»Aber warum wird der Islam dann häufig mit FGM in Verbindung gebracht?«, will ich wissen. »Weil sich viele beschneidende Volksgruppen fälschlicherweise auf den Islam berufen. Doch nirgendwo im Koran steht etwas zu FGM, geschweige denn etwas Positives. FGM ist ein vor-islamisches Phänomen.« »Ist im Koran nicht auch die körperliche Unversehrtheit der Frau vorgeschrieben?« »Ja, der Körper wird als ein Geschenk Gottes angesehen. Deshalb sind auch Schönheitsoperationen offiziell untersagt. Außerdem hat die Frau im Islam das Recht auf ein Geschlechtsleben. Ein unerfülltes Geschlechtsleben ist ein Scheidungsgrund für eine Frau. Es gibt auch keine Lustfeindlichkeit im Islam: Innerhalb der Ehe ist ein erfülltes Sexualleben eine gute Tat. Auch Verhütung ist im Islam möglich. Das, was für mich aber am meisten zählt, ist die Tatsache, dass der Prophet, der ja ein Vorbild für alle Muslime ist, seine Töchter nicht hat beschneiden lassen.« Ich erzähle Amina von meinem Plan, eine Aufklärungskampagne zu FGM ins Leben zu rufen. Sie ist sehr erfreut darüber und betont, wie notwendig es sei, die Betroffenen zu informieren. »Das Thema ist sehr sensibel zu behandeln, nicht vom hohen Ross der Europäerin herab.« Dann schildert sie ein Erlebnis, das sie sehr geprägt hat: »Ein junger Mann fragte seine Braut während der Verlobungszeit, ob sie beschnitten sei. Als er hörte, dass eh >alles in Ordnung< sei, seine künftige Frau also beschnitten sei, war dies für ihn eben nicht >in Ordnung