Lesley Grant Adamson
Schandtaten
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Lesley Grant Adamson
Schandtaten
scanned by unknown corrected by eboo
Der Name Deveraux, hinter dem sich ein Parfüm-Imperium verbirgt, steht für Erfolg, Geld und Macht. Doch in einer einzigen Nacht, als die kleine Nicole spurlos vom Landsitz der Familie verschwindet, wird dem verschworenen Clan die Maske vom Gesicht gerissen. Handelt es sich um Entführung, Mord oder Rache? Die Polizei steht vor einem Rätsel, die Presse enthüllt Skandale, und der Clan versucht zu verbergen, was dem Dunkel niemals entrissen werden darf… ISBN 3-404-12529-0 Originalausgabe: The Dangerous Edge Aus dem Englischen van Christa und Heinz Zwack 1996 by Bastei Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Einbandgestaltung: Gisela Kullowatz Titelfoto: Kurt Steinhausen, Köln
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Für Bill und Rita Packford
EINS 1974, Frankreich Der Schrei war es, woran die Menschen sich erinnerten. Er brannte ein unauslöschliches Mal in das Bewußtsein all jener, die ihn hörten, und wurde ein Teil dessen, was jene für ihre Erinnerung hielten, die aus zweiter Hand von den Ereignissen in jener Nacht erfuhren. Noch lange nach dem Tod der Frau hallte ihr Schrei nach. In jener Nacht gab es keine Sterne. Der Mann, der im Schatten der Palmen stand, war ein Fremder. Seine Zigarette machte einen Lichtpunkt, und als er sie zu Ende geraucht hatte, drückte er sie mit Daumen und Zeigefinger aus und steckte sie in die Jackentasche. Außer seinen Fußabdrücken würden sie auf dem trockenen Boden unter dem Baum nichts finden, was auf ihn deutete. Er verlagerte sein Gewicht von einer Sohle auf die andere und machte ein paar sanfte kreisende Bewegungen mit dem Kopf, weil sein Hals manchmal als Folge des Sturzes steif wurde. Eine Meile entfernt bellte ein Hund. In den Ästen regte sich ein Nachtvogel. Der Mann blickte nicht auf die Uhr, obwohl seine Hand zweimal den Ärmel zurückschob und das schwere Goldarmband berührte. Auf der anderen Seite der Zufahrt hinter dem französischen Garten sah das Haus wie eine schwarze Klippe aus. Die Lichter im Erdgeschoß waren ausgeschaltet worden. Er hatte sie Zimmer für Zimmer entlang der breiten Fassade verfolgt. Allmählich wurden auch die anderen Räume dunkel, bis nur noch einer ganz oben hell leuchtete. -3-
Zwanzig Minuten verstrichen, mehr, als er erwartet hatte. Er schob sich wieder eine Zigarette zwischen die Lippen, hielt inne und steckte sie dann in das Päckchen zurück. Von ganz unten im Tal drang ein schwaches Geräusch zu ihm herauf, nicht viel mehr als eine kleine Unruhe in der sommerlichen Luft. Das Licht erlosch. Der Mann trat nach vorn, hielt sich im Schutz der Bäume, bis zu dem kurzen, ungeschützten Spurt quer durch den Garten in den Schatten des Hauses. Ein rauher Stein hakte sich an seinem Ärmel fest. Er schob sich noch vorsichtiger nach vorn, wich der Kletterglyzinie und einem vorstehenden Regenrohr aus. Jetzt kam er an ein Fenster, duckte sich und huschte daran vorbei. Am zweiten Fenster riskierte er es, stehenzubleiben und hineinzuspähen. Er mußte sich vergewissern. Dann glitt der Fensterrahmen nach oben, und sein Bein schwang sich über den Sims. Den Bruchteil einer Sekunde lang hing er da, weder drinnen noch draußen, den Kopf etwas zur Seite gelegt. Kein Laut von innen. Und aus dem Tal nichts als der bellende Hund und das unbestimmte Murmeln, das ganz allmählich lauter wurde. Der Mann schwang das andere Bein über den Sims und verschwand in der Schwärze des Zimmers. Andrée sang vor sich hin, während ihr Wagen durch die Kurven schoß. Sie hatte eine gute Stimme, war ausgebildete Opernsängerin, wenn auch ihre Laufbahn nur kurz gedauert hatte. Ohne ernsthaftes Bedauern hatte sie der Scala den Rücken gewandt und sich für ein Leben behaglichen Müßiggangs entschieden: Eine Villa im Bois de Boulogne, eine Yacht an der Adria und das Château im Tal. Jetzt sang sie nur noch, wenn sie allein war. Das war ihr das liebste: allein zu sein, einen sehr schnellen Wagen -4-
durch die Nacht zu steuern und zu singen. Arien, die sie einst in der Öffentlichkeit vorgetragen hatte, wurden jetzt an schlafende Farmhäuser und unbebaute Hügelflanken vergeudet. Musik, die nicht länger dazu diente, anderen eine Freude zu machen, wallte in ihr auf, durchströmte ihr ganzes Wesen und floß freudig über. Das Singen war zu ihrem zarten Geheimnis geworden. In dieser Nacht hatte sie, wie sie das häufig tat, Paris spät verlassen. Die Geschäfte hielten ihren Mann in der Stadt fest, aber sie zog es in das Château. Ihr Kind war dort. Als die Gäste, mit denen sie zu Abend gegessen hatte, den Bois de Boulogne verlassen hatten, hatte Andrée einen letzten Espresso mit ihrem Mann getrunken. »Und du bist auch ganz bestimmt nicht zu müde, um diese Strecke zu fahren?« hatte Claude gefragt, so wie er das immer tat. »Überhaupt nicht.« »Nun, dann sei aber vorsichtig. Man kann nie wissen, was für Verrückte auf der Straße unterwegs sind.« »Es wird kaum Verkehr sein. Ich werde die Fahrt genießen. Mach dir keine Sorgen, Claude.« Nach einem zärtlichen Abschied war sie dann losgefahren. Solange sie die Stadtgrenze nicht passiert hatte, hielt sie sich an das vorgeschriebene Tempolimit. Doch sobald Paris hinter ihr lag, hatte sie das Gaspedal durchgetreten und angefangen zu singen. Ihre Stimme war leicht, mit einem Anflug von Koloratur, ein süßer Klang für Mimi, die kleine Näherin. Andrées Kind war zwei Jahre alt, ein Mädchen, das die dunklen Augen seiner Mutter und manchmal auch den verträumten Blick von ihr geerbt hatte. Andrée war ungeheuer stolz auf ihr Töchterchen. Die Kleine war die Krönung ihrer Liebe, der Mittelpunkt ihres Lebens, noch -5-
mehr, seit sie wußte, daß sie kein zweites Kind bekommen konnte. Vor einem Jahr hatten sie plötzlich unerträgliche Schmerzen im Unterleib befallen, eine Operation war unvermeidbar gewesen. Anfangs hatte sie das Wissen, nie mehr schwanger werden zu können, sehr belastet, doch inzwischen hatte sie sich damit abgefunden. Sie hatte ja ein niedliches, gesundes Kind, und dafür wollte sie dankbar sein. In einem weiten Bogen fuhr Andrée auf die Brücke, die über den Fluß führte, ohne das Tempo zu reduzieren. Im Gegenteil, sie zog den Wagen in die Straßenmitte und gab noch mehr Gas, um sich auf die lange Steigung zum höchsten Punkt des Tales vorzubereiten. Links von ihr schimmerte glasig das Wasser, rechts verschwammen die Häuser wie ein blasser Streifen vor der duftenden Dunkelheit der Fichten. Die Scheinwerfer ihres Wagens lockten sie weiter, zerschnitten die Dunkelheit vor ihr. »Komm, zögere nicht«, sang Susanna, die Braut des Figaro. Andrée hatte Paris so verlassen, wie sie war: in einem schwarzseidenen Balenciaga-Kleid, funkelnde Brillanten an den Fingern, am ganzen Körper in einen Hauch von ›Escapade‹ gehüllt. Das war nicht ihr Lieblingsparfum, aber es war neu. Wenn ihr Mann Geschäftsfreunde zu sich einlud, trug sie immer das Neueste, obwohl sie sich nur wenig für den wundersamen Akt interessierte, mit dem Parfüms geschaffen wurden. Es war voller Duft, blumig, für ihren Geschmack zu überladen. Sie öffnete das Seitenfenster einen Spaltbreit. Warme Luft strich über ihre Haut, zupfte ein paar Strähnen aus ihrer Frisur. Andrée jagte weiter, eine Hand am Steuer, die andere damit beschäftigt, die Nadeln herauszuziehen, bis ihr volles braunes Haar locker auf ihre Schultern fiel. Gretchen, die sich mit Fausts teuflischem Geschmeide schmückte, sang -6-
›Ah, je me vois, si belle‹. Sie näherte sich einer engen Kurve, verlangsamte ihre Fahrt, schaltete herunter, riß den Wagen herum und begann im Zickzack die Hügelflanke hinaufzufahren. Baumstämme waren alles, was sie erkennen konnte. Meile für Meile, Baumstämme und Straße. Meile für Meile, und ihre zarte, sinnliche Stimme sang den geliehenen Triumph und den Schmerz ihrer Opernheldinnen hinaus. Andrée erreichte die massiven Torflügel, die für sie bereits geöffnet waren. Die Reifen ließen den Kies aufspritzen, Scheinwerfer bestrahlten den Märchenbau. Sie fuhr um das Haus herum, ließ den Wagen im gepflasterten Hof stehen und betrat, leise vor sich hinsummend, das Haus durch eine Hintertür. Der schmale Gang mündete in eine geräumige Halle, wo sie das Licht anknipste und die eindrucksvoll geschwungene Marmortreppe damit beleuchtete. Andrée schlüpfte aus ihren Pumps und rannte leichtfüßig hinauf ins oberste Geschoß. Häufig pflegte sie das Kind zu wecken, um zu beweisen, daß sie ihr Versprechen gehalten hatte und nach Hause gekommen war. Manchmal nahm sie die Kleine dann mit in ihr eigenes Bett, um ihren Schlaf zu bewachen. Andrée liebte ihr Töchterchen mehr, als sie je für möglich gehalten hätte. Jetzt drehte sie den rosa Knopf an der Tür des Kinderzimmers und ließ gedämpftes Licht aus dem Korridor in den Raum fallen. Sie konnte den runden Tisch mit der Lampe darauf ausmachen und dahinter die Umrisse des Bettes. Ihre Hand tastete nach der Lampe, aber ehe sie den Schalter betätigen konnte, ließ ihr Instinkt sie stocken. Sie hielt den Atem an. Ohne es gesehen zu haben, wußte sie, daß sie allein im Raum war. -7-
Dann packte sie die Lampe und richtete das Licht direkt auf das Bett. Leer! Sie wirbelte zur Tür herum, schrie einen Namen. Versuchte das Zimmer zu verlassen, konnte es aber nicht. Die junge Engländerin, die für das Kind sorgte, kam aus dem Nebenzimmer gerannt, aus dem Schlaf gerissen, das Nachthemd halb von der Schulter hängend. Ein paar hastige Fragen, verneinende Antworten. Auch die anderen Angestellten erschienen in den Marmorkorridoren, strebten alle auf die Stelle zu, von der der Lärm kam. Neugierig drängten sie sich um die Tür zum Kinderzimmer, suchten beruhigende Erklärungen. Aber Andrée begriff. Und dann brach die ganze Qual aus ihr heraus. Sie vergaßen den Schrei nie. Die einheimische Gendarmerie suchte das Gelände, das Haus und die Nebengebäude ab, fand aber keine Spuren des Kindes. Sie befragten die Angestellten und die Familie, diejenigen, die im Château wohnten und auch die anderen. Sie erfuhren nichts. Der Magistratsbeamte des Distrikts, ein nervöser Mann, der auf einem Auge schielte und zum Stottern neigte, entließ schließlich die Gendarmerie und rief die Kriminalpolizei aus der Stadt. Philippe, der Onkel des Kindes, ein humorloser Mann Ende Zwanzig, nahm befriedigt zur Kenntnis, daß endlich die städtische Polizei das Sagen hatte, und äußerte sich einem der Reporter gegenüber, die ständig von den Bäumen aus das Drama im Schloß beobachteten: »Jetzt wird hoffentlich etwas geschehen, obwohl die Gendarmerie soviel Zeit vergeudet hat, daß das nicht leicht sein wird.« »Sagen Sie damit, M'sieu, daß es deren Schuld sein wird, -8-
wenn der Fall nicht gelöst wird?« »Sie werden sicherlich ein gewisses Maß an Verantwortung tragen.« »Aber wenn sie …« »Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich muß gehen.« Als der Onkel Tage später in das Château zurückkehrte, wo er mit seinen Eltern und einigen anderen Familienmitgliedern lebte, war der die Untersuchung führende Richter anwesend. George Laroche hatte die übertriebenen Berichte gelesen und war verstimmt, weil sie den Anschein erweckten, als würde der Onkel sowohl die Gendarmerie als auch die Stadtpolizei verurteilen und die Forderung stellen, daß der Mann, der für die Koordinierung der Ermittlungen zuständig war, von dem Fall abgezogen wurde: Untersuchungsrichter George Laroche. Dem Onkel wurde Gelegenheit gegeben, den Unterschied zwischen dem, was er sagen wollte und was anschließend in den Zeitungen gestanden hatte, zu erklären und damit den Vorwurf zurückzunehmen. Er nahm die Gelegenheit nicht wahr. »Ein Kind ist verschwunden«, lautete seine Anklage, »nachts aus seinem Bett gestohlen, und die für Gesetz und Ordnung Zuständigen begnügen sich damit, die vom Kummer geplagte Familie zu verärgern, anstatt die Nachforschungen auszuweiten. Ja, schlimmer noch: Sie vermitteln den Eindruck, ihr persönliches Prestige habe für sie einen größeren Stellenwert als die Wiederauffindung des Kindes.« Wie oft hatte er in den letzten Tagen eine Zeitung in die Hand genommen oder das Radio eingeschaltet und erfahren, daß die Polizei und der Richter ihre Ansichten zum besten gegeben hatten (Ansichten, die sich -9-
ausnahmslos kritisch mit den Zuständen im Château auseinandersetzten), wo dieser Eifer doch soviel nutzbringender darauf hätte gerichtet werden können, sich nach Fremden im Distrikt zu erkundigen oder sich mit Frauen zu befassen, die plötzlich ein zweijähriges Kind hatten oder…? »Ah«, machte der Richter. »Sie glauben also, daß das Kind noch lebt, wie?« »Wie soll ich das wissen?« Der Onkel zuckte unwillig die Schultern. »Ich weiß nur, daß meine Schwägerin und das Kindermädchen mich mit ihrem Entsetzensschrei geweckt haben und die Kleine verschwunden ist.« »Das sagt jeder im Haus.« Pedantisch leierte der Richter die Geschichte in einer Singsangstimme herunter. »Ihre Schwägerin behauptet, sie hätte den Namen des Kindermädchens gerufen, und das Kindermädchen bestätigt dies. Weiter sagen sie aus, das Kindermädchen sei zu Ihrer Schwägerin ins Kinderzimmer geeilt, und die Mutter hätte dann wissen wollen, wo ihre Tochter sei. Und dann sammelte sich der Rest des Haushalts unter der Tür, um herauszubekommen, was die ganze Aufregung zu bedeuten hatte.« Der Onkel schlug sich mit der Hand an die Stirn. Am liebsten hätte er diesen dummen Richter erwürgt, ebenso wie jeden anderen, der ihn dazu zwang, sich immer wieder die erschütternde Abfolge von Ereignissen anzuhören. »Ja, ja, das ist es, was geschehen ist. Sie weigern sich, uns zu glauben, aber genauso war es.« »Ah, M'sieu, ich versuche einfach zu verstehen, wie es sein kann, daß eine so belanglose Unruhe Sie alle in die Höhe reißt und Sie zum Zimmer des Kindes hinaufrennen läßt, wo doch keiner von Ihnen gestört wurde, als man das Kind aus dem Haus geschafft hat. Wird denn ein -10-
zweijähriges Kind ruhig sein, wenn ein Fremder es aus seinem Bettchen nimmt und mit ihm wegläuft? Wird es nicht das ganze Haus zusammenschreien? Selbst wenn ein Fremder sich ins Haus schleichen kann, ohne daß irgend jemand von Ihnen das bemerkt, kann er doch nicht mit einem schreienden Kind wieder das Haus verlassen, ohne daß wenigstens der eine oder andere von Ihnen dadurch aufgeschreckt wird. Und doch behaupten Sie alle, jeder einzelne von Ihnen, daß Sie tief geschlafen haben, bis zu dem Augenblick, wo die Mutter den Namen des englischen Kindermädchens rief.« Der Richter schob eine Braue in die Höhe, die über seinem schielenden Auge, aber es wirkte weniger fragend als triumphierend. Der Argwohn, den er der Familie gegenüber empfand, war gerechtfertigt, schien er damit unterstreichen zu wollen. Der Onkel zuckte die Schultern. »Was erwarten Sie jetzt von mir zu hören? Ich kann auch nur Mutmaßungen darüber anstellen, wie man das Kind aus dem Haus gebracht hat. Vielleicht Heftpflaster auf dem Mund, um die Kleine stillzuhalten?« »Vielleicht. Vielleicht war sie auch in jener Nacht überhaupt nicht in ihrem Bett. Wer kann denn bezeugen, daß sie dort war? Die junge Engländerin, aber sonst behauptet niemand, sie dort gesehen zu haben.« »Aber das ist doch normal! Wenn die Eltern des Kindes nicht da waren, hatte doch sonst niemand Anlaß, ins Kinderzimmer zu gehen.« Obwohl er nicht glaubte, daß es Zweck hatte, appellierte der Onkel an den gesunden Menschenverstand des Richters. »Schauen Sie, Laroche, Sie wissen doch, wie bedrückt das Kindermädchen ist. Sie haben überhaupt keinen Anlaß, sie der Mittäterschaft zu verdächtigen.« -11-
Aber damit erreichte er nichts, gar nichts. Sie blieben alle unter Verdacht. Der Onkel beendete das Gespräch mit einer recht bissigen Bemerkung: »Je früher die Lösegeldforderung eintrifft, um so besser. Das wird Sie wenigstens davon überzeugen, daß Sie und Ihre Polizei woanders nach Ihrem Kinderdieb suchen sollten.« Ein Monat verging. Ein Monat, in dem Andrée ihre Qual mit Beruhigungsmitteln zu unterdrücken versuchte und in dem ihr Mann dem Haus im Bois de Boulogne fernblieb, um an ihrer Seite zu sein. Ein Monat, in dem die Familie gleichsam ein Bollwerk bildete. Ein Gefühl des Wartens lag in der Luft, des Wartens, daß ein zweites Mal etwas Schreckliches über sie hereinbrechen würde. Die Angestellten, ganz besonders das Kindermädchen, das jetzt, wo die kleine Nicole verschwunden war, keine Aufgabe hatte, litten mit ihrer Herrschaft. Das Kindermädchen schrieb an seine Eltern, die ihm dringend rieten, nach Hause zu kommen, denn seine Anwesenheit im Schloß würde den erlittenen Verlust eher noch betonen. Aber das Mädchen blieb aus dem Gefühl heraus, daß seine Abreise wie ein Schuldeingeständnis wirken mußte. Tapfer harrte es aus und weinte nur hinter verschlossenen Türen. Andrée ahnte nichts von dem verschmähten elterlichen Rat, wußte aber die Loyalität des Kindermädchens zu schätzen. Kein einziges Mal kam es ihr in den Sinn, das Mädchen könnte vielleicht beim Verschwinden des Kindes die Hand im Spiel gehabt haben, und kein einziges Mal kamen in dem Kindermädchen Zweifel an Andrée auf. Ihre Sorge um das Kind und die Liebe, die sie ihm entgegenbrachten, machten solche Gedanken unmöglich. Zwischen den beiden Frauen erwuchs ein neues, tiefergehendes Verständnis. Obwohl Andrée den Verlust, den das Mädchen empfand, nicht mit dem gleichsetzen -12-
konnte, der sie quälte, stand für sie doch fest, daß es ihre Gefühle in höherem Maße teilte als die anderen im Schloß. Hatte das Mädchen nicht immer wieder das ganz Besondere an seinem Schützling bewundert und die Schönheit des Kindes gepriesen? Die Notwendigkeit, das Kindermädchen vor den unfreundlichen Anwürfen des Richters und der Detektive zu schützen, war sogar Andrée in ihrem ganzen Leid eher eine Stütze. Das Kindermädchen beobachtete den allmählichen Stimmungswandel mit dem Blick des Außenseiters. Anfangs fühlten sich die Angestellten ebenso verletzt wie die Familie, aber dieses Gefühl wich bald der Erregung. Nie hatten sie damit gerechnet, einmal im Leben in eine Situation zu geraten, wo die Reporter sie bedrängen würden, lernten aber schnell, damit fertig zu werden. Es war erstaunlich und faszinierend, sich auf dem gleichen Bildschirm zu sehen, auf dem der neue Präsident Giscard d'Estaing oder der vertriebene Cypriotenführer Erzbischof Makarios erschienen; eine Zeitungsseite mit Präsident Nixon zu teilen, dem Watergate zum Schicksal wurde, oder einem Blitzer, den die britischen Bobbys bei einem Cricketspiel in Leeds erwischt hatten. Obwohl sie es ablehnten, preiszugeben, wer vom Leid bedrückt war und wer sich gut hielt, waren sie doch bereit, in anderer Hinsicht zu helfen, bis sie feststellten, wie widerwärtig das frivole Interesse der Journalisten war, und vorsichtiger wurden. Als dann ein paar Wochen vergangen waren, atmeten sie auf, wenn sie dem Château für ein oder zwei Stunden entkommen konnten, wieder ein normales Leben fuhren und dem Leid den Rücken kehren durften. Und dann begannen sie phantastische Theorien zu flüstern, die das eine oder andere Mitglied der Familie zum Täter machten. Situationen, die sie jahrelang kaltgelassen hatten, -13-
wurden plötzlich Gegenstand der Spekulation. Und keiner äußerte den leisesten Zweifel daran, daß die Familie trotz all ihres Reichtums und der Popularität keine glückliche Familie war und das auch nie gewesen war. Dem scharfen Blick des Kindermädchens entging nicht, wie der Vater des Kindes unruhig zu werden begann, weil er seine Geschäfte telefonisch abwickeln mußte. Und dann, etwa sechs Wochen nach der Katastrophe, erklärte er, es sei unerläßlich, daß er ein paar Tage in Paris verbringe, ehe er nach London flog. Es war ein widerwärtig heißer Sommer mit langen Trockenperioden, die nur von gelegentlichen Stürmen unterbrochen wurden. In den Städten war das Leben noch unangenehmer als auf dem Lande, und er schaffte es normalerweise, im Sommer die Städte zu meiden, aber diesmal zog es ihn regelrecht dorthin. Das Personal beschränkte sich darauf, in Anwesenheit der Kindeseltern gebührend Bedrücktheit zur Schau zu stellen, kehrte aber ansonsten zum normalen Alltag zurück. Die meisten hatten im Leben schreckliche Tragödien durchgestanden und waren deshalb abgehärtet. Außerdem konnte das Kindermädchen den Abend nicht ganz aus seinem Gedächtnis verdrängen, wo es zufällig gehört hatte, wie die Großmutter sich in einem Anfall von Verdrossenheit darüber beklagt hatte, daß Andrée geradezu krankhaft in das Kind vergafft sei und ein Baby nicht so verwöhnt werden sollte. Das geheimnisvollste Mitglied der Familie blieb in dieser Zeit der Onkel des Kindes. Philippe kam selten zum Mittagessen und zog es ansonsten vor, allein in dem Zimmer zu arbeiten, das man ihm als Büro zur Verfügung gestellt hatte. Er wirkte kühl und unnahbar, ein Mann, der sehr hart arbeitete und sich ständig abmühte, anderen zu beweisen, was er wert war. Doch was er auch tat, welche -14-
Erfolge er auch für die Firma einbrachte, Andrées Mann genoß die höhere Wertschätzung, das war für jeden offenkundig. Dem Kindermädchen tat der emotionslose, fleißige Mann leid, wenn es auch gleichzeitig Angst vor ihm hatte. Doch es war ganz offenkundig, daß er unter der mangelnden Anerkennung seines Vaters litt. Beinahe zwei Monate nach dem Verschwinden des Kindes rief Richter George Laroche im Schloß an, um mit dem Vater des Kindes zu sprechen. Doch Claude war abwesend, und so wurde er mit Philippe verbunden. Von seinem Stottern beeinträchtigt und bemüht, das Gebrechen durch lange Pausen unter Kontrolle zu halten, die das, was er vorzubringen hatte, absurd klingen ließen, überbrachte Laroche die Nachricht: »M'sieu, ich bedaure … Ihnen mitteilen zu müssen … daß wir…« Er hatte sagen wollen, daß die Polizei auf die Leiche eines kleinen Mädchens gestoßen war.
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ZWEI 1990, Prag Die Möwen entwichen ihm auf einer kreisförmigen Flugbahn und kehrten zurück, um ihn zu verspotten. Sie zwangen ihn, sich weiter über die Brücke hinauszubeugen, wenn er eine von ihnen erwischen wollte. Er stützte sich mit einer Hand auf die Brüstung und warf die nächste Handvoll Brotkrumen in die Luft, diesmal näher. Dann packte er zu. Die Möwen flohen vor ihm wie Funken im Wind, aber seine linke Hand hatte sich um ein Paar lederne Beine geschlossen. Erregte Flügelschläge wurden langsamer, als er den Vogel mit dem Kopf nach unten schwang, ihn zu dem Sack herunterzog, der auf dem Boden lag, und den Ring um seine Beine befestigte. Er blickte in das Auge, das hell und klar wie eine Luftblase im Glas war, und warf den Vogel dann wieder in die Novemberluft. In diesem Moment bemerkte er Rose Darrow. Sie stand ein paar Meter von ihm entfernt, genau an der Stelle, wo sie am vergangenen Nachmittag und auch an dem davor gestanden hatte. Ihre gute Kleidung und der modische Haarschnitt hoben sie von den einheimischen Frauen ab und ihr Verhalten von den Touristen. Sie hielten den Blickkontakt kurz, einander durch Sprache und Brauchtum fremd. Dann wandte er sich wieder den lärmenden Möwen zu, Brotkrumen flogen, und die Vögel kreisten. Rose zog ihr Tuch zusammen. Feuchtigkeit und der ungesunde Geruch von Braunkohlenrauch lagen in der Luft. Sie wußte, daß der Mann nicht kommen würde, daß er sie ihre Zeit und ihre Hoffnung verschwenden ließ, und -16-
doch ließ sie ihm noch fünf Minuten Zeit. Reglos blieb sie stehen und beobachtete den Möwenfänger im schwächer werdenden Licht. Die Statuen entlang der Brücke wurden undeutlich, verloren ihre Form, bis Barockheilige und Könige sich in Bettler verwandelten, jeder mit ausgestreckt bittender Hand. Die Moldau hatte ihre Farbe verändert, von Blaugrau in Anthrazit, und die schaumige Linie des Wehrs wirkte wie hingeschmiert. Rose betrachtete die Gestalten, die von links auf sie zugeschlendert kamen. Ihr langsamer Gang reichte aus, um sie zu identifizieren. Trödler waren Touristen. Einheimische eilten dahin, ohne das Bedürfnis zu haben, das Schloß auf der Hügelkuppe oder die goldglitzernde Stadtsilhouette zu bestaunen. Vielleicht blieb ihr Blick an einem Fischerboot hängen, das vom Ufer in die Flußmitte schwankte, oder an den pulsierenden Lichtern des Karussells, dem so kurios benannten LochNess-Monstrum in dem Park auf der Kampa-Insel. Aber meistens eilten sie dahin, ohne auf ihre Umgebung zu achten, an ihren Gedanken, nicht an der Szenerie interessiert. Rose sah keinen mit dem zögernden, suchenden Gang eines Flüchtigen, der sich mit einer Frau treffen wollte, die er nicht kannte. Das Murmeln einer Gitarre, der dünne Sopran eines Mädchens. Rose blickte nach rechts. Das Mädchen war eine Studentin, die der Kälte mit einem selbstgemachten Minirock und schimmernden Leggings trotzte. Das Licht der Laternen spiegelte sich an ihren Beinen und ließ sie bei jeder Bewegung wie Flußwasser pulsieren. Der Gitarrenkasten lag offen da und wartete auf milde Gaben. Passanten spazierten uninteressiert vorbei. Und dann beendete der Möwenfänger abrupt seine Tätigkeit, sammelte seine Habseligkeiten ein und ging. -17-
Rose setzte sich ebenfalls in Bewegung, auf das Mädchen zu. Die Sängerin hatte den Kopf etwas in den Nacken gelegt, vielleicht galt ihr Lied einem Zuhörer auf den Zinnen des Schlosses. Sie hatte eine gute, aber zarte Stimme. Rose ließ ein paar Münzen in den leeren Gitarrenkasten fallen. Sie wünschte, sie könnte die Worte verstehen. Auf der anderen Brückenseite lag ihre Lieblingskavárna. Nicht das nächstliegende, sie mußte bis zum Platz gehen, aber … »Rose!« Ein blonder Mann in einem Mantel stand vor ihr und begrüßte sie in stark akzentuiertem Englisch. »Rose, was machen Sie denn hier? Ich hätte Sie in London erwartet - vielleicht auch in Paris. Aber Prag?« Sie gewann ihre Fassung zurück. »Und Sie, Willi? Warum sind Sie nicht in Frankfurt?« Er lachte. »Ja, es ist schon verwirrend, wenn die Leute plötzlich am falschen Ort auftauchen.« »Kommen Sie, trinken Sie einen Kaffee mit mir. Dabei erzählen Sie mir, was Sie hier am falschen Ort machen.« Er folgte ihr in ein Lokal, doch sein Bericht blieb vage. Er sagte lediglich, er sei damit beschäftigt, Schriftsteller aus Ostdeutschland dazu zu überreden, für seinen Verlag Bücher über das Leben in einem Land zu schreiben, in dem der Kommunismus in den letzten Zügen lag. Rose nahm es ihm nicht übel, daß er nicht deutlicher wurde. Warum auch einer Journalistin Einzelheiten anbieten? Sie fragte: »Werden sie denn tatsächlich geschrieben, diese Romane?« Er spreizte verzweifelt die Hände. »Sie sagen nein. Sie sagen, dafür sei es zu früh.« »Ich verstehe.« -18-
»Nun, ich muß Ihnen sagen, Rose, ich verstehe es nicht. Diese Leute hätten der Welt etwas zu sagen und einen Verleger, der sie geradezu anfleht, es doch zu tun. Endlich können sie schreiben, was sie wollen; es gibt keine Schwierigkeiten mehr, die sie daran hindern. Und doch…« »Die müssen erst eine ganze Menge Erfahrungen machen, ehe sie wie ein Romanschriftsteller denken können.« »Oh, jetzt fangen Sie nicht auch noch an, Rose! Wie schnell verarbeiten Sie denn Ihre Erfahrungen und schreiben darüber? Wie lange dauert es denn? Tage? Stunden?« »Willi, damit haben Sie jetzt vielleicht gerade den Unterschied zwischen einem Journalisten und einem Romanschriftsteller auf den Punkt gebracht.« Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr und rechnete sich aus, wann sie würde gehen müssen. Enttäuscht widersprach er: »Und jetzt werden Sie sich wahrscheinlich wie eine Journalistin benehmen und weglaufen? Und ich werde Sie nicht wiedersehen, bis wir uns zufällig in einer der Hauptstädte Europas begegnen?« »Nein, ich habe genug Zeit«, beruhigte sie ihn. »Nun, jedenfalls genug, daß Sie mir auch noch den Rest erzählen können.« Vorsicht schlich sich ein. »Den Rest?« »Ja«, sagte sie, immer noch ganz locker. »Sachbücher beispielsweise. Sie interessieren sich doch ganz sicher nicht nur für Romane?« »Ah.« Er beugte sich vor. »Sie klingen wie jemand, der etwas in Erfahrung gebracht hat.« »Ich sehe, daß ich einen intelligenten Schluß gezogen habe. Wenn Sie an diese Romane herankommen, ist das -19-
ein gutes Geschäft für Sie, aber Sie verdienen ein Vermögen, wenn Sie die Memoiren gewisser anderer Leute kaufen können, die bis jetzt außer Reichweite waren.« »Werden Sie Namen nennen, Rose?« »Wir kennen sie beide, Willi.« Mit einer kleinen Handbewegung gab er ihr recht. »Okay. Nun, den Alten kann ich vergessen, der ist in den achtziger Jahren in Rußland gestorben. Das ist echt, kein Klatsch. Aber wenn ich den anderen aufspüren kann, dann…« »Und können Sie ihn aufspüren?« Er wollte schon zu einer Erklärung ansetzen, überlegte es sich dann aber anders. »Auch nicht besser als Sie, Rose. Ganz bestimmt nicht besser.« »Und das war leider bis jetzt nicht sehr erfolgreich.« »Also, machen wir gemeinsam weiter und suchen diesen unheiligen Gral? Partner oder Rivalen, Rose? Wie hätten Sie es gern?« »Wenn nicht einer von uns Erfolg hat, hat das wohl kaum etwas zu bedeuten.« »Wenn nicht? Sie meinen doch sicher, bis einer Erfolg hat. Wir wissen, daß er am Leben ist, und glauben, daß er sich in Europa aufhält. Ein Mann kann nicht einfach verschwinden.« »Willi, der, von dem wir sprechen, hat sich, soweit ich mich erinnere, recht gut darauf verstanden.« »Über eine Mauer zu springen und Zuflucht zu suchen heißt nicht verschwinden. Und jetzt gibt es keine Mauern mehr.« Sie tauschten ein paar Informationen aus. Beide hatten erfahren, daß Krieger in Prag sein sollte, und waren -20-
deshalb gekommen. Es hieß, er sei mit den Scharen von Flüchtlingen, die dem Honecker-Regime entflohen, über die Grenze gekommen und würde in aller Stille in der Stadt leben. Sie hatten beide Kontaktleute gefunden, die sie zu ihm bringen sollten. Und beide waren sie enttäuscht worden. »Wie lange werden Sie noch hierbleiben, Willi?« wollte Rose wissen. »Drei Tage. Und dann muß ich aufhören, mich wie der Held in einem altmodischen Spionageroman zu verhalten. Ich kann jederzeit zurückkommen, aber ich kehre ungern in mein Büro zurück, ohne etwas vorweisen zu können. Und Sie?« »Bis Freitag. Dann geht es weiter nach Rom.« Sie hatte ihm bereits erzählt, wieviel Spaß ihr die neue Aufgabe machte, die darin bestand, ein wöchentliches Nachrichtenmagazin aufzubauen, das seinen Sitz in Paris hatte. In ein paar Wochen würde es wieder anders sein, sie würde dann wieder wie früher für die Londoner Zeitungen schreiben. Aber bis dahin mußte sie reisen und in den wichtigen Städten Europas Angestellte und freie Mitarbeiter engagieren, Büros und Verbindungslinien organisieren und den Weg glätten, der vor ihnen lag. Und natürlich die ganze Zeit auch Augen und Ohren offenhalten, ob es irgendwelche Stories gab. Ein Exklusivinterview mit einer der geheimnisvollsten Gestalten aus der Zeit des kalten Krieges war der perfekte Preis, die sichere Gewähr dafür, den Ruf des neuen Magazins von Anfang an richtig zu etablieren. Und sie war ihrem Ziel nahe, das spürte sie. »Dann haben wir vielleicht Zeit, miteinander zu Abend zu essen?« sprach Willi in ihre Gedanken hinein. Sie konsultierten beide ihre Terminkalender und mußten -21-
feststellen, daß ihre freien Stunden nicht zueinander paßten. Spitzbübisch schlug sie vor: »Dann vielleicht ein Spaziergang im Park, morgen, ganz früh? Das ist alles, was noch im Angebot ist.« Sie war einigermaßen überrascht, als er zustimmte. Rose überquerte die Brücke allein. Flußauf und flußab blinzelten Autos über die Kette von Brücken. Das Flutlicht, das die Türme bestrahlte, die Kuppeln und die zahlreichen Turmspitzen machten aus der abendlichen Stadt ein Märchen. Aber das war sie ohnehin: ein entzückendes Kleinod, das ganz sicherlich ein pâtissier und nicht etwa ein Architekt entworfen hatte. Sie lehnte sich an die Sandsteinbrüstung neben der Figur des heiligen Wenzel, wo der Möwenfänger die Vögel im Kreis hatte fliegen lassen. Bis Freitag noch. Dann wartete Rom. Bis Freitag würde sie das Goldene Prag genießen und sich dann losreißen und sich in die Hektik Roms stürzen. Ihr Terminkalender für die nächste Woche war randvoll. Die Zeitschrift hatte dort bereits ein Büro etabliert. Die Plackerei blieb ihr erspart, aber sie mußte sich mit Leuten treffen: Politikern, Geschäftsleuten, einem Filmregisseur. Wenn sie dort wieder auf einen alten Freund stieß, so, wie sie auf Willi gestoßen war, würde sie auch für ihn keine Zeit haben. Ein Jammer, dachte Rose. Das mit Willi war ein Jammer, wo er doch zu den interessanteren Männern gehörte, die hier und da in ihrem Leben aufgetaucht waren. Aus Freundschaft war ein harmloser Flirt gekommen, der am Rande von etwas Tiefergehendem schwankte, und das war nett so. Für eine solch spekulative Beziehung sprach eine ganze Menge. Rose erreichte den alten Stadtturm am Ende der Brücke. Die unternehmerischen jungen Leute, die mit -22-
Modeschmuck, Gemälden der Brücke und Uniformen der Roten Armee handelten, waren im Begriff, ihre Sachen einzupacken. Sie trat neben ein paar von ihnen, die, mit ihren Klapptischen und Rucksäcken beladen, an einer Verkehrsampel warteten. Sie lauschte ihren Gesprächen, verstand kein Wort und vermutete, daß sie sich über die Einnahmen des Tages unterhielten und vielleicht ein paar alberne Bemerkungen austauschten, die sie von Touristen aufgeschnappt hatten. Dann schaltete die Ampel um, und sie schlenderte weiter. Dvoraks Slawische Tänze tönten gedämpft aus einer vinárna. Leute drängten sich vor einem Theater, das einen Mozart-Abend versprach. Melodisches Tschechisch mischte sich mit hartem Deutsch, und einmal, ein einziges Mal, fing sie einen englischen Satz auf. Sie genoß das. »Rose, du wirst diesen Job hassen«, hatte John Blair sie gewarnt. »Es klingt großartig, natürlich tut es das. Aber du wirst nicht die ganze Zeit in Paris oder Rom herumflanieren. Die meiste Zeit wirst du auf Flughäfen verbringen und dich darum bemühen, Städte wie Warschau zu verlassen.« Sie hatte es sofort durchschaut. Der Job war für ihn wie maßgeschneidert, und man hatte ihn ihm nicht angeboten. Aber sie war einer Auseinandersetzung über seine Motive ausgewichen und hatte ihn nach seiner Meinung über einen französischen Politiker mit neuen, provozierenden Ideen gefragt. Rose Darrow und John Blair konnten immer noch über berufliche Dinge reden, aber der Rest war verpufft. Sie war achtundzwanzig und hatte sich schnell einen hervorragenden Namen als Reporterin gemacht. Sie war bekannt dafür, daß sie scharfsinnige Fragen stellen konnte und körperlich wie moralisch Mut zeigte. Nicht, daß sie das von sich selbst behauptete. Wenn man ihr Komplimente machte, murmelte sie irgend etwas von -23-
wegen Glück. Ein wenig von diesem Glück bestand darin, daß sie bei einem ihrer ersten Aufträge an John Blair geraten war. Einen besseren Lehrmeister konnte es für eine Journalistin nicht geben. »Partner oder Rivalen?« fragte Willi noch einmal. Bei John Blair war die Frage nie aufgekommen, und je nach Situation war es einmal das eine und dann wieder das andere gewesen. Sie hatten sogar ein Jahr die Wohnung miteinander geteilt - sporadisch, wenn er in London zu tun hatte. Wenn die Konkurrenz schwer zu schlagen ist, steigert man seine Form, war eins seiner Leitmotive. »Wie ist sie?« hatte sie einmal die Frage eines Reporters belauscht, der glaubte, sie wäre zu weit weg, um es hören zu können. Und sein Kollege hatte darauf mit einfachem Lob geantwortet: »Sie macht es gut.« Rose erreichte ihr Hotel am Wenzelsplatz. Aus dem langweiligen Foyer führte eine Treppe nach oben in ein im Jugendstil eingerichtetes Restaurant. Ein fülliger Mann mit ausgeprägten slawischen Gesichtszügen saß bei einem Bier. Ein junges Paar wog die Vorteile von Apfelstrudel gegen die der Abstinenz ab. Aber die Frau, mit der Rose sich hatte treffen wollen, war nicht da. Also ging sie auf ihr Zimmer und telefonierte mit dem Büro in Paris. Die elfenhafte Joelle, Assistentin aller, nahm den Anruf entgegen. »Na, hast du einen guten Tag, Rose?« »Gar nicht übel«, log sie und verschwieg damit die Zeitvergeudung und die nicht eingehaltenen Verabredungen. »Gut. Ich könnte dir ja erzählen, was hier los ist, aber dann würde mich jemand umbringen.« Man hörte ein kleines Handgemenge, als jemand Joelle -24-
den Hörer entwand, ein Kichern. Dann schnarrte eine Männerstimme: »Rosie? Hast du deinen Spion schon unter Vertrag, wie?« »Ich konnte mein Opfer nicht finden, Larry. Morgen, ich versprech' es.« Sie malte ihn sich vor ihrem inneren Auge aus: schwabbeliger Körper, aufgedunsenes, gerötetes Bulldoggengesicht. Gut, daß die Zeit vorbei war, wo die tschechische Polizei die Telefonleitungen anzapfte. Er war nicht gerade ein Mann, der zur Diskretion neigte. »Hm. Nun, beeil dich gefälligst! Wir wollen uns bei dem nicht gerade als letzte in die Schlange reihen.« »Na klar, Larry, das hab' ich mir auch gedacht.« Er erinnerte sich daran, daß es zuallererst ihre Idee gewesen war. »Oja. Nun, woher kommt die Verzögerung?« »Er läuft nicht auf der Straße herum und bietet den Journalisten, die seine Wege kreuzen, seine Dienste an.« »Aber du und Krieger, ihr seid doch in derselben Stadt, oder?« Rose atmete tief durch. Larrys Hochseilakt zwischen Witzeleien und regelrechtem Sarkasmus konnte einem den letzten Nerv töten. Sie malte sich aus, wie es wohl sein müßte, ihn zu ohrfeigen. Du lieber Gott, sie hatte ihm erst einmal klarmachen müssen, wie wichtig Krieger war, so gut war Larry informiert. Dann sagte sie: »Die Aussichten stehen gut, Larry. Aber schau, gibt es etwas, was wir jetzt besprechen müssen? Ich soll mich nämlich gleich unten mit jemandem treffen.« »Nun, äh, Steve will dich sprechen. Augenblick.« Nach Larrys Taktlosigkeiten tat Steves bescheidene Art gut. Jetzt sah sie einen drahtig-schlanken Mann vor sich, dessen Haar bereits anfing, schütter zu werden. Sie spürte -25-
sofort, daß er sich auf dünnem Eis bewegte. Die freundliche Begrüßung, die sanften Umschreibungen. Worauf, zum Teufel, wollte Steve hinaus? »Rose, heute hat sich etwas ergeben, was ich dir sagen wollte. Ich dachte…« Und dann spannten sich ihre Bauchmuskeln, warten auf den Schlag, auf die undefinierte Attacke. »Kreuzfeuer«, hörte sie ihn sagen. Und dann etwas über eine Ambulanz. Aber sonst war es, als würde das, was er sagte, einfach verdunsten. »Nein!« brach es dann aus ihr heraus. »Ein John Blair wird nicht erschossen.« Dann wieder Steves Stimme, Erklärungen. Und ihre strikte Weigerung, sich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen. Als das Gespräch zu Ende war, ihr Wortwechsel abgelaufen wie ein Uhrwerk, stellte sie fest, daß sie gerade erstarrt war und immer noch auf das leise Summen der toten Leitung hörte. Langsam ließ ihre Hand den Hörer sinken, ließ ihn schließlich los. Ihr Mund formte das häßliche Wort: »Erschossen.« Aber es war unhörbar, und sie glaubte nicht daran. Die Leute, die sie kannte, wurden nicht erschossen. Ganz besonders nicht John Blair, der clevere, immer vom Glück begünstigte John Blair. Rose ließ sich ein Glas Wasser einlaufen. Es schwankte auf dem Weg zu ihrem Mund. Steves Worte bewegten sich auf und ab wie leichter Wellenschlag, sie mußte sie fixieren, sie untersuchen. Er hatte Ambulanz gesagt, und er hatte Krankenhaus gesagt, und er hatte kritisch gesagt. Tot hatte er nicht gesagt. Daran klammerte sie sich fest. Aus einem Impuls heraus griff sie schon wieder nach dem Telefonhörer, legte ihn dann aber auf, weil sie nicht den Eindruck erwecken -26-
wollte, als hätte sie ihm vorher nicht richtig zugehört, wenn sie Steve dazu zwang, das Ganze noch einmal zu erzählen. Allerdings war sie plötzlich ganz sicher, daß er den Namen des Krankenhauses nicht erwähnt hatte. Also gut, dann eben die Stadt. Eine Kleinstadt, eine unbedeutende Ortschaft in Spanien. Politische Spannungen, die zu Straßenkämpfen geführt hatten. Kreuzfeuer. Kritisch. Douglas Soundso, das war der Mann, den sie jetzt brauchte. Sie blätterte in ihrem Adreßbuch und rief ihren ehemaligen Kollegen in Madrid an. Das Telefon klingelte und klingelte, aber niemand meldete sich. Wahrscheinlich war er ohnehin in dieser nichtssagenden Stadt. Sie schluckte das restliche Wasser und rief Steve schließlich doch an. »Bleib dran, Rose, ich werd' nachsehen.« Aber in dem Fax stand nicht, wo das Krankenhaus war. Die Frau, die schon früher hätte kommen sollen, traf endlich ein. Rose redete mit ihr in der Bar und ging dann mit ihr zu Leuten, die möglicherweise nützlich sein würden, lud zwei davon zum Abendessen ein und verdrängte die ganze Zeit mit äußerster Mühe die erschütternde Nachricht. Als sie dann endlich wieder allein war und zum Hotel zurückging, kristallisierte sich ihre Sehnsucht heraus, nach Spanien zu gehen. John Blair arbeitete auf eigene Rechnung, wahrscheinlich allein. Wenn sie nicht hinfuhr, würde möglicherweise niemand bei ihm sein. Leute strömten aus Theatern und Konzerten, kamen aus Restaurants. Sie sammelten sich um die Sänger auf den Straßen oder vor Schaufenstern. Rose nahm sie nicht zur Kenntnis, ihre Gedanken konzentrierten sich ganz darauf, schnell nach Spanien zu kommen. Ob sie morgen direkt -27-
von Prag dorthin fliegen sollte? Über Paris? Wie auch immer, sie würde es tun. Junge Deutsche, die miteinander herumalberten und ziemlich laut waren, beeinträchtigten ihre Konzentration. Und dann dachte sie plötzlich: Willi! Er hat mir seine Telefonnummer nicht genannt. Ich kann unsere Verabredung nicht absagen. Sie war überpünktlich am Treffpunkt. Der Morgen war bitterkalt, der erste Rauhreif überzog die Statuen im Park. Rose blickte durch das bunte Herbstlaub den Hügel hinunter. Vergoldete Kuppeln und rote Dächer schwebten über dem Flußnebel. Ein Mann und sein Hund zogen in der Dampfwolke ihres eigenen Atems an ihr vorbei. Eine Frau in einem beigefarbenen Mantel hinkte ein Stück unter ihr über einen Fußweg, eine leere Einkaufstasche über dem Arm. Sonst war niemand zu sehen, bis sie schließlich Willis blondes Haar und seinen dunklen Mantel auf sie zukommen sah. Sein Eifer war rührend. »Rose, Sie sind ein Genie«, schwärmte er, sichtlich unbeeindruckt von der Kälte und dem Eis. »Mich dazu zu bringen, mich mit Ihnen in einem Park bei einem Schloß an einem so herrlichen Morgen zu treffen. Jetzt müssen wir nur noch entscheiden, wie wir gemeinsam Krieger in die Falle locken, und ihn dazu zwingen, einen Autorenvertrag mit mir zu unterschreiben und Ihnen ein Interview zu geben, dann ist der Tag wirklich perfekt. Oder nicht?« »John Blair ist heute morgen gestorben«, stieß sie hervor.
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DREI Identität, reduziert auf drei Wörter auf einem Stein. Jahre, angefüllt mit Erfahrungen und Träumen, darauf herunterdestilliert. Und die Elemente würden die Wörter auslöschen. Rose biß sich auf die Lippe, wandte ihre Aufmerksamkeit von dem Grabstein ab und wieder dem Begräbnis zu. Sie hatte den asphaltierten Weg verlassen, und die feuchte Erde saugte an ihren Absätzen. Aber sie stand nicht nahe genug, um erkennen zu können, was geschah, oder um mehr zu hören als gelegentlich ein paar Worte des Priesters. Atemwolken standen in der Luft, Trauergäste drängten sich zwischen den Gräbern, und ein Hängelorbeer wurde zu einem Schirm. Er flieht, als wäre er ein Schatten, und verweilt nie an einem Ort. Die Angestellten des Bestattungsunternehmens hatten die Wege mit Kränzen gesäumt, sie an Gräber und um den Baum herum gelehnt. In allen Büros jener Institution, die man manchmal nicht sonderlich exakt als Fleet Street bezeichnete, würde man John Blair vermissen. An all den angsterfüllten Plätzen der Welt, wo Reporter sich zu sammeln pflegten, betrauerte man ihn. In der Mitte des Lebens sind wir des Todes. Schuhleder scharrte hinter ihr auf dem Weg. Rose sah sich verstohlen um. Ein Fotograf zwinkerte ihr zu. Ihr Blick nahm aneinandergepreßte Gesichter, junge Leute (wohin gingen alte Journalisten?) auf und voluminöse Kleidung, die es doch nicht schaffte, die beißende Luft im Schach zu halten. Sie hatte das Gefühl gehabt, sich an der -29-
Peripherie zu befinden, stellte nun aber fest, daß sie relativ weit vorn war. Erlöse uns nicht in die bittere Pein des ewigen Todes. Rose fragte sich, wessen Wahl wohl auf den Friedhof von Highgate gefallen war. Ganz sicher nicht Johns, aber wie sollte sie es wissen? Das gehörte nicht zu den Dingen, über die sie sich unterhielten. Da war zuviel Leben gewesen, mit dem sie sich auseinandersetzten, die Mechanismen des Todes waren nie dazwischengekommen. Wenn man sie aufgefordert hätte zu raten, hätte sie den kleinen Friedhof in dem Dorf benannt, wo seine Familie gelebt hatte. Vielleicht wußte es Christina, seine Exfrau, besser. Aber eigentlich war es ja nicht wichtig. Alles war ohne Belang, nicht überzeugend, weil sie ihn jeden Augenblick inmitten der Menschentraube entdecken würde, verspätet wie so oft, von den Erfordernissen abgelenkt, Nachrichten zu sammeln, um in letzter Minute irgendwelche Verabredungen einzuhalten. Aber er schaffte es immer irgendwie, mit mehr Glück als Verstand. Herr, du kennst die Geheimnisse unserer Herzen. Vor ihr beugten die Leute die Köpfe und vermieden es, einander anzusehen. Roses Hand ballte sich. Die besondere Beschaffenheit der Stille erklärte, was sie nicht sehen konnte: Der Sarg wurde jetzt in die Grube gelassen. Dann wieder die Stimme des Priesters, die Sache mit Asche zu Asche, dann der Ruhm Gottes in alle Zeiten bis zum abschließenden Amen. Und dann das schwierige, lange Zögern, ehe die Leute wagten, sich loszureißen und ihre Vitalität zu gestehen. »Weißt du, Rose«, sagte in diesem Moment der Fotograf, der ihr zugeblinzelt hatte, »das Unglaublichste daran ist, daß es John in Spanien erwischt hat. Wenn man -30-
bedenkt, wo er überall war, ist es geradezu lächerlich. Wie der Dachdecker, der sich den Hals gebrochen hat, als er aus dem Bett fiel.« »Was hat er dort gemacht?« »Das weiß niemand. Genauer gesagt, wir waren übereingekommen, daß er für das Witzblatt, für das du jetzt tätig bist, etwas erledigen mußte.« Sie ging nicht auf die Stichelei ein. »Nein. Wir hatten monatelang nichts mehr voneinander gehört, aber ich hätte es bestimmt gewußt, wenn er einen Auftrag von uns gehabt hätte.« »Dann ist es irgendwie geheimnisvoll.« Sie näherten sich dem Friedhofstor. Ein weiterer Leichenwagen kam angefahren. Sie traten beiseite, um ihn durchzulassen. Der Fotograf legte die Hand auf einen Grabstein aus Granit. »Soll ich dich in die Stadt mitnehmen, Rose? Ich parke ein Stück weiter oben.« »Danke, aber ich bin auch mit dem Wagen hier.« Sie las die in Stein gemeißelten Worte unter seiner Hand. Lesbar, aber nicht mehr sehr deutlich. In ein paar kurzen Jahren würden sie vergessen sein. Die Trauergäste hatten sie jetzt eingeholt. Christina ging auf Rose zu. »Ein paar Leute gehen noch mit ins Restaurant. Komm doch auch!« Christina hatte das Lokal für den heutigen Tag geschlossen und bot ihren Gästen ein Mittagsbüffet an. Die Leute standen in kleinen Gruppen, redeten mit leiser Stimme als Zeichen ihres Respekts oder ihrer Bedrücktheit oder, in einigen Fällen, aus Ehrfurcht für ihre Umgebung. »Riskant«, flüsterte ein Redaktionsmitarbeiter einer der Sonntagszeitungen Rose ins Ohr. »Dieser Verein hier wird -31-
ihr den Keller leertrinken.« Für Rose war er eine Kreatur, die nicht die leiseste Ahnung davon hatte, was für ein Mensch Christina war. »Ich wette, die wird mit der Situation fertig.« Auf der anderen Seite des Saales hatte eine Kellnerin bereits angefangen, Weingläser einzusammeln. Kaffeeduft lag in der Luft. Rose überlegte, wann sie gehen sollte. Nicht mit den ersten, weil man ihr das vielleicht als Gefühllosigkeit auslegen würde, so, als hätte sie nur ihre Pflicht erfüllt. Aber zu lange bleiben wollte sie auch nicht, weil sie Angst hatte, es könnte zu melancholischen Reminiszenzen kommen. Sie konnte sich gut vorstellen, von wem sie zu erwarten waren: von ein paar der trinkfesten Oldtimers der Boulevardpresse. »Oh, oh«, tönte ein Mann neben ihr. »Hier kommt die Versuchung im Miniaturformat.« Eine auffällig kleinwüchsige Frau mit kurzgestutztem schwarzem Haar und riesigen silbernen Ohrringen strebte auf sie zu. Die Leute machten ihr Platz. Sie war klein, aber keineswegs unscheinbar. Rose überraschte es, daß sie mit einer Umarmung begrüßt wurde. »Maria, wie geht es Ihnen?« »Wunderbar, Rose. Aber Sie wissen ja…« Ihr Gesicht war ein einziger betrübter Kommentar zu dem Anlaß, der sie an diesem Tag zusammenführte. Rose mochte ihren Akzent, kehlig-spanisch. Wenn sie sang, und damit verdiente Maria sich ihren Lebensunterhalt, war das Timbre betörend. Rose hatte sie einmal bei einer Wohltätigkeitsgala singen hören. Einige Male hatte sie sie noch bei irgendwelchen Veranstaltungen gesehen, doch sie kannte sie eigentlich nicht gut genug, um auf diese Umarmung gefaßt zu sein. -32-
»Bitte«, sagte Maria, und ihre dunklen, großen Augen zwangen Rose in ihren Bann. »Ich möchte gern, daß Sie mich mit dem Auto mitnehmen, wenn Sie wegfahren. Es gibt einiges zu sagen.« Rose fühlte das gierige Interesse des Mannes neben ihr, und es war ihr unangenehm. Sie wollte keine Zuhörer haben, wenn Maria sie dazu brachte, über John Blair zu reden. Vor Monaten war ihr zu Ohren gekommen, daß Maria sich mit John eingelassen hatte. Dies war also der Zeitpunkt zum Gehen, ehe es zu einer Szene zwischen ihr und Maria kam. Die Frau war für ihre Unbeherrschtheit berühmt, es war ihr unvorstellbar, einmal nicht der Mittelpunkt zu sein. »Wo müssen Sie hin?« fragte Rose knapp. »Meine Wohnung ist in Kensington.« »Schön. Ich werd' mich von Christina verabschieden.« Andere Leute gingen ebenfalls. Christina nahm Beileidsbezeugungen entgegen und Dank für ihre Gastfreundschaft, was auch immer unter den keineswegs klaren Umständen von den einzelnen für passend gehalten wurde. Christina war ganz wohlerzogene Haltung, gestützt von Professionalität. Jetzt wandte sie sich Rose zu, die sich noch nicht entschieden hatte, was sie sagen sollte, aber Christina ersparte es ihr, indem sie das Wort ergriff: »John und ich waren ein hoffnungsloses Paar, aber ich wußte wenigstens, daß er da war. Jetzt weiß ich es nicht mehr.« Rose drückte ihr stumm die Hand. Im Wagen machte Maria sich am Sitzgurt zu schaffen. Sie war wie ein Kind, nicht, weil sie nur einen Meter fünfzig groß war, sondern wegen ihrer offenkundigen Hilflosigkeit, die an die eines kleinen Mädchens erinnerte. Rose fand nichts davon attraktiv. Sie ließ den Motor an. -33-
»Okay, Maria. Was sind das für Dinge, die Sie mir sagen wollten?« Maria sah sie wieder aus großen runden Augen an. »Ich möchte über John reden.« Nun, das lag ja wohl auf der Hand. Rose nickte ihr aufmunternd zu. »Ja?« »Heute haben ein paar Leute gesagt, keiner hätte gewußt, weshalb er in Spanien war.« »Aber Sie glauben, daß Sie es wissen?« »Er ist in Frankreich gewesen. Ich denke, er hat in Frankreich irgendwelche Recherchen angestellt.« »Hat er verraten, was das für Recherchen waren?« »Er hat gesagt, er hätte da eine Idee und würde einigen Leuten ein paar Fragen stellen.« Rose gab sich redlich Mühe, nicht die Fassung zu verlieren. »Erinnern Sie sich, wo er diese Fragen stellen wollte?« »Paris natürlich. John ist nach Paris geflogen.« »Er könnte sich ja auch von Paris aus einen Mietwagen genommen haben und an einen ganz anderen Ort gefahren sein.« »Nein, er hatte vor, in Paris zu arbeiten.« Ein mißtrauischer Seitenblick traf Rose. »Ich hatte gedacht, daß er sich mit Ihnen treffen würde.« Rose schüttelte den Kopf. Das hatte er nicht getan. Er hatte zwar mehrmals in ihrem Büro angerufen und um Rückruf gebeten, aber sie hatte nicht zurückgerufen. Sie scheute vor dem Gedanken zurück, daß das vielleicht etwas von Bedeutung hätte sein können. »Maria, hat John gesagt, für welche Zeitung oder welche Zeitschrift er gearbeitet hat?« Solange sie ihn gekannt hatte, hatte er nie eine Reise selbst finanziert; ganz sicher -34-
hatte irgendein Redakteur die Story in Auftrag gegeben. Darauf wußte Maria wieder keine Antwort. Sie fuhren eine Weile schweigend dahin, und schließlich sagte sie: »Er hat mir Postkarten geschickt. Möchten Sie die sehen?« Rose erwartete, daß die Postkarten in der Tasche wären, die auf Marias Schoß lag, aber sie befanden sich in der Wohnung. Möglicherweise würden sie ihr Wissen um John Blairs letzte Story nicht erweitern, aber immerhin gaben sie ihr die Möglichkeit, ihre Neugierde über einen Teil seines Lebens seit ihrer Trennung zu befriedigen. So nahm sie Marias Angebot an. »Ich werde uns Kaffee machen«, kündigte Maria an. »O bitte, Rose, halten Sie hier an. Ich muß noch Kaffee kaufen.« Rose wartete in einer Parkverbotszone, während Maria sich in einem Delikatessengeschäft Zeit ließ. Durch das Fenster konnte sie beobachten, wie sie im Schneckentempo an den Regalen vorbeiging, sich dann in die Schlange vor der Kasse einreihte, ihren Platz aufgab, um noch etwas zu holen, und sich dann wieder hinten an der Schlange anstellte, die sich unterdessen verdoppelt hatte. Rose knirschte mit den Zähnen und dachte an all die Dinge, die sie viel lieber an diesem Nachmittag gemacht hätte. Es war richtig blöd von ihr, mit in Marias Wohnung zu gehen; es gab überhaupt keinen Grund dafür. Am Ende waren ihr vielleicht die Karten mit irgendwelchen scherzhaften persönlichen Botschaften an eine andere Frau peinlich. Maria hastete mit ihrer Plastiktüte zum Wagen. »Oh, die Schlange!« stöhnte sie, ohne zu bedenken, daß Rose in den Laden hatte sehen können. »Hatten Sie Ärger mit irgendwelchen Polizisten? Die sind hier sehr lästig.« Rose reihte sich in den Verkehr ein. »Wo muß ich -35-
abbiegen?« »Erste links. Dann rechts.« Sie waren nach rechts gebogen und bewegten sich jetzt im Kriechtempo, suchten einen Parkplatz, als die Welt sich veränderte. Metallsplitter flogen durch die Luft. Ein junger Baum fiel krachend zur Seite. Eine Staubwolke versperrte die Sicht. Als dann der Knall ihre Ohren erreichte, sie betäubte, spürte Rose, wie der Wagen zur Seite geschleudert wurde, bis er gegen ein geparktes Fahrzeug prallte und bebend zum Stillstand kam. Dann war da nur noch der langgezogene Schrei einer Frau, die schreckliche Schmerzen leiden mußte. Das Fenster auf der Beifahrerseite war zersprungen. Maria war mit Glassplittern übersät. Rose hätte sie beinahe geschüttelt, damit sie zu schreien aufhörte, fuhr dann aber zurück. Die Vorderseite von Marias grauem Mantel war auf der Brust und an den Schenkeln mit dunklen, feuchten Flecken bespritzt. Rose brüllte sie an, sie solle still sein. Das Schreien wurde leiser, ging in ein Wimmern über. »Das wird schon wieder gut«, sagte Rose entschieden und wünschte sich zugleich, daß es die Wahrheit sein möge. »Ich werde jetzt Ihren Sitzgurt lösen.« Sie fummelte vorsichtig an der Schließe herum, zupfte erst Glassplitter weg, ehe sie es wagte, zuzupacken. Dabei blickte sie die ganze Zeit auf die Flecken, kontrollierte, ob sie größer wurden, fragte sich, ob es gefährlich war, Maria zu bewegen, ob es nicht besser wäre, ruhig sitzenzubleiben, bis eine Ambulanz kam. Auf der anderen Seite des zersplitterten Fensters tauchte eine Frau auf. »Alles in Ordnung?« Dann sah sie Maria, die in den Sitz gesunken war. »O Gott!« stöhnte die Frau und zog sich zurück. -36-
Rose arbeitete sich aus dem Wagen, zwängte sich zwischen der zerbeulten Tür und dem geparkten Lieferwagen durch. Die Straße, die gerade noch leer gewesen war, füllte sich jetzt mit Neugierigen. Dann übertönte eine Sirene die aufgeregten Stimmen. Rose öffnete Marias Tür, wobei die Überreste des Fensters auf die Straße hinausfielen. »Maria?« »Ich will raus, raus!« »Nein, halten Sie sich still. Die Polizei wird gleich hier sein.« »Jetzt, lassen Sie mich raus!« Sie rutschte auf dem Sitzpolster zur Seite und begann die Füße nach draußen zu setzen. Maria fiel nach vorn. Rose packte sie, hielt ihre von Scherben glitzernde Schulter fest und spürte, wie Glas sich in ihre Fingerspitzen bohrte. Marias Fuß hatte sich im Henkel der Einkaufstasche im Fußraum verfangen. Ihr Schuh rutschte auf dem schlüpfrigen Kunststoff aus, als sie sich aufsetzen wollte. Rose stützte sie und hob dann die Tasche. Milch spritzte heraus. Sie ließ die Tüte auf die Straße fallen. »O Gott!« Maria schwang die Beine ins Freie. »Wie widerwärtig!« Sie begann, Glassplitter von ihrem Mantel zu schütteln. An den nassen Stellen klebten sie fest. »Rose, helfen Sie mir, diesen Mantel auszuziehen.« Maria zwängte sich aus dem Mantel. Ihr Kleid war unversehrt. Mit offenem Mund starrte Rose die glatte grüne Perfektion des Kleides an. Maria murmelte irgend etwas über die Schäden an ihrem Mantel. »Das macht Flecken, Milch. Und dabei hab' ich diesen Mantel erst vor einem Monat gekauft.« -37-
»Milch?« »Ich hab' den Karton zerdrückt. Darum hab' ich mich über und über damit bespritzt.« »Aber es hat ausgesehen wie …« »Ich muß den Mantel in die Reinigung bringen. Aber die hier an der Ecke ist schrecklich. Die haben meinen Rock ruiniert. Nein, ich muß das in die Six-Star-Reinigung bringen. Die sind sehr teuer.« Die Frau, die in das Wagenwrack gespäht hatte, kehrte jetzt mit einem Polizeibeamten zurück, sichtlich enttäuscht darüber, daß die Opfer unversehrt waren und sich über die exorbitanten Preise einer chemischen Reinigung beklagten. Das Haus, in dem Maria wohnte, befand sich ganz in der Nähe des entwurzelten Baumes. Die Druckwelle der Explosion hatte die Gartenmauer in Bauschutt verwandelt und ein in der Einfahrt stehendes Auto ziemlich übel zugerichtet. Trotz der Proteste der Polizei, die das ganze Areal abriegelte, arbeitete Maria sich durch den verwüsteten Garten und öffnete die Haustür. Ihre Wohnung lag im Erdgeschoß. Das vordere Fenster war nur noch ein Loch. Die Szene erinnerte Rose an Fotografien aus der Kriegszeit. Zwischen dem Kopfkissen und dem Federbett hatte sich ein großer Glassplitter in die Matratze gebohrt, genau an der Stelle, wo Marias Hals gewesen wäre, wenn sie geschlafen hätte. »Vergessen wir den Kaffee, Rose. Ich habe etwas Brandy.« »Und ein Heftpflaster?« Sie hatte sich den Glassplitter aus dem Finger gezogen, aber die Wunde blutete noch heftig. Sobald der Finger verbunden war, folgte Rose Maria in -38-
das hintere Zimmer. Der große Raum öffnete sich auf eine mit Ziegelplatten belegte Terrasse und einen schattigen Garten. Ein Rotkehlchen hüpfte auf die Armlehne eines gußeisernen viktorianischen Gartenstuhls und zuckte mit den Flügeln. Maria hielt ein Glas in der Hand, in das sie ein paar Fingerbreit Brandy gekippt hatte. Rose ließ sich auf ein üppiges, weiches Sofa sinken. »Das entwickelt sich ja zu einem richtig widerwärtigen Tag.« Nettes britisches Understatement, stets zur Hand, wenn die Ereignisse sich einem vernünftigen Kommentar entzogen. Eine bleierne Schwere hatte sie erfaßt, und sie war irgendwie verwirrt, wußte eigentlich gar nicht, weshalb sie hier war. Nach ein paar Schlucken von dem brennenden Brandy begann sie sich zu entspannen. Maria saß mit dem Rücken zum Fenster, die Hände um ihr Glas gefaltet, und redete. Rose ließ die Worte an sich vorbeiziehen und lauschte einfach der sich hebenden und senkenden Stimme mit ihren rollenden Rs und den verschluckten Hs. Die Bilder, die unterdessen vor ihrem geistigen Auge vorbeizogen, waren immer noch die der Sekunde vor dem Chaos, das eingetreten war, als die Explosion Mauern und Autos und Bäume zerfetzt und Fragmente in der Luft getanzt hatten. Plötzlich bemerkte sie, daß Marias Redefluß versiegt war. Vielleicht hatte sie eine Frage gestellt, jedenfalls erwartete sie einen Beitrag. Rose murmelte: »Das mit dem Auto ist wirklich lästig.« Ob sie wohl gleich ihre Versicherungsgesellschaft anrufen sollte? Nein, das hatte Zeit. Was macht es schon für einen Unterschied? »Oh, es war ein schreckliches Auto.« Maria meinte das in der Einfahrt. Roses Fragen wurden durch einen Besuch der Polizei -39-
abgeschnitten. Wessen Wagen hatte draußen geparkt? Maria sagte ihnen, daß es der ihre war. Wer bewohnte die beiden anderen Wohnungen? Sie sagte, daß im obersten Stock ein Fernsehredakteur und seine Freundin wohnten und im ersten ein Ingenieur und seine Frau. Das Gespräch war kurz und nur vorläufiger Natur; die Polizeibeamten kündigten an, sie würden später noch einmal kommen. Maria erklärte ihnen, daß sie an diesem Abend in einem Club arbeite, und die Beamten schrieben sich die Zeiten auf, wo sie ihnen zur Verfügung stehen würde. Während sie redeten, rief Rose die Versicherungsgesellschaft und anschließend den Reporter einer Morgenzeitung an. »Die Polizei vermutet, an Marias Auto sei eine Bombe befestigt gewesen. Sie haben eine Augenzeugin, die erklärt hat, der Wagen sei in die Luft geflogen, als eine Katze darunter hindurchgerannt sei.« »Wer würde denn Maria töten wollen?« Und dann fügte er recht bissig hinzu: »So schlimm ist ihre Stimme doch nicht.« »Hör zu, Colin. Keiner der Leute, die jetzt in dem Haus wohnen, kommt als Kandidat für einen Mordanschlag in Frage, aber sieh doch mal in den Akten unter Linda Asprey nach.« »Die Schauspielerin?« »Der hat die Wohnung gehört, ehe Maria sie gekauft hat. Sie hat einen Parlamentsabgeordneten geheiratet.« »Ist ja großartig. Sonst noch was, Rose?« »Oh, komm schon. Ein bißchen was mußt du ja selbst auch tun.« »Ja, aber was ist mit…« »Das ist jetzt deine Sache, Colin. Bye.« Sie legte auf. -40-
Dann wandte sie sich an Maria: »Ich muß gehen. Kommen Sie zurecht?« Maria hatte Brandy nachgeschenkt. »Sie haben die Postkarten vergessen.« Ja, das hatte sie tatsächlich. Rose setzte sich wieder, nippte und wartete, während Maria in das mit Glassplittern übersäte Schlafzimmer ging und mit zwei Postkarten zurückkehrte, die John Blair ihr von seiner letzten Auslandsreise geschickt hatte. Eine zeigte eine Ansicht der Seine und war in Paris abgestempelt. Das Datum war entweder der 13. oder der 18. September, die Ziffern waren ziemlich verschwommen. Maria kniete neben Rose, während die las. Die Karte enthielt eine witzige Bemerkung über das Wetter und den Hinweis, daß er nicht von der Stelle kam, und wahrscheinlich, wenn es nicht besser wurde, bald nach London zurückkehren würde. Die zweite war aus Nizza vom 20. Oktober. Er schrieb, alles füge sich jetzt recht gut zusammen und er würde bald wieder in Paris sein. Aber daraus war nichts geworden. Er war weiter nach Süden gefahren, nach Spanien, hatte sich in eine Stadt im Aufruhr locken lassen und war dort gestorben. Beide Karten endeten mit ›Alles Liebe‹ und dem Krakel, der seine Unterschrift war. Aber es waren keine besonderen Nachrichten, keine Peinlichkeiten. Rose strich mit dem Daumen über die Unterschrift. Erschossen. Es machte einfach keinen Sinn, nichts. Maria lehnte sich zurück, hockte jetzt auf ihren Absätzen. »Hat er Ihnen Postkarten geschickt?« Ein Kopfschütteln. »Diesmal nicht.« Rose wollte wissen, ob Maria Anrufe bekommen habe. Wenn es außer den beiden Postkarten einen Monat lang keine Kontakte -41-
gegeben hatte, dann war ihre Beziehung mit John nicht so leidenschaftlich gewesen, wie die Gerüchte das behaupteten. »John hat damit gerechnet, Sie in Paris zu treffen. Er hatte gehofft, daß Sie ihm helfen würden.« Rose wollte nicht hören, was Maria ihr sagte. Rose hielt ihr die Karten hin. »Tut mir leid, Maria, ich glaube nicht, daß wir irgendwelche Antworten bekommen werden.« Maria ließ die Hände im Schoß. »Nehmen Sie die Karten, wenn Sie sie brauchen können.« In ihren Augen lag die Hoffnung eines Kindes, das zu einem Erwachsenen aufblickt und darauf wartet, daß die Welt wieder in Ordnung gebracht wird. Zuerst spürte Rose die Versuchung, dann fühlte sie sich abgestoßen. Sie wollte sie, nein, sie konnte es nicht ertragen, sie zu haben. Also schloß sie einen Kompromiß. »Ich werde mir den Text abschreiben, für den Fall, daß es doch irgendwelche Hinweise gibt, die erst später einen Sinn abgeben. Aber ehrlich gestanden, zweifle ich daran.« Sie holte ihr Notizbuch heraus. Jetzt nahm Maria die Karten zurück und stand auf. »Ich rufe Ihnen ein Taxi.« Sie warteten, ohne viel zu reden. Das, was sie verbunden hatte, war Vergangenheit. Rose verdrängte all die Gedanken, die die Situation nur noch schlimmer machen würden. Sie weigerte sich, Spekulationen über John Blair anzustellen, wie er auf diesem üppig gepolsterten Sofa saß oder das verwüstete Schlafzimmer mit Maria geteilt hatte. Und mehr als alles andere verdrängte sie die Frage, ob die Dinge sich vielleicht anders entwickelt hätten, wenn sie auf seine Telefonanrufe reagiert hätte, als er sie in Paris zu erreichen versucht hatte. Sie erhob sich. »Die Polizei wird das Taxi nicht bis zum -42-
Haus durchlassen; ich gehe ihm besser ein Stück die Straße hinunter entgegen.« An der Haustür angekommen, wurde Maria plötzlich bleich und preßte sich die Hand auf den Mund. »Wenn wir nicht an dem Laden angehalten hätten, wären wir jetzt tot.« Die vordere Partie des Hauses, ein Stück des Bürgersteigs und der Straße waren mit weißem Plastikband abgesperrt. Uniformierte Polizeibeamte und solche in Zivil waren immer noch mit der Tatortsicherung beschäftigt und stellten Lampen auf. Eine Anzahl Journalisten mit Notizbüchern, Mikrofonen und Kameras waren zu sehen. Ehe sie zu ihnen durchkam und die obligatorischen Fragen beantwortete, mußte Rose über den aufgewühlten Garten und an den Überresten von Marias Wagen vorbeiklettern. Maria hatte recht; das Ausmaß des Schadens unterstrich das. Wenn sie in dem Delikatessengeschäft nicht so getrödelt hätte, wären sie jetzt beide tot.
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VIER Als Rose Darrow die Wohnung verließ, schloß Maria die Tür ab, zog den Vorhang zu, legte ein Violinkonzert von Bartok in ihren CD-Player, kuschelte sich auf ihrem Sofa in die Ecke, schloß die Augen und versuchte nicht zu weinen. Sie ging auch nicht an die Tür, als die Polizei zurückkam. Sie hatte sich so tief in ihr Innerstes zurückgezogen, daß der Lärm kaum bis zu ihrem Bewußtsein durchdrang. Was auch immer mit ihr schieflief (und das tat es oft und auf recht drastische Weise), sie kannte einen tiefverborgenen Ort, wo ihr wahres Ich geschützt und unversehrt war. Dort, tief in ihrem Innersten, konnte das Leben ihr nicht weh tun. Sie begab sich durch die einzelnen Schichten an jenen Ort, löste sich aus ihrer unmittelbaren Umgebung und von den Forderungen, die diese an sie stellte; dann dem anhaltenden Druck ihrer Existenz und schließlich den fundamentalen Widersprüchen ihres Wesens, die den Weg durch das Leben unvorhersehbar und gefährlich gemacht hatten. Und erreichte schließlich den Punkt, wo ihre wahre Identität, ihr Geist lebten und sie stützten und in Gang hielten. Nicht, daß Maria Worte wie Identität oder Geist benutzt hätte, ihre Begriffe waren eher emotional als sprachlich. Was schließlich hinter all den Schichten stand, war eine ruhige, in sich selbst ruhende Präsenz, die die Einsamkeit dem Applaus vorzog und sich nicht sehr darum kümmerte, was andere dachten. Bartôks Kompositionen beruhigten sie und gaben ihr -44-
zugleich Aufschwung. Was sie dabei erlebte, war Bereicherung, Ermutigung. Das Bedürfnis zu weinen legte sich. Sie entspannte sich, ihre verkrampften Glieder wurden frei, und die Falten um ihren Mund glätteten sich. Eine innere Stimme sprach in ganz einfachen, beruhigenden Sätzen zu ihr. »Du bist in Sicherheit«, sagte die Stimme. »Dir kann kein Leid geschehen; alles wird in Ordnung kommen; du hast dein Leben gut im Griff; du brauchst dich nicht um Trivialitäten zu sorgen; du wirst Erfolg haben.« Die Stimme sprach sie nicht als Maria an, sie gebrauchte einen anderen Namen, einen Babynamen, einen Kosenamen, wie man ihn einem kleinen Mädchen gibt. Auf der ganzen Welt gab es nur einen Menschen, der sie unter diesem Namen kannte, mit dem sie sich selbst ansprach, und diesem Menschen war sie nie begegnet. Die Musik endete. Sie saß eine Weile in der Stille da. Der Nachmittag war ungewöhnlich ruhig, weil an die Stelle des Verkehrslärms die Stimmen von Männern getreten waren, die das erforschten, was nach der Explosion zurückgeblieben war. Ihr Mund formte den Namen, der seit ihrer Kindheit ihr Geheimnis war. Als sie sehr jung war, hatte sie sich eingebildet, jeder besäße einen äußeren und einen inneren Namen. Und als sie später erfahren hatte, daß dies nicht so war, fragte sie sich, ob es früher einmal nicht zwei von ihr gegeben hatte, vielleicht eine Zwillingsschwester, die gestorben war. Aber ihre Mutter tat die Vorstellung von Zwillingen lachend ab und meinte, eine wie sie sei schon mehr als genug. Aber was hieß ›eine wie sie‹? Sie war anders als andere Kinder, dessen war sie sich schon seit ihrer ganz frühen -45-
Jugend bewußt. In ihr war etwas - jemand -, das sie von den anderen absonderte. Sie spielte im Staub Andalusiens mit ihren schwarzäugigen Altersgenossen und wunderte sich darüber, wie anders sie war. Ostern. Ein Dorf, eingezwängt in eine Bergschlucht, Gebäude, die der Absatz eines Riesen dort hineingezwängt hatte. Thymian und papierne Zistrosen wuchsen in der ungeheuren Leere der serrania wild, aber es war Ostern, und der herzzerbrechende Schlag einer Trommel bedrohte den Frieden. Maria hockte auf den Schultern ihres Vaters, um besser sehen zu können, wie die Prozession der Büßer sich auf sie zubewegte. Sie war von Schrecken erfüllt. Jeder Schritt des Büßerzuges wurde vom Schlag der Trommel markiert, ein Schlag, den die eng aneinandergedrängten Häuser und die Felsbrocken, die sich über ihnen auftürmten, noch verstärkten. Jeder Schlag zuckte wie ein stechender Schmerz durch ihren Körper. Sie fühlte, wie die Schläge ihr Herz trafen, es in ihrem Körper losrüttelten. Es schien, als würden die Leute sprechen. Sie berührten sich einander an den Armen und neigten den Kopf, so, wie die Leute das tun, wenn sie miteinander reden. Aber sie konnte sie nicht hören und war nicht imstande zu sprechen, zu schreien, zu verlangen, daß man sie wegtrug oder wenigstens herunterließ, damit sie weglaufen konnte. Sie konnte nur unverwandt das Schreckliche anstarren, das immer näherrückte. Und weil die Straße zu dem Punkt anstieg, wo ihr Vater stand, war sie auf Augenhöhe mit dem schwankenden, blutüberströmten Gesicht unter der Dornenkrone. Die Menge teilte sich. Erstaunt stellte sie fest, daß die Prozession von zwei Hausierern angeführt wurde. Sie -46-
erkannte sie wieder; sie brachten manchmal ihre Waren ins Dorf und bauten ihre Verkaufsstände auf. Aber heute waren ihre Verkaufsstände winzig kleine Tische, die sie aufhoben und mit denen sie weglaufen konnten. Sie rannten auf sie zu und stellten die Tische ab. Leute schossen vor, um Nüsse und Süßigkeiten zu kaufen. Dann, wenn die Ungeheuer mit ihren Kapuzen noch drei rhythmische Schritte entfernt waren, teilte sich die Menge wieder, die Tische wurden aufgehoben, die Hausierer rannten nach vorn und fingen wieder an, aus dem Fest ein paar pesetas herauszuschlagen. Jetzt, wo die Prozession sie erreicht hatte, waren neben dem Trommelschlag auch noch andere Geräusche zu hören. Sie konnte das swisch, swisch, swisch hören, wie die Schuhe der Büßer, die sich untergehakt hatten, über den Boden strichen, und auch das Keuchen ihres angestrengten Atems konnte sie hören, weil die österliche Bürde schwer wog. »Du wirst mir jetzt zu schwer«, sagte ihr Vater und setzte sie auf ein Stück Mauer, als die Prozession vorübergezogen war. Er rieb sich den Nacken und bewegte dann seine Schultermuskeln. Sie klammerte sich an ihn, und ihre Hand streichelte über sein strähniges schwarzes Haar. Auch seine beste Jacke fühlte sich rauh an; der Stoff hatte die Innenseite ihrer Beine gerötet. Die Gestalten mit ihren Kapuzen stachen sich den Weg in ihre Träume. Monatelang hatte sie Angst, sie könnte ihnen begegnen, die Straßen wurden gefährlich für sie. Aber allmählich machte sie sich tapfer, und die Worte von Erwachsenen aus anderen Zeiten hallten in ihr nach. »Hab keine Angst. Nichts kann dir etwas anhaben.« Die beruhigende Stimme in ihrem Kopf nannte sie nicht Maria, sie benutzte einen anderen, älteren Namen, und sie fühlte sich mit diesem Namen wohler. -47-
Das Telefon riß Maria in die Gegenwart zurück. Der Geschäftsführer des Nachtclubs hatte von der Explosion gehört und wollte wissen, ob ihr etwas passiert sei. Sie versicherte ihm, daß es ihr gutgehe, daß sie zur üblichen Zeit kommen werde. Es war nicht einer ihrer besten Auftritte. Sie war unruhig, angespannt. Freundliche Fragen über ihr Erlebnis, darüber, wie knapp sie doch dem Tode entronnen war, sorgten dafür, daß das Erlebte ganz vorn in ihrem Bewußtsein blieb. Ihre Kehle verengte sich, und sie hatte Angst, sie würde die Stimme verlieren. Eine Zeitlang hielt sie sich in der Garderobe auf, aber die Spiegel ärgerten sie. Sie war zu klein. Sie war zu dünn, dürr wie ein Spatz. Und häßlich war sie, mit dem breiten Mund und den großen Augen. Sie mochte ihr Aussehen nicht und würde außerstande sein, auch nur einen Ton zu singen. Sie mußte den Raum mit diesen Spiegeln verlassen. Maria ging durch den Korridor und spähte in den Club. Ziemlich voll, und all diese Leute würden enttäuscht sein und ihre Enttäuschung hinausposaunen, wenn sie ihre Stimme nicht wiederfand. Ah, da war er wieder! Mike Lowry, der Fernsehmoderator, mit einem unbekannten Mann und zwei Schauspielerinnen, die sie irgendwo einordnete. Gleich mußte sie auf die Bühne, aber sie eilte in die Garderobe zurück, kritzelte etwas auf einen Zettel und gab ihn dann einem Kellner, ehe sie ins Scheinwerferlicht trat. Maria war schon in ihrer Eröffnungsnummer, als Lowry endlich den Zettel auseinanderklappte und las: »Lassen Sie uns morgen zusammen zu Mittag essen.« Als sie den Applaus entgegennahm, nickte er zustimmend. Irgendwie schaffte sie es, den Abend hinter sich zu -48-
bringen. Ihre Stimme zitterte und war nicht unter Kontrolle zu bringen. Ein Abend, den man besser vergaß. In ihrer Garderobe erwartete sie Lowrys Antwort. »Christina's um eins«, schlug er vor. Maria stieß einen gequälten Laut aus, der in ein Lachen überging. Von allen Restaurants in London hatte er ausgerechnet dasjenige benannt, das sie meiden wollte, wegen der Assoziationen, die sich mit ihm verbanden, das Restaurant, das John Blairs Exfrau gehörte. John Blair war ein Fehler gewesen. Er war attraktiv, er war prominent, er war erfolgreich, genau die Art von Mann, mit dem Maria sich gern in der Öffentlichkeit sehen ließ. Ihr Fehler war, daß sie angenommen hatte, sie würde sich mit ihm sehen lassen können. Sie hatte ihn tatsächlich gelegentlich getroffen, so oft er in London war, aber das war äußerst selten der Fall gewesen. »Paris ist ja nur einen Lidschlag entfernt«, hatte er gesagt. »Ein Hüpfer, und du bist da.« Aber wie sollte sie, wenn sie abends doch im Club auftrat? Wenn sie in der Stadt sein mußte? Und das mußte sie, weil sie für die Klatschkolumnisten sichtbar bleiben und jene Kontakte ausbauen mußte, die sicherstellten, daß es nach der Saison im Nachtclub wieder ein Engagement für sie gab. Die Wohnung in Kensington war nicht gerade billig. Sie konnte es sich leisten, leichtfertig zu erscheinen, ein Geschöpf, das ganz der Eingebung des Augenblicks lebte, aber sie konnte es sich nicht leisten, nicht zu arbeiten. Paris war deshalb nicht bloß einen Lidschlag entfernt Paris war unerreichbar. Maria ließ Mike Lowry zehn Minuten warten, dann verließ sie den Laden auf der anderen Straßenseite und trat -49-
an seinen Tisch im Christina's. Er hob ihr sein Glas entgegen. »Auf eine neue Freundschaft«, toastete er. Es konnte alles mögliche bedeuten. Sie sah sofort, daß er seine Schauspielermaske aufgesetzt hatte. Der Charme, den er ausstrahlte, unterschied sich durch nichts von dem, den sie vom Bildschirm her kannte. Nun, sei's drum. Sie erwartete ja schließlich auch eine professionelle Gefälligkeit von ihm. Ob er oder sein Produzent nun ihrem Wunsch entsprach, sie in der Talk-Show auftreten zu lassen, die er moderierte - jedenfalls würde sie mit ihm gesehen werden. Ihre Identität als jemand aus dem magischen Zirkel Londons würde durch seine Nähe Auftrieb erhalten. So pflegte sie immer ihre Männer auszuwählen. John Blair hatte zuletzt am Telefon zu ihr gesagt: »Ich kann dieses Wochenende doch nicht zurückkommen. Die Story fügt sich gut zusammen, aber ich muß mir noch einen Mann schnappen, der am Samstag in Nizza sein wird. Ich werde an dich denken.« Das bezweifelte sie. Für John gab es Interessanteres als ihren Eröffnungsabend. Aber sie hatte einen Rockkritiker aufgegabelt, der sich unter den Gästen befand, und dies hatte über einige Umwege zu einem Profil in einer der besseren Sonntagsbeilagen geführt. Die Zitate waren bedrückend ungenau gewesen, und das Foto hatte sie wie fünfzehn aussehen lassen. Aber das machte nichts. Eine halbe Million Zeitungsleser, die bisher noch nichts von ihr gehört hatten, lasen an jenem Tag ihren Namen. Gut. Mike Lowry bot ihr einen ausgezeichneten Lunch. Er bezahlte natürlich. Das taten sie immer, die Männer, die ihre Einladung annahmen. Ohne Zweifel gingen sie ihre Beziehung mit offenen Augen ein und wußten, daß es mehr zu bezahlen gab als Mahlzeiten und daß die Währung nicht immer Bargeld war. -50-
Maria war hübsch und keck, eine auffällige Gestalt. Während des Mittagessens zog sie die Blicke anderer Gäste auf sich, ehe die ihren Begleiter bemerkten. Sie nahm es wohl wahr. Das war ein guter Anfang. Beim Kaffee fragte Mike Lowry: »Waren Sie bei Blairs Begräbnis?« Sie konnte sich nicht davon abhalten, einen Blick durch das Lokal zu werfen. Er begriff sofort. »Das ist schon okay. Christina erscheint hier mittags nie.« »Ja, ich war dort. Wir sind nach dem Begräbnis hierher zurückgekommen.« »Die Exfrau hat den Leichenschmaus ausgerichtet? Mhm. Ich konnte leider nicht kommen. Ich hatte vor, am Grab meiner Pflicht zu genügen, aber dann kam etwas dazwischen.« »Haben Sie John Blair gekannt?« »Seit Oxford. Ich bin ihm gelegentlich begegnet, aber seit dem letztenmal ist bestimmt ein Jahr verstrichen. Haben Sie eine Ahnung, was er in Spanien gemacht hat? Wirklich albern, sich dort umbringen zu lassen.« Rose Darrow gegenüber hatte sie einen Rückzieher gemacht und sich dafür entschieden, nicht alles preiszugeben, was sie eigentlich geplant hatte. Maria begriff ihre eigene Entscheidung nicht ganz, sie hatte nicht darüber nachgedacht, es war einfach so gekommen. Aber sie hatte keine Gewissensbisse, es Mike Lowry zu sagen. »John sagte, er würde in den Devereux-Skeletten herumstochern. Er ist von Paris aus nach Nizza gefahren, aber ich weiß nicht, was ihn schließlich nach Spanien geführt hat.« Als Lowry den Namen Devereux hörte, zuckte er zusammen. Seine Augen blickten plötzlich interessiert, als -51-
er nachfragte: »Die Parfüm-Dynastie?« »Ja. Aber er hat sich lustiggemacht, er wollte mir nicht verraten, was das für Skelette waren. Wissen Sie was darüber, Mike?« Er zog die Schultern hoch. »Das Big Business stinkt gewöhnlich, selbst das Parfumgeschäft, denke ich. Blair war vielleicht auf irgendeinen krummen Handel gestoßen. Jedenfalls nicht, das es wert wäre, dafür zu sterben.« Mit einem Blick beorderte er den Kellner um die Rechnung herbei. Das Taxi setzte Maria vor ihrer Wohnung ab und brachte Lowry ins BBC-Fernsehstudio. Das erste, was er dort tat, war der Griff nach dem Telefon. »Rose? Hier Mike Lowry.« »Eine Stimme aus der Vergangenheit. Wie geht es Ihnen?« »Ausgezeichnet. Hören Sie, warum hat John Blair Jagd auf die Devereux-Familie gemacht?« »Hat er das?« »Ach, kommen Sie, jeder weiß, daß er für Ihren Verein tätig war.« »Tatsächlich?« »In einer Kleinstadt wie London kann man doch nichts geheimhalten, Rose. Das sollten Sie jetzt eigentlich schon wissen.« »Ich lerne jeden Tag etwas Neues, Mike. Wo haben Sie das aufgegabelt?« »Eine junge Dame hat mir beim Lunch den Namen Devereux ins Ohr geflüstert. Also, bitte, hinter was war John her?« »Warum interessieren Sie sich für das Haus Devereux?« -52-
»Ich habe eine alte Tante, die ihre ganzen Ersparnisse in die Aktien der Firma investiert hat.« »Sie lügen, Mike.« »Dann hat sich ja nichts geändert.« »Versuchen Sie es einfach einmal mit der Wahrheit.« »Muß ich wirklich?« »Probieren Sie's.« Er tat so, als würde ihm der Entschluß schwerfallen, und seufzte dann in gespieltem Leid. »Na schön, wenn Sie darauf bestehen. Wir wollen nächstes Jahr etwas über sie bringen. Ich soll die ganze Geschichte moderieren. Zwischen all den Blumen und dem Gestank herumstelzen und darüber reden, wie sie ihre Millionen verdient haben und wie sie sie ausgeben. Oder sie nicht ausgeben, wie es in letzter Zeit ja häufig der Fall ist. Wenn es ein Problem gibt, wenn wir etwas nicht richtig mitgekriegt haben und die kurz vor der Pleite stehen oder irgend etwas angestellt haben, dann wäre das für mich wichtig zu wissen. Unter Freunden, Rose, was wissen Sie?« »Viel weniger, als Sie hoffen, fürchte ich.« »Im Augenblick bin ich mit allem zufrieden. Dann verraten Sie mir eben das Bißchen, das Sie wissen.« Seine Hartnäckigkeit machte sie neugierig. Dann begriff sie. »Hey, Sie suchen nach einer Ausrede. Sie haben keine Lust, zwischen den Blumen und dem Gestank herumzusteigen, stimmt's?« Er gestand es ein. »Ich glaube, das ist der langweiligste Auftrag, den die mir seit zehn Jahren erteilt haben. Davon abgesehen, bin ich entzückt.« »Aber wenn sie Pleite machen oder in den Knast gehen, wird es doch eine bessere Story.« »Sicher. Aber dann wäre ich nicht zuständig. Die würden dann jemand anderen ansetzen. Versprechen Sie -53-
mir, Rose, wenn Sie etwas Greifbares in Erfahrung bringen, rufen Sie mich an.« Das versprach sie. Und: »Angesichts meiner zukünftigen Hilfe, Mike, sagen Sie mir jetzt, mit wem Sie zu Mittag gegessen haben.« »Oh, die würden Sie nicht kennen. Eine Sängerin, sie heißt Maria Flores.« Rose biß die Zähne zusammen, um sich über das Telefon ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Maria! Warum hatte sie dann …? Sobald Lowry aufgelegt hatte, wählte Rose Marias Nummer. Sie war fest entschlossen, sie auf die Sache mit John Blair und der Devereux-Familie festzunageln. Aber niemand meldete sich. Maria saß an ihrem Eßtisch mit einem Schreibblock vor sich und drehte einen Füllfederhalter zwischen den Fingern, während sie nach einem Satz suchte. Ihr Telefon stand neben ihr, aber die Anschlußschnur endete ein kurzes Stück vor der Steckdose. Sie beugte sich über das Papier und fing wieder an zu schreiben. Auf dem Brief stand keine Adresse, nur ein Datum. Sie schrieb über ihren Gesang, nicht die schreckliche Leistung von gestern abend, sondern über die große Freude und die Erfüllung, die es für sie war, ihre Zuhörer zu verzaubern. Briefe an ihn waren immer so. Sie setzte sich elliptisch mit ihrem Leben auseinander, und an die Stelle von Tatsachen traten Empfindungen. Wenn sie redete, war das nie so intim, als wenn sie an ihn schrieb, ihre Empfindungen freilegte und ihre Träume skizzierte. Falls sie sich je begegnen würden, würde er sie nicht erkennen. Aber sie waren sich nie begegnet, und sie wußte auch, daß es nie dazu kommen würde. Er antwortete auch nie auf ihre Briefe. -54-
FÜNF New York. Der Loft eines Künstlers. In der Mitte türmte sich ein halb fertiggestelltes riesiges Gebilde aus weißem Kunststoff mit zwölf klaren Blasen aus Kunststoff in die Höhe. In den Blasen war noch nichts. Ellie stieg in dem Loft herum, schnüffelte den Klebstoffgeruch, der in der Luft lag. Sie hörte ein Geräusch. Sam stand in der Tür. »Die Queen«, sagte Ellie. »Ein Computer.« Sie nickte zustimmend, und ein Sonnenstrahl fiel auf ihr platinblondes Haar. Dann fragte sie: »Wie viele hast du jetzt?« »Monroe. Mandela. Einen Streifencode. Charlie Chaplin. Äh …« »Du hast Presley und Che Guevara vergessen.« »Ja. Das liegt vielleicht daran, weil ich mir mit den beiden noch nicht ganz sicher bin.« »Che Guevara mußt du unbedingt nehmen. Was machst du mit der weichen Dali-Uhr?« »Ja, die kommt rein. Was ist mit Hitler, haben wir uns für oder gegen ihn entschieden?« »Wir? Das ist deine Sache, Sam.« Er ging auf sie zu und schob den Arm um die Stelle, wo er unter dem voluminösen Pullover ihre Taille vermutete. Jetzt blickten sie beide auf das Gebilde mit den zwölf Blasen. Er sagte: »Und ich war so dumm und dachte, daß es einfach sein würde, zwölf Symbolgestalten für das zwanzigste Jahrhundert auszuwählen.« -55-
»Das wäre es auch gewesen. Es wäre dir sogar sehr leichtgefallen, wenn ich dich nicht darauf hingewiesen hätte, daß du ursprünglich nur amerikanische Bilder gewählt hattest.« Sam trat einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Hm, ich bin immer noch sauer, daß ich Mickey Mouse verschrottet habe.« Ellie sagte, sie sei gerade erst gekommen und hätte vor, etwas zu essen und dann zu arbeiten. Er blieb nachdenklich vor seinem Werk stehen. »Hm? Ja, natürlich. Weißt du, Ellie, ich bin mir mit Chaplin noch gar nicht sicher. Ich meine nicht zu Lasten von Kennedy.« »Ich werde uns Tee machen.« Die Küche befand sich im Stockwerk darunter. Sie hatte erwartet, daß Sam zu ihr kommen würde; als er das nicht tat, trug sie ein Tablett ins Atelier hinauf. Sam stand immer noch nachdenklich vor ›Symbolgestalten des 20. Jahrhunderts‹, dem freilich noch die Symbolgestalten fehlten. Ellie goß zwei Tassen ein und reichte ihm eine. Er war weder hilflos noch faul, aber immer wenn sie da war, erwartete er von ihr, daß sie ihn umsorgte. Ellie war fest entschlossen, das zu ändern. Aber irgendwie kam sie nie dazu, das Thema wirklich anzugehen. In dieser Hinsicht war er noch schlimmer als ihre anderen Männer, dafür aber besser im Bett. Gelegentlich fragte sie sich, ob das wirklich so war, und machte sich den Vorwurf, daß sie jeden neuen Lebensgefährten zu seinen Ungunsten mit seinem unmittelbaren Vorgänger verglich. Aber daß er ein besserer Liebhaber war, stand außer Zweifel. »Sam, störe ich gerade ein Genie bei der Arbeit, oder können wir reden?« -56-
»Laß uns reden.« Er lehnte sich an einen Fenstersims, schaffte es aber nicht, den Blick von seinem Werk abzuwenden. Das ärgerte sie. Natürlich war es seiner Zielstrebigkeit, will sagen seiner Selbstsucht zuzuschreiben, daß er imstande war, die Skulpturen zu schaffen. Das verstand sie. Trotzdem ärgerte es sie, daß er ihr weniger Aufmerksamkeit widmete als einer weißen Plastikbahn mit einem Dutzend gähnender Löcher. Sie sagte: »Sam, ich will nach London zurück.« Jetzt konnte sie seine volle Aufmerksamkeit genießen. Er stellte Tasse und Untertasse weg und starrte sie mit unverhohlenem Argwohn an. »Davon hast du aber nie etwas gesagt.« »Ich sage es dir jetzt.« »Nun, auf wie lange?« Das war seine Art, sie zu fragen, ob sie ihn für immer verlassen würde. »Ich weiß nicht. Vielleicht einen Monat, vielleicht auch zwei. Es ist wegen des Buches. Du hast immer gewußt, daß ich deswegen irgendwann einmal zurück muß.« Sie war Kunstgeschichtlerin und schrieb vom feministischen Standpunkt aus. Der Großteil ihrer Recherchen war abgeschlossen gewesen, ehe sie in New York zu ihm gezogen war. Er hatte gemeint: »Die Wohnung ist riesengroß. Drei Zimmer und dazu das Atelier. Da findest du doch irgendwo einen Platz für deine Schreibmaschine.« Sie hatte ihre Zweifel gehabt und eigentlich gehofft, ihn in London festzuhalten, sich aber schließlich von ihm überreden lassen. Und im großen und ganzen war es auch ganz gut so. Sie war vorher noch nie in New York gewesen. Bloß - es gab unendlich vieles, was sie von der Arbeit ablenkte, und das Buch dauerte eine Ewigkeit. Sie fuhr sich fest. -57-
Sie trat hinter die Plastikbahn und blickte durch die klare Folie einer Blase auf Sam, der immer noch am Fenster stand. »Ich habe mich festgefahren«, sagte sie. »Das hast du schon einmal so empfunden. Und dann hast du dich wieder gelöst.« »Ich weiß. Aber es ging doch nicht ganz, und ich habe das Gefühl, es wird auch nicht richtig weitergehen, bis ich mich an meinen eigenen Schreibtisch in meinem eigenen Winkel von London setze.« »Zwei Monate?« Er fuhr sich wieder durchs Haar. »Dann würdest du im Februar zu meiner Ausstellung wieder hier sein?« »Die würde ich mir nie entgehen lassen.« Sie trat hinter der Skulptur hervor und zu ihm und gab ihm einen Kuß. »Denk daran, mich zu vermissen, Sam.« Er zog sie an sich, aber sie wußte, daß er über ihre Schulter immer noch auf dieses verdammte Plastikgebilde starrte und nichts anders als seine Ausstellung im Februar im Sinn hatte. Bis das vorbei war, würde alles andere für ihn nur beiläufige Bedeutung haben. Sie löste sich von ihm und trug die leeren Tassen weg. »Ich werde versuchen, Mitte nächster Woche einen Flug zu bekommen.« Aber sie bekam keine Antwort, nicht einmal einen von Sams geistesabwesenden Seufzern. Er erinnerte sie an irgend jemanden. Als sie ihm das erstemal auf einer Ausstellung in London begegnet war, hatte sie das verrückte Gefühl, daß er jemand war, den sie bereits kannte, ein alter Freund. Und sie waren auch genauso locker und leicht ins Gespräch gekommen, als ob er ein alter Freund gewesen wäre, und ihre Liebe hatte sich ebenso selbstverständlich ergeben. Er war auf seine Art bezaubernd, aufregend, sie konnte von ihm lernen. -58-
Als er sie das erstemal zum Lunch eingeladen hatte, hatten sie sich auf ein Restaurant in der Nähe ihrer Wohnung geeinigt, weil sie beide anschließend noch etwas zu erledigen hatten. Sam hatte sie abgeholt; aber während sie ihre Handtasche nahm, hatte das Telefon geklingelt. Sie hatte mit dem Gaswerk diskutiert, während er über ihren Busen gestrichen hatte. Der Mann vom Gaswerk hatte auf sie eingeredet, weil sie nicht dagewesen war, als er den Herd hatte reparieren wollen, und Sam hatte an ihrem anderen Ohr geknabbert, während ihre Brustwarzen sich hart gegen seine Hand preßten. Sie hatte versucht, sich gegen den Anrufer durchzusetzen, aber Sams Atem war plötzlich in ihrem Haar, und seine Lippen zogen eine heiße Linie an ihrem Hals. Der Mann vom Gaswerk hatte ihr einen neuen Termin für die Reparatur angeboten, und sie hatte versucht, sich Sam zu entziehen, um ihren Terminkalender zu holen … keine Chance. Zu spät! Als sie sich umgedreht hatte, glitt seine Hand vorn in ihren Rock, und er zog sie an sich. Der Mann vom Gaswerk war vergessen gewesen, genau wie ihre Absicht, ins Restaurant zu gehen. Als der Augenblick gekommen war, in dem Sam in sie eindrang, hatte sie die Augen geschlossen und sich das Gesicht eines anderen Mannes ausgemalt, dessen Haut die ihre berührte. Diese Phantasie ließ die Erregung, die Sams Stöße ihr bereiteten, die des anderen werden, machte Sams Stöhnen und schließlich sein befriedigtes Aufseufzen zu dem des Mannes ihrer Gedanken. Das war ein altes Spiel von ihr. Sie hatten sich den ganzen Nachmittag geliebt. Ellie und Sani und der Schatten, der auf gewisse Weise bei ihnen war. Sie hatten Verabredungen, Mahlzeiten, das Telefon und die Türglocke ignoriert. Draußen hatten Vögel -59-
gezwitschert, der Verkehr hatte sich zur Rush-hour aufgebaut und wieder gelegt. Immer wieder hatten sie sich geliebt - bis er sich spät in der Nacht angezogen hatte und gegangen war. London hatte nicht lange gewährt. Sam hatte es gejuckt, nach New York zu gehen, und um ihn nicht zu verlieren, war sie mitgekommen. Er hatte recht, eigentlich hätte es in dem Stadium des Buches, in dem sie sich mit dem eigentlichen Schreiben befaßte, überhaupt keinen Unterschied machen dürfen. Und doch hatte es das. Dieselben kleinen Beeinträchtigungen, die ihn zu seiner Arbeit nach New York zurückdrängten, zogen sie jetzt nach London. Und dann gab es noch einen Faktor. Den Tod von John Blair. Sie hatte einen Anruf von einer Frau bekommen, die verstand, daß ihr der Tod naheging. John lebte nicht mehr, praktisch betrachtet machte es also überhaupt keinen Sinn, in der Stadt zu sein, in die er nie wieder zurückkehren würde. Und dennoch wollte Ellie das, sie sehnte sich sehr danach, in London zu sein. »Das Leben«, hatte John Blair ihr gegenüber einmal bemerkt, als er sich darauf vorbereitete, zu einer seiner Reisen aufzubrechen, einem seiner Abenteuer, wie sie es nannte, »ist eine einzige lange Frage. Wir sind immer auf der Suche nach etwas, das wir nicht kennen oder nicht begreifen können. Würdest du das nicht auch sagen, Ellie?« Darauf hätte es einer passenden Antwort bedurft, aber sie hatte es verpatzt. Doch auch jetzt hatte er nur gelacht und sie aufgefordert, sich einen frischen Drink zu bestellen, dafür sei gerade noch Zeit, ehe sein Taxi kommen und ihn zum Flughafen bringen würde. Und so hatte sie ihn in Erinnerung: seine leise Ironie, sein Lachen und die immer leicht spöttisch wirkende Tiefgründigkeit, -60-
auf die sie regelmäßig nicht gefaßt war. Zuerst war es die Sprache gewesen, die ihr Schwierigkeiten machte. Aber nachdem sie sich zum Bleiben entschlossen hatte, wandelte sich ihr Englisch, und man konnte ihr nur noch selten den ausländischen Akzent anmerken. Sie hatte John Blair ebensolange gekannt, wie sie in England gewesen war. Er war ihr ein Führer gewesen, ein Lehrer, jemand, der sie ermutigte, ein Freund, der sie zum Lachen brachte. Sie hatte das Glück gehabt, daß ihr viele Leute behilflich gewesen waren. Aber gleich nachdem sie den Anruf aus London erhalten hatte, wußte sie auch, daß der Platz, den John Blair in ihrem Leben hinterlassen hatte, immer leer bleiben würde. In der Wochenmitte nahm Ellie wie geplant ein Flugzeug nach London und ließ sich zwei Tage Zeit, wieder in ihrer Wohnung heimisch zu werden, ehe sie Rose Darrow anrief. »Ich bin wieder zurück und möchte dir noch einmal danken, daß du mir wegen John Bescheid gesagt hast.« Roses Stimme klang erfreut darüber, sie zu hören, wie das immer der Fall war. »Ellie, ich wünschte, es wäre mir früher eingefallen. Plötzlich kam mir die Idee, daß wahrscheinlich sonst niemand daran gedacht hatte.« »Oder nicht gewußt hatte, wo ich zu erreichen war. Ich war ziemlich schwer zu fassen, obwohl ich nicht mehr so flatterhaft bin wie früher.« »Das Buch«, vermutete Rose. »Du hast einfach die Zähne zusammengebissen und dich hineingestürzt. Wie wunderbar diszipliniert du doch bist!« »Huuh!« japste Ellie und dachte an die Trödelei in New York, wie sie sich immer wieder festgefahren hatte. »Können wir uns treffen, Rose? Ich würde nur zu gern all -61-
die Dinge hören, die sich in meiner Abwesenheit hier zugetragen haben.« Rose blätterte in ihrem Terminkalender. »Wäre es dir zum Tee recht? Ich habe ziemlich viel zu tun, und ich muß am Sonntag nach Paris. Aber wenn wir uns heute nachmittag im Strand treffen können, dann kann ich es dazwischenschieben. Am Nachmittag bin ich auf dem Gericht verabredet. Geht das?« Ellie sagte, es passe sehr gut. Sie schlug das Café im Courtauld vor. Damit hatte sie den Vorwand, den sie suchte. Es lohnte sich nicht, eine ernsthafte Arbeit in Angriff zu nehmen, wenn man dabei dauernd auf die Uhr sehen mußte. Statt dessen steckte sie sich ihr Notizbuch ein und machte sich zur Wirt-Bibliothek im Courtauld-Institut auf den Weg. Sie zog sich um, vertauschte ihre Alltagsjeans gegen einen kurzen Rock und einen Ledermantel. Das Haar steckte sie sich mit zwei silbernen Kämmen hoch. Rose Darrow sah immer so gut, so teuer aus, und dabei war sie zehn Jahre jünger, erst achtundzwanzig. »Ich bin da mit einer Recherche wegen Frans Hals abgelenkt worden, aber es macht großen Spaß«, gab Ellie später Rose gegenüber zu. »Ich wußte gar nicht, daß du dich für die holländischen Maler interessierst.« »Nein, die sind überhaupt nicht mein Gebiet, nicht das siebzehnte Jahrhundert, aber da ist eine Frage aufgekommen, und die läßt mich einfach nicht los. Ich weiß, was die Fachleute über Hals sagen, aber ich würde es gern selbst finden.« »Das mußt du mir erklären.« Rose nippte an ihrem Earl Grey. -62-
Ellie erläuterte, es ginge um Pendants, um Männer- und Frauenporträts, die man nebeneinander aufhängen mußte. In manchen Fällen, zum Beispiel bei den Gemälden von Stephanus Geraerdts und seiner Frau Isabella Comyns, gab es keinerlei Anlaß daran zu zweifeln, daß die beiden Bilder etwa nicht ein Paar wären. Ihre Augen verraten ihre Liebe, und seine Hand greift nach der Rose, die sie ihm hinhält. Überhaupt keine Zweifel. »Andererseits existieren ein paar recht unglückliche Paare, die in unterschiedlichem Stil und zu unterschiedlicher Zeit gemalt sind. Da gibt es zum Beispiel einen schneidigen Burschen in der National Gallery of Art in Washington, den Hut schief auf dem Kopf, in ein wallendes Cape gehüllt, von dem man seit Jahren behauptet, er gehöre zu einer langweiligen Frau im Louvre. Seit man sein Bild restauriert hat, sind die Stimmen der Experten, die an der Paarung zweifeln, lauter geworden. Du mußt wissen … Aber ich sollte hier jetzt wirklich keinen Vortrag halten.« »Nun, du hast mich neugierig gemacht.« »Wirklich? Dann schau dir das an.« Sie zeigte Rose eine Fotokopie des Mannes aus der Washingtoner Galerie. »Pendants waren damals sehr in Mode; jedesmal, wenn man ein Porträt aus Holland sieht, fragt man sich fast automatisch, ob man vielleicht nur die eine Hälfte eines Auftrags vor sich hat. Aber verschiedene Hinweise deuten daraufhin, daß das in diesem Fall zutrifft.« »Was zum Beispiel?« »Nun, es handelt sich um ein Dreiviertelporträt, so wie Hals meistens seine Pendants malte. Und er ist leicht nach links gewandt abgebildet, zu der Seite hin, wo man immer die Frauenporträts aufhängte.« Seine Locken reichten bis zu seinem spitzen -63-
Kambrikkragen, der Hut mit der hohen Krone saß keck etwas schief auf seinem Kopf, und die auf die Hüfte gestützte Hand hatte den kurzen Umhang zur Seite geschoben. Wirklich eine schneidige Gestalt. »Okay«, sagte Rose, »und jetzt laß mich sie sehen.« Die Dame aus dem Louvre wirkte unscheinbar, eine mütterlich aussehende kleine Frau, die für das ungeschulte Auge keinerlei Beziehung erkennen ließ. »Siehst du?« In Ellies Augen lag Triumph. »Das ist nicht nur der Stil. Sie korrespondieren nicht.« Rose wollte natürlich wissen, wie man sie je zusammengebracht hatte. Ellie hatte die Geschichte parat. Man hatte sie erst zu Anfang dieses Jahrhunderts in Verbindung gebracht, als ein Experte namens Wilhelm Valentiner verkündete, die beiden wären ein Paar. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß sie in der Vergangenheit miteinander verbunden waren. Der Louvre erwarb die Frau infolge eines Vermächtnisses von Dr. Louis La Caze im Jahre 1869, all das ist über die Geschichte des Bildes bekannt. Der Mann in Washington wurde wahrscheinlich 1820 von Lord Frederick Campbell an einen Vorfahren von Lord Amherst vererbt, wurde dann im Jahre 1911 in Paris an einen P. A. B. Widener in Elkins Park, Pennsylvania, verkauft und wanderte als Teil der Widener-Sammlung 1942 in die National Gallery of Art. Sie fügte hinzu: »Ich habe mich in der Witt-Bibliothek damit amüsiert, eine bessere Frau für ihn zu suchen.« »Das klingt ja wie eine Partnervermittlung.« »Sobald wir unseren Tee ausgetrunken haben, werde ich sie dir zeigen, wenn du magst.« Aber zuerst redeten sie über John Blair, wie Rose es -64-
erfahren hatte, von dem Begräbnis und über seine nicht erklärbare Reise nach Spanien. »Ich bin froh, daß ich es nicht rechtzeitig erfahren habe, um zum Begräbnis zu kommen«, gab Ellie offen zu. »Ich hätte es ohnehin nicht geglaubt.« »Ich war dort und habe es auch nicht geglaubt. Wann hast du ihn das letztemal gesehen, Ellie?« »Kurz bevor Sam und ich nach New York gingen. John hatte vor, zwei oder drei Monate später in die Staaten zu kommen, und wir haben darüber geredet, was wir tun würden, wenn wir dort dann alle zusammenkämen. Die Reise verzögerte sich, und dann haben wir sie mit der Zeit vergessen.« »Ja, ich erinnere mich, da war von einer Story die Rede, an der er dort arbeiten wollte. Du weißt ja, er war manchmal sehr verschlossen und hat nicht erzählt, um was es ging. Aber entweder war die Story nicht wichtig genug, oder er hat keine Zeitung gefunden, die die Recherchen finanzieren wollte.« Ellie vermutete, daß es etwa um die Zeit geschehen war, wo Rose und John sich getrennt hatten. Oder nicht getrennt hatten, wenn es nach ihm gegangen wäre. Er hatte zu ihr gesagt: »Ellie, sie wird wieder zurückkommen. Ich glaube nicht, daß das das Ende ist.« »Verletzter Stolz, oder ist sie so wichtig für dich?« »Sie ist anders, und ich rechne damit, daß sie zurückkommt.« »Nun, dann wünsch' ich dir viel Glück.« Er hatte nicht viel Glück gehabt, nicht mit Frauen. Oh, die Journalisten hielten ihn für einen regelrechten Glückspilz. Sie hatte oft gehört, wie sie ihn Lucky Blair nannten. Aber das war die professionelle Seite, innen sah -65-
es anders aus. Wenn Christina und er durchgehalten hätten… Aber er war in seinen romantischen Beziehungen nicht so hartnäckig wie in seiner Arbeit, und so kam es zu guter Letzt zu einer traurigen, aber freundschaftlichen Trennung. Als Ellie ihn das letztemal zu Gesicht bekommen hatte, hatten sie dieses Gespräch über Rose geführt. Wenn jemand sie gefragt hätte, hätte Ellie sicherlich gesagt, John Blair habe sich wieder verliebt. »Komm und schau dir das Hals-Gemälde von der Frau an«, sagte Ellie zu Rose. In der holländischen Abteilung der Bibliothek holte sie einen der grünen Kartons mit Reproduktionen nicht identifizierter Frauengemälde von Frans Hals herunter und verglich jede einzelne mit der Reproduktion des Washingtoner Männerporträts. »Siehst du? Darunter ist keine einzige, die so aussieht, als ob sie für ihn geschaffen wäre.« Rose stimmte ihr zu und meinte, daß die Louvre-Dame ihr auch zu klein schien. »Nein, wegen der Größe wäre nichts zu sagen, Rose, weil nämlich die seine verändert wurde. Als man ihn Mitte der achtziger Jahre restaurierte, stellte man fest, daß er auf einem andersformatigen Keilrahmen war, der seine Größe verändert hat. Man weiß nicht, wie groß er ursprünglich war. Aber wenn Hals Pendants malte, waren Mann und Frau jeweils gleich wichtig. Er hat nie einen dominanten Mann auf eine Leinwand gemalt und dann ein schwächliches kleines Weibchen auf eine andere.« Ein weiterer grüner Karton enthielt Fotokopien von Gemälden, die man Hals lediglich zuschrieb. »Was ist mit diesen?« wollte Rose wissen. »Da ist auch keine für ihn darunter.« -66-
Rose lachte. »Deine Augen leuchten wie die einer Kupplerin, Ellie. Du willst dich wohl weiter für ihn auf die Suche begeben?« Ellie fuhr fort, Bilder neben das Männerporträt zu legen und sie gleich wieder wegzuziehen, wenn sie nicht auf den ersten Blick zusammenpaßten. »Nein, eigentlich nicht. Vielleicht werde ich noch zehn Minuten hierbleiben.« »Aber wenn du weitermachen würdest?« »Das wäre albern. Das ist nicht meine Spezialität.« »Aber wenn?« »Dann müßte ich nach Harlem, wo das Hals-Museum steht, oder nach Amsterdam ins Rijksmuseum.« »Und anschließend?« »Dann müßte ich einfach nach Gefühl weitermachen und sehen, ob meine Nase mich irgendwohin führt. Aber wohl ohne ernsthafte Erfolgschance.« »Weil die Experten, die mit der Louvre-Dame nicht einverstanden sind, keinen Erfolg hatten? Nun, davon solltest du dich nicht entmutigen lassen. Du könntest einen Vorteil haben, den sie nicht besitzen: einen unverbildeten Blick.« Ellie tat das lachend als Albernheit ab. »Ich amüsiere mich nur damit, das ist alles. Im besten Fall wird eine Fußnote in meinem Buch daraus. Ich hätte das dir gegenüber gar nicht erwähnen sollen. Wenn sich jemand für ein Leben des Herumschnüffelns entschieden hat, dann bist du das. Du solltest mich in meiner Spinnerei nicht noch ermutigen, Rose. Ich muß ein Buch schreiben und habe für diesen Unsinn keine Zeit. Vielleicht wenn ich einmal alt bin, aber im Augenblick ganz bestimmt nicht.« Sie verließen das Courtauld-Institut gemeinsam; Rose ging zum Gericht, und Ellie schlenderte den Strand -67-
hinunter, um mit der Untergrundbahn nach Hause zu fahren. Nach all den Jahren war es Ellie immer noch eine Freude, durch London zu bummeln. Herumzuspazieren und unbeobachtet zu sein, alles tun und sagen zu können, wozu sie Lust hatte. Als sie an einem Reisebüro vorbeikam, ging sie spontan hinein und buchte einen Flug nach Amsterdam. Am Abend telefonierte sie mit Sam und erzählte ihm von der Reise, stellte es allerdings so hin, als handle es sich um eine zusätzliche, sehr wichtige Recherche für ihr Buch. Er redete eine Weile und meinte dann unvermittelt: »Übrigens muß ich mich zwischen Marx und Lenin entscheiden.« »Was soll das für eine Wahl sein?« »Ich glaube nicht, daß wir, wenn es um Symbolgestalten des zwanzigsten Jahrhunderts geht, den Kommunismus einfach ignorieren dürfen.« Sie ging nicht auf das »wir« ein. »Hammer und Sichel würden auch gehen.« »Ich weiß. Wahrscheinlich fürchte ich mich davor, de n Anschein zu erwecken, als wolle ich eine politische Aussage machen. Ich meine, eine zu machen, die ich nicht beabsichtige. Das Ding bekommt sowieso einen ziemlich linken Touch, was irgendwie okay wäre, aber der Kommunismus ist halt passé.« »Marilyn Monroe ist nicht links. Hitler?« »Ich dachte an Che Guevara und Mandela.« »Schlimm, daß der Teufel die beste Musik spielt, wie? Sam, wenn du auf politische Ausgeglichenheit und auf Relevanz aus bist, dann steuerst du auf eine Katastrophe zu.« -68-
»Yeah, vielen Dank, Ellie. Das muntert mich richtig auf.« »Sam, ich will doch nur sagen …« »Ich weiß, ich muß wirklich gründlich darüber nachdenken.« »Gehe zurück an den Anfang. Such dir die kraftvollsten Bilder aus, und mach dir nichts daraus, was sie sagen.« Sie überließ es ihm, sich damit herumzuraufen. Sie hatte ihm nicht erzählt, daß sie mit Rose Darrow über das Geheimnis um John Blairs Tod gesprochen hatte. Sam hatte eine Art an sich, alles aus ihrem Leben zu verdrängen, was keinen direkten Bezug zu ihm hatte. Was ihm fehlte, war eine gewisse ziellose Neugierde; ein erstaunlicher Mangel an einem Künstler, aber so war es eben. Sie besorgte ihre Wäsche, bereitete sich auf den vor ihr liegenden Tag und die Reise in die Niederlande vor. Während ihre Gedanken ganz woanders weilten, hängte Ellie eine Bluse zum Trocknen auf, faltete Unterwäsche zusammen, legte sie in ihre Reisetasche und machte sich ein paar Notizen über Dinge, die sie in letzter Minute vor der Abreise zu erledigen hatte. Sie dachte an ihr Gespräch mit Rose und wie diese ihr von John Blair erzählt hatte, von der nicht verwirklichten Story in New York und seinem letzten Auftrag, der sich mit den französischen Parfumherstellern, dem Haus Devereux, befaßt hatte. Da gab es eine Verbindung, das hatte sie sofort erkannt. Aber sie hatte das Gespräch weiterfließen lassen, ohne ihre Vermutung zu erwähnen. Sie fragte sich, ob diese Verbindung etwas zu bedeuten hatte.
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SECHS Mike Lowry, der Talkshowmoderator, zählte nicht zu den Männern, mit denen Rose Darrow sich unbedingt in der Stadt sehen lassen wollte. Aber seine Einladung war unwiderstehlich. »Maria hat eine wunderschöne Stimme, und in meiner Begleitung werden ein paar beautiful people sein. Sie müssen Ihr bestes Kleid anziehen, Rose, und kommen.« Das tat sie. Sie hatte Maria zwar schon singen hören und hielt es daher nicht für erforderlich, ihr Talent auf die Probe zu stellen, aber Lowry hatte Andeutungen gemacht, daß er etwas über die Devereuxs zu sagen haben würde. »Ach, kommen Sie schon, Mike, verraten Sie's mir am Telefon«, bat Rose. Aber er machte es ihr nicht so leicht, und so mußte sie wohl oder übel den Club aufsuchen. Der Club hatte eine kleine Flaute hinter sich, war aber renoviert worden und seit einiger Zeit wieder ›in‹. Lowry hatte einen der besten Tische. Seine Begleiter vom Fernsehen und den Printmedien vergnügten sich gerade daran, den Ruf einer Darstellerin aus einer Seifenoper zu zerfetzen. Er ließ sie gewähren und raunte Rose zu: »Habe ich richtig gehört, daß Sie jetzt dort weitermachen, wo John Blair auf so unglückliche Weise aufhören mußte?« »Nein, Mike, das haben Sie nicht.« »Schade. Meine Spione haben mir erzählt, daß jemand aus journalistischen Kreisen Sie mit Einzelheiten über das Devereux-Imperium versorgt hat.« »Du liebe Güte, muß beim BBC wenig zu tun sein! Haben die denn gar nichts gefunden, um Sie zu -70-
beschäftigen? Vielleicht ein Auftritt in Blue Peter?« »Werden Sie nicht sarkastisch, Rose. Wollen Sie etwas über die schmutzige Wäsche im Hause Devereux hören oder nicht? Ich dachte, es würde Sie interessieren.« »Ja, tut mir leid, Mike. Bitte, erzählen Sie's mir.« Sie gab sich lebhaft interessiert. »Ich bin natürlich kein Journalist.« »Nein, was sind Sie eigentlich, Mike?« »Eine Persönlichkeit, meine Liebe. Wo war ich gerade?« »Daß Sie kein Journalist sind, mir aber Enthüllungen über die Devereux liefern wollen.« »Ja, richtig. Die Rechercheure. Die Leute, die glauben, daß ich ein Programm über die Parfumbranche machen werde - was ich nicht tun werde, wenn ich mich irgendwie darum drücken kann -, nun, die sagen mir, daß in der Familie mächtiger Zoff herrscht. Der alte Herr, Maurice, wird von seinem Sohn Philippe auf die Seite gedrängt. Und Philippe wird wiederum von seinem Sohn David unter Druck gesetzt. Bis jetzt alles klar, Rose?« »Ich kann noch folgen. Aber sagen Sie mir doch, warum dieses ganze Drücken und Schieben eigentlich stattfindet.« »Warum? Die üblichen Gründe: Macht, Geld. Was sonst?« »Hm.« Sie hatte das Gefühl, daß da noch etwas sein mußte. Wenn nicht, dann handelte es sich um eine für Familienunternehmen ganz alltägliche Erscheinung. John Blair hätte sich für so etwas nicht interessiert und sonst auch niemand. »Ihr Gesichtsausdruck wirkt sehr skeptisch, wenn ich das sagen darf, Rose. Was hatten Sie sich erhofft? Blut auf dem Teppich?« »Mehr Einzelheiten beispielsweise. Ist das eine -71-
Familienzwistigkeit mit persönlichem Hintergrund? Oder will jeder die Firma in eine andere Richtung lenken? Oder ist das Unternehmen in Schwierigkeiten geraten, und jeder der Akteure versucht, sie auf seine Weise zu retten?« »Dann hat Ihnen das Gespräch mit einem gewissen Wirtschaftsjournalisten offenbar keine Erleuchtung gebracht?« »Wir haben über den Umsatz der Firma und ihre Marktposition und dergleichen geredet. Alles klang recht gut, also kam die Rede gar nicht auf Querelen in der Direktionsetage.« »Autsch! Nein, entschuldigen Sie sich nicht. Wir haben alle unsere Spezialitäten. Die Ihre ist es, schrecklich zielstrebig und ethisch zu sein, die meine besteht darin, mir Klatsch anzuhören. Sei's drum. Verstehen Sie jetzt, Rose? Ich wußte gleich, daß Sie die wirklich spannenden Dinge nicht erfahren hatten.« »Ich gestehe ganz offen, daß ich die wirklich spannenden Dinge allem Anschein nach verpaßt habe. Das heißt, ich weiß natürlich von den alten Geschichten das, was die Zeitungen den ›Fluch der Devereux‹ nennen, aber aus der heutigen Zeit weiß ich nichts, was in dem Sinn interessant wäre, wie Sie es meinen.« »Nun, viel habe ich Ihnen nicht zu bieten, schrauben Sie also Ihre Erwartungen etwas zurück. Man hat den alten Herrn - das ist Maurice - mit der Hand in der Portokasse erwischt. Geld, das eigentlich in der Firma arbeiten sollte, ist verschwunden, und es gibt großen Ärger.« Davon hatte sie nichts gehört. »Was wird jetzt passieren?« »Rose, vergessen Sie nicht, ich bin bloß ein Showmaster. Ich dachte, Sie würden das gern herausfinden wollen.« -72-
»Und es dann Ihnen zuflüstern, damit Sie den Versuch Ihres Produzenten platzen lassen können und den netten kleinen Film nicht machen müssen.« »Stimmt, Rose. Das stimmt ganz genau.« »Augenblick mal…« »Schscht, jetzt kommt Maria. Ihnen steht jetzt ein besonderes Erlebnis bevor, das verspreche ich Ihnen.« In ihrem kurzen, körperbetonten Kleid wirkte Maria noch zierlicher als sonst. Ihre dunklen Augen, die ihr Make-up noch unterstrich, leuchteten. Sie begann im Flüsterton. Etwas, das im Alltagsleben kindlich gewirkt hätte, zog die Zuhörer in den Bann. Sie war eine arme verlassene Waise, die ihre Zuwendung und ihre Aufmerksamkeit brauchte. Rose hatte vergessen, wie schön Marias Stimme klang, wie ausdrucksstark, wie sicher. Und seit sie sie das letztemal gehört hatte, war Marias Selbstbewußtsein gewachsen. Von einem Flüstern wuchs die Stimme, melodisch und süß, aber mit dem Timbre, das englische Stimmen nicht besaßen und englische Zuhörer um so mehr faszinierte. Maria zog alle in ihren Bann. Sie stampfte nicht auf der Bühne herum, sie war ganz ruhig, beinahe reglos. Und die Töne flossen scheinbar mühelos, voll und üppig. Aber mit einem Unterton, der unendliche Trauer ausdrückte. Als sie zu Ende gesungen hatte, blieb sie einen Augenblick, der ganz von faszinierender Gelassenheit und Ruhe beherrscht war, unbewegt stehen. Dann bewegte sie sich, und ihre Bewegung gab den Zuhörern die Erlaubnis zu reagieren. An ihr war etwas ganz Besonderes. Mike Lowry murmelte überwältigt: »Ich kann nicht anders, ich komme immer wieder, um sie zu hören.« »Und Sie führen sie immer noch aus?« wollte Rose wissen. -73-
»Das habe ich nur einmal getan, aber ich werde es vielleicht wieder tun.« »Sie meinen, sie hat Sie nicht wieder eingeladen?« Er schob eine Braue hoch. Rose lächelte. »Kommen Sie, Mike, jetzt tun Sie nicht so. Darf sie in Ihrer Show auftreten?« »Möglich. Soll das eine Warnung sein?« »Warum sollte ich? Maria ist schön, talentiert und eine natürliche Begabung. Sie wäre ideal in Ihrer Show.« »Das hatte ich nicht gemeint. Ich wollte wissen, ob Sie mich davor warnen, mich näher mit ihr einzulassen.« »Oh, Sie sind ein großer Junge, Mike. Ich bin sicher, daß Sie selbst auf sich aufpassen können.« Aber in Wirklichkeit war sie sich dessen nicht sicher, nicht, wenn es um eine Frau wie Maria ging. »Genau.« Und dann entwischte ihm, ehe ihm klar wurde, wie taktlos das war, die nächste Frage: »Haben Sie John Blair auch gewarnt?« Sie kamen alle immer wieder auf John Blair zurück. Das sagte sie auch. »Wenn er noch am Leben wäre und es ihm gutginge, würde keiner von uns über ihn reden, und nur einige wenige würden je an ihn denken. So ist er jetzt in aller Munde. Finden Sie das nicht seltsam?« »Das liegt an der Art seines Abgangs. Er war immer ein Mann, der das Unerwartete tat. Ich erinnere mich, als ich ihn kennenlernte, in Oxford, da gab es eine Zeit, wo er … Nun, jedenfalls, ich wollte sagen, wir haben es gern, wenn man den Tod eines Menschen erklären kann. An dem Vorgang ist ohnehin schon genügend Geheimnisvolles, ohne daß man da noch besondere Rätsel dazufügen muß. Rätsel von der Art Was-hatte-er-eigentlich-dort-verloren?« Er bot an, ihr Wein nachzuschenken. Sie machte eine abwehrende Geste, aber er ließ sich nicht abweisen, und -74-
schließlich gab Rose nach. Sie hatte nicht viel getrunken, das tat sie selten. Sie wollte weder trübselig werden noch in Bekennerlaune geraten oder am nächsten Tag verkatert sein. Aber sie hatte gehofft, noch ein wenig mehr reden zu können, ehe Mike sich seinen übrigen Freunden zuwandte. So verabschiedete sie sich ziemlich früh. John Blair hatte sich immer ein wenig über Mike Lowry und seine kometenhafte Karriere lustig gemacht. Sie waren beide nach dem Abschluß in Oxford in die Fleet Street gegangen, aber Mike war eine Katastrophe und rutschte ins Fernsehen ab, wo er zum allgemeinen Erstaunen einer der populärsten Moderatoren für leichtere Programme wurde. Im Laufe der Jahre hatte er die peinlicheren Spielshows hinter sich gebracht, sich geschickt zu den intelligenteren Sendungen hochgearbeitet und saß jetzt als Moderator der am längsten laufenden Talk-Show fest im Sattel. Er war zu einem festen Begriff geworden, einer TV-Personality, all das, was die jungen Männer sich erträumten, wenn sie sich für ein Leben in der Röhre entschieden. Aber John Blair hatte gewußt - und außer ihm eine ganze Menge Leute, ganz besonders Mike Lowry selbst -, daß es ein riesiger Erfolg war, der seinen Ursprung im Versagen hatte. Tief im Inneren sehnte er sich deshalb immer noch danach, Journalist zu sein. Als Rose nichts sagte, fuhr er fort: »Ich muß freilich zugeben, daß mir Geheimnisse Spaß machen. Alles, angefangen bei Kriminalromanen bis zu den Rätseln des Alltagslebens, zum Beispiel dem, wo einzelne Socken eigentlich hingeraten oder…« In dem Augenblick bemerkte er Maria, die sich eine dunkle Jacke über das Kleid gelegt hatte und jetzt quer durch den Saal auf sie zukam. Er baute den unausgesprochenen Satz schnell um: »Oder selbst ein Geheimnis wie sie. Wer ist sie, Rose? Wo kommt sie her? -75-
An dieser petite chanteuse gibt es genügend Geheimnisse, um mich ein ganzes Leben lang in Gang zu halten.« »Das sind gefährliche Worte, Mike«, mahnte Rose halblaut, als Maria an ihren Tisch trat. »Sehr gefährliche sogar.« Die Morgenzeitungen enthielten eine kurze Notiz über die Bombenexplosion in Marias Wohnung und brachten sie mit der vorherigen Wohnungsbesitzerin in Verbindung, so, wie das auch Rose Darrow vermutet hatte. Eine Schauspielerin namens Linda Asprey hatte einen Minister geheiratet, der mit der Nordirlandfrage befaßt war und deshalb als Zielperson der IRA galt. Obwohl es für genaue Einzelheiten zu früh war, äußerte die Polizei die Mutmaßung, daß es sich bei der Bombe um eine mit Zeitzünder gehandelt habe. Das stand freilich im Widerspruch zur Darstellung eines Zeugen der Explosion von der anderen Straßenseite, der behauptet hatte, die Katze habe die Explosion dadurch ausgelöst, daß sie unter dem Wagen durchgelaufen sei. Es gab Spekulationen, daß der Zwischenfall die Einleitung einer neuen Phase in der Terrorkampagne der IRA sein könne. Rose las den Artikel mehrmals durch und suchte nach verborgenen Informationen, da Verlautbarungen der Polizei und der Regierung häufig ebensoviel verbargen, wie sie preisgaben. Dann klingelte ihr Telefon. Der Auslandsredakteur einer der Sonntagszeitungen, ein ruhiger, schlaksiger Mann, den sie vom Sehen kannte, teilte ihr mit, daß man ihm ein Bündel mit John Blairs Habseligkeiten gebracht hätte. »Allem Anschein nach hat man die hierher geliefert, weil er damals für mich tätig war. Was meinen Sie, daß ich mit den Sachen tun sollte, Rose?« -76-
»Äh…« Sie entschied sich blitzschnell dagegen, die Sachen zu Johns Exfrau Christina zu dirigieren, die wahrscheinlich am besten hätte entscheiden können, wo sie verbleiben sollten, weil sie ja auch alle anderen Arrangements getroffen hatte. »Ich werde sie übernehmen, Ray«, hörte sie sich sagen. »Es ist nicht viel.« Er klang unbehaglich; es war eine Aufgabe, die keinen Spaß machte. »Ich werde die Sachen in ein Taxi legen und hinüberschicken.« »Gut.« Er ersparte ihr weitere Fragen, indem er erklärte, er habe sich ein paar Wochen im Nahen Osten aufgehalten und nichts von den Schüssen gehört. Er hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, irgendeinem seiner Kollegen zu sagen, daß er Blair damit beauftragt hatte, eine Story zu recherchieren. »Dann kam heute morgen ein Paket für mich aus Malaga. Man hatte das Zeug unserem Korrespondenten dort unten übergeben, und der wußte nichts Besseres, als es hierherzuschicken.« Sie sagte, er hätte damit ein Rätsel gelöst; bisher hatte niemand gewußt, für wen John tätig gewesen war oder weshalb er sich in Spanien aufgehalten hatte. »Rose, daß er in Spanien war, kann ich auch nicht erklären. Nach meiner Kenntnis wollte John nach Frankreich. Entweder hat er sich einfach ein Wochenende in der Sonne herausgeschlagen, oder er ist irgendeinem Hinweis nachgegangen, der ihn über die Grenze führte.« Ferien kamen nicht in Frage, da war sie sicher. Das wußte sie aus Erfahrung, aus vielen umgestoßenen Plänen und der Unmöglichkeit, sich mit dem Mann ein Leben aufzubauen. Zwischen seinen Storys war er durchaus imstande, sich zu entspannen, aber wenn er arbeitete, war -77-
in seinen Gedanken für nichts anderes Platz. Ray versuchte seine eigene gedrückte Stimmung mit einem kleinen Scherz aufzuheitern. »Hier werden Wetten angeboten, daß er hinter einer senorita her war.« Sie ging auf seinen leichten Ton ein. »Eine ganz bestimmte senorita oder irgendeine?« »Ehe er die Story in Angriff nahm, ging hier die Rede…« »War das die Devereux-Story?« »Richtig.« Seinem Tonfall war anzumerken, daß es ihm lieber gewesen wäre, wenn sie das nicht gewußt hätte. »Er sagte, das einzige, was ihn sonst noch beschäftigte, wäre die Jagd nach einer Frau.« Sie bereitete ihre Bemerkung frisch auf. »Eine ganz bestimmte Frau?« »Oh, ich denke, eine, die sich besonders rar machte. Ich habe ihm jedenfalls für sein chercher la femme Glück gewünscht. Das war unser letztes Gespräch.« Rose wartete auf das Taxi, hatte Angst vor seiner Ankunft und war doch gleichzeitig begierig darauf. Vielleicht würde das Bündel mit Johns Habseligkeiten ihr Antwort auf die vielen Fragen liefern, die sie plagten. Wenn sie Glück hatte, fand sie darin Hinweise auf das, was er bezüglich der Devereuxs in Erfahrung gebracht hatte, warum er nach Spanien gereist war und wer die Frau war. Bis dahin fürchtete sie, daß sie es war. Sie hatte seine Anrufe ignoriert und war fest entschlossen gewesen, sich von ihm freizumachen, ihn abzuschütteln. »Ich bin nicht für halbe Sachen«, hatte sie ihm erklärt. »Ich kann nicht auf die Weise frei sein, wie du das bist. Entweder sind wir zusammen, oder wir sind es nicht. Für mich ist es unerträglich, gelegentlich mit dir ins Bett zu -78-
hüpfen, wenn du zufällig in London bist und keine bequemere Schlafstelle findest und niemand Interessanteren hast, mit dem du das Bett teilen kannst.« Er hatte eingewandt, daß dies keineswegs seine Absicht sei. Ohne Zweifel hatte er noch mehr gesagt, aber sie konnte sich nicht genau daran erinnern. Damals war sie verärgert, verletzt und bedrückt gewesen und hatte überhaupt nicht zuhören wollen. Damals hatte sie ihn aus ihrem Leben verdrängen wollen. In diesem Gemütszustand war es für sie klar, daß es für jedes versöhnliche Wort, das er aussprach, ebenso viele unausgesprochene Worte mit konträrer Bedeutung gab. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, wie das Gespräch zu Ende gegangen war, nur daran, daß die ganze Affäre damit endete, daß sie seinen Anrufen auswich und hoffte, ihm nicht irgendwo zufällig über den Weg zu laufen. Und diese Phase endete mit der erschreckenden Nachricht, daß sie ihm nicht länger aus dem Wege zu gehen brauchte, daß es ihn nicht mehr gab. Das Taxi kam. Rose warf das Bündel auf den Boden ihres Wohnzimmers und zögerte, wog bewußt ihr Widerstreben und ihre Wißbegierde gegeneinander ab. Jemand hatte einen kräftigen Postsack gefunden und die Reisetasche für ihre unbegleitete Reise quer durch Europa einfach hineingestopft. Sie malte sich den Korrespondenten aus, wahrscheinlich ein ehrgeiziger junger Spanier, der stolz darauf war, für eine größere britische Zeitung zu arbeiten, den es aber zugleich erschreckte, daß die Effekten eines wichtigen britischen Journalisten ihm einfach auf den Tisch gekippt wurden. Rose erkannte die Reisetasche wieder und war sicher, daß da noch andere Dinge sein müßten. Zum Beispiel ein schmaler Laptop-Computer. Statt dessen waren da Kleidungsstücke, ein Paß mit vielen Stempeln, ein -79-
Führerschein, ein Scheckbuch, ein Aktendeckel mit Papieren, ein Notizbuch und ein Filofax. Sie fing mit dem Filofax an, aber für die Tage vor seinem Tod gab es gar keine Eintragungen und in den Wochen davor nur wenige. Das überraschte sie eigentlich auch nicht, da Johns Ermittlungen nicht von der Art waren, die mit förmlichen Terminen begannen. Bei ihm war es viel wahrscheinlicher, daß er irgendwo eingetroffen war, seinen Charme eingeschaltet und dann einfach begonnen hatte, sich zu den richtigen Leuten vorzuarbeiten. Sie legte das Filofax beiseite und schlug das Notizbuch auf. Seine Kurzschrift war eigenwillig, aber sie war mit ihr vertraut. Nicht so leicht zu lesen wie ein Artikel in einer Zeitung, aber für sie auch nicht gänzlich unmöglich. Rose überflog die Seiten und fing mit den letzten Eintragungen an. Er hatte drei Namen aufgeschrieben und hinter jeden ein Fragezeichen gesetzt. Der mittlere war der Name des Ortes, an dem er gestorben war. Vor den drei Namen waren Notizen in einem Mischmasch von Kurzschrift und hingekritzelter Langschrift. ›Gib-Verbindung prüfen‹. ›D sagt.‹ Das Wort sagt war unterstrichen, was vermutlich andeuten sollte, daß D - wer auch immer er war - John nicht unbedingt glaubwürdig erschien. Auf den vorangegangenen Seiten fielen die Worte ›Schnee‹, ›tarnen‹ und ›Ramirez‹ auf. Und dazwischen war häufig der Großbuchstabe D zu finden. John Blair hatte auf den Umschlag des Notizbuchs August geschrieben; daraus konnte sie schließen, daß alles, was in dem Buch stand, seit dem Ersten jenes Monats notiert war. Andere Daten gab es nicht, sofern nicht zwischen den Notizen verteilte Ziffern Tage und Monate des Jahres bezeichnen sollten. Aus dem -80-
Zusammenhang war das für sie nicht zu erkennen. Ein großer Teil war nicht zu entziffern, anderes gab keinen Sinn, und doch schälte sich ein Bild heraus. Jemand, der ›D‹ hieß, war angerufen worden, und dann war John den Fäden jenes Gesprächs in verschiedenen Recherchen nachgegangen, darunter mit Telefonanrufen (was die fließende wörtliche Wiedergabe von Gesprächsinhalten andeutete) und auch durch persönliche Begegnungen (angedeutet durch stichwortartige Notizen, zwischen denen gelegentlich ganze Sätze in Anführungszeichen auftauchten.) Die Story? Selbst wenn man wußte, daß sie die Familie Devereux betraf, konnte man doch immer noch alle möglichen Mutmaßungen anstellen. Rose rief Ray an, der ihr den Sack geschickt hatte. »Haben Sie dem Sack etwas entnommen?« Die Pause, die er machte, reichte aus. »Ray, was war es?« »In der Kamera war ein Film. Den entwickeln wir.« »Dann will ich ihn sehen. Wann kann ich hinüberkommen?« Rose stand in seinem kleinen Käfig von einem Büro. Er war über seinen Schreibtisch gebeugt und reichte ihr die Abzüge hin, und dabei sah er wie Gary Cooper bei einem Pokerspiel irgendwo im Wilden Westen aus, das nur mit Ärger enden konnte. Er reichte sie ihr in der Reihenfolge, in der sie aufgenommen worden waren. Zehn Abzüge, der Rest des Films war unbelichtet. Schwarzweißaufnahmen: Ein Bild eines Dokuments, das vergrößert werden mußte, um lesbar zu sein; Schnappschüsse eines alten Mannes, der aus einem Wagen stieg; die Aufnahme einer nackten jungen Frau an einem Sandstrand; eine Studie von zwei von der Sonne verrunzelten alten Männern, die in einem -81-
Straßencafe Bier tranken; und dann das unscharfe, verkippte Bild eines hohen Gebäudes mit Himmel dahinter. Ray hielt ihr ein Vergrößerungsglas hin. »Hier. Es ist in Französisch. Anscheinend handelt es sich um einen Zeitungsausschnitt.« Rose starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das unscharf vergrößerte Bild des Dokuments. »Hm.« »Schade, daß man nicht erkennen kann, aus welcher Zeitung es stammt«, meinte er. »Oder warum er es fotografiert hat. Wenn er den Artikel in einer Bibliothek gelesen hatte, hätte er ihn ja sicher fotokopieren können.« Ein Mann schob mit fragender Miene den Kopf zur Tür herein. Ray sagte, er würde gleich kommen. Dann beugte er sich über den Schreibtisch, um die anderen Fotos einzusammeln und sie Rose zu reichen. »Wir haben noch einen weiteren Satz. Ach ja, und das sollten Sie besser auch zu Blairs Sachen tun.« Er griff in eine Schublade und brachte eine Kamera zum Vorschein. Die Kamera war an der Seite und hinten verschraubt, obwohl sie nicht sehr alt war. Rose hatte sie John zum Geburtstag geschenkt. Sie fragte: »Ray, führen Sie seine Story an der Stelle weiter, wo er aufgehört hat?« Ray verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand. »Wer kann schon sagen, wo er aufgehört hat? Er hatte eine Idee, der er nachgehen wollte und die sich mit den Gründen für den Niedergang des Hauses Devereux befaßte. Ich sagte okay, kommen Sie wieder, wenn Sie es fertig haben. Das war alles. Ich habe in seinem Notizbuch geblättert, konnte aber nichts damit anfangen. Ist es Ihnen -82-
besser ergangen, Rose?« »Nicht viel.« »Na ja, ich verfüge jetzt nicht über die Mittel, um noch einmal jemanden auf die Spur zu setzen, ganz besonders jemanden, der nicht den leisesten Hinweis darauf hat, wonach zu suchen ist. Also, wenn Sie die Story haben wollen, gehört sie Ihnen, Rose.« »Mir? Ich muß ein Magazin auf die Beine stellen, haben Sie das vergessen?« »Dann machen Sie das jetzt alles nur aus reiner Neugierde?« »Ich würde mir wünschen, daß ich das wüßte.« Sie drehte die Kamera in der Hand herum. Die Kratzer an der Rückwand waren tief und wiesen alle in dieselbe Richtung. Sie war offenbar auf irgend etwas Hartes getroffen und dann gerutscht. Vor ihrem inneren Auge sah sie einen Mann, der die Kamera scharfstellte und dann angestoßen wurde, so daß das Objektiv nach oben kippte und schräg ein Gebäude und den leeren Himmel aufnahm, und dann sah sie die Kamera auf den Boden fallen, wo jemand sie zur Seite trat. John Blair war versehentlich, vielleicht aber auch absichtlich davon abgehalten worden, das Bild aufzunehmen, das er gewollt hatte. Das war geschehen, als er erschossen worden war. »Ihr Korrespondent in Malaga, Ray«, sprach sie aus einem Impuls heraus, »ich hätte gern seinen Namen und seine Telefonnummer.« »Sie wissen, daß er nicht dabei war.« »Das ist unwichtig.« Er nannte ihr den Namen und die Nummer aus dem Gedächtnis. »Francisco Ramirez. Paco für seine Freunde.« Sie traten in den Flur hinaus, Ray auf dem Weg zu einer -83-
Redaktionskonferenz. Vergnügt, weil es ihm gelungen war, die Verantwortung auf sie abzuladen, sagte er: »Wenn es nach mir ginge, würde ich mich nicht mit Senor Ramirez abgeben. Ich würde Jagd auf die Schönheit machen, die vergessen hat, ihren Badeanzug für das Foto anzuziehen.« »Das kann ich mir vorstellen.« Rose lächelte bedeutungsvoll und ging. Ramirez stellte in Abrede, daß man ihm mit John Blairs Habseligkeiten auch einen Computer übergeben habe. Er stellte auch in Abrede, den Inhalt der Reisetasche untersucht zu haben oder irgend etwas über Blairs Gründe für seine Anwesenheit in Spanien zu wissen. »Er war, das wissen Sie, sehr unabhängig.« Sie sagte, das habe sie gewußt. Er schilderte ihr die Vorgänge am Tag von John Blairs Tod und betonte dabei, daß er selbst nicht Zeuge gewesen, die ganze Geschichte aber wohlbekannt sei. Eine Demonstration Streikender war unangenehm geworden, die Behörden hatten überreagiert, Schüsse waren gefallen. Sonst war niemand getötet worden und auch niemand verletzt. Die Polizei behauptete, sie habe in die Luft geschossen. »Als John mit Ihnen sprach…« »Nein, das stimmt nicht.« »Aber… ich meine nicht an jenem Tag. Ich meine irgendwann in den Wochen vor seinem Tode.« »Das hat er nicht. Wissen Sie, bis zu seinem Tode war mir gar nicht bekannt, daß er sich in Spanien aufhielt. Wenn Ihnen das jemand gesagt hat, hat er sich geirrt.« Sie beendete das Gespräch mit der Überzeugung, daß Francisco Ramirez, Paco für seine Freunde, log. Da stand -84-
es doch auf den letzten Seiten von Johns Notizen: Paco Ramirez. Und hinter dem Namen standen ein paar zusammenhanglose Notizen. Kein Telefongespräch, es las sich eher wie schnell hingeworfene Notizen unmittelbar nach einem persönlichen Gespräch. Sie kehrte nach Paris zurück, und in ihrem Kopf waren jetzt noch mehr Fragen als vorher. Wo war der Schlüssel zu John Blairs Tod? »Rose, das ist ja wie eine Detektivgeschichte«, sagte Joelle, die Assistentin aller. Ein guter policier machte ihr Spaß, aber sie las auch andere. »Jetzt bist du an der Reihe, Maigret zu spielen, Joelle.« Rose händigte ihr eine Liste mit Aufträgen aus: Die Zeit auf der Fotografie identifizieren. Presseberichte über die Devereux-Familie sammeln. Fotos der Familie besorgen. Joelle genoß den Auftritt. »Aber du, Rose, was wirst du machen?« »Das Ganze dir überlassen. Ich habe richtige Arbeit.« Stunden später flog sie nach Rom, wo sie im Vatikan ein Interview zu fuhren hatte. Joelle hat recht, dachte sie, die Devereux-Story ist spannend. Aber auch ihr Pariser Kollege mit der sanften Stimme, Steve, der sie von Johns Tod verständigt hatte, hatte recht, als er bemerkte: »Ich denke, John Blair hat aufgegeben und ist nach Spanien gefahren, um sich zu sonnen. Das war eine gute Idee, nur, daß sie ihm Unglück gebracht hat.« Und Larry, der wie eine Bulldogge aussah? Das einzige, was er hinzuzufügen hatte, war: »Um Himmels willen, Rosie, wo ist dieser verdammte Spion, auf den ich warte?« »In Prag, Larry. Lassen Sie sich über den keine grauen Haare wachsen, der bleibt uns erhalten. Wenn er soweit -85-
ist, daß er reden will, werde ich das wissen.« Sofern die Kontakte, die sie in Prag geknüpft hatte, sich die Mühe machten, ihr Bescheid zu sagen. Vielleicht sollte sie dorthin zurückkehren und selbst recherchieren. Sie würde die Reise in mehrfacher Hinsicht rechtfertigen können, nicht zuletzt auch, weil von der Frau, die sie dort als Mitarbeiterin engagiert hatte, nur ein beunruhigendes Schweigen kam. War sie krank? Unfähig? Mit einem Liebhaber durchgebrannt, statt zu arbeiten? Alles war möglich. Nach dem Vatikan-Interview aß Rose mit zwei Männern aus ihrem Büro in Rom zu Abend. Erst spät und ziemlich müde kehrte sie in ihr Hotel zurück. Sie sehnte sich jetzt nach Alleinsein und einem weichen Bett. Statt dessen fand sie eine Nachricht vor, sie solle dringend Joelle anrufen. »Tut mir leid, daß es so spät ist, Joelle, ich war den ganzen Abend aus.« »Macht nichts, ich sitze im Bett und sehe mir ein Video an. Rose, heute ist für Sie ein dringendes Fax aus Frankfurt gekommen. In dem Fax steht: ›Der unheilige Gral ist in Sicht.‹ Und es war unterschrieben mit ›Ihr Partner Will‹. Gibt das für dich irgendeinen Sinn?« »Das tut es«, sagte Rose. »Das bedeutet, daß ich nicht nach Paris zurückkommen werde. Ich gehe nach Prag.«
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SIEBEN Das Taxi setzte sie am Fuß einer Straße ab, die zum Schloß hinaufführte. Rose trat durch einen hohen hölzernen Bogen, blieb in einem düsteren Durchgang kurz stehen und sah vor sich das eiserne Gitterwerk eines Sicherheitstores. Über ihr glomm die schwächste Glühbirne, die man sich vorstellen konnte, so schwach jedenfalls, daß die Namen auf den Schildern neben der senkrechten Reihe von Klingelknöpfen unleserlich blieben. Sie strich mit der Hand über die Reihe, nahm an, daß sie von unten nach oben numeriert waren und drückte den zweiten Klingelknopf von unten. Dann ging das Licht aus. Rose fröstelte. In dem Durchgang war die Luft feucht und muffig. Sie war in einem Raum gefangen, zwischen der Straße mit ihren honigfarbenen Häusern aus dem 18. Jahrhundert und einem grauen Innenhof, dessen Linien von den schrägen Formen eines hölzernen Gerüsts unterbrochen waren. Eine Stimme rief zu ihr herunter und ließ sie zusammenzucken: »Iste Anglican?« Sie sagte ja. Über ihr leuchtete zu ihrer Rechten eine andere geisterhafte Lampe auf. Sie hörte Füße, die sich bewegten, und dann tauchte oben an der steilen Treppe ein Kind, ein etwa zehnjähriger Junge, auf. Er fragte mit ernster Stimme: »Rose?« Und als sie dies bestätigte, fügte er ebenso bedächtig hinzu: »Guten Abend.« Es war nicht Abend. Er öffnete das Eisentor und bedeutete ihr einzutreten. Ein gekachelter Eingangsflur, -87-
ein Badezimmer, eine Küche, ein großes Wohnzimmer mit einer Gewölbedecke und dahinter ein Schlafzimmer. Sie hatte jetzt eine Wohnung in Prag, solange sie sie haben wollte. Der Junge wartete besorgt auf ihre Zustimmung. Sie sagte ihm, daß sie sie nehmen würde. »Je hyezky.« Er nickte, zu scheu, um ihr Lächeln zu erwidern. Sie fragte ihn, wie er heiße. »Karel.« »Nun, vielen Dank, Karel. Dekuji.« Jetzt bekam sie das Lächeln. Er reichte ihre zwei Schlüssel, einen für das Tor und einen für den Wohnungseingang. Mit Zeichensprache erklärte er ihr, welcher Schlüssel in welche Tür paßte. Dann wünschte er ihr wieder ›Guten Abend‹ und rannte hinauf. Die Hitze, die in der Wohnung herrschte, war bedrückend. Sie suchte nach einem Thermostat, um die Zentralheizung herunterzudrehen, und als die Suche zu keinem Ergebnis führte, machte sie sich daran, die Heizkörper einzeln abzuschalten. Zum Auspacken brauchte sie nur wenige Minuten, dann verließ sie die Wohnung und ging den Hügel wieder hinunter, vorbei an Schaufenstern voll plattgedrückter Würste und langer, zylindrischer Knödel, vorbei an einer Schlange, die sich vor einem Metzgerladen aufgereiht hatte, und einer weiteren an einer Straßenbahnhaltestelle, vorbei an einem Schaufenster mit Brot und Semmeln und kleinen Laiben, die von ihrer Salzglasur glänzten, vorbei an mittelalterlichen Arkaden und in Barockgebäude hineingezwängte Läden, über Pflaster mit teilweise lockeren Steinen, aber immer in Richtung Karlsbrücke. Willi würde dort auf sie warten. Ja, sie erkannte ihn schon von weitem. Mit seinem dunklen Mantel und dem blonden Haar lehnte er an der Brüstung und blickte -88-
hinunter. Er hörte sie nicht kommen, bis zum letzten Augenblick, dann drehte er sich mit einem entzückten »Ah, Rose!« um und begrüßte sie, indem er sie liebevoll an sich drückte. Auf dem Platz unter ihnen quälte sich eine Kette von Ponys Nase an Schwanz in einem Käfig unter einem Baldachin immer im Kreise. Abgestumpfte Kinder saßen auf ihren Rücken. Ganz in der Nähe hatte eine Filmgesellschaft ihren hohen grauen Lieferwagen geparkt, und ein Mann, der als Joseph K. gekleidet war, lehnte an dem Wagen und trank aus einem dicken Porzellanbecher Kaffee. »Diese Tiere«, bemerkte Willi, »haben den langweiligsten Job in ganz Prag.« »Noch schlimmer als auf der Brücke rumzulungern und auf einen Führer zu warten, der nie auftaucht?« »Diesmal wird er kommen, das kann ich versprechen.« Sie schlenderten ein paar Schritte auf der Brücke dahin. In improvisierten Verkaufsständen waren böhmisches Porzellan, russische Armeemützen mit den kuschligen Ohrklappen aus Pelz, Ohrringe und Gemälde von Prag zur Schau gestellt. Ein paar Leute sangen Volkslieder, darunter auch das Mädchen in den schimmernden Leggings, das unter einer Laterne die Saiten ihrer Gitarre schlug. Der Möwenfänger warf eine Handvoll Brotkrumen in die Luft, und die Vögel stießen herunter und bogen zur Seite. Ein Dutzend deutsche Touristen blieben neben ihm stehen, während ihr Fremdenführer etwas von den Heiligen und Königen schrie, ganz besonders über den heiligen Johannes Nepomuk, der verpflichtet war, jeden zu retten, der in die Moldau fiel. »Und tut er das?« fragte jemand. Der Führer hatte eine schlagfertige Antwort auf -89-
die vorhersehbare Frage parat und eilte weiter, um Fakten und Märchen über den Bau der Brücke, die Burg, die den Hügel krönte, und St. Veit und seine Kathedrale zu rezitieren. Andere Touristen kamen einzeln oder in Grüppchen und verweilten, um auf die schäumenden Wasserfluten am Wehr hinunterzublicken oder auf den tiefhängenden Himmel, der sich düster im Wasser widerspiegelte. Willi und Rose bemühten sich, wie Touristen auszusehen, und plauderten miteinander, beobachteten aber das Geschehen auf der Brücke mit scharfem Blick. Eine Gruppe wohlhabender Russen, die Frauen nach der letzten Mode und in Zobelmäntel gekleidet, nahmen den Platz ein, den die Deutschen freigemacht hatten, und hörten eine andere Version der Fakten und Märchen. Als sie auch weiterzogen, kam ein Mann zielstrebig auf Rose zu, und sie spürte ein Ziehen im Magen. Das war also der Bote. Aber er ging vorbei, redete mit dem Möwenfänger, half ihm seine Säcke sichern und wegtragen. Ein eisiger Wind wehte den Fluß herunter und zerzauste das Haar der Männer, als sie weiterzogen. Die Farben verblaßten. Die Verkäufer wickelten ihre Ware sorgfältig ein, klappten ihre Tische zusammen und zählten die Tageseinnahmen. Die Touristen schmolzen dahin, das Mädchen hörte zu singen auf und steckte das Kleingeld ein, das man in seinen Gitarrenkasten geworfen hatte. Plötzlich war kein Laut mehr zu hören außer dem windzerzausten Wellenschlag des Wassers und dem Rhythmus von Schritten auf dem Steinpflaster. »Kommen Sie bitte mit mir.« Die Stimme des Mädchens war weich und klar wie sein Gesang. Willi starrte es ungläubig an, aber Rose fragte: »Warum haben Sie uns warten lassen?« -90-
Das Mädchen ignorierte die Kritik. »Kommen Sie.« Der Wind zupfte an ihnen. Rose mußte kämpfen, um ihr Kopftuch zu bändigen, und spürte, wie die eisige Luft ihre Wangen rötete. Das Mädchen in dem selbstgemachten Minirock hingegen schien das sich verschlechternde Wetter überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es führte sie zu der Verkehrsampel unter dem Brückenturm, bedeutete ihnen mit einer Handbewegung zu warten, obwohl der Verkehr eine Lücke anbot, steuerte sie durch ein paar verwinkelte Gassen und brachte sie schließlich zu einem hohen Haus in der Altstadt. Unterwegs wechselten sie kein einziges Wort. Das Mädchen klingelte. Als die Tür sich öffnete, winkte sie ein gebeugter, von Zigarettenrauch eingehüllter Mann ins Innere. Die Tür schloß sich sofort hinter ihnen. Das Mädchen war ihnen nicht gefolgt. Mit einer knappen Geste winkte der Mann sie in ein Hinterzimmer, das mit Ausnahme eines Tisches, eines Aschenbechers und eines Stuhls völlig leer war. Willi machte kein Hehl aus seiner Enttäuschung. »Wo ist Krieger? Und wer sind Sie?« »Mein Name ist nicht wichtig. Ehe Sie Krieger treffen, müssen wir über andere Dinge reden.« Willis Ungehaltenheit wuchs. »Was für andere Dinge? Wir reden jetzt schon seit vielen Wochen, und von Krieger ist immer noch keine Spur zu sehen. Warum machen Sie das?« Der Mann zog an seiner Zigarette; Willis Ungeduld schien ihn überhaupt nicht zu stören. »Er ist hiergewesen. Ja, vielleicht wird er mit Ihnen sprechen.« Jetzt schaltete Rose sich ein, weil sie befürchtete, Willi könnte das bisher Erreichte zerstören. »Bitte, würden Sie uns erklären, weshalb Krieger heute nicht hier ist und -91-
wann wir ihn endlich sehen können.« »Er möchte, daß ich Ihnen zunächst einige Fragen stelle. Sie müssen verstehen, daß er kein Mann ist, der sich mit jedem trifft.« Sie murmelte halblaut, daß sie das schon mitgekriegt habe. Dann: »Wir möchten beide mit Krieger verhandeln. Es geht hier nicht um Dinge, die andere für ihn entscheiden können. Und solange wir nicht direkt mit ihm sprechen, gibt es wirklich keine Möglichkeit, voranzukommen.« Willi sagte dasselbe noch einmal, nur ausführlicher, aber der Mann war nicht umzustimmen. Er zündete sich am Stummel der letzten eine neue Zigarette an und ließ die beiden reden. Er war der Mann, mit dem Rose mehrere Male telefoniert hatte, das leugnete er nicht. Er saß auf dem wackeligen Stuhl und erzeugte eine Wand aus Rauch zwischen ihnen. Ihr wurde übel von dem Qualm. Sie wollte jetzt einfach zur Sache kommen. »Hören Sie, soll das auf umschweifige Art sagen, daß Krieger uns überhaupt nicht sehen will?« Ein Ausdruck der Unschuld. »Nein, nein, das habe ich nicht gesagt.« »Gut«, erklärte sie, »dann sagen Sie - sagt er -, daß er uns empfangen will?« »Vielleicht.« Jetzt wurde sie wirklich ungehalten. »Wenn Sie uns einfach erklären würden, was das alles soll!« Er balancierte seine Zigarette auf dem Rand des Blechaschers. »Die Dinge sind nicht einfach. Weil es keine Grenzwachen mehr gibt, glauben Leute wie Sie, daß alle Dinge einfach sind. Ich sage Ihnen, das sind sie nicht.« -92-
Als sie wieder auf der Straße waren, platzte es aus Willi heraus: »Die machen sich über uns lustig, Krieger und dieser Mann und dieses Mädchen mit der Gitarre und der Himmel weiß, wer sonst noch. Rose, ich glaube, Krieger ist für mich jetzt unten durch. Soll doch ein anderer Verleger hinter ihm herjagen und ihm in den Hintern kriechen. Überlegen Sie doch: Wenn ich ihn schließlich sehe und er sich auf einen Vertrag einläßt, kann ich ihm dann vertrauen, daß er sein Wort auch hält? Ein Mann, der eine Verabredung nicht einhält?« »Wir brauchen etwas Beruhigendes«, entgegnete sie und nahm Kurs auf die Bar eines eleganten, kürzlich renovierten Hotels. Als ihnen ihre Drinks gebracht wurden, sagte sie: »Also doch nicht Partner, Willi. Aber ich nehm' es Ihnen nicht übel, daß Sie aufgeben. Er hat uns Zeit und Geld gekostet.« »Wenn man an all die Leute denkt, die sich danach sehnen, verlegt zu werden, oder jene anderen, die Geld damit machen, indem sie Kriegers Geschichte aus zweiter Hand erzählen … Er braucht einen neuen Anfang, und den könnte sein Buch finanzieren. Ich verstehe einfach nicht, was den Mann zurückhält.« »Seine Vorsicht und die Angst, seine Tarnung fallen zu lassen«, meinte sie. »Dieser gräßliche Mann hat schon recht gehabt. Die Grenzen sind gefallen, aber die Geschichte ist nicht ausgewischt. Viele Leute hassen Krieger. Er hat so manches Leben ruiniert.« Willi stieß schnaubend die Luft aus und leerte sein Glas. »Rose, ich glaube, Sie erfinden da bloß Entschuldigungen für Krieger. Nun, meinetwegen, aber ich nehme keine Entschuldigungen für ihn an, und Erklärungen hat man mir keine geliefert. Nein, ich habe keine Lust mehr, mich -93-
um ihn zu bemühen. Morgen werde ich nach Frankfurt zurückkehren und mich um mein Geschäft kümmern, und damit ist er für mich gestorben.« Sie warf ihm einen verschmitzten Blick zu. »Also sage ich ihm, wenn ich ihn finden sollte, daß Sie kein Interesse mehr haben?« Er wand sich. »Sie werden ihn nicht finden, Rose.« »Aber wenn doch?« »Was hat das für einen Sinn? Sie glauben, daß ich zu schwach bin, ihm nein zu sagen.« »Nein, Willi. Ich glaube, Sie demonstrieren einfach den Unterschied zwischen einem Verleger und einem Journalisten. Sie können sich den Luxus leisten, diese Entscheidung zu treffen, ich nicht. Ich muß weitermachen.« Er schnaubte und fragte sie, wo sie zu Abend essen wolle. Am nächsten Morgen wurde Rose vom Klingeln ihres Telefons geweckt. Noch völlig desorientiert, brauchte sie einen Augenblick, um sich daran zu erinnern, wo sie war und warum. Eine aufgeregte Joelle war in der Leitung. »Ich habe die Information über die Devereux-Familie, Rose. Soll ich sie dir schicken?« »Ja, bitte.« »Und wie ist die Wohnung?« Joelle war bestürzt darüber, daß Rose eine Wohnung gemietet hatte, statt ein Hotel zu nehmen, und noch dazu durch die Vermittlung von Freunden, die sie wiederum durch die Vermittlung anderer Freunde bekommen hatten. »Interessant«, murmelte Rose. Und blickte finster auf den großen Calex-Kühlschrank, der die ganze Nacht über -94-
gurgelnde Geräusche von sich gegeben hatte. Mit Ausnahme von Milch, die die Eltern von Karel gestiftet hatten, war der Kühlschrank leer. Rose entdeckte eine Tüte Kaffee und ein paar Tassen in dem Metallwandschrank, dessen ächzende Scharniere ihr durch Mark und Bein gingen. Sie fand eine Kanne, machte Kaffee und versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bekommen. Willi über die Enttäuschung wegen Krieger hinwegzutrösten, hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als sie erwartet hatte. Nach dem Abendessen hatten sie eine Stunde in einer der eleganteren und weniger verräucherten Bars verbracht. Als sie sich daran erinnerte, wie sie im Halbdunkel des Eingangs nach ihren Schlüsseln herumgefummelt hatte Sicherheitstor und Wohnungstür, und bringen Sie sie nicht durcheinander -, zuckte sie zusammen. Und war da nicht ein flüchtiger Kuß gewesen, ehe das Tor zwischen ihnen zuknallte? Wäre er weniger flüchtig gewesen, wenn sie das Sicherheitstor fester in der Hand gehabt hätte? Und außerdem, was besagte der Kuß? Lebwohl, weil er heute nach Frankfurt zurückkehren würde und sie nicht wußten, wann sie, wenn überhaupt, sich wiederbegegnen würden? Oder signalisierte er einen Quantensprung in ihrer Beziehung, eine winzige Verschiebung von freundlichem Flirt zu zarteren Gefühlen? Oder war er ganz und gar einer Überdosis Alkohol und Trost zuzuschreiben? Herrgott, sie wünschte, sie wüßte es. Sie stellte fest, daß die Dusche gefährlich heiß war, der Stecker des Föns sich nicht aus der Steckdose ziehen ließ, und die ganze Wohnung sich in Dampf hüllte. Der Verputz löste sich an ein paar Stellen, fiel in Flocken auf sie herunter und klebte feucht an ihrer Haut. -95-
Rose dachte, daß ein neues Zuhause, und wenn es noch so provisorischer Natur, wie eine neue Liebesaffäre war. Man mußte die Eigenheiten der Wohnung kennenlernen, das, was sie einem durchgehen ließ, und welche Behandlung sie nicht zulassen würde. Sie argwöhnte, daß ihre Beziehung mit der Prager Wohnung eine recht komplizierte sein würde. Der Kühlschrank ärgerte sie, und die Dusche hatte einen Angriff auf breiter Front gegen sie gestartet. Aber wenigstens hatte sie einen Sieg über die Zentralheizung errungen, als sie die Hälfte der Heizkörper abgedreht hatte. Sie war noch nicht bereit, zuzugeben, daß Joelle vielleicht recht haben könnte und ein Hotel besser gewesen wäre. Der Selbstbedienungsladen, den sie später aufsuchte, war ein Abenteuer. Ehe man den Geschäftsraum betrat, stand man Schlange nach leeren Einkaufswagen, die stafettenähnlich von Kunden weitergereicht wurden, deren Rundgang vor den Regalen beendet war. Einfache Verpackungen und eine Wahl, die sich bei jedem Produkt auf eine Marke beschränkte, machte das Einkaufen unkompliziert und schnell. Da gab es kein Herumstehen und Augen, die glasig wurden, weil man einfach nicht imstande war, zwischen den rivalisierenden Behauptungen der Hersteller von Produkten zu wählen, die zum gleichen Preis angeboten wurden. Rose war bald wieder in der Wohnung und telefonierte. Sie verabredete ein Zusammentreffen mit der Frau, die in Prag für sie tätig werden sollte, sprach dann mit einem Fotografen in Rom und brachte eine Anzahl kleinerer Probleme in Ordnung. Anschließend hatte sie Zeit, in das Haus in der Altstadt zurückzukehren. Es stand am Rande von Josefov, des jüdischen Viertels mit der ältesten Synagoge in Europa und dem Friedhof, wo die Grabsteine wie Steine an einer stürmischen Küste -96-
durcheinandergewürfelt waren. Eine Gruppe Männer in Yamulkas ging vor ihr her, eine Handvoll von all den Tausenden Juden auf der ganzen Welt, die sich nach Josefov gezogen fühlen, wegen seiner Grabdenkmäler und paradoxerweise wegen des Museums, das die Nazis dort gegründet hatten: das exotische Museum einer ausgestorbenen Rasse. Die Juden bogen nach links, und Rose hatte freie Bahn. Aber als sie die Glocke an dem Haus drückte, meldete sich niemand. Sie war geduldig, versuchte es aufs neue. Niemand kam. Schließlich schlenderte sie in eine kavârna, gab dort einen lächerlichen Betrag aus und machte sich auf den Rückweg. Doch auch jetzt rührte sich auf ihr Klingeln niemand. Verdammt …! Es war Rose wirklich ein Anliegen, dem hartnäckigen Larry in Paris zu sagen, daß sie Krieger zur Strecke gebracht hatte, aber sie befürchtete jetzt sogar, ihren Kontakt verloren zu haben. Obwohl sie versuchte, sich in den umliegenden Häusern danach zu erkundigen, ob jemand wußte, was aus dem gebeugten Mann geworden war, der am Tag zuvor noch in dem Haus gewesen war, blieb die Sprachbarriere unüberwindlich. Rose mußte einen Dolmetscher holen. In der Wohnung, die dem Magazin als Büro diente, lenkte die intelligente junge Frau, die ihre neue Kollegin war, sie damit von ihrer Absicht ab, indem sie ihr einen Stapel Papiere reichte. Joelle hatte die DevereuxInformation durchgefaxt. »Rose, das Fax ist eine wunderbare Erfindung«, sagte die Frau und blickte etwas nervös auf das Wunder. »Aber wissen Sie, ich muß dabei unwillkürlich denken, um wieviel wunderbarer es noch wäre, wenn ich mich da hineinzwängen könnte und mich nach New York oder London oder sonstwohin faxen könnte.« -97-
»Das kommt noch. Die arbeiten schon daran.« Rose blätterte in den Papieren. Sie waren nicht chronologisch geordnet, man würde sie zuerst sortieren müssen. Aber warum die Eile? Sie hatte sowieso den Abend frei, sofern es ihr nicht gelang, Krieger oder den gebeugten Mann zu schnappen. Rose erklärte, was es mit dem gebeugten Mann auf sich hätte, und daß es notwendig sei, die Nachbarn zu befragen. Ihre zukünftige Kollegin steckte sich die Kämme im Haar neu zurecht. »Morgen, heute habe ich keine Zeit.« Rose hatte keine Einwände. »Ich werde gegen zehn hier sein, dann können wir hingehen.« »Sagen wir elf.« Sie einigten sich auf halb elf. Rose ging wieder und aß ausgiebig zu Mittag mit einem Mann, der sich mit der Privatisierung von Firmen befaßte und ihr faszinierende Einblicke in die Hindernisse lieferte, die vierzig Jahre Staatsbesitz geschaffen hatten. Dann nahm sie den Tee mit der Frau des Präsidenten ein, die gerade damit beschäftigt war, eine nationale Wohltätigkeitsorganisation ins Leben zu rufen, um die Lücken in der Sozialfürsorge zu schließen, die der kommunistische Staat nicht hatte in Angriff nehmen wollen. Erst am frühen Abend kam sie dazu, die Blätter in chronologischer Reihenfolge zu ordnen und sich in Ruhe mit den Papieren zu befassen, die Joelle bereits die ›Akte Devereux‹ genannt hatte. Als 1968 die Studenten von Paris auf den Straßen revoltierten, hatte Claude Devereux, ein Erbe der Parfumdynastie, seine Allerliebste, Andrée, geheiratet, die ihre Karriere als Opernsängerin ihrer Liebe opferte. Die Braut trug ein Kleid aus Wildseide, das Dior extra für sie entworfen hatte. Zweitausend Menschen aus der Welt der Reichen und Schönen kamen zu dem Empfang, darunter -98-
Staatsoberhäupter, Angehörige der europäischen Königshäuser und amerikanische Rockstars. Claude und Andrée verbrachten ihre Flitterwochen auf der Familienyacht bei einer Kreuzfahrt um die Kanarischen Inseln. Im Jahr darauf wurde ein Parfüm mit dem Namen ›Diva‹ auf den Markt gebracht. Das geschah mit einer prunkvollen Präsentation für die Modepresse und einer Werbekampagne, die sicherstellte, daß der Name auf der ganzen Welt bekannt würde, obwohl nur ein winziger Bruchteil jener, die ihn kannten, jemals die Kühnheit besitzen würde, eine so extravagante Summe für einen so winzigen Spritzer Wohlgeruchs zu verwenden. Ein Jahr später erwarb das Familienoberhaupt Maurice Devereux ein Picasso-Gemälde, das den Titel Diva trug. Das Parfüm und das Gemälde wurden allgemein als Anspielungen auf seine Schwiegertochter aufgenommen, obwohl die scharfzüngigeren Klatschkolumnisten genüßlich daraufhinwiesen, daß Andrée bei weitem nicht den Status einer Diva erreicht hatte und auch nicht über das dazu erforderliche Talent verfügte. Freundlichere Journalisten schrieben über ihre Bescheidenheit, die sie dazu veranlaßt hatte, die Verwendung ihres Namens für das Parfüm abzulehnen und den Kompromiß ihres Schwiegervaters zu bewundern. 1972 wurde das Baby, Nicole, geboren, ein Ereignis, dem eine Taufzeremonie folgte, bei der ein antikes Taufkleid aus handgefertigter Spitze für das Kind und ein spektakuläres Courrège-Kleid für die Mutter eine Rolle spielten. Und dann umwölkte sich die Sonne, die auf das Haus Devereux niederstrahlte. Zuerst durch Krankheit. Andrée wurde eilig ins Krankenhaus gebracht, während einer Kreuzfahrt durch die Zykladen mit dem Hubschrauber von der Yacht geholt. Den Gerüchten nach -99-
lag sie im Sterben. Tage später sickerte es aus dem Krankenhaus durch, daß sie zwar überleben, aber keine Kinder mehr bekommen würde. Aus dem strahlenden Opernstar wurde in der Sprache der Klatschkolumnisten die tragische Andrée. Ein weiteres Jahr, und die Tragödie bestätigte sich, als ihr Kind aus seinem Bett im Château verschwand. Als Richter George Laroche auf seine schwerfällige Art Philippe Devereux die Nachricht von der Entdeckung der Leiche seiner Nichte überbrachte, beendete das zwei Monate qualvoller Unsicherheit. Philippe war erschüttert. »Tot? Wir hatten immer an eine Entführung glauben wollen.« »Vielleicht ist etwas… etwas schiefgegangen?« erwiderte Laroche mit der Andeutung einer Frage in seinem Tonfall. Philippe legte den Hörer auf und blieb stumm, behielt die Nachricht für sich. Sein Bruder, der Vater des Kindes, war von Genf nach Paris unterwegs und war nicht zu erreichen. Andrée befand sich im Obergeschoß und suchte Trost in der Musik. Die alten Herrschaften waren nicht im Haus; seine Mutter war im Weinberg und machte sich große Umstände wegen ein paar Reben, von denen sie annahm, daß sie krank wären, was keineswegs überraschte, wenn man den heißen Sommer und die heftigen Stürme in Betracht zog. Und sein Vater war dabei, ein Versprechen zu erfüllen und sich mit einem alten Freund in der Stadt zum Mittagessen zu treffen. Philippe entschloß sich, es Andrée nicht zu sagen. Sie war einfach nicht stark genug, diese Nachricht zu verkraften. Das Kind war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. -100-
Anna, seine Assistentin, kam ins Zimmer. Ihr knöchellanger Baumwollrock flog ihr beschwingt um die Beine, und die Sonne setzte kleine Lichter auf ihr langes braunes Haar. Sie trug einen Hauch ›Escapade‹, sein Lieblingsparfum, um ihm damit zu schmeicheln. »Ist etwas, Philippe?« Sie standen einander sehr nahe, zur beruflichen Beziehung war schon lange die Intimität gekommen. Manchmal fragte sie sich, ob sie sich dabei etwas vormachte, ob er sie je würde heiraten wollen und ob sie das wollte. Von der anderen Frau, die er hatte, Margot, in Paris, wußte sie nichts. Sie strich mit dem Finger über die seidenmatte Platte seines Schreibtischs. Die Hausangestellte hatte sie poliert, sie roch nach Lavendel. »Anna, es ist etwas, das ich zuerst der Familie mitteilen sollte.« »Aber?« Es hatte kein Aber gegeben, sie erfand es. »Ich hatte einen Anruf.« »Ich habe das Telefon klingeln hören, als ich den Gang herunterkam. Wer war es?« »Laroche.« Ihre kajalumränderten Augen weiteten sich interessiert, ein Gesichtsausdruck, der ihm liebgeworden war. Er fuhr fort: »Ja, Laroche. Man hat die Leiche eines Kindes gefunden.« Sie preßte eine Hand an den Mund, brachte keinen Ton heraus. Er holte tief Luft. »Andrée ist allein hier, ich kann es ihr nicht sagen. Ich kann es nicht.« Anna nickte heftig und fand jetzt ihre Stimme wieder. »Das verstehe ich, Philippe. Aber ist Laroche sicher, daß es Nicole ist?« »Wenn er nicht sicher wäre, hätte er nicht angerufen. Es -101-
hätte doch keinen Sinn gehabt.« Maurice Devereux kam als erster nach Hause, bleich und erregt. Er schoß in Philippes Büro und stieß hervor: »Man hat an der Brücke eine Leiche gefunden. Überall Polizei, und Laroche stolziert herum wie ein Gockel, stottert und macht sich wichtig. Ich habe angehalten und mich erkundigt. Es ist Nicole, die sind ganz sicher.« Philippe nickte. »Ich weiß, Vater. Laroche hat mich vor einer halben Stunde angerufen.« »Ah. Wie hat Andrée es aufgenommen?« »Sie weiß es nicht. Ich habe es ihr nicht gesagt.« »Und Claude?« »Der ist zwischen Genf und Paris unterwegs. Ich habe es niemandem gesagt außer Anna, ich wollte abwarten, bis du oder Mutter zurückgekommen seid.« Sein Vater nahm die Bürde auf sich. »Also gut. Ich werde es ihr selbst sagen.« Anna hielt ihn auf. »Angenommen, die haben sich geirrt, und es ist gar nicht Nicole? Es wäre doch schrecklich für Andrée, wenn man ihr sagen würde, daß man Nicole gefunden hat, und es dann nicht stimmt.« Philippe stimmte ihrem Einwand zu. »Jemand wird die Leiche identifizieren müssen.« Sein Vater sah zuerst ihn, dann Anna und dann wieder ihn an. »Ihr versteht beide nicht. Das ist hier nicht die Art von Leiche, die man ansieht und wiedererkennt, das ist eine, die während eines schwülheißen Sommers im Freien gelegen hat. Wieviel meint ihr, daß davon noch übrig ist? Haar, Knochen, Fetzen davon reden wir.« »Vater, du hast doch nicht…?« »Die Leiche gesehen? Nein, das hab' ich nicht. Aber ich habe mit einigen Männern gesprochen, die sie gesehen -102-
haben. Es war ein etwa zweijähriges Kind, und es gibt ein paar Überreste von einem weißen Kleidungsstück. So, wenn ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich muß zu Andrée und mit ihr sprechen.« Im Laufe der nächsten Tage wurde in Laboruntersuchungen bestätigt, daß die Fasern der aufgefundenen Stoffreste mit denen eines Hemdchens übereinstimmten, das dem glich, das Nicole bei ihrer Entführung getragen hatte. Laroche trat mit der Feststellung vor die Presse, daß es sich bei der Leiche um die Nicoles handelte, und die Schlagzeilen trugen die Nachricht mit den entsprechenden Ausschmückungen in die Welt. Beim Begräbnis übertraf die Zahl der Journalisten die der Trauergäste, und der Anlaß löste eine Reihe spekulativer Artikel über die Heimsuchungen aus, die die Familie Devereux erlitten hatte. Gewaltsamer Tod und undurchsichtige Machenschaften in zwei Weltkriegen; ein unzufriedener Chemiker behauptete treffend und buchstäblich, daß man ihm das Ergebnis seiner Forschungsarbeit unter der Nase weggestohlen hatte, ein anderer verfolgte den Gründer der Firma, den verstorbenen Raoul Devereux, durch alle Gerichte, bis schließlich das Geld ausging und ein Krieg dazwischenkam; Feuer vernichtete Antiquitäten und Gemälde in einem der Häuser der Familie; ein berühmter Schauspieler starb während einer Party an Bord der Yacht an einer Herzattacke; Andrée wäre fast gestorben und konnte keine Kinder mehr bekommen; Nicole wurde ermordet. Der Fluch der Devereuxs tauchte zum erstenmal in den Druckmedien auf und sollte künftig aus den Klatschspalten nicht mehr verschwinden. Der Mörder der kleinen Nicole wurde nie gefunden. Die Einheimischen murmelten von Zigeunern, die im Sommer -103-
im Tal kampiert hatten, aber das geschah erst nach der Entdeckung der Leiche. Die Leute, die diese Gerüchte in die Welt gesetzt hatten, verstummten sofort, als ein verzweifelter Laroche sich darum bemühte, der Geschichte auf den Grund zu gehen. Ein schwüler Sommer ging in den Herbst über, und während das Laub sich färbte und zum Winter hin verblaßte, verschwand die Devereux-Story aus der Öffentlichkeit. Andere Schlagzeilen traten an ihre Stelle: Watergate, Muhammad Ali besiegte George Foreman durch k.o. und gewann den Weltmeistertitel im Schwergewicht zurück. Yassir Arafat schaffte eine diplomatische Apotheose, indem er eine Rede vor dem Forum der Generalversammlung der Vereinten Nationen halten durfte. Und John Stonehouse, ein Mitglied des britischen Parlaments, hinterließ seine Kleider an einem Strand in Miami und täuschte seinen Tod vor. Hier und da suchte Laroche das Château auf. Er weigerte sich, in der Öffentlichkeit zuzugeben, daß er versagt, aufgegeben, den Fall abgeschlossen hatte. Auch die Stadtpolizei schloß ihre Ermittlungen ab und zog sich zurück, und der einzige Hinweis auf noch anhaltende Ermittlungen war der Anblick von Laroche, der das Tal hinauffuhr. Die Leute drehten sich um, wenn sein Wagen an ihnen vorbeibrauste, und sagten: »Ah, er gibt nie auf, dieser Laroche.« Aber in Wirklichkeit war er dazu gezwungen gewesen. Dann kam ihm eine Erleuchtung. Am Jahrestag von Nicoles Verschwinden verlangte er, daß der Fall noch einmal gestellt wurde. Er wollte, daß Andrée nach dem Kindermädchen rief, wollte, daß die beiden Frauen für ihn noch einmal die Szene nachstellten, exakt so wie damals, als der Fall noch neu gewesen war. Aber diesmal wollte er, daß Andrée zu dem Zeitpunkt, wo die Familie und die -104-
Dienstboten ins Kinderzimmer strömten, ihren Schrei wiederholte. Das tat sie nicht. Laroche diskutierte den Plan mit ihrem Schwiegervater, der ihn als unsinnig und gefühllos abtat. »Nicole ist nicht mehr, Laroche. Wir müssen unser Leben weiterführen. Wir dürfen uns nicht in die Vergangenheit zurückzerren lassen. Andrée ist damit beschäftigt, ihr Leben wieder aufzubauen, und ich werde mich mit nichts einverstanden erklären, das dieses Ziel beeinträchtigt.« Aber in Wirklichkeit war sie nicht damit beschäftigt, ihr Leben wieder aufzubauen. Sie war bedrückt und neurotisch, klammerte sich an das Haus im Bois de Boulogne und hatte Angst vor dem Château. Sie versuchte es mit Urlaub auf der Yacht oder Einkaufstrips nach Mailand und London, aber sie war nicht zu trösten. Die Klatschkolumnisten suchten nach Sprüngen in ihrer Ehe und fanden sie. Dann war sie wieder im Krankenhaus, einer Klinik, die mit Verlautbarungen äußerst vorsichtig war. Es gab unterschiedliche Gerüchte, die teils auf Nervenzusammenbruch, teils auf Selbstmordversuch deuteten. Was auch immer die Wahrheit sein mochte, die tragische Andrée machte dem Namen Ehre, den die Presse ihr verliehen hatte.
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ACHT Der erste Blick, den Ellie auf die Landschaft warf, lieferte ihr nur ein vages, unbestimmtes Bild, ebensogut hätte sie durch den Bodensatz eines Glases schauen können. Dann verdichteten sich die Wolkenfetzen im weißen Dunst. Trotzdem starrte sie weiter in die Tiefe, sehnte sich nach dem nächsten Blick, den sie erhaschen konnte, hatte zugleich aber auch Angst davor. Als er schließlich kam, waren da gelbbraune Wälder und Straßen zu erkennen, so dünn wie auf den Boden geworfenes Garn, und bald die unverkennbare Silhouette des Hradschin, der eine ganze Hügelgruppe bedeckte. Ellie war nach Hause zurückgekehrt! Ellie war infolge einer Anzahl von Zufällen und Begegnungen nach Hause gekommen, nicht etwa von dem Wunsch getrieben, ihre Geburtsstadt zu besuchen. Sie hatte sich ganz darauf konzentriert, eine Frans-Hals-Frau ausfindig zu machen, und war verblüfft gewesen, als ihr klarwurde, wo die Spur hinführte. Der hilfsbereite Mann mit dem schütter werdenden Haar im Rijksmuseum hatte breit gelächelt. »Das ist eine gute Zeit, um nach Prag zu gehen.« Er hatte sie für eine Engländerin gehalten. Sie hatte die Galerie verlassen, war eine Weile durch die Straßen gegangen und hatte nachgedacht. Frans Hals war eine Abschweifung, eigentlich sollte sie ihr Buch über von den Kritikern und der Welt vergessene Künstlerinnen schreiben; wieviel Zeit und Mühe wollte sie eigentlich noch in diese Sache investieren? Aber wo sie jetzt doch schon im hellen, wäßrigen Amsterdam war, lag Prag ja nahe. Die verschwundene Frau des Washingtoner Mannes -106-
ließ sie nicht los. Nicht nach Prag zu reisen, wäre, als würde man einen spannenden Kriminalroman weglegen, ohne das letzte Kapitel gelesen zu haben. Andererseits, hatte sie überlegt, war es durchaus möglich, daß das überhaupt nicht stimmte: Prag konnte sich als Sackgasse erweisen oder sie in eine andere Stadt irgendwo in Europa weiterfuhren. Eines Tages würde sie einen Schlußstrich ziehen müssen. Die eigentliche Frage war, ob sie es überhaupt ertragen konnte, nach Prag zu gehen. Ihr Abenteuer - als solches betrachtete Ellie die Suche nach diesem Bild - hatte längst begonnen, ihr geregeltes Leben zu stören. Die Arbeit an dem Buch litt, und Sam und New York spielten kaum mehr eine Rolle. Ihr Kopf war vollgestopft mit holländischen Manuskripten aus dem 17. Jahrhundert, mit Ausstellungskatalogen und langweiligen Dokumenten, denen sie rätselhafte Einzelheiten entnahm. Der Schlüssel zu dem Ganzen war der traurige, ungeliebte Mann in Washington, der sich nach einem Pendant sehnte, das dafür geschaffen schien, neben ihm zu hängen, anstelle eines gleichgültig hinzugefügten. Oder lag der Schlüssel für all ihre Recherchen, für ihre Unruhe ganz woanders? War sie vielleicht auf der Flucht? Ellie hatte sich schon zwingen wollen, ihre Suche aufzugeben, als sie den Mann im Rijksmuseum kennengelernt hatte. Von ihm hatte sie zum erstenmal brauchbare Informationen erhalten: In der Mitte des letzten Jahrhunderts, so hatte er erzählt, waren einige Gemälde von Frans Hals über einen Händler in Amsterdam verkauft worden. Die Beschreibung eines der Bilder wies eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mann auf, dessen verschwundene Begleiterin Ellie interessierte. »Das Außergewöhnliche an diesem Amsterdamer Verkauf ist, daß es sich bei den Gemälden im -107-
wesentlichen um ziemlich unbekannte Stücke handelte. Zwei sind im Verlauf des letzten Jahrhunderts verschwunden, ein weiteres war nie registriert worden.« Dann hatte er sie daran erinnert, daß Frans Hals lange Zeit vernachlässigt wurde, bis ein französischer Kritiker, Burger-Thore, einen enthusiastischen Artikel veröffentlichte, nachdem er im Jahre 1857 auf sein Werk gestoßen war. Ellie hatte geschickt dafür gesorgt, daß der Vortrag nicht ausuferte, indem sie einwarf: »Bei der Kunstausstellung in Manchester.« »Ja. Und dann begeisterten sich auf einmal Manet und auch van Gogh, und binnen zehn Jahren war Hals berühmt und gefragt.« Der Mann vom Rijksmuseum hatte auf seine Uhr gesehen und in plötzlicher Eile nur noch gemeint: »Die drei Gemälde wurden übrigens gemeinsam mit Werken von einer Vielzahl von Künstlern verkauft.« »Alles Holländer?« »Nein. Ein paar Rembrandt-Zeichnungen, ein bescheidener Canaletto, ein Vermeer und ein Tizian.« »Eine seltsame Mischung.« »Aber von ein- und derselben Person dem Händler angeboten. Ein deutscher Name. Herr Abetz hat diese Gemälde und Zeichnungen geerbt und sie verkauft. Für Sie könnte vielleicht wichtig sein, daß er dem Händler gegenüber erklärte, daß sie seinen Teil einer Familiensammlung darstellten: Falls das richtig ist, darf man sich natürlich fragen, wer den Rest geerbt hat und um was für Stücke es sich dabei handelte.« »Und dazu muß ich vermutlich nach Deutschland.« »Herr Abetz hat in Prag gelebt.« Und an diesem Punkt hatte er gelächelt und gemeint, daß -108-
es eine gute Zeit sei, um nach Prag zu gehen. Ihre Entscheidung, in die Tschechoslowakei zu fliegen, war ebenso bedrückend gewesen wie damals, als sie sich mit siebzehn dazu durchgerungen hatte, ein Jahr in London zu verbringen, um dort Englisch zu lernen. Erst als durchsickerte, daß das russische Militär den Prager Frühling niederwalzen würde, hatte sie sich selbst das Versprechen gegeben, alles zu wagen, damit ihr Leben ein Leben in Freiheit sein würde. Der bedeutendste Schritt war die au-pair-Stelle im Haus von John Blairs Cousine gewesen, damit hatte sie zum erstenmal die Zehenspitzen in die Gewässer des Westens gesteckt. Wenn es ihr nicht gefallen hätte, hätte sie nach Hause zurückkehren und ihr Jota an Erfahrung all den anderen ihrer Generation hinzufügen können, deren jugendliche Blüte mit dem Wiedererwachen ihres Landes zusammentraf. Die Monate in London waren ein beständiges Auf und Ab gewesen, manchmal wunderbar und manchmal deprimierend schwierig. John Blair, der damals Student war, hatte dafür gesorgt, daß sie auf Partys eingeladen wurde und Gleichaltrige kennenlernte. John hatte damals eine auffallend schöne Freundin - der langbeinige skandinavische Typ, der damals in Mode war. Aber Ellie war nicht eifersüchtig gewesen, sondern damit zufrieden, daß er sich wie ein älterer Bruder benahm. Er war in dieser Zeit der einzige gewesen, der sich mit ehrlicher Sorge nach ihrer Familie in Prag erkundigte, sobald neue Schreckensmeldungen über den Bildschirm flatterten. Von Anfang an hatte sie Vertrauen zu ihm gefaßt, denn sie hatte gespürt, daß er sie verstand. Mein Gott, wie lange all dies zurücklag! Jetzt war sie nach Prag zurückgekehrt, im Flugzeug -109-
begleitet von wenigen Touristen, die sich mit ihrer unterdrückten Erregung verrieten, mit ihrem Bemühen, blasiert zu wirken, während sie doch zugleich ihre eigene Abenteuerlust bewunderten, die sie dazu veranlaßt hatte, ein paar Tage auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zu verbringen. Daß der Vorhang schon vor einem Jahr einen Riß bekommen hatte und schließlich ganz gefallen war, änderte nichts an diesen Empfindungen. Ellie war einer Gruppe von vier Briten durch die Korridore und Kontrollpunkte gefolgt. Dann hatte sie sich ein Taxi genommen und dem Fahrer ihr Hotel genannt. Die Fahrt war so langweilig und ereignislos verlaufen wie erwartet, mit der enttäuschenden Präambel heruntergekommener Häuserblocks aus den sechziger Jahren, bevor die älteren, hübscheren Häuser begannen. Und dann sah sie plötzlich vor sich den Hügel, den die Burg und die Veitskathedrale krönten. An Prag war nichts Grelles. Das war es, was fehlte: Werbeplakate, Reklamelichter, Spots. Der Verkehr auf den Straßen war spärlich und langsam. Ellie hatte die große Zahl von Fußgängern vergessen, die durch die Stadt zogen. Aber das war neu: die Metro, die die Russen in den siebziger Jahren gebaut hatten. Dann stellte sie fest, daß es auch eine zusätzliche Brücke über den Fluß gab, daß neben all den subtilen Veränderungen jene zwei Ingenieurleistungen als Symbole dafür herausragten, wie ihre Stadt sich verändert und sie zu einer Fremden gemacht hatte. Sie trug sich im Hotel Ambassador am Wenzelsplatz ein, hundert Meter hügelabwärts von dem Verlagsgebäude, wo Vaclav Havel und Dubcek auf den Balkon von Svobodné Slovo getreten waren, das freie Wort, damals, in den -110-
Tagen, die der Rest der Welt die Samtrevolution und die Tschechen die Novembertage nennen. In London hatte sie auf ihrem Fernseher die Gesichter betrachtet, ohne jemanden zu entdecken, den sie kannte. Was war aus ihnen geworden, jenen Jungen und Mädchen, mit denen sie aufgewachsen war, denen, die Musik machen oder eine neue Welt schaffen oder einfach etwas aus ihrem Leben machen wollten? Das hatte sie sich gefragt, während sie vor ihrem Fernseher gekauert war, und das fragte sie sich jetzt erneut, als die Gesichter auf ihrem Weg über den Platz an ihr vorbeiströmten, auf dem Weg zu den Blumenbeeten, einer Straße, die zum Jan-Palach-Denkmal führte. Als Ellie das letzte Mal in Prag gewesen war, war dort auch ein Blumenbeet gewesen, ein Blütenkreis vor der berühmtesten unter all den Hunderten von Statuen, die Prag besaß: der heilige Wenzel, Patron und König von Böhmen, hoch zu Roß, das Banner in der Hand. Als sie jetzt zurückkehrte, sah sie zum ersten Mal die aneinandergedrängten Fotografien moderner Märtyrer innerhalb der schützenden Grenze, die das tropfende Wachs von tausend und abertausend Kerzen bildete. Ein paar Leute bewegten sich mit zeremonieller Ehrfurcht um das Denkmal. Einige beugten sich vor, um besser sehen zu können. Sechs Kerzen brannten, das winzige Versprechen ihrer gelben Flammen zitterte in der Brise. Ein Mädchen kam und entzündete mit geübter Hast eine frische Kerze, steckte sie in den Halter einer sterbenden anderen, verharrte ein paar nachdenkliche Sekunden in gebeugter Haltung davor und war dann wieder verschwunden. Im Jahre 1968 im Ausland gewesen zu sein, war zugleich Rettung und Leid. Ellie hatte ein Leben eigener Wahl gewonnen, fühlte sich aber gleichzeitig betrogen. In London oder in New York, wenn sie mit Sam zusammen -111-
war, hatten Bekannte sie gefragt, ob sie je an ihrer Entscheidung gezweifelt hätte, und sie hatte gelogen und nein gesagt. Der Konflikt in ihren Gefühlen war zu ausgeprägt, und sie waren zu wirr, als daß sie sie für Fremde hätte entwirren wollen, die nichts Vergleichbares erlebt und damit auch nicht das richtige Vorstellungsvermögen hatten. Menschen von eher vordergründiger Wesensart nahmen an, sie würde sich wie jemand fühlen, der sich an einem wunderbaren Urlaubsort befindet und entdeckt, daß dortzubleiben nicht etwa ein verrückter Traum, sondern eine Notwendigkeit ist. Wie eine Frau auf einer Party in den Hamptons zu ihr gesagt hatte: »Für mich sind es diejenigen, die zurückgekehrt sind, die ich nie verstehen werde. Ich meine, wozu?« Die Frage war rhetorisch gewesen und hatte keiner Antwort bedurft. Ellie hatte die Verwirrung der Frau mit einem Lächeln bestätigt, das man beliebig interpretieren konnte, und dann das Thema mit einem Hinweis auf eines von Sams bekannteren Stücken, Exil, abgetan. Es handelte sich dabei um eine provozierende Assemblage aus Büroklammern mit ein oder zwei Reißzwecken und anderem Kram, wie man ihn in Schubladen findet. Einige Kritiker waren voll des Lobes gewesen und hatten über den großartigen Effekt jener Büroklammern geschrieben, die eine Kette bildeten. Wie jedermann wußte, ohne daß man es auszusprechen brauchte, war eine Kette ein Hindernis, eine Grenze, ein Spielzeug der SM-Brigade oder, wenn das Wissen sich so weit erstreckte, ein altmodisches Maß, das von den Eisenbahnern immer noch benutzt wurde. Sam war es gleichgültig, wie man seine Kunst interpretierte. Interviewern gegenüber pflegte er ein finster-nachdenkliches Gesicht zu machen und -112-
komplizierte Theorien mit der Erklärung abzuschneiden, daß er kein Mann der Worte sei und der Interviewer gefälligst seine eigenen Worte suchen müsse. Ließen die Journalisten dennoch nicht von ihm ab, hatte er mit Ellie eine Verabredung getroffen, wie sie das Interview unterbrechen sollte. Einmal hatten sie sich irgendeinen Unsinn hinsichtlich von Problemen in der Tiefkühlkammer ausgedacht, wo seine Eisskulpturen aufbewahrt wurden. »Ellie, ich werde diesen Typ höchstens zwanzig Minuten ertragen können. Könntest du ihm soviel Zeit lassen und uns dann unterbrechen?« »Zwanzig Minuten? Aber Sam, der Mann ist doch aus Cornwall gekommen.« »Dann hat er genügend Zeit für die Rückfahrt.« »O Sam. Könntest du nicht…« »Zwanzig Minuten! Dabei kann ich mir nicht einmal vorstellen, wie ich drei Sekunden überstehen soll. Du bist ihm noch nicht begegnet. Der Kerl tötet einem den letzten Nerv. Er will mich in irgendeinen historischen Kontext bringen, davon faselt er die ganze Zeit. Nun, ich will nirgends hingebracht werden. Ich erwarte von ihm nur, daß er den Namen der Galerie erwähnt und daß es eine großartige Show ist und daß jeder gut daran tut, so schnell wie möglich hinzugehen.« Ihre Unterbrechung war ›Oscar‹-würdig gewesen. Der Interviewer hatte Sam in dem Glauben verlassen, daß Sams Harley Davidson Reminiszenz nicht länger dem Motorrad eines Sammlers glich, sondern eher einem abgelegten Lolly. »Sam, du solltest dich schämen!« Ellie hatte ihm in die Seite geboxt, als sie wieder allein waren. »Ach, komm schon! Du hättest ihn hören sollen: -113-
›Würden Sie sagen, daß Ihr Werk sich auf dem Weg von der sexuellen Symbolik ins rein Politische verändert hat?‹ Ich sagte, ich hätte von ihm erwartet, daß er eine Verbindung zwischen Eisskulpturen und Frigidität wahrnimmt.« »Das hast du nicht!« »Na klar hab' ich. Siehst du, was passiert? Die kommen hier mit ihren komplexen Analysen an und bringen mich dazu, genauso zu denken.« »Aber er wird das drucken. Das wird Teil deines Mythos werden.« »Das könnte sogar stimmen. Woher soll ich das wissen? Wer will schon sagen, was im Unterbewußtsein vor sich geht?« »Nicht viel, wenigstens behauptest du das immer.« »Ellie, das ist unter uns. Was ich in der Öffentlichkeit meine, ist etwas ganz anderes. Nun, jedenfalls vielen Dank, daß du ihn vergrault hast.« Sie hatte sich verbeugt. »Wie ist es denn sonst gelaufen?« »Nicht gerade einer meiner großen Auftritte, denke ich. Ich habe mich von dieser Frigiditätsgeschichte wieder gelöst und meinen üblichen Satz von mir gegeben, daß die Arbeit für sich spricht. Doch er forderte mich auf, meine Botschaft mit den Eisstücken zu erweitern.« »Und?« »Und dann kamst du mit deiner Katherine Hepburn angetanzt, und wir haben gemeinsam dafür gesorgt, daß er die Fliege gemacht hat.« »War das alles? Was habt ihr beiden denn während der restlichen Zeit gemacht?« »Versucht, das Fenster aufzukriegen. Weißt du, daß es -114-
sich verklemmt hat, als du hier neu dekoriert hast?« Findig wie er war, hatte der Interviewer es dennoch geschafft, seine fünfzehnhundert Worte für The Times abzuliefern, obwohl das Interview sich auf dreieinhalb Minuten beschränkt hatte. Sam war überaus zufrieden. Als sie ihn kennengelernt hatte und sich am Glanz seines Ruhmes erwärmte, hatte Ellie angenommen, daß Sam wie so viele kreative Menschen Angst davor hatte, durchschaut zu werden, Angst davor, die Leute könnten erfahren, daß er nicht halb soviel war, wie die Kritiker behaupteten. Sie hatte angenommen, er sei besorgt, er könne eines Tages eine Zeitschrift aufschlagen und darin lesen, wie jemand gesagt hatte: »Hey, kennen Sie diesen Sam Soundso? Nun, er taugt gar nichts.« Und das würde das Ende sein. Sie hatte ihm unrecht getan. Sam dachte nicht so. Er verabscheute Menschen, die nichts Eigenes schafften und unter jenen, die es konnten, herumzogen, um Talente zu entdecken. Sie förderten den Ruf anderer, insbesondere aber den eigenen und komplizierten Bücher, Gemälde oder Skulpturen dadurch, daß sie sie hinter phantastischen Ideen versteckten, wo sie doch im unkomplizierten Zustand viel besser mit viel mehr Menschen kommunizieren konnten. Wie so viele kreative Menschen haßte Sam die Kritiker, konnte aber nicht ohne sie leben. Die Enthüllungen über ihn, die Wahrheit, hatten sich Ellie als eine Folge von Schocks offenbart. Mit ihm zusammenzuleben hatte in der Praxis bedeutet, daß er mit ihr zusammenlebte, in ihre Wohnung zog und alles veränderte. Fasziniert hatte sie sich selbst dabei studiert, wie sie nachgab. Wieder und immer wieder. Dabei paßte das überhaupt nicht zu ihr. Bisher hatte sie keinen ihrer Liebhaber zu sich ziehen lassen. Ihre Privatsphäre, ihre -115-
Selbständigkeit waren für sie von großem Wert. In ihr Tagebuch hatte sie geschrieben: ›Sein Leben ist es, das gelebt wird. Ich passe hinein oder weigere mich, das zu tun, und das verdrängt mich dann aus seinem Leben. Das will ich nicht. Wenigstens glaube ich es nicht. Noch nicht. Sam wird nie mit der Tapete eins und läßt mich mein eigenes Leben leben. Seine Präsenz ist immer da. selbst wenn er einmal nicht anwesend ist und sich im Studio oder sonstwo aufhält. Ich muß das entweder alles akzeptieren oder ihm ein Ende machen. Ich weiß, daß das absurd ist, aber ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll.‹ Was schließlich die Waagschale dahin bewegt hatte, Sam gewähren zu lassen, war Ellies Wissen, daß er sie brauchte. Sie wußte schließlich, wie es war, in einem fremden Land dahinzutreiben. Wenn es nicht Liebe war, wenigstens nicht die leidenschaftliche Art, die sie bis dahin gekannt hatte, dann wurde es doch etwas der Liebe ganz Ähnliches. Und dann hatte Sam sie mit nach New York genommen. Und in New York hatte er sich verändert, ihre Beziehung hatte sich angepaßt und war eher die von Gleichrangigen geworden. Als er sich schließlich abmühte, die ›Sinnbilder des zwanzigsten Jahrhunderts‹ in ein Gebilde aus Plastik einzudämmen, hatte sie sogar das Gefühl gehabt, daß sie jetzt imstande sein würde, die Entscheidung für die Rückkehr nach London zu treffen. Es war nicht mehr das Gefühl, ein unfähiges Kind im Stich zu lassen, das ohne sie nicht imstande war, den Tag zu überstehen. London. Amsterdam. Prag. In ihrem zweiten Tag in Prag traf sie Rose Darrow.
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NEUN Sie saßen inmitten der auf Art Nouveau getrimmten Dekoration des Pariz-Hotels bei Kaffee und Kuchen. Ein sehr touristenmäßiges Verhalten. Rose sagte: »Wirklich idiotisch, daß du in einem Hotel am Wenzelsplatz wohnst und ich in einer geborgten Wohnung.« »Meine Familie hat keine Ahnung, daß ich hier bin. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal sicher, ob sie hier sind. Das wäre vielleicht ein Schock, so auf einen Verwandten zu stoßen, wie ich auf dich gestoßen bin.« Die so selbstverständlich klingenden Worte verhüllten die Verwirrung, die in ihr immer noch herrschte. Sie war sich natürlich darüber klar gewesen, daß vieles anders sein würde, aber die äußerlichen Veränderungen wie die Metro und die neue Brücke waren Dinge, mit denen man sich leicht auseinandersetzen konnte. Was sie nicht erwartet hatte, war, daß sie hier in höherem Maße Außenseiterin sein würde, als sie das in London gewesen war. Und das Zusammentreffen mit Rose Darrow bestärkte sie nur noch in dieser Erkenntnis. Und dabei war das, was sie mit Rose Darrow verband, nur eine schwache Bindung. Sie standen sich nicht wirklich nahe, nicht so nahe, daß sie Vertraulichkeiten miteinander austauschten, und zwischen ihnen lag ein Abgrund von zehn Jahren. Für Rose war 1968 eine Zeit turbulenter Geschichte ohne besondere Bedeutung. In Versuchung geführt, ihre Gefühle mit einer mitfühlenden Zuhörerin zu teilen, war Ellie vorsichtig, weil Rose sich darauf verstand, die richtigen Fragen zu stellen. Sie konnte nicht entscheiden, hatte keine Kontrolle über das, was -117-
geschah. Rose ließ eine Pause entstehen und hoffte, daß Ellie fortfahren würde. Als sie das nicht tat, munterte Rose sie auf, indem sie sagte: »Hier zu sein, muß in dir viele Gefühle aufwühlen.« »Ach ja, Rose. Bilder, zwanzig Jahre tief vergraben, sind plötzlich wieder da. Lebendig! Ich stehe auf dem Altstadtplatz und plötzlich bin ich wieder ein Teenager, unterwegs, um einmal verbotene Musik zu hören. Oder ich eile zur Brücke und bin wieder ein Mädchen, das in einen dunkeläugigen jungen Kunstliebhaber aus Malâ Strana verliebt ist.« »Ein Kunstliebhaber?« »O ja. Ich war immer ganz wild auf Leute, die über solche Dinge Bescheid wußten, weißt du?« Sie zögerte, nannte dann seinen Namen doch nicht. »Er hat mir den ersten Einblick in die Welt der Malerei verschafft. Wir sind gewöhnlich gemeinsam den Hügel hinauf zu den Galerien gegangen.« »Warst du diese Woche schon oben?« »Nein. Ich gehe morgen hin. Obwohl ich gestern geplant hatte, heute hinzugehen. Aber morgen muß ich gehen. Es gibt dort ein Gemälde von Frans Hals, das ich gern sehe, aber viel wichtiger, es gibt eine Frau, die mir möglicherweise sagen kann, was aus dem Rest der Sammlung geworden ist, die teilweise in Amsterdam verkauft wurde.« Rose winkte die Bedienung herbei, um nachschenken zu lassen. Ellie wehrte ab. »Ich weiß nicht, ob ich noch mehr haben möchte.« »Keine Angst, bis es kommt, willst du das ganz sicher.« Sie lachte. »Das stimmt, daran erinnere ich mich: diese -118-
Trägheit. Ich frage mich, ob ich das auch an mir habe.« Die Bedienung verdarb ihnen den Spaß, indem sie schnell war. Dann entschied Rose, daß die Zeit gekommen war, um eine Gefälligkeit zu bitten. »Als wir uns begegneten, habe ich mich noch lustig gemacht und gesagt, du wärst genau das, was ich brauche: eine Dolmetscherin. Nun, das mag wie eine allgemeine Bemerkung geklungen haben, aber ich habe da wirklich ein Problem. Ich ziehe es vor, mit den Leuten, die für die Zeitschrift arbeiten werden, nicht darüber zu sprechen.« »Du vertraust ihnen nicht?« »Ich weiß nicht, wie diskret sie sind. Und es ist eine ziemlich delikate Angelegenheit, Ellie. Ich glaube, daß Krieger hier ist. Genauer gesagt, ich weiß es sogar, und ich möchte ihn interviewen.« Sie schilderte all ihre mißlungenen Versuche, sich mit ihm zu treffen, und berichtete auch von dem abgerissenen Kontakt zu dem gebeugten Mann in dem Haus in der Altstadt. »Würdest du mit mir zu dem Haus gehen?« »Natürlich.« Und dann: »Aber sag mir, Rose, hast du vor, Krieger viel Geld für seine Story zu bezahlen?« »Du hältst das für unmoralisch?« Die Frage war überflüssig. »Er ist kein guter Mann. Verdient er es also, für die schrecklichen Dinge, die er getan hat, noch belohnt zu werden? Aber ich nehme an, so arbeiten Journalisten immer.« »Nicht, wenn sie etwas gratis bekommen können, dann nicht. Ich bin darauf vorbereitet, daß er Geld verlangen wird. Wenn ich nicht zahle, tut es ein anderer. Ein Exklusivinterview mit ihm in der ersten Ausgabe des Magazins wäre ein echter Knüller. Das würde all den Zweiflern zeigen, daß wir ernst zu nehmen sind.« -119-
Ellie erinnerte sie mit ruhiger Stimme: »Krieger war ernst zu nehmen. Er hat betrogen und getäuscht, und dann ist er entkommen. Ist nach Ostdeutschland geflohen und hat einige zerstörte Leben hinterlassen und, wenn die Gerüchte zutreffen, einige Leichen. Wie vielen anderen Leuten wird dein Magazin Geld dafür geben, daß sie über ihre Sünden plaudern, Rose?« Rose ließ sich nicht provozieren. »Er ist wichtig, er ist berühmt. Wenn ich an ihn herankomme, werde ich ihn nehmen. Was die anderen betrifft, muß ich darüber nachdenken.« Ellie beugte sich vor und berührte ihre Hand. »Du mußt dir nichts dabei denken, ich bin zu hart. Das alles ist… für mich sehr schwierig.« Rose verzieh ihr mit einem Lächeln. Sie war nicht so töricht zu glauben, sie würde sie verstehen. »Ohne Erinnerung gibt es kein Leben«, murmelte sie und fügte dann hinzu: »Gabriel Garcia Marquez. Nicht so klassisch wie Coleridge, möchte ich sagen, aber fließt einem der Name nicht förmlich von der Zunge?« Sie gingen zu dem Haus in der Altstadt. Wieder meldete sich niemand auf das Klingeln. Aber Ellie sprach mit den Nachbarn und erfuhr, daß das Haus augenblicklich unbewohnt war. Sie ließ nicht locker. »Da war ein Mann, ein hagerer, gebeugter Mann, der immer rauchte. Er hatte braunes Haar. Er war vor ein paar Tagen hier, am späten Nachmittag. Wer war das?« Aber die Nachbarn konnten oder wollten nicht weiterhelfen. Als sie sich bei Einbruch der Dunkelheit trennten, Rose, um zu ihrer Wohnung zu gehen und mit Paris zu telefonieren, Ellie, um zu ihrem Hotel zurückzukehren, -120-
fegte ein kalter Wind über die Straßen und Plätze der Stadt. Ellie blieb in einer vom Schatten verhüllten Eingangsnische stehen, wartete, bis Rose außer Sichtweite war und ging dann langsam denselben Weg, den die jüngere Frau gegangen war. Sie beobachtete und nahm jede Einzelheit ihrer Stadt in sich auf. Die warme Honigfarbe des Gemäuers; exakte Schattierungen von Rosa und Blau an den bemalten Fassaden; die Fülle an Statuen und schmiedeeisernen Arbeiten; präzise Winkel von Stücken des Kopfsteinpflasters, die sich unter den Schritten von Legionen von Fußgängern gelöst hatten; die unzähligen Gerüste und den offenkundigen Mangel an Arbeitern; Gebäude von sentimentalem Interesse wie die Tyn-Kirche, die wegen Restaurierungsarbeiten geschlossen war, auch wenn sie ganz offensichtlich nicht stattfanden. Sie registrierte die Ansammlungen junger Leute, die um jene herumstanden, die ihre altmodischen Gitarren spielten und unter den Arkaden elektronisch nicht verstärkte Lieder sangen. Dann die Männerclubatmosphäre der pivârnas, die die Luft auf der Straße mit dem bitteren Geruch von Tabakrauch und Bier verpesteten, und der damit konkurrierende säuerliche Qualm der Braunkohle, die in den Heizungen der Stadt brannte. Ellie erreichte die mittelalterliche Brücke. Ein bohrender Schmerz saß in ihrem Herzen, ein melancholisches Leid, Bedauern für die Jahre, die sie nicht dagewesen war, und Bitterkeit für die Gründe, die sie ferngehalten hatten. Öffentliche Gründe ebenso wie ganz persönliche. Sam hatte private Ansichten gehabt und öffentliche und sie auch. Ellie begann über die Brücke zu gehen, die stolze Straße der Heiligen. Die Lampen warfen genug Licht, daß sie unter sich den schwarz dahinströmenden Fluß erkennen konnte. Aber sie blieb erst stehen, als sie die -121-
Mitte der Brücke und den heiligen Johannes von Nepomuk erreicht hatte. Das Licht glitzerte auf seinen kantigen Bronzeflächen vor dem Steinhintergrund. Er wirkte wie von Kummer verzehrt und eingeschrumpft, nachdem man ihn ertränkt hatte, weil er, je nachdem, welcher Legende man glauben wollte, sich einem König widersetzt oder die Geheimnisse einer Königin bewahrt hatte. Die Hände auf die Brüstung gestützt, blickte Ellie zur Burg mit den Reihen beleuchteter Fenster hinauf, zu der von Flutlicht angestrahlten Kuppel der barocken St.Nikolaus-Kirche darunter. Und dann blickte sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Sie nahm das Theater und die beleuchteten Türme der Altstadt wahr. Sie konnte sich aus ihrer Jugend nicht an Flutlicht erinnern, aber vielleicht war es damals genauso gewesen. Ihre Erinnerungen waren scharf, kantig, aber sie stellte wiederholt fest, daß sie nicht immer exakt waren. Sie mochte sich nicht nach der Flutlichtbeleuchtung erkundigen. Einheimische und eine Anzahl Touristen waren in beiden Richtungen auf der Brücke unterwegs, aber sie sprach niemanden an. Ihr Herz tat so weh! Jede Ecke, jeder Schritt, den sie in der Stadt tat, rief neue schmerzliche Erinnerungen in ihr wach. Da war sie mit ihrem Freund Mischa gegangen. Da hatte Nina gesagt, sie würde nach England ziehen, um dort als Au-pair-Mädchen zu arbeiten. Und ob Ellie nicht auch mitkommen wolle? Schließlich war Ellie gegangen und Nina nicht. Da vorne hatte sie sich immer mit dem Jungen getroffen, von dem ihre Eltern nichts wissen durften, und hier… Hier, in der Mitte der Brücke, in der Nähe des heiligen Johannes von Nepomuk unter der Bürde seines Kreuzes und seines Gelübdes, jene zu retten, die stürzten, hatte er sie eingeholt. Er hatte sie verfolgt, ohne Eile, wohlwissend, daß sie ihm nirgends entweichen konnte, -122-
daß sie über kurz oder lang zögern und sich umdrehen würde. Bis jetzt hatte sie die genauen Einzelheiten jenes Augenblicks vergessen, das Ausmaß ihres Ekels, als sie ihn sah und wußte, daß er sie verfolgt hatte und daß er verstand. Alles. Er verstand alles, und es war ihm gleichgültig. Ellie fuhr sich mit der Hand an den Mund. Übelkeit kam in ihr auf, Schwindel, eine Aufwallung von Furcht schwächte sie. Genauso, wie es vor so langer Zeit gewesen war. Eine innere Stimme redete hastig auf sie ein: Sei nicht töricht, hier ist niemand, geh weiter, du brauchst nicht umzukehren! Um Himmels willen, reiß dich zusammen! Und sie ging unter großer Willensanstrengung weiter über die Brücke, auf die Burg zu. Sie kämpfte die Panik nieder, die in ihr aufsteigen wollte, und setzte sich mit der irrationalen Angst auseinander, daß eine Hand sie gleich an der Schulter packen, herumreißen und zwingen würde, dorthin zu gehen, wo sie nicht wollte. Allmählich legte sich die Angst. Ellie kam an der Treppe vorbei, die nach Kampa hinunterführte, ging durch den Bogen und stieg die ansteigende Straße hinauf zu dem Platz vor der Nikolauskirche. Ihr Puls dröhnte jetzt nicht mehr in ihren Ohren, aber das Atmen fiel ihr schwer, und ihr war kalt. Sie zwang sich zu glauben, daß alles vorbei war, daß so etwas wie jene Angst ihr nie wieder zustoßen konnte. Aber etwas anderes vielleicht? Gab es etwas, das sie wieder mädchenhaft hilflos machen würde? Sie kannte De Quincey ebensogut wie Coleridge, konnte ihn zitieren, seine Erinnerungen, die ›die Gegenwart in Kollision mit einer lange vergessenen Vergangenheit bringen, in einer -123-
Art und Weise, die zu schmerzhaft ist, als daß man sie ertragen kann‹. Unter der Kirche wartete eine Anzahl Taxis. Sie ließ sich in ihr Hotel zurückbringen. Am nächsten Morgen ging Ellie zur Burg hinauf und trat vor das Bild von Jasper Schade. Er war jünger, arroganter, dandyhafter als Frans Hals' Washingtoner Mann. Sie verweilte bei ihm, bewunderte sein prächtiges Kostüm, die geschickte Vertikale des Porträts, die ihn zugleich zu einer hochmütigen Gestalt und einem Burschen machte, dem man nicht vertrauen konnte. Sie hatte solche Burschen persönlich kennengelernt. Anschließend sah sie sich noch pflichtschuldig die Skretas-Gemälde an, die Werke jenes einheimischen Künstlers, der gelegentlich ähnliche Bilder gemalt hatte. Sie wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn man sie versehentlich zu einem Skreta geschickt hätte. Im Büro erkundigte sie sich nach Milena Hobzek. Sie hatte vorher telefoniert, und die Frau erwartete sie. »Aber ich habe sehr wenig für Sie gefunden«, entschuldigte sie sich sofort, als Ellie ihr an ihrem Schreibtisch gegenübersaß. »Wenn Sie beispielsweise etwas über Karel Skreta wissen möchten, hätte ich alles parat.« Ihr Lächeln war winterlich kühl. Sie hatte ein Notizbuch auf dem Schreibtisch liegen. Milena Hobzek blätterte mit ihrer manikürten Hand die Seiten um. Alles an ihr war präzise, gepflegt. Der Kragen ihrer Bluse ragte exakt einen Zentimeter über den Kragen ihres beigen Kostüms, kein Haar an ihrer perfekten Frisur zeigte sich widerspenstig, der Stein in dem Ring an ihrem Finger paßte genau zu dem in der Brosche an ihrem Revers. Ellie sah ihr beim Umblättern zu. »Ich habe mich bei den Kollegen erkundigt, doch niemand weiß etwas von einem Herrn Abetz«, sprach die -124-
Frau nach einer Weile weiter. »Ich bin aber sicher, wenn eine Familie dieses Namens eine nennenswerte Sammlung besessen hätte, dann würden wir das wissen.« »Ich weiß nicht, ob es eine nennenswerte Sammlung war. Falls das stimmt, was ich gehört habe, ist sie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aufgeteilt worden. Und wir wissen nicht, wie viele Leute Teile davon erhielten. Ich habe nur den Namen.« »Wir haben keinerlei Aufzeichnungen, daß jemand dieses Namens zu irgendeinem Zeitpunkt eine Sammlung besessen hätte. Aber ich habe das für Sie getan.« Zu Ellies Überraschung riß sie ein Blatt aus ihrem Notizbuch und reichte es ihr hinüber. »Das sind die Namen von Leuten, von denen bekannt ist, daß sie in der Zeit, in der Abetz angeblich geerbt haben soll, bedeutende Sammlungen besaßen. Diese Information ist das Ergebnis irgendeiner Recherche. Für Sie könnte sie sehr nützlich sein. Aber ebensogut ist natürlich möglich, daß sie Ihnen überhaupt nicht weiterhilft.« Ellie überflog die Liste. Hinter jedem Namen stand eine ungefähre Adresse, eine Stadt oder ein Distrikt. Milena Hobzek räusperte sich. »Nach allem, was wir wissen, war Ihr Herr Abetz ein Dieb oder ein Lügner, obwohl es natürlich möglich ist, daß er über ganz legitime Mittel verfügte, um in den Besitz jener Gemälde zu gelangen, die in Amsterdam aufgetaucht sind. Wenn man wüßte, weshalb es Amsterdam war, wäre es leichter, seine Darstellung zu überprüfen.« Ellie gab die Hoffnung nicht auf: »Ich würde gern mit der Person sprechen, die diese Recherche durchgeführt hat.« »Das ist leider nicht möglich. Der Herr ist sehr beschäftigt und muß verreisen.« -125-
»Aber ich würde seine Zeit wirklich nur ein paar Augenblicke in Anspruch nehmen…« »Er hat wirklich keine Zeit. Er muß das Manuskript eines Buches einem Verleger abliefern und reist dann ab.« Ellie hatte den Verdacht, daß man sie in eine Sackgasse locken wollte. Sie ließ sich nichts anmerken, wohlwissend, daß Hartnäckigkeit sie hier nicht weiterbringen würde. Gewöhnlich brachte es mehr Nutzen, wenn man so tat, als würde man nichts merken, und das Thema wechselte. Sie steckte das Blatt ein, stand aber nicht auf, obwohl Milena Hobzek damit offenbar gerechnet hatte und sich ihrerseits hinter ihrem Schreibtisch erhob. »Sagen Sie«, meinte Ellie, »wenn bekannt wäre, daß ein Gemälde von Frans Hals irgendwo im Lande ist, würde die Nationalgalerie sich dann darum bemüht haben, es zu erwerben?« Die Frau hob eine Braue. »Hals? Es würde sehr preisgünstig oder sehr schön sein müssen. Wir haben eines, das sehr schön ist, Jasper Schade. Ich persönlich wäre sehr überrascht, wenn in der Tschechoslowakei ein echter Hals ans Licht käme. Ist es das, worauf Sie hoffen? Ein Hals, den Ihr Herr Abetz behalten und nicht in Amsterdam verkauft hat?« Ellie stand auf. »Vielleicht. Aber zuerst muß ich diesen Abetz aufspüren.« Ihre glänzenden Fingernägel blätterten wieder in dem Notizbuch. Wieder riß sie eine Seite heraus. »Einen Augenblick. Da ist noch etwas. Wenn Sie diesen Mann aufsuchen, könnte er Ihnen vielleicht wegen Abetz behilflich sein. Wann er gelebt hat und wann er gestorben ist und all das. Darüber hinaus kann ich Ihnen wirklich nicht weiterhelfen.« »Sie waren sehr freundlich. Ich bin Ihnen wirklich sehr -126-
dankbar.« Milena Hobzek kam um den Schreibtisch herum. »Keine Ursache. Es ist ja leider nicht viel. Und wer weiß, vielleicht stoßen Sie auf irgendwelche interessanten Informationen und machen sie mir dann auch zugänglich.« Da war es wieder. Jenes Gefühl, daß es unter der Oberfläche der Worte unausgesprochene Gedanken gab, eine parallele Ebene, auf der so etwas wie Vertrauen nicht existierte. Ellie leistete das Versprechen, das man von ihr erwartete. »Selbstverständlich.« »Mißtrauen«, murmelte Ellie halblaut, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und auf dem Korridor stand. Eine eingebaute Skepsis bezüglich dessen, was der andere wirklich vorhatte. Sie konnte sich gut daran erinnern. Schullehrer, deren Wachsamkeit gelegentlich nachließ und die dann erkennen ließen, daß sie nicht ganz auf die Weisheit vertrauten, die sie vermitteln mußten. Gespräche von Erwachsenen, die irgendwie vage klangen, weil das Platz ließ, später, falls notwendig, abzuleugnen. Andeutungen, die so verhüllt waren, daß sie einem entgingen, wenn man sich nicht sehr geschickt darauf verstand, sie zu hören. Antworten, die nicht kamen, und direkte Fragen, denen man auswich, weil es praktisch und auch viel klüger war, die Wahrheit durch die Lücken zwischen den Worten sickern zu lassen. Kurz darauf eilte sie durch Gänge und Korridore eines anderen Gebäudes, wobei jeder Schritt, den sie tiefer in das Labyrinth eindrang, ihr die Chance zum Rückzug zu verwehren schien. Es war, als würde sie in die Vergangenheit sinken. Die alten Pfründeinhaber waren noch an Ort und Stelle und beobachteten jeden ihrer -127-
Schritte. Keine Bewegung entging ihnen, und Ellie mußte sich erneut mit dem Leben in einem Land vertraut machen, in dem die Freiheit, sich unbeobachtet zu bewegen, nicht existierte. Sie spürte, wie ihre Brust sich zusammenkrampfte, das Asthma nach ihr griff. An einem anderen Ort wäre sie stehengeblieben, hätte sich entspannt und versucht, sich zu lockern. Aber sie wollte diesen Beobachtern nicht die Befriedigung bieten, wirklich etwas Beobachtenswertes zu sehen. Sie atmete tief durch und ging weiter, ließ ihren Schritt keinen Augenblick lang zögern. Sie identifizierte eine ganz besondere Angst, eine ausnehmend törichte, und mußte trotz des Unbehagens, das sie ihr bereitete, lächeln. Sie hatte einen Onkel, der einer jener Beobachter war. Da er ein gutes Parteimitglied war, der im Krieg ein Bein verloren hatte, erlaubte es ihm eine dankbare Nation, den ganzen Tag auf einem Stuhl zu sitzen und so zu tun, als würde er arbeiten. Aber er neigte zum Dösen, und wenn er döste, hatte er Alpträume und schrie. Die Abhilfe bestand darin, einen zweiten Krüppel aus dem Krieg neben ihn zu setzen. Gewöhnlich war einer der beiden wach. Ellie befürchtete für einen Moment, daß sie um eine Ecke biegen und auf ihn stoßen würde. Unsinn, er war vor langer Zeit gestorben, ein oder zwei Jahre, nachdem sie das Land verlassen hatte, damals noch, in der Zeit, wo sie Briefe schrieb und erhielt. Schließlich war sie von dem Gebäude erlöst. Ihr Atem beruhigte sich. Sie sah zu, wie der Fluß am Stein nagte, unter einer Girlande von Brücken dahin strömte, an den Biegungen schäumte und dann enteilte, bis er seinen Namen änderte und durch Deutschland floß, um dort ins Meer zu strömen. Sie war oft hierhergekommen und hatte sich über die Leichtigkeit seiner Flucht gewundert und darüber, wie unwahrscheinlich es war, daß sie es ihm -128-
würde gleichtun können. Aber das war damals gewesen, als sie noch ein Kind war, vor den Jahren des Träumens und den Tagen verzweifelten Pläneschmiedens. Ellie kam an eine Bank und setzte sich, grübelte über all das nach, was sie im Labyrinth dieses Tages gelernt hatte. Ein Herr Abetz hatte in einem Haus in der Neustadt gelebt. Sie hatte die Adresse. Er war in Prag geboren, im Jahre 1791, dem Todesjahr Mozarts, und war dort 1841 gestorben, dem Jahr, in dem Dworak geboren wurde. Er hatte die Eröffnung der Eisenbahnlinie, die Prag mit Wien verband, erlebt, war aber gestorben, ehe die Spannungen zwischen den Tschechen und den Deutschen ihren Höhepunkt in einem blutigen Aufstand erlebten. Sie wußte, wo er begraben war. Aber sie wußte nicht, ob er sie möglicherweise zu einer Gefährtin für den Washingtoner Mann führen würde. Außerdem war es eine reine Vermutung, daß dieser Abetz derjenige war, dessen Name sich in die Akten von Amsterdam eingeschlichen hatte. Im Augenblick neigte sie dazu, geradewegs zum Friedhof zu gehen und ihn dort zu suchen, aber zuerst mußte sie sich mit Rose Darrow treffen und noch einmal versuchen, in dem Haus eine Antwort zu finden, wo Rose den gebeugten Mann getroffen hatte. Sie trafen sich auf dem Altstadtplatz, ein paar Minuten bevor die fünfhundert Jahre alte Uhr ihr stündliches Ritual vollführte. Eine neue Gruppe deutscher Touristen hatte sich versammelt, die Gesichter nach oben gewandt, damit ihnen nichts entgehen konnte, während ein Mann in einem grünen Hut ihnen einen Vortrag hielt. Rose stand neben ihnen, darauf vorbereitet, daß der Tod die Begräbnisglocke läutete, bereit für Christus und die Parade seiner Apostel und den krähenden Hahn, der mit den Flügeln schlug. Unterdessen nahm ihr Blick die von Gerüsten verschalte Tyn-Kirche auf, wo Jan Hus gegen -129-
die Autorität des Papstes gepredigt und eine Bewegung eingeleitet hatte, die zu religiösen Reformen geführt hatte und dem, was unvermeidlich mit ihnen einhergeht: Krieg. Aber die Leute, die an ihr vorübergingen, lenkten sie ab, dunkel gekleidete ältere Leute und jüngere Frauen mit ihren selbstgemachten Imitationen der westlichen Mode, die die Touristen zur Schau trugen. Ein paar Minuten bemerkte Rose Ellies Kommen gar nicht, und Ellie selbst wurde zur Beobachterin. Rose fiel auf, sie gehörte ganz offensichtlich nicht zu den eifrigen Deutschen, obwohl sie ebenso offenkundig auch Besucherin war. Ihre Kleidung, ihr Haar, ihre selbstbewußte Haltung verhinderten, daß man sie als Teil der Menge betrachtete. Ellie entdeckte ihr eigenes Spiegelbild in einem Schaufenster, eine Frau um die Vierzig, in Ledermantel und teuren Stiefeln, die zielstrebig vorüberging, um einen Termin wahrzunehmen. Eine Frau, deren Aussehen sie als Außenseiterin verriet. Zigeunerkinder umringten Rose, bettelten um Kleingeld, das sie nicht hatte. Sie trollten sich, als Ellie sie schroff verscheuchte. Rose schmunzelte. »Ich nehme an, das war Tschechisch für ›verschwindet‹« »Diese Kinder sprechen nicht Tschechisch. Das ist jetzt eine Stadt voller Flüchtlinge, es sind Rumänen. Aber verschwindet ist in jeder Sprache eine eindeutige Botschaft. Willst du die Uhr noch mal sehen?« Sie bereitete sich in diesem Augenblick auf ihren Auftritt vor. Touristen drängelten sich in Lücken, um eine bessere Aussicht zu haben. Ihr Reiseleiter verstummte. »Nein«, sagte Rose und hakte sich bei Ellie ein. Sie gingen geradewegs zu dem Haus. Das Mädchen, das auf der Brücke Gitarre gespielt hatte, -130-
tauchte auf. Rose tippte Ellie am Arm an. »Sie hat mich neulich hierher geführt.« Ellie befragte das Mädchen. Einen Augenblick lang versuchte das Mädchen zu entkommen, aber Rose versperrte ihr den Weg, und sie redeten noch kurz miteinander. Dann ließ Ellie von ihr ab. »Nun?« drängte Rose atemlos vor Spannung. »Rose, sie behauptet, überhaupt nichts zu wissen. Sie sagt, sie hätte sich lediglich einverstanden erklärt, dich und deinen Freund Willi von der Brücke hierher zu führen. Aber am Ende hat sie zugegeben, daß das Erdgeschoß dieses Hauses manchmal vom Sohn der Mieterin benutzt wird. Die Mieterin selbst, eine gewisse Frau Zak, eine sehr alte Frau, liegt im Krankenhaus. Das Mädchen behauptet, nicht zu wissen, wo der Sohn ist, wenn er nicht hier im Hause ist, aber ich glaube, es lügt.« »Du hast ihr gegenüber doch Krieger nicht erwähnt, hoffe ich.« Einen Augenblick lang umwölkte sich Ellies Gesicht, dann sagte sie: »Nein. Und außerdem, selbst wenn sie wüßte, wo er ist, hätte sie es mir ganz bestimmt nicht gesagt.« Rose stöhnte. »Danke, Ellie.« »Und was nun?« »Versuch es noch einmal mit der Glocke, und dann gehen wir ins Krankenhaus.« Niemand meldete sich auf das Klingeln. Im Krankenhaus verschaffte Ellie sich nach einem kurzen Wortwechsel am Empfang Zugang, und sie suchten Frau Zak auf. Die sah wie die dünne Hülle einer Frau aus, so leicht, daß ihr Kopf allem Anschein nach überhaupt keine Druckstelle auf dem Kissen hinterließ. Ihr Gesicht war wie -131-
Papier und zeigte dunkle Flecken, die die Leute die Grabesmarken nennen. Eine Schwester hielt die ganze Zeit Wache. Die Blicke aus den schwarzen Augen der Patientin huschten zwischen Rose und Ellie hin und her, während Ellie Fragen stellte, die sie unterwegs eingeübt hatte. Frau Zak war argwöhnisch, das konnte niemandem entgehen. Ellie schlug Rose vor - im Slang, weil sie nicht sicher war, ob die Schwester nicht vielleicht ihre Englischkenntnisse verbarg -, die Schwester irgendwie aus dem Zimmer zu locken, weil die alte Frau in deren Gegenwart wahrscheinlich überhaupt nichts preisgeben würde. Die Schwester fiel auf Roses Trick herein und folgte ihr auf den Flur, um ihr den Weg zur Toilette zu weisen. Diese kurze Unterbrechung mußte Ellie genügen. Als Rose ein paar Minuten später ins Zimmer zurückkam, sah sie, wie die Schwester neben dem Bett sich auf Ellie konzentrierte, die auf eine schweigsame alte Frau einredete. Die Hülle schien noch leerer als vorher. Schließlich mahnte die Schwester: »Das ist jetzt genug. Frau Zak ist recht schwach.« Ellie schob den Stuhl an die Stelle zurück, wo sie ihn vorgefunden hatte. Als sie sich umsah, um sich von der alten Frau zu verabschieden, war die bereits eingeschlafen. »Luft!« murmelte Rose und drängte hinaus. »Ich brauche Luft. Ich kann diese Krankenhäuser nicht ertragen. Die sind so endgültig.« Ellie lachte. »Ist schon gut, Rose, du darfst ja weglaufen. Aber ehe du gehst: Willst du nicht hören, was Frau Zak mir zu sagen hatte?« »Oh, ich dachte schon, die ganze Episode wäre schiefgelaufen. Du hast sie tatsächlich zum Reden -132-
gebracht?« »Komm.« Ellie führte sie durch eine schmale Seitengasse, die eine Straße mit der nächsten verband. »Sie hat ihrem Sohn erlaubt, das Haus zu benutzen. Er wohnt dort, während sie nicht da ist, um sich darum zu kümmern. Und sie hat auch gesagt, daß er normalerweise in Budj lebt.« »Ist das eine andere Stadt?« »Nein, ein Vorort von Prag. Ich bin bis jetzt noch nicht Metro gefahren, vielleicht bekomme ich jetzt Gelegenheit dazu.« Rose gab zu, daß Zak, der gebeugte Mann, Deutsch und ein wenig Englisch sprach. »Ich könnte allein zurechtkommen, wenn du Wichtigeres zu tun hast.« »Ich komme mit. Ich würde um keinen Preis auf meine Metrofahrt verzichten.« Rose bestätigte, die Metro sei herrlich. »Sauber, gepflegt, und die Züge sehen neu aus, verkehren pünktlich. Nach dem armen alten London ist das eine richtige Freude. Oh, und es kostet praktisch nichts.« Und so ließ sich Ellie von Rose als Touristin behandeln und sie das einfache U-Bahn-System mit seinen drei farbcodierten Linien, den bequemen Umsteigevorgängen und den unverdorbenen Bahnsteigen und Rolltreppen erklären, die in noch jungfräulichem Zustand bisher nicht mit Werbeplakaten bekleistert waren. In Budj kamen sie über die Treppe in den frühen Abendnebel herauf. Abgesehen von dem KondomAutomaten am Stationseingang (›Men's Shop Anti-Aids‹) stand in englischer Sprache dort), war es, als würde man einen Schritt zurück in die Zeit in das England der sechziger Jahre tun, in eine Siedlung mit Wohnblocks, größtenteils Flachbauten, aber einige davon bis zu zehn -133-
Stockwerke hoch. Es gab schmale Straßen, nicht viele Fahrzeuge und ohnehin wenig Parkflächen. Ellie erkundigte sich nach der Adresse, die sie Frau Zak abgelockt hatte. Sie nahmen einen Fußweg zwischen zwei Wohnblocks, deren Beton feucht wirkte und deren Fenster die Spuren wiederholter Reparaturarbeiten in dem beständigen Bemühen, sie wettersicher zu machen, aufwiesen. Nebel und ein paar Bäume und Sträucher ließen die Szene etwas freundlicher erscheinen. »Hier«, triumphierte Ellie, »das ist es.« Sie blickten an dem grauen, zersprungenen Betonklotz mit seinen fünf Fensterreihen empor. »Geh du voran«, sagte Rose zweifelnd. Im vierten Stock klopfte Ellie an eine Tür. Eine gebeugte Gestalt mit einer Zigarette in der Hand öffnete. Rose trat vor. »Oh, hallo, Mr. Zak. Ich war in dem Haus in der Altstadt, aber Sie waren offenbar nie da.« Er blickte finster. »Wer hat Sie hierher geschickt?« Sie schüttelte den Kopf, verwehrte ihm die Antwort. »Bitte, wir müssen über Krieger sprechen.« Seine Hand hielt die Tür, beabsichtigte offenbar, sie zu schließen, aber sie hatte jahrelang Übung, sich Zutritt zu verschaffen. Ihr Fuß stand bereits jenseits der Türschwelle. »Würden Sie es nicht vorziehen, wenn wir drinnen darüber reden?« schlug sie selbstbewußt vor. »Hier draußen könnte man uns hören.« Er hatte keine andere Wahl, als die beiden Frauen eintreten zu lassen. Die Wohnung war eng und unordentlich. Mitten im Zimmer stand ein Tisch und auf ihm ein paar Gläser und Pilsner-Flaschen und ein -134-
Päckchen bittere tschechische Zigaretten. Er bot an, eine automatische Höflichkeitsgeste. Rose und Ellie lehnten dankend ab. Dann mischte sich der beißende Tabaksrauch mit der abgestandenen Luft des Zimmers. Er wandte sich an Rose und tat Ellie als eine für ihn belanglose Begleiterscheinung ab, eine Kollegin von Rose' Zeitschrift oder so etwas. Ellie hielt den Mund. »Hierher zu kommen war Zeitvergeudung. Krieger ist nicht hier.« »Neulich abends«, begann Rose unbeeindruckt, »wollten Sie mir erklären, welche Schwierigkeiten Krieger davon abhalten, sich mit mir zu treffen. Sie sagten, ich müsse verstehen, daß die Dinge nicht einfach seien. Nun, für mich sind sie sehr einfach. Ich würde Krieger gern treffen und über ein Interview mit ihm sprechen.« »Sie könnten bezahlen?« »Sie wissen, daß ich das könnte, das habe ich schon am Telefon versichert. Aber das ist etwas, was ich mit ihm besprechen muß. Ich werde nicht kleinlich sein, aber ich bin auch nicht dumm.« Er zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in ihre Richtung. Sie zuckte mit keiner Wimper, haßte das Zimmer, den Gestank, seine Sturheit, die sie immer wieder im Kreis herumtrieb. Und dann beugte er sich plötzlich vor, legte die Zigarette auf den Rand des Aschenbechers und zog einen der Stühle unter dem Tisch heraus. »Setzen Sie sich.« Statt des ihr angebotenen Stuhls nahm sie den ihr am nächsten stehenden. Ein kleiner Fortschritt. Hinter sich hörte sie ein Scharren, als Ellie sich ebenfalls einen Stuhl nahm. »Okay.« Rose verschränkte die Arme über der Tischplatte und wartete auf das, was er zu sagen -135-
beschlossen hatte. »Wenn Rose Darrow und ihr Euromagazin bereit sind, nach Prag zu kommen, um ihn zu suchen, dann ist Krieger eine Menge Geld wert. Und wenn sie so darauf erpicht ist, dann sind das eine Menge anderer Journalisten auch. Und Verleger, vergessen Sie das nicht! Da war dieser Mann aus Frankfurt.« »Willi Franke!.« »Mit einem Buch kann man eine ungeheure Menge Geld verdienen.« »Zugegeben. Obwohl Willi, wie Sie sehen, ja heute abend nicht hier ist. Er ist wieder in Frankfurt und hat aufgehört, auf Krieger Jagd zu machen.« »Aber er ist Ihr Freund, vielleicht handeln Sie als seine Agentin.« Mit einem angedeuteten Stirnrunzeln ließ sie ihn erkennen, daß er da irrte. Er fuhr fort: »Aber egal. Wenn ein Verleger interessiert ist, werden andere das auch sein. Kriegers Geschichte ist von hohem Wert, das haben wir verstanden, und wir werden uns deshalb nicht zu billig verkaufen.« Rose malte mit der Fingerspitze etwas auf die staubige Tischplatte. »Nun gut. Das klingt so, als hätten Sie vor, eine Auktion abzuhalten. Aber lassen Sie sich von mir warnen: Wenn Krieger nicht persönlich erscheint und die Leute davon überzeugt, daß er bereit und willens ist, die Story zu liefern, wird niemand bieten. Was hätte das für einen Sinn? Es hat schon Bücher über ihn gegeben und einen Haufen Artikel, so hoch wie dieser Wohnblock. Das einzige, was ernsthaft Interesse erweckt, ist, eine Story in seinen eigenen Worten veröffentlichen zu können. Er kann sie entweder selbst schreiben, aber das ist unwahrscheinlich. Oder er muß sich mit einem -136-
Journalisten hinsetzen, der die Story formen wird. Ehe ich irgendein Angebot mache, muß ich wissen, womit ich zu tun habe.« Er nahm die Zigarette, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte durch den dichten Rauch zu ihr auf. »Miss Darrow, Sie haben mit mir zu tun.« Sie lächelte mit einem Anflug von Spott. »Das ist nicht gut genug, Mr. Zak. Was gibt es für einen Beweis, daß Krieger in Prag ist oder daß Sie ihn je getroffen haben? Sie haben mir verschiedene Dinge gesagt, aber bis jetzt keinerlei Beweise vorgelegt.« Sie sah ihn gerade an. Aber nach einer Weile war sie die erste, die den Blick abwandte. Die Hand, die ein Fragezeichen in den Staub gemalt hatte, griff beinahe träge nach dem fast leeren Bierglas auf ihrer Tischseite. Sie hob es, ließ es kreisen, so daß die braune Flüssigkeit, die noch ein oder zwei Zoll hoch darin stand, zu schäumen anfing. Dann sagte sie unvermittelt: »Warum erledigen wir das nicht alles sofort?« Er zog ein paarmal an seiner Zigarette, sichtlich erregt. Aber dann tat er so, als hätte er nicht verstanden, und wollte wissen: »Was für Beweise würden Sie denn zufriedenstellen?« »Laden Sie Ihren Begleiter ein, zu uns zu kommen.« Sein Blick huschte zur Tür auf der linken Seite des Zimmers. Und im gleichen Augenblick war Rose aufgesprungen und bewegte sich nach links. Zak fuhr in die Höhe, so daß sein Stuhl gegen den Ofen krachte. Sein Arm fiel hart auf ihre Hand und hinderte sie daran, die Klinke zu berühren. »Öffnen Sie«, verlangte Rose. Sie biß die Zähne zusammen, weil ihr Handgelenk so schmerzte, widerstand -137-
aber dem Drang, den Arm an sich zu drücken, um den Schmerz zu lindern. Seine Stimme klang bösartig. »Sie müssen jetzt gehen!« »Das wollen Sie doch gar nicht.« Der Schmerz strömte nach oben in ihre Schulter. Obwohl sie das nicht wollte, merkte sie, daß sie den schmerzenden Arm an sich preßte, um ihn vor einem weiteren Angriff zu schützen. Und dann wurde die Tür nach innen gezogen. Zak versuchte Widerstand zu leisten, aber der Widerstand war eher symbolischer Natur. Er ließ los, und die Tür öffnete sich. Ein Mann in mittleren Jahren stand da. Klein, untersetzt, mit dunklem, von Grau durchsetztem Haar und einer beginnenden Stirnglatze. Es hatte fünfzehn Jahre lang keine veröffentlichten Fotos von Krieger gegeben, und die Jahre hatten deutliche Spuren hinterlassen. Und doch hätte sie ihn erkannt - an seinen intelligent blickenden braunen Augen. »Krieger«, sagte Rose, verzweifelt darum bemüht, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. Er sprach Deutsch zu ihr. »Jetzt haben Sie Ihren Wunsch. Wir müssen uns heute abend treffen.« Er blickte zu Ellie hinüber, die still am Tisch saß. Rose erklärte: »Ellie ist eine Freundin aus London. Sie spricht besser Deutsch als ich.« Krieger akzeptierte die Erklärung. Er trat noch einen Schritt weiter ins Zimmer und sprach zu Zak: »Eine Zigarette.« Zak warf ihm das Päckchen hin, und Krieger zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief den ersten Zug. Rose wünschte, das Atmen einstellen zu können, der Rauch brannte ihr in den Augen. -138-
Herrgott, dachte sie, wenn ich diesen Mann jemals interviewe, dann wird das in einem Park sein, mit dem Wind von hinten. Zak beugte sich vor, um seine Zigaretten an sich zu nehmen, und murmelte ein paar Worte Tschechisch. Krieger antwortete kurz. Zak versuchte es noch einmal, aber Krieger brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und wandte sich erneut Rose zu. »Ich kann Ihnen von der Zeit erzählen, die ich in Frankreich war, über meine Arbeit in Westdeutschland und die Ereignisse, die dann dazu führten, daß ich in den Osten ging. Es gibt Dinge, die noch nie geschildert wurden, und Gründe, die nie geliefert wurden. Über alles das bin ich bereit zu reden. Aber Sie müssen verstehen, daß ich vorsichtig sein muß. Ich bin kein freier Mann. Das werde ich nie sein. Offiziell mag es sein, daß die Regierungen einen Strich zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ziehen, weil es zweckmäßig ist, weil es zu zeitraubend und nicht konstruktiv ist, ehemalige Feinde zu verfolgen. Aber Einzelpersonen sehen niemals einen Nutzen darin, solche Schlußstriche zu ziehen.« »Ich verstehe.« »Dann verstehen Sie vielleicht auch, daß Regierungen zwar vielleicht politische Erklärungen abgeben, aber die Minister dieser Regierungen dann unter Umständen Maßnahmen sanktionieren, die der erklärten Politik entgegenlaufen.« »Sie werden Sicherheiten haben wollen«, vermutete sie, »und ich kann mir nicht vorstellen, daß es Schwierigkeiten bereiten wird, die zuzusagen.« »Und diese Zusagen einzuhalten?« »Andere mache ich nicht.« »Wir haben eine Stunde, Miss Darrow. Dann müssen Sie -139-
gehen.« Zak erhob Einwände, aber Krieger tat sie ab. Zak drückte ärgerlich seine Zigarette aus, verschwand im Nebenzimmer und kam dann gleich wieder zurück. Rose setzte sich an den Tisch und musterte Krieger. Er redete nicht über Geld oder Sicherheiten, er redete über die Zeit in Frankreich, wo er die Studentenunruhen angestachelt hatte, die schließlich zu den revolutionsähnlichen Zuständen 1968 geführt hatten. Einmal unterbrach er sich und forderte Zak auf, ihm eine Flasche Bier zu bringen. Ein andermal, als Rose Probleme hatte, trug Ellie eine fließende Übersetzung aus dem Deutschen ins Englische bei. Davon abgesehen, verhielt Ellie sich still und behielt das Tonbandgerät im Auge, das Rose sie gebeten hatte mitzubringen. Als die Stunde sich ihrem Ende zuneigte, wurde Zak unruhig und fing wieder an, auf und ab zu gehen. Er hatte sich im Schlafzimmer aufgehalten; man hatte ihn durch die offene Tür sehen können. Aber jetzt stand er am Tisch und versuchte Kriegers Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was ihm schließlich auch gelang. Krieger ließ ihn gewähren und sagte zu Rose: »Ich habe jetzt keine Zeit mehr. Sie können morgen noch einmal kommen, nach Einbruch der Dunkelheit. Dann reden wir länger.« Widerstrebend schickte Rose sich zum Gehen an. Zak stand bereits an der Tür und drängelte: »Beeilen Sie sich!« Rose erlöste ihn von seinem Leid und ging mit Ellie. Sie hatten die Wohnung hinter sich gelassen und die Metrostation bereits vor Augen, als Ellie schließlich Roses Verdacht bestätigte. »Du hast ein Problem, Rose. Krieger hat Zak -140-
versprochen, er würde dir heute abend eine Stunde gewähren, um dich dann loszuwerden. Die sind im Augenblick bereits damit beschäftigt, ihm ein besseres Versteck zu suchen.« »Das habe ich mir gedacht. Von dem, was er mir heute abend erzählt hat, war nichts neu. Er hat nichts verraten und wollte auch nicht über Geld verhandeln.« Ihre Schritte hallten über das feuchte Pflaster, und die Bäume und Häuser wirkten gespenstisch. Ellie blieb stehen. »Meinst du, wir sollten hier in der Nähe warten, um ihnen dann zu folgen, wenn sie weggehen?« Rose lächelte amüsiert. »Ich dachte, daß mir nichts weniger Spaß machen würde, als hinter denen im Nebel herzulaufen. Wir haben nicht einmal einen Wagen.« »Nun, du hast ihn wenigstens mit eigenen Augen gesehen und kannst deinem Büro jetzt versichern, daß er sich in Prag aufhält.« »Das tu' ich seit Wochen«, entgegnete sie trocken. Und fügte dann hinzu: »Weißt du, ich glaube nicht, daß ich schon einem flüchtigen Spion Auge in Auge gegenübergesessen habe.« »Besonders gefallen hat es ihm nicht«, erwiderte Ellie beißend, »aber das verdient er auch nicht.«
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ZEHN Dünner Nieselregen brachte die Steine zum Glänzen. Ellie begann in einer Ecke des Friedhofs und las systematisch die Grabinschriften. Sie fühlte sich an den Highgate-Friedhof und die Dichterecke in der Westminster-Kathedrale erinnert: ein Pferch der Kultur, wo die Künste ihre letzte Ruhestätte fanden. Sie war streng zu sich, verzichtete darauf, sich an irgendwelchen vieldeutigen Inschriften, ob nun gewollt oder nicht, zu ergötzen oder über sie nachzusinnen. Der Wind fing sich in den Blättern und ließ das abgefallene Laub über die Wege flattern. Ellie zog sich ihr Tuch enger um den Kopf und beschleunigte ihre Schritte. Als der Regenguß kräftiger wurde, brach sie ihre Suche ab und suchte Schutz an einer Säule. Von dort sah sie zu, wie der schräg fallende Regen Grabsteine und Himmel in einem grauen Miasma zusammenfügte. Ein Spatz, den sie aus seiner Zuflucht verdrängt hatte, hüpfte davon und fand hinter einem Grabstein Schutz. Und ein Stück hinter den glänzenden Steinen war aus einer Baumgruppe ein dunkler Schmierer geworden. Die unvermeidliche Verzögerung war unangenehm; Ellie versuchte sich damit zu beschäftigen, was sie tun würde, sobald sie Abetz entdeckt hatte. Es ging jetzt nicht mehr nur um ihre eigene Suche, sie hatte sich verleiten lassen, Rose Darrow bei ihrer Jagd auf Krieger zu helfen. Ellie ärgerte sich über sich selbst, daß sie es dazu hatte kommen lassen. Wenn ein Mann Hilfe verweigerte und dies damit begründete, daß seine eigenen Interessen viel zu wichtig waren, um einfach beiseite geschoben zu werden, würde keiner von ihm erwarten, daß er sich eine -142-
Ausrede einfallen ließ. Dinge wie Schuld oder Illoyalität hatten damit überhaupt nichts zu tun. Aber Frauen waren eine hilfsbereite Brut, bereit, ihr Leben so zu formen, daß darin für die Bedürfnisse anderer Leute Platz war. Und wenn Rose einen anderweitig beschäftigten männlichen Bekannten darum bat, für sie zu dolmetschen, würde sie auf eine Ablehnung vorbereitet und darüber nicht beleidigt sein. Ellie war in selbstsüchtiger Weise glücklich darüber, daß man Krieger würde verschwinden lassen, weil das ihren persönlichen Einsatz einschränkte. Freilich hatte sie Rose versprochen, mit ihr am Abend nach Budj zurückzukehren, um bei den Nachbarn Erkundigungen einzuziehen und, falls er dort sein sollte, Zak noch einmal auszuquetschen. Ellie dachte, daß es schrecklich sein mußte, Journalist zu sein und immer irgendwo herumzuhängen und zu versuchen, Leuten Informationen abzuringen, die nicht den Wunsch verspürten, sich mitzuteilen. Der Regen ließ nach, und sie setzte ihre Suche fort. Mit Erfolg! Ihr Blick fiel auf den Namen Abetz: BENEDIKT ABETZ 1791-1841 JULIANA STEHLIK 1797-1843 Die Daten stimmten. Er war ihr Abetz. Ellie erkannte den Namen Stehlik, er gehörte einer reichen Familie, die Ländereien in Böhmen besessen hatte. Besser noch, es war einer der Namen auf der Liste, die Milena Hobzek ihr in der Kunstgalerie gegeben hatte. Die Verbindung war hergestellt. -143-
Sie stapfte durch den Friedhof, durch leere, vom Regen überströmte Straßen und bestieg eine Straßenbahn. Sie zog ihr Tuch vom Kopf und wand es aus. Die Fahrgäste warfen ihr mißbilligende Blicke zu; ihr Lächeln strahlte eine Freude aus, die deren Neugierde nicht bändigen konnte. Die Verbindung war hergestellt. Ellie malte sich aus, wie Abetz den Verkauf der Gemälde in Szene gesetzt hatte und möglicherweise auch den von anderem Besitz, den seine Frau geerbt hatte. Sie sah, wie die Bilder zu einem Händler gebracht wurden, der höhere Preise und größere Diskretion zugesagt hatte. Ellies eifrige Phantasie erschuf das alles neu, bis schließlich die zentrale Frage aufblitzte: Brachte sie dies einem fehlenden Pendant näher? Sie stieg ein kurzes Stück vor dem Wenzelsplatz aus. Der geringe Verkehr überraschte sie. So nahe dem Herzen der Stadt und so leer! Wenige Autos, überhaupt keine Motorräder, und Kopfsteinpflaster und Hügel machten das Radfahren auch unattraktiv. Der Regen ließ jetzt nach, und die Menschen standen dicht zusammengedrängt in gefügiger Resignation und warteten, daß man sie in die Geschäfte ließ. Ein alter Witz kam ihr in den Sinn, und sie gestaltete ihn ein wenig um: ›Wenn drei Engländer sich begegnen, bilden sie einen Club. Wenn drei Tschechen sich begegnen, bilden sie eine Schlange‹. Ein paar Leute drängten sich um das Schaufenster eines Elektroladens, in dem eine Satellitenempfangsschüssel stand. Ein finster blickender Mann machte sich an Touristen heran und bot ihnen Kronen zu Schwarzmarktpreisen an. Ellie rannte an allen vorbei durch die wenig anregende Hotelhalle und in ihr Zimmer hinauf, wo sie sich das Haar frottierte und sich trockene Kleidung anzog. Eine Nachricht von Rose erwartete sie. Während sie sich mit dem Handtuch noch das Haar -144-
rubbelte, erwiderte Ellie das Gespräch. Wenn sie Glück hatte, würde Rose den Abend in Budj absagen. Rose sagte: »Ich dachte, du wärest bei diesem Wetter in deinem Zimmer.« »Nein. Ich war auf einem Friedhof.« »Abetz?« »Ich habe ihn gefunden.« »Dann haben wir heute beide einen guten Tag. Ich bin heute morgen nach Budj gefahren, und der Vogel war wie erwartet ausgeflogen. Die Nachbarn von nebenan sprachen Deutsch, also bin ich klargekommen.« Ellie hoffte, daß ihre Erleichterung darüber, nicht ein zweites Mal nach Budj fahren zu müssen, nicht zu offenkundig war. »Hast du sonst noch etwas Nützliches erfahren?« »Die Frau hat gesagt, Zak sei oft weg. Das kann natürlich auch bedeuten, daß er sich im Haus seiner Mutter in der Altstadt aufhält. Sie wußte nichts über einen Mann, auf den Kriegers Beschreibung paßt, meinte aber, daß verschiedene Leute von Zeit zu Zeit dort wohnen.« »Ich bin überrascht, daß sie so gesprächig war.« »Ich denke, das ist, weil ich Ausländerin bin, sozusagen völlig unwichtig.« Die Erklärung war plausibel. »Sehr scharfsinnig beobachtet. Wenn ich Tschechisch mit ihr gesprochen hätte, hätte ich wahrscheinlich gar nichts erfahren.« »Da ist noch etwas, Ellie. Ich möchte dich etwas ganz anderes fragen, es betrifft John Blair. Erinnerst du dich, daß wir über ihn gesprochen haben und daß er vorhatte, wegen einer Story nach New York zu fliegen? Nun, glaubst du, daß es etwas mit der Familie Devereux zu tun hat?« -145-
»Sogar ausschließlich mit der Familie Devereux«, bestätigte sie. »Wenn du und Sam ein Gästebett für mich habt - oder auch wenn ihr keines habt -, werde ich euch bald heimsuchen«, sagte John Blair. Ellie war entzückt. »New York wimmelt zwar von Freunden, aber ich freue mich immer, dich zu sehen. Wie bald?« Die Verbindung war ausgezeichnet, er hätte ebensogut vom Zimmer nebenan aus anrufen können. Es fiel schwer, sich vorzustellen, daß zwischen ihnen der ganze Atlantik wogte. »Deine Ungeduld tut meiner Seele gut, Ellie«, schmeichelte er. »Wie viele Leute kann ich schon anrufen und sicher sein, so enthusiastisch aufgenommen zu werden?« »Eine ganze Menge«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Wie bald?« »Das kommt darauf an. Ich muß noch einen Chefredakteur überzeugen, daß er es wirklich ernst meint, einen Teil seines Budgets für die Reise auszuspucken.« »Und er ziert sich?« »Nun ja, leider ist es nicht mehr so wie in der guten alten Zeit. Die zählen jetzt ihre Pennies. Aber merk dir mal drei Wochen vor. Wenn meine Überzeugungskraft noch etwas taugt, sollte ich ihn bis dahin für mich gewonnen haben.« »Du kannst ihm von mir ausrichten, daß wir dich hier brauchen.« »Wie geht's Sam?« wechselte er übergangslos das Thema. »Er ist so, wie er meistens ist. Glasige Augen, eine -146-
undurchdringliche Konzentration, schwanger mit einem größeren neuen Werk. Hoffe ich wenigstens. Die ›Eisskulptur‹ war ja eine gute Sache, aber auch der sicherste Weg dazu, seinen Ruf hinschmelzen zu sehen. Die nächste Serie wird zeitlos sein.« »Du meinst, sie wird weder verfaulen noch schmelzen?« »Ich meine - oder besser gesagt, er meint -, daß es ein Werk mit historischer Perspektive sein wird.« Blairs Bemerkung, daß er es nicht erwarten könne, klang ein wenig ironisch. Dann wurde er sehr ernst. »Ich werde übrigens selbst in der Welt der schönen Künste herumstümpern, Ellie. Du wirst mir nämlich nicht nur ein Bett zur Verfügung stellen und mir gigantische Hotelrechnungen ersparen, sondern dich von mir auch ausfragen lassen. Und Sam. Betrachtet euch als gewarnt.« »Worum geht es denn?« »Ist dir die Devereux-Familie ein Begriff?« »Die Parfumleute?« »Ja. Weißt du, daß sie Sammler sind?« »Der alte Herr, Maurice Devereux, hat die Sammlung in den siebziger Jahren angefangen.« »Nun, er zahlt das nicht aus seiner Tasche, er hat einen Kunstfonds gegründet, der als wohltätige Institution operiert. Vermutlich eine Empfehlung seines Steuerberaters. Jedenfalls hat sich inzwischen alles umgedreht. Heutzutage verkaufen sie.« Das überraschte Ellie. John erklärte ihr, daß die Verkäufe mit großer Diskretion vonstatten gehen. »Hauptsächlich läuft das in New York. Ich muß wissen, warum sie verkaufen.« Sie deutete an, daß die guten Zeiten nicht nur in den Zeitungsredaktionen, sondern auch in den Galerien vorbei -147-
wären. Der Kunstmarkt blühte nicht mehr. Dem stimmte er zu und meinte dann, daß er, je mehr er sich mit den Devereux-Finanzen befasse, um so verwirrter werde. »Ich denke, man wird in New York der Lösung näher kommen.« Ellie erbot sich, ohne daß er eine entsprechende Andeutung zu machen brauchte: »Ich werde die Ohren offenhalten. Vielleicht schnappe ich etwas auf. Oh, und von mir erfährt niemand ein Wort, nicht einmal Sam. Er ist in diesem Stadium so durcheinander, daß er sicher mit dem Begriff der Vertraulichkeit nicht zu Rande käme.« »Ich rufe dich in ein paar Tagen an. Und vielen Dank, Ellie.« Aus den paar Tagen wurden zwei Wochen. Ein weiterer Monat verstrich. John Blair traf nie in New York ein. Nachdem Ellie sich das Haar getrocknet und sich mit einem heißen Getränk wiederbelebt hatte, nahm sie das Problem in Angriff, den Mann ausfindig zu machen, der die Liste von Milena Hobzek zusammengestellt hatte. Sie ließ das Gespräch noch einmal im Geiste an sich vorüberziehen und fand dabei einen Hinweis. Die Frau hatte Ellie gegenüber erwähnt, der Mann müsse in dieser Woche einem Verlag ein Manuskript abliefern. Ellie ging in eine Buchhandlung und notierte sich sämtliche Namen tschechischer Verlage, die Kunstbücher veröffentlichten. Das nahm viel Zeit in Anspruch, weil sie einen Verkäufer dazu brauchte, der ihr die einzelnen Titel brachte. Die Bücher standen nicht zum Schmökern zur Verfügung, sie waren entweder im Schaufenster oder hinter den Verkaufstheken auf Regalen aufgereiht. Der Verkäufer war zunächst etwas begriffsstutzig und am Ende ziemlich gereizt. Andere Kunden kamen und gingen, -148-
und Ellie ließ sich von ihm immer noch Bücher bringen, schrieb sich Einzelheiten von den Umschlägen auf und gab ihm die Bücher wieder zurück. Schließlich wollte sie einige Bücher kaufen und wurde damit zu einer Figur in einem bemerkenswerten Spiel, das so aufgebaut schien, daß der Besitzübergang möglichst lange hinausgeschoben und so viele Leute wie möglich mit einbezogen wurden. Als sie ihm die Bücher gereicht hatte, gab ihr der Verkäufer, der zuerst ihr etwas widerstrebender Helfer gewesen war, einen numerierten Bon, händigte dessen Durchschlag an den Kollegen zu seiner Rechten aus, der ihn einem Helfer zu seiner Rechten weitergab, dessen Arbeit darin bestand, die Kasse zu bedienen. Der in der Mitte wickelte die Bücher ein, reichte die Kopie dem an der Kasse, der Ellies Kopie entgegennahm, sie eingehend mit der Kopie verglich und ihr Geld in Empfang nahm. Dann überreichte ihr der in der Mitte das Päckchen. Sie hatte völlig vergessen, wie gnadenlos zeitvergeudend, wie menschenverzehrend, wie sinnlos die Abläufe waren. Sie würden natürlich verschwinden, jetzt, wo die Politik sich geändert hatte. Die Leute würden allmählich die an Gehirnwäsche erinnernde Konditionierung abschütteln, mit dem Absurden zu kollaborieren. Sie würden nicht länger bereit sein, vor einem halbleeren Geschäft im Regen zu warten, bis sie an der Reihe waren, um einen Korb entgegenzunehmen und den Laden zu betreten, nur weil irgend jemand entschieden hatte, daß der Laden nur eine bestimmte Zahl von Körben ausgeben und deshalb auch nur jeweils eine bestimmte Zahl von Kunden einlassen durfte. Ellie legte sich ihre Geschichte zurecht, wonach sie sich auf der Suche nach dem Autor eines neuen Manuskripts befand, das sich mit böhmischer Kunst befaßte, und begann ihre Tour zu den Verlagen der Stadt. Sie hatte -149-
sofort Glück. Ohne ihr besonders viele Fragen zu stellen, sagte eine junge Frau im ersten Verlag, den sie aufsuchte: »Wenn es die Art von Buch ist, kann ich Ihnen, glaube ich, sagen, wo Sie es versuchen könnten.« Binnen einer Stunde überredete Ellie einen farblosen Mann in einem Verlag, ihr den Namen des Autors preiszugeben. Der Mann ließ sie ein paar Minuten allein, während er in einem Adreßverzeichnis nachsah, und überreichte ihr dann ein Blatt Papier, auf dem alles stand. Sie überlebte das kurze Gespräch mit ein paar Halbwahrheiten und entzog sich weiteren Fragen dann durch Flucht, ehe er tiefer schürfen konnte. Vor dem Gebäude, wo ein Fremdenführer gerade seinen Schützlingen einen Vortrag hielt, faltete sie das Papier auseinander. Das Herz stockte ihr. Der in Großbuchstaben mit Kugelschreiber auf das Papier geschriebene Name löste Erinnerungen aus ihrer Teenagerzeit aus. Sie war wieder ein Mädchen, stolzierte mit frischgewaschenem Haar und einem Rock, den sie erst am Morgen genäht hatte, durch die Straßen. Quer über den Platz, durch Gassen, ein kurzer Halt an dem Übergang vor dem Turm und dann in der Schar der Fußgänger hinüber, auf die Brücke. In der Vergangenheit war es Tradition gewesen, daß die Leute auf der Brücke auf der rechten Seite gingen, flußaufwärts auf dem Weg in die Altstadt und flußabwärts zur Burg. Die Tradition war im Verklingen. Ellie bewegte sich auf Zickzackkurs zwischen ihnen, machte gelegentlich einen kleinen Hopser oder rannte ein paar Schritte, um Zusammenstöße zu vermeiden. Die Heiligen zogen an ihr vorbei, die Könige, und unter ihr rauschte der Fluß. Alles rings um sie war ein köstlich -150-
verschwommenes Bild. Die Brücke war nicht gerade, sie ragte über das Wasser, als hätte ein Betrunkener sie konstruiert und dabei mehrmals seinen Strich korrigieren müssen. Ellie bog bei der Jungfrau Maria und ihren zwei Begleitern, dem heiligen Dominik und dem heiligen Thomas von Aquin, ab, und jetzt öffnete sich ihr Blick und reichte bis zum heiligen Wenzel auf dem siebten der fünfzehn Brückenpfeiler. Sie hatte die Brücke fast überquert, als sie ihn schließlich fast am Ende erblickte, wo sie sich immer trafen. Die Ellbogen auf die Brüstung gestützt, blickte er flußaufwärts zu den Inseln und einem schäumenden Wehr. Er schob sich mit der Hand das Haar aus den Augen, wo der Wind es hingeblasen hatte, und bei dieser Bewegung entdeckte er sie. Ein Lächeln war in der schmalen Linie, die sein Mund bildete, Wärme in den Augen unter den dunklen, langen Wimpern. Als sie vor ihm stand, drückte er ihre Hand und sagte ein paar Worte, nichts Besonderes, einen Satz, um ihr zu zeigen, daß er sich freute, sie zu sehen. Und dann gingen sie unter den Bögen durch und begannen den langen, mühsamen Weg den Hügel hinauf zu den Galerien. Er hatte ihr den Zugang zur Kunst eröffnet. Es gab viel zu entdecken, aber er wußte, was wert war, es anzusehen. Sie pflegten eine Galerie zu betreten, und er zeigte ihr dann das Beste, was es dort zu sehen gab, regte ihre Neugierde zu echter Wertschätzung an. »Da, schau, wie er das Spiel des Lichts auf dem Stoff seines Umhangs eingefangen hat.« Oder: »Die Komposition hier ist perfekt. Schau dir an…« Oder: »Ja, es ist hübsch, aber ich ziehe das andere vor. Es ist subtiler, mit leichterer Hand gemalt. Siehst du, wie…« Ihm war es bestimmt, Künstler zu werden, da gab es keine Frage. Beeindruckt hörte sie zu und lernte, ließ ihn -151-
Fenster in ihrem Bewußtsein aufstoßen. Sie hatte noch nie jemanden wie ihn gekannt und hungerte nach mehr von ihm. Wenn er ihr sagte, wer die guten Maler waren und wer nicht, dann glaubte sie ihm. Wenn er ihr Bücher lieh, las sie diese zweimal und stieg dann in Diskussionen ein, in denen sie ihre Schlußfolgerungen an den seinen erprobte. Sie begann das Leben mit seinem ganz besonderen Blick zu betrachten, nahm die Schönheit ihrer Stadt wahr und wie die, die sie heute beherrschten, diese Schönheit verpfuschten. Ellie hegte eine eigene Version seiner Ironie über die Einschränkungen, unter denen man von ihnen erwartete, daß sie gedieh. Nur Künstler, so erklärte er ihr, konnten wahrhaft frei sein, weil sie in einer anderen Währung als der alltäglichen handelten. Ihre Währung war die des Geistes, der Emotionen, der Schönheit und der Wahrheit. Sie liebte das. Sie liebte ihn. Ihre Freunde kritisierten sie, weil sie spürten, wie sie sich veränderte. Sie machten ihr Vorwürfe, weil sie von ihrer Art zu denken auf die seine überwechselte. Ellie. ließ diese Kritik kalt. Ihre Freunde schienen ihr kindisch und uninformiert. Sie verübelte es ihnen nicht, daß sie Scheuklappen trugen, war aber dankbar, jemandem begegnet zu sein, der sie zum Licht führte. Ihre engste Freundin, Nina, deren Horizont sich immerhin bis zu einem Au-pair-Job und Englischunterricht in London erstreckte, wurde besonders lästig, warnte Ellie davor, sich zu sehr mit ihm einzulassen, warnte, daß er für sie zu alt wäre, das Interesse verlieren würde und daß Ellie aufpassen solle, damit sie am Ende nicht verletzt würde. Ellie ärgerte sich, argwöhnte, daß Nina eifersüchtig sei, und fuhr fort, sich von ihm die Augen für die Schönheit und die Wahrheit öffnen zu lassen. -152-
Als der Sommer in den Herbst überging, bemerkte sie, wie ihre Beziehung zu ihm sich anpaßte. Sie wurden einander sicherer, gefestigter, gleicher. Sie betrachtete es nicht länger als ein Privileg, gelegentlich einen Blick in sein Leben tun zu dürfen, sie war zu einem festen Bestandteil dieses Lebens geworden. Ihre Befangenheit löste sich, und sie sah den Weg vor sich. Vielleicht mit ihm, aber ganz sicher mit all dem Guten, das er ihr gegeben hatte. Sie blickte fröhlich und zuversichtlich in die Zukunft. Nina verstand das nie. Was er Ellie gab, war nicht sein Körper und nicht sein Versprechen, immer bei ihr zu bleiben, es war eine neue Dimension für ihr Leben. Wo auch immer sie hinging, was auch immer sie tat, mit wem auch immer sie ihre Zeit verbrachte, sie würde seine Gaben bei sich tragen. Ellie war ihrer Zukunft sicher, und bis dahin liebte sie ihn. Sie erwartete vom Leben jetzt, daß es gut sein würde, besser werden und immer besser werden würde. In jenem Sommer und während des ganzen Herbstes liebte sie ihn. Und den Rest ihres Lebens hatte sie damit verbracht, daß sie den Versuch machte, ihn zu ersetzen. Die rauhe Stimme des Fremdenführers riß sie aus ihren Träumen. Sie merkte, daß eine Masse Menschen sich auf sie zuschob. Den Bruchteil einer Sekunde später wurde ihr klar, daß sie sich nicht für sie interessierten. Ihre Gesichter hoben sich gehorsam, um an der Mauer über ihrem Kopf eine in Stein gehauene Schlange zu studieren. »Prominte.« Sie murmelte eine Entschuldigung und bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die Touristenschar. Wo ging sie hin? Zu seiner Adresse? Der Adresse. Das war ein weiterer Schlag. Es war die Straße, -153-
wo sie aufgewachsen war, wo möglicherweise immer noch ihre Familie wohnte. Ohne eine bewußte Entscheidung zu treffen, eilte Ellie zum Wenzelsplatz und der Zuflucht entgegen, die das Hotel bot. Ihr einziges Ziel war jetzt, eine Tür zu erreichen und sie hinter sich abzusperren. Nein, mehr noch. Sie wollte packen und wegfliegen. Es war töricht von ihr gewesen, nach Prag zu kommen, in Erinnerungen herumzustochern, so, wie ein Kind an einem Schorf am Knie kratzt. Hierher zu kommen war falsch, es konnte nichts besser und alles schlimmer machen. Ihr ganzes Erwachsenenleben lang hatte sie sich geweigert, die tschechische Frau zu sein, die sie hätte sein sollen. Sie war eine überzeugte Londonerin, eine temporäre New Yorkerin. Was hatte sie mit Prag zu tun? Selbst Rose Darrow hatte Kontakte, die ihr eine Wohnung besorgten, während sie, deren Heimatstadt es einmal war, ein Touristenhotel genommen hatte. John Blair hatte diese Stadt auch gekannt. Hatte sie gekannt, als ein GESCHLOSSEN-Schild davor hing und sie sich geweigert hatte, hinzugehen. »Ich suche etwas«, hatte sie über die Schulter zu ihm gesagt und in einem Schrank gewühlt. »Ich weiß, Ellie.« Und dann hänselte er sie mit gespieltem Tiefgang. »Das tun wir alle. Was haben wir verloren? Uns natürlich.« Ihr Brustkorb krampfte sich zusammen, sie verlangsamte ihre Schritte und mühte sich ab, alles aus einer vernünftigen Perspektive zu betrachten. Es war durchaus möglich, daß niemand, den sie einmal gekannt hatte, in der Stadt war. Zwanzig Jahre waren eine lange Zeit, und man hatte den Leuten bis vor kurzem nicht erlaubt, dort zu leben oder zu arbeiten, wo sie Lust hatten. Zum zweiten brauchte sie ja weder in die Nähe jener Straße oder jenes -154-
Mannes zu gehen. Er würde ihr zwar schneller zu Informationen über die Familie von Abetz' Frau verhelfen, aber er war nicht der einzige Weg, der dorthin führte. Sie konnte am nächsten Tag neue Ermittlungen anstellen und sich unnötige Qualen ersparen. Aber es war zu spät. Ihre Geheimnisse waren aufgerührt. Den ganzen Abend bedrängten sie sie. Sie traf sich mit Rose zum Abendessen in einem Restaurant. Das Thema, das ihr Gespräch beherrschte, war nicht Frans Hals oder Abetz und auch nicht Krieger. Es war das Haus Devereux. »Joelle - das ist unser wunderbares Faktotum im Pariser Büro. Sie sieht wie ein Kobold mit schwarzen Augen aus. Du würdest sie sofort mögen - nun, sie hat mir einen Stapel Informationen über die Familie Devereux geschickt. Das liest sich wirklich erstaunlich, Ellie.« »Ohne Zweifel ist auch eine Menge über den Fluch der Devereux dabei.« »Selbstverständlich. Das ist das, was die Boulevardzeitungen lieben: Eine Familie, die alles hat und doch die ganze Zeit vom Unglück verfolgt wird. Das Baby aus seinem Bett gestohlen und ermordet. Die schöne Mutter vor Leid verrückt …« Ellie unterbrach sie: »Aber hast du herausgefunden, warum sie die Kunstsammlung verkaufen?« »Bis jetzt noch nicht, aber ich hab' da schon ein oder zwei Ideen. Die naheliegende Erklärung ist, daß das Geld ihnen ausgeht, obwohl das, wenn man sich ihre Finanzen etwas näher ansieht, nicht zuzutreffen scheint. Die Erträge sind niedriger als in den achtziger Jahren, aber das war ja zu erwarten. Um sie finanziell so schlecht dastehen zu lassen, muß sich der wirtschaftliche Niedergang schon über einen sehr langen Zeitraum erstreckt haben. Die Devereux sind nicht wie diese Superreichen, die mit ihrem -155-
Geld gespielt haben. Die Devereux haben das, womit sie Geschäfte machten, immer besessen, die haben sich nicht alles zusammengeborgt, und deshalb können steigende Zinsen oder unfreundliche Banken ihnen auch nichts anhaben. Sie haben ein exklusives, sehr teures Produkt und wissen, wie sie es schützen können. Altmodisch, wenn du so willst, aber auf diese Art und Weise ist altes Geld entstanden - und zusammengehalten worden.« »Aber die Kunstverkäufe, Rose!« Sie zog die Schultern hoch. »Mir ein Rätsel. Ich kann mir gut vorstellen, was John Blair dazu veranlaßte, in New York herumstochern zu wollen, aber ich bin nicht überzeugt, daß er viel mehr als ein paar Vermutungen von Auktionshäusern gefunden hätte.« »Und?« drängte Ellie gespannt. Rose sah sie fragend an. »Was?« »Komm schon, Rose, du treibst ein Spiel mit mir. Du weißt mehr, als du bisher zugegeben hast. Du hast nicht den ganzen Tag damit verbracht, diese Papiere zu lesen und dich dann verwirrt am Kopf zu kratzen.« Rose hob kapitulierend beide Hände. »Puuh, du bist hart, Ellie. Ich gestehe. Aber das ist reine Theorie, eine bloße Vermutung, sonst nichts. Johns Notizen in Verbindung mit Informationen in den Zeitungsausschnitten und das Material, das ich von Kontakten in London und Paris habe… alles deutet auf Rauschgift.« »Rauschgift?« Köpfe fuhren herum. »Seht!« machte Rose. »Ich habe dir doch gesagt, es ist eine reine Vermutung.« »Eine verrückte Vermutung. Warum, in aller Welt, sollte die Familie Devereux sich mit illegalem Rauschgift -156-
einlassen? Du hast es doch gerade selbst gesagt: Sie haben soviel legales Geld, daß es dafür gar keinen Anreiz gibt.« Aber Rose hatte John Blairs Notizen über ›Schnee‹ und die ›Gib-Verbindung‹ gesehen. Eine Unmenge Geld aus dem Devereux-Kunstfond war verschwunden. »Vielleicht sehe ich die Dinge zu simpel«, gab sie zu, »aber das würde erklären, weshalb John nach Spanien gefahren ist.« Ellie tat das mit einer Handbewegung ab. »Ich wäre da sehr schwer zu überzeugen. Zugegeben, Kunstschätze sind als Investition nicht mehr das, was sie vor ein paar Jahren waren, aber die Präsenz der Devereux auf dem Markt befaßte sich nicht mit Kaufen und Verkaufen und ein paar Francs Gewinn. Sie haben ernsthaft gesammelt, und dabei geht es um Besitz. Angeberei, wenn du herzlos sein willst.« Rose zählte die Faktoren auf, die sie auf die Rauschgifttheorie gebracht hatten. Ellie stützte das Kinn auf die Hand und lehnte sich über den Tisch. »Du meinst, daß das der Schluß war, den John gezogen hat.« Ellie bemerkte, wie die Blicke der jüngeren Frau ihr den Bruchteil einer Sekunde lang auswichen. Dann überzog etwas Röte Roses Wangen, als sie Ellie wieder ansah und hinzufügte: »In London geht das Gerücht, daß man John ganz bewußt erschossen hat. Falls das stimmt, Ellie, und wenn ich alles das richtig sehe, dann weiß ich, warum er getötet worden ist.«
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ELF Sams Stimme klang wehleidig. »Der Kühlschrank ist hin. Kannst du dir das vorstellen? Amerika in den neunziger Jahren, und der verdammte Kühlschrank funktioniert nicht.« »Was machen die Sinnbilder?« Ein Überseegespräch, und er erzählte ihr etwas über einen Kühlschrank. »Die was?« Die Verbindung war ziemlich schlecht. »Sinnbilder des zwanzigsten Jahrhunderts, die Skulptur.« »Ellie, ich habe zwei Tage lang versucht, einen neuen Kühlschrank zu kaufen.« Sie probierte es mit einem Witz. »Weißt du, Sam, ein defekter Kühlschrank könnte sich auch als eines der Sinnbilder des Jahrhunderts eignen.« »Als Illustration des eingebauten Veralterns, meinst du? Ellie, damit hast du mich vielleicht auf eine Idee gebracht.« Sie zuckte zusammen. »Nein, nein, Sam. Ein Kühlschrank wäre zu groß. Der würde nie in eine dieser Blasen passen.« »Nun, das nicht, aber das Konzept an sich wäre vielleicht eine Überlegung wert. Vielleicht ist ein Kühlschrank nicht genau das, was man verwenden sollte, aber das zwanzigste Jahrhundert ist das Zeitalter der geplanten Veralterung. Es würde durchaus Sinn machen, ein Beispiel dafür einzubringen.« »Wie würde das denn passen, neben Marilyn Monroe, Che Guevara, Hammer und Sichel…?« -158-
»Nein, Guevara ist raus. Ich hab' doch Guevara verschrottet, erinnerst du dich nicht?« »Ja, doch, zusammen mit Mickeymouse. Aber die zerfließende Dali-Uhr hast du behalten, und, äh …« »Einen Computer. Siehst du? Ein kaputter Kühlschrank oder etwas Vergleichbares würde gut aussehen. Das würde die Betonung etwas von den Persönlichkeiten ablenken.« Das räumte sie ein. Er hatte recht. »Sam, ich muß vielleicht eine Reise nach Böhmen machen.« »Ist das weit von der Tschechoslowakei entfernt?« Sie verdrehte die Augen. Von ihm war das kein Witz. »Überhaupt keine Entfernung, Sam.« Er war mit seiner Ignoranz in guter Gesellschaft. Als Shakespeare Robert Greenes Roman Pandosto: der Triumph der Zeit in Wintermärchen geändert hatte, hatte er Greenes Fehler wiederholt und aus Böhmen ein Wüstenland mit einer Meeresküste gemacht. Sam wechselte das Thema. »Diese Frau, nach der du suchst, das Frans-Hals-Gemälde. Ich begreife nicht ganz, was sie mit deinem Buch zu tun hat.« Das rief in ihr Schuldgefühle wach. »Ich weiß, Sam. Das ist eine Randerscheinung. Die Hals-Frau wird nur eine Fußnote sein, aber ich möchte noch eine Weile damit weitermachen. Nicht viel, nur ein wenig.« »Nun, zieh es nicht zu sehr in die Länge. Meine Ausstellung wird im Februar eröffnet, und du hast einen heiligen Eid geleistet, zur Eröffnung hierzusein.« »Bis dahin sind es noch Monate. Und ich werde dabei sein. Ich werde das Buch in London fertigstellen und anschließend sofort nach New York fliegen.« Sie tauschten sich noch ein paar Augenblicke in -159-
haarspalterischer Weise darüber aus, ob sie sich selbst gegenüber zu nachgiebig war und ob er besser arbeitete, wenn sie in seiner Nähe war oder wenn sie nicht da war und ihn auch nicht stören konnte. »Ellie, du fehlst mir.« »Du mir auch, Sam. Ich komme auch so bald wie möglich zurück.« Das Gespräch neigte sich seinem Ende zu, als er sagte: »Hey, das hätte ich beinahe vergessen. Ich habe neulich gehört, daß Exil auf den Markt kommen soll.« »Wirklich?« »Dunstan hat mir den Tip gegeben. Er dachte, ich könnte es sonst anderswo hören, und es sei die Pflicht eines guten Agenten, mich zu warnen.« Exil, seine Assemblage aus Büroklammern und anderen Büroutensilien, befand sich mit einer Anzahl weiterer Stücke von ihm in einer Galerie an der Westküste in einer ständigen Ausstellung. Es handelte sich um sein berühmtestes Werk, und es war gleichsam das tragende Element der Ausstellung. Ellie zögerte, fragte aber dann doch: »Wenn die Galerie etwas abstoßen muß, warum dann gerade Exil?« »Es gehört ihnen nicht. Es ist nur langfristig an sie ausgeliehen. Dunstan sagt, die könnten es sich unmöglich leisten, das Ding zu kaufen, obwohl sie das gern täten. Der Besitzer hat ihnen die Zeit gelassen, ein Angebot abzugeben, aber wenn nicht gerade ein Wunder geschieht, können sie den Preis nicht aufbringen. Es wird wahrscheinlich im Lauf der nächsten zwei oder drei Monate zur Versteigerung kommen.« Sie spürte seine Unruhe und gab sich Mühe, ihn dadurch zu beruhigen, indem sie die Sache auf die leichte Schulter -160-
zu nehmen vorgab. »Dann wirst du erfahren, was deine Reputation wirklich wert ist.« Sie bedauerte sofort, das gesagt zu haben. Der Humor, der dann in der Bemerkung gelegen hätte, wenn sie und Sam sich gegenübergestanden hätten, ging verloren, und die Bemerkung klang eher wie eine Taktlosigkeit. »Ellie, der Markt ist völlig kaputt. Keiner hat Geld. Für mich ist das Wesentliche nicht, ob bei der Auktion eine Menge Geld über den Tresen geht, sondern ob die Anbieter Klasse haben. Wenn die wichtigen Leute meine Arbeit hoch genug einschätzen, um zu bieten, dann bin ich damit schon zufrieden.« Als sie Sam so phlegmatisch sah, gratulierte Ellie im Geiste seinem Agenten, daß er Sam so gut auf eine mögliche Katastrophe bei der Auktion vorbereitet hatte. Sam war am Ergebnis nicht unmittelbar finanziell interessiert, aber es würde die Reise für seine neuen Werke natürlich beeinflussen. Sam war weder ein Verschwender, noch war er ein Geizhals. Er nahm Geld nicht besonders wichtig und hatte das auch nicht nötig. Was auch immer in der Welt der Kunst geschah, er war im Laufe der Jahre recht gut gefahren, und das Geld sammelte sich langsam um ihn herum an. Der Agent verwahrte es an sicheren Orten, so daß Sam, selbst wenn er fortfuhr, habgierige Frauen zu heiraten und sich wieder von ihnen scheiden zu lassen, im Alter nie der Wohlfahrt zur Last fallen würde. Aber wenn seine Reputation litt, dann gab es nichts, was Agenten oder Freunde tun konnten, um Sam die Demütigung zu ersparen. Ellie bot ihre vertrauten, aufmunternden Bemerkungen auf, die alle im Wesen darauf hinausliefen, daß so viele Leute daran interessiert waren, seine Reputation als die eines führenden Künstlers seiner Zeit zu stützen. -161-
»Du hast übrigens nicht erwähnt«, fügte sie hinzu, »wem Exil eigentlich gehört.« »Der Familie Devereux«, kam es, als wäre es absolut selbstverständlich. Dann war das Gespräch zu Ende. Ellie versuchte Rose anzurufen und ihr mitzuteilen, daß Exil möglicherweise verkauft werden würde, obwohl sie Zweifel daran hatte, daß die Nachricht Rose sehr viel nützen würde, kam aber nicht durch. In Ermangelung anderer Ablenkungsmöglichkeiten sah sie sich erneut der Entscheidung ausgesetzt, wie sie weiter den Abetzschen Hals-Gemälden nachgehen sollte. Eine neue Kette von Ermittlungen anfangen, um die Geschichte der Familie der Frau, der Stehliks, zu entwirren? Oder den kurzen Weg gehen, der sie in die Straße führen würde, wo sie aufgewachsen war? Draußen auf dem Platz wehte immer noch ein eisiger Wind. Ein Stück Einwickelpapier, eines der wenigen Exemplare von Unrat, die ihr bisher in der Stadt begegnet waren, flog an ihr vorbei. Es hatte auch gute Zeiten gegeben, das mußte sie sich immer wieder sagen. Um ehrlich zu sein, waren es fast ausschließlich gute Zeiten gewesen. Manchmal hatte es Enttäuschungen gegeben, aber auch nicht schlimmer als die, die sie erlebt hätte, wenn sie anderswo aufgewachsen wäre. Alle Einschränkungen erscheinen Kindern wie Zumutungen, Erwachsene sind diejenigen, die bezüglich der Freiheit rationale Entscheidungen treffen. Familien wandten sich nach innen und stützten sich auf den bequemen Kontext der Familie, um dort gesellschaftliches Leben und Freiheit zu finden. Ihre Eltern leisteten keinen Widerstand, wenigstens nicht in einem Maße, daß es ihr aufgefallen wäre. Wenn sie über die lästige Bürokratie murrten, wenn sie es leid waren, daß -162-
man ihnen die Mittel verwehrte, sich Ausdruck zu verschaffen, dann äußerten sie ihr gegenüber davon jedenfalls nichts. Taktlos wie junge Menschen sind, hatte sie ihrer Mutter vorgeworfen: »Warum sagst du nicht, was du denkst? Ich weiß, was du denkst, aber du sprichst es nicht aus.« »Ich habe zuviel gesehen, Ellie. Zu viel Leid.« »Aber das war in der Vergangenheit.« »Wirklich?« Ihre Mutter sah älter aus, als es ihrem Alter entsprochen hätte. Ellie wußte das nicht, hatte es lange Zeit nicht gewußt; erst als sie mit Frauen zusammenkam, die sich dann als mit ihrer Mutter gleichaltrig erwiesen und die Ellie für jünger gehalten hatten. Aber das war viel später, in einem anderen Land. Ellies Mutter lehrte sie nähen, zeigte ihr, wie man sauber die Stiche aneinandersetzt und die Säume alle zwei Zentimeter mit einem Steppstich sichert. Sie brachte ihr bei, wie man Kleider ausließ, aus denen sie herausgewachsen war. Ein verblaßtes Kleid ihrer Mutter wurde auf diese Weise für sie umgearbeitet. Als die einzelnen Stoffteile voneinander getrennt waren, kam das Bügeln. »Sei vorsichtig, Elena. Du wirst es verbrennen.« Wenn ihre Mutter etwas an ihr auszusetzen hatte, nannte sie sie immer Elena. Ihre Mutter nahm das größte Stück, das den halben Rock ausmachte, und breitete es auf dem Küchentisch aus. Sie heftete ein Schnittmuster darauf, das sie aus Zeitungspapier ausgeschnitten hatte. Dann schob sie ein weiteres Stück Papier hin, und als das ganze Stück Stoff mit Zeitungspapier bedeckt war, schnitt sie vorsichtig mit der Schere an den Papierrändern entlang. -163-
Ellies Aufgabe war es, das wertvolle selbstgemachte Schnittmuster wieder von dem Stoff zu lösen und zusammenzufalten. Sie paßte auf, daß die Stecknadeln nicht vom Tisch rollten, und steckte sie in ein Nadelkissen. Ihre Mutter saß viele Abende lang unter der Glühbirne, die von der Decke hing und deren Schein die Nähnadel blitzen ließ, bis ihr altes grünes Kleid in ein kleineres für Ellie verwandelt war. Ellie nahm in den Häusern und Wohnungen ringsum die Unterschiede im Leben jener wahr, die auch in schweren Zeiten zu Rande kamen, und jener anderen, die das nicht schafften. Ein Talent für Bedachtsamkeit mußte gehegt werden. Dabei kam ihr nie in den Sinn, daß das Leben ihrer Eltern, ganz besonders das ihrer Mutter, eine harte, bedrückende Existenz war. Ihr Vater hatte seine Arbeit, bei der er Anerkennung fand, die Gesellschaft von Männern, Aufgaben, die es zu erledigen gab, und Geld, das er nach Hause bringen mußte. Für ihre Mutter waren die Wände ein Käfig. Das Haus zu verlassen, bedeutete Geld ausgeben, und Geld durfte nie ausgegeben werden, wenn es nicht absolut notwendig war. Ellie erinnerte sich an kein einziges Mal, wo ihre Mutter einfach nur zum Vergnügen eingekauft hatte oder weil es ihr guttat oder aus irgendeinem anderen Grund als schierer Notwendigkeit. Wenn es nicht auch noch ein jüngeres Kind gegeben hätte, wäre ihre Mutter vielleicht weniger eingesperrt gewesen. Ellie war das mittlere Kind von dreien. Ein paar Jahre lang waren es vier, aber der Bruder, der ein paar Jahre älter als Ellie war, starb nach einer Verletzung an einer Infektion. Ihre überlebenden Brüder waren fünf Jahre älter und drei Jahre jünger als sie. Wenn sie dem jüngeren jetzt auf der Straße begegnen würde, würde sie ihn nicht erkennen. Sie hatte Prag verlassen, als er -164-
vierzehn Jahre alt gewesen war. Sie erreichte eine breite Straße und warf gelegentlich einen Blick auf Ladenfassaden und moderne Gebäude, alle neu, gebaut in der Zeit, als sie nicht mehr hier war. Schließlich kam sie in eine schmale Seitenstraße, die zur Hälfte von Baumaterial versperrt war. An einem Platz am Ende der Straße sang ihr eine Baritonstimme aus einem Lautsprecher eine Serenade: »Nichts als deine Liebe hat das Wunder werden lassen, nichts als deine Liebe.« Einiges war neu angeordnet worden. Ein Bogengang war von einem eisernen Tor versperrt. Ellie ging um den Platz herum und suchte nach einem anderen Weg. Ein Mann tauchte auf, und sie fragte ihn nach der Richtung. Wie seltsam es doch war, den Namen der Straße wieder auszusprechen. Sie ging ein Stück Weges zurück, trat durch einen Bogen, von dem sie irrigerweise angenommen hatte, er führe in eine Sackgasse, und erreichte die Straße, in der sie aufgewachsen war. Der Name war mehrere Male abgeändert worden. Sie hatte die Namen von Heiligen und Politikern getragen, in deutscher, tschechischer oder russischer Sprache. Keine besonders attraktive Straße, eine, in der die Häuser sich eng zusammendrängten und um die keiner sich besonders kümmerte, weil, wenn die Dinge allen gehören, sie auch niemandem gehören. Ein Fremder würde hinsehen und weitergehen, die hübscheren Orte suchen, die es in der Nähe gab. Prag war voll hübscherer Orte. Der Schritt des Fremden würde dort verharren, wo ein Bogen den Blick auf einen Hof mit Blumenbeeten freigab, aber sonst war nichts es wert, daß man verweilte. Ellies Schritte wurden langsamer, der stumpfe Anblick der Gegenwart kontrastierte mit der Lebhaftigkeit der -165-
Tage, an die sie sich erinnerte. Als kleines Mädchen war sie aus einer Tür auf das Kopfsteinpflaster hinausgehüpft, hatte ungeduldig darauf gewartet, daß ihre Mutter nachkam, mit dem jüngeren Bruder im Schlepptau. Oder sie rannte von der Schule nach Hause, mit fliegendem Haar, im Wettlauf mit einer Gefährtin, die sie sich nur einbildete, bemüht, die erste an der Tür zu sein. Die späteren Erinnerungen konnte sie nicht verdrängen. Sie folgten ebenso natürlich, wie die Tage gelebt worden waren, jene Szenen, die sie sich zu vergessen abgemüht hatte. Ein eiserner Ring legte sich um ihr Herz, als sie, wieder sechzehn, aus dem Hause floh, darum betend, daß ihr niemand begegnen würde, den sie kannte, daß niemand sie fragen würde, weshalb sie weinte. Das Atmen bereitete ihr jetzt Mühe, aber sie war so weit gekommen und mußte weitergehen. Die Verzweiflung einer anderen Zeit bedrohte ihre erzwungene Ruhe, als sie an den Abend dachte, an dem sie gelogen und das Haus verlassen hatte, um nie wieder zurückzukehren. Sie hatte sich gewünscht, nie wieder zurückzukehren. Und dann, verzweifelt auf der Brücke, gab sie dem Wissen nach, daß es für sie außer dem Zuhause kein Ziel gab. Und dann drehte sie sich um und sah ihn, spürte das Gewicht seiner Hand auf ihrer Schulter und ließ sich von ihm zu dieser Straße zurückführen. Die Beine bleiern vor Kälte und Elend, war sie gestrauchelt, hatte die Hand ausgestreckt, um sich zu stützen, und sich dabei die Knöchel an der Mauer aufgeschürft. Er streckte den Arm aus, um sie zu schützen, hielt sie fest, bis sie im Haus war. Da war ein Flur, ein Licht. Ellie funkelte ihn an, ihre Wangen hatten sich gerötet. Und er lächelte sie an, ein flüchtiges, triumphierendes Lächeln. Ellie ging an dem Haus vorbei, wo diese Dinge mit ihr geschehen waren. Unschuldig und nichtssagend stand es -166-
zwischen seinen Nachbarn, von denen es nichts unterschied außer vielleicht dem Pflaster, in dem sich ein paar von den Kopfsteinen gelöst hatten. Sie bewegten sich unter ihren Schuhen, als sie an der Haustür vorbeiging, der alten, verschrammten Tür, wo ihre Kinderfinger beide Hände gebraucht hatten, um den Knopf zu drehen. Sie mühte sich um Gedanken, die sie beruhigen würden, konnte sich aber selbst nicht täuschen. Noch ein paar Meter, und dann würde sie vor jenem anderen Haus stehen, dem, wo der Mann jetzt lebte, der ihr junger Kunstliebhaber gewesen war. Die Erinnerungen an ihn würden auf sie einstürmen und sich jenen anderen schrecklichen hinzufügen. An den Häusern waren Nummern aus Metall befestigt. Sie erreichte die Nummer sieben. Statt hineinzugehen, ging sie bis zum Ende der Straße, bog um die Ecke und redete sich ein, daß in einer Minute wieder alles gut sein würde. Eine Frau eilte vorüber und musterte sie besorgt, aber Ellie wich ihr aus. Sie ging weiter, bis sie eine kavârna fand, zögerte dann. Sie setzte sich selbst unter Druck, um zu der Straße zurückzukehren und die Fragen über die Stehlik-Familie, über Abetz und die Frans-Hals-Porträts zu stellen. Mit einem Akt bewußter Willensanstrengung machte sie sich schließlich auf den Rückweg. Die ersten Worte, die sie geplant hatte, schienen ihr plötzlich unpassend, und sie überlegte, mit welchen anderen Worten sie ein Gespräch wiedereröffnen könnte, das sie vor zweiundzwanzig Jahren abgebrochen hatte. Aber keines der Worte war angebracht. »Er wird die Worte ohnehin nicht hören«, überlegte sie. »Er wird erstaunt sein, das einzige, was er aufnehmen wird, wird sein eigenes Erstaunen sein.« -167-
Ohne sich die Gelegenheit zu geben, wieder schwach zu werden, öffnete sie die Tür von Nummer sieben. Es gab einen Korridor, ganz ähnlich dem, den sie ein paar Türen weiter gekannt hatte. Neben einer schwachen Wandbeleuchtung waren vier Klingelknöpfe für die Wohnungen angebracht. Ihr Blick wanderte automatisch zu seinem Namen. Aber ihre ausgestreckte Hand verweilte einen Zoll vor der Berührung mit dem Klingelknopf. Ein Mann kam eilig die Treppe herunter, wollte an ihr vorbei, blieb dann aber stehen. »Suchen Sie jemanden? Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Es ist schon gut«, entgegnete Ellie schnell. Und dann fügte sie noch »Danke!« hinzu, als wäre es ihr nachträglich eingefallen. Sie wandte das Gesicht ab und hörte, wie die Haustür hinter ihm dröhnend zufiel. Sie hätte ihn überall erkannt. Die Stimme war dieselbe, der Eifer, der Glanz in seinen Augen. Er hatte sich nicht so verändert, wie manche Männer sich verändern. Das Gesicht war das, das sie vor ihrem inneren Auge heraufbeschwor, wenn sie die Augen schloß und andere Männer umarmte. Zum erstenmal, seit ihr klargeworden war, daß sie ihn aufsuchen mußte, fragte sich Ellie, wie sein Leben wohl verlaufen war. An dieser Adresse konnte er wohl kaum ein Maler sein. Wenn er Glück hatte, hatte er vielleicht an irgendeinem anderen Ort ein Atelier. Und wenn nicht? Über all die Jahre hatte sie angenommen, daß er Maler wäre, daß er auf der Suche nach Wahrheit und Schönheit wäre, daß er jenen Weg zu jener ganz speziellen Freiheit eingeschlagen hatte. Aber was, wenn sie sich irrte? Unbewußt hatte sie sich selbst vor Fragen abgeschirmt, und jetzt konnte sie ihnen nicht mehr aus dem Weg gehen. Die Haustür öffnete sich ächzend. Sie zuckte zusammen. -168-
Ein Mann stand in der Tür, eine Silhouette vor dem Licht von draußen. »Entschuldigen Sie«, begann er leise. »Sie erinnern mich an ein Mädchen, das ich einmal kannte.« Da war eine Frage, eingezwängt zwischen die Wörter, die aus seinem Mund kamen. »Ja«, sagte sie und beantwortete damit die Frage. Er ging auf sie zu, bis sie sein Gesicht im Schein der Wandbeleuchtung erkennen konnte. Sein Ausdruck war ein Durcheinander aus ungläubigem Staunen und unendlicher Freude. »Ellie? Ja, das ist wirklich Ellie!« Die Worte ließen ihn im Stich, aber sie griff nach seiner Hand, und der Kontakt zwischen ihnen war nicht ganz ein formelles Händeschütteln und nicht ganz ein liebevolles Drücken. Als sie zu sprechen versuchte, war ihre Stimme belegt. Sie räusperte sich, schluckte. »Wenn du Zeit hast, würde ich gern mit dir reden.« Das klang gestelzt, verlegen. Nichts von alldem, was sie eingeübt hatte. Aber das war dieses abrupte Zusammentreffen ja auch nicht. »Zeit?« wiederholte er wie ein Echo und genauso verlegen. »Natürlich. Komm mit rauf.« Das Treppenhaus war schlecht beleuchtet, die Wohnung winzig und dunkel. Es gab Hinweise auf eine Ehefrau, jedenfalls eine Frau. Eine rosa Bluse, die auf einem Kleiderbügel lüftete, eine Handtasche auf einem Stuhl. »Bitte, setz dich.« Er deutete auf einen mit grauem Plüsch bezogenen Stuhl, dem einzig weichen im Raum, aber sie zog einen der hölzernen unter dem Tisch hervor. Sie wünschte sich, irgend etwas würde ihr einfallen, was -169-
sie sagen konnte. Aber nach einer Pause von Jahrzehnten war jeder Gedanke banal und jedes Thema absurd. Er sagte: »Da war Wein, aber den haben die getrunken. Aber das hier haben sie uns dagelassen.« Sie hatte keine Ahnung, wer ›die‹ waren. Er holte zwei Flaschen Urquell aus dem Kühlschrank. Die Scharniere eines blechernen Wandschranks quietschten, als er Gläser holte. Er nahm ihr gegenüber Platz. Sie öffneten die Flaschen. Dann nickte er ihr zu. »Nun denn. Sag mir, was du hier machst.« Das war das Einfache. Er ließ sie dort anfangen, wo es am wenigsten schmerzte. Sie war dankbar und fragte sich, ob er wohl ahnte, daß dies ihre Reaktion war. »Ich bin auf der Suche nach einem Frauenporträt von Frans Hals«, erklärte sie, um damit eine komplizierte Geschichte einzuleiten. Sobald sie sicher war, daß er begriffen hatte, worum es ging, erwähnte sie die Gründe, weshalb sie ihn aufgesucht hatte. »Ich hatte gehofft, ich könnte mit deiner Unterstützung etwas abkürzen, weil du bereits weißt, wer was zu welcher Zeit und wann besessen hat.« »Ich wünschte, Milena Hobzek hätte mir mehr gesagt. Sie hat Frans Hals nicht erwähnt und dich auch nicht. Von ihr klang das wie eine ganz allgemeine Anfrage für ihre Zwecke. Aber was die Stehlik-Sammlung angeht, kann ich dir tatsächlich helfen. Ich hole meine Aufzeichnungen.« Er verschwand in ein Nebenzimmer, und Ellie konnte hören, wie Schubladen auf und zu geschoben wurden. Sie sah sich um, musterte das häßliche Zimmer mit seinen abgewetzten Möbeln. Es gab keinerlei Hinweise darauf, daß jemand hier malte, auch nicht den verräterischen Geruch von Farbe oder Spiritus, keine zum Trocknen -170-
ausgelegten Pinsel und vor allem überhaupt keinen Platz. Er brachte einen Aktendeckel mit losen Blättern und suchte darin herum, bis er das gefunden hatte, was er wollte. Die Stehlik-Familie, erklärte er, waren im 18. Jahrhundert Kunstmäzene. Ihre besondere Liebe galt der Musik, aber sie unterstützten auch junge Maler und bauten sich eine gute Sammlung aus alten und neuen Werken auf. »Was dich interessieren wird, ist, daß die Gemälde zu Anfang des darauffolgenden Jahrhunderts an fünf Kinder vererbt wurden, darunter auch die jüngste Tochter Juliana, die mit einem Mann namens Abetz verheiratet war.« Ellie bestätigte, dies passe exakt zu dem, was sie in Amsterdam erfahren hatte: Abetz hatte dem Händler gesagt, er habe die Gemälde geerbt. Er ordnete das Blatt wieder zu den anderen, legte beide Hände darauf und verschränkte die Finger in einer lehrhaften Pose. »In den Stehlik-Papieren sind die Gemälde einzeln aufgezählt, die an Juliana gingen. Es gab dabei ein Männerporträt von Hals, aber kein Pendant. Unter den Gemälden, die die Familie besaß, waren insgesamt drei Hals-Porträts.« Ellie seufzte übertrieben. »Dann verrat mir auch gleich das Schlimmste. Nein, laß mich raten! Die vier anderen Erben haben ebenfalls alles verkauft, und die ganze Sammlung ist in alle vier Winde verstreut.« Er schenkte sich nach. »Nein, das stimmt nicht. Der älteste Sohn wollte die Sammlung intakt halten und hat alles getan, um die Gemälde von seinen Brüdern und Schwestern zu erwerben. Darüber gibt es eine Unmenge Korrespondenz. Im großen und ganzen hatte er keinen Erfolg. Er hat Bauernhöfe und Wälder und der Himmel weiß, was sonst noch eingetauscht. Ich bin überzeugt, daß die anderen ihn für verrückt hielten, und das war er -171-
vielleicht auch. Jedenfalls überlebte die Sammlung bis ins neunzehnte Jahrhundert, und nur die Juliana-Bilder und eine Handvoll weiterer verschwanden.« Es war ein seltsames Gefühl, allein mit ihm in einem Zimmer zu sein, ganz und gar nicht vertraut. Ihre Liebe war eine Liebe im Freien gewesen, eine geheime Affäre in der Öffentlichkeit. Sie erinnerte sich an sein Gesicht im Sonnenschein, zwischen Kerzenflammen, im geheimnisvollen Leuchten von Straßenlaternen und von den Blättern blühender Bäume betupft. Ellie fühlte sich unter seinem Blick unbehaglich. Sein gelegentliches Lächeln war etwas, womit er sie erwärmt hatte, wenn sie sich auf der Brücke trafen, aber wenn er nicht lächelte, waren seine Augen wachsam, fragend. Eine Sekunde lang sah sie sich so, wie er sie sehen mußte: eine Frau von achtunddreißig Jahren, deren silberblondes Haar die grauen Strähnen verbarg, die sich bereits eingeschlichen hatten. Ein gepflegter Haarschnitt, der alle zwei Monate in Knightsbridge ein Vermögen kostete. Ein modischer, teurer Ledermantel, der neben ihr über der Stuhllehne lag. Kleidung aus wertvollen Stoffen in schmeichelnden Farben, die ihre Haut zum Leuchten brachten. Und sie hatte gute Haut. Sie pflegte sich, trieb Gymnastik, um schlank zu bleiben, und aß Obst und rohes Gemüse, damit ihre Haut elastisch und jugendlich blieb. Im Vergleich mit der Durchschnittsfrau in den Straßen dieser Stadt, im Vergleich mit der Durchschnittsfrau, zu der sie sich möglicherweise entwickelt hätte, wenn sie geblieben wäre, verströmte Ellie strahlende Gesundheit. Sie zwang ihre Gedanken von der Selbstbetrachtung weg und hörte auf das, was er ihr sagte. »Unglücklicherweise ist in den Akten nichts über die anderen zwei Hals-Gemälde zu finden. Ich habe keine Ahnung, ob das Pendant, an dessen Existenz du glaubst, -172-
eines der beiden sein könnte. Jedenfalls war eines davon ein Frauengemälde, soviel ist klar. Und du weißt ja schon, daß das Männerporträt dem in Washington ähnelte.« Er wartete auf ihre Frage, und sie stellte sie prompt. »Was wurde aus der Sammlung, nachdem sie doch größtenteils intakt blieb?« »Ein oder zwei Kriege, ein paar Verkäufe, möglicherweise auch der eine oder andere Diebstahl. Wenn sie bis zum heutigen Tage überlebt hätte, wäre es eine wichtige Sammlung. Aber wie du dir ja vorstellen kannst, wäre das auch ein Wunder.« Ellie fragte, ob er wisse, was aus den beiden HalsBildern geworden sei. Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte an wichtigere Gemälde. Es wäre gut zu wissen, was aus einem Leonardo geworden ist, beispielsweise. Eines von ihm war nämlich ganz entschieden dabei, und zwar bis zur Jahrhundertwende, als es einfach verschwand. Es ist bekannt, daß einige der Stehlik-Schätze in die Hände der Nazis fielen, einige andere sind in Rußland und eine Anzahl hier in der nationalen Sammlung.« Ellie bezweifelte, daß die Nazis sich für Hals interessiert hatten. »Göring hätte Hals doch gelangweilt, der interessierte sich doch nur für weiches Frauenfleisch.« Die Bierflasche senkte sich wieder über sein Glas. »Wenn der Lachende Kavalier hiergewesen wäre statt in der sicheren Obhut der Wallace-Kollektion in London, hätte er ihn sich geschnappt. Keines der anderen HalsGemälde verfügte über das nötige Prestige.« »Also?« Sie hatte bisher kaum an ihrem Bier genippt, jetzt hob sie das Glas an die Lippen, um einen kleinen Schluck zu nehmen. »Es besteht die Chance, daß die Hals-Porträts, die die -173-
Stehliks im achtzehnten Jahrhundert erworben haben, noch im Schloß sind.« So einfach konnte es doch nicht sein. Ellie suchte nach der Schwachstelle. Er spürte das und lachte. »Ehrlich, Ellie, es könnte tatsächlich sein. Ich wünschte, ich hätte nachgesehen.« »Ich werde das müssen«, sagte sie. Und sie war zugleich erregt und beunruhigt. »Tatsächlich lebt sogar heute noch ein Stehlik dort.« »Trotz…« Aber die marxistisch-leninistische Theorie hatte nie ganz geklärt, ob private Sammlungen für die Gesellschaft schädlich waren. Waren Gemälde Eigentum, das man konfiszieren konnte, oder Mobiliar, das man in Ruhe ließ? Vorsichtige Besitzer hatten die Leinwände von den Rahmen entfernt und zusammengerollt, so, wie Hals einmal angeboten hatte, The Meagre Company einzurollen und zu verstecken. Aber nur größere Schätze wurden bewegt, der Rest registriert, denn wie sollten die öffentlichen Sammlungen damit zurechtkommen, wenn alles einigermaßen Wertvolle auf sie herniederging? Selbst damals schon war das System nicht effizient gewesen. Schalk blitzte aus seinen Augen. »Trotz allen möglichen gesellschaftlichen Umstürzen, ja. Manche Leute sind einfach Überlebenstypen.« Ellie schüttelte den Kopf und versuchte, Klarheit in ihre Verwirrung zu bringen. »Ich muß mich immer wieder daran erinnern, daß, selbst wenn die Gemälde existieren, die Aussicht, daß eines davon irgend etwas mit meiner Suche nach einem Pendant für den Washingtoner Mann zu tun hat, äußerst gering ist.« »Äußerst.« -174-
»Aber ich bringe es nicht fertig, das zu glauben. Wie verschaffe ich mir Zutritt zu diesem Schloß?« »Es ist nicht unmöglich, ich habe es auch geschafft. Ich mußte ein paar Monate lang allen möglichen Leuten lästig fallen und an ein paar Drähten ziehen, aber am Ende hat Stehlik mich eingelassen. Ich konnte ihn natürlich nicht davon überzeugen, daß mein Interesse wissenschaftlicher Natur war und ich nicht etwa gekommen war, um für die Behörden zu spionieren und ihnen dann zu sagen, was das Plündern wert war. Ich weiß nicht, wie man es anstellt, seine Neugierde so zu verbergen, daß sie eindrucksvoll bleibt.« »Ich auch nicht.« Noch vor einer Minute war es Ellie einfach erschienen, jetzt hielt sie es eher für eine lange Plackerei, die mit Bettelbriefen anfing und wahrscheinlich mit einer Ablehnung endete. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Dann klappte er den Aktendeckel zu. Ellie schlüpfte in ihren Mantel. »Es tut mir leid, ich halte dich auf.« Er trug den Aktendeckel ins Nebenzimmer und kam dann zurück. »Ich habe am Engelsufer etwas zu erledigen.« Er stoppte sich selbst und lachte. »Ich meine natürlich Wilson. Mir rutschen immer noch die alten Namen raus. Wenn es dir nichts ausmacht, ein Stück mit mir zu gehen, könnten wir uns ja unterwegs unterhalten.« Er zog einen Vorhang beiseite und spähte auf die Straße hinunter. »Es sieht nicht gut aus, aber wenigstens regnet es nicht.« Sie gingen an dem Haus vorbei, wo sie früher gelebt hatte, und er murmelte: »Als ich vor etwa zehn Jahren die Wohnung bekam, habe ich jedesmal, als ich hier vorbeikam, an dich gedacht.« -175-
»Du mußt dich gefragt haben …« Er sah sie von der Seite an, es wurde ein langer Blick voll Ironie. »Das kann man wohl sagen.« »Es tut mir leid. Es hat mir damals leid getan, und das tut es heute noch. Eine Situation hat sich entwickelt, und ich war ihr nicht gewachsen. Ich bin einfach… weggegangen.« »Ja.« »Bitte, es ist wichtig, daß du verstehst, daß ich dir nicht weh tun wollte.« »Nun, wie du siehst, bin ich immer noch hier. Ich habe mich nicht von der Brücke gestürzt oder so etwas.« Sie erreichten einen Platz. Ein Pferd mit einem Wagen kam über das Kopfsteinpflaster auf sie zu. Das Pflaster verstärkte den Lärm, den die Hufe und die Räder machten. Ein alter Mann, der sich einen ausgefransten Umhang über das Jackett gelegt hatte, stand auf dem Karren. Abgesehen von einem Sack, der vor den Füßen des Mannes lag, war der Karren leer. »Viel Lärm um nichts«, bemerkte sie, als der Wagen in der Ferne verschwand. Er hinderte sie daran, das Thema zu wechseln. »Aber ich habe mir immer den Kopf zerbrochen. Heute ist, denke ich, der Tag, an dem ich die Wahrheit erfahre.« Sie sah weg, beobachtete scheinbar interessiert die Tauben, die zwischen den Steinen nach Nahrung suchten, einen ärmlich aussehenden jungen Mann, der vorbeischlurfte und eine Einkaufstasche trug, aus der der Kopf eines Hahns lugte, einen Soldaten, der an einem Eis leckte, das ihm sein Mädchen hinhielt. »Nein«, erklärte sie schließlich. »Nur das Stück von der Wahrheit, das dir die Sicherheit gibt, daß meine Gründe -176-
nichts mit dem zu tun hatten, was zwischen uns beiden war.« »Das hätte ich mir auch nicht vorstellen können. Das hat es für mich ja so unbegreiflich und geheimnisvoll gemacht. Komm schon, Ellie. Nach über zwanzig Jahren kann es doch kein solches Geheimnis mehr sein, keines, das es wert ist, bewahrt zu werden.« Doch, das konnte es, und sie sagte es ihm mit schwerem Herzen. Das nächste Stück des Weges gingen sie schweigend. Ellie ärgerte sich darüber, daß sie zu ungeschickt war, das Gespräch besser zu lenken. Ihre Weigerung ließ sie herzlos erscheinen, so, als würde ihr Bedauern wegen der jugendlichen Abfuhr überhaupt nicht zählen, weil sie schließlich nicht bereit war, irgend etwas wieder gutzumachen. Sie brach das Schweigen. »Du hast gehört, daß ich nach London gegangen bin?« Seine Worte klangen kurz und abgehackt. »Und dort geblieben bist, ja.« Sie probierte es noch einmal. »Es sollte auf ein Jahr sein. Ich mußte mich um einen schrecklichen kleinen Jungen kümmern und Englisch lernen. Mein Englisch bestand damals hauptsächlich aus Imperativen: Tu das nicht, und tu jenes nicht, leg das weg. Konversation gab es kaum, aber ich war mächtig gut im Erteilen von Anweisungen.« Das trug ihr ein Lächeln ein. »Ich kann mich gar nicht erinnern, daß du der Typ warst, der Anweisungen geben konnte. Du warst eher gefügig, neigtest dazu, anderen zu folgen. Es war eigentlich charmant.« »Du liebe Güte! Bei Charme werde ich immer argwöhnisch, du nicht?« -177-
»Ganz und gar nicht! Ganz besonders nicht bei jungen Leuten.« Sie protestierte. »Früher hast du das an Gemälden kritisiert. ›O ja‹, sagtest du immer, ›es hat Charme.‹ Und so wie du es sagtest, so wegwerfend, machte mir absolut klar, daß Charme eine Eigenschaft ist, die man meiden muß.« Er lachte prustend. »Daran kann ich mich nicht erinnern.« »Ich kann mich an alles erinnern. Niemand sonst hatte bisher versucht, mir visuelle Dinge zu offenbaren, mich zu behandeln, als ob ich Augen hätte, die man möglicherweise zum Sehen erziehen konnte.« Er lachte immer noch. »Weiß der Himmel, was ich dir alles gesagt habe. Weiß der Himmel, was ich damals selbst wußte.« Plötzlich war sie unsicher. »Darauf kommt es gar nicht an. Wichtig ist, daß du mir die Welt geöffnet hast. Und deshalb führe ich das Leben, das ich jetzt lebe.« Er lachte immer noch so von Herzen, daß er kaum reden konnte. Passanten wurden bereits aufmerksam, drehten sich nach ihnen um. Er nahm ihren Arm, schob sie zu einer kavârna. »Egal, wenn ich zu spät komme, Ellie, ich möchte mehr über dieses Leben erfahren, in das ich dich geführt habe.« Beim Kaffee erzählte sie ihm in groben Zügen, welchen Kurs ihr Leben die letzten zwanzig Jahre genommen hatte. Sie tat es schnell, bemühte sich, die Jahre auf der Kunstakademie nicht zu aufregend zu machen, ihre Bücher über Malerinnen nicht zu befriedigend und ihr Leben mit Sam und früher mit anderen Künstlern nicht zu glanzvoll darzustellen. Es war ein komplizierter Balanceakt, und er mißlang ihr. Aber sie hatte vieles -178-
ausgelassen, weil sie wußte, daß er, falls er sich revanchieren sollte, ihr auch keine glückliche Geschichte erzählen würde. »Lückenhaft«, war sein Kommentar. »Nicht besonders glatt. Universität, ja, aber es gab Probleme, und ich mußte mein Studium abbrechen. Nach einer Weile konnte ich einen anderen Kurs einschlagen. Allmählich klappte es dann. Und wie du weißt, habe ich verschiedene Aspekte der böhmischen Kunst recherchiert.« »Und du hast nicht gemalt?« fragte sie enttäuscht. »Ein wenig, in letzter Zeit. Vielleicht komme ich doch noch dazu. Aber nicht ernsthaft natürlich. Man muß jung sein und ein Idealist, um alles hineinzulegen. Jene Tage sind vorbei, falls sie je existiert haben.« Sie fragte ihn, wo er malte, weil doch seine Wohnung zu eng war. Er sagte, daß es einen Raum gebe, den er mit einem anderen teilte, jetzt, wo es niemanden mehr etwas anging, wer ihn benutzte. »Ich könnte dich an einen Ort bringen«, fügte er noch hinzu, »wo du die Kunst sehen würdest, die zur Zeit hier produziert wird, aber das ist nicht wirklich das Produkt dieser Zeit. Das ist die Auswirkung jener vierzig Jahre. O ja, es gibt Talente, obwohl man eigentlich sagen muß, daß es ein verkrüppeltes, im Wachstum behindertes Talent ist. Das wird alles gut werden, aber zuerst braucht es diese Periode der Erholung.« Ein Land, das aus dem Alptraum seiner Geschichte erwacht. Sie brauchten nicht länger »mit der Lüge zu leben«. Ellie fröstelte, empfand Schuldgefühle darüber, daß sie weggelaufen war und sich dem Schlimmsten entzogen hatte, und zugleich Stolz, daß sie klug genug gewesen war, es zu tun. Sie hatte sich diesem Widerspruch nie gestellt und glaubte auch nicht, daß sie es je tun würde. -179-
Da gab es schwebende Fragen, aber sie sprach sie nicht aus. Schließlich ging es sie nichts an, wie er zu Rande gekommen war und was er durchgemacht hatte. Sie hatte kein Recht, ihre Neugierde darüber zu befriedigen, wie weit er Widerstand geleistet, sich gebeugt oder kollaboriert hatte. Jeder hatte sich auf seine Art mit seiner Umwelt auseinandergesetzt. Und die Opfer waren im Leben eines jeden die Wahrheit und die Schönheit gewesen. Er griff eines der Themen auf, denen sie auswich. »Wußte deine Familie, daß du kommen würdest?« »Die wissen es immer noch nicht.« Seine Augenbrauen schoben sich hoch. »Du wirst sie doch besuchen, oder?« »Nein, das glaube ich nicht. Zu schwierig. Sie haben es aufgegeben, mir Briefe zu schreiben.« »Vielleicht gab es Probleme.« »Nein, das war es nicht. Es gab nichts zu sagen. Ich hörte auf, der Mensch zu sein, den sie einmal kannten. So ist das eben.« Sie sah auf seine Hände, die mit ineinander verschränkten Fingern auf der Tischplatte lagen. Schlanke, glatte Hände von de r Art, die sich mit Papier befassen und damit ihren Lebensunterhalt verdienen. Am linken Daumen war eine blaue Narbe, an die sie sich nicht erinnerte. Plötzlich bewegten sich die Hände, er schob seinen Ärmel zurück und sah auf die Uhr. Ellie entschuldigte sich. »Du verspätest dich meinetwegen.« »Ich kann den Rest des Weges mit der Tram fahren.« Er schaute in der Tasche nach, ob er eine Fahrkarte hatte. Sie tastete nach einer Information, die sie bis zu diesem -180-
Augenblick fest entschlossen war, nicht zu suchen. »Bekommst du je jemanden aus meiner Familie zu sehen?« Er steckte die Fahrkarte wieder ein. »Nein.« Er zögerte. »Man hat sie dazu gebracht, nach Branik umzuziehen.« Branik war früher einmal eine kleine Ortschaft im Süden von Prag gewesen, bis dort in den sechziger Jahren das große Wohnprojekt entstanden war und aus Branik eine Vorstadt geworden war. Die Nachricht, daß ihre Familie dort lebte, milderte ihre Sorge, zufällig auf sie zu stoßen. Dann ergänzte er: »Alle, mit Ausnahme deines Bruders natürlich.« Sie spürte das Prickeln an ihrer Wirbelsäule, aber sie sagte nur: »Ich habe zwei.« »Ich meinte Pavel.« »Du erinnerst dich an seinen Namen? Ich hatte gar nicht gewußt, daß du ihn je kennengelernt hattest.« Sie war sicher, daß die beiden sich nie begegnet waren. Sie war außergewöhnlich vorsichtig gewesen und hatte die Freundschaft jenes Sommers vor Pavels Neugierde und Einmischung geschützt. Er schob seinen Stuhl zurück und erklärte mit grimmiger Stimme: »O ja, wir sind uns begegnet, Ellie.« Und dann war er draußen, ließ sie allein aus dem Café gehen. Sie sah sich draußen nach ihm um, aber er war zu schnell gewesen. Leute schlenderten über die Straße, gingen in Geschäfte oder kamen heraus, aber seine eilige Gestalt war nirgends zu entdecken. Ellie stöhnte, gab einem gnadenlosen Himmel die Schuld. »O nein!« Sie hatte den Teich ihrer eigenen Geheimnisse in Unruhe gebracht, die Wellen würden jetzt andere Leute -181-
beunruhigen, und sie war nicht imstande, sie aufzuhalten. Aber was hatte er gemeint, als er von ihrem Bruder Pavel sprach? Ellie ging weiter, wußte nicht mehr, was ihr nächstes Ziel war oder wo sie hingehen wollte, in keiner Hinsicht. Ihre Suche nach der verschwundenen Frans-Hals-Frau schien ihr wie eine grausame Parodie, während sie selbst ins Treiben geraten war. »Ich muß«, überlegte sie leise, »das Schloß Stehlik besuchen. Wenn ich unglaubliches Glück habe, wird dies das Ende der Suche sein. Ich werde nach Hause fliegen, dafür entschuldigt, daß ich Zeit und Geld für eine Fußnote in meinem Buch vergeudet habe. Und doch … und doch glaube ich nicht, daß das ein sauberer Schluß sein wird. Für jeden anderen vielleicht, aber nicht für mich.« Ein paar Stationen mit der Metro, eine Busfahrt würden die Wunden stillen, die sie jetzt davon abhielten, ihre Familie aufzusuchen. Sie zweifelte an ihrem Mut. Das Wissen, daß Pavel nicht dort sein würde, änderte die Betonung ein wenig, aber das war alles. Seit ihrer Ankunft in Prag hatte Ellie die Frage fasziniert, wie wohl ihre Gefühle sein würden, falls sie einem von ihnen begegnete. Sie hatte sich vorgestellt, daß ihre Mutter inzwischen wie ihre Großmutter geworden war, verblaßt, mit dünnen Haaren und Wangenknochen, die sich unter der fleckigen Haut abzeichneten. Ihren Vater malte sie sich mehr oder weniger unverändert aus, obwohl er zweifellos die Tendenz seiner Familie zur Glatzköpfigkeit geerbt hatte. Sie vermutete, daß die Vorsicht, die sie davon abhielt, ihre Meinung zu sagen, sie, wenn schon nicht zur Schweigsamkeit, so doch zur mürrischen Verschlossenheit von Menschen gebracht hatte, die schon zu lange zusammen waren und nicht mehr raus können. Ihren jüngeren Bruder betrachtete sie voll -182-
Zuneigung und nahm an, daß sein Gesicht dem ihren so ähnlich war, wie sie sich in der Kindheit geähnelt hatten. Die Begegnung mit ihm scheute sie am wenigsten. Pavel hingegen haßte sie. Falls er dort sein sollte, wenn sie nach Branik reiste, würde sie diese Abscheu nicht verbergen können. Es fing wieder an zu regnen. Ellie ging in die Metro und beabsichtigte, die paar Stationen bis zu ihrem Hotel zu fahren und dann Rose Darrow anzurufen und sie einzuladen, mit ihr nach Böhmen zu reisen. Statt dessen nahm sie einen Zug, der in Richtung Branik fuhr.
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ZWÖLF Philippe Devereux saß an einem Louis-XV-Schreibtisch vor einem riesigen Savonnerieteppich mit herrlichen Blumenmustern und blickte zu einem hohen Fenster hinüber. Vor ihm standen vier kleine Glasflaschen auf einem Tablett. Ein angespannt wirkender junger Mann in einem teuren Maßanzug saß ihm gegenüber mit dem Rücken zum Fenster. Philippe streckte die Hand nach der Flasche am linken Ende der Reihe aus, öffnete sie, nahm eines der vier weißen Tücher von dem Tablett und träufelte ein wenig vom Inhalt der Flasche darauf. Danach stellte er die Flasche wieder exakt auf die Stelle, von der er sie genommen hatte, schüttelte das Tuch, damit der Alkohol sich verflüchtigte, und hielt es sich dann dicht vor das Gesicht, wobei er die Augen schloß. Philippe schnüffelte hörbar einige Male, schnupfte den Geruch ein, als wäre es Kokain oder in einer früheren Epoche eine Prise Schnupftabak. Genießerisch ausatmend sezierte er anschließend den Duft, billigte die Balance zwischen Ölen und Gewürzen. Es war gut, natürlich erwartete er auch nicht weniger. Aber eine angenehme Empfindung zu genießen, reichte nicht. Er suchte den Geruch von Geld. Jetzt regte sich der jüngere Mann, schob seine grüngefaßten Brillengläser zurecht. Philippe sagte nichts. Seine Augen öffneten sich wieder, aber er starrte geradeaus vor sich hin und tat so, als würde er die Anwesenheit des anderen nicht wahrnehmen. Dann legte er das Tuch vor die Flasche, nahm die nächste und öffnete sie mit derselben Sorgfalt, um das konzentrierte Parfüm nicht zu verschütten. Ein zweites Tuch kam an die Reihe, -184-
er schloß die Augen, schnüffelte und tat Flasche und Tuch wieder an ihren Platz zurück. Als er mit der vierten Flasche fertig war, immer noch ohne einen Kommentar abzugeben, war der junge Mann unruhig geworden: Er schob sich die Brille wieder zurecht, und dann fuhr seine Hand verstohlen an seinen Hemdkragen, als wäre ihm der zu eng geworden. Philippe blickte an ihm vorbei zum Fenster hinaus. Seine Finger spielten mit der Messingverzierung der Schreibtischplatte aus Ebenholz. Seit seiner Kindheit hatte er die Künste des Parfumeurs begriffen - die Destillation, das Einweichen und Aufquellen und die Enflourage -, die Blumen dazu verlockten ihren Duft preiszugeben. Aber für ihn grenzte es immer noch an Zauberei, daß man den Geist der Rosen, des Jasmins, der Orangenblüten und der Veilchen eines Sommers, eben jeder Blume, die den Parfumeur reizte, in einer Phiole aus Glas einfangen konnte. Der andere Mann räusperte sich. »Nun.« Seine Stimme war weich und tief. Es war, als spräche er zu einer Frau, die er liebte und begehrte. Der Umgang mit Devereux war schwierig, er erforderte ein hohes Maß an Feingefühl. Aber dieses Nun war keine Frage, kein Drängen, nur eine Erinnerung, daß eine Antwort erwartet wurde. Philippe wandte sich zu ihm. »Ein wenig… herb? Das zweite ist das Beste. Die tieferen Noten sind gut, es ist runder. Aber das letzte nicht, das ist zu adstringierend.« »Oh… äh.« Hilflosigkeit, das widersprach dem, was seine Kollegen entschieden hatten. Philippe griff noch einmal nach dem mit dem zweiten Parfüm befeuchteten Tuch. Er atmete noch einmal ein. »Dies ist keiner jener Anlässe, die mich sicher machen, daß wir einen großen neuen Duft entwickelt haben.« Er gestattete sich einen Anflug von Humor. »Natürlich sind -185-
diese Anlässe äußerst selten.« Die grüngeränderte Brille mußte erneut zurechtgeschoben werden. Dann: »Wenn ich offen sein darf, M'sieu… Nun, in Wahrheit ist das zweite am wenigsten populär.« »Wirklich?« Philippes Mund verzog sich fast schmollend. »Dann muß ich leider anderer Ansicht sein. Aber verraten Sie mir, welches bevorzugen die anderen denn?« »Nun …« »Ah! Also dieses hier?« Er tippte auf die letzte Flasche. »Ja, so ist es.« »Und das ist auch Ihre eigene Ansicht?« Äußerst verlegen erklärte der Mann, daß seine persönliche Wahl tatsächlich die erste Flasche sei. »Diese hier?« Philippe nahm das erste Tuch und führte es mit mißbilligender Miene noch einmal an seine Nase. »Wissen Sie, mir kommt das fast metallisch vor.« Er tat das Tablett mit einer Handbewegung ab. »Es gibt eine bessere Methode, das zu testen.« Er drückte einen Klingelknopf an der Wand hinter sich. Dann sah er zum Fenster hinaus und wartete, daß Yvette kam. Einige der Glasscheiben waren sehr alt und machten die Szene, die sich ihm bot, unruhig. Er konnte das verzerrte Bild eines älteren Mannes sehen, der jetzt auf einem Weg durch einen Weinberg ging. Der Mann trug einen verbeulten Hut mit ins Gesicht gezogener Krempe, er paßte überhaupt nicht zu seiner eleganten Kleidung. Er hielt etwas in der Hand, das Philippe wegen der Entfernung nicht genau erkennen konnte, aber es war schmal genug, um von einer Hand gehalten zu werden und neben dem Mann gleichgültig herunterzuhängen und beim -186-
Gehen hin und her zu schwingen. Die Tür öffnete sich, und ein etwa siebzehnjähriges Mädchen trat ein. »Ja, M'sieu?« »Komm her, Yvette. Monsieur Marais und ich möchten uns deinen Arm ausborgen.« »Ja, M'sieu.« Sie schob den Ärmel ohne zu zögern hoch. Dies war nicht das erstenmal, daß man sie gerufen hatte. Ob es wirklich etwas ausmachte, wenn man Parfüm auf der Haut einer jungen Frau erprobte, konnte sie nicht sagen, und sie zog es auch vor, nicht danach zu fragen. Sie arbeitete gern im Château, warum sollte sie das gefährden? Nach ein paar Augenblicken wurde sie aufgefordert, ihre Wahl zu treffen, und sie sagte zu Philippe: »Das hier, das zweite.« Philippe neigte den Kopf, beugte sich ihrer Ansicht. »Also. Dann das zweite.« Er ignorierte den gequälten, wortlosen Protest des jüngeren Mannes und fragte Yvette: »Was gefällt dir an diesem ganz besonderen Duft so, Yvette? Im Vergleich zu den anderen dreien, meine ich.« »Nun, M'sieu, ich glaube, es hat mehr Charakter.« Der junge Mann zuckte zusammen, aber Philippe munterte sie auf: »Sonst noch etwas, Yvette?« »Es ist zarter, weiblicher. Nun, ich möchte natürlich niemanden beleidigen, M'sieu, aber einige von den anderen sind richtig scharf, etwa so, wie man es vom Rasierwasser eines Mannes erwartet.« Sie sah zuerst den einen, dann den anderen Mann an, senkte den Blick und rieb an ihrem Arm. »Aber ich verstehe natürlich nichts davon.« Philippe entließ sie mit einem »Danke, Yvette«. Sie ging hinaus und zog sich den Ärmel wieder herunter. -187-
»Also«, stellte Philippe fest, »das wäre jetzt die Ansicht der einfachen jungen Frau aus dem Volk.« Der andere entschied sich dafür, das als Witz zu nehmen. »Allerdings. Aber ist die einfache junge Frau aus dem Volk eine Kundin des Hauses Devereux? Nein, und das kann sie auch nicht sein, nicht an unserem Ende des Marktes. Oder sollte ich sagen, unserem Gipfel des Marktes?« Philippe lächelte, ein echtes, behagliches Lächeln. »Hübsch formuliert, Marais. Nein, die Yvettes dieser Welt werden sich unsere Parfüms nie leisten können. Aber ich glaube nicht, daß wir annehmen dürfen, daß ihre Nasen oder ihre Sehnsüchte in irgendeiner Weise anders sind. Nehmen Sie das hier mit, und spielen Sie noch ein wenig damit herum. Wir sind noch nicht soweit, oder? Wir können es uns leisten, zu warten - unsere Kundinnen müssen warten -, bis wir ganz sicher sind, daß der nächste Duft, den wir der Welt anbieten, denselben ungezügelten Erfolg wie unsere besten Düfte haben wird.« Der Mann beugte sich vor, sammelte die Flaschen ein und verstaute sie in einem Aktenkoffer, der zu seinen Füßen stand. »Seien Sie nicht zu sehr enttäuscht«, bat Philippe. »Wir wollen es ganz richtig machen und auf keinen Fall ein Risiko eingehen.« Der Mann gab einen unartikulierten Laut von sich, den man als Zustimmung deuten konnte, während er nach vorn gebeugt den Koffer zuklappte. »Übrigens«, fiel Philippe ein, »welcher Name ist denn für das neue Parfüm ausgewählt worden?« Sein Kopf tauchte wieder auf. »Risque«, antwortete er. Als der junge Mann sich verabschiedet hatte, um die lange Fahrt zurück zum Labor anzutreten und die -188-
entmutigende Nachricht zu überbringen, ging Philippe Devereux ans Fenster. Er trat an eine der neueren, glatteren Scheiben und blickte auf die fallenden Blätter und einen wolkigen Himmel hinaus. Der alte Mann in dem breitkrempigen Hut war nicht mehr zu sehen. Er war nach rechts verschwunden, als er den Weinberg hinter sich gelassen hatte. Philippe glaubte zu wissen, wo sein Weg hinführte, und deshalb rechnete er damit, den alten Mann wiederzusehen, wenn dieser eine Lücke zwischen den Bäumen erreichte, die den Weg säumten. Vielleicht war er ihm auch entgangen, während der neue Leiter des Labors mit seinen Proben spielte, aber das glaubte er nicht. Philippe ließ dem alten Mann ein paar Minuten Zeit, wieder aufzutauchen. Der Laborleiter ist ein Fehler gewesen, dachte er. Daß er mit einem Bekannten von Philippes Vater befreundet war, konnte kein ausreichend guter Grund sein, um ihm die Leitung des Labors anzuvertrauen. Er war ohne Zweifel ein hochqualifizierter und intelligenter junger Mann und besaß auch eine einigermaßen gute Nase, aber für die Aufgabe, die Maurice ihm gestellt hatte, war er nicht der Richtige. Und David, Philippes eigener Sohn, hatte bei der Ernennung ein Auge zugedrückt. Philippes Mundpartie spannte sich, als er daran dachte, wie sein Vater und sein Sohn sich verbündet hatten, um die Ernennung durchzusetzen, wobei sie ihn und seine Bedenken einfach übergangen hatten. Philippe hatte hinsichtlich eines Nachfolgers für den in den Ruhestand gehenden Laborleiter auch eigene Vorschläge gemacht. Er hätte gern einen ganz bestimmten Parfumberater auf der Stelle gesehen, der aus einem Konkurrenzunternehmen ausgeschieden war und jetzt freiberuflich arbeitete. Er war sich darüber im klaren gewesen, daß der Mann teuer sein würde, daß man die -189-
Stelle für ihn neu würde definieren müssen. Dafür besaß er aber eine der besten Nasen von ganz Frankreich. Es gab nur ein halbes Dutzend, die mit ihm wetteifern konnten, vielleicht sogar nur fünf, wenn man einräumte, daß Maurice Devereux infolge seines Alters und seiner angegriffenen Gesundheit nicht länger als eine Nez zählte. Aber ehe Philippe sie überzeugen konnte, ehe er an die Nez herantreten konnte, hatten sein Vater und sein Sohn sich auf Marais geeinigt. In der Ferne hatte sich eine langsame Gestalt in einem auffälligen Hut aus dem Schutz einer Pappelgruppe herausbewegt und war nach links gegangen, eine Minute lang klar und deutlich zu erkennen, bis die nächste Baumgruppe ihn verbarg. Eindeutig Corot. Philippes Seufzen unterbrach die friedliche Stille des Raumes, und in diesem Augenblick schlugen die ersten Regentropfen gegen das Glas. Er drückte den Klingelknopf und ließ seine Sekretärin kommen, eine gepflegte Frau mit reifem Charme, wenn man sie auch nicht gerade als besonders gutaussehend bezeichnen konnte. »Lise, haben wir heute von David gehört?« »Nein, seit Dienstag nicht mehr, als er anrief, um seine Ankunft in Mailand zu melden. Soll ich versuchen, mit ihm Verbindung aufzunehmen?« Ein kurzes Zögern. »Nein, aber lassen Sie es mich wissen, wenn er hier anruft.« Er hätte das erläutern können, aber es war ihm peinlich, seiner Sekretärin zu erklären, daß er nicht wußte, was sein Sohn in Mailand machte. Außerdem argwöhnte er, daß die scharfsinnige Lise die Lage durchaus richtig einzuschätzen wußte. Statt dessen fragte er: »Wann kommt diese -190-
Schreiberin?« »Um drei.« Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Vorausgesetzt, daß sie uns bis drei gefunden hat.« »Ja, das ist nicht leicht. Aber das ist natürlich ihr Problem. Ich sollte vielleicht mein Gedächtnis mit ein paar Zahlen und Fakten auffrischen, ehe sie kommt.« »Die Akte ist bereit. Ich bringe sie Ihnen.« Beide zuckten zusammen, als eine Bö den Regen gegen das Fenster peitschte. Sie wandte sich zu ihm um. »Der Wetterbericht kündigt kräftige Schauer an, und es sieht so aus, als ob die ausnahmsweise einmal recht hätten.« »Ist George da?« »Nein, er ist in die Stadt gefahren. Ihr Vater hat ihn geschickt.« Philippe verzog resigniert das Gesicht. »Nun gut, dann werde ich selbst gehen.« Sie blickte auf das Fenster, verstand. »Ich lege die Akte auf Ihren Schreibtisch.« »Ja, vielen Dank, Lise.« Beide verließen den Raum, sie ein paar Schritte vor ihm, was Philippe die Gelegenheit bot, die Form ihrer Waden zu bewundern. Da der Chauffeur nicht da war, mußte Philipp durch den Regen zur Garage in den alten Stallungen laufen. Sein graues Jackett hatte dunkle Flecken, und er mußte sich das Gesicht mit einem Handtuch trocknen, ehe er in den Wagen stieg. »Ausgerechnet jetzt!« murmelte er. Dabei verwunderte ihn das Timing überhaupt nicht. Er fuhr in den Hof, zog die Handbremse, überlegte es sich dann aber, die Hand bereits am Türgriff, noch einmal anders und ließ die Garagentür offen, so daß es -191-
hineinregnen konnte. Er war bereits naß genug geworden. Die Straße verlief nicht parallel zum Fußweg, sondern in einem Kreis um den Weinberg herum, ein Luxus, den die Familie sich leistete und der ihnen jedes Jahr ein paar Flaschen vom eigenen Land eintrug. Dann fuhr Philippe ein paar hundert Meter auf der Straße, die zu den Überresten der Ortschaft führte, ehe er nach links in einen Weg einbog, der zur Kirche führte. Vor der Kirche war schon vor Jahren ein Stück Land plattgewalzt worden, und man hatte Mauern eingerissen und nach hinten versetzt, um den Autos dort Platz zum Wenden zu verschaffen. Philippe parkte dicht an der Kirchhofmauer, wo der Regen vom Blattwerk auf das Wagendach tropfte. Er suchte einen Regenschirm, suchte unter dem Beifahrersitz und in den Türtaschen. Aber da war keiner. Er würde also naß werden. Er blieb ein paar Sekunden sitzen, schob den Augenblick hinaus. Wasser strömte über die Windschutzscheibe, ein paar Blätter rutschten darüber und blieben an den jetzt zur Ruhe gekommenen Scheibenwischern hängen. Das Ticken des Motors hörte auf, und er hörte nur noch die gleichmäßige Melodie des Wassers. Philippe Devereux schloß die Augen und seufzte. Andrée hatte aufgehört zu weinen, war aber immer noch leicht reizbar. Sie würde nicht nach Paris gehen, um dort mit ihrem Mann zu leben. Sie klammerte sich an das Château und flehte die Götter an, ihr das Baby zurückzugeben. Der Sommer des Jahres 1974 war heiß. Flugzeuge zogen ihre weißen Spuren über den fahlgrauen Himmel, der Berg über de m Haus vergilbte und wurde müde. Wo gewöhnlich ein Bach floß, verdorrten Pflanzen. Die Erde -192-
war hart, ihre Oberfläche pulvrig. Andrée stand auf der Terrasse und konnte hören, wie die Spaten auf die sich widersetzende Erde einschlugen, als die Männer sich abmühten, das Grab zu schaufeln. Am Morgen der Beerdigung stand sie früh auf. Ihr schwarzes Leinenkleid hing bereit, ein schwarzes Band für ihr Haar war über den Spiegel ihres Ankleidetisches drapiert. Sie badete und zog sich wie in Trance an. Das Haus lag in tiefem Schlaf. Sie trug ihre Schuhe in der einen Hand, die andere strich über das Geländer der großen Freitreppe. Erst im Erdgeschoß schlüpfte sie in ihre Schuhe, ging dann aber auf Zehenspitzen durch die Halle und drehte den Türknopf. Der Duft war überwältigend, fast betäubend. Seit zwei Tagen waren Blumen eingetroffen, einige für das Begräbnis, einige, um sie zu trösten, viele von Leuten, die sie kannte, und viele von Leuten, die in der Zeitung von ihr gelesen oder ihr verhärmtes Gesicht auf dem Fernsehschirm gesehen hatten. Die Familie hatte nicht gewußt, was sie mit den Blumen machen sollte, ganz besonders bei der herrschenden Hitze. Aber dies war einer der kühleren Räume, und man würde bis zum Begräbnis die Läden geschlossen halten. Andrée knipste einen Schalter an der Wand an, und eine Lampe erwachte zum Leben. Der ganze Raum war ein einziger Blumenhain mit weißen Blüten. Sie schwankte. Das leuchtende Weiß von einer Million Blütenblättern, das cremige Licht unter der Lampe und die grellweißen Streifen des Tageslichts, die sich zwischen den Jalousien hereinzwängten, der Sarg aus gebleichtem Holz mitten auf dem Tisch… Sie preßte die Finger an die blassen Lippen. -193-
Der Sarg war klein, so jämmerlich klein. Andrée trat lautlos näher, den Blick auf der glatten, hellen Holzfläche. Sie sehnte sich nach einem Zeichen, irgendeinem Hinweis, einer Verbindung. Aber sie fühlte nichts, das sie von dem überzeugte, was man ihr gesagt hatte. Mit einer abrupten Bewegung hob sie zwei Blumensträuße weg, die sie behinderten, und trat dicht an den Tisch. Sie schob die immergrünen Zweige beiseite, die um den Sarg herum angeordnet waren. Dann holte sie den Meißel aus der Tasche ihres Kleides. Sie setzte ihn ungeschickt an, der Meißel hatte auch nicht die richtige Größe, aber sie hatte keine Zeit gehabt, sich einen kräftigeren zu holen. Als sie noch mehr Blumen beiseite schob, stieß sie dabei ein Bukett über den Tischrand, wo es andere anstieß - und herunterfiel. Jetzt hatte sie Zugang zu einer anderen Stelle am Sargdeckel und machte sich ans Werk. Nach ein oder zwei Minuten wurde ihre Mühe belohnt, und das Holz splitterte. Andrée legte den Meißel beiseite und versuchte den Deckel mit den Fingern aufzureißen. Es ging nicht. Sie zwängte den Meißel an einer anderen Stelle darunter, und wieder gab das Holz dem Druck nach. Und dann wurden ihr die Arme nach hinten gerissen. Sie warf den Meißel hin, so daß er klirrend neben die heruntergefallenen Blumen fiel. »Nein! Nein! Laß mich!« Der Mann zerrte sie weg. Sie schlug mit den Beinen gegen die aufgetürmten Kränze, während sie gegen ihn ankämpfte. »Bitte, laß mich! Verstehst du nicht? Ich muß das tun. Bittel« Aber der Sarg entfernte sich immer weiter von ihr. Der Mann riß sie herum, hielt sie mit einem Arm an der Hüfte -194-
fest, bändigte mit der anderen die Faust, mit der sie nach ihm zu schlagen versuchte. »Andrée, du darfst das nicht tun! Natürlich verstehen wir dich, aber du mußt das Kind in Frieden lassen.« »Frieden? Was ist mit meinem Frieden? Was weißt du schon davon? Nimm deine Hände weg, Philippe.« »Seht, du weckst die Leute auf.« Er hatte Mühe, sie aus dem Raum zu drängen, und sperrte die Tür dann ab, während sie, schluchzend an die Wand gelehnt, daneben stand. Dann bat er: »Komm jetzt. Du solltest dich von diesem Raum fernhalten.« Seine Finger preßten sich an ihre Ellbogen, und er führte sie weg. Der Diener, den er in den Frühstücksraum beorderte, erhielt den Auftrag, café au lait und Croissants zu bringen. Andrée setzte sich mit gesenktem Kopf und entzog sich so Philippes forschendem Blick und seinem Versuch, sie einzuschüchtern. Sie mußten auf das Frühstück warten; die Familie verlangte selten so früh etwas, und es war deshalb nichts bereit. Andrée blickte auf ihre Finger, die am Leinenstoff ihres Kleides zupften. Sie hielt den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete das Muster: Der erhabene Teil glänzte, die zusammengewebten Fäden unterschieden sich deutlich voneinander. Auf die gleiche Weise studierte sie manchmal Blätter oder Blüten. Seit der Tragödie waren es die grundlegenden Dinge in der Natur, die mithalfen, sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, weiterzuleben. Als das Frühstück gebracht wurde, forderte Philippe sie auf, zu essen. Wenn man ihr das Essen nicht aufdrängte, hatte sie manchmal keine Anstalten gemacht, es zu sich zu nehmen, es einfach vergessen. Die Angestellte schenkte -195-
ihr Kaffee ein, aber Andrée schob die Tasse weg. Philippe mahnte: »Andrée, du hast einen schweren Tag vor dir.« Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Seine Versuche, sich um sie zu bemühen, gingen jedesmal daneben. Er war vom Wesen her keine mitfühlende Persönlichkeit. Was konnte er schon von ihren ›Schwierigkeiten‹ wissen? Er hörte die Schritte und ging hinaus, wollte den Schlüssel zu dem verschlossenen Raum loswerden und jemanden beauftragen, dort wieder Ordnung zu machen. Wenn nötig, dafür zu sorgen, daß der Sarg repariert wurde. Als er zurückkehrte, rauchte sie und funkelte ihn trotzig an. »Es ist doch ganz natürlich, daß ich mein Kind sehen will, Philippe. Was erzählst du denn den Leuten? Daß ich verrückt geworden bin?« Sie blies ihm den Rauch hin. »Du brauchst nicht in den Sarg zu sehen, und du brauchst mich nicht, um dir zu erklären, warum das so ist.« »Weil Claude sie identifiziert hat? Wenn er als Vater das Recht hat, sie zu sehen, dann habe ich das als Mutter auch.« Aber er meinte nicht nur das. Er meinte, daß die Leiche des Kindes schon so verwest war, daß nichts mehr zu erkennen war. Sie hatte zwei Monate lang im Hochsommer auf einem Feld gelegen, und die Natur hatte ihr Werk getan. Sein Bruder hatte sich der widerwärtigen Aufgabe ausgesetzt gesehen, ein paar Haarsträhnen und einige Fetzen Fleisch und ein Kleidungsstück anzusehen. Niemand würde der Mutter des Kindes diese Agonie wünschen. -196-
Philippes Stimme nahm einen beschwörenden Klang an: »Sieh doch den Tatsachen ins Auge, Andrée. Irgendwann wirst du das akzeptieren müssen, und besser heute als später. Nicole ist nicht mehr, sie kommt nicht mehr nach Hause.« »Aber wie kann ich glauben, daß sie in dieser Kiste ist, wenn niemand mich nachsehen läßt? Wenn du nicht gekommen wärst und mich daran gehindert hättest, hätte ich es selbst gesehen. Dann hätte ich es geglaubt.« »Hättest du das?« Seine Frage verriet tiefe Skepsis. Andrée war ihm ein Rätsel. Schön, brillant, begabt, aber mit dem irritierenden Wesenszug, manchmal der Realität zu entgleiten. »Ja!« schrie sie und sprang auf. »Ja! Wie sonst soll ich denn überzeugt werden?« »Setz dich!« Er wollte nicht, daß sie durch das Haus geisterte. Sie war nicht die einzige, der das alles naheging. Seine Mutter kam wunderbar mit der Situation zurecht, aber wenn Andrée die Kontrolle über sich verlor, würde es für sie auch schlimm sein. Andrée sank wieder auf ihren Stuhl. »Wie denn sonst?« wiederholte sie etwas leiser. »Du mußt Claude vertrauen…« »Das tu' ich nicht. Angenommen, er hat sich geirrt. Weißt du, als er zurückkam, nachdem er sie gesehen hatte, hat er sich eingeschlossen und wollte nicht mit mir darüber reden. Ich habe ihn gefragt: Hat sie ausgesehen, als ob sie gelitten hätte? Er weigerte sich, mir zu antworten, wandte mir den Rücken zu.« Philippe fuhr fort, als hätte sie gar nichts gesagt. »Und du mußt der Polizei und dem Pathologen und der Untersuchungsbehörde vertrauen.« -197-
»Der Untersuchungsbehörde?« schnaubte sie. »Bist du nicht derjenige, der sich bei der Presse darüber beklagt hat, daß sie den Fall verpatzt hat? Hast du nicht gesagt, du wolltest, daß die Stadtpolizei und Laroche sich aus dem Fall zurückziehen?« »Nein, das habe ich alles nicht gesagt. Das ist übertrieben wiedergegeben worden. Ich wollte nur die Presse loswerden, sonst gar nichts.« »Ha! Nun, die Polizei hat sie gefunden. Die haben es also doch gar nicht so sehr verpatzt, oder?« Ihre Logik entzog sich seinem Urteil. Entweder wußte sie, daß die Leiche ihres Kindes in dem Sarg lag, und in dem Fall hatte sie Vertrauen zur Polizei, den Behörden und ihrem Ehemann; oder sie wollte nicht wahrhaben, was in der Kiste lag, und vertraute ihnen nicht. Philippe konnte mit ihrer Logik einfach nicht klarkommen. Er sehnte sich danach, daß Claude erschien oder einer der anderen. Philippe hatte seit über einer Woche niemanden aus der Familie zu Gesicht bekommen. Er war in Paris gewesen, hatte gearbeitet, wohlwissend, daß das Begräbnis alles durcheinanderbringen würde. Er dachte nicht im Traum daran, all dem aus dem Wege zu gehen, aber das Timing war einfach unglücklich, weil es in der Firma im Augenblick sehr viel zu tun gab und gerade in dieser Woche einige wichtige Besprechungen stattfanden. Es war ihm gelungen, die Arbeit mehrerer Tage in etwa die Hälfte der dafür vorgesehenen Zeit zu zwängen. Und heute hatte er Paris noch vor der Morgendämmerung verlassen, um das Château rechtzeitig zum Frühstück zu erreichen. Als er eingetroffen war, waren nur einige der Bediensteten zu sehen. Eine Weile hatte er sich in seinem Zimmer ausgeruht, aber dann hatte ihn eine Ahnung, vielleicht auch ein nur undeutlich wahrgenommenes Geräusch ins Erdgeschoß getrieben, um Andrée zu suchen. Er wußte -198-
nichts von dem Sarg in dem Raum voller Blumen. Ein scharrendes Geräusch hatte ihn angelockt. Während er seiner Schwägerin jetzt am Frühstückstisch gegenübersaß und sich wünschte, jemand möge ihn ablösen, dachte er an Margot, die verlassen in seinem Bett in Paris lag, an die Arbeit, die er in seinem Büro im Château hätte erledigen können. Statt dessen sah er sich trotz seines Bestrebens, die Zeit so gut wie möglich zu nutzen, gezwungen, sie damit zu vergeuden, daß er Kindermädchen für eine schwierige Frau spielte, die das Leid unvernünftig gemacht hatte. Herrgott, wo war Claude? Andrée war seine Frau! Warum kam er nicht und kümmerte sich um sie? Schließlich war es das englische Mädchen, das sich ins Zimmer schlich und ihn rettete. Mit ihrem mausbraunen, kurzgestutzten Haar und ihrer hageren Gestalt, die in ein graues Kleid gezwängt war, wie es sich für ein Begräbnis schickte, sah sie von Kopf bis Fuß wie die Karikatur englischer Kindermädchen aus. Unter anderen Umständen hätte er gelacht. Es war ganz offensichtlich, daß sie ihre Kleidung bewußt gewählt hatte: das lange, langweilige Kleid, die schwarzen Strümpfe und die flachen schwarzen Schuhe. Er hatte sie noch nie so unelegant gesehen; sie sah aus wie eine Vogelscheuche. Nicht, daß sie jemals attraktiv gewesen wäre, nicht mehr als Durchschnitt, und sie hatte auch eines jener puddinghaften englischen Gesichter, das sie deutlich von der Familie und auch den Angestellten im Hause abhob. Und doch mochte jeder sie. Philippe begrüßte das Mädchen ungewöhnlich lebhaft, beinahe überschwenglich. Es spürte sofort, daß etwas nicht stimmte. Philippe floh aus dem Zimmer und ging Claude suchen. »Schau«, sagte er zu seinem Bruder, in dem Versuch, ihn nicht zu erschrecken, nur anzudeuten. »Andrée ist in -199-
einem schlimmen Zustand. Ich habe sie in dem Raum mit dem Sarg gefunden.« »Nun, der wird nicht mehr lange dort stehen.« »Ich sage dir, du darfst sie nicht alleine lassen.« »Und was soll ich tun? Sie an die Leine legen? Ehrlich, Phil, die Frau tut, was sie will, ich kann sie schließlich nicht jede Minute im Auge behalten.« Philippe ließ sich nicht abspeisen. »Nun, dann solltest du eben dafür sorgen, daß das jemand anderer tut. Bloß, bis das Begräbnis vorbei ist.« Seine Eindringlichkeit bewirkte, was seinen Andeutungen nicht gelungen war. Claude stöhnte: »O nein. Was hat sie getan?« »Sie kann nicht besonders gut mit einem Meißel umgehen, also ist sie nicht sehr weit gekommen.« »Du lieber Gott!« Claude legte seinem jüngeren Bruder die Hand auf die Schulter. »Ich werde sie nicht mehr aus den Augen lassen.« »Sie ist im Frühstückszimmer.« Claude eilte hin. Philippe ging in den Salon, den elegantesten Raum im ganzen Château mit seinen Empiremöbeln, ganz in Weiß und Gold und mit schweren rosa Stoffen. Wahrscheinlich war es auch der unbehaglichste Raum im ganzen Gebäude. Er wußte, daß niemand dort sein würde. Vom Fenster aus blickte er über den Park und den Weinberg, und dann wurde sein Auge von einem weit entfernten Torbogen zwischen einer Pappelallee angezogen. Richter George Laroche war fest davon überzeugt, daß jemand von diesem Tor aus das Haus überwacht und auf die Gelegenheit gewartet hatte, das Kind zu entführen. Laroche hatte zu Philippe gesagt: »Von dort aus gibt es -200-
direkte Sicht auf das Château, M sien. Der Mann brauchte gar nicht um das Haus herumzulungern. Er konnte es aus der Ferne studieren und die Lichter ausgehen sehen. Und den besten Augenblick abwarten.« »Richter Laroche, ich will ja Ihre Bemühungen nicht bagatellisieren, aber hat denn jemand im Dorf bestätigt, daß jemand an dem Tor beobachtet wurde?« »Ah, das nicht, aber Sie wissen, wie es in Dörfern oft ist. Die Leute fühlen sich nicht immer frei, so etwas zu sagen.« Philippe schwoll der Kamm. »Wir sind hier keine Feudalherren! Wir leben nur in einem großen Haus, das ist alles. Die Leute aus den Dörfern arbeiten im Haus oder auf dem Anwesen, oder sie leben in der Stadt und tauchen an den Wochenenden auf, um vor den anderen mit ihrem städtischen Gehabe zu protzen. Sie werden keinen Hinweis darauf finden, daß die Leute Angst haben, den Mund aufzumachen und das zu beschreiben, was sie gesehen haben. Sie sind so schockiert über die Entführung der Kleinen, daß sie jede Hilfe leisten würden.« Aber der ermittelnde Beamte lächelte geheimnisvoll, und Philippe konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß entweder er oder der andere irgend etwas falsch interpretierte. Philippe Devereux öffnete die Tür zur Terrasse und trat hinaus. Er hätte in sein Büro gehen und die Post lesen sollen, die während seines Aufenthalts in Paris gekommen war. Aber nach der Szene mit Andrée war ihm nicht danach. Er wünschte, Margot wäre hier. Margot war ruhig, kompetent, das perfekte Gegenmittel zu all den Spannungen im Château. Sie hatte sich angeboten, mit ihm herzukommen und an dem Begräbnis teilzunehmen, aber das hatte er ihr ausgeredet. So gut sich -201-
auch die Familie nach ihrem schmerzlichen Verlust verhalten würde, das Begräbnis würde eine größere öffentliche Veranstaltung sein, und der wollte er Margot nicht aussetzen. Außerdem würde auch die Presse zugegen sein, und es war bekannt, daß Margot die Frau eines anderen war. Philippe redete ihr zu, in Paris zu bleiben, während er in die Berge fuhr. Er ging die Treppe zum Park hinunter. Der Tag hielt noch den Atem an, aber es war keine ruhige Stille, es war eher wie der Augenblick zwischen dem Zusammenstoß und dem Schmerz. Wenn der Tag sonst nichts brachte, würde er ganz sicher Schmerz bringen. Er machte abrupt auf dem Absatz kehrt und ging wieder hinein. Jemand, dachte er, während er die Tür schloß, hatte sich Zugang zum Haus verschafft, war ins Obergeschoß gegangen und hatte dort ein kleines Mädchen entführt und später getötet. Es geschah, als das Haus voll von Leuten war, von denen jeder einzelne ein Geräusch gehört und dem hätte nachgehen können. Wer auch immer sich Zutritt zum Haus verschafft hatte, hatte Mut gezeigt, so verachtenswert die ganze Aktion auch gewesen war. Dies war nicht das erstemal, daß Philippe über den Entführer und sein Wesen nachdachte. Er konnte sich diesen Mut an sich selbst nicht vorstellen. Und das, dachte er, war das Außergewöhnliche: Kriminelle verfugten über eine Schlauheit und einen Wagemut, der gewöhnlichen Sterblichen versagt blieb. Oder war das einfach ein Mangel? fragte er sich. Der Mangel an einem der Elemente der Selbsterhaltung - ein Mangel, der sie davon abhielt, die Konsequenzen ihres Handelns richtig einzuschätzen. Als er vom Salon in die Halle kam, traf er dort seine Mutter, die auf ihrem Zimmer gefrühstückt hatte. Madame Devereux hatte nie jung ausgesehen, in der Beziehung -202-
geriet Philippe nach ihr. Fotografien bewiesen, daß sie schon mit neunzehn Jahren reif gewirkt hatte, zehn Jahre älter. An einer weniger wohlhabenden Frau hätte das ein Nachteil sein können. Mit Fünfzig war ihr Haar stahlgrau und ihre Figur auseinandergegangen, aber sie hatte ein gutgeschnittenes Gesicht, und ihre teuren Kleider kaschierten die Mängel ihrer Figur. Sie war eine Frau, bei der jeder zweimal hinsah. Unglücklicherweise wurde sie mit ihren fünfzig Jahren regelmäßig für sechzig gehalten. »Guten Morgen, Mutter.« Philippe wartete am Fuß der Treppe auf sie. »Du bist schnell gekommen, Philippe. Ich dachte schon, du könntest dich verspäten.« »Die Straßen waren frei.« Er streckte die Hand aus, als wolle er ihr behilflich sein, die letzten Stufen herunterzukommen, so, wie man vielleicht einer alten Frau behilflich war. Sie drückte seine Hand. »Ich bin froh, daß du gekommen bist.« Das überraschte ihn. »Dachtest du, ich würde dem aus dem Wege gehen?« »N-nein.« Aber es klang wie ja. Er lachte leise. »Das ist das Allerletzte, was man gern tun würde, aber man will es sich doch nicht entgehen lassen. Das kann man nicht.« »Wie geht es denn heute diesem armen Mädchen? Ist Andrée schon runtergekommen?« Er schilderte ihr die Episode mit dem Meißel. »Claude kümmert sich um sie und sorgt dafür, daß man sie nicht alleine läßt.« Seine Mutter lächelte, als der Name ihres älteren Sohnes fiel. »Der arme Claude. Er ist so gut zu ihr. Die Leute vergessen, daß es für ihn genauso eine Tragödie ist wie für -203-
sie. Ich finde, er verhält sich tadellos, Philippe. Wirklich.« Er ging neben ihr zum Frühstückszimmer, wo sie den Rest der Familie begrüßen wollte. Die Gewohnheit war ihm dabei behilflich, ihrer Lobpreisung Claudes zuzustimmen. Weil er wußte, daß es das war, was sie hören wollte, sagte er es, wenn er auch wußte, daß es nicht der Wahrheit entsprach. Aber es war immer so gewesen: Claude war der Favorit seiner Eltern, und das war unabänderlich. Claudes Talente und Tugenden wurden von ihnen übertrieben, seine Fehler mit einem Lachen abgetan. Als sie noch Jungen waren, hatte er… Aber was hatte das schon zu bedeuten? Manche Eltern waren einfach blind, wenn es darum ging, die eigenen Kinder zu beurteilen. Nach Maurice Devereux und seiner Frau war ihr älterer Sohn klüger, freundlicher, sah besser aus und war in gesellschaftlicher Hinsicht ein uneingeschränkter Erfolg. Er führte eine brillante Ehe mit einer Opernsängerin und lieferte ihnen ein Enkelkind. Unglücklicherweise keinen Enkelsohn, wonach sie sich sehnten, damit das Geschäft in fähige Hände übergeben werden konnte. Frauen waren in den Augen der Devereux dazu bestimmt, schön zu sein und der gesellschaftlichen Szene Glanz zu verleihen. Sie sollten sich nicht mit Marketingzielen oder Bilanzen auseinandersetzen oder sich den Kopf mit wissenschaftlichem Kram und artistischen Sprüngen zerbrechen, die neue Düfte erschufen und ein Parfumimperium in Gang hielten. Als Claudes Tochter zur Welt kam, gab es bei all ihrer Freude einen kleinen Beigeschmack der Hoffnung, daß er gefälligst dafür sorgen solle, daß es das nächste Mal ein Junge wurde. Und als Andrées Krankheit bewirkte, daß es kein nächstes Mal geben würde, war ihre Enttäuschung unverhohlen. Philippe hatte das in mehrfacher Hinsicht geärgert, doch -204-
er hatte seine Verärgerung mit Ironie getarnt, als er zu seiner Mutter sagte: »Wir sind ein Familienunternehmen, weißt du, kein Königshaus. Es ist nicht alles verloren, wenn es keinen männlichen Erben gibt.« Sie hatte mitgelacht, sich über sich selbst ob ihrer altmodischen Ansichten lustig gemacht und dann damit entschuldigt, daß sie angesichts mehrerer Brüder, die darum wetteiferten, die Zügel zu übernehmen, nie die Kühnheit aufgebracht hatte, auch nur in Betracht zu ziehen, eine Position in der Firma zu übernehmen. »Frauen sind heute anders, das weiß ich. Vielleicht wird Claudes Tochter einmal die Firma leiten wollen, und das wäre vielleicht ganz gut so. Wir werden abwarten und sehen, was kommt.« »Ja«, hatte Philippe zugestimmt. »Das ist wohl am besten so.« Der Tag der Beerdigung war eine einzige Qual. Angestellte und Dorfbewohner drängten sich bereits in der Kirche, als die Familie und ihre Freunde eintrafen. Draußen zwischen den Grabsteinen und auf den Mauern, die den Friedhof umgaben, wimmelte es von Neugierigen und von Vertretern der Medien. Die Fotografen wünschten sich ganz besonders zwei Aufnahmen: Andrées gequältes Gesicht und ein Bild des Sarges. Wegen der Menschenmenge war es nicht möglich, Andrée so schnell in die Kirche zu drängen, wie Claude das gehofft hatte, der ihren Arm hielt. In dem Durcheinander waren die beiden plötzlich auf der falschen Seite des Leichenwagens und mußten ihre Gesichter vor den Kameras abschirmen, waren aber von der Kirchentür abgedrängt. Die Träger, die den Sarg in die Kirche tragen wollten, rief man zurück, weil die Hauptleidtragenden ihre Plätze noch nicht eingenommen hatten. Claude stieß einen Journalisten um, so daß dieser zu Fall kam, und zog -205-
Andrée durch die so entstandene Lücke. Das brachte sie zu der Gruppe mit dem Sarg. Andrée streckte die rechte Hand aus, um den Sarg zu berühren, aber Claude zerrte sie weiter. Ein Fotograf einer der Nachrichtenagenturen drückte in dem Augenblick ab, als es so aussah, als würde sie sich von ihrem Mann losreißen und sich auf den Sarg stürzen. Es wurde eine dramatische Fotografie, die Tausende von Francs einbrachte. Die Hitze von Hunderten von Menschen, die sich an einem heißen Tag in die Kirche zwängten, war unerträglich. Die wenigen am Ende der Stuhlreihen konnten hin und wieder im Freien Luft schnappen, aber der Rest saß wie in einer Falle und mußte es durchstehen. Taschentücher betupften Gesichter und ließen Leidtragende, die mit der Tragödie überhaupt nichts zu tun hatten, wie vom Schmerz überwältigt erscheinen. Der Priester beeilte sich, was großes Mitgefühl für die Lebenden zeigte, die so schnell wie möglich wieder aus der Kirche ins Freie mußten, aber Gleichgültigkeit gegenüber den Toten zur Folge hatte. Ein oder zwei Journalisten berichteten später über die ›heruntergeleierte‹ und ›gefühllose‹ Leichenrede. Als Philippe in den grellen Vormittag hinaustrat, registrierte er Fotografen, die auf Grabsteinen nahe dem offenen Grab standen und mit den Kameras darauf zielten. Augenblicke später kam Andrée, bedrängt von allen Seiten, geschubst, völlig gebrochen, aus der Kirche. Ihre Knie waren weich, und ihr wurde schwarz vor den Augen. Claude stützte sie. Philippe zog sie am anderen Arm hoch. Die Worte des Priesters dröhnten weiter. Madame Devereuxs Finger krallten sich in Maurices Arm und kämpften gegen einen Schmerz an, der wie Feuer in ihrem linken Arm brannte. Maurice stand reglos da und bewahrte Würde im Angesicht des Chaos. -206-
Dann wurde der kleine Sarg in die Grube hinabgelassen. Ein Fuß traf eine weggeworfene Filmschachtel und trat sie, ohne es zu wollen, ins Grab. Eine Handvoll staubiger Erde beeinträchtigte das Weiß des Sarges. Es war praktisch vorbei. Dann stürzte Andrée nach vorn. Ihre Bewegung war für ihren Mann zu schnell, aber Philippe hielt ihren Unterarm fest. Er versuchte sie aufzuhalten, obwohl sie sich mit einer Kraft nach vorn gestürzt hatte, daß er mitgerissen wurde, sie nicht daran hindern konnte, die Grube zu erreichen. Andere Hände versuchten sie festzuhalten, aber Andrée war jetzt schon am Rand, ein Bein in der Luft, das andere Knie auf dem Boden neben dem offenen Grab. Philippe konnte sie nicht halten. Sie entwand sich ihm und hätte ihm sonst den Arm gebrochen. Und so lösten sich seine Finger, und er ließ Andrée fallen. Er sah Staub auf dem schwarzen Leinenkleid, Löcher in den dunklen Strümpfen. Andrée kauerte auf dem Sarg, ihre schmutzigen Finger zerrten an dem Deckel. Und dabei gab sie die ganze Zeit stöhnende Laute von sich. Hände griffen an ihm vorbei. Er half ihnen, sie in die Höhe zu ziehen, und dann schloß Claude sie in seine Arme. Der Weg öffnete sich vor ihnen, sie wurde weggetragen, auf den Rücksitz eines Wagens gelegt. Männer versuchten die Journalisten und Zuschauer wegzutreiben, um dem Wagen freie Bahn zu verschaffen. Gesichter und Objektive preßten sich gegen seine Fensterscheiben. Andrée kauerte mit eingezogenem Kopf auf dem Sitz, von Schluchzen geschüttelt. Philippe fuhr, starr vor Entsetzen, in einem anderen Wagen zum Haus zurück. Das ist der Stoff, aus dem die Alpträume sind, dachte er. Und: Gott sei Dank ist Margot nicht gekommen. Ich hatte recht. Ich wußte, es würde die Hölle sein. Am Haus fand er seine Mutter in einem kühlen Winkel -207-
sitzen, mit einem Fächer in der Hand. Die Jalousien waren heruntergelassen. »Oh, du bist's, Philippe.« »Ja, Mutter. Kann ich dir irgend etwas bringen?« »Ich habe schon nach etwas Kaltem zu trinken geschickt. Die Hitze, weißt du.« Die Schmerzen an ihrem Oberarm gestand sie ihm nicht. Und außerdem ließen sie bereits nach. Wenn sie sich nur hinlegen könnte. Er nahm auf einem Polstersessel neben ihr Platz. »Dem Himmel sei Dank, daß das vorbei ist.« Der Fächer bewegte hin und wieder die stickige Luft zwischen ihnen. Dann sagte sie: »Glaubst du wirklich, daß es das ist?« Er gab keine Antwort. Mord war nie vorbei, ganz besonders nicht ein ungeklärter Mord, wenn es keinen Täter gab, dem man die Schuld geben konnte. Ohne einen Schuldigen waren sie alle schuldig. Schuldig der Nachlässigkeit, weil sie die Schritte auf der Marmortreppe nicht gehört hatten; schuldig, ein Kind nicht schreien gehört zu haben; schuldig, sich nicht vorstellen zu können, daß so etwas einem der Ihren zustoßen konnte; schuldig, immer wieder, sich selbst die Schuld zu geben. Sie lehnte sich zurück und stützte den Kopf auf die Sessellehne, ließ den zusammengefalteten Fächer in den Schoß sinken. »Sie hat sich zuviel aus diesem Baby gemacht. Es verzogen. Das war ungesund. Was hat sie jetzt? Was wird sie je haben?« Philippe räusperte sich und murmelte, daß es nicht möglich war, das Ausmaß einer Liebe unter Kontrolle zu halten. »Andrée ist eine leidenschaftliche Frau.« Kaum hatte er das ausgesprochen, fragte er sich, warum er das gesagt hatte. Er sah sie eher als unvernünftig und sprunghaft, aber, ja, sie war leidenschaftlich, nicht wie Margot mit ihrer kühlen Einschätzung und ihrer -208-
Selbstkontrolle. Andrée bestand ganz aus Willen und Gefühl. Die Augen seiner Mutter schlossen sich. Inzwischen hatte er sich an die schwache Beleuchtung gewöhnt und sah sie besser. Ihr Gesicht war von der Müdigkeit verzerrt, und sie hatte eine ungesunde Farbe. »Mutter, warum legst du dich nicht eine Weile hin?« Sie schlug die Augen auf. »Hm. Gute Idee. Wie oft hast du eigentlich gehört, wie ich deinem Vater sagte, daß ich es gern hätte, wenn in diesem Haus ein Aufzug eingebaut würde?« »Komm, ich geh' mit dir hinauf, wenn du so erschöpft bist.« Sie ließ sich von ihm fuhren, hielt seinen Arm fest, als sie die Treppe hinaufstieg. Als ihre Schlafzimmertür sich zwischen ihnen schloß, zog er sich in sein eigenes Zimmer zurück. Unten waren Leute, mit denen man reden mußte, galt es der Höflichkeit Genüge zu tun, Entschuldigungen und Rechtfertigungen vorzubringen. Aber für den Augenblick wünschte er sich ein paar Minuten des Alleinseins. Sein Raum war karg und maskulin, das typische Refugium eines Junggesellen. Nichts davon hatte er selbst gewählt, die schweren Mahagonistücke standen schon seit seiner Jugendzeit da. Aber es war ein Raum, in dem er sich entspannen konnte, ein Raum, der keine Ansprüche stellte. Im Gegensatz zu der Pariser Wohnung, für die er einen Innenarchitekten engagiert hatte und die auf ihre Art zwar großartig war, aber nicht wie ein Ort aussah, an dem er freiwillig leben würde. Er zog sein Jackett aus und warf es über eine Stuhllehne. Er lockerte seine Krawatte, zögerte, ehe er sie abnahm und anschließend auch sein Hemd auszog. Der unangenehme -209-
emotionelle Vormittag erzeugte in ihm ein Gefühl der Unsauberkeit. Er beschloß, sich noch ein paar Minuten abzustehlen und zu duschen. Das Wasser war praktisch kalt, aber das war gut so. Erfrischt wechselte er Hemd und Unterwäsche und zog dann wieder den dunklen Anzug mit Krawatte an. Die Uhr neben dem Bett erinnerte ihn daran, daß er mit alldem zuviel Zeit verbracht hatte. Die Leute würden sich schon fragen, warum er nicht mit dem Rest der Familie zusammen war, Wein anbot und Beileidsbezeugungen entgegennahm. Sein Vater hatte da einen Satz über das ›Wahrnehmen des Rituals‹, was in der Praxis bedeutete, daß man den Erwartungen anderer Leute nachkam, ob es nun einen Sinn machte oder nicht. Wer von all den Leuten, die die Familie ins Haus eingeladen hatte, war eigentlich so albern, um zu glauben, daß die Devereux nach den schrecklichen Szenen in der Kirche jemanden sehen wollten? Familien mußten sich zusammenschließen und ihre Wunden lecken, ehe sie nach einer solchen Katastrophe imstande waren, Fremden wieder in die Augen zu sehen. Aber was getan werden mußte, mußte getan werden. Philippe kämmte sich das Haar und ging nach unten, um das Ritual wahrzunehmen. Er berührte die Hände von Frauen mit feuchten Augen, die ›so betrübt‹ waren; er bedankte sich mit brüchiger Stimme bei den Männern, die den Tag erduldeten; er vermied es, ein zu schroffes Urteil über die Presse, die Neugierigen und den Untersuchungsbeamten zu fällen, der es nicht geschafft hatte, den Fall aufzuklären, und die Polizei, die mit Laroche bei der Beerdigung zugegen gewesen war, aber nichts unternommen hatte, um die Exzesse im Zügel zu halten. Claude war nicht da. Und Andrée natürlich auch nicht. Philippe fing den Blick seines Vaters auf der anderen Seite -210-
des Raumes auf und versuchte, ihn wissen zu lassen, daß seine Mutter jeden Augenblick nachkommen würde. Die Gäste vermieden es, sich nach den abwesenden Mitgliedern der Familie zu erkundigen, aber je mehr Zeit verging, desto mysteriöser wurde ihr Fehlen. Philippe hatte die absurde Idee, daß er und sein Vater auf alle Ewigkeit sich zwischen diesen neugierigen Leuten, die ihnen nicht helfen konnten, bewegen würden, bis all die nicht gestellten Fragen geklärt waren. Ein Leben ununterbrochener gesellschaftlicher Verpflichtung war seine schlimmste Angst. Schließlich kam seine Mutter und bald nach ihr Claude. Sie sahen aus, als hätten sie lange miteinander gesprochen und sich dabei gegenseitig gestützt. Ihr wechselseitiges Stützsystem funktionierte also wieder. Philippe hatte das schon in der Vergangenheit bemerkt, bei anderen familiären Schwierigkeiten. Diese beiden suchten einander und halfen sich - ganz im Gegensatz zu ihm und seinem Vater. Madame Devereux hatte ihr Lächeln eingeschaltet, bevor sie den Raum betrat. Sie entdeckte jetzt eine Freundin und eilte mit ausgestreckter Hand auf sie zu, hielt ihr die Wange entgegen, um ihren Kuß zu empfangen. Philippe dachte: Die gute alte Mutter, jetzt steht uns wieder ein exzellenter Auftritt bevor. An die Stelle der blassen Frau, der er behilflich gewesen war, die Treppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer zu gehen, war jetzt eine voller Schwung getreten, voll der Bereitschaft, ihren Freunden und Freundinnen Dankbarkeit dafür zu zeigen, daß sie sich hier versammelt hatten, um sie zu trösten. Sie stürzte sich in die Menge, und diejenigen, die verlegen mit Philippe gesprochen hatten, blühten auf, als seine Mutter sich ihnen näherte. Auch Claude bewegte sich locker unter ihnen und -211-
verstand es, seine Trauer mit mitfühlendem Interesse zu verbinden. Es gab ein Büffet, von dem die Besucher sich nur zögerlich bedienten, aus Angst, inmitten des Todes zu gesund zu erscheinen. Andrée erschien nicht, obwohl das Kindermädchen, das bei ihr blieb, während Claude seine Pflicht tat, einmal hereinsah. Herrgott, wie Philippe sich wünschte, daß Margot hier wäre. Sobald ihm das mit Anstand möglich war, löste er sich von den Besuchern und ging in sein Büro. Draußen war Motorengeräusch zu hören, als die ersten Gäste in ihre Autos stiegen. Er konnte praktisch ihr erleichtertes Aufseufzen hören, als sie sich aus der bedrückenden Atmosphäre befreit sahen. Philippe öffnete seine Jalousien; die Sonne war inzwischen auf die andere Seite des Hauses gewandert. Er lockerte seine Krawatte, warf sein Jackett auf einen Stuhl und nahm den Stapel Post in Angriff. Am Vortag hatte seine Sekretärin ihm am Telefon angekündigt, was auf ihn wartete: ein Bericht über eine vorgeschlagene MarketingStrategie, der zu studieren war, eine Handvoll zu beantwortender Briefe, die Anfrage eines Herstellers, der gern den Namen eines klassischen Devereux-Parfums für eine Make-up-Serie verwenden wollte; und ein weiterer Hersteller, der in Lizenzverhandlungen treten wollte. Zwei Umschläge hatte sie nicht geöffnet: einen von seinem Anwalt und einen kleineren, der die Aufschrift Persönlich trug. Philippe nahm zuerst den kleinen Umschlag, der in Marseille abgestempelt war. Er kannte niemanden in Marseille. Er drehte ihn um und studierte dann die Vorderseite noch einmal. Sein Name und die Adresse waren auf einer schmutzigen Schreibmaschine getippt worden, die einige Buchstaben verschmiert abgedruckt -212-
hatte. Die ›e‹ waren gefüllt und ebenso die ›a‹. Philippe zuckte die Schultern, fuhr mit dem Finger unter die Umschlagklappe und riß sie auf. Der Brief enthielt die Lösegeldforderung. Philippe seufzte und schlug die Augen auf. Rote Rosenblätter hatten die Windschutzscheibe wie mit Blut bespritzt. Er ließ die Schlüssel im Zündschloß und rannte zum Friedhofstor. Er rutschte dabei einmal auf den feuchten Blättern aus, und sein Ärmel streifte den Torpfosten, so daß etwas Moos daran hängenblieb. Er fluchte halblaut. Die Kirchentür stand offen, aber sein Eintreten war dennoch nicht lautlos: Sein Atem ging schwer von dem kurzen Spurt, und seine Ledersohlen klapperten auf dem Steinboden. Die Beleuchtung war schlecht. Einen Augenblick dachte er schon, er habe sich geirrt, da niemand da zu sein schien. Dann löste sich eine Gestalt von der Wand am Altar, trat in die Mitte des Raums und blickte ihm entgegen. »Philippe, bist du's?« »Ja, Vater.« Seine Stimme klang schroff und gereizt. Er gab sich Mühe, seinen Tonfall zu mäßigen. »Ich bin gekommen, um dich zu suchen.« »Ich habe mich nicht verlaufen. Ich brauche niemanden, der mich sucht.« Sein Tonfall war weniger gereizt als ironisch. »Draußen schüttet es.« »Deshalb bin ich hier drinnen. Ich kann dir sagen, wenn sich nicht bald jemand um das Dach kümmert, wird es hier auch reinregnen. Ich habe bemerkt, daß hier ein Fleck ist.« Er deutete auf eine Stelle über dem Altar. -213-
»Der Wagen steht draußen. Ich bring' dich zurück, wenn du soweit bist.« Philippe roch den feuchten Verputz, in den sich die üblichen Gerüche von altem Stein und modrigem Holz mischten. Maurice Devereux hatte es nicht eilig. Er nahm seinen Hut von einem Stuhl und ging langsam auf Philippe zu, wobei sein Blick die einfachen Schnitzereien und die klaren Linien des Kirchenschiffs in sich aufnahm. Trotz der Erinnerungen, die der Bau für ihn enthielt, war es ein Ort, der ihn beruhigte. Philippe tippte auf seine Armbanduhr. »Ich will dich nicht drängen, Vater, aber es kommt jemand zu mir zu Besuch.« »Zum Mittagessen?« »Nein. Nachher.« »Nun, dann ist ja noch genug Zeit.« Beinahe demonstrativ machte er einen Umweg, um die lateinische Inschrift einer Gedenktafel zu studieren. Philippe gab auf. Er setzte sich in die letzte Reihe auf einen Betstuhl, beugte sich vor und legte die verschränkten Arme auf die Rücklehne der vorderen Bank. »Hast du Blumen gebracht?« »Ein paar. Da war nicht viel zu holen. Der Garten ist nicht mehr das, was er einmal war.« Das konnte man von seinem Vater auch sagen, dachte Philippe nicht sehr freundlich. Herumzugeistern, Blumen für den Friedhof zu pflücken, wo doch ein Geschäft zu führen war. Er fragte sich, ob Maurice vielleicht krank war. Der meinte: »Ich kann mich noch gut erinnern, als wir jeden Tag im Jahr einfach in den Garten gehen und Blumen für das Haus holen konnten.« -214-
»Diese Art von Gärtnertätigkeit ist sehr zeitraubend. Heutzutage machen sich die Leute nichts mehr daraus.« »Das ist jammerschade.« »Die Dinge ändern sich, Vater.« Philippe begann mit dem Fuß zu wippen, aber das erzeugte ein unangenehmes, lautes Geräusch, und er hörte wieder auf. »Die Leute sagen, wenn die Dinge vollkommen sind, sind sie zu gut, um anzuhalten. Sie vergessen, daß schlechte Dinge auch nicht ewig andauern.« Philippe gab keine Antwort. Maurice ließ sich auf einen Stuhl ein paar Reihen vor ihm sinken und setzte sich seitwärts, so daß er seinen Sohn schräg über den Mittelgang hinweg betrachten konnte. Er drehte den alten Hut zwischen den Händen. »Weißt du, Philippe, ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich an dieses Kind denke. Wenn Erwachsene sterben, dann hat man Erinnerungen daran, wer und wie sie waren und ob sie in die Familie hineinpaßten. Aber ein Baby, das so jung ist… da hat man nichts als Vermutungen. Die einzige Frage, auf die ich eine Antwort habe, ist, daß sie jetzt eine junge Frau wäre, wenn man sie uns nicht gestohlen und ermordet hätte.« »Das liegt lange Zeit zurück.« Er sagte das, als wäre es etwas Endgültiges, weil er das Thema wechseln wollte. Der Mord gehörte zu den schlimmen Dingen, die man besser der Vergangenheit überließ. Seitdem waren ihnen auch gute Dinge widerfahren: Seine Heirat mit Margot und die Geburt seines Sohnes David. »Nun ja.« Maurice stand mühsam auf. »Du denkst jetzt, daß ich sentimental bin. Warum sollte ich das nicht sein? Das erste Enkelkind ist ein wichtiger Punkt im Leben eines Menschen. Deine Mutter und ich haben das deutlich gespürt, als sie starb. Du hattest Margot und mußtest dich -215-
um dein eigenes Glück kümmern. Der Tod der Kleinen war für dein Leben nicht von so zentraler Bedeutung wie für das unsere. Aber schon gut, laß uns davon aufhören.« Philippe hielt ihm die Pendeltür, als sie hinausgingen. Der Regenschauer hatte aufgehört, und sie wichen ein Stück vom Weg ab, um zu ihrem Familiengrab zu kommen. Die Devereux-Steine waren glatt, die Inschriften darauf hart und schwarz mit goldener Verzierung. Maurice blieb vor dem Grabstein des Kindes stehen. Es lagen keine Blumen davor. Er sah, wie Philippe sich umdrehte. »Ja«, meinte Maurice. »Ich hab' sie auf das Grab deiner Mutter gelegt. Heute ist einer unserer Jahrestage, der Tag, an dem wir uns kennengelernt haben.« Die leuchtend rosa und gelben Blütenblätter der Chrysanthemen schienen in der Umgebung aus düsterem Stein deplaziert, aber der Regen hatte sich große Mühe gegeben, sie zu zerstören. Philippe ging weiter, in der Annahme, daß sein Vater ihm folgen würde. Er wußte nicht, was er zu ihm sagen sollte. Im Wagen schnitt Philippe den Wunsch des Couturiers an, der darum gebeten hatte, daß das Haus Devereux ein Parfüm produzierte, das unter seinem Namen auf den Markt gebracht werden sollte. »Wir müssen eine Entscheidung treffen. Ich fürchte, wir haben ihn schon länger warten lassen, als es die Höflichkeit zuläßt.« »Aber Philippe…« »Ja, Vater, ich weiß, daß du dich auf so etwas nicht einlassen möchtest, aber profitabel ist es.« »Für ihn sicherlich. Für uns? Das könnte sein.« »Wir würden dafür sorgen, daß es das ist.« Maurice suchte nach einem Platz, wo er seinen triefendnassen Hut hinlegen konnte. Es war unbequem, -216-
ihn auf den Knien halten zu müssen, aber das Armaturenbrett war zu schmal, und er wollte ihn nicht auf den Boden legen, wo seine Schuhe Friedhofserde abgelagert hatten. »Hinter dem Sitz«, sagte Philippe nur. Und als sein Vater dann gehorsam den Hut dorthin legte, fuhr Philippe fort: »Ich sehe die Gefahr auch, daß er uns für ein Spitzenprodukt bezahlt, um damit seine Marke zu etablieren, und dann später Kosten spart, indem er zu einer anderen Firma geht, wenn er sein Programm ausweiten will.« »Er behauptete, er möchte gar kein Programm, nur einen Duft.« »Ich weiß, was er sagt. Wir müssen jetzt entscheiden, welche Antwort wir ihm geben.« »Nun gut, Philippe, ich habe ihm gesagt, daß wir bereit sind, das Geschäft mit ihm zu machen.« Der Wagen ruckte zur Seite. Maurices Hand flog an den Griff über der Tür. Philippes Stimme klang eisig: »Du hast ihm das bereits gesagt?« »Nun ja. Und ich glaube, wir haben den Handel abgeschlossen.« Philippe fuhr schweigend weiter. Er ließ den Weinberg hinter sich und bog dann zwischen den Bäumen ein, die den Zufahrtsweg zum Château flankierten. Er fuhr viel zu schnell und erreichte die Biegung kurz vor dem Torbogen und dem Hof. Er war wütend. Als er bremste und schnell herunterschaltete, meinte sein Vater: »Das ist ein gutes Geschäft, Philippe. Ich bin davon überzeugt.« Der Wagen spritzte Kies über das mit Regenpfützen -217-
bedeckte Pflaster. Philippe verzog das Gesicht. »Vielleicht könntest du mich über solche Dinge informieren.« Er fuhr dicht an die Hintertür, um ihnen beiden zu ersparen, daß der inzwischen wiederaufgelebte Regenschauer sie erneut durchnäßte. Als sie die Tür öffneten, tropfte ihnen aus dem Geißblattspalier Wasser aufs Haar. Als Maurice drinnen seinen Hut an einen Haken an der Wand hängte, sagte Philipp: »Weiß David davon?« »Er ist jetzt in Mailand und klärt die letzten Einzelheiten. Ich verspreche dir, Philippe, er hat eine sehr befriedigende Übereinkunft getroffen.« »Hast du nicht etwas vergessen, Vater?« »Ja, ja, ja«, brummelte Maurice, der zu dem Zimmer voranging, das Philippe als sein Büro benutzte. »Du wolltest, daß wir das besprechen, du wolltest, daß wir alle herumsitzen und darüber diskutieren. Nun, du solltest dich aber daran erinnern, Philippe, daß ich der Leiter dieser Firma bleibe und das Recht habe, so zu delegieren, wie ich es für richtig halte. David hat sich angeboten, nach Italien zu reisen, und ich habe zugestimmt. Er ist fähig, er begreift, worin die Zukunft des Hauses Devereux liegen muß.« Sie betraten das Zimmer. Philippe schloß die Tür und wartete ab, was sein Vater tun würde. Maurice ging ans Fenster, von wo aus Philippe ihn vorher beobachtet hatte. Philippe zögerte und nahm dann seinen gewohnten Platz hinter dem Louis-XV-Schreibtisch ein. OrmoluSatyrmasken starrten ihn von den langen, geschwungenen Tischbeinen an, die mit gravierter Bronze auf Schildpatt eingelegt waren. Der Schreibtisch war ein besonders kunstvolles Stück, außerordentlich wertvoll, ein Sammlertraum. -218-
Maurice ging um den Schreibtisch herum und nahm sich einen Stuhl. »Hör zu, Philippe, dieser Couturier, das ist kein kleiner Krämer, weißt du.« Philippe hielt sich mit beiden Händen an der Ebenholzplatte des Schreibtischs fest. »Vater, das weiß ich. Er ist schon so lange erfolgreich, wie ich mich erinnern kann, er hat einen hervorragenden Ruf in der Geschäftswelt und ist alles andere als ein Narr.« »Na also.« Maurice lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und zupfte die vom Regen etwas verbeulte Bügelfalte zurecht. »Keine der beiden Firmen wird in irgendeiner Weise durch die Zusammenarbeit mit der anderen kompromittiert. Wir sind beide die Besten in unserer jeweiligen Branche.« »Um Himmels willen, genau das habe ich dir vor Wochen doch auch gesagt! Du warst derjenige, der Bedenken hatte, der argumentierte, wir sollten uns die Hände nicht schmutzig machen, wir würden uns in die gleiche Lage bringen wie eine Lebensmittelfabrik, die für die Supermärkte eigene Produktlinien produziert.« »Ich mußte mir das überlegen, Philippe. Du hast recht gehabt.« »Warum hast du dann nicht gesagt…« Er gab es auf. »Na schön.« Na schön, weil die Antwort klar war: David hatte die Überzeugungsarbeit geleistet, die er selbst nicht geschafft hatte. »Ich würde mir nur wünschen, du hättest mir gesagt, daß du es dir anders überlegt hattest.« Und zugleich wünschte er sich, er könnte auch nur halb so zuversichtlich wie sein Vater sein, daß der Vertrag, den David abgeschlossen hatte, ein guter Vertrag für das Haus Devereux war und nicht nur ein guter Vertrag für den italienischen Couturier. Das Telefon klingelte. Eine -219-
Frauenstimme aus der Küche informierte Philippe, daß das Mittagessen gleich fertig sei. Maurice strahlte auf. »Ich muß sagen, der kleine Ausflug hat mir Appetit gemacht. Heute gibt es escalopes de veau cauchoise, hat sie dir das gesagt? Sie weiß, daß das eines meiner Lieblingsgerichte ist. Und diesmal nimmt sie Calvados. Erinnerst du dich an letztes Mal, als sie statt dessen Marc nehmen mußte? Ebenfalls köstlich, aber nicht gerade mein Lieblingsgericht aus dem Pays de Caux.« Philippe zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Maurices Appetit war unerschütterlich gesund, sofern man eine Vorliebe für üppige altmodische Gerichte als gesund bezeichnen konnte. Wenn es nach ihm ging, zog Philippe es vor, das Mittagessen zu übergehen und durchzuarbeiten, aber er hatte einfach nicht das Herz, Maurice allein essen zu lassen, und häufig waren sie beiden die einzigen, die zu Hause waren. Maurice stützte beide Hände auf die Knie. »So, und jetzt noch eines, ehe wir zu Tisch gehen. Das Parfüm für unseren italienischen Freund.« »Genau. Das war dein zweiter Grund, weshalb du nichts mit ihm zu tun haben wolltest. Wir haben keinen neuen Duft anzubieten.« »Aber das Problem ist auch gelöst. Das Labor hat den neuen Duft fertig. David hat eine Probe mitgenommen.« Die Augen des Älteren funkelten vergnügt, er war sichtlich mit sich zufrieden. Unter dem Prunkstück von Schreibtisch ballten sich Philippes Hände zu Fäusten. Maurice schlenderte zum Eßzimmer. »Laß mich nicht zu lange warten, Philippe. Ich freu' mich schon auf die escalopes und könnte es vielleicht nicht schaffen, auf dich zu warten.« Philippe rang einen Augenblick lang mit sich. Dann -220-
klappte er den Aktendeckel auf, den seine Sekretärin ihm vorbereitet hatte. Eine Geschichte des Hauses Devereux, seiner Entwicklung und seiner Triumphe. Und wen außer ihm kümmerte es schon, daß dahinter dauernd irgendwelche Reibereien gewesen waren, und zwar solange er sich erinnern konnte? Müde, wieder von Maurice ausmanövriert, klappte er den Aktendeckel zu und ging ohne jeden Appetit, um seine escalopes de veau cauchoise zu essen. Vielleicht sind alle Familien so, dachte er. Aber das gehörte mit zu den Imponderabilien. Man konnte das nie wissen. Rose Darrow war ganz anders, als Philippe Devereux erwartet hatte. Am Telefon hatte sie älter geklungen, und als seine Sekretärin sie ins Zimmer geleitete, merkte er, wie sich seine Augenbrauen überrascht in die Höhe schoben. Sie war Ende Zwanzig, mit jenem ganz besonderen Selbstbewußtsein, das sich Engländerinnen aus bestimmten Familien in sehr jungen Jahren erwerben. Und sie war makellos: Ihre zarte nordeuropäische Haut war von einem leichten Rosa belebt; ihr Haar war perfekt, soweit die saloppe Frisur die Perfektion verlangte; sie war wohlproportioniert und nicht zu klein. Als sie sich setzte, schob ihr Rock sich hoch und ließ das hübscheste Paar Beine erkennen, das seit Jahren in dem Château zu sehen gewesen war. Er begann, indem er ihr Kaffee anbot, den sie dankend annahm. Dann nahm Philippe ein Blatt Papier aus dem Aktendeckel und schob es ihr über den Schreibtisch hinweg zu. Keine Ringe, stellte er fest, als sie das Blatt entgegennahm. Unverheiratet, obwohl man das heutzutage nie mit Sicherheit als ungebunden auslegen konnte. Geschieden? Er hoffte nicht, um ihretwillen. Sie war zu jung, um jenen Leidenspfad bereits hinter sich zu haben, -221-
zu klug, um den Fehler einer zu frühen Ehe gemacht zu haben. »Das sind ein paar grundlegende Fakten«, sagte er, während Rose las. »Ich habe meine Sekretärin gebeten, die wichtigsten Punkte und ein paar Daten aufzuschreiben. Ich glaube, das werden sie gut gebrauchen können.« »Das war sehr aufmerksam von Ihnen. Vielen Dank.« Sie legte das Blatt auf die Schreibtischplatte. Ihre Stimme mochte er auch und ihren Akzent. Obwohl ihr Französisch, soweit er das am Telefon auf die Probe gestellt hatte, sehr gut war, war da doch ihr gewinnender englischer Akzent nicht zu überhören. Als der Kaffee gebracht wurde, bat er, das Tablett auf einem kleinen Tischchen auf der anderen Seite des Zimmers abzustellen. Sie holte ein Tonbandgerät heraus und legte es neben das Tablett. »Das macht Ihnen doch nichts aus?« »Ganz und gar nicht. Aber sagen Sie, ist man im Journalismus ganz von Kurzschrift und Notizblocks abgekommen?« »O nein. Meine Kurzschrift funktioniert ganz gut, das kann ich Ihnen versichern. Und wenn wir Englisch reden würden, würde ich auf das da wahrscheinlich verzichten.« Sie drückte einen Knopf, ließ das Band zurücklaufen, bis ihre Stimme »das kann ich Ihnen versichern« sagte, ließ es noch weiter zurücklaufen und drückte dann den Aufnahmeknopf. Philippe nippte an seinem Kaffee. So, wie sie jetzt saßen, war es besser; da war kein Schreibtisch mehr, der ihm den Blick auf ihre wohlgeformten Beine versperrte. Er wartete auf ihre erste Frage. Rose Darrow war eine gute Interviewerin, das mußte er ihr zugestehen. Während des Telefonats hatte sie ihm erklärt, daß sie eine Reihe von Profilen über führende -222-
europäische Firmen schreibe, für ein internationales Nachrichtenmagazin bestimmt, das bald auf den Markt kommen sollte. Das Profil des Hauses Devereux sollte das erste davon werden. Sie hatte sich auch gut vorbereitet. Die Fragen, die sie ihm stellte, waren intelligent, sie überschritt nie die Grenzen der Höflichkeit, ging aber sehr zielbewußt vor. Wenn er Fragen auswich und erklärte, die Antwort könne seiner Konkurrenz Betriebsgeheimnisse offenbaren, ließ sie sie widerspruchslos fallen. Alle Bedenken, die er vor dem Interview gehabt hatte, waren schnell zerstreut. Es war viel erfreulicher, den Nachmittag damit zu verbringen, mit ihr über seine Geschäfte zu sprechen, als sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was sein Vater und sein Sohn möglicherweise hinter seinem Rücken im Schilde führten. Rose Darrow erklärte, das Château, das die Familie jetzt seit einigen Generationen besaß, habe sie beeindruckt, und erkundigte sich nach dem Weinberg. Sie gingen ans Fenster, um die feuchtglänzenden Felder zu betrachten, die jetzt schliefen, bis das Frühjahr die Reben zur Aktivität erweckte. Gamay-Trauben. Sie produzierten Rotwein. Seine Schilderung führte dazu, daß er ihr ein Glas anbot. Als er eingeschenkt hatte, hatte er vergessen, an welchem Punkt in ihrem Gespräch sie durch den Blick auf den Weinberg abgelenkt worden waren. Er beobachtete sie, wie sie an dem Glas nippte. Er wollte sehen, wie ihre Finger das langstielige Glas liebkosten, wie ihre Lippen sich öffneten und wie ihr vollkommener Hals sich beim Schlucken bewegte. Ihre Augen sahen ihn nicht an, sie blickte nach unten, so, wie man das tut, wenn man sich konzentriert. Dann ließ sie das Glas sinken. Ihre Lippen öffneten sich wieder zu einem Lächeln. »Gut«, lobte sie. »Sehr gut. Wer macht ihn für Sie?« -223-
Der Geschmack füllte ihren Kopf mit Visionen von Frauen in Kleidern aus verblaßtem geblümten Leinenstoff, die auf Kerbstühlen im von Blättern gesprenkelten Schatten saßen, vor einem Tisch, dessen Spitzendecke von einer leichten Brise bewegt wurde. War das ein Ferientag, an den sie sich undeutlich erinnerte? Oder die wirre Erinnerung an ein Inserat? Beides, oder vielleicht auch keines davon - jedenfalls hatte Château Devereux für sie den Geschmack und den Geruch des Sommers. »Ein Mann namens Giles macht ihn«, antwortete Philippe. »Wir sagen, er sei der beste Schatz, den das Schloß zu bieten hat.« Rose lachte über seinen Scherz, sie hatte bis jetzt über jeden Scherz gelacht, den er gemacht hatte. Das gefiel ihm. »Er ist seit einer Ewigkeit bei uns«, erzählte er weiter. »Er wohnt in einem der Cottages, in dem Teil des Dorfes, das noch übrig geblieben ist. In Wahrheit fängt er an, gebrechlich zu werden, und die Arbeit müssen seine Helfer tun. Aber der alte Giles ist ein Tyrann, er bringt sie dazu, ihm zu gehorchen. Wir mögen gar nicht daran denken, was geschehen wird, wenn er aufgibt oder seine Helfer sich gegen ihn auflehnen.« Auch darüber lachte sie. »Oh, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Es wird bestimmt jemanden geben, der dann weitermacht. So ist das immer. Wahrscheinlich haben Sie jetzt schon einen Mann dort drunten, der begierig auf seine Chance wartet, der Welt zu beweisen, daß er genausoviel kann wie Giles.« »Ein sehr beruhigender Gedanke.« Und vom Weinbau gingen sie über zu den anderen Interessen der Familie: den Rennpferden und der Kunstsammlung. -224-
»Das sind allerdings eher die Interessen meines Vaters als die meinen«, erklärte er offen. Aber sie hielt an dem Thema fest. »Ich glaube, beides wird finanziell von der Firma unterstützt.« »Nun ja, darauf läuft es hinaus. Und die Pferde sind nach unseren Düften benannt worden. Wußten Sie, daß wir einen Are-Sieger haben?« Sie nickte und erkundigte sich, wie gut es dem Stall ginge. Er antwortete mit der Feststellung: »Pferderennen sind ein teures Vergnügen. Vielleicht hatten wir Glück, vielleicht geben wir mehr für unsere Pferde aus, als wir sollten. Aber es läuft gut.« Sie plauderten eine Weile. Allmählich spürte Philippe die ersten Unsicherheiten. Seine Stimme blieb entspannt, aberinnerlich fing er an, vorsichtig zu werden. Jedesmal, wenn er den Versuch machte, das Gespräch wieder auf das Parfumgeschäft zurückzuführen, schaffte sie es, ihn abzulenken. Dann ging sie auf die Kunstsammlung über, wie sie begründet worden war und nach welcher Strategie sie ausgebaut wurde. Als Philippe betonte, daß das völlig separat von der Firma geschehe, meinte sie, ja, sie wisse wohl, daß die Sammlung separat geführt werde, aber die finanzielle Verbindung sei doch wichtig. Sie ging weiter darauf ein, aber er schnitt ihr das Wort ab, übertönte ihre Einwände und klang für seine eigenen Ohren dabei brüsk. »Ich kann Ihnen versichern, das ist völlig belanglos. Der Fonds ist ausnehmend gut dotiert. Er gedeiht, genauso wie das Parfumgeschäft.« Sein Tonfall entging ihr nicht. Einen Augenblick lang sah sie ihm gerade in die Augen. Er spürte, wie sein Gesichtsausdruck sich verhärtete, und bemühte sich um -225-
ein Lächeln, wußte aber, daß es ihm nicht gelang. Er befürchtete, ihr zu deutlich gezeigt zu haben, daß sie damit ein Gebiet berührt hatte, auf dem er empfindlich war. »Also gut. Alles gedeiht«, rekapitulierte sie. »Darf ich Sie dann fragen, weshalb Sie im Augenblick verkaufen?« Philippe gab den Versuch des Lächelns auf. »Ich persönlich kann nicht erklären, weshalb wir möglicherweise einen Künstler verkaufen und einen anderen erwerben. Das ist die Zuständigkeit des Mannes, den wir zum Direktor unserer Sammlung ernannt haben. Vielleicht hat sein Geschmack sich verändert, vielleicht verlangt der Markt eine andere Vorgehensweise. Da müssen Sie ihn fragen.« Rose verkniff es sich, ihm zu sagen, daß sie eben dies getan hätte, daß der Direktor auf ihre Frage geantwortet hatte, daß er nicht befugt sei, Fragen zu beantworten, und daß im übrigen die Entscheidung nicht die seine wäre und er nicht über die von ihr gewünschte Information verfüge. Statt dessen sagte sie zu Philippe: »Sie verkaufen, kaufen aber nicht. Gibt es dafür irgendwelche besonderen Gründe?« »Sie sind falsch informiert worden. Seit mein Vater zu sammeln begonnen hat, war es seine Intention, eine Kunstsammlung von Rang aufzubauen, und von diesem Ziel sind wir nie abgewichen.« Sie ließ ein kurzes Lächeln aufblitzen. »Dann sollte ich mich vielleicht statt dessen mit Ihrem Vater unterhalten, da die Sammlung ja sein Kind ist.« »Nein«, wehrte er schnell ab. »Nein, das glaube ich nicht. Mein Vater ist nicht auf dem Markt tätig. Wir haben einen Fonds, und wir haben einen Direktor, der Zugang zu dem Fonds hat und das erwirbt, was ihm ins Auge sticht.« »Dann frage ich mich, weshalb…« -226-
Er hob ungeduldig die Hand. »Hören Sie, wenn Sie hier eine Story zusammenbrauen wollen, daß das Haus Devereux dem Ruin nahe ist und wir die Kunstsammlung verkaufen müssen, um es zu retten, dann schwöre ich Ihnen, daß Sie irren.« Ein leises Summen warnte sie, daß ihr Tonband abgelaufen war. Er sagte kein Wort, während sie ein neues einlegte. Als sie aufblickte und das Interview fortführen wollte, sagte ihr sein Gesicht, daß ihre Zeit ebenfalls abgelaufen war. »Ich habe eine andere Verabredung«, verkündete er. »Ich dachte, das wäre Ihnen klar.« Als sie das Tonbandgerät in ihrer Tasche verwahrt hatte und zum Gehen bereit war, kam er noch einmal auf Umwegen zu dem Thema zurück. »Vielleicht wären Sie so liebenswürdig, mir zu verraten, wo Sie auf die Idee gestoßen sind, daß wir verkaufen.« Der Punkt ging an sie. »Galerien in London, New York, überall.« Dann streckte sie ihm die Hand hin und zwang ihn, sie zu berühren. »Vielen Dank, Monsieur Devereux. Ich finde selbst den Weg hinaus.« Damit ging sie. Philippe lauschte ihren Schritten auf dem Marmorboden der Halle. Er nahm den Telefonhörer ab. Neben dem Telefon lag das Blatt mit Daten und Fakten auf der Schreibtischplatte, das Rose Darrow nicht hatte mitnehmen wollen. Philippe zerknüllte es, während er darauf wartete, daß jemand am anderen Ende der Leitung sich meldete.
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DREIZEHN Die Wohnung von Ellies Eltern in dem Prager Vorort Branik befand sich im obersten Stockwerk des Häuserblocks. Von einigen Fenstern aus konnte man in der Ferne ein paar grüne Büsche erkennen, aber im wesentlichen beschränkte sich der Ausblick auf identische Häuserblocks. Die Küchendecke zeigte verfärbte Stellen, Ringe, die sich überlagerten, dunkelbraun bis rehbraun, und die zeigten, wo es, und zwar wiederholt, hereingeregnet hatte. Den zerschrammten Küchentisch erkannte sie. Ihr Vater hatte ihn gemacht, als ihre Eltern ihren gemeinsamen Hausstand begründet hatten, aber er war nie vollkommen gewesen. Massiv, ja, aber von Anfang an durch Astlöcher beeinträchtigt, und jetzt war seine Oberfläche wie ein Geschichtswerk von Familienmahlzeiten. Ihr Vater saß an einem Ende des Tisches über die Bestandteile eines Bügeleisens gebeugt, das er zerlegt hatte und zu reparieren im Begriff war. Ellies Mutter wandte ihnen den Rücken und goß gerade Wasser über die Teeblätter. Die Wohnung war kompakt und ordentlich. Alles, mit Ausnahme des Tisches, war ihr fremd. Als sie und ihre Mutter ins Wohnzimmer gingen, suchte ihr Blick unwillkürlich nach weiteren Erinnerungen an ihre Kindheit. Aber außer einer Spitzendecke, die die ausgebleichte Mahagonifläche eines Tisches bedeckte, entdeckte sie nichts. Ellie nahm an, daß sie jetzt reden würden. Angesichts des stummen Widerstandes, den ihr Vater ihrem plötzlichen Auftauchen entgegensetzte, war das unmöglich gewesen. Er behandelte sie wie eine unwillkommene -228-
Nachbarin, die immer wieder ihre Gesellschaft aufdrängt oder Dinge schnorrt, die sie nicht geben konnten, weil sie zu arm waren. »Trink, solange der Tee noch heiß ist.« »Das ist ein hübsches Service«, fand Ellie. Die Worte waren ihr entwischt, ehe sie es verhindern konnte. Seit sie gekommen war, war da dieser Austausch von höflichen Komplimenten gewesen. Aber wie sollten sie die Fäden des Familienlebens aufnehmen, wo sie sich doch beiderseits, zuerst Ellie und später ihre Mutter, dafür entschieden hatten, sie abzureißen? Ihre Mutter antwortete pflichtschuldig auf die Bemerkungen über das Porzellan und erzählte, wie sie an das Service gekommen war. In Ellies Kopf beklagte sich eine Stimme darüber, wie sinnlos das doch alles war. Sie sprachen wie Fremde, weil sie das auch waren. Kein Wunder, daß ihre Mutter ihr bestes Porzellan hervorholte, um ihr Tee zu servieren, und die alltäglichen Utensilien der Familie im Schrank ließ. »Erzähl mir von New York, Ellie.« Aber in Wirklichkeit sollte das heißen, erzähl mir von Sam, diesem Künstler, von dem du sagst, daß du mit ihm zusammenlebst, warum bist du dann in London oder hier oder sonstwo anstatt in New York? Ellie erzählte von New York, Touristendinge, was natürlich Zeitvergeudung war, weil ihre Mutter das auch im Fernsehen sehen konnte. Sie schaltete auf London um, ihr Zuhause dort und ihre Arbeit, aber nicht zuviel über das Buch über vernachlässigte Künstlerinnen. Tief in ihrem Inneren war da eine Warnung, daß es das Begriffsvermögen ihrer Mutter übersteigen würde, von feministischer Theorie und deren Einfluß auf die Welt der Kunst zu sprechen. Eine Frau, die so lebte, wie ihre Mutter -229-
gelebt hatte, die jeden Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, jegliche Phantasie und alles Potential, das in ihr steckte, unterdrücken mußte, hatte keine Vorstellung davon, welche Freude es bereiten konnte, überkommene Meinungen in Frage zu stellen. Ihre Mutter hatte nichts in Frage gestellt. Sie hatte den Kopf eingezogen, ihre Kinder großgezogen und überlebt. Aber sie hatte nichts in Frage gestellt und ganz sicher auch ihre Kinder nicht dazu ermutigt. Jetzt erinnerte sie sich: »Du hast mir immer über einen jungen Mann in London geschrieben, der dir behilflich war, als du dich entschlossen hattest, Kunst zu studieren. Er war, glaube ich, auch Schriftsteller.« »John Blair? Er ist Journalist geworden.« Ellie stellte fest, daß es ihr leichter fiel, über John Blair zu reden als über all die anderen Aspekte ihres Lebens. Er stellte das Bindeglied dar, das sie brauchten, er war wie ein roter Faden, der sich durch ihre Briefe zog, von dem Zeitpunkt an, wo sie nach London gekommen war, über die Stelle im Haus seines Vetters bis zum heutigen Tag, bis zur Gegenwart. Ein wichtiges Bindeglied, und sie war froh, daß es dieses Bindeglied gab, und verdarb es nicht, indem sie erklärte, daß auch dieser Faden abgerissen sei, weil er tot war. Ellie hatte ihren jüngeren Bruder um einen Tag verpaßt. Er lebte nicht mehr in Prag, sondern war beruflich in der Stadt gewesen und hatte seine Eltern aufgesucht. Seine Mutter holte Fotos von ihm heraus, die ihn und eine übergewichtige Frau und Kinder zeigte, die alle wie die Frau aussahen. »Du würdest ihn nicht wiedererkennen, Ellie.« Das war in der Tat so. Zum einen sah er älter aus, viel älter als sie. Vielleicht war es eine schlechte Fotografie, -230-
aber sie fand auch nichts von jener Bruder-SchwesterÄhnlichkeit, die früher so offenkundig gewesen war. »Und das…« Ihre Mutter hielt ihr ein anderes Foto aus der Schachtel im Schrank hin. Der andere Bruder, der ältere. Pavel trug Uniform. Ellie sah ihre Mutter scharf an, ein unvermeidbarer Blick, der Information forderte. Das Gesicht ihrer Mutter war verschlossen, das, was sie fühlte, verdunkelt. Der Polizist auf dem Foto starrte den Betrachter an, mit einem Mund, der nicht lächelte, und einem leicht hämischen Glitzern in den Augen. Wie kalt, wie gefühllos, wie schrecklich er war! Ellie räusperte sich, um etwas zu sagen. Ihre Mutter griff nach der Fotografie und kam ihr zuvor: »Ich dachte, das würde dich überraschen, Ellie.« »Ja. Ja, das tut es allerdings.« Und dann die Frage, auf die es ankam: »Wo ist Pavel jetzt?« Sie meinte, lebt er in Prag? Und sie meinte, hat er seine Stelle nach der Revolution verloren wie so viele andere? Und bin ich in irgendeiner Weise in Gefahr, irgendwo auf ihn zu stoßen? Ihre Mutter schob die Fotografien zu einem sauberen Stapel zusammen und saß da und hielt sie im Schoß, den Mann in Uniform ganz oben. »Auf der anderen Seite der Stadt. Wir sehen ihn nicht sehr oft. Es wird ihm leid tun, daß er dich verpaßt hat. Er hat dich so gemocht, Ellie.« Vor Ellies innerem Auge blitzten Bilder von ihr auf, wie sie ihr langes blondes Haar am Feuer trocknete, weil sie ausgehen und sich mit Freunden treffen wollte. Eine beharrliche Hand zog sie von dem Kamin weg, löste ihr Haar und zog dann den Kamm durch, und die Berührung der Zähne an ihrer Kopfhaut und die Androhung von -231-
Schmerz, wenn der Kamm die Knoten auflöste, beunruhigte und entzückte zugleich. Ihre Mutter wischte imaginären Staub vom Foto des Polizisten, eine Geste, die die Aufmerksamkeit von der zentralen Bedeutung ihrer Frage ablenkte. »Warum bist du weggeblieben, Ellie? Du hast das nie erklärt, das weißt du doch.« »Aber Mutter, du weißt doch, warum.« »Die politische Situation? Das glaube ich nicht. Und außerdem hättest du im Sommer 1968 unmöglich wissen können, wie die nächsten zwanzig Jahre sein würden.« Ellie lachte mit leichtem Spott, der ihr selbst galt. »Nun, das ist die Antwort, die ich immer gegeben habe.« »Für ein junges Mädchen war es eine schnelle Entscheidung, wenn das die wahre Antwort ist.« Russische Panzer waren polternd über den Wenzelsplatz gefahren, und binnen Stunden hatte Ellie gewußt, daß sie nicht zurückgehen würde, daß die Ereignisse ihr den Vorwand geliefert hatten, den sie brauchte. Als John Blair im Garten des Hauses seines Vetters mit ihr redete, hatte sich die Entscheidung in ihrem Bewußtsein verhärtet. »Mutter, ich war glücklich«, sagte sie vorsichtig. »Dort hat es für mich mehr gegeben. Und das brauchte ich. Mehr.« Ihre Mutter verzog den Mund. »Wenn du politisch aktiv gewesen wärst, Teil der Protestszene, dann wäre das verständlich gewesen. Aber du warst ein ruhiges Mädchen, das sich am liebsten Bilder ansah. Du wärst hier auch zurechtgekommen.« Der Blick, mit dem sie sie jetzt betrachtete, war durchdringend, ein Blick, den Ellie zuvor nie an ihr bemerkt hatte, nur im Gesicht ihrer Großmutter, wenn die -232-
Zeit kam, irgendeine bedeutsame Wahrheit ans Licht zu bringen. Ellie war amüsiert. »Du siehst genau wie Oma aus, wenn du das mit deinen Augen machst.« »Was habe ich denn gemacht?« »Du hast die Augenlider gesenkt und die Nase in die Luft gestreckt. So. Nein, so ist es nicht gut, ich kann das nicht. Aber glaub mir, du hattest genau den Blick, den sie immer hatte, wenn sie dachte, eine von uns hätte etwas angestellt und sollte beichten.« Ihre Mutter legte die Fotografien in die Schachtel im Schrank zurück und schloß die Tür. »Vielleicht wollte ich dir damit sagen, Elena, daß du mich nicht täuschen kannst. Ich habe bemerkt, daß du meinen Fragen ausgewichen bist. Ich kann die Wahrheit nicht aus dir herauspressen, aber du brauchst nicht zu glauben, daß ich nicht weiß, daß du nicht offen zu mir warst.« Ellie spürte brennende Röte an den Wangen. Ihre Mutter war tatsächlich wie Oma, ein alter Tyrann, der nie locker ließ, bis sie das bekam, was sie haben wollte. Irgendwie hatte ihre Mutter sich während ihrer Abwesenheit in ihre eigene Mutter verwandelt. Die äußerliche Ähnlichkeit war vorherzusehen gewesen, aber nicht auch die Charakterzüge. Verwirrt stammelte Ellie: »Jetzt weiß ich nicht, wie ich darauf antworten soll.« Die Frau stand am Fenster; das ließ sie gewichtiger erscheinen, größer. In der Zwillingswohnung über ihrer linken Schulter wurde in einem identischen Raum ein Licht angeknipst. Wahrscheinlich lagen dort dieselben Kissen in ihren orangefarbenen Synthetikbezügen auf den Polstersesseln. »Du brauchst nicht zu antworten, Elena. Du hast dich -233-
von jeder Verantwortung für das, was in dieser Familie abläuft, freigemacht. Es ist ja nicht so, als wärst du das einzige Kind, nicht einmal ein ganz spezielles wie das älteste oder das jüngste, eben das mittlere. Wir anderen sind immer noch eine Familie, wo auch immer du bist.« »Mutter, ich mußte Entscheidungen treffen.« »Ja, ich weiß. Und du warst sehr jung. Das mag dich jetzt überraschen, aber ich dachte, daß du dich klug verhalten hast.« »Klug?« »Den Umständen gemäß, ja. Am Anfang meine ich. Ich hatte nicht erwartet, daß es auf Dauer sein würde. Schließlich, welcher junger Mensch will denn nicht etwas von der Welt sehen? Für dich war es ein guter Zeitpunkt, dich umzusehen.« Ihre Bitte, nach London gehen zu dürfen, um dort Englisch zu lernen, war auf keinerlei Widerstand gestoßen. Im Rückblick betrachtet, war das seltsam, aber damals hatte sie an der Kuriosität Spaß gehabt, daß man ihre kleinen Wünsche einfach niedertrampelte, aber ihre großen Wünsche erfüllte. »Elena, du warst damals zu verschlossen und zu gefühlsbetont. Es war notwendig, daß einer von euch sich loslöst. Ich bin froh, daß du so vernünftig warst, das zu erkennen und es zu tun.« Das Gesicht der älteren Frau lag im Schatten. Ihre Tochter versuchte die Düsternis zu durchdringen und eine Alternative für die offenkundige Bedeutung ihrer Worte zu finden. Vergebens. Eine vertraute Spannung erfaßte sie, ihr Atem beschleunigte sich. Sie wollte die beengende Kleidung aufreißen, die Luft in kräftigen Zügen in ihre Lungen pumpen. Sie griff sich an den Hals, aber ihre Bluse war gar nicht hochgeschlossen, da war nichts -234-
Beengendes, nichts Äußerliches, die Enge war in ihrem Körper. Stumm befahl sie sich: Du mußt das unter Kontrolle bekommen! Das sind die Nerven, sonst nichts. Beruhige dich! Wenn man ihr besondere Aufmerksamkeit widmete, war das meistens nur noch schlimmer, aber zum Glück wandte ihre Mutter sich jetzt ab, um eine Lampe einzuschalten und die Vorhänge vorzuziehen, und deshalb entging ihr Ellies Atemnot. Ellie nahm ein Taschentuch heraus, schneuzte sich und beschäftigte sich mit irgendwelchen Belanglosigkeiten. Manchmal funktionierte das, aber diesmal nicht. Alles, woran sie denken konnte, war, daß ihre Mutter Bescheid wußte. Bescheid gewußt hatte. Und doch, wie konnte das möglich sein? Wie hatte sie ihr Wissen verarbeiten können, zusehen können, wie ihre Tochter sich gezwungen sah, sich ›klug‹ zu verhalten und von zu Hause zu fliehen? Die vorgezogenen Vorhänge begrenzten den Raum. Die Mauern drängten auf sie ein. Die Decke, die die gleichen Flecken hatte wie in der Küche, drückte auf sie herab. Ellie sehnte sich verzweifelt danach, hier wegzukommen. Das war ein ausgeprägter Wesenszug in ihr, das erkannte sie deutlich. So war sie: Wenn man sie bedrohte, ergriff sie die Flucht. Ihre Stimme klang belegt, als sie sagte: »Das ist lange her, es lohnt nicht, sich heute damit zu belasten.« Eine zweite Stimme in ihrem Kopf schrie: Du lügst! Wie kann man es einfach der Vergangenheit zuschreiben, es als Erfahrung abtun? Es war eine verhaßte Episode, zerstörerisch, und sie hat deine Einstellung und dein Leben geformt. Und jetzt, als krönende Grausamkeit, findest du heraus, daß deine Mutter, diese friedliche Frau, die alles immer hingenommen hat, es wußte. -235-
Ellie stand auf und war entschlossen, zu gehen. Ihren angeblichen Grund für den kurzen Besuch hatte sie bereits vorgebracht, indem sie eine Verabredung im Stadtzentrum erfunden hatte. Jetzt sehnte sie sich verzweifelt danach, hier wegzukommen, ehe sie ihre Mutter packte und die Antwort aus ihr herausschüttelte. Die Frage schrie in ihr: Wie konntest du deine eigene Tochter solchem Leid überlassen, sie ungeschützt lassen, ohne eine Freundin? Ihre Mutter schien ihre Gedanken zu erraten. »Du warst diskret, und das sind nicht viele Mädchen. Dafür war ich dankbar. Du weißt ja, wie gern die Leute reden.« Die hysterische Stimme in Ellie fand plötzlich keine Worte mehr. Ihr Inneres war von einem ungläubig klagenden Heulen erfüllt. Zu ihrem eigenen Erstaunen kamen die Worte, die sie sprach, in normalem Tonfall heraus: »Ja, das tun sie, nicht wahr? Aber sag mir eines, Mutter. Das, worüber sie vielleicht hätten reden können - wer hat dir das erzählt?« Das Gesicht ihrer Mutter entspannte sich zu einem liebevollen Lächeln, der Art von Lächeln, wie Eltern es immer benutzen, wenn sie etwas zu den harmlosen kleinen Streichen ihrer Kinder sagen. »Meine Liebe, das war natürlich Pavel.« »Pavel?« Das Wort kam ohne einen Laut heraus, es wollte ihr nicht über die Lippen. »Er war sehr besorgt darüber, daß du nach England gehen wolltest. Ich habe zu ihm gesagt, wenn sie gehen will, ist dies das Beste, weil sie mit ihren Gefühlen so durcheinander ist. Jeder konnte das sehen, Ellie, aber du warst so verschlossen, hast dich uns nicht anvertraut.« Ellie hielt ihre Tasche in der Hand und bewegte sich rückwärts auf die Tür zu. Sie sah ihren Vater, den Kopf über das zerlegte Bügeleisen gebeugt und seine Stille nur -236-
von dem metallischen Klicken des Schraubenziehers durchbrochen. Sie nahm an, daß das Ding erledigt war; er hatte es auseinandergebaut und würde es nicht wieder zusammensetzen können. Manche Dinge, die zerbrochen waren, konnte man nie wieder reparieren. Mit diesen Gedanken und die Abschiedsworte auf den Lippen entfloh sie und stolperte die muffig riechende Betontreppe hinunter in die künstliche Welt draußen. Die Erde hatte sich unter ihr aufgebäumt. Pavels abstoßendes Verhalten konnte man in Augenblicken, in denen ihr mehr nach Verzeihen zumute war, jugendlicher ungezügelter Leidenschaft zuschreiben, aber für das Verhalten ihrer Mutter gab es einfach keine Entschuldigung. Welche Gefühle auch immer sie damals in sich vergraben hatte, Ellie zu ihrer Klugheit und Diskretion zu beglückwünschen, zeigte einen Mangel an Sensitivität, den man nur als niederträchtig bezeichnen konnte. Sie schlug einen falschen Weg ein. Gute hundert Meter trottete sie weiter, von dem Wissen geplagt, daß ihre Mutter ihre Schmach gekannt hatte. Nichts in all ihren unterschiedlichen Erfahrungen, nichts, was sie je gehört oder gelesen hatte, hatte sie darauf vorbereitet, dem ins Auge zu sehen. Sie zuckte zusammen. Ein Wagen parkte vor ihr. Er war vom anderen Ende der Straße herangerollt und hatte etwa zwanzig Meter entfernt auf ihrer Straßenseite angehalten. Sie erkannte die beiden Männer, die ausstiegen und auf die Wohnungen zugingen: Krieger und Zak. Wachsam gemacht, merkte sie sich die Nummer des Wagens und folgte den Männern. Im Inneren des Gebäudes blieb sie stehen, um auf die Schritte zu lauschen, die über ihr die Treppe hinaufgingen. Sie ging ihnen nach, froh darüber, daß ihre Schuhe weiche Sohlen -237-
hatten. Ein kurzer Wortwechsel bestätigte ihr, daß sie sich nicht getäuscht hatte. Zak forderte Krieger auf, sich zu beeilen, und Krieger sagte, er solle nicht nervös werden. Ellie spähte an einer Korridortür vorbei und sah, daß die beiden vor einer braunen Tür stehengeblieben waren. Sie hatten keinen Schlüssel. Krieger klopfte viermal. Theatralisch, dachte sie; ein Signal. Als sie wieder auf der Straße war, wurde ihr klar, daß sie sich verlaufen hatte, und sie ließ sich von einem jungen Mann, der einen Polstersessel trug, aus dem die Füllung herausquoll, den Rückweg erklären. Zweimal versuchte sie Rose anzurufen, aber die war nicht da. Die Leute starrten Ausländer in der Metro an. Im Gegensatz zu London oder New York, wo Ausländer ein vertrauter Anblick waren, hatten sie hier etwas Geheimnisvolles an sich. Ellie wußte, daß sie Aufsehen erregte. Sie überlegte, ob sie etwas sagen sollte, vielleicht fragen, ob die Station Forum diejenige war, die auf den Plänen immer noch als Gottwaldova angezeigt war, um damit durch ihre Sprache zu erkennen zu geben, daß ihr Äußeres täuschte. Aber sie würden sie weiter anstarren. Auch Hybriden haben etwas Geheimnisvolles an sich. Am Wenzelsplatz schloß Ellie sich den wandernden Gruppen an, wo Schaulustige sich mit jungen Leuten vermischten, die die Freiheit der Straßen genossen; wo Theaterbesucher in und aus den Theatern strömten und Kauflustige die Satellitenschüsseln anstarrten und ältere Leute sich über Wahlplakate den Kopf zerbrachen und hoch oben an dem ansteigenden Platz, wo die Kerzen für die Märtyrer brannten, ein paar Gestalten den Kopf beugten. Sie wollte gerade das Foyer des Hotels Ambassador betreten, hatte die Hand schon an der Tür, als sie den Mann wahrnahm, der auf sie lauerte. Ihr Schrei dämpfte -238-
sich zu einem Aufstöhnen. Sie fuhr zurück, stieß an den Zobelpelz einer Russin, gewann ihr Gleichgewicht zurück und rannte den Platz hinauf. Wenn sie Glück hatte, würden die vielen Menschen sie verdecken, aber wenn nicht… Eine Straße führte über den Platz, und Ellie wurde langsamer, um einen Wagen passieren zu lassen. Sie sah sich um und stellte fest, daß er sie verfolgte. Sie rannte eine Seitenstraße hinunter; das war unvorsichtig, weil dort weniger Leute waren. Eine andere Seitengasse bot ihr die Chance umzukehren. Wieder auf de m Platz, verbarg sie sich in der Menge. Dann kam eine Arkade, der Zugang zu ein paar Läden und dem Rokokotheater. Die Leute, unter die sie sich gemischt hatte, drängten ins Theater. Zwei blieben stehen, lasen die Plakate, betrachteten eingehend die Szenenfotos. Ein Stück von Milan Uhde, ehemals Dissident und jetzt Kulturminister. Ein Stück, das sich mit Marx und Engels in London befaßte, eine Schlafzimmerfarce, die demonstrierte, wie kleine Lügen zu enormen Lügen anwachsen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie vielleicht darüber gelächelt. Das Paar entfernte sich von ihr. Sie ging weiter, bis an das Ende der Arkade, suchte einen Ausgang. Doch es war eine Sackgasse. Eine Falle. Sie mußte umkehren. Vorsichtig näherte sie sich dem Eingang, blickte den Hügel hinauf, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Keine Gefahr. Dann den Hügel hinunter. Ebenfalls keine Gefahr. Ellie dankte dem Himmel und nahm wieder Kurs auf das Hotel. Diesmal wartete er draußen auf der Straße auf sie. »Ellie!« Seine Arme waren weit geöffnet, hießen sie willkommen. »Nein«, stieß sie hervor, und ihre Stimme war hoch und -239-
scharf. Die Leute blickten auf sie. Er schien es nicht zu bemerken. »Ellie.« Er kam geradewegs auf sie zu. Ihre Lage war hoffnungslos. Ein Laternenpfahl, ein Rudel Touristen, ein Hindernis nach dem anderen. Sie konnte nicht entkommen. Er war jetzt so nahe, daß er ihren Arm berühren konnte. Beinahe forderte sie ihn dazu heraus und hatte Angst, wie kräftig sie wohl zuschlagen würde, wenn er es riskierte. Aber seine Hand fiel herunter. »Du bist zu uns zurückgekommen«, sagte er bewegt. Uns. Er maß sich an, für ihre Familie zu sprechen. Seine Frechheit verblüffte sie, seine Entschlossenheit, sich ihr aufzudrängen. »Nein«, entgegnete sie, immer noch mit der unkontrolliert hohen Stimme. »Nein, Pavel. Ich habe dir nichts zu sagen. Geh weg!« Er schüttelte den Kopf. Sein flüchtiges Lächeln war das Lächeln ihrer Alpträume. Ihre ganze brüchig gewordene Würde zu Hilfe rufend, sagte sie: »Dann werde ich gehen.« Und schritt davon. Wenn die Touristen etwas wahrnahmen, ließen sie sich davon nichts anmerken. Wenn die Schaufensterbummler die kleine Szene bemerkenswert fanden, verbargen sie das meisterhaft. Und doch war Ellie überzeugt, daß ganz Prag die bittere Konfrontation mitbekommen hatte, daß jeder sah, daß sie die Maus in einem Spiel war, das immer nur die Katze gewann. Pavel holte sie mühelos ein. Ihre Mutter habe angerufen, sagte er, um ihn zu informieren, daß sie in Prag war. »Sie hat mir gesagt, wo du wohnst. Sie dachte, du würdest dich freuen, mich zu sehen.« -240-
»Sie ist verrückt!« herrschte Ellie ihn an und glaubte es auch. »Sie muß völlig verrückt sein.« »Warte einen Augenblick!« Er zerrte an ihrem Arm. Ellie schlug mit ihrer Handtasche zu. Der Schlag hätte ihn am Kopf treffen müssen, aber er reagierte schnell, und so prallte die Waffe von seiner Schulter ab. Ihre Vehemenz hielt ihn lange genug auf, daß sie sich befreien konnte. Da war ein Taxi, und sie zwängte sich hinein. Durch das Rückfenster registrierte sie, wie ihr Bruder ihr mit aufgerissenem Mund nachstarrte. »Kam chcete jít?« fragte der Fahrer. »Malá Strana«, sagte sie. »Bitte.« Die Adresse von Rose Darrows gemieteter Wohnung kam ihr fast automatisch über die Lippen. Malá Strana war gut, es lag auf der anderen Flußseite, weit genug weg. Es erfüllte sie mit angenehmen Erinnerungen, sie war dort ihrer ersten Liebe begegnet und den Hügel hinauf zur Kunst und in ihre Zukunft gegangen. Und dann gab es auch eine ganze Anzahl vernünftiger Gründe, neben den sentimentalen, um nach Mala Strana zu fahren. Sie war mit ihrer Wahl zufrieden. Während der ganzen Fahrt rannen ihr Tränen über die Wangen. Ellie stand an der Holztür des Bogenganges und versuchte sich zusammenzureimen, welcher Klingelknopf an dem eisernen Tor der von Rose war. Sie klingelte ein paarmal, sah sich mehrmals um, um sicherzugehen, daß Pavel sie nicht verfolgt hatte. Nach einer Weile drückte sie die Klingel der Wohnung im Obergeschoß. Gleich daraufkam ein Kind heruntergehüpft und fragte, was sie wolle. Ellie leugnete ihre Identität, sprach Englisch und dann Deutsch mit ihm und seiner Mutter. Schlau spielte sie die Rolle der Besucherin, weil sie sich damit viel eher als Roses Freundin Zugang verschaffen konnte. Ein -241-
Ersatzschlüssel tauchte auf, und man öffnete ihr die Tür. Sie behauptete, daß Rose sie erwarte und gleich kommen würde. Als sie dann allein war, riß Ellie die Schuhe herunter, warf ihren Mantel über einen Haken im gekachelten Eingangsflur und durchwühlte die Schränke, bis sie eine Flasche borovicka fand. Wahrscheinlich gehörte sie nicht Rose, sondern dem Wohnungsbesitzer, aber das war Ellie gleichgültig. Nach zwei Stunden, in denen sie sich zweimal nachgeschenkt hatte, versuchte sie herauszufinden, wo Rose war. Ihrem Argwohn, daß Rose die Wohnung bereits aufgegeben hatte, widersprachen Kleider in einem Schrank und Papiere auf einem Tisch, der als Schreibtisch benutzt wurde. Auch Lebensmittel waren da, wenn auch nicht viele. Sie aß, was sie vorfand, weil sie zu nervös war, um sich in eine der Bars in der Nähe zu wagen. Sie nahm an, daß Pavel ihr über den Fluß gefolgt war, entweder, weil er geahnt hatte, wohin sie gefahren war, oder, weil er ihren Taxifahrer gefragt hatte. Alles, so weit hergeholt es auch sein mochte, schien ihr plausibel und ganz besonders, daß außerhalb des magischen Kreises der Wohnung Gefahr auf sie lauerte. Nach dem Essen kam ihr in den Sinn, das Hotel anzurufen und sich nach irgendwelchen Nachrichten zu erkundigen. Möglicherweise hatte Rose sie ja dort angerufen; das war aber nicht der Fall. »Aber eine Nachricht aus New York haben wir«, teilte der Mann am Empfang mit. »New York?« Es dauerte eine Sekunde, bis Sam in ihrer Erinnerung auftauchte. Sie hatte im Augenblick kein Verlangen, ihn anzurufen. Sie redete sich ein, daß es nicht fair war, ein -242-
fremdes Telefon für teure Überseegespräche zu mißbrauchen. Aber das war nur ein schwacher Vorwand, denn sie hätte es ja zugeben und für das Gespräch bezahlen können. Der tiefere Grund, weshalb sie New York nicht anrief, war, daß sie Sam nichts zu sagen hatte. Sie wollte ihm nicht über ihre Suche nach der Frans-Hals-Frau berichten; es gab noch kein Datum für ihre Rückkehr, abgesehen von ihrem Versprechen, rechtzeitig für seine Ausstellung zurück zu sein, und sie hatte keine Lust, sich mit ihm über die schmerzhaften Dinge auszutauschen, die ihr im Augenblick widerfuhren. Außerdem hätte sie es im Augenblick einfach nicht ertragen können, ihm ihr Interesse an irgendeiner seiner Kalamitäten hinsichtlich nicht funktionierender Kühlschränke oder dergleichen vorzuheucheln. Müde richtete sie sich auf der Couch im Wohnzimmer eine Schlafstätte, wo sie es sich einigermaßen behaglich machte, bereit, mit einer Erklärung hochzuspringen, sobald Rose kam. Am nächsten Morgen wachte sie früh auf, um festzustellen, daß sie allein war. Im Spätsommer 1974, zwei Wochen nachdem Philippe Devereux die Lösegeldforderung weggeworfen hatte, traf eine zweite ein. Das war ihm bereits klar, ehe er den Umschlag öffnete. Der Absender benutzte dieselbe Schreibmaschine mit verschmiertem e und a, die Adresse war amateurhaft angeordnet, und der Brief war in Marseille abgestempelt. Philippes Sekretärin legte ihn kommentarlos zu seiner Post. Sie öffnete alle Briefe, diesen einen aber nicht, denn er war an ihn persönlich gerichtet. Das Wort persönlich war rot auf den Umschlag getippt und zweimal unterstrichen. -243-
Als er den Umschlag aufhob, fühlte er Übelkeit in sich aufkommen. Wie konnte jemand so grausam sein, eine Familie, der man ihr Liebstes geraubt hatte, mit Angeboten zu quälen, ihnen ihr totes Kind zurückzuverkaufen? Dann fuhr er mit dem Finger unter die Umschlagklappe und nahm das Blatt Papier heraus. Etwas Glänzendes fiel auf den Schreibtisch. Philippe zuckte zurück, aber es war nur eine Locke aus dunklem Haar. Sie landete auf der cremefarbenen Oberfläche eines teuren Briefbogens, auf den die Sekretärin eines geschäftsführenden Direktors eine Einladung an Philippe geschrieben hatte, bei einer Konferenz zu sprechen. Er würde die Einladung nicht annehmen, sondern sie einem Untergebenen weiterreichen. Philippe lehnte es ab, selbst an solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Er war ein Mann, der sein Privatleben schätzte, keiner für die Öffentlichkeit. Er hörte, wie sein Atem stockte, als er sich über das Einladungsschreiben beugte. Nicoles Haar. Eine von den weichen Locken, die sich hinter ihren Ohren kringelten und die, wenn sie den Kopf zur Seite legte, bis an ihre Schultern reichten. »Unmöglich.« Er schob das Haar beiseite und ging ans Fenster, redete sich ein, daß das Haar von einem anderen Kind stammte, daß es überhaupt nichts bewies, nur daß der Absender einen kranken Geist haben mußte. Eine Lösegeldforderung mußte von irgendeinem Beweis gestützt werden, daß der Absender das Opfer in seiner Gewalt hatte, aber diese Haarsträhne reichte dafür nicht aus. »Unmöglich«, wiederholte er. »Nicoles Schicksal ist bekannt, das ist ein gemeines Spiel, das jemand mit uns treiben will. Aber Gott sei Dank kommen die Briefe zu -244-
mir und nicht zu ihren Eltern.« Als er dann den Brief las, war sein Glaube erschüttert. Der erste war kurz und knapp gewesen. Wir haben Nicole. Sie bekommen sie unversehrt zurück, wenn Sie eine halbe Million Francs bezahlen. Die Instruktionen für die Geldübergabe werden in einer cave hinterlassen werden. Und eine Adresse, ein Datum, ein Zeitpunkt. Der zweite Brief begann mit einer Klage. Sie sind nicht gekommen und haben damit Nicoles Leben gefährdet. Sie bekommen sie lebend zurück, wenn Sie eine halbe Million Francs bezahlen. Gehen Sie zu der cave, wo Instruktionen auf Sie warten. Dann folgten eine Adresse, ein Datum und eine Zeitangabe. Und dann eine abschließende Zeile: Minette schickt Ihnen ein Andenken. Wenn das Haar nichts bewies, dann doch der Name. Das war Nicoles Kosename, etwas, das sie als plapperndes Baby für sich erfunden hatte. Etwas, das kein Verfasser bösartiger Briefe wissen konnte, wenn er nicht auch Nicole kannte. Jetzt reiß dich zusammen, dachte Philippe. Eine Menge Leute kennen diesen Kosenamen. Alle Hausangestellten zum Beispiel. Die Leute, die ihn nicht kennen können, sind solche, die ihre Information nur aus den Presseberichten beziehen. Also gut. Dann steht der Verfasser des Briefes irgendwie mit dem Château in Verbindung, wie Laroche das immer vermutet hat. Deshalb gibt es einen Komplizen, der die Umschläge in Marseille zur Post bringt. Uns eine halbe Million Francs zu entreißen, erfordert eine Verschwörung, einer allein könnte das nicht schaffen. Nun, ich weiß jedenfalls nicht wie. Er tat das Haar und den Brief wieder in den Umschlag zurück und verwahrte ihn in seiner Tasche. Bald -245-
daraufkam seine Sekretärin ins Zimmer, und sie besprachen ein paar Dinge, die sie für ihn erledigen mußte. Aber dabei beschäftigte ihn die ganze Zeit der Gedanke, daß, so sinnlos auch die Behauptung sein mochte, daß Nicole noch am Leben war und man sie zurückholen konnte, die Leute, die dieses bösartige Lösegeldspiel trieben, doch gestoppt werden mußten. Ob er Richter George Laroche anrufen sollte? Oder die Polizei? Nachdem er die erste Lösegeldforderung weggeworfen hatte und vermutete, daß die Polizei doch alles verpatzen würde, schreckte Philippe davor zurück, das eine oder das andere zu tun. Statt dessen entschied er sich dafür, den angegebenen Treffpunkt aufzusuchen. Er kannte den Ort. Es war keine der berühmten caves, sondern ein bescheidener Weinkeller an einer Landstraße, vielleicht eine halbe Stunde vom Château entfernt, ein kurzes Stück hinter einer Kreuzung. Philippe hatte diese Straße früher gelegentlich benutzt, um eine Freundin zu besuchen, ehe sie jemand anderen heiratete; davon abgesehen kannte er die Gegend nicht. Ein später Sommer, ein Widerstreben, den Herbst einzulassen. Der Himmel war klar, und die Landschaft hatte sich wieder einem heißen Tag hingegeben, als Philippe zu der cave fuhr. Er war früh aufgebrochen, sehr früh, wollte lange vor sechs dort sein. Er erinnerte sich an eine Baumgruppe und einen Weg, der zwischen den Bäumen hindurch zum Cottage eines alten vigneron führte, ein paar Hütten und die Ruine des Hauses. Wenn es nicht verändert worden war, würde er seinen Wagen dort verbergen können, zu Fuß auf die cave zugehen und die Leute ausspionieren, die vorhatten, ihn auszuspionieren. Und daß sie die Absicht hatten, ihn auszuspionieren, stand für ihn fest. Als die Kreuzung in Sicht kam, stellten sich bei ihm die -246-
ersten Bedenken ein. Bis zu diesem Stadium war es ein intellektueller Wettstreit gewesen: Würde er ihre Absicht durchschauen und sie übertölpeln können, mehr über sie erfahren, als sie wollten? Er fragte sich, ob vielleicht einer der Gärtner dahintersteckte, die seine Mutter im Frühling aus dem Haus gejagt hatte. Der widerspenstige junge Mann hatte das Château bereits vor Monaten verlassen, aber seine Freundin war eines der Dorfmädchen gewesen, die im Hause arbeiteten. Man konnte sich leicht vorstellen, daß die beiden sich bei ihrem zu anspruchsvollen Arbeitgeber rächen wollten. Und der Gärtner war aus dem Süden, nicht wahr? Philippe verlangsamte seine Fahrt an der Kreuzung, aber sein Wagen war weit und breit das einzige Fahrzeug. Noch ein kurzes Stück, das war alles. Er beschleunigte nicht mehr, trödelte eher, nervös, jetzt, wo es soweit war. Niemand weit und breit, keine Zeugen, keine Hilfe, falls er etwa in eine Falle stolpern sollte. Dann sah er die Baumgruppe. Selbst jetzt mit dem Sommerlaub war der Schutz, den sie boten, spärlicher, als er in Erinnerung hatte. Das Cottage des vigneron war baufälliger, es gab weniger Hütten, und die standen näher an der Straße. Er mußte jedenfalls abbiegen, einen anderen Weg gab es nicht. Er ließ den Wagen über den Feldweg poltern, stellte ihn zwischen die Häuserruine und die größte der Hütten und hoffte, daß man ihn von der Straße aus nicht würde sehen können. Von wachsenden Zweifeln gepeinigt, stieg er aus. Ich hätte umkehren sollen, dachte er. Wenn ich hier schnell weg muß… Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Unwillkürlich machte er einen Schritt auf den Wagen zu, ein wenig näher zur Sicherheit. Mit der Hand am Türgriff blickte er sich gehetzt um, wußte nicht, was er erwarten sollte oder -247-
aus welcher Richtung das Geräusch kam. Wieder ein schlurfendes Geräusch. Diesmal war er sicher, daß es aus dem Cottage kam. Philippes Finger spannten sich um den Türgriff. Seine Handfläche war jetzt klebrig. Weg hier! schoß es ihm durch den Kopf. Sieh zu, daß du hier verschwindest! Eine Katze sprang über die eingebrochene Türschwelle, warf die Maus, die sie im Maul getragen hatte, zu Boden und stürzte sich dann gleich wieder auf das hilflose Geschöpf. Philippe ließ den Türgriff los und wischte sich die Hand am Hosenbein ab. Eine Katze. Das war alles, nichts als eine Katze, und sie hatte ihm solche Angst eingejagt. Er entfernte sich von dem Wagen, und jetzt bekam es die Katze mit der Angst zu tun und floh, ließ die zuckende Maus an der Wand liegen. Philippe schob den Kopf durch die Tür, vorsichtig darauf bedacht, nirgends anzustoßen. Die vordere Mauer wirkte besonders gefährlich. Der Raum, in den er sah, war mit Dachschindeln und aufgehäuftem Staub, der früher einmal Verputz gewesen war, übersät. Schlingpflanzen hatten eine Kolonie gegründet. Hinten im Cottage versperrte ihm ein Dornengestrüpp den Weg. Eine Katze würde sich vielleicht hindurchzwängen können, aber Philippe hatte Angst, hängenzubleiben, und außerdem hatte er auch so einen guten Überblick. Hier war kein Wagen versteckt, gab es keinerlei Anzeichen dafür, daß das Haus als Versteck benutzt wurde, nur eine hüfthohe Wildnis, die zu einer Trennwand führte. Ein paar gelbe Schmetterlinge flirteten über den Nesseln. An der Wand lehnte die verrostende Lenkstange eines langvergessenen Fahrrads. Ein Fahrzeug näherte sich. Er duckte sich und hastete zu den Bäumen, um von dort aus auf den Eingang der cave blicken zu können, die sich auf der anderen Seite der -248-
Straße einige Meter entfernt befand. Es war ein grauer Wagen, eine ganz gewöhnliche Familienkutsche, die mitten auf der Straße dahinrollte. Der Wagen passierte die cave, passierte die Bäume, fuhr über die Kreuzung und hinterließ nichts als beißenden Auspuffgestank. Philippe schlug nach den Fliegen, die jetzt um ihn tanzten, sah auf die Uhr. Fast halb sechs. Er war kein Mensch, dem es Freude machte, herumzulungern, aber er zwang sich zur Geduld. »Konzentrier dich auf das, was als nächstes kommt«, murmelte er. Und doch hatte er keine Ahnung, was es sein würde. Alles hing von der Identität der Person ab, die ihm den Brief geschickt hatte. Wenn es jemand war, den er erkannte, würde er ihn ansprechen und anklagen. Aber wenn nicht, dann hoffte er auf eine Fahrzeugnummer, die er Laroche weitergeben konnte. Jetzt wünschte er sich, eine Kamera mitgebracht zu haben. Ein Lieferwagen rollte vorbei, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern. Zwanzig Minuten vor sechs. Ob er noch länger warten sollte? In dem Brief stand sechs, das war präzise, und vielleicht kam es auf Präzision an. Er wartete. Und das Warten ließ neuer Angst Raum. Was, wenn es ein Komplott ist, um mich zu entfuhren? Er kam sich naiv vor, weil er die Möglichkeit nicht schon früher in Betracht gezogen hatte. Nicole ist tot. Wenn das wirklich einen Sinn hat, dann jedenfalls nicht den, Nicoles Rückkehr zu arrangieren. Ein beunruhigendes Szenario baute sich vor ihm auf. Leute entführten ein Kind, töteten es versehentlich und lockten jetzt ein weiteres Mitglied der Devereux-Familie an einen verlassenen Ort, um ihn anstelle der Kleinen in ihre Gewalt zu bekommen. Philippe hatte die ganze Zeit angenommen, daß der Schreiber des Briefes seinen Namen -249-
mit dem seines Bruders verwechselt hatte. Jetzt nahm er an, daß kein Fehler vorlag, daß die Absicht die war, ihn, Philippe, zu entführen. Er legte sich Einwände gegen diese Theorie zurecht, aber sie waren nicht überzeugend. War er nicht die natürliche Alternative zu Nicole? Nein, aber er war greifbar, wohingegen die Mutter des Kindes wegen ihres neurotischen Zustandes nie allein war und der Vater in Paris zu tun hatte. Die Großeltern? Wiederum nein: Den Entführern war bereits ein verletzliches Opfer gestorben, warum also die ältesten Mitglieder der Familie riskieren? Ganz besonders dann, wenn die Kidnapper in Verbindung zum Château standen und die Gebrechen kannten, die die Gesundheit der Großeltern beeinträchtigten. So unwahrscheinlich es auf den ersten Blick sein mochte - er war ihre beste Option. Wieder überkam ihn die Versuchung, wegzulaufen. Sein Stolz hielt ihn fest. Jetzt, wo er so weit gekommen war, wollte er wissen, wer oder was in der cave war. Falls er entführt werden sollte, falls man ihn überwältigte, wenn er den Weinkeller betrat, dann war der Lösegeldbrief in seinem Schlafzimmer ein deutlicher Hinweis. Er war ihnen nicht völlig ausgesetzt, es bestand Hoffnung, daß die Polizei seine Spur aufnehmen konnte. Zehn Minuten vor sechs. Seine Ungeduld triumphierte. Er ging zum Wagen zurück und schrieb ein paar Zeilen mit der Erklärung, daß er auf eine falsche Behauptung reagiert habe, daß Nicole gegen Lösegeld freigegeben würde, und daß er darauf vorbereitet sei, selbst entführt zu werden. Das Blatt sicherte er mit einem Stein im Inneren der Hausruine, an einem Punkt, den die Polizei sicherlich untersuchen würde, falls es dazu kommen sollte, daß nach ihm gesucht wurde. Ein paar von den Fliegen, die ihn zwischen den Bäumen -250-
belästigt hatten, folgten ihm zur Straße hinauf, umkreisten seinen Kopf, und ihr Summen irritierte ihn. Davon abgesehen gab es nichts, was die Stille beeinträchtigte. Die cave war offen. Die Tür gab auf einen leichten Fingerdruck nach. Er schob sie auf, so weit es ging. Philippe blickte die Straße hinauf und hinunter, entdeckte niemanden, keinerlei Bewegung und trat dann über die Schwelle. Er knipste das Licht an und schloß die Tür. Die Angst vor einem plötzlichen Angriff verflog. Er war allein, in einem langen fensterlosen Raum. Es roch nach fermentierten Trauben. An den Wänden standen Weinkisten auf Paletten. Stühle und Tische zeigten, wo die Käufer zu probieren pflegten, ehe sie ihre Wahl trafen. Philippe trat an den Tisch und erwartete dort eine Nachricht. Nichts. Er wagte sich weiter in den Raum, bis zu einer Rampe, die in den Keller hinunterführte. Eine Falle, dachte er. Keine Nachricht, keine Instruktionen. Also doch eine Falle. Nun, ich verschwinde hier jetzt. Und dann, als er auf die Tür zuging, wußte er mit qualvoller Sicherheit, daß sie von außen versperrt war. Er hatte keinen Schlüssel gesehen, innen nicht und außen nicht, und man ließ guten Wein im Werte von Tausenden von Francs nicht ungesichert, so daß jeder, der gerade vorbeikam, ein paar Flaschen mitnehmen konnte. Daß die Tür offen gestanden hatte, war verdächtig, bedrohlich, aber das wurde ihm erst in diesem Augenblick klar. In seiner Hast rutschte Philippe auf dem glatten Stein aus. Er schlitterte den letzten Meter und krachte gegen die Tür. Als er sich wieder gefangen hatte, zerrte er am Türgriff und verlor erneut das Gleichgewicht, als die Tür sich mit einem Schwung öffnete. Unversperrt. Gar nichts gab einen Sinn ab. -251-
Verblüfft starrte er wieder in den Raum hinein - und da sah er die Markierung. Auf dem Stein war mit Kreide ein Pfeil gezeichnet, eineinhalb Meter nach der Türschwelle. Der Pfeil wies auf eine Kiste zur Linken. Philippe folgte ihm. Unter einer Flasche fand er den Brief. Wieder dieselbe Schreibmaschine. Philippe überflog den Brief, steckte ihn ein und trat in die Sonne hinaus. Es war immer noch kein Laut zu hören. Ein paar Schwalben zogen ihre eleganten Bahnen am Himmel. Die Fliegen, die seine Eskorte gebildet hatten, formierten sich zur Rückreise. Er wedelte sie weg, aber sie kamen dennoch mit, umkreisten ihn ganz dicht wie Leibwächter, die einen Politiker beschützen. Er führte sie den ganzen Weg zu den Bäumen zurück. Tapfer, jetzt, wo die Gefahr vorüber war, wünschte er sich, daß jemand auftauchen würde, um die Befriedigung einer Konfrontation zu haben. Ich bin stark genug, dachte er, ich habe durchaus eine Chance, in einem Kampf die Oberhand zu gewinnen, falls es dazu kommen sollte. Aber nein, Leute, die ihn entführen wollten, würden bewaffnet sein, und nur ein Narr leistete Widerstand. Hatte Nicole das vielleicht auf ihre kindliche Art getan? Hatte sie geschrien oder versucht, wegzurennen? Philippe verdrängte sie aus seinem Bewußtsein. Er mußte sich jetzt darauf konzentrieren, sicher zu seinem Wagen zurückzukehren. Ein paar Meter nur noch, aber genügend in Raum und Zeit, daß der Erfolg in die Katastrophe umschlagen konnte. Er hielt den Atem an und verließ die schützenden Bäume, ging über das unebene Terrain, um das Cottage herum. Sein Wagen war unberührt. Er war allein. Er trat in die Hausruine, holte seinen Brief und zerknüllte ihn, ließ ihn in den Fußraum des Wagens fallen. Der Platz reichte für ein Wendemanöver, er brauchte -252-
also nicht rückwärts zur Straße zu fahren. Beim Manövrieren hörte er, wie er mit dem Heck an etwas anstieß, und stieg leise fluchend aus, um nachzusehen. Der Lack war ganz unten verkratzt. In dem Gebüsch lag irgendwelcher Unrat, und er war beim Zurücksetzen darangestoßen. Als er sich aufrichtete, stellte er fest, daß das verrostete Fahrrad, das an der Wand gelehnt hatte, verschwunden war. Ellie war ein Flüchtling, eingeschlossen in der Kellerwohnung und zuckte jedesmal zusammen, wenn das Telefon klingelte, das sie nicht abnahm, weil sie wußte, daß es nicht für sie sein konnte, da sie ja kein Recht hatte, hier zu sein. Kurz vor Mittag - sie kam sich allmählich idiotisch vor und war außerdem hungrig beschloß sie, die Wohnung zu verlassen, nicht, um durch die Straßen von Prag zu wandern und so zu riskieren, wieder mit ihrem Bruder zusammenzustoßen, sondern um die Suche nach dem Porträt fortzusetzen. Sie schrieb eine Nachricht für Rose, ließ sie wissen, daß sie Krieger und Zak in Branik gesehen habe, und gab die Zulassungsnummer des Wagens an, den Zak fuhr. Dann nahm sie ein Taxi zu ihrem Hotel, das war die sicherste Methode, Pavel aus dem Weg zu gehen, falls er ihr auflauern sollte. In Anbetracht des sonnigen Vormittags hätte sie es vorgezogen, über die Brücke zu schlendern, wo das dahinfließende Wasser, die vergoldeten Gebäude und der herbstliche Park ihre Stimmung verbessert hätten. Zu lange eingezwängt, über ihre mißliche Lage deprimiert und verärgert darüber, daß sie es so weit hatte kommen lassen, brauchte sie dieses erhebende Erlebnis. Böhmen baumelte vor ihr wie etwas, das man einem kleinen Kind verspricht. Der gelbbraune Wald, von einem Flugzeugfenster aus betrachtet, die Märchenschlösser, die -253-
Aura einer unterdrückten Kultur, die in die Freiheit ausbrach. Sie mußte das einfach am eigenen Leibe erleben. Niemand lauerte ihr vor dem Hotel auf. Obwohl ihr Pulsschlag sich beschleunigte, als man ihr eine Nachricht überreichte, war diese nicht von ihrem Bruder, sondern von dem Mann, der sie in der kavârna verlassen hatte. Er gab eine Telefonnummer an und würde vermutlich eine Entschuldigung hinzufügen. »Ellie, es tut mir leid, daß…« »Das ist nicht notwendig, wirklich nicht.« Sie empfand mädchenhafte Erregung darüber, mit ihm zu sprechen. »Aber ich hätte nicht…« »Bitte. Das ist nicht wichtig.« Sie konnte alles übersehen, er war wieder in ihren Träumen erschienen. »Ich werde dir auf deiner Suche nach dem Hals-Bild behilflich sein. Nicht, daß ich glaube, daß du es finden wirst, aber ich kann dafür sorgen, daß du Zutritt zu diesem Schloß bekommst. Ohne Hilfe wird das nicht möglich sein.« »Oh, das ist wunderbar. Ich wollte dich schon darum bitten, aber es ist schrecklich viel verlangt.« Am vergangenen Tag hatte es aus seinem Munde wie ein Hindernislauf geklungen, aber irgend etwas hatte seine Einstellung verändert. »Ich bringe dich hin«, versprach er. Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte nur daran gedacht, daß er ihr Türen öffnen oder vielleicht ein paar Fäden ziehen könnte. »Das ist ja noch wunderbarer. Aber ich möchte wirklich nicht lästig fallen. Bist du auch ganz sicher, daß du das tun willst?« »Es ist alles schon vorbereitet. Ich habe einen Vorwand, um dorthin zurückzukehren, und du wirst mich begleiten. -254-
Wäre es morgen möglich?« Sie stimmte begeistert zu. Ehe er auflegte, ließ sie sich von ihm den Weg zur Galerie beschreiben, wo sie die Neue Kunst sehen konnte, die er so geringschätzig beurteilte. Sobald sie einen Wagen für die Reise am nächsten Tag gemietet hatte, würde sie genügend Zeit haben. Und das Risiko, in irgendeiner Kunstgalerie auf ihren Bruder zu stoßen, war unwahrscheinlich. Der Raum roch nach Kartoffeln. Er war als Mausoleum erbaut worden, aus der Hügelflanke unter dem Hradschin gehauen, aber man hatte dort Kartoffeln gelagert. Trotz der dröhnenden Rockmusik und der Fülle von Gemälden und Skulpturen war der säuerliche Geruch nach Kartoffeln der bleibende Eindruck, den Ellie mitnahm. Mit Lederjacken bekleidete Männer mit Pferdeschwänzen versuchten ihre Jugend nachzuholen, um die man sie in den siebziger Jahren betrogen hatte. Ihre Clubs waren von Behörden geschlossen worden, die sie als Lasterhöhlen der Unmoral und des Rauschgifts bezeichneten. Seit jene Behörden vom eisernen Besen der Geschichte weggefegt worden waren, blühten die Clubs wieder. Ellie erwartete, Gesichter zu erkennen, Leute ihrer Generation, deren Leben auf den Regalbrettern der Zeit gewartet hatten. Sie war erleichtert, keine von ihnen vorzufinden, sie hätte nicht gewußt, wie sie einen Dialog hätte beginnen sollen. Offen für Einflüsse und Visionen der ganzen Welt, zögerte sie doch, sich über den Standard dessen zu beklagen, was sich in den nach Kartoffeln riechenden Tunneln zusammendrängte. Eine Pflanze braucht Wasser, ein Künstler nährt sich von Ideen. Wenn man ihnen das vorenthält, kann weder die Pflanze noch der Künstler -255-
etwas Eigenes produzieren. Sie stand vor einer mit Flecken übersäten Leinwand, fahle Spritzer auf üppigem Hintergrund. »Was halten Sie davon?« Er war klein, seine Brillengläser hatten goldfarbene Ränder, und er hatte sein Haar hinten zusammengebunden. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß er nicht etwa versuchen würde, ihr das Ding zu verkaufen. Er machte eine weitausholende Geste. »Das ist Regen, verstehen Sie? Vielleicht auch gebrochenes Sonnenlicht. Die Farben waren anders. Wenn Sie die ganze Sequenz sehen würden, würden Sie auch erkennen, worauf er hinauswollte.« In ihr brummelte ein New Yorker: »Die wollen immer wissen, was das gottverdammte Ding ist. Warum können sie es nicht einfach erleben? Man sagt ihnen, daß es elementar ist, aber so weit kommen sie nicht, sie haben kein kleines Klebeetikett bei sich, das sie draufklatschen können. Ohne Titel darf man ihnen nichts geben, niemals. Damit kommen die einfach nicht zurecht.« Ellie legte den Kopf zur Seite und musterte das fleckige Bild eindringlich. »Schade, daß die Sequenz zerrissen ist«, meinte sie schließlich und trat einen entmutigenden Schritt beiseite. Sie ging weiter, sorgfältig darauf bedacht, sich nicht in weitere Diskussionen einzulassen. Als sie aber zu Gulag kam, eine Collage aus Heftklammern und Gummibändern, brauchte sie ihre ganze Geistesgegenwart, um nicht in Gelächter auszubrechen. Nicht über den Künstler, der mit seinem Werk eine legitime Referenz zu einem berühmten Kunstwerk herstellte, sondern über die ganze absurde Vorstellung der Kunst. Es gibt keine Kunst, bis jemand daraufzeigt, hatte sie -256-
einmal provozierend mit einem Maler argumentiert, einem von Sams Vorgängern. Sam hatte sich den Satz zu eigen gemacht und Interviewpartner damit verwirrt. Es hatte einige Vorgänger gegeben, Männer, bei denen sie glaubte, daß es ihre Bestimmung war, ihre Vision zu teilen. Oder, wenn nicht genau das, dann Männer, mit deren Vision sie sich gern in der Öffentlichkeit identifizieren ließ. In der Praxis hatte es bedeutet, nicht mit ihren Meinungen in Wettbewerb zu treten, sondern hinter der Bühne zu warten, während die Kritiker an ihnen zerrten und fetzten, und dann die Wunden zu verbinden, wenn die Kritiken veröffentlicht wurden. Für eine unabhängige, intelligente Frau, die in dieser Welt der Männer ihren Weg gegangen war, war das eine recht fragwürdige Position. Ellie stellte sie selbst in Frage, behielt sie aber bei. Sam, sagte sie sich, sollte der letzte in der Reihe sein. Sie war Achtunddreißig - na schön, sie war beinahe Vierzig -, und von Bett zu Bett zu hüpfen war nicht mehr modern, ganz zu schweigen davon, daß es ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko in sich barg. Sie kannte sich gut genug, um zu erwarten, daß der nächste Mann genauso wie Sam sein würde, so wie Sam den anderen glich. Und das war auch ganz natürlich, weil ihre Bedürfnisse unverändert waren. Sofern sie nicht einen fundamentalen Wandel durchmachte, mußte ihr nächster Mann mehr oder weniger genauso sein. Also bei Sam bleiben? Seßhaft werden, wie man so sagte. Lächerlich, es so auszudrücken; wann war Sam je seßhaft gewesen? Er war launenhafter als seine Vorgänger, abhängiger. Sie war der Anker in seinem Leben, so, wie das seine drei Ehefrauen vor ihr gewesen waren. »Nein«, hatte Ellie klargestellt. »Ehe kommt nicht in Frage. Dazu taugst du nicht.« -257-
Er akzeptierte ihre Bedingungen. Das war in den Tagen, wo er gern dazu bereit und sie selbst überzeugt war, ihr eigenes Leben zu führen. Ein weitverbreitetes Mißverständnis, die Leute glaubten, daß sie das taten, und waren zutiefst erschüttert, wenn die Wahrheit über sie hereinbrach. »Ich werde bei dir bleiben«, versprach sie an dem Tag, an dem er glaubte, daß sie das nicht tun würde. »Natürlich liebe ich dich«, versicherte sie an dem Tag, an dem er sie fragte. Aber, natürlich, das natürlich schwächte es ab. Was war in der Liebe schon vorhersehbar? Sie hatte an einem Flußufer gesessen, eines Tages, als sie noch sehr jung war, und hatte über die Liebe nachgedacht: Woher kam sie, und wohin ging sie? Wie das Wasser, auf das sie hinunterblickte, war sie fließend. Sie war keine Konstante, und manchmal war ihr Herz von ihr erfüllt, und manchmal entglitt sie ihr einfach. Wenn ihre Liebe für Sam zu Ende ging, sollte sie bleiben. Sie war zu erfahren, zu alt, um weiterzuflattern. Flattern war etwas für die Jungen, für blinde Optimisten. Die Zeit war gekommen, die Dinge aus einer etwas anderen Perspektive zu betrachten. Nicht Sam in Hausschuhen, aber einfach hinzunehmen, daß er ihr Typ war. Warum also mehr verlangen? Und so war Sam damit beschäftigt, ein berühmter Künstler zu sein, und Ellie damit beschäftigt, mit Sam zusammenzusein und ihre Bücher zu schreiben, die die überkommenen Vorstellungen von Kunst in Zweifel zogen. Und hier, in einer Katakombe, die nach ins Kraut geschossenen Kartoffeln stank, hatte ein frustrierter tschechischer Künstler eine Collage aufgehängt, die Sams Exil zitierte. Die Welt war schon wirklich äußerst seltsam. Und dann spürte sie plötzlich, wie ihr Gesicht in Stücke -258-
ging. Tränen überfluteten sie. Verlegen eilte sie weiter, voll Angst, man könne glauben, etwas, das eigentlich Heiterkeit auslösen sollte, hätte sie zu Tränen gerührt. Aber sie kam an eine Wand und mußte umkehren. Sie drückte sich ein Taschentuch ans Gesicht und tat so, als wäre sie stark erkältet. Rose Darrow kehrte nicht in die Wohnung in Malá Strana zurück. Ellie versuchte mehrere Male sie anzurufen, ehe sie sich im Hotel ins Bett legte. Auch am Morgen probierte sie es noch einmal. Es war ihr unangenehm, Prag ohne ein Wort zu verlassen, und deshalb beschloß sie, in der Wohnung eine Nachricht zu hinterlegen. Ein Mann, der gerade das Gebäude verließ, hielt ihr das eiserne Tor auf, und Roses Tür öffnete sich auf eine leichte Berührung, weil das Schloß zerbrochen war. In dem braungefliesten Eingangsflur rief Ellie ihren Namen. Keine Antwort. Die Zimmer sahen so aus, wie sie sie verlassen hatte, nur daß ihre erste Nachricht verschwunden war. Sie hinterließ eine neue Nachricht und kehrte ins Hotel zurück, um dort auf den Mann zu warten, der ihr junger Kunstliebhaber gewesen war. Ihr Liebhaber war er im physischen Sinne nie gewesen; jung war er nicht mehr; und die Kunst hatte er aufgegeben. Und ihr gehörte er auch nicht. Die Handtasche auf dem Stuhl, die Bluse auf dem Kleiderbügel hielten ihre Gedanken in Schach. Heute, auf der langen Fahrt durch die Wälder, hatte sie vor, ihm seine Vergangenheit und seine Gegenwart zu entlocken. Am Ende der Fahrt würde er ein vager Abklatsch der Person sein, an die sie sich in jenem Sommer in ihrer Teenagerzeit erinnerte. »Du verstehst dich ungewöhnlich gut darauf, Dinge zu -259-
verdrängen«, hatte sie Sam einmal vorgeworfen. Oder war es irgendeiner seiner Vorgänger gewesen? Aber sie verstand sich auch ausgezeichnet darauf, Neugierde zu unterdrücken oder Wissen, wenn es schmerzhaft war. Das hatte sie in jungen Jahren gelernt, hatte es gut gelernt, konnte es jetzt gut gebrauchen. Aber heute würde sie an dem Vorhang zupfen, der die Vergangenheit verbarg. »Dies ist eine Suche nach Identität«, erläuterte sie vergnügt, als sie aus der Stadt hinausfuhren und das Land sich vor ihnen ausbreitete. Kondensstreifen von Flugzeugen überzogen den Himmel, und Tauben flatterten träge auf orangeblättrige Platanen zu. »Deine Frans-Hals-Frau?« »Später. Zuerst deine Identität. Alles. Erzähl mir alles!« Sie saß am Steuer. Er drehte sich auf dem Sitz halb herum, um sie anzusehen. Von der Seite erkannte sie das Lächeln wieder: amüsiert, weil sie etwas Ungeschicktes oder Unreifes gesagt hatte. Ellie lachte, es klang ganz leicht spöttisch, und ihr blondes Haar schimmerte in der Sonne. »Wirklich, das ist mein Ernst. Du bist mein erstes Geheimnis. Ich kann die nächste Runde nicht anfangen, solange ich nicht das Rätsel gelöst habe, das du bist.« »Ich bin überhaupt nicht rätselhaft.« »Wie lange fahren wir bis zum Schloß?« »Stunden. Viele, viele Stunden, wenn du so im Schneckentempo weiterfährst.« Sie trat fester aufs Gas. »Du hast eine lange Geschichte zu erzählen. Zwanzig Jahre. Du solltest besser anfangen. Ich habe keine Lust, vor dem Schloßtor zu parken und zu -260-
warten, bis du fertig bist.« Er sträubte sich, aber sie ließ sich nicht abbringen. Dann fing er an, ihr die Dinge zu erzählen, von denen er glaubte, daß sie sie hören wollte. Daß das Verstellung war, wurde Ellie erst später bewußt. Sie erwachte mit dem Gewicht seines Kopfes auf ihrem Arm, und ihr Kissen war auf den Boden gerutscht. Ihr erster Gedanke war, daß es ein verdammt langer Weg gewesen war, bloß, um mit ihm ins Bett zu gehen. Und der zweite war, daß er sie angelogen hatte.
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VIERZEHN »Deine Freundin ist also auf der Suche nach Krieger?« fragte er nach. »Sie hat ihn gefunden«, antwortete Ellie. »Gefunden und wieder verloren, und ich habe ihn wiedergefunden.« »Hast du ihn zurückgegeben… wie eine Fundsache?« »Ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen, aber jemand hat sie von dem Tisch in der Wohnung, die sie gemietet hatte, entfernt. Sagtest du, hier abbiegen?« »Ja. Und dann bleiben wir ein paar Kilometer auf dieser Straße.« Die Straßen wurden schmaler und holperiger. Die Route, die sie eingeschlagen hatte, verbarg sie im Herzen des Landes. Sie begegneten nur wenigen Fahrzeugen, die Wälder waren leer und im Sterben begriffen. Obwohl die Landkarte anzeigte, daß es in Reichweite Ortschaften und Industrieansiedlungen gab, fiel es schwer, ihr Glauben zu schenken. Ellie fühlte sich wie in einer anderen Welt. Sie schwebte in einer gleichsam zeitlosen Dimension. Ihr eigenes normales Leben lag bereits hinter ihr, und jetzt fing sie an, die Jahrhunderte zu vergessen. Das war belebend, aber auch ein wenig beunruhigend. Finster und tief schlossen sich die Wälder hinter ihr, hielten sie fest in einer wärmenden und zugleich auch erdrückenden Präsenz. Sie hatte vor Gemälden gestanden, auf denen riesige Wälder abgebildet waren, alte Wälder, die heidnische Geheimnisse bargen, und hatte die winzigen Menschengestalten wahrgenommen, die der Künstler unbesorgt zwischen den Bäumen hatte wandern lassen. Sie waren zu klein, um den Maßstab der Dinge -262-
richtig schätzen zu können, die sich vor ihnen erstreckten. Ellie hatte sich damals gewünscht, mit ihnen hineintreten zu können, sich umschließen und schützen zu lassen. Aber sie war auch froh, als der Zauber brach und die so eindringlich gemalten Wälder sie freigaben, so daß sie ihren Blick anderen Visionen in anderen vergoldeten Rahmen zuwenden konnte. »Angeblich steht er mit irgendwelchen Rauschgifthändlern in Verbindung«, sagte er unvermittelt. »Oh?« Sie brauchte einen verwirrten Augenblick lang, um zu begreifen, daß er immer noch an Krieger dachte. »Das ist ein Gerücht. Es heißt, die Behörden wollen ihn wegen Drogen verhören, die aus Bulgarien hereinkommen.« Ellie wiegte skeptisch den Kopf. »Wenn Rose Darrow und ich sogar imstande waren, ihn zu finden, scheint sich die Polizei wohl keine große Mühe zu geben.« »Ich sagte ja, es ist nur ein Gerücht.« Er kurbelte sein Fenster ein paar Fingerbreit herunter. Eisige Kälte wehte durch den Wagen. »Ich glaube, er ist einer von den Menschen, an denen Gerüchte hängenbleiben. Kein Mensch hat die Zeit, all das zu tun, was man ihm nachsagt.« Als er ihr am Tag zuvor seine eigene Geschichte erzählt hatte, hatte er ein Leben beschrieben, das gelebt wurde, ohne die Seiten zu berühren. Keine Einzelheiten, keine unwiderstehlichen Abweichungen vom Wege, keine Persönlichkeiten, die es lebendig machten. Kein Anlaß, der Geschichte zu vertrauen. Er fuhrwerkte immer noch an dem Fenster herum. Die Kurbel funktionierte nicht richtig, das Glas rutschte und verkeilte sich schließlich. Jetzt konnte er es nicht mehr schließen. -263-
Er seufzte. »Ich hoffe, deine Freundin Rose kann Krieger überreden, seine Geschichte zu erzählen, die würde sich sicherlich faszinierend lesen.« »Immer vorausgesetzt, daß er die Wahrheit sagt.« Er schwieg dazu. Nach ein paar Minuten hatte er es geschafft, das Fenster wieder zu schließen. Sie hatten Prag ziemlich spät am vorangegangenen Tag verlassen. Dann waren sie aufgehalten worden und zu allem Pech in eine Umleitung geraten. Schließlich hatten sie sich, ohne viel darüber zu reden, entschlossen, ein Hotel zu nehmen. Daß sie das Bett mit ihm teilte, war irgendwie selbstverständlich und unvermeidbar gewesen. Es war nicht ihre Gewohnheit, mit Fremden zu schlafen, aber sie hatte ihn für das, was er einmal für sie gewesen war, gewollt. Ein etwas angeheiterter Mann und seine ständig kichernde Frau hatten ebenfalls dort übernachtet; die Stimme des Mannes war im Speisesaal und dann auch auf der Treppe zu laut. Ellie hatte sie den Flur heraufkommen gehört, wie sie im Dunkeln stand, inmitten ihrer hastig abgestreiften Kleidung, die Arme um den Hals ihres Liebhabers gelegt, die Wange an dem dunklen, gekräuselten Haar auf seiner Brust. Der angeheiterte Mann war inzwischen fröhlich angetrunken gewesen, und seine Frau hatte pausenlos mit der Zunge geschnalzt. »O Gott!« hatte Ellie gefleht. »Nicht nebenan, bitte, nicht nebenan.« Aber ihr Flehen war ungehört geblieben, und dann hatten sie das Paar durch die Wand lachen gehört, das dumpfe Dröhnen seiner Stimme und ihre schrille Antwort darauf. Ellie versuchte nicht hinzuhören und streichelte den Hals ihres Liebhabers, preßte ihren Mund auf den seinen, führte ihn durch die sanfte Routine der Liebe. Er war ungeduldig, -264-
fegte die orangefarbene Bettdecke beiseite und drückte sie auf die harte Matratze. Sie wollte ihn genießen, wollte erleben, was sie sich ausgemalt hatte, wollte diesmal die Augen offenhalten und sein Gesicht sehen, während sein Körper ihr höchste Freude bereitete. Aber er brauchte sie schnell und ließ sie nicht spielen. Im Zimmer brannte keine Lampe. Die grelle Glühbirne an der Decke unter dem Lampenschirm aus Plastik hatten sie nicht eingeschaltet, und die Vorhänge ließen sie offen. Es war eine sternklare Nacht ohne Mond, und sein Gesicht war wie ein dunkler Himmelskörper über ihr. Durch die Wand waren die Geräusche von anderen Bettfedern zu hören. Der Mann stöhnte: »Oh, oh, oh!« Und seine schrille Frau ließ es ein paar Oktaven höher widerhallen: »Oh, oh, oh!« Sie weckten Ellie mit einem Dakapo ganz früh am nächsten Morgen. Daß ihr Liebhaber log - genauer gesagt, Geheimnisse vor ihr hatte -, mußte nicht viel besagen, sie konnte beinahe darüber hinwegsehen. Sie fühlte sich teilweise von der Wahrheit ausgesperrt. Wenn er ihren Fragen auswich oder sie mit unzureichenden Antworten abspeiste, ließ sie ihn gewähren. Wenn seine Erzählungen Lücken hatten, dann sollte ihr das recht sein. Sie hatte kein Recht, ihn zu bedrängen, zu verhören. Wenn er sagte, das Leben sei so und so gewesen, dann war sie nicht befugt, das volle Wissen zu fordern, weil sie nicht geblieben war, um die Erfahrungen mit ihm und ihren Landsleuten zu teilen. Die körperliche Intimität brachte sie einander nicht näher. Der Abgrund war unüberbrückbar. Als das Licht der Morgendämmerung sein Gesicht überschattete, wachte sie auf und zog ihren Arm, der sich wie ein Nadelkissen anfühlte, unter dem Gewicht seines schlafenden Kopfes hervor. Er rollte sich zur Seite. Trauer überkam sie, als ihr klarwurde, daß er ihr auswich. Der junge Mann, der sie -265-
gelehrt hatte, was Schönheit und was Wahrheit ist, hatte sich zu einem Mensch entwickelt, der eine andere Sprache benützte. Als sie später erwachte, war er verschwunden. Sie traf ihn unten, wo er ein Telefongespräch führte, über das keiner von beiden etwas sagte. »Wir könnten bis Mittag dort sein«, sagte er. Aber er kaufte eine Flasche Wein, und als es Mittag war, ließen sie den Wagen am Straßenrand stehen und wanderten zwischen den Bäumen. In der Ferne war das Jammern einer Motorsäge zu hören. Vögel zwitscherten im Unterholz. Er zog sie weiter, und sie erkannte, daß sie einen unmarkierten Weg benutzten. Als der Weg etwas breiter wurde, griff er nach ihrer Hand und zog sie neben sich. »Ich will dir etwas zeigen, Ellie.« Aber er wollte nicht sagen, was das war, und als sie Vermutungen anstellte, lachte er nur. Dann war da plötzlich blauer Himmel anstelle der Bäume. Sie hatten den Rand des Hügels erreicht. Etwas weiter oben im Tal, wie aus einem Nest aus herbstlichem Gold aufsteigend, stand ein Schloß. Sie staunte. »Oh, ist das schön. Ist es das? Wo wir hingehen?« Ihr kindliches Entzücken amüsierte ihn. »Willst du das?« »Ja. O ja. Bitte. Es ist vollkommen.« »Aus der Ferne. Einen besseren Ausblick daraufgibt es nicht, und einen schmeichelnderen ganz bestimmt auch nicht.« Sie drückte seinen Arm. »Verdirb es mir nicht. Ich will das ganz genauso genießen, wie es ist.« »Oder zu sein scheint.« -266-
»Psst! So etwas will ich nicht hören. Oh, wenn ich das gewußt hätte, hätte ich die Kamera aus dem Wagen mitgenommen.« »Sieht es aus wie ein Ort, wo sich eine geheimnisvolle Frans-Hals-Frau verstecken könnte?« Ellie stöhnte. »Die Spannung bringt mich um.« Aber die Spannung hatte sie dennoch nicht dazu veranlaßt, ihrem Ziel hastig zuzustreben. Statt dessen hatte sie sich Sehenswürdigkeiten angesehen, mit ihrem Liebhaber geschlafen, Zeit und Emotionen vergeudet und jede Ablenkung wahrgenommen, die sich bot. Zum Schloß zu kommen, hieß, die Wirklichkeit zu erfahren, und nach jeder Berechnung würde das mit viel größerer Wahrscheinlichkeit Enttäuschung als Befriedigung bringen. Er entkorkte die Flasche Melnik, während sie durch das Tal auf das steinerne Märchen blickte. Er reichte ihr die Flasche. »Jemand hätte an Gläser denken sollen.« Seine Worte rissen sie aus der Vergangenheit heraus in die Gegenwart. Plötzlich war es wieder nur ein Picknick, ein Schluck Wein im Freien, ein Flußufer, eine Flasche, die zwischen dem Schilf kühlte, eine neugierige Ente und, wenn der Wein dann die richtige Temperatur hatte, keine Gläser. Ellie tat das, was sie auch damals getan hatte. Sie nahm die Flasche und führte sie an die Lippen. Der Wein war kühl, etwas davon lief ihr über das Kinn, und sie wischte es mit dem Handrücken weg, während sie ihm die Flasche reichte. Mit einem schiefen Lächeln sagte sie: »Wir machen keine großen Fortschritte, nicht wahr?« »Es ist ein etwas besserer Wein.« -267-
Sie trank nur ein oder zwei Schluck. Worauf es ankam, war nicht das Trinken, es war das Spiel, in dem sie wieder jung und sorglos sein wollten. Sie trugen den Rest zum Wagen zurück, und dann fuhr sie weiter auf das Schloß zu. Das Sägewerk kam und ging. Ein Bauernfuhrwerk, das eine gebeugte, in Wintersachen gehüllte alte Frau lenkte, hielt sie auf, weil es mitten auf der Straße dahinpolterte, bis es schließlich in einen Waldweg einbog. Sie fuhren weiter. Er begann ihr über das Schloß zu erzählen, nichts Vielversprechendes. »Du wirst dir ohne Zweifel eine Menge langweiliges Zeug über seine Familie anhören müssen. Tu ihm den Gefallen, Ellie.« Er hatte recht, daß die Distanz das Schloß verzauberte. Aus der Nähe waren die rötlichbraunen Bäume fast abgestorben, und die Baufälligkeit des Schlosses schmerzte. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß der Besitzer wenigstens irgendwie das festgehalten hatte, was ihm gehörte. Der alte Mann war raubvogelhaft distanziert, eine Kombination aus Argwohn und Taubheit. Er erzählte ihr von seiner Familie, der Stehlik-Familie, in die Abetz eingeheiratet hatte. Eine endlose Stunde lang hörte sie zu und versuchte sich in sein Vertrauen einzuschleichen. Aber es hatte keinen Sinn, ihn direkt zu fragen, ob er irgendwelche Gemälde besaß, die möglicherweise von Frans Hals sein könnten. Sie mußte auf Umwegen darauf zugehen, Andeutungen murmeln, daß sie sich gern die Sammlung ansehen würde. Sie wollte Unterstützung von dem Mann, der sie hergebracht hatte, aber die gab er ihr nicht. Er hielt sich zurück und überließ es Ellie, sich allein mit dem alten Stehlik abzumühen. Schließlich zog sie ihn in ihrer -268-
Verzweiflung in das Gespräch, indem sie eine unüberhörbare Andeutung machte, daß er im Schloß ja auch etwas zu klären hätte. Die Andeutung war ein Fehler. Stehlik wurde gereizt, beide schienen über sie verärgert. Dann stampfte der Hausherr aus dem Zimmer. Ellie sah ihren Begleiter gequält an. »Das ist ja schrecklich.« »Ich habe dich gewarnt. Du mußt ihm die Führung überlassen.« »Das habe ich doch, eine Stunde lang. Warum kannst du nicht deine Angelegenheit mit ihm besprechen, und dann kommen wir zu der meinen?« »Wenn du dir deinen Ärger anmerken läßt, wird man uns beide rauswerfen.« Aber sie konnte sich nicht länger zügeln. »Ich dachte, du hättest diesen Besuch arrangiert, aber er war erstaunt, uns zu sehen. Und er will uns nicht hierhaben.« »Du mußt ihm um den Bart gehen, Ellie.« »Aber…« »Er kommt zurück.« Der halbe Nachmittag verstrich mit langweiliger Konversation. Der alte Mann beschränkte sich darauf, Tatsachen und Phantasien über die Stehliks zu rezitieren, und parierte jeglichen Versuch, die verbliebenen Gemälde zu sehen. Mit der Zeit faszinierte es Ellie, wie man stundenlang reden konnte, ohne irgendeinen Inhalt zu vermitteln. Sie fragte sich, wie lange er das durchhalten würde. Er verhielt sich wie ein Mann, der darin geübt war, immer weiterzureden, ohne etwas zu sagen. Und er war nicht gerade ein Mann, den sie mochte. Die hagere, aufrechte Gestalt, seine unglückliche Art, die nur teilweise seiner Reserviertheit zuzuschreiben war, die -269-
Verärgerung, die immer hinter der oberflächlichen Höflichkeit zum Vorschein kam, wenn sie versuchte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben… Da war nichts an ihm, was man mögen konnte. Verrückte Ideen kreisten in ihrem Kopf herum. Ob es ihr gelingen würde, ihn auszutricksen und einfach durch das Schloß zu rennen und die Gemälde auszuspionieren, ehe ihm klarwurde, daß sie den Raum unter einem Vorwand verlassen hatte? Könnte sie bitten, daß man ihr Porträts der langweiligen Stehlik-Familie zeigte, in der Hoffnung, daß sie auf dem Wege dorthin an jenen anderen Gemälden vorbeikam, denen ihr eigentliches Interesse galt? Was er erzählte, war ein Durcheinander aus Habsburger Fürsten, Schlachten, Reichtümern und Vetternwirtschaft. Dinge, die schon lange nichts mehr zu bedeuten hatten. Ellies Verzweiflung durchlief Ebbe und Flut. Aber immerhin gelang es ihr, den chronologischen Faden aufzunehmen, und der gab ihr Hoffnung - bis zum nächsten Mal, wo der Faden wieder abgeschnitten wurde und eine Generation zurückfiel und auf irgendeinem anderen Umweg entglitt. Was hatte es für sie schon zu bedeuten, welcher von den Stehliks ein Dorf gebaut oder ein Sägewerk errichtet hatte oder in schimmernder Wehr den Heldentod gestorben war? Die Gemälde, verdammt! Das einzige, was sie interessierte, waren die Gemälde. Dann hörte seine verknöcherte Hand auf, auf der hölzernen Armlehne seines Sessels den Takt zu schlagen, und seine Singsangstimme verstummte. Offenbar war jetzt sie mit Reden dran, aber sie brachte kein Wort heraus. Neben sich hörte sie eine Stimme: »Meine Bekannte wäre sehr dankbar, wenn sie Ihre Gemälde betrachten dürfte.« Der alte Raubvogel senkte den Kopf, es sah aus wie eine Verbeugung. »Ich wünschte, es gäbe schönere Dinge in meinem Haus, die ich Ihnen zeigen könnte.« -270-
Da ihr vom langen Sitzen ein Bein eingeschlafen war, konnte Ellie nicht gleich aufstehen. Aber sie schaffte es, ihre Dankbarkeit zu zeigen, und ging dann verwirrt auf die Tür zu der großen Halle zu. Der alte Mann folgte ihnen nicht. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen und wartete darauf, daß sie schließlich zurückkehren würden. Als sie außer Sichtweite waren, legte Ellie den Kopf in den Nacken und verdrehte die Augen zum Himmel. »Du lieber Gott, was sollte das alles?« »Ich habe dich doch gewarnt. Er hat in seinen Erinnerungen geschwelgt, Ellie. Er ist der Letzte seines Geschlechts, und er hat niemanden, an den er die ganze Familiengeschichte weitergeben kann.« »Macht er das mit jedem?« »Es kommen nur wenige Leute. Ja, das macht er mit jedem. Das ist eine Formalität, und in einem Land, das das Vergessen zu einer Kunstform entwickelt hat, ist es vielleicht sogar ein verständlicher Wesenszug.« Sie unterdrückte ein spöttisches Lachen. »Ein altersschwacher Mann hält die Flut der Regierungspropaganda auf, indem er über seine Vorfahren schwadroniert?« Das Schweigen, mit dem er auf die Bemerkung antwortete, war ein Verweis. Sie machte einen Rückzieher. »Du denkst, ich sei streng und ungerecht. Das wollte ich nicht. Ich bin nur halb taub von all diesen Anekdoten. Also schön, es ist absurd, aber ich akzeptiere es als die einzige Möglichkeit für ihn, sich aufzulehnen. Aber sag mir eines: Müssen wir uns ähnlichen Formalitäten unterziehen, ehe wir hier rauskommen?« Sie gingen durch die Halle und betrachteten die Porträts und die gewaltigen Schlachtenbilder. Es gab einen -271-
mächtigen Kamin, auf dessen Rost ein halber Wald verbrannt war. Der Ruß hatte sich auf den Bildern abgelagert. Sie betraten einen benachbarten Raum. Wieder ein Schlachtenbild, jemand, der mit jemand anderem in einer Blumenlaube irgend etwas Unbestimmtes machte, dann ein finster blickender Mann in einem Hut mit Federbusch. Sie gingen weiter. Einige Räume waren leer, in einigen standen ein paar Möbel, alle waren kalt und abweisend. Einige der Gemälde hatten unter der Feuchtigkeit gelitten, andere waren eingerissen, einige waren wahrscheinlich gut und einige unerträglich schlecht. Sie gingen weiter. Jedes Bild war ein Versuch, eine neue Ansicht zu zeigen, eine Einladung an den Betrachter, auf kurze Zeit aus seiner Welt in eine andere hineinzutreten. Da war eine Lichtung, durch die sie gern gegangen wäre, ein Baum, in dessen Blättern sie den Wind rascheln hörte, aber nur wenige waren so einladend. Ihr kam in den Sinn, was Maurice Denis in Theorien gesagt hatte, und das beendete ihre romantischen Spiele. »Bedenken Sie immer, daß ein Bild - bevor es ein Pferd, ein Akt oder eine Art Anekdote wird - im Wesen eine flache Oberfläche ist, die mit in bestimmter Ordnung angeordneten Farben bedeckt wurde.« Sie durfte sich nicht von verträumten italienischen Landschaften ablenken lassen, sie mußte zwischen den schäbigsten und dunkelsten Stücken nach den düsteren Männern und Frauen von Haarlem suchen. Gedanken zogen ihr durch den Kopf, aber sie sprach sie nicht aus. Einmal hätte sie beinahe sarkastisch bemerkt: Nicht gerade das Narodni, oder? Aber sie hielt sich zurück, denn warum sollte eigentlich der Krempel, den niemand der Plünderung für wert gehalten hatte, dem Standard einer nationalen Galerie entsprechen? Es war interessant genug, daß die Bilder überhaupt hier waren. -272-
Er sagte: »Jetzt sind wir mit dem Erdgeschoß durch. Hier geht es nach oben.« Eine helle Stelle im Treppenhaus zeigte, wo ein Bild entfernt worden war. Ellie fragte danach. »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Er hat mir erzählt, daß ein Seil gerissen und das Bild heruntergefallen wäre.« Und dann fügte er spitzbübisch hinzu: »Er sagte, das sei irgendwann in den zwanziger Jahren gewesen, als …« Sie hielt sich die Ohren zu und ließ erkennen, daß sie nicht bereit war, sich weitere Anekdoten aus der reichen Geschichte der Stehliks anzuhören. Im Obergeschoß stießen sie hier und da auf wesentlich bessere Gemälde. Er zeigte ihr Werke von Jan Kupecky, einem böhmischen Maler aus der Barockzeit. »Das wäre einen Platz in einer der öffentlichen Sammlungen wert. Das gleiche gilt für den Canaletto und den Dürer, zu denen wir später kommen.« Aber da war nichts, was auch nur entfernt an ein Frauenporträt von Frans Hals erinnerte. Ellie strich mit dem Finger über einen Rahmen und zog eine Furche in jahrzehntealten Staub. »Ich frage mich, wie lange es her ist, seit jemand diese Bilder angesehen hat, ehe du kamst.« Er sagte, der Besitzer hätte ihm gegenüber erwähnt, daß er sie vor dem Krieg jemandem gezeigt habe und daß seitdem niemand mehr interessiert gewesen sei. Sie wischte sich den Staub von der Hand und äffte die Redeweise des alten Mannes nach: »1989, im Jahre der Revolution, wurde der Frieden unseres stillen kleinen Schlosses wieder gestört, diesmal durch das Eindringen eines Individuums aus Prag, das zu uns kam, um die Stehlik-Sammlung zu schätzen.« »Nein, keine Hinweise auf Revolutionen, Ellie. Ich glaube, die Nachricht ist noch nicht zu ihm -273-
durchgedrungen. Und wenn es soweit ist, wird er nichts damit anzufangen wissen.« Sie gingen eine weitere Treppe nach oben in ein Stockwerk, wo die Räume niedriger und noch verwahrloster waren. Das Wasser war durch die Decke gedrungen und hatte die Dielen verfaulen lassen. Der Wind hatte sich durch zersprungene Fensterscheiben Zugang verschafft. Die Farbe an den Scheuerleisten und Türrahmen bestand nur noch aus ein paar aufgesprungenen Flächen. Es tat weh. »Das könnte alles so schön sein«, murmelte sie. »Stell dir vor, wenn man das Haus reparieren und die Außenanlagen etwas herrichten würde, könnte das ein Schmuckstück sein. Statt dessen zerfällt es mehr und mehr.« Er gab zu bedenken, daß es andere Prioritäten gäbe, als Landhäuser zu restaurieren, die niemandem mehr nützen. Vor ihrem inneren Auge zogen die Landhäuser Englands vorbei, nicht die großen Schlösser und Villen, sondern die bescheidenen Kleinodien, die überall, wohin man reiste, die Gegend zierten. Sie sagte nichts, weil es einer gewissen Ähnlichkeit bedurfte, um Vergleiche anzustellen. Und im übrigen, wie viele gute Häuser hatte England schon verloren? Und wie viele würde es noch verlieren? Sie öffneten die Tür zum nächsten Raum. Im Gegensatz zu dem vorangegangenen war er nicht völlig leer: Ein Küchenstuhl mit zerbrochener Lehne stand an einem Fenster, auf der Sitzfläche lagen ein paar hölzerne Wäscheklammern. »Der Himmel weiß, was man mit den Gemälden anfangen könnte«, sagte sie und lachte laut. »Aber ich kenne eine Kunstgalerie in New York, die stolz wäre, das -274-
alles hier anzubieten. Natürlich nicht als Stuhl und Wäscheklammern, versteh mich richtig. Es müßte ein ausgefallenerer Titel sein.« »Rückkehr aus dem Exil?« schlug er mit einem Seitenhieb auf Sam vor. »Hm. Nicht übel.« Sie deutete auf die ›Skulptur‹. »Es hat Pathos, und es sind die Dinge, die man finden würde, wenn man in die armselige Bauernkate zurückkehrt, die man für ein Leben in der Neuen Welt hinter sich gelassen hat.« Er zog Ellie die Kamera aus der Tasche und begann ein paar Aufnahmen zu machen. »Wir könnten ja in der Einleitung zum Katalog etwas über den Symbolismus schreiben.« Sie hatte eine andere Idee. »Ich sehe es eigentlich als ein feministisches Stück. Ich könnte ziemlich gewichtige Argumente darauf aufbauen.« Er ließ die Kamera sinken und flehte sie an: »Aber nicht jetzt, Ellie!« Sie tat so, als wäre sie beleidigt. »Na schön«, schmollte sie, streckte die Hand nach der Kamera aus und dachte, daß sie knapp an Filmen war und keine Aufnahme mit Unsinnigkeiten vergeuden sollte. Aber als sie sie in der Hand hielt, richtete sie die Kamera auf ihn im Gegenlicht, mit der zerbröckelnden feuchten Mauer und dem rechteckigen Fensterrahmen dahinter. Er ließ sie zwei Aufnahmen machen und ging dann weg. »Eigentlich sollte ich traurig sein«, sagte sie und folgte ihm ins Nebenzimmer. »Meine Suche scheitert in einem feuchten Dachboden, aber ich bin seltsam vergnügt. Warum meinst du, daß das so ist? Hysterie?« Als sie den Raum auf der anderen Seite des Flurs betrat, fuhr sie zusammen und hauchte nur: »Oh!« -275-
Da waren Bilder. Sie hingen an der Wand, lehnten daran, lagen auf dem Boden. Überall, wo Platz war, waren Bilder. »Die«, erklärte er, »sollten weggeschafft werden, als ein Familienmitglied seinen Anteil beanspruchte. Aber dazu kam es nie. Und wie du siehst, hat sich niemand die Mühe gemacht, sie wieder aufzuhängen. Wenn der alte Knabe unten den Veronese oder den Rubens verkaufen würde, könnte er das Haus für dich restaurieren lassen.« »Sag mir, wenn er der Letzte seines Geschlechts ist, was wird dann aus alldem hier nach seinem Tod?« »Vielleicht kommt es zu einer Streiterei unter selbsternannten Erben. Und dann bin ich ganz sicher, daß ein paar Amtsträger sich wie Geier auf die Überreste stürzen werden.« Auf dieser Seite des Hauses war weniger Licht, also beeilten sie sich, die nächsten zwei Räume anzusehen, wo ein paar Bilder verstreut waren. Dann erreichten sie einen düsteren Korridor, der an einer versperrten Tür endete. Ellie hatte das Gefühl, daß sie immer wieder in Sackgassen stolperte: vor dem Rokokotheater, als sie ihrem Bruder ausweichen wollte, in dem nach Kartoffeln riechenden Mausoleum, das eine Kunstgalerie war - und jetzt hier. »Bist du durch die Tür gegangen, als du das letzte Mal hier warst?« wollte sie wissen. »Ja, der Raum war völlig leer, wenn man vom Vogelkot absieht und dem von der Decke gefallenen Verputz.« »Wo hattest du den Schlüssel her?« »Die Tür war nicht versperrt.« Als würde sie ihm nicht glauben, versuchte sie selbst die Türklinke. »Ich würde da wirklich gern reingehen. Wenn -276-
ich mit leeren Händen hier weggehen muß, dann möchte ich wenigstens das Gefühl haben, alles gesehen zu haben.« Er sagte, er würde um einen Schlüssel bitten. »Geh nicht weg, Ellie, ich komme wieder hierher zurück.« Als sie allein war, schlenderte sie ein Stück des Weges zurück, den sie gekommen waren, und träumte von dem Leben, das die Stehlik-Familie hier geführt hatte. Dann schoben sich alle möglichen Gedanken dazwischen. Ein paar Minuten lang hörte sie, wie sich seine Schritte auf der nicht mit Teppich belegten Treppe entfernten. Dann herrschte Stille. Plötzlich überfiel sie der Gedanke, daß er sie verlassen hatte, daß diesmal er derjenige war, der gehen würde, und sie an einen Ort verbannt war, dem sie nicht mehr entkommen konnte. Eine Vielzahl von Bildern beunruhigte sie. Sie ging über die Brücke, an den Heiligen und Königen vorbei, um sich mit ihm zu treffen. Und er blickte ins Wasser hinunter, bis sie ganz nahe war und er den Kopf hob und ihr zulächelte. Oder sie gingen zusammen durch Kunstgalerien, und er erklärte ihr Dinge, die sie nicht wissen konnte, und schließlich die Szene, die sie sich so oft ausgemalt hatte: Er wartete auf der Brücke auf sie, aber sie kam nie. Die Kälte und das Schuldgefühl ließen Ellie frösteln. Sie rieb sich die Hände, aber das erzeugte ein lautes, raschelndes Geräusch, und so steckte sie sie lieber in die Tasche und ging zu der versperrten Tür zurück. Irgendwo bog sie in einen falschen Korridor. Dieser hier war dunkler und hatte keine Tür am Ende, obwohl sie zu ihrer Linken eine sah. Dieser führte zu einer einfachen Holztreppe, wie sie vielleicht von Dienstboten benutzt worden war. Ein ganz schmales Fenster ließ Licht hereinfallen, genügend, um ihr den Anreiz zu bieten, die Treppe hinunterzugehen. Ellie rüttelte am Geländer. Es hielt. Sie raffte mit einer -277-
Hand ihren langen Ledermantel etwas hoch, um nicht damit die schmutzigen Treppen zu fegen, und dann ging sie langsam hinunter. Die Tür im Geschoß darunter öffnete sich in ein niedriges Zimmer mit einem Laden vor dem Fenster. Der Raum maß vielleicht zweieinhalb Meter im Quadrat. Gegenüber der Tür, durch die sie hereingekommen war, war eine zweite, die versperrt war. Zum zweiten Mal hatte eine versperrte Tür ihrem Forscherdrang ein abruptes Ende gesetzt. Sie hatte also keine andere Wahl, als wieder hinaufzugehen. Doch als sie sich jetzt umdrehte, entdeckte sie in der Dunkelheit zu ihrer Rechten etwas Verborgenes. Ein grauweißer Farbfleck. Nein, zwei Farbflecken. Einer über dem anderen, wie ein Gesicht über einem weißen Kragen.
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FÜNFZEHN Ihre Erregung machte sie ganz euphorisch. »Ich habe sie gefunden. Ich habe sie gefunden!« flüsterte sie immer wieder. Er warnte: »Du weißt das nicht sicher, Ellie. Vielleicht ist es nicht von Hals.« »Ich weiß es. Ich bin ganz sicher. O Gott, natürlich bin ich das nicht. Ich habe das Gefühl, daß es so sein muß, ich spüre das so deutlich, daß mich das überzeugt.« Sie spazierten durch den Wald, eine Meile vom Schloß entfernt. Sie war zu aufgeputscht gewesen, um weiterzufahren, brauchte Bewegung, mußte immer wieder einen Schluck aus der Flasche Melnik nehmen, um den Fund zu feiern, und alles aus sich heraussprudeln, was ihr in den Kopf schoß. Er übte Nachsicht mit ihr, versuchte sie sanft zu lenken. Sie sagte, und dies nicht zum erstenmal: »Mir ist an der Wand etwas Helles aufgefallen. Dann habe ich einen Rahmen gespürt. Was hätte ich um eine Taschenlampe gegeben! Wenn wir zurückkommen, bringe ich die größte Lampe mit, die es in ganz Prag gibt.« »Laß uns zuerst sehen, was auf deinem Film ist.« »Oh, das wird schrecklich sein, ein Schmierer, wenn ich Glück habe. Der Blitz hat nicht mehr richtig funktioniert, weil die Batterie verbraucht war. Ich hätte nie gedacht, daß es in dem Schloß keine Elektrizität gibt, nichts von alldem hätte ich geglaubt. Dieser verrückte alte Mann, der seine Familiengeschichte runterleiert und all diese schmutzigen Gemälde hortet und… Er hat doch keinen Argwohn geschöpft, oder? Er hat nicht bemerkt, daß ich -279-
sie rausholen und richtig untersuchen lassen will?« »Ellie, ich habe dich die ganze Zeit schon gewarnt, daß er schwierig ist.« Ja, das stimmte. Aber sie hatte nicht auf seine Warnungen geachtet, und damit verblaßten die Probleme. Nun, nachdem sie all das erduldet hatte, darum betrogen zu werden, einen richtigen Blick auf das Porträt zu werfen, würde… nun, sie hatte keine Worte dafür. »Komm, Ellie.« Er ging auf den Wagen zu. Widerstrebend nahm sie auf dem Fahrersitz Platz. Die Scheinwerfer flammten auf und beleuchteten die Baumstämme, die sie umgaben, die vielen Fichtennadeln und die unheimlichen Farben, die einem den Eindruck vermittelten, es wäre Nacht. »Wir haben eine lange Strecke vor uns«, sagte er. Es kam kein Vorschlag einer weiteren Nacht, die sie gemeinsam in einem Hotel verbringen könnten. Sie würden die direkte Strecke fahren, und deshalb war es unnötig, unterwegs anzuhalten. »Wann werden wir Prag erreichen?« wollte sie wissen. »Mitternacht. Vielleicht etwas später.« Sie fuhr sehr schnell. Da war nichts, was sie aufhalten konnte. Er legte den linken Arm auf ihre Sitzlehne, und seine Finger spielten mit ihrem Haar. Nach ein paar Meilen sagte sie in völlig verändertem Tonfall und mit ernster Stimme: »Der alte Mann wird wütend sein, nicht wahr?« »Er wird wütend sein, daß Leute kommen, und wird wütend sein, daß das Porträt umgehängt wird, selbst wenn es nur aus diesem schwarzen Loch heraus in einen Raum mit vernünftiger Beleuchtung gebracht wird.« »Ich bezweifle, ob er uns je verzeihen wird.« »Uns?« »Nun, du hast doch angefangen, du hast ihn sozusagen überfallen und wolltest sehen, was er versteckt hält. Wenn -280-
das nicht gewesen wäre, hätte ich ja gar nicht gewußt, daß es wert war, dorthin zu gehen.« Er zupfte an ihrem Haar. »Das ist zwar unfair, aber meinetwegen, laß uns die Schuld teilen.« »Für ihn sind wir beide Außenseiter, Eindringlinge mit verrückten, modernen Vorstellungen. Ich bin sicher, daß es für ihn zwischen uns beiden keinen großen Unterschied gibt.« »Dann muß er sich glücklich preisen, daß es in der Vergangenheit so wenig Eindringlinge gab.« Es war offenkundig, daß er damit nicht das Haus meinte, sondern das Leben. Ellie fuhr weiter, ohne Antwort zu geben. Sie erkannte die Bitterkeit in seinem Tonfall; er hatte ähnlich geklungen, bevor er sie in der kavârna hatte sitzenlassen. Obwohl tausend Fragen an ihr nagten, obwohl er ihr nicht entkommen konnte, wenn sie sie in Worte faßte, schwankte sie. Nichts von alledem ging sie etwas an. Und doch hatte sie Angst, daß es vielleicht eine Verbindung gab. Plötzlich entschied sie, daß dies nicht nur ihre beste Chance, sondern möglicherweise auch ihre letzte war. »Ich werde dich jetzt etwas fragen.« Das war nicht der tastende und neckische Tonfall wie auf der Herfahrt, als sie einfach ein Recht auf seine Lebensgeschichte beansprucht hatte. Sie begann damit: »Ich habe meine Eltern besucht.« Seine Finger, die immer noch in ihrem Haar spielten, griffen fester zu. »Aber du hast davon nichts erwähnt.« »Nein. Nun, es war kein besonderer Erfolg. Ich will auf etwas anderes hinaus. Ich habe dort erfahren, daß mein Bruder bei der Polizei ist. Ich hatte vorher keine Ahnung und… Du hast Pavel neulich erwähnt, und ich würde gern wissen, was für eine Verbindung es zwischen euch -281-
gegeben hat.« Er hatte ihr Haar um seinen Finger gewickelt und ihren Kopf nach hinten gezogen. Jetzt ließ er sie los, zog die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. »Erinnerst du dich doch, daß ich dir erzählt habe, daß ich von der Universität gehen mußte, weil es Schwierigkeiten gab? Dein Bruder hat diese Schwierigkeiten gemacht.« Sie dachte, er wolle es dabei belassen, und drängte: »Weiter!« »Nachdem du weggegangen warst, hat Pavel mich bedroht. Später hat er die Drohung wahrgemacht. Er hat einiges gesagt und andere Leute dazu veranlaßt, zu handeln.« Sein Tonfall machte klar, daß sich keine nähere Erläuterung anschließen würde. Als sie mehr wissen wollte, bekam sie nur einen Satz von Anouilli zu hören. »Der Atem des Menschen ist für seine Mitmenschen tödlich.« Ellie seufzte betroffen. »Ich könnte dir jetzt sagen, daß es mir leid tut, aber das würde so klingen, als ob ich mich für Pavels Verhalten verantwortlich fühlte.« »Natürlich bist du das nicht.« Eine Pause. »Du hast deinen Bruder nicht gemocht, nicht wahr? Du hattest Angst vor ihm.« Sie suchte nach einer überzeugenden Antwort, die doch nichts preisgeben würde. »Er hatte immer Spaß daran, andere Leute unter Kontrolle zu haben.« Als er genauer wissen wollte, in welcher Weise Pavel sie unter Kontrolle gehabt hatte, wich sie aus. Sie lenkte das Gespräch auf ein Thema, das sie den größten Teil der Strecke bis Prag beschäftigte: Krieger. Sie tauschten Geschichten über ihn aus, alte und neue, wunderten sich -282-
darüber, daß ein Mann, der sich angeblich versteckt hielt, so ohne weiteres auf den Straßen der Stadt der Gerüchte blicken ließ. Daß es eine Drogenverbindung gab, war glaubwürdig; es war bekannt, daß Krieger sich durch den Verkauf von Rauschgift Mittel für seine politischen Aktivitäten beschafft hatte, wenn auch diese Gerüchte in die Zeit vor seiner Flucht nach Ostdeutschland zurückreichten. Aber neu war, daß man ihn in letzter Zeit mit dem jüngsten Mitglied der Familie Devereux in Prag gesehen hatte: mit David. »Ich weiß nicht viel über David«, gab Ellie offen zu. »Das ist der Grüne. Er hat an einer internationalen Konferenz in Prag teilgenommen, in der Fragen der Umweltverschmutzung diskutiert wurden, ganz besonders im Bilina-Tal. Bis vor einem Jahr hat man das vertuscht, aber jetzt wird allgemein zugegeben, daß wir dort, wo einmal heilkräftige Mineralwässer flossen, jetzt Lignitbergwerke, ineffiziente chemische Fabriken, Ablagerungsstätten für toxische Abfälle, altmodische, mit Braunkohle betriebene Industriebetriebe haben - mit anderen Worten, wir sind das am meisten von Umweltschäden belastete Land Europas und schädigen unsere Nachbarn.« »Warum hat David Devereux an der Konferenz teilgenommen?« »Weil er mit der Greenworld-Aktion in Verbindung steht. Man flüstert, daß er seine Anwesenheit zu einem Treffen mit Krieger genutzt hat.« Ellie war interessiert, aber skeptisch. »Wie laut flüstert man das?« »Ich habe es von einem Mann gehört, der behauptet, die beiden zusammen gesehen zu haben.« -283-
Der Mann, sagte er, war ein Taxifahrer, der David Devereux am ersten Tag von seinem Hotel zur Konferenz brachte. Am nächsten Nachmittag verließ David die Sitzung und ließ sich zu einer Adresse auf der anderen Seite des Flusses fahren. »Als sie eintrafen, wirkte David etwas nervös und bat den Fahrer, so lange zu warten, bis er im Haus war. Also wartete der Fahrer und beobachtete David, der auf der Türschwelle stand. Als die Tür sich öffnete, erkannte er Krieger.« Ellies Skepsis hielt an. »Wie konnte er sicher sein, daß es Krieger war?« »Zufällig hatte man ihm ein oder zwei Wochen vorher Krieger gezeigt.« »Aber was, in aller Welt, könnten denn Krieger und der junge Devereux miteinander zu besprechen haben?« »Was auch immer es war, Ellie, ich glaube nicht, daß es darum ging, unseren Planeten zu retten.« Ellie saß mit Rose Darrow in deren Wohnung in der Male Strana. Rose hatte Ellie kurz nach ihrer Rückkehr von dem Interview mit David Devereux' Vater Philippe angerufen. Sie wirkte müde, entkorkte eine Flasche Melnik und gestand: »Ich versuche diese Devereux-Story im Griff zu behalten, aber sie entgleitet mir immer wieder. Jedesmal, wenn ich endlich eine vernünftige Theorie habe, taucht irgend etwas auf und macht alles, was ich mir bis dahin zurechtgelegt habe, zu Unsinn.« Sie hielt inne, schenkte ein und fügte dann hinzu: »Du hast recht, Ellie. David ist kein Retter von Planeten, sondern ein reicher junger Franzose, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Kontrolle über einen Parfumkonzern an sich zu reißen und seinen Vater auszubooten. Krieger ist ein ehemaliger DDR-Spion, dem der Ruf vorangeht, an allen möglichen -284-
Gaunereien beteiligt zu sein, und darunter sind einige, mit denen er Mittel für seine politischen Spießgesellen auftreiben wollte, sicherlich nicht die unbedeutendsten.« Ellie nippte an ihrem Wein. »Ich wollte, ich hätte dir eine Lösung gebracht, anstatt nur noch mehr Verwirrung zu stiften.« Rose lachte. »Tatsächlich erweist du dich als durchaus nützlich, viel nützlicher als die Leute, die ich hier bezahle. Du hast mir bereits zwei von Krieger benutzte Adressen geliefert, eine Verbindung zu den Devereux hergestellt und die Bestätigung geliefert, daß die Familie damit beschäftigt ist, ihre Kunstsammlung zu verkaufen.« »Gar nicht schlecht für einen Amateur, nicht wahr?« »Überhaupt nicht schlecht.« Rose mußte ein Gähnen unterdrücken. »Ich bin überzeugt, daß David derjenige ist, der die Kunstsammlung verkauft. Ich kann nicht behaupten, daß Philippe Devereux mir sympathisch war, aber ich habe ihm geglaubt, als er erklärte, er wisse nichts von Verkäufen.« Ellie meinte, es könne ja der alte Herr, Maurice, sein, der die Sammlung verkaufe. Aber Rose tat das ab, schließlich habe Maurice Devereux Jahre damit verbracht, sie aufzubauen. »Dann vielleicht der Direktor?« vermutete Ellie. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Er läßt sich zwar nichts entlocken, was man als Kritik an seinen Brötchengebern auffassen könnte, aber er hat doch keinen Zweifel daran gelassen, daß zur Zeit kein Geld für den Kunstfonds zur Verfügung steht, und er Anweisung hat zu verkaufen, und zwar angefangen mit den modernen Stücken.« »Sams Exil zum Beispiel.« Sie saßen ein paar Minuten stumm da und suchten beide nach plausiblen Erklärungen. Plötzlich flackerte Angst in -285-
Ellies Augen auf. »Du wirst doch vorsichtig sein, Rose, ja? Wenn es John Blair das Leben gekostet hat, die Verbindung zwischen den Devereux und dem Rauschgift zu beweisen, dann gehst du ein schreckliches Risiko ein.« »Die Devereux glauben, daß ich ein Firmenprofil für meine Zeitschrift schreibe. Mir kann nichts passieren.« Sowie sie es ausgesprochen hatte, war ihr klar, wie fadenscheinig diese Überzeugung klang. Und Ellie stürzte sich sofort darauf. »John hatte auch eine Story, die ihm Tarnung bot.« Rose rieb sich mit der Hand über die Augen. Diesmal schaffte sie es nicht, ihr Gähnen zu unterdrücken. »Ich verspreche dir, daß ich keinerlei Entscheidung treffen werde, bis ich eine Nacht geschlafen und wieder einen klaren Kopf habe.« »Nimm dir einen Tag frei. Ich kenne da ein Gemälde in einem Märchenschloß mitten im Wald, das ich dir zeigen könnte.« Roses Gesicht hellte sich auf. »Dein Pendant. Ja, das ist wirklich eine gute Nachricht.« »Dann wirst du mitkommen, Rose? Ich habe mir eine Lampe besorgt. Ich habe fast den ganzen Tag dazu gebraucht, aber ich habe es geschafft. Unglücklicherweise habe ich nur zwei Hände.« Aber Rose schüttelte den Kopf. »Ich muß leider morgen nach Paris fliegen. Dort findet eine Redaktionskonferenz statt, vor der ich mich nicht drücken könnte, selbst wenn ich das wollte. Und wenn ich es mir richtig überlege, will ich es gar nicht, noch dazu, wo ich bis jetzt noch keinen Deal mit Krieger abgeschlossen habe.« Wieder ein Gähnen. Rose lehnte sich im Sessel zurück und schloß die Augen. Wenn das Weinglas, das sie in der Hand hielt, nicht so ruhig und stabil geblieben wäre, hätte -286-
Ellie geglaubt, daß sie schlafe. In der Ferne ertönte eine Klingel, als jemand am Eisentor in der Wohnung über ihnen klingelte, um eingelassen zu werden. Dann erwachte der lärmende Kühlschrank zum Leben und übertönte alle Außengeräusche. »Du hast recht«, sagte Rose unvermittelt, als ob Ellie sie kritisiert hätte. »Ich sollte noch einen Versuch mit Krieger machen, ehe ich nach Paris fliege. Wie weit ist es zu dem Haus, wo der Taxifahrer ihn mit David Devereux gesehen haben will?« Ellie sagte, man könne zu Fuß hingehen. Das taten sie. »Soll ich diesmal deutsch oder tschechisch sprechen, Rose?« »Deutsch bitte, Ellie.« Aber die Vorsichtsmaßnahme war überflüssig, denn als ein junger Ostdeutscher mit schielendem Blick die Tür öffnete, konnte man am anderen Ende des Flurs Kriegers untersetzte Gestalt sehen, und er rief Ellie auf tschechisch zu: »Vstupovat, Ellie. Ich habe Sie erwartet.« Sie empfand einen leichten Schock darüber, daß er ihren Namen kannte, und schämte sich ihres Tricks, ihn glauben zu lassen, sie würde nicht Tschechisch sprechen. Gehorsam trat sie in den Flur. Der Mann mit dem schielenden Blick hielt die Tür auf. Sie kündigte an: »Ich habe Rose Darrow mitgebracht.« Krieger winkte sie herein. »Das sehe ich.« Er schüttelte beiden Frauen die Hand, und dabei rutschte seine Manschette zurück und ließ das breite Goldarmband seiner Uhr sehen. An diesem Abend war er sichtlich bemüht, -287-
leutselig zu wirken. Rose ging nicht darauf ein, daß er vor ihrem verabredeten zweiten Treffen in der Wohnung in Budj untergetaucht war. Er ebenfalls nicht. Sie sagte ihm die Wahrheit. »Ich fliege morgen nach Paris. Ich möchte denen sagen, daß wir einen Deal abgeschlossen haben und wie er aussieht.« Er betrachtete sie mitfühlend, ein Onkel in mittleren Jahren, der die kleinen Probleme seiner Nichte ernst nahm. »Die fangen an, ungeduldig zu werden.« Und das galt auch für sie, obwohl es bequemer war, die Bürde den anderen zuzuschieben. »Also was ist?« »Verzeihen Sie mir, Rose, wenn wir jetzt nicht darüber sprechen. Ich erwarte Leute. Ehrlich gesagt, hatte ich angenommen, daß die es wären, als es klingelte.« Die inzwischen schon vertraute Enttäuschung kroch in ihr hoch. Sie hatte auf einer Brücke auf diesen Mann gewartet, ihre Zeit in einem leeren Haus vergeudet, ihn durch die Vororte gejagt, und jetzt war er wieder im Begriff, sich ihr zu entwinden. Aber sie lächelte immer noch, als sie ihn fragte: »Können wir morgen reden, ehe ich abreise?« »Ich treffe mich mit Ihnen in den Waldsteingärten. Kennen Sie die sala terrena?« »Ich werde dort sein.« Dann verabschiedete er sich, und der Mann mit dem schielenden Blick führte sie hinaus. Rose hatte einen Zeitpunkt, einen Ort und schwache Hoffnung. »Glaubst du, daß er kommen wird?« fragte Ellie sie draußen. »Das kann ich nicht sagen. Aber ich werde dort sein.« -288-
Ellie fröstelte. »Er hat meinen Namen gekannt. Die haben nachgeforscht, Rose. Herrgott, das erinnert mich an…« Aber es brauchte kein Beispiel. Ihr nicht zu Ende gesprochener Satz schloß all die Überprüfungen, die endlose Wißbegierde des Staates und das Fehlen jeglicher Freiheit und des Rechts, Geheimnisse zu haben, ein. Das Schlimmste hatte sie, da sie ja im Ausland gewesen war, gar nicht miterlebt. Als das Land als eines der am härtesten unterdrückten stalinistischen Länder im Sowjetblock neu geordnet worden war, hatte Ellie in London die Kunstakademie besucht und auf Konzerten der Rolling Stones getanzt. Sie hatte in einer Welt der Hoffnung, der Jugend und der Energie gelebt, die damals zumindest, wie es schien, die Gewähr dafür bot, daß alles gut werden würde. Unterdessen war ihren Freunden und Freundinnen, mit denen sie in ihrem Geburtsland zur Schule gegangen war, jeglicher Kontakt mit Ausländern verwehrt worden und damit gleichzeitig die Chance, selbst, wenigstens aus zweiter Hand, die Wahrheit über die Welt zu erfahren. Nachdem sie ein Stück Weges gegangen waren, platzte es aus Ellie heraus: »Ich hätte es einfach nicht fertiggebracht, Rose. Es hätte mich umgebracht. Die waren nicht alle Helden und Dissidenten, weißt du. Größtenteils waren es einfach Leute, die sich irgendwie am Leben erhielten, in der Hoffnung, nicht zuviel Leid zu erfahren und nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Als ich zurückkam, hatte ich Angst, alten Freunden auf der Straße zu begegnen. Nun, die Angst hätte ich mir sparen können. Die hätten mich nicht erkannt.« Rose griff nach Ellies Arm und führte sie über eine Straßenkreuzung, während sie sie mit einem gemurmelten Satz aufmunterte, fortzufahren. -289-
Ellies Stimme zitterte leicht: »Da war ein Mädchen, es hieß Nina, ich war mit ihm auf der Schule befreundet. Nina hatte ursprünglich die Idee, nach London zu gehen, um dort zu arbeiten und Englisch zu lernen.« »Und was ist aus Nina geworden?« »Gar nichts. Und wenn ich heute an sie zurückdenke, dann erinnere ich mich, daß sie hübsch war und eine sehr gute Schülerin, viel besser als ich. Ich habe oft über sie nachgedacht, bis ich mich schließlich gezwungen habe, damit aufzuhören. Meine Mutter hat mir neulich gesagt, daß Nina immer noch hier ist. Sie hat geheiratet, Kinder bekommen und lebt jetzt in einem Wohnblock in einem Vorort und arbeitet in einem Supermarkt. An der Kasse. Hast du diese Läden gesehen, Rose? An der Kasse gibt es Spiegel, damit jeder sehen kann, daß das Geld in die Kasse wandert und nicht in die Tasche der Angestellten. Wenn ich hiergeblieben wäre, Rose, dann wäre dies auch mein Leben gewesen.« Sie erreichten die Wohnung. Als sie hineingegangen waren und ihre Mäntel aufgehängt hatten, setzte sich Rose Ellie gegenüber, legte den Kopf etwas zur Seite und fragte mit einem Scharfblick, auf den Ellie gern verzichtet hätte: »Was hat denn diesen Anfall von Schuldgefühlen in dir ausgelöst?« Ellie lachte laut auf. Sie hatte genügend Gründe. Der Mann, der sie zu dem Schloß gebracht hatte, war einer davon. Sie nannte Rose einen anderen Grund. »Das brauchte keinen Auslöser, das war die ganze Zeit vorhanden. Seit Jahren. Das ist einer der Gründe, weshalb ich nicht gleich losbrauste, als Havel und Dubcek miteinander auf den Balkon traten.« Sie biß sich auf die Unterlippe, vertraute sich selbst nicht ganz und befürchtete, Dinge preiszugeben, die sie besser für sich -290-
behielt. »Es tut mir leid, Rose. Du hältst mich wahrscheinlich für überempfindlich.« »Ich dachte, Krieger hätte etwas damit zu tun. Nicht nur, weil er sich die Mühe gemacht hat, herauszufinden, wer du bist, sondern weil er dich immer reizbar macht.« Ellie fuhr sich mit beiden Händen in ihr silberblondes Haar, wand es in einen Knoten. Ihre etwas schrägliegenden grauen Augen und ihre hohen Wangenknochen wurden dadurch betont. Sie war eine klassische Schönheit. »Hm. Gereizt. Ja, da hast du recht. Ich kenne ihn nicht, aber er ist mir zuwider. In höchstem Maße.« »Warum auch nicht?« Rose nickte fast beiläufig. Sie hatte es verpatzt, wo sie eigentlich doch mehr über die Fahrt zu dem Schloß hatte herausbekommen wollen. Irgend etwas Seltsames mußte auf dieser Fahrt nach Böhmen vorgefallen sein, dessen war sie sicher. Ellie wirkte zerstreut, unsicher. Rose zählte an ihren Fingern ab: »Krieger war Terrorist, Spion, Rauschgifthändler.« »Was mich ärgert, ist, daß er mit alldem durchkommen wird.« »Und daß er nicht unter Schuldgefühlen leidet.« Ellie lachte wieder, aber diesmal war es ihr vertrautes warmes Lachen, das Rose kannte. »Ja, das ganz besonders.« Daß das verrostete Fahrrad nicht mehr da war, beunruhigte ihn. Philippe Devereux war nicht allein gewesen, als er die Instruktionen des Entführers, in die cave zu kommen, befolgt hatte. Das Fahrrad war also nicht von irgend jemandem einfach in dem Gestrüpp hinter dem Cottage -291-
des vigneron abgestellt worden, es hatte jemandem als Fluchtmittel gedient. Stunden später, als er in seinem Büro im Château saß, auf dem Schreibtisch vor sich einen Bericht, war er einfach nicht imstande, sich zu konzentrieren. Er las die Seite immer wieder durch, ohne ihren Sinn erfassen zu können, weil ihn jedesmal wieder das Bild einer Lenkstange, die an einer Mauer lehnte, aus seinen Gedanken riß. Er hatte sie gesehen, und als er aus der cave zurückkehrte, war sie verschwunden gewesen. Er schob den Bericht beiseite und ging in den Garten hinaus. Seine Mutter und zwei Helfer waren damit beschäftigt, Rosen zu schneiden und den Abfall der Natur beiseite zu schaffen. Er sah ihnen zu, wie sie mit gebeugtem Rücken in der Sonne arbeiteten, sich abmühten, um den Garten in Blüte zu halten, solange das Klima und ständige menschliche Fürsorge das möglich machten. Seine Mutter liebte Blumen. Man konnte jederzeit in ihren Garten gehen und einen Armvoll Blumen mitnehmen. Sie setzte ihre ganze Kraft dafür ein, daß in jedem Zimmer stets eine gefüllte Blumenvase stand. Sie scheute weder Zeit noch Kosten, konnte es aber nicht leiden, wenn man seine Arbeit halbherzig verrichtete. Deshalb hatte sie den jungen Mann entlassen, in dem Philippe einen Kandidaten für seinen Verdacht sah. Seine Mutter richtete sich auf und schaute sich um. Als sie ihn entdeckte, winkte sie, aber Philippe ging nicht zu ihr. Vielmehr schlug er den Weg zum Weinberg ein. Die vendange war in diesem Jahr früh gewesen, im September, und jetzt strömte von den Feldern eine schläfrige, übriggebliebene Atmosphäre herüber. Die Trauben waren gesund und die Menge befriedigend, aber später würde man sich an dieses Jahr als dasjenige erinnern, in dem die Ernte sich automatisch vollzog, ohne daß die Familie sich -292-
hatte einschalten müssen. Die Angestellten im Château und die Helfer aus dem Dorf wurden gerufen - wie es schien, instinktiv - und erledigten ihre alljährlichen Aufgaben. Maurice, Philippes Vater, tauchte einmal kurz auf, obwohl es sonst seine Gewohnheit war, alles zu beaufsichtigen, zwischen den Reben herumzustreifen, auf übersehene Trauben hinzuweisen und auch einmal selbst mit zuzugreifen, wenn Hilfe benötigt wurde. Parfüm war sein Geschäft, der Weinberg sein Hobby. Während Philippe so dahinschlenderte, überlegte er, ob er seinen Vater über die Lösegeldbriefe informieren sollte und über das, was sich in der cave zugetragen hatte. Er wußte nicht, wie er weitermachen sollte. Jede Entscheidung, die er traf, ließ die ursprüngliche Frage aufs neue aufleben: Sollte er zur Polizei gehen? Sein Widerstand war ungebrochen. Der Polizei oder Richter George Laroche einzugestehen, was er ihr vorenthalten und getan hatte, war undenkbar. Er hatte sie in der Öffentlichkeit wegen ihrer Ermittlungstätigkeit in dem Entführungsfall kritisiert und sich auch nicht freundlicher geäußert, als Reporter ihn nach seiner Meinung wegen der mangelnden Fortschritte in der Jagd auf den Mörder befragt hatten. Wie konnte er also etwas anderes als Ablehnung und Verachtung erwarten, wenn er mit einer Geschichte von verschwiegenen Lösegeldforderungen und einem Rendezvous in einem Weinkeller auftauchte? Philippe schauderte bei dem Gedanken, daß deren Kritik ebenfalls an die Öffentlichkeit gelangen würde. Er konnte nicht hoffen, daß Laroche darauf verzichten würde, die Presse zu informieren. Vor ihm, auf der anderen Seite des Weinbergs, stand die Kirche, aber Philippe schlug einen Bogen um sie und die schreckliche Erinnerung an Nicoles Beerdigung. Wenn es etwas gab, das ihn davon überzeugte, sich nicht der Presse -293-
zu stellen, dann dieses Begräbnis. Die Familie war an jenem Tag entkommen, indem sie nach Hause eilte und die Tore vor der Welt zuschlug. Aber wenn Laroche auch nur ein Wort über Lösegeldforderungen und Philippes Versäumnis, sie bekanntzumachen, verlauten ließ, würde die Presse das Château belagern und ihnen das Leben zur Hölle machen, bis er sich ihnen stellte und ihnen damit Gelegenheit gab, sein Verhalten und sein Motiv so zu interpretieren, wie sie es für richtig hielten - nämlich falsch. Er hatte keine Ahnung, wie sein Vater reagieren würde, falls er ihm das Geheimnis anvertraute. Philippe stand Maurice nicht so nahe wie sein Bruder Claude. Der konnte die Einstellung seines Vaters immer ganz genau einschätzen und seine Reaktionen vorhersagen, Philippe gelang das nie. Von frühester Kindheit an hatte er deshalb immer wieder Claude gefragt: »Meinst du, Vater wäre das oder jenes recht?« Und Claudes Ja oder Nein kam immer schnell und überzeugt und erwies sich ausnahmslos als richtig. Über ihm leuchteten von der Sonne goldgeränderte Fenster. Philippe überquerte die Terrasse und trat durch eine offene Tür. Am Tag der Beerdigung hatte er seine Mutter in diesem Raum getroffen. »Gott sei Dank ist das vorbei«, hatte er gesagt. Und sie hatte voll Zweifel darauf geantwortet: »Glaubst du das?« Sie hatte recht behalten. Das Begräbnis war nicht der Schlußpunkt. Es war auch der Tag, an dem Philippe sein Geheimnis erwarb, der Tag, an dem der erste Lösegeldbrief eingetroffen war. Mit seiner Mutter war es leichter als mit seinem Vater, aber er wollte sie nicht mit seiner Geschichte belasten; ihr Herz machte Schwierigkeiten. Wenn er sein Geheimnis nicht mit Maurice teilte, gab es niemanden, dem er es anvertrauen konnte. -294-
Philippe zog sich in sein Büro zurück. Er nahm den Bericht und fing zu lesen an. Ein Absatz. Zwei. Dann wieder das Fahrrad. Es war wie ein festes Ritual. Jeder Versuch, zu lesen, endete damit, daß sein Gehirn ihm Bilder einer rostigen Lenkstange an einer Mauer aufblitzen ließ. Über sich selbst verärgert, ließ er Kaffee kommen und fragte das Mädchen, das ihn brachte: »Dieser Gärtner, der vor ein paar Monaten weggegangen ist - stammte der aus Marseille?« »Nein, M'sieu. Aus Languedoc.« Das Mädchen stellte das Tablett auf den Schreibtisch und wartete, um ihm Gelegenheit zu geben, weitere Fragen zu stellen. »Und er ist dorthin zurückgekehrt, nehme ich an?« »Nein, er hat in einem Hotel Arbeit gefunden.« Er bohrte nach Einzelheiten. Rücksichtslos und unnachgiebig, selbst als er an der leichten Rötung ihrer Wangen erkannte, daß dem Mädchen die Fragen unangenehm waren. Der junge Gärtner war ihr Freund. Für Philippe klärte das Gespräch einiges. Das Mädchen wirkte schuldbewußt, und das Dorf, das es erwähnt hatte, lag etwa zwanzig Kilometer vom Château entfernt, aber nur ein paar Kilometer von der cave. Freilich, Marseille war damit nicht zu erklären, es sei denn, der junge Mann hatte dort einen Komplizen. Philippe war überzeugt, auf der richtigen Spur zu sein, erwähnte aber dennoch vor niemandem etwas über Lösegeld oder rachsüchtige Gärtner. Sein nächster Plan war die Reise nach Marseille. Er machte sich jetzt keine Sorgen mehr, daß er selbst entführt werden sollte, weil sie ihn ja in der cave hätten schnappen können, wenn das ihre Absicht gewesen wäre. Er rechnete also nur mit Erpressung und folgte den Instruktionen. Anstelle eines Bündels Banknoten enthielt -295-
seine Mappe entsprechend zugeschnittenes Zeitungspapier. Davon abgesehen tat er, was man von ihm verlangt hatte. Er fuhr in die Stadt und ging in eine Bar am Hauptplatz. Es war Markttag, und auf von der Sonne beschienenen Marktständen lagen Herbstfrüchte und Gemüse zum Verkauf. Kunden mit prüfendem Blick betasteten sie auf der Suche nach Perfektion und schlugen nach Wespen, die der süße, würzige Geruch anlockte. Philippe saß an einem Tisch auf dem Trottoir, die Mappe neben seinem Bierglas. Touristen am Nachbartisch beugten sich herüber und fragten in vorsichtigem Französisch nach dem Weg zu einem Ort, von dem er nie gehört hatte. Die Störung war ihm unangenehm, und er reagierte schroffer, als das sonst seine Art war. Dann bauten sich vor ihm drei wohlgenährte Bäuerinnen auf, um Klatsch auszutauschen, und anstelle geschäftstüchtiger Verkäufer und kritischer Kunden, der Kirche und dem Rathaus sah er nun bunten Stoff, der sich über üppigen Rundungen spannte. Ob er den Tisch wechseln sollte? Nein, ebensogut… Eine der drei Frauen drehte sich um und stellte ihre Tasche auf seinen Tisch. Philippe war darauf vorbereitet, daß die Hand mit den Wurstfingern und dem eingewachsenen Ehering seine Mappe in ihre größere Tasche praktizierte. Und es würde so einfach sein! Im Schutz ihrer beiden Begleiterinnen würde niemand mitbekommen, was sie tat. Es kam anders. Die Frau hob ihre Tasche an, hängte sie sich über den Arm und sagte ihren Freundinnen, daß sie jetzt wirklich zu dem Olivenstand gehen müsse, man hätte ja nie genug Zeit, oder? Philippes Mappe blieb unbeeinträchtigt neben seinem Glas. In dem Brief hatte gestanden, daß das Läuten der -296-
Kirchenglocken sein Stichwort sein solle. Als die Glocke das erste Mal tönte, sprang er wie ein Kuckuck aus seiner Uhr, kam sich dann aber albern vor und versuchte wieder gelassen auszusehen. Er winkte dem Kellner. »Einen Moment, M'sieu.« Der Mann kümmerte sich um andere Tische und entfernte sich dann. Ein paar Minuten gingen so verloren. Dann tauchte der Kellner wieder mit einem Tablett auf, von dem er Gläser und Tassen mit heißer Schokolade verteilte. Philippes nochmaliger Versuch, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wurde ignoriert. Der Kellner tauchte wieder im Inneren des Lokals unter. Es dauerte volle zehn Minuten nach dem Glockenschlag, bis Philippe seine Rechnung bezahlen durfte. Er schlenderte weiter, tat so, als habe er sich nicht verspätet und als sei er nicht nervös. Zwischen den Verkaufsständen lief ein Hund einem Mann zwischen die Füße, und der Mann stolperte gegen einen Verkaufsstand, so daß ein paar Äpfel herunterfielen. Das Durcheinander behinderte Philippe, der sich gezwungen sah, ein paar Äpfel aufzuheben und zurückzulegen, ehe er weitergehen konnte. Ein Gedränge vor dem Käsestand versperrte ihm den Weg, und er mußte einen Umweg machen, um den Gemüsestand an der Ecke zu erreichen. Dort kaufte er, was man ihm aufgetragen hatte; Auberginen, grüne Pfefferschoten und Zwiebeln. Anschließend wandte er sich nach links und in die Kirche. Es roch nach Staub, Weihrauch, Blumen und Kerzenwachs, aber er war von der Sonne geblendet, und so dauerte es ein oder zwei Sekunden, bis seine Augen ihm bestätigten, wo er sich befand. Dann sagten ihm Blumen und Fahnen, die das Bild des Patronatsheiligen schmückten, daß sie den Tag dieses Heiligen feierten. Frauen mit Einkaufstaschen drängten sich vorbei, und er -297-
folgte ihnen, zählte die Stuhlreihen, bis er die sechste von hinten erreicht hatte. Er ging bis zum sechsten Stuhl, tat so, als würde er beten, und saß dann da und wartete. Die Anweisungen waren völlig exakt gewesen. Sechste Reihe, sechster Stuhl, die Mappe rechts auf den Boden stellen, und wenn dann von derselben Seite jemand in die Reihe kommt, ein paar Minuten warten und dann auf der anderen Seite die Reihe verlassen und die Tasche stehenlassen. Philippe war mit dem Arrangement durchaus einverstanden; es beseitigte alle Zweifel bezüglich seiner eigenen Entführung und versprach zudem einen Blick auf einen der Erpresser. Er berührte die Mappe mit dem rechten Fuß, hielt diskreten Kontakt mit ihr, um auf diese Weise sofort zu bemerken, wenn jemand sie berührte. Hinter ihm hielten die Andächtigen Zwiesprache mit dem Heiligen. Kerzen wurden entzündet. Gelegentlich waren Stimmen zu hören, gedämpftes Murmeln der Andächtigen oder halblautes Lachen von Touristen, die eintraten, ohne auf den Kontrast zwischen dem Markt und dem Ort des Gebets vorbereitet zu sein. Jemand trat neben Philippe in die sechste Reihe. Er rechnete damit, daß der entlassene Gärtner selbst käme oder, falls nicht er, dann ein Freund von ihm. Philippe plante, hinten in der Kirche zu verweilen, im Schutz einer Säule, und nach einem Mann Ausschau zu halten, der seine Mappe trug. Er hatte vor, sich auf den Mann zu stürzen, ihn zu stellen. Was dann kommen würde, wußte er nicht. Nach einer Weile trat jemand rechts von ihm in die Stuhlreihen. Er sah das Profil eines Fremden in mittleren Jahren, eines Mannes mit abgewetztem Kragen und tiefen Furchen im Gesicht. Der Fremde sank auf die Knie und -298-
vergrub den Kopf in den Händen. »Zwei Minuten«, erinnerte sich Philippe und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Nach einer Minute erhob sich der Mann und setzte sich auf einen Stuhl. Philippe studierte ihn von der Seite, beobachtete, wie ein Zucken auf seiner Wange sich zu einem halblauten Gebet oder einer Klage entwickelte. Als zwei Minuten verstrichen waren, hatte Philippe immer noch nicht entschieden, ob das ein übermüdeter Christ war, der sich zufällig in der sechsten Reihe niedergelassen hatte, oder ob das Ganze eine raffinierte Pose war, die die wahre Absicht des Erpressers vertuschen sollte. Er neigte zur Zufallstheorie. Die Pose war insgesamt zu auffällig und kompliziert, um Teil einer verdeckten Transaktion zu sein. Philippe seufzte und tippte mit dem Fuß an die Mappe. Was nun? Die Reihe wechseln? Nein, die Instruktionen waren eindeutig. Wo blieb der Mann? Eine Bewegung zu seiner Linken. Eine junge Frau mit einem Kopftuch nahm den letzten Sitz in der Reihe. Sie stellte eine große Tasche auf den Boden, die ihm leer erschien, weil die Seiten eingefallen waren; und sie war groß genug, um seine Mappe aufzunehmen. Er sah sich um, obwohl er damit seine Instruktionen mißachtete. Einige Leute saßen, andere standen. Niemand beachtete ihn. Er nahm an, daß die Kontaktperson die sechste Reihe rechts von ihm besetzt gesehen hatte und deshalb improvisierend von links gekommen war. Philippe begann sich in Richtung auf die Tasche zu bewegen. Er ging ein halbes Dutzend Schritte, ehe eine Stimme ihn anzischte: »M'sieu!« Er zuckte zusammen. Der Fremde mit den tiefen -299-
Furchen im Gesicht beugte sich herüber. »Ihre Tasche, M'sieu.« »Oh … äh … danke.« Philippe fügte ein Lächeln hinzu, das dankbarer war als seine Worte, und nahm seine Tasche. Die Bewegung ließ den erdigen Geruch des Gemüses aufsteigen, der sich mit dem würzigen Duft von Weihrauch und Blumen mischte. Als er sich dem anderen Ende der Reihe näherte, hob die Frau mit dem Kopftuch ihre Tasche und stellte sie neben sich auf den Stuhl. Er fragte sich kurz, ob das ein Hinweis für ihn war, seine Tasche in ihre fallen zu lassen, aber dann wurde ihm bewußt, daß das zu auffällig wäre. Sie schwang die Beine zur Seite und ließ ihn passieren. Als er die Säule erreicht hatte, die er sich als Standort ausgewählt hatte, blieb er stehen. Es interessierte sich immer noch niemand für ihn. Seine Mappe fühlte sich riesig und auffällig an, sein Verhalten eigenartig, und doch schienen die Leute nichts zu bemerken. Er wußte nicht, was er tun sollte, er konnte bloß warten, daß der Mann in Reihe sechs aufstand und wegging, und es dann noch einmal versuchen. Zwanzig Minuten lang täuschte er Faszination für Gemälde, Skulpturen und Architektur vor und ließ dabei den Mann in der sechsten Reihe nicht aus den Augen. Endlich stand er auf. Philippe duckte sich weg, als der Mann zum Ausgang strebte. Während jener zwanzig Minuten hatte die Besetzung gewechselt; alle, die ihn vorher in der Reihe gesehen hatten, waren gegangen. Unter den neuen Gesichtern war eine Gruppe von vier jungen Amerikanerinnen, die sich für die Bilder interessierten und Bemerkungen austauschten. Philippe hatte kaum wieder Platz genommen, als er hörte, wie sie sich in die Reihe hinter ihm setzten. -300-
Eine Stimme aus Georgia tönte im gedehnten Südstaatensingsang: »Ich sag dir, Paige, wenn ich mich jetzt nicht eine Weile ausruhe, ist das mein Tod.« »Marsha, das sind deine Pumps. Für Besichtigungen muß man bequeme Schuhe haben.« »Okay. Morgen nehm ich Turnschuhe. Das versprech ich.« Philippe hörte es klappern, als Marsha sich von ihren Pumps befreite. Sie war ein großes, grobknochiges Mädchen mit blondem, von der Sonne ausgebleichtem Haar und einer geröteten Nase. Er hörte sie wohlig aufstöhnen, als ihre schmerzenden Füße den kalten Steinboden berührten. Binnen ein oder zwei Minuten setzte sich ein junger Mann in Reihe sechs. Philippe registrierte seinen finsteren Blick und sein wachsames Verhalten und war überzeugt, daß dies endlich seine Kontaktperson sei. Er beobachtete den Mann von der Seite und nahm wahr, wie der immer wieder nach rechts und links Blicke huschen ließ, seine Umgebung beobachtete. Philippe memorierte sein scharfes Profil, die langen Wimpern, den schmalen Schnurrbart, die billige Uhr mit einem Plastikband, das leichtgekräuselte Haar, das bis an sein Sweatshirt reichte. Philippe stand auf und ging. Kurz darauf trat ein Priester ein. Jetzt würde der Gottesdienst beginnen. Die vorderen Reihen füllten sich mit älteren Andächtigen. Die Touristen begannen sich zu entfernen. Eine Hand berührte ihn am Arm. Er sah in Marshas blaue Augen. »Sie haben Ihre Tasche vergessen.« »Oh, danke.« Er schluckte. »Vielen Dank.« »Bitte, keine Ursache. Ich war in der Reihe hinter Ihnen -301-
und hab' sie stehen sehen, sie kam mir irgendwie einsam vor.« Aus der Nähe betrachtet war ihre Nase noch röter. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Er hielt den Griff mit beiden Händen und schwang die Tasche leicht zwischen sich und dieser zum Wahnsinnigwerden hilfsbereiten Amerikanerin. Sie wollte reden, wollte, daß sie zusammen nach draußen gingen. Er hoffte, sie loszuwerden, sobald ihre Freundinnen kamen, aber statt dessen blieben alle stehen und redeten auf ihn ein. Sie baten ihn, ihnen ein gutes Lokal zum Mittagessen zu empfehlen. Philippe gab sich unwissend, sagte, er sei selbst von auswärts zu Besuch. Marshas Blicke senkten sich auf seine Tasche mit Auberginen, Paprikaschoten und Zwiebeln. Sie glaubte ihm ganz offensichtlich nicht, daß er ein Fremder war, sie dachte, er wolle sie abwimmeln. Er konnte keine Rücksicht auf irgendwelche Gefühle nehmen und hielt Marsha und ihren Freundinnen die Tür, als diese auf den Marktplatz hinaustraten. Er selbst blieb im Inneren der Kirche, dicht neben der Tür, und versuchte zwischen den Köpfen zu erkennen, ob der Mann in der sechsten Reihe auf ihn zukam, um sich die Tasche zu holen. Ein Ehepaar konnte sich nicht darüber einig werden, ob es gehen oder bleiben sollte, und versperrte ihm den Weg. Jetzt hatte es endlich eine Entscheidung getroffen. Gehen. Reihe sechs war leer. Philippes Enttäuschung war nur von kurzer Dauer, weil der junge Mann im Sweatshirt jetzt auf den Ausgang zustrebte. Als er in seiner Nähe war, trat Philippe einen halben Schritt vor und bot ihm mit einer diskreten Geste die Tasche an. Er konnte den Mann jetzt deutlich sehen, sein breites Gesicht, die hellen, tiefliegenden Augen erkennen. Philippe war ihm nie zuvor begegnet, würde ihn aber in Zukunft wiedererkennen. -302-
Seine Geste war ohne Wirkung, der Mann wollte weitergehen. Philippe bot ihm die Tasche jetzt noch auffälliger an. Ein erschreckter Blick huschte über das Gesicht des Mannes. Er trat zur Seite und eilte auf den Marktplatz hinaus. Zwiebeln. Auberginen. Grüne Paprika. Und darunter ein Bündel Zeitungspapier, das vorgab, Lösegeld zu sein. Philippe trug alles zu seinem Wagen zurück, warf die Mappe in den Kofferraum und fuhr nach Hause. Krieger erwartete Rose Darrow in der sala terrena der Waldsteingärten. Er rauchte. »Sie kommen spät, Rose«, bemerkte er mit einem ironischen Lächeln. »Dreißig Sekunden zu spät.« »Ich hatte vergessen, wie steil der Hügel ist.« Tatsächlich hatte sie angenommen, daß er provozierend spät kommen würde, falls er sich überhaupt die Mühe machte, zu erscheinen. Über Nacht war ihr Optimismus auf den Nullpunkt zusammengeschrumpft. Ihn hier, umgeben von Fresken des Trojanischen Krieges, vorzufinden, war einigermaßen überraschend. »Mögen Sie Homer, Rose? Oder wollen wir zwischen den Statuen auf und ab gehen? Die meisten sind natürlich unecht.« »Reproduktionen. Die Originale sind Kriegsbeute geworden und stehen heute in Schweden, wenigstens behauptet das mein Reiseführer.« »Meiner auch. Nun, dann lassen wir diese zweifelhaften Statuen und spazieren den Hügel hinauf.« Sie schloß sich ihm an, übernahm die Rolle einer Nichte, die sich um einen Onkel in mittleren Jahren bemüht, von dem sie sich auch in Zukunft Gefälligkeiten erhofft. Als -303-
sie eine Wegkreuzung erreichten und er nach links bog, schloß sie sich ihm automatisch an. »Sind da weniger Leute?« »Aber mehr Hunde. Rose, ist das nicht die herrlichste Stadt auf der Welt?« Wieder Nebel vom Fluß. Herbstbäume. Ein paar Sonnenstrahlen, die durch die Wolken blitzten und die roten Dächer und die goldenen Spitzen der Kirchtürme und der grünen Kuppeln in rosigen Schein tauchten. »Man ist geradezu hypnotisiert. Ist das der Grund, weshalb Sie hierbleiben?« »Vielleicht. Und Sie?« Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, drückte sie aus und steckte mit einer gewohnheitsmäßigen Geste den Stummel in die Jackentasche. Rose lächelte. »Jetzt, wo ich Prag entdeckt habe, werde ich immer wieder kommen. Sobald ich Ihre Story habe, werde ich andere Gründe finden, um die Stadt zu besuchen. Aber kommen werde ich.« Sie begannen wieder nach oben zu steigen; diesmal war der Weg steiler. Zweimal hielt er inne und witzelte, daß er alt und ungelenkig werde. Sie redete, ließ ihn Atem schöpfen und ignorierte seine Unvernunft, sich wieder eine Zigarette anzuzünden. Er zuckte die Schultern. »Früher war ich einmal sportlich, wissen Sie? Wenn es eine Mauer gab, über die man klettern konnte, war ich derjenige, der das getan hat. Als Junge war ich ein guter Läufer. Ich habe mir beigebracht, mich lautlos zu bewegen, wie eine Katze in der Nacht. Für das Leben, das ich mir gewählt habe, war das nützlich.« Er paffte an der Zigarette. »Aber das vergeht, das sind Fähigkeiten, die nicht vorhalten. Nichts ist von Dauer.« -304-
Er ging weiter. Rose paßte sich exakt seinem Schritt an. Und dann nannte er ganz plötzlich eine Summe. Hoch, aber nicht astronomisch. Rose ließ ihn wissen, daß sie dafür eine Menge erwarte. Als sie das Ende des Weges erreichten, eine Kehre, die weiter nach oben führte, auf das Schloß zu, war der Handel perfekt. »Rose, diesmal gibt es keinen Meinungswandel. Was ich Ihnen anbiete, ist ein festes Versprechen.« Sie schüttelte ihm gespielt formell die Hand. »Das freut mich zu hören.« »Rose, heute können Sie nach Paris fliegen und Ihre Kollegen mit Ihrem Erfolg in Erstaunen versetzen.« Sie zögerte etwas, sagte, das erwarte man schließlich von ihr. Und er lachte. Ein Terrorist, ein Rauschgifthändler, ein Spion, ein Mann, der ein Leben der Gewalt geführt hatte, und doch ertappte sie sich dabei, daß es ihr Spaß machte, mit ihm locker zu plaudern, zu witzeln; es tat ihr leid, daß sie sich so bald trennen mußten. Er hatte eine Verabredung erwähnt, nicht ein Treffen, sondern ein Telefongespräch, das er zu Hause führen mußte. Sie registrierte das Wort: zu Hause. Krieger bezeichnete das Haus in Prag demnach als Zuhause. Hatte das etwas zu bedeuten, oder war es nur eine schlampige Übersetzung? Schwer zu sagen. Sie blieben stehen, lehnten sich an eine Mauer. Das Wehr war ein weißer Fleck, eine Straßenbahn wie ein Spielzeug, die ganze üppige Vielfalt der Stadt war unter ihnen zu ihrem Entzücken ausgebreitet. Dort drüben die mittelalterliche Altstadt, zusammengeknüllt um die zackigen Türme der Tyn-Kirche. Dann die neueren Viertel, die roten Dächer, die nicht so dicht aneinandergedrängt waren. Am Flußufer das Nationaltheater, ein kissenartiges Gebilde in Grün und -305-
Gold. Sie fragte sich, wie lange man in Prag leben mußte, bis seine Schönheit einen nicht mehr erstarren ließ. Ein vom beginnenden Herbst rotgefärbtes Blatt raschelte neben ihr an der Mauer entlang. Sie nahm es in die Hand, studierte es eine Weile und warf es dann in die Luft, sah ihm nach, wie es davonsegelte, den Hügel hinunter. Der Wandel brauchte nicht auf Kriegers Art zu kommen, gewalttätig, unredlich. Das Versprechen war für die Menschen in Prag immer dagewesen, für diejenigen, die Avigdor Karas Zeilen im jüdischen Museum lesen wollten, einem Dichter aus dem 15. Jahrhundert, der vom Sieg der Hussiten über die deutschen Ritter berichtete: Zu Mitlernacht konnte man plötzlich erschreckte Schreie mitten im Zentrum der umfangreichen Streitkräfte von Edom hören, die ihre Zelte über drei Meilen in der Nähe der Stadt Zatek in Böhmen aufgeschlagen hatten: in einer Entfernung von zehn Meilen von Cheb. Und alle flohen vor dem Schwert, vertrieben nur von der Stimme der fallenden Blätter, nicht von einem einzelnen Mann verfolgt. Und sie ließen all ihre Reichtümer und ihre Habe zurück und fügten diesem Land kein Leid mehr zu. »Rose, haben Sie schon gefrühstückt?« Kriegers Frage kam unerwartet, holte sie in den Alltag zurück. Sie sagte, nein, sie habe nichts gegessen. »Nun, wir können hier Kaffee bekommen.« Die Uhren der Stadt fingen zu schlagen an. Er hatte sich zu seinem Telefongespräch verspätet. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fügte er hinzu: »Am Telefon wird sich niemand melden, er wird es später noch einmal versuchen müssen. Oder er kommt ohnehin nicht durch. Das passiert ja ziemlich oft.« Das Café war in den Wällen vergraben, eine -306-
Wendeltreppe führte hinunter. Der Raum hatte ein Fenster mit einer herrlichen Aussicht, und der Cappuccino war der Beste, den Rose bisher in Prag getrunken hatte. Sie waren die einzigen Gäste, aber es war dennoch nicht ideal für das vertrauliche Gespräch, das er ihr für später versprochen hatte, und deshalb fragte er sie: »Woran arbeiten Sie sonst noch für Ihre Zeitschrift?« »Ein Feature über die Devereux-Familie.« Sie hatte geantwortet, ohne zu überlegen. Eine Warnlampe flammte in ihrem Bewußtsein auf. Er löffelte den Schaum von seinem Kaffee. »Nun, über die gibt es immer eine Menge zu berichten.« »Ich sollte sagen, daß der Artikel sich mit dem Geschäft befaßt und nicht etwa mit dem Fluch der Devereux und derlei Dinge.« Krieger leckte den Schaum vom Löffel. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie man die beiden voneinander trennen könnte.« Sie wappnete sich auf einen Erguß über die fragwürdige Moral der Parfumindustrie und die ungerechtfertigten Reichtümer der Privatpersonen, die sie führten. Aber statt dessen sagte er: »Sparen Sie sich die Mühe mit dem alten Herrn Maurice oder seinem Sohn Philippe. David, der Enkel, hat heute das Sagen. Was auch immer die anderen Ihnen vielleicht vormachen wollen, David ist der, worauf es ankommt.« »Ich höre, daß Sie sich mit ihm getroffen haben.« In seinen Augen blitzte etwas auf, ein sicheres Zeichen, daß seine Stimmung sich zu wandeln begann. Er wartete darauf, daß sie weiterredete. Rose tat ihm den Gefallen. »Man hat ihn mit Ihnen gesehen, hier.« -307-
Er stimmte dem mit einem leichten Kopfnicken zu, ließ sich aber nicht aus der Reserve locken. Er nahm wieder einen Löffel von dem Schaum. Das Warnlämpchen blinkte immer noch, aber ihr Mund nahm es nicht zur Kenntnis. »Ich bezweifle, daß er Sie als Filialleiter in Prag für das Haus Devereux engagiert hat.« »Und deshalb haben Sie eine andere Theorie?« »Ein oder zwei.« »Es ist ganz einfach, Rose. Wir haben über Greenworld und die Zukunft des Planeten geredet.« »Das ist genau die Theorie, die ich nicht akzeptieren werde.« Sie starrten einander an, und keiner von ihnen schien bereit, das Schweigen zu brechen, das sich dem anschloß. Sie ging allein den Hügel hinunter. Kälte hatte das Sonnenlicht getötet, dunkle Wolken schalteten das Licht ab. Rose klappte den Mantelkragen hoch, steckte die Hände tief in die Taschen und verlangsamte ihren Schritt, um nicht auf dem brüchigen Kopfsteinpflaster zu stolpern. Die Wohnung war leer. Ellie, die die Nacht auf dem Sofa verbracht hatte, hatte eine Nachricht hinterlassen, die besagte, daß sie Roses Angebot annahm, die Wohnung zu benutzen, solange Rose in Paris war. Außerdem stand auf dem Zettel: ›Ich fahre heute zu dem Schloß zurück, um mir das Bild anzusehen. Drück mir die Daumen!‹ Rose tat es sofort. Dann drückte sie sie noch einmal, um sich mit Krieger Glück zu wünschen. Sie steckte ein paar Sachen in eine Reisetasche und eilte dann auf den Platz, um sich ein Taxi zum Flughafen zu nehmen. Den Mann, der stocksteif im Schatten unter dem Torbogen stand, bemerkte sie nicht. Als sie das Tor hinter sich schloß und durch die Holztür auf die Straße -308-
hinauseilte, lauschte er, um sicher zu sein, daß ihre Schritte sich entfernten, daß sie nicht umkehrte, weil sie vielleicht etwas vergessen hatte. Dann öffnete er das Tor und betrat die Wohnung in einer einzigen fließenden Bewegung. Ehe das Taxi den Platz verlassen hatte, war er bereits dabei, ihre Habseligkeiten zu durchsuchen.
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SECHZEHN Nach dem Fiasko in der Kirche kamen keine Lösegeldforderungen mehr, keine Behauptungen, daß Nicole noch am Leben sei. »Also doch bloß jemand, der sich einen sinnlosen, grausamen Spaß gemacht hat«, entschied Philippe. »Und ich habe ihm Angst eingejagt. Ausgezeichnet.« Also ein Ende damit, nur daß er die Briefe nicht vernichtete. Er bewahrte sie in einer Sandelholzkassette in einer Schublade seines Zimmers im Château auf. Dort blieben sie in all den Jahren, die er mit Margot verheiratet war und in Paris lebte. Auch als er nach der Scheidung in das Château zurückkehrte, holte niemand sie heraus. Sein Bruder und Andrée waren schon vor seiner Rückkehr bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und seine Mutter kränkelte immer mehr. Ihr Herz war schwach. Den Garten schaffte sie nicht mehr selbst, und es wurde jedes Jahr schwieriger, Hilfskräfte zu finden, die ihren Ansprüchen genügten. Also vereinfachte sie einiges, und mit der Zeit begann auch ihr Interesse daran nachzulassen. Niemand wunderte sich, als sie starb. Was sie wohl von ihm gedacht haben würde, fragte Philippe sich, wenn sie gewußt hätte, daß er die Lösegeldforderungen versteckt hielt? Wenn er an die Briefe dachte, bezeichnete er sie so, obwohl es sich eigentlich gar nicht um echte Versuche handelte, Lösegeld zu erpressen. Um welche Art von Erpressung es sich handelte, war ihm nie klargeworden. Eine sehr seltsame jedenfalls, wo doch jeder, der eine Zeitung lesen oder einen Fernseher einschalten konnte, wußte, daß man das Devereux-Baby Wochen vor der ersten Lösegeldforderung -310-
tot aufgefunden hatte. Es hätte ihm Spaß gemacht, der Sache auf den Grund zu gehen. Über die Jahre sehnte er sich oft nach der Erleichterung, die es bereiten würde, über die schwierige Situation zu reden, in der er sich befunden hatte. Doch es sollte nicht sein. Zwei Dinge hielten die ganze Angelegenheit für ihn am Leben: die Faszination der Medien über den Fluch der Devereux, ganz besonders den ungeklärten Mord an dem Kind und das Geld, das für den Zeitpunkt von Nicoles Rückkehr bereitgestellt war. Sein Sohn David ereiferte sich über beides. »Schau«, sagte David eines Abends, während er sich auf einem vergoldeten Sessel im Salon flegelte, »du solltest diese Interviews nicht geben. Das schürt nur ihr Feuer.« »Ich gebe keine Interviews, ich sage ihnen lediglich, daß sie übertreiben. Die bringen alles durcheinander.« »Ich meine, du solltest überhaupt nicht mit ihnen sprechen. Verweise sie doch an die Pressesprecherin der Firma. Die weiß souverän mit ihnen umzugehen.« Philippe ließ sich genüßlich den Wein über die Zunge rinnen, ehe er darauf antwortete: »Wahrscheinlich hast du recht, David.« »Du weißt genau, daß ich recht habe. Aus Großvater kriegen die nie etwas heraus, also lassen sie ihn in Ruhe.« David füllte ihre Gläser nach. Philippe dachte, wie typisch es doch für David war, daß er sich Maurice als Vorbild nahm. Die beiden verstanden einander. Er kam sich wieder einmal isoliert vor. Vielleicht war das auch der Grund, daß er sich spreizte, als David Nicoles Geld aufs Tapet brachte. Philippe wußte, daß es kommen würde. David hatte schon mehrmals eine Bemerkung gemacht, daß sie, wenn einmal Zeit war, darüber reden müßten. Und die Zeit nahm er sich an diesem Abend. -311-
»In Nicoles Sparschwein liegt eine Menge Geld, und wenn die Firma es nicht haben will, will ich es.« Er forderte ihr Geld. Einfach so. Philippes Gesicht verhärtete sich. »David, das können wir nicht tun, das weißt du genau.« »Laß mich das richtigstellen: Wir können tun, was wir wollen. Alles, was wir wollen.« »Nein, die Bedingungen, die der Fonds …« »Ich weiß, ich weiß. Das Geld soll fünfzig Jahre dort bleiben, für den Fall, daß Nicole nach Hause kommt. Nun…« Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern verdrehte die Augen und blickte zu dem großen Kristallüster auf. »Es wäre schlecht…« David fiel ihm ins Wort. »Du meinst, es würde Unglück bringen? Ist es das? Oh, du glaubst an den Fluch, der auf unserer Familie lastet, oder?« »Ich wollte sagen, daß es einfach nicht korrekt wäre. Mein Bruder und seine Frau haben diese Vorkehrung für ihre Tochter getroffen, und es wäre ein Vertrauensbruch ihnen gegenüber, daran jetzt etwas zu ändern.« Sein Sohn schüttelte den Kopf, und sein Blick ließ erkennen, daß er die Welt nicht mehr verstand. »Sie sind tot. Nicole war bereits tot, als sie das Geld für sie beiseite legten. Es war zu dem Zeitpunkt, wo es geschah, unvernünftig und ist jetzt noch alberner. Mit diesem Geld könnte man auf der Welt eine ganze Menge Gutes tun. Weißt du, wieviel es ist? Ein Vermögen!« Philippe rutschte auf seinem Sessel herum. Davids Begeisterung für die Umweltbewegung war bisher nicht verpufft wie seine früheren Passionen, und die finanziellen Ansprüche, die daraus entstanden, waren endlos. Ja, -312-
Nicoles Geld war so angelegt, daß es sich vermehrte, und man konnte durchaus argumentieren, daß es Verschwendung war, es nicht einzusetzen. Und doch nahm er es David übel, daß er ihn sozusagen in einen Abgrund zerrte. Wenn sie dieses Jahr Nicoles Geld ausgaben, würde David dann, wenn es verbraucht war, nicht erwarten, daß das Haus Devereux weitere Almosen verteilte? Philippe hatte auch Angst vor Sponsorverträgen, war besorgt, der Name der Firma könne dabei leiden und in politische Wirren hineingezogen werden. Er wollte nichts damit zu tun haben. Wie David sein eigenes Geld verschleuderte, war seine Angelegenheit, aber er sollte wirklich seine Hobbys und die Firma voneinander getrennt halten. David ließ nicht locker. »Großvater könnte sich durchaus dafür erwärmen. Er fangt an, grün zu denken.« Philippe hatte daran seine Zweifel. »Das heißt noch lange nicht, daß er bereit ist, Nicoles Geld auszugeben.« Davids Blick räumte ein, daß das zutraf. »Noch nicht«, murmelte er. Und beide wußten, daß er nicht aufgeben würde. Nach einer Weile zog sich Philippe brütend in sein Zimmer zurück. Er war stolz auf die Energie, mit der David seine Arbeit in der Firma anpackte, aber er konnte sich einfach nicht von dem Argwohn befreien, daß Maurice und David gemeinsame Sache machten. Maurice war für Davids Überredungskünste empfänglich, und Philippe fand sich häufig in einer Position, wo er gegen die beiden argumentieren mußte und die Auseinandersetzung meistens verlor. Trotzdem zweifelte er daran, daß es David gelingen würde, sich Zugang zu Nicoles Geld zu verschaffen. Philippe zog die Schublade auf. Nach zwanzig Jahren -313-
hatten die Blätter den Geruch von Sandelholz angenommen und waren brüchig geworden. In dem Umschlag befanden sich auch noch einige andere Dokumente. Ein Zeitungsausschnitt, der sich mit der Jagd nach dem Mörder befaßte, obwohl er sich nach zwei Jahrzehnten nicht mehr erinnern konnte, warum er gerade diesen Ausschnitt zu den Lösegeldforderungen gelegt hatte. Ein Foto von Nicole, eines, das zwei Wochen vor der Entführung entstanden war und das die Presse während der Suche nach ihr veröffentlicht hatte. Ein Blatt aus einem Notizblock, auf das er den Namen des entlassenen Gärtners geschrieben hatte. Philippe hielt das Foto ins Licht der Lampe. Ein süßes kleines Gesichtchen lächelte ihn an, mit lockigem Haar, das sich um beide Ohren kräuselte. Wenn es eine Ähnlichkeit mit seinem Bruder Claude oder sonst jemandem aus der Familie Devereux gab, so konnte er sie jedenfalls nicht erkennen. Sie war auch kein Abbild von Andrée. In der kurzen Lebensspanne, die ihr vergönnt gewesen war, war Nicole ganz sie selbst gewesen. Er legte die Haarlocke auf seine Handfläche und war immer noch nicht überzeugt, daß sie zu dem gelockten Haar auf dem Foto paßte. Dann legte er all die nach Sandelholz duftenden Reliquien beiseite, mit Ausnahme der Fotografie, die er in seine Brieftasche steckte. Er hatte einige Monate an einer Idee gebrütet. Jetzt war die Zeit zum Handeln reif. Er war kein besonders guter Lügner, aber die Situation erforderte Geheimhaltung. In Frankreich würde niemand auf den Trick hereinfallen, aber in Amerika würden die Leute glauben, daß er der war, der er zu sein behauptete. Die Frau arbeitete in New York. Er gab sich als -314-
Schweizer aus und sagte, er habe den Wunsch, daß man seine Tochter aufspüre, die er nicht mehr zu Gesicht bekommen habe, seit seine Ehe in die Brüche gegangen war. »Das ist nicht billig«, entgegnete die Frau. Aber er sah nicht wie ein Mann aus, der sich finanzielle Sorgen machen mußte. »Das weiß ich.« Philippe bewunderte ihre direkte Art. Sie war eine reizlose, grobknochige Frau mit einer seriös wirkenden Brille, und er spürte, daß er ihr vertrauen konnte. »Und es gibt auch keine Garantie dafür, daß bei der Suche etwas herauskommt«, ließ sie ihn wissen. »Das weiß ich auch.« Sie streckte die Hand aus. »Okay, zeigen Sie mir, was Sie haben.« Philippe reichte ihr Nicoles Foto. Sie sagte, daß es ein gutes, klares Bild sei und daß sich damit gut würde arbeiten lassen. »Wie alt war das Kind, als die Aufnahme gemacht wurde?« »Zwei Jahre.« Sie verzog das Gesicht, bedauernd, mitfühlend. »Und Sie haben das Mädchen seitdem nie mehr zu Gesicht bekommen? Das ist natürlich schlecht.« »Meine geschiedene Frau hat ihren Namen geändert, und die beiden sind verschwunden. Ich habe natürlich Detektive eingesetzt, aber ich konnte sie nicht ausfindig machen.« »Ihre Tochter weiß vielleicht gar nicht, daß Sie ihr Vater sind.« »Sie kennt wahrscheinlich ihren richtigen Namen nicht.« -315-
»Könnte sein, daß sie gar nicht gefunden werden will«, warnte die Frau. »Daran habe ich auch gedacht, aber da ist Geld in der Familie, das ihr gehört. Ich bin es ihr schuldig, daß ich immerhin den Versuch mache.« Philippe machte es nervös, daß seine erfundene Geschichte so hinterfragt wurde. Falls sich irgendwelche Diskrepanzen zeigten, war es durchaus möglich, daß die Frau das Vertrauen zu ihm verlor und ihn abwies. »Wie lange werden Sie dazu brauchen?« fragte er. »Nun, ich kann es Ihnen nicht für morgen versprechen. Im Augenblick haben wir ziemlich viel zu tun. Wissen Sie, daß in diesem Land eineinhalb Millionen Kinder pro Jahr verlorengehen? Jeder, der sich professionell darum bemüht, sie wiederaufzufinden, wird alle Hände voll zu tun haben.« Ihr entging nicht, wie seine Augen sich bei der Zahl weiteten. Ehe er etwas sagen konnte, machte sie einen Rückzieher. »Na schön, die meisten dieser Fälle klären sich natürlich selbst: Hunderttausend brennen durch, und, sagen wir, bis zu siebenhundertfünfzigtausend werden von einem Elternteil bei Auseinandersetzungen über das Sorgerecht entführt. Aber es bleiben immerhin zwischen viertausend und zwanzigtausend, die von Fremden entführt werden.« Philippe wollte wissen, wo die Zahlen herkämen. »Das nationale Zentrum für verschwundene und mißbrauchte Kinder hat sie geliefert«, antwortete sie. »Ganz kalt wird einem dabei. Das Zentrum sorgt dafür, daß die Gesichter im Fernsehen, auf Milchkartons, Einkaufstüten und so weiter auftauchen. Die sorgen dafür, daß ein solches Kinderbild aus dem Umschlag fällt, wenn Sie Ihre Stromrechnung kriegen.« -316-
Sie zeigte ihm etwas von ihrer Arbeit, Erfolge, die sie hatte verbuchen können. Einige der Fälle waren ihm aus den Medien vertraut. Am eindrucksvollsten war, wie das pummelige Baby auf ihrem Computer älter wurde, bis es ein paar Jahre später eine so genaue Abbildung des Jungen war, daß man ihn aufspürte. »Wo kann ich Sie erreichen, Mr. Brelade?« Sie erwartete eine elegante Geschäftskarte. »Ich bin auf Reisen«, sagte Philippe. »Ich werde mich in ein paar Wochen mit Ihnen in Verbindung setzen.« Er verließ das Büro der Computerkünstlerin und ging zu einem Geschäftsessen, dann zu einer Besprechung im New Yorker Büro des Hauses Devereux im Zentrum von Manhattan, und anschließend fuhr er zum Flughafen. Ein verschwundenes Kind lächelte ihn von einer Plakattafel aus an, andere waren im Flughafen auf Plakaten über dem Wartebereich zu sehen. Er setzte sich mit den erschütternden Zahlen, die er gehört hatte, auseinander. Bis zu zwanzigtausend im Jahr! Und wie viele davon waren bereits tot, und wie viele lebten noch? Und zu welcher Kategorie gehörte Nicole? Das Computerbild, das das Atelier in New York von Nicole erstellt hatte, zeigte eine junge Frau mit den unbeweglichen Gesichtszügen einer Plastikpuppe. Er hatte den Schnappschuß eines kichernden Kleinkinds geliefert und dafür dieses Surrogat bekommen, ein Geschöpf ohne jede Wärme und ohne Leben. Das Bild erinnerte ihn an niemanden, den er kannte. Es beschwor eher die Erinnerung an Polizeiplakate herauf, auf denen die Leichen von Opfern gezeigt werden. Philippe zeigte es dem Privatdetektiv. Der kleine Mann mit dem Frettchengesicht hatte in der Vergangenheit -317-
schon ein- oder zweimal für ihn Dinge erledigt, die man am besten ohne Einschaltung der Polizei aus der Welt schaffte. Philippe verließ sich auf seine Diskretion und bezahlte gut dafür. »Keine Menschenseele, nicht einmal Familienangehörige«, betonte Philippe. Der Mann schniefte und steckte das Foto ein. »Niemand wird wissen, wer mein Klient ist oder warum ich sie suche.« »Ich erwarte natürlich nicht, daß Sie sie finden.« Kaum waren die Worte heraus, hielt er sie für eine unkluge Bemerkung. Der Mann würde möglicherweise überhaupt nichts tun und bloß seine Rechnungen schicken. »Ich wollte sagen…« Vielleicht hatte man ihm in der Vergangenheit schon einmal vorgeworfen, nichts zu tun, außer Rechnungen zu schreiben, denn der Detektiv fiel ihm sofort ins Wort: »Verzeihen Sie, Monsieur Devereux, aber ich muß Sie fragen, was Sie jetzt zu dieser Aktion veranlaßt. Es wäre für mich sehr hilfreich, wenn ich wirklich über alle relevanten Informationen verfüge, ob Sie sie nun für zutreffend halten oder nicht.« Philippe verschwieg die Lösegeldforderungen, die Sache mit dem verrosteten Fahrrad in der cave und das nicht zustande gekommene Zusammentreffen in der Kirche. Mit trauriger Miene schüttelte er den Kopf. »Bedauerlicherweise ist das einzig Neue, daß es heute diese wunderbare Technik gibt, Fotos mit Hilfe eines Computers zu aktualisieren. Aber …« »Ja?« Die hellen Knopfaugen forderten mehr. »Leider gibt es nichts, was man als greifbare Information betrachten könnte. Sie müssen sich damit abfinden, daß Sie sich auf den Instinkt Ihres Klienten stützen.« -318-
»Instinkt? Auch Instinkt muß eine Grundlage haben.« »Oh, die hat er. Sie rührt noch aus meiner Unzufriedenheit über die Art und Weise, wie die ganze Angelegenheit seinerzeit behandelt wurde. Nichts wurde geklärt, verstehen Sie?« Der Detektiv verstand nicht, wenigstens nicht genau. Es hatte damals einen Mord gegeben und eine Leiche und ein Begräbnis. Er schniefte wieder. »Sie meinen, niemand ist verurteilt worden.« »Es ist ja nicht einmal jemand unter Anklage gestellt worden, nicht wegen Entführung und nicht wegen Mordes.« Er sah, wie die kleine Frettchennase sich hob, so, als hätte sie Witterung aufgenommen, und Philippe fuhr hastig fort: »Ich erwarte von Ihnen nicht, daß Sie nach dieser kleinen Ewigkeit Monate an Polizeiarbeit nachvollziehen. Wenn dieses erstaunliche Foto wirklich das Wunder bewirkt, Nicole lebend nach Hause zurückzuführen, werde ich damit mehr als zufrieden sein.« Der Detektiv gestattete sich ein verschmitztes Lächeln. »Falls dieses Wunder geschehen sollte, wäre damit ja auch sozusagen als Nebenprodukt das Geheimnis ihrer Entführung geklärt.« Das Wort Mord kam ihm nicht über die Lippen. Es zahlte sich immer aus, dem Klienten nach dem Mund zu reden. Philippe stand am Fenster und blickte dem Mann nach, als er wegfuhr. Sechs Monate, dachte er. Laß ihn sechs Monate seinem Gewerbe nachgehen, und dann mach Schluß. Wenn in dem Zeitraum jemand auftauchte, auf den das Bild paßte, würde er seine Schuldgefühle darüber begraben, daß er die Lösegeldforderungen versteckt gehalten hatte, und darangehen, Nicoles Geld freizugeben. Durch die Lücke in den Bäumen unter dem Weinberg sah er die gebeugte Gestalt seines Vaters vorübergehen, -319-
der wieder zum Friedhof unterwegs war. Maurices Hände waren leer, diesmal hatte er keine Blumen bei sich. Er nahm nicht immer welche mit, manchmal waren keine da, die man schneiden konnte. »Ich geh' spazieren, Philippe«, pflegte er zu sagen, wie um sich zu verteidigen. »Die Bewegung tut mir gut.« Es gab andere Spazierwege, angenehmere, zwischen den Bäumen oder auf der anderen Seite um den Weinberg herum, aber sein Vater zog diesen vor. »Gefühlsduselei«, murmelte Philippe am Fenster. »Rührselig und sinnlos, sich so an der Vergangenheit festzuklammern. Zum Verrücktwerden!« Er freute sich auf den Tag, wo er sich mit David verbündete und sie Maurice in der Angelegenheit überstimmten, die David flapsig als Nicoles Sparschwein bezeichnete. Nein, er würde nicht zulassen, daß David die Kontrolle darüber bekam und das Geld für irgendeinen seiner verrückten Pläne vergeudete, mit denen er die Welt retten wollte. Er hatte selbst Verwendung dafür. Zum Nutzen der Firma natürlich. Es gab da eine griechische Insel, Kios, auf der Jasmin einer ganz besonderen Duftnote wuchs. Philippe hatte die Absicht, dort Land aufzukaufen und sich für die Zukunft eine ausgezeichnete Lieferquelle zu sichern. Die traditionellen Rosen- und Jasminfelder in der Umgebung von Grasse wurden wegen der wachsenden Bautätigkeit immer kleiner, und es würde immer schwieriger werden, sich eine verläßliche Rohstoffbasis zu bewahren. Ja, er wollte Jasminfelder in Griechenland besitzen und wollte ein neues Labor. Maurice und David kannten seine Träume. Als unvernünftig konnten sie sie nicht abtun, aber sie argumentierten, daß sie zu kostspielig wären. Philippe war überzeugt, daß die Ausgabe gerechtfertigt -320-
war, weil eine Verbesserung ihrer Arbeitsmethoden und ihres Produktes die Zukunft der Firma als führendes Unternehmen in der Parfumbranche sicherstellte. Er wollte Nicoles Geld nicht für seine persönlichen Liebhabereien, so, wie Maurice Firmengeld für seinen Kunstfonds beanspruchte oder David für Umweltprojekte. Er wollte es, um das Haus Devereux zu fördern. Es war unfair, daß sie ihn dabei behinderten. Als er vom Fenster zurücktrat und Schatten auf sein Gesicht fiel, wirkte Philippe selbstgefällig. Er hatte die Dinge in Bewegung gebracht. Bald, wenn die sechs Monate um waren, würde er den Bericht des Detektivs und die aktualisierte Fotografie vor Maurice schwenken können und damit beweisen, daß die Zeit jetzt da war, das Sparschwein aufzubrechen und Jasminfelder einzukaufen. Die Erwartung, über seinen Vater einen Sieg zu erringen, entzückte ihn, endlich würde er sich einmal durchsetzen. Ein Vergnügen, das er nur selten genießen konnte. Die sechs Monate zogen sich in die Länge. Sieben. Acht. Neun. Unglücklicherweise berichtete der Detektiv von Fortschritten, was es Philippe sehr schwermachte, den Mann von seinem Auftrag abzuziehen.
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SIEBZEHN Ellie hatte Kopfschmerzen, und wenn sie ehrlich war, erhöhte Temperatur. Das reichte aus, die lange Fahrt zu dem Schloß als anstrengend zu empfinden und ihre Stimmung am vorangegangenen Abend zu erklären. Sie fand, daß Rose sich recht gut gehalten hatte. Sie hielt an, um eine Tasse Kaffee zu trinken, schluckte ein paar Schmerztabletten und musterte ihr gerötetes Gesicht im Spiegel über einem lädierten Waschbecken. Jetzt wäre ihr lieber gewesen, sie hätte die Reise verschoben. Aber sie hatte den Wagen schon gemietet und dreißig Kilometer zurückgelegt, ehe ihr richtig bewußt wurde, wie sehr ihre Gelenke schmerzten und wie sehr sie sich danach sehnte, in einem friedlichen Zimmer zu sitzen und mit nichts anderem beschäftigt zu sein, als zu dösen. Ihre Fotos von dem Gemälde waren so unscharf und so wenig hilfreich, wie sie das befürchtet hatte. Sie bewiesen lediglich, daß es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um das Bild einer schwarzgekleideten Frau handelte, die den hohen weißen Kragen trug, wie er auf Hals-Porträts meistens zu sehen war. Zum hundertsten Mal drehte sie sich nach hinten und vergewisserte sich, daß die wertvolle Lampe und ihre Batterien auf dem Rücksitz lagen. Sie hatten viel Zeit und Geld gekostet. »Wenn ich hinkomme«, murmelte sie, »werde ich besonders vorsichtig sein. Selbst, wenn ich mir noch einmal die ganze Familiengeschichte der Stehliks anhören muß, ich darf das auf keinen Fall verpatzen.« Ellie bedauerte es, allein zu sein; ein zweites Paar Hände -322-
würde beim Fotografieren nützlich sein, und falls, Wunder über Wunder, der Eigentümer des Schlosses ihr erlaubte, das Bild abzunehmen und es wegzubringen, damit es identifiziert werden konnte. Sie war enttäuscht, daß Rose nicht mitkommen konnte, und war dann auf die Idee gekommen, den Mann darum zu bitten, der sie das erste Mal zum Schloß gebracht hatte. Aber eine Frau hatte sich am Telefon gemeldet und ziemlich kurzangebunden erklärt, daß er nicht da sei. Die Reise verlief eintönig, der Tag langweilig. Der Nervenkitzel, der sie zu unruhig gemacht hatte, um von dem Schloß wegzufahren, wurde jetzt dadurch verringert, daß sie unmöglich wissen konnte, was sie wirklich entdeckt hatte. Ein altes Gemälde, ja, soviel stand fest. Ein Gemälde, das eine Frau zeigte, wahrscheinlich. Ein verschwundenes Frans-Hals-Pendant zu dem Washingtoner Mann? Es wäre unvernünftig, das jetzt schon zu glauben. Die Wirkung der Schmerztabletten fing an nachzulassen. Ellie hielt an einer Imbißstätte, kaufte sich aber dort nichts zu essen, sondern nur Kaffee, mit dem sie eine zweite Portion Tabletten hinunterspülte. In einem zersprungenen Spiegel über einem Waschbecken machte sie sich Sorgen über ihre gerötete Haut. Ihre natürliche Hellhäutigkeit verstärkte die Wirkung, die an einer Brünetten schmeichelhaft hätte sein können. Ein Paar kam in die Bar und setzte sich in ihre Nähe. Sie hatten vor, eine Firma zu kaufen; Ellie konnte nicht umhin, das mitzuhören. Die Regierung würde im neuen Jahr einige Firmen verkaufen, und die beiden versuchten ihre Chancen richtig einzuschätzen. Der Mann erinnerte seine Frau daran, daß es durchaus Probleme geben könnte, aber den Versuch war es wert. Sie stimmte ihm zu und wies ihn ihrerseits darauf hin, daß die Aussichten viel -323-
besser waren, wenn sie auf diese Weise einen Laden kauften, als wenn sie versuchten, ganz von vorn anzufangen. Ellie hätte ihnen gern noch länger zugehört, aber sie mußte weiter. Die Zeit drängte. Der Wald, der das Schloß umgab, war dunkel und tot und die Baufälligkeit des Gebäudes bedrückend. Wie hatte sie je davon träumen können, diesen Schutthaufen wiederaufzubauen? Die Worte, die sich ihr diesmal aufdrängten, waren ›Zu spät. Zu spät.‹ Anstelle eines Baugerüsts und Männern mit Kelle und Mörteltrog malte sie sich jetzt einen Bulldozer aus, der auf den alten Bau zufuhr. Die Tür öffnete sich ächzend - und dann der alte Stehlik vor ihr. Sein Raubvogelgesicht war bleich und wirkte gequält. Er kam ihr verändert vor, nicht mehr so hochmütig, aber das sah sie gar nicht gleich. Er und Ellie starrten einander an. Sie versuchte zu sprechen, brachte die Worte durcheinander, versuchte es erneut. Aber er hörte gar nicht zu, sondern schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Sie kommen zu spät.« Zu spät. ZU spät. Hysterisch bemühte Ellie sich an den Fakten festzuklammern. Was meinte er mit zu spät? Wieder setzte sie zum Reden an, aber er brachte sie zum Schweigen. »Das Gemälde ist nicht mehr da«, erklärte er. »Die haben es gestern abgeholt.« »Es abgeholt? Wer hat es abgeholt?« »Die sind aus Prag gekommen. Die meinten, daß es wichtig sei, und haben so lange auf mich eingeredet, bis ich zugestimmt habe.« »Wer?« -324-
»Sie hatten einen Lieferwagen. Sie haben mir versprochen, daß sie vorsichtig sein würden. Sie haben es auf einer Decke in den Laderaum gelegt, flach. Dafür war genügend Platz vorhanden.« »Ja, ja, aber wer waren sie?« »Die Frau hat gesagt, daß sie für die Nationalgalerie arbeitet.« Ein Hammer pochte in ihrem Schädel. »O Gott.« »Der Mann war der, der mit Ihnen hier war.« »O Gott«, stöhnte sie wieder. Sie stellte die Lampe ab, nahm nicht wahr, daß sie zur Seite kippte. Sie griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Wenn nur der Schmerz nachlassen würde, nicht nur die Kopfschmerzen, sondern vor allem der Schmerz über das, was geschehen war! Sie spürte eine Hand an ihrem Arm. Der Griff, mit dem er ihn umfaßt hielt, war fest. »Sie kommen besser mit rein. Sie sehen krank aus.« Ellie ließ sich von ihm hineinziehen. Sie murmelte etwas, daß sie Grippe hätte. Eine Stunde legte sie sich auf eine Couch in einem warmen Zimmer. Ein jüngerer Mann erschien und brachte ihr etwas Heißes zu trinken, einen Heiltrank - er schmeckte wie Salbei -, und versicherte ihr, daß der Trank ihre Temperatur senken würde. Beide Männer waren freundlich und um sie besorgt. Tränen traten ihr in die Augen und rannen über ihre geröteten Wangen. Sie fühlte sich so schwach, so hilflos! Eine Zeitlang trieben ihre Gedanken ziellos dahin. Ellie wußte nicht, ob sie schlief oder wach war. Einmal dachte sie, Sam wäre bei ihr im Zimmer und sie hätte etwas Wichtiges, was sie ihm über das Schicksal von Exil sagen -325-
mußte, aber auch dazu war sie zu schwach. Erst als es Abend wurde, fühlte sie sich etwas besser und dachte, sie sollte in ein Hotel gehen. Nach Prag zurückfahren kam nicht Frage. Aber der alte Stehlik erklärte ihr, daß Patienten sich um die Tageszeit häufig besser fühlten, obwohl sie noch keineswegs gesund waren, und deshalb sei es höchst unklug, sich jetzt zu bewegen. Sie schluckte noch einmal von dem Salbeitrank und hörte, wie die beiden Männer darüber redeten, in welches Zimmer sie sie bringen sollten. Es gab einen Bereich des Schlosses, den Ellie nicht erforscht hatte, die wenigen Räume, wo sie wohnten. Die Installation war antiquiert, aber sie funktionierte, und es gab auch elektrische Beleuchtung. Trotz ihrer schlimmsten Befürchtungen war die Matratze neu, im Gegensatz zu dem eigentlichen Bett, bei dem es sich um ein kunstvoll gearbeitetes Relikt aus einer glanzvolleren Zeit handelte. Ellie schlief bis zum Morgen durch. Das Frühstück wurde ihr auf einem Tablett gebracht. Sie war matt, hatte aber keine Schmerzen mehr und das Fieber hatte sich gelegt. Nachdem sie gegessen hatte, fühlte sie sich besser und machte sich auf die Suche nach ihren Gastgebern. »Ah, Sie sehen viel besser aus.« Der alte Stehlik stemmte sich mühsam aus seinem Sessel, als sie ins Zimmer trat. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken.« Natürlich versuchte sie es trotzdem, aber er wehrte ab und sagte, die Arbeit hätten seine Angestellten gehabt. Die Angestellten, also der jüngere Mann, wehrte ebenfalls jeglichen Dank ab. Stehlik sagte zu ihr: »Die Leute, die kamen, waren sehr hartnäckig, aber da sie Sie nicht davon informiert haben, -326-
daß sie das Gemälde wegbringen würden, bin ich jetzt beunruhigt. Meinen Sie, daß Sie es für mich ausfindig machen könnten? Ich möchte nicht, daß es verlorengeht. Es hat seit vielen Jahren in dieses Haus gehört.« Ellie erwiderte, daß sie fest entschlossen sei, es ausfindig zu machen und daß sie veranlassen wolle, daß es ihm zurückgegeben wurde. Sie gingen zur Tür. Er hob ihre Lampe auf, reichte sie ihr und sah ihr dabei zu, wie sie sie mit den Batterien und ihrem Bandmaß auf dem Rücksitz des Wagens verstaute. Einer spontanen Eingebung folgend, nahm sie die Lampe und die Batterien wieder heraus und gab sie ihm. »Für die habe ich jetzt eigentlich keine Verwendung mehr, und sonst habe ich nichts, was ich Ihnen als Zeichen meiner Dankbarkeit anbieten kann.« Als sie die Zufahrt hinunterfuhr, sah sie ihn im Rückspiegel auf der Türschwelle stehen. Er winkte ihr mit einer Hand zu und hielt mit der anderen die Lampe. »Das ist ja großartig, Rosie.« Diesmal war Larry in dem Pariser Büro voll des Lobes. Steve, sein zurückhaltender Kollege, schloß sich dem Lob an. Rose tat es mit einer Handbewegung ab. »Wir müssen das Interview noch zu Ende führen.« »Krieger wird also nicht selbst schreiben?« Larrys Gesichtsausdruck war nicht anzumerken, ob er das wirklich erhofft hatte. »Nein«, sagte sie. »Auf die Weise würde es eine Ewigkeit dauern, und der Himmel weiß, wie es sich lesen würde.« »Gut.« Larry nickte und ging zum nächsten -327-
Tagesordnungspunkt über, einer Tagesordnung, die sich mit Berichten und Verwaltungsproblemen befaßte, die noch zu lösen waren bevor die erste Ausgabe der Zeitschrift erschien. Joelle, die am Telefon festgehalten worden war, zwängte sich ins Zimmer und lehnte sich an Rose Darrows Schreibtisch. Sie flüsterte: »Hast du schon jemanden von den Devereux zu Gesicht bekommen?« »Philippe. Ich bin zum Château gefahren.« »Nun, David ist jetzt in Paris. Er hat da mit irgendeiner Aktion zu tun, die Greenworld morgen plant.« »Rosie«, sagte Larry mit erhobener Stimme und unterbrach damit ihr geflüstertes Zwiegespräch mit Joelle, »hast du noch etwas hinzuzufügen?« »Ja«, improvisierte sie, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wovon er geredet hatte. »Aber erst später.« Alle lachten, auch Larry. Dann erklärte er: »Wir sprechen von der Vatikan-Story. Hast du etwas Neues dazu in Erfahrung gebracht?« »Leider nicht. Ich weiß nur das, was wir letzte Woche von unseren Leuten in Rom bekommen haben.« Larry kündigte an, daß er sich noch einmal mit ihnen in Verbindung setzen würde. Rose schlug vor, er solle mit Patricia sprechen, die wesentlich intelligenter als ihre Kollegen sei. Larry erklärte, daß er das tun würde. Als sie dann die Konferenz verließen und zum Hauptbüro zurückkehrten, sagte Joelle zu Rose: »Ich gebe dir jetzt, was ich über diese Greenworld-Geschichte gekriegt habe.« Sie reichte ihr eine Pressemitteilung mit Plänen für eine Flotille auf der Seine. Rose lachte. »Ist ja ein seltsamer Ort für ›Rettet die Wale‹.« -328-
Aber sie ging trotzdem mit. Sie zwängte sich in die Menschenansammlung hinein und schaffte es fast bis nach vorn, als ein erregt wirkender junger Mann mit mausbraunem Haar und athletischer Figur nach einem Mikrofon griff und eine Rede über reines Wasser, ein reines Leben und einen reinen Planeten hielt. Sie wandte sich an ihren Nachbarn in der Menge, ebenfalls ein Journalist, wie es sich herausstellte. Aus dem Mundwinkel fragte sie: »Wer ist das?« Ein vernichtender Blick machte ihr klar, daß sie offensichtlich der einzige Mensch in ganz Paris war, der das nicht wußte. »Natürlich David Devereux.« Aber er erinnerte sie an jemanden. Sein eindringlicher Blick kam ihr bekannt vor. Nein, nicht sein Vater Philippe, überhaupt nicht. Da gab es keinerlei Ähnlichkeit. Und doch hatte sie irgendwie Davids Gesicht schon einmal gesehen. »Die Akte Devereux«, bat sie, als sie wieder im Büro zurück war. Joelle legte ihr die Originale hin, die Kopien hatte Rose in Prag gelassen. »Was hältst du von David, Rose?« »Ich weiß nicht genau. Er war … ich hatte eine völlig andere Vorstellung von ihm.« Sie begegnete Joelles fragendem Blick. »Nur zu, sag mir, was ich jetzt hätte antworten sollen.« Joelle kicherte. »Du hättest sagen sollen, daß er verrückt ist. Das finden alle.« »Tatsächlich?« »Ja, weil er überdreht klingt. Hat er heute eine Rede gehalten?« »Eine ganz kurze. Und die klang wirklich ein wenig -329-
überdreht.« Sie blätterte in den Zeitungsausschnitten. »Joelle?« »Hm?« »Da sind keine Fotos von David dabei.« Joelle tat so, als wäre sie eingeschnappt. »Oh, das tut mir leid. Könnte es sein, daß das daher kommt, daß er erst in letzter Zeit mit dieser Greenworld-Sache an die Öffentlichkeit gegangen ist?« »Ah ja, verstehe.« »Und vorher war er bloß der Enkel eines Mannes, der eine große Firma führte. Wer kümmerte sich also schon um ihn?« Rose legte die Akte auf Joelles Schreibtisch. »Da hast du die Unterlagen wieder.« »Warum willst du ein Foto von ihm? Um nachzusehen, ob der Typ heute ein Schwindler war?« »Du liebe Güte, deine Phantasie möchte ich haben.« »Ich weiß, ich bin ein großer Verlust für den Journalismus.« »Nun, wenn ich auch verschwinden sollte, würdest du dann berichten, daß man mich zuletzt gesehen hat, wie ich zum Pariser Büro des Hauses Devereux fuhr, wo ich ein Tête-à-tête mit David verabredet hatte?« Joelle konterte, daß es Leute gebe, die es gut hätten. »Gut? Joelle, du hast doch gesagt, daß der Typ verrückt ist.« »Jaaa, aber mega-reich und verrückt.« Davids Ausstrahlung war überwältigend. Rose spürte, wie sein Charme an ihr Wirkung tat, und wies sich zurecht. Sie war hier, um ihn zu interviewen, um etwas, irgend etwas, über die Story in Erfahrung zu bringen, die -330-
mit der Devereux-Familie angefangen und damit geendet hatte, daß John Blair getötet wurde; aber sie mußte den Vorwand aufrechterhalten, daß sie sich nur für das Profil interessierte, welches sie für das Euro-Magazin schrieb, und durfte jetzt unter gar keinen Umständen in den Bann der Persönlichkeit ihres reichen, amüsanten Gesprächspartners geraten. Zuerst Krieger und jetzt David Devereux. Was, in aller Welt, stimmte eigentlich nicht mit ihr? Ihr Geschmack schien völlig durcheinandergeraten zu sein. Sie ließ zu, daß sie Gefallen an der Gesellschaft dieser Männer hatte, wo doch kühler Professionalismus und falsche Freundlichkeit viel mehr bewirkten. Oh, sie wußte schon, was mit ihr nicht stimmte. Sie brauchte einen neuen Mann, das war es. Es war zu lang gewesen. Der Bruch mit John Blair, dann die hektische Geschäftigkeit in ihrem neuen Job, die vielen lockeren Flirts mit ihren Kollegen und Willi aus Frankfurt, aber niemand und nichts, um die Leere zu füllen, die John in ihr hinterlassen hatte. David bot ihr keinen Wein an, wie sein Vater das im Château getan hatte. Statt dessen bot er ihr Polemik und Lügen. Wie zum Beispiel die falsche Aussage, daß die Entscheidungen über die Kunstsammlung von seinem Vater Philippe getroffen wurden. Rose versuchte zu klären. »Also nicht von Ihrem Großvater?« »Nein. Er hat die Sammlung zwar begonnen, aber im Augenblick führt sie ein Direktor, der seine Anweisungen von meinem Vater bekommt.« David ließ sein schnelles, betörendes Lächeln aufblitzen. »Sie werden sicher verstehen, daß mein Engagement in der Firma und meine Bemühungen um den Schutz der Umwelt mir keine Zeit -331-
lassen, mich auch noch um die Sammlung zu kümmern.« »Was die tägliche Beschäftigung damit angeht, sicherlich. Aber wollen Sie damit sagen, daß Sie auch keine Kontrolle über die Finanzierung der Sammlung haben?« »Überhaupt keine. Es gibt einen Fonds und einen Direktor, und alle darauf zielenden Fragen sollten richtigerweise meinem Vater gestellt werden.« Rose nickte und machte sich eine Notiz auf ihren Block. Sie schrieb hin: ›Lügner‹. Als sie schließlich sein Büro verließ, hatte sie eine neue Perspektive über die Beziehungen der Familie Devereux und über die Auswirkung jener Beziehungen auf die Zukunft der Firma. Und darüber hinaus hatte sie eine Einladung zum Abendessen. »Idiotin«, schalt sie sich, als sie etwas später in einer Boutique in den Regalen wühlte. »Dein altes schwarzes Kleid reicht doch noch.« Aber sie kaufte sich trotzdem ein neues schwarzes Kleid. Joelle entdeckte die Tüte sofort, als Rose aus dem Taxi ins Büro eilte. »Hey, du gibst aber das Geld mit vollen Händen aus.« Sie hatte recht. Das Kleid war maßlos überteuert, insbesondere, wenn man bedachte, wie wenig Stoff es beanspruchte. Rose warf Joelle die Tüte hin, damit die den Inhalt bewundern konnte. Sie hörte ein ›Wau!‹ und dann ein ›Mmmm!‹. Das ›Mmmm!‹ kam von Steve, der den Hals gereckt hatte, um auch zu sehen, was im Gange war. Joelle lächelte bedeutungsvoll. »Ich muß diesen Typen auch einmal kennenlernen. Jemand, der einen dazu bringt, soviel Geld für ein Kleid auszugeben, muß wirklich etwas Besonderes an sich haben. Am Telefon klingt er ja ganz gut, aber nicht so großartig.« -332-
Roses Stirn runzelte sich. »Hat jemand für mich angerufen?« Das Schlimmste, was ihr dabei in den Sinn kam, war, daß David ihre Verabredung absagte und sie schließlich das Kleid heute abend nicht tragen würde. Joelle faltete den Hauch wieder zusammen und legte ihn in die Tüte. »Willi hat angerufen und gesagt, er wäre heute abend in Paris und hofft, daß du frei bist. Hast du den Zettel nicht gesehen, den ich dir auf den Schreibtisch gelegt habe?« Roses Gesicht versuchte sich an einigen Ausdrucksformen, ehe es sich für Verblüffung entschied. Willi zu jedem anderen Zeitpunkt war in Ordnung, aber Willi an einem Abend, wo David Devereux sie ausführen würde, war nicht in Ordnung. »Hat er eine Nummer hinterlassen?« fragte sie knapp. Er war nicht da. Sie hinterließ nun ihrerseits eine Nachricht in seinem Hotel, daß sie sich mit ihm am frühen Abend dort auf einen Drink treffen würde. Bei dem Hotel handelte es sich um die Art von Hotels, wie Geschäftsleute sie bevorzugten, was heißt, daß die Bar von Männern wimmelte, die nichts anderes zu tun hatten, als sie zu beobachten und herauszufinden, ob sie sich wirklich mit einem Bekannten treffen würde oder nur darauf hoffte, aufgegabelt zu werden. Ein oder zwei begannen ein Gespräch mit ihr, und um nur ja keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen, war sie unhöflich-frostig. Abgesehen von allem anderen - wie konnten sie so dumm sein, sich einzubilden, daß ein Flittchen, das so gutgekleidet war wie sie, sich ausgerechnet in dem Hotel herumtreiben würde, wo man doch in den besseren viel reichere Beute machen konnte? Als Willi schließlich auftauchte, bereitete Rose ihm einen stürmischen Empfang. Erleichterung, echte Freude -333-
darüber, ihn zu sehen, und ein Bedürfnis, diesen lästigen Beobachtern zu beweisen, daß sie wirklich auf einen Freund gewartet hatte, machten ihre Begrüßung zu dem wärmsten Willkomm, den sie Willi je bereitet hatte. »Rose, das Kleid steht Ihnen phantastisch!« Er löste sich aus ihren Armen und trat einen Schritt zurück, um sie zu bewundern. »Ah. Das Kleid. Nun, es bedeutet leider, daß ich zum Abendessen verabredet bin und wir nur einen Drink miteinander nehmen können, ehe ich wieder gehe.« Seine Enttäuschung war rührend. »Und ich muß morgen nach London. Die Arbeit erdrückt einen einfach, Rose. Wir kommen nie zur Ruhe, Sie und ich.« Sie lächelte zärtlich. »Das tut mir leid.« Er zog die Aufmerksamkeit des Obers an sich und bestellte. »Aber vielleicht sehe ich Sie bald in Frankfurt. Da waren Sie doch noch nie, oder?« »Nein, das ist richtig pervers, weil ich doch soviel reise. Ich muß mir einen Vorwand ausdenken, um hinzufahren.« »Und ich muß allen Versuchungen widerstehen, in Prag oder London oder Paris zu sein, wenn Sie es schaffen.« Der Hinweis auf Prag lenkte das Gespräch sofort auf Krieger. Rose berichtete Willi, was sich ereignet hatte, daß sie eine Interviewfolge begonnen hatte und beabsichtigte, den einleitenden Artikel in der ersten Ausgabe des Magazins zu bringen. »Rose, Sie zahlen ihm zuviel.« »Mag sein. Aber manchmal zahlt man für das, was man bekommt, eine Menge, und dann fällt einem plötzlich wieder etwas Wunderbares in den Schoß, das gar nichts kostet. Habe ich nicht recht?« Er verzog den Mund. »Es ist trotzdem zuviel.« -334-
Sie stichelte: »Wenn Krieger also fragt, ob er die Gespräche mit einem deutschen Verlag wiederaufnehmen sollte, soll ich ihn dann warnen, daß das Honorar beleidigend sein wird?« »Nein, Sie sollten mir Bescheid geben, dann sag ich ihm ins Gesicht, was ich für ein gemeiner Mistkerl bin.« »Versprochen.« Nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, fragte er: »Wann erwartet Sie denn Ihr Freund?« »Das ist nicht privat, ich interviewe ihn.« Willi schien darüber erfreut, und ihr war die Lüge mühelos über die Lippen gegangen. Zum zweitenmal am selben Abend mußte sie auf einen Mann warten, der sich verspätete. David rief an, um sich zu entschuldigen, aber sie fand, daß sie für den heutigen Tag eigentlich ihre Quote an gutmütigem Warten erfüllt hatte, und war verärgert. Aber als er dann endlich kam und sich, einen Ober mit wehenden Frackschößen im Schlepptau, seinen Weg zwischen den Tischen zu ihr bahnte, war sie sofort wieder vergnügt. Seine Entschuldigung war kompliziert und komisch. Sie verzieh ihm. »Diese Fernsehleute«, und dabei zog er ein Gesicht, um anzudeuten, daß sie ob ihrer Unfähigkeit alle ein schlimmes Schicksal erwartete, »die wollen, daß ich dies tue und jenes tue und dann wieder dies. Warum laß ich mich überhaupt mit denen ein, Rose? Ich sollte hier sein bei Ihnen, und die fuchteln mit den Armen und klappern mit ihren Brettern und schreien: Nehmen Sie dies und nehmen Sie das! Und ich dachte, noch ein einziges Mal, und dann laß ich die einfach stehen.« Er brachte sie zum Lachen. »Und?« -335-
»Ich hab' sie stehenlassen. Die sind immer noch dort und schreien ›Kommen Sie zurück!‹ und ›Wir sind noch nicht fertig.‹ Nun, sollen sie. Ich sage Ihnen, ich bin fertig. Ich hab' die nur um zehn Minuten gebeten, um ein paar Worte über die Demonstration auf der Seine von heute zu sagen, und das führte mich in ein stundenlanges Chaos.« Mit einem Blick holte er einen Ober herbei. Das Restaurant war eines, das seinen Stolz auf aufmerksame Bedienung und höchste Standards setzte und seine Gäste aus den Reihen der Reichen rekrutierte, die nie bemerkten, wie unsinnig seine Preise waren. David bestellte für sie beide Fisch und Champagner. Rose schaffte es, über seine Anmaßung mit keiner Wimper zu zucken. Sie war es gewöhnt, von ihren Begleitern befragt zu werden, selbst wenn sie Empfehlungen aussprachen, die sie nicht ablehnen konnte, um sie nicht zu beleidigen. Aber David war auch in diesem Punkt anders. Es wäre so einfach gewesen, sich den ganzen Abend lang über seine Geschichten zu amüsieren. Willi hatte eine sanfte, humorvolle Ader, Wärme und Lächeln. David war ungeheuer witzig. Ihre Rolle beschränkte sich einzig und allein auf das Zuhören. Plötzlich schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf. Er erinnerte sie an niemanden, sie hatte sich geirrt. Es war auch schwer, ihn als den beeindruckenden jungen Mann in Erinnerung zu behalten, der der Menschenmenge an der Seine eine flammende Ansprache über die Gefahren gehalten hatte, die den Ozeanen der Welt durch die Verschmutzung seitens einer undankbaren Menschheit drohten. Das war freilich auch das einzige Thema, über das er keine witzigen Anekdoten zum besten gab. Als sie den Punkt ansprach, brachte er es nicht fertig, die Rettung des Planeten mit Heiterkeit zu behandeln. »Selbst heute leisten die Menschen dem Ideal nur -336-
Lippendienste«, sagte er. »Regierungen, reiche Leute, Durchschnittsbürger, die nicht bereit sind, ihre Gewohnheiten wesentlich zu ändern - niemand von denen ist bereit, genug zu tun, um wirklich etwas zu verbessern. Sie wollen einfach nicht begreifen, daß das natürliche Gleichgewicht dahin ist und daß die Situation bald nicht mehr umkehrbar sein wird.« Rose leckte Sorbet von ihrem Löffel, hörte seine Worte und registrierte den plötzlichen Wandel in seinem Tonfall, den Übergang vom Alleinunterhalter zum Fanatiker. Er sprach über die Zerstörung der Regenwälder, die Schäden in der Ozonschicht und das Fischsterben wegen der Verschmutzung der Ozeane… und sie war die Zuhörerschaft, einzig und allein zu dem Zweck anwesend, ihm Beifall zu zollen. Jeder Versuch, auch nur ›Ja, aber…‹ zu sagen oder ›Das ist ja alles sehr schön, aber wie können wir…‹, führte zu einer ungeduldigen Zurechtweisung. Nur eine winzige Konzession gab es. »Rose, ich weiß, was Sie denken. Man sagt mir das oft. Wenn ich es damit ernst meine, die Zukunft unserer Welt schützen zu wollen, wie kann ich mich dann mit etwas so Belanglosem wie Parfüm beschäftigen? Nun, die Frage ist berechtigt. Die einzige Antwort, die ich daraufhabe, ist, daß der Name Devereux und die Position, die er mir in der internationalen Geschäftswelt verschafft, ein Aktivposten von ungeheurer Bedeutung ist, den ich dafür einsetze. Wenn ich mich davon lösen würde, wäre ich auch nur ein weiterer entschlossener Einzelkämpfer, der sich abmüht, sich Gehör zu verschaffen. Als Chef des Hauses Devereux kann ich garantieren, daß ich diesen Themen Aufmerksamkeit verschaffe.« »Und Geld.« »Ja, Greenworld kann ohne Geld nicht überleben. Können Sie sich vorstellen, was es kostet, Schiffe auf den -337-
Meeren zu halten, um all die Bedrohungen für die Reinheit der Ozeane unter Bewachung zu halten? Oder was es kostet, die ökologischen Forschungen durchzuführen, die wir betreiben? Das ist unvorstellbar, Rose. Aber der Wert dessen, was wir bewirken können, ist unbezahlbar. Das Geld muß aufgebracht werden. Man muß es den Leuten abluchsen, deren Gewissen es erleichtert, uns zu unterstützen. Man muß es den Regierungen abpressen, die hier und da etwas weiße Tünche brauchen. Man muß es packen, wann und wo immer wir es bekommen können.« Rose tupfte sich die Lippen ab und trank einen Schluck Champagner. »Greenworld hält sich bezüglich seiner Finanzen immer bedeckt, David. Es ist Ihnen doch sicherlich klar, daß zahllose Gerüchte darüber im Umlauf sind, wo es herkommt.« Er wartete ihre Frage nicht ab. »Dumme Gerüchte, Rose! Wir bekommen es aus Quellen, die sich auf unsere Diskretion verlassen. Sie wissen, daß das eine verrückte Welt ist. Wir müssen um Stiftungen für eine Sache von höchster Wichtigkeit betteln, während es zugleich in Frankreich Frauen gibt, die achtzigtausend Francs für ein Kleid von Chanel oder Yves St. Laurent hinblättern und dann zum Haus Devereux kommen und uns auffordern, für sie ein ganz individuelles Parfüm zu kreieren. Wir sind nicht billig: Sobald die Formel einmal fertiggestellt ist, kostet ein Liter Duft an die zwanzigtausend Francs. Für diese Frauen - oder sollte ich sagen Männer, die dann die Rechnung bezahlen scheint diese schamlose Verschwendung durchaus vernünftig. Aber bitten Sie sie um eine Spende für Greenworld, und Sie bekommen nichts.« Ein Kellner unterbrach seinen Redefluß. Als er wieder weg war, ging Rose auf Davids Bemerkung ein, daß er der Chef des Hauses Devereux sei. Aber jetzt war er wieder -338-
ganz der Spaßmacher, und es war ihr unmöglich, ihm irgend etwas Konkretes über seine Zukunft in der Familienfirma zu entlocken. Wenn David und sein Großvater beschlossen hatten, seinen Vater zu übergehen und die Kontrolle über die Firma in Davids Hände zu legen, wurde das geheimgehalten. »Den Kaffee trinken wir anderswo«, erklärte er. Damit beendete er zugleich das Gespräch und hatte einen Vorwand, ihr das Devereux-Haus im Bois de Boulogne zu zeigen. Das Haus hatte sein Urgroßvater gekauft. David zeigte ihn Rose inmitten silbergerahmter Fotografien, die auf einem Schreibtisch herumstanden. Rose suchte nach einer Familienähnlichkeit, etwas, das die Verbindung zwischen David und den anderen herstellte. Aber gewöhnlich waren es finsterblickende Männer mit langen, ernsten Gesichtern wie sein Vater. In älteren Jahren wirkten sie dann nicht mehr behäbig, sondern distinguiert. Maurice, sein Großvater, machte einen besonders distinguierten Eindruck. Aber sie bezweifelte, daß David je so aussehen würde. Sie versuchte ihn auf irgendeinem Foto zu finden. Er schien es zu ahnen. »Sie finden mich im Alter von etwa dreizehn Jahren. Später bin ich dann den Kameras möglichst ausgewichen.« »Wer ist das?« Sie kannte die Antwort. Er nahm die Fotografie und legte sie in ihre Hand. »Das ist Andrée. Sie war die Frau meines Onkels Claude, des Bruders meines Vaters. Eine Schönheit.« Er griff nach einer anderen Fotografie, diesmal einer, die Andrée mit ihrem Kind zeigte. »Das ist ihre Tochter Nicole. Man hat sie aus dem Château entführt und dann ermordet. Sie haben sicher davon gelesen.« »Ja, eine schreckliche Geschichte.« -339-
»Andrée hat sich davon nie erholt. Man hat sie in eine Klinik in der Schweiz geschickt, aber sie hat dort alle verrückt gemacht, indem sie nachts herumgeisterte und die ganze Zeit sang. Die Klinik hat sie schließlich wieder nach Hause geschickt.« »Sie war Opernsängerin, nicht wahr?« »Ich habe nicht gesagt, daß sie falsch gesungen hatte. Sie mochte offenbar Gounods Faust besonders und sang ihnen dauernd Stücke aus Margarete vor. Nett, aber trotzdem. Oh, falls Sie nicht Bescheid wissen: Margarete ist die, in die Faust sich verliebt. Sie hat ein uneheliches Kind von ihm, das von den Engeln in den Himmel getragen wird.« Er stellte das Foto wieder hin. »Nun, Andrée ist nicht in den Himmel getragen worden, wenigstens nicht von Engeln. Sie hat Selbstmord begangen und mein Onkel auch.« Rose sagte, sie hätte gehört, daß es ein Unfall gewesen sei. Er zuckte die Schultern. »Ja, natürlich, ein Unfall. Eine breite Straße, keinerlei Verkehr, und sie kommt einfach mit hoher Geschwindigkeit von der Straße ab und prallt gegen einen Baum. Die Familie glaubt nicht, daß es ein Unfall war.« Ein Bediensteter servierte ein Tablett mit Kaffee und Cognac. Als er sich zurückzog, sprach David weiter: »Andrée wollte einfach nicht akzeptieren, daß ihr Baby tot war. Man hat sie daran gehindert, die Leiche zu sehen, und demzufolge weigerte sie sich zu glauben, daß da wirklich Nicole begraben worden war.« Er schüttelte den Kopf. »Können Sie sich vorstellen, daß das alles geschehen ist, ehe ich zur Welt kam? Aber die Geschichte ist mir so vertraut, daß ich das Gefühl habe, ich hätte sie selbst erlebt. Wenn Journalisten über uns schreiben, taucht sie -340-
jedesmal wieder auf, ziemlich verstümmelt, aber immer noch im Wachsen begriffen.« »Der Fluch der Devereux?« Und, selbstkritisch: »Nun, Sie wissen ja, wie Journalisten sind.« »Haben Sie einen Journalisten aus London gekannt, der John Blair hieß?« »Sie?« Ihre Tasse zitterte, als sie sie abstellte; die Frage kam so völlig unerwartet. »Er saß da, wo Sie jetzt sitzen, Rose.« Davids Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Er hat auch über unsere Firma geschrieben, nur in seinem Fall für eine britische Zeitung.« Sie holte tief Luft. Das Gespräch drohte ihre Kräfte zu übersteigen. »Ich habe ihn zuletzt im Frühjahr gesehen. Wann war er hier?« David nannte ihr das ungefähre Datum. »Ich fürchte, er hatte seine Zeit vergeudet. Ich glaube, er hoffte, er würde hier herausfinden, daß die ganze Parfumbranche vor dem Ruin steht. Ich mußte ihm sagen, daß unser Geschäft, ob es nun absurd klingt oder nicht, blüht.« Rose wußte, daß man ihr die Verblüffung ansah und daß deshalb eine Erklärung notwendig, wenn auch unerwünscht war. Vom Cognac etwas umnebelt, sagte sie: »John ist tot, er kam bei einer Straßendemonstration in Spanien ums Leben. Es ist schwer, sich damit abzufinden.« »War er Ihr Liebhaber?« »Wir haben uns getrennt.« »Das muß es besonders schwer für Sie machen.« Sie brachte ein dünnes Lächeln zustande. Sie hatten einen Tiefpunkt erreicht, das war kein guter Abschluß für einen Abend, der insgesamt vergnügt gewesen war. Seit -341-
sie David mittags kennengelernt hatte, hatte sie sich bemüht, einen weiten Bogen um John Blairs Erkundigungen zu machen, und gehofft, dem Argwohn dadurch zu entgehen, daß sie seinen Namen nicht erwähnte. Daß ihr das jetzt so hingeworfen wurde, tat weh. Sie wollte das, was sie und John verbunden hatte, nicht mit David Devereux teilen. David beschwor sie: »Aber Sie müssen sich damit abfinden. Werden Sie nicht wie die tragische Andrée.« »Da besteht keine Gefahr, ich kann schließlich nicht singen«, erwiderte sie mit einem Anflug von Heiterkeit. Nach einer kurzen Pause sagte er bewußt geheimnisvoll: »Ich werde Ihnen verraten, was ich tun werde, wenn ich im Sattel sitze, Rose. Ich werde etwas tun, was mein Vater strikt ablehnt, etwas, von dem er sagt, daß es noch mindestens dreißig Jahre nicht getan werden darf.« Sie war froh, daß er das Thema wechselte, und hob fragend eine Augenbraue. »Ich werde diesem Unsinn ein Ende machen, Geld auf den Namen Nicole Devereux zu blockieren.« Seine Stimme klang jetzt noch dunkler. »Andrée glaubte, daß ihre Tochter eines Tages durch das Eingangsportal des Châteaus treten und ihre Erbschaft beanspruchen würde.« »Du großer Gott. Und Ihr Onkel?« »Ich nehme an, daß er dem zugestimmt hat, um Andrée nicht zu verletzen. Jedenfalls hat man es so arrangiert. Mein Großvater redet nicht gern darüber. Ich dachte, daß alte Leute gern in Erinnerungen kramen, aber er ist da sehr wählerisch und ignoriert manche Dinge. Nein, Menschen vergißt er nicht. Er geht zu den Gräbern, nach Meinung meines Vaters sogar zu oft. Aber in einem Punkt sind sie sich einig: Es würde uns Unglück bringen, wenn man Nicoles Geld anrührt.« -342-
»Aber Sie, David? Sie sind bereit, eine weitere Manifestation des Fluches der Devereux zu riskieren?« Er erwärmte sie mit einem zynischen Lächeln. »Sie lesen zuviel Zeitung, Rose. Der Fluch hat mehr mit den Journalisten zu tun als mit mir.« Das Gespräch verlief stürmisch. Maurice und David taten sich zusammen, und Philippe, attackierte. »Unmöglich!« schrie er und hieb mit der Faust krachend auf den Tisch. »Wir werden das nicht tun!«. Maurice versuchte Einwände vorzubringen, aber David kam ihm zuvor. »Wir können es nicht verhindern, aber es ist ohnehin nicht schlecht. Er muß schließlich auch seinen eigenen Namen schützen und wird sich in nichts einlassen, was dem unseren schädlich ist.« Bitter erwiderte Philippe, daß der gute Name des Hauses Devereux wohl das Allerletzte war, was der Italiener im Sinn hatte. »Wir müssen mit der Zeit gehen«, argumentierte David. »Altmodisch zu sein hat keinen Marktwert.« Maurice konnte sich nicht entscheiden, ob er weiter Widerstand leisten oder zustimmend nicken sollte; er wackelte unschlüssig mit dem Kopf. Aber Philippe wußte, was er selbst glaubte: »Unser Geschäft ist auf der Prämisse aufgebaut, daß wir einen hohen Standard bewahren, in allem, und daran festhalten. Ohne Kompromiß. Keine Diversifikation in andere Bereiche als die Produktion von ausgezeichnetem Parfüm. Du hast unrecht, David. Unser Marktsegment ist durch und durch altmodisch. In die billigeren Bereiche einzutreten, wird uns ruinieren.« Eine Pause trat ein, während Philippe gegen eine Wut -343-
ankämpfte, die sich wie Fieber auswirkte. Er hatte eisig angefangen und David und Maurice wie trotzige kleine Jungen behandelt, die etwas getan hatten, was man ihnen verboten hatte, und damit jetzt in ein Schlamassel geraten waren. Aber Philippe hatte es nicht durchhalten können. Seine Stimme war lauter geworden, und er hatte angefangen, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Das war nicht seine Art, er konnte sich nicht erinnern, daß er jemals während einer geschäftlichen Besprechung mit der Faust auf den Tisch geschlagen hatte. David flegelte sich in seinen Sessel, eine Pose, die ihm half, mit seiner inneren Spannung fertig zu werden. Er machte Philippe wütend, indem er seinen Großvater angrinste. Maurice blickte ausdruckslos. Armer Vater, dachte Philippe. Er ist für so etwas zu alt. Aber damit meinte er nicht Streitereien über geschäftliche Entscheidungen; was er meinte, war, sich überhaupt mit dem Geschäft zu befassen. Der italienische Couturier, mit dem David mit dem Segen Maurices einen Handel abgeschlossen hatte, erwies sich als arglistig und verschlagen. Es gab Dinge, die er David verschwiegen hatte, Dinge, die alles in einem ganz anderen Licht erscheinen ließen. Abgesehen von dem Parfüm, das seinen Namen tragen sollte, beabsichtigte er auch, eine Kollektion Reisegepäck und Damenunterwäsche auf den Markt zu bringen. Und was in gleichem Maße unerwünscht war - er wollte zum gleichen Zeitpunkt auch eine preisgünstigere, das heißt weniger exklusive Kleiderkollektion herausbringen. David machte eine wegwerfende Handbewegung, als er sich an Philippe wandte. »Du baust da ein Problem auf, das eigentlich gar nicht existiert. Jetzt, wo wir von den anderen Kollektionen wissen …« -344-
»Schlüpfer. Umhängetaschen.« »Ja, schon gut, schon gut. Jetzt, wo wir genau wissen, was er im Sinn hat, können wir ihn daran hindern, unseren Namen auf den Parfumflaschen zu benutzen.« Philippe wandte den Blick zum Himmel und flehte den um Geduld an. »Wie könnt ihr so naiv sein?« Damit bezog er seinen Vater mit ein. »Wie könnt ihr nur? Er wollte die ganze Zeit doch nichts anderes als das Recht, Devereux neben seinem eigenen Namen auf die Flaschen zu drucken. Das hat er gekauft, unseren Namen. Sich da herauszuwinden ist hoffnungslos.« David kam nur bis »Aber …«, ehe Philippe ihm den Vertrag über den Tisch hinschob. »Lies!« herrschte er ihn an. »Lies doch, was du freilich hättest tun sollen, ehe du uns in diese Lage gebracht hast.« Maurice erwachte aus seiner Starre und sagte: »Wir haben uns gemeinsam entschieden, Philippe. So, wie wir das immer tun.« Die Wut war jetzt außer Kontrolle geraten. Philippe fühlte die Worte auf seinen Lippen, hörte sie erst, als er sie aussprach. Wahre Worte, die verletzten. »Wir haben eine Entscheidung abgestempelt, die ihr beiden bereits getroffen hattet. Wie wir das immer tun.« Er stand auf und ging schwerfällig aus dem Raum. Niemand hatte bis jetzt je mit der Faust auf einen Tisch geschlagen. Niemand war je im Zorn aus dem Raum gegangen. Alles war falsch, unwiederbringlich falsch. Er erreichte die Tür zu seinem Büro, ehe er es sich anders überlegte, umkehrte und sich nach oben in sein Zimmer zurückzog. Sein Atem ging schnell und unregelmäßig. Er musterte sein gerötetes Gesicht im Spiegel über der Mahagonikommode. Alles brannte. Seine Haut. Sein Fleisch. Der Atem in seiner Kehle. -345-
Philippe setzte sich auf die Bettkante und wartete, bis die Erregung sich legte. So etwas war ihm bisher noch nie passiert. Er hielt sich für durch und durch fit. Nach ein, zwei Minuten ließ es nach. Er goß sich aus dem Krug auf dem Tisch ein Glas Wasser ein und saß dann am Schreibtisch, nippte und wünschte sich, das Wasser wäre kälter. Der Tag hatte mit einer beunruhigenden Nachricht begonnen. Der Detektiv hatte seinen monatlichen Bericht geschickt. Wie die anderen zuvor hatte am Anfang gestanden: ›Bedauerlicherweise hatte ich bis jetzt keinen Erfolg …‹ Aber jedesmal berichtete er über gewisse Fortschritte. Heute konnte er Philippe schreiben: ›Da ich das Foto in einer Zeitungsanzeige veröffentlicht habe, hat heute ein Mann mit mir Verbindung aufgenommen und angedeutet, die Frau zu kennen. Er ist bereit, mir Informationen über sie zu verkaufen‹. Der Detektiv schilderte einen Telefonanruf, den er bekommen hatte, ein Gespräch, in dem der Anrufer seine Identität geheimhielt, und berichtete weiter, daß für die zweite Hälfte der Woche eine Zusammenkunft verabredet worden war. Philippe hatte versucht, den Detektiv anzurufen, um über die Glaubwürdigkeit des Anrufers zu diskutieren und darüber, wieviel für seine Information, wenn überhaupt, ausgegeben werden solle. Aber die Leitung war ständig besetzt gewesen. So hatte er den Bericht im Schlafzimmer gelassen und war zu dem Gespräch mit Maurice und David hinuntergegangen. Jetzt, in seinem Zimmer, las Philippe den Bericht erneut, um sich damit von der häßlichen Szene unten abzulenken. Aber da gab es keine Nuancen, an denen man herumstochern konnte, keine Hinweise hinsichtlich des Nutzens eines Zusammentreffens mit dem Mann, der behauptete, Nicole Devereux erkannt zu haben. Philippe -346-
schob die Blätter wieder halb in den Umschlag zurück und ging ins Bad, um sich mit kaltem Wasser zu erfrischen. Als er herauskam, stand David in der Schlafzimmertür, die Hand am Türknopf. »Fühlst du dich nicht wohl, Vater?« Mürrisch erwiderte Philippe, daß alles in Ordnung sei. Er empfand ein verwirrendes Gefühl der Dankbarkeit für die Besorgnis seines Sohnes und ärgerte sich zugleich darüber. »Ich komme gleich wieder hinunter.« »Es hat keine Eile, wir können fortfahren, wann du willst.« »Ich habe dir doch gesagt, daß mir nichts fehlt.« »Wir meinen, daß du einen Arzt aufsuchen solltest.« Das irritierte Philippe, weil sie ja nur wußten, daß er die Geduld mit ihnen verloren hatte, aber sie ahnten nichts von seiner Kurzatmigkeit und von der Angst, die in ihm aufwallte. Mit Mühe vermied er eine Wiederholung seines Zornausbruchs. »Ja, das werde ich vielleicht tun. Gehen wir hinunter?« Als er die Tür hinter sich zuzog, sah er den Umschlag auf dem Tisch liegen. Er war erleichtert, als er feststellte, daß er noch so dalag, wie er ihn hingelegt hatte. Es wurde Abend, bis er den Detektiv anrief und, für den Fall, daß der Informant sich als vertrauenswürdig erweisen sollte, die Zahlung von einigen tausend Francs in Raten sanktionierte. »Er wird natürlich Bargeld wollen«, sagte der Detektiv. »Und ich werde Quittungen benötigen.« Er verschluckte ein sarkastisches ›Natürlich‹. Weil er ›natürlich‹ unmöglich wissen konnte, ob der Anrufer nur ein Phantasieprodukt des Detektivs war, ein Mittel, um Klienten zu melken. Quittungen bewiesen überhaupt -347-
nichts. Als könnte er seine Gedanken lesen, fügte der Detektiv hinzu: »Wenn Sie nicht solchen Wert auf völlige Geheimhaltung legten, könnten Sie ja mitkommen und ihn sich selbst ansehen.« »Ich werde mich auf Ihr Urteil verlassen. Rufen Sie mich sofort nach dem Gespräch an.« Aber das Gespräch fand in jener Woche nicht statt. Es wurde um eine weitere Woche verzögert, und um die Zeit befand sich Philippe Devereux bereits im Krankenhaus.
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ACHTZEHN Eine Katze krakeelte in der schmalen Gasse unter ihrer Pariser Wohnung. Rose Darrow wälzte sich im Bett herum, drehte sich wieder zurück, gab es auf und stand auf. Zuviel getrunken, zuviel nachgedacht. Eine schwere Nacht. Sie schob den Vorhang zurück und blickte hinaus. Die Katze krakeelte immer noch, war aber nicht zu sehen. Rose fröstelte, ging ins Wohnzimmer zurück und schraubte eine Flasche Mineralwasser auf; das kurze fft warnte sie, daß es bereits abgestanden war. Aber das machte ihr nichts aus, sie leerte die Flasche in ein Glas und trank. Es war genau jene Nachtzeit, in der alles viel schlimmer scheint, als es vernünftigerweise sein konnte. David Devereux war ihr entglitten. Es war ihr nicht gelungen, den richtigen Augenblick zu schaffen, um seine Verbindung mit Krieger in Prag zu erforschen, und sie hatte zugelassen, daß er sich der Frage um die Finanzen von Greenworld und seinen eigenen Beitrag drückte. Das war nicht effizient und paßte gar nicht zu ihr. Aber er hat mir John Blair hingeworfen, dachte sie und verteidigte sich damit gegen die eigenen Vorwürfe. Darauf war ich nicht vorbereitet, das hat alles verändert. Dann machte sie sich Vorwürfe, daß sie Ausreden suchte, noch dazu solche, die nicht sehr stichhaltig waren. »Nein, das mit John kam später. Irgend etwas - ich weiß auch nicht was - hat mich abgehalten. Ich hätte durchaus Gelegenheit gehabt, Krieger aufs Tapet zu bringen und ihn wegen Greenworld ein wenig unter Druck zu setzen.« Also Instinkt. Aber was würde er denn getan haben, -349-
wenn sie hartnäckig geblieben wäre? Ob er einfach weggerannt wäre und sie mit der Rechnung sitzengelassen hätte? Aber was nützte das jetzt noch? Was zählte, war, daß sie ihrem Ziel, die kniffeligen Zusammenhänge des Hauses Devereux zu begreifen, nicht näherkam. Sie schluckte das restliche Wasser und beschloß, wieder zu Bett zu gehen, alles außer ihrem Schlafbedürfnis aus ihren Gedanken zu verdrängen. Wie üblich lag ein mit Terminen vollgepackter Tag vor ihr. Eine Konferenz, an der sie eine Weile teilnehmen mußte, ein Interview mit einem Schriftsteller beim Mittagessen, eine Menge unerledigte Post, ein Zusammentreffen mit einem freien Journalisten, der ihr eine Story versprochen hatte, die man einfach nicht verpassen durfte und die ihrer Erstausgabe würdig war. Aber draußen neben der Schlafzimmertür stand ein Schrank, und auf einem der Regalbretter lag eine Kamera, die sie jetzt impulsiv herausnahm und im weichen Licht einer Stehlampe unschlüssig in der Hand hielt. Ihre Fingerspitzen strichen über die Schrammen am Gehäuse. Sie strich mit dem Daumen über die eine Kante, mit der der Apparat offensichtlich auf dem Boden aufgeprallt war. »Warum?« In dem Wort lag ihre ganze Wut, es war angefüllt mit all den Fragen über John Blair, sein Leben mit ihr und die Art und Weise, wie er gestorben war. Dann nahm sie die Notizbücher, die Fotografien, das Wenige, was für sie von ihm zurückgeblieben war. Der Zorn gewann in ihr die Oberhand über all ihre etwas durcheinander geratenen Empfindungen. Die Faszination, die sie für seine Devereux-Story empfand, wechselte von Tag zu Tag, aber ihre Wut über den Verlust und seinen sinnlosen Tod blieb. Wer auch -350-
immer in ihr Leben trat, John Blair war ein wesentlicher, unersetzlicher Teil ihrer Vergangenheit. Rose saß lange Zeit am Tisch und las seine Aufzeichnungen, starrte wichtige Wörter darin an, wie Ramirez, Gib, Tarnung und Schnee, tat dies mit einer Konzentration, die darauf hindeutete, daß sie überzeugt war, die Wörter zwingen zu können, ihre Bedeutung zu offenbaren. Und doch drang sie nicht tiefer ein als zu den vordergründigen Erkenntnissen, die sie Ellie mitgeteilt hatte: John Blairs Theorie war, daß der DevereuxKunstfonds dazu benutzt wurde, um Drogengelder zu waschen. Rose breitete die Fotografien vor sich aus. Ohne Vergrößerungsglas war das mit dem Ausschnitt aus der französischen Zeitung nicht zu entziffern, aber sie wußte von einer früheren Untersuchung, daß es sich um einen Gerichtsfall aus Marseille handelte, in dem ein kleiner Dieb namens Deschamps eine Rolle spielte. Den alten Mann, der aus dem von einem Chauffeur gesteuerten Wagen stieg und dessen Hut Schatten auf sein Gesicht warf, konnte sie nicht unterbringen. Die nackte junge Frau am Sandstrand und die beiden alten Männer in dem Straßencafe waren ihr ebenfalls fremd, Das unscharf abgebildete Gebäude befand sich ganz offensichtlich in der Stadt, in der Blair gestorben war, weil das seine letzte Aufnahme gewesen war. Das Telefon klingelte. Rose zuckte beinahe schuldbewußt zusammen, ließ es noch zweimal klingeln, ehe sie den Hörer abnahm. »Rose?« Eine Frauenstimme, undeutlich, schluchzend. »Ja. Wer sind Sie?« Ein fremdartiger Akzent, aber was für einer? »O Rose, ich muß mit Ihnen reden.« -351-
Jetzt wußte sie es. »Maria?« Ein kleines spanisches Singvögelchen, eine etwas verwahrloste Circe, die mitten in der Nacht aus London anrief, um sich an ihrer Schulter auszuweinen. Maria gab keine Antwort, sie schniefte. »Maria, sagen Sie, was ist denn?« »Da war eine Bombe …« »Ja, ich weiß. Da war ich bei Ihnen, erinnern Sie sich nicht?« »Es ist anders.« »Noch eine?« »Nein.« Rose zupfte sich mit der anderen Hand das Haar zurecht. Maria war hysterisch, Maria hatte getrunken, Maria würde diesen Unsinn wahrscheinlich stundenlang durchhalten. Rose versuchte sie zu beruhigen, sie dazu zu bringen, der Realität ins Auge zu sehen. »Warum sagen Sie mir nicht, was ich für Sie tun soll?« »Rose, Sie verstehen nicht.« Durchaus möglich, dachte Rose. Aber sie erwiderte nur: »Dann sagen Sie es noch einmal, Rose. Ich höre Ihnen zu.« »Nein, nein. Die Bombe, Rose. Sie erinnern sich an die Bombe?« »Ja!« Maria quälte sich mit ihrer Darstellung weiter, unterbrach sich immer wieder, um zu weinen und zu schluchzen. Es irritierte Rose, daß alles im Kreise herumging, daß Maria sich immer wieder darüber beklagte, daß Rose sie nicht verstehe. Aber sie wehrte sich nicht, sondern äußerte in die Stille ihres Pariser Zimmers -352-
hinein Einwände. »Rose, Sie behaupten, es hätte mit den Nachbarn zu tun.« »Oh, jetzt mal langsam. Ich habe nicht behauptet, daß Ihre Nachbarn die Bombe gelegt hätten.« »Nein, ich meine nicht … Aber Sie sagen, es sei wegen der Leute gewesen, die vor mir dort gewohnt haben. Ich meine, die vor mir hier gewohnt haben. Rose? Sind Sie noch da?« Mit einigem Widerstreben bestätigte sie, daß sie noch da war. »Und die Zeitungen, Rose, die schreiben das auch. Alle sagen, es sei wegen dieser Schauspielerin gewesen, die einen Politiker geheiratet hat.« »Das stimmt. Die Bombenleger dachten, er würde dort wohnen. Ihre Information war überholt, das ist oft so.« »Nein, nein, nein!« Marias Stimme wurde lauter, fast schrill. Ob nun betrunken oder nicht, ihre Pein und ihre Angst waren nicht zu übertönen. Rose gab sich Mühe, gegen die Panik anzukämpfen, die sie am anderen Ende der Leitung spürte. »Schauen Sie, Maria, es ist doch vorbei. Es war schlimm und unheimlich, aber diese Leute wissen, daß sie das falsche Ziel erwischt haben. Die werden Sie nicht mehr belästigen.« Rose hörte, wie Maria plötzlich hemmungslos zu schluchzen begann. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie sich so weit gefaßt hatte, um wieder reden zu können. »Rose, bitte. Sie müssen mir glauben. Die wollten mich umbringen. Die Bombe war in meinem Auto, weil es meines war.« »Wer sind sie, Maria?« Mit brüchiger Stimme stieß Maria hervor: »Das weiß ich -353-
nicht.« »Und warum sollte jemand Ihnen etwas antun wollen?« Wieder mit schriller und noch verzweifelter klingender Stimme: »Das weiß ich nicht.« Rose versuchte vernünftig mit ihr zu reden, aber Maria zog sich in die Hysterie zurück, vermengte die Bombenexplosion mit einer anderen Geschichte, in der fremde Männer sie durch London verfolgen. Als Rose versuchte, Ordnung in die Darstellung zu bekommen, hatte Maria genug. Sie schrie Rose an, daß sie kein Vertrauen zu ihr habe, und legte auf. Fünf Minuten wartete Rose neben dem Telefon, aber es klingelte nicht mehr. Dann ging sie wieder ins Bett. Unten in der Gasse kreischte die Katze immer noch. Als das letzte Schluchzen sich aus ihr herausgequält hatte, legte Maria Beethovens Fidelia auf ihren CD-Spieler, kuschelte sich auf ihrem Sofa ein, schloß die geröteten Augen und zog sich aus der Welt zurück. Sie ging durch die einzelnen Schichten, verlor ihren Sinn für Ort und Zeit, erreichte ihren Kern, wo das Leben ihr kein Leid zufügen konnte. Behagliche Wärme überflutete sie, und sie entspannte sich, und ihr Kopf füllte sich mit den aufmunternden Worten einer inneren Stimme. Sie versicherte ihr, daß niemand ihr ein Leid zufügen konnte, versprach ihr Erfolg und sagte ihr, daß sie sich von Belanglosigkeiten nicht beunruhigen zu lassen brauchte, alles würde gut werden. Die Stimme gebrauchte ihren geheimen Namen. Maria preßte die Arme an sich und sprach den geheimen Namen leise aus … Sommer. Die schwarzen Schatten von Turmfalken auf -354-
einer weiten, gelben Fläche. Maria blickte durch ein Schulzimmerfenster, die Vögel selbst sind für sie nicht sichtbar. Die Schatten bewegen sich im Kreise, die Vögel, die doch jederzeit wegfliegen könnten, werden von unsichtbaren Fäden festgehalten. Sie denkt, daß sie, wenn sie wie ein Vogel fliegen könnte, wegfliegen würde. Die Lehrerin schreit, fordert ihre Aufmerksamkeit. Die Kinder lachen sie aus. Sie ist seltsam, anders als die anderen. Sie lacht fast nie und rennt vor ihnen nach Hause, allein. Die Turmfalken kreisen über ihr, sie rennt durch die Schatten, achtet darauf, nicht auf sie zu treten. In diesem Sommer besucht sie die Ruinen auf dem Hügel. In dem Theater, das aus dem rotgoldenen Felsgestein herausgeschlagen ist, hallt ihr Flüsterton bis oben in die letzte Sitzreihe. Niemand sieht zu, wie sie über die Bühne hüpft, eine Zeile aus einem Lied flüstert und die Arme ausbreitet, um ihre Zuschauer zu umarmen. Dann läuft sie zur Hügelkuppe, zu der Stelle, wo sie nach allen Seiten in die Tiefe abfällt. Turmfalken fliegen unter ihr. Zwanzig sind es, fast zwei Dutzend, und ihre Schwingen ziehen Schatten über das Land. Sie liegt am Rande der Klippe auf dem Bauch und blickt auf ihr braungoldenes Federkleid hinunter. Ihre Arme greifen in den Raum hinaus, ihre Finger bewegen sich, und sie läßt die Turmfalken wie Puppen an unsichtbaren Fäden tanzen. Ihre Mutter tadelt sie und zieht sie zurück, um sie außer Gefahr zu bringen. »Die da hat überhaupt kein Gefühl für die Gefahr«, erregt sie sich einer Freundin gegenüber. Aber Maria macht das nichts aus. Sie hat die Freiheit gesehen und beschlossen, sich freizumachen… Fidelia erreichte seinen Höhepunkt. Stille zog in dem -355-
Zimmer in Kensington ein, und Maria schlug die Augen auf. Die Nacht war dahingezogen, Maria fühlte sich neu belebt und brauchte keinen Schlaf mehr. Sie holte ihren Schreibblock heraus, setzte sich an den Eßtisch und fing einen neuen Brief an den Mann an, der nie Antwort gab. Nach der üblichen Begrüßung und dem Ausdruck der Hoffnung, daß es ihm gutgehe, suchte sie nach Worten. Dann beugte sie sich über das Blatt, und die Gedanken sprudelten aus ihr heraus und verwandelten sich in Schrift. Ich bin eine Knospe und noch geschlossen. Die Musik macht mich frei. Ich werde eine Blume, entfalte die Blütenblätter im Rhythmus meiner eigenen Töne. Ich höre keine anderen Laute. Die Leute sagen, ich bewege sie, aber ich halte sie still und stehle meine Stärke von ihnen. Ich benutze diese Stärke, um frei zu sein. Nicht für lange Zeit: auf eine halbe Stunde, für ein Lied, für einen Augenblick der Stille, ehe ich sie freigebe. Mein Herz ist ein Vogel, meine Musik macht es frei. Sie lutschte an ihrem Füllhalter und schrieb dann weiter: Zeitungsschreiber umgarnen mich mit Worten. Sie wollen Namen für jedes Stück, wollen Lob und Kritik verteilen. Ich habe kein Interesse, Namen zu geben oder zu loben oder Schuld zuzuweisen. Künstler sind genauso - sie wollen in der Art, wie mein e Augenbraue geformt ist, in der Form meiner Nase den Ausdruck meiner Stimme ›einfangen‹. Man kann mich nicht wie einen Schmetterling mit einer Nadel auf einem Bett feststecken. Musiker auch es plagte sie, daß ich nichts über Arpeggios und Fugen weiß. Mein Gesang ist keine Anordnung von Begriffen, er ist -356-
ein Loswerden von Schmerz, ein Erblühen von Liebe. In den Clubs weiß man das. Sie warten, vergessen ihre Mahlzeit, lassen ihre Sätze unbeendet in der Luft hängen, vergessen den lieben Menschen, mit dem sie zusammen sind. Ich singe, und die Welt verändert sich. Das ist mein Geschenk an sie. Frieden. Sie zupfte an den Strähnen ihres kurzen dunklen Haares, wickelte es wie eine Locke um den Finger. Eine Weile saß sie nachdenklich da. Dann legte sie den Füllhalter beiseite und ließ den Brief unvollendet. Ihr Tag war mit vielen Dingen angefüllt. Sie trank Kaffee mit einem Mann, den sie für einen Schallplattenvertrag umschmeichelte. Das Mittagessen ließ sie aus und begab sich auf die Suche nach silbernen Ohrringen und Schuhen in ihrer winzigen Größe. Dann ging sie ins Fernsehstudio. »Maria, Liebes, könnten Sie nicht ein wenig mehr Leben hineinlegen?« Der Produzent verlangte eine Treppe, der Regisseur wollte, daß sie über die Treppe herunter auf die Bühne hüpfte. Sie ging wieder hinauf und hüpfte wieder, zum vierten Mal. »Jaaa, schön!« rief der Regisseur ein wenig widerwillig, weil er erkannt hatte, daß er es nicht besser von ihr bekommen würde. »Alles klar?« Zustimmendes Brummeln. Maria stand da und fühlte sich de trop, während über technische Details gesprochen wurde. Jemand hatte ein Problem mit einer defekten Leitung oder einer Glühbirne oder dergleichen. Sie achteten nicht auf sie, interessierten sich viel mehr für technische Dinge als für eine Sängerin, die in einer Nachmittagsshow gastierte, wie sie es ausdrückten. Maria -357-
setzte sich auf die unterste Stufe, schlang die Arme um die Knie, ließ den Kopf etwas zur Seite sinken und wartete darauf, daß das Leben wieder anfing … Winter. Regen peitscht die Küste. Wasser strömt von den Bergen, stößt Straßen und Brücken aus seinem Weg. Sie sitzt in einem Wagen, trampt mit Touristen und gibt vor, in einer Ortschaft an der Küste zu Hause zu sein. Alle Touristen haben Autos, schicke Autos, eine Menge Geld. »Verdammter Mist!« flucht der Mann am Steuer und greift sich mit der Hand an den Mund. »Die beschissene Straße ist hin.« Durch die gehetzten Scheibenwischer können alle drei die Schlammassen über einen Bergvorsprung rutschen sehen. Der Rest ist ein wüstes Durcheinander aus silbernen Umrissen und Wasser. Der andere junge Mann, er heißt Keith, sagt: »Haben wir Platz zum Wenden?« »Du machst wohl Witze?« »Nun, was sollen wir denn sonst machen?« »Woher soll ich das wissen? Das lernt man auf keiner Fahrschule.« Der Fahrer dreht sich zu Maria auf dem Rücksitz herum. »Ich dachte, du hättest gesagt, daß das schon in Ordnung sein würde.« Sie verzieht das Gesicht. Ja, das hat sie gesagt, aber in Wirklichkeit war sie noch nie auf dieser Straße gewesen. Sie kennt das Dorf, das der Riese in die Felsspalte gequetscht hat. Sie kennt das Bergdorf, in das ihre Eltern gezogen sind, als sie heranwuchs, aber sie kennt weder die Küste noch den Weg zu ihr. Als sie keine Antwort gibt, haut der Fahrer mit der Faust auf das Steuerrad und schreit: »Verdammte Scheiße! Wir -358-
kommen wegen der Sonne hierher und bleiben an einem Berg in einem Scheißsturzbach stecken. Ich werde dieses Reisebüro fertigmachen. In dem Prospekt stand davon kein Wort.« »Ja, das stimmt, aber da steht ja nie etwas«, knurrte Keith. Sie sitzen stumm und trotzig da, während die Windschutzscheibe mit ihrem Atem beschlägt und das Wasser von einem neben ihnen aufragenden Felsen gischtend auf ihre Motorhaube herunterkracht. Auf der anderen Seite ist nichts, Hunderte von Fuß nichts als Abgrund. »Soll ich zurückfahren?« fragte Keith. »Du machst wohl Witze? Wie willst du das denn anstellen? Du kannst ja hinten nichts sehen, dort ist's ja noch schlimmer.« »Yeah, schon recht, aber hinten ist noch Straße, und das kann man von vorn nicht behaupten.« »Nun, dann paß auf, daß du uns nicht über die Scheißklippe jagst, okay?« Keith rennt um den Wagen herum und steigt auf der Fahrertür wieder ein. Der Fahrer kniet neben Maria auf dem Rücksitz und sagt, daß er Keith lenken will. Beide sind patschnaß. Maria zwängt sich in die Ecke, um nicht auch naß zu werden. Jedesmal, wenn er den Kopf herumdreht, um Keith zu warnen, spritzt Wasser aus seinem Haar auf ihr dunkles Kleid. Sie schieben sich um eine Haaresbreite, diskutierend darüber, ob der Platz zum Wenden ausreicht, und entscheiden, daß das nicht der Fall ist. »Ein Stück weiter hinten geht es besser«, sagte Keith. Er machte seine Sache gut und hat keine Angst. -359-
»Yeah, meinetwegen. Aber paß auf, was auf der Straße ist, Felsbrocken und Schlamm und so.« Er dirigiert Keith millimeterweise zwischen dem Geröll und dem Abgrund nach hinten. Seine Hand streicht dabei immer wieder über Marias Schenkel, die Wärme, die von ihr ausgeht, dringt durch den dünnen Stoff ihres Rocks. Sie kann nicht wegrutschen, und so hebt er seine Hand. Sie fährt unter ihren Rock, streicht über ihre Haut und wandert bei jedem Mal weiter. Sie preßt die Schenkel zusammen, müht sich ab, seine Hand wegzuschieben. Er redet die ganze Zeit mit Keith, als würde überhaupt nichts geschehen, als würde bloß ein Wagen über einen zum Teil abgerutschten Bergsims balancieren, während Wind und Regen sich verschworen haben, es in den Abgrund zu fegen. Seine Hand ist rauh, seine kurzen Nägel sind ausgefranst, und seine Haut ist schwielig. Seine Hand kratzt über ihre zarte Glätte, tastet sich immer weiter, schiebt ihre Beine auseinander. Sie preßt sie wieder zusammen, will nachgeben, will es nicht, aber seine Hand ist zwischen ihren Schenkeln, knetet, arbeitet sich immer weiter nach oben. Der Wagen rutscht, verliert im Schlamm den Halt. Ein Rad dreht durch, dann schwingt die vordere Partie über den Abgrund. Die Hand packt Marias Fleisch, Nägel graben sich ein. »Herrgott!« schimpft Keith. Und dann, bemüht, die Schuld anderswo loszuwerden: »Paßt du auf oder ich oder was?« »Das ist der Schlamm. Ich hab' doch gesagt, daß da Schlamm ist. Fahr langsamer und reiß nicht am Steuer.« Der Griff um Marias Schenkel lockert sich, die Nägel hören auf zu bohren, aber er schiebt sich weiter zwischen -360-
ihre Beine. Keith murmelt etwas Unverständliches und setzt ein Stück zurück. Maria leistet Widerstand, kämpft gegen das Gefühl an, daß sie keinen Widerstand leisten will, spürt, wie die Hand sie an der Innenseite des linken Schenkels kneift. Zuerst erträgt sie es, und das veranlaßt ihn dazu, fester zuzupacken, bis sie schließlich nachgibt und zuläßt, daß er ihre Beine auseinanderschiebt. Seine Finger sind jetzt im Schritt ihres Schlüpfers, und dann schieben sie sich darunter, gleiten in ihre feuchte Wärme. Sie lehnt sich in die Sitzecke zurück, die Augen geschlossen, den Kopf abgewandt, als würde sie auf den Regen blicken, der über die Scheibe strömt. Er redet die ganze Zeit mit Keith. Sie spürt, wie die Finger in ihrem Haar herumsuchen, ihr zartes rosa Fleisch auseinanderschieben, den Weg zu der Hitze in ihr entdecken. Er stößt lieblos in sie hinein. Die ausgefransten Nägel verletzen sie, senden einen dünnen Schmerz aus, den sie genießt. Sie lehnt sich in die Ecke und läßt ihn gewähren. Er sieht sie nicht an, seine Augen sind auf die Straße gerichtet, und er redet mit Keith. Hinter der Biegung finden sie Schutz vor dem Wind. Der Regen scheint jetzt auch schwächer geworden zu sein, er peitscht nicht mehr. Die Männer kommen zu dem Entschluß, daß sie jetzt genügend Platz haben, um den Wagen zu wenden und wieder den Berg hinaufzufahren. Der, der an ihr herumgefummelt hat, lehnt sich jetzt auf die Rücklehne des Beifahrersitzes und bespricht alles mit Keith. Sie haben aufgehört, sie um Rat oder nach dem Weg zu fragen. Was sie ihnen vorher gesagt hat, war falsch gewesen. Maria zieht den Rock herunter, um ihre Beine zu bedecken. Ihr Schlüpfer fühlt sich unangenehm an, naß -361-
und verschoben, aber sie wird ihn nicht hochziehen, solange Keith zu ihr herübersieht. Als sie den Beschluß gefaßt haben, umzukehren, stellt sich der andere Mann hinaus, um Keith zu dirigieren. Maria steigt ebenfalls aus. »So ist's gut!« schreit Keith, um sich in dem tosenden Wetter Gehör zu verschaffen. »Stell dich dorthin, Maria, und paß auf, daß ich nicht zu nahe da rankomme.« Damit meint er eine Stelle, wo die Straße eingesackt ist. Sie geht ein paar Schritte zurück. Er muß den Wagen zuerst in die andere Richtung steuern, und während die beiden Männer damit beschäftigt sind, beginnt sie den langen, mühseligen Marsch den Hügel hinunter zur Küste. Sie braucht zwei Tage dazu. Am zweiten Tag entdeckt sie eine Frau in einer finca, die ein Ausländer zu seinem Feriendomizil gemacht hat. Die Frau, eine Haushälterin, ist im Garten und sieht sich den Schaden an, den die Stürme angerichtet haben. Sie gibt Maria zu essen, läßt sie duschen und veranlaßt dann, daß ihr Sohn sie den restlichen Weg bis in die Ortschaft fährt. Maria hat zum zweitenmal Glück: Am selben Tag überredet sie den Besitzer einer englischen Bar, sie dort als Sängerin auftreten zu lassen. Um die Stelle zu bekommen, fügt sie ihrem Alter ein paar Jahre hinzu und behauptet, schon früher in einer Bar in einer anderen Ortschaft gearbeitet zu haben. Der Besitzer zeigt ihr ein Zimmer, in dem sie schlafen kann, bis sie selbst etwas gefunden hat. Ihr Gesang ist schrecklich, und sie ist sich darüber klar, daß sie die Stelle verlieren wird. Sie macht Pläne, weiterzuziehen… In dem Fernsehstudio in London war die Glühbirne jetzt ausgetauscht oder die Leitung repariert worden und die Crew bereit, weiterzumachen. -362-
»Maria, Liebes, können wir das Stück noch einmal aufnehmen, wo du mit der Band einen Witz machst?« Der Regisseur wußte, daß der Produzent es gern hatte, wenn ›Gäste‹ irgend etwas Spaßiges beitrugen, obwohl der Regisseur nicht sicher war, was als spaßig galt. Er schob sich seine altmodische Brille zurecht und strahlte aufmunternd. »Diese Bemerkung über die kalte Stelle des Drummers wäre vielleicht nett.« Maria erhob sich von der untersten Treppenstufe und lächelte zurück. Sie rezitierte die Bemerkung, um zu beweisen, daß sie sie sich gemerkt hatte. »Na klasse, Liebes. Könntest du jetzt dort hinübergehen? Ja, nach links und… genau, so ist's gut. Bleib da stehen. Ausgezeichnet. Jetzt komm hierher und sag es. Okay? Okay alle?« Der Unsinn zog sich fast durch den ganzen Nachmittag. Maria posierte und versuchte eine jämmerliche Witzelei wie einen spontanen Geistesblitz klingen zu lassen. Sie sang nicht, sondern machte nur die Mundbewegungen zur Aufzeichnung eines ihrer Lieder. Das ganze Erlebnis war völlig losgelöst von der Realität, und doch war es die Realität der Welt, die sie sich wünschte. Sie hatte viel über armselige Witze gelacht und einem Mann mit einer altmodischen Brille geschmeichelt, um in die Show zu kommen. Vom Fernsehstudio ging sie nach Hause. Die Unordnung, die die Bombe angerichtet hatte, war beseitigt, aber die Gartenmauer war noch nicht wieder aufgebaut und der ausgerissene Strauch nicht ersetzt worden. Sie schloß ihre Wohnung auf und stand dann mit dem Rücken zur Tür und aufmerksam lauschend da. Den ganzen Tag hatte sie das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden, und jedesmal, wenn sie nach Hause kam, argwöhnte sie, daß jemand dort auf sie lauerte. -363-
Das Ticken der Uhr. Sonst nichts. Maria ging ins Wohnzimmer, schlüpfte aus ihren Schuhen und setzte sich an den Eßtisch. Sie schrieb noch ein paar abschließende Zeilen an ihrem Brief und unterschrieb ihn mit ihrem geheimen Namen. Das ging jetzt seit Jahren so mit diesen Briefen. Als sie in Barcelona war, hatte ihr eine Freundin von ihm erzählt. Er war einer von Hunderten in einem Gefängnis in Marokko, saß dort aus politischen Gründen, die für die Freundin und deshalb auch für Maria rätselhaft waren. »Wenn du Liedertexte schreiben kannst, Maria, dann bin ich sicher, daß du auch Briefe schreiben kannst.« Die Frau hatte ihr eine Adresse und eine Beschreibung von ihm gegeben, ein verschmiertes Foto, das Jahre vor seiner Verhaftung aufgenommen worden war. »Die können nicht zurückschreiben, weißt du«, hatte sie außerdem lächelnd hinzugefügt, als Maria ihre Zusage gemacht hatte. »Du mußt das als eine Art Rettungsleine sehen.« Diese Rettungsleine spannte sich jetzt über Jahre, und es gab tatsächlich keine Antwort. Sie schrieb ihm aus Barcelona und aus London, stand Schlange, um Briefmarken zu kaufen, und schickte ihre Botschaften in die Leere seines Schweigens. Niemand sagte ihr, wie er lebte oder wann er starb. Da ihr die Briefmarken ausgegangen waren, brachte sie den Brief an dem Tag nicht zur Post. Sie ließ ihn auf dem Tisch liegen, den Umschlag daneben, und fuhr mit dem Taxi in den Club. Es herrschte kaum Verkehr auf den Straßen, und deshalb kam sie zu früh. Bevor sie ihr Makeup auflegte oder ihr Kleid aus dem Schrank holte, schrieb sie einen Vers für ein neues Lied. Mein Herz ist ein Vogel. -364-
Wenn ich singe, fliegt es. Meine Seele schwebt. Wo sind die Worte, Die meine Freude verkünden? Dann legte sie den Block beiseite und machte die Schranktür auf.
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NEUNZEHN Als Rose Darrow Ramirez' Büro in Marbella betrat, fiel ihr als erstes John Blairs Laptop-Computer auf. Ramirez hatte behauptet, er habe ihn nie zu Gesicht bekommen, ja, er hatte sogar in Abrede gestellt, je irgendeinen Kontakt zu John Blair gehabt zu haben. »Sehr hübsch«, bemerkte Rose, trat an das Gerät und strich mit der Hand darüber. »Ein Freund von mir hat genau den gleichen gehabt.« Ihr Sarkasmus blieb ihm nicht verborgen. Ramirez feuchtete sich mit der Zungenspitze die Unterlippe an. »Hören Sie«, sagte er mit der gleichen Nervosität in der Stimme, wie sie schon die Geste ausdrückte, »ich weiß nicht, was Sie wollen, aber…« Sie fiel ihm ins Wort und herrschte ihn an: »Doch, das wissen Sie.« Sie deutete mit ausgestrecktem Finger auf den Computer. »Den da will ich, und die Wahrheit will ich.« Er vollführte eines jener unnachahmlichen südländischen Achselzucken und kommentierte damit ihre Unverfrorenheit, so etwas von ihm zu fordern. Sie ließ nicht locker. »Ich habe Sie am Telefon nach John Blair und seinem Computer befragt.« Er war noch nicht bereit, nachzugeben. »Eine unbekannte Frauenstimme am Telefon? Woher sollte ich denn wissen, ob Sie wirklich die waren, die Sie zu sein behaupteten?« Schwach, aber wenn sie auf seine Hilfe Wert legte, mußte sie ihm einen Ausweg offenlassen. »Nun, jetzt wissen Sie es, lassen Sie uns noch einmal von vorn -366-
anfangen.« Ramirez war mehr oder weniger das, was sie erwartet hatte: jung, anmaßend, eitel, ehrgeizig. Falls er sich als schwierig erweisen sollte, konnte sie ihm die Chance auf freie Mitarbeit an ihrem Euromagazin vor der Nase baumeln lassen. Er erwies sich als schwierig, und sie ließ baumeln. Die Schwierigkeit ergab sich, weil er streng zwischen Informationen unterschied, die er als John Blairs Sache betrachtete und daher bereit war, ihr zugänglich zu machen, und solchen, die er selbst aufgespürt hatte und die er ihr nicht zu überlassen bereit war. »Das klingt mir langsam wie eine Story, die wir gern kaufen würden«, sagte sie. Das war nicht der Fall, aber schließlich hatte er auch kein faires Spiel mit ihr getrieben. Ramirez fiel nicht darauf herein, vielleicht war er schon in der Vergangenheit von ausländischen Journalisten hintergangen worden. Es bedurfte einiger Überredung, bis ihm schließlich klar war, daß er sie nicht abschütteln konnte. Aber anstatt Einzelheiten seiner eigenen Arbeit preiszugeben, ließ er sich zu der John-Blair-Affäre zurückführen. »Er tauchte eines Tages hier auf«, gab er zu. »Er ist genauso zur Tür hereingekommen wie Sie gerade. Ein Journalist in Madrid hatte ihm meinen Namen genannt. Er sah müde aus. Er war eine lange Strecke gefahren. Wir gingen ein Bier trinken, und dann sagte er mir, was er wollte. Jeder weiß über unser Rauschgiftproblem Bescheid - britische Banden, die Haschisch aus Marokko ins Land bringen, um es nach London weiterzuleiten, südamerikanische Kokaindealer, türkische Heroinbanden… John Blair hatte die Hoffnung, eine Verbindung zu einer großen französischen Firma herzustellen, drückte sich aber -367-
nicht klar darüber aus, um welche Art von Rauschgift es sich handelte. Er glaubte, die Franzosen würden ihre Gewinne über Gibraltar waschen und eine dortige Firma als Fassade benutzen. Nun, falls das der Fall ist, wird das recht schwer zu beweisen sein, das Bankgeheimnis auf dem Felsen ist sehr streng. Er bat mich, für ihn Kontakte in der Drogenszene herzustellen.« »Haben Sie solche Kontakte?« »Selbstverständlich. Ich habe einiges über Rauschgift geschrieben, das hat ihm der Journalist in Madrid gesagt. Aber über die französische Verbindung, die er suchte, weiß ich nichts.« »Geben Sie mir die Namen, die Sie John gegeben haben.« Das lehnte Ramirez ab. »Er hat nicht mit ihnen gesprochen.« »Mir haben Sie auch einmal gesagt, daß er nicht mit Ihnen gesprochen hätte. Die Namen bitte.« Er nannte ihr zwei. »Aber er hat keine Verbindung aufgenommen. Einer lag im Krankenhaus, der andere war geschäftlich unterwegs.« Diesmal neigte sie dazu, ihm zu glauben, weil die Namen in John Blairs Notizen nicht auftauchten. Aber sie forderte mehr: »Adressen? Telefonnummern?« Ramirez gab sie ihr. Rose notierte und blickte verblüfft auf, als sie die zweite Adresse bekam. Es war eine kleine Ortschaft im Landesinneren. Völlig unbedeutend. Der Ort, an dem man John Blair niedergeschossen hatte. »So, das wäre das.« Sie klappte ihr Notizbuch zu. »Nehmen wir Ihren Wagen oder meinen?« Er war entsetzt. »Hey, langsam! Ich habe zu tun.« »Und ich werde Sie anständig dafür bezahlen.« -368-
»Rose, ich kann unmöglich mit Ihnen durch diese Straßen gehen.« »Angst, angeschossen zu werden? Oder vielleicht Angst, daß es Ihren Kontakten in der Rauschgiftszene nicht paßt, daß Sie mir behilflich sind? Beides vielleicht?« »Ich will nicht…« Sein Gesicht verriet ihr den Rest, und deshalb führte sie den Satz für ihn zu Ende. »...da hineingezogen werden? Senor Ramirez, Sie sind da bereits hineingezogen worden. Wie lange brauchen wir, um hinzukommen?« Die Küstenstraße durch die architektonische Katastrophe der Costa del Sol war wie gewöhnlich überfüllt und gefährlich. Schwabbelige Nordeuropäer hingen auf Barhockern und beobachteten den vorübergehenden Verkehr. Ladenangestellte rissen Schaufensterdekorationen heraus und ersetzten sie durch neue mit denselben Produkten zu höheren Preisen. Die Restaurants paßten sich der Inflation an, indem sie die Preise hinaufsetzten, und wunderten sich darüber, daß immer mehr Gäste ausblieben. Überall herrschte rege Geschäftigkeit. Jahrelang hatte diese Geschäftigkeit darin bestanden, die Ausländer zu melken, und jetzt, wo der Geldregen langsam versiegte, fragten sich alle, warum das so war. Sie hielt an einer Verkehrsampel an. Eine Herde alter Leute mit Birmingham-Akzent trottete über die Straße. Winter in der Sonne für Pensionisten. Billige Seniorenurlaube. Sie konnten die Anzeigen förmlich vor sich sehen, die sie angelockt hatten. Plötzlich fragte sie: »Was für Orte hat John denn an der Küste besucht?« Ramirez ließ sich nicht davon ablenken, die Verrenkungen einer geschmeidigen jungen -369-
Schaufensterdekorateurin zu bewundern. »Er war hier in Marbella. Er kam in mein Büro.« »Aber hat er gesagt, daß er am Strand gewesen war?« »Nein. Ich sagte Ihnen doch, er kam herein und war von einer langen Fahrt müde.« »Und sie sind miteinander in eine Bar gegangen.« »In der Nähe des Büros, nicht am Strand.« Die Ampel schaltete um, und Rose fuhr weiter. Sie bemühte sich, sich in Johns Gedankenvorgänge zu versetzen, herauszufinden, wie er die Recherche angepackt hatte. War er wirklich geradewegs zu Ramirez' Büro gefahren? War es nicht viel wahrscheinlicher, daß er angehalten hatte, und wenn es nur gewesen wäre, um sich zu orientieren, vielleicht nach der Richtung zu fragen? Also gut, möglicherweise hatte er Ramirez den Eindruck vermittelt, daß er ohne Pause gefahren war, aber das hieß noch nicht, daß das stimmte. Wahrscheinlich tat es das gar nicht. John war nicht der Mensch, der anderen mehr als unbedingt nötig anvertraute. Wenn Ramirez auf die falsche Idee gekommen war, hatte er ihn möglicherweise nicht korrigiert. Und wenn John Blair in bezug auf das, was er Ramirez wissen ließ, vorsichtig war, dann sollte sie das auch sein. Sie entschied sich, ihm das Foto nicht zu zeigen und ihn auch nicht nach dem Strand zu fragen, an dem es aufgenommen worden war. Statt dessen parkte sie in der Nähe von ein paar Ladengeschäften und ließ ihn im Wagen warten, während sie einem Mann in einem Zeitungsladen das Bild unter die Nase hielt. »Si, San Pedro«, plapperte er, und sein vom Nikotin gebräunter Finger deutete auf die Dächersilhouette, den Hügel dahinter und dann nach San Pedro. Rose kaufte sich ein Exemplar des El Pais und ging zu -370-
Ramirez zurück. San Pedro de Alcantara lag ein Stück vor ihnen an der Küstenstraße. Unterwegs redeten sie über den Fremdenverkehr und Rauschgift, darüber, wie unwahrscheinlich es war, daß es eine Verbindung zwischen einem französischen Parfumhersteller und Rauschgift gab, darüber, daß John Blair von der Existenz einer solchen Verbindung trotzdem überzeugt gewesen war, und schließlich über Ramirez' Verblüffung über diese Ansicht. Immer wieder bewegte sich ihr Gespräch in denselben Bahnen, ohne daß sie oder er mehr preisgaben, als sie bereits zu wissen zugegeben hatten. »Ich brauche Benzin, ehe wir ins Landesinnere fahren«, sagte sie und bog an der nächsten Ausfahrt nach San Pedro ein. Ramirez seufzte. »Das ist eine weite Strecke, Rose. Warum machen Sie die Reise nicht an einem anderen Tag?« Aber das wagte sie nicht. Sie wollte nicht, daß er sein Interesse verlor oder Telefongespräche führte, um Leute zu warnen, daß sie unterwegs war. Sie hatte den Vorteil der Überraschung für sich genutzt und wollte ihn nicht aus den Augen verlieren. Das Ganze war ein komplizierter Drahtseilakt, indem sie gleichzeitig versuchte, ihn mit ihrer festen Entschlossenheit zu beeindrucken, die Stadt im Landesinnern aufzusuchen, und zugleich herauszubekommen, was John Blair an der Küste getan hatte. Als der Tank gefüllt war, überraschte sie Ramirez aufs neue, indem sie gestand: »Ich habe das Gefühl, daß er hierhergekommen ist.« »Nach San Pedro? Nein, ich bin sicher, daß er nicht hier war.« Sie fuhr aufs Meer zu, spürte seine Verwunderung. »Es -371-
dauert nur einen Augenblick«, meinte sie. »Ich will nur einen Blick auf den Strand werfen.« Diesmal folgte er ihr, als sie den Wagen verließ. Sie hielt nach dem Gebäude Ausschau, das ihr der Zeitungshändler auf dem Foto gezeigt hatte, und als sie es so vor Augen hatte, daß sie wie auf dem Foto aussah, blieb sie stehen und schaute sich um. Ein Berg, der sich hinter einer Stadt mit roten Dächern erhebt, ein geschwungenes Strandpanorama, wenn auch jetzt im November keine nackte Frau hier ein Sonnenbad nahm. Ein paar Meter hin oder her stand sie jetzt an der Stelle, wo John Blair sein Foto aufgenommen hatte. Es gab hier kein Café, es war also keine Aufnahme, die er in einem Augenblick der Langeweile zwischen zwei Schluck Kaffee gemacht hatte. Vielmehr schien es, daß er ganz bewußt zu dieser Stelle gegangen war und die Kamera gehoben hatte. Hinter ihr sagte Ramirez: »Sehen Sie, Rose? Hier ist nichts. Wenn die Sonne scheint, gibt es eine Menge Leute ohne Kleider, aber heute sind keine da.« Sie begannen die lange Fahrt in die Berge. Vorbei an den Villen von Ausländern mit den roten Warzen von Alarmanlagen, vorbei an rötlichem Felsgestein, auf dem spärliches Grün wuchs, immer weiter nach oben und weg von englischen Pubs und englischen Prostituierten, die ihre Dienste auf den hintersten Seiten des Sur anpriesen. Die Straße, auf der sie fuhr, war eine sich windende Schlange. Einmal forderte Ramirez sie auf, anzuhalten, um zu sehen, wie der graue Arm der Felsküste von Gibraltar nach Afrika hinübertastete, wie die häßlichen Hotelkästen sich zu einem einzigen Häuserbrei von hundert Kilometern Länge vermengten, wie schnell und wie hoch sie gestiegen waren, um diesem unechten Spanien des -372-
Küstenstreifens zu entkommen. Weiter oben hielt sie noch einmal an, weil sie sehen wollte, wo die Säulen des Herkules den Himmel trugen. Sie dachte dabei ebenso an uralte Mythen wie solche aus der Moderne. Ramirez sagte: »Das ist Marokko. Das Rifgebirge. Die bauen dort Haschisch an. Der größte Teil der Drogen, die auf den Straßen Englands verkauft werden, kommt aus jenen Bergen. Sie schmuggeln es auf Motorbooten über die Meerenge und verstecken die Boote in Yachthäfen wie Estepona und Puerta Banus. Anschließend wird das Zeug mit Lastwagenladungen von Obst und Gemüse nach Norden transportiert.« »Haben Sie über all das mit John Blair gesprochen?« »Ich sagte Ihnen doch, ich konnte ihm nicht helfen. Ich bin nie auf etwas gestoßen, das irgendeinen Hinweis auf das gibt, was er hören wollte.« Rose ließ den Motor wieder an und fuhr in die wilde Leere der serrania. Ramirez machte gelegentlich eine Bemerkung und ließ immer wieder durchblicken, wie sehr ihm dieser Weg doch widerstrebte. Rose hörte nur halb hin. In ihrem Kopf lief eine ganz andere Diskussion ab. Sie wog ab, wie groß die Chance war, daß es sich bei dem Foto um den zufälligen Schnappschuß einer hübschen jungen Frau handelte oder ob sie in Wirklichkeit in Verbindung zu der Drogen-Devereux-Recherche gestanden hatte. Konnte es sein, daß sie ein Rauschgiftkurier war? Flüchtig malte sie sich John Blair aus, wie er über die geistigen Strapazen lachte, die sie in den Fall investierte. Was hatte es schon zu besagen, wie die Frau war oder weshalb er sie fotografiert hatte? Rose merkte, daß ihr eine Frage entgangen war. Ramirez wartete auf Antwort. Sie schaltete zurück, als die Straße steiler wurde, und gab zu: »Ich habe gerade nicht -373-
aufgepaßt, bitte, versuchen Sie es noch einmal.« »Ich sagte, was haben Sie eigentlich vor, wenn wir ankommen? Sie weihen mich nicht in Ihre Pläne ein, Rose. Wie kann ich Ihnen behilflich sein, wenn ich die Pläne nicht kenne?« Diese Sorge hatte er bisher nicht gezeigt. Rose bezweifelte auch, daß er sonderlich darauf erpicht war, ihr zu helfen, vermutlich wollte er nur Ärger aus dem Wege gehen. »Ich denke«, begann sie langsam, ohne genau zu wissen, wo der Satz hinführen würde, »wir sollten uns die beiden Männer ansehen, von denen Sie sagen, daß John sie nicht getroffen hat.« »Nein, das hat er nicht. Aber ich weiß nicht, wo sie sind, das könnte ein furchtloses Unterfangen sein.« So etwas gehört zum täglichen Brot von Journalisten, dachte sie. Aber das sagte sie nicht, sondern: »Das glaube ich nicht. Ich habe das Gefühl, daß mir zur Zeit einiges gelingt. Ich bin ganz sicher, daß es klappen wird.« »Das hat John…« Sie ließ die Stille anhalten. Nach einer Weile murmelte sie: »Ich frage ich, wann er aufgehört hat zu glauben, Glück zu haben.« Neben ihr wandte Ramirez den Kopf ab und starrte über die endlosen Weiten der kargen Bergwelt. In der Ferne reichte ein gelblicher Himmel bis zur Erde herunter. Man konnte Wolken sehen, die auch Berge hätten sein können, und Berge, die Wolken hätten sein können. Eine Landschaft zum Träumen, eine Landschaft für Phantasien über ein Leben ohne Grenzen. Hoch über dem Alltag, losgelöst von den kleinlichen Einschränkungen des Lebens befreite diese Landschaft den Geist. Ja, ein herrlicher Ort für Tagträume, wenn man nicht von Unruhe gequält -374-
wurde. Rose bemerkte, wie seine Schultern nach vorn einsackten, als ob er keine Kontrolle über sie hätte. Sie kamen spät in das belanglose Städtchen, in der kurzen Ruhepause zwischen Ladenschluß und den Stunden, wo die Leute zum paseo auf die Straßen strömten. Es war wie in jeder anderen andalusischen Stadt auch: der Geruch von warmem Olivenöl und Petroleumdünste, Geranien, die über die Fenstersimse wucherten, Hunde, die im Schatten dösten, ziellose Bautätigkeit, anarchistische Parkgewohnheiten, Verkäuferinnen, die wie Filmstars herausgeputzt waren, und junge Männer, die nur an schnellen Motorrädern Interesse hatten. Rose trat aus dem Schatten einer schmalen Gasse. Die Sonne fiel schräg über einen staubigen Platz, auf der gegenüberliegenden Seite ragte ein Gebäude in den Himmel. Und ihre Ohren waren voll eingebildeter Geräusche, ihre Augen erfanden ein Menschengewimmel, und dicht vor ihr stieß eine Gestalt einen Mann, der gerade ein Foto machte, am Ellbogen an, die Kamera fuhr in die Höhe, das Stakkato von Gewehrschüssen hallte von den Gebäudefassaden, und der Fotograf stürzte, Menschen traten die Kamera über das Pflaster, während sie vor den Schüssen flohen. Als sie alle weg waren, lag eine Gestalt im Staub. Rose strich sich mit der Hand über die Augen, schluckte, tat so, als würde sie in ihrer Handtasche nach ihrer Sonnenbrille suchen. Aber als ihr Blick zum Boden wanderte, suchte er instinktiv Blutflecken, irgendwelche Hinweise auf das, was hier vorgefallen war. Hier zu sein war erschütternd. Es jagte ihr Angst ob ihrer eigenen Sterblichkeit ein und machte Sinn aus dem, was bei der Zeremonie in Highgate unbegreiflich gewesen war: John Blair war tot. -375-
Ramirez tippte sie am Arm an. Sie zuckte zusammen. Aber sie versuchte gar nicht, die Tiefe ihrer Gefühle einzuschätzen, er blickte vielmehr schräg über den Marktplatz. »Die Bar dort drüben ist die beste am Ort. Wir könnten einen Schluck vertragen.« Sie versuchte ihm zu antworten, aber ihre Stimme wollte sich nicht einstellen. Kurz darauf saß sie nahe an einem Fenster der Bar, hatte einen guten Ausblick auf den Platz und nippte an ihrem Brandy. Als Ramirez im Hintergrund verschwand, um zu telefonieren, sah Rose sich die Fotografie der Frau am Strand an. Eine nackte junge Frau auf einem Handtuch neben einer Strandtasche. Eine Straße. Ein Berg. Alles belanglos wie eine Fliege an der Wand, niemand auf dem Foto achtete auf den Fotografen, wahrscheinlich hatte gar niemand gemerkt, daß er da war. Die Augen der Frau waren geschlossen, und die drei Gestalten auf der Straße ignorierten sie, waren ganz auf das konzentriert, was sie taten. Vielleicht der Trick eines Pressefotografen? Indem er so tat, als würde er sich auf ein Motiv konzentrieren, hatte er einen Schnappschuß von einem anderen gestohlen. Rose ging mit der Fotografie auf die Straße hinaus, wo das Licht besser war, und studierte die Gestalten, die im Hintergrund auf der Straße hin und her gingen. Und dann begriff sie. Ramirez war an ihrem Tisch, beobachtete sie. Sie warf das Foto vor ihn hin. »John hat es aufgenommen, Paco.« »In San Pedro. Deshalb sind wir hingefahren.« »Ich konnte einfach nicht glauben, daß er sich während eines Auftrags die Zeit genommen hat, eine Frau beim Sonnenbad zu fotografieren.« -376-
»Vielleicht hat er sie gekannt.« Rose schüttelte ungeduldig den Kopf. »Erkennen Sie jemanden von den Leuten?« Sie beobachtete ihn scharf, während er die Gestalten musterte, ehe er den Kopf schüttelte. Dann sagte er: »Er ist sofort, nachdem er mein Büro verlassen hatte, hierher gefahren. Wenn er diese Aufnahme gemacht hat, dann bevor wir uns das erstemal sahen.« Sie verwahrte es in ihrer Handtasche und überlegte: »Angenommen, er hat auf dem Weg hierher in San Pedro haltgemacht, so, wie wir das getan haben.« Aber er ließ sich nicht abbringen. »Nein, er ist auf direktem Wege gekommen.« »Ich verstehe.« Rose' Miene verzog sich. »Warum haben Sie mir das nicht schon vorher gesagt? Am Telefon, vor Wochen? Oder heute, als ich darauf bestand, hierher zu fahren?« Er winkte dem Kellner, daß er ihm ein weiteres Bier bringen solle. »Ist das denn wichtig?« Sie hatte Mühe, ihren Ärger unter Kontrolle zu halten. »Weil Sie, da Sie ihn ja hierher gebracht haben, auch wissen, was mit ihm passiert ist. Sie waren mit ihm zusammen, oder?« Sie meinte, als er getötet wurde. Ramirez verstand. »Schauen Sie, Rose, es war schwierig…« »Schwierig? Er ist getötet worden. Erschossen. Dort drüben. Da, schauen Sie hin! Einen Meter vor dem Bürgersteig, genau vor diesem rosa Gebäude. Das ist doch die Stelle, oder? Das ist die Stelle, wo mein Freund erschossen wurde. Und das einzige, was Sie dazu sagen können, ist, daß es schwierig war.« -377-
Er zog sich vor ihrer Wut zurück, kroch regelrecht in seinen Stuhl hinein und versuchte gleichzeitig, sie mit hektischen Handbewegungen zu beruhigen. »Nein, nein. Das dürfen Sie nicht sagen, Rose. Es war gefährlich. Das ist das Wort, nach dem ich gesucht habe. Gefährlich.« Der Rest ihrer Wut entlud sich in einem Seufzer. Sie genierte sich ein wenig, daß sie wegen eines falsch gebrauchten Wortes so über ihn hergefallen war. Es ging hier nicht um die Qualität seiner englischen Sprachkenntnisse, es ging um das Maß seiner Doppelzüngigkeit. Sie machte einen weiteren Versuch, diesmal ruhiger. »Nicht das Wort ist wichtig, nur, daß Sie mich in die Irre geführt haben. Sie haben mich, seit ich sie aus London angerufen habe, als man mir Johns Sachen schickte, mit Halbwahrheiten behindert. Mir geholfen und doch nicht geholfen.« Jetzt hatte sie ihn beleidigt. Ihr sinnloser Ausbruch hatte das Klima zwischen ihnen verändert, und ihre gemessene Kritik trug nichts dazu bei, es wieder zu bessern. Mit kleinen Schritten hatte sie seine Kooperation aufgebaut, jedenfalls seine Mitwirkung, und jetzt hatte sie alles kaputtgemacht. Wie dumm, wie ungeschickt, aber dies hier war auch keine normale Recherche. Wahrscheinlich war es nicht einmal Journalismus. Ihr persönliches Engagement schloß Objektivität aus. Der Schmerz ging zu tief. Paco Ramirez schob das Kinn vor, jetzt ganz stolzer, selbstbewußter spanischer caballero, und sah an ihr vorbei durchs Fenster. Der Schatten teilte den Platz in zwei Hälften, die nähergelegene Hälfte war stumpf, die andere leuchtete. Sol y sombra. Leute gingen herum, ein paar Autos fuhren hindurch, Spatzen pickten zwischen den Tischen nach Krumen, bis eine Katze auftauchte. Rose -378-
wollte etwas sagen, um alles zu reparieren, fand aber nicht die richtigen Worte. Sie beschloß, es ihm zu überlassen, die Fäden wiederaufzunehmen. Er starrte immer noch nach draußen. Sie tat so, als würde sie es nicht merken. Eigentlich ist es lächerlich, dachte Rose, den Tag mit einem beleidigten jungen Mann in einer Bar auslaufen zu lassen. Wir sollten jetzt draußen sein und den Hinweisen nachgehen, die uns in diese Stadt gezogen haben. Sie fragte sich, wie lange er dies noch würde aufrecht halten können. Er tippte sie am Arm an und flüsterte: »Der Wagen.« Rose beugte sich näher zu ihm, den Blick auf einen großen schwarzen Wagen gerichtet, und lauschte auf das, was er ihr vertraulich zuhauchte. Sie hatte sich getäuscht, hatte stumme Konzentration mit mürrischer Lustlosigkeit verwechselt. Er sagte: »Das ist einer der Männer, mit denen John Blair sich zu treffen hoffte. Er war geschäftlich unterwegs. John hatte ihn nie zu Gesicht bekommen, das versichere ich Ihnen.« Ein kleiner, gedrungener Mann mühte sich aus dem Wagen. Grauhaarig, im vorgerückten Alter, schwarz gekleidet, sah er aus, wie wohlhabende Geschäftsleute in jeder südeuropäischen Stadt aussehen. Ein Stützpfeiler der Kirche, vielleicht ein Bürgermeister, jedenfalls wohlhabend und ehrenwert. Aber Antonio Lopez' Geschäft waren Drogen. Lopez ging in ein Haus. Sobald er verschwunden war, strahlte Ramirez Rose an. »Ich dachte, daß wir ihn vielleicht zu Gesicht bekämen, wenn wir hier warten.« »Lebt er dort?« »Nein, aber seine Mutter. Er besucht sie, und dann fährt er den Berg hinauf zu seinem Haus.« -379-
»Wir könnten ihm folgen.« »Wir würden nichts sehen. Dort gibt es Sicherheitstore und Hunde, die um das Haus streifen.« »Nun, dann will ich mir jedenfalls den Wagen genauer ansehen. Kennen Sie die Nummer?« »Nein.« Er blieb sitzen, während sie an dem Wagen vorbeischlenderte und so tat, als würde sie in ihrer Handtasche nach etwas suchen, ehe sie wieder in die Bar zurückkehrte. Er grinste, als sie sich wieder zu ihm setzte. »Das war wirklich gut, Rose. Sie haben wie eine Frau ausgesehen, die etwas vergessen hat.« »So sollte es auch aussehen.« Sie schrieb sich die Zulassungsnummer des Wagens auf und fügte ein paar Notizen hinzu. Dann fragte sie: »Paco, weshalb sind Sie so sicher, daß Lopez an dem Tag unterwegs war, an dem John getötet wurde?« »Das hat die Firma der Presse gegenüber erklärt. Er ist einer der Inhaber der Fabrik, die bestreikt wurde und deren streikende Arbeiter in der Stadt soviel Unruhe erzeugt haben. Es ist eine ganz legale Firma, die Fassade für das, womit er das große Geld macht. Die Büros sind dort vorn rechts. Die Streikenden waren davor aufgezogen und hatten politische Aktivisten aus der ganzen Region im Hintergrund. Sie müssen sich vorstellen, daß da ein paar hundert Leute auf dem Platz waren.« »Aber Senor Lopez war allem Anschein nach nicht da. Wo war er?« Schulterzucken. »Die Streikenden haben verlangt, daß er zu ihnen kommen solle, und man hat ihnen gesagt, daß er nicht da sei.« -380-
Sie wechselte die Richtung. »Waren Sie die ganze Zeit mit John zusammen?« »Nein, wir haben uns getrennt. Als die Schüsse fielen, rannte ich in ein Café. Wir hatten vorher verabredet, daß wir uns dort treffen würden, sobald wir fertig waren.« Er zögerte, weiterzureden. Ruhig bat sie ihn: »Ich muß es wissen.« »Alle in dem Café waren sehr erregt. Die Schüsse hörten auf, aber die Gerüchte wuchsen und wuchsen, die Leute erfanden alles mögliche. Ich beschloß hinauszugehen. Es herrschte großes Durcheinander und viel Geschrei, aber da war nichts, was auf Tote oder Verletzte deutete. Ich nahm an, die Polizei hätte in die Luft geschossen und das behaupteten sie später auch.« »Wo war er?« »Die hatten ihn weggetragen. Ich kam um einen Lieferwagen herum, und da lag er auf dem Boden. Drei oder vier Leute machten sich an ihm zu schaffen. Viel Blut, er war offensichtlich tot.« Eine etwas verlegene Pause, und dann platzte es aus ihm heraus, als wolle er sich verteidigen: »Schauen Sie, Rose, ich konnte doch nichts machen.« »Sie haben ihn verlassen.« »Ich hätte doch nichts tun können.« Ein oder zwei Minuten lang saßen sie da, ohne zu reden. Sie war zu benommen, um einen Gedanken fassen zu können. Dann fragte sie: »Sie haben nie geglaubt, daß es die Polizei war, oder?« »Nein.« »Aber wer dann?« Er deutete mit einer Kopf bewegung auf den großen schwarzen Wagen draußen auf dem Platz. »Ich habe den -381-
Verdacht, daß man ihn gewarnt hatte, John könnte Fragen stellen.« »Aber…« Sie sprach den Satz nicht aus, obwohl die Erklärung nicht ganz stichhaltig war. Man wußte allgemein, daß Lopez mit Rauschgifthandel zu tun hatte. Weshalb sollte es diesen Mann also beunruhigen, falls irgendein Journalist davon erfuhr? Etwas verwirrt und unbefriedigt fing sie noch einmal von vorn an. »Paco, sind Sie absolut sicher, daß es John nicht gelungen ist, eine Verbindung zwischen den Devereux und Rauschgift herzustellen?« »Völlig sicher. Eine der letzten Bemerkungen, die er mir gegenüber machte, war, daß er das Gefühl hatte, seine Zeit zu vergeuden.« Sie ließ nicht locker. »Augenblick. Er hat doch gesagt, er hätte das Gefühl, eine Glückssträhne zu haben.« »Das hat er auch gesagt, aber das war unterwegs. Als er hierher kam und die Demonstration sah, hat er es sich anders überlegt. Er sagte: ›Das gefällt mir aber gar nicht. So will ich das nicht haben. Ich habe das Gefühl, meine Zeit zu vergeuden.‹« Sie verließen die Bar und gingen über den Platz. Ramirez zeigte ihr die Stelle, wo man die Leiche gefunden hatte, ein paar Meter rechts von der Stelle, wo sie kalkuliert hatte, daß die letzte Aufnahme gemacht worden war. Ihre Fragen prasselten wie Maschinengewehrfeuer auf ihn ein: »Was geschah unmittelbar vor den Schüssen? Wer waren die Leute in seiner Nähe? Haben Sie die Polizei schießen sehen? Wo standen die Beamten? Wie kamen Sie an die Kamera?« Er beantwortete die letzte zuerst. »Die Kamera? Er hatte den Riemen noch um sein Handgelenk. Ich habe ihn -382-
aufgehakt. Seine anderen Sachen lagen alle in meinem Wagen, und ich wußte, daß, wenn ich die Kamera nicht nahm, jemand sie stehlen würde.« »Und dennoch haben Sie den Film nicht entwickeln lassen.« »Nein, aber er sagte, er hätte einen neuen Film eingelegt, und wir hatten unterwegs nicht angehalten, also wußte ich, daß er bis zur Ankunft hier nichts fotografiert hatte.« Rose schloß daraus, daß Paco Ramirez sich für einen Journalisten viel zu sehr auf Annahmen stützte. Zum Beispiel war er ohne weiteres bereit gewesen zu glauben, daß der Firmensprecher die Wahrheit gesagt hatte, als er ableugnete, daß Lopez in der Stadt sei. Sie griff eine ihrer früheren Fragen wieder auf. »Die Schüsse. Was geschah davor?« Seine Schilderung war lebhaft und plastisch. Streikende, die mit Spruchbändern vor den Büros der Firma vorüberzogen. Gruppen von politischen Sympathisanten, die Sprechchöre anführten. Hitzköpfe, die sie mit ihren eigenen Forderungen und Drohungen übertönten. Polizei, die herumstampfte und an ihren Waffen herumfingerte. Und Gesichter, die sich an die Fenster in den Obergeschossen der Büros preßten. Rose unterbrach ihn: »Aber nicht Lopez? Dessen sind Sie sicher?« »Absolut. Ich hätte ihn ja sofort erkannt. Nein, dort oben war eine Frau mit Lopez' Bruder, dem die andere Hälfte der Firma gehört.« »Handelt der auch mit Rauschgift?« »Es wäre seltsam, wenn es nicht so wäre, aber es gibt keine Beweise. Der Bruder hat das Fenster geöffnet und ist dann auf diesen Balkon getreten. An dem Punkt fielen die Schüsse. Er rannte natürlich sofort wieder hinein. Aber -383-
verlangen Sie jetzt keine Einzelheiten über das, was anschließend geschah, Rose, denn ich rannte wie der Teufel zu diesem Café.« Ohne etwas darauf zu erwidern, nahm sie Kurs auf das Café, und Ramirez trottete hinter ihr her. Er legte ein paar schnelle Schritte ein und holte auf. »Rose, ich weiß nicht, was Sie dort vorzufinden erwarten…« Sie waren jetzt vor dem Gebäude, wo die Streikenden sich zusammengeschart hatten; sie kamen an der Stelle vorbei, wo Ramirez sagte, daß er die Leiche gefunden hatte; sie waren an der Stelle, wo John Blair erschossen wurde. Vor ihnen war das Café, ein wenig einladendes Lokal mit einer Fensterfront zum Platz. Rose blieb unmittelbar vor dem Eingang stehen. Tische waren hinter dem Fenster aufgereiht. Wenn das Wetter schön war, überfluteten sie den Bürgersteig. Sie fragte: »War es warm an dem Tag der Demonstration?« »Warm?« Er runzelte die Stirn über die Absurdität ihrer Frage. Südspanien. Herbst. Natürlich war es warm gewesen. »Standen die Tische draußen auf dem Bürgersteig?« »Daran erinnere ich mich nicht. Ist das wichtig?« »Ich versuche mir ein Bild von allem zu machen.« Sie wollte nachvollziehen, was er aus dem Inneren des Lokals gesehen hatte. Er half ihr dabei, das Ganze in ein Bild zusammenzufügen. »Als ich die Schüsse hörte, war ich dort drüben und diskutierte mit ein paar Streikenden.« »Von wo, glauben Sie, wurden die Schüsse abgegeben?« Er deutete in eine Richtung. »Dort war die Polizei. Wie Sie sehen, befand ich mich zwischen ihnen und den Demonstranten. Die Polizei hielt sich im Hintergrund, wenigstens die meisten von ihnen. Es gab eine Art Korridor, der sie und die Demonstranten trennte, und eine -384-
Menge anderer Leute - Journalisten und gewöhnliche Passanten - waren in jenem Korridor.« Er erinnerte sich, daß etwa ein Dutzend Schüsse gefallen seien. Er hatte Polizei nach vorn rennen sehen, mit den Waffen in der Hand. »Ich war zwischen ihnen und dem Ziel, das war kein guter Standort.« »Nein, ich denke, da wäre ich auch weggerannt.« Und außerdem, dachte ich, konnte er vom Inneren des Cafés aus auch nicht sehen, wo John Blair stürzte; und ebensowenig konnte er beobachten, wie die Leiche zu der Stelle getragen wurde, wo er sie später fand. Soweit sie seinem Bericht vertrauen konnte, sagte er also die Wahrheit. Auf der anderen Seite des Platzes öffnete sich eine Tür. Ein Mann in einem dunklen Jackett stieg in einen schwarzen Wagen und fuhr weg. Ramirez machte sie darauf aufmerksam, aber Rose weigerte sich, Lopez zu dem Haus mit den Wachhunden und dem Sicherheitstor zu folgen; sie zog es vor, mit der Polizei zu sprechen. »Schon gut«, fügte sie hinzu, »Sie brauchen nicht mitzukommen.« Er wirkte erleichtert. Die Angst verschwand aus seinen Augen. »Sie brauchen denen auch nicht zu sagen, daß ich hier bin.« Sie ließ ihn in einer Bar zurück, während sie einen Polizeibeamten aufsuchte, von dem Ramirez annahm, daß er vielleicht bereit sein würde, etwas auszusagen. Rose log dem Mann vor, daß sie ein Profil John Blairs schriebe, weil er ein bekannter britischer Journalist gewesen war, und behauptete, unbedingt Einzelheiten über seinen Tod erfahren zu müssen. Wenn man jemanden für das Reden bezahlte, bestand immer das Risiko, daß das Bargeld die Aussage -385-
beeinflußte. Aber die Darstellung des Mannes paßte in allen wichtigen Punkten genau zu der von Ramirez: Er beschrieb eine ähnliche Szene, ein Dutzend Schüsse und die Entdeckung der Leiche. »Es war notwendig, in die Luft zu schießen«, meinte er, »weil die Demonstranten sich weigerten, wegzugehen.« Sie vermied es, diese Taktik in Frage zu stellen, aus Sorge, ihn damit gegen sich einzunehmen, wollte aber wissen, was die Demonstranten getan hätten, das solche Maßnahmen erforderlich machte. »Nicht die Streikenden«, korrigierte er sie. »Die politischen Elemente, die sich dem Streik angeschlossen hatten. Die haben den Ärger bereitet. Wir hatten Informationen, daß sie beabsichtigten, den Protest der Streikenden auszuweiten. Es bestand die Gefahr eines Aufruhrs.« »Waren einige von ihnen bewaffnet?« »Ich kann nur für mich sprechen, aber ich habe keine Waffen gesehen. Ein Beamter glaubt, er habe gesehen, wie ein Mann in der Menge eine Waffe hob.« »Kann er ihn beschreiben?« »O ja, ein dunkelhaariger Mann in einem dunklen Jackett. Durchschnittliche Größe, durchschnittlich dies und durchschnittlich das. Was ist das schon für eine Beschreibung?« Rose stimmte ihm mit einem müden Lächeln zu und erkundigte sich nach den Ermittlungen der Polizei. Sie waren bei weitem noch nicht abgeschlossen, aber sie gewann den Eindruck, daß sie im Sande verlaufen würden. Die Polizei wollte selbst die Verantwortung nicht übernehmen, hatte aber keinerlei Beweise dafür, daß sonst jemand geschossen hatte. Die Kugel stammte aus einer Waffe von dem Typ, wie die Polizei ihn benutzte. -386-
Sorgfältig darauf bedacht, keine Kritik zu üben, ließ sie die naheliegende Frage offen, ob man die tödliche Kugel mit denen verglichen hatte, die abgefeuert worden waren. Jeder Lauf hinterläßt unverwechselbare Spuren, und man kann Geschosse individuellen Waffen zuordnen. Der Beamte blickte betrübt. »Ein Querschläger, ein äußerst bedauerliches Vorkommnis, aber …«Er schloß mit einem Achselzucken, das unterstrich, daß jeder Journalist, der sich in das Durcheinander öffentlicher Unruhen begibt, gewisse Risiken eingeht. »Wir haben äußerst gründliche Ermittlungen durchgeführt«, betonte er, obwohl sie bezweifelte, daß das Wort gründlich das richtige war. »Niemand hat Senor Blair fallen sehen, niemand hat gesehen, wie auf ihn ein Schuß abgegeben wurde.« Soviel zur Polizeiarbeit. Blieb noch die Pathologie. So unangenehm ihr das auch war, bat Rose darum, den Bericht des Pathologen zu sehen. Wenn man Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist, erwartet man, daß jede Einzelheit, die Krankheit oder Tod betrifft, veröffentlicht wird. Wenn man ein öffentliches Leben in anderen Ländern führt, nimmt man ein gewisses Maß öffentlicher Neugierde in Kauf. Und wer auf gewaltsame Art zu Tode gekommen ist, hat seit Menschengedenken das Recht auf die Privatsphäre aufgegeben. Schon immer hat man Leichen zur Schau gestellt, damit die Wunden inspiziert werden konnten: Die Römer stellten Julius Cäsar zur Schau, und ein Arzt verkündete, daß nur eine seiner dreiundzwanzig Stichwunden tödlich war. Auf der einen Seite glaubte Rose nicht, daß ihr Wunsch vernünftig war, auf der anderen war sie fest entschlossen, die Stadt nicht zu verlassen, ohne sich Zugang zu den Untersuchungsergebnissen des Pathologen verschafft zu -387-
haben. Binnen einer Stunde hielt sie ein entsprechendes Dokument in der Hand. Manche Leute glauben, daß erschossen zu werden ein sauberer Tod ist. Das rührt von jenen alten Wildwestfilmen, jenen Fernsehthrillers, wo es zwar viele Leichen gibt, aber keine die Agonie zersplitterter Knochen oder zerfetzten Fleisches zeigt. Die Kennedy-Geschichte hätte diesen Zeitgenossen Aufschluß über die vergleichsweise Größe von Einschußund Austrittswunden vermitteln sollen, darüber, wie eine Kugel einen menschlichen Körper zurichtet. Trotzdem glaubten die Leute immer noch, daß es eine saubere Sache ist, erschossen zu werden. Die Kugel, die John Blair getötet hatte, war kein Querschläger gewesen. Sie hatte ihn direkt getroffen und war aus kurzer Distanz auf ihn abgefeuert worden.
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ZWANZIG »Das ist spaßig«, sagte Joelle, ohne sich bewußt zu sein, daß sie laut gesprochen hatte. »Was denn?« fragte Rose Darrow nicht sonderlich interessiert, weil ihre Gedanken sich mit Krieger beschäftigten. Er hatte ja gesagt, jetzt aber lehnte er jedes Datum, das sie für die Fortführung ihrer Gespräche vorschlug ab. »Das da.« Joelle hielt ihr eine deutsche Zeitschrift hin. »Die ist ja Monate alt. Hast du das gesehen?« Joelle warf ihr einen mitleidigen Blick zu. »Ich weiß. Das ist ja auch kein Wunder, wo ich mir doch die alten Ausgaben durchsehe, um einen Artikel zu suchen, den Steve noch einmal lesen möchte.« »Und?« »Dieses Bild. Ich glaube, das habe ich neulich gesehen.« Rose ging zu ihr hinüber und nahm sich vor, die Störung nicht übelzunehmen. Joelle war ein quietschvergnügliches Faktotum, eine Rarität und ein Schatz zugleich. Was machte es also schon, wenn sie einem einmal auf die Nerven ging? Rose beugte sich über Joelles Schulter und blickte auf die Fotografie einer jungen Frau. »Wer ist sie?« fragte die Überschrift. Es war eine Anzeige. »Wer ist sie?« Joelle übersetzte auch die Zeilen unter dem Bild. »Wenn Sie glauben, daß Sie sie erkennen, dann rufen sie bitte diese Nummer an.« »Glaubst du, daß du sie kennst? Ruf die Nummer an, vielleicht ist eine Belohnung ausgesetzt.«
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»Nein, ich glaube nicht, daß ich sie persönlich kenne, ich glaube nur, daß ich neulich ihr Foto gesehen habe. Wenn nicht ein identisches Bild, dann eines, das dem hier doch sehr ähnelt.« »Junge Frau mit leerem Blick und langen, schwarzen, gelockten Haaren. Eine halbe Generation sieht so aus. Sie ist einfach ein Typ, das ist alles.« Joelle verzog ihr Koboldgesicht, und man sah ihr an, daß sie nachdachte. »Das wird mich verrückt machen, bis es mir schließlich einfällt.« Rose war wieder an ihrem Schreibtisch zurück, als Joelle plötzlich einen Schrei ausstieß. »Ich hab's! Die, die ich gesehen habe, hatte kurzgestuftes Haar.« Sie fing an, in einem Stapel Zeitungen auf einem Regalbrett zu wühlen. »Genau, das ist es! Schau! Siehst du die Ähnlichkeit nicht?« Sie war vor Erregung kaum zu bändigen und gierte nach Roses Antwort, schob ihr die Zeitschrift und die Zeitung hin und forderte ihre Zustimmung. »Oh, du mußt es doch sehen!« Rose sah es nicht, konnte sich nicht einmal soweit konzentrieren, um eine Ähnlichkeit festzustellen. Alles, was sie sah, war ein sehr vertrautes Gesicht, das sie aus dem Auslandsteil des Paris Soir ansah. »Joelle, gib mir das bitte rüber.« Ihr Tonfall wischte Joelles Erregung weg. »Was ist denn, Rose? Was ist denn?« Und dann: »O Gott, du kennst sie doch nicht etwa, oder?« Joelle legte die Zeitung vor Rose auf den Schreibtisch. Rose hielt sich die Hand über den Mund. Ein Bild über eine ganze Spaltenbreite, ein Gesicht in einer ausländischen Zeitung, ein paar Zeilen, die eine Tragödie zusammenfaßten, und eine Überschrift, die diese Tragödie -390-
noch weiter herunterdestillierte: »Sängerin stirbt bei Bombenexplosion in London.« »Du warst in Spanien«, erinnerte Joelle mit leiser Stimme. »Deshalb hast du es nicht mitgekriegt.« Rose hatte endlich ihre Gefühle wieder unter Kontrolle. »Ich habe sie nicht besonders gut gekannt, wir sind uns nur ein paarmal begegnet.« »Es ist immer ein Schock, wenn jemand stirbt, den man kennt, ganz besonders, wenn es ein junger Mensch ist.« Rose schloß die Augen. Die Bilder, die vor ihrem inneren Auge vorbeizogen, waren ganz lebendig, Bilder einer Nebenstraße in Kensington und einer Bombenexplosion, die ein geparktes Auto demolierte und einen Strauch entwurzelte. Bilder von Maria, einem Überlebenstyp, wie sie sich ihren Weg über das ganze Durcheinander zu ihrer Tür bahnte, ohne sich von der Polizei aufhalten zu lassen. Jetzt hörte Rose auch die Geräusche wieder: Marias schrilles Heulen, bis Rose sie ins Gesicht schlug und so zum Schweigen brachte; singend aus den Tiefen einer bis zum Rand mit Traurigkeit erfüllten Seele, hysterisch bei dem nächtlichen Anruf in Paris. Marias Worte drängten sich in ihr Bewußtsein, übertönten das, was Joelle sagte, und die Antwort, die Rose darauf gab: »Sie versuchen mich umzubringen. Sie versuchen mich umzubringen.« Rose dränge die Worte zurück, konzentrierte sich auf Joelle und die Fotografien, die nebeneinander auf dem Schreibtisch lagen. Mit einer knappen Geste ihrer gepflegten Hand forderte Joelle Rose auf, sie zu vergleichen. »Du darfst nicht auf das Haar achten«, instruierte sie Joelle. »Wenn du das kannst, dann sind die beiden sich ziemlich ähnlich.« Nicht ähnlich genug, nicht für Rose. Es gab da mehr als -391-
nur eine Frisur, die man übersehen mußte. Marias Foto war das Werk eines geschickten Publicityfotografen, sie trug Make-up und ein süßes Lächeln. Das andere Bild war unheimlich. Rose erschreckte Joelle, indem sie sagte: »Ich glaube, diese Frau ist tot. Das sieht nicht wie eine echte Fotografie eines lebenden Menschen aus. Schau dir doch die Augen an.« Joelles Theorie war am Zerbröckeln. Wie konnte das vor einiger Zeit in Deutschland gedruckte Foto das Bild einer Leiche sein, wenn die abgebildete Person noch vor einer Woche gelebt hatte? Sie versuchte noch etwas zu retten. »Nun, vielleicht zeigt es eine Schwester.« »Maria hatte keine Schwester.« Und dann entzog sie sich weiterer Diskussion, indem sie Joelle vorschlug, die in der Anzeige erwähnte Telefonnummer anzurufen. »Sag doch, du hättest eine Ähnlichkeit entdeckt, und frag nach, ob sie die Frau schon identifiziert haben.« Ohne auf das Ergebnis des Anrufs zu warten schickte Rose ein Fax an Freunde in London und bat um Einzelheiten über den Mord an Maria. Wenig später redete sie mit Mike Lowry, dem Fernseh-Talkmaster, mit dem Maria sich zusammengetan hatte. Er sagte, er sei es leid, Fragen über sie zu beantworten. »Alle waren sie da, Rose - die Zeitungen, die Fernsehreporter. Herrgott, Sie können sich gar nicht vorstellen, was man alles durchmacht, wenn man so etwas einmal auf der anderen Seite erlebt!« »Ich bin sicher, daß Sie perfekt damit zu Rande gekommen sind, Mike. Außerdem ist es schließlich auch Publicity, oder?« »Das ist mir zu zynisch, Rose. Was die Art von Publicity betrifft, die ich mag, bin ich recht wählerisch. Indem man -392-
mir in dieser traurigen Geschichte die Rolle des Boyfriends zuschiebt, tun mir die Medien überhaupt keinen Gefallen. Außerdem kann ich Ihnen überhaupt nichts sagen.« »Und sie hatte keine Ahnung, daß sie in Gefahr war?« »Sie war eine neurotische Person, das haben wir alle gewußt.« »Nichts Eindeutigeres?« Jetzt merkte er es. »Rose, Sie verbergen da etwas vor mir.« Aber als sie das nicht zugeben wollte, fuhr er fort: »Nein, Maria hat mir keine Einzelheiten gesagt, aber sie ist geradezu lächerlich vorsichtig geworden. Sie hat sich immer wieder umgesehen, als hätte sie damit gerechnet, daß ihr eine Gefahr aus dem Hinterhalt droht. Es war wirklich albern. In Restaurants bestand sie darauf, einen Tisch zu bekommen, wo sie mit dem Rücken zur Wand sitzen konnte. Und an ihrer Wohnungstür hatte sie Extraschlösser anbringen und eine Alarmanlage einbauen lassen. Ich dachte die ganze Zeit: ›Für wen hält sie sich eigentlich? Wie kommt sie nur auf die Idee, daß jemand sie bedroht? Sie ist doch keine Politikerin und steht auch nicht mit irgendwelchen einflußreichen Persönlichkeiten in Verbindung.‹ Nein, Rose, das war regelrecht paranoides Verhalten, und ich kann Ihnen sagen, ich war es mit der Zeit leid.« »Wollen Sie damit andeuten, daß Sie sich von ihr getrennt haben?« Er brauchte einen Augenblick, bis er die richtige Formulierung gefunden hatte, um es zuzugeben. »Schauen Sie, Rose, ich hätte mich am liebsten schon vor Wochen da irgendwie rausgewunden, aber wie konnte ich das? Sie war ein richtiges Wrack, und ich brachte es einfach nicht übers Herz, den harten Mann zu spielen. Ich habe mir -393-
immer wieder eingeredet, daß ich mich irgendwie vorsichtig rauswinden würde, sobald sie das Schlimmste hinter sich hatte. Und außerdem - im Bett war sie wirklich einsame Spitze, Rose. Das machte sie durchaus noch auf eine Weile erträglich.« Rose stocherte daran herum. »Mike, sind Sie auch ganz sicher, daß sie Ihnen nicht gesagt hat, daß jemand hinter ihr her war? Daß es Leute gab, die sie umzubringen versuchten?« »Natürlich bin ich sicher, so etwas würde ich doch nicht vergessen. Selbstverständlich hat sie sich bedroht gefühlt ihr Verhalten und all die Schlösser…« »Und dann haben die sie in dem Nachtclub erwischt.« »Ja, aber hatten sie das vor? Sie wissen doch, was für Leute sich dazu hingezogen fühlen, Nachtclubs zu besitzen, die tragen den Ärger doch förmlich mit sich herum.« »Aber eine Bombe in ihrer Garderobe? Wenn die den Inhaber erwischen wollten…« »Bitte, Rose, ersparen Sie mir die Sherlock-HolmesMasche. Ich habe darüber mehr Theorien gehört, als Maria Lieder singen konnte. Eine davon lautet, daß man, indem man eine Bombe in eine Garderobe plaziert, das Geschäft schädigt und damit den Eigentümer und die anderen Clubeigentümer auch und für irgendwelche unangenehmen Unterweltspläne gefügiger macht, die man als Attentäter vielleicht hat. Möglicherweise hat er nicht die Rausschmeißerfirma beschäftigt, die man ihm empfohlen hat, also kein Schutzgeld bezahlt.« »Ist ja alles schön und gut«, konterte Rose. »Aber sie war immerhin auch zu Hause das Opfer einer Bombenexplosion. Wie paßt das zu der Theorie, daß es um Schutzgeld geht?« -394-
Mike räumte ein, daß es nicht dazu paßte. »Verlangen Sie bloß von mir keine Erklärung, Rose, ich habe keine. Und die Polizei ist auch nicht schlauer.« Das Faxgerät spie weitere Nachrichten aus London aus, und ein paar Leute zogen es vor, anzurufen. Jeder einzelne hatte seine eigene Theorie, aber am Ende begriff Rose immer noch nicht, was wirklich hinter dem Attentat steckte. Als sie schließlich eine Pause einlegte, weil sie zum Mittagessen verabredet war, hatte Joelle ihre eigene Story bereit. »Die Frau unter der Frankfurter Telefonnummer reichte mich an eine Nummer in Paris weiter. Sie sagte, ich solle mit einer Detektivagentur hier Verbindung aufnehmen. Und damit wäre die Story wieder bei uns gelandet.« Sie genoß ihre Rolle als flic, nahm für ihre Schilderung der ganzen Geschichte mehr Zeit in Anspruch, als Rose zur Verfügung hatte. Rose versuchte sie auf Touren zu bringen, indem sie aufmunternd »Und?« sagte. »Nun, die Agentur nennt sich Detektivbüro Paul Martin, und ich habe mit Martin selbst gesprochen. Er hat gesagt, daß ihm jegliche Information willkommen wäre, und mich gebeten mich mit ihm zu treffen. In einer Stunde.« »Das ist sehr…« Sie stockte. Interessant? Ja. Schnell? Ja, ganz eindeutig begierig. »Was spricht denn dagegen? Ich werde ihm doch nur von der Ähnlichkeit der beiden Fotos erzählen.« Rose riet ihr zur Vorsicht, empfahl, mit eigenen Informationen zurückhaltend zu sein und ihm möglichst viel zu entlocken. Sie wäre bereit gewesen, anstelle Joelles zu gehen, aber das war unmöglich, weil Joelle mit ihm gesprochen hatte und er deshalb ihre Stimme kannte. Rose probte mit ihr ein paar Fragen und wünschte ihr Glück. Als Rose nach dem Mittagessen ins Büro zurückkehrte, -395-
war Joelle immer noch weg. Ihre Abwesenheit machte den normalerweise ruhigen Steve reizbar, weil er auf einen Artikel wartete, den sie hatte suchen sollen, als dann plötzlich die Anzeige aufgetaucht war und sie abgelenkt hatte. Rose versuchte ihn zu beruhigen, machte sich aber dann doch Sorgen. Während sie immer wieder nervös auf die Uhr sah, dachte sie: ›Weiß der Himmel, in was Joelle da hineingestolpert ist. Und ob sie es schafft, sich da wieder herauszuwinden?‹ Und ein wenig später entschied sie: »Ich ertrage das nicht, ich werde in diese Agentur gehen.« Aber als sie auf die Straße eilte, stieß sie mit Joelle zusammen. Joelle war vom schnellen Laufen im Gesicht gerötet, und ihre Augen glänzten. »Rose, du wirst das ganz bestimmt nicht glauben, aber…« Rose drängte sie in die relative Abgeschiedenheit des Bürogebäudes. »Du siehst wie jemand aus, der auf die größte Story des Jahres gestoßen ist.« Joelle versuchte ihre Erregung zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. »Ich habe getan, was du gesagt hast«, sprudelte es aus ihr heraus, »ich habe mir überhaupt nichts leicht entlocken lassen.« Inzwischen hatten sie eine etwas abgelegene Ecke erreicht, wo sie reden konnten, ohne belauscht zu werden. Trotzdem flüsterte Joelle: »Die Frau in der Anzeige ist nicht tot. Das ist eine Computersimulation, eine aktualisierte Version des Fotos eines entführten Kindes. Paul Martin - er ist ein drahtiger kleiner Bursche, genau der richtige, um Fakten auszuschnüffeln - nun, er ist nicht bereit, Namen zu nennen, aber er sagt, jemand aus der Familie des Kindes hat die Computersimulation anfertigen lassen und ihn aufgefordert, sie mit Hilfe dieses Fotos -396-
aufzuspüren.« »Deshalb die Anzeige.« »Ja, er hat in einigen Ländern in Zeitschriften Anzeigen plaziert. Andere Dinge hat er auch getan, aber darüber haben wir nicht geredet, weil alle Reaktionen auf die Anzeigen eingegangen sind. Eine Frau in Italien hat behauptet, es sei ihre Enkeltochter, und eine Holländerin hat gesagt, sie habe in diesem Jahr neben ihr in einer Maschine nach London gesessen. Und dann waren da auch noch andere.« Joelle berichtete, daß Paul Martin die Frau in dem Flugzeug ausfindig gemacht habe, aber sie hätte seinen Auftraggeber nicht interessiert. Die italienische Enkeltochter wurde gleich aus den Ermittlungen gestrichen. Und von den anderen konnte auch keine das erwachsene verschwundene Kind sein. Sie machte eine Pause, um die Spannung noch zu steigern. »Martin hat das Bild von Maria Flores im Paris Soir nicht entdeckt, aber sofort die Ähnlichkeit erkannt, als ich es ihm zeigte. Er hat mir die Zeitung förmlich aus der Hand gerissen und das Bild die ganze Zeit angestarrt. Er sagte zweimal: ›In London‹, als wäre dieser Fakt das Seltsamste von allem.« Marias Foto war erst am Ende des Gesprächs gezeigt worden. Vorher hatte Joelle in Erfahrung gebracht, daß sein Auftraggeber Französisch sprach, wenn er nicht sogar Franzose war, und daß für die Wiedervereinigung von Kind und Familie keine Belohnung ausgesetzt war, obwohl die Familie reich sei. Sie saß Rose gegenüber, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände über dem Knie verschränkt, und sprach die Worte aus, die sie sich aufgespart hatte. »Ich glaube, die Devereux-Familie sucht nach einer -397-
kleinen Nicole.« Rose hätte fast gelacht, ehe ihr klar wurde, daß Joelle keine Witze machte. »Rose, ich weiß mehr über sie, als ich über meine eigene Familie weiß. Seit ich dir deine Devereux-Akte zusammengestellt habe, bin ich Expertin. Das Timing würde stimmen. Paul Martin behauptet, die Fotografie sei aus dem Bild eines zweijährigen Kindes entwickelt worden, und in der Anzeige steht, daß die Frau einundzwanzig ist. Einiges paßt da zusammen, Rose. Wir haben es mit einer reichen französischen Familie zu tun, einem kleinen Mädchen, das vor zwanzig Jahren entführt wurde …« »Aber, Joelle, das Devereux-Baby ist ermordet worden. In den Zeitungsausschnitten ist doch auch die Rede von einem qualvollen Begräbnis in der Kirche nahe beim Château. Nicole Devereux ist tot.« »Warum glaubt dann jemand in der Familie, daß sie noch am Leben ist?« »Das kann doch nicht sein, Joelle.« »Ein Mann. Paul Martins Klient ist ein Mann, soviel hat er mir verraten.« Einer der Devereux-Männer? Maurice, Nicolas Großvater? Philippe, der Onkel? Oder David, der Cousin, der nach ihrem Verschwinden geboren wurde? Die Telefonleitung aus Prag war miserabel, Ellies Stimme kaum verständlich. Jemand war in die Wohnung in Malâ Strana eingedrungen und hatte sich an der Devereux-Akte zu schaffen gemacht. Die Ausschnitte waren nicht mehr in chronologischer Ordnung, und einer war unter den Tisch gefallen und verriet damit, daß jemand in den Papieren -398-
gewühlt hatte, etwas, was ihr sonst wahrscheinlich nicht aufgefallen wäre. »Zweimal jetzt, Rose«, erinnerte sie, und ihre Stimme klang vor Erregung beinahe schrill. »Einmal hat man mein Türschloß aufgebrochen, und jetzt das.« Rose suchte nach einer Erklärung, aber Ellie kam ihr zuvor. »Krieger. Es muß Krieger gewesen sein.« »Warum, in aller Welt, sollte er das tun? Nein, wir verstehen uns gut, er hätte gar keinen Grund.« »Solche Leute brauchen doch keinen Grund«, spottete Ellie. »Nicht so wie wir. Für ihn ist das die zweite Natur. Aber wie auch immer wirst du zurückkommen?« »Ich laß es dich wissen«, sagte sie. Und zu Joelle: »Würdest du das Haus Devereux anrufen und mir einen Termin mit David besorgen? Tu so, als hätte es mit der Kunstsammlung zu tun. Sag ihm, ich möchte mit ihm ganz speziell über die Versteigerung von Exil reden.« Joelle kam nicht durch. »Die behaupten, er sei nicht da. Er hält eine Rede für Greenworld auf irgendeiner Umweltkonferenz.« »Oh, verdammt.« »Das könnte ganz gut passen. Es ist in Prag.« Rose nahm noch am selben Nachmittag eine Maschine. Es regnete, dichte Wolken hingen am Himmel, und die Erde unter ihr war nur gelegentlich als dunkler Schmierer zu sehen. Die verrückte Idee ging ihr durch den Kopf, daß sie eigentlich gar nicht wollte, daß die Maschine jemals landete, daß sie in Wirklichkeit immer höher aufsteigen sollte, sich in Spiralen vom Planeten entfernen wollte, frei werden wollte von dem unvernünftigen Druck und all dem Leid. Es waren Gedanken, die sie sich zu denken weigerte, Ideen, die zu erschütternd waren, als daß sie sie hätte -399-
formulieren wollen. Später, sagte sie zu sich. Und aus später wurde bald. Ihre Phantasie malte ein Bild von dem, was Ramirez und der Bericht des Pathologen ihr erspart hatten. All das Blut, die rote Spur im Staub. Der Tod brauchte nicht abrupt zu sein, er konnte minutenlang zögern, während Ramirez mit der gestohlenen Kamera floh… Sie schüttelte sich, so, als könne sie damit all die eingebildeten Schrecken abschütteln. Unsinnigerweise hatte Rose in einem finsteren Winkel ihres Bewußtseins gehofft, daß die Reise in jene belanglose Kleinstadt in Spanien mit der Enthüllung enden würde, daß zu guter Letzt doch nicht John Blair derjenige war, den man dort erschossen und dann in Highgate begraben hatte. Sie machte sich selbst den Vorwurf, daß sie sich berufliche Gründe dafür zusammenreimte, daß er untergetaucht war, ohne auch nur zu ahnen, daß man ihn für tot erklärt hatte. In wachem Zustand war sie vernünftig, aber ihre Träume waren undiszipliniert. Der Schuß, die stürzende Gestalt, die Wunde, die Menschen, die gerannt kamen, um zu helfen und die Gestalt umdrehten. Und jedesmal war das Gesicht in ihrem Traum das Gesicht eines Fremden. Das Flugzeug zog zwischen Himmel und Erde dahin. Höher, dachte sie, weg. Sie wollte in die Höhe steigen, nicht in das zurückstürzen, von dem sie wußte, daß sie es tun mußte. Argwohn und Wissen lasteten auf ihr. Dann ging die Maschine in Sinkflug über, und es gab keine magische Flucht aus der Verantwortung. Eine innere Stimme sprach die Worte aus: »Ich weiß, warum er getötet wurde.« Sie fuhr vom Flughafen direkt zu dem Haus, das Krieger als sein Zuhause bezeichnete. Er war verblüfft, aber nicht unfreundlich. Beim letzten Mal hatte sie nur die -400-
Eingangshalle gesehen, diesmal wurde sie in ein Wohnzimmer geführt, das auf einen Garten hinausblickte. Das Haus war gut möbliert, eine Mischung aus französischen Antiquitäten und neueren Stücken guter Qualität. Wer auch immer der Eigentümer des Hauses war, er hatte nicht zu knausern brauchen, sich mit Emailschränken und Sesseln aus Sperrholz mit Plastikbezügen begnügen müssen. Krieger schenkte ihr ein Bier ein. »Sie sind böse auf mich, Rose, nicht wahr? Wir kommen mit unseren Gesprächen zu langsam voran.« Ihre Hand wischte seine Entschuldigung weg. »Sie waren in meiner Wohnung. Sie haben meine Sachen durchgewühlt. Ich möchte, daß Sie mir das zuerst erklären.« Sie stellte es hin, als wäre es eine bewiesene Tatsache, nicht nur eine Vermutung. In einer Geste der Kapitulation hob er die Hände, und die zwischen seine Finger geklemmte Zigarette ließ den Rauch in dünnen Fäden aufsteigen. »Mea culpa. Eine Angewohnheit, Rose.« »Aber eine schlechte.« »Da haben Sie ohne Zweifel recht.« »Aber warum? Was hatten Sie gedacht, daß Sie dort finden würden?« Er zog an seiner Zigarette und musterte Rose mit strenger Miene. »Sie verlangen von mir Vertrauen, aber woher weiß ich, daß ich Ihnen vertrauen kann?« Verärgert stieß sie hervor: »Alte Zeitungsausschnitte, die haben Sie für Ihre Mühe bekommen. Das muß für Sie sehr enttäuschend gewesen sein.« Aber noch während sie es sagte, erinnerte sie sich daran, wie sie ihm in dem Café in der Nähe des Schlosses -401-
gegenübergesessen hatte, erinnerte sich an sein ganz besonderes Interesse, als sie erwähnt hatte, daß sie an einer Story über die Devereux-Familie arbeitete. Ein Warnlämpchen war in ihrem Kopf aufgeflammt, aber sie hatte es ignoriert, hatte seine Fragen beantwortet und sich von ihm den Rat geben lassen: »Kümmern Sie sich nicht um den alten Mann, Maurice, oder seinen Sohn Philippe. David, der Enkel, hat jetzt das Sagen.« Nun, so konnte man es auch ausdrücken. Ellie war aus ihrem böhmischen Schloß mit einer Geschichte über Krieger und Drogenschmuggel zurückgekehrt; John Blair war gestorben und hatte bewiesen, daß die Devereux-Familie mit Rauschgift zu tun hatte; Krieger war in Prag mit David gesehen worden, und deshalb… Rose machte sich daran, von Krieger eine Bestätigung zu bekommen. Er versuchte wieder den freundlichen Onkel zu spielen, der sie in den Waldsteingärten kennengelernt hatte und mit ihr den Hügel hinaufgegangen war - aber es gelang ihm nicht. Sein wachsamer Blick und seine gespielte Fröhlichkeit verrieten ihn. Sie attackierte, und er parierte. Aber alles ganz sanft. Wenn sie zu heftig angriff, riskierte sie damit die Übereinkunft, die sie ihm bezüglich seiner Lebensgeschichte getroffen hatte. Er drückte die Zigarette aus, hielt inne, als seine Hand schon mit dem Stummel zur Tasche wandern wollte, und ließ den Stummel in den Aschenbecher fallen. Seine Hand griff an seinen Hals, wo der Schmerz bis zur Schulter ausstrahlte. »David ist in Prag«, sagte sie. »Werden Sie sich mit ihm treffen?« In seinen Augen stand die Antwort. Überraschung, der schnell Besorgnis folgte. -402-
Rose verspürte Genugtuung. »Er spricht morgen auf einer Konferenz auf dem Schloß.« »Warum sollte das mich interessieren? Sie haben mir doch schon gesagt, daß Sie mir nicht glauben, daß ich genau wie er leidenschaftlich daran interessiert bin, diesen Planeten zu retten.« Er erinnerte sich also an ihr letztes Gespräch. »Nein, ich glaube nicht, daß Sie darüber mit ihm sprechen. Ich habe mit ihm in Paris zu Abend gegessen. Ich kann mir recht gut vorstellen, worüber Sie beide reden.« »Ah«, Krieger zündete sich eine Zigarette an. Rose saß da, ohne sich von der Stelle zu rühren, und beobachtete ihn, wie er die Augen gegen den Rauch zusammenkniff, die Stirn runzelte und überlegte, ob es sich lohnte, sie weiter hinzuhalten, oder ob er zugeben sollte, daß ihre Beziehung tatsächlich mit Drogengeschäften zu tun hatte. »Beweise?« fragte er. »Haben Sie was in der Hand?« Indizienbeweise, John Blairs Notizen und Fotografien, Ellies Gerüchte aus zweiter Hand. »Ja, Beweise.« Er atmete den Rauch aus, eine graue Wand, die zwischen ihnen schwebte und es ihr unmöglich machte, weiter in seinen Augen zu lesen. Sie war versucht, sich vorzubeugen und ihn festzuhalten, für den Fall, daß er verschwand, sobald der Rauch sich aufgelöst hatte. Eine Aura des Unwirklichen hing in der Luft. »In dem Fall…«, sagte er. Sie konnte sich nicht davon abhalten, sich interessiert vorzubeugen. Er stöhnte leicht. »Ich hatte daran gedacht, es Ihnen zu sagen, wenn wir wieder mit den Interviews anfangen. Ich war unschlüssig. Aber wenn Sie es jetzt schon wissen, nun ja, dann lassen Sie uns auf Einzelheiten eingehen. Die -403-
kennen Sie bestimmt noch nicht. Ich war schließlich der einzige, der sie je kannte.« Der Rauch stieg ihr säuerlich in die Nase, und Rose spürte, wie er sich an ihrem Jackett, in ihrem Haar und an ihrer Haut festhängte. Aber sie lehnte sich in die Rauchwand hinein, in ruhigem Triumph, wartete auf sein Geständnis. Jetzt stieß Krieger ein schroffes Lachen aus. »Wenn ich das für mich behalte, gibt mein kurzer Aufenthalt in Frankreich schließlich keinen Sinn. Rätselspiele haben ihren Reiz, aber warum sollte ich das Verdienst nicht für mich in Anspruch nehmen? Wenn ich das nicht tue, tut es eines Tages ein anderer.« Rose brummte zustimmend. Sie verstand nicht, was er meinte. Er zog wieder an seiner Zigarette, ehe er fortfuhr: »Ich muß noch mal sagen, mea culpa. Ich habe das DevereuxBaby entführt.« Sie war geistesgegenwärtig genug, sich keine Reaktion anmerken zu lassen. Also nicht Rauschgift, nichts von dem, worauf sie vorbereitet gewesen war. Statt dessen ein Donnerschlag. Und sie wagte nicht, ihn aus dem Konzept zu bringen, indem sie Staunen oder gar Schrecken zeigte. Reglos, beinahe starr saß sie da und murmelte gelegentlich aufmunternd, während er ihr schilderte, wie er die Tat begangen hatte. Krieger erwähnten den Schatten von Pappeln, ein langes Warten, gelegentlich eine Zigarette zum Aufmuntern. Räume, die dunkel wurden, als die Familie und die Dienstboten zu Bett gingen, sein Spurt von den Bäumen hinüber zum Haus, das Fenster des Salons, das sich lautlos geöffnet hatte. »Ich habe mir als Junge selbst beigebracht, mich lautlos -404-
zu bewegen, wie ein Indianer in den Filmen.« Sie nickte. Ja, als sie zusammen den Hügel hinaufgegangen waren, hatte er etwas Ähnliches gesagt. »Wie eine Katze in der Nacht.« »Ich kannte das Kinderzimmer. Nein, ich war nicht drinnen gewesen, aber die Dienstboten hatten geklatscht, und ich wußte genug. Sie schlief. Ich klebte ihr im Schlaf ein Heftpflaster über den Mund. Dreieinhalb Minuten später trug ich sie zwischen den Bäumen davon.« »Zu einem Wagen?« »Einem Fahrrad.« Er lachte über ihre ungläubige Miene. »Ein Wagen ist laut, aber ein Fahrrad, das nachts über einen Fußweg rollt, stört niemanden. Der Wagen war eine Meile entfernt, wir sind schnell gefahren.« »Nach Süden.« »Eine lange Strecke nach Süden. Wir ließen sie bei einem Ehepaar, das sich als Urlauber ausgab, in einem Cottage in den Bergen. Die Ortsansässigen kannten sie nicht, also konnten sie auch nicht mißtrauisch werden, daß Nicole nicht in jene Familie gehörte.« Krieger war ein Agitator gewesen, einer, der immer Geld auftreiben mußte. Er hatte bis jetzt kein Wort von Geld gesagt. Rose sprach das Thema an: »Warum kam keine Lösegeldforderung?« »Es gab zwei. Aber da war ich schon weit weg, meine Rolle war erledigt. Ich bin übrigens nach Italien gefahren. Andere Leute sollen sich um sie kümmern und aus ihrer Familie das Geld herausholen.« Er gestikulierte, und seine Zigarette hinterließ rauchige Gebilde in der Luft. »Es wurde zum Fiasko. Die Forderung verzögerte sich, ich weiß nicht warum. Und dann entdeckte die Polizei eine Leiche und überredete alle, daß es die Leiche Nicoles sei. Ein völliges Fiasko.« -405-
Er lachte, und es lief Rose eisig über den Rücken; ebensogut hätte er irgendeine belanglose Panne beschreiben können und nicht den nie gemeldeten Mord an einem namenlosen Kind und die Zerstörung von Nicole Devereux' Leben. Rose hatte Mühe, ihren Ekel zu unterdrücken. »Nicole ging nach Spanien«, lieferte sie ihm das Stichwort. »Schauen Sie, ich habe diese Entscheidung nicht getroffen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten die sie irgendwo anders gelassen. Ein Telefonat, und sie wäre zu Hause gewesen. Aber andere Leute haben da andere Vorstellungen. Sie dachten, sie könnten abwarten und später noch einmal versuchen, Geld zu bekommen. Sie richteten es so ein, daß eine Familie sie aufnahm, arme Leute, die sich damit einverstanden erklärten, weil es ihnen ein geregeltes Einkommen einbringen würde. Man hat ihnen gesagt, es sei ein uneheliches Kind aus dem Norden Spaniens, das versteckt werden sollte. Die Geschichte war nicht so ungewöhnlich, als daß man sie nicht hätte glauben können.« Krieger sagte, für ihn sei die ganze Sache an dem Punkt zu Ende gewesen. Als eine Methode, um für seine politische Sache Geld aufzubringen, war die DevereuxEntführung eine Katastrophe gewesen, aber er hatte zuviel zu tun gehabt, um sich länger damit aufzuhalten, und sich wieder anderen Dingen zugewandt. Er meinte damit Spionage. Rose starrte ihn ungläubig an. »Eine Geschichte, die die Weltpresse beschäftigte, und Sie haben sich nie auch nur die Mühe gemacht, einmal nachzufragen, was später geschah?« Ihr Sarkasmus ließ ihn ärgerlich hochfahren. »Diese Idioten! Ich hab' denen die ganze Arbeit gemacht. Die Idee -406-
stammte von mir, und ich hab' das Kind rausgeholt. Was blieb denen denn noch zu tun? Die brauchten bloß einen Brief zu schreiben und wegzuschicken und einen Plan zu befolgen, wie das Geld entgegengenommen werden sollte. Die brauchten überhaupt nicht zu denken, sich bloß an den Plan zu halten. Aber nicht einmal das haben sie geschafft. Sagt Ihnen der Name Dechamps etwas? Aus Marseille? Er hat sie überredet. Ich wollte nie, daß er in die Sache eingeschaltet wurde. Er war immer blöd; den größten Teil seines Lebens hat er im Gefängnis verbracht. Warum die bloß auf einen Mann wie den gehört haben? Jedenfalls, ich war in Italien und dachte mir die ganze Zeit: Warum steht eigentlich nichts in der Zeitung wegen des Lösegelds? Warum wird nicht bekanntgegeben, daß das DevereuxBaby wieder zu Hause ist? Und dann haben sie es mir gesagt: Spanien! Eine langfristige Sache, kein schneller Zugriff auf die Devereux-Konten. Die waren verrückt. Ich habe ihnen gesagt, je länger sie das Geld über ihre Kontaktleute an diese spanische Familie schickten, desto sicherer war es, daß sie sich verraten würden.« Rose lieferte ihm das nächste Stichwort: »Sie hörten auf, Geld zu schicken.« Mit einer wegwerfenden Geste seiner Zigarette gab er ihr recht. Sie vermutete: »Dann hat man Nicole ausgesetzt. Oder haben die je versucht, sie zurückzuholen?« Die Vorstellung, daß jemand versucht haben könnte, sie zurückzuholen, schien Krieger zu amüsieren. »Zu riskant«, war sein einziger Kommentar dazu. Sie riß ihn mit einem Ruck in die Gegenwart, ließ ihm keine Zeit zu begreifen, daß er sich irrte, wenn er annahm, sie wisse, daß er mit David Devereux über Nicole gesprochen hatte. »Sind Sie zu ihm gegangen, oder ist er zu Ihnen gekommen?« -407-
»Er ist gekommen. Er sagte, mein Name stünde mit dem Fall in Verbindung. Ein Mann in Paris hat ein Buch über mich geschrieben und darin angedeutet, ich hätte Nicole weggeschafft. Das war kein Beweis, ich glaube nicht, daß es einen gibt. Aber David hat mich gefragt, ob es stimmte.« Krieger machte sich den Spaß, sie warten zu lassen, bis sie erfuhr, ob er gelogen oder die Tat gestanden hatte. Dann: »Ich habe ihm die Wahrheit gesagt.« »Und ihm das von Spanien erzählt.« Das war keine Frage, sie kannte die Antwort. Er drückte die Zigarette aus und fächelte mit einer von Nikotin verfärbten Hand den Rauch weg. »Ein Happy-End für unsere Geschichte, Rose. David wird sie aufspüren und nach Hause holen.« Seine Selbstgefälligkeit ekelte sie an. Da saß er ihr in einem Lehnsessel gegenüber, und sein gleichgültiges Gesicht lächelte selbstgefällig. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie jemand soviel Bösartigkeit berichten und dann über ein Happy-End witzeln konnte. Die Worte versagten ihr den Dienst. In ihrer Tasche neben dem Sessel war das Foto, für dessen Herstellung David Devereux einen Computerkünstler bezahlt hatte. Und daneben lag das Foto aus der Zeitung, das die tote Sängerin Maria zeigte. Und Krieger brauchte es fertig, von einem Happy-End zu sprechen. Sie sagte: »Der Detektiv, den David engagiert hat…« »Detektiv? Er hat gesagt, er würde selbst gehen. Da ich wußte, in welchem Dorf sie aufgewachsen war und die Namen einiger Leute kannte, sagte er, dann wäre es einfach. Und darüber hinaus möchte er, daß nur möglichst wenig Leute etwas erfahren. Aber vielleicht haben Sie recht. Vielleicht hat er doch einen Detektiv eingesetzt.« -408-
»Das hat er«, bestätigte Rose entschieden, unterließ es jedoch, das Detektivbüro Paul Martin zu nennen. Statt dessen wollte sie den Eindruck erwecken, daß sie mit David Devereux über die Suche gesprochen hatte. »Ich wollte fragen…« Und dann versandete ihre Frage. Plötzlich hatte es keinen Sinn mehr, sie zu stellen, weil die Dinge sich nicht mehr so zusammenfügten, wie sie geglaubt hatte. Ein David, der einen Detektiv engagierte, damit dieser in ganz Europa Anzeigen in Zeitschriften plazierte, paßte nicht zu einem auf die Wahrung seines Geheimnisses bedachten David, der sich dafür entschied, allein, nur mit der Information von Nicoles Entführer bewaffnet, nach Spanien zu gehen. Sie wußte plötzlich nicht weiter, aber Krieger half ihr. »Geld? Natürlich muß die Hilfe bezahlt werden, die ich David gegeben habe. Meine Lebensumstände haben sich im letzten Jahr drastisch verändert, und er ist ein außergewöhnlich reicher junger Mann, der es sich leisten kann, für Informationen zu bezahlen.« Rose griff sofort zu. »Das klingt so, als hätten Sie bis jetzt kein Geld von ihm zu sehen bekommen.« Sein Blick wurde unbehaglich und ließ sie erkennen, daß sie recht hatte. »David ist nicht dumm, er zahlt für Resultate. Die erste Rate dafür, daß ich ihn auf die richtige Spur gesetzt habe, den Rest, sobald er das Mädchen gefunden hat. Bis jetzt hat er es nicht gefunden.« »Woher wissen Sie das? Er könnte sie doch aufspüren und sich dann nicht die Mühe machen, es Ihnen zu sagen.« Krieger lachte, so wie ein Onkel, der seine Lieblingsnichte wegen eines Ungeschicks tadelt. »Rose, wenn die Devereux-Familie Nicole zurückbekommt, wird das die ganze Welt wissen.« -409-
»Aber nur, wenn David das will.« »Sie sollten Nicole nicht vergessen, oder wie auch immer sie sich nennt.« »Das habe ich nicht.« Sie griff in ihre Tasche und hielt ihm einen Umschlag hin. Er blies etwas Asche vom Tisch und ließ den Inhalt aus dem Umschlag rutschten. Das größte Foto landete so auf dem Tisch, daß es von ihm wegblickte. Rose sah die toten Augen, die der Computer nicht besser hingekriegt hatte. Krieger drehte das Foto herum, schob es gerade und legte die Zeitschriftenanzeige daneben. Dann saß er da und studierte das Beweismaterial. Sein Haar war schütter, das hatte Rose bisher nicht bemerkt. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er sich in seinen Stuhl zurücklehnte und sie ansah. Seine Selbstgefälligkeit hatte eine Scharte bekommen. »Du hast ihn nie gekannt«, sagte Ellie. Ihre Stimme klang unerwartet bitter. »O ja, ich weiß, du hast mit ihm zusammengelebt, du warst mit ihm an vielen Orten, die er besucht hat. Aber glaube mir, Rose, du hast John Blair nie richtig gekannt.« »Wir haben ihn auf verschiedene Art gekannt«, brachte Rose schließlich erschüttert zuwege. »Wir kannten unterschiedliche Eigenschaften von ihm.« Dabei dachte sie, daß ihre Neugierde nie so stark gewesen war, daß sie Ellie nach ihrer Beziehung zu John gefragt oder sich erkundigt hätte, wie diese Beziehung gewesen war, und daß sie nach diesem Gespräch nie wieder die Wahrheit hören würde. Ellie gab keine Antwort. Rose wußte, daß sie das Thema jetzt fallen lassen sollte, sah sich aber in die Defensive gedrängt und fügte hinzu: »Wir alle kennen Menschen auf -410-
unterschiedliche Art. Wir nehmen unterschiedliche Dinge an ihnen wahr.« »Ja«, murmelte Ellie keineswegs überzeugt. »Das habe ich wohl gemeint.« Sie schob ihren Stuhl mit einem scharrenden Geräusch zurück und stand auf. Die Wohnung war zu klein, um ihnen beiden Platz zu bieten. Der lärmende Kühlschrank dominierte die Küche, der überaktive Boiler machte aus den Räumen um ihn herum ein Inferno, und deshalb mußten sie sich im Wohnzimmer aufhalten, das von Ellies improvisiertem Bett auf dem Sofa beengt war. Rose wünschte sich, sie würde wenigstens die Kissen und die Zudecke beiseite räumen, wenn sie sie nicht benutzte. Es gab da einiges, was sie störte. Rose biß die Zähne zusammen und wünschte, es wäre morgen und sie könnten beide ihre Wege gehen. Sie hatte erwartet, allein in der Wohnung zu sein, und unwillig festgestellt, daß Ellie dort ihr Lager aufgeschlagen hatte. Und als sie anfing, ihr die erstaunliche Entwicklung der Devereux-Story zu schildern, blieb Ellie an dem Punkt hängen, wo ein Motiv für den Mord an John Blair zutage trat. Als Rose dann, ohne zu merken, wieviel Takt jetzt erforderlich war, darauf bestand, über den Mord an Maria und Kriegers Reaktion zu reden, erreichte Ellie den Siedepunkt. Zornig, schön, mit ihren schrägen grauen Augen und der silbernen Mähne, sah Ellie wie eine Frau aus, die durchaus imstande war, das zu sagen und zu tun, was sie wollte, eine Frau, die auf der ganze Welt zu Hause war. Im Kontrast zu ihr fühlte Rose sich beeinträchtigt. Nicht wegen irgendwelcher ausgesprochener Anklagen, sondern weil Ellie sie auf verschiedene Weise unter Druck setzte. Ellies Identität, um die sie so gekämpft hatte, war wie eine Herausforderung an Roses Vertrauen darauf, einen -411-
bequemen Weg durchs Leben gehen zu können. Wenn man an all die Nachteile und Strapazen dachte, über die Ellie nicht sprach, wie hätte Rose unter diesen Umständen überlebt? Denn Ellie war, ohne dies zu betonen, ein Überlebenstyp. Und mit Ellie war etwas geschehen, seit sie nach Prag gekommen war, dachte Rose. Etwas, das viel tiefer ging und viel mehr Schaden angerichtet hatte als eine kleine Auseinandersetzung mit einem Bruder oder ein unkommunikatives Zusammentreffen mit ihren Eltern oder irgendwelche Machenschaften, die ein Frans-HalsGemälde betrafen. Plötzlich lag es für Rose auf der Hand, daß John Blair es verstanden hätte, was auch immer es war. Er und Ellie hatten einander so nahegestanden. Rose legte das Buch beiseite, das sie zu lesen vorgab, stand auf und trat in die Küchentür. Ellie saß auf einem Hocker, ein Glas Wasser vor sich. »Ich muß David konfrontieren. Und ich möchte, daß du mitkommst, Ellie.« »Dein Französisch ist besser als meines«, erwiderte sie forsch. »Ich meine auch nicht, daß ich jemanden zum dolmetschen brauche, ich brauche eine Zeugin.« Und als Ellie sie zweifelnd ansah: »Das ist ganz normal. Journalisten tun das die ganze Zeit: Wenn die Dinge kompliziert werden, treten sie in Paaren auf.« »Ich bin keine Journalistin.« »Nein, aber ich würde lieber dir vertrauen, als nach der Frau herumzustöbern, die angeblich meine Prager Korrespondentin ist. Sie bewegt sich auf geheimnisvollen Wegen, und ich habe nicht die Zeit für Spielchen.« Ellie kapitulierte. »Wann können wir ihn treffen? Ich bin morgen nachmittag in der Kunstgalerie verabredet.« »Wir werden ihn in seinem Hotel abfangen, ehe er -412-
Gelegenheit hat, etwas anderes zu tun. Er hält nach dem Mittagessen einen Vortrag. Ich weiß nicht, was er für den Vormittag geplant hat, aber wir werden jedenfalls seine Pläne umstoßen. Hast du ein Tonbandgerät?« Ellie verneinte, worauf Rose das ihre holte. »Ich würde mich mit zwei Geräten sicherer fühlen, aber es muß auch so gehen. Steck es in deine Tasche. Er wird weniger auf dich achten, weil ich diejenige sein werde, die ihn attackiert.« Rose klappte das Tonbandgerät auf und nahm die Batterien heraus. »Ich wollte, ich hätte Ersatzbatterien.« »Die sind hier ein Problem, schwer zu beschaffen. Wenn die Leute Glück haben, haben sie aufladbare.« Rose schob die Batterien in das Gehäuse. »Wir müssen es irgendwie schaffen.« Aber so war das mit der Arbeit, immer, am Ende mußte man Kompromisse schließen. Ein Rätselraten und plötzliche Eingebungen, sorgsames Beobachten von Einzelheiten, Zufällen, auffälligen Gesten und weggelassenen Wörtern. Einer Spur nachzugehen, von der sie hoffte, daß sie sie weiterführen würde, nur um dann herauszufinden, daß sie wieder in eine neue Richtung denken mußte. Das Ansammeln von Informationen und widersprüchlichen Fakten. Der Aufbau einer Story, ohne alle Bausteine zu besitzen, und am Ende mußte es irgendwie gehen. Ellie nahm das Tonbandgerät. »Ich nehme an, daß meine Rolle als Zeugin darin besteht, das hier zu bedienen und später deine Version des Gesprächs zu unterstützen, falls er sie leugnen sollte.« »Und verhindern, daß ich umgebracht werde.« Das hatte ein Witz sein sollen.
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EINUNDZWANZIG Das Hotel war eine moderne Katastrophe aus Ziegel und Beton am Flußufer im Herzen der Stadt. Rose und Ellie trotteten durch cremefarben getünchte Korridore und erhaschten immer wieder durch die Fenster, die an Treppenabsätzen angebracht waren, einen Blick auf den schimmernden Fluß. Das Ambiente war international, das Hotel gehörte in jede Stadt und in keine. David Devereux hatte sich ein Handtuch um die Hütten gebunden, sein Haar war feucht, und seine Haut schimmerte. Sowie er Ellie entdeckt und begriffen hatte, daß Rose nicht gekommen war, um sich als Zuhörerin in seinen Bann ziehen zu lassen, geschweige denn mit ihm ins Bett zu gehen, wurde sein Lächeln um einige Grade kühler. »Rose, ich hoffe, diesmal geht es um Greenworld und nicht um irgendwelchen Unsinn von wegen Kunstverkäufen. Ich spreche heute nachmittag, Sie sollten kommen. Wenn Sie noch nichts veranlaßt haben, sorge ich dafür, daß man Sie einläßt.« »Nicht Kunst. Nicht Greenworld. Der Fluch der Devereux.« Er wandte sich ab und ließ sie weiter ins Zimmer kommen. Ellie schloß die Tür hinter sich und trat mit ihnen ans Fenster. Sie war nicht sicher, wie weit das Tonbandgerät reichte. Rose stellte sie als Kollegin vor, aber nach ein paar kurzen Höflichkeitsfloskeln ignorierte David sie, wie Rose das vorhergesagt hatte. »Unglücklicherweise«, begann Rose, »beschränkt sich der Fluch der Devereux nicht darauf, das Leben der Devereux in Unordnung zu bringen. Er hat sich ausgeweitet und fügt -414-
jetzt auch Leuten Schaden zu, die sich um die Angelegenheiten der Devereux' kümmern.« Er griff sich ein Handtuch und frottierte sich das Haar. »Sie sollten eigentlich einer besseren Klasse von Journalisten angehören, Rose, und nicht in Skandalen herumstochern.« »Oh, ich fühle mich in jedem Bereich zu Hause.« Es ärgerte sie, daß er ihr nicht seine ganze Aufmerksamkeit widmete, und sie war besorgt, daß er außer Reichweite des Tonbandgeräts geraten könnte. Sie trat auf ihn zu, sah die Härte, die Intensität in seinen Augen, die sie während ihres gemeinsam verbrachten Abends vergeblich gesucht hatte. David warf das Handtuch beiseite. »Ich muß mich anziehen, mir steht ein anstrengender Tag bevor, und ich habe jetzt für solchen Unsinn wirklich keine Zeit.« »Der Mord an John Blair ist kein Unsinn. Und genausowenig der Tod einer Sängerin, die wahrscheinlich nie wußte, daß ihr richtiger Name Nicole Devereux lautete. Und ebensowenig …« Jetzt ließ er den letzten Rest von guter Laune von sich fallen. »Ich werde mir das nicht anhören. Sie wagen es, mir vorzuwerfen, daß ich…« Er verstummte. »Nur zu - was? Was befürchten Sie denn, daß ich sagen werde? Daß Sie ihren Entführer für Informationen über Nicole bezahlt haben? Daß Sie ihre Spur nach Spanien verfolgt haben? Nach London?« Sein Atem ging jetzt schneller, und er hielt das Handtuch um seine Hüfte fest. Die ganze Sicherheit und das ganze Selbstvertrauen waren von ihm abgefallen. Er wiederholte, daß er sich anziehen müsse und nicht bereit sei, ihr länger zuzuhören. Aber Rose und Ellie standen zwischen ihm und dem Badezimmer, und so war er gezwungen, sich mit -415-
ihnen auseinanderzusetzen. »Das ist nicht wahr. Nichts von alldem. Niemand weiß, wer Nicole entführt hat.« »Sie und Krieger wissen es. Lügen hat keinen Sinn. Ich weiß, was Sie getan haben. Krieger dachte, Sie wollten Ihre Cousine nach Hause zurückholen, aber das wollten Sie gar nicht, oder?« »Sie haben mit Krieger gesprochen?« Sie ließ ihm Zeit, in sich aufzunehmen, daß sie Einzelheiten kannte, die direkt von Krieger stammten. »Also schön, Rose. Dann haben Krieger und ich uns eben unterhalten. Sein Name steht in einem Buch, ein Schuß ins Blaue seitens des Verfassers. Ein Beamter im Sicherheitsdienst behauptete, er wäre in dem Jahr, in dem Nicole entführt wurde, in der Region gesehen worden. Alle wissen, daß er für einen Überfall auf eine französische Bank verantwortlich war und auch für andere Straftaten, die der Geldbeschaffung dienen sollten. Der Verfasser des Buches ließ eine Andeutung fallen, daß er hinter der Geschichte mit Nicole gestanden hätte. Als Krieger nach der politischen Wende hinter der Mauer hervorkam, fragte ich ihn danach. Das ist alles.« Sie wollte wissen, was Krieger zu ihm gesagt hätte. David erklärte: »Er hätte es leicht ableugnen können, aber das hat er nicht getan. Fragen Sie mich nicht warum. Nein, nicht das Geld. Krieger ist kein Mensch, der von Geld angespornt wird. Er hat mir gesagt, wie er Nicole weggeschafft und sie dann anschließend übergeben hat. Dann ist er zu irgendeinem anderen Einsatz nach Italien gefahren. Das ist alles, Rose. Über Spanien oder irgendwelche Sängerinnen in London weiß ich nichts.« Rose warf die vergrößerten Fotos auf das zerwühlte Bett. David mit zwei Männern im Hintergrund einer Aufnahme -416-
mit einer nackten Sonnenanbeterin in San Pedro de Alcantara. David als schattenhafte Gestalt in einem Wagen in Gesellschaft eines Mannes, den Ramirez als spanischen Gangster bezeichnet hatte. David, wie er an zwei älteren Männern vorbeieilt, die in einem Straßencafe der Stadt, wo John Blair gestorben war, ihren Espresso trinken. Das Gesicht auf den Fotografien war grausam. Als sie ihm zum erstenmal begegnet war, hatte sie ihr Gedächtnis nach jenem Blick durchstöbert und sich den Kopf darüber zerbrochen, an wen er sie erinnerte. Er wandte sich von den Bildern ab und schob sich an den beiden Frauen vorbei auf die Badezimmertür zu. »Die könnten überall aufgenommen sein. Was sollen diese Bilder beweisen?« »Nicht überall. Ich war selbst dort und habe es nachkontrolliert und weiß, wann und mit wem Sie dort zusammen waren.« Er knallte die Badezimmertür zu. Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Ellie seufzte tief. »Die Fotos haben ihn wirklich geschafft. Aus solchen Beweisen kann er sich nicht einfach rausreden.« Rose sammelte die Fotos wieder ein. »Wir werden unten warten.« Er kam nicht herunter. Sie saßen und behielten den Lift und die Treppe im Auge. Ellie fragte: »Kannst du tatsächlich irgend etwas beweisen?« Rose erwiderte mit einem schiefen Lächeln, daß ein Geständnis schon eine nicht von der Hand zu weisende Hilfe wäre. Eine Gruppe Touristen, die sich am Eingang zusammendrängte, fiel ihr auf. Hinter den Leuten war -417-
David gerade damit beschäftigt, sich ein Taxi zu nehmen. »Schnell, Ellie!« Rose war bereits aufgesprungen und eilte hinaus. Sein Taxi versuchte sich in den Verkehr einzureihen. Sie rannte darauf zu. Vergebens. David sah es und kauerte sich tiefer in seinen Sitz. Er sagte etwas zu dem Fahrer, der sich vor die Warteschlange drängelte und dann mit Gewalt in den Verkehrsstrom einreihte. Hinter Rose war ein klapperndes Geräusch zu hören, das in einem schrillen Hupton endete. Sie trat zur Seite, überlegte es sich dann anders und stürzte sich auf den Wagen. »Bitte!« beschwor sie den Mann hinter dem Steuer. »Bitte folgen Sie diesem Taxi.« »Rose Darrow?« »Ja.« Sie kannte ihn nicht und war erleichtert, daß er Englisch sprach. »Ich bin ein Freund von Jiri. Sie kennen mich nicht. Er hat Sie mir eines Tages gezeigt.« Rose ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Bitte«, wiederholte sie. »Es ist sehr dringend. Dieses blaue Taxi, ich muß es unbedingt einholen.« »Wie aufregend.« Der anonyme Freund eines tschechischen Bekannten ließ die Kupplung los, und das Fahrzeug schoß mit einem Satz auf die Straße hinaus. »Haben Sie gesehen, in welche Richtung das Taxi fährt?« »Links. Es steht dort vorn an der Ampel.« Der Fahrer trat das Gaspedal durch, um vor dem Umschalten der Ampel an die Kreuzung zu kommen. Rose warf einen Blick über die Schulter. Ellie stand mit in die Hüften gestützten Händen völlig perplex vor dem Hotel. Dann konzentrierte Rose sich auf die Straße vor ihnen und -418-
den lebhaften Renault, der als zweiter in der Reihe an der Ampel wartete. Selbst in ihren kühnsten Träumen hätte sie sich nie ausgemalt, daß sie, falls sie je in die Lage kommen sollte, einen Wagen für eine Verfolgungsjagd zu entführen, so voreilig sein würde, sich dafür einen Trabant zu schnappen. Sie spielten Haschen mit ihr, mauerten bei jeder Frage, die sie stellte. Vor Jahren, ja, noch vor einer Woche wäre sie ihnen nicht gewachsen gewesen. Aber der Zorn ist eine mächtige Waffe. Er stärkte ihre Willenskraft auf geradezu wunderbare Weise. Als sie von dem Schloß in Böhmen zurückgekommen war, mit leeren Händen und vom Fieber geschwächt, hatte Ellie sich bedrückt gefühlt, und ein Gefühl der Unzulänglichkeit hatte sie erfaßt. Aber jetzt wußte sie, was sie tun mußte. Die Zeit, in der man mit ihr irgendwelche Spiele hatte treiben können, war vorbei. Und das würde sie denen jetzt klarmachen! Sie bedauerte, daß ihre Rolle in Rose Darrows Abenteuer mit David Devereux vorbei war, weil das eine interessante Ablenkung bedeutet hatte. Aber das abrupte Ende ließ ihr jetzt auch den Vormittag frei. Ellie nahm an, daß Rose schon allein klarkommen würde. Sie tat Roses Probleme mit einem Schulterzucken ab und machte sich daran, ihre eigenen zu lösen. Obwohl sie keine Garantie für den Erfolg hatte, war sie doch sicher, daß sie ihnen recht lästig würde sein können. Wenn sie nicht bereit waren, auf ihre Wünsche einzugehen, würden sie viel Zeit mit Bedauern verschwenden. Ellie schritt durch die Straßen und plante ihre Attacke. -419-
Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran, daß die Masse der Fußgänger der des Autoverkehrs überlegen war und daß menschliche Stimmen und Schritte aus allen Richtungen auf geradezu opernhafte Plätze zusammenströmten. Was sie sah und um sich herum wahrnahm, beeindruckte sie nicht mehr ganz so tief, die vielen Eindrücke verloren mit der Zeit ihre Fähigkeit, in ihr Staunen und Furcht hervorzurufen. Ein Schuß moralischer Überlegenheit verschaffte ihr all das Selbstvertrauen, das sie benötigte. Die Korridore, durch die sie jetzt marschierte, hatten ihre Schrecken verloren. Die Beobachter an den Ecken wandten sich eher ab, als ihrem entschlossenen Blick zu begegnen. Ellie hob die Stimme, wenn man ihre Wünsche nicht erfüllen wollte, und plötzlich wurde alles möglich. Den ganzen Morgen antichambrierte und protestierte sie. Nach dem Mittagessen nahm sie ihren Termin in der Galerie wahr. Milena Hobzek mit dem winterlichen Lächeln hatte vor, sie warten zu lassen. Aber nachdem fünf Minuten verstrichen waren, riß Ellie die Tür auf zu ihrem Büro. Die Frau saß an ihrem Schreibtisch. Ihre Kleidung war unverändert: gepflegt, mit hochgestelltem Blusenkragen, und der Stein in der Brosche an ihrem Revers und der in ihrem Fingerring paßten exakt zueinander. Es war gerade, als hätte sie das Büro nicht verlassen, seit Ellie sie das letztemal dort zu Gesicht bekommen hatte. Frau Hobzek reagierte pikiert. »Sie können hier nicht einfach so reinplatzen.« »Man hat mir gesagt, Sie wären beschäftigt. Das scheint aber nicht zu stimmen.« Ellie nahm Platz, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. »Ich warte auf einen Kollegen.« Milena Hobzek legte die rechte Hand über die linke und studierte einen -420-
Fingernagel. »Ich will aber Sie sprechen. Sie haben die Entscheidung getroffen, das Frans-Hals-Gemälde zu entfernen. Sie können mir erklären, warum Sie das getan haben, und mir sagen, wo das Bild jetzt ist.« »Das geht Sie wirklich nichts an.« Ihr Tonfall deutete an, daß die Angelegenheit damit erledigt sei. Ellie ließ sich nicht einschüchtern. »Aber ich habe die Bilder gefunden…« »Man könnte auch argumentieren, daß sie nie verlorengegangen waren.« Ellie ignorierte die Unterbrechung. »Es handelt sich darunter um ein Gemälde, das es verdient, von Frans-HalsExperten untersucht zu werden. Sie haben es aus der Umgebung entfernt, in der es jahrhundertelang überlebt hat. Sie haben es in einem Lieferwagen durch das ganze Land transportiert und lassen jetzt ohne Zweifel zu, daß ein paar Stümper daran herumstochern. Das spricht nicht für Sie.« »Sie haben keinen Anspruch auf jenes Gemälde. Falls sich herausstellt, daß es wertvoll ist, wird man es in eine hiesige Galerie verlegen.« »Sie besitzen nicht die Qualifikation, um das zu beurteilen. Niemand in diesem Land besitzt die. Sie waren zu lange isoliert, und Kunst ist heute ein internationales Anliegen. Die Experten sind in Holland und Amerika, nicht hier.« Milena Hobzeks Antwort wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. »Ja«, sagte sie in den Hörer. »Ja.« Und dann fügte sie zu Ellie gewandt hinzu: »Das Gemälde bleibt hier.« Hinter Ellie öffnete sich die Tür. Ein Mann trat ein und -421-
ging an ihr vorbei zu Milena Hobzek. Er grüßte nicht und sprach auch Ellies Namen nicht aus, sondern musterte sie mit jener Art von Desinteresse, mit der er sonst vielleicht ein nicht besonders gut gelungenes Porträt betrachten würde. Ellies Überraschung über seine Anwesenheit war nur von kurzer Dauer. Er hatte sie einmal in die Welt der Kunst eingeführt, aber jetzt hatte er sich mit Milena Hobzek verbündet, um sie abzuwimmeln. Es schmerzte, daß die beiden sich zusammengetan und sie ausgetrickst hatten, sie unter falschem Vorwand in das Stehlik-Schloß eingeschleust und dann das Bild unter ihrer Nase weggeschnappt hatten. Aber der Schaden war angerichtet. Seine Anwesenheit zum jetzigen Zeitpunkt machte keinen Unterschied. Es entging ihr auch nicht, daß er als Kollege bezeichnet worden war. Vielleicht war sein Lohn für den Verrat eine neue Stellung. Milena Hobzek blickte zufrieden. »Wir sind Ihnen natürlich für Ihre Unterstützung dankbar, daß Sie uns auf das Gemälde aufmerksam gemacht haben, aber ich darf sagen, daß man, solange es nicht gereinigt ist, unmöglich den Künstler wird verifizieren können. Die StehlikDokumente beweisen nur, daß die Sammlung auch Werke von Hals enthielt, aber sie bestätigen nicht, daß dieses Porträt zu den erwähnten gehört.« Ellie stimmte zu. Sie fragte, ob die Reinigung bereits begonnen habe. Frau Hobzek antwortete, daß das bald der Fall sein würde. Ellie erwiderte, daß es zweckmäßig sei, einen der Experten einzuladen, um das Gemälde in seinem augenblicklichen Zustand zu untersuchen. Die Frau argumentierte dagegen: »Wir können Ihre Begeisterung nicht teilen, daß wir unsere Verantwortung so einfach an Ausländer abtreten sollen. Das Gemälde gehört hierher und wird hier bleiben. Das ist unsere Sache -422-
und geht sonst niemanden etwas an.« Sie suchte bei dem Mann neben ihr Unterstützung, und er nickte leicht und pflichtschuldig. Ellie erhob sich zum Gehen. »Ich glaube, daß Sie unrecht haben, und Sie müssen damit rechnen, daß ich entsprechend handeln werde. Mag sein, daß Sie die Welt der Kunst nicht auf die Möglichkeit hinweisen wollen, daß Sie ein wichtiges Frans-Hals-Gemälde in Händen halten, vielleicht sogar das richtige Pendant für den Mann in der National Gallery of Art. Aber das hat nichts zu besagen, das habe ich bereits für Sie erledigt.« Der Blusenkragen zitterte über dem adretten Kostüm. Milena Hobzeks Wangen röteten sich. »Wie können Sie es wagen! Es ist nicht erlaubt…« »Zu denken?« konterte Ellie. »Ein wenig Phantasie walten zu lassen?« Ihr Blick wanderte zu dem Mann. »Die Wahrheit zu suchen?« Und dann ging sie leise hinaus, ließ die Tür weit offen und zwang die beiden, ihrem triumphierenden Abgang nachzublicken. Draußen geriet sie in eine Touristengruppe, ehe sie eilige Schritte hinter sich herkommen hörte. Sie hatte sich gefragt, ob er kommen würde. Er packte ihren Arm, war sichtlich erregt. »Ellie, um Gottes willen, was hast du vor?« »Das habe ich euch doch gesagt, euch beiden, und ich habe es getan. Jeder, auf den es ankommt, weiß es jetzt. Es gibt nichts mehr zu sagen.« Sie eilte weiter; wenn er reden wollte, mußte er mit ihr Schritt halten. Ihr war die Richtung egal, in die sie ging. Sie machte lange Schritte, bahnte sich ihren Weg durch Touristengruppen und ließ sich auch von einer Gruppe Soldaten nicht beirren. -423-
»Du verstehst nicht, Ellie«, bedrängte er sie. Aber seine Meinung war nicht mehr wichtig für sie. »Ich habe meine Entscheidung getroffen. Sie ist nur anders als die, die du und Milena Hobzek getroffen haben. Das ist alles.« »Um Himmels willen, was genau hast du getan?« Sie gab keine Antwort. Sie brauchte ihn nicht mehr, er war nur noch ein Bindeglied zu ihrer Vergangenheit, das sich als nicht verläßlich erwiesen hatte. »Was wirst du jetzt tun? Wirst du Prag verlassen oder bleiben?« Bleiben? Nun ja, weil sie es nicht ertragen konnte, einfach nach London zurückzufliegen, ohne wenigstens den Ansatz einer Identifizierung seitens eines der Experten zu haben. Der Amerikaner konnte erst in sechs Wochen nach Europa kommen, aber der Holländer war bereits unterwegs. Wenn seine Antwort nein lautete, dann würde sie schnell kommen, aber ein Ja konnte Wochen mit Tests und Vergleichen bedeuten. Aber bleiben? Der Mann versuchte sie dazu zu zwingen, auf ihn zu achten, aber Ellie weigerte sich und bog durch das Südportal, das goldene Tor der Kathedrale. Dann blieb sie stehen, die schieren Ausmaße des Gebäudes ließen all ihre Pläne und Träume winzig erscheinen. Ihr Unterbewußtsein lieferte ihr ein paar Zahlen: 28 Pilaster, 21 Kapellen, 122 Meter lang, 60 Meter breit und das Hauptschiff 32 Meter hoch. Bedeutungslose Zahlen, die nichts von der Wirkung vermittelten, die der gigantische Bau auf den menschlichen Geist ausübte. Ein englisches Paar, ein Geschäftsmann in einem blauen, militärisch geschnittenen Tuchmantel und eine jüngere, billig gekleidete Frau, vielleicht seine Sekretärin, -424-
versperrten Ellies Blick nach oben, als die beiden über die Eintragung im Reiseführer diskutierten. Sie ging weiter, ehe man sie fragen konnte. Die Kälte des Marmorfußbodens kroch langsam an ihren Beinen empor. Eines beunruhigte sie bezüglich einer Zukunft in Prag, eines mußte sie noch wissen, ehe ihre Seele zur Ruhe kam. Sie blickte über die Schulter. Der Mann lehnte einige Meter hinter ihr an einer Säule. Sie winkte ihn heran. Er kam, in der Hoffnung, sie habe es sich anders überlegt und würde sagen, was sie bezüglich des Gemäldes unternommen hatte. »Was waren das für Gerüchte, als ich damals nach London ging?« fragte sie geradeheraus. Sein überraschtes Lachen hallte von den Säulen wider und schwebte nach oben in die Kuppel. »Nichts, das der Wahrheit nahekam. Das ist bei Gerüchten selten der Fall.« Aber häufig doch, das war ihr Sinn. »Aber du erinnerst dich doch, oder?« »Du kannst dir doch vorstellen, was das für Gerüchte waren. Ein Mädchen im Teenageralter geht plötzlich von zu Hause weg, nach einem Sommer mit geheimen Rendezvous …« »Die haben geglaubt, daß ich schwanger war?« Er lachte erneut, aber etwas unsicherer. »Ellie, was hat das heute denn noch zu bedeuten?« »Sag mir, wer es dir gesagt hat.« In dem Augenblick, in dem er zu reden anhob, erkannte sie, wie es gewesen war. Nachdem sie ihn auf der Brücke hatte warten lassen, hatte er ihre Freundinnen aufgesucht, auch Nina, die ihr am nächsten stand und ihre Familie gut kannte. »Also gut«, seufzte er resigniert. »Ich war zu deinem -425-
Haus unterwegs und habe Nina getroffen. Sie verriet mir, daß du nach London gegangen wärst und daß es besser sei, wenn ich deine Familie nicht aufsuchte, weil die glaubten, du wärst wegen einer unglücklichen Liebesaffäre weggegangen. Und dann sagte sie, dein Bruder hätte behauptet, du hättest ihm gegenüber erklärt, du seist schwanger. Pavel hatte meinen Namen nicht erwähnt, aber ich befolgte Ninas Rat und hielt mich deiner Familie fern.« Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, ehe er hinzufügte: »Ich fand es immer recht seltsam, daß die Gerüchte aus seiner Richtung kamen. Ich hätte von ihm erwartet, daß er dich beschützt, dich verteidigt.« »Das hat Nina nur so erzählt.« Ellie zuckte die Schultern, um bei ihm nicht den Eindruck zu erwecken, daß sie seinen Einwand bestätigte. Jetzt hatte sich für sie die Lücke geschlossen. Pavel, der versucht hatte, sie zu vergewaltigen, es aber nicht geschafft hatte, hatte behauptet, ein anderer Mann habe sie genommen. Und ihre Mutter hatte seine Version akzeptiert. Ohne zu bemerken, daß er die Wahrheit verdreht hatte. Als sie mit Ellie darüber gesprochen hatte, daß es klug gewesen war, sich von der Vergangenheit zu lösen, war der Mann, den sie im Sinn gehabt hatte, gar nicht Pavel gewesen. Selbst das erwies sich jetzt als richtig. »Ich muß jetzt gehen«, sagte Ellie tonlos und ließ ihn stehen. Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, entfernte sie sich über den eiskalten Marmor. David Devereux' Taxi blieb in Sichtweite, der Trabant hoppelte hinter ihm her und scheuchte verträumte Fußgänger auseinander, die Smetanova Nabr als Aussichtspunkt für das Schloß und die Kathedrale -426-
betrachteten und nicht etwas als eine Hauptstraße. Dann blieb er hinter einer Straßenbahn hängen, und Rose konnte nur noch roten und cremefarbenen Lack sehen. »Das ist wirklich sehr aufregend«, sagte der Mann in der Tweedjacke, der ihr Fahrer war. »Aber ich bin nicht sicher, daß wir ihn einholen können.« »Dann eben überholen«, drängte sie. Der Trabant schob seine Nase vor, zog sie aber gleich wieder ein, als ein Bus auf sie zupolterte. Erst beim dritten oder vierten Versuch mühte sich der Wagen an der Straßenbahn entlang, und die Fahrgäste blickten etwas verärgert auf seine Bemühungen herab. Rose beugte sich aus ihrem Sitz nach vorn, preßte den rechten Fuß gegen ein nicht existierendes Gaspedal. »Weiter, weiter!« flehte sie halblaut. Der Fahrer lachte. »Der ist aus Ostdeutschland, dieser Wagen. Nicht gerade der beste, denke ich.« Als sie an einer Brücke vorbeikamen, hielt Rose nach dem Renault Ausschau. Weit vorn entdeckte sie einen blauen Farbklecks. »Dort!« sagte sie und stieß mit dem Finger gegen die Windschutzscheibe. Bis zu dieser Fahrt war ihr Prag als eine ziemlich verkehrsarme Stadt vorgekommen. Jetzt hatte sie das Gefühl, als wären alle Prager Autos gleichzeitig unterwegs, und zwar auf dem Weg, den sie eingeschlagen hatten, darauf aus, ihr den Weg zu versperren, sie aufzuhalten, David bei der Flucht vor ihr behilflich zu sein. Rose war von der Konfrontation in seinem Hotelzimmer enttäuscht. Menschen, denen man den Beweis vor Augen hält, daß sie die Unwahrheit gesagt haben, neigen dazu, zu gestehen und sich zu rechtfertigen. Das hatte er nicht -427-
getan. Sie hatte das, was sie wußte, vor ihm ausgebreitet, aber er hatte wenig von sich gegeben. Das Tonband würde Beweise ihrer Anklage, aber nicht seiner Schuld liefern. Eine Straßenkreuzung lag vor ihnen. Rechts oder links? »Rechts«, riskierte Rose. Sie polterten um eine Ecke. Vor ihnen stieg die Straße an. Der Fahrer legte krachend den untersten Gang ein, daß ihr die Zähne klapperten, und ein paar Frauen, die vor einem Bäckerladen warteten, um sich in den Kampf um das tägliche Brot zu stürzen, den Kopf herumrissen. Der Wagen polterte über das Kopfsteinpflaster auf den Hügel zu. Ohne sich dessen bewußt zu sein, versuchte Rose sich so leicht wie möglich zu machen, schwebte fast über ihrem Sitz, nur ihr Fuß trat immer noch ein fiktives Gaspedal nieder. Der Fahrer sparte wertvolle Sekundenbruchteile, indem er die Kurven auf der falschen Straßenseite nahm und im Zickzack den Hügel hinauffuhr. Auf diese Weise bewältigten sie zwei Kehren, dann kam das Aus. Der Ganghebel sprang aus der Position, auf der er sich hätte befinden sollen, und der Wagen rutschte ein paar Meter rückwärts, ehe die Bremse ihn festhalten konnte. »Jesses Maria!« »Verdammt!« fluchte Rose. Sie sah den Mann einen Augenblick lang an und forderte ihn stumm dazu heraus, wieder einmal zu sagen, wie aufregend das alles doch sei. »Können Sie ihn wieder anlassen?« Unwahrscheinlich, aber es wäre einfach unsportlich gewesen, ihn jetzt stehenzulassen, ohne wenigstens zu fragen. Als er es versuchte, spuckte der Motor ein paarmal und starb dann ab. Die einzige Möglichkeit bestand jetzt darin, den Wagen rückwärts rollen zu lassen, bis er am Randstein -428-
stehenblieb, um nicht die ganze Strecke bis zum Fluß hinunterzurollen. »Gehen Sie!« drängte er. »Wenn Sie sich beeilen, können Sie vielleicht…« Rose blickte den Hügel hinab. Er nahm die Proportionen einer Bergwand an. »Ich werde mir unten auf dem Platz ein Taxi besorgen.« Während sie bergab eilte, erfüllte eine Qualmwolke aus dem armseligen Motor die Luft. Verkehrsdünste, der Qualm von Braunkohle-betriebenen Hausfeuern, Industrieabgase, die der Wind meilenweit hierhergetragen hatte, attackierten gemeinsam ihre Lungen - wirklich eine passende Stadt für eine Konferenz über die Umweltprobleme Europas. Es gab keine Taxis. Rose ging über die Brücke zurück und dachte, daß sie, da David Devereux ihr jetzt entwischt war, vielleicht Ellie suchen sollte. Eine Weile wartete sie auf einen Bus und suchte dann eine Metrostation. Bald bemerkte sie, daß jemand sie verfolgte. Sie waren zu zweit junge Männer, die ihr schon früher begegnet waren, aber nicht in Prag. In Paris. Sie hatte sie bei der Greenworld-Demonstration auf der Seine gesehen und sie dann ein anderes Mal bei David Devereux entdeckt. Und jetzt war sie sicher, daß John Blairs Objektiv in Spanien einen von ihnen erfaßt hatte. Schlank, athletisch, sportlich gekleidet, hatten sie die idealen Voraussetzungen für eine Verfolgungsjagd. Sie sprang auf eine Straßenbahn, und sie sprangen in den zweiten Wagen, stiegen wieder aus, als sie ausstieg, und ließen ihr nicht den Hauch einer Chance, sie abzuschütteln. Rose hastete durch Gassen und Straßen, bahnte sich ihren Weg quer durch Menschentrauben, ging zu einer Tür -429-
in eine Kirche hinein und durch eine andere wieder hinaus. Die beiden klebten an ihr wie Kletten. Sie schlüpften in den alten jüdischen Friedhof und fand inmitten der zwanzigtausend aufragenden Grabsteine eine Gruppe amerikanischer Touristen, drängte sich zu ihnen, so, als wolle sie den Vortrag ihres Fremdenführers hören. Aufmerksamkeit vortäuschend, hörte sie mit halbem Ohr von Rabbi Jehuda Low ben Bezalal, der aus dem Schlamm der Moldau den Golem, das erste künstliche menschliche Wesen, erschuf. Als die wißbegierige Gruppe die in Stein gehauenen Löwen auf seinem Sarkophag studierten und einige der Männer Kieselsteine darauf legten, huschte ihr Blick an den Touristen vorbei und entdeckte einen ihrer Verfolger, der sich erfolglos hinter einer Platane zu verstecken versuchte. Tauben verspotteten sie mit ihrem zufrieden klingenden Gurren. Der Leiter lenkte seine Gruppe auf schmale Wege, führte sie wie ein Schäfer zwischen den dicht aneinandergedrängten Grabsteinen. Rose blieb bei den Amerikanern, netten Juden von der Ostküste. Aber es war hoffnungslos. Als sie herauskam, warteten ihre Verfolger. Sie begnügten sich damit, ihr zu folgen. Einige Male war sie ihnen auf Armeslänge nahe, aber sie packten nicht zu, ihre Anweisung schien zu lauten, sie zu verfolgen und einzuschüchtern. Sie waren effizient. Vor dem Haus in der Altstadt, wo sie Zak zum erstenmal begegnet war, klingelte sie. Die Männer warteten am Ende der Gasse. Als sie aufgab und weiterzog, folgten sie ihr. Sie führte sie um die Obst- und Gemüsestände der Havelska-Straße, vorbei an einem orangefarbenen Wagen der Müllabfuhr, durch Straßen mit Rokokopalästen und anderen, die sich ihres Bauschutts schämten. Ein Spiel, und doch kein Spiel, weil Rose wußte, was -430-
mit Leuten passierte, die mit ihnen spielten. Maria war tot. John Blair war tot. Der Gedanke ließ ihr Blut zu Eis gefrieren. Sie vergrößerte den Abstand zwischen ihnen, verlor, was sie gewonnen hatte, trickste sie an einer Kreuzung aus und gewann Vorsprung. In einem Kaufhaus verwirrte sie sie, indem sie eine Rolltreppe hinauffuhr, um schließlich in der Damenoberbekleidungsabteilung zu landen. Die Kundinnen, die passiv auf die Handvoll Einkaufskörbe warteten, die sozusagen ihre Eintrittskarten darstellten, wußten die Abwechslung zu schätzen. Rose bückte sich, huschte geduckt zwischen den Regalen dahin, wählte denselben Weg zurück, den sie gekommen war, und eilte davon. Krieger hatte recht. Er hatte davor gewarnt, sich mit David Devereux anzulegen, ganz besonders davor, es allein zu tun. Ellie als Zeugin dabeizuhaben, zählte nicht. David war gefährlich. »Wenn Sie darauf bestehen«, hatte Krieger gesagt, »dann setzen Sie Gewalt gegen Gewalt. Intelligenz und Witz nützen nichts gegen einen Mann, der Leute dafür engagiert, die Schmutzarbeit für ihn zu erledigen.« Krieger hatte es gutgemeint, aber sein Rat nützte nichts. Was erwartete er von ihr? Daß sie selbst irgendwelche Schläger anheuerte? Aber sie hatte sich nicht darüber lustig gemacht, dazu war er zu erregt gewesen. David hatte ihn hereingelegt. Krieger war es egal, daß er sein Versprechen gebrochen hatte, für die Information zu bezahlen, die ihn zu Nicole geführt hatte, aber er war empört darüber, daß David sie hatte ermorden lassen, anstatt sie zu retten. Ein alter Schurke, dachte Rose, dem es Vergnügen bereitet, wenigstens einmal im Leben etwas Gutes zu tun. -431-
Und dann wird etwas noch Schlimmeres daraus, weil ein jüngerer Schurke ihn übers Ohr haut. Krieger wütend zu sehen war ein beängstigendes Spektakel. Selbst wenn er heute nicht mehr aktiv war, so bezweifelte Rose doch nicht, daß David Devereux es noch bedauern würde, sich seinen bitteren Haß zugezogen zu haben. Sie hatte Kriegers Wut genutzt, um ihm das zu entlocken, was er über David wußte. Einmal hatte er ihr die Zähne mit der Behauptung langgemacht, daß David praktisch die Kontrolle über das Haus Devereux besäße, ihr dann aber Einzelheiten vorenthalten. Nach dem Verrat ging er freigebiger mit ihnen um. Sie waren erschüttert. In Paris, London, Madrid und New York stellten Roses Freunde und Kollegen Nachforschungen für sie an. Wenn das, was sie wußte und schloß, zu dem paßte, was Krieger glaubte, hatte sie einen Skandal von ernsthaften Ausmaßen aufgedeckt. Rose nahm ein Taxi zu Davids Hotel. Die zwei jungen Männer hielten immer noch vor dem Haupteingang des Kaufhauses Wache. Im Hotel nützte sie ein Gedränge am Empfang aus, um sich den Schlüssel von Davids Zimmer geben zu lassen. Das einfache Schloß an seinem Aktenkoffer ließ sich leicht öffnen. Sie nahm die Papiere heraus und achtete darauf, sie leicht durcheinanderzubringen. Da war sein Vortrag für die Konferenz am Nachmittag, eine leidenschaftliche Aufforderung, die er vermutlich mit großem Pathos vorbringen würde. Darunter lagen andere Dokumente, für deren Geheimhaltung er wahrscheinlich eher sterben würde. Sie fotografierte sie. Ihre Zeit war knapp. Sofern er keine Kopie bei sich -432-
hatte, würde er zurückkehren, um seinen Redetext abzuholen. Sie legte die Papiere wieder an Ort und Stelle, sperrte den Koffer ab und ging hinaus. Sie begegnete ihm, als er aus dem Lift trat. Eine Menge Leute schwirrten um ihn. Er war bezaubernd zu ihr. Ebenso bezaubernd hielt sie ihn auf, so daß der Lift ohne ihn hinauffuhr und sie miteinander reden mußten. In der Öffentlichkeit, wo Fremde und Konferenzdelegierte ihn sehen konnten, mußte er die David-Devereux-Persönlichkeit ausstrahlen, die sie vom Fernsehen kannten, die mit dem freundlichen Lächeln und der ehrlichen Entschlossenheit, den Planeten zu retten. Das gelang ihm mit entwaffnender Leichtigkeit, und Rose spürte eine Anwandlung von Zweifel, daß er wirklich zu dem fähig war, was sie glaubte. Aber in ihrer Tasche war eine Kamera, die einen Aspekt der Wahrheit barg. »David, ich lasse mich nicht abwimmeln.« Sie gab sich ebenso locker wie er. »Meine Fragen heute morgen waren ernstgemeint.« »Verleumderisch.« Sein Lächeln schwand keinen Augenblick, niemand, der sie beobachtete, konnte ahnen, worüber sie redeten. »Ich bin sicher, daß Sie nichts von alldem veröffentlichen werden.« »Ist das der Grund, daß zwei von Ihren Männern mich verfolgen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ein einfacher Parfumhersteller, Rose, und habe Spaß daran, Reden zu halten.« Ein Delegierter trat zu ihnen, und David nutzte die Gelegenheit, um sich von ihr zu verabschieden und mit dem Delegierten wegzugehen. Rose fuhr mit dem Taxi zu ihrer Wohnung und sah sich alle paar hundert Meter, um, -433-
obwohl niemand sie verfolgte. Ein kurzer Regenguß hatte das Kopfsteinpflaster feucht gemacht und den vor dem Eingangsbogen aufgehäuften Bausand gesprenkelt. Eilig trat sie durch die hohe Holztür in den düsteren Tunnel, tastete nach dem Schlüsselloch und rechnete jeden Augenblick mit einem Angriff. Rose durchsuchte das Badezimmer, die Küche und sämtliche Räume. Sie spähte hinter das Sofa, auf dem Ellie schlief, und unter das Bett. Als sie dann überzeugt war, allein zu sein, überprüfte sie noch einmal das Schloß an der Tür und machte sich dann per Telefon an die Arbeit. Zuerst Paris. Joelle war außer Atem. Informationen strömten von allen Seiten herein, und sie hatte Mühe, alles in sich aufzunehmen. »Sag mir, wie du selbst vorankommst«, schlug Rose vor, um damit einen Anfang zu finden. Für Joelle schien das der uninteressanteste Aspekt der ganzen Angelegenheit. »Oh, ich habe mit diesem Detektiv in ein paar Bars gesessen und ihm zugesetzt, bis er schließlich zugab, daß ich recht hatte und daß sein Klient einer der Devereux ist.« »David Devereux exakt.« »Falsch. Sein Klient ist Philippe Devereux, Davids Vater.« »Was?« Joelle genoß Roses Verblüffung, ehe sie mit nicht zu überhörender Ironie fragte, ob diese Neuigkeit ihre sorgfältig aufgebaute Theorie zum Wanken brächte. »Nein!« Rose schob die einzelnen Teile des Puzzles vor ihrem geistigen Auge neu zurecht. »Nein, tatsächlich paßt das sogar noch besser. Das erklärt, weshalb Paul Martin in -434-
Nordeuropa Anzeigen veröffentlicht hat, während David insgeheim in Spanien war, wo Krieger ihn hingeschickt hatte.« »Dann haben David und Philippe nach Nicole gesucht. Zufall?« »Nein, bestimmt nicht. Du erinnerst dich doch, daß Krieger sagte, es habe zwei verpatzte Lösegeldforderungen gegeben? David war damals noch gar nicht geboren, er kann also nicht der gewesen sein, der den Verdacht hatte, daß Nicole noch am Leben war.« »Aber warum haben sie das Mädchen jetzt erst gesucht?« »Geld. David hat mir erzählt, daß er seinen Vater und seinen Großvater nach dem Geld bedrängte, das, wie er es nannte, in Nicoles Sparschwein liegt. Davids Forderung nach dem Geld hat, wenn sonst nichts, das Geheimnis ihres Schicksals neu belebt.« »Okay«, sagte Joelle vergnügt. »Genug davon. Willst du jetzt den Rest hören?«
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ZWEIUNDZWANZIG Der Lärm, den der ausgeleierte Motor des Kühlschranks erzeugte, übertönte das Geräusch, das entstand, als die Tür aufgestemmt wurde. Der Mann war bei ihr im Zimmer, ehe Rose es bemerkte. Sie hörte einen Schrei, ihren eigenen. Und dann war sie auf den Füßen, zog sich von dem Tisch zurück, der ihr als Schreibtisch diente. Die gepolsterte Armlehne eines Sessels stieß an ihren Schenkel, die Kante einer Kommode schnitt in ihre Hüfte. Sie befand sich in einer Falle! Der Mann war einer der beiden, die ihr am Vormittag gefolgt waren. Er ignorierte sie und ging zielstrebig an den Tisch. »Rühren Sie nichts an«, herrschte Rose ihn an und wußte doch, daß er tun würde, was ihm paßte. Er hob ein Blatt Papier auf, bereitete sich auf irgendeine gewalttätige Reaktion vor. Aber es kam keine. Er las, wie David Devereux den Devereux-Kunstfonds angezapft und die Gelder ebenso wie die Einkünfte aus Kunstverkäufen in die Tresore von Greenworld umgeleitet hatte; las, wie er unter der Tarnung einer Straßendemonstration in Spanien den Mord an John Blair und dann später in London die Ermordung einer Sängerin befohlen hatte, die sich Maria nannte. Die Seiten enthielten den Bericht, wie ein reicher junger Weltverbesserer sich in einen mordbesessenen Fanatiker verwandelt hatte. Explosiv - aber es kam keine Reaktion. Dann begriff sie. Davids sportlicher junger Franzose konnte nicht Englisch lesen. Sie seufzte innerlich erleichtert auf und entspannte sich etwas, ließ ihr Gewicht gegen die Stuhllehne sinken. Aufschub. -436-
Der Stuhl bewegte sich, und der Mann blickte zu ihr herüber. Sie waren etwa gleichgroß, aber sie würde seiner Stärke nicht gewachsen sein. Seine Hände bewegten sich, und er trat näher. Sie stand eingeengt da und hatte keinen Platz, um sich zu bewegen. »Hierbleiben!« sagte er, und in seiner Stimme lag genügend Drohung, um das Verlassen des Raumes sehr unattraktiv erscheinen zu lassen. Er trat einen Schritt zurück, und sein Arm fegte ihre Papiere auf den Boden, warf ihren Computer hinterher. »Hierbleiben!« befahl er ein zweitesmal. Und ging hinaus. Eine Minute lang tat sie, wie er ihr befohlen hatte, verließ nicht einmal die Falle in der Zimmerecke. Dann riß sie sich zusammen, ging zur Tür, die in die Küche führte, und vergewisserte sich, daß das schwache Geräusch, das sie gehört hatte, von der sich hinter ihm schließenden Wohnungstür stammte. Wieder allein. Hastig hob sie den Computer und die Papiere auf, brachte die Blätter in Ordnung, tat sie in einen Umschlag und verbarg ihn unter ihrer Kleidung. Anschließend verstreute sie andere maschinenbeschriebene Blätter auf dem Tisch. Wenn er mit einem Übersetzer zurückkam, würden sie etwas über erheiternde Machenschaften von ein paar Priestern im Vatikan erfahren. Rose öffnete ein Fenster und steckte den Kopf hinaus. Zu ihrer Linken konnte sie ein Stück in den dunklen Tunnel des Kutschenbogens sehen. Im übrigen gab es da eine mit Beton und Gras bedeckte Fläche von vielleicht zehn Quadratmetern, die mit Wäscheleinen vollgehängt war und von den Gebäuden auf allen Seiten eingesehen werden konnte. Sie kletterte auf den Fenstersims. -437-
Nichts bewegte sich, mit Ausnahme einer Serviette auf einer der Wäscheleinen zwischen einem baufälligen Balkon im ersten Stock und einem Gerüstträger. Wo es Büsche, Blumenbeete, eben eine angenehme Fläche, um im Freien zu sitzen, hätte geben können, waren nur Verwahrlosung und fauliger Geruch. Das Gerüst war Jahre alt, vermodert; wo es den Boden berührte, wuchs Unkraut. Rose zögerte, wartete darauf, daß der Franzose irgendwo im Hinterhalt lauerte und sie nur auf die Probe stellte. Dann ließ sie sich auf den Boden fallen. Dicht an der Mauer schob sie sich auf den Kutschenbogen zu, mühte sich ab, in der Dunkelheit irgend etwas zu erkennen. Aber hinter dem Eisentor war nur schwarze Leere. Sie mußte ihren ganzen Mut zusammennehmen, um sich weiter auf jenes geheimnisvolle freie Stück zuzuarbeiten, wo möglicherweise ein Killer lauerte. John Blairs Fotos, Kriegers Information und dazu die Bestätigung von Kollegen aus der ganzen Welt deuteten darauf hin, daß dies der Mann war, der den Schuß in Spanien abgefeuert hatte. Er hatte die Reputation, die Kontakte, die Waffe. Das einzige, was fehlte, war eine Verurteilung wegen Mordes. Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen. Sie strengte sich bewußt an, ihre Hände zu lockern, ließ die Schultern kreisen, um die Spannung loszuwerden, die sie gepackt hielt. Sie fühlte sich eingeengt, faßte den festen Entschluß, zu überleben und das zu tun, was sie tun mußte, um jener willen, die gestorben waren, und um jener zahllosen anderen willen, die in die Irre geführt und mißbraucht wurden. Ihre Finger berührten eine Eisenstange des Tores. Rose öffnete das Schloß und schritt durch den Torbogen. Als ihre Augen sich angepaßt hatten, nahm sie dunklere -438-
Flecken in der Düsternis wahr, aber keiner davon sah wie ein Mann aus, der sich zum Sprung bückte. Vorsichtig öffnete sie die Holztür zur Straße. Sie brauchte genau fünf Schritte, um aus dem Schutz der Wellblechbahnen zu kommen, die das Baumaterial abdeckten, dann sah sie ihn in einem Wagen. Sie kam nicht weiter, die Gefahr war zu groß. Beschämt über ihre zitternde Angst, riß sie die aufgebrochene Wohnungstür auf und trat in das Zimmer, in dem er ihr zu bleiben befohlen hatte. »Verrückt!« Rose schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Das hier ist der schlimmste Ort, an dem ich sein kann. Hier drinnen kann er alles mögliche machen, und niemand wird es auch nur hören. Hinaus, hinaus ins Freie! Das ist die einzige Chance.« Sie rannte in den Eingangsflur, hörte wie das Eisentor sich bewegte. Sie blieb stehen, wirbelte herum, eilte ins Wohnzimmer. Am offenen Fenster lauschte sie. Aber da kamen keine Schritte über die Wendeltreppe herauf. Rose kletterte wieder hinaus und rannte auf die Straße. Niemand war im Wagen. Sie rannte den Hügel hinauf. Eine Gestalt, bei der es sich möglicherweise um den zweiten der Männer hätte handeln können, tauchte an einer Ecke auf. Sie drückte sich in eine schmale Gasse, die in einen Platz mündete. Als sie das Ende der Gasse erreichte, hörte sie schnelle Schritte hinter sich. Die Barockkirche St. Nikolaus nahm fast eine ganze Seite des Platzes ein. Rose hetzte die Treppen hinauf und fand zwischen den Monumenten und Fresken ein Versteck. Wenn sie sich nur orientieren konnte, wenn es einen anderen Ausweg gab, der zu dem Taxistand auf dem weiter unten liegenden Platz führte… Sie sah den zweiten Mann die Kirche betreten, sich suchend umschauen und -439-
dann mit gespreizten Beinen wie ein Grenzposten am Eingang stehen. Für eine intelligente Frau, dachte sie, triffst du ziemlich absurde Entscheidungen. Rose machte sich Vorwürfe und fing an, unruhig zu werden, weil sie Zeit vergeudete. Sie mußte es schaffen, heute hatte sie eine Chance, das zu schaffen, was sie später nie wieder schaffen würde. Das Schicksal bot ihr diese Gelegenheit, sie mußte sie ergreifen. Ihre Hand tastete nach dem Umschlag. Für den Augenblick war er sicher, aber wie lange? Falls man sie überwältigte… Der Mann hielt unverwandt Wache. Das Wort kam ihr ungewöhnlich passend vor. Wache. Wenn er Anweisung gehabt hätte, ihr etwas anzutun, wäre sie inzwischen bereits verletzt oder tot. Nein, die beiden bewachten sie, hatten darauf zu achten, daß sie an jemanden oder etwas nicht herankam. Und als sie soviel begriffen hatte, ahnte sie den Rest. Geübt in der Kunst, sich unter Gruppen von Fremden zu mischen, schlenderte Rose mit ein paar Deutschen, die lauthals die Fresken bestaunten, auf den Platz hinaus. Dann löste sie sich aus der Gruppe und lief den Hügel aufwärts, verließ die Neruda-Straße und kehrte im Zickzack zurück, um so die Verfolgung zu erschweren. Einmal kam sie vor einem Auto heraus, das der Mann steuerte, der ihr in ihrer Wohnung solchen Schrecken eingejagt hatte. Sie beschleunigte ihre Schritte, vermied es aber zu rennen. Ein Schrei. Der Wagen hielt an, und der andere Mann wie aus dem Nichts aufgetaucht - sprang hinein. Im nächsten Moment macht das Fahrzeug einen Satz und hätte sie ohne Mühe erfaßt, wenn da zwischen den riesigen Häusern nicht eine Gasse, nicht viel breiter als ein Schlitz, -440-
gewesen wäre. Rose rannte hinein, hörte, wie hinter ihr Wagentüren zugeschlagen wurden, und fand sich wieder in einem jener Hinterhöfe mit Wäscheleinen und Baugerüsten. Nirgends ein Ort, um sich zu verstecken. Nur oben. Ihre Hände rutschten an dem glitschigen Holz ab, aber sie bekam es zu fassen, arbeitete sich in die Höhe, bis hinauf zu einem gefährlich zur Seite geneigten Balkon im ersten Stock. Ein Teppich hing über das Geländer und bot Sichtschutz, als die Männer angehetzt kamen und darüber fluchten, daß sie ihnen entwischt war. Ihr Wortwechsel nahm ihr die letzten Zweifel. »Eine Kugel sollten wir ihr verpassen. Mir reicht es jetzt, dauernd hinter ihr herzuhetzen.« »Das geht nicht. Du weißt, was er gesagt hat.« Der andere schob sein Jackett beiseite, so daß man die Waffe sehen konnte. »Ja, ich weiß, was er gesagt hat.« Rose schob sich an das Ende des Balkons und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis den beiden klarwurde, daß sie nur hier oben sein konnte. Der Umschlag verrutschte, und sie schob ihn wieder zurecht. Dann malte sie sich in ihrer Phantasie ein freundliches Gesicht aus, das aus einem Zimmer herausspähte und sie rettete, ihr sicheres Geleit verschaffte. Dann verschwamm ihre Phantasievorstellung wieder, und Worte drangen von unten zu ihr herauf. Sie bekam mit, daß einer der Männer am Straßeneingang zu der Seitengasse Wache stehen sollte, weil sie beide überzeugt waren, daß sie in die Gasse gerannt war. Der andere sollte den Hügel hinauffahren und dort weiter nach ihr suchen. Es war der mit der Waffe, der sich dafür entschied, hierzubleiben. Sie spähte durch das schmiedeeiserne Gitter hinunter, als die Männer den Platz verließen. Dann kletterte sie auf das -441-
Gerüst. Zwischen diesem Gebäude und dem nächsten gab es einen schmalen Steg. Als sie auf dem Dach des Nachbargebäudes angelangt war, wurde ihr klar, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Sie stand vor einer Wand, die so hoch und so einladend wie eine Felsklippe war. Dort kauerte sie jetzt und zog den Arm aus dem Schatten, um auf die Uhr sehen zu können. Spät. Das Schattenmuster veränderte sich, die warme Farbe der Terrakottafliesen wurde am Ende des Daches kräftiger. Rose hielt die Luft an und kroch weiter. Nach einem Meter entdeckte sie im rechten Winkel zu der Klippe eine Öffnung. Ein Dach senkte sich zu dem herunter, auf dem sie sich befand. Es war wie ein Fächer geformt, und sie fand sich an der Spitze. Sie zwängte sich zwischen den hohen Mauern hinüber und sah eine weitere Straße, einen Obstgarten unter dem Strahov-Kloster, Gärten in der Nähe und Schloßmauern. Rose rutschte vom Dach auf eine Mauer und sprang hinunter. Die Leute beobachteten sie verdutzt, während sie damit beschäftigt waren, an improvisierten Ständen russische Armeemützen aufzuprobieren. Rose kümmerte sich nicht darum, daß sie Aufmerksamkeit erregte, sondern rannte so schnell sie konnte auf den Eingang des Schlosses zu. Sie war fast fort, beinahe angelangt. Sie zupfte an ihren Kleidern, schob sich den Umschlag mit den Fotografien und Papieren zu. Die Menschen standen dichtgedrängt, und als sie versuchte, sich hindurchzuzwängen, stieß sie auf eine Barriere. Eine Trompete tönte, Soldaten stampften in den neuen Uniformen, auf denen der Präsident bestanden hatte, um den Bruch mit der Vergangenheit zu symbolisieren, auf und ab. Bis die Zeremonie vorüber war, konnte keiner kommen oder gehen. Rose zwängte sich wieder durch die -442-
Menschenmenge. Die Tore tauchten vor ihr auf, und sie verlangsamte ihren Lauf, schöpfte Atem, glättete ihr Haar, vergewisserte sich, daß sie den Umschlag immer noch hatte. Am Eingang räusperte sie sich und bereitete sich darauf vor, eindrucksvoll zu klingen. Sie ließen sie ein, weil sie ihnen keine andere Wahl ließ. Der Weg war ausgeschildert, und sie rannte durch Korridore, bis sie die Halle erreichte. Mit einer Hand an der Tür schloß sie kurz die Augen und stählte sich für die Enttäuschung oder was auch immer ihr auf der anderen, ihr unbekannten Seite jener Tür abgefordert werden sollte. Dann schob sie sie auf. David Devereux stand am Rednerpult. Sie erkannte den Abschnitt seiner Rede, es war eine der letzten Passagen. Kameras und Mikrofone waren durch die ganze Halle verteilt. Er war der Höhepunkt der Veranstaltung. Einen qualvollen Augenblick lang schien ihr Plan verrückt, undurchführbar. David im Rampenlicht bemerkte sie nicht. Als der Höhepunkt seiner Rede nur noch ein paar Sätze entfernt war, zupfte sie die Blätter aus dem Umschlag und stürzte nach vorn auf das Podium, warf ihm Heuchelei und Betrug vor. Eine Anzahl Fernsehgesellschaften übertrugen die Konferenz live. Ehe sie vom Podium abgedrängt wurde, schickte sie ihre Anklage in die Welt hinaus und, was am bezeichnendsten war, Davids Reaktion. Völlig entsetzt, verlor er die Selbstbeherrschung und zerfetzte die Dokumentation, die sie in der Hand hielt. Die Organisatoren der Konferenz zerrten Rose in dem Durcheinander, das sich anschloß, aus der Halle. Dann war sie in einem Büro, und alle redeten in Tschechisch auf -443-
sie ein. Anschließend war sie wieder allein und konnte eine Auseinandersetzung im Nebenzimmer belauschen, die zum Teil in Tschechisch, zum Teil in deutscher Sprache geführt wurde. Sie zitterte. Sie hatte es getan, und es hatte sie erschöpft. Sie hatte ihr Bestes getan, jetzt lag es bei anderen Leuten, daraus zu machen, was sie konnten. Sie konnte nur… Die Tür öffnete sich, und die Männer, die sie angeschrien hatten, winkten sie heraus. Von Mißtrauen erfüllt, deuteten sie auf den Ausgang. Sie wandte sich von ihnen ab und erkannte ihren Retter, einen blonden Mann in einem dunklen Mantel: Willi. Sie wollte fragen, weshalb er hier war und nicht an seinem Schreibtisch in Frankfurt. Aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Kommen Sie, Rose. Ich denke, wir sollten hier schnell verschwinden, ehe die es sich anders überlegen.« Und als sie dann in seinem Wagen saßen und auf den HradschinPlatz fuhren, sagte er: »Ich wollte Sie in der Meinung lassen, daß ich es mir noch einmal überlegt hätte, Kriegers Memoiren zu veröffentlichen. Aber weil dies allem Anschein nach ein Tag für die ungeschminkte Wahrheit ist, will ich gestehen. Ich bin mit dem Ziel hierherkommen, Sie zu sehen, Rose. Ihr Pariser Büro hat mir gesagt, daß Sie hier seien. Ich habe mit einer charmanten jungen Dame namens Joelle gesprochen.« Rose zweifelte keinen Augenblick daran, daß Joelle ihm geholfen hatte. »Hat sie die Konferenz erwähnt?« »Sie glaubte, daß Sie hier sein würden. Ich hatte Sie schon beinahe aufgegeben, als Sie Ihren spektakulären Auftritt inszenierten.« Beide fingen zu lachen an. Dann meinte sie: »Ich muß ein eindrucksvolles Bild abgegeben haben.« -444-
»Es war wunderbar, etwas, woran David Devereux sich erinnern kann, wenn er im Gefängnis schmachtet.« »Oh, ich bezweifele, daß ich erreicht habe, daß er ins Gefängnis wandert. Er stammt aus einer reichen, mächtigen Familie, und es mangelt ihm nicht an Schlauheit. Aber ich habe ihn diskreditiert, Willi, und das werden die Leute nicht vergessen. Das wird eine weitere Episode in dem Epos um den Fluch der Devereux werden. Dem Gesetz kann er entkommen, aber dem nicht.« »Und Greenworld?« »Ich nehme an, daß die seine Mitgliedskarte jetzt zerreißen werden.« Man fand David Devereux am nächsten Morgen mit durchschnittener Kehle in seinem Hotelzimmer. Bei der Leiche wurde keine Waffe gefunden. »Krieger«, sagte Rose spontan, als sie es hörte. Ellie, die damit beschäftigt war, die Kissen und die Decke auf ihrem improvisierten Sofabett zu ordnen, meinte hingegen: »Selbstmord ohne Zweifel. Du hast ihn vernichtet.« »Krieger«, wiederholte Rose. Sie eilte zu dem Haus, das Krieger als sein Zuhause bezeichnete. Abgesperrt. Er war weitergezogen, so, wie er das immer würde tun müssen, nie seßhaft, nie frei und immer den Preis für seine Art zu leben bezahlend. »Willi hat angerufen, während du weg warst«, berichtete Ellie, als Rose zurückkehrte. »Er muß deine Pläne umstoßen.« All die Freude, die Rose empfunden hatte, war mit einem Schlag wie weggewischt. Sie hatte bis zu diesem Augenblick nicht gewußt, wie sehr sie sich darauf gefreut -445-
hatte, mit diesem Mann zusammenzusein, wie sehr ihr Glück davon abhing. Sie hatte die Nacht mit ihm verbracht, umsorgt und geliebt. Ellie musterte sie scharf. Eine Spur zu trotzig sagte Rose: »Vielleicht war es tatsächlich eine Frage von Leben oder Tod für mich, das zu Ende zu führen, was John Blair mit der Devereux-Story begonnen hatte, aber ich kann sie wirklich nicht mehr ertragen. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um an die Wahrheit heranzukommen, und jetzt gebe ich alle Schuldgefühle auf. Wenn das herzlos erscheint, tut es mir leid, aber ich will mich nicht länger von einer Tragödie belasten lassen, die man nicht ungeschehen machen kann.« »Schuld?« wiederholte Ellie, die von Roses Schuldgefühlen nichts geahnt hatte. Und dann: »Natürlich kannst du dich nicht von Erinnerungen anketten lassen, das können wir alle nicht.« »Tut mir leid, wenn ich all die alten Klischees aufführe, daß das Leben weitergehen muß.« Sie griff nach der Kaffeekanne. »Ist der frisch?« »Er ist vor zwei Minuten fertig geworden.« Der Metallschrank ächzte, als Rose Tassen herausnahm. Hinter ihr drängte Ellie: »Ruf ihn an, Rose, ich schenke inzwischen den Kaffee ein.« Ellie blieb in der Küche, während Rose mit Willi redete. Als sie zurückkam, strahlte sie. »Er hat nicht abgesagt, bloß den Treffpunkt geändert. Warum habe ich mir nur angewöhnt, immer das Schlimmste zu erwarten?« Rose ahnte nichts von Ellies Plan, künftig in Prag zu leben; sie wußte nur, daß sie sich mit dem Hals-Experten -446-
aus Holland treffen wollte, aber sonst nichts. Ellie bewahrte ihr Geheimnis für sich. Sie hatte Rose auch die Fotos nicht gezeigt, die sie in dem böhmischen Schloß gemacht hatte, nur die des Porträts. Nachdem Rose weggegangen war, um sich mit ihrem neuen Liebhaber zu treffen, betrachtete Ellie die Fotos noch einmal. Das düstere Frans-Hals-Pendant. Der zerbrochene hölzerne Sessel mit dem Kehrblech und den Haken, den sie für den Umschlag ihres Buches ausgewählt hatte. Und das Porträt des Mannes, der ihre erste Liebe gewesen war. Die Belichtung stimmte nicht. Sie hatte versucht, eine geheimnisvolle Gegenlichtstimmung festzuhalten, aber sein Gesicht lag im Dunkeln. Das Resultat wirkte wie ein Symbol für Ausflüchte. Ihre Finger strichen über die Stelle, wo seine Gesichtszüge hätten sein sollen. Sie wünschte, sie könnte sie in ihrer Erinnerung fixieren, seine Stimme zurückrufen, das Gefühl bei der Berührung seiner Haut nachvollziehen, als sein Körper sich über ihren legte. Jahrelang hatte sie in ihrem Herzen sein Gesicht, seine Stimme und die Berührung seiner Hand getragen. Seltsamerweise hatte sie ihn jetzt verloren. Enttäuscht rief sie hinaus: »Dabei wollte ich doch nur…« Und dann hörte sie so deutlich, als stehe er neben ihr, John Blairs Stimme, wie er sie mit seiner gespielten Tiefgründigkeit verspottete und über ›den Abgrund zwischen Absicht und Erfüllung, dem Ort, wo wir unser Leben verbringen‹ philosophierte. Sie lachte, saß ein paar Minuten da und dachte nach. Dann rief sie in New York an. »Sam? Ich komme nach Hause«, sagte sie. Die Worte klangen richtig. -447-
Sie schnappte sich ihren Mantel, und dann klapperten ihre Stiefel über das Kopfsteinpflaster. Auf der Brücke drängten sich wohlhabende Russen um einen Reiseführer, der die Geschichte verzerrte, die Besitzer von Verkaufsständen packten ihr Angebot an Kitsch zusammen, ein Mädchen im enganliegenden Kostüm sang Liebeslieder. In der Nähe des heiligen Wenzel fing ein Mann die lärmenden Möwen ein, verführte sie mit Brotkrumen, die er in den Wind warf. Sie kreisten um ihn wie Fragen, auf die es keine Antwort gibt.
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