Schade eigentlich! von Gerhard Höllisch
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Die tiefen Abgründe der Menschlichen Psyche wollen erst noch erforscht werden. Sehnsüchte, Ängste, Hoffnung und Hass liegen durch winzige Synapsen eng miteinander verbunden. Wer kann schon sagen, welche Wechselwirkungen zugrunde liegen, um den Verstand geniale Werke vollbringen zu lassen oder in Raum- und Zeitlosen Wahn zu verfallen? Der Mensch hat in den Jahrtausenden der Evolution gelernt, mit seiner Wirklichkeit etwas anfangen zu können. Die große Kunst des Gehirns liegt darin, in neuen, noch nie erfahrenen Situationen kreativ zu sein, um entsprechend handeln zu können. Anderenfalls würden wir uns in einer Endlosschleife von Erfahrungen und Sinneseindrücken befinden. Aber wenn es zu einer eklatanten Verletzung der Wirklichkeit kommt, ist der menschliche Geist nicht mehr in der Lage, darauf zu reagieren. Im günstigsten Fall verdrängen wir dann und ergeben uns dem Schicksal. Wir schieben es auf Zufälle, außersinnliche Wahrnehmung oder auf Träume. Im schlechtesten Fall erstarren wir im Wahnsinn! -xEs war Dienstag und Tom hatte die Schnauze voll! Den ganzen Tag wieder dieselbe Leier. Tom mach dies, Tom mach das! Tom, wie weit bist du schon? Der Job in einer Werbeagentur war nichts für Phlegmatiker. Man würde innerhalb einer Woche sonst nackt und schreiend aus dem geschlossenen Fenster springen. Und gerade dieser Tage war Hektik angesagt, denn der große Auftrag, den die Agentur an Land gezogen hatte (ein renommierter und ziemlich bekannter, aber auch langweiliger Waschmittelhersteller), wollte zu seinem Ende kommen. Und so starrten Tom heute haufenweise leere DIN A3 Blätter anklagend an, als wollten sie sagen, ”Da liegen wir nun - und was machst du? Lässt uns liegen und hast keine Idee, schäm dich!” 2
Und er schämte sich! Was sollte er zum Ende der Woche seinem Chef nur sagen, wenn er nichts vorweisen konnte. Er hasste das! Tom war ein Mensch, der immer alles im Griff haben musste, es gab nichts, was ihn umhauen konnte, außer Waschmittel. Verdammtes Waschmittel! Im fiel da nichts ein. Außer Sinnlosigkeiten wie: ”Blitzi, so sauber, da lachen ja die Flecken!” oder ”Hast du Dreck am Stecken, nimm Blitzi für die weiße Weste!” Der war eigentlich gar nicht schlecht. Oder wie wäre der? ”Heute Blitzi, morgen Blitzi, übermorgen wasche ich der Königin das Hemd!” Sie sehen schon, Tom hasste Waschmittel! Mit äußerst gedämpfter Stimmung fuhr er nach Hause. Und er hatte noch drei Tage Zeit, den Entwurf vorzulegen! -xTom war achtundzwanzig Jahre alt und voll im Berufsleben. Das hatte sich so ergeben, als ihn vor drei Jahren seine Frau mit dem Kind verließ. Er war damals wie ein Schluck Wasser in der Kurve, und sein Job war das einzige, was ihn von seinen persönlichen Sorgen ablenkte. Wenn er arbeitete musste er nicht ständig an seine Familie – an seine Tochter denken. Und er war beliebt und in der Branche gefragt. Alle liebten seine Slogans, die in Werbefilmen, auf Plakaten und in Zeitschriften zu bewundern waren.
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Man schätzte seine rationale Denkweise und sein gewissenhaftes Vorgehen. Bei seiner Arbeit gab es immer für alles eine Erklärung. Kurzum, in den letzten drei Jahren hatte er eine ziemlich steile Karriere hinter sich, und arbeitete in einer bekannten Werbeagentur als Abteilungsleiter. Aber sein Privatleben blieb dabei auf der Strecke! Nicht so das seines drei Jahre jüngeren Freundes Biff Schopenhauer, mit dem er seit nunmehr einem Jahr in einer DreiZimmer Wohnung hauste. Biff (der eigentlich mit richtigem Namen Dieter hieß) hatte ein ziemlich laues Leben. Er arbeitet als Computerprogrammierer in einer kleinen Softwarefirma, und konnte dort kommen und gehen, wann er wollte. Er hatte also genug Zeit für sein Privatleben, und gerade heute war er wieder dabei, es sich gut gehen zu lassen. Dieses ”Gutgehen lassen” hieß diesmal Ivonne, seine neue Freundin, und sie schätzte es nicht, wenn er sie warten ließ. Er war gerade dabei, sich die dunklen Haare zu fönen, um sich für das Kino entsprechend vorzubereiten und sprach: ”Wiiii Waaaa Deiii Arbeeeet heeeeeeu?” ”WAS?” schrie Tom. Biff schaltete den Fön aus und röhrte aus dem Badezimmer: ”WIE WAR DEIN ARBEITSTAG HEUTE?” ”DANKE!” ”WAS, DANKE?” ”DANKE, DAS DU DEN FÖN AUSGESCHALTET HAST, UM MIT MIR ZU REDEN!” schrie Tom zurück. ”WAS SCHREIST DU DENN SO?” ”WEIL DU SCHREIST!” ”Ach so! T’schuldige!” und dabei kämmte er nochmals ein paar Flusen vom Kopf. ”Passt schon... Weißt du, irgendwie lief es heute gar nicht so gut!” ”Ja, das merkt man schon irgendwie,” brummte Biff. 4
”Was soll’s! Das wird schon!” tonierte Tom. Biff brummelte etwas in seinen noch vorhandenen Bart und fragte dann, ohne vom Spiegel wegzusehen, während er Rasierschaum klarmachte: ”Willst du mit?” ”Was, ins Kino? Damit ich wieder wie abgestellt und nicht abgeholt Rumsitze, während du Süßholz raspelst? Nein, Danke! Ich bleibe hier und schmeiß mir ‘ne Pizza ein!” ”Wie du willst!” meinte Biff nur, rülpste, und schnitt sich dabei ein bisschen mit der Rasierklinge in den Hals. Es war schon dreiviertel acht abends als Tom seine Pizza aufgegessen hatte. Er stellte den Teller in die Spülmaschine und holte sich sein Buch, welches er gestern Mittag gekauft hatte. Es hieß „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“, von einem bekannten Psychologen und Autor namens Paul Watzlawick. Er hatte schon ein bisschen rein gelesen und es war wirklich gut. So setzte er sich wieder an den Küchentisch um ein wenig mehr über die Wirklichkeit zu erfahren. Das machte er immer so! Es gibt auch heute in der modernen Zeit noch Rituale. Nur die Bücher ändern sich. Trotzdem war er müde und würde wohl bald zu Bett gehen. Nicht so Biff. Der rauchte noch schnell seine Zigarette fertig, musste sich von Tom zum Tausendsten Male anhören, wie schädlich Rauchen doch sei, weil dieser überzeugter Nichtraucher war und machte sich auf zu gehen. ”Ich komme heute nicht mehr! Ich schlafe bei Ivonne,” sagte er im vorbeihasten, auf der Suche nach seinem Mantel. Er konnte manchmal mit seiner Vergesslichkeit richtig nerven. Nach der dritten Durchquerung des Flurs hatte er ihn endlich gefunden. Ein langer brauner, Wettergegerbter Ledermantel, der ihn irgendwie bedrohlich wirken ließ. Man konnte sich richtig vorstellen, wie er aus dem Auto stieg um in diesem wehenden Umhang eine Tankstelle auszurauben. Vielleicht 5
wurde dieser Eindruck aber auch nur dadurch verstärkt, dass er beim Laufen nie die Arme mitbewegte. Selbstredend, das Biff ein herzensguter Kerl war. Aber mit dem Mantel? ”Und du willst wirklich nicht mit?” fragte Biff noch mal. ”Nein, geh ruhig!” ”Bis morgen dann,” warf Biff noch kurz zurück, dann verließ er die Wohnung. ”Sehr schön! Endlich Ruhe.” murmelte Tom vor sich hin. Er war mit seinem Buch gerade an einer Stelle angelangt, die die Zusammenhänge der Konfusion erläuterte, die sich aus menschlicher Kommunikation heraus ergeben konnte. Da musste man sich schon etwas konzentrieren können. Er war gerade in dem Kapitel gerade auf der dritten Seite angelangt, als Biff wieder zur Haustür hereinkam. ”So, haben wir mal wieder was vergessen, hä?” schmonzte Tom ohne von seinem Buch aufzusehen. Mal ehrlich, wie konnte ein Mensch nur so vergesslich sein? Ein Wunder, das er überhaupt wieder hereinkam. Er hätte ja auch den Hausschlüssel vergessen können, dann hätte er geklingelt und ihn wieder aus seinem Buch herausgerissen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen! Immer dasselbe. Wie konnte man nur... ...Irgendetwas stimmte nicht! ...Tom wusste nicht genau was, aber irgendetwas stimmte nicht! ...Tom sah von seinem Buch auf. Biff stand im Flur, betrachtete Tom und starrte ihn ziemlich entgeistert an. ”Was ist? Hast du vergessen wo du hinwolltest? Ivonne wartet sicher schon!” sagte Tom verärgert. ”Was?” fragte Biff, immer noch sichtlich verwirrt. ”Na, deine Verabredung. Du wolltest doch ins Kino! Was ist los mit dir?” Tom wurde nun unsicher. 6
”Was meinst du damit, ich wollte ins Kino? Ich war im Kino!” antwortet Biff. ”Na klar! Willst du mich verscheißern? Du bist doch gerade eben erst zur Wohnung raus. Das muss ja ein regelrechter Kurzfilm gewesen sein.” ”Hör auf Tom! Was soll das werden? Versteckte Kamera oder was?” Tom schlug verärgert sein Buch zu. Verdammt! Er hatte vergessen ein Lesezeichen hineinzutun. ”Jetzt habe ich vergessen, ein Lesezeichen hineinzutun! Warum verduftest du nicht einfach, okay!” ”Ich bin gerade eben erst gekommen!” ”Nein, du bist gerade eben erst gegangen!” erwiderte Tom. ”Sag mal, hast du sie nicht mehr alle? Ich war seit gestern nicht mehr hier, war im Kino, habe bei Ivonne übernachtet und heute morgen auf meinem Handy einen Anruf von deinem Chef erhalten, wo du bleibst, nachdem du nicht zu Hause warst!” sagte Biff völlig entgeistert. -x”So! Nur um das Ganze noch mal Revue passieren zu lassen...” Tom versuchte, der Sachlage Herr zu werden. ”...Du behauptest also allen ernstes, du wärst gestern gegangen, heute gekommen und mein Chef hätte per Handy bei dir angerufen, wo ich den ganzen Tag geblieben bin?” er schwitzte. ”Ich behaupte es nicht! Es ist so!” ”Das kann nicht sein!” ”Ist aber so.” ”Ist es nicht!” ”Wenn ich’s doch sage! Hast du was getrunken?”
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”WAS SOLL DAS HEISSEN, ‘HABE ICH WAS GETRUNKEN’? NATÜRLICH HABE ICH NICHTS GETRUNKEN!” schrie Tom aus seiner Sicht mit Recht. Er war nämlich noch nie ein großer Fan von Alkohol gewesen. ”Na jetzt hör aber mal, Tom. Was kann ich dafür, dass du einen ganzen Tag lang blau machst? Kann mir ja eigentlich egal sein. Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen! Deinem Chef habe ich gesagt, ich wüsste nicht wo du bist, weil ich selbst nicht zu Hause bin. Stimmte ja auch!” ”Was ziehst du hier eigentlich ab? Soll das irgendwie lustig sein? Ich würde mal sagen, du lässt das jetzt mit den Späßchen und hörst auf damit. Der Witz hat sich ausgelutscht!” ”Ich mach’ keine Witze,” entgegnete Biff ruhig. Tom sah in lange und schweigend an. Dann sagte er, mit leicht unterkühlter Stimme: ”Okay Biff! Du willst es ja so! Komm mit, ich beweise dir, das ich Recht habe, und dann lass mich in Ruhe und geh ins Kino!” Biff atmete nur tief durch, äußerst geräuschvoll und folgte Tom wortlos ins Wohnzimmer zum Fernseher. Tom schaltete das Gerät ein und drückte auf die Videotexttaste: ”Also Biff, hier siehst du es selbst. Heute ist Mittwoch und... WAS STEHT DA? WIESO STEHT DA MITTWOCH? BIFF, WIESO SCHREIBEN DIE MITTWOCH?” Tom war nun völlig aus der Bahn. ”Na zum Beispiel, weil heute Mittwoch ist? Genauer gesagt Mittwoch 20:01 Uhr! Und jetzt lass mich in Ruhe! Spinn doch alleine rum!” und mit diesen Worten ging Biff in sein Zimmer. Dann rief er noch: ”Lass dir lieber für morgen einfallen, was du deinem Chef sagst!” dann war Stille angesagt. Tom sah ihm nach, überlegte noch kurz, ob er hinterher sollte, ließ es aber dann bleiben. Das konnte einfach nicht sein. Die Uhrzeit stimmte ja, aber es sollte Dienstag sein, und nicht Mittwoch. 8
Er ging zum Telefon und wählte die Zeitansage. Die Tonbandstimme war erbarmungslos: ”--- es ist Mittwoch, der sechste, neunte, neunzehnhundertachtundneunzig, zwanzig Uhr drei und dreizehn Sekunden. --es ist Mittwoch, der sechste...” Tom knallte den Hörer auf. Dann nahm er ihn wieder ab, überlegte kurz und rief Stephan, einen seiner Arbeitskollegen an: ”Stephan Krüger, Hallo?” ”Stephan, welcher Tag ist heute?” ”Oh, hallo Tom. Sag mal, wo warst du denn heute, wir haben uns schon...” ”...WELCHER TAG IST HEUTE?” ”...Heute? Mittwoch! Warum? Was ist los, willst du mir nicht...” Wieder fiel der Hörer krachend auf die Gabel. Tom fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Das konnte nicht sein. Heute war DIENSTAG, DIENSTAG, DIENSTAG! Nicht Mittwoch! Der Mittwoch hatte heute noch nichts hier verloren. Er war überflüssig. Er durfte nicht hier sein. Erst morgen. Aber morgen war heute. Aber wenn heute morgen war, konnte gestern nicht heute sein, oder wie? Tom konnte es nicht fassen! Jemand oder etwas hatte ihm einen ganzen Tag gestohlen! -xAm nächsten Tag (Donnerstag) fuhr er ohne gefrühstückt zu haben zur Arbeit und in seinem Kopf spukte das Problem herum, welches Biff am Vorabend (Dienstag? Mittwoch?) angesprochen hatte. Wie zum Teufel sollte er den fehlenden Tag seinem Chef erklären? Er hatte sich nochmals erkundigt, weil er es einfach nicht glauben konnte, aber die Fakten sprachen für sich. Tageszeitungen trugen als Datum ganz klar den Donnerstag. Heute Morgen im 9
Radio sprachen sie auch nur vom Donnerstag, also musste gestern Mittwoch gewesen sei. Natürlich! Alles andere wäre doch... Wenn es wirklich ein ganzer verlorener Tag war, was zum Teufel hat er dann 24 Stunden lang am Küchentisch gemacht? Er hatte nur drei Seiten eines Kapitels gelesen. Noch nie hatte er dafür 24 Stunden gebraucht, selbst bei Watzlawick nicht. Außerdem hatte Biff gesagt, sein Chef hätte gesagt, er wäre nicht zu Hause gewesen. Aber wenn er nicht am Küchentisch und auch nicht zu Hause war, WO DANN? Tom konnte es nicht fassen, dass er in seinem Leben einmal den festen Glauben daran hatte, das vor dem Donnerstag tatsächlich der Mittwoch kommt. Er ertappte sich sogar kurz einmal bei dem Gedanken, dass die ganze Welt sich gegen ihn verschworen hatte. Sie wollten ihn alle Fertigmachen. Jawohl, das war es! Aber warum? Wer hätte Interesse daran, einen zwar erfolgreichen aber trotzdem bedeutungslosen Werbedesigner mit einer derart gigantischen Täuschungsaktion zum Wahnsinn zu treiben? Das ist Blödsinn! Tom versuchte, eine plausible Erklärung für sein Dilemma zu finden, nur diesmal versagte seine Logik. Gedankenverloren stieg er auf dem Firmenparkplatz aus seinem Auto, bemerkte nicht, wie er dabei mit seiner Tür den nebenstehenden Wagen eines Arbeitskollegen anstieß und er bemerkte auch nicht das erboste ”He, mein Wagen!”. Er bemerkte außerdem nicht die Empfangsdame Katja, die ihm einen Guten Morgen wünschte und ihm verständnislos nachsah, weil er einfach ohne was zu sagen vorbeiging und er bemerkte eine Viertelstunde später auch nicht, das er dabei war, sich heißen Kaffee statt in die Tasse über die Hand zu schütten. Erst der Schmerz brachte ihn wieder zur Besinnung. Ganz kurz schepperten ihm noch Erinnerungsfragmente durch den Kopf, in denen er über rote Ampeln fuhr und gestern noch wildfremde Leute nach dem Tag gefragt hatte. 10
”Ah, Guten Morgen Tom!” Tom schrak auf, verschüttete den Kaffee auf seine leeren DIN A3 Bögen und seine Hose bekam auch noch etwas davon ab. ”Mist!” so viel zum Thema Kaffee. Sein Chef, der Leitmeier, stand vor ihm und sah ihn nur verwundert an. Er war ein netter Chef! Zwar nicht wie ein Kumpel, aber er ließ seine Leute in Ruhe, piesackte sie nicht von früh bis spät und war auch sonst ein recht umgänglicher Kerl. Aber auch umgängliche Chefs wollten eine Erklärung für einen kompletten Tag des Fehlens. Das Telefon auf Toms Schreibtisch klingelte. ”Hallo Tom, Biff hier! Ich wollte nur wissen, ob du in der Arbeit bist!” ”Rutsch mir doch den Buckel runter!” maulte Tom nur und legte wieder auf. Der Leitmeier sah Tom dabei zu, wie er seine Hose von Kaffeeflecken zu reinigen versuchte und sagte nur: ”Wissen sie was Tom? Wenn sie die Zeit finden, kommen sie doch heute im Laufe des Tages in mein Büro! Und vergessen sie bitte nicht den ’Blitzi’ - Auftrag!” dann verließ er diesen Ort der Peinlichkeiten. Toms Kollegen starrten zu ihm herüber, einige standen sogar auf um besser sehen zu können. Die Büros waren nur durch einfache Glaswände voneinander getrennt. ”Was glotzt ihr so? Habt ihr noch nie gesehen, wie jemand Kaffee verschüttet?” maulte Tom. Alles setzte sich, jeder ging wieder seiner Arbeit nach. Tom überlegte. Blitzi, natürlich! Er hatte ja jetzt nur noch heute und morgen übrig, um was auf die Beine zu bringen. Es war wirklich zum Verrücktwerden. Er schaltete seinen Computer an und erstmal Mal die empfangenen E-Mails, die jeden Morgen in seinem elektronischen Posteingang warteten.
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-xTom war nicht besonders gut darin, wenn es um Ausreden ging, und so war es eigentlich klar, dass es zu einem weiteren Debakel kommen würde, wenn er zum Chef ging, um ihm die Sache zu erklären. Aber aus dem Debakel wurde, wenn man es einmal rudimentär ausdrücken darf, ein Desaster. ”Na Tom. Erzählen sie! Was ist passiert?” ”Also Chef, es war so... Mein Auto wollte nicht anspringen. Es gab überhaupt keinen Muckser mehr von sich und ich stellte fest, dass ich gestern wohl das Licht angelassen hatte...” ”Gestern? Sie meinen wohl Vorgestern?” ”Ah, richtig, ja! Vorgestern natürlich!” ”Seltsam, ich kann mich daran erinnern, das ihr Auto einen Warnton von sich gibt, wenn man das Licht anlässt.” ”Ja sehen sie, Ah... Der war auch hinüber, vorgestern schon,... Ah. Deswegen habe ich nichts gehört! Keinen Mucks! Es hat sich Ausgebrannt!” ”Verstehe!” Der Leitmeier lehnte sich zurück. Er lehnte sich sogar außerordentlich besorgniserregend zurück! ”Und weiter?” Tom fuhr fort, nicht ohne dass ihm dabei etwas warm wurde. ”Tja, ich versuche also, jemanden zu finden, der mir ein Überbrückungskabel auleiht, weil ja wahrscheinlich die Batterie leer war...” ”...Wahrscheinlich?” ”Natürlich wahrscheinlich! Woher soll ich wissen, wie... Ah, Tja, es war halt die Batterie!” ”Und?” ”Tatsächlich war keiner da. Aber drei Jungs haben sich bereit erklärt, mir zu helfen?” ”Jungs, welche Jungs?” ”Tja, Schuljungs halt, warum?” fragte Tom vorsichtig.
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”Die müssen ja zu der Zeit schon alle in der Schule gewesen sein, sonst wären es ja keine Schuljungs, oder?” ”Sie schwänzten!” ”Alle drei?” ”Sie bildeten eine Interessengemeinschaft...” ”Eine Interessengemeinschaft?” ”Ah, ja... Sie wollten auf die,... Ah,... auf die desolaten Zustände ihrer Turnhalle aufmerksam machen!” ”Aber die Turnhalle der Schule in ihrer Gegend wurde doch vor zwei Wochen abgerissen!” ”Tja eben! Da sehen sie’s! Da muss sie doch desolat sein, oder?” Der Leitmeier runzelte die Stirn. Tom fuhr hastig fort. ”Jedenfalls rollten wir den Wagen an den nächsten Abhang und ich versuchte ihn zu starten!” ”Ihre Wohngegend ist die flachste der Stadt!” ”Nur wenn man sie von oben betrachtet!” Der Leitmeier legte den Kopf schief und schloss die Augen. ”Sie glauben mir nicht, stimmt’s?” ”Stimmt!” Tom sah ihn nur hilflos an. Der Leitmeier stand auf. ”Hören sie Tom. Ich weiß nicht, was passiert ist, und ich sehe, sie wollen mir es nicht sagen! Dafür sage ich ihnen was! Sie sind einer meiner fähigsten und loyalsten Mitarbeiter, und in zwei Jahren haben sie nur vier Tage gefehlt. Davon war keiner unentschuldigt. Sie sind pünktlich, ordentlich und kollegial. Was will man mehr? Also will ich mal nicht so sein und ihre, äh...’Geschichte’ so schnell wie möglich wieder vergessen. Ich bitte nur darum, dass so etwas so schnell nicht wieder vorkommt. Am besten gar nicht mehr!” ”Danke Chef!” sagte Tom, stand auf und war schon auf dem Weg zur Tür. ”Ach ja, und noch was Tom!”
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Oje, jetzt kam der große Hammer. Er wusste doch, das war nicht alles. ”Sie lügen so schlecht, das ich niemals auf die Idee kommen würde, sie in unsere Verkaufs-Abteilung zu stecken!” Mirco Andretti war Italiener und ein ausgeschlafener Bursche. Tom war froh, ihn in seinem Team zu haben, aber heute war Mirco ein bisschen zu ausgeschlafen. Sie arbeiteten an ’Blitzi’, als Andretti an ihn herantrat: ”Sag mal, Tom! Du bist heute etwas, äh... zerstreuter als sonst!” ”Ja, das stimmt! Hast du schon was von den Marketing Managern von Blitzi gehört?” Mirco sah Tom mit dem typisch Schräggestellten Blick an, den sicher alle in Florenz gebrauchten, wenn sie mit einer Antwort nicht zufrieden waren. Er antwortete aber nur: ”Sicher, sie haben uns, äh - ein Fax geschickt. Sind Änderungen drauf!” ”Oh nein! Bestimmt wollen sie Änderungen! Welche denn?” Und damit war Tom schon wieder mitten im Tagesgeschehen. Auf dem Weg nach Hause war Tom kein bisschen glücklicher als vorher. Wieder war ein Tag verstrichen, und wieder hatte er bezüglich ’Blitzi’ nichts vorzuweisen. Es war wie verhext! Auf der Rückbank waren seine Notizen, Zeichnungen und Textfahnen verstreut. Er wollte heute Nacht durcharbeiten, um morgen etwas zu haben. Biff war gerade dabei, sich einen ruhigen Fernsehabend zu machen, als Tom zur Tür hereinkam. ”Hallo Tom. Dein Tag?” ”NEIN!” ”Okay, okay! Entschuldige, dass ich gefragt habe...”
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Tom schleppte seinen Bürokram zum Schreibtisch und ging in die Küche, um sich Kaffee zu machen. Er bemerkte den beobachtenden Blick seines Freundes, sagte aber nichts. Der Kaffee landete fein säuberlich mit dem Löffel abgezählt im Filter, als Biff im Türrahmen sagte: ”Weißt du Tom, du machst mir allmählich Sorgen! Zuerst deine Laune seit drei Tagen, die ist ja wirklich unter aller Kanone. Und dann diese Lüge mit dem verlorenen Tag, also ich...” ”DAS WAR KEINE LÜGE! LASS MICH IN RUHE!” Tom stampfte zur Küche hinaus, ging in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. War es sich wirklich sicher? Hatte er sich das Ganze nur eingebildet? Vielleicht lag es an der vielen Arbeit, die er im Moment hatte. Brauchte er Hilfe? Tom war sich nicht mehr ganz sicher, ob er nicht zum Psychiater gehen sollte. Aber der würde ihm sowieso nicht glauben, und ihm bestimmt irgendeinen Dreck über seine Kindheit und seinen Stress erzählen. Das alles ist psychosomatisch, dass sollte man nicht so schwer nehmen. Kommen sie nächste Woche wieder. Das macht dann den üblichen Tagessatz, und so weiter... Rausgeschmissenes Geld! Tom war kein Mensch, der einen Psychiater brauchte. Er konnte sein Leben selbst in die Hand nehmen. Aber da irrte er sich! Es war halb drei Uhr morgens, als Tom seine Arbeit niederlegte. Er hatte jetzt wirklich was Brauchbares vor sich liegen. Tom konnte sich schon vorstellen, wie in ein paar Tagen überall Plakate mit seiner Werbung an den Wänden und Mauern der Stadt hingen. Der Leitmeier würde zufrieden sein. Aber selbst nach diesen fünfeinhalb Stunden Arbeit war er immer noch nicht müde. Er räumte leise die Kaffeekanne zu15
sammen mit der Tasse in die Küche. Biff schlief schon längst. Auf dem Tisch lag sein Buch, mit dem Lesezeichen daneben. Paul Watzlawick. Eigentlich keine schlechte Idee! Noch ein bisschen lesen und ab in die Falle. Er schlug es auf und suchte die Seite mit dem Kapitel, welches die Zusammenhänge der Konfusion erläuterte, die sich aus menschlicher Kommunikation heraus ergeben konnte. Aber schon bald fielen ihm die Augen zu, und er ging zu Bett. Susanne, seine Frau hatte noch viel zu erledigen. Also stieg sie aus dem Wagen und bedeutete Tom weiterzufahren. Sie würde sich mit ihm auf dem Marktplatz wieder treffen. Julia, seine Tochter winkte ihm zu und Tom sah die beiden weglaufen. Das machten sie immer so, wenn die Zeit knapp war. Er kümmerte sich um die Lebensmittel, während sie die anderen Dinge erledigte. Im Einkaufszentrum angekommen, steckte er eine Münze in den Einkaufswagen und machte sich daran, die Liste systematisch abzuklappern. Brot, Tomaten, Nudeln, Milch und Eier für Pfannkuchen, Fleisch und alles andere, was von ihm verlangt wurde. Eigentlich hasste er es ja, am Samstagmorgen einzukaufen, aber unter der Woche war nun mal nicht die Zeit dazu da. Er ging zur Kasse und legte alles auf das Laufband. ”Wo kommen sie denn her?” wollte die junge und hübsche Kassiererin wissen. Sie war eine Wucht von einem Mädchen. ”Aus der Wurstabteilung, warum?” ”Wir schließen gleich. Wegen ihnen muss ich die Kasse noch mal aufmachen!” WAS? Wie konnten die schon um zehn Uhr morgens schließen? Jetzt erst bemerkte er, das außer ihm und dem Personal niemand mehr da war. 16
Er sah auf die Uhr. Es war nachmittags um vier! Tom bekam Panik. Wie konnte es schon so spät sein? ”Du solltest dich beeilen! Deine Zeit läuft ab!” sagte eine Stimme die sich alt und kränklich anhörte. Er schreckte von seiner Uhr auf. Wer hatte da gerade zu ihm gesprochen? Die Kassiererin! Sie saß da, hatte aschweißes Haar und grinste ihn mit ihrem achtzigjährigen Lächeln diabolisch an. Sie hatte sich in Sekunden in ein altes Weib verwandelt, und während er dies feststellte, wuchsen ihre Fingernägel immer länger und länger! Sie umklammerte seine Handknöchel. Tom konnte nicht mehr! Er riss sich los und bemerkte voller Entsetzen, das sich die Hand der Alten immer noch um seinen Knöchel krallte. Nur fehlten der Arm, der Rest und überhaupt alles! Angeekelt schleuderte er den verwesten Körperteil von sich. Er schnappte sich die Einkaufstüten und rannte so schnell ihn die Füße trugen zum Auto. Ihm war, als wäre ihm der Tod auf den Fersen. Die Tasche mit den Eiern riss auf, und alles flog auf den Boden. Ein unerträglicher Gestank verbreitete sich sofort im ganzen Parkhaus. Er öffnete die verbliebene Tüte und aus dem Fleisch krochen die Maden über seine Hand. Kreischend schleuderte er das verdorbene Etwas gegen eine Autotür, alles lief die Scheibe herunter. ”Das kann nicht sein! Was ist hier los? HILFE!” Tom sprang ins Auto, startete es hastig mit zitternden und stinkenden Händen und fuhr mit Höchstgeschwindigkeit aus der Parkrampe heraus. Hinter sich hörte er noch im Lautsprecher des Kaufhauses eine Stimme: ”Kauft Blitzi, für zeitlose Sauberkeit! HAHAHA!” Eine Frau konnte gerade noch ihren Einkaufswagen wegziehen, als Toms Auto mit atemberaubender Eile vorbeipreschte und Richtung Marktplatz raste. 17
Der Schweiß lief ihm herunter. Er hatte Angst! Schreckliche Angst! Was passierte mit ihm? Er bremste, die Reifen quietschten. Passanten sahen zu ihm herüber, als er aus dem Auto hechtete, und zum Vereinbarten Treffpunkt hastete. Sein Atem ging stoßweise und er stolperte mehrmals. Und da standen sie! All seine Freunde! Sie begrüßten ihn mit teuflischem Grinsen, alle älter als neunzig Jahre. Daneben stand ein Mann. Der einzige mittleren Alters mit schwarzem Haar und einem dunklen Oberlippenbart. Tom hatte den Mann noch nie im Leben gesehen. ”Sieh, was du gemacht hast!” Und da sah er sie! Seine Frau lag hilflos und mit rasselndem Atem auf dem Pflaster und sah ihn mit glasigen Augen an. ”Wo warst du? Ich habe auf dich gewartet...” Tom kniete sich zu ihr herunter und weinte. Vor seinem geistigen Auge taten sich die vielen Bilder vergangener, verschenkter Tage auf, die nie wiederkehren würden. Zitternd brachte er hervor: ”Es tut mir leid, es tut mir so leid...” Aber sein Frau! Sie hustete schwer und erbrach sich über seine Hände. Blut klebte an seinen Fingern, als er Ihren Kopf hielt und ihr durch die Haare strich. Aber sofort zog er seine Hände wieder zurück. Lange weiße Haare waren überall! Ihre Kopfhaut löste sich vom Schädel. Es ging so leicht, als würde man das Betttuch eines Kopfkissens abziehen. Man konnte den blanken Schädelknochen sehen. Dann starb sie! Die Augen schrecklich aufgerissen! Der goldene Glanz, den er immer so geliebt hatte, erlosch. Überall klafften offene Schwielen, aus denen der Gestank des Todes drang. Eine greise Hand legte sich auf seine Schulter. Sie war so kalt, das er es durch das Hemd spüren konnte. Er drehte sich ruckartig um. 18
Die faltige alte Fratze seiner Tochter Julia feixte ihn an, und sprach: ”So was nenn ich aber mal jemanden versetzen! HAHAHA!” Tom sank kraftlos auf die Knie, legte die Hände auf die Ohren und schrie in den Himmel. Er schrak hoch! Es war ein Traum! ES WAR NUR EIN TRAUM! Gottlob! Sein Wecker hatte nicht geklingelt. Warum nur, er hatte ihn doch noch gestellt? Er war durch und durch nass geschwitzt. Mein Gott! Was für ein Morgen, was für eine Nacht. WAS FÜR EIN TRAUM! Tom stand auf und... Du lieber Himmel! Er hatte ins Bett gepinkelt! Fünf Minuten hatte er Zeit, sich zu duschen, anzuziehen und in die Arbeit zu kommen. Viel zu wenig! Er würde zu spät kommen. Schnell warf er die versaute Bettwäsche in den Wäschekorb und machte sich daran, die Wohnung zu verlassen. Biff war schon weg. Das wunderte ihn etwas, stand er doch normalerweise erst so gegen zehn Uhr morgens auf. Warum war er heute schon so früh auf den Beinen? Was soll’s? Nicht sein Problem! Er stieg ins Auto und wollte in die Arbeit fahren, als ihm siedendheiß einfiel, dass er seine Unterlagen ja noch auf dem Schreibtisch liegen gelassen hatte. Also ging er noch mal ins Haus. Aber sie waren nicht mehr da. Seine Zeichnungen und Entwürfe waren weg! Verdammt! Er durchsuchte die ganze Wohnung, aber nichts! Sie waren spurlos verschwunden. Hatte Biff sie etwa mitgenommen? Quatsch! Was sollte der den damit anfangen? Oder hatte er sie woanders hingelegt?
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Nein, nein! Sie mussten hier auf dem Schreibtisch liegen! Aber da waren sie nicht! Jetzt konnte er noch einmal alles neu machen! Und dabei hatte er gerade noch bis Mittag Zeit, denn heute war Freitag und damit Abgabetag! Also hetzte er in die Arbeit. Auf dem Weg musste er an der Ampel zur Stadelmeierstrasse halten. Und da sah er es! Ein großes Plakat, an der Zufahrtsstraße zum Shopping-Center Süd. ”Blitzi - und die Wäsche strahlt weißer als Ihre Zähne!” Dazu das Bild einer Frau, die den Betrachter mit ultrasauberer Kauleiste und ebenso reiner Bluse angrinst! Das konnte nicht sein. Das war seine Idee! Man hatte ihm seine Idee geklaut. Gut, sie war schlecht, aber es war seine! Ein böses Hupen erinnerte ihn daran, das die Ampel auf grün umgesprungen war. Tom gab dem Rückspiegel seines Wagens ein verächtliches Zeichen mit dem Mittelfinger und preschte Richtung Arbeitsplatz. Die konnten was erleben! Das konnte man mit Tom nicht machen! Wutentbrannt donnerte er ins Büro. Seine Kollegen starrten ihn völlig entgeistert an. Nicht nur das! Aus allen anderen Bereichen strömten die Angestellten in Toms Richtung. Dieser konnte nur mühevoll seinen Zorn im Zaum halten. Er deutete mit dem Finger auf eine Version seines Werbeplakates, das an einer der Wände seines Büros hing. ”Ich will wissen, wer das getan hat! Ich will den Verantwortlichen sofort sprechen!” Aber alle starrten ihn nur mit offenem Mund an.
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Tom wertete dies als offene Provokation und stopfte sein Hemd in die Hose. Ob es ihm rausgerutscht war oder ob er es heute Morgen überhaupt richtig angezogen hatte war ihm im Moment völlig egal. Er wollte Blut sehen! Der Leitmeier bahnte sich einen Weg durch die Menge. ”Ah, guten morgen Chef! Den Kollegen ist nicht mehr zu helfen! Sie haben mir einfach meine Idee geklaut! Sehen sie...!” Aber der Leitmeier sah überhaupt nicht danach aus, als würde er Tom in dieser Angelegenheit Schützenhilfe leisten. Im Gegenteil, er hatte einen vor Zorn roten Kopf und schmetterte: ”Ich bin überzeugt davon, dass sie derjenige sind, der Hilfe braucht. Und jetzt kommen sie sofort in mein Büro!” ”Wie bitte?” Tom war baff. ”SOFORT!” Tom saß in demselben Sessel, in dem er auch schon gestern gesessen hatte. Der Leitmeier stand am Fenster und starrte nach draußen. Dann drehte er sich um und lief zu seinem Schreibtisch, setzte sich aber nicht hin. ”Was denken sie sich eigentlich, wer sie sind? Der Pascha persönlich? Was ist denn nur in sie gefahren?” ”In mich gefahren? Man hat mir...” ”RUHE! JETZT REDE ICH!” Tom verhielt sich still. Wenn der Leitmeier so anfing, war es klüger, die Klappe zu halten. Noch nie hatte er seinen Chef so aufgebracht erlebt. ”Wissen sie eigentlich, was wir wegen ihnen unternommen haben? Nachdem uns ihr Freund Biff all ihre Unterlagen vorbeigebracht hatte, haben wir alle Räder und Hebel in Bewegung gesetzt, um sie zu finden! Man hat sich hier Sorgen um sie gemacht!”
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”Nur weil ich eine halbe Stunde zu spät in die Arbeit komme?” wollte Tom wissen. ”Wie bitte! Was haben sie gerade gesagt?” der Leitmeier konnte den Mund nicht mehr schließen. ”Na ja. Wegen einer halben Stunde zu spät kommen...” ”TOM! HÖREN SIE AUF! IN DREI GOTTES NAMEN HÖREN SIE DAMIT AUF!” Der Leitmeier hatte beide Hände an den Kopf gelegt und setzte sich hin. ”Chef, was ist los?” Tom war nun sichtlich besorgt. Irgendwie saß er ganz tief in der Scheiße und er wusste nicht warum. Wegen was? Der Leitmeier sah in an und sagte: ”Sie wissen wirklich von nichts! Das kann ich nicht glauben!” Jetzt wurde Tom ärgerlich! ”Zum Teufel, Chef! Dann sagen sie mir doch was ich nicht weiß!” ”Sie waren volle zwei Wochen spurlos verschwunden!” -xMan kann nicht sagen, was in einem Menschen vor sich geht, dem die Realität buchstäblich unter den Füßen weggezogen wird. Seit frühester Kindheit wird gepredigt, immer korrekt mit seiner Umwelt umzugehen. Aber was soll man tun, wenn die Umwelt nicht korrekt mit einem selbst umgeht. Mit dem selbst, das uns ausmacht? Und vor allem, wenn man gar nicht merkt, was einem widerfährt? Posthypnotische Erzählungen haben erbracht, dass sich der Patient an gar nichts erinnert, wenn der Therapeut es so wünscht. Es existiert nur die Erfahrung einer angenehmen Ruhephase, die erholsam und heilend war. 22
Aber tatsächlich tat die Person Dinge, die sie nie bei sich selbst für möglich halten würde. Was passiert, wenn die Sache pathologisch wird? Wenn sich in die Realität die Krankheit der vermeintlichen Einbildung einschleicht? -xWortlos fuhr Mirco Andretti Tom nach Hause. Seit dem Gespräch mit seinem Chef hatte sich Tom völlig verändert. Seine Augen waren ausdruckslos nach vorne gerichtet und lagen tief in ihren Höhlen. Binnen weniger Minuten sah er aus wie ein Gespenst. Seine Hände waren leicht angehoben und zitterten. Aus dem Radio klang der Sound von Huey Lewis and the News: The Power of Love. Der Soundtrack aus dem Film ”Zurück in die Zukunft”. Ein schlechter Scherz! Tom stieg wie ein Zombie aus dem Wagen, schlug die Tür hinter sich zu und starrte seine Wohnung an. Er wollte nicht zurück in dieses Fragment aus Zeit, das nun schon zwei Wochen älter war als er selbst. Vielleicht war es selber ja das Fragment! Er achtete nicht auf Mirco, der ihn mit gebeugtem Kopf über den Beifahrersitz hinweg aus dem Auto beobachtete. Da er kein ”Tschüß” oder ”Mach’s gut” zurückbekam, schüttelte er den Kopf und fuhr in die Werbeagentur zurück. Das Geräusch des Anfahrenden Wagens brachte Tom kurz in die Realität zurück (wie oder wann die sich auch immer gestalten sollte). Er nestelte in seiner Tasche herum, fand den Wohnungsschlüssel und trat ein. Sein Zuhause kam ihm wie eine Gruft vor! Mechanisch legte er seinen Mantel ab und setzte sich an den Küchentisch. 23
Vor ihm lag das Buch von Paul Watzlawick! Er starrte es an! Er hasste es! Dieses Buch! Jedes Mal, wenn er es las, geriet sein Leben aus den Fugen! Er fegte es zusammen mit Biffs Aschenbecher, den Kerzenhalter und ein paar Briefen vom Tisch. Schreiend rannte er zum Bücherregal in seinem Zimmer und wuchtete es mit aller Gewalt krachend auf den Boden. Er trat auf den Büchern herum, zerriss einige davon, warf sie in die Ecke und zerstörte damit die Gläser, die in einer Vitrine standen. Er war völlig außer sich, trat die Schubladen seines Schreibtisches ein, und warf denselbigen mit einem Ruck um. Dabei verstreuten sich Filzstifte, Radiergummis, Lineale und Fotos seiner Frau und seiner Tochter im gesamten Zimmer. Er riss Bilder von der Wand und zerschlug sie über Stuhllehnen. Scherben, zerbrochenes Holz und Flecken auslaufender Tinte waren überall am Boden. Er warf den Kleiderständer um, schleuderte die Wäsche aus dem Wäscheschrank und schlug mit aller Kraft auf seinen Wecker ein, der sofort seine elektronische Existenz aufgab. Dann drehte er sich mehrmals um die eigene Achse, stolperte, fiel über die Couch und blieb mit dem Gesicht auf dem Boden liegen. Er merkte nicht den stechenden Schmerz, den ihm die Scherben zufügten. Er lag nur da, zitterte am ganzen Körper, bewegte sich nicht und weinte.
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-xWenig später hastete Biff zur Tür herein. ”Mein Gott!” Die Wohnung war ein Trümmerhaufen! Tom saß in seinem Zimmer auf dem Bett, die Augen glasig, mit blutverschmiertem Gesicht und Händen. Er stöhnte! ”TOM, TOM! Was ist passiert?” Biff sprang auf ihn zu und untersuchte die Verletzungen. Keine tieferen Schnitte. Nichts ernstes, aber es sah fürchterlich aus. Aus dem Mund von Tom könnte er so etwas wie ”Watzlawick hat Blitzi nie erfunden... Ich war es! Ich!” hören. Biff schleppte Tom ins Bad, machte die Dusche an und stellte ihn, angezogen wie er war, unter das eiskalte Wasser. Tom schrie und schlug wild um sich, und Biff verpasste ihm eine Ohrfeige. Dann war Ruhe! Wenig später saß er vor dem Bett seines Freundes. Er schlief! Biff fragte sich was er tun sollte. In so einem Zustand hatte er Tom noch nie erlebt. Moment! In so einem Zustand hatte er noch nie zuvor überhaupt einen Menschen erlebt! Er fragte sich, was er nun tun sollte. Einen Arzt rufen? Nein! Die würden ihn mitnehmen und dann würden sie weiß Gott was mit ihm machen. Den Vater anrufen? Das würde nichts bringen! Die beiden lagen seit dem Tod von Toms Mutter im Clinch. Der Sohn hatte dem Vater nie verziehen, dass er ein halbes Jahr nach diesem tragischen Vorfall wieder eine Freundin hatte. Das hatte Biff am eigenen Leib verspürt, als er den Vater vor zwei Wochen anrief um nachzufragen, ob Tom vielleicht bei ihm war. Er bekam damals schon die recht patzige Antwort, Tom solle doch bleiben wo der Pfeffer wächst.
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Und so eine Reaktion eines Vaters, selbst wenn sein einziger Sohn als verschollen galt, sprach tausend Bände. Anders war es mit Toms Ex-Frau. Die hatte sich wirklich nach einer Woche große Sorgen gemacht, wo Tom steckte. Und das wollte etwas heißen, nachdem sie sich viele Monate nicht mehr mit Tom gesprochen hatte. Alle hatten sich Sorgen gemacht. Ja, Biff würde Susanne anrufen. Es fiel ihm sonst niemand ein. Außerdem musste sie wissen, dass Tom wieder zurück war. Sie brauchte sich nicht mehr zu sorgen. Obwohl, wenn man Tom so ansah. Die Sache war noch nicht ausgestanden! Aber vielleicht konnte sie ja helfen. Sie kannte Tom schließlich besser als er. Gut, sie hatte ihn schlecht behandelt, aber Tom war damals auch nicht gerade ganz unschuldig an der Trennung der beiden. Tom markierte seit der Scheidung ihr gegenüber immer den starken Mann. Aber vielleicht würde das ja jetzt helfen und ihn aus seiner Lethargie herausreißen. Seit einem Jahr hatte Tom Susanne und seine Tochter nicht mehr besucht, und umgekehrt war es genauso! Biff stieg über das zerstörte Bücherregal und griff zum Telefonhörer, während Tom schlief. Tom stieg über sich selbst hinweg. Irgendetwas hatte ihn getroffen. Er sah auf sich selbst herunter und war sich sicher, tot zu sein! Wo war der Tunnel mit dem Licht am Ende? Warum lief vor seinem geistigen Auge nicht der Film seines Lebens ab? Wo war er? Um ihn herum war nur Nebel und er watete im Morast. Zähflüssiger, schleimiger Dreck, der einen nur schwer vorwärts kommen ließ. Es war kalt. Da hörte er eine Frauenstimme: ”Tom, komm hierher, Tom! Alles wird gut!”
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Es war eine zärtliche, liebevolle Stimme und wie von anderen Gedanken gesteuert, bewegte er sich auf sie zu. Er konnte nichts sehen. Die Frau rief weiter nach ihm, aber jedes Mal, wenn er dachte, er hätte sie erreicht, rief sie wieder aus der Ferne nach ihm. ”Tom, komm nach Hause. Das Essen ist fertig und der Ofen warm!” Das also war der Himmel. Er bestand aus einem fertigen Essen und einem warmen Ofen. Na ja, es hätte schlimmer kommen können! ”Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen!” rief er. ”Hier Tom, direkt neben dir!” Tom sah neben sich und erkannte seine Mutter. Sie sah wundervoll aus. Nicht so wie in den Tagen vor ihrem Tod. Mit Tränen in den Augen nahm er sie in den Arm: ” Mama! Ich habe Angst!” ”Du musst keine Angst mehr haben, ich bin ja bei dir!” Und alles war gut! Sie gingen weiter, bis sie auf ein paar Stufen stießen. Seine Mutter ging voraus und sagte, ”Komm nur, gleich gibt’s Essen!” Und gerade als Tom die Stufen hinaufklettern wollte, schnellte eine Hand aus dem Morast. Sie klammerte sich mit schmerzhaftem Druck um seine Fußknöchel und zog ihn zurück. Zurück in den Dreck! Immer tiefer! ”Mama, hilf mir!” Er versuchte sich zu befreien, aber die Hand zerrte ihn unbarmherzig weiter zu sich herunter. Er schlug auf sie ein. ”Mama!” Da hörte er Schritte herabkommen, hob hoffnungsvoll den Kopf und konnte gerade noch die Schaufel sehen, die ihm ein Mann mit schwarzem Haar und zerrissenen Jeans krachend über den Schädel zog. Schillernde Farben explodierten vor 27
seinem Auge und völlig benommen verließ ihn jede Kraft, als er im Schlamm versank. Ein letztes Mal blickte er nach oben, und seine Frau, seine Mutter und der Mann sahen auf ihn herab: ”Du bist schon wieder zu spät gekommen! Nimm dich in Acht! Bald ist der Zeitpunkt gekommen!” sagte seine Frau. Dann schloss sich der Vorhang seines Daseins, und er wurde verschluckt von der eiskalten Unendlichkeit. -xWenn sich Dinge, die bereits verarbeitet waren, erneut manifestieren, wird der Mensch immer wahnsinniger, er bewegt sich in einer Welt, die nicht mehr die seine ist, obwohl er sich bestens darin auskennt. Man spricht dabei von Schizophrenie. -xEs war sieben Uhr abends, als Susanne, Toms Ex-Frau, an der Tür klingelte. Biff öffnete, Tom schlief immer noch. Die Wohnung war immer noch ein Durcheinander, selbst nach der Aufräumaktion, die Biff gestartet hatte. Man muss dazu sagen, das Biff nicht unbedingt ein Freund des Aufräumens war. Er überließ dies Tom, aber der hatte ja heute, wie soll man sagen – ein Handicap? Susanne ging in Toms Zimmer und betrachtete ihn lange. Das sollte ihr Ex-Mann sein? So dürr und hager hatte sie ihn noch nie gesehen. Gesicht und Hände waren verbunden und mit Pflastern beklebt. Er atmete tief und schwer und auf seiner Stirn furchten sich tiefe Sorgenfalten. Ab und zu zuckte er ihm Schlaf. Er sah aus wie vierzig!
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”Was ist passiert?” fragte sie leise Biff, der ihm Türrahmen zu Toms Zimmer stand und sie beobachtete. ”Ich weiß es nicht! Ich kam nach Hause, als ich erfuhr, dass er wieder zurück ist, und fand ihn. Und ich erzähle dir lieber nicht, in welchem Zustand er und die Wohnung war!” Er winkte Susanne in die Küche, machte Kaffee und setzte sich zu ihr. Dann erzählte er, was sich zugetragen hatte. Toms unentschuldigtes Fehlen am Mittwoch vor zwei Wochen, seine wirre Erklärung, die er daraufhin abgegeben hatte. Er erzählte vom Tag darauf, als Toms Chef anrief, um zu fragen wo Tom denn heute schon wieder blieb und Biffs Aktion, wenigstens Toms Entwürfe für Blitzi in die Werbeagentur zu bringen. Dann die Suche nach ihm, in deren Verlauf Biff alle Freunde, Verwandten und auch Susanne anrief, um Tom aufzuspüren. Die Sorge wegen der Erfolglosigkeit der Suche bis er heute Morgen plötzlich wieder in seiner Arbeit auftauchte, als wäre nichts gewesen. Noch ein Tag und man hätte die Polizei eingeschaltet. ”Wo war er denn die ganzen zwei Wochen?” wollte Susanne wissen. ”Das ist es ja eben! Niemand weiß es! Er war wie vom Erdboden verschwunden. Als ich am Donnerstag aufgestanden bin, ist er einfach nicht mehr da gewesen. Die Entwürfe, der Kaffee, alles sah aus, als hätte er es gerade benutzt. Aber von ihm selbst keine Spur! Ich rief in seiner Arbeit an, aber dort war er nicht! Ich suchte in seinem Zimmer nach einem Hinweis, aber alle Klamotten, Schuhe, Taschen waren noch da! Und eben auch die Entwürfe, die er für die Agentur gemacht hatte. Er ist sicher nicht vereist oder so was, das hätte ich spätestens beim Durchsuchen seines Zimmers gemerkt. Außerdem waren Rasierzeug, Zahnbürste und die ganzen Duftwässerchen fein säuberlich aufgereiht im Bad gestanden. Er konnte nicht weit weg sein. Einfach so, nur mit dem was er gerade trägt abhauen? Das sieht Tom nicht ähnlich! Wenn der was macht dann muss im29
mer alles perfekt organisiert sein. Der geht doch noch nicht mal aufs Klo ohne einen Plan!” ”Das stimmt! Wenn er vereist, plant er zwei Wochen vorher so sorgfältig, das man meinen könnte, er würde auf eine Safari gehen! Und genauso viel Zeug nimmt er dann auch mit.” pflichtete ihm Susanne bei. Sie erinnerte sich an die Urlaube, die sich zusammen verbrachten. Tom war ein sehr gründlicher Mensch, wenn es ums verreisen ging. Biff fuhr fort: ”Als ich heute Morgen von Mirco angerufen wurde, der sehr besorgt klang, fuhr ich sofort nach Hause, um zu sehen, wie es ihm geht und um zu erfahren, warum er schon wieder nicht in der Arbeit war. Und dann sah ich dieses Chaos! Tom war völlig aufgelöst!” ”Vielleicht wurde er entführt?” ”Wieso das denn? Weshalb? Was könnte man von Tom denn schon wollen?” ”Ich wurde nicht entführt!” Tom stand in der Küche. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass er wieder wach war. Er sah schrecklich aus in seinem Pyjama. Er hatte mal hineingepasst, aber jetzt hing er ihm runter wie ein Vorhang. Susanne stand auf. ”Hallo Tom!” ”Hallo Susanne. Schön dich zu sehen!” ”Komm, setz dich, Tom! Ich habe Kaffee gemacht...” sagte Biff nur, stand auf und holte Tassen, Zucker und Milch aus der Anrichte. ”...wo ist Julia?” ”Zu Hause. Meine Mum passt auf sie auf, Tom.” ”Ach ja, deine Mutter. Wie geht es ihr?” ”Gut.” Sie saßen sich gegenüber und sahen sich lange an. Susanne musste sich zusammenreißen, um nicht zu weinen. ”Gut siehst du aus!” sagte Tom müde. 30
”Was man von dir nicht gerade behaupten kann!” ”Ja. Ich bin im Moment wohl nicht gerade so auf der Kante!” ”Das kannst du laut sagen! Wirklich!” schmetterte Biff. ”Dieses Feilchen, das habe ich dir zu verdanken, oder Biff?” ”Ganz genau! Du hättest mich beinahe umgebracht, als du in der Dusche wie ein wie ein Wahnsinniger getobt hast! Hier, dein Kaffee!” ”Erzähl uns, was passiert ist.” sagte Julia. ”Ihr würdet mir ja sowieso nicht glauben!” entgegnete Tom nur. ”Versuchs doch einfach mal! Wir werden ja sehen.” entgegnete Biff trotzig und setzte sich nun auch wieder an den Tisch. ”Na gut! Dann hört! Angefangen hat alles damit, das Biff zusammen mit seiner Freundin ins Kino gehen wollte!” ”Was hat mein Kinobesuch mit deinen Aussetzern zu tun?” ”Gar nichts. Das weiß ich inzwischen! Würdest du mich bitte erzählen lassen? Ihr wollt das doch hören!“ schmetterte Tom. Dann fuhr er fort: “Es hat was mit diesem Buch hier zu tun!” Alle sahen gleichzeitig auf das Buch von Paul Watzlawick, das dort neben der Spüle lag. ”Mit einem Buch?” fragte Biff verblüfft. Er stand auf und nahm es an sich. ”LEG ES WIEDER HIN! LEG ES IN DREI GOTTES NAMEN BLOSS WIEDER HIN! ES IST GEFÄHRLICH!” schrie Tom, sprang auf und warf dabei den Stuhl um. Biff schleuderte es förmlich weg, wohl mehr aus Schreck vor Toms Reaktion als das er was Gefährliches darin sah. Dann drehte er sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Spüle. Er tauschte einen kurzen Blick mit Susanne. Tom entging das nicht, also setzte er sich wieder und erzählte weiter: ”Dieses Buch! Jedes Mal, wenn ich es lese, überspringe ich einige Tage, sogar Wochen!” 31
”So ein Quatsch! Wie soll ein Buch denn so was können?” Biff nahm das Buch wieder an sich und schlug es neugierig auf. ”NEIN!” Tom sprang wieder auf und schlug Biff das Buch aus der Hand. Es fiel zu Boden, die Seiten immer noch aufgeschlagen. Toms Blick las die Zeilen über die Zusammenhänge der Konfusion, die sich aus menschlicher Kommunikation heraus ergeben konnte. Dann waren Susanne und auch Biff plötzlich verschwunden. Tom ergriff nun die kalte Angst. Er hatte es wieder gelesen. Verdammt noch mal. Wo war er jetzt? Er stand immer noch in der Küche. Er sah auf die Uhr. Es war zwei Minuten vor acht Uhr abends. Aber was hieß das schon? Wie weit war er gesprungen? Zwei Wochen, zwei Jahre? Zweihundert Jahre? Er sah sich in der Wohnung um. Das Buch lag immer noch auf dem Küchenboden. Von Biff und Susanne keine Spur mehr. Sie waren tatsächlich weg! Dann hörte er ein Klicken... ...ein Schlüssel drehte sich im Türschloss der Wohnungstür. Tom sprang aus Panischer Angst vor diesem Geräusch in Deckung. Er hörte Schritte in der Wohnung und dann ein vertrautes Rufen. ”Tom, bist du da?” Es war Biff! ”Ja ich bin hier!” ”Tom, wo warst du? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, nachdem du nicht in der Arbeit warst! Und was machst du in diesem Pyjama. Und wie du aussiehst...” ”Biff, bevor du weiter sprichst! Wie lange war ich nicht in der Arbeit?” Biff sah ihn verstört an,
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”Was ist das für eine Frage? Du wirst doch wissen, dass du heute nicht in der Arbeit warst.” ”Nur heute?” ”Ja, nur heute! Sag mal, was hast du gemacht? Du siehst aus, als wärst du um Jahre gealtert!” ”Das ist ja eben meine Befürchtung! Welchen Tag haben wir heute?” ”Mittwoch!” ”Und welches Datum?” ”Denn sechsten neunten! Tom würdest du mir jetzt endlich erklären, was los ist?” ”Eine Frage noch! Welches Jahr haben wir?” Biff war jetzt nun wirklich etwas irritiert, ”1998, warum?” Tom musste sich setzen. Der sechste neunte neunzehnhundertachtundneunzig! Das würde ja heißen, dass Tom wieder zurückgesprungen ist! Zu dem Tag, als er das erste Mal in der Zeit gewandert ist. Er hat also nur EINEN Tag verloren, nicht ZWEI WOCHEN! ”Du warst im Kino, hast bei Ivonne übernachtet und bist nun einen Tag später wieder zu Hause, stimmt’s?” ”Stimmt! Als ob du das nicht wüsstest. Ich frage mich nur, was du solange gemacht hast!” wollte Biff wissen. Stimmt ja. Biff konnte nicht wissen, dass Tom in der Zeit gesprungen war. Er dachte sich sicher dass er immer noch zu Hause war und blau gemacht hatte. Das war der Gipfel! ”Das gibt es doch nicht! Das darf doch nicht wahr sein! Was kommt als nächstes? Springe ich vielleicht ins Jahr 2010 und erlebe das Ende der Welt? Oder wie wäre es mit 1939? Ich wollte schon immer mal den Ausbruch des zweiten Weltkrieges miterleben!” Und da kam ihm eine Idee! Er schnappte sich aus seinem Zimmer einen Bleistift vom Schreibtisch, ging heimlich wieder in die Küche zurück und 33
schrieb in kleinen Ziffern in ein Eck das heutige Datum auf die Tapete. Er würde dies nun immer tun, wenn er den Verdacht hatte, wieder in der Zeit gewandert zu sein. Biff blieb während es das alles beobachtet nur stumm mit offenem Mund stehen und verstand gar nichts. Tom ging mit dem Gedanken ins Bett, dass die Welt um ihn herum immer konfuser wurde. Und seine Freunde und Bekannten mussten ihn bestimmt für verrückt halten. Er nahm sich vor, sich morgen krank zu melden, um Klarheit zu bekommen. Er musste einfach etwas tun, er wusste nur noch nicht, was! Tom flog hoch über den Dächern der Stadt. Er konnte vom Westen bis zum Osten und von Nord nach Süd die gesamte City überblicken. Der Fernsehturm war ebenso wie der Flughafen prächtig zu sehen. Es war Nacht und die Lichter leuchteten hell. Der Himmel war leicht bewölkt. Er saß in keinem Flugzeug, in keinem Hubschrauber und auch sonst nicht in irgendeinem Gerät, welches fliegen konnte. Er flog ganz einfach, indem er die Arme weit ausstreckte und sich vom Wind treiben ließ. Ein Gefühl der Freiheit durchflutete seinen ganzen Körper. So gut hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Er hielt Ausschau. Und obwohl er nicht wusste, nach was eigentlich, war ihm klar, dass er früher oder später darauf stoßen würde. Tief im Inneren hatte er die Empfindung, dass er etwas finden würde. Ihm war klar, dass er wieder träumte. Und doch war es für ihn so real, dass er es nicht glauben konnte. Es fröstelte ihn, denn der Wind war kalt. Da wurde er plötzlich von einer Böe erwischt. Sie riss ihn brutal zur Seite und schleuderte ihn auf den Boden. Tom schrie: 34
”Ich habe keine Angst! Komm und zeig dich! Kämpfe!” Abrupt kam er zum Stehen. Sanft setzte er auf weichem Boden auf. Er stand auf knöchelhohem Gras. Nein, das konnte es noch nicht gewesen sein. Tom bereitete sich auf das Schlimmste vor. Langsam verzogen sich die wenigen Wolken und ließen den Blick auf den Vollmond wie durch einen Vorhang der sich öffnet frei. Eine warme Brise durchfuhr sein Haar, so dass er leise aufschrie. Fast kam es ihm wie eine Berührung vor. Er befand sich auf einer weiten Grasebene, und nichts bremste den Blick bis zum Horizont. Eine endlose Weite, die in dunkles Nachtblau getaucht war. Er wandelte darauf. Stunde um Stunde. Aber nichts passierte. Langsam wurde es hell. Weit entfernt konnte er eine Hütte ausmachen und es fiel ihm ein, dass er Hunger hatte. Also bewegte er sich darauf zu. Sein Herz pochte so laut, so voller Erwartung, was ihn dort erwarten würde, dass es ihm vorkam, als würde der Boden unter ihm vibrieren. Er blieb stehen. Das war nicht sein Herz! Der Boden vibrierte tatsächlich. Sachte legte er die Hand auf die Erde. Sie zitterte, wie bei einem Beben. Von den Hügeln her, die er herab geschritten war, war ein sanftes Donnergrollen zu vernehmen. Interessiert sah er zu, wie Staubwolken langsam über die Erhebung auf ihn zukamen. Plötzlich zog es ihm alle Muskeln zusammen und der Puls überschlug sich. Die Nackenhaare sträubten sich ihm. Das war nicht gut! Ein schlechtes Zeichen! Etwas kam auf ihn zu! Etwas Gewaltiges. 35
Und da sah er sie! Eine unglaublich große Herde schwarzer Pferde sprengte über die Hügelkette, direkt auf ihn zu. Es mussten Hunderte sein, und sie hetzten alle in seine Richtung. Tom drehte sich um und rannte. Er musste diese Hütte erreichen, sonst war alles aus. Panisch sprang er dem rettenden Holzverschlag entgegen. Seine Füße überschlugen sich, weil der Körper schneller laufen wollte, als die Beine es zuließen. Er fiel hin, drehte sich aber nicht um, als er sich wieder wild taumelnd hochrappelte. Der Donner der Hufe wurde immer lauter. Er könnte die Pferde Wiehern hören, und er glaubte, den warmen Atem aus den Nüstern der Tiere ihn seinem Nacken zu spüren. Einige hatten ihn schon eingeholt und hetzten knapp an ihm vorbei! Eines der großen Tiere erwischte ihn an der Schulter und wirbelte ihn herum. Er konnte die Vielzahl an schwarzen Leibern ganz nah herannahen sehen, als er sich einmal um die Achse drehte. Er würde es nicht mehr schaffen! Aber er rannte weiter! Die Hütte kam näher. Aus den Augenwinkel konnte er noch kurz einen schwarzen Schatten erspähen, als er sich mit einem Sprung und einem gellenden Schrei durch die Tür ins Innere der Hütte rettete. Draußen tobte ein Orkan und Bretter wurden fortgerissen. ”Mach die Tür zu, draußen tobt ein schlimmer Sturm, und du willst doch nicht, das der Teppich dreckig wird!” sagte ein milde Stimme, die den infernalischen Krach draußen mühelos überstimmte. Tom rappelte sich hoch und erkannte seine Mutter. Sie saß in einem Schaukelstuhl und sah ihn voller Zärtlichkeit an.
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”NEIN! HÖR AUF! WIE KANNST DU SO GRAUSAM SEIN? DU BIST NICHT ECHT!” Tom schrie seine Mutter voller Hass an. Das war schließlich nicht seine Mutter. Es war etwas anderes! ”Es bist nur du, der grausam zu sich selbst ist!” sagte seine Mutter ruhig. Sie schaukelte ruhig in ihrem Stuhl und trank aus einer Tasse Tee. Der Duft des Tees! Es war wie früher, als sie ihn im Wohnzimmer getrunken hatte. Und tatsächlich, das Innere der Hütte sah aus wie eben dieses Wohnzimmer. ”Setz dich hin! Ich muss dir was sagen!” sie stieg aus ihrem Stuhl hoch, und holte eine zweite Tasse aus dem Zimmer nebenan. Die Hütte war keine Hütte mehr. Es war die Wohnung seiner Mutter, so wie sie eingerichtet war Tage bevor sie starb. ”Mama? Bist du es wirklich?” ”Natürlich bin ich es! Was denkst du denn!” sie lachte. ”Aber du... du bist...” ”Tot, meinst du?” ”Ja.” ”Mein Sohn! Natürlich bin ich das! Aber ich bin auch kein Traum wenn du das wissen willst.” ”Wie kann das sein?” ”Es gibt viel zu erklären, aber das kann ich nicht. Du musst selbst darauf kommen und die Zeit drängt!” Tom ging auf sie zu und berührte sie an der Hand. Sie fühlte sich warm an. Und da zerbrach das Band der Angst. Er fiel weinend in die offenen Arme seiner Mutter und sie hielt ihn, eng an sich gedrückt. ”Mama. Es war nicht fair. Du durftest nicht gehen. Es war noch zu früh. Deine Zeit war noch nicht gekommen!” er schluchzte. ”Es ist nie der richtige Augenblick mein Sohn!” sagte sie nur. ”Aber es war nicht richtig!” Tom sah sie aus verweinten Augen trotzig an. 37
”Die Wege des Schicksals sind vielfältig. Es steht uns nicht zu, sie zu verstehen. Es gibt keine Gerechtigkeit auf diesen Pfaden. Sie folgen anderen Gesetzen!” ”Das akzeptiere ich nicht!” ”Und deswegen bin ich hier!” ”Weswegen?” ”Du darfst dich nicht länger wehren. Das was du glaubst, was dich in der Zeit gefangen hält, will dir helfen!” Tom verstand gar nichts mehr. ”Sperre dich nicht länger vor dem, was du liebst! Öffne dein Herz und suche nicht die Schuld bei dir oder anderen.” Seine Mutter ging an das Fenster und öffnete es. ”Sieh hin!” Tom ging an das Fenster und blickte hinaus. Er sah einen riesigen Schwarm schwarzer Stare fliegen. ”Was soll das?” fragte er. ”Was siehst Du?” ”Ich sehe Stare!” ”Was tun sie?” ”Sie fliegen davon!” ”Stimmt! Sie machen sich auf dem Weg in den Süden und wollen dem Winter entkommen.” Seine Mutter entfernte sich vom Fenster. Tom ging ihr hinterher. Er wollte mehr wissen. ”Was soll das Ganze. Warum bin ich hier? Was willst du mir sagen?” ”Alles hat einen Grund. Auch diese Vögel hier. Denke darüber nach! Es geschieht nichts, ohne einen Grund!” ”Und der wäre?” ”Du musst das Buch noch einmal lesen! Und dann musst du handeln. Ließ es wie einen Wegweiser. Denke an das, was du liebst, lies es und geh zurück!” ”Ich liebe dich, Mama. Komm zurück!” ”Nein! Du kannst nicht akzeptieren! Und genau das lässt dich scheitern!” 38
Was meinte sie damit? Was wollte sie ihm damit sagen? Er wusste es nicht! Warum ließ sie ihn so in der Ungewissheit? Nochmals sah er zum Fenster hinaus, aber die Stare waren weg. Stattdessen stand auf einer Anhöhe wieder dieser Mann mit den schwarzen Haaren und den zerrissenen Jeans. Tom konnte ihn genau erkennen und der Mann musste auch ihn sehen. Dann ging er hinter die Anhöhe und war plötzlich verschwunden. Tom drehte sich um, weil er seine Mutter Fragen über diesen Mann stellen wollte, der immer wieder in seinen Träumen auftauchte. Aber sie war weg. Er stand in einer alten Bretterbude. Der Teppich, der Schaukelstuhl, alles war weg. Licht fiel durch herausgebrochene Bohlen in den Verschlag. ”Mama?” ”Geh jetzt zurück! Möge dich all meine Liebe begleiten. Folge dem Pfad, der dir bestimmt ist.” hörte er ihre Stimme sagen. Sie erklang nur für sein Ohr. Und sie erfüllte ihn mit einer Wärme, die er nie zuvor in seinem Leben erspürt hatte. Es war die Wärme seiner Mutter. Er konnte sie in dieser Bretterbude förmlich spüren. Sie war noch hier, und doch unendlich weit weg. Ihm war, als hätte er sie nie verloren. Als hätte er nie diese abgrundtiefe Leere kennen gelernt, die er empfand, als sie seine Welt verließ. All sein Schmerz spülte wie die Wellen des Ozeans über ihn hinweg, als er das erkannte. Sie war immer sein ein und alles gewesen. Jetzt erst wusste er, wie tief er dies all die Jahre in sich vergraben hatte. Er hatte nie darüber gesprochen. Er sperrte es in einen Verschlag seiner Seele ein, und befand sich doch ständig selbst darin. Er hatte sich selbst ausgesperrt. Und alle anderen damit auch. Es war eine Warnung! So was durfte nicht wieder passieren. Das hieß es!
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Tom saß in einem kleinen Bretterverschlag auf einer weiten Grasebene, die umsäumt wurde von friedlich grasenden Pferden und weinte bitterlich. Aber es war ein gutes, befreiendes Weinen. Er weinte die Tränen, die seit Jahren eingesperrt waren. -xEr erwachte. Wieder einmal hatte er geträumt. Oder vielleicht doch nicht? Mittlerweile hielt er alles für möglich! Sein Problem war, das er nie zuvor so real geträumt hatte. Meistens vergaß er sofort alles wieder, sobald er erwachte. Aber die letzten Male hatte er alles behalten können. An jedes noch so kleine Detail konnte er sich erinnern, ja sogar an den Duft des Grases und der Pferde. Es konnte nicht nur geträumt sein. Allein schon, weil ihm alle Knochen wehtaten. Was ihm noch Kopfzerbrechen bereitete war, was seine Mutter ihm gesagt hatte und dieser Mann mit den zerrissenen Jeans, der jetzt schon zum zweiten Mal aufgetaucht ist. Wer war er? Was für eine Rolle spielte er? Und wohin sollte er zurückgehen? Völlig verwirrt und verspannt lag er so da, in seinem Bett, und dachte nach, obwohl er wusste dass es keinen Sinn machte. Dann sprang ein weiterer furchtbarer Gedanke in sein Denken. Ist er vielleicht wieder in der Zeit gesprungen? Und wenn ja, wohin? Oder besser gesagt, in welches Wann? Voller Panik sprang er aus dem Bett und untersuchte die Wohnung. Alles war in Ordnung. Er sah auf die Tapete in der Ecke der Küche, und sah nichts weiter als das Datum des gestrigen Tages. Auch der Videotext im Fernsehen sagte nichts anderes als Donnerstag, der siebte neunte. Und es war noch früh am morgen, fünf Uhr um genau zu sein. 40
Das war gut! Tom beruhigte sich etwas, so gut es eben ging, denn den Schmerz um den Tod seiner Mutter konnte er nicht so leicht wegwischen. Leise verfluchte er das Schicksal, welches sich anschickte, diese alten Wunden wieder aufzubrechen. Er hatte Kopfschmerzen! Also ging er zum großen Küchenschrank und nahm zwei Aspirin aus der Packung. Und während er so durch die Wohnung lief, fiel sein Blick auf den Tisch, auf dem ganz unschuldig und ganz unscheinbar das Buch lag, welches der Auslöser für sein Leid zu sein schien. Er betrachtete es, ohne es zu berühren, fast, als fürchte er, sich die Finger daran zu verbrennen. Und tatsächlich, als er die Hand darüber hielt, war es ihm, als ging eine gewisse Wärme davon aus. Eine unerklärliche, dunkel schwelende Flamme, die hervorspringen würde, sobald er es aufschlug. Hastig zog er die Hand zurück. Wie hatte seine Mutter ihn ermahnt? Er müsse es nochmals lesen? Sein Magen drehte sich um, sobald er daran auch nur dachte. Es war kurz vor sechs Uhr morgens, als er sich entschloss, noch einmal ins Bett zu gehen. Ein paar Stunden Schlaf war alles, was er sich im Moment wünschte. Und da er ja nun wusste, wie die Werbekampagne aussehen würde, die er für seine Agentur machen musste, sagte er zu sich selbst, dass es wohl nicht schlimm sein würde, wenn er sich für heute krankmeldete. Seine Träume waren diesmal ziemlich durcheinander. Zuerst hatte er den Eindruck, sich in einem dichten Wald verirrt zu haben, und in der Ferne vernahm er ein dumpfes Donnern, so wie man es zum Jahreswechsel durch die Straßen knallen hörte, dann befand er sich plötzlich auf einer Straße, und ein riesiger Laster fuhr direkt auf ihn zu. Er stand da wie gelähmt, von den 41
Scheinwerfern geblendet und wäre vermutlich überfahren worden, wenn er sich nicht plötzlich auf einem hohen, sehr hohen Turm wieder gefunden hätte. Es ging noch so weiter, aber es waren alles nur Fragmente, die er nicht festhalten konnte. So, als würde er im Zeitraffer träumen. Und er ergab sich diesen bunten Bildern, die ihn alle nicht mehr oder weniger erschreckten, als das, was er eh schon mitgemacht hatte. Ja, teilweise konnte man ihn sogar lachen hören, so wie einen geisteskranken, der sich den Dämonen ergeben hatte, die ihn umzingelten. Unsanft wurde er geweckt! Er war schweißgebadet. Biff stand an seinem Bett und rüttelte ihn, bis er aufs Neue Kopfschmerzen bekam. Oder waren diese vielleicht noch gar nicht weg? ”Was, was, was,...?” konnte Tom nur hervorbringen. ”Tom! Hast du völlig den Verstand verloren? Bist du denn noch zu retten?” wetterte Biff. Wie in Trance ließ sind Tom in die Kissen zurückfallen. ”Biff, sag mir einfach, was ich gemacht habe, okay?” ”Komm und sieh es dir an, Wahnsinniger!” Dann stürmte Biff aus dem Zimmer, brabbelte Dinge wie, ”...total daneben!” und ”...was denkt er sich dabei!” und so weiter. Tom selbst schlüpfte in seine Sandalen, die vor dem Bett standen, fasste sich an den schmerzenden Kopf und zog stöhnend seinen Morgenmantel an. Jeden einzelnen Knochen spürte er und es kam ihm vor, als hätte er seit Tagen überhaupt nicht mehr geschlafen. Er folgte Biffs Gemecker, das aus der Küche zu kommen schien. Was war nur jetzt wieder los? Tom wollte es gar nicht wissen. Eigentlich wollte er überhaupt nichts mehr wissen. ”Biff, was kann so wichtig sein, dass du mich...”
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Aber weiter kam er nicht, denn was er in der Küche erblickte, ließ ihn eiskalt zusammenfahren. Es durfte nicht sein! Wie war das möglich? Was in aller Herrgottsnamen...? Tom sah mit weit aufgerissenen Augen in die Küche. Entsetzen breitete sich über seinen ganzen Körper aus. Das Blut fuhr ihm heiß und kalt durch die Adern. Schwindel setzte ein, er setzte sich auf einen der Küchenstühle, hämmerte mit den Fäusten auf den Kopf ein und versuchte, etwas zu sagen! Aber keine Worte konnten beschreiben, was seine Augen sahen. Die ganze Küche, vom Boden bis zur Decke, jedes kleinste sichtbare Stückchen Wand und jede Ritze war über und über vollgekritzelt mit kleinen, Bleistiftgemalten Ziffern! -x”Tja, das war was, Jungs! Ich konnte mich nicht mal daran erinnern, wie ich die Zahlen auf die Wand geschrieben habe!” sagte Tom und nahm noch mal einen tiefen Schluck aus seiner Flasche. ”Könnt ihr euch das vorstellen? Ich meine, versteht ihr, wovon ich rede...?” Die zwei Penner sahen ihn nur voller Langeweile an. Kein Wunder, hatten sie die Geschichte doch nun schon zum tausendsten Mal gehört. Seitdem Tom zu ihnen gestoßen war, völlig verwahrlost und bar jeglichen Verstandes, erzählte er dieselbe Geschichte jeden Tag aufs Neue. Vor drei Monaten hatte ihn Hardy, ein von allen geschätzter Streetworker, nahe der Kirche aufgegriffen. Den wirklichen Namen hatte niemand herausgefunden, und so hieß Tom für alle einfach nur Tom.
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Niemand glaubte ihm! Wieso denn auch? Es war doch klar, dass der Alkohol jeden Verstand aus diesem Mann heraus gebrannt hatte. Armer Scheißkerl! Von seiner Familie gemieden, und von seinem besten Freund aus der Wohnung geschmissen hatte er nun niemanden mehr außer Hardy und seine zwei Saufkumpanen. Aber Tom bekam davon nichts mehr mit. Ab und zu, wenn der Nebel des Alkohols sich etwas lichtete träumte Tom von seiner Frau und seiner Tochter. Er erinnerte sich an etwas, dass er früher als sein Leben bezeichnete. Glückliche Tage, als er mit Julia und Susanne in den Urlaub fuhr und die Sonne des Südens genießen durfte. Greifbar und doch endlos fern vermochte er die Berührung seiner kleinen Tochter zu spüren. Schemenhaft kam ihm immer wieder das letzte Weihnachten in den Sinn, an dem seine Mutter noch lebte. Sie hatte ihm einen Anhänger geschenkt, auf dem seine Initialen eingraviert waren. Sie sagte, er würde ihm Glück bringen. Er war sich sicher, dass sie damals schon wusste, dass sie sterben würde. Aber wenn die Tränen kamen, wischte er sie einfach mit einem Schluck Schnaps weg. Gut und billig! Und so kam es eines späten Julitages eines Jahres, von dem Tom nicht mehr wusste welches, dass er, blau wie er war, in seinen zerlumpten Rucksack griff und das Buch hervorzog, welches ganz unten begraben war. Paul Watzlawick – ’Wie wirklich ist die Wirklichkeit?’ War es nicht der Wunsch seiner Mutter, es noch einmal zu lesen? Und so schlug er es auf, suchte die Seiten, die die Zusammenhänge der Konfusion erläuterten, die sich aus menschlicher Kommunikation heraus ergeben konnten, und las!
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Sein Kopf fiel vornüber. Er musste eingenickt sein! Orientierungslos sah er sich um. Wo war er? Vor ihm lag das Buch, und die Buchstaben klagten ihn an als wollten sie sagen: ”Du Dummkopf! Du hast uns schon wieder gelesen! Du total verblödeter Idiot! Willst du völlig den Verstand verlieren?” Angewidert schleuderte er es vom Tisch. Vom Tisch? Ja richtig! Es war wieder der Küchentisch. Oh mein Gott! Tom lachte. Es war ein gurgelndes Lachen aus einer Kehle, die vom Alkohol völlig rau und perfide Ledern wirkte. Er saß wieder vor seinem Küchentisch. Und irgendwie hatte er sofort das Bedürfnis, gleich das Klo zu benutzen. Zum ersten Mal nach vielen Monaten wieder auf einem anständigen Topf sitzen zu können. Er stand auf, und legte seinen völlig zerlumpten Mantel über die Stuhllehne. Andächtig betrachtete er die Wände, aber da war nichts. Absolut nichts! Nicht eine einzige verdammte Jahreszahl stand da an der Wand. Nicht eine einzige! Belustigt und wie in Trance fragte er sich, welches Jahr, welcher Tag wohl sein mochte. Und wieder einmal ergab sich die Frage - OB ER WIEDER NUR ALLES GETRÄUMT HATTE HAHA!!! Er breitete die Arme aus und drehte sich ein paar Mal um sich selbst bis ihm schwindlig wurde und er hinfiel. Wildes Lachen unterstrich dabei sein völliges Aufgeben vor dem Schicksal. ”Ich bin verrückt! Ich bin total verrückt! Hurra!” Mühsam versuchte er, sich wieder hochzuziehen, schaffte es aber nur, sich am Boden sitzend an die Wand zu lehnen. Er stieß immer wieder mehrfach den Hinterkopf an die Wand, starrte an die Decke und stammelte: 45
”Mein Gott, ich möchte sterben! Bitte lass mich sterben!” Aber niemand hörte darauf! Tom saß allein und von Gott verlassen auf dem kalten Fußboden und betete zu etwas, an das er schon lange nicht mehr glaubte. Es klingelte in seinen Ohren. Tom schüttelte sich. Verdammter Alkohol! Aber es hörte nicht auf. Ein irres, nicht locker lassendes Klingeln übertönte jeden seiner wirren Gedanken. ”AUFHÖREN!” schrie Tom und hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu. Und tatsächlich war plötzlich Ruhe. Stattdessen hörte er eine Stimme auf der anderen Seite der Wohnungstür. Er erkannte diese Stimme! Sie war ihm mehr als nur vertraut. Viele Male hatte er sie vernommen! Er kannte Ihren liebevollen Ton genauso wie den verhassten, keifenden oder den weinerlichen und Hilfesuchenden. Es war die Stimme seiner Frau Susanne. ”Ha, Fehler Tom! Ex-Frau muss es heißen!” hörte er sich selbst sagen. ”Tom, bist du da? Mach auf, ich weiß dass du zu Hause bist!” ”Niemand weiß, wo ich bin Susanne! Niemand weiß es, nicht mal ich selbst!” antwortete Tom durch die geschlossene Tür. Nach einer kurzen stillen Pause ertönte es erneut: ”Tom, ich komme jetzt rein!” Woher hatte sie den Schlüssel? Die Tür öffnete sich und Susanne kam langsam herein. Tom ließ sie gewähren. Er war zu schwach und noch voller Schnaps um irgendetwas dagegen zu tun und wer weiß, vielleicht wollte er ja auch gar nichts dagegen tun. Träge sah er durch verschwommene Augen, wie sich Susanne zu ihm herunterbeugte und er spürte, wie sie ihm aufhalf. Sein Hinterkopf schmerzte! Dann hatte er einen kurzen Blackout und sein Bewusstsein durchdrang erst wieder den Beton der Realität, als er sich in der Badewanne wieder fand, in der er 46
gewaschen und gereinigt wurde. Dann half sie ihn ins Bett und er spürte noch den warmen Atem seiner Frau, bevor er sich dem ungeliebten Schlaf mit seinem Schreckensträumen ergeben musste. Aber nichts widerfuhr ihm! Es war der erholsamste Schlaf, den er seit Jahren hatte. Am nächsten Morgen weckte ihn das Zwitschern der Vögel. Tom kam es so vor, als würden sie nur für ihn singen. Es war, als würden sie ihm sagen wollen: ”Hör es dir ein letztes Mal an! Bald gibt es für dich nur noch Stille...!” Ein leises Klappern in der Küche ließ ihn aufhorchen. Er rappelte sich aus dem Bett, stieg in die Sandalen und besah sich die Wohnung. Mittlerweile fragte er sich, ob sie ihm überhaupt noch gehörte? Die Möbel standen anders. Die Vorhänge waren nicht dieselben, die er aufgehängt hatte. Aber was bedeutete das schon? Sein Verstand war geraubt worden. Warum nicht auch die Vorhänge, seine Wohnung, sein Leben? Er ging in die Küche und blieb verdutzt im Türrahmen stehen. Es war doch kein Traum. Oder zumindest nicht so ganz! Susanne, seine Frau stand am Herd und machte Rührei. ”Was machst du hier?” fragte Tom. Gleichzeitig ohrfeigte er sich dafür innerlich. Das war vielleicht nicht gerade die beste Frage, die man seiner Frau stellt, nachdem man sie zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte. Oder war es erst gestern? Oder hatte er alles nur geträumt? Diese vielen Fragen, die ihm immer wieder im Kopf herumspukten und auf die er keine Antwort erhielt. Er hasste sich und die Welt für diese Fragen. Diese Ungewissheit, die sich wie ein Tunnel vor ihm auftat. Ein Tunnel ohne Licht, in dem er blind umherirrte, immer voller Angst, dass sein nächster Schritt ins Leere gehen würde, ohne Halt und ohne Vorankündigung. 47
Aber das Schlimmste war, das es eine Dunkelheit ohne fehlendes Licht war. Wieder wurde ihm etwas vorgegaukelt. Es konnte doch nur so sein. Hinter der Fassade seiner Frau und der morgendlichen Idylle versteckte sich das Grauen. Etwas anderes kam für Tom gar nicht mehr in Frage. Schicksalsergeben setzte er sich wortlos an den Küchentisch und besah sich sein Frühstück. Und plötzlich merkte er, was für einen Heißhunger er hatte. Es war, als hätte er seit Monaten nicht mehr richtig gegessen. Er verschlang sein Rührei in einer sagenhaften Geschwindigkeit. Seine Frau (war sie das eigentlich jetzt, oder war es nur ein Trugbild?) saß während der ganzen Zeit nur still daneben, nippte an ihrem Kaffee und sagte nichts. Sie sah ihn nur liebevoll an. Nachdem er gegessen hatte lehnte er sich im Stuhl zurück, seine Arme kraftlos im Schoß. Er sah Susanne an. Er sah sie nur an! Sie war es! Sie war es wirklich! Und in ihren Augen konnte er sehen dass sie ihn liebte. So, als wären sie nie auseinander gewesen. Dieser tiefe unergründliche Spiegel aus Licht in ihren Augen. Er dachte immer, er hätte diesen Blick vergessen. Aber jetzt wusste er, dass er ihn nie vergessen konnte, vergessen hatte. Was war geschehen, dass er eines Tages das Gesicht seiner Frau nicht mehr wieder erkannte? Welches grausame Schicksal hatte ihn von seiner Familie getrennt? Und schmerzlich wurde ihm bewusst, dass es ja noch seine Tochter gab. Wo war sie? Sein Herz zog sich zusammen, als er im Begriff war, nach ihr zu fragen. Was war, wenn Susanne ihm sagte, sie wäre nicht da! Es gäbe sie gar nicht. Julia wäre tot oder gar nicht geboren. Irgendetwas in der Art!
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Aber seine Frage wurde von ganz allein beantwortet, als das kleine lebenslustige Bündel in die Küche gerannt kam und laut ”Papa” schrie. Sie sprang auf seinen Schoß und umarmte ihn ganz fest, so dass ihm fast die Luft wegblieb. Ein Kaleidoskop von Glücksgefühlen sprenkelte über seinen Himmel. Weinend vor Glück hielt er sein Kind in den Armen und schluchzte so bitterlich wie es noch nie ein Mensch vor ihm getan hatte. Er konnte es nicht glauben! Aber es war wirklich. Der Duft ihres Haares, das fein durch seine Finger glitt. Die rosigen Wangen, die sich voller Wärme an seine schmiegte. Sie hielt ganz still. Tom wollte dass dieser Moment nie mehr enden würde. All das war plötzlich so nah! Als wäre er nie fort gewesen. Er sah in die Augen seiner Kleinen, die seine eigenen waren. Als würde er tief in sich selbst hineinblicken und das tiefe Einverständnis erhalten, dass alles so war, wie es sein sollte. Das alles richtig war. Als müsste er nur dieses kleine kostbare Quäntchen Liebe geben, um als Belohnung dafür etwas zu erhalten, dass man gemeinhin als das größte Glück der Erde bezeichnete. Sie strich mit ihren kleinen Fingern über seine Wange und sagte: ”Papa, du weinst ja!” Da brach es aus ihm heraus. Es schüttelte ihn. Weinkrämpfe packten ihn und Susanne musste ihm Julia abnehmen, weil seine Arme plötzlich nachgaben. Nichts würde mehr so sein, wie es mal war. Denn wenn das alles hier wieder nur ein Traum war, wollte er nicht mehr wissen, wie es ist, wenn er wach wurde. Dann würde er immer weiter schlafen wollen. Oder sterben, wenn es denn einen Tod gab. Im war klar, dass es aus diesem Jetzt für ihn keine Rückkehr mehr gab.
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Was war mit ihm geschehen? Irgendwie wusste er plötzlich, dass er vor einer Entscheidung stand. Etwas war ganz nah um ihn. Und es war mehr, als es jetzt den Anschein hatte. Mit Tränenschleier vor den Augen sah er zu seiner Frau, nahm das letzte bisschen Mut zusammen, von dem er glaubte, ihn gar nicht mehr gehabt zu haben und fragte: ”Das ist alles nicht echt, stimmt’s?” Susanne sah ihn nur traurig an und antwortete: ”Stimmt, aber es gibt noch ein Chance!” Es war abends, als er wieder erwachte. Nachdem er gefrühstückt und ein bisschen mit Julia gespielt hatte, packte ihn die Müdigkeit erneut, so dass er sich nochmals hinlegen musste. Es kam ihm so vor, als hätte er Jahre nicht mehr geschlafen. Und vielleicht stimmte das ja auch. Seine Frau saß neben ihm am Bett, noch genauso wie vorhin, als er eingeschlafen war. Sie lächelte und sagte: ”Komm mit mir, ich muss dir etwas zeigen.” Sie half ihm hoch und gemeinsam machten sie sich fertig, um aus dem Haus zu gehen. ”Was ist mit Julia?” fragte Tom voller Angst. ”Sie ist bei den Nachbarn. Sie kümmern sich heute Abend um sie!” ”Warum? Wo gehen wir hin?” wollte Tom wissen. ”Schscht! Nicht so hastig! Komm einfach mit!” Tom wollte sich schon wieder aufregen! Nicht schon wieder Fragen, die ohne Antwort blieben. Er konnte es nicht länger ertragen. Aber er wollte sich sein Glück nicht so schnell wieder zunichte machen, und so sagte er gar nichts, sondern fügte sich und ging mit. Sie liefen durch die Straßen der Stadt. Alles war so, wie es sein sollte. Keine weite Ebene mit einer alles zertrampelnden Herde von Pferden, keine Schaufel, die ihm plötzlich von hinten ins
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Kreuz gehauen wurde und keine Menschen die ihm vor lauter Mitleid ein paar Groschen zusteckten, weil er ihnen leid tat. Ihr Weg führte zu einem Kino, das er kannte. Aber in seiner Erinnerung war es schon lange geschlossen worden, lange bevor seine Mutter gestorben war. Aber heute hatte es offen! Das seltsame daran war: Es hatte nur für sie offen! Auf einem Schild stand: Privatvorstellung! Einlass nur für Susanne und Tom Wenzel! Verwirrt betrachtete er das Schild und sah seine Frau an. Die aber sah ihn nur mit der Gütigkeit eines Engels an und bedeutet ihm, mit hineinzugehen. Plötzlich packte ihn die Angst. Was war, wenn das hier jetzt der Himmel war? Wenn er sich hinter dieser Kinotür versteckte? Er würde hindurchgehen, alles würde verschwinden und er wäre tot. Er könnte nie mehr seine Frau und seine Tochter sehen. Einfach hindurchgehen und in der Unendlichkeit verschwimmen! Konnte es so einfach sein? Er wollte nicht sterben. Aber Susanne hielt ihn ganz zärtlich fest, zupfte dann an seinem Ärmel und sagte: ”Komm. Es wird nichts passieren. Hier ist das Ende deiner Qualen erreicht. Wie auch immer du entscheidest, es ist vorbei.” ”Wirst du mitkommen?” ”Ich war schon immer bei dir und werde es auch immer sein. Komm nun.” Zögernd trat er durch die Eingangspforte. Im Inneren waren alle Stühle leer. Es war dunkel, bis auf die schwachen Wandleuchten links und rechts die Tribüne hinunter. Kein Mensch war hier - klar, wenn es eine Privatvorstel-
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lung war, dachte sich Tom. Ein schwerer Vorhang versteckte die Kinoleinwand hinter sich. Was würde ihn erwarten? Unsicher warf er einen Blick zu seiner Frau hinüber, einesteils um sich sicher zu sein, dass sie noch da war, andererseits um etwas in ihrem Blick zu erfahren. Sie sah ihn aber gar nicht an, sondern griff nur nach seinem Handgelenk und deutete mit der anderen Hand auf die Leinwand. Der Vorhang ging auf... Der Film handelte von einem kleinen Jungen. Sein Vater brachte ihm gerade das Fahrradfahren bei. Er hielt dabei seinen Sohn am Sattel fest, während er versuchte, kräftig zu treten. Voller Freude drehte sich der Kleine um und stellte voller Entsetzen fest, dass sein Dad ihn gar nicht mehr festhielt. Voller Schreck ließ er den Lenker los und fiel sofort hin. Sein Vater rannte ihm zu Hilfe und fing ihn auf. Beide landeten am Wegesrand im Wiesengras und lachten. Irgendwie erinnerte das Tom an sein eigenes Erlebnis, als er Fahrradfahren lernte. Es war als wäre das hier... ...das konnte nicht sein! Was er hier sah, war er selbst! Mit seinem Vater! Vor 22 Jahren! Voller Angst sah er zu Susanne hinüber. Aber auch jetzt wendete sie ihren Blick nicht von der Leinwand ab und sagte nur: ”Sieh hin...” Der Film machte einen kleinen Sprung. Der kleine Tom befand sich gerade zum ersten Mal auf dem Weg zur Schule. Er hatte eine dicke Schultüte voller Süßigkeiten und Geschenke über die Schulter gepackt und sah auf der Schwelle zum Schulgebäude angstvoll zu seinen Eltern zurück. Die winkten ihm zu, Hand in Hand auf dem Parkplatz stehend. 52
Im Hintergrund fuhr ein alter VW-Kombi vorbei und Tom konnte den alten Schmidt sehen, der damals zwei Häuser weiter wohnte, bis er im Jahre 1989 an einem Herzinfarkt gestorben war. Tom konnte sich an alles wieder erinnern, als wäre es wie gestern gewesen. Und das in einem solchen Detailreichtum, das selbst der Film nicht alles zu vermitteln vermochte. Die Gefühle, die Gerüche ja selbst die Gedanken die er dabei hatte, waren plötzlich so real, als würde es gerade jetzt passieren. Er konnte sich an die Frau vom alten Schmidt erinnern, die alte Schmidt. Bis heute wusste er nicht ihren richtigen Namen. Nach dem Tod ihres Mannes war sie so voller Gram, dass sie ihm ein Jahr später in die Herrlichkeit folgte. Toms kindlicher Gedanke damals war, dass nun beide wieder glücklich waren. Und jeder sagte, es wäre gut gewesen. Keiner trauerte damals eigentlich wirklich. Seine Mutter meinte, die alte Schmidt hätte das sicher auch so gewollt. Seine Mutter! Ja! Das war sie. Sie trug ihn gerade von den Schafen der Streichelzoos im Tierpark fort weil er gleich schloss. Voller Liebe sah er die Bilder an, als wäre er selbst ein Teil davon. Aber das war er ja irgendwie auch. Und irgendwie doch wieder nicht - er sah vergangenes. Bilder des alten Reiterhofes tauchten auf, wo er letztendlich auch reiten gelernt hatte, bis er mit seinen Eltern in das neue Haus im Westen der Stadt gezogen war. Alles kam ihm so groß vor, bis ihm bewusst wurde, dass er einfach alles mit den Augen eines Kindes sah. Mein Gott! Was der Mensch alles vergessen konnte. Diese unschätzbar wertvollen Erfahrungen und Erlebnisse. Wie konnte das alles nur verloren gehen? Und man bekam es nicht mit! Erst dieser Film brachte ihm das alles wieder zum Vorschein.
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Seine gesamte Kindheit stand ihm wie ein großes Schauspiel direkt vor Augen, und er befand sich direkt darin. Er spielte nicht die Hauptrolle, er war der Film! Das Zelten im Garten vor dem Haus, nur um nachts die Erdbeeren aus den Nachbarsgärten zu stehlen. Das kleine Schwimmbecken, das sein Vater im Garten aufstellte, nur damit Tom es einriss und eine Überschwemmung in den Blumenbeeten verursachte. Aber es ging weiter! Er erkannte den alten Schulhof wieder, der jetzt einer Baufirma gehörte. Dort hinten, in der Ecke, küsste er seine erste große Liebe zum allerersten mal. Es war sein letztes Jahr auf der Schule. Wie alt war er da? Sechzehn? Siebzehn? Es war ein unschuldiges Herantasten an das was noch kommen sollte. Das vorsichtige Betasten eines noch fremdartigen Frauenkörpers, der für ihn bereit war, in diesem Moment ihm für die Ewigkeit zu gehören schien. Die unglaubliche Verletzlichkeit und Faszination, die ihm entgegenwallte. Und das stille Einverständnis beider, den Augenblick für immer festhalten zu wollen. Die Unglaubliche Enttäuschung, die er ihr bereitete, als er sich für eine andere Entschied! Trauer kam in Tom hoch, als er plötzlich erkannte, wie sehr er sie eigentlich damals verletzt hatte. Die erste Erkenntnis, die man gewann, wenn man feststellte, dass man nicht mehr nur unbedingt die eigene Seele ankratzte, wenn man etwas tat das einen anderen verletzt. Warum konnte er ihren Schmerz plötzlich so klar fühlen als wäre es sein eigener? Damals konnte er das nicht. Oder wusste er es nur nicht? Wollte er es nicht bemerken? Die Bilder zogen nun immer schneller an ihm vorbei... ...seine Lehre, die die Hölle war.
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Die neue Freundin, mit der er zum ersten Mal einen Gipfel der Lust erklomm, von dem er selbst nicht gewusst hatte, dass es ihn in dieser Form gibt. Die Zeit, in der für ihn nichts anderes existierte als hemmungsloser, nicht enden wollender Sex. Der Geruch ihrer Körper stieg ihm in die Nase, als wäre es hier und jetzt und beschämt schielte er zu seiner Frau hinüber. Die saß aber nur da und betrachtet sein Leben! Sein Leben! Es folgte die Zeit seiner Ziellosigkeit, in der er von einem Bett zum anderen wanderte, unzufrieden mit sich selbst seinen täglichen Job verrichtete und lustlos manchmal viele Nächte lang schlaflos da lag, um nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Die unendliche Leere, die plötzlich mit dem hellsten Licht ausgefüllt wurde, das er je erblickt hatte. Als er Susanne kennen lernte, war er einundzwanzig und er verliebte sich sofort in sie. Ein Gefühl, welches er damals wie heute nicht beschreiben konnte umwölkte sein Herz. Dieses leise und doch brodelnde Wissen, die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Als er eines abends mit ihr am See lange spazieren ging und es endlich wagte, sie zu fragen, ob sie die nächsten sechzig bis siebzig Jahre schon was vorhatte. Dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, als sie sich an ihn drückte und ihm ins Ohr flüsterte, dass es ruhig noch etwas länger dauern könnte. Damals, und da war sich Tom sicher, war er der glücklichste Mensch im gesamten Universum. Und heute, hier in diesem Kino durfte er diesen Augenblick noch einmal erleben. Es war wie ein Feuer das um ihn herum ausbrach. Welch unfassbare Erfahrung! Er streckte die Hände aus, als könnte er diesen Moment festhalten und für immer behalten. Alles, was er immer verdrängt hatte, kam nun zum Vorschein. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er ergab sich völlig seinem eigenen unvollkommenen Menschsein. Denn das war es! 55
Menschsein! Er wusste nun, was es bedeutete! Von nun an konnte er die Frage nach dem ”wer bin ich?” endgültig beantworten. Voller Dankbarkeit nahm er Susannes Hand, die immer noch auf seiner lag und hielt sie ganz fest. Er befand sich gerade an der Stelle seiner wichtigsten Entscheidung, als er seinen Job als Geselle aufgab, um endlich das zu machen, was er immer machen wollte - kreativ sein. Unfassbare Wut kam in Tom auf, als er noch mal diesen schweren Schritt durchlebte. Der erste Bruch mit seinem Vater und seinem sozialen Umfeld. Sie verstanden nicht, wollten nicht verstehen, warum er so handelte. Seine daraus folgende Arbeitslosigkeit, die wie ein Damoklesschwert drohte, die Beziehung mit Susanne bröckeln zu lassen. Aber es ging weiter. Was jetzt kam, brachte ihn völlig aus der Fassung! Glaubte er bisher, in ein Wechselbad der Gefühle gefallen zu sein, so erkannte er, dass dies nur die Vorbereitung auf das nun Kommende war. Er befand sich auf dem Weg ins Krankenhaus. Seine Frau (nein, das war sie damals ja noch gar nicht) befand sich in den Wehen. Nach Monaten stillschweigenden Kampfes war es soweit. Das Kleine würde kommen. Dieser unvorstellbare Druck in seinem Kopf, an Ereignissen teilhaben zu dürfen, die nunmehr nicht nur ihn selbst betrafen. Das Bangen der vielen Stunden, bis es endlich so weit war. Hatte er vorher geglaubt, zu wissen, was Menschsein bedeutet, so erfuhr er nun, was das Wort ”Leben” hieß. Und er durfte dabei sein. Der Moment, der sein Leben veränderte. In der Sekunde, in der er das entsetzte Luftholen seiner kleinen, winzigen Tochter Julia vernahm, als sie den Bauch ihrer Mutter verlassen musste. Das einsetzende Schreien dieses Winzlings markierte einen Wendepunkt in seinem Leben. Es war, als würde plötzlich aus einem Tom zwei werden. Ab die56
sem Zeitpunkt gab es ihn nicht mehr als Einzelperson. Er war Teil eines viel größeren Ganzen. Es war kein Glücksmoment. Es war etwas ganz anderes. Der Beginn eines neuen Lebens und die Ehrfurcht davor, es in die Hände gelegt zu bekommen. Und der Film spielte das Lied von den Dire Straits, welches Tom seiner Kleinen im Kreissaal plötzlich vorsang: Juliet, so much love you used to cry. I love you like the stars above, I’ll love you till I die... Juliet!” Oh Gott, nein! Was war geschehen mit all diesen Momenten? Wo war sein Leben geblieben? Gab es denn nichts, was er tun konnte, um das Rad der Zeit wieder zurückzudrehen? Wollte er das überhaupt? Der Tod seiner Mutter. Mit Unbarmherziger Härte musste er alles nochmals erleben. Er fühlte mit einemmal wieder diesen Verlust! Sie war 49 Jahre, als sie von ihm ging. Viel zu jung! Er verdammte Gott, er verdammte sich, er verdammte alles. Was war das für ein Schicksal, dass es sich einfach anschickte, einen Teil seines Herzens herauszureißen und metertief unter der Erde zu begraben? Aber damals war schon niemand mehr da der ihm helfen konnte. Susanne hatte ihn verlassen, weil er sich nur noch auf seine Arbeit konzentrierte, in der irrigen Annahme, er könnte damit seine Familie retten. Auch die Heirat half da nicht mehr. Es war ein letztes Aufbäumen, aber keine Lösung. Er stand am Grab seiner Mutter, mit nichts in der Hand. Er stand nur da und sprach stumm zu ihr:
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”Sieh her, was du zurückgelassen hast! Einen Versager! Einen Trottel! Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du so was nur tun?” Er hatte sich nie die Zeit gegeben, richtig um sie zu Trauern. Er tat so, als wäre das nie passiert. Das einzige was er empfand war Wut. Unbändige, ungezähmte Wut! Sein Herz war verhärmt und zu Stein geworden. Deshalb kam es auch zum endgültigen Bruch mit seinem Vater. Er gönnte ihm das Glück mit seiner neuen Freundin nicht, weil ihm selbst auch kein Glück mehr zuteil wurde. Jetzt im Nachhinein wusste Tom das der Tod seiner Mutter ein größerer Verlust war, als er je gedacht hatte. Er hätte sich Zeit nehmen müssen, zu trauern. Nun war es zu spät dazu und ein unwiederbringlicher Teil von sich selbst ist damit mit ihr zu Grabe getragen worden... ...unfassbar überwältigt betrachtete, fühlte und erfuhr Tom sein ganzes Leben in diesem leeren Kino. Stumm saß er da, unfähig, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Was war passiert? ”Warum das alles?” fragte er Susanne, die immer noch neben ihm saß und seine Hand hielt. ”Um dir zu zeigen, welch schrecklichen Irrtum du gerade erlebst!” sagte sie nur. Was für ein Irrtum? Wie konnte ein ganzes Leben, sein Leben, ein Irrtum sein? Er brauchte eine Erklärung! Nach all dem, was er gerade erlebt hatte, war sie ihm das schuldig. Niemand konnte so grausam sein. Aber es war, als würde sie seine Gedanken lesen können. Sie lehnte sich ganz nah zu ihm herüber und sah ihn an. Tom würde es ungemütlich. Er hatte plötzlich den Gedanken, das er vielleicht doch nicht hören wollte, was sie ihm nun sagte würde. Aber zu lange nagte nun schon die Ungewissheit an ihm. 58
So, als hätte Susanne sein stilles Einverständnis bemerkt, küsste sie ihn und nahm seine beiden Hände in die ihren. ”Das was du gerade eben gesehen hast, ist nicht wirklich! Es ist nie so passiert! Es ist ein Leben an das du dich klammerst! Aber es ist nicht wirklich. Das ist der Grund, warum alles plötzlich aus den Fugen gerät! Du musst aufwachen und zurückkehren! Bitte!” Tom sah sie nur fragend an. Er verstand nicht. Alles was er gesehen hatte, war passiert. Seine Geburt, sein Vater, seine Mutter, sein Kind. Das alles war echt. Es konnte nicht Einbildung sein! ”Das ist mein Leben, Susanne. Ich erinnere mich an alles. Von Anfang an! All die Jahre, all die Schmerzen. Es ist wahr!” ”Jahre sind bedeutungslos, Tom! Zeit ist bedeutungslos, das hast du selbst erlebt! Häng dich nicht an diese falschen Erinnerungen. Benutz dein Herz. Komm zurück!” ”Wohin soll ich zurückgehen? Was willst du mir sagen, Susanne?” Aber sie ließ seine Hände los und sprang auf. ”Es ist soweit! Die Zeit ist um. Alles was ich sagen konnte habe ich gesagt!” und sie weinte. Nein! Das durfte nicht sein. Sie durfte jetzt nicht gehen. Nicht ohne ihn! Er brauchte Antworten. Und er brauchte sie. Er hielt ihre Hand so fest, wie er sie noch nie gehalten hatte. ”Warte, ich gehe mit dir!” ”Ja, das wäre so schön...” Sie löste sich von ihm. Er versuchte erneut, sie festzuhalten, aber sie entzog sich ihm. ”NEIN! BITTE GEH NICHT! ICH LIEBE DICH! OHNE DICH MÖCHTE ICH NIRGENDWO MEHR HINGEHEN!” rief er. Susanne tauchte in die dunklen Schatten des Kinos. Tom sprang hinterher, aber er konnte sie in der Schwärze nicht mehr finden. Verdammt, wie konnte ein Kino nur so dunkel sein. ”GEH NICHT!” flehte er. ”Ich muss!” 59
Dann war sie weg! Er wusste es. Sie war nicht mehr im Raum. So wie sie gestern Abend wieder in sein Leben trat, so war sie auch wieder verschwunden. Verzweiflung umfing ihn. Er gab auf! Das war das Ende. Alles war ihm genommen worden. Nichts blieb übrig. Es war egal, ob er tot war oder weiterlebte. Es war bedeutungslos! Er schrie in den großen Saal: ”WOHIN MUSS ICH GEHEN? WESHALB SOLLTE ICH? WELCHEN ZWECK HÄTTE DAS OHNE DICH!” Aber es kam nichts als Stille zurück. Kalte, glatte Stille. Drei Tage später saß er immer noch an seinem Küchentisch. Nichts hatte sich verändert! Als er sich nach seinem ”Kinobesuch” wieder nach Hause schleppte, setzte er sich dorthin und wartete. Auf nichts! Er schlief nicht mehr, denn es machte keinen Sinn. Er würde einfach wach bleiben! So lange, bis man ihn irgendwann einmal fand. Wach für alle Ewigkeit. Eingebettet in die friedliche Stille des Aufgebens. So sah der Wahnsinn aus! Seine Augenlieder zitterten. Seine gesprungenen Lippen bebten vom Wassermangel. Seine Knöchel waren wundgeschürft und er hatte keine Träume mehr... -xEr saß auf einer Parkbank. Seine Wohnung war verschwunden. Den Park kannte er nicht, es war bestimmt keiner in seiner Stadt. Es war schönstes Wetter. Alles war friedlich. Tom war zunächst verwirrt durch diesen abrupten Szenenwechsel und versuchte schnell, die neue Umgebung zu erfassen. War er trotz allem schon wieder eingeschlafen? Neben ihm saß ein junger Mann, und dieser sah Tom mit einer Mischung aus Interesse und wohlwollen an.
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Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift ”Bitte nicht schütteln!”, dazu eine zerrissene Bluejeans älteren Baujahres, unter denen ein paar blitzblanke Cowboystiefel hervorlugten. Er hatte schwarzes Haar, und zwar wirklich schwarzes Haar. Es war keine Spur von Braun darin, oder rot oder sonst irgendein Farbton. Es waren die perfekt schwarzen Haare. Das spitze, braungebrannte Gesicht versteckte sich teilweise unter einem Dreitage-Bart. Man konnte sagen, der Kerl war richtig gut aussehend, trotz seines etwas ”legeren” Aussehens. Aber was das wichtigste war. Tom kannte diesen Mann. Er war der Typ aus seinen Träumen! Das Buch von Watzlawick lag geschlossen vor Toms Füßen. Das Lesezeichen war fein säuberlich ungefähr in der Mitte eingelegt. Der Mann sah ihn freundlich an und sprach: ”Du hast da was fallenlassen, Tom! Soll ich es dir aufheben?” und er erhob sich, griff das Buch und gab es Tom in die Hand. Tom sah den Mann lange an! Wieso kannte er seinen Namen? Das war sicher wieder einer dieser Träume! ”Nein, Tom! Auch diesmal ist es kein Traum! Es ist alles wirklich!” ”Wer sind sie?” wollte Tom wissen. ”Ich heiße Johannes! Johannes Krenz! Aber die meisten nennen mich John! Aber das hilft dir sicher nicht weiter, stimmt’s?” Tom überging diese Frage. ”Woher kennen sie meinen Namen?” Der Mann stand auf und kramte in seiner linken Hosentasche herum. Er zog ein zerknülltes Brotpapier hervor und warf es in den Mülleimer neben der Bank. Dann setzte er sich wortlos wieder hin. Tom überlegte.
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Er fragte sich, was es mit diesem Mann auf sich hatte, denn irgendwie schlich sich bei ihm das Gefühl ein, dass hier nicht nur Zufall mit ihm Spiel war. Nur, welches Spiel wurde hier gespielt? ”Sag Tom? Hast du manchmal das Problem nicht mehr zu wissen, was wahr ist und was nicht? Ich meine, hast du schon mal erlebt, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte? Und hat es dich nicht verwirrt?” ”Nein!” antwortete Tom hilflos. „Willst du wissen wie wirklich die Wirklichkeit ist?“ „Nein!“ antwortete Tom wieder. ”Wirklich nicht? Also das finde ich gut! Wirklich! Denn weißt du, ich habe ab und zu auch dieses Problem. Ich denke manchmal, ich gehöre hier eigentlich nicht hin! Als hätte mich irgendein kranker Geist hierher gespült, ohne das ich es will! Als wäre ich völlig fehl am Platz! Hast du manchmal das Gefühl, fehl am Platz zu sein?” Was wollte dieser Jonathan eigentlich von ihm? ”Johannes! Mein Name ist Johannes!” entgegnete John ihm freundlich auf diesen Gedanken. ER KONNTE TOMS GEDANKEN LESEN! ”Weißt du Tom, ich bewundere dich!” ”Weswegen?” fragte Tom leicht irritiert. Dieser Mann irritierte ihn wirklich. Er benahm sich sonderbar! ”Na ist doch klar,” lachte John, ”du bist ein Mensch, der Mut hat, der sich seinen Problemen stellt. Kein Weichei, kein Warmduscher, wie ich so sagen würde, weißt du!” ”Könnten sie vielleicht etwas genauer werden?” wollte Tom nun wissen. John setzte sich wieder neben ihn, sehr nah, griff ein paar Steinchen vom Boden auf und warf sie lässig zum Kiesweg hinüber. Tom sah im verwirrt dabei zu und wartete auf nähere Erklärungen. Aber der Mann, John, machte überhaupt keine Anstalten, irgendwie weiter auf das eben gesagte einzugehen. 62
Und so saßen sie fünf Minuten schweigend da, ohne zu sprechen. Tom wurde ungeduldig und wollte gehen. Er setze an, auf Wiedersehen zu sagen. Irgendwie kam er hier nicht weiter! ”Also John, es hat mich...” ”Ha!” unterbrach ihn dieser, mit dem Finger vor dem Mund. ”Pssst! Nicht reden! Bleib sitzen!” meinte er. ”Warum sollte ich? Ganz offensichtlich kommen sie doch ganz gut allein zurecht!” ”Ungeduldig bist du, Tom! Ganz schön ungeduldig!” Wieder stand er auf, ging um die Bank herum und trat hinter Tom. Jetzt wurde der Typ langsam etwas ungemütlich. Oder aufdringlich! Ja, das war vielleicht das bessere Wort. Aufdringlich! Er zeigte an Toms Kopf vorbei in Richtung Stadtrand. ”Sag mir, was du siehst, Tom!” ”Ich sehe den Stadtrand!” ”Nein! Das ist zu einfach! Weißt du, was ich sehe?” ”Sagen sie es mir doch einfach!” entgegnete Tom etwas säuerlich. John beugte sich nahe an Toms Ohr und flüsterte sanft: ”Ich sehe ein Meer von tausend Seelen, die alle ihrem täglichen, kümmerlichen Tagesgeschäft nachgehen! Die ihre mickrigen Sorgen zur Arbeit oder nach Hause tragen! Sie eilen durch langweilige Straßen, um langweilige Sachen zu kaufen, um ihr ebenso langweiliges Leben etwas schöner und behaglicher zu machen! Während wir beide alle Zeit der Welt haben, hier zu sitzen und darüber nachzudenken. Nicht so wie diese albernen Menschen, die abends durch ihre Wohnungstür gehen, um Fernzusehen, zu lesen oder mit ihrer Frau oder ihrem Mann zu schlafen. Ist das nicht öde?” ”Es ist mehr, als viele andere haben!” ”Du meinst damit deine Frau und dein Kind, richtig?”
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Also jetzt war das Ende des Spaßes erreicht! Der Typ war für Toms Begriffe zu weit gegangen. Außerdem rückte er ihm zu sehr auf die Pelle. Deshalb sprang er auf und entgegnete zornig: ”Halten sie die Klappe! Ich weiß nicht, wer sie sind und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Woher wissen sie überhaupt so viel von mir? Ich habe sie noch nie gesehen?” ”Das stimmt nicht, Tom! Wir sind uns schon öfter begegnet, und du weiß es!” Tom überlegte und sagte: ”Wissen sie was? Eigentlich will ich gar nichts von ihnen wissen! Lassen sie mich in Ruhe!” John ging wieder um die Bank herum und legte seinen Arm freundschaftlich um Toms Schulter: ”Aber, aber, Tom! Warum so unfreundlich?” Tom riss sich los und sah den Mann giftig an, aber dieser sprach ganz ruhig weiter: ”...ich würde dich ja gerne in Ruhe lassen, Tom! Aber du bist in MEINEN Park gekommen, nicht umgekehrt! Ich habe dich nicht darum gebeten! Und anstatt mir dankbar darüber zu sein, dass ich freundlich zu dir bin, du meine Bank benutzten darfst und ich dich über meinen Rasen laufen lasse, bist du böse zu mir! Sieh hin!” Auf dem Rasen war ein Schild, welches vorher noch nicht da war: RASEN BETRETEN VERBOTEN! ”Was soll das?” fragte Tom wütend. ”Immer diese Fragen! Du stellst nichts als Fragen!” entgegnete John nur. ”Das ist mein gutes Recht!” ”Tom, du verstehst überhaupt nichts! Du hast keine Rechte mehr!” Tom sah den Mann entgeistert an: ”Wie bitte? Das ist ein freies Land, und ich bin ein freier Mann. Ich kann tun und lassen was ich will!” 64
”Du irrst dich, Tom!” antwortete John mit einem Lachen und fuhr fort: ”Das ist kein Land, du bist nicht frei und du kannst auch nicht tun was du willst, das weißt du! Es ist nur ein Park, mein Park, und du bist mein Gast!” ”Doch! Ich habe Rechte!” entgegnete Tom stur. ”Du hast dir deine Rechte selbst verwirkt! Du lebst in einer Scheinwelt, ohne Zeit und Raum, in der du dich selbst gefangen hältst! Und der einzige der noch für dich da ist bin ich, glaub mir! Ich bin dein Freund.” Der Mann stand mit ausbreiteten Armen da und sah ihn gütig an. ”Okay, du hast recht,” sagte Tom leicht resignierend, den John hatte recht! Es war nicht mehr Herr seiner Lage, und brauchte Hilfe von jemandem, der ihn verstand. Und John verstand offensichtlich alles, denn er kannte Toms Lage genau. Und es waren keine bösen Worte, sondern wahre Worte, die er von sich gab, auch wenn er sie nicht hören wollte. Es war schwer, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, vor allem dann, wenn sie einem direkt gegenüber stand. John ging auf Tom zu und setzte sich ihm gegenüber aufs Gras. Er wies Tom mit einer Handbewegung an, dasselbe zu tun. Tom setzte sich bereitwillig hin. Sein Zorn hatte sich plötzlich völlig gelegt. Er erkannte nun die Wahrheit. Dieser Mann war seine einzige Hilfe. ”Tom. Überlege mal, was du eigentlich verlieren würdest, wenn du nie wieder in dein für dich normales Leben zurückkehren müsstest. Tom überlegte, aber es fiel ihm nichts ein. Sein Kopf war leer. Bilder von seiner Mutter, von Susanne und seiner Tochter huschten kurz als Erinnerungsfragmente an ihm vorbei, aber sie waren nicht greifbar genug und verwirbelten sich in der Leere wie das Laub der Bäume im Herbst. ”Du würdest endlich von dem ewigen Schmerz des Todes deiner Mutter befreit sein, weil du alles hinter dir gelassen 65
hast! Du hättest auch endlich mit dieser Schlampe abgerechnet, die die Mutter deines Kindes ist und dir nichts als Ärger gemacht hat und immer noch macht! Du zahlst für ihre Fehler, mein Freund! Und dein Vater? Hat er sich um dich gekümmert, als es dir schlecht ging? Er macht stattdessen mit dieser Nutte rum, ist es nicht so, Tom?” ”Ja!” erwiderte dieser laut, so, als sollten es alle und nicht nur dieser Mann hören. ”Und dieser Biff! Meiner Treu! Er hat nichts anderes als vögeln im Kopf! Er verprügelt dich im Zeichen der Freundschaft, das ist alles! Wenn du Probleme hattest, hatte er keine Zeit. Er musste weg, weil er ein Date hatte oder seiner lächerlichen Arbeit nachgehen musste, um dort die Zeit mit ebenso lächerlichem Computerkram totzuschlagen!” ”Richtig!” antwortet Tom nun etwas leiser. ”Und du? Arbeitest in der Woche 60 Stunden und mehr und hast es immer noch nicht geschafft, den Posten des stellvertretenden Geschäftsführers von deinem undankbaren Chef zu erhalten!” ”Stimmt!” ”Und deshalb, Tom! Deshalb frage ich dich! Was bringt dir dein Kampf, wieder ins normale Leben zurückzukehren?” Der Mann sah Tom durchdringend an. ”Ich... ich... ich weiß nicht!” ”ER WEISS ES NICHT!” John schnellte hoch, sprang auf die Wiese und schwenkte den rechten Arm in einer halbkreisförmigen Bewegung in den Himmel. ”DU BIST GEFANGEN WORDEN IN EINER WELT, DIE NICHT DIE DEINE IST, MEIN FREUND! SIEH DIR AN, WO DU HINGEHÖRST!” Mit dieser einen Handbewegung wischte John den Park weg, als wäre er nur ein Bild gewesen, welches man einfach ausradiert. Dahinter, Darunter oder stattdessen eröffnete sich ihm ein unglaubliches Panorama. 66
Er sah von einer hohen Hügelkette auf ein Land, das sich weit vor ihm unter dem goldroten Glanz einer untergehenden Sonne ausbreitete. Und instinktiv wusste er plötzlich, dass dies sein Land war. Hier gehörte er hin! Hier war er schon immer gewesen. Und er erkannte auch John plötzlich wieder. Er war nicht irgendein Mann sondern sein Bruder! Und Tom hieß auch nicht Wenzel mit Nachnamen, sondern Krenz. Alles wurde ihm plötzlich klar vor Augen gehalten. Hier war er zu Hause, nicht in dieser schrecklichen Welt, die ihn so lange gefangen gehalten hatte. Er erkannte sogar die Ländereien wieder, die vormals seinem Vater gehört hatten, und die ihm dieser, als seinen ältesten Sohn vererbt hatte. Der alte Herr war nun schon seit vier Jahren tot. Er erkannte die Scheune, in der er sich immer versteckt hatte, wenn er unartig war. Sehnsucht und Wehmut umfing ihn. Die Pferdekoppel, auf der er reiten gelernt hatte. Auf dem großen Vorplatz des Hofes stand Toms Buick. Er war alt und klapprig, aber es war ein schönes Auto. Sein Auto. Hier lebte auch seine echte Mutter, die zwar schon alt aber immer noch agil war und die er so liebte! Und er erinnerte sich auch plötzlich an seine Freundin, die er bald heiraten wollte, bis... ...er verschwand! Gütiger, wie er sich nach ihr sehnte. Die langen, lockigen schwarzen Haare. Dieser trotzige Schmollmund. Die Güte und Geduld, die sie ihm entgegenbrachte. Es fiel ihm alles wieder ein, so als wäre es gestern gewesen. Und diesmal brauchte er keinen schmalspurigen Film dazu. Was für ein Witz. Er hatte sich über Jahre hinweg täuschen lassen. Miriam wartete auf ihn und er konnte es kaum erwarten, sie wieder in den Armen zu halten.
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War er nicht manchmal ein Ekelpaket gewesen? Zu oft zu unfreundlich und engstirnig? Er würde nun vieles besser machen. Er sprang den Tränen nahe auf und wollte seinen Bruder John umarmen. Es wollte sein Glück mit ihm teilen und irgendwie kam es ihm so vor, als wäre dies der letzte Schritt, den er tun musste, um endlich sein Leid zu beenden. Aber als er aufsprang, fiel das Buch von Watzlawick aus seinem Schoß auf den Boden und das Lesezeichen, welches immer darin lag, flog heraus und landete daneben im Gras. Das Lesezeichen war ein Bild von seiner Tochter Julia! Von Julia Wenzel! Er erstarrte und betrachtete das Foto. John stand mit ausgebreiteten Armen da und rief: ”Komm, umarme mich! Bring es hinter dich! Beende deinen Kampf!” Tom starrte auf das Foto! Er bückte sich und nahm es auf. Er strich mit den Fingern über das kleine, lachende Gesicht und Liebe überflutete seinen gesamten Körper! ”Komm zu mir, Tom! Beschließe dieses Kapitel und kehre mit mir zurück!” drängte John. Vor Toms Augen verschwamm alles. Er nahm nur noch undeutlich seine Umgebung wahr. Julias Gesicht lachte ihn an, als wäre es lebendig! So lebendig wie er! Und er fühlte diesen unerträglichen Schmerz der Leere. Der Einsamkeit und des Verlustes. Was wäre wenn vielleicht doch irgendwo dort draußen sein Kind und Susanne auf ihn warteten? Wenn er tatsächlich eine Frau und einen Job als Werbedesigner hatte? Er sah zu John, seinen Bruder, hinüber, erkannte undeutlich seine wilden Gestikulationen.
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Aber er konnte seinen Blick nicht mehr von diesem Foto wegnehmen. ”TOM!” ”Tom! Komm zurück! Tom, bitte!” Sein ganzer Körper wurde geschüttelt! Emotionen brandeten wie ein wilder Sturm die Wellen des Ozeans um sein Herz. ”TOM, WACH AUF! BITTE WACH AUF! VERLASS UNS NICHT!” Er brach in Tränen aus, und konnte nicht mehr aufhören. Was passierte mit ihm? Dieses Buch! Dieses verdammte Buch! Es war Schuld an allem Übel. Tom sah auf. Entschlossen klappte es zu und trat zurück. Dann nahm er Schwung und feuerte das Buch so weit er konnte den Hügel hinunter. Ein für allemal erlöste er sich von diesen Stimmen und von diesem Trugbild, das er einmal als sein echtes Leben empfunden hatte. John trat neben ihn und betrachtete den Abhang, in dem irgendwo das Buch lag. ”Das war es, was du tun musstest! Du hast entschieden!” sagte er. ”Ja,” sagte Tom matt, ”das habe ich!” ”Komm Bruderherz! Unten im Tal wartet ein warmes Feuer, etwas zu Essen und Miriam, die dich lange nicht mehr gesehen hat! Von Mutter ganz zu schweigen! Sie liebt dich nämlich!” ”Ich weiß.” entgegnete Tom mit glänzenden Augen. Voller Freude setzten sich beide in Bewegung und liefen so schnell sie konnten nach Hause in den Sonnenuntergang hinein. Es war schön, wieder hier zu sein. Hier gehörte er hin, hier war sein Platz. Sie liefen durch das hohe Gras durch die schönste Landschaft der Welt. Tom wünschte sich, der Himmel könnte so aussehen!
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-xDer Oszillograph hatte seinen Dienst getan! Eine lang gezogene Nulllinie verkündete hart und unerbittlich, dass nichts mehr zu machen sei. Ein grausam monotoner Ton schrillte in den Ohren der im Raum anwesenden. Die Stationsschwester schaltete das Gerät ab, entfernte die Schläuche und Elektroden von Tom und wendete sich mit einem traurigen Kopfschütteln ab. Voller Unglauben starrte Susanne, Toms Frau, mit Rändern unter den Augen auf ihren Mann, dem sie immer noch die Hand hielt. Nach drei Tagen ringen mit dem Tod war es vorbei. Er hatte es nicht geschafft! Susanne beugte sich noch einmal zu ihrem Ehemann hinunter und küsste ihn auf die Stirn. Ein letzter Abschied, ein letztes Verweilen an ihre Liebe, die ihr genommen wurde. Toms Vater trat von hinten an sie heran und berührte sie ganz sacht und sanft an den Schultern. An seiner rechten Seite stand Toms Mutter, die kleine Julia ganz fest im Arm. So standen sie still um das Bett auf der Intensivstation II des Westkrankenhauses und fanden noch nicht einmal mehr die Kraft zum Weinen. Ein Krankenpfleger starrte von draußen durch das Sichtfenster in den Raum, als die Stationsschwester herauskam. ”Was ist mit dem Mann passiert?” fragte er. ”Ein Autounfall! Als er von der Arbeit nach Hause fuhr, ist er vermutlich vor lauter Müdigkeit hinter dem Steuer eingeschlafen.” ”Und?” fragte der Pfleger. ”Kurzzeitig sah es so aus, als würde er aus dem Koma wieder aufwachen, aber die Verletzungen waren wohl zu stark. Sieh dir das an - es ist ein Jammer. Er hinterlässt diese liebe nette Frau mit diesem süßen Kind.” Der Pfleger sah noch einmal durch das Sichtfenster. ”Ja...” sagte er, ”...schade eigentlich!” 70
Dann widmete er sich wieder seiner Arbeit, um rechtzeitig die Nachtschicht beenden zu können.
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