Nr. 395
Schatten über Ruoryc Die Welt des kosmischen Kundschafters in Gefahr von H. G. Ewers
Nun, da Atlantis-Pthor m...
6 downloads
225 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 395
Schatten über Ruoryc Die Welt des kosmischen Kundschafters in Gefahr von H. G. Ewers
Nun, da Atlantis-Pthor mittels der neuen eripäischen Erfindung aus dem Korsallo phur-Stau befreit werden konnte, kommt der »Dimensionsfahrstuhl« auf seiner vor programmierten Reise der Schwarzen Galaxis unaufhaltsam näher. Es gibt nichts, was die Pthorer und Atlan, ihr neuer König, tun könnten, um den fliegenden Weltenbrocken abzustoppen und daran zu hindern, die Schwarze Galaxis zu erreichen – jenen Ort also, von dem alles Unheil ausging, das Pthor im Lauf der Zeit über ungezählte Sternenvölker brachte. Wohl aber existiert die Möglichkeit, noch vor Erreichen des Zieles die gegenwärti ge Situation in der Schwarzen Galaxis, die allen Pthorern unbekanntes Terrain ist, zu erkunden – und Atlan zögert nicht, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Ihm geht es darum, schwache Punkte des Gegners zu entdecken, mit dem sich die Ptho rer bald werden messen müssen. Während sich die Bewohner Pthors unter des Arkoniden Führung so gut wie mög lich für die kommende Auseinandersetzung zu wappnen versuchen, nähert sich ne ben Pthor auch das Raumschiff Algonkin-Yattas, des kosmischen Kundschafters, der Schwarzen Galaxis. Dabei gerät Algonkin-Yatta kurzfristig in die Vergangenheit und die Zukunft – und zurück auf seine eigene Welt, und er sieht die SCHATTEN ÜBER RUORYC …
Schatten über Ruoryc
3
Die Hautpersonen des Romans:
Algonkin-Yatta - Der kosmische Kundschafter unternimmt Zeitreisen.
Anlytha - Algonkin-Yattas exotische Begleiterin.
Naskapi-Tikki - Ein Mathoner aus Algonkin-Yattas Zukunft.
Rossini und Chairade - Zwei seltsame Intelligenzen.
1. MYOTEX Algonkin-Yattas Nasenlöcher blähten sich, als er ein Geruchssignal auffing. Er identifizierte es augenblicklich als ein Signal des Dimensionssensors. Algonkin-Yatta erhob sich aus seinem breiten Sessel und trat vor die Anzeigen des Dimensionssensors. Das zuckende mehrfar bige Licht vieler Kontrollampen spiegelte sich auf der blauschwarz schimmernden Haut des haarlosen Schädels und der breiten muskulösen Hände. Da die Anzeigen kein klares Bild der La ge zeigten, nahm Algonkin-Yatta einige Schaltungen vor. Auf den Kontrollfeldern für die Dimension der Zeit wurde ein wirres Knäuel grell strahlender farbiger Linien sichtbar. Gerade wollte Algonkin-Yatta sich mit der Psiotronik seines Kundschafterschiffs in Verbindung setzen, als die Psiotronik sich von sich aus meldete. »Kundschafter, ich messe temporäre Akti vitäten an, die ich nicht logisch einzuordnen vermag«, teilte die Psiotronik mit. »Ich emp fehle dringend, in den Dimensionskorridor zurückzukehren, aus dem wir gekommen sind.« »Ich muß nach Ruoryc!« erwiderte der Kundschafter. »Und das weißt du auch ge nau!« Vor seinem geistigen Auge zogen die Er eignisse noch einmal vorbei, die ihn dazu bewogen hatten, zu seiner Heimatwelt zu rückzukehren. Nachdem er das Kundschafterschiff frei willig dem Sog anvertraut hatte, der es in die Schwarze Galaxis ziehen würde, hatten Al gonkin-Yatta und seine Begleiterin Anlytha die Schrecken einer gewaltsamen Beförde
rung innerhalb eines Mediums durchlebt, dessen Naturgesetze augenscheinlich andere waren als die des normalen Universums. Algonkin-Yatta und Anlytha hatten es in Kauf genommen, weil sie hofften, in der Schwarzen Galaxis endlich den Arkoniden Atlan zu finden, auf dessen Spuren sich der Kundschafter schon seit langer Zeit befand – und den er oftmals nur um wenige Tage ver fehlt hatte, wenn er irgendwo ankam, wo At lan sich nach seinen Informationen aufhalten sollte. Doch irgendwo unterwegs waren sie in ei ne unsichtbare Barriere geraten, die das Kundschafterschiff in sich aufsaugte und es zwischen verschiedenen Rotationsfeldern zu Staub zermahlen hätte, wäre es Algonkin-Yat ta in Zusammenarbeit mit der Psiotronik nicht gelungen, das Schiff unter Aufbietung aller Energiereserven und unter Überlastung der meisten Maschinen aus der Barriere hin aus- und in einen x-beliebigen Dimensions korridor hineinzukatapultieren. Dort hatte eine Überprüfung des Schiffes ergeben, daß der Kampf gegen die Barriere Schäden verursacht hatte, die sich mit Bord mitteln nicht beheben ließen. Da diese Schä den vor allem die Aggregate betrafen, die das Kundschafterschiff gegen Angriffe von außen schützen sollten, entschloß sich Al gonkin-Yatta schweren Herzens dazu, die Suche nach Atlan zu unterbrechen und erst einmal auf seine Heimatwelt zurückzukeh ren, wo MYOTEX die Schäden sicherlich in kurzer Zeit beheben lassen konnte. MYOTEX, das waren alle jene Anlagen auf dem Planeten Ruoryc, in denen das Volk der Mathoner lebte. MYOTEX, das war aber auch das robotische Hirn des Gesamtkom plexes, das technische Erbe einer ausgestor benen Zivilisation, das sich der Vorfahren der heutigen Mathoner, Flüchtlingen, die mit
4 dem Raumschiff MATHON vor halutischen Kampfschiffen flohen, annahm. MYOTEX nahm sie in seine Anlagen auf, beschützte sie vor den extremen Umweltbedingungen Ruorycs und versorgte sie mit allem Nöti gen. Innerhalb weniger Generationen wurden die Mathoner vollständig in das technische Erbe der ausgestorbenen Zivilisation inte griert. Sie brauchten sich den Umweltbedin gungen nicht anzupassen, sondern lebten in der von MYOTEX geschaffenen und be wahrten Geborgenheit. Aber Intelligenzen wie die Mathoner ver mochten ohne zielgerichtete Arbeit nicht wirklich zu leben. Diejenigen, die sich damit abfanden, degenerierten. Sie oder ihre Nach kommen blieben kinderlos. Auf die Dauer überlebten nur diejenigen Gene, die mit dem starken Willen zu zielgerichteter Aktivität »programmiert« waren. Innerhalb von MYOTEX kam es zu Re bellionen und Ausbrüchen. Die Rebellionen liefen sich regelmäßig selbst tot, da niemand an die zentralen Steueranlagen von MYO TEX herankam. Aber von den Ausbrechern kamen alle, die nicht bald umkehrten, in den extremen Umweltbedingungen Ruorycs um. In seiner Sorge um die ihm Anvertrauten suchte MYOTEX nach Wegen, sinnlose Re bellionen und Quasi-Selbstmorde zu verhü ten. Es startete schließlich ein Teilanpas sungsprogramm und später ein Raumfahrt programm. Das Raumfahrtprogramm sollte dazu dienen, die Mathoner mit dem am stärksten ausgeprägten Drang nach Freiheit und schöpferischer Leistung zu Kosmischen Kundschaftern auszubilden, ihnen mit allen technischen Raffinessen ausgestattete Kund schafterschiffe zu geben und sie in den Kos mos zu schicken. Es war bei einer dieser Fahrten, als Al gonkin-Yatta nicht nur in einem Raum schiffswrack Anlytha entdeckte und rettete, sondern auch von einem Sterbenden Infor mationen über Atlan erhielt, die in ihm eine so große Sympathie für den Arkoniden er zeugten, daß er seinen vorgeschriebenen
H. G. Ewers Kundschafterkurs verließ und fortan nur noch den Spuren Atlans nachjagte. »Ich muß nach Ruoryc!« wiederholte der Kundschafter. Erstaunt registrierte er in sich ein Gefühl, das er als Heimweh identifizierte – und zwar nicht nur nach seinem Volk, son dern seltsamerweise auch nach MYOTEX. Ihm wurde klar, daß MYOTEX für ihn, wenn auch bisher unbewußt, auf einer höhe ren Ebene Vater und Mutter zugleich gewe sen war. »Ich errechne die Gefahr eines Zeitpara doxons, für den Fall, daß wir unseren Kurs beibehalten«, erklärte die Psiotronik. »Aber du fliegst doch nach Speicherdaten, die MYOTEX dir einprogrammiert hat!« regte sich der Kundschafter auf. »Wie konn ten wir dann überhaupt in Gefahr geraten?« »Die Gefahr muß erst vor kurzem entstan den sein«, antwortete die Psiotronik. »Akzeptiert«, gab der Kundschafter zu rück. »Wohin kommen wir, wenn wir in den Dimensionskorridor zurückkehren, aus dem wir gekommen sind?« Als die Psiotronik schwieg, sagte er: »Ich werde dich doch demnächst überho len lassen, Psiotronik. Mit deinem Schwei gen beweist du nämlich, daß du Gefühle hast, die eine Psiotronik nicht haben sollte – und außerdem, daß du eigenmächtig darüber entscheidest, ob du eine Frage von mir be antwortest oder nicht.« Er dachte eine Weile darüber nach, was er tun sollte. Ein Zeitparadoxon zu riskieren, war Wahnsinn, aber es war auch Wahnsinn, eine Rückkehr in die Barriere zu riskieren, die schon einem intakten Raumschiff fast zum Verhängnis geworden war. Schließlich entschloß sich Algonkin-Yatta für die Möglichkeit, bei der wenigstens die Aussicht darauf bestand, nach Überwindung der Gefahren etwas zu gewinnen, nämlich nach Ruoryc heimzukehren. »Nach Ruoryc!« sagte er mit fester Stim me und ballte die Fäuste, ergrimmt darüber, daß er selbst gar nichts dazu beitragen konn te, die Gefahren zu meistern, die dem Kund schafterschiff, ihm und Anlytha bevorstan
Schatten über Ruoryc
5
den.
* Die Psiotronik schaltete die Interdimensi onstriebwerke hoch und steuerte das Kund schafterschiff auf die Kraftfeldlinie zu, die »hinter« dem Zeitlinienknäuel vorhanden war, nicht sichtbar, aber anmeßbar für die hochempfindlichen Sensoren des Schiffes. Algonkin-Yatta beobachtete mit gespann ter Aufmerksamkeit die Anzeigen, die so wohl das Knäuel als auch die Kraftfeldlinie für ihn indirekt sichtbar machten. Er wußte, daß die Kraftfeldlinie eigentlich nicht hinter dem Zeitlinienknäuel sein durfte, sondern überall dort in Fahrtrichtung des Kundschaf terschiffs vorhanden sein sollte, wo das Schiff eine bestimmte Geschwindigkeit er reicht hatte, eine Geschwindigkeit, die etwas über der einfachen Lichtgeschwindigkeit lag und damit nicht innerhalb des sogenannten Einstein-Kontinuums praktizierbar war. Warum es in diesem Fall anders war, ver mochte sogar die Psiotronik nur zu raten. Es hatte etwas mit der »Brechung« temporärer Aktivitäten zu tun, wobei der Ausdruck »Brechung« nur der Versuch war, etwas an schaulich zu schildern, was absolut unan schaulich war. Als es schien, als käme es zur Kollision zwischen dem Kundschafterschiff und dem Zeitlinienknäuel, spielten plötzlich Ge schwindigkeitsanzeige und Dimensionssen sor verrückt. Unwillkürlich hielt sich Algonkin-Yatta an den Armlehnen seines Sessels fest, denn er erwartete einige heftige Erschütterungen und hoffte nur, daß sie nicht das Leistungs vermögen der Andruckabsorber überforder ten. Das hätte unweigerlich seinen und An lythas Tod bedeutet, denn bei den hohen Fliehkräften, die beim Beschleunigen, Ver zögern oder Kurvenflug eines Raumschiffs wirkten, spielte es keine Rolle, ob jemand an 1,5 Gravos wie Anlytha oder an 3,0 Gravos wie der Kundschafter angepaßt war. Bei diesem Gedankengang fragte sich Al
gonkin-Yatta, was Anlytha eigentlich so trieb. Seit mehreren Stunden befand sie sich außerhalb des kuppelförmigen Zentralraums, von dem aus alle Aktivitäten des Kundschaf terschiffs gesteuert wurden. Als er im nächsten Augenblick Anlythas Stimme über die interne Kommunikations anlage hörte, dachte er irritiert an die Mög lichkeit, daß er telepathische Fähigkeiten entwickelt haben könnte. Allerdings verstand er nicht, was seine Begleiterin sagte, denn rings um die Zentra le grollte es plötzlich so laut, daß alle ande ren Geräusche davon übertönt wurden. Se kunden später verstummte das Grollen. Da für stöhnten und ächzten die Verbindungen im Schiff, als würde es jeden Augenblick auseinanderbrechen. Wenig später verstummte auch dieses be drohliche Geräusch. Es wurde totenstill. »Wir sind hindurch und in der Spur!« stellte der Kundschafter nach einem Blick auf die Anzeigen fest. »Und alles scheint in Ordnung zu sein!« »Das glaubst aber nur du!« zeterte die helle Stimme Anlythas aus den Schallfel dern der internen Kommunikationsanlage. »Du scheinst mich vorhin nicht ernstgenom men zu haben, Algonkin-Yatta!« »Immer, wenn du meinen vollen Namen nennst, bist du böse auf mich«, erwiderte der Kundschafter. »Aber in diesem Fall bin ich mir keiner Schuld bewußt. Deine Stimme ist nämlich von dem fürchterlichen Grollen der Antriebsaggregate übertönt worden, die uns durch das Zeitlinienknäuel gestoßen haben.« »Oh!« entfuhr es Anlytha. Sie zwitscherte traurig. »Und die Zeitkapsel ist dort hängen geblieben, in diesem Zeitlinienknäuel.« »Was?« entfuhr es Algonkin-Yatta. »Aber das ist doch nicht möglich!« Tatsächlich wurde er sich erst jetzt klar darüber, daß er sich nicht mehr vorstellen konnte, jemals ohne die Zeitmaschine ausgekommen zu sein, die die rätselhaften Paths ihm ge schenkt hatten. »Ich stehe schließlich in dem Hangar, in dem wir die Zeitkapsel untergebracht hat
6 ten«, erklärte Anlytha. »Mir sträuben sich noch jetzt die Federn bei dem Gedanken, daß ich die Kapsel erst kurz vor ihrem plötz lichen Verschwinden verlassen hatte. Wenn ich noch darin gewesen wäre …« »Was hattest du in der Zeitkapsel zu su chen?« wollte der Kundschafter wissen. »Oh, ich hatte etwas darin vergessen«, antwortete Anlytha. Der Kundschafter hörte Verlegenheit aus ihrer Stimme heraus. »Etwas vergessen!« echote er ahnungs voll. »Doch nicht etwa kostbares Geschmei de aus der Zeit des römischen Kaisers Mar cus Aurelius, in der unser Freund Dorstella rain alias Dorjan verschollen ist?« »Nun, ja«, erwiderte Anlytha zögernd. »Eigentlich handelt es sich nur um einen mit goldenen Ahornblättern verzierten Silber krug. Ein paar Kleinigkeiten haben sich zu fällig darin gefangen, aber …« »Ein paar Kleinigkeiten!« entrüstete sich Algonkin-Yatta. »Ich wette, es handelt sich um Schmuck im Wert von mindestens hun dert Millionen Solar. Kein Wunder, daß Ab mar Vialathon nicht gesund wurde, solange er an Bord der Zeitkapsel beziehungsweise des Kundschafterschiffs war.« »Aber wohin ist die Zeitkapsel ver schwunden?« rief Anlytha. »Sie kann doch nicht verzaubert worden sein!« »Nein, bestimmt nicht, mein reizender Geistervogel mit den langen Klauen«, mein te Algonkin-Yatta sarkastisch. »Vielleicht sind wir diejenigen, die verschwunden sind. Ich schlage vor, du kommst gleich in die Zentrale, Lytha. Ich rechne nämlich damit, daß wir bald vor dem Yrgarh-System an kommen.« »Ich fürchte mich«, sagte Anlytha. »Was?« rief Algonkin-Yatta verwundert. »Wovor denn, Lytha?« »Vor Millionen Lebewesen deines Schla ges, Algonkin«, antwortete Anlytha. »Du verursachst mir schon Alpträume. Was soll dann erst werden, wenn eine unüberschauba re Menge blauhäutiger Zwergelefanten mir auf den Zehen herumtrampelt – und noch mehr auf den Nerven.«
H. G. Ewers »Achtung!« meldete sich die Psiotronik. »In elf Minuten verlassen wir die Interdim spur und müßten danach einunddreißig Lichttage vor der Sonne Yrgarh stehen.« »Müßten?« fragte Algonkin-Yatta. »Bist du nicht absolut sicher, Psiotronik?« »Darüber versuche ich mir selbst klarzu werden«, erwiderte die Psiotronik. »Sobald es mir gelungen ist, melde ich mich wieder.« Als Anlytha ungefähr zwei Minuten spä ter die Zentrale betrat, eine große und schwere Vase in den Händen, war die Zen trale in eine orgiastische Fülle bunter zuckender Lichter getaucht. Es sah aus, als würde die gleichzeitig von zehn Big Bands gespielte Musik gleichzeitig von einem Dut zend Lichtorgeln photoniert. Aber es war nur die Psiotronik, die an ei nem scheinbar unlösbaren Problem arbeitete und ihre hektische Arbeitsweise durch das Flackern der Kontrollen kundgab. Als das Kundschafterschiff die »Interdimspur« genannte Kraftfeldlinie, auf der es durch ein dimensional übergeordnetes Kontinuum geglitten war, verließ, hörte die photonische Kakophonie endlich auf.
* »Na, hast du dein Problem gelöst, Psiotro nik?« erkundigte sich Algonkin-Yatta und forderte Anlytha mit einer Geste dazu auf, in einem Sessel neben seinem Platz zu neh men. »Es wurde durch die Konfrontierung mit den Tatsachen als rein theoretisch erkannt«, sagte die Psiotronik. »Die Position von Yr garh hat sich um 104,4 Lichttage zur Pro grammposition verschoben.« »Da Yrgarh seine Umlaufgeschwindigkeit ums galaktische Zentrum nicht plötzlich dra stisch erhöht haben kann, dürfte die relative Positionsverschiebung auf einer Abwei chung des Schiffes vom vorgesehenen Ein tauchort beruhen«, erwiderte der Kundschaf ter. »Theoretisch könnte es so sein«, räumte die Psiotronik ein. »Aber eine Überprüfung
Schatten über Ruoryc der Rückkehrprogrammierung ergab keinen Hinweis auf eine Änderung.« »Überprüfe die Positionen der Sterne in der näheren Umgebung von Yrgarh!« sagte Algonkin-Yatta. »Soeben abgeschlossen«, teilte die Psio tronik mit. »Sie sind relativ zu uns im glei chen Maße wie Yrgarh verschoben, aber re lativ zu Yrgarh normal, bis auf die nicht zum Umlauf des Zentrums gehörenden Posi tionsveränderungen.« Algonkin-Yatta schloß für einen Moment die Augen, dann sagte er leise: »Ich ahne, was geschehen ist.« »Ich auch«, warf Anlytha ein. »Wir haben uns im Dschungel der Zeiten verirrt. Kein Wunder, bei dem temporären Gehopse, das wir in all der Zeit getrieben haben, seit wir einem Phantom namens Atlan nachjagen.« »Atlan ist kein Phantom«, korrigierte Al gonkin-Yatta. »Er ist Realität. – Psiotronik, berechne bitte, wieviel Zeit das Yrgarh-Sy stem dazu gebraucht hat, um die bewußten 104,4 Lichttage zurückzulegen!« »Das Yrgarh-System kreist mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 325 Kilometer pro Sekunde um das Zentrum der Galaxis«, sagte die Psiotronik. »Das wären rund 19 500 Kilometer pro Minute, 1 170 000 Kilometer pro Stunde … Die angemes sene Abweichung von 104,4 Lichttagen ent spricht rund 2,76 Billionen Kilometern. Ge teilt durch die durchschnittliche Strecke, die Yrgarh in einem Jahr zurücklegt, ergibt sich ein Zeitraum von rund 273 Jahren.« Mit einem leisen Aufschrei ließ Anlytha die Vase fallen. Dem dumpfen Aufschlag folgte ein lautes Klirren, dann stürzte die Vase. Aus ihrem Innern quoll eine Kostpro be des kostbaren Inhalts, den sie weiterhin barg. Algonkin-Yatta erhob sich, stützte sich mit den Händen auf dem Rand des Kontroll paneels ab und blickte gedankenverloren auf die große Bildplatte, die den Raum vor dem Kundschafterschiff zeigte. »Zweihundertdreiundfünfzig Jahre …!« flüsterte er beklommen. »Was soll ich tun?
7 Darf ich überhaupt nach Ruoryc zurückkeh ren und eine Zukunft kennenlernen, die nie mals meine eigene Zukunft sein kann?« »Vielleicht haben deine Leute in dieser langen Zeit Kultur entwickelt, musizieren, malen und so weiter …«, sagte Anlytha träu merisch. Für einen Moment sah es so aus, als woll te der Kundschafter ihr den Hals umdrehen, doch dann lachte er und meinte: »Du denkst bei allem nur daran, deine Ta schen mit Glitzerkram vollzustopfen, mein Weltraum-Vogel!« Er seufzte. »Aber Spaß beiseite, Anlytha! Ich habe höllische Angst vor dem, was uns auf Yrgarh erwartet, wenn wir nach einem Zeitsprung von zweihun dertdreiundsiebzig Jahren dort ankommen. Wie wird sich die mathonische Kultur wei terentwickelt haben? Wird es überhaupt noch Mathoner geben? Oder sind sie ausge storben oder haben sie die Ursprungswelt ih rer Vorfahren entdeckt und sind dorthin ge flogen?« »Ihre Ursprungswelt war mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Erde der lemuri schen Epoche«, sagte Anlytha. »Das haben die Gespräche auf der Erde ergeben. Wären die Mathoner zur Erde zurückgekehrt, hätten wir sie bei unserem letzten Besuch dort ge funden.« Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gesagt. Sie könnten auch erst in zweihundert Jahren zur Erde auswan dern – von dem Zeitpunkt aus gerechnet, an dem wir eigentlich hätten hier ankommen müssen«, erklärte der Kundschafter. »Es gibt noch ein anderes Problem«, warf die Psiotronik ein. »Jedes Kundschafter schiff muß, wenn es nach Ruoryc zurück kommt, ein bestimmtes Erkennungszeichen senden – und die Erkennungszeichen wech selten nach jeweils zehn Jahren. Wenn wir also unser altes Erkennungszeichen senden, so ist es nicht das derzeit gültige, und ich ha be keine Information darüber, wie MYO TEX reagiert, wenn er annehmen muß, daß jemand sich in unlauterer Absicht nähert. Immerhin hat MYOTEX in unserer Zeit und
8
H. G. Ewers
vorher immer großen Wert darauf gelegt, daß kein einziger Außenstehender erfuhr, wo sich das Yrgarh-System befindet.« »Dieses Risiko müssen wir auf uns neh men«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Selbstverständlich wirst du zusammen mit unserem Erkennungszeichen eine kurze Nachricht senden, durch die MYOTEX über unseren Zeitsprung unterrichtet wird.« »Selbstverständlich, Kundschafter«, sagte die Psiotronik. »Ich soll also auf Heimatkurs gehen?« Der Kundschafter fröstelte plötzlich. »Kann eine Zeit, in die man eigentlich nicht gehört, Heimat sein, Psiotronik? Hei mat ist ja nicht nur ein Planet, sondern im mer auch die Zeit, aus der man kommt. Aber bei mir ist die Zeit, in die ich komme, nicht die Zeit, aus der ich stamme.« »Sei nicht so kompliziert, Algonkin!« sagte Anlytha. »Sieh mich an! Ich weiß nicht einmal, woher ich komme. Deshalb ist es mir egal, wohin ich gehe. Und darum trö stet es mich ein wenig, daß auch du einmal nicht weißt, wohin du gehörst.« Algonkin-Yatta blickte seine Gefährtin ei ne Weile an, dann lächelte er und sagte: »Psiotronik, nimm Kurs auf den Planeten Ruoryc!«
* »Ist das Ruoryc?« fragte Anlytha und deutete auf das Abbild eines die große Bild platte beherrschenden Himmelskörpers. »Aber nein!« rief Algonkin-Yatta. »Das ist Lettaby, der Mond von Ruoryc! Er ist völlig tot, wie du siehst.« Im nächsten Augenblick schloß er, genau wie Anlytha, geblendet die Augen. Etwas unsäglich Grelles war auf der Oberfläche von Lettaby erschienen, so, als hätte jemand dort einen riesigen, superhellen Scheinwer fer angeschaltet. Algonkin-Yattas Nasenschleimhaut iden tifizierte das Geruchssignal, das die höchste Alarmstufe ankündigte, dann sagte die – im Vergleich zu normalen Zeiten erheblich lau
tere – Stimme der Psiotronik: »Notfall Rot! Notfall Rot! Etwas hat alle Sensoren geblendet. Ich bin nicht mehr in der Lage, die Position des Schiffes zu be stimmen. Deshalb muß ich das Schiff so lan ge treiben lassen, bis die Sensoren wieder funktionieren.« Der Kundschafter starrte auf die große Bildplatte, die jetzt wie ein schwarzer Spie gel aussah und genausoviel zeigte. »Was war das?« fragte Anlytha furcht sam. »MYOTEX muß in den vergangenen zweihundertdreiundsiebzig Jahren das Si cherheitssystem für Ruoryc erweitert haben. Zu meiner Zeit gab es auf Lettaby keine An lagen zur Blendung von Raumschiffen – so viel ich weiß.« »Hattest du das alte Erkennungszeichen und eine entsprechende Nachricht gesendet, Psiotronik?« fragte Anlytha. »Ja, Madam«, antwortete die Psiotronik, die ihren Sprachschatz während der Aufent halte der Zeitkapsel auf Terra auf dem Um weg über die Zeitkapsel ebenfalls erweitert hatte. »Aber die einzige Reaktion war die Blendung aller Außen-Sensoren.« Ein heftiger Stoß traf das Kundschafter schiff. Algonkin-Yatta und Anlytha taumel ten. Der Kundschafter fing sich wieder, aber Anlytha flog haltlos durch die Zentrale und prallte gegen eine Wand. »Kollision – mit was?« rief Algonkin-Yat ta, während er zu Anlytha eilte und sie vor sichtig untersuchte, um herauszufinden, ob sie sich etwas gebrochen hatte. »Keine Information«, sagte die Psiotro nik. »Da keine Außen-Sensoren funktionie ren, habe ich nicht mehr registrieren können als du, nämlich einen schwachen Stoß.« »Einen schwachen Stoß!« rief Algonkin-Yat ta empört. »Er hat Anlytha fast umgebracht! Hoffentlich ist ihr Genick nicht gebrochen. Und die Rippen …« Seine Begleiterin fuhr plötzlich hoch und kicherte laut. »Nicht doch!« zwitscherte sie. »Ich bin kitzelig, Yatta!«
Schatten über Ruoryc Der Kundschafter hörte auf damit, ihre Rippen zu betasten. Seine Augen leuchteten. »Du bist also völlig in Ordnung, Lytha!« rief er. »Innen-Sensoren melden die Anwesenheit unbekannter beweglicher Objekte, die offen bar durch die Nebenschleuse zwei eingestie gen sind«, sagte die Psiotronik. »Jemand hat uns eingefangen!« stellte Al gonkin-Yatta fest. »Psiotronik, kannst du nicht genau definieren, was du unter ›unbekannten beweglichen Objekten‹ ver stehst?« »Nein«, antwortete die Psiotronik. »Ich bin nicht einmal sicher, ob es sich tatsäch lich um ›Objekte‹ im Sinn einer bestimmten Menge von in sich abgeschlossenen Einzel gebilden handelt. Aber ich konstatiere un mittelbare Gefahr für dich und Anlytha, Kundschafter. Das Unbekannte bewegt sich auf die Zentrale zu. Ich empfehle Flucht.« »Das kommt nicht in Frage«, erwiderte Algonkin-Yatta und stellte Anlytha wieder auf die Beine. »Ein Kundschafter verläßt sein Schiff niemals, wenn es in Gefahr ist. Anders ist es mit dir, Anlytha. Ich schlage vor, du läßt dich durch die Notröhre hinaus katapultieren. Hm, aber das geht auch nicht, weil wir nicht wissen, was außerhalb des Schiffes ist.« »Ich weiß, was ich tue«, sagte Anlytha und zwitscherte hell, während ihr kleiner weißer Federkamm sich auf ihrem Kopf un ternehmungslustig aufrichtete. »Verrate bitte niemandem, daß du nicht allein an Bord bist, Yatta! Schließlich ist es die Norm, daß Kundschafter allein auf ihren Schiffen sind.« »Du willst dich verstecken«, stellte Al gonkin-Yatta fest. »Wo?« »Keine Zeit!« sagte Anlytha. Sie raffte den römischen Silberkrug auf, stopfte das herausgefallene Geschmeide hinein und ver ließ die Zentrale durch den Notausgang. Algonkin-Yatta streifte seine Bordkombi nation ab, versteckte die Geheimausrüstung in seinem Unterzeug und an den dafür vor gesehenen Körperverstecken, zog die Raum kombination schnell wieder an und war ge
9 rade fertig damit, als das Hauptschott der Zentrale sich öffnete. Der Kundschafter gehorchte nicht nur den alten Kundschaftergesetzen, sondern auch der eigenen Vernunft, als er den Waffengür tel abschnallte und wegwarf. Durch die Öffnung wallte ein in allen Far ben leuchtender, unterschiedlich hell glit zernder Strom aus undefinierbarer Materie herein, einem Nebelstreif ähnelnd oder mehr noch der Miniatur-Nachbildung eines strei fenförmigen Weltraum-Gasnebels. Vorsichtshalber schloß Algonkin-Yatta den leichten, normalerweise im Halswulst geborgenen Druckhelm der Bordkombinati on, denn obwohl er vorerst nicht an Gegen wehr dachte, wollte er den glitzernden Nebel nicht so dicht an sich herankommen lassen, daß er keine Luft mehr bekam. Es dauerte nicht lange, da hatte der Nebel die Zentrale vollständig ausgefüllt. Der Kundschafter stak mitten in dem Nebel und versuchte vergeblich zu erkennen, was die ses unglaubliche fremde Etwas in der Zen trale tat.
* Anlytha richtete einen psionischen Im pulsstrahl auf die Psiotronik des Kundschaf terschiffs. Das heißt, sie wollte es tun, aber sie bekam keinen Kontakt. Es schien, als gä be es keine Psiotronik mehr. Panik erfaßte Anlytha. Sie fühlte sich plötzlich allein und hilflos dem Unbegreifli chen ausgeliefert. Nur der Gedanke an Algonkin-Yatta und die Sorge um ihn verliehen ihr die Kraft, ge gen die Panik anzukämpfen und sich zu ent schließen, allein gegen das Unbegreifliche zu bestehen. Das Schwierigste an der ganzen Sache war, daß Anlytha nicht einmal ahnte, worum es sich bei dem Eindringling handelte. Auch wußte sie nicht, was der Fremde wollte. Ihr war nur klar, daß es Gewalt gegen das Kundschafterschiff angewandt hatte. War es möglich, daß MYOTEX in den
10
H. G. Ewers
vergangenen zweihundertdreiundsiebzig Jahren seine Sicherheitssysteme in einer Weise weiterentwickelt hatte, daß jemand, der diese Zeitspanne nicht miterlebt hatte, sich die Art und Weise dieser Weiterentwick lung überhaupt nicht vorstellen konnte? Anlytha sah sich in der kugelförmigen Wohnzelle des Kundschafterschiffs um. Sie musterte die kostbaren Sammlerstücke, die von zusätzlichen Schwerefeldern in zahlrei chen Nischen festgehalten wurden, nur flüchtig, ganz im Gegensatz zu sonst. Ihr Blick heftete sich auf eine der wenigen frei en Nischen. Sie war groß genug, um ein nur 1,33 Meter großes Lebewesen aufzunehmen. So graziös, als besäße sie Flügel, die einen Teil ihres Körpergewichts trugen, be wegte sich Anlytha zu der Nische, stellte sich hinein und machte sich steif. Dann kon zentrierte sie sich darauf, etwas Unbekann tem vorzugaukeln, sie wäre die Statuette des urzeitlichen Vogelgotts eines Eingeborenen stammes auf einem primitiven Planeten. Den römischen Krug stellte sie so hinter sich, daß man ihn nicht sah. Als der Zugang zur Wohnzelle sich öffne te, fragte sich Anlytha, ob das Fremde über haupt ein Zentralnervensystem besaß, das sich etwas vorgaukeln ließ. Als wenig später ein in allen Farben leuchtender, unterschiedlich hell glitzernder Strom hereinwallte, vergaß Anlytha alles, was sie sich vorgenommen hatte. Das Glit zern, Gleißen und Funkeln erzeugte Asso ziationen mit einem unvorstellbar großen Schatz aus herrlichstem Geschmeide, das auf einem Transportband direkt auf sie zu kam. Mit verzücktem Zwitschern riß sich Anly tha aus dem Haltefeld ihrer Nische los und warf sich auf den Strom der Kostbarkeiten.
* Algonkin-Yatta stellte fest, daß die Psio tronik sich desaktiviert hatte, denn als er versuchte, mit Hilfe der Kommandoschal tung in seinem Gehirn Verbindung mit der
Psiotronik des Kundschafterschiffs zu be kommen, kam nicht einmal ein Reflexsignal herein. Oder hatte das Fremde die Psiotronik desaktiviert? Noch immer war die Zentrale bis in den letzten Winkel von dem vor bunten glitzernden Punkten strotzendem Nebel ausgefüllt. Dieser Nebel schien vor dem Klarsichthelm des Kundschafters zu tanzen. Bisher spürte Algonkin-Yatta keine physische und psychi sche Beeinträchtigung seiner selbst. Das be friedigte ihn andererseits überhaupt nicht, denn er hatte noch immer keine Möglichkeit herausgefunden, Kontakt mit dem Fremden aufzunehmen. Algonkin-Yatta beschloß, selbst aktiv zu werden, um zu sehen, ob das Fremde darauf irgendwie reagierte. Er bewegte sich lang sam auf die Funkanlage zu, schaltete sie aber noch nicht ein, sondern blieb davor ste hen. Nichts veränderte sich. Entschlossen aktivierte der Kundschafter die Funkanlage. Die Bildflächen wurden hell, aber es fehlten die Anzeigen für den Aufbau der Antennenfelder. Sollte das, was die Außen-Sensoren des Schiffes geblendet hatte, auch die Projekto ren zur Erzeugung der Antennenfelder be einträchtigt haben? Algonkin-Yatta schaltete die Außenlaut sprecher seines Druckhelms ein und sagte, zuerst auf Interkosmo, dann auf AltArkonidisch und zuletzt auf Pthora: »Könnt ihr mich hören? Könnt ihr mich verstehen? Wenn ihr in der Lage seid, Kom munikation auf akustischer Basis herzustel len, dann gebt mir ein Zeichen!« Wieder erfolgte keine Reaktion. Algonkin-Yatta drehte sich um und ging zum Notausgang der Zentrale. Er wollte An lytha suchen und sie fragen, ob sie schon festgestellt hätte, was das Fremde im Schiff wollte. Dabei fiel sein Blick zufällig auf sein Vielzweck-Armbandgerät, und er sah, daß die Kontrollfelder, die eine Aktivität der im Gerät enthaltenen Mini-Psiotronik anzeig
Schatten über Ruoryc ten, hell leuchteten. Der Kundschafter wunderte sich sehr dar über, denn genau wie die Mini-Psiotronik der Zeitkapsel erfolgte die Kommunikation mit der des Vielzweck-Armbands über das Kommandogerät in seinem Gehirn, und des halb hätte er jede Aktivität sofort wahrneh men müssen. Bitte melden! dachte er beunruhigt. Er empfand durch Vermittlung seines Kommandogeräts ein Knacken, dann ein anund abschwellendes Summen und anschlie ßend ein regelloses Durcheinander unzähli ger anderer Geräusche. Melde dich sofort und gib den Sprechkode an! befahl der Kundschafter. In dem Durcheinander der Geräusche gab es einige Male ein scharfes Knacken. Das war alles. Algonkin-Yatta öffnete den Seitenver schluß seines Vielzweck-Armbands und hol te die flache Energiekapsel heraus, die das Gerät mit Energie versorgte. Augenblicklich erloschen die Kontrollfelder, und das Durch einander der Geräusch hörte auf. Die MiniPsiotronik arbeitete nicht mehr. Unterdessen hatte der Kundschafter den Notausgang passiert, ohne daß das Fremde versucht hätte, ihn daran zu hindern. Den noch war es immer noch vorhanden. Als er die kugelförmige Wohnzelle betrat, sah er, daß das Fremde auch hier war. In ei ner der größeren Nischen entdeckte er den römischen Krug. Das gab ihm zu denken, denn er wußte, daß Anlytha den Krug voller kostbarer Geschmeide niemals aus den Au gen gelassen hätte, wenn sich etwas Frem des an Bord befand. Er schaltete sein Helmfunkgerät ein und rief nach Anlytha. Aber sie antwortete nicht. Ständig nach Anlytha rufend, hastete er aus der Wohnzelle, irrte durch sein Schiff und fand sich nach einiger Zeit vor dem In nenschott des Haupttors wieder. Und seltsamerweise gab es hier keine Spur von dem Fremden. Der Kundschafter entschloß sich, die Ge legenheit zu nutzen und das Schiff zu verlas
11 sen, um festzustellen, wo es sich befand. Er aktivierte den Öffnungsmechanismus der Schleuse – und, obwohl er es sich ver sagt hatte, darauf zu hoffen, funktionierte er so einwandfrei wie sonst auch. Als das Außenschott sich teilte, fauchte die Luft der Schleusenkammer nach drau ßen. Einige Sekunden lang schwankte Al gonkin-Yatta in dem Sog der ausströmenden Luft, dann gab es auch in der Kammer nur noch ein Vakuum, aber nicht das Vakuum des Weltraums. Langsam ging Algonkin-Yatta hinaus. Er ahnte bereits, wo das Schiff lag, als er den ersten Schritt in staubfeinen rotbraunen Sand tat. Der Anblick einer mit kleineren und größeren Steinbrocken übersäten Trockenwüste, die Dünen im Hintergrund und die blaßfarbenen Streifen eines halb über den Horizont ragenden Riesenplaneten verrieten ihm endgültig, daß er sich auf Let taby befand, dem planetengroßen Mond von Yrgarh.
* Nachdenklich blieb der Kundschafter nach ungefähr fünf Schritten stehen. So weit er sehen konnte, stellte das Kund schafterschiff das einzige Erzeugnis einer wissenschaftlich-technisch fundierten Zivili sation dar. Nirgends entdeckte er Anzeichen einer Landung Fremder auf Lettaby. Natürlich war Algonkin-Yatta nicht so naiv, sich einzubilden, er könnte von seinem Standort aus alles sehen, was auf der rund um durch den Horizont begrenzten Fläche lag oder stand. Das Kundschafterschiff stell te mit 63 Metern Länge und 39 Meter Durchmesser (im Mittelteil) aus der gerin gen Entfernung von fünf Schritt ein gewalti ges Sichthindernis dar. Praktisch verwehrte es den Blick auf die andere Hälfte der vom Horizont begrenzten Kreisfläche. Deshalb lief der Kundschafter an seinem Schiff entlang, um den Bug herum – und prallte unwillkürlich vor Schreck zurück, als er sah, was sich auf der anderen Seite des
12 Schiffes befand. So weit das Auge reichte, erstreckte sich eine »Mauer« aus dem gleichen »Nebel« mit den zahllosen Leuchtpunkten darin, offenbar aus der gleichen Art von Materie, wie sie auch das Schiffsinnere beherrschte. Doch das war nur, so gigantisch es sich auch über Kilometer um Kilometer erstreck te, die Unter- und Rückseite eines noch gi gantischer wirkenden Reflektors, dessen un heimlich grell spiegelnde – oder leuchtende? –, nach innen gewölbte Fläche von zirka dreitausend Quadratkilometern sich unabläs sig drehte, hob und senkte, und das alles mit einer Lautlosigkeit, die es noch unheimli cher wirken ließ. »Aber was bedeutet das alles?« fragte sich Algonkin-Yatta in verzweifelter Ratlosig keit. »Wenn sich MYOTEX wenigstens melden und mir erklären würde, wozu das gut sein soll!« Plötzlich zuckte er zusammen, denn etwas Unsichtbares packte ihn und hob ihn mit un widerstehlicher Gewalt in die Höhe. Erst, als ihn etwas kräftig in den Rücken stieß, merkte er, daß nicht er allein von der unsichtbaren Kraft – sicher einem FesselTransportfeld – gepackt worden war. Er warf sich herum und sah sich der grünlich schimmernden, aus kristallisierter Energie bestehenden Außenhülle seines Kundschaf terschiffs gegenüber, das ebenfalls angeho ben wurde. Aber er sah noch mehr. Aus Nebenschleuse zwei schlängelten sich nebelartige Streifen jener unbekannten, hell glitzernden Materie und strömten auf die gleichartige Unterseite des »Reflektors« zu, wo sie mit deren Materie verschmolzen. »Sie sind nicht an meinem Schiff interes siert!« stellte Algonkin-Yatta verwundert fest. »Erst erobern sie es …« Er stockte, denn er begriff, daß er gar nicht wußte, ob das Fremde ins Schiff eingedrungen war, um es zu erobern. Es hatte es vielleicht nur un tersuchen wollen. Als aus der offenen Nebenschleuse keine fremde Materie mehr kam, arbeitete sich Al-
H. G. Ewers gonkin-Yatta mühsam bis dorthin vor, zog sich hinein und beobachtete von dort aus, wie sein Schiff über den Rand des »Reflektors« gezogen wurde und langsam zum Mittelpunkt der riesigen nach innen ge wölbten Scheibe schwebte. Und er erinnerte sich daran, wie etwas un säglich Grelles ihn, Anlytha und die AußenSensoren des Kundschafterschiffs geblendet hatte – und zwar von der Oberfläche Letta bys aus. Der Reflektor ist in Wirklichkeit ein Strahler! Ihm fiel etwas ein. Er nahm die Energie kapsel und schob sie in sein Vielzweck-Arm band zurück, dann erteilte er der MiniPsiotronik über das Kommandogerät in sei nem Gehirn den Befehl, sich zu melden. Tatsächlich leuchteten die Kontrollfelder, die die Aktivität der Mini-Psiotronik anzeig ten, auf. Das Gerät war in Betrieb. Doch es meldete sich nicht. »Bist du defekt?« erkundigte sich der Kundschafter. Nach einem lauten Knacken summte es eine halbe Minute lang, dann folgte etwas, das dem Geplapper halbflügger Papageien ähnelte, die Algonkin-Yatta in Terrania-City einmal bei einem Züchter bewundert hatte. »Sie muß den Verstand verloren haben!« stieß Algonkin-Yatta hervor. »Hallo, Psio tronik, kannst du dich wenigstens melden?« Er meinte damit die Schiffspsiotronik. Für einen Moment packte ihn die Furcht, auch die Schiffspsiotronik könnte ihm mit dem idiotischen Geplapper antworten, mit dem die Mini-Psiotronik ihren Verlust aller Ratio- und Logikschaltkreise verraten hatte. Doch die Bordpsiotronik antwortete nicht. Algonkin-Yatta stürmte durch Gänge und Schächte in die Zentrale und schaltete an den Kontrollen für die Außen-Sensoren. Er atmete auf, als er feststellte, daß Bilderfas sung und normallichtschnelle Ortung wieder funktionierten. Selbstverständlich würde er einige Zeit brauchen, um den größten Teil der Funktio nen, die ehedem von der Bordpsiotronik
Schatten über Ruoryc ausgeübt worden waren, durch Manuell schaltungen halbwegs befriedigend zu erfül len, aber er brauchte glücklicherweise kei nen Flug in ferne Sonnensystem zu unter nehmen, sondern konnte sich mit einem kur zen Sprung über 150 000 Kilometer begnü gen. Algonkin-Yatta lächelte das Abbild Ruo rycs an. Wenn er langsam genug flog, konn te er sogar den größten Teil der Strecke nach optischer Direktsicht steuern – falls ihm MYOTEX nicht noch bedeutete, daß das verboten war. MYOTEX! Abermals aktivierte der Kundschafter die Funkanlage, und abermals mußte er feststel len, daß zwar die Bildflächen hell wurden, aber die Anzeigen für den Aufbau der An tennenfelder ausblieben. Eine Kommunikation mit dem Beschützer und Mentor aller Mathoner war somit un möglich. Damit ließ sich auch nicht erfragen oder feststellen, welche Rolle MYOTEX überhaupt in diesem Zeitalter spielte und welche radikalen Veränderungen in der ge sellschaftlichen Struktur der Kuppeln von Ruoryc vorgefallen waren, mit denen sich die unheimlichen Vorfälle seit der Rückkehr von Algonkin-Yattas Kundschafterschiff er klären ließen. Während der Kundschafter grübelte, war das Schiff von unsichtbaren Kraftfeldern weiter zum Mittelpunkt des »Reflektors« be wegt worden – und als es genau über diesem Mittelpunkt und tiefstem Punkt der Schüssel schwebte, verwandelte sich der »Reflektor« schlagartig und kurzzeitig in einen schwar zen Trichter. Aber als dieser optische Eindruck von Al gonkin-Yattas Netzhaut aus in seinem Ge hirn ankam und bewußt aufgenommen wur de, da befanden sich das Schiff und der Kundschafter bereits auf einer anderen Welt. Unter dem dunkelblauen Glühen einer Gashülle lagen korrodierte Felswände im Spiel von Licht beziehungsweise Streulicht und Schatten, strömten und stürzten heiße Flüsse aus Gasen, kondensierten in tieferen
13 und kühleren Regionen, schossen flüssig da von und verdampften wenig später wieder, während sich anderswo ornamentale und an dere Kristallgebilde formten …
* Und hinter alledem … Algonkin-Yatta streckte unwillkürlich die Arme aus, als er, im wallenden Dunst nur schemenhaft erkennbar, die sieben blaßgrau en Kuppeln sah. MYOTEX – Vater und Mutter aller Ma thoner. Dort waren alle Mathoner, außer den alten natürlich, geboren, aufgezogen, behü tet, gepflegt und ausgebildet worden, dort hatten sie sich in die Gemeinschaft aller Ma thoner eingelebt, waren Teile dieser Ge meinschaft geworden und waren in die Wechselbeziehung Mathoner – MYOTEX hineingewachsen, in eine Symbiose zwi schen Mensch und Maschine, wenn man so wollte. Aber im Grunde genommen war MYO TEX für einen Teil der Mathoner so etwas wie Gottvater und für einen anderen Teil, der seine Betrachtungsweise nüchterner nannte, der Elter. Im Gefühl jedes Matho ners war MYOTEX die Heimat – MYOTEX und nicht Ruoryc. Und wie es vernünftige Eltern tun, hielt MYOTEX seine »Kinder« nicht für alle Zeit in Abhängigkeit. Er brachte ihnen und ihren Genen bei, auch außerhalb der sieben Kup peln zu leben, und gab ihnen Raumschiffe, damit sie die Welt über dem glühenden, dunkelblauen Baldachin des Himmels ken nenlernten, Kontakt zu anderem Leben und zu bisher noch unbekannten Phänomenen fanden – und zurückkehrten, um das neuge wonnene Wissen allen Mathonern (und MYOTEX) zu übermitteln. Der Kundschafter seufzte schwer. Er hatte dies alles keineswegs gedacht, sondern emo tional empfunden – und das Resultat war Sehnsucht nach MYOTEX und nach ande ren Mathonern. Er grübelte nicht darüber nach, wie der
14 Transport von Lettaby nach Ruoryc bewerk stelligt worden war. Das würde er erfahren, sobald er die Heimat betreten und sich an die neuen Verhältnisse, die nach dieser lan gen Zeit herrschten, gewöhnt hatte. Doch da war noch etwas anderes: Anly tha. Sein Blick fiel auf die Kontrollen der Funkanlage, und er sah, daß sie plötzlich die Einsatzbereitschaft der Antennenfeldprojek toren anzeigten. Doch das kümmerte ihn im Augenblick nicht so sehr. Zuerst mußte er Anlytha finden. Aber nachdem er das ganze Schiff gründ lich durchsucht hatte, mußte er einsehen, daß Anlytha nicht mehr an Bord war. Sie mußte oben auf Lettaby sein, und es war ab solut nicht sicher, daß sie überhaupt noch lebte. So oder so aber konnte Algonkin-Yat ta nichts für sie tun, bevor er nicht Verbin dung mit MYOTEX aufgenommen hatte. Er zweifelte nicht daran, daß ihm ein Start mit dem Kundschafterschiff nicht erlaubt wer den würde. Wellenlänge und Modulation von MYO TEX … Algonkin-Yattas Fingerkuppen flogen über die Sensorpunkte des Funkschaltpults, bis die richtige Einstellung stand. Die richtige …? Diejenige, die vor zweihundertdreiund siebzig Jahren die richtige Einstellung war … Selbstverständlich mußte sie heute nicht mehr gelten, aber da Algonkin-Yatta zusätz lich den automatischen Frequenzsucher akti viert hatte, würde er bald wissen, wie er MYOTEX erreichen konnte. MYOTEX sen dete ununterbrochen: Kommunikationsträ gerwellen, Informations- und Lernprogram me, Unterhaltungssendungen, Funkbefehle an die Anlagen zur Trinkwasser- und Nah rungsmittelversorgung, an die Raumschiffs und Ausrüstungswerften und was der Dinge mehr waren. Gewesen waren … Algonkin-Yatta hatte das Gefühl, als wür den seine Därme von einer imaginären Hand
H. G. Ewers zusammengepreßt. Er stöhnte auf. Denn der Frequenzsucher vermochte nicht eine einzige funktechnische Aktivität zu ent decken. MYOTEX war so stumm, als wäre er tot. Grauen schüttelte den Kundschafter. Er stand starr und steif da und versuchte etwas von dem, mit dem er konfrontiert wurde, zu begreifen. Auf alles Mögliche wurden Kundschafter vorbereitet, aber nicht auf die Situation, vor die sich Algonkin-Yatta gestellt sah: von al lem, was ihm lieb und teuer war, getrennt zu sein durch ein unfaßbares Geschick. Aber allmählich klang der Schock ab. In gleichem Maße baute sich die Willensener gie wieder auf. Algonkin-Yatta entschloß sich, nicht aufzugeben, sich nicht mit seiner Lage abzufinden. Und er erkannte zwei Möglichkeiten des Handelns. Die erste und augenfälligste war die, auf der Kraftfeldlinie, auf der er mit seinem Schiff gekommen war, zwischen den Dimensionen in das Zeitlinienknäuel zurückzu kehren, in dem es mit großer Wahrschein lichkeit zu dem Zeitsprung von 273 Jahren gekommen war, dort zu versuchen, den Vor gang zu reversieren und dann in der »richtigen« Zeit einen anderen Weg nach Ruoryc zu finden. Das würde sehr schwierig sein, denn da die Bordpsiotronik nicht funktionierte, wür de er im Kopf alle vorstellbaren Rekonstruk tionsmodelle durchrechnen müssen, bis er das gefunden hatte, mit dem sich der Kurs zurückbestimmen ließ. Anschließend mußte beim Durchstoßen des Zeitlinienknäuels tat sächlich der umgekehrte Effekt eintreten – und danach mußte es ihm gelingen, einen neuen Weg nach Ruoryc zu finden. Die zweite Möglichkeit war die, sich vor erst damit abzufinden, daß er sich 273 Jahre weit in der Zukunft befand und sich den Ge gebenheiten dieser Zukunft zu stellen – selbst wenn das bedeutete, daß er in den sie ben Kuppeln etwas vorfand, das einen sol chen Schock auslöste, daß sein Geist da
Schatten über Ruoryc
15
durch ausbrannte. Und genau das befürchte te Algonkin-Yatta. Trotz aller Schwierigkei ten wäre es, das wußte der Kundschafter, leichter, die erste Möglichkeit zu wählen. Er gestand sich aber auch ein, daß dabei der Wunsch des Unterbewußtseins mitspielte, um jeden Preis von Ruoryc wegzukommen, um nicht erfahren zu müssen, was aus der Heimat geworden war. Und wenn er die erste Möglichkeit voll realisierte, das heißt, in »seiner« Zeit heraus kam und nach Ruoryc zurückkehrte, was sollte er dann MYOTEX berichten? Was konnte MYOTEX mit den wenigen Informa tionen, die er in der Zukunft gesammelt hat te, anfangen? Sie würden niemals ausrei chen, das Schlimme, das in der Zukunft ge schehen war, vorbeugend abzuwenden. Algonkin-Yatta erkannte, daß ihm nur die Entscheidung für die zweite Möglichkeit blieb, das Ausbrennen der Seele zu riskieren und zu versuchen, zu helfen, wenn das mög lich war. Umsichtig stellte er seine Expeditionsaus rüstung zusammen, verstaute sie in der Pfad finderkapsel und startete. Die Kapsel hüllte sich automatisch in ein unsichtbares Ener giefeld, bevor das Außenschott des Hangars sich öffnete. Langsam schwebte das ovale Fahrzeug durch das diffuse blaue Leuchten der Atmo sphäre von Ruoryc auf die sieben nebelver hangenen Kuppeln zu …
* Algonkin-Yatta aktivierte den Impulsge ber und wartete darauf, daß das Tor der er sten Kuppel sich öffnete. Er wartete vergebens. Ungläubig blickte er auf die Rückkopp lungsanzeige des Impulsgebers, denn es er schien ihm völlig unmöglich, daß der Kode impuls nicht einmal einen neutralen Reflex erzeugt haben sollte. Auch wenn der Kode nicht mehr stimmte, hätte der neutrale Re flex kommen müssen – es sei denn, der Tor computer bekäme keine Energie mehr.
Das aber hatte es in der Zeit, in der Al gonkin-Yatta auf Ruoryc gelebt hatte, nie gegeben – und, soviel er wußte, auch nicht während der Zeit davor. Er ließ die Pfadfinderkapsel ganz auf den Boden sinken, schwang sich über den Bord rand und desaktivierte dadurch den Projek tor, der die Pfadfinderkapsel bisher in eine Energieblase gehüllt hatte. Als seine Füße den Boden berührten, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewe gung wahr. Er fuhr herum und sah am Rand des Kristallwaldes gegenüber der ersten Kuppel einen Schatten, der aber schnell zwi schen den bizarren, blauweiß schimmernden und sich ständig verändernden Kristallgebil den untertauchte. Ein Mathoner …? Aber warum hätte sich ein Mathoner vor einem Mathoner verbergen sollen? Algonkin-Yatta mußte sich immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen, daß das nicht seine Zeit war und daß das Verhalten der Mathoner deshalb auch nicht dem vor zwei hundertdreiundsiebzig Jahren gleichen muß te. Er klappte den Druckhelm zurück und rief: »Hallo!« Sein warmer Atem kondensierte sofort, denn der Kundschafter stand im Schatten der ersten Kuppel. Auf seiner Ge sichtshaut machte sich ein Prickeln bemerk bar. Es handelte sich um die Reaktion auf die starke radioaktive Eigenstrahlung Ruory cs, aber solange das Prickeln nicht zum bei ßen Brennen wurde, schadete es einem teilangepaßten Mathoner nicht. Niemand antwortete. Aber Algonkin-Yatta nahm es nicht län ger hin, daß es auf Ruoryc kein Echo auf seine Anwesenheit gab. Er rannte auf den Kristallwald zu und schlängelte sich zwi schen den Kristallgebilden hindurch. Die Kristallisationsprozesse und noch ungeklärte Vorgänge erzeugten eine Art Sphärenmusik. Es war eine gefährliche Sphärenmusik, denn wenn man sich nicht psychisch dagegen wappnete, verlor man die Orientierung
16 konnte in eine der zahlreichen tiefen Spalten einbrechen, die es in dem durchschnittlich dreißig Meter dicken Unterbau aus »Dauerkristallen« unter dem Wald gab – und bisher hatte noch kein Mathoner so et was überlebt. Wenn die Sphärenklänge zu laut wurden oder gar den ganzen Körper zum Mitschwin gen brachten, hielt Algonkin-Yatta sich die Ohren zu und atmete keuchend. Er spürte es, daß er sehr lange nicht mehr auf Ruoryc ge wesen war. Von dem Unbekannten, den er verfolgte, war nichts zu sehen – und hören konnte man in einem Kristallwald außer der Sphärenmu sik sowieso nichts. Der Kundschafter war froh, als er den Wald auf der anderen Seite wieder verlassen konnte. Er stand am Ein gang einer Schlucht, über deren Ränder sich heiße Gasmassen ergossen, die sich im Schatten auf dem Grund der Schlucht ver flüssigten und einen reißenden Strom bilde ten, der, soviel Algonkin-Yatta sich erinner te, bald in grelles Streulicht geriet, wobei er sich wieder in Gas verwandelte. Durch die Schlucht konnte der Unbekann te nicht geflohen sein, es sei denn, er hätte sich in einem geschlossenen Raumanzug treiben lassen. Aber der Schatten, den er vorher gesehen hatte, hatte zu schlank für einen Mathoner im Raumanzug gewirkt. Algonkin-Yatta schaute nach links. Eine blanke, zur Schlucht hin leicht geneigte Ebe ne, über die dichte Gasschwaden flossen. Hier hätte sich der Unbekannte nicht verber gen können. Algonkin-Yatta blickte nach rechts. Erodierte Felstrümmer von bis zu fünf zehn Metern Höhe ragten dicht an dicht aus dem gasüberfluteten Boden. Dort mußte es unzählige Verstecke geben, und es konnte Tage dauern, bis er sie alle gefunden hatte. Aber wenn der Unbekannte den Kristall wald tatsächlich verlassen hatte, dann konn te er sich nur dort verborgen halten. Algonkin-Yatta entschloß sich, die Suche zwischen den Felstrümmern aufzunehmen, obwohl er die bleierne Müdigkeit in den
H. G. Ewers Gliedern spürte, die jeder Umstellung des Metabolismus und vollen Einwirkung der 4,52 Gravos von Ruoryc folgten. Er wußte, daß er innerhalb der nächsten Stunde mit Sehstörungen und Halluzinationen zu kämp fen haben würde, aber auch, daß danach eine »normale Phase« von drei bis vier Stunden folgte. Danach brauchte er entweder minde stens zehn Stunden lang absolute Ruhe mit stark reduziertem Stoffwechsel oder Sauer stoffatmosphäre aus der Flasche mit der ent sprechenden Umstellung des Metabolismus. Alles in allem waren die Aussichten, den Unbekannten zu finden, nicht gerade rosig. Aber, so sagte sich der Kundschafter, was blieb ihm schon anderes übrig. Er wandte sich nach rechts und drang in die Ebene der Türme ein. Nach vielleicht hundert Metern tauchten rings um ihn aus Deckungen mehrere Ge stalten auf. Sie trugen derbe Monturen und urtümliche Waffen wie Armbrüste und Wurfspieße. Und sie waren nach Gestalt und Hautfarbe zweifellos Mathoner, und sie zielten mit ih ren Waffen auf den Kundschafter. Algonkin-Yatta rührte seine Waffe nicht an, sondern hob die Arme schräg an und drehte die Handflächen nach vorn. »Ich komme in Frieden, meine Brüder!« sagte er. »Du bist nicht unser Bruder!« erwiderte einer der Mathoner. Seine Aussprache klang eigenartig. »Nein, du nicht, denn du schwankst unter der Schwerkraft Ruorycs, deine Lungen haben Mühe, die metabolische Anpassung zu stabilisieren. Du bist ein Spi on der Aurogilts, die Lettaby erobert haben und MYOTEX verleiten wollen, vom Tode wiederaufzuerstehen und die ihn dann ver sklaven wollen.« »Aurogilts?« echote der Kundschafter. »Ich höre diesen Namen zum erstenmal. Sind damit diese glitzernden Nebelströme gemeint, die …« »Laßt euch niemals auf eine Diskussion mit Spionen ein!« rief ein anderer Mathoner. »MYOTEX ist gestorben, damit wir frei
Schatten über Ruoryc
17
bleiben – und sein Opfer verpflichtet alle Mathoner, seinen letzten Willen getreu zu erfüllen.« »Ich heiße Algonkin-Yatta«, sagte der Kundschafter zum letzten Sprecher. »Und wie heißt du?« »Naskapi-Tikki«, antwortete der Mann und schüttelte den Kopf. »Aber du gehörst nicht zur Sippe der Algonkin, die hinter den Becerra-Hügeln lebt.« »Ich gehörte zu der Algonkin-Sippe, die in den Kuppeln von MYOTEX lebte«, er klärte Algonkin-Yatta – und merkte gleich darauf, daß er einen schweren Fehler began gen hatte. Er bekam keine Gelegenheit, ihn zu korri gieren, denn der Schlag mit einem Speer schaft auf den Hinterkopf löschte sein Be wußtsein aus.
* Als Algonkin-Yatta erwachte, war es dun kel. Erst, nachdem seine Augen sich daran gewöhnt hatten, vermochte er die schwache Helligkeit auszumachen, die durch einen Spalt in die kleine Felsenhöhle fiel, in die man ihn gesperrt hatte. Seltsamerweise war der Kundschafter nicht gefesselt. Wahrscheinlich waren die anderen Mathoner sicher, daß er noch lange bewußtlos bleiben würde. Wie hatten die Mathoner dieser Zeit ihn genannt: einen Spion der Aurogilts. ›Du bist nicht unser Bruder!‹ hatte einer von ihnen gesagt. Aber für was hielten sie ihn dann? Für einen Aurogilt, dessen Bewußtsein man in einen synthetischen Mathoner-Körper ge sperrt hatte, einen Kunstkörper, der den Kör pern echter Mathoner weit unterlegen war? Und was sollte das heißen, MYOTEX sei gestorben, wenn im gleichen Atemzug be hauptet wurde, die Aurogilts wollten MYO TEX dazu verleiten, vom Tode aufzuerste hen, um ihn dann zu versklaven? War MYOTEX demnach nicht wirklich tot, son dern nur desaktiviert, mit geringer Erhal
tungsspannung in den Datenspeichern, gera de genug, damit sie ihre passive Speicher funktion erfüllen konnten und keine irgendwann gespeicherten Informationen verloren gingen? Verhielt es sich so, so war es auch völlig klar, daß kein Mathoner in den Kuppeln le ben konnte. Alles, wofür MYOTEX in der Vergangenheit gesorgt hatte, gab es nicht mehr. Ohne MYOTEX liefen die prozessor gesteuerten Fabriken nicht mehr, wurde we der Trinkwasser noch Sauerstoff zur Verfü gung gestellt. Darum lebten die heutigen Mathoner im Freien, in Höhlen und besaßen keine Er zeugnisse der früheren fortgeschrittenen Technik mehr. Sie mußten sich vielmehr mit der handwerklichen Herstellung primitiver Werkzeuge und Waffen begnügen. Und sie leben ständig in Umweltverhält nissen, an die sie nur teilweise angepaßt wa ren! Algonkin-Yatta stutzte. Ich darf die Fakten der Vergangenheit nicht einfach auf diese Gegenwart übertra gen! Die Mathoner meiner Zeit waren nur teilangepaßt. Die Vertreibung aus den Kup peln hat die betreffenden Mathoner und ihre Nachkommen zur Vollanpassung gezwungen – und wer das nicht schaffte, dessen Linie erlosch. Es können nicht viele geschafft ha ben. Die Gesetzmäßigkeiten von Mutation und Selektion wurden wahrscheinlich von der genetisch bereits verankerten Teilanpas sung teilweise überspielt, sonst könnte kaum ein Mathoner überlebt haben. Leise richtete Algonkin-Yatta sich auf und schlich zu dem Spalt, durch die das Licht fiel. Verblüfft erstarrte er. Er hatte erwartet, eine Gasflamme zu se hen, durch die die Nebenhöhle beleuchtet würde, statt dessen sah er Leuchtröhren an der säuberlich geglätteten Höhlendecke und einen Elektroherd neben anderen Küchen möbeln. Zwar waren die Möbel, der Herd und die Leuchtröhren grob und primitiv. Das lag of
18 fenkundig daran, daß sie in Handarbeit her gestellt worden waren. Aber die Nachkom men der alten Mathoner hatten die Elektrizi tät nicht vergessen. Das ließ hoffen, daß sie auch in anderer Hinsicht nicht zu weit zu rückgefallen waren. Da sich niemand in der Küche aufhielt, schlich sich der Kundschafter hinein. Er hob den Deckel von einem Topf auf dem Herd und sah eine blaßgrüne brodelnde Masse darin. Sie roch nicht unangenehm, aber er verzichtete doch lieber auf eine Kostprobe. Vollangepaßte Mathoner brauchten sicher eine chemisch anders zusammengesetzte Nahrung als er. Noch immer ließ sich niemand blicken. Ich werde fliehen! beschloß Algonkin-Yat ta. Diese Leute glauben mir nicht. Ich muß versuchen, MYOTEX zu wecken! Er wollte die Waffen in seinen Gürtelhalf tern überprüfen und stellte fest, daß sie ver schwunden waren. Also kennen sie auch das Funktionsprin zip der alten Hochenergiewaffen! dachte der Kundschafter erleichtert. Andernfalls hätten sie nicht gewußt, daß es sich um Waffen handelt! Durch eine Öffnung gelangte er in eine aus Plastikplatten zusammengefügte Kam mer mit Innen- und Außenschotten, die zwar nicht luftdicht abschlossen, aber von beacht lichem handwerklichen Geschick zeugten und zweifellos der besseren Isolierung dienten. Es gab sogar Handräder zum Öff nen und Schließen der Schotte. Sorgfältig verschloß Algonkin-Yatta das Innenschott, bevor er das Außenschott öff nete. Dahinter lag ein Felsgang, der von faustgroßen roten Kristallklumpen, die aus Wandspalten wucherten, beleuchtet wurde. Er war so leer wie die anderen Räumlichkei ten. Algonkin-Yatta kurbelte das Außenschott zu, dann eilte er den Felsgang entlang. Nach zirka fünfzig Metern kam er an breite, sorg fältig in den Fels gehauene Stufen, die nach oben führten. Auch die Treppe wurde von roten Kristallklumpen beleuchtet.
H. G. Ewers Der Kundschafter stieg die Stufen empor, die in eine kleine Höhle führten. Gegenüber war in etwa zehn Metern Entfernung eine ins Freie führende Öffnung zu sehen. In dem dunkelblauen diffusen Licht Yrgarhs war deutlich die Gestalt eines Mathoners zu se hen, der in der Höhle stand, einen Wurfspieß in den Händen hielt und den Ausgang beob achtete. Mit einem Sprung war Algonkin-Yatta bei ihm. Der Wächter fuhr herum, aber er hatte keine Chance gegen Algonkin-Yatta, der noch von MYOTEX in mehreren Kampftechniken ausgebildet worden war. Der Kundschafter nahm dem Bewußtlo sen den Wurfspieß ab, dann ging er zur Öff nung und spähte ins Freie. Er sah, daß er sich noch in der Ebene der Türme befand. Am Stand der Sonne sah er, daß es früher Morgen war und daß er sich nach rechts wenden mußte, wenn er seine Pfadfinderkapsel mit der unersetzlichen Ex peditionsausrüstung erreichen wollte. Er schalt sich einen Narren, daß er die Kapsel nicht gegen Unbefugte abgesichert hatte, aber das war auf Ruoryc noch nie nötig ge wesen. Früher nicht! Algonkin-Yatta lehnte sich an den Fels, als sich ihm alles vor den Augen drehte. Er hatte das Gefühl, in einer außer Kontrolle geratenen Trainings-Zentrifuge zu sitzen. Seine Muskeln zitterten unkontrolliert, sein Magen drehte sich um, und ihm wurde ab wechselnd heiß und kalt. Ungefähr eine halbe Stunde kämpfte der Kundschafter unter Aufbietung seiner gan zen Willenskraft gegen den Schwächeanfall an. Er wußte, daß die Anfälle in immer kür zeren Abständen wiederkehren würden, wenn er nicht bald in eine Sauerstoffatmo sphäre kam – wenigstens für ein paar Stun den. Zuletzt würde er zusammenbrechen und sterben, da er die metabolische Umstellung auf die Außenweltbedingungen nicht unend lich lange durchhielt. Endlich vermochte er wieder halbwegs klar zu sehen. Er stieß sich vom Fels ab und
Schatten über Ruoryc
19
wankte zwischen den erodierten Felstrüm mern in die Richtung, in der er hinter einem Kristallwald seine Pfadfinderkapsel vermu tete.
* Er trat zwischen den letzten Felstrümmern auf den schmalen Streifen freien Landes zwischen der Ebene der Türme und dem Kristallwald, da sah er die Pfadfinderkapsel. Besetzt mit fünf oder sechs Mathonern, bewegte sich das oben offene Oval ruckend aus dem Kristallwald heraus. Wilde Schreie begleiteten die Aktion. Sie verrieten, wel chen Spaß es den Mathonern bereitete, ihre Intelligenz an dem Erzeugnis einer halbver gessenen Technik zu messen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie die Kapsel fehlerlos bedienten. Die Mathoner auf der Pfadfinderkapsel erblickten ihn, riefen sich etwas zu und sprangen ab – bis auf einen, der weiterhin die Kontrollen bediente. Ohne zu überlegen, wirbelte Algonkin-Yat ta herum und rannte ungefähr im rechten Winkel nach rechts zwischen die nächsten Felstrümmer. Er wollte nur fort, um nicht wieder eingefangen zu werden. Aber sehr schnell wurde ihm klar, daß er als Teilangepaßter niemals so schnell laufen würde wie die Vollangepaßten. Die Schwer kraft machte ihm zu schaffen, während seine Verfolger leichtfüßig hinterherkamen. Plötzlich geriet der Kundschafter aus der Ebene der Türme heraus und sah sich in der Nähe des Schluchtrands, über den heiße Gasmassen stürzten, um am Grunde der Schlucht abzukühlen, zu kondensieren und als reißender Strom weiterzufließen. Ein Gedanke durchzuckte den Kundschaf ter. Er zögerte nicht, ihn in die Tat umzuset zen, denn die Verfolger ließen ihm keine Zeit dazu. Ihre Rufe, mit denen sie sich ge genseitig anfeuerten, kamen schnell näher. Algonkin-Yatta klappte den Druckhelm nach vorn, setzte sich auf den Schluchtrand
und ließ sich von den wirbelnden Gasmas sen auf den Steilhang schieben. Dort brem ste er mit den Füßen gerade soviel ab, um nicht zu schnell zu werden, ohne sich zu überschlagen. Im Nu war er unten, tauchte unter die Oberfläche des Flusses, schoß wie der empor und drehte sich auf den Rücken, um sich treiben zu lassen und gleichzeitig seine Umgebung zu beobachten. Obwohl seine Lage noch immer so gut wie aussichtslos war, lachte er über die Ge sten der Ratlosigkeit, mit denen seine Ver folger am oberen Rand der Schlucht die Ar me bewegten. Anscheinend war trotz ihrer Vollanpassung ein Bad im Fluß schädlich oder sogar tödlich für sie. Nach einer Weile verschwanden die Ver folger aus seinem Blickfeld. Er war sicher, sie würden ihn nicht einholen, denn die Flüssigkeit schoß schneller durch die Schlucht, als ein Mathoner laufen konnte. Als sich Algonkin-Yatta an den erbeuteten Wurfspieß erinnerte, hob er die Hand, in der er ihn hielt, aus dem Wasser. Aber von dem Spieß war nichts mehr da, obwohl der Kund schafter sicher war, daß er ihn die ganze Zeit über nicht losgelassen hatte. Aggressive Chemikalien …! Argwöhnisch musterte der Kundschafter seine Kombination, die ja bei weitem nicht so extrem widerstandsfähig wie ein echter Raumanzug war, obwohl sie provisorisch seine Funktion erfüllte. Er atmete auf, als er an ihr keine Spuren von Zersetzung entdeck te. Im nächsten Moment ruderte er wild mit den Armen, denn völlig überraschend für ihn war er über die Kante der Thalamon-Sen ke getragen worden und stürzte zusammen mit dem Thalamon-Fall in eine Tiefe von zirka dreißig Metern. Früher hat der Fluß aus heißem Gas be standen! überlegte er. Demnach haben sich die klimatischen Bedingungen verändert. Fast automatenhaft veränderte Algonkin-Yat ta durch Arm- und Beinbewegungen seine Körperlage so, daß er mit den Füßen zuerst in das Becken unterhalb des Falls kam. War
20
H. G. Ewers
die Flüssigkeit darin nicht tief genug, würde er sich die Wirbelsäule zertrümmern; reichte die Tiefe aus, dann geschah ihm nichts. Unwillkürlich hielt er die Luft an, als sei ne Füße die Oberfläche der Flüssigkeit be rührten, dann schlug die See auch schon über seinem Kopf zusammen. Der Kundschafter versuchte zu erkennen, was unter seinen Füßen war. Als er Wider stand spürte, stieß er einen Schrei aus – aber da war aus dem Sturz bereits ein langsames Sinken geworden, so daß der Aufstoß auf dem Seegrund die Bewegungsrichtung le diglich umkehrte, ohne daß dem Kundschaf ter ein einziger Knochen gebrochen wurde. Kurz darauf tauchten Kopf und Oberkör per aus dem See – und sanken wieder zu rück. Aber in der kurzen Zeitspanne, die ihm für einen Rundblick gegönnt war, hatte Al gonkin-Yatta fünf Mathoner gesehen, die über die trockene Seite der Thalamon-Senke abstiegen. Er überlegte noch, was er tun sollte, als er zum zweitenmal auftauchte. Ein lautes Klatschen und eine hoch auf spritzende Fontäne neben ihm gaben ihm die Antwort. Man schoß mit Armbrüsten auf ihn, und das konnte unangenehm werden. Algonkin-Yatta tauchte weg und schwamm unter der Oberfläche, bis er einen der Abflüsse erreichte, die zu den vielen kreisrunden Becken führten, in denen sich infolge unbekannter Einflüsse Leben gebil det hatte. Warum der Kundschafter das tat, hätte er nicht erklären können. Auf keinen Fall rech nete er mit Hilfe durch eine Lebensform, die absolut fremdartig und zudem unerforscht war. Vielleicht wollte er im Augenblick höchster Gefahr einfach nicht allein sein, und für einen Mathoner war die Gesellschaft jedes Lebewesens Gesellschaft.
* Als er die Einmündung des Kanals in ei nes der Becken erreichte – immer noch unter der Oberfläche schwimmend –, erblickte er
etwas, das einer riesigen Qualle ähnelte, die er nur deshalb sah, weil in ihrem völlig transparenten Körper ununterbrochen winzi ge funkenförmige Entladungen erfolgten. Algonkin-Yatta trat mit den Füßen, um abzubremsen. Plötzlich sah er auf dem Ma terial seiner Handschuhe Flämmchen tanzen, dann merkte er, daß das überall an seiner Bordkombination so war. Elektrische Energie! Der Kundschafter erinnerte sich daran, daß er, wenn er solche Becken beobachtet hatte – allerdings immer von draußen –, bei Aktivitäten der darin hausenden Lebensform stets zweierlei beobachtet hatte: zuerst wölb te sich die Oberfläche des Tümpels auf, dann wechselten die ornamentalen Gebilde, die sich am Rand herauskristallisiert hatten, ihre Farben. Auf seine neuesten Erfahrungen übertra gen, hieß das: Jedesmal, wenn die »elektrische Qualle« sich bewegte und da durch die Oberfläche des Tümpels zum Auf wölben oder Aufwallen brachte, gab sie einen starken Stromstoß von sich, der den Farbwechsel der Kristallgebilde bewirkte – und der ihn, Algonkin-Yatta, zweifellos ge tötet hätte, wäre die Isolation der Bordkom bination nicht so hervorragend gewesen. Selbstverständlich war es dem Kund schafter klar, daß es sich bei dem Lebewe sen um alles andere als eine Qualle handelte. Jede Qualle wäre in dieser chemisch aggres siven Flüssigkeit in Sekundenschnelle auf gelöst worden. Dieses Ruoryc-Wesen mußte in Substanz und Körperchemie indirekt – nämlich über den langen Weg der Evolution – mit der aggressiven Flüssigkeit verwandt sein. Während Algonkin-Yatta das überlegte, waren die Flämmchen auf seiner Bordkom bination erloschen. Von dem Ruoryc-Wesen war nichts mehr zu sehen. Es schien tatsäch lich, als hätte es sich aufgelöst. Aber der Kundschafter war sicher, daß es noch da war. Ob es Möglichkeiten einer Verständigung zwischen Mathonern und Ruorycs gab?
Schatten über Ruoryc Möglichkeiten einer sinnvollen Kommunika tion? Wir hätten uns früher darum kümmern sollen. Statt dessen haben wir uns von unse rer Wißbegierde in fremde Sonnensysteme treiben lassen. Abermals leuchteten im Tümpel funken förmige Entladungen auf, markierten die Umrisse und die innere Struktur des Ruory cs. Aber diesmal tanzten keine Flämmchen über Algonkin-Yattas Bordkombination. Er blickte auf das fremde Wesen, das doch seine Heimat mit ihm teilte. Alles, was ihm MYOTEX über die Kontaktaufnahme mit fremdartigen Intelligenzen beigebracht hatte, alle seine Erfahrungen als Kundschaf ter, das alles nützte ihm hier nichts. Es war außerdem nicht sicher, ob die Ruoryc-We sen eine Stufe der Intelligenz erreicht hatten, die sie zu analythischem Denken und zur Verständigung mit abstrakten Mitteln befä higte. Er dachte eine Verwünschung, als er die Halluzination hatte, im quallenförmigen Körper des Ruorycs ein funkensprühendes Spiegelbild seiner selbst zu sehen. Ein Blick auf die Kontrollen des Überlebenssystems sagte ihm jedoch, daß seine Atemluft völlig normal sei, so daß seine Halluzination weder auf zuviel Sauerstoff noch zuviel Kohlendi oxid zurückzuführen war. Erneut starrte er zu dem Wesen. Aber die Halluzination war ebenso verschwunden wie das Wesen selbst. Das heißt, das Wesen mußte noch da sein, aber es war wiederum unsichtbar für mathonische Augen gewor den. »Habe ich mir das tatsächlich nur einge bildet?« fragte sich Algonkin-Yatta. »Ich glaube, ich träume.« Er erstarrte förmlich, als in dem RuorycWesen das Funkenbild eines Gehirns zu se hen war, des Gehirns eines Mathoners. Der Kundschafter in ihm übernahm die Kontrol le über seinen Verstand. Das ist ein Kontaktversuch – und zwar der Kontaktversuch einer sehr hochstehen den Intelligenz, die sogar genau weiß, wie mein Gehirn hinter den Schädelknochen
21 aussieht! Das Funkenbild des Gehirns verblaßte und verschwand ganz. Abermals fragte sich der Kundschafter, ob das alles nicht doch nur auf Einbildung beruhte, auf Vorspiege lungen seines überforderten Zentralnerven systems. Es war ja wirklich zuviel auf ihn eingestürmt in den letzten Tagen. Erneut blitzten die zahllosen Funken auf. Diesmal sammelten sie sich an der Periphe rie des etwa fünf Meter durchmessenden Ruoryc-Wesens. Dadurch wurden Grund und Seitenwände des Beckens hell genug beleuchtet, um den Kundschafter sehen zu lassen, daß sie vollkommen glatt und regel mäßig gearbeitet und mit einer metallisch glänzenden Substanz beschichtet waren. Wahrscheinlich galvanisiert! Die Funken erloschen wieder, aber die letzte Demonstration hatte Algonkin-Yatta überzeugt. Und sie hatte in ihm die Ahnung aufkeimen lassen, daß das Ruoryc-Wesen in seine Gedanken schauen konnte. Eine Art Telepathie, aber leider einseitig. Der Kundschafter versuchte es mit einer Probe. Er dachte so intensiv wie möglich an sein Kundschafterschiff, stellte es sich bild lich vor und verknüpfte damit die Aufforde rung, es abzubilden. Und als ein Funkenbild des ovalen Raum schiffs erschien, weinte er beinahe vor Freu de. Anlytha, Atlan, MYOTEX und sein ei genes Volk waren völlig in den Hintergrund gedrängt. Im Bewußtsein des Kundschafters gab es nur noch das Ruoryc-Wesen und ihn selbst – und den unwiderstehlichen Drang, alles über die Ruorycs zu erfahren. Er merkte nicht, daß er sich dadurch selbst hypnotisierte und in einen Zustand hinüberglitt, aus dem er selbst sich nicht wieder befreien konnte …
* Schrilles Heulen, Klingeln und Rasseln weckte ihn. Als er die Augen öffnete, sah er zahllose farbige Lichter zucken – und vor diesem verwirrenden Hintergrund hob sich
22 eine kleine zierliche Gestalt mit porzel langlatter fliederfarbener Haut und einem Federkamm auf dem Kopf ab. »Anlytha!« »Ja, ich bin es!« hörte er seine Begleiterin mit bebender Stimme schreien. »Oh, Algon kin, kannst du nicht dieses Tohuwabohu ab stellen!« »Wie soll ich das machen?« fragte er. »Wo kommst du überhaupt her, Lytha?« »Was?« zeterte Anlytha. »Wenn es dir nicht paßt, kann ich ja wieder gehen.« »Rede doch keinen Unsinn!« erwiderte Algonkin-Yatta und richtete sich auf. Er sah, daß er auf der Liegeschale des sta tionären Medosystems seines Kundschafter schiffs saß. Vor sich sah er Anlytha und das wahnsinnige Flackern. Als er den Kopf drehte, erblickte er hinter sich die Einschub öffnung des stationären Medosystems. Da er sich zwar arg verwirrt, aber nicht krank fühl te, nahm er an, daß er soeben erst nach einer Behandlung »ausgefahren« worden war. Plötzlich erinnerte er sich an die letzten Se kunden vor seinem geistigen Abtreten. »Wer hat mich aus dem Wohnbecken des Ruorycs geholt?« fragte er und sah dabei wieder Anlytha an. »Lytha, ich bin sehr froh, dich wiederzusehen, aber ich muß erst einiges klären, bevor ich dich nach deinen Abenteuern fragen kann.« Anlytha zwitscherte versöhnlich. »Ich habe dich herausgefischt, Yatta«, er klärte sie. »Die Energie für dein Atemgerät war verbraucht, den Anzeigen nach bereits eine halbe Stunde, bevor ich dich fand. Es war ein Wunder, daß das Medosystem dich ins Leben zurückholen konnte.« Sie senkte die Stimme, weil die Alarmge räusche verstummten. Auch das Zucken der zahllosen Lichter erlosch; die Kontrollam pen brannten wieder normal. »Diese Wesenheit in dem Tümpel soll ein Ureinwohner von Ruoryc sein?« »Ich nehme es an, denn es gab diese Le bensform bereits, als meine Ahnen mit der MATHON auf diesem Planeten landeten«, antwortete Algonkin-Yatta. Er runzelte die
H. G. Ewers Stirn. »Es ist ein hochintelligentes Lebewe sen, und ich habe irgend etwas von ihm er fahren, was mit MYOTEX zu tun hat.« Mit einem Satz sprang er von der auf ei nem Antigravfeld schwebenden Liegeschale und schrie: »He, die Psiotronik arbeitet ja wieder! Warum hast du dich nicht längst zum Dienst zurückgemeldet, Psiotronik?« »Ich war beschäftigt, Kundschafter«, schallte die Stimme der Psiotronik durch die Zentrale. »Alle diese Erklärungen, Hinweise und Anweisungen, die du mir gegeben hast …« »Was habe ich dir gegeben?« fragte Al gonkin-Yatta verblüfft. Er blickte auf die Navigationskontrollen. »Wir fliegen ja!« »So, wie du es befohlen hast, Kundschaf ter«, erklärte die Psiotronik. »Wir sind auf dem Weg zur Station der Aurogilts auf Let taby.« Der Kundschafter faßte sich an den Kopf. »Nicht so hastig, sonst komme ich durch einander! Aurogilt, das habe ich doch schon einmal gehört. Aber, ja! Dieser NaskapiMann nannte mich einen Spion der Auro gilts. Bin ich ein Spion der Aurogilts?« »Den Anweisungen nach, die du mir ge geben hast, bist du kein Spion der Auro gilts«, antwortete die Psiotronik. »Wir befin den uns auf dem Weg zu ihnen, um einen Teil von ihnen zu MYOTEX zu bringen.« »Die Invasoren zu MYOTEX bringen!« entrüstete sich Algonkin-Yatta. »Das dürfen wir nicht! Kehre um, Psiotronik! Ich bin doch kein Verräter.« »Ohne die Aurogilts würdest du nicht mehr leben, Yatta«, sagte Anlytha. »Sie wa ren es nämlich, die mich nach Ruoryc schickten, um dich aus dem Wohnbecken zu holen. Zwischen ihnen und den Ruorycs gibt es eine Kommunikation.« »Das müßtest du eigentlich noch wissen, Kundschafter«, meldete sich die Psiotronik. »Es ist eine der vielen Informationen, die du mir gegeben hast.« »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!« sagte der Kundschafter verzweifelt.
Schatten über Ruoryc »Wieso habe ich dir Informationen … Einen Augenblick mal! Ich muß mich selbst hyp notisiert haben und befand mich wahr scheinlich noch in Hypnose, als ich ins sta tionäre Medosystem kam.« »Das ist richtig«, erklärte die Psiotronik. »Dann habe ich dir meine Informationen und Anweisungen im gleichen Zustand ge geben«, fuhr Algonkin-Yatta fort. »Das er klärt, warum ich mich nicht daran erinnere.« »Aber du mußt dich doch daran erinnern, daß du diese Informationen erhalten hast«, warf die Psiotronik ein. »Er hat sie unter Hypnose erhalten«, er klärte Anlytha. Der Kundschafter nickte. »Anders wäre ich nicht aufnahmebereit für die gedankliche Botschaft des Ruorycs gewesen, denn diese Wesen sind zwar Tele pathen, können aber keine Gedanken auf Nichttelepathen übertragen. Der Ruoryc muß meine potenzierte Aufnahmebereit schaft dazu genutzt haben, um mir suggestiv wirkende Lichtsymbole zuzublinken, deren Informationsgehalte sich in meiner Erinne rung verankerten, ohne daß ich sie ins Be wußtsein ziehen kann. Nur in Hypnose ver mag ich sie weiterzugeben.« Er schaute direkt in das rötlich glühende »Zyklopenauge« der Psiotronik, das viel mehr war als nur ein Auge. »Welche Informationen hast du von mir erhalten?« fragte er. »Der Name Aurogilt bedeutet für die, die den Namen erfanden, soviel wie ›Unsere Schuld‹«, berichtete die Psiotronik. »Vor sehr langer Zeit, als es noch keine Mathoner auf Ruoryc gab, schickte die damalige Zivi lisation dieses Planeten eine Forschungsex pedition auf einen weit entfernten, neu ent deckten Planeten, um seine Eignung zur Be siedlung zu prüfen. Keiner der Expeditionsteilnehmer merkte, daß es auf diesem Planeten bereits eine hochentwickelte Zivilisation gab, denn nie mand erkannte die Träger dieser Zivilisation als intelligente Lebensform. Deshalb merkte auch niemand, daß durch die Vorbereitun
23 gen zur Kolonisation das fremde Leben ge fährdet wurde. Dieses Leben war nicht aggressiv, deshalb griff es die Eindringlinge nicht an, sondern versuchte, sich mit ihnen zu verständigen und einen Vertrag zu schließen. Es kam aber zu keiner Verständigung, sondern zu einer unglückseligen Kette von Mißverständnissen. Die Expeditionsteilneh mer hielten das fremde Leben für mörderi sche, aber keineswegs intelligente Mikroor ganismen, für Krankheitserreger oder so et was. Sie fürchteten, diese Krankheitserreger könnten sich durch den Weltraum zu zahl reichen anderen Planeten ausbreiten und dort zu Seuchen führen. Aus diesem Grund stiegen sie wieder in ihre Raumschiffe und sterilisierten den fremden Planeten. Als sie nach Hause zurückkehrten und ih re Forschungsberichte MYOTEX zur Aus wertung übergaben, kam MYOTEX dahin ter, welchem tragischen Mißverständnis die Expedition verfallen war und daß das frem de Leben sowohl harmlos als auch intelli gent gewesen war. Die Erkenntnis, eine ganze Zivilisation ausgelöscht zu haben, konnten die damali gen Bewohner von Ruoryc nicht verkraften. Sie zogen sich geistig in sich zurück, ließen ihre Zivilisation verfallen und dämmerten dahin. Als lange Zeit danach fremde Intelligen zen aus dem Raum auf Ruoryc notlandeten und von MYOTEX in seine Obhut genom men wurden, da entwickelte sich die Kon taktscheu der Ruorycs zum Extrem. Sie hat ten Angst, wiederum Mißverständnissen zu verfallen und abermals Unheil über andere Wesen heraufzubeschwören. Dieses Trauma hielt sie auch dann von Kontaktversuchen ab, als sie die Mathoner lange genug beob achtet hatten, um sie richtig beurteilen zu können. Aber sowohl die damaligen Expeditions teilnehmer als auch MYOTEX hatten sich geirrt, als sie dachten, die fremde Zivilisati on für immer ausgelöscht zu haben. Zwar
24 war die heraufbeschworene Katastrophe ver heerend gewesen, aber innerhalb von rund 60 000 Jahren hatten die wenigen Überle benden und ihre Nachkommen sich so weit vermehrt, daß sie sich zu einer Ganzheit zu sammenschließen konnten. Und sie beschlossen die alten Überliefe rungen nachzuprüfen, wonach die Erste Zi vilisation durch einen Irrtum fremder Raum fahrer vernichtet worden sei. Sie hatten aus den Überlieferungen rekonstruiert, daß die Besucher mit Psiotroniken arbeiteten. Des halb schickten sie geistige Fühler aus, um ei ne solche Psiotronik aufzuspüren und die Koordinaten zu ermitteln. Es war nicht schwierig für sie, die Aktivi täten von MYOTEX aufzuspüren. Da sie die Nachkommen der Besucher nicht er schrecken wollten, was zu neuen Mißver ständnissen hätte führen können (und die Aurogilts sannen nicht auf Rache, sondern auf Kommunikation und Erforschung frem den Lebens), richteten sie ihren Transport strahl zuerst nach Lettaby und bildeten nach ihrer Ankunft eine Mehrzweckscheibe. Aber MYOTEX hatte die Ankunft der Fremden sofort festgestellt und durch den Vergleich mit ihrer Aktionsstrahlung und den Aufzeichnungen über die Aktionsstrah lung der Aurogilts erkannt, daß beide iden tisch waren. Als MYOTEX dann spürte, daß die Auro gilts so etwas wie einen Zapfstrahl auf ihn richteten, befürchtete er, die Aurogilts woll ten seine Speicher abtasten, um zu erfahren, ob die darin enthaltenen Informationen et was über die Vernichtung einer fremden Zi vilisation aussagten. Als Motiv unterstellte MYOTEX den Fremden Rachsucht. Da die einzige Möglichkeit, eine Abta stung und Abrufung gespeicherter Informa tionen zu verhindern, ohne sich für immer zu zerstören, die völlige Desaktivierung und eine Blockierung des Reaktivierungssektors war, tat MYOTEX das. Zuvor warnte er die Mathoner vor den Aurogilts, ohne sie über deren Motivation zu unterrichten. Die Mathoner mußten MYOTEX verlas-
H. G. Ewers sen, da nichts mehr funktionierte. Sie kehr ten vor einer Generation den Kuppeln den Rücken, verteilten sich in der Wildnis und schlugen sich mehr schlecht als recht durch. Viele kamen um, andere überlebten und ver erbten mutierte Gene an ihre Nachkommen, von denen ungefähr fünf Prozent vollange paßt sind. Die anderen Mathoner vegetieren unter schlimmen Verhältnissen in tiefen Höhlensystemen dahin, in denen sie durch Züchtung von Hydrokulturen die Nahrung und den Sauerstoff gewinnen, ohne die sie nicht leben könnten. Die Aurogilts waren unschlüssig gewor den. Sie konnten sich das Verhalten der Ma thoner nicht erklären und warteten einfach ab, weil sie sich sagten, die Scheu vor ihnen müßte sich doch irgendwann geben. Die letzten der alten Zivilisation von Ruo ryc, ungefähr vierzigtausend Individuen, hatten die Mathoner längst studiert und wuß ten über sie Bescheid. Als MYOTEX die Mathoner vor den Aurogilts warnte, versetz te ihnen das einen Schock. Sie fürchteten, die Fremden wären gekommen, um Rache zu üben, und sie würden mit den letzten Alten auch die Mathoner vernichten. Die Ruorycs sind keine Telepathen, wie du dachtest, Kundschafter. Sie saugen Emo tionen anderer Intelligenzen in sich auf – und sie können vor allem bildhafte emotio nale Vorstellungen aufnehmen. Die Auro gilts wiederum können intelligentes Leben zwar orten, aber nur über einen psionischen Vermittler kontaktieren. Deshalb bemächtigten sie sich Anlythas. Ursprünglich wollten sie nur erreichen, daß Anlytha die Psiotronik des Kundschafter schiffs, also mich, aktiviert, denn ich hatte mich desaktiviert, als ich den Zugriff der Aurogilts spürte. Doch dann orteten sie ein Raumschiff der Unaussprechlichen und ver bargen Anlytha in einem Nullfeld.« »Wer sind diese Unaussprechlichen?« warf Algonkin-Yatta ein. »Es sind Versprengte aus der Geisterflot te, die wahrscheinlich aus der Schwarzen Galaxis kommt«, erklärte die Psiotronik.
Schatten über Ruoryc »Wer ihren Namen kennt, ist bereits verlo ren, denn die Gedanken an ihn lösen hype renergetische Impulse aus, die die Unaus sprechlichen jederzeit und überall empfan gen und anmessen können. Deshalb nennt man sie vorsichtshalber die Unaussprechli chen. Unterdessen flogst du, Kundschafter, mit dem Schiff nach Ruoryc. Was du erlebt hast, das weißt du besser als ich. Jedenfalls schickten die Aurogilts, nachdem das Raum schiff der Unaussprechlichen wieder ver schwunden war, Anlytha ins Schiff. Anlytha aktivierte mich, beziehungsweise sie ver suchte das. Da ich nur auf dich höre, gelang ihr das natürlich nicht.« »Weil du stur bist«, sagte Anlytha. »Aber glücklicherweise genügte es, den dir vorge schalteten Dimensionswandler in Betrieb zu nehmen, um über ihn eine Kommunikation zwischen Aurogilts und Ruorycs fließen zu lassen. Glücklicherweise, weil die Aurogilts nur dadurch erfuhren, daß Algonkin in Lebens gefahr schwebte. Sie unterrichteten mich da von, und mit Hilfe einer komplizierten Me thode lotsten sie mich zu dem richtigen Becken. Ich holte dich, Yatta, heraus, ver frachtete dich in das stationäre Medosystem des Kundschafterschiffs …« »… und du hast mich notaktiviert, weil du klinisch tot warst«, fiel die Psiotronik ein. »Anschließend brachtest du mich mit deinen verwickelten Informationen und Anweisun gen durcheinander. Übrigens, wir landen gleich auf Lettaby.« »Da bin ich wirklich gespannt«, meinte Algonkin-Yatta. »Vor allem, weil die Auro gilts etwas über die Schwarze Galaxis zu wissen scheinen – und wer etwas über die Schwarze Galaxis weiß, der kann mir bei der Suche nach Atlan helfen.« »Atlan ist ein Gentleman«, stellte Anlytha mit eigentümlicher Betonung fest. »So wie ich«, erwiderte Algonkin-Yatta. »So, wie du aus dem Medosystem gekom men bist, kannst du gar kein Gentleman sein!« behauptete Anlytha.
25 Der Kundschafter blickte an sich herunter, sah, daß er völlig nackt war und verschwand blitzartig aus der Zentrale, um sich in seiner eigenen Kabine eine Reserve-Kombination anzuziehen.
* »Alles hängt davon ab, ob es trotz der Desaktivierung von MYOTEX eine Mög lichkeit gibt, eine Art Wach- und Lausch sektion zu finden und überzeugende Argu mente für eine Reaktivierung von MYOTEX vorzubringen«, sagte Algonkin-Yatta, wäh rend er das Kundschafterschiff in die dichte Atmosphäre von Ruoryc steuerte. »Dann müßte aber diese Wach- und Lauschstation befugt sein, die schwerwie gende Entscheidung über die Forderung nach Reaktivierung zu fällen«, wandte Anly tha ein. »Wir müssen …«, sagte die Psiotronik und ließ eine undefinierbare Geräuschkom position folgen, »… abholen und mitnehmen zu MYOTEX.« »Was war das für ein Wort, das vorletz te?« erkundigte sich Anlytha. »Der in Akustik umgeformte sensovisuel le Impuls des Ruorycs, der mit den Aurogilts kommuniziert«, antwortete die Psiotronik. »Bei den Ruorycs hat ein sensovisueller Im puls eine ähnliche Bedeutung wie bei Ma thonern und anderen Völkern der Name ei nes Individuums.« »Hm!« machte der Kundschafter. »Kannst du den senso …. den Namen wiederholen, Psiotronik?« »Selbstverständlich, Kundschafter«, er klärte die Psiotronik. Erneut erklang eine undefinierbare Geräuschkomposition. »Das hörte sich wie, äh, getrocknete Weinbeere an«, meinte Anlytha. »Mir fällt das richtige Wort nicht ein.« »Rossini«, sagte Algonkin-Yatta und schlug mit der flachen Hand gegen die Frontplatte des Dimensionswandlers. »Nennen wir ihn einfach Rossini!« »Nach einer getrockneten Weinbeere?«
26 fragte Anlytha entgeistert. »Nach einem terranischen Künstler«, kor rigierte Algonkin-Yatta. »Oh!« machte seine Begleiterin. Alles, was mit Kunst zu tun hatte, nötigte ihr Ehr furcht ab. »Einverstanden, Yatta! Er heißt ab sofort Rossini.« »Rossini ist der Ruoryc, von dem ich mei ne Informationen über die Aurogilts habe?« erkundigte sich Algonkin-Yatta. Die Lichtpunkte, die innerhalb der drei Meter durchmessenden durchsichtigen Ku gel aus Metallplastik im Nebel schwammen, gerieten in schnelle Bewegung. »Unser Gast bestätigt es«, sagte die Psio tronik, die in direkter Verbindung mit dem Teil der Aurogilts stand, der als Delegation an Bord des Kundschafterschiffs gekommen war. »Danke!« sagte der Kundschafter. »Dann werde ich auf MANUELL umschalten, denn es ist leichter für mich, die Thalamon-Senke selbst anzusteuern, als den Kurs dorthin zu erklären.« Er nahm die notwendigen Schaltungen vor und beobachtete das Tasterbild der Oberfläche des Planeten unter dem Schiff. Wegen der dichten Wolkenschicht konnte er nur so erkennen, über welchen Geländefor mationen er sich befand. Auf seine Anweisung bereitete die Psio tronik unterdessen eine Spezialzelle des Kundschafterschiffs für die Aufnahme Ros sinis und seiner unmittelbaren Umwelt vor. Die Spezialzelle war dafür konstruiert, Le bewesen unterschiedlichster Art für eine be grenzte Zeit mit allen den Umweltbedingun gen zu versorgen, die sie zum Überleben brauchten. Die »Delegation« kommunizierte über den Dimensionswandler des Kundschafter schiffs mit Rossini, so daß der Ruoryc vor bereitet war, als das Schiff in der Nähe sei nes Beckens landete. Innerhalb weniger Mi nuten wurde er an Bord genommen. Fasziniert beobachtete Anlytha die qual lenähnlichen Konturen des riesigen Wesens auf einem Monitor.
H. G. Ewers »Woraus besteht die Haut?« überlegte sie laut. »Es gibt keine Haut«, warf die Psiotronik ein. »Nach den Messungen, die ich nach der Übernahme Rossinis vorgenommen habe, kapselt er sein Inneres mit Hilfe zahlreicher sich überlappender Magnetfelder gegen die Umwelt ab.« »Das ist phantastisch!« rief Algonkin-Yat ta. »Rossini läßt dir sagen, Kundschafter, daß er es viel phantastischer findet, wenn Lebe wesen trotz einer relativ dünnen und vor al lem materiell angreifbaren Körperoberfläche in sauerstoffhaltigen Atmosphären überle ben«, erklärte die Psiotronik. »Im übrigen sollten deine Gedanken sich mehr auf die Reaktivierung von MYOTEX richten.« »Gerade er muß das sagen!« entrüstete sich Algonkin-Yatta. »Was weiß er schon von MYOTEX?« »Sein Volk hat MYOTEX gebaut«, erin nerte die Psiotronik ihn. Der Kundschafter nickte gedankenschwer. Er wurde sich plötzlich darüber klar, daß die Mathoner auch nach einer Reaktivierung von MYOTEX nicht zu ihrer früheren Le bensart zurückkehren konnten, denn die wirklichen Eigentümer waren wieder auf die Bühne der Geschichte getreten – und MYO TEX war ihnen zumindest genauso ver pflichtet wie den Mathonern.
* »Hier spricht MYOTEX!« ertönte es aus den Lautsprechern in der Zentrale des Kund schafterschiffs. »Ich habe mit speziellen Sonden alle Ereignisse innerhalb des Sy stems mitverfolgt, aber erst die Geschehnis se seit der Rückkehr von Algonkin-Yatta ha ben mich davon überzeugt, daß die Auro gilts tatsächlich nicht auf Rache sinnen, son dern friedliche Verständigung und den Aus tausch von Informationen anstreben.« »Weißt du denn, wer ich bin?« fragte Al gonkin-Yatta verwundert. »Selbstverständlich«, antwortete MYO
Schatten über Ruoryc TEX. »Als ich deinen Namen erfuhr habe ich sofort in den Speichern nachgesehen. Er befindet sich allerdings in den AltSpeichern, und das bedeutet, daß du zwei hundertdreiundsiebzig Jahre gebraucht hast, um nach Ruoryc zurückzufinden.« »Keineswegs«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Ich habe von diesen zweihundertdreiund siebzig Jahren keine zwei Jahre gelebt, son dern rund zweihunderteinundsiebzig Jahre übersprungen. Ein Zeitsprung, MYOTEX.« »Damit wärst du der erste Kundschafter Ruorycs, der das Phänomen der Zeitreise am eigenen Leibe erfahren hat«, meinte MYO TEX. »Du mußt mir später alles genau be richten. Inzwischen sorge ich dafür, daß die überall draußen verstreuten Mathoner rück geführt und akklimatisiert werden.« »Aber was sagen deine Erbauer dazu?« fragte der Kundschafter. »Ihnen gehörst nicht nur du; ihnen gehört praktisch ganz Ruoryc. Werden sie noch länger zusehen, wie wir uns auf ihrer Welt ausbreiten?« »Sie werden euch dabei helfen«, erklärte MYOTEX. »Ohne euch würden sie wahr scheinlich nicht die Energie aufbringen, ihre Lethargie ein- für allemal abzuwerfen und in eine aktive Lebensphase zurückzukehren. Deshalb sind sie froh, daß es, euch gibt, und sie werden mit ihrer Begabung für Hyper elektronik und Psiotronik viel Neues schaf fen, was euch helfen kann.« Algonkin-Yatta dachte darüber nach, dann sagte er: »Das freut mich, denn vielleicht bekom me ich durch sie die Möglichkeit, durch die Räume und Zeiten Atlan zu finden.« »Ohne die Zeitkapsel?« warf Anlytha skeptisch ein. »Die Zeitkapsel steht in ihrem Hangar«, erklärte die Psiotronik des Kundschafter schiffs. »Wie ist sie dort hingekommen?« fragte Algonkin-Yatta. »Unbekannt«, antwortete die Psiotronik. »In der einen Millisekunde gab es sie nicht im Hangar und in der anderen Millisekunde stand sie plötzlich da.«
27 »Wir haben sie aus der Zeit gefischt«, sagte die Psiotronik. »Du?« fragte Anlytha. »Ich sprach für die Aurogilts«, erklärte die Psiotronik. »Unsere Delegation ließ mich wissen, daß bei ihrem Volk die nonpa radoxische Manipulation der Zeit als eine Kunst gilt, die höher steht als alle anderen Künste.« »Jetzt verstehe ich einiges im Zusammen hang mit den Aurogilts, was mir zuvor Rät sel aufgab«, meinte MYOTEX. »Wenn Ruorycs, Aurogilts und Mathoner zusammenarbeiten würden, wir könnten Phantastisches erreichen!« rief Algonkin-Yat ta begeistert. »Wir würden viele Rätsel des Universums lösen, in die Geheimnisse bi zarrster, fremdartigster Kulturen eindringen – und wir hätten eine größere Chance, Atlan zu finden!« »Und was gäbe es alles für Kunstschätze zu entdecken!« pflichtete ihm Anlytha bei. »Rossini und die Delegation lassen über mitteln, daß sie sich freuen würden, mitein ander und mit den Mathonern zusammenzu arbeiten«, sagte die Psiotronik. »Und mit MYOTEX«, sagte MYOTEX. Algonkin-Yatta schloß die Augen und stellte sich vor, wie unterschiedlich die künftigen Partner waren: die Aurogilts ein nebelhaftes Plasma mit zahllosen Lichtpunk ten, die Ruorycs Flüssigkörper mit intensiv sten chemischen Reaktionen, die Energie er zeugten und eine Haut aus Magnetfeldern schufen, die Mathoner mit einer Körperlich keit, die vom Standpunkt der Ruorycs und wohl auch der Aurogilts zu verletzbar fürs überleben war und die mit ihrer Wißbegier und ihrem unstillbaren Forscherdrang die treibende Kraft des Bundes sein würden – und MYOTEX als gigantischer Überlebens komplex mit einer unvorstellbar leistungsfä higen Psiotronik. Und da war noch Anlytha, die nicht wuß te, zu welchem Volk sie gehörte, woher sie kam und was sie getan hatte, bevor der Kundschafter sie aus einem havarierten Raumschiff rettete.
28 Algonkin-Yatta trat zu Anlytha, legte einen Arm um ihre Schulter und sagte: »Und gemeinsam mit Anlytha wird es uns, nachdem wir Atlan gefunden haben, auch gelingen, hinter das Geheimnis von Anlythas Herkunft zu kommen.« »Wir werden dir ein neues Kundschafter schiff geben, Algonkin-Yatta«, sagte MYO TEX. »Deines gehört einer längst veralteten Bauserie an – und sobald die Aurogilts und ich uns mit der Zeitkapsel vertraut gemacht haben, werden wir Aggregate konstruieren, mit deren Hilfe dein neues Kundschafter schiff zur Zeitreise befähigt wird. Allerdings werden wir nur dieses eine Schiff mit diesen Aggregaten ausrüsten. Zeitmanipulationen sind Balanceakte auf fadendünnem Seil. Du, Algonkin-Yatta, hast bewiesen, daß du ver antwortungsvoll mit einer Zeitmaschine um gehen kannst. Ich schrecke davor zurück, einen weiteren Kundschafter daraufhin zu testen, ob er ebenfalls stets die richtigen Ent scheidungen treffen kann.« »Das eröffnet ungeahnte Perspektiven!« rief Anlytha begeistert. »Unsere Kunst sammlung …« Algonkin-Yatta blickte seine Begleiterin beschwörend an. »Unsere Kunstsammlung ist unser kleines Geheimnis, MYOTEX«, sagte er. »Ich bitte darum, es im Interesse unserer psychischen Verfassung als unantastbar im Sinn unserer Privatsphäre zu betrachten.« »Wer Großes leistet, soll nicht kleinlich behandelt werden«, erwiderte MYOTEX. »Das ist der richtige Standpunkt«, sagte Anlytha. »Bevor wir Ruoryc wieder verlas sen, würde ich gern alle Anlagen von MYO TEX besichtigen. Wäre das möglich?« »Ich fürchte, dazu hat MYOTEX keine Zeit«, warf der Kundschafter schnell ein. »Er muß sich um so vieles kümmern, und wenn ihm ein paar wertvoll aussehende Tei le verlorengingen …« »Warum sollten mir Teile verlorengehen, Algonkin-Yatta?« fragte MYOTEX. »Ich verstehe deine Gedankengänge nicht, Kund schafter!«
H. G. Ewers »Ich auch nicht, MYOTEX«, sagte Anly tha. »Am besten wird es sein, wir hören nicht auf ihn, wenn er Unsinn redet. Wer so viel durchgemacht hat wie er, darf ruhig ein wenig Narrenfreiheit genießen.« »Sehr richtig«, sagte MYOTEX. »Bis später dann, Anlytha.« »Narrenfreiheit!« schnappte der Kund schafter. »Das ist ja unerhört! Ich versuche, MYOTEX vor Schaden zu bewahren, vor Langfingerschaden, wohlgemerkt, und als Dank dafür gestattet man mir Narrenfrei heit!« »Schade, daß MYOTEX das nicht hören konnte«, erklärte die Psiotronik. »Aber er trennte kurz vorher die Verbindung. Sonst hätte er sich wahrscheinlich genauso amü siert wie ich.« »Amüsiert!« schrie der Kundschafter er bost. »Über mich! Und überhaupt hat eine Psiotronik keine emotionalen Regungen zu haben. Aber vielleicht verliert sie die, wenn ich eine gewisse Kleptomanin durch die In ternanlagen der Psiotronik geführt habe.« »Oh, ja!« rief Anlytha. »Bedaure, aber wie ich feststellte, exi stiert der Kodegeber, mit dem man in meine Internanlagen gelangt, nicht mehr«, sagte die Psiotronik. »Ich weiß überhaupt nicht, wo …« Nach einer halben Sekunde Pause erscholl ein amüsiertes Lachen aus den Lautspre chern. Algonkin-Yatta blickte Anlytha an, und seine Begleiterin sah schuldbewußt zu Bo den, bis sie in das Gelächter der Psiotronik einstimmte.
2. VORFELD STERNENBALLUNG Computerlogbuch RUORYC, Ort und Zeit unbekannt: Vor fünf Tagen Bordzeit starteten wir – Anlytha, eine Delegation der Aurogilts und ich – von Ruoryc, nachdem wir das neue Kundschafterschiff auf den Na men des Schicksalsplaneten dreier kosmi scher Rassen getauft hatten.
Schatten über Ruoryc Unser Ziel ist es, uns erneut in den Sog bereich der Schwarzen Galaxis einzufädeln. Die unsichtbare Barriere, die das alte Kund schafterschiff beinahe vernichtet hätte, dürf te sich mit Hilfe der wesentlich besser aus gerüsteten RUORYC durchstoßen lassen. Notfalls können wir sie auch durch die Zeit umgehen, da die RUORYC dank der von mir mitgebrachten Zeitkapsel und der gemeinsa men Arbeit von MYOTEX und den Aurogilts in der Lage ist, selbst Zeitversetzungen vor zunehmen. Notgedrungen mußten wir, um im Gewirr der Dimensionskorridore abermals diejeni gen zu finden, die in den Sogbereich der Schwarzen Galaxis führen, das sogenannte Zeitlinienknäuel passieren, das Anlytha und mich mit dem alten Kundschafterschiff um zweihundertdreiundsiebzig Jahre in die Zu kunft geschleudert hatte. Auch in umgekehrter Richtung wirkte sich das Zeitlinienknäuel auf uns aus. Noch konnten wir keine Orts- und Zeitbestimmung vornehmen, da die RUORYC erst in zwei Stunden Bordzeit aus dem Dimensionskorri dor aufsteigen wird, in den wir sie nach Überwindung des Zeitlinienknäuels steuer ten. Deshalb wissen wir nicht, um wie viele Jahre, Jahrhunderte oder Jahrtausende wir auf der imaginären Zeitskala in die Vergan genheit oder Gegenwart versetzt worden sind. Wir wissen nur, daß eine Zeitverset zung stattgefunden hat, dank eines gewissen natürlichen Zeitempfindens unserer Auro gilts. – Algonkin-Yatta, Kundschafter von Ruoryc. Kaum hatte der Kundschafter das Compu terlogbuch ausgeschaltet, als er Anlytha sa gen hörte: »Warum hast du mit der Eintragung nicht gewartet, bis wir wissen, in welcher Zeit und an welchem Ort wir sind, Algonkin?« Langsam drehte Algonkin-Yatta sich um, blickte seine Begleiterin mit ausdruckslosem Gesicht an und sagte: »Gonah Lawllyng nisoram quetu Pthora!« »Was?« Anlytha zeterte empört, dann stutzte sie und sagte kleinlaut: »Ich habe lei
29 der nur das letzte Wort verstanden, Yatta.« »Dachte ich es mir!« erwiderte der Kund schafter. »Wozu habe ich extra für dich ein Hypnoband mit dem Grundwortschatz des Pthora programmiert, wenn du es nicht be nutzt?« »Ich hatte leider keine Zeit, Herr Lehrer«, erklärte Anlytha schnippisch. »Keine Zeit?« wiederholte Algonkin-Yat ta. »Und was hast du in den fünf Stunden gemacht, die du weg warst? Sage bloß nicht, du hättest geschlafen, denn dabei hättest du bequem das Hypnoband ablaufen lassen können!« »Geschlafen!« entrüstete sich Anlytha und sträubte ihren Federkamm. »Wo doch soviel zu tun war! Ich habe unsere sämtli chen Kunstschätze sortiert und in die Ni schen der Wohnzelle dieses neuen Schiffes eingeräumt.« Ihre Augen glänzten. »Stell dir vor, in der neuen Schatzkammer ist fast dop pelt soviel Platz wie in der alten! Es wird höchste Zeit, daß wir in die Schwarze Gala xis kommen.« »Weshalb hat es Anlytha so eilig, wenn wir noch gar nicht wissen, in welcher Zeit wir uns befinden?« erscholl die Stimme, die die Psiotronik eigens für Mitteilungen der Aurogilt-Delegation programmiert hatte. Im Unterschied zur tiefen Baßstimme der Psio tronik war es eine hohe, halb knabenhafte und halb weibliche Stimme. »Weil sie klaut wie ein Rabe«, antwortete der Kundschafter. »Du meinst, sie raubt fremdes Eigen tum?« erkundigte sich die Delegation. »Sie stiehlt es«, erklärte Algonkin-Yatta. »Und zwar so geschickt, daß es selten ein mal jemand bemerkt.« »Aha!« meinte die Delegation. »Und die ser gewisse Rabe dient ihr als Vorbild?« »Ich kenne überhaupt keinen Rabe!« pro testierte Anlytha. »Ich kannte bis vor kurzem auch keinen«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Erst in Terrania City zeigte mir der Barde Juan Pincenez so einen Vogel und nannte das entsprechende Sprichwort.«
30
H. G. Ewers
»Es handelt sich also um ein Tier«, stellte die Delegation fest. »Um ein Kamel«, sagte Anlytha und blickte bedeutungsvoll auf den Kundschaf ter. Doch diesmal verstand Algonkin-Yatta nicht, was gemeint war. Er unterzog die Kontrollen einer genauen Überprüfung, dann wandte er sich an seine Begleiterin und sagte: »Da wir noch fast zwei Stunden Ruhe ha ben, können wir ebensogut die erste Lektion Pthora für dich lernen, anstatt über Tiere und Sprichwörter zu plaudern. In der Schwarzen Galaxis werden wir diese Sprache brauchen, wenn wir uns den dort lebenden Intelligen zen verständlich machen wollen.« Anlytha seufzte ergeben. »Wenn es sein muß! Also, fang an!« Und Algonkin-Yatta bemühte sich, seine Begleiterin in die Anfangsgründe jener Sprache einzuführen, die er von dem Pthorer Dorstellarain gelernt hatte.
* »Liatos monvran Dhergai lieuge«, wie derholte Anlytha das pthorische Sprichwort, das der Kundschafter ihr vorgesprochen hat te. Anschließend blickte sie ihn fragend an. Algonkin-Yatta wollte ihr die Bedeutung des Sprichworts erklären, doch da meldete sich die Psiotronik der RUORYC und sagte: »Unser Dimensionskorridor zerfließt, Kundschafter.« Algonkin-Yatta blickte auf die Anzeigen. Er sah, daß die für normale Augen unsichtbaren Wände jenes hyperener getischen »Tunnels«, der zwischen den Dimensionen pendelte, sie teilweise tangierte oder auch perforierte und der erst durch elektronische Tricks zu einem Bild auf den Anzeigeschirmen gemacht wurde, vor dem Kundschafterschiff flackerten und sich in größerer Entfernung verformten, wobei die Wandungen sich schlierenartig bewegten. Ein Blick auf den Zeitmesser für Bordzeit bewies Algonkin-Yatta, daß bis zum Austritt
aus dem Dimensionskorridor eigentlich noch zwanzig Minuten vergehen mußten. »Es sieht so aus, als müßten wir vorzeitig in unser Kontinuum zurückkehren, Anly tha«, erklärte er bedächtig. »Was meinst du dazu, Psiotronik?« »Wenn wir nicht gewaltige Mengen an Energie verschwenden wollen, um uns im errechenbaren, aber nicht mehr vorhandenen Verlauf des Dimensionskorridors zu halten, dann sollten wir uns nicht gegen die Absto ßung wehren, Kundschafter«, antwortete die Psiotronik. »Aber wir werden in schweren Brubaggl geraten«, warf die Delegation ein. Algonkin-Yatta horchte auf. »Was bedeutet das: Brubaggl?« »Der Begriff ist dir nicht bekannt?« fragte die Delegation. »Ich habe ihn zum erstenmal gehört«, sagte Algonkin-Yatta. »Dann wird es mir schwerfallen, seine Bedeutung so zu erklären, daß die Psiotronik sie in Mathona oder Interkosmo übersetzen kann, ohne den Sinn völlig zu entstellen«, meinte die Delegation. »Bitte, versuche es!« sagte Algonkin-Yat ta. »Chairade«, sagte die Delegation. »Ich habe ›Chairade‹ verstanden, Psiotro nik«, sagte der Kundschafter vorwurfsvoll. »Und ich habe übersetzt, wobei ›Chairade‹ herausgekommen ist«, erwiderte die Psiotronik mit würdevoller Herablas sung. »Hm, das klingt beinahe wie Terranisch«, meinte Anlytha. Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »Ich finde, es klang respektlos – nämlich, wie diese Psiotronik das gesagt hat! Manch mal denke ich, ich wäre besser gefahren, wenn ich meine gute alte Psiotronik behalten hätte, selbst wenn ich deswegen auf das neue Schiff hätte verzichten müssen. Sie fand zwar manche Sachen witzig oder amüsant, aber sie war ein echter Kumpel für mich.« »Danke, Kundschafter!« sagte die Psio
Schatten über Ruoryc tronik. »Wieso bedankst du dich für etwas, das für dich kein Lob ist?« erkundigte sich Al gonkin-Yatta. »Jetzt laust mich aber der Affe, wie Fan galoa Eneiki laut Anlytha zu sagen pflegte!« sagte die Psiotronik. »Wußtest du nicht, daß der Ego-Sektor der ›alten‹ Psiotronik in die neutrale Psiotronik der RUORYC einge speist wurde?« Es krachte, als der Kundschafter sich in einen Sessel fallen ließ. »Du bist also die alte Psiotronik?« fragte er beinahe fassungslos. »Aber so respektlos war die alte …. warst du früher nicht!« »Heute bin ich auch klüger«, erklärte die Psiotronik. »Mehr Mikro-Prozessoren, dazu die neuartigen flüssigen Steuer- und Denk elemente. Es ist, als wäre dein Bewußtsein mit deinen Erinnerungen ins Gehirn eines wahrhaft intelligenten Lebewesen übertra gen worden.« »Ich bin erschüttert«, sagte Algonkin-Yat ta nach einigen Sekunden eisiger Stille. »Und ich hatte mir immer eingebildet, ein wahrhaft intelligentes Lebewesen zu sein.« Er zuckte überrascht zusammen, als Anly tha auf die Seitenlehne seines Sessels sprang und ihn von dort aus tröstend umarmte. Dann erkannte er ihre guten Absichten und blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Ich stelle mich dumm«, hauchte er ihr ins Ohr. Im nächsten Augenblick hob er sie hoch und setzte sie auf dem Boden ab, dann blick te er wie gebannt auf den vorderen Bild schirm, auf dem eine Wolke blinkender Ob jekte aufgetaucht war, die mit unwahr scheinlicher Schnelligkeit auf die RUORYC zurasten. »Abwehr aktivieren!« rief er der Psiotro nik zu. »Schon erledigt«, erwiderte die Psiotro nik. »Es handelt sich bei den Objekten ledig lich um kleinere Trümmerbrocken eines ex plodierten Raumschiffs. Dafür reicht die Vier-D-Staffelung völlig …« Das erste Trümmerstück, so klein, daß es
31 auf der vorderen Bildwand nicht zu sehen war, prallte mit den Schutzschirmen der RUORYC zusammen. Auf der vorderen Bildwand zuckte ein Blitz auf, dann wurde sie schlagartig dunkel. Algonkin-Yatta spürte die Wucht einer Erschütterung, wollte sich an seinem Sessel festhalten und wurde mit ihm in die vordere Bildwand katapultiert. »Vorsicht, Antimaterie …!« sagte die Psiotronik.
* Algonkin-Yatta wühlte sich aus einem Trümmerhaufen elektronischer Ingredien zen, wischte sich die im haarlosen Schädel festgehakten Blech- und Glassitplättchen und Drahtfasern ab und kam keuchend frei. Ein Blick auf die Anzeigen verriet ihm, daß die RUORYC kontrolliert schleuderte. Die Psiotronik versuchte auf diese Weise, weiteren Zusammenstößen mit Antimaterie zu entgehen. Ob es ihr gelingen würde, war eine andere Sache. Der nächste Brocken brauchte, selbst bei Sieben-D-Staffelung der Schutzschirme, nur dreimal soviel Masse zu haben wie der erste (dessen Masse der Kundschafter überschlägig auf ein halbes Kilogramm schätzte), dann mußte das Auf treffen eine Reaktion herbeiführen, die von der RUORYC höchstens einen erstarrten Tropfen verdampfter Materie übrigließ. Algonkin-Yattas nächster Blick galt Anly tha. Er machte sich größte Sorgen um sie, denn ihr Körper war nicht halb so wider standsfähig wie seiner. Wenn sie gegen eine feste Wand geschmettert worden war, gab es kaum noch Hoffnung. »Das ist unmöglich!« sagte er, als seine Augen sie nicht entdeckten. »Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!« Eine zusätzliche Vibration verriet dem Kundschafter, daß die Psiotronik die schwe ren Waffen des Schiffes gegen die Antima teriebrocken einsetzte. Bei Treffern kam es zu Explosionen, die das Schiff gleich einem Tischtennisball herumschleuderten.
32 Ab und zu erreichte die Stoßbelastung die maximale Leistungsfähigkeit der AndruckAbsorber, dann genügte ein winziger zusätz licher Impuls, um Algonkin-Yatta wie einen Ball zwischen den Wänden hin und her zu schleudern. Trotz seiner hohen Widerstands fähigkeit merkte der Kundschafter, daß er allmählich zermürbt wurde. »Wo steckt Anlytha, Psiotronik?« schrie er. Zur Antwort ließ die Psiotronik lediglich ein paar Alarmlampen blinken. Algonkin-Yatta begriff, daß die Psiotro nik zur gleichen Zeit keine Tausendstelse kunde für ihn übrig hatte, weil sie vom Kampf um die Erhaltung des Schiffes total beansprucht wurde. Wenig später flog Algonkin-Yatta gegen die drei Meter durchmessende Aufenthalts kugel der Delegation. »Verzeihung!« sagte er unwillkürlich, während er in der Luft einen Purzelbaum schlug … Und dabei entdeckte, daß die Aufenthalts kugel leer war … Hart krachte er mit dem Rücken gegen die Decke der Zentrale. Seine rechte Hand schnellte zur Seite, krallte sich um einen Haltegriff. Die stahlblauen Augen starrten unverwandt auf die transparente Kugel aus Spezial-Stahlplastik, in der noch vor kurzem eine Art in allen Farben leuchtendes, unter schiedlich hell glitzerndes »Plasma« aus un definierbarer Materie gewogt hatte. Nicht ein einziges winziges Stäubchen war davon geblieben. Ein neuer Ruck ließ Algonkin-Yattas Kopf gegen die Decke prallen. Mit hartem Knall. Dann, mit einemmal, spürte der Kundschafter, wie die RUORYC in ruhigere Gewässer glitt. Er begriff, daß die Zone der Raumschifftrümmer aus Antimaterie hinter ihnen lag. Als er den Haltegriff losließ, wurde er von den 1,5 Gravos, die wegen Anlythas zarter Konstitution an Bord herrschten, sanft zu Boden gezogen. Für einen Moment gab er seiner Erschöpfung nach und entspannte
H. G. Ewers sich seufzend. »Jetzt verschlucke ich doch gleich König Nothams Krone!« zeterte die Stimme Anly thas. Algonkin-Yatta fuhr hoch, als hätte ihn eine Natter gebissen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er auf seine Begleiterin, die völlig unversehrt neben den Trümmern eines Sessels stand. Als Anlytha den Kundschafter genauer ansah, machte sie ein betroffenes Gesicht. »Wie siehst du denn aus, Yatta?« rief sie erschrocken. »Wie soll ich schon aussehen!« brummte Algonkin-Yatta verlegen. »Genauso wie sonst, nur ein bißchen mit Glassit, Blech und Draht garniert. Aber ich frage mich, wie du unseren Tanz auf dem Vulkan völlig heil überstehen konntest. Nicht einmal dein Fe derkamm ist verbogen.« Anlythas Blick wurde unsicher. »Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht ge nau, wo ich eigentlich war.« Sie blickte zur Aufenthaltskugel der Delegation. Der Kundschafter folgte ihrem Blick mit den Augen – und sog im nächsten Augen blick hörbar die Luft ein. Denn die Kugel aus transparentem Stahl plastik war nicht mehr leer. In ihr wogte und wallte ein in allen Farben leuchtendes, un terschiedlich hell glitzerndes »Plasma«. »Chairade war auch dort«, erklärte Anly tha. »Aber ich weiß nicht, ob sie etwas da mit zu tun gehabt hat.« »Chairade?« fragte Algonkin-Yatta. Anlytha nickte in Richtung der Aufent haltskugel, die auf dem kompakten und total mit Panzertroplon verkleideten Versor gungssockel stand. »Unsere Aurogilt-Delegation«, antwortete sie. »Ich finde, Chairade klingt besser als ›Delegation‹. Meinst du nicht auch?« »Na, ja!« erwiderte der Kundschafter. »Aber warum ›sie‹ und nicht ›er‹?« »Es heißt doch die Delegation und nicht der Delegation«, sagte Anlytha. »Also muß auch Chairade weiblich sein.« Algonkin-Yatta wußte nicht, was er dieser
Schatten über Ruoryc Argumentation entgegensetzen sollte. »Einverstanden«, sagte er. »Wenn auch Chairade einverstanden ist.« »Für mich gibt es da kein Problem«, sagte die helle Stimme der Delegation über die Psiotronik. »Für mich auch nicht«, meinte Algonkin-Yat ta. »Dafür stehe ich vor einem anscheinend unlösbaren Problem, denn wie soll ich mir erklären, wohin Anlytha vorhin verschwun den war – und wohin du verschwunden warst, Chairade! Anlytha sagte, du wärst auch dort gewesen. Aber wo war ›dort‹?« »Wenn vorher Zeit dazu gewesen wäre, hätte ich selbstverständlich alles genau mit euch besprochen«, antwortete Chairade. »Aber Anlytha war durch die Reaktion der Antimaterie aufs höchste gefährdet. Deshalb baute ich eine Zeitnische auf und ›krümmte‹ mich mit ihr hinein.« Algonkin-Yatta ließ sich das durch den Kopf gehen, dann sagte er ernst: »Ich denke, wir beide, Anlytha und ich, müssen dir sehr dankbar sein, Chairade. Wahrscheinlich hast du Anlytha das Leben gerettet. Aber, was ist eine Zeitnische?« »Bedenke, daß der Begriff ›Zeitnische‹ nicht von mir stammt, Algonkin-Yatta«, er widerte Chairade. »Wir, die ihr Aurogilts nennt, kennen keine Sprache in eurem Sinn. Wir verständigen uns anders. ›Zeitnische‹ ist also ein Begriff, der von der Psiotronik ge wählt wurde, und ich finde, er sagt genug aus, wenn man weiß, was gemeint ist.« »Hu!« machte Anlytha. Ihr Federkamm sträubte sich. »Ich bekomme nachträglich ei ne herrliche Gänsehaut, wenn ich mir eine Zeitnische vorstelle!« Der Kundschafter lächelte. »Genieße es, Lytha! Chairade, wenn du uns ein wenig ge nauer erklären könntest, wie es sich mit der Zeitnische verhielt …« »Stellt euch die Gegenwart als einen win zigen Ausschnitt im Ablauf der von Vergan genheit nach Zukunft gerichteten Zeitdimen sion vor«, erklärte Chairade. »Dann wäre das, was noch nicht ist, nämlich die aller nächste Zukunft, euren Blicken hinter einem
33 undurchdringlichen Vorhang verborgen …« »Wie der Vorhang auf einer Bühne«, warf Anlytha ein. »Wenn der zu ist, sieht man auch nicht, was dahinter vorgeht und was man demnächst ablaufen sehen wird. Da ha be ich beispielsweise in Terrania City …« »Bitte, Anlytha!« sagte der Kundschafter. »Das war anschaulich gesagt, Anlytha«, sagte Chairade. »So ungefähr ist es, nur daß der Vorhang zur Zukunft niemals aufgeht, denn er läuft ständig unmittelbar vor der Ge genwart her. Einen materiellen Vorhang kann man aufreißen, einen temporären nicht. Nun stellt euch vor, ich hätte mit Hilfe ei ner Dimensionsblase den Zeitvorhang einge drückt – und zwar in Richtung Zukunft, bei spielsweise um ein paar Stunden! Bei einem materiellen Vorhang wäre die Einbuchtung vielleicht sichtbar gewesen. Bei einem tem porären Vorhang ist das unmöglich, da schließt sich der Vorhang sofort wieder hin ter der Einbuchtung. Um es anschaulich zu sagen, die Ränder der Einbuchtung stülpen sich so nach innen, bis sie sich berühren.« »Das ist phantastisch!« rief der Kund schafter. »Von der Zeitnische aus kann man also einen Blick in die Zukunft werfen.« »Leider nicht!« erwiderte Chairade. »Wie ich erklärte, drücke ich den Zeitvorhang nur ein, ich durchlöchere ihn nicht. Deshalb be finde ich mich zwar vom Standpunkt des Beobachters der Gegenwart in der Zukunft, aber zwischen mir und der Zukunft liegt noch immer der undurchdringliche Vorhang – und zwischen mir und der Gegenwart auch.« »Dann wart ihr also im Nirgendwann«, stellte Algonkin-Yatta fest. »Verzeiht mir bitte, wenn ich euer Plau derstündchen störe!« sagte die Baßstimme der Psiotronik. »Aber wir befinden uns wie der im Sogbereich der Schwarzen Galaxis, und angesichts der Schäden, die das Schiff bei der Schleuderfahrt durch die Antimate rietrümmer erlitten hat, gebe ich zu beden ken, daß es unklug wäre, uns etwa bis in die Schwarze Galaxis ziehen zu lassen.« »Zweifellos«, erwiderte Algonkin-Yatta.
34
H. G. Ewers
»Deinen Worten entnehme ich, daß du dem Sog widerstehen kannst. Deshalb bitte ich um Anmessung eines Sonnensystems, das wir als Anker benutzen können, um uns gründlich umzusehen und die Schäden zu beheben.« »Ich werde es versuchen, sobald ich ein Sonnensystem orten kann«, erklärte die Psiotronik. »Zur Zeit ist nämlich nicht ein mal ein Planetoid zu orten.«
* »Wahrscheinlich hätten wir wieder in der Galaxis Wolcion mit der Suche anfangen sollen«, meinte Anlytha. Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »Dann hätten wir auch wieder in den Di mensionsbruch von Hranor eintauchen müs sen, um in den Sog der Schwarzen Galaxis zu geraten – und du weißt, wie gefährlich so ein Dimensionsbruch ist, Anlytha.« »Er hat Loggy verschlungen«, sagte Anly tha traurig. »Und wir haben nicht einmal nach ihm gesucht.« »In einem Dimensionsbruch kann man nicht suchen; da ist man völlig hilflos«, er widerte der Kundschafter. »Ich hoffe, wir geraten niemals wieder in einen hinein. Frei willig tauche ich jedenfalls in keinen Di mensionsbruch mehr.« Aufmerksam musterte er die Ortungsan zeigen. »So weit die Hyperorter reichen, ist rings um uns nur leerer Weltraum – und die un sichtbare Kraft, die uns in Richtung der Schwarzen Galaxis zieht. Aber wir können nicht einmal vermuten, wie weit diese my steriöse Galaxis noch entfernt ist.« »Vielleicht ist sie darunter«, sagte Anly tha und deutete auf die auf Teleskopie ge schalteten Bildschirme für Backbord, Steu erbord und Heck. Sie zeigten die blassen Lichtflecke zahlloser Galaxien bis zu einer Entfernung von zehn Millionen Lichtjahren. Mit dem Elektronenteleskop würde man bis zu zehn Milliarden Lichtjahre weit sehen können.
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Algon kin-Yatta. »Der Sog zieht uns ja dorthin, wo wir keine Galaxis erkennen können.« Nach denklich fügte er hinzu: »Dennoch würde ich gern wissen, welche Galaxis in diesem Gewimmel die unsere ist. Nicht, daß ich fürchte, wir fänden nicht mehr zurück, aber ich möchte es von hier aus wissen – aus die ser Entfernung. Wenn ich nahe genug heran komme, um die charakteristische Komposi tion aus den verschiedensten Strahlungen aufzufangen und zu identifizieren, dann sind die kosmischen Horizonte ringsum wieder von den anderen Trilliarden Galaxien ver deckt.« Er blickte zu den Aurogilts. »Ich weiß gar nicht, aus welcher Galaxis ihr stammt. Es ist mir peinlich, daß ich so unhöflich war, euch nicht danach und nach den Verhältnissen auf eurer Heimatwelt zu fragen.« »Es ist auch sehr schwierig, das euch in Begriffen zu schildern, die ihr versteht«, er klärte Chairade. »Ich orte etwas!« warf die Psiotronik ein. Sofort schaltete der Kundschafter um. »Was ist es?« »Schwer zu definieren«, meinte die Psio tronik. »Ich empfehle, das Elektronentele skop zu aktivieren und in die Richtung zu justieren, die ich angebe.« »Wird gemacht«, sagte Algonkin-Yatta. Er schob die Trümmer eines Sessels beiseite und wuchtete eine verbogene Panzerklappe auf. Dahinter kam der Steuer- und Sichtteil des Elektronenteleskops zum Vorschein. »Hoffentlich ist hier nichts beschädigt«, sagte der Kundschafter, bückte sich und drückte einen Sensorpunkt über dem Steuer teil. Er atmete auf, als sich Steuerteil und Sichtteil summend herausschoben, je eine schwarze, vorn angeschnittene und mit Sen soren bestückte Halbkugel von vierzig Zen timetern Radius links und rechts und dazwi schen die – ebenfalls schwarze und re flexfreie – Bildplatte, hinter der in einem Kegelstumpf von einem Meter Länge ein
Schatten über Ruoryc hochwertiger Mikrocomputer saß, der für einen Astronomen früherer Jahrtausende als Nonplusultra auf seinem Gebiet gegolten hätte. »Eigentlich könntest du anfangen mit Aufräumen, Psiotronik!« sagte Algonkin-Yat ta, während er unter einer Glassitplatte, die ihm von der Decke auf den Kopf gefallen war, in die Knie ging. Vorsichtig neigte er sich nach rechts, damit die Platte auf den Boden rutschte, ohne Anlytha zu treffen oder etwas zu beschädigen. »Die einzige intakt gebliebene mobile Re paratureinheit ist dabei, fünf andere Einhei ten zu reparieren«, antwortete die Psiotro nik. »Danach fangen sie mit den Aufräu mungs- und Reparaturarbeiten an.« »Hoffentlich ist das bald, sonst leidet mei ne Denkfähigkeit unter den ständigen Schlä gen auf den Kopf«, sagte der Kundschafter. Mit wenigen Griffen aktivierte er das Elektronenteleskop. »Jetzt die Richtung, bitte!« sagte er. Die Psiotronik erzeugte ein Geruchssi gnal, das schwächer wurde, je weiter Algon kin-Yatta das Teleskop vom Ziel weg schwenkte und das um so stärker war, je mehr er es dem Ziel näherte. »Ausgezeichnet!« sagte Algonkin-Yatta, als das Geruchssignal seine größte Stärke er reichte. Auf der Bildplatte tauchte das Resultat komplizierter und miteinander kombinierter elektronisch-psiotronischer Arbeitsgänge auf: das dreidimensionale Bild einer annä hernd kugelförmigen Sternenballung. Die Fingerkuppen des Kundschafters »spielten« mit den Schaltsensoren des Steu erteils. Das Elektronenteleskop – bezie hungsweise die in Fahrtrichtung vor das Kundschafterschiff projizierte Antenne – schwenkte nach links. Auf der Bildplatte wurde ein schwacher heller Fleck erkennbar, mehr nicht, auch nicht bei maximaler Ver größerung. Langsam ließ Algonkin-Yatta die Antennenschale einen Kreisbogen nach rechts beschreiben, stets in die gleiche Ent fernung von der zuerst entdeckten Sternen
35 ballung gerichtet. Insgesamt neun »Nebelflecken« wurden entdeckt und registriert. Sie waren weiter vom Kundschafterschiff entfernt als die Sternenballung. Und noch eine Besonderheit zeichnete sie aus. »Die Auswertung und Extrapolierung der spärlichen Fakten deutet darauf hin, daß die georteten Nebelflecken, bei denen es sich möglicherweise um Kleingalaxien handelt, gemeinsam mit der Sternenballung Teile ei ner Kugelschale sind, einer Kugelschale aus Kleingalaxien, die etwas umschließen«, teil te die Psiotronik mit. »Die Schwarze Galaxis!« stieß Anlytha hervor. »Das ist eine reine Spekulation«, erwider te die Psiotronik. »Wir können weder die ge samte Kugelschale noch das erkennen, was sie umschließt.« »Ganz abgesehen davon, daß eine Schwarze Galaxis, als eine Galaxis, die kein Licht ausstrahlt, nicht gesehen werden kann«, meinte der Kundschafter. Er verzog dabei keine Miene, denn seine Absicht war es, Widerspruch herauszufordern. Tatsächlich reagierte Anlytha ziemlich heftig. »Ha!« rief sie. »Dann haben die Dunkel männer der Schwarzen Galaxis ihre Sonnen wohl schwarz angestrichen, was?« »Das kann nicht sein, denn die Farbe wür de infolge der Sonneneruptionen immer wie der abblättern, so daß man sie ständig erneu ern müßte«, erklärte die Psiotronik. Anlytha beugte sich vor und schaute in das rötlich glühende »Zyklopenauge« der Psiotronik. »Du willst mich wohl zum Narren halten, du etwas groß geratener Taschenrechner!« zeterte sie. »Ich bin nur auf deine Frage eingegangen, Sternenirrwisch«, erwiderte die Psiotronik. »Du amüsierst dich wieder einmal, wie?« fragte Algonkin-Yatta. »Aber bitte nicht auf unsere Kosten, Psiotronik. Daß wir die Schwarze Galaxis nicht sehen können, heißt noch lange nicht, daß sie aus lauter toten
36 Sternen besteht. Es sind einige andere Grün de denkbar dafür, daß ihre Strahlung nicht bei uns ankommt. Aber wir sind auch nicht auf die sichtbare Strahlung angewiesen.« »Denn wir haben den Sog«, warf Chaira de ein. »Psiotronik, läßt sich aus den Daten über die Sternenballungen und den extrapo lierten Sternenballungen der hypothetischen Kugelschale errechnen, wo das Zentrum, der Mittelpunkt der Hohlkugel sich befindet?« »Ja, einen Moment«, antwortete die Psio tronik. Nach wenigen Sekunden sagte sie: »Der errechnete Mittelpunkt der Hohlkugel befindet sich genau dort, wo nach unseren bisherigen Messungen der Sog seinen Ur sprung hat.« »Das ist der Beweis!« rief Anlytha trium phierend. »Bald sind wir dort und können unsere Schatzkammern füllen!« »Ich empfehle, diese Konstruktionen aus Extrapolationen, Hypothesen und spärlichen Fakten nicht als einen Beweis gelten zu las sen«, erklärte die Psiotronik. »Was wir ha ben, ist eine Spekulation.« »Das ist mir klar«, sagte Algonkin-Yatta und blickte wieder auf das Abbild der Ster nenballung. »Wenn ich mir vorstelle, daß die Herren der Schwarzen Galaxis ihr Räu bernest mit einem Ring beziehungsweise ei ner Kugelschale aus Kleingalaxien umgeben haben …! Aber es könnte auch sein, daß diese Konstellation natürlich ist und daß die Dunkelmänner sich eben nur der natürlichen Gegebenheiten bedient haben.« Er blickte Anlytha an, dann schaute er auf das glitzernde, bunte Wogen und Wallen in der Aufenthaltskugel der Aurogilts. »Was schlagt ihr vor?« fragte er gespannt. »Ganz einfach«, meinte Anlytha. »Wir sahnen erst einmal in der nächsten Kleinga laxis ab, dann fliegen wir weiter und studie ren die kunsthandwerklichen Arbeiten in der Schwarzen Galaxis.« »Köstlich!« kommentierte die Psiotronik. »Ich schlage vor, wir fliegen vorsichtig an die nächste Sternenballung heran und su chen mit den Instrumenten nach Planeten mit technischen Zivilisationen«, sagte Chai-
H. G. Ewers rade. »Habt ihr auch daran gedacht, daß der Sog der Schwarzen Galaxis immer stärker wird, je mehr wir uns ihr nähern?« erkundig te sich die Psiotronik. »Natürlich«, antwortete Algonkin-Yatta. »Na, und?« fragte die Psiotronik. »Ich denke mir, daß ich mir deswegen keine Sorgen zu machen brauche«, erklärte der Kundschafter. »Wenn wir auf dem Weg zur Sternenballung Gefahr liefen, vom Sog an der Ballung vorbeigerissen und ihm un entrinnbar ausgeliefert zu werden, hättest du uns schon davor gewarnt. Das gehört näm lich zu deinen Pflichten. Oder solltest du das vergessen haben?« »Ich vergesse nie etwas«, antwortete die Psiotronik zweideutig.
* Computerlogbuch RUORYC, Ort: zirka drei Milliarden Lichtjahre vor einer hypo thetischen Kugelschale aus Kleingalaxien, die möglicherweise die Schwarze Galaxis umgeben, Zeit: noch nicht feststellbar: Wir befinden uns im Interdimensionsflug in Richtung der Sternenballung, die wir unter suchen wollen. Sogar zwischen den Dimensionen wirkt der Sog der Schwarzen Galaxis. Die Psio tronik muß alle paar Minuten Kurskorrektu ren durchführen, damit wir nicht zu weit ab getrieben werden. Ich hoffe, daß wir der Sogwirkung nicht mehr unterliegen werden, wenn wir die Sternenballung genau zwi schen uns und der Quelle des Soges haben. Logischerweise muß der Sog alle Sternen ballungen aussparen, da sie sonst unweiger lich im Verlauf langer Zeiträume auf ein ge meinsames Zentrum stürzen und dort zusam menprallen würden. Aber zwischen den Dimensionen ist von dieser Aussparung nichts zu merken – auch wieder logischerweise, denn mehr als neun undneunzig Prozent der Materie aller Sterne und Sternenballungen gehören dem vierdi mensionalen Raum-Zeit-Kontinuum an. Sie
Schatten über Ruoryc werden also nicht dadurch beeinflußt, daß der Sog der Schwarzen Galaxis außerhalb ihres Kontinuums wirkt. Wir dagegen müssen uns der Ballung im Interdimensionsflug nähern, denn wie sonst sollten wir drei Milliarden Lichtjahre zu rücklegen! Aber wenn wir unmittelbar vor der Sternenballung in das vierdimensionale Kontinuum zurückstürzen, müßten wir vor dem Sog sicher sein. Wir alle sind gespannt darauf, was wir in der Sternenballung vor finden werden. Vielleicht dient sie den Mächten der Schwarzen Galaxis als Bastion im Vorfeld. Wer weiß! – Algonkin-Yatta, Kundschafter von Ruoryc. Algonkin-Yatta schaltete das Computer logbuch aus und blickte zu den Reparaturro botern hinüber, die das beschädigte Innenle ben der vorderen Bildplatte Stück für Stück sorgfältig zusammenflickten. Immer wieder schoß grelles Licht aus der Höhlung, wenn irreparabel beschädigte Teile mittels Laser herausgeschnitten wurden. Der Kundschafter ging zu einem anderen Schaltpult, rief gespeicherte Informationen ab und aktivierte ein Suchprogramm, das noch mit dem letzten Schiff erarbeitet wor den war. Erneut formten sich unsichtbar vor dem Kundschafterschiff Antennen aus proji zierter Energie, in diesem Fall aus einer sechsdimensionalen Energieform, die inner halb des Normalraums nicht vorkam. Zwi schen den Dimensionen, so wußte AlgonkinYatta von MYOTEX, gab es weder drei-, noch vier- oder fünfdimensionale Energie formen. Im Schiff floß selbstverständlich auch »Normalenergie«, aber selbst dann, wenn man sie vollständig über einen Projek tor nach draußen geleitet hätte, durch den »Schild« aus sechsdimensionaler Energie, würde es draußen niemals »Normalenergie« geben. Algonkin-Yatta hatte von MYOTEX er fahren, daß entsprechende Versuche den Grund dafür nicht aufgehellt hatten. Es war nicht so, daß »Normalenergie« zwischen den Dimensionen etwa verschwand oder sich auflöste, nein, es schien, als würde
37 »Normalenergie«, wenn sie den »Schild« durchdrang, niemals existent gewesen sein. Es war dem Kundschafter nichts anderes übriggeblieben, als MYOTEX' Aussage hin zunehmen. Dennoch lehnte sich etwas in ihm bei jedem Interdimensionsflug dagegen auf, sie auch anzuerkennen. Etwas, das bei spielsweise vor einer Sekunde noch da war, konnte logischerweise doch nicht nach einer Sekunde niemals dagewesen sein. Dennoch war es so, ein Faktum, das sich nicht weg leugnen ließ. »Eines Tages werde ich es wissen!« flü sterte der Kundschafter. »Was wirst du wissen, Yatta?« fragte An lytha, die an einer halbfertigen Konstruktion arbeitete, die ihrer Aussage nach ein neuarti ges Computer-Spiel werden sollte. Algonkin-Yatta sagte es ihr und fügte hin zu: »Aber etwas anderes erscheint mir jetzt wichtiger, Anlytha. Wir müssen versuchen, den ›Pulsschlag von Atlantis‹ wiederzufin den.« »Den was?« fragte Anlytha verblüfft. »Die für Atlantis beziehungsweise Pthor charakteristischen sechsdimensionalen Im pulse«, antwortete Algonkin-Yatta. »Wir hatten ja angenommen, daß Pthor – und da mit auch Atlan – auf dem Weg in die Schwarze Galaxis ist. Folglich sollte in der Nähe der Schwarzen Galaxis etwas von ih nen aufzufangen sein.« »Nähe ist gut«, sagte Anlytha. »Wir kön nen noch nicht einmal Signale von der Schwarzen Galaxis auffangen. Wie sollten wir dann Signale eines vergleichsweise win zigen Objekts, wie Pthor es ist, erhalten!« Der Kundschafter zuckte die Schultern. »Zufällig hätte Atlantis ja in unserer Nähe treiben können«, meinte er. »Räumlich oder zeitlich?« erkundigte sich Anlytha. Algonkin-Yatta blickte auf. »Gut, daß du mich daran erinnerst, daß wir immer noch nicht wissen, in welcher Zeit wir uns nun eigentlich befinden«, erwi derte er. »Du bist wirklich ein Schatz!«
38
H. G. Ewers »Ich weiß«, sagte Anlytha.
* Kaum war das Kundschafterschiff in den sogenannten Normalraum zurückgefallen, schaltete sich auch die normaloptische Er fassung wieder ein. Auf der vorderen Bildplatte strahlten zahllose helle Sterne. Dazwischen gab es Ballungen dunkler Staubwolken und viele hell angestrahlte Wolken, die mit einiger Phantasie wie erstarrte urzeitliche Ströme aussahen. »Ein junges Sternsystem!« entfuhr es dem Kundschafter. »Wie kommst du darauf?« fragte Anlytha. »Das sieht man einfach auf den ersten Blick, wenn man meine Erfahrungen hat«, antwortete der Kundschafter. »Synthetische, mittels Hypnose aufge pfropfte Erfahrungen«, spottete Anlytha, die sich noch recht gut an das frühere Einge ständnis Algonkin-Yattas erinnerte, daß sei ne Erfahrungen gar nicht von ihm selbst ge sammelt worden waren, sondern sich aus den Erfahrungen anderer Kundschafter zu sammensetzten, die ihm von MYOTEX so »eingetrichtert« worden waren, daß sie wie persönliche Erfahrungen wirkten. Inzwi schen hatte der Kundschafter zwar einige ei gene Erfahrungen gesammelt und zwar eine ganze Menge, aber gemessen an seinen syn thetischen waren es noch sehr wenig. »Für mich zählt nur der Wert meiner Er fahrungen, nicht, wie ich sie erworben ha be«, entgegnete Algonkin-Yatta lächelnd. »Ich denke, die Psiotronik wird meine Spon tan-Analyse bestätigen. Wie ist es, Psiotro nik?« »Ich frage mich, wie man mit einer Emo tion denken kann«, sagte die Psiotronik. »Denn deine sogenannte Spontan-Analyse entsprang nur einem Gefühl.« »Hahaha …!« machte Anlytha. »Aber sie war absolut zutreffend«, fuhr die Psiotronik fort. Anlytha verschluckte sich, hustete und
würgte und verwandelte sich aus Scham dar über in Algonkin-Yattas Vorstellung in einen glatten schwarzen Kasten. »Das ist phantastisch!« rief Chairade mit der hellen Stimme, die die Psiotronik ihr ge liehen hatte. »Welche bunte Palette psioni scher Phänomene!« »Hast du es gemerkt?« fragte Algonkin-Yat ta. Das glitzernde »Plasma« innerhalb der Aufenthaltskugel wogte heftiger hin und her. »Es ist schöner als das Branden der Hoch energie-Gezeiten an die Steilwände der Traumbuchten«, schwärmte Chairade. »So, wie der Duft der Haguohan-Seen die Heer scharen der Alkaines aus den geborstenen Bergen lockt, so lockt ihr die Seele aus mei nem sichtbaren Sein!« »Es ist wie ein Rausch, vermute ich?« fragte der Kundschafter. »Mehr als nur ein Rausch«, antwortete Chairade. »Es ist die Verschmelzung zweier Gottheiten zu einem neuen Universum.« »Anlytha, bitte höre sofort auf!« rief Al gonkin-Yatta. »Ich fürchte, deine psioni schen Aktivitäten wirken auf Chairade wie ein Super-Rauschgift. Sie wird sterben, wenn sie sich nicht davon lösen kann.« Anlytha wurde wieder als sie selbst sicht bar. Erschrocken eilte sie zu der Aufent haltskugel der Aurogilts und musterte die »Plasmaschwaden«, die sich immer schnel ler um sich selber drehten. Von weitem sah die Plasma-Ballung innerhalb der Aufent haltskugel aus wie der solare Jupiter. Anlytha starrte darauf, dann wirbelte sie herum und blickte hilfesuchend zu Algon kin-Yatta. »Was können wir tun, um sie zu retten?« rief sie. »Oh, ich bin schuld daran, wenn Chairade ihren Geist aufgibt!« »Du konntest nicht ahnen, daß sie sich an deiner psionischen Fähigkeit berauscht, An lytha«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Ich fürchte, wir wissen viel zu wenig von ihr, um ihr helfen zu können. Das, was sie vor hin sagte, das verriet, daß ihre Heimatwelt weder mit Ruoryc noch mit Terra noch mit
Schatten über Ruoryc deiner Heimatwelt verglichen werden kann. Begriffe wie ›Hochenergie-Gezeiten‹, ›Duft der Haguohan-Seen‹ und ›Heerscharen der Alkaines‹, sind, obwohl Übersetzungen ei ner denkverwandten Psiotronik, vage Ein blicke in absolut fremdartige, unverständli che und unheimliche Umweltbedingungen.« »Geborgenheit!« sagte Chairade. »Geborgenheit ist unsere wesentliche Um weltbedingung.« »Geht es dir wieder normal?« fragte An lytha. »Der Rausch ist verflogen; die Erinnerung bleibt«, antwortete Chairade. »Weißt du, daß du eine völlig andere Ausstrahlung be kommst, wenn du psionisch aktiv bist, Anly tha?« »N … nein«, sagte Anlytha verlegen. »Aber Geborgenheit als natürliche Um weltbedingung …?« wollte der Kundschaf ter wissen. »Nicht als naturgegebene Umweltbedin gung«, erklärte Chairade. »Wir schufen sie uns, mußten sie uns in uns und um uns schaffen, um nach der Dezimierung als Mit glieder einer intelligenten Zivilisation über leben und um eine neue, andere und offene Zivilisation aufbauen zu können.« Algonkin-Yatta merkte, wie er mit offe nem Mund auf die Aufenthaltskugel starrte – genau wie Anlytha. Er war fasziniert. Aber sein analytischer Kundschafterverstand sag te ihm, daß er nicht emotional werten durfte – und in genau dieser Versuchung befand er sich. »Psiotronik!« rief er deshalb, um das The ma zu beenden. »Du hast deine Feststellung noch nicht begründet.« »Das ist richtig, denn ich schwieg wäh rend der letzten Minuten, weil mir niemand zugehört hätte, hätte ich etwas geäußert. Meine Feststellung gründet sich auf der nachprüfbaren Tatsache, daß die Sternenbal lung überwiegend aus Sternen der ersten und zweiten Generation besteht. Es gibt jedoch noch genügend Rohmaterial, aus dem zahl reiche Sterne der dritten und der weiteren Generationen entstehen werden, wenn die
39 Zeit reif ist.« »Sterne der ersten und der zweiten Gene ration!« flüsterte Algonkin-Yatta beein druckt. »Überall sonst, wohin ich bisher in diesem Universum kam, waren die Sterne der ersten Generation sämtlich tot: Schwarze Zwerge oder Black Holes. Als erster Kund schafter von Ruoryc werde ich die Materie und die Prozesse eines lebenden Sternes der ersten Generation untersuchen!«
* Computerlogbuch RUORYC, in einer Kleingalaxis, Zeit unbekannt: Seit vierzehn Tagen kreuzt das Kundschafterschiff durch die Kleingalaxis. Die Navigation ist sehr schwierig, weil der Raum zwischen den Ster nen zu einem Drittel mit relativ dichter in terstellarer Materie gefüllt ist. Wir haben festgestellt, daß von den rund hunderttausend Sternen dieser Ballung etwa zehn Prozent Planeten besitzen, die die Ent wicklung von uns ähnlichen oder verwand ten Lebensformen ermöglichen können. Doch bisher sind wir noch keiner tierischen Lebensform begegnet. Diese Kleingalaxis ist einfach noch zu jung, um bedeutendes tieri sches Leben oder gar Intelligenz hervorge bracht zu haben. Immerhin hat die Untersuchung der Ster ne der ersten Generation wichtige Erkennt nisse beschert. Sie werden gespeichert, da mit sie auf Ruoryc mit den Forschungser gebnissen anderer Kundschafter verglichen und ausgewertet werden können. Die Zusammenarbeit zwischen Anlytha und mir einerseits und der Chairade, wie wir die Delegation der Aurogilts genannt haben, andererseits funktioniert reibungslos und zum Nutzen unserer Mission. Morgen wollen wir einen Stern der zweiten Generati on untersuchen, bei dem die Fernortungen elf Planeten festgestellt haben. Niemand von uns gibt sich der Hoffnung hin, daß wir dort eine Zivilisation intelligenten Lebens finden werden, noch glauben wir, daß es in dieser Kleingalaxis bereits Einflüsse der Herren
40 der Schwarzen Galaxis gibt. Dafür ist diese Zeit einfach noch zu früh. – Algonkin-Yatta, Kundschafter von Ruoryc. Das Kundschafterschiff beendete den In terdimensionsflug dicht über der Bahnebene der elf Planeten eines blaßgelben Sterns mittlerer Größe. Das war eine Sicherheits maßnahme, denn innerhalb dieser jungen, wolkenerfüllten Sternenballung war nur in relativ großer Nähe eines Sterns und seiner Planeten der Raum frei von interstellarer Materie, die einem Raumschiff gefährlich werden konnte. Der Kundschafter stand vor der vorderen Bildplatte und hatte beide Hände ausge streckt: die eine zur Tastatur der Manuell steuerung, die andere zur Sensorplatte der elektronischen Erkundung. Langsam ließ er die RUORYC in die Ebe ne der Planetenbahnen sinken. Die Defensi vausrüstung des Schiffes mußte sich einige Male aktivieren, um kleinere Materieb rocken zu zerstrahlen, die sich auf Kollisi onskurs mit dem Kundschafterschiff befan den. »Erster Planet: ein heißer Gesteinsklum pen, auf dessen Oberfläche es brodelt«, sag te die Psiotronik. »Zweiter Planet: ungefähr das gleiche.« »Dritter Planet?« fragte Algonkin-Yatta. »Auch nur ein heißer Stein, aber mit einer dichten Atmosphäre«, sagte die Psiotronik. »Der vierte Planet dagegen befindet sich in einem Stadium, in dem sich die ersten ein zelligen Lebewesen in der Brühe entwickelt haben sollten, die seine Oberfläche lücken los bedeckt.« »Höchst interessant!« sagte Anlytha iro nisch. »Urfleischbrühe!« »Vegetarische Brühe«, korrigierte die Psiotronik. »Das eine wie das andere ist ungenießbar für uns«, meinte der Kundschafter. »Wir sind einfach zu früh. Selbst wenn es die Mächte der Schwarzen Galaxis schon gibt, werden sie sich nicht für eine Sternenbal lung interessieren, in der keine einzige Zivi lisation existiert.«
H. G. Ewers »Das ändert sich – mit der Zeit«, warf Chairade ein. »Wir müssen die Zukunft erkunden«, er klärte Algonkin-Yatta. »Anscheinend haben wir uns sehr tief in die Vergangenheit verirrt – möglicherweise einige Milliarden Jahre oder zumindest einige hundert Millionen Jahre.« Er drehte sich um und blickte die Aufent haltskugel an, in der die flimmernden, unter schiedlich hellen »Plasmaschleier« wogten, die nicht nur lebten, sondern nicht weniger Intelligenz besaßen als Mathoner, Arkoni den oder Menschen. »Chairade, ich schlage vor, daß ich ganz allein mit der Zeitkapsel die Zukunft absu che und entlang der zeitlichen Entwick lungslinie dieser Kleingalaxis so weit nach ›oben‹ steige, bis ich Anzeichen für Aktivi täten von Intelligenzen aus der Schwarzen Galaxis erkenne. Einverstanden?« »Ich bin nicht einverstanden, Yatta!« rief Anlytha. »Nicht damit, daß du allein gehen willst. Warum nimmst du mich nicht mit?« »Weil du praktisch zum Kundschafter korps von Ruoryc gehörst«, antwortete Al gonkin-Yatta. »Nur dir kann ich die RUO RYC anvertrauen – mit allen Schätzen, die sich an Bord befinden. Das heißt nicht, daß ich Chairade mißtraue, aber du kennst dich besser aus.« »Allerdings«, sagte Anlytha und zwit scherte hell. »Nur ich bin in der Lage, ge nauso zu handeln wie ein echter Kundschaf ter von Ruoryc.« Sie reckte sich stolz und richtete ihren weißen Federkamm auf. »Ich bin mit eurem Vorgehen einverstan den«, erklärte Chairade. »Allerdings solltest du uns nachholen, sobald du gefunden hast, was du suchst, Kundschafter.« »Das habe ich sowieso vor«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Anlytha, du könntest mir bei der Zusammenstellung meiner Ausrü stung helfen.« »Das mache ich gern«, sagte Anlytha eif rig. »Vor allem brauchst du viel Platz in der Zeitkapsel, damit es nicht wieder so eng wird wie bei unserer Zeitreise aus dem alten
Schatten über Ruoryc
41
Rom in die Gegenwart der Terraner.«
* Algonkin-Yatta schritt langsam auf die Wand zu, auf der die ornamentalen Muster der Zeitschaltung zu sehen waren. Der Kundschafter hatte diese Zeitschaltung schon so oft betätigt, daß es keiner allzu großen Anstrengung mehr bedurfte, die Li nien zu berühren, die die geplante Zeitver setzung auslösten. Langsam fuhr Algonkin-Yattas Hand über das farbige Muster. Die Linien, die er be rührt hatte, leuchteten auf. Als die Program mierung abgeschlossen war, schaltete der Kundschafter seinen Telekom ein. »Ich bin fertig, Anlytha.« »Es wird auch höchste Zeit«, erwiderte seine Begleiterin. »Bring mir etwas Schönes mit, ja?« »Mich selbst«, erklärte der Kundschafter. »Geizkragen!« zeterte Anlytha. »Wo das Universum voller Schätze ist!« Ihre Stimme wurde sanft und einschmeichelnd. »Du sollst mir ja nicht viel mitbringen, Yattalein. Bloß ein paar Kleinigkeiten für deine Lytha: bei spielsweise zwei Kistchen mit Goldschmuck …« »Oder drei …«, sagte Algonkin-Yatta. »Ach, was!« sagte Anlytha. »Hauptsache, du kommst gesund zurück. Laß dich ja nicht einfangen!« »Ich werde aufpassen«, versprach der Kundschafter lächelnd. »Aber diesmal ist es anders als sonst. Diesmal kannst du mir mit dem Schiff auch durch die Zeit folgen, falls ich zu lange ausbleibe. Ich muß jetzt das Programm aktivieren, sonst wird die erste Stufe verfälscht. Auf bald, Anlytha!« »Auf bald, Yatta!« rief Anlytha. Algon kin-Yatta aktivierte das Zeitreiseprogramm. An den Innenwandungen der Kapsel blitzten goldfarbene Lichtpunkte auf. Mehrere dumpf hallende Schläge dröhnten. Die Bild schirme wurden hell und zeigten das Innere des Kapsel-Hangars. »Ausschleusung fängt an!« sagte die Psio
tronik über ihren kleineren Ableger in der Zeitkapsel. Der Kundschafter sah auf dem vorderen Bildschirm das Hangartor auf sich zukom men, sah, wie es sich öffnete und wie die Zeitkapsel kurz darauf über dem bodenlosen Abgrund im Meer der Sterne schwebte. Im nächsten Augenblick legte sich ein Schleier um die Kapsel. Hinter ihm waren undeutliche Bewegungen zu erkennen, die schneller und schneller abliefen – vertraute Phänomene, die mit dem Gebrauch dieser Zeitkapsel verbunden waren. Algonkin-Yatta saß entspannt in seinem Sessel. Er befürchtete während der ersten Zeitreise-Etappen keine Zwischenfälle durch Dimensionsbrüche oder künstlich erzeugte Sperren, die irgendwann in ferner Zukunft erdacht und errichtet worden waren, um un willkommene Besucher aus der Vergangen heit abzuwehren. Als die goldfarbenen Lichtpunkte erlo schen, die Schleier draußen sich lichteten und schließlich auflösten, war die erste Etappe der Reise durch die Zeit beendet. Der Kundschafter nahm einige Messun gen vor und erkannte, daß sich nicht allzu viel verändert hatte – abgesehen davon, daß mehrere Sterne der ersten Generation erlo schen und sogar in drei Fällen explodiert waren. Die Explosionen hatten die in den betreffenden Sonnen erzeugten schwereren Elemente nach allen Richtungen des Raumes verstreut und diejenigen Wolken interstel larer Materie, aus denen sich in den nächsten Jahrmillionen Sterne bilden würden, sozusa gen veredelt. Algonkin-Yatta wußte zwar immer noch nicht, in welcher Zeit – bezogen auf die Ge genwart, in der er als Kundschafter erstmals Ruoryc verlassen hatte – er sich aufhielt, aber er konnte an Hand der Veränderungen und der Zeit, die er mit der Kapsel zurück gelegt hatte, wenigstens Rückschlüsse auf das Tempo der Sternenentwicklung in der Kleingalaxis ziehen. Diese Rückschlüsse bewogen ihn, sein Programm zu ändern und die beiden näch
42 sten Etappen in eine zu verwandeln. Dreihundert Millionen Jahre später … Zufrieden lächelnd lauschte Algonkin-Yat ta den Funksignalen, die von technischen Zi vilisationen intelligenter Lebewesen der Kleingalaxis ausgestrahlt, von den Anten nenprojektionen der Zeitkapsel aufgefangen, um ein Mehrmillionenfaches verstärkt und in die Lautsprecher in der Kapsel geschickt worden waren. Es waren noch keine Hyperfunksignale darunter, aber die Gesetze der Evolution be sagten, daß technische Zivilisationen vom Zeitpunkt der Verwendung der ersten Funk geräte bis zur Entwicklung des Hyperfunks durchschnittlich nur dreihundert Jahre brauchten. Genauso lange dauerte es im Durchschnitt, bis solche Zivilisationen unter dem Druck katastrophaler interner Verhält nisse gezwungen wurden, an überlicht schnelle Raumschiffe zu denken und de mentsprechend kostspielige Forschungen zu finanzieren. Zwei Drittel der Verzweifelten schafften die Entwicklung von Hyperantrie ben. Das andere Drittel verrannte sich aus vielerlei Gründen in Sackgassen und löschte seine technischen Zivilisationen aus. Der Kundschafter entschloß sich dazu, zu dem vierten Planeten der blaßgelben Sonne zu fliegen, um nachzuprüfen, wie die dortige Zivilisation aussah. Ein Teil der Funksignale kam von dort. Wenig später steuerte er die Zeitkapsel in einen Orbit um den vierten Planeten. Die Urweltbrühe war verschwunden, hatte sieben Kontinente freigegeben, die von den Wassern eines Ozeans getrennt waren. Die Atmosphäre enthielt genug Sauerstoff, daß sogar Arkoniden oder Terraner darin atmen konnten. Weiße Wolkenfelder trieben un ablässig über Meer und Land. Aber keine Spur einer Zivilisation … Allerdings wußte Algonkin-Yatta, daß auch das völlig normal war, wenn eine Zivi lisation noch nicht zur Energiegewinnung in großem Maßstab aus Fusionsenergie oder später aus Materie und Antimaterie überge gangen war, daß solche Zivilisationen kaum
H. G. Ewers mehr als Horden von Halbwilden waren, die ihre fossilen Brennstoffe verbrannten, weil sie zu träge waren, um weiter als eine halbe Generation in die Zukunft zu denken. Der Kundschafter suchte den Kontinent aus, der ihm vom Klima und der Fruchtbar keit am günstigsten für Anfänge einer tech nischen Zivilisation erschien und von dem auch die meisten Funksignale ausgingen. Al lein dreiundzwanzig Fernsehprogramme wurden dort ausgestrahlt. Algonkin-Yatta sah sich Ausschnitte aus einigen Program men an und staunte über die Primitivität der Sendungen. Sie erlaubten wenig schmeichel hafte Rückschlüsse auf die geistige Regsam keit der Bevölkerung. Algonkin-Yatta suchte systematisch nach wissenschaftlichen Sendungen, hörte sich Teile einiger dieser Sendungen an und lehn te sich danach enttäuscht zurück. Hervorragende Gedanken, systematische Vorträge, aber keine schöpferische Phanta sie. Behaupteten doch allein zwei der Vor tragenden, offenbar bekannte Wissenschaft ler, es könne niemals eine höhere Raum schiffgeschwindigkeit als die des Lichts ge ben, weil man keine Antriebsarten kenne, die das erreichen würden. Anscheinend hatten sie vergessen, was ih re Väter über Weltraumraketen, ihre Groß väter über Fernsehen und ihre Urgroßväter über Flugzeuge gedacht und gesagt hatten … Aber immerhin, die Vitalität der dominie renden Spezies dieses Planeten, den sie Rehat nannten, war groß genug, um die kom menden Zeiten der Überbevölkerung, der Umweltvergiftung und der Rohstoffverknap pung zu überstehen und – vielleicht – die einzige sinnvolle Chance zu ergreifen, die sich allen nach den Sternen strebenden Ras sen bot. Algonkin-Yatta beschloß, vor allem die sen Planeten im Auge zu behalten. Seine Miene verdüsterte sich, als ihm einfiel, daß auch die Invasoren, die irgendwann in der Zukunft von der Schwarzen Galaxis kom men würden, ihr Augenmerk besonders auf
Schatten über Ruoryc
43
Rehat richten würden, da er der am weite sten entwickelte Planet war. Er schleuste ein paar Sonden aus, die alle energetischen Emissionen auf Rehat auffan gen und aufzeichnen würden, dann be schleunigte er die Zeitkapsel und ließ sie in die Atmosphäre eindringen. Im kilometer dicken Eis des südpolaren Kontinents brann te er sich eine geräumige Höhle, verschloß sie hinter der Zeitkapsel wieder und pro grammierte eine zukunftgerichtete Zeitreise von zweihundertfünfzig Jahren. Wieder blitzten die goldfarbenen Licht punkte an der Innenwandung auf, dröhnten dumpf hallende Schläge und legte sich ein Schleier um die Kapsel …
* Die Schleier lichteten sich … Algonkin-Yatta sah genau das, was er zu sehen erwartet hatte: das Innere seiner Eis höhle. Doch ein Blick auf die Kontrollen be wies ihm, daß außerhalb der Höhle nicht al les so war, wie er es erwartet hatte. Außerhalb der Höhle gab es immer noch Eis, aber nicht mehr mit Tausenden von Ki lometern Ausdehnung und an die tausend Meter Dicke. Die Sensoren maßen eine Rundum-Dicke zwischen fünfzig und drei hundertzwanzig Metern. Danach kam bei neun Zehntel des Eisgebildes Wasser und ein Zehntel Luft. Ein riesiger Eisberg, der im Meerwasser trieb! Der Kundschafter stellte mit Hilfe der Psiotronik einige Berechnungen an. Er woll te wissen, was geschehen sein mußte, das aus der ungefähren geographischen Mitte des Südpoleises einen riesigen Eisberg her ausgerissen und ins freie Meer befördert hat te. Das Ergebnis war so eindeutig, wie es nur sein konnte. Die südpolare Eiskappe war geschmolzen, jedenfalls zum größten Teil. Ihre Reste zer brachen und schwammen als Eisberge durch das Meer.
Aber eine derartige Eisschicht schmolz nicht grundlos, nicht ohne massive Einwir kung von außen. Was war geschehen? Algonkin-Yatta schaltete die Zellschwin gungstaster ein und justierte sie auf hochor ganisierte Zellverbände mit hochentwickel tem Zentralnervensystem. Nach einigen Minuten lag das Ergebnis vor. Es bewies, daß sich innerhalb eines Ra dius von hundertvierzehn Kilometern kein intelligentes Lebewesen befand. Ein größe res Gebiet konnte der leistungsschwache Zellschwingungstaster in der Zeitkapsel nicht erfassen. Der Kundschafter richtete den Detonator der Kapsel auf die Innenwandung der Eis höhle, betätigte den Auslöser und schwenkte den Abstrahlkonus langsam, sie von dem Eisberg nur noch Trümmerstücke übrig wa ren. Schaukelnd stieg die Zeitkapsel an die Wasseroberfläche – nicht, weil sie leichter als Wasser gewesen wäre, sondern weil An tigravprojektoren die Schwerkraft des Plane ten nach und nach neutralisierten. Als die Kapsel friedlich in der Dünung rollte, kletterte Algonkin-Yatta hinaus, setz te sich auf die Oberseite des eiförmigen Hauptkörpers der Kapsel und atmete tief die Meeresluft ein. Es störte ihn nur, daß die Sonne nicht durch die dichten Wolken kam. Dennoch war die Luft warm, irgendwie flau und gar nicht mehr so frisch, wie er sie in Erinne rung hatte. Damals bin ich auf dem Südpol-Eis her umgegangen! Dort war es natürlich kälter als hier. Diese Gedanken vermochten den Kund schafter jedoch nicht zu beruhigen. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er ja nur die Funksignale von Rehat abzuhören brauchte, um zu erfah ren, wie sich die Dinge entwickelt hatten und wie weit seine Bewohner es auf dem Weg zur interstellaren Kommunikation und Raumfahrt gebracht hatten. Er eilte in den Innenraum der Kapsel zu rück und schaltete das Abhörsystem ein.
44 Normalfunk-Aktivität: negativ. Hyperfunk-Aktivität: positiv. Aber diese Hyperfunk-Aktivität ging nicht von Rehat aus, sondern von einem sie bzehn Lichtjahre entfernten Planeten, wie die Anzeigen verrieten. Algonkin-Yatta spürte, wie die Angst ihm die Kehle zuschnürte, die Angst um das Schicksal der Zivilisation von Rehat. Er hat te gewußt, daß von den rund vier Milliarden Rehat-Bewohnern keiner mehr leben würde, wenn er nach seiner Zeitreise aus seiner Kapsel stieg, aber das war eine Gewißheit, die auf der Kenntnis der geringen Lebens spanne dieser Intelligenzen beruhte – durch schnittlich siebzig Jahre. Aber ihre fernen Enkel mußten da sein – und sie mußten ihren Äther mit erheblich mehr Funksignalen füllen als ihre Ahnen, darunter auch mit Hyperfunksignalen, die freilich nicht im Äther verweilten. Aber, nein – nichts. Algonkin-Yatta schaute auf die Bildschir me. Das Meer sah friedlich aus. In wenigen Zentimetern Tiefe schlängelte sich der Tang. Ein Lebewesen, halb Delphin, halb Kroko dil, pflügte durch die Wellen, tauchte hinab, tauchte wieder auf. Hoch oben in der Luft segelten zwei Flugsaurier. Wie elektrisiert fuhr Algonkin-Yatta hoch. Meeressaurier – Flugsaurier – Wesen, die es seit Jahrmillionen auf Rehat nicht mehr gab! Bin ich in die Vergangenheit geraten? Der Kundschafter schüttelte den Kopf. Er wußte, daß er sich nicht in der Vergangen heit befand. Er wußte es, weil es einen Be weis dafür gab: einen siebzehn Lichtjahre entfernten Planeten, der Hyperfunksignale ausstrahlte. Mit zitternden Fingern schaltete er die Startautomatik ein, ließ die Zeitkapsel auf einen Kilometer Höhe steigen und ging dann zum manuell gesteuerten Horizontalflug über. Er nahm Kurs auf den Kontinent, der bei seinem letzten Besuch am weitesten ent wickelt gewesen war – technisch jedenfalls.
H. G. Ewers Als er die ehemalige Küstenlinie überflog, die er sehr deutlich erkannte, sah er dahinter das Linienmuster von Straßen, gesäumt von den Trümmern eingestürzter Häuser, die un ter Schlick, Wasserpflanzen und Korallen kolonien kaum noch als ehemalige Häuser zu erkennen waren. Und alles lag unter dem Wasser des Ozeans begraben. Was da geschehen war, war nur die logi sche Folge der Abschmelzung des polaren Eiskappen gewesen. Eine Babyzivilisation wie diese hatte nicht die Möglichkeiten, das Abschmelzen und den Anstieg des Meeres spiegels zu verhindern. Die Kontinente waren, je nach Höhenlage ihrer Landschaften, von wenigen hundert Metern bis zu mehr als tausend Kilometern weit ins Innere hinein überflutet worden. Die neue Uferlinie war unter wuchernden Lagunenwäldern begraben, in deren feuchter Hitze Amphibien wimmelten. Algonkin-Yatta kreiste hin und wieder über einem Teil der Landschaft, um festzu stellen, ob dort Vertreter der führenden Spe zies von Rehat lebten – der ehemals führen den Spezies von Rehat. Er fand nichts, nicht einmal undeutliche Spuren. Tiefer im Landesinneren riß die Zone der üppigen Vegetation teilweise jäh ab. Das lag daran, daß die Wüsten, die sich dahinter ge bildet hatten, nach außen wanderten und mit Millionen Tonnen von Sand die Vegetation unter sich begruben. Und in diesem Wüstenland entdeckte der Kundschafter schließlich weitere Spuren der untergegangenen technischen Zivilisation: große Bunkeranlagen, Betonklötze, die ab und zu vom Sand freigeweht und nach Ta gen oder Wochen wieder von ihm begraben wurden, bröckelnde Gerippe großer Luft fahrzeuge und manchmal auch Gerippe von Individuen jener Spezies, die einst den Pla neten beherrscht hatte. Algonkin-Yatta war zutiefst erschüttert. Er konnte sich ausrechnen, was geschehen war. Der Kundschafter verließ die Biosphäre des Planeten und ging in einen Orbit, wo er
Schatten über Ruoryc seine vor zweihundertfünfzig Jahren ausge setzten Sonden auffischte und ihre Speicher mit Hilfe der Psiotronik auswertete. Seine Vermutung bestätigte sich. Die technische Zivilisation der RehatBewohner hatte durch die Zerstörung großer Vegetationsgebiete und die Verbrennung fossiler Brennstoffe den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre immer mehr erhöht. Das war anfangs so allmählich vor sich gegan gen, daß es Generationen gedauert hatte, be vor Wissenschaftler die Veränderung mes sen konnten. Gleichzeitig war durch Schad stoffe, die in die Atmosphäre geblasen wor den waren, die Ozonsphäre, der Schutz schild des Planeten gegen ultraviolette und andere kosmische Strahlen, durchlöchert worden. Anstatt den einzig möglichen Weg zu ge hen, nämlich den der kontrollierten Reduzie rung der Bevölkerung durch strikte Reduzie rung der Geburten, war die Bevölkerungsex plosion ungehemmt fortgeschritten. Wissen schaftler, die warnten und die einzig mögli chen Rezepte vorlegten, wurden niederge schrien und manchmal sogar ermordet. Die Parole von Freiheit und Würde, die zu allen Zeiten ihre Berechtigung gehabt hatte, sie wurde zum Fluch, weil sie Reaktionen her vorrief, die in der veränderten Umwelt so falsch waren wie die Reaktionen von Sauri ern in einer technisierten Welt. Mit dem laufenden Anstieg des Kohlendi oxidgehalts der Atmosphäre stiegen infolge des »Treibhauseffekts« die durchschnittli chen Temperaturen der Biosphäre von Jahr zu Jahr an. Die polaren Eiskappen schmol zen und lösten sich auf. Die Küstengebiete und teilweise auch Binnenlandschaften wur den überflutet. Die Bevölkerung nahm zu. Dennoch fielen weniger Niederschläge, weil die warme Luft mehr Feuchtigkeit an sich band als kühlere. Die Zivilisation brach innerhalb von an derthalb Jahrzehnten zusammen und erholte sich nie wieder. Wahrscheinlich hätten die Rehat-Bewohner um die wenigen Lebens räume, die sich mit einigem technischen
45 Aufwand retten ließen, gekämpft, aber sie konnten es nicht mehr. Zwei Drittel der Be völkerung starb an Seuchen, an Über schwemmungen, Beben, an Hunger und Durst. Der Rest versuchte, alle Kraft zusam menzunehmen und zu retten, was zu retten war. Doch da gab es bereits keine Atomkraft werke, keine intakten Schnellverkehrsmittel, keine Fabriken, keine Medikamente mehr. Ohne ein hohes Angebot an Energie und Energieverbrauchern aber war gegen Natur gewalten nichts auszurichten. Die Sandstür me verschütteten die letzten Anbaugebiete für Lebensmittel, die letzten Haustiere gin gen ein – und mit bloßen Händen konnte niemand Brot oder Fleisch aus dem Boden stampfen. Ende einer vielversprechenden Zivilisati on – beziehungsweise des Anfangs einer technischen Zivilisation. Zusammenbruch des biologischen Zusammenspiels, Tod der meisten Tierarten. Die Saurier kamen wie der, als neue Mutationen oder aus welchem Grunde immer. Die Mutationsrate war ja bei durchlöchertem Ozon-Schirm viel höher als bei intaktem. Aber draußen im Kosmos ging die Evolu tion weiter …
* Siebzehn Lichtjahre waren nicht viel für den Überlichtantrieb der Zeitkapsel. Algon kin-Yatta entschloß sich, den Planeten ge nauer zu untersuchen, von dem die Hyper funksignale kamen. Vorher versuchte er, mit Hilfe seines Translators den Sinn der Signale zu erfas sen, eine Botschaft aus ihnen herauszulesen. Es gelang ihm nicht. Alles, was er schaffte, war die Hörbarmachung der Signale. Eigentlich bestanden die Signale aus zwei miteinander kombinierten Tönen: aus einem schrillen, metallisch klingenden Kreischen, einem an- und abschwellenden Geräusch wie von hundert Kreissägen – und aus einem rhythmischen gleichbleibenden Klopfen.
46 Der Kundschafter kam zu dem Schluß, daß die Zivilisation, die diese Signale durch den Weltraum schickte, damit nur eines er reichen wollte: andere, höher entwickelte Zi vilisationen auf sich aufmerksam zu ma chen, mit ihrer Hilfe eine gemeinsame Ver ständigungsbasis zu finden und von den In formationen, die man erhielt, zu profitieren. Das war so normal wie nur irgend etwas, und in den meisten Fällen blieben die Kon takte zwischen hochentwickelten Zivilisatio nen friedlich. Bevor Algonkin-Yatta vom Krieg zwischen Arkoniden und Maahks er fuhr, hatte MYOTEX nicht gewußt, daß hochentwickelte technische Zivilisationen sich im Weltraum bekämpften (die fast völ lige Vernichtung der Aurogilts war das Er gebnis eines Mißverständnisses gewesen). Doch wenn der Kundschafter daran dachte, daß man die Signale auch in der Schwarzen Galaxis empfing und daß man dort bestimmt nicht beabsichtigte, der jungen Zivilisation, die die Signale aussandte, wertvolle Infor mationen zu geben, dann fühlte er sich ver sucht, die Intelligenzen auf dem siebzehn Lichtjahre von Rehat entfernten Planeten zu warnen. Aber dazu hatte er natürlich kein Recht, denn das wäre eine Zeitmanipulation gewe sen. Immerhin wollte er mehr über die junge Zivilisation erfahren. Er programmierte einen Flug in das be treffende Sonnensystem hinein. Als er nach kurzem Interdimensionsflug am Ziel war, schwebte die Zeitkapsel dicht über der Bah nebene von vierzehn Planeten, die eine gel be Sonne umkreisten. In dieser Position konnte der Kundschaf ter die normal lichtschnellen Funksendungen der Zivilisation deutlich empfangen. Sie ka men überwiegend vom vierten Planeten, aber auch auf dem dritten und dem fünften Planeten gab es Sendestationen. Anschei nend hatten die Bewohner des vierten Plane ten dort ihre ersten Stützpunkte errichtet. Als Algonkin-Yatta diesmal den Transla tor dazwischenschaltete, wurden als erstes die Kommunikationsimpulse zwischen den
H. G. Ewers hochwertigen Computern des vierten Plane ten und der beiden Nachbarplaneten ver ständlich. Die Bildsendungen wurden natür lich einwandfrei aufgefangen und wiederge geben. Nur mit der Übersetzung der Laut sprache gab es Schwierigkeiten. Der Kundschafter erkannte den Grund da für, als er die Bildsendungen genau ansah. Die Intelligenzen des vierten Planeten waren zweifellos keine Hominiden – trotz einer ge wissen Menschenähnlichkeit. Sie waren nur halb so groß wie Terraner, wirkten zartglied rig, hatten eine dunkelgelbe Hautfarbe, zwei Armpaare und einen trichterförmigen Kopf. Auf der Gesichtsfläche des Kopfes waren sechs stabförmige Augen, ein Büschel mit Sensoren und eine Öffnung zur Nahrungs aufnahme, die durch ein Lid verschlossen werden konnte. Aber ihre Sprache erzeugten sie mit har ten Hautlappen zwischen ihren Fingern. Al gonkin-Yatta fand heraus, daß jeder Haut lappen eine andere Schwingresonanz hatte und man ihm durch Berühren mit anderen Fingern verschiedene Töne entlocken konn te. Was dabei herauskam, hörte sich für Al gonkin-Yatta wie das Raspeln und Schrillen von Riesenheuschrecken an – und die Frem den »sprachen« sehr schnell. Es bedurfte einer langwierigen Arbeit mit Hilfe der Psiotronik, um Klarheit in die Be deutung eines Grundsignalschatzes zu brin gen. Entscheidend half dabei der Vergleich zwischen dem, was die Fremden sagten, wenn sie etwas in einen ihrer Computer ein gaben und den Signalen, die der Computer danach von sich gab. Das stimmte nicht im mer überein, aber durch immerwährende Vergleiche und Analysen kam doch ein Übersetzungsprogramm für den Translator zustande. Algonkin-Yatta erfuhr, daß der vierte Pla net Xuverloth hieß und daß die intelligenten Bewohner sich Torzaganer nannten. Es machte ihn stutzig, daß sie sich nicht Xuver lother nannten. Aus eigener Erfahrung wuß te er ja, daß es im Fall seines eigenen Volkes
Schatten über Ruoryc einen gewichtigen Grund gab, daß der Pla net Ruoryc hieß und sie sich Mathoner nannten. Waren die Vorfahren der Torzaganer et wa vor langer Zeit auch von einem anderen Planeten gekommen? Der Kundschafter versuchte, aus ihren Botschaften und Nachrichten sowie den Un terhaltungssendungen etwas darüber heraus zufinden. Es gelang ihm nicht. Die Torzaga ner schienen sich nicht für die Geschichte ihres Volkes zu interessieren. Dafür interessierten sie sich um so mehr für ihre Zukunft. Aus ihren Sendungen ging hervor, daß sie ein großes Sternenschiff bau ten, das in wenigen Jahren zum benachbar ten Sonnensystem fliegen sollte, um entwe der Kontakt mit dort lebenden anderen Intel ligenzen aufzunehmen oder einen Planeten zu finden, der sich zur Besiedlung eignete. Außerdem waren umfangreiche Arbeiten zur Schaffung einer Biosphäre auf dem fünften Planeten im Gang, die der Biosphäre von Xuverloth ähneln sollte. Mehrere interplane tarische Expeditionen befanden sich zur Zeit unterwegs, um den sechsten, siebten und achten Planeten zu erforschen und festzu stellen, welche lohnenden Bodenschätze dort unter welchen Bedingungen gefördert werden konnten. Das Herz wurde dem Kundschafter schwer, als er daran dachte, daß eines Tages eine Invasionsflotte aus der Schwarzen Ga laxis über dem vierten Planeten der Sonne Punark erscheinen könnte. Er mußte einfach Gewißheit erlangen, mußte wissen, wie sich die Zivilisation der Torzaganer weiterent wickelte. Vielleicht wurde alles nicht so schlimm. Algonkin-Yatta stellte mit Hilfe der Psio tronik Berechnungen an und programmierte anschließend die Zeitsteuerung der Kapsel auf eine Zeitversetzung von vierhundert Jah ren. Als er die Zeitversetzung hinter sich hatte, konnte er aufatmend feststellen, daß die Tor zaganer von einer feindlichen Invasion ver schont geblieben waren. Ihr Fleiß hatte sich
47 bezahlt gemacht. Der fünfte Planet war da bei, sich zu einem Paradies mit zahllosen großen Seen aus stellaren Eisbrocken, Wie sen und Wäldern zu entwickeln. Rund fünf zehn Millionen Torzaganer lebten dort in modernen Siedlungen. Außerdem gab es Robotbergwerke auf dem siebten und achten Planeten, einen re gen stellaren Frachtverkehr, Forschungs schiffe und Forschungsstationen – und es gab in drei anderen Sonnensystemen, in de nen keine Zivilisationen gefunden worden waren, Stützpunkte, von denen aus vorerst zwei der betreffenden Planeten wie der fünf te Planet Punarks umgeformt und besiedelt werden sollten. Die Hyperfunksendungen, die der Kon taktaufnahme mit anderen Zivilisationen dienen sollten, hatte man aufgegeben, da niemals eine Antwort hereingekommen war. Der Hyperfunk diente ausschließlich dem Kontakt mit anderen Planeten – auch inner halb des Punark-Systems. Algonkin-Yatta überlegte eine Weile, dann programmierte er eine weitere Zeitver setzung, allerdings nur um fünfzig Jahre. Aber die Zeitschaltlinien folgten diesmal nicht allen seinen Berührungen. Sie schienen ein Eigenleben zu entwickeln. Der Kundschafter aktivierte das Pro gramm dennoch, denn er ahnte, was gesche hen war. Als die Zeitversetzung abgeschlossen war, wandte er sich an die Psiotronik und sagte: »Ich nehme an, wir waren uns selbst im Weg gewesen, Psiotronik. Wie denkst du darüber?« »Wenn wir uns selbst im Weg waren, hät te ein Verstoß gegen die Regeln zur Verhü tung von Zeitparadoxa erfolgt sein müssen«, erwiderte die Psiotronik. Algonkin-Yatta preßte die Lippen zusam men. Er kämpfte mit sich, denn er wußte, daß er sich eigentlich aus dieser Zeit zurück ziehen sollte, um sich nicht in ein Abenteuer zu stürzen, das gegen die Regeln für Zeitrei sende verstieß. Aber er brachte es nicht fer
48 tig. Seine Sympathie für die Torzaganer war zu groß. Und wenige Stunden später fingen seine Ortungsgeräte Strukturerschütterungen auf, die von dem Wiedereintritt einer großen An zahl Raumschiffe aus dem Hyperraum in den Normalraum zeugten. Die Positionsbe rechnungen ergaben, daß alle drei Struktur erschütterungen in den drei Sonnensystemen erfolgt waren, die von Xuverloth aus koloni siert werden sollten. Das war die Invasion! Algonkin-Yatta mußte sich überwinden, um nicht zu einem der angegriffenen Kolo nialsysteme zu fliegen und nachzusehen, was dort geschah. Er blieb fest, weil er ahn te, daß der Hauptschlag der Invasoren erst bevorstand. Und er behielt recht. Zwei Tage später – die Torzaganer hatten über Hyperfunk erfahren, was mit ihren Stützpunkten in den drei anderen Systemen geschehen war – wurde das Punark-System von schweren Strukturerschütterungen durchlaufen. In vier Etappen materialisierten rund zehntausend Raumschiffe. Die Fernbeobachtung holte das Bild eines dieser Schiffe heran. Es handelte sich um Raumschiffe von der Form gleichschenkeli ger Dreiecke, deren Seitenlänge fünfhundert Meter betrug. An der Spitze der sechzig Me ter dicken, aus einem unbekannten schwar zen Material gebauten Schiffe gab es einen kugelförmigen Aufsatz von hundert Metern Durchmesser, außerdem noch verschiedene Ausbuchtungen. Die Triebwerke lagen in ei ner Doppelreihe auf der dem Bug gegen überliegenden, fünfhundert Meter langen Seite. Algonkin-Yatta hielt den Atem an, als die Schiffe im Raum eine lockere Kugelschale um Xuverloth bildeten. Doch der befürchtete Angriff blieb aus. Die Invasoren schienen den Torzaganern erst einmal ihre Flotte zu zeigen, um sie für Verhandlungen geneigt zu machen. Auf jeden Fall aber hatte der Kundschaf ter das Bindeglied zur Schwarzen Galaxis
H. G. Ewers gefunden. Ihm war klar, daß er sich von At lans Lebenslinie aus noch immer tief in der Vergangenheit befand, so daß es vergeblich gewesen wäre, nach dem Arkoniden zu su chen. Aber es war sicher auch für die spätere Suche nach Pthor und Atlan nützlich, durch Beobachtungen mehr über die Strategie der Herren der Schwarzen Galaxis zu erfahren. Algonkin-Yatta beschloß, die RUORYC nachzuholen, denn das Kundschafterschiff verfügte über erheblich bessere Ortungssy steme, eine leistungsfähigere Psiotronik, einen wirksamen Ortungsschutz – und nicht zuletzt über Anlytha und Chairade, die sich unter Umständen als wertvolle Helfer erwei sen konnten. Und wieder tauchte die Zeitkapsel tief in die Vergangenheit …
* »Du warst keine zehn Minuten weg, Yat ta«, sagte Anlytha, als der Kundschafter die Steuerzentrale der RUORYC betrat. »Ich war viele Millionen Jahre weg – in der Zukunft. Natürlich nicht in unserer eige nen Zukunft, sondern in der Zeit, die von jetzt an gesehen die zukünftige Zeit sein wird.« »Ich nehme an, du bist den Herren der Schwarzen Galaxis begegnet, sonst wärst du noch nicht zurück«, meinte die Psiotronik. Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »Erstens kann ich den Zeitpunkt meiner Rückkehr an der Zeitschaltung der Kapsel einstellen«, erklärte er. »Deshalb kam ich zehn Minuten nach meinem Abgang durch die Zeit zurück – und zweitens bin ich si cher, daß die Raumschiffe, die ich sah, nicht von den Herren der Schwarzen Galaxis be mannt waren.« »Von wem dann?« fragte Anlytha. »Haben wir es mit einer anderen Macht zu tun?« »Wahrscheinlich nicht«, antwortete der Kundschafter. »Wenn die Herren der Schwarzen Galaxis heute bereits so stark sind, wie wir annehmen, dann haben sie si
Schatten über Ruoryc
49
cher zahllose Völker ihrer eigenen Galaxis unterworfen. Es ist anzunehmen, daß sie zur Annexion fremder, von ihrem Standpunkt aus verteidigungsschwacher Planeten die un terworfenen raumfahrenden Völker einset zen.« »Das ist logisch«, sagte die Psiotronik. »Wie können wir den Torzaganern hel fen?« fragte Anlytha. »Wir dürfen ihnen nicht helfen«, erwider te Algonkin-Yatta. »Das wäre schon an sich ein Zeitparadoxon, da wir zur Zeit der Tor zaganer noch gar nicht geboren sind. Ganz zu schweigen von den anderen Paradoxa, die sich zu einer Kettenreaktion steigern könn ten. Wir müssen uns leider auf passive Be obachtung beschränken.« »Und Informationen über das Hilfsvolk aus der Schwarzen Galaxis beschaffen, das seine Flotte nach Xuverloth geschickt hat«, warf Chairade ein. »Und damit indirekte Informationen über die Herren der Schwarzen Galaxis«, sagte die Psiotronik. »Wann soll ich in der Zeit aufwärts tauchen, Kundschafter?« »Sofort«, antwortete Algonkin-Yatta. »Sofort, wenn du dafür gesorgt hast, daß wir uns im Punark-System befinden – und zwar in einer Kreisbahn um den neunten Plane ten.« »Warum um den neunten Planeten?« frag te Anlytha. »Ich denke, die Torzaganer le
ben auf dem vierten Planeten?« »Willst du, daß wir mitten zwischen den Schiffen der Invasionsflotte erscheinen?« fragte der Kundschafter ironisch. »Nein, wir werden kurz die Lage peilen und dann das Kundschafterschiff auf dem neunten Plane ten abstellen.« Er lächelte Anlytha zu. »Ich habe dort übrigens ein wundervolles Eisfeld entdeckt, dessen Kristalle sich stän dig in Form und Farbe verändern, mein Schatz. Es sieht aus, als funkelten dort Milli arden Edelsteine – und vielleicht gibt es dort wirklich welche.« Anlythas Augen glühten förmlich auf. »Ich schätze, jemand muß auf Planet neun bleiben, um auf das Schiff aufzupassen – und da ich darin schon geübt bin …« »… könnte ich mir niemanden vorstellen, der dazu geeigneter wäre als du«, ergänzte der Kundschafter. »Chairade und ich werden uns zum vierten Planeten schleichen und dort beobachten – und nichts mehr.« »Es sei denn, zwingende Gründe änderten deine Meinung«, warf die Psiotronik ein. »Achtung, ich starte zum Punark-System und von dort aus in die Zeit der Invasion.«
E N D E
ENDE