Thomas Ziegler Sardor Band 01
Sardor
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Thomas Ziegler Sardor Band 01
Sardor
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Auf einer fernen Welt tritt das Barbarenheer zur letzten Schlacht gegen die Truppen des dunklen Imperiums an. Ein Unwetter tobt über dem Schlachtfeld, und zwischen den Wolken bricht plötzlich ein roter Feuervogel hervor, der dem Imperium Tod und Verderben bringt. Als die Barbaren das seltsame Flugungetüm umringen, ahnen sie nicht, daß sie einen Kampfflieger aus dem 1. Weltkrieg vor sich haben. Sie wissen nur, daß der Gott Sardor zu ihrer Rettung zurückgekehrt ist. ISBN 3-404-20062-4 © 1984 by Bastei-Verlag Titelillustration: Agentur Norma Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik,Bensberg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Thomas Ziegler (geboren 1956) gilt als einer der wichtigsten jungen Autoren der neuen deutschen Science Fiction. Für seine Kurzgeschichten erhielt er den Kurd Laßwitz-Preis. Mit »Sardor« legt er seinen ersten Fantasy-Abenteuerroman vor.
Während des Ersten Weltkriegs wurden 17000 deutsche Offiziere und Soldaten im Fliegerberuf ausgebildet. Bei Kriegsende waren 13100 verwundet, vermißt, tot. Dies ist die Geschichte des Jagdfliegers Leutnant Dietrich von Warnstein. Seit dem Herbst 1917 A.D. vermißt und für tot erklärt.
1. Kapitel: Der Eisenherzog 11 2. Kapitel: Gewitterflug 41 3. Kapitel: Dunkle Heere 61 4. Kapitel: Sardor 91 5. Kapitel: In der Gruft 109 6. Kapitel: Exkursion nach Gorm 125 7. Kapitel: Der Bosling 155 8. Kapitel: Zu den Seufzerschründen 175 9. Kapitel: Der letzte Flug des Albatros 185 10. Kapitel: Der Nachtmahr 195
1. Kapitel Der Eisenherzog They sleep their patient sleep in altered lands, The golden promise in their fleshless hands. - Agnes Mary Robinson »Etruscan Tombs«, 1888 Schnee knirschte und war rot wie gefrorenes Blut unter dem Kirschrund der Sonne. Der Wind, der ohne Unterlaß die Klippen und Gipfel, die Hänge und Simse im rostenden Fels der Krograrüten Berge urnpfiff, wirbelte den Schnee auf und ließ ihn tanzen, wie er seit Äonen getanzt hatte. In zerrissenen Wolken wirbelte der Schnee über den Gletscher und in den schwarzen Schlund der Schlucht, in die sich der Gletscher schob, als hoffte er, im Lauf der Zeit den Abgrund aufzufüllen und so die steile Wand zu erreichen, die hundert Meter weiter in den Himmel stieg. Dem brodelnden Sonnenball entgegen, der wie eine rote Wunde im Grau des Firmaments schwärte und ein Viertel des Himmels ausfüllte. Dennoch war es kalt, so kalt, daß der Wasserdampf im Atem des einsamen Wanderers sofort zu Reif gefror und seinen Bart verkrustete Grimmig bahnte Churm sich seinen Weg. Über den Grat zwischen Gletscher und Schlund, gegen den Wind und im tanzenden Schnee. Er spürte die Kälte, aber er erlaubte ihr nicht, sich in sein warmes Fleisch zu fressen und das Leben aus seinen Gliedern zu saugen. Der Schnee knirschte, und der Gletscher knarrte und knackte, zermalmte mahlend gewachsenen Fels. Lüstern klirrte der Frost und rieb mit klammen Fingern über des Wanderers Rüstung, die schwarz schimmerte wie die Schlucht, über das engmaschige, aus Stahlfäden gesponnene Beinkleid und die Stiefel aus geschmeidigem Hörn. Churm mißachtete den Frost. -5-
Sich dem Frost zu stellen, hätte bedeutet, sich mit ihm zu messen, und wenngleich die Kälte ein unüberwindlicher Gegner war, so kostete jeder Kampf Zeit, und Zeit war in diesen Tagen kostbar wie das Leben selbst. Vielleicht war es schon zu spät. Vielleicht wogte drunten in der Ebene, im Glasgras zwischen Heldenhügel und Stryge, die Schlacht, die unausweichlich geworden war. Vielleicht mähten dort die Schwerter der Crypten die Reihen der Hainvölker nieder, und vielleicht brannten schon die Wälder und schickten Rauch zur geblähten Sonne hinauf. Schneller, dachte Churm. Geh schneller! Er vergrößerte seine Schritte und ließ den Frost hinter sich. Er lief über einen gefährlich glatten Felsgrat und atmete Reif aus. Doch sein Fuß fand immer sicheren Halt. Hungrig klaffte das Maul der Schlucht und grollend kalbte der Gletscher, doch selbst wenn die Schneewolken so dicht wurden, daß sie das Sonnenlicht verschluckten, hielt der alte Krieger keinen Moment inne. Dann krümmte sich der Grat und entfernte sich vom Abgrund, schnitt wie ein blankes Schwert durch das wandernde Eis und wölbte sich himmelwärts, um schließlich am Fuß einer rostenden Klippe erneut abzuknicken und in einen Sims überzugehen, so breit wie die Alte Eisenstraße. Die Klippenwand hielt den Wind ab und mit dem Wind auch den wirbelnden Schnee. Kirschlicht fiel kalt vom Himmel und verwandelte das zerfressene Erzgestein in wundes Fleisch. Churm blieb stehen. Zu seinen Füßen wälzte sich der Gletscher weiter der Schlucht entgegen, verschlang der Abgrund das tollkühne Eis, tanzten die Schneekristalle in den pfeifenden Böen. Felsstaub und Rost rieselten auf des Wanderers Helm und Rüstung. In der Ferne klirrte hungrig der Frost, tollte über den Gletscher, den Grat, zum Sims hinauf, um sich auf halbem Weg abzuwenden und -6-
wieder hinabzusteigen, und bald ertrank sein Klirren im Wind. Churm atmete aus und blies Rauhreif in seinen Bart. Die letzten Meter, dachte er, während er mit silbernen Augen den breiten Sims betrachtete, die tiefen Abdrücke eiserner Füße, die sich in das mürbe Erzgestein gegraben hatten und so weit voneinander entfernt waren, daß ein normaler Mann zehn Schritte machen mußte, um von einem Stapfen zum anderen zu gelangen. Churm bückte sich und strich mit seiner Hand aus Hörn über den tiefen Abdruck. Eisenspäne blieben am schwarzen Hörn kleben und blitzten im Kirschlicht. Frische Späne. Frei von Rost. Kaum so alt wie der Morgen. Hatte ihn der Eisenherzog beobachtet? Hatte er seinen Aufstieg verfolgt, verborgen in den Felseinschratten, hinter den Schneevorhängen, von den eisverkrusteten Höhen der Gipfel aus? Eine mächtige Gestalt, ganz in Eisen gehüllt, das Metallgesicht roh und stumpf, in dumpfem Erstaunen glühend, so heiß glühend, daß der Frost entsetzt zurückschrak und entfloh, um Jagd auf leichtere Beute zu machen? Churm hob den Kopf und drehte ihn Himmel und Sonne entgegen, zu den Klippen und Schrunden hinauf, sah dann in den Schlund, tausend Klafter tief und düster wie eine bewölkte Nacht. Sein forschender Blick wanderte über den Sims hin zu der Wand aus zerfurchtem Gestein, wo der Eingang zum Stollen lag, ein Bogen aus purem Gold. Dort, wo die Klippe rechtwinklig abknickte und sich der Sims zu einem Plateau verbreiterte. »Herzog!« brüllte Churm, daß seine Stimme in der Bergwelt hallte, bis sich das Echo in den Felskaminen verfing und in Gefangenschaft geriet, die erst enden würde, wenn der Rost in zwei oder drei Jahrtausenden die Kerkermauern in Staub verwandelt hatte. »Eisenherzog!« schrie Churm. Er wartete und erhielt keine Antwort. Nichts rührte sich im -7-
Schwarz der goldumrandeten Stollenöffnung. Mit einem grollenden Fluch, der den Eisenmännern galt und den Bastarden, die sie bei ihrer Flucht vor den Gehörnten in der Welt zurückgelassen hatten, eilte er leichtfüßig über den Sims. Sein Schwert schabte über die Klippenwand und fräste eine tiefe Rille in das poröse Erzgestein, und Rost rieselte wispernd in die Tiefe. Schließlich hatte er das Plateau vor dem halbrunden Loch im Fels erreicht. Er lauschte. Alles war still; still bis auf das unentwegte Pfeifen des Windes und das mürrische Klirren des Frostes, der irgendwo im Gletschereis lauerte und darauf hoffte, den einsamen Wanderer bei seinem Abstieg ins Tal doch noch zu bezwingen. »Ich warte, Eisenherzog«, sagte Churm drohend. »Wenn du nicht kommst, hole ich dich.« Der Boden bebte. Rasseln und Dröhnen wie von tausend Ketten, dick und schwer genug, um einen Riesen zu fesseln, wurde im Innern des Stollens hörbar, und aus dem goldgefaßten Halbrund drang stickiger Geruch: Hitze und schmelzendes Metall, Moder und fauliges Gras, und dann noch etwas Fremdes, Beißendes, das Churm zurückweichen ließ, weil es Erinnerungen weckte, Erinnerungen an Dinge, die er vergessen geglaubt hatte und die grausam waren wie der Anblick blutbefleckter Folterwerkzeuge. Die Luft waberte im heißen Wind aus dem Stollen, und selbst die Kälte der Berge benötigte lange Sekunden, um den beißenden Gestank gefrieren zu lassen. Das rasselnde Gedröhn hielt an und wurde lauter und wilder. Der Boden schwankte, und das Eis auf dem Plateau und an der Klippenwand splitterte. Churm legte die Hornhand an den Knauf des Schwertes. Er empfand keine Furcht, nur Wachsamkeit und leises Unbehagen, während er reglos dastand und auf den Eisenherzog wartete. Starr hielt er die Silberaugen auf die Stollenöffnung gerichtet. Hoch war sie, so hoch, daß sich zehn Männer aufein-8-
•iderstellen mußten, damit der oberste mit den Fingerspitzen o Wölbung des Goldbogens berühren konnte, und ebenso breit. Noch immer glomm kein Licht in der Finsternis; nur das Dröhnen nahm zu und der Boden bebte heftiger. Der Eisenherzog kam. Aus der Tiefe des Berges schritt er polternd empor, und jedesmal, wenn sich einer seiner eisernen Füße senkte und in den erzgeäderten Stollengrund bohrte, schien das Massiv der Klippe wie unter einem ungeheuren Hammerschlag zu schwanken. Wieder fauchte Hitze dem einsamen Mann ins Gesicht und taute die Eisperlen im schwarzen Bart, der Kinn und Wangen überwucherte und nur die strenge, gerade Nase und die Silberaugen unbedeckt ließ. Dicht über den schwarzen, buschigen Brauen saß der stahlgraue Helm mit dem Putz aus goldenen Schwingen, die eine beunruhigende Ähnlichkeit mit langen gebogenen Hörnern besaßen. Churm verzog die Lippen zu einem freudlosen Lächeln. Der Gehörnte und der Eiserne, dachte er. Es ist wie in den alten Tagen... »Ich warte, Herzog!« schrie er in den Stollen hinc i, laut genug, daß seine Stimme die stampfenden Schritte und die rasselnden Atemzüge des nahenden Eisenherzogs übertönte. »Komm heraus! Ich warte auf dich, Herzog Krarn!« Gelächter antwortete ihm, und jeder Laut war, wie ein Schlag der riesigen alten Wehrglocke sein mußte, die im höchsten Turm der Feste Gorm an einem Balken aus versteinertem Holz hing und deren dumpfe Stimme bis hinauf zum höchsten Gipfel der Krograniten reichen sollte. Ein ganzes Dorf fand Platz in ihrem poliertem Rund, das in all den vielen Jahrtausenden weder Rost, noch Grünspan angesetzt hatte, und der Schlegel war mächtig genug, um in anderen Städten oder Festungen selbst als Turm dienen zu können. Aber niemand hatte die Stimme der Wehrglocke je gehört. -9-
Nicht einmal die Crypten, nicht einmal der Schwarze Mirn, der nun auf dem Knochenthron von Gorm regierte und seine Heere am Strygenufer aufmarschieren ließ, um die Hainvölker zu unterwerfen und die großen, stillen Wälder im Süden der Glasebene in Brand zu setzen. Nicht einmal Mirn hatte es gewagt, die Wehrglocke für seine Zwecke einzusetzen. Denn wenn sie erklang, kehrten die Eisenmänner zurück. Und kehrten die Eisernen zurück, stiegen auch die Gehörnten wieder von den Sternen herab. Und stiegen die Gehörnten herab, kamen auch die Nachtmahre, zu Krieg und Mord bereit. Und wieder würde sich die Welt in ein Schlachthaus verwandeln, blutig und kalt und finster wie der Tod... Aus dem Stollen trat der Eisenherzog. Zuerst war es nur ein Fleck, der rot im dunklen Halbgrund glühte, ein Fleck von der Größe eines Handtellers, der schnell und drohend wuchs, zu einem Ball, einer Schüssel, einem Wagenrad, und in der frischen Luft loderte das Rot auf und wurde weißglühend: Eisen, in der Esse ungestümem Zorns erhitzt. Formlos und fließend war das ungefügte Antlitz des Riesen, der sich mit dröhnendem Schritt und knirschenden Metallgelenken aus der Öffnung schob. Der Mund ein wabernder Spalt im halbgeschmolzenen Eisen, die Nase ein Erker von der Größe eines menschlichen Rumpfes, kühler und dunkler als die dampfende Haut, die Augen zwei Gruben, in denen Blei kochte. Der Schädel stieß gegen das Gold des Torbogens und ließ es aufzischen. Der Hals war ein Faß, der Leib ein Wall aus purem Eisen. An der Oberfläche rostete der Körper beständig, so daß sich immer wieder rotbraune Flocken lösten und zu Boden schneiten. Die Beine waren wie die Säulen der Tempel im Cryptenland. Der Eisenherzog blieb stehen. Der ungeheure Schädel drehte sich mahlend nach rechts und nach links, und die kochenden Augen, an das Dunkel der Berge -10-
gewöhnt und vom Kirschlicht der Sonne geblendet, suchten bedächtig nach dem Störenfried, der es gewagt hatte, den Herzog vom Lavafeuer seiner Schmiede hinaus in die Kälte zu locken. »Hier bin ich, Eisenherzog!« schrie Churm. Das Schwert - blau und unzerstörbar wie der metallene Pfad, der ihn zum Sims in der Klippe und zum Plateau vor dem Stollen geführt hatte - lag in seiner Hand. Sechs Schritte war er zurückgewichen, und hinter ihm, nur zwei Fußbreit von seinen Fersen entfernt, endete das Plateau und fiel steil ab, in bodenlose Leere, über der der blutrote Schnee seinen wilden Reigen tanzte. »Churm!« rasselte der Eisenherzog und senkte die mächtige Hand, die er bereits zum Schlag erhoben hatte, um den Frevler in den Abgrund zu schleudern. Der wabernde Spalt des Mundes klaffte auf und entblößte blitzende Zähne, jeder so lang wie Churms Schwert, jeder so breit wie der hünenhafte Mann. »Zwerg Churm!« Der Eisenherzog lachte sein dumpf hallendes, ohrenbetäubendes Gelächter. Die Knie knickten ein, und in einem Schauer rostigen Staubes ließ sich das Ungeheuer auf den Boden sinken, daß das Plateau knirschte und bebte und jeden Moment von der Klippe zu brechen drohte. Als das Glockengelächter verstummte, ließ auch das Beben nach. »Und das Schwert Gly stoßbereit in der Hand«, knirschte der Herzog. »Du bist gekommen, um mich zum Kampf zu fordern, eh? Um die alte Fehde aufleben zu lassen und hier und jetzt auszutragen, eh?« »Du weißt, warum ich gekommen bin«, sagte Churm barsch. Die Schwertspitze war auf die Brust des eisernen Riesen gerichtet, und die blaue Klinge färbte sich im roten Sonnenlicht dunkel. »Ich habe deine Spuren gesehen. Du hast meinen Aufstieg beobachtet.« »Ich hab^ymeinen Nachtgang gemacht«, wies ihn der Herzog -11-
rasselnd zurecht. »Unter dem Eisenring, wie es meine Art ist. Ich habe die Sterne beobachtet, nicht deinen Aufstieg. Ich weiß nicht, was du willst. Streit, wie es scheint. Oder planst du neue Diebereien? Ah, das Schwert Gly... Gehörte Gly nicht Herzog Hartrokor? Hat er nicht einen ganzen Winter damit verbracht, die Klinge im Magma der Erde zu schmieden, und einen ganzen Sommer, um den Stahl im Fleisch der Toten zu härten, die L'Ingan von den Zinnen seines Turms in den Spalt des Knochenpfads zu werfen pflegt? Und hat Hartrokor nicht Herzog Rurr erschlagen und ihn dann die Wilden Wasserstürze hinabgeschleudert, nur weil Rurr den Knauf von Gly berührte? Und ist nicht Churm in tückischer Verkleidung in Hartrokors Stollen geschlichen, um Gly zu rauben und den Herzog in die Gletscher zu locken? Brach Hartrokor nicht ein? Rutschte er nicht in den kalten Kamin, wo er noch immer eingeklemmt ist und brüllt und flucht, daß die halben Krograniten keine Ruhe finden können? Haben nicht die Herzöge diesem Churm Rache geschworen und gedroht, ihn Stück für Stück in ihren Essen umzuschmieden und alle Schlechtigkeit aus ihm herauszuhämmern? War es nicht so? Und ist es nicht unklug von Churm, sich allein an diesen Ort zu wagen und Herzog Krarn herauszufordern, ihn bei Dingen zu stören, die keine Störung dulden?« »Ah«, machte Churm und hob die blanke Klinge, daß ihre Spitze auf die Nasenwurzel des Herzogs deutete. »Diese alten langweiligen Geschichten! Wer will sie heute noch hören? Nebenbei - hat nicht Herzog Krarn diesem Churm geholfen, den Narren Hartrokor zu überlisten? Kann es nicht sein, daß eben dieser Krarn dem Zwerg Churm den klug getarnten Einstieg zu Hartrokors Stollen gezeigt hat?« »Aus reiner Barmherzigkeit«, rasselte der Eisenherzog. »Aber vergessen wir den Lohn nicht, der zuvor zwischen Krarn und diesem verräterischen Zwerg vereinbart wurde. Hieß es nicht, daß er Gly erhalten solle? Wartet er nicht noch immer auf diese -12-
einzigartige Klinge? Ist nicht auch er betrogen worden - wie so manch anderer vom Eisenvolk, der so töricht war, dem Zwerg Churm zu vertrauen?« Der Mann lachte. »Aber Torheit verdient doch gewiß harte Strafe, damit die Torheit ihren Reiz verliert und aus der Welt verschwindet; meinst du nicht auch?« »Dennoch...« Die Bleiaugen des Herzogs rauchten in der Kälte und die Weißglut der breiten Eisenwangen kühlte ab. Sie wurden rot wie der Sonnenball, der behäbig seinen Weg am grauen Himmel fortsetzte und die Wolkenbänke purpurn und violett leuchten ließ. »Verdient nicht auch Leichtsinn harte Strafe? Und lautet das Urteil auf Kühnheit nicht Tod?« »Aber Tod für wen, Herzog Krarn?« fragte Churm mit stoßbereiter Klinge. Der Riese lachte und die Glocke seines Gelächters hallte zwischen den Klippen der Krograniten, so daß sich in schneeverhangener Ferne eine Lawine aus Rost und Eis mit Donner löste und grollend in die Tiefe stürzte. »Manche Fragen sollten nicht beantwortet werden«, erklärte Krarn. »Um der Freundschaft willen.« »Um der Freundschaft willen«, nickte Churm, ohne das Schwert zu senken. »Ist es nicht seltsam, daß Freundschaft zwischen den Enkeln der Eisernen und der Gehörnten besteht, wo sich deren Ahnen doch Äonen lang bekriegt haben und schließlich von der Erde verschwunden sind, ohne ihren Streit beizulegen?« »Du sprichst von Freundschaft und stehst mit gezogener Klinge da«, rasselte Herzog Krarn vorwurfsvoll. »Das ist die einzige Freundschaft, die von Dauer ist.« »Gly blitzt im Sonnenlicht und blendet mich. Warum steckst du sie nicht fort? Es würde alles sehr viel leichter machen.« Der Eisenherzog neigte den mächtigen Schädel, und eine Handvoll -13-
Blei tropfte aus seinem rechten Auge und schmolz den letzten Rest des Eisens, das vor kurzem noch das ganze Plateau verkrustet hatte. »Freunde sollten einander vertrauen, Zwerg Churm.« »Hartrokor kann dir erzählen, wohin Vertrauen führt«, erwiderte Churm. Wieder lachte der Eisenherzog, und wieder polterte eine Lawine ins Tal. Von der Klippe fiel Rostregen. Während jenseits des hohen Plateaus der blutrote Schnee tanzte. »Du bist e\ja_Philosoph, Freund Churm«, rasselte Krarn und lehnte knarrend wie ein großes Schiff den Rücken an den Goldrand der Stollenöffnung. »Der letzte vom Orden des Horns ist ein Philosoph und ein Freund des Eisenvolkes. Ist das nur eine Grille des Schicksals oder die Erfüllung der alten Prophezeiung von L'aa? Vielleicht«, grollte der Riese, »schlägt morgen schon die Wehrglocke und warnt die Welt vor den Schatten, die vom Himmel steigen. Auf welcher Seite wirst du dann stehen?« »Sollten wir nicht besser fragen, wer auf meiner Seite stehen wird?« Der Riese hieb mit der Faust auf seinen eisernen Schenkel, daß es metallisch dröhnte und tausendfach von den Bergen widerhallte, als hätte ein Hammer von der Größe eines Hauses einen gewaltigen Amboß entzweigeschlagen. Der Mund verzog sich zu einem Lächeln, das Churm mit einem Bissen verschlingen konnte. Aber das blaue Schwert drohte. »Du hast Witz, Zwerg Churm«, knirschte Krarn mit seiner metallischen Stimme. »Du weißt, wie man Worte mit Worten pariert.« »Meine Zunge ist träge im Vergleich zu der Flinkheit meines Schwerts«, sagte Churm. Er erwiderte das ungeheuerliche Lächeln des Riesen. »Aber meine Gegenfrage auf deine Frage, Herzog Krarn, war nicht nur eine Parade im Duell unserer -14-
Zungen. Sie sollte dich vorbereiten auf das, was ich zu sagen habe, und meine nächsten Worte werden dir den Grund für meinen Besuch an diesem ungastlichen Ort enthüllen...« »Ungastlich?« Krarn runzelte die Stirn, hoch wie ein Gartenzaun, und das flüssige Eisen strudelte in plötzlicher Weißglut um seine kochenden Augen. »In der Tat. Ich bin ungehobelt. Mein Verhalten ist unverzeihlich. Wie konnte ich dich nur hier in der Kälte stehen lassen? Gehen wir hinein in den Berg, und ich werde...« »Die Zeit ist zu knapp«, unterbrach Churm. »Du weißt, was unten in der Ebene geschieht?« »Seit zweitausend Jahren«, grollte der Eisenherzog, »habe ich mich nicht mehr um die Maden gekümmert, die dort wimmeln.« »Deine Lügen«, sagte Churm, »sind stets von besonderem Reiz. Du verstehst es, die Fäulnis der Unwahrheit mit dem Gift der Beleidigung zu verbinden.« »Du schmeichelst mir«, wehrte der Riese verschämt ab. »Du bist mein Freund, Herzog Krarn.« »Hartrokor weiß, was aus deinen Freunden wird...« »Früher oder später«, nickte Churm bedächtig, »sterben sie alle. Das haben sie mit meinen Feinden gemein.« »Feinde?« Der Eisenherzog reckte interessiert den glühenden Kopf und wischte eine Lage Rost von seiner Brust. Hier draußen in der sauerstoffreichen Luft der Berge, unter der Wolkengrenze, häutete er sich mit größerer Geschwindigkeit als in der dunklen Stickigkeit der Stollen, die er mit seinen stählernen Zähnen in das Erzgestein gegraben hatte. »Du hast Feinde? Viele Feinde?« »Hunderttausend? Zweihunderttausend?« Churm machte eine vage Geste mit der schwarzen Hornhand. »Wer weiß. Ich zähle sie gewöhnlich erst, wenn sie erschlagen vor mir liegen.« »Eine vernünftige Einstellung«, lobte der Riese rasselnd und -15-
knirschend. »Solange sie leben, besteht die Gefahr, daß sie fliehen. Das erschwert die vermaledeite Zählerei. Man muß ihnen nach und sie wieder einfangen, und man weiß nie, ob man sie schon mitgezählt hat oder nicht... Eine schreckliche Unsicherheit, die uns alle plagt. Sie verdirbt die Moral. Ständig gibt es Streit, und an manchen Tagen dröhnen die Krograniten unter den Hieben, die sich die Herzöge versetzen, weil sie sich nicht einigen können, wer mehr Feinde erschlagen hat. Außerdem gibt es zuviel Lüge und Prahlerei...« »Wäre es nicht klüger, die Schädel der Opfer zu sammeln sozusagen als Beweis?« fragte Churm. Der Eisenherzog bleckte die mannsgroßen Stahlzähne. »Wir haben es bereits versucht, Freund Zwerg, aber eine Sammelleidenschaft wie diese, so ehrenvoll sie auch sein mag, mußte zwangsläufig zu Betrug und Täuschung führen. Einige schmiedeten Schädel aus Eisen, tunkten sie in Harz und bestreuten sie mit geriebenem Gebein; andere schlichen sich heimlich an L'Ingans Turm vorbei zum Knochenpfad und griffen sich alles, was auch nur entfernt nach einem Totenschädel aussah; die dritten drangen in die Trophäenhöhlen ihrer Freunde ein und stahlen deren knöcherne Schätze. So viel Betrug!« Krarn kratzte mit seinen schenkeldicken Fingern über den Rostbelag seiner Lenden und wischte rotbraune Flocken vom Glied, das groß war wie ein junger Baum. »Im übrigen«, grollte er nach einem düsteren Moment des Schweigens, »bin ich der einzige Herzog vom Eisenvolk, der sich aufs Zählen versteht. Alle anderen sind zu dumm.« »Es wird am Rost liegen«, vermutete Churm. Krarns Bleiaugen kochten auf und warfen Blasen. »Rost!« rasselte der Herzog voll Zorn. »Mir gefällt dieses Wort nicht, Zwerg Churm. Vor allem dann nicht, wenn es von deinen Lippen dringt.« -16-
Churm, das blaue Schwert noch immer auf die Nasenwurzel des Riesen richtend, lächelte dünn. »Freunde haben die Pflicht, einander die Wahrheit zu sagen, auch die unangenehme. Vor allem die unangenehme«, fügte er stirnrunzelnd hinzu. »Aber vielleicht gefallen dir meine nächsten Worte mehr. Unten in der Ebene warten zahllose Schädel darauf, von einer kundigen Hand zusammengerafft und in den Bauch der Berge verschleppt zu werden. Cryptische Schädel.« »Die Crypten«, nickte der Eisenherzog knirschend. »Sind sie endlich bis zur Stryge vorgedrungen?« »Schon vor einigen Jahren.« Churms Gesicht verdüsterte sich, und in seinen Silberaugen glomm es auf, als hätte der Haß ein Feuer hinter seiner Stirn entfacht. »Sie haben N'jyr unterworfen und die Große Mauer geschleift, die Nord und Süd voneinander trennte. Aus den Trümmern der Großen Mauer mußten die Männer von N'jyr ihre Grabsteine hauen, und das ganze Land verwandelte sich in einen Friedhof.« »Ich bewundere die Crypten«, grollte Krarn andächtig. Sie sind Meister im Zerstören, Brandschatzen, Schänden und Morden, und sie haben die Folter zur Kunst erhoben. Ah!« Er seufzte, und es klang wie das Fauchen eines riesigen Blasebalgs. »Ah, diese zivilisierten Völker...« Churm lachte bitter. »Aber mit N'jyr und der nördlichen Hochebene haben sich die Crypten nicht zufriedengegeben. Der Lichtdespot schickte seinen Sohn, den Schwarzen Mim, an der Spitze eines Heeres in den Süden. Über die Alte Eisenstraße stießen die Crypten zum Strygensee vor. Hencoren fiel an einem Tag, und die Fischer von Hencoren wurden mit ihren eigenen Netzen gefesselt, und die Netze wurden mit Steinen beschwert, und die gesamte Bevölkerung Hencorens wurde im Strygensee ersäuft. Zum erstenmal fraß der Fisch den Menschen, und nicht der Mensch den Fisch.« »Wahre Kunst kann auf Humor nicht verzichten«, rasselte der -17-
Eisenherzog. »Gorm wollte widerstehen«, sagte Churm. »Die Bewohner der Feste schlössen die Tore, nachdem sie Boten über die Furt zu den Hainvölkern geschickt hatten, und sie glaubten, Mirn trotzen zu können, bis Hilfe eintraf.« »Aber sie starben?« »Sie starben«, bestätigte Churm. Der Eisenherzog mahlte mit den Zähnen. »Gewiß war Verrat im Spiel?« »Gewiß.« »Köstlich!« rief der Herzog. »Sprich weiter, Freund Zwerg. Deine Geschichte gefällt mir - was sich nicht von allen Geschichten sagen läßt.« »Die Verräter und die Verratenen wurden zusammen an den Türmen Gorms aufgeknüpft. Mirn ließ die Feste von seinen Schlächtern räumen und zog sich für die Nacht nach Hencoren zurück. Am nächsten Morgen waren die Gehenkten fort.« »Fort?« Eiserne Wangen glühten und bleierne Augen dampften in der Kälte. »Was ist aus ihnen geworden?« Churm zuckte die Schultern. »Niemancl weiß es. Zwar gibt es Gerüchte... Scheußliches Geflüster...« »Nun? Nun?« drängte der Herzog. »Der Geborstene Berg...« Der Herzog sagte nichts, aber die Glut seines Schädels kühlte ab und Knacken und Knistern durchlief den mächtigen Eisenschädel, als wollte er im nächsten Augenblick zerspringen. Churm beobachtete ihn, und er deutete die Zeichen. Furcht, dachte er. Der Herzog fürchtet sich, riesenhaft wie er ist, eisern und nahezu unverwundbar, aber er fürchtet sich. Nicht vor Gly, obwohl diese Klinge seinen Panzer durchbohren und bis in sein kaltes Herz dringen könnte, sondern vor dem Geborstenen Berg und dem, was in seinen finsteren Tiefen haust. -18-
»Ich hätte es dir verschweigen können, Herzog Krarn«, murmelte Churm. »Ich hätte nichts vom Berg erwähnen können, doch es gibt Zeiten, wo die Grausamkeit der Wahrheit mehr zählt als jeder Trost, den nur die Lüge spenden kann. Es ist geschehen, Herzog, und es war Mirn, der es gewagt hat. Mirn hat alles Menschliche in sich vergessen und ist hinabgestiegen in die Höhlung des Geborstenen Berges, und er muß das geweckt haben, was dort seit Äonen schlief. Seit den Tagen der kosmischen Kriege und dem Exodus der Eisenmänner. Denn als die Hainvölker der Bitte der Boten von Gorm nachkamen und mit Schwert, Axt und Spieß zur Stryge zogen, waren die Gehenkten fort, und ein sonderbarer Geruch hing in der Luft. »Ein Geruch?« wiederholte Krarn, und sein Gesicht erstarrte zu Schlacke und der Rost breitete sich wie hungriger Schorf über seinen Eisenleib aus. »Ein Geruch wie von Staub, alt und süß und modrig, und wie von gefrorenem Leichengift, das seine Essenz im Eis bewahrt? Ein Geruch wie von feuchten Gemäuern und offenen Gräbern, aus denen die Toten entflohen sind? Ein Geruch, wie er aus Schrunden steigen mag, die tiefen Wunden gleich in Milliarden Jahre altem Gestein klaffen, schreckliche Gruben, in denen das Tier seit Anbeginn der Zeiten lauert? Ist es dieser Geruch? Ist es dieser verbotene Dunst, von dem du sprichst?« »Dieser Geruch«, bestätigte Churm, und jetzt war seine ganze Aufmerksamkeit auf den Riesen gerichtet, auf die Arme, massiv wie Balken, auf die eisernen Hände, die wie Schmiedehämmer waren und in einem einzigen Augenblick hochfahren und niedersausen und alles zerschmettern konnten, was nicht aus dem gleichen Stahl wie sie geschmiedet war. Die Klinge Gly war blauschwarz im blutigen Kirschlicht der Sonne, die nun ihren ganzen aufgeblähten Feuerleib über die Krograniten gestemmt hatte und am Himmel schwamm wie ein brennender Kontinent auf einer purpurgrauen See. Gly bestand aus einem Metall, das härter war als Stahl und schärfer als die Scherben -19-
gesplitterten Glasgrases; das Schwert war mit fremdartigen Mineralien veredelt, damit es alles zerschnitt, und es war im Magma der Erde gehärtet, damit es niemals brach. Doch selbst diese Legierung hätte Krarns Eisenhaut nicht ritzen können, wäre Churms Hand nicht aus Hörn, die Hand eines Ordensmannes. In einer solchen Hand überschritt Metall die Grenzen, die ihm gesetzt waren, und nahm auch das, was niemand sonst nehmen konnte: das Leben eines Eisenherzogs. Rostend brütete Herzog Krarn vor sich hin. Er rührte sich nicht, er glühte nicht mehr, er war zu einem ungefügen Eisenklotz erkaltet. Die Spitze der Klinge Gly wies unbeirrt auf die zerklüftete Schlacke zwischen den trüben, bleigefüllten Augenhöhlen und würde zustoßen, wenn Krarn Zuflucht in der Raserei suchen sollte, die manchmal von den Herzögen Besitz ergriff und ahnen ließ, wie einst die alten Eisenmänner auf Erden gewütet hatten. »Es war der Mahr«, sagte Churm. »Ich stand mit den anderen in Helm und Harnisch am Ufer der roten Stryge. Der Myrtenfürst war zu meiner Rechten und der Angerfürst zu meiner Linken, und ich sah sie bleich werden im Angesicht der Wahrheit. Alle Erker und Türme Gorms waren in Galgen verwandelt, und an den Galgen hingen noch die Hälse und Häupter der Gehenkten, aber die Körper waren fort. Und über allem lag dieser Mahrengestank. Ich sah Angst in den Augen des Woydenfürstes, wo noch nie Angst gewesen war, und Entsetzen im Blick des Nurnfürsten, der so zum erstenmal erfuhr, was Entsetzen ist. Es ist der Nachtmahr, sagte ich zu den Hainfürsten und zu den Männern, die mit ihnen gekommen waren. Er hat sein Bett im Geborstenen Berg verlassen und ist hinaufgestiegen zu uns, die wir das Bett für einen Sarg hielten. Einer der kosmischen Nachtmahre ist in die Welt zurückgekehrt, und es ist kein Gehörnter da, um ihn zu mäßigen, und kein Eisenmann, um sich ihm zum Kampf zu stellen - es gibt nur den Mahr und die Menschen.« Chrum schwieg und lauschte seinen -20-
Worten nach. Herzschlag um Herzschlag hing das Echo in der kalten Bergluft, und selbst die unersättlichen Klüfte der Krograniten schienen sich diesmal zu weigern, die Worte zu verschlucken und dem Echo ein Ende zu machen, und es dauerte lange Zeit, bis es endlich im Wind erstickte. »Mirn hat den Nachtmahr zum Leben erweckt«, sagte Churm mit heiserer Stimme. »Was je in ihm menschlich war, legte er ab und stieg in den Krater des Geborstenen Berges. Ich weiß nicht, wie es ihm gelang, das verbotene Wissen zusammenzutragen. Ich weiß nicht, wieviel Menschen er dem Alten im Meer opfern mußte, um im Tausch den ersten Logos zu bekommen, und welche Verbrechen er beging, um den zweiten Logos von Flamminen zu erhalten, oder wer ihm den dritten Logos verriet, den man für immer vergessen glaubte. Was schert es uns jetzt noch! Es ist geschehen. Der kosmische Nachtmahr lebt und ist in Mirns Dienste getreten, bis die Stunde kommt, da er Mirn verschlingt, Mirn und alle anderen: Crypten, Hainvölker und Eisenherzöge. »Die Crypten, Herzog Krarn«, sagte Churm, »stehen am Nordufer der Stryge, und über die Alte Eisenstraße marschieren immer neue Legionen und verstärken Mirns Heer. Mirn selbst sitzt in Gorm und beschwört die Macht des Nachtmahrs, von dem er sich den Sieg erhofft. Ah, die Sonne soll ihn verbrennen! Die Hainfürsten haben ihre Völker zur Schlacht gerufen und auf den Heldenhügeln versammelt. Wer nicht kämpfen wird, verbirgt sich in den Tiefen der Wälder und vertraut dem Schutz der Bäume und dem gerüsteten Heer. Die Crypten werden kommen, Herzog Krarn. Sie werden durch die Furt ziehen und über die Glasebene marschieren und am Fuß der Heldenhügel die Hainvölker zum Kampf fordern. Und die Hainvölker werden sich zum Kampf stellen und ihre geringe Zahl durch größeren Mut ausgleichen. Sie werden tapfer fechten und tapfer sterben, ganz gleich, ob die Schlacht mit einem Sieg oder einer Niederlage endet, denn siegen sie gegen die Crypten, wird ihr Sieg nicht von Dauer sein, weil dann der Nachtmahr über sie -21-
herfällt.« Churm holte Luft. Kalt und erfrischend füllte sie seine Lunge, während der Koloß unter dem Rund der Stollenöffnung nicht atmete, nur rostete, und eiserne Gedanken in einem Eisengehirn knirschten und mahlten. Churm schwebte in Gefahr, obwohl er einer vom Orden des Horns war und obwohl Krarn zu benommen schien, um in Raserei zu verfallen, aber viel größer noch war die Gefahr, die unten in der Ebene drohte, und er mußte es wagen. In verzweifelter Not senkte er das Schwert Gly und bohrte die Klinge mit einem Stoß in den Felsen, breitete die Arme aus und zeigte die leeren schwarzen Hornhände. »Ich bin waffenlos, Herzog Krarn«, sagte er. »Waffenlos bitte ich dich um deine Hilfe. Im Namen der Hainfürsten bitte ich die Eisenherzöge, an der Seite der Myrten, Anger, Woyden und Nurn in den Krieg gegen die Crypten und den Schwarzen Mirn und das Gespenst von den Sternen zu ziehen. In einen Krieg, Herzog Krarn, der nichts mit jenen kleinlichen Händeln zu tun hat, die die Menschen untereinander auszutragen pflegen, wenn die dunkle Seite ihrer Seele den Gruben der Zeit entsteigt und die Menschen daran erinnert, woher sie kommen und wer sie sind. Wir haben es nicht mit einem belanglosen Scharmützel zwischen Menschen zu tun, blutigen Raufereien, die nicht verdienen, Krieg genannt zu werden, weil sie kurzlebig wie der Tag sind. Es ist eine andere, ältere Art Krieg, grausam und wild und für die Jahrtausende gedacht - so wie einst. Wie einst, Herzog Krarn, als die Gehörnten und die Eisenmänner ihren Streit auf der Erde austrugen und aus der ganzen Welt ein Schlachtfeld machten. Es ist diese Art des Krieges, der wir uns gegenübersehen, eine Art Krieg, die zwischen den Sternen geboren wurde, in der Kälte, wo noch das Böse zu gutherzig ist, um geduldet zu werden, und wo die Nachtmahre seit Anbeginn der Zeit lüstern auf Beute gewartet haben, auf Opfer, die es zu töten galt, und auf Feinde, mit denen sie sich messen konnten: Kreaturen, mächtig und mutig genug, -22-
um sich in das Nichts fernab aller Sonnen und in die Grüfte der wandernden Welten zu wagen, die Nachtmahre in ihrem eigenen Reich herauszufordern. Niemand weiß, wie lange die Nachtmahre warten mußten, Herzog Krarn«, sagte Churm und hielt noch immer die leeren Hornhände hoch, in einer beschwörenden Geste, die nicht mit dem Wort, sondern mit dem Symbol zu überzeugen versuchte. »Niemand weiß, wie lange sie in jenen unsäglichen Regionen einsam geherrscht und sich die Zeitalter mit exquisiten Scheußlichkeiten und verdorbenen Genüssen vertrieben haben. Krieg war ihre Leidenschaft; Mord ihr Steckenpferd; Qual ihre Passion. Über die Millionen und Milliarden Jahre hinweg übten sie sich in der Kunst des Tötens, und als dann die Gehörnten erschienen, hatten sie ihre Kunst zur höchsten Vollkommenheit entwickelt. Es heißt, daß die Nachtmahre in ungeheuren Schwärmen aus ihren vereisten Höhlen krochen, mit ihren Schwingen die Sterne verdunkelten und die Gehörnten überfielen, sobald sie sie witterten. Es heißt, daß sie zurückgeschlagen wurden, in einem langen, schrecklichen Kampf, und daß sie in ihrer Enttäuschung ihre eigenen Welten zertrümmerten, bis die Gehörnten der Raserei überdrüssig wurden und ihnen Einhalt geboten. Es heißt weiter, daß sich die Mahre in den Dienst ihrer Bezwinger stellten, daß sie auf deren Geheiß aus ihren versteckten Waffenkammern alles zusammentrugen, was der Zerstörung diente, und daß sie mit ihren fremdartigen Kriegswerkzeugen den Gehörnten in die Tiefe des Raumes folgten, wo Geschöpfe hausten, gegen die es sich lohnte, Krieg zu führen. Geschöpfe, die nur bezwungen werden konnten, wenn sich Mahre und Gehörnte verbündeten. Die Mahre und die Gehörnten verbündeten sich, und es war der tödlichste Pakt, der je zwischen den Sternen geschlossen wurde, ein Pakt, mit dem die Gehörnten den einzigen Rivalen zu vernichten trachteten, den sie fürchteten: Das Volk der Eisenmänner; purer Stahl, der gelernt hatte, zu leben und zu -23-
denken; Metall, sich selbst und seiner Macht bewußt geworden. Und die Nachtmahre und die Gehörnten stiegen zur Erde hinab und schlugen die Eisenmänner in einem Krieg, der länger dauerte, als das Dasein eines Kontinents...« »Genug!« rasselte der Herzog mit aufglühendem, zischendem Schädel und blasigem Blei in den verschlackten Augenhöhlen. Donnernd schlug Eisen auf Eisen, als er die rechte Faust wie einen Hammer auf den Amboß seines Schenkels niederfahren ließ. Das Echo seines Schreis klirrte an den Gipfeln und meißelte Brocken aus gewachsenem Granit heraus. »Genug, sage ich, genug! Ich kenne die Geschichte, also behalte sie für dich. Was soll die Erinnerung an Schmach und Erniedrigung! Vergessen wir sie. Reden wir nicht über Dinge, die verschwiegen gehören.« Der Koloß legte knirschend den ungefügen Schädel in den Nacken und sah blind und grimmmig zum Himmel hinauf, direkt in das glutvolle Antlitz der Sonne, die über ihnen kochte und brannte und die Wolken wie lästiges Ungeziefer fortwischte. »Genug, Zwerg Churm. Ich kenne die Geschichte. Ich weiß, was Krieg ist. Ich bin alt genug, um es zu wissen, alt genug, um die Endzeit miterlebt zu haben. Ich habe die Schatten gesehen und die Kadaver am Pol, wo die Entscheidungsschlacht ausgetragen wurde. Ich habe gesehen, wie der Pol verglaste, aus Scham über das Geschehene, und die Gefallenen für alle Zukunft in Quarz begrub, und ich habe gesehen, wie mein Vater in dumpfer Angst der Erde den Rücken kehrte. Besiegt und zerschunden, das eiserne Herz für immer gebrochen, schlich er sich wie ein Dieb mit den anderen seines Volkes an Bord der Schmerzarchen und floh vor den gehörnten Eroberern und ihren nachtmahrischen Schergen in die Bereiche hinter der Zeit. Erzähl mir nichts vom alten Krieg, Zwerg Churm«, grollte Herzog Krarn und hieb mit der titanischen Faust gegen den Goldrand der Stollenöffnung, daß sich das Gold unter der Wucht des Schlags verformte und eine tiefe Mulde zurückblieb. »Erzähl mir nichts von der Schande und dem Tod, -24-
der um den Erdball raste und die Riesen dahinraffte, als wären sie schwächliche Menschen und nicht von Kopf bis Fuß aus unzerstörbarem Metall. Ich habe gesehen, wie die Festungen fielen, unter derem schieren Gewicht die Erde ächzte und die dennoch nicht stark genug waren, um dem Ansturm der kosmischen Schlächter zu widerstehen.« Blei tropfte in dickflüssigen Tränen zu Boden und erstarrte zu grauen Fladen. »Es ist lange her, Zwerg Churm«, dröhnte der Eisenherzog, »lange genug, daß ein Enkel des Eisenvolks und ein Diener der Gehörnten in waffenloser Freundschaft unter der Sonne beisammensitzen und von vergangenen Zeiten schwatzen können, aber nicht lange genug, um die Erinnerung an den Schmerz auszutilgen, der uns Herzöge ergriff, als uns die Väter allein in einer Welt voll Feinde zurückließen. Wie die Maden, die sich Menschen nennen und in den Ebenen ihr weiches, klebriges Madenleben führen, mußten wir Herzöge in das steinerne Gefängnis der Krograniten fliehen und jede Öffnung, jeden Ritz und jeden Spalt mit tonnenschweren Felsbrocken verriegeln und mit geschmolzenem Erz versiegeln. Wer ahnt schon, was es bedeutet, tausend und tausend Jahre im Berg eingeschlossen zu sein, in immerwährender Nacht, allein von der Glut des Magma dürftig erhellt, und in die Dunkelheit zu horchen, auf das Schaben von Klauen auf nacktem Gestein, in die Finsternis zu äugen, ob nicht der Schatten eines Nachtmahrs räuberisch naht, und mit groben Sinnen der Ausdünstung zu harren, die süß und modrig ist und wie Gift aus den Poren der kosmischen Gespenster dringt.« Herzog Krarn richtete sich auf, trotz seiner gewaltigen Masse geschmeidig und schnell, und schüttelte klirrend und knirschend die Eisenfäuste, als wollte er den Sternen drohen, die sich hinter dem Kirschrund der Sonne verbargen. »Wer zählt die Gräber, die sie uns gruben?« rasselte der Riese. »Wer zählt die Jahre, die sie uns nahmen, bevor sie -25-
wieder zu ihren verfluchten Dunkelwelten zurückkehrten? Wir haben ihnen Rache geschworen, Vergeltung für alles...« »Die Zeit für die Rache ist gekommen«, sagte Churm. »Der Nachtmahr wartet im Geborstenen Berg.« Die Arme des Herzogs fielen herab, die breiten Schultern, die das Halbrund des Stolleneingangs nahezu ausfüllten, sackten kraftlos nach unten, und dunkle Röte glühte über das eiserne Gesicht. »Der Nachtmahr«, sagte Krarn mit rumpelnder Stimme. »Erwacht aus dem Schlaf der Toten und in die Welt der Lebenden zurückgekehrt. Der Nachtmahr. Wir wissen, was von ihm zu halten ist. Wir Eisenherzöge kennen die kosmischen Gespenster.« Das flüssige Blei in den Augenhöhlen wurde ruhig und glatt wie eine windstille See. Stumpfes Blei suchte blitzendes Silber. Der Zwerg widerstand dem Blick des Riesen. »Um Hilfe hast du gebeten, Churm? Um Beistand hast du ersucht? Die Waffe gesenkt, um Waffenbrüderschaft anzubieten?« Churm nickte und senkte langsam die Arme. Schwarze Hornhände berührten das Schwarz der Rüstung. Das Schwert Gly steckte unberührt im Fels, und dann, als neue Wolken über die Berggipfel trieben und graue Schleier über die Sonne warfen, das Rotlicht filterten, leuchtete Gly im alten Blau des Stahls. »Es sind genug Fragen gestellt worden«, sagt er. Ungeduld verlieh seinen Worten einen rauhen Klang. »Es ist an der Zeit, Antworten zu bekommen.« »Antworten!« Der Riese schnaubte, und wie ein Echo toste irgendwo in der schneeverhangenen Bergwelt eine Lawine über schroffe Hänge. »Warum bist du zu uns gekommen? Warum zu den Eisenherzögen, die mehr Grund haben, die Mahre zu fürchten als alle anderen Geschöpfe, die die Erde bevölkern? Warum gehst du nicht zu den Ländern im Süden, wo die Burgen -26-
der Soldatenkönige seit Jahrhunderten auf Eroberer warten?« »Weil die Brücken hochgezogen und die Tore geschlossen und die Wälle mit Bewaffneten übersät sind«, erwiderte Churm heftig. »Weil sich die Soldatenkönige in die Katakomben unter den Burgen zurückgezogen haben, in den Tagen und Nächten ohne Unterlaß neue Soldaten ausbrüten, um mit ihnen auch die letzte Zinne zu bemannen. Weil sie den Hainvölkern jede Hilfe verweigert haben.« Er spuckte aus. »Eigensüchtige Narren. Sie werden sterben, sobald die Heldenhügel überrannt sind und die Wälder in Flammen stehen.« »Sie fürchten den Nachtmahr.« Krarn schüttelte den Eisenleib und lachte grimmig. »Und wie steht es mit den Herren des Westens jenseits der Purpursümpfe, die dornig in ihrer heiligen Erde wurzeln und sich so mächtig wähnen, daß sie die Boten des Lichtdespoten in Lehm gebacken und als knuspriges Festmahl zurück an den cryptischen Hof geschickt haben?« »Die vom Dorngrund haben ein Abkommen mit Mirn geschlossen«, erwiderte Churm. Er lächelte bitter. »Nachdem der Nachtmahr an den Gehenkten von Gorm seinen Hunger gestillt hat. Mirn sicherte ihnen zu, den Westen unberührt zu lassen, wenn sie den Hainvölkern jede Hilfe verweigern. Sie sehen nicht, daß Mirn nur Zeit gewinnen will. Sie sehen nicht, daß nach den Hainvölkern und den Soldatenkönigen Dorngrund fallen wird.« »Also«, dröhnte der Eisenherzog, »stehen die Hainvölker allein.« Churm sagte nichts. Er wartete. Die Wolkenbänke lösten sich nach und nach vom Sonnenball und trieben nordwärts, um Regen über das Land der Crypten zu bringen, und die Sonne rötete wieder Fels und Schnee und färbte Glys blaue Klinge schwarz. Der Wind hatte nachgelassen und flüsterte nur noch, wo er vor kurzem geheult und gepfiffen hatte, der Tanz der Schneeflocken wurde langsamer, und der -27-
wandernde Gletscher schälte sich aus dem Dunst. Schwarz wie Gly zerschnitt der Stahlgrat das mahlende, unruhige Eis. Schwarz klaffte der Abgrund. »Dann werden die Hainfürsten Hilfe bei L'Ingan suchen oder allein in die Schlacht gegen die Crypten ziehen müssen«, sagte der Herzog und fügte mit eisernem Spott hinzu: »Auch wenn es fraglich ist, ob L'Ingan der Bitte folgt. Vermutlich wird er sich heraushalten und später die Gefallenen beider Seiten verzehren, wie es seine Art ist.« »Die Fürsten werden eher sterben, als Schulter an Schulter mit L'Ingan zu kämpfen«, knurrte Churm. »Und L'Ingan wird sich eher in seinem Turm einspinnen, als einen Fuß in die Ebene zu setzen, wenn ein Nachtmahr dort umgeht.« »L'Ingan behauptet, nachtmarisches Blut in den Adern zu haben«, erinnerte der Herzog. »Wenn das stimmt, ist es vielleicht besser, ich steige hinauf zum Knochenpfad und erschlage ihn in seinem Turm, bevor auch er sich Mirn andient.« Eine Hornhand schnellte vor und umschloß den Knauf des Schwertes. »Du sagtest, die Hainvölker stehen allein, Freund Krarn?« Der Riese drehte sich halb und schob den Schädel in den dunklen Stollen. »Nenn mich nicht Freund, Zwerg Churm. Es bringt Unglück, der Freund eines Todgeweihten zu sein.« »Noch lebe ich.« Mit einem Ruck riß er die Klinge aus dem Boden. Die Spitze zuckte hoch. Das Schwert drohte. »Noch hat Mirn nicht gesiegt.« Krarn begann scheppernd und dröhnend zu lachen, und das Gelächter brach sich tausendfach im tiefen Schlund des Stollens, kroch hinab in den Berg und ließ ihn wie eine Glocke schwingen. »Nur Mut, Zwerg Churm!« brüllte der Eisenherzog und verschwand in der Öffnung. »Du wirst allen Mut der Welt brauchen, wenn du dem Nachtmahr gegenüberstehst. Hältst du mich für einen Tölpel, daß du erwartest, ich würde mit dir -28-
hinunter in die Ebene steigen und für die Menschenmaden sterben? Hast du wirklich in deiner menschlichen Einfalt geglaubt, die Eisenherzöge würden die Sicherheit der Krograniten aufgeben und in eine aussichtslose Schlacht ziehen? Die Hainvölker sind verloren, du verfluchter Narr, verloren wie alle Kreaturen in allen Ländern. Der Mahr wird erst euch und dann die Soldatenkönige und die Herren von Dorngrund verschlingen, und ist sein Hunger erst geweckt, fällt er über Mirn und die Crypten her, bis nur noch weißgenagtes Gebein von ihnen übrigbleibt. Und dies wird erst der Anfang sein.« Krarns Schritte ließen den Boden beben. »Die Welt ist verflucht!« brüllte der Herzog aus dem Dunkel des Stollens. »Sie trägt nicht genug Leben, um den Hunger des Nachtmahrs zu stillen. Behalte die Klinge Gly, mein todgeweihter Zwerg. Und verlasse die Wälder. Zieh nach Süden, zieh zum Glaspol und verkrieche dich unter tausend Klafter Quarz, atme nicht und denke nicht und bete zu deinen gehörnten Ahnen, daß der Nachtmahr dich nicht riecht, so wie du ihn riechen kannst, wenn seine Schwingen den Himmel verdunkeln. Hab Verstand, Churm!« brüllte Krarn. »Der Morgen birgt Tod in sich. Fliehe, solange du noch fliehen kannst.« »Das wäre Verrat«, sagte Churm leise, aber der Eisenherzog schien ihn gehört zu haben, denn der Berg schwankte unter neuen Glockenschlägen aus Gelächter. »Verrat! Was weißt du schon von Verrat, du Zwerg! Treue ist wie Gift und tötet schnell. Niemand wird dir und den Hainfürsten helfen. Niemand, der noch all seine Sinne beisammen hat. Für euch gibt es keine Hilfe mehr. Selbst eure Toten, sollten sie ihr unerfülltes Versprechen je einlösen und den Lebenden zu Hilfe eilen, selbst eure Toten sind nicht tot genug, als daß der Mahr sie nicht noch einmal töten könnte.« Die wuchtigen Schritte des Herzogs entfernten sich, aber noch immer war seine Stimme zu hören. »Haben eure Toten denn nicht versprochen, in höchster Not den Hainvölkern beizustehen, -29-
wie die Fürsten immer prahlen, wenn sie einen weiteren Helden balsamiert in den Grüften der Hügel aufbahren? Warum kommst du dann zu den Eisenherzögen und versuchst, sie mit in den Tod zu ziehen? Warum bittest du nicht gleich die Toten? Sie sind mit dem Sterben vertraut. Aber mir scheint«, rasselte der Herzog voller Spott, »daß die Hainvölker ihren Helden nicht trauen, auch wenn die Zeit sie zu Göttern gemacht hat. Mir scheint, nicht einmal Sardor ist mächtig genug, um den Hainvölkern Hoffnung zu geben. Und Sardor ist doch der größte unter den menschlichen Göttern.« Das Gelächter des Riesen klang dumpf durch den aufgetürmten Fels. »Das ist das Kreuz mit den menschlichen Göttern, eh?« höhnte Krarn. »Sie sind nicht göttlich genug.« Schweigen folgte. Eine Weile noch vibrierte der Berg und kam dann zur Ruhe. Der Eisenherzog war im Labyrinth seiner felsigen Behausung verschwunden. Churm stand auf dem Plateau, und der kräftiger werdende Wind zerrte an ihm, pfiff über seine Rüstung, den gehörnten Helm, zersauste kalt den eisverkrusteten Bart. Die silbernen Augen starrten blicklos in die Finsternis des Tunnels, und die Enttäuschung war eine Last, die ihm das Kreuz zu brechen drohte. Gescheitert, dachte Churm. Die letzte Hoffnung verflogen. Nicht einmal die Eisenherzöge wagen es, sich Mirn und seinem Dämon entgegenzustellen. Sie werden sich wieder in ihren Bergen einschließen und die Jahrtausende in Furcht verbringen, darauf warten, daß der Nachtmahr zu den Sternen heimkehrt oder zum zweitenmal und für alle Zeit stirbt. Doch dann wird die Erde leer sein. Nur Gebein wird bleiben und den Gehörnten und den Eisernen Rätsel aufgeben, wenn sich die Prophezeiung erfüllt: daß die Eisenmänner nicht für ewig im zeitlosen Exil bleiben und nur geflohen sind, um für den nächsten Krieg zu rüsten, den zu führen sie geschworen haben. Daß die Eisenmänner die Erde wieder heimsuchen und erneut ihre -30-
Festungen und Schlachthäuser errichten werden, um Wacht zu halten unter den Sternen, von denen dann die Gehörnten herabsteigen. Um Krieg zu führen, den letzten Krieg, den diese Welt erleben wird... Aber wer, fragte sich Churm, soll dann, wenn der Krieg ausgetragen ist und die Eisenmänner und die Gehörnten allesamt auf den Schlachtfeldern gefallen sind, die Trümmer forträumen und den Lohn erhalten der den Menschen für all die dunklen Zeitalter versprochen wurde? Plötzlich von wildem Zorn ergriffen, schwang Churm das Schwert. »Du irrst dich, Herzog!« schrie er dem verschwundenen Riesen nach. »Die Zukunft gehört den Menschen und nicht den Mahren, nicht euch eisernen Ungeheuern, nicht einmal den Gehörnten und...« Er verstummte, weil ihm bewußt wurde, wie sinnlos sein Ausbruch war. Es gab nicht genug Worte, um einen Eisenherzog von einem Entschluß abzubringen, war er einmal gefaßt, und wie Krarn würden auch die anderen reagieren. Dann dachte er an die letzte Bemerkung des Herzogs und schnaubte verächtlich. Was wußte Krarn von Sardor! Was von den Toten unter dem Moos der Heldenhügel! Wie sollte die halbmenschliche Brust der Eisenmänner auch ahnen, daß die Toten in einem fremden, unerreichbaren Land schlafend auf die wichtigste Stunde in der Geschichte der Menschheit warteten, auf den Ausbruch des zweiten kosmischen Krieges auf irdischem Boden, um dann zu erwachen und ihre Völker zu schützen? Woher sollte Krarn wissen, daß Sardor und die anderen aufgebahrten Helden ungezählter Generationen ausersehen waren, in die Entscheidungsschlacht zwischen Stern- und Eisenmacht einzugreifen und der Menschenmacht den Sieg zu erkämpfen, der ihr und nur ihr allein gebührte? Der Mann wandte sich vom Stollen ab, von einer Müdigkeit erfüllt, die nichts mit der Erschöpfung des Körpers, sondern mit der Erschöpfung der Seele zu tun hatte, steckte das Schwert Gly -31-
in die Scheide und schritt langsam, fast zögernd den Sims entlang, zurück zum Grat, zum Gletscher und Schlund. Er stolperte nicht, auch wenn Wind ihn mit groben Knüffen plagte, und er fror nicht im dichten Schneegestöber, obwohl der Frost klirrend seine Spur verfolgte. Die Sonne breitete sich in ihrer ganzen geblähten Größe im Zentrum des purpurgrauen Himmels aus und verschluckte alle leuchtenden Farben, tauchte alles in blutiges Rot. Sardor, dachte Churm. Und schüttelte den Kopf. Selbst ein Gott - und ein menschlicher Gott allemal - war Gesetzen unterworfen, die er nicht brechen konnte. Und das Gesetz befahl, daß die schlafenden Toten erst erwachen durften, wenn die Eisenmänner und die Gehörnten und deren gespenstische Schergen zur Erde zurückkehrten. Auch wenn die Hainvölker nach Sardor riefen - er würde nicht antworten, dem Ruf nicht folgen, sondern weiter schlafen und geduldig warten. Oder...? Churm stockte der Atem. Abrupt blieb er stehen, auf dem Blauschwarz des Metallgrats zwischen den mahlenden Schollen des Gletschers und dem gähnenden Nichts des Abgrunds, und ihm schauderte bei dem Gedanken, der sich aufdrängte und nicht abschütteln ließ. War es möglich, daß Mirn in seiner ahnungslosen Bosheit, in seiner Gier und seinem Drang nach Macht nicht nur den versteinert gewähnten Nachtmahr aus dem Geborstenen Berg in die Welt zurückgerufen hatte, sondern auch die beiden verfeindeten kosmischen Mächte der Vorzeit? War es möglich, daß bald, in wenigen Tagen gar, die obszönen Rümpfe der Schmerzarchen mit ihrer eisernen Fracht am Horizont erscheinen und daß monströse Schatten den Himmel verdunkeln würden, Schatten von den Sternen, kalt und grausam wie der Tod selbst? -32-
Wenn dem so war, dann bestand trotz all der zukünftigen Schrecken so etwas wie Hoffnung. Wenn dem so war, würden die Heere der Hainvölker nicht allein in die Schlacht gegen Mirns cryptische Horden ziehen, dann würde sich der Boden öffnen, und aus dem Moder des Erdreichs würde Sardor zum Licht hinaufsteigen... Churm begann zu laufen. 2. Kapitel Gewitterflug Nie wieder werde ich, wenn es nicht mein Vaterland von mir fordert, durch einen Gewittersturm hindurchfliegen. - Manfred f reihen von Richthofen »Der rote Kampfflieger«, 1917 Er hätte auf den Baron hören sollen. Natürlich! Keine Frage! Jawoll, Herr Rittmeister, habe verstanden. Bei Gewitter unten bleiben. Keine tollkühnen Eskapaden. Der Teufel holt uns alle noch früh genug in die Hölle... Dietrich von Warnstein fluchte, doch sein Fluch wurde vom Lärm des Motors und vom Wind verschluckt, der wie tausend Furien über die Tragflächen pfiff. Der Himmel war schwarz, als hätte er sein Trauergewand angelegt, und der Regen fiel in dichten, schweren Vorhängen, daß Warnstein die Fliegerbrille vom Gesicht reißen mußte, um überhaupt etwas sehen zu können. Der Albatros wirbelte wie toll in den brausenden Böen, und schemenhaft schälten sich für einen Moment die Wipfel sturmgepeitschter Bäume aus der rabenschwarzen Finsternis. Er hatte gewußt, daß ein Gewitter im Anzug war. Hol's der Teufel, warum war er dann nicht mit den anderen zurückgekehrt? Etwas Hohes, Spitzes voraus. Rasend schnell wurde es größer. Ein Kirchturm! Wie aus dem Nichts. Gas geben und den Steuerknüppel hochziehen. Und beten. Beten, daß der -33-
vermaledeite Vogel im Sturm nicht auseinanderbrach. Daß der Sperrholzrumpf hielt und die dünnen Tragflächen nicht absplitterten. Der 160-PS-Mercedes-Motor heulte im Vollschub, und langsam, schrecklich langsam im Vergleich zu dem heranschießenden Kirchturm, hob sich die ovale Schnauze des Doppeldeckers. Dann, von einer plötzlichen Bö gepackt, sprang die Maschine über den schmiedeeisernden Wetterhahn. Der Kirchturm sackte weg, verschwand in der Nacht, und der Albatros flog hüpfend und schaukelnd tiefer in das strudelnde, schwarze Inferno der Gewitterfront hinein. Ein Lied, dachte Dietrich von Warnstein. Den Naturgewalten frech die Stirn bieten. Wer verzagt, hat nichts anderes als den Tod verdient... Was würde der rote Baron sagen, wenn er ihn jetzt sehen könnte, hasenfüßig hinter dem Steuerknüppel kauernd, halb närrisch vor Schreck, und das wegen diesem lauen Lüftchen? Ihnen wird das Sterben sehr leicht werden, Warnstein. Sie haben nicht viel Geist aufzugeben... Der Flieger lachte. Tückisches Knacken, selbst im Kanonendonner des Gewitters zu hören, ließ ihn zusammenfahren. Hölle, Tod und Teufel! Das verfluchte Höhenleitwerk! Löste sich das ungefüge Ding gar vom Rumpf? Brach es ab wie ein morscher Zweig, von unachtsamer Hand geknickt? Zu schwer! durchschoß es Warnstein. Dieser Walschwanz reißt die Maschine in Stücke... Vom Gas 'runter. Und sinken. An den Bäumen orientieren, den Häusern... Bei Gott, wo sind die Baumwipfel? Wo die Giebel? Nichts... Trüb wie Tinte. Und der Engländer? Wo steckte dieser Teufelskerl mit seiner Spads 7? Der Englishman war wie ein rachsüchtiger Gott über der SiegfriedStellung aufgetaucht und hatte mit dem grimmigen Humor eines Angelsachsen zunächst einen Looping geschlagen, bevor er das -34-
Feuer aus seinem Maschinengewehr eröffnete: Irgendeine gottverlassene Hügelstellung förmlich durchsiebte und noch dreist einen zweiten Looping schlug, als Warnstein und die anderen Jagdflieger von der Staffel des Rittmeisters vom Horizont heranbrausten... Vielleicht hatte ihn der Sturm verschlungen an diesem Herbstabend im Jahr des Herrn 1917, im vierten Jahr des Krieges, den das Reich an allen Fronten führte. Warnstein schnaubte und wischte mit dem Handrücken den Regen aus den Augen. Er war völlig durchnäßt. Die schwere, grobe Pilotenmontur hing wie ein Sack an seinem Körper, und das Wasser hatte sich sogar seinen Weg in die blankgeputzten Ulanenstiefel gebahnt. Der Himmel mochte wissen, wie. Der Albatros bockte, legte sich ruckartig zur Seite und wurde von neuen Böen kräftig durchgerüttelt. Aus den düsteren Wolken fuhren Blitze und tauchten den Doppeldecker in grelles Flackerlicht, daß der rote Anstrich des Rumpfes verblaßte und das Holz durchscheinend wie Pergament wurde. Die Blitze züngelten in immer kürzeren Abständen durch die Nacht, und krachend schoß Donner seinen Salut zu dem aberwitzigen Lichterspiel, während der Regen niederrauschte und mit Myriaden knopfgroßen Fäusten auf den Flieger losging. Nicht ins Bockshorn jagen lassen, dachte Dietrich von Warnstein. Seine Lippen waren ein rosa Strich im schneeweißen Oval des Gesichts: Ein junges Gesicht, bartlos und schmal unter der Fliegerkappe, die zerknautscht und vollgesogen auf tropfnassen schwarzen Haarsträhnen saß. Weiterfliegen und Höhe halten. Trotzdem dicht am Boden bleiben. Steigen wäre Wahnsinn. Alles andere - nur nicht steigen. Der Sturm würde den Doppeldecker wie ein Stück Papier in den Mahlstrom der Gewitterfront wirbeln, und die schwarzen Wolken würden sich hinter dem rotlackierten Albatros schließen, und nie wieder würde er die Wiesen und Weiden des Gutes Warnstein in Ostpreußen sehen. Sterben mußte er, wenn er der -35-
erbarmungslosen Hatz der Naturgewalten nicht entfloh. Aber nicht feige! Nicht wie ein ehrloser Lump, der sich mit eingekniffenem Schwanz davon machte! Die Blitze zuckten, schienen jetzt gezielt auf die ächzenden Tragflächen des Doppeldecker gerichtet, als hätte sich im Schutz der Wolken eine Rotte himmlischer Strauchdiebe eingefunden: Mit Gewehren, die gezackte Lichtstrahlen verschießen konnten. Dazu krachte der Donner wie die Artillerie auf den Schlachtfeldern von Verdun, wo die Drachensaat von Sarajewo in all ihrem dämonischen Schrecken aufgegangen war. Wieder geriet der Albatros ins Trudeln. Vergeblich stemmte sich der 160 PS starke Motor gegen das Wüten des Sturmes, der aus der Hölle selbst heranzupfeifen schien und in seiner elementaren Raserei die Maschine in den Untergang ziehen wollte. Hoch mit der Nase! Baumwipfel voraus! So nah... Er flog zu tief. Hoch mit der Nase! Geäst peitschte über das Fahrwerk. Ein Ruck. Etwas riß. Gütiger Gott, wollte ihn denn der Tod nicht mehr aus seinen Klauen lassen? Und dann noch dieser Sturzbach von einem Regen... Unerhörte Massen Wolkenwasser, das im Fall in Myriaden Tropfen zerbarst und roh vom Sturm gepackt wurde. Tropfen wie Geschosse. Feuchte Kugeln, die gegen den roten Rumpf des Albatros prasselten und in Warnsteins Gesicht klatschten. Von heiligem Zorn übermannt schrie der Flieger dem Sturm Verwünschungen entgegen. Erdreistete sich dieses freche Element, ihn mit Kugeln zu attackieren, auch wenn es nur Kugeln aus Wasser waren? Solcher Übermut gehörte bestraft! Warnstein lachte. Sollte das Unwetter doch seine eigene Kost zu -36-
schmecken bekommen! Das MG spuckte eine Garbe Blei durch den Propellerkreis und zerfetzte die pechschwarze Wolkenwand. »Schmeckt es?« brüllte Dietrich von Warnstein. »Noch eine Portion?« Eine Bö heulte ihm ihr Jawort ins Ohr. Mit fahl lächelnden Lippen erfüllte Warnstein den Wunsch. Das MG ratterte. Gedankenschnellen Mordinsekten gleich pfiffen die Kugeln davon. Das fahle Lächeln wurde heller und entlud sich in heiserem Gelächter, im Gelächter der Todgeweihten, für die es keine Schrecken mehr gab, weil Furcht und Hoffnung gleichermaßen hinter ihnen lagen. Die eine Hand hielt den Steuerknüppel umklammert und glich die Knüffe und Püffe des Windes aus, die andere schüttelte er zornig. Haltung bewahren, dachte er fiebrig. Dem tückischen Feind zeigen, wie sich ein deutscher Offizier der Gefahr entgegenstellt: Mit Mumm und eherner Faust. Ein Lied... Ein Trutzlied. Damif s einem warm ums Herz wurde... Die Verse drängten sich von selbst auf, und er schrie sie in die tosenden, brausenden Lüfte: »Leben heißt: In Kampf und Stürmen Zuversicht im Herzen tragen Heißt: Im Glauben niemals wanken Und im Leiden nie verzagen... Warnstein lachte wieder. Jetzt genoß er die wilde Jagd. Auch wenn die liebe alte Kiste wie ein störrisches Pferd bockte. Auch wenn die Tragflächen bedrohlich knarrten. Und der Motor stotterte. Stotterte? Siedende Angst trieb ihm Schweiß auf die Stirn. Er gab Gas, aber da schien sich der Motor zu verschlucken. Schien zu husten. Wie ein Asthmatiker in tabakverqualmter Luft. Zu allem Überfluß eine Bö, so heftig wie nie zuvor, wie der -37-
Schmetterschlag einer göttlichen Faust. Der Albatros kippte nach vorn. Gas geben und die Kiste hochreißen war eins. Warnstein lauschte. Der Motor! Was war mit dem Motor? Nein, kein Stottern, kein Husten. Er brummte und schnurrte, als wäre nichts gewesen. Gutes altes Ding! dachte Warnstein. Halt durch! Du mußt durchhalten und... Der Albatros stieg. Widerwillig, ruckartig, unter der Tortur animalisch stöhnend, aber er stieg. Heureka! Was dem roten Baron gelungen war, sollte ihm auch gelingen. Einen Gewittersturm durchfliegen und nonchalant auf einer Wiese landen. Mistgabelschwingende Bauern? Deutsche Scholle oder gallischer Acker? Hol's der Teufel! Nur 'raus aus dieser Hölle! Wie lange hielt ihn der Mahlstrom schon gefangen? Minuten? Stunden? Er wußte es nicht. Es war, als hätte der Regen die Zeit fortgespült, der Sturm den Raum verweht und nichts als schwarze, strudelnde Leere hinterlassen. Gab es denn keinen Weg hinaus? Kein Entkommen aus diesem Inferno, das einem Dante würdig gewesen wäre? Dreimal verfluchter Englishman! Warum hatte er ihn nur weiter verfolgt, statt mit den anderen zum Flugplatz zurückzukehren? Selbst ein Narr hätte sehen können, daß die Feindmaschine direkt in das Gewitter flog. Vielleicht hatte der Sturm den Englishman schon getötet. Vielleicht war sein Wagnis vergeblich - der Spads 7 nach, in das Gewitter hinein... Verfluchtes Jagdfieber! Mit zusammengekniffenen Augen starrte er in die tintige Suppe aus Regen, Wolken, Sturm und Schwärze. Nichts. Nicht einmal Blitze. Die Blitze waren erloschen, in den Sturzbächen ertrunken. Kein Boden, kein Himmel. Als hätte sich die ganze Welt davongestohlen. Plötzlich auch kein Donner mehr... -38-
Plötzlich war der Sturm verstummt... Stille, in der der Mercedes-Motor tierhaft röhrte. Ruhe, in der der Albatros elegant dahinsegelte, ohne daß noch eine einzige Bö, so schwach sie auch sein mochte, die Maschine zur Seite drückte. Aber noch immer war alles finster. Warnstein blinzelte. War er im Auge des Orkans? Tobte der Sturm noch immer um ihn herum, irgendwo in der blinden Dunkelheit, die allgegenwärtig war? Würde ihn das Gewitter wieder packen, wenn er diese trügerische Zone des Friedens verließ? Aber was war mit dem Donner? Er mußte doch den Donner hören! Diese schreckliche Stille... Richthofen! Wie hätte der kühne Rittmeister in dieser Situation gehandelt? Warnsteins Gedanken wirbelten, als hätte sich das Unwetter in seinen Kopf verzogen, um dort weiter zu wüten, und in diesem inneren Orkan hörte er deutlich die Stimme Richthofens: »Draufgehen ist alles, Dietrich«, sagte der Rittmeister. »Zäh durchhalten. Auf sie mit Gebrüll. Für Gott, Kaiser und Vaterland! Und kein Pardon, Dietrich, kein Pardon! Es soll immer englisches Pilotenblut regnen...« Und wie ein Gespenst, das auf das Stichwort Seiner Satanischen Majestät die irdische Bühne betrat, damit das ränkevolle Schachern der Elemente um des Jagdfliegers Leben ein für allemal ein Ende fand, wie ein solcher böser Geist dröhnte in diesem Moment die verfluchte Spads 7 aus der Düsternis hervor. Einer Düsternis, wie man sie wohl nur noch im Höllenpfuhl selbst finden mochte. Für Sekunden war Dietrich von Warnstein gelähmt. Seine Nackenhärchen sträubten sich wie das Fell einer Katze, die von Hunden verbellt wurde, und ungläubig betrachtete er den englischen Vogel, der ihm da dreist vor der Nase herumflog. -39-
Es war unmöglich! Warum war der Englishman dem Gewitter nicht entflohen, solange er noch konnte? Was trieb er hier? Welcher Dämon ritt ihn, daß er sich mit offenen Augen in diesen Kataklysmus der Lüfte wagte? Kein Pardon, Dietrich! flüsterte ihm Richthofen zu, nicht weniger gespenstisch wie die englische Maschine, nicht weniger unheimlich wie die Stille, die in die Gewitternacht Einzug gehalten hatte. Draufgehen ist alles, Dietrich von Warnstein! Die Lähmung fiel von dem Flieger ab. Gas geben, daß der Motor aufheulte und der Albatros einen Satz nach vorn machte. Die Maschine hochziehen, damit sie wie ein Adler auf den Engländer niederstoßen konnte. »Kein Pardon!« brüllte Warnstein. »Kein...« Der Satz endete in einem Gurgeln. Was war das? Der Albatros flog wie ein Pfeil, mit mehr als 125 Kilometer pro Stunde, aber kein Wind blies ihm ins Gesicht und trocknete die Topfen, die der wilde Regen hinterlassen hatte. Was war mit dem Wind? Warum pfiff ihm der Wind nicht um die Ohren? Und diese Stille... Verschluckte sie jetzt auch noch den grollenden Lärm des Motors, das Knirschen im Rumpf, das stete Vibrieren der Sperrholzschale? Das Holz vibrierte, also mußte der Motor noch laufen, doch er hörte ihn nicht. Die Stille war vollkommen. Irgend etwas Grausiges braute sich in ihrem Schutz zusammen. Warnstein fühlte es. Warnstein wußte es, seit er die Spads 7 entdeckt hatte. Aber nicht daran denken. Alle Ablenkung ausschalten. Die 160 PS der Mercedes-Maschine hochfahren, den Propeller wie entfesselt wirbeln lassen, und hinunter. Auf den Engländer. Seltsam, daß er das feindliche Flugzeug trotz der tintigen Finsternis sehen konnte. Leuchtete es gar? Glühte es von innen her wie ein Kohlenstück in grauer Asche? -40-
Dazu noch rot? Das war der Frechheit Gipfel! Warnstein knirschte mit den Zähnen. Alles hätte er diesem dreisten Lord verziehen, doch nicht den Frevel, sich das Kleid des Rittmeisters anzuziehen und seine vermaledeite angelsächsische Klapperkiste rot zu lackieren. War dieser Bursche denn verrückt wie tausend tollwütige Füchse? Ah, aber das paßte zum perfiden Albion! Sich in deutscher Maske tief ins Reich zu schleichen und Bomben auf des Kaisers Land zu werfen. In ruchloser Maskerade die deutschen Stellungen auszuspionieren und dann noch den deutschen Fliegern eine Nase zu drehen. Dieser Hundsfott! Der Anblick der roten Spads 7 erfüllte Warnstein mit gnadenloser Wut. Was zuviel war, war zuviel. In Ordnung, Herr Rittmeister. Es soll immer englisches Pilotenblut regnen. Zu Befehl! Sturzflug. Fast senkrecht kippte der Albatros, zeigte mit der ovalen Nase auf den Boden, unsichtbar in dieser Waschküche, in der nur das rotglühende Phantom der englischen Spads 7 zu sehen war. Aber es gab kein Phantom, das einen deutschen Flieger schrecken konnte. Der Reichsadler zeigt seine Krallen, durchfuhr es Warnstein in seiner Raserei. Gleich packt er die vorwitzige Krähe. Zur Hölle mit dir, Englishman! Er stürzte - oder glaubte er es nur? Gewiß, er hing nach unten, der Vogel "stand senkrecht in der Luft, und nach allen Gesetzen der Natur, die in Gottes weisesten Stunden entstanden waren, mußte er fallen. Doch: Kein Motorenlärm, kein pfeifender Wind. Grauenvolle Friedhofsruhe. Vielleicht bin ich tot, dachte Warnstein mit plötzlicher Kälte in der Brust. Bin ich gestorben und nur noch ein Geist? Und nun am Kreuzweg zwischen Himmel und Hölle, Paradies und -41-
Feuerrost, und warte darauf, daß über mich zu Gericht gesessen und das Urteil gefällt wird? Oder bin ich schon verdammt, dem Irrtum eines senilen himmlischen Schreiberlings zum Opfer gefallen, der bei all den vielen Männern, die in diesen Tagen die Lüfte durchpflügen, den braven Deutschen nicht vom britischen Dandy unterscheiden kann? Ist denn die ganze Welt aus den Fugen geraten? Und die Spads 7 kam nicht näher. Sie war noch immer ein handtellergroßer roter Schatten vor dem schwarzen Hintergrund. Doch ihre Form... Warnstein zwang sich zur Ruhe und sah genauer hin. War es überhaupt eine Spads 71 Dieser Walschwanz von einem Höhenleitwerk! Dieses phantastische Osterei von einem Rumpf! Und die dunklen Flecke im Rot der Tragflächen... Flecke, die keine Flecke waren, sondern Kreuze. Schwarze Kreuze mit weißem Rand auf rotem Grund. Das Hoheitszeichen des Deutschen Reiches! Der Schweiß brach dem Jagdflieger aus, als er begriff, wie sehr er sich getäuscht hatte. Die andere Maschine war ein Albatros D-HI wie Warnsteins eigenes Flugzeug. Ein kleiner Doppeldecker mit randbogengepfeilten Tragflächen, oval zulaufendem Rumpf in Sperrholzschalenbauweise, einem stromlinienförmig verkleideten und mit einem flachen Spinner ausgestatteten 160-PS-Mercedes-Reihenmotor, mit einem übergroßen Höhenleitwerk und einem etwas niedriger angebrachten Torpedoseitenflügelwerk. Genau der Typ Maschine, den Richthofen berühmt gemacht und den der Engländer wegen des roten Anstrichs Le petit rouge getauft hatte. Ein Albatros D-1II aus den Albatroswerken von Schneidemühl oder Berlin-Johannisthal. Jetzt war er dem unheimlichen Einfluß dankbar, der ihn am Sturz gehindert hatte. In seinem Zorn wäre er mit einer anständigen MG-Garbe dem anderen Flieger in die Parade gefahren und hätte wohl erst dann bemerkt, daß ihm Freund und -42-
nicht Feind gegenüberstand. War es ein Kamerad vom Richthofen-Geschwader, der sich ebenfalls im Gewitter verirrt hatte? Gab es außer Warnstein noch jemand, der nicht von der Spads 7 lassen wollte? Nur ein Verrückter, der Schneid und Draufgängertum mit wagnerischer Todessehnsucht kultivierte, würde sich freiwillig in die Sintflut aus Sturm, Blitz und Regen wagen. Ein Verrückter oder ein unerhörter Bruder Leichtfuß wie Warnstein selbst. Der Flieger schnitt eine Grimasse. Erst jetzt kam ihm zu Bewußtsein, daß es Zeit wurde, die Maschine wieder geradezustellen und sich dann eine Möglichkeit zu überlegen, den Kameraden zu erreichen. Er zog den Steuerknüppel an. Nichts geschah. Der Albatros stand noch immer kopfüber in der Luft, und tief unter ihm zog die andere Maschine ihre Kreise. Der Motor lief, der Propeller drehte sich, die ganze Kiste bebte leicht wie ein zufrieden schnurrender Kater, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Unbeweglich hing sie in der Luft, als wäre sie in einem schmutzigen Eisblock eingefroren, und alles, was Warnstein in der Stille hörte, war der rasende Schlag seines Herzens. Die Angst, die bis zu diesem Zeitpunkt tief in ihm gelauert und nur gelegentlich mit lähmender Hand seine Kehle zugeschnürt hatte, sprang nun in einer vulkanischen Eruption aus seiner Seele hoch. Heiß schlug sie über ihm zusammen, daß sich ein verzweifelter Schrei von seinen Lippen löste und scharf die Stille zerschnitt. Es war, als hätte dieser Schrei einen Bann gebrochen. Unvermittelt röhrte der Motor laut auf, so laut, daß Warnstein einen Moment lang fürchtete, ihm würden die Trommelfelle platzen, und sein Magen zog sich unter dem Druck der Übelkeit zusammen, die der freie Fall noch immer in ihmauslöste, selbst nach diesen zwanzig Monaten als Jagdflieger Seiner Majestät Kaiser Wilhelm II. Diese dumme Übelkeit, von der er manchmal argwöhnte, daß sie nichts mit den Sturzflügen zu tun hatte, sondern mit dem, was am Ende eines jeden Sturzes -43-
lag: Das Rattern der MG-Garbe, das Trudeln einer feindlichen Maschine, deren Pilot mit blutigem Kopf in seinem Sitz zusammengesackt war, Feuer, das aus dem Benzintank schlug, fetter Qualm wie ein Kometenschweif, und dann das ferne berstende Geräusch, wenn das zerschossene Flugzeug am Boden aufprallte. Zwanzig Abschüsse hatte Warnstein in diesen zwanzig Monaten zu verzeichnen, halb soviel wie der Rittmeister, der vom Kaiser mit dem Pour le merite ausgezeichnet und zum Geschwaderführer der Jagdstaffel 11 ernannt worden war. Aber zwanzig Abschüsse standen für zwanzig Menschenleben, oder mehr, wenn man bedachte, daß die Engländer oft in zweisitzigen Bombenflugzeugen angriffen... Teufel auch, warum dachte er jetzt daran? Der Albatros fiel wie ein Stein auf den anderen roten Flieger zu. Abdrehen, und zwar flink, sonst rammte er den anderen noch! Ein peinlicher Tod für einen Jagdflieger - mit einem Kameraden zusammenzustoßen, statt im ehrlichen Kampf mit dem englischen oder französischen Feind zu fallen! Vorsichtig zog er die Maschine aus dem Sturzflug und beschrieb einen weiten Bogen. Abruptes Beidrehen konnte er sich nicht erlauben. Diese Apparate hatten ihre Tücken. Die dünnen Tragflächen neigten dazu, bei heftigen Manövern zu brechen. Zu oft hatten sich diese behäbigen Vögel in fliegende Särge verwandelt. Selbst Richthofen hatte einmal das Pech gehabt, daß seinem D-7I7 der Unterflügel brach. Noch immer kurvte er durch finsterste Nacht. Ein Kohlensack, in dem der andere Albatros in düsterem Rot glühte. Es war nicht zu erkennen, ob er sich bewegte oder bewegungslos in der Leere hing, so wie Warnstein noch vor kurzen Sekunden. Gespenstisch. Dietrich von Warnstein biß die Zähne zusammen und steuerte -44-
die Maschine an den anderen Flieger heran. Schnell kam er näher. Die zweite Maschine wuchs, und Warnstein riß die Augen auf. Wahrhaftig! Sie glühte! Das Rot war nicht nur Anstrichfarbe; Feuer brannte in ihrem Innern, aber kein normales Feuer: Es war wie der Widerschein brodelnder Lava. Als wäre die Erde aufgeklafft, um ihre flammenden Gedärme zu entblößen. Eine namenlose Drohung ging von dieser Glut aus. Und mit der Drohung ein süßen Locken... Näher und näher heran, umbraust vom arktischen Wind, durch diese Nacht, die kein Oben und kein Unten kannte. Ein Schattenreich, das ihn verschlungen hatte... Ja, ein Schattenreich, dachte Warnstein mit leisem Grauen, als er endlich begriff und die wahre Natur der Dinge erkannte. Alles Irdische liegt hinter mir, alles Weltliche habe ich verlassen, seit ich in diese verwunschene Gewitterfront flog. Durch das Tor, das in die Unterwelt führt. In die Stadt der Trauer, zum ewigen Schmerze, zu dem verlorenen Volke... Wie es Dante ergangen ist. Und das dort - ist das kein Kamerad, sondern in Wirklichkeit Virgil, mein Führer durch die Kreise der Hölle? Mit einem Fluch schüttelte er die fiebrigen Gedanken ab. Der andere Vogel war gefährlich nah. Zur Seite mit dem Steuerknüppel, damit er an diesem dämonischen Flugzeug vorbeischoß... Aber das verdammte Ding gab nicht nach! Nichts. Unbeirrt hielt der Albatros auf den Kameraden zu, als ginge von dem eine magnetische Anziehungskraft aus, ein Messmerismus der toten Materie, dem der 160-PS-MercedesMotor nichts engegenzusetzen hatte. Schweiß perlte auf Warnsteins Stirn. Er riß wie besessen an dem Steuerknüppel, aber noch immer war das verflixte Ding wie festgeschweißt. Panik drohte ihn zu ersticken, und er schrie sie hinaus. Viehisches Gebrüll, das von zerbissenen Lippen drang. Der andere Doppeldecker war jetzt direkt vor ihm. In Zerrspiegel- | -45-
hafter Vergrößerung, die Warnstein erlaubte, in diesen Sekunden vor dem tödlichen* Zusammenstoß die Einzelheiten über- J deutlich zu sehen. Glühende Tragflächen, groß wie Kirch- j türme, ein flirrend kreisender Propeller, gewaltiger als die gewaltigsten Windmühlenflügel, der Rumpf wie der Titanen- 3 leib des biblischen Leviathans, und der Sitz... Allmächtiger! dachte Warnstein. Er ist leer! Der Sitz ist leer! ] Alles in ihm verkrampfte sich in Erwartung des mörderischen Aufpralls, doch von einem Moment zum anderen verschwand das Gespensterflugzeug. Rote Glut explodierte und ; verwandelte sich in einen Feuerstrudel. Jetzt war alles in dieses tückische Rot getaucht. Zu allen Seiten brodelte es wie dickflüs] siges Blut und vorn gerann der Mahlstrom zu einem Magmasee. Rasend schnell, umbraust von infernalischem Wind, schoß der Doppeldecker auf das blasenwerfende Rund des Sees zu. Ein Wunder, daß der Apparat unter der Belastung nicht in Stücke brach! Und der See wuchs. Die Ufer wanderten mit unerhörter Schnelligkeit aus seinem Blickfeld, so daß nur noch der See, das vulkanische Meer zu sehen war. Es kochte. Sturmgepeitscht stoben Springfluten aus feuriger Schlacke über dieses Höllengewässer. Es kochte an tausend Stellen, wölbte sich blasenwefend auf, spuckte Magma hoch, das noch heller war als die Oberflächenlava und in bengalischem Feuer brannte, bis der Sturm die Fontänen zerriß oder Wellenberge sie begruben. Seltsam, daß Warnstein keine Hitze spürte. Seltsam, daß das Magmameer trotz seiner ungeheuerlichen Größe noch immer in planetarer Ferne zu liegen schien und daß nur die Springfluten wuchsen: Wellen mit glühenden Kämmen hoch wie Berggipfel. Ein Himalaya aus reinem Feuer. Und noch seltsamer, daß sich aus diesem aufgewühlten, brodelnden Inferno für schreckliche Sekunden Gesichter formten. Keine Gesichter, die ein deutscher Kampfflieger aus dem Jahr des Herrn 1917 A. D. jemals zu sehen erwartet hätte, oder wenn -46-
doch, dann nur im tiefsten Pfuhl der Hölle, wohin es nie einen anständigen deutschen Christenmenschen verschlug, der für Gott, Kaiser und Vaterland treu seine Pflicht erfüllt hatte: In jene abseitigste aller satanischen Regionen, wo nicht Deutsch, sondern Englisch und Französisch gesprochen wurde... Gesichter wie von einem wahnsinnigen Goya, dessen kranke Seele in den Farben geronnen war und böse vor sich hin faulte. Aberwitzige Fratzen über monströsen Körpern, lüstern entblößt und sündhaft verdreht, den Rachen schlingend aufgerissen, die Augen hungrig lauernd, die Blicke wie Spieße beim Todesstoß. Ganze Horden dieser tollen Ungeheuer tauchten auf und versanken wieder im kochenden Rot, und hier und da hob auch ein weit scheußlicheres Geschöpf seinen Kopf aus der Feuersbrunst: Wie der Leibhaftige trug dieses Wesen knorrige Hörner auf dem mißgestalteten Schädel, doch die Hörner waren merkwürdig lang und sonderbar gebogen, und das Gesicht war nicht teuflisch verzerrt, sondern von einer stillen, selbstzufriedenen Bosheit, die Warnstein weit grausiger erschien als alle Teufel des Christentums. Waren die nachtmahrischen Fratzen schon unerträglich in ihrem Blocksbergtanz auf der sturmumtosten Glutsee gewesen, so waren sie dennoch wie unschuldige Kinder im Vergleich zu dem Entsetzen, das diese gehörnten Götzen verströmten. Nichts Irdisches war an ihnen. In ihrer ganzen Verderbtheit mußten sie aus dem Äther der Sterne herabgestiegen sein, denn niemals hätte Gott erlaubt, daß solches Gewürm aus dem Lehm seiner Schöpfung entstand. Im geschliffenen Eis ihrer Augäpfel spiegelte sich kosmischer Tod und unheilige Leere, und in ihrer Brust mußte statt eines Herzens ein schwefliger Komet pochen... Aber selbst die Gehörnten waren nicht der Höhepunkt dieser höllischen Raritätenschau. Auch wenn sich der gesunde Menschenverstand der Vorstellung verweigerte, daß es auf Erden oder auch im Weltenall Wesen gab, diese Ausgeburten der Hölle zu übertreffen - es gab sie doch. Nackter Stahl, der sich selbst zu -47-
Gebirgshöhen aufgetürmt hatte, in blinder Suche nach einem Schöpfer, der ihm den Lebensfunken einhauchte, bis das Böse sich seiner erbarmte und in ihn fuhr. Von dieser seelenlosen Kraft getrieben, hatte der Stahl dann in seiner Besessenheit Glieder geformt und sich ein Gehirn geschmiedet, eisern, grausam und ungeschlachtet wie alles an ihm, und die ersten metallenen Gedanken gedacht. Gedanken, die sich in das Stahlgesicht gruben und dessen jungfräuliche Leere formten. Jede Pore war ein Fleischwolf, jede Falte eine Klinge, jede Unebenheit ein nadelspitzer Dorn. Das Kinn ragte wie ein Rammbock hervor, konstruiert, ganze Städte mit einem einzigen Stoß zu zertrümmern. Die Unterlippe war ein Rasiermesser von der Größe eines Staudamms, die Oberlippe ein monströses Fallbeil. Die Nase war einem Hammerkopf gleich, der mit einem Schlag Berlin zerschmettern konnte. Und die Augen waren dunkel wie unterirdische Seen, kalt und abweisend und unermeßlich tief, und in der schwärzesten, unheimlichsten Tiefe regte sich etwas. Die verderbte Seele dieses Eisenmanns. Schlau und gnadenlos besah sie sich die Welt, in die sie sich geschlichen hatte, und schmiedete eherne Pläne, sie zu vernichten... Es war zuviel. Warnstein spürte, wie sich der Abgrund des Wahnsinns vor ihm öffnete, und er wußte, er würde ihm unwiderruflich verfallen, sollte er noch eine Sekunde länger auf diesen Tanz höllischer Fratzen schauen. Mit einem Schrei schlug er die Hände vor die Augen. Kalt lag das Leder der Handschuhe auf seiner Haut und schirmte ihn vor dem Anblick der unsäglichen Dämonen ab. Gedämpft fiel Kirschlicht durch die Fingerritzen und rötete Warnsteins weißes, junges Gesicht. Er hatte längst schon seine Kehle heiser geschrien, und nur noch Krächzen drang von seinen blutleeren Lippen. Fest geschlossene Lider verbargen das Funkeln des Wahns in seinen Augen. Jetzt sehnte er sich nach dem Tod, der -48-
ihm im wütenden Griff des Gewittersturms so schrecklich erschienen war. Was war der Tod schon gegen dieses Grauen! Aber was, flüsterte darauf eine Stimme, was ist dieses Grauen gegen das, was dich erwartet, Sardor? Es war der Wind, der sprach, der brausende Wind selbst, der ihm beim rasenden Sturz in die Magmahölle umtoste. Aus dem Heulen, dem schrillen Pfeifen der Luft sprach der Wind zu ihm und sagte mit rauhem Spott: Was sind die Gefahren des Augenblicks gegen die tödlichen Fallen, die die Zukunft für dich bereithält, Sardor? Was sind die luziden Gespenster deiner tausendjährigen Träume gegen die kosmischen Gespenster der Wirklichkeit? Vielleicht hast du zu lange geträumt, geduldig geschlafen in jenem fremden Land. Vielleicht war deine Hand zu lange fleischlos und knöchern, als daß sie noch in die Geschichte eingreifen kann. Mit fliegendem Atem riß Warnstein die Hände vom Gesicht und sah sich wild um, sah nur Glut und Feuer und schemenhafte Schreckensbilder. War er verrückt? Wer sprach da? Hörte er die Stimme wirklich, oder war sie ein Hirngespinst, die Stimme des Wahns, in den ihn dieser Höllenflug gestürzt hatte? Wer war Sardor? Was sollten diese Drohungen, in Fragen gekleidet, um den Anschein von Warnungen anzunehmen? Und wem galten die düsteren Worte wenn nicht ihm? Denn raunte die Stimme nicht direkt in sein Ohr? Gewiß, mein Held, flüsterte es mit Häme, die sich als Wahrheit tarnte. Denn für den toten Gott ist es an der Zeit, aus dem Schlaf zu erwachen und die Träume mit der Wirklichkeit zu messen. Wach auf, Sardor, kehr heim, kehr heim. Kaum war das letzte Wort verklungen, klaffte die kochende rote See auf, und der Doppeldecker stürzte hinein, und Warnstein sah mit stummem Grauen bis zum tiefen Grund der -49-
Hölle, in die er verdammt worden war, sah unter sich das Höllenland, und er fiel und fiel, während um ihn alles in Flammen stand. 3. Kapitel Dunkle Heere Morgen, morgen haut mir der bleiche Tod Seine klirrende Sense ins rote Fleisch, Lange schon auf der Lauer Weiß ich ihn liegen, den grimmigen Feind. - Hermann Hesse »Klingsors letzter Sommer«, 1920 Während der Nacht war Churm über rostende Hänge und himmelhohe Grate gewandert, über Schnee und vergletscherten Fels, bis er den Ahnenweg erreicht hatte: Ein nacktes Band aus weißem Metall, das zwölf Schluchten überbrückte, dann schmaler wurde und sich höher hinauf zur Wolkendecke schwang. Oberhalb der Wolken bewachte L'Ingans Turm die metallene Straße. Schwarz und schorfig wie brandiges Fleisch, höher noch als der Bergsattel, den der Weg zerschnitt, reckte sich der Turm in die dünne Luft. Jenseits des Turms lag der Knochenpfad, der einzige Paß im Massiv der Krograniten, der einzige Weg ins unbekannte Ostien. Seit Menschengedenken lauerte L'Ingan dort und nährte sich vom Leben der Grenzgänger, von denen keiner je sein Ziel erreicht hatte... Churm hatte L'Ingan nur einen verächtlichen Fluch gegönnt und war dem Ahnenweg hinunter ins Tal gefolgt. Über die Schluchten, an derem Grund sich wurmiges Leben wand, und dann steil bergab, an Klippen und Felsnadeln vorbei, die wie Spieße im Erzgestein der Krograniten steckten, und schließlich am Fuß des Karmesingletschers entlang, aus dessem gespaltenen Leib Hartrokors rasendes Gebrüll gellte. Churm lachte, als er die rasselnden Laute vernahm, und hieb mit dem Schwert Gly auf das rote Eis und schrie: »Der Nachtmahr ist los, Herzog Hartrokor! Der Nachtmahr ist los. Brüll nur weiter, damit er dich hört und damit er dich holt, Herzog Hartrokor!« Der Gletscher erzitterte, doch das Geschrei verklang. -50-
Die Todesangst mußte Hartrokor in die eisernen Glieder gefahren sein. Abfällig spuckte Churm in den Schnee am Straßenrand, und schon beim nächsten Schritt war sein Speichel in der barbarischen Kälte gefroren. Dennoch verkrustete keine noch so dünne Eisschicht den Stahl, in dem sich das Licht des Eisenrings und die Flammen der Sterne brachen. Der Ahnenweg war warm und quer von Rinnen durchzogen, die das Schmelzwasser ableiteten und dem Fuß sicheren Halt gaben. Niemand wußte, wer den Ahnenweg erbaut hatte - vielleicht die Eisenmänner, die Väter der feigen Herzöge, oder vielleicht eine der mächtigen Menschenrassen, die vor dem Aufstieg der Eisernen, dem Erscheinen der Gehörnten und dem Beginn der kosmischen Kriege die Erde regiert hatten. Die Welt war alt, und die Menschen hatten Millionen Jahre Zeit gehabt, zu Macht, Wissen und Größe zu gelangen, ehe all ihre Hoffnungen in den Schlachthäusern der metallenen Riesen ein Ende fanden. Es hieß sogar, daß einst, unter einer anderen Sonne und unter anderen Sternen, die Menschen über gewaltige Räume geherrscht und gottgleich Natur und Schicksal gelenkt hatten. Es hieß, daß in jenen vorzeitlichen Epochen Tod und Gefahr gebannt waren und nicht einmal die kosmischen Regionen genug Schrecken bargen, um die alte Rasse in Furcht zu versetzen. Aber wenn es diese Alten wirklich gegeben hatte was war aus ihnen geworden? Warum hatte ihr Reich nicht die Äonen überdauert und sich den neuen Mächten entgegengestellt? Warum hatten die Alten zugelassen, daß ihre Erben von Herren zu Sklaven und von Sklaven zu Schlachtvieh wurden? Der Eisenring spendete sein Kadaverlicht, und bald erreichte Churm das Ende der Straße und die höchste Stufe der Treppe, die im Tal zwischen Gebirge und Seufzerschründe endete. Die Stufen waren breit und wie für Riesen gemacht, und der Wind heulte über ihre weißen Blöcke, und es gab kein Geländer, um der Hand Halt zu gewähren. Churm stieg hinab. In die Nacht, -51-
verfolgt vom Frost, der in all seiner elementaren Hartnäckigkeit nicht die Sinnlosigkeit seines Unterfangens erkannte und ihm Stund um Stund nachsetzte, bis der rostrote Fels in Erdreich überging. Noch war die Decke dünn und von jenem giftigen Grün, das sich nur unter dem Eisenring enthüllte, weil die Kirschsonne Farben schwärzte und allein dem Rot in all seinen Schattierungen erlaubte, am Tag zu überleben. Kristalline Flechten, eigentümlich geformt und so seltsam verschlungen, daß man aus der Ferne Muster in ihnen sah, schlängelten sich über die gpüne Erde und wichen weiter unten bleichen, verkrüppelten Sträuchern und dann knorrigen Bäumen von Pilzgestalt. Mit Erreichen der Baumgrenze hatte die Nacht ihren Zenit überschritten. Stoisch sprang Churm von Stufe zu Stufe, hielt die Klinge Gly in der hornigen Faust, da zwischen den Bäumen allerlei Getier lauerte; Brüder und Schwestern der Würmer vom Grund der Schluchten; animalische Verwandte der Eisenherzöge; geschupptes Echsengezücht und ein halbes Hundert Kreaturen, deren Arten in der Ebene längst ausgestorben waren. Hin und wieder hörte Churm die ehernen Tiere klirrend im Unterholz herumschleichen, und einmal sah er den leuchtenden Bauch eines Glühwurms, aber die Bestien hielten sich fern von ihm. Ein Dutzend von ihnen hatte er bei seinem Aufstieg getötet, und ihre Kadaver am Rand der Treppe hielt die anderen ab, ebenfalls ihr Glück zu versuchen. Bald verblaßten Sterne und Eisenring und über den Berggipfeln in Churms Rücken stahl sich ein zögernder roter Schimmer, der erste Kundschafter der Kirschsonne, die ihr Licht von Ostien nahm und der Stryge zuwandte. Der Morgen graute, und verwässertes Blut ergoß sich in Wirbeln und Strudeln, in Bächen und breiten Strömen über den grauen Himmel. Schon war es hell genug, daß Churm mit silbernen Augen die Ebenen überblicken konnte. Direkt vor ihm, in tausend Metern Tiefe, zerfraßen die Seufzerschründe das Land und fingen den -52-
Morgenwind ein. Finstere Spalten im stumpfen Orange des Glasgrases, und der entfernteste Ausläufer tastete sich sogar bis auf Rufweite an Stryge und Gorm heran. Der erste Seufzer entfloh den gezackten Lippen der Schrunde und grüßte die Sonne, deren Rand nun über die Bergkuppen ragte. Churm sah nach Südwesten, wo Dunst über dem Boden hing und das Purpur der Wälder verbarg: In der Mitte der Sternhain, darum verteilt der Myrten-, Anger-, Woyden- und Nurnhain. Nördlich der Wälder die moosigen Wellen der Heldenhügel. Die Heldenhügel. Churm blieb stehen und dachte an des Herzogs letzte Worte. Unter dem Moos des höchsten Hügels, in seiner gemauerten, versiegelten Gruft, schlief Sardor und träumte in fremden Ländern von der verlorenen fleischlichen Existenz, träumte sich in geduldiger Wacht ein ganzes Schattenreich, aus dem er eines Tages erwachen und den Kampf gegen die Eisernen aufnehmen würde. Eines Tages, dachte Churm. Aber vielleicht ist dieser Tag der lang ersehnte und zugleich gefürchtete Tag ,.. Wie die Wälder hüllten sich auch die Hügel in Morgennebel. Selbst die Ebene, wo das gläserne Gras den mattesten Sonnenstrahl myriadenfach brach und sich an seinem orangenen Licht ergötzte, war dunstig und vor Churms Blick geschützt. Die forschenden Augen wandten sich nach Norden. Die rote Sfayge dampfte noch in Erinnerung an die Schmiedefeuer, die im Fels der Krograniten brannten, und an die glühenden Eisen, die die Herzöge im Strygenquell zu kühlen pflegten. Träge, breit und blutig wälzte sich der Fluß an der Feste Gorm vorbei, um weiter westlich im Morast der Purpursümpfe zu versichern. Die Furt vor Gorms Toren war aus dieser Entfernung ein dünner Streifen Rosa im Rot der Stryge, und an den beiden Ufern funkelte u,nd -53-
blitzte es. Churm grollte einen Fluch. Beschwörend hob er die Klinge Gly und drohte den Horden, die aus Gorms zyklopischen Mauern fluteten und aus den weißen Zelten vor den Wällen quollen. Räuberischen Insekten gleich stürzten sie sich zu Tausenden in den Strom, wateten durch die Furt und stiegen triefend aus dem dampfenden Wasser, um am südlichen Ufer in endlosen Reihen aufzumarschieren. Der erwachende Tag fiel auf poliertes Metall, auf Harnische und Brünen, Schilder, Schwerter und tödliche Spieße. Schatten aus Zinnober und Karmesin, Purpur und Rubin spielten um die Rüstungen der cryptischen Horden und würden sich bald auf einen einzigen Ton einigen, das stumpfe Rot menschlichen Blutes. Also hatte sich der Schwarze Mim zum Handeln entschlossen! Seine Heere marschierten! Die schiere Zahl der Crypten dunkelte das orangene Spiegellicht des Glasgrases. Die Ufer der Stryge waren schwarz von Schergen. Und immer neue Scharen spuckte Gorm in den Morgen, und von den Zinnen und Türmen der Feste tropfte das Kirschlicht der aufgehenden Sonne, und weiter im Norden schlängelte sich die Alte Eisenstraße vom cryptischen Hochland herab und am Geborstenen Berg vorbei. Erste Schimmer Helligkeit schwärten auf der zernagten Krone des Bergs, aber der Krater war finster und würde selbst am Mittag finster bleiben. Äonen war der Geborstene Berg der Grabstein des Nachtmahrs gewesen, doch der Grabstein hatte sich in eine Grube verwandelt, aus der sich Tod über den ganzen Erdball ergießen würde. »Ich verfluche dich, Mirn!« brüllte Churm ins Tal. Aber wozu den Bastard des cryptischen Lichtdespoten noch verfluchen? Mirn war bereits verdammt. Er war verdammt -54-
gewesen, seit er dem Alten im Meer den ersten Logos abgehandelt hatte. Mochte auch die ganze Welt sterben - Mirns Tod würde selbst diesen millionenfachen Schrecken übersteigen. Churm ballte die Hornfaust. Der Orden war schon vor Jahrtausenden zerbrochen, sein Wissen im Meer der Zeit versunken, aber die Berichte über die grausigen Untaten der Nachtmahre hatten den Untergang des Ordens überdauert. Und Churm, der letzte Mensch mit Händen aus schwarzem Hörn, der letzte menschliche Diener der Gehörnten auf dieser Welt, Churm erinnerte sich gut an die schrecklichsten Geschichten aus dem an Schrecken reichen Feldzug der Mahre. Zwei volle Jahre lang hatten die Schwärme, die aus dem Nichts jenseits der Sonne herangestürmt kamen, den Himmel der Erde verdunkelt. Schier unerschöpflich schien der Schoß aus kalter Nacht, der sie gebarte, und erst als die Eisenmänner den Ring um die Welt legten, den Eisenring, der noch immer bestand, versiegte der Zustrom. Zu spät für die ehernen Riesen. Vielleicht wäre es ihnen gelungen, in zähem Ringen die Gehörnten zu unterwerfen, da die Gehörnten trotz ihres unermeßlichen Wissens und ihrer Waffen, in der Glut der Sonnen geschmiedet, nicht ewig den Armeen der Eisenmänner widerstehen konnten: Zu gering war ihre Zahl und zu gewaltig waren die Streitkräfte des belebten Metalls. Deshalb hatten die Gehörnten Verbündete in der Leere zwischen den Sternen gesucht und den Pakt mit den Mahren geschlossen. Und die Mahre hatten die Eisernen an allen Orten zugleich angegriffen, Schlag auf Schlag geführt, ohne auch nur einen Moment innezuhalten, und in jedem Jahrhundert einen weiteren Fußbreit Boden erobert, in jedem Jahrtausend einen weiteren Flecken Erde besetzt, mit Ablauf jeder Jahrmillon eine weitere -55-
Eisenburg zertrümmert. Ihre entfesselte Raserei, ihre böse Lüsternheit nach Mord und Zerstörung überdauerte die Lebensspanne eines Kontinents, und nach Ablauf dieser Lebensspanne war die Erde übersät von toten Eisenmännern. Als letzte Festung war ihnen das Massiv der Krograniten geblieben, wo sie eine zweite Ewigkeit dem Sturm der Mahre widerstanden hatten. Zeit genug, um die Armada zu bauen, mit der sie von der Erde zu fliehen trachteten, in das Exil hinter der Zeit. Um das Herz der Erde anzubohren und die Mineralien zu fördern, die sie zum Bau der Schiffe brauchten, Mineralien, die keine gewöhnliche Materie mehr waren, nachdem die Eisenmänner sie hinuntergewürgt und wieder ausgeschieden hatten. Die Schmerzarchen der Eisernen wuchsen heran, bis alle Riesen Platz in ihnen fanden, alle bis auf jene, die auserwählt waren, am Pol die letzte Schlacht zu schlagen, die Mahre und Gehörnten abzulenken und das Gelingen der Flucht zu sichern. Und als letzten Gruß an die Erde hatten die Eisenmänner die Herzöge gezeugt und sie angewiesen, sich im Innern der Berge zu verstecken und dort auf ihre Rückkehr zu warten. Die Schlacht am Pol begann, die Archen traten ihre schmerzerfüllte Reise an, die Herzöge krochen in den Fels und die Schlacht endete mit dem Tod des letzten Eisenmanns auf Erden. Nicht, daß dieser Sieg den Hunger der Mahre stillte. Nicht, daß die Mahre ihre gelichteten Heere sammelten und zu ihren vereisten Welten zurückkehrten. Aber wen sollten sie verderben? Die Herzöge? Sie rochen sie trotz des aufgetürmten Gesteins, sie rochen die stählerne Furcht, die in den unterirdischen Stollen umging, doch die Eingänge waren versiegelt, und weder Mahre, noch Gehörnte konnten die Siegel brechen. Sollten sich die Mahre an den Menschen gütlich tun? -56-
Churm lachte. Was war von den Menschen nach den Äonen Krieg schon übriggeblieben? Die Mahre brüteten über ihre Not und hoben dann die hungrigen Augen zu den hohen Plätzen hinauf, den Thronen, die sich die Gehörnten zwischen Himmel und Erde geschaffen hatten, und die Mahre wußten, daß es noch einen Gegner für sie gab. Sie fielen über die Gehörnten her, und obwohl die Großen von den Sternen ihre verräterischen Verbündeten zu Millionen erschlugen, gerieten sie in Bedrängnis. Die Bedrängnis der Gehörnten war die Rettung der Menschen. Die Gehörnten schirmten die Menschen vor den Mahren ab, damit sie sich vermehrten, und bewaffneten sie mit einem Teil ihrer Klugheit, einem Teil ihrer Waffen, einem Teil ihres fremden Blutes. Die Menschenrasse erstarkte, und aus irdischem und kosmischen Blut wuchs der Orden, und die Ordensmänner zogen gegen die Nachtmahre in den Krieg. Während die Menschen die Mahre mit gewaltigen Waffen angriffen und ganze Länder verbrannten, damit ein Mahr im Feuer verging, kämpften die Ordensmänner mit ihrem Verstand und ihren hornigen Händen, deren Berührung jedes kosmische Gespenst zu Staub zerfallen ließ. Nach und nach starben die Mahre, und mit jedem Mahr Zehntausende von Ordensmännern, und der Krieg trieb die Mahre von der Erde, über die Grenze, die der Eisenring zog, und waren die Mahre erst einmal jenseits des Eisenrings, blieb der Planet den Ungeheuern für immer verschlossen. Von der gleichen grimmigen Verzweiflung erfüllt, die auch die Eisenmänner in die Flucht getrieben hatte, verschwanden sie wieder im Nichts, das die Sterne trennte. Die Gehörnten, mit ihrem Sieg zufrieden, warteten den Abzug der Nachtmahre ab und machten sich dann daran, ihren halbmenschlichen Nachkommen zu danken, und sie dankten -57-
ihnen, indem sie alle Ordensmänner in einer Nacht erschlugen. »Alle, bis auf einen«, sagte Churm. Er lachte, aber es war ein blasses Gelächter. Noch immer waren seine Silberaugen auf den Geborstenen Berg gerichtet. Hatte er als einziger von allen überlebt, hatte er die ungezählten Jahrtausende unter den Menschen verbracht und ihnen, die von den Gehörnten als zu schwach beurteilt und deshalb verschont worden waren, so gut er konnte geholfen, nur damit der Mahr nun seinen Hunger an ihnen stillte? »Ich werde dich töten, Nachtmahr«, flüsterte Churm, »dich endgültig töten... Und weißt du, warum?« brüllte er. »Weißt du, warum es mir gelingen wird? Weil ich nicht allein gegen dich kämpfen werde. Weil...« Nein, dachte er. Schweig. Der Name muß verschwiegen werden, bis die rechte Stunde naht. Der Mahr soll nicht wissen, daß Sardor selbst an meiner Seite kämpfen soll, im Geborstenen Berg, in dieser verfluchten Grube... Churm sah sich um, sah die gigantische Sonne halb über den Bergketten stehen und sprang mit neuer Entschlossenheit und neuem Mut die Treppe hinunter. Er flog dem Boden entgegen, wo die Schrunde lauter und lauter seufzten, als wollten sie das ganze Leid der Welt beklagen. Im Westen riß der Nebel auf und enthüllte Haine und Hügel, und die Hügel waren nicht schwarz vom Moos, sondern Silbern, Grau und Rot von den Rüstungen der Hainvölker. Die Hainfürsten hatten den Aufmarsch der Crypten beobachtet und rasch ihre Kräfte gesammelt. Gut! dachte Churm. Aber nun schnell - die Heldenhügel erreichen, ehe die Heere aufeinanderprallen. Geht der Sturm los, dann soll Sardor die Fürsten und die Krieger führen. Schnell, ehe es zu spät ist... Das Seufzen nahm zu, umbrauste ihn, marterte ihn, als er -58-
schließlich den Talgrund erreichte. In Scherben und Splitter lag das Glasgras darnieder, zertrampelt vom schweren Schritt der Eisenherzöge, und Sonnenlicht fing sich in diesem glitzernden Teppich. Und dort - dort war Fe. Im Schatten eines Monoliths stand Fe von gläserner Glut umspielt und warf schnaubend den Schädel zurück, als sie Churm erspähte. Ihr einziges großes dunkles Auge sah ihm warm entgegen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Mensch und Tier verwandt gewesen waren, und mit wachsender Klugheit hatte der Mensch diese Verwandtschaft genutzt, um dem Tier seinen Willen aufzuzwingen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der selbst die Tiere klug gewesen waren, menschengleich, obschon noch immer zottig, pelzig und geschuppt, und Mensch und Tier waren wie Geschwister. Bis der Mensch im Tier einen Rivalen witterte und es erschlug, wo immer er es traf. Bis der Mensch vom Eisenmann gestürzt und geschlachtet, vom Gehörnten ins Erdreich gejagt und begraben, vom Mahr verfolgt und verzehrt wurde. In diesen Äonen unterirdischen Lebens, da der Mensch zum Wurm herabgesunken, hatten sich die letzten Tiere vermehrt und über den ganzen Planeten verbreitet, waren neue Kreaturen aus den Kloaken der eisernen Schlachthöfe entstanden oder von der Kunst der kosmischen Eroberer aus Staub und Sonnenlicht geformt worden, und als der Mensch an die Oberfläche zurückkehrte, mußte er erfahren, daß diese neuen Geschöpfe keinen Herrn mehr duldeten. Das Tier fürchtete den Menschen nicht mehr. Das Tier war frei und zu stolz, um einen Meister über sich zu dulden, und bekümmert hatte sich der Mensch von seinen -59-
animalischen Verwandten abgewandt. Aber Fe! Das einzige Geschöpf, das einem Menschen gestattete, sich auf seinem Rücken niederzulassen, und das freundlich genug war, den Menschen über die Länder zu tragen. Doch es trug nur einen Menschen: Churm. Vielleicht, weil Churms Hände schwarz und hornig waren und seine Augen wie Silbermünzen. Vielleicht, weil Churm einzigartig war, alt wie die Stryge, grimmig wie der Wintersturm, einsam wie Fe selbst. Der Boden der Ebene dröhnte unter ihren stampfenden Hufen, und klirrend zersprang das Glasgras zu orangefarbenen Splittern, während sich die mächtigen Säulenbeine hoben und senkten und den grauen Leib des Tieres den Heldenhügeln entgegentrugen. Breit war sie, so breit, daß vier kräftige Männer Platz in ihrer Brust hatten. Grau war sie und gepanzert. Der gewaltige Schädel mit dem einen großen Auge und dem einen Elfenbeinhorn, lang wie eines Menschen Arm, dick wie eines Menschen Oberschenkel, spitz wie ein Spieß, dieser zyklopische Schädel saß auf einem geschuppten, stämmigen Hals, dessen Nacken Churm als Sattel diente. Hinter ihm hob und senkte sich der graue Rücken mit dem sägeartigen Hornkamm und lief in einen muskulösen, mannslangen Schwanz mit dorniger Quaste aus. Ein Leviathan des Landes, so schwer, daß nur die stärksten Brücken FeV Gewicht tragen konnten, und trotzdem schnell wie der Wind. Die Beine, sechs an der Zahl, stanzten tiefe Löcher in den Boden und ließen Felsen bersten. Denkbar, daß sogar die titanischen Mauern der Feste Gorm beben, wanken und brechen würden, wenn F6 sich zum Sturm entschloß, obwohl es hieß, daß das schwarze Metall der Wälle von einer anderen Welt stammte, wo jeder Stoff dichter, härter und widerstandsfähiger -60-
war als irdischer Stahl. Das Hörn, das einer knochenweißen Nase gleich ausdem Schädelgebein und dem grauen Panzer ragte, war mehr als bloßes Hörn: Es hatte Hartrokors Eisenhaut geritzt und so dem Herzog zu verstehen gegeben, daß es besser war, jeden Gedanken an Rache zu vergessen, das kostbare Schwert Gly zu vergessen, die ganze Welt aus dem Gedächtnis zu tilgen und sich in den Spalt des Karmesingletschers zu stürzen... Churm lächelte zärtlich. Ohne F6 hätte er den Eisenherzog nie überlisten können. Ohne F6 wäre die Klinge Gly noch immer in Hartrokors unterirdischer Rüstkammer, begehrt, bewundert, unerreichbar. Wind heulte dem Ordensmann ins Gesicht, zerzauste den schwarzen Bart, wollte den Helm vom Schädel reißen, und als ihm dieser Plan mißlang, schlug der Wind mit unsichtbaren Fäusten auf Churms Lederrüstung ein. Die Sonne war inzwischen in ihrer ganzen Größe über die Krograniten geklettert, die West und Ost von Pol zu Pol trennte, und es wurde wärmer. Das Glasgras brannte in orangenem Feuer und wisperte, wenn es von Böen gebeugt wurde. In der Ferne seufzten die Schrunde, wie sie es Tag für Tag taten, und in sicherer Distanz von dem rasenden Ungetüm und seinem düsteren Reiter duckte sich ein Quecksilberwurm zwischen die gläsernen Halme und stieß einen schrillen, trillernden Pfiff aus: Eine Warnung an die anderen Würmer, die in den Seufzerschründen hausten und aus ihren lärmerfüllten Kavernen nur herauskrochen, um ihren mineralischen Hunger zu Stilen. Eine Weile blitzte der lange Leib des Wurms im Kirschlicht, und dann waren F6 und Churm an ihm vorbei. Weiter ging es in rasender Hatz in Richtung Westen, wo die bleichen Baumdächer des Angerhains über das Gras ragten, wo sich die Heldenhügel wellten und sich die Scharen der Hainfürsten gesammelt hatten. »Schneller, F6!« brüllte Churm und schlug ihr ermunternd auf den graugepanzerten Schädel. »Schneller, mein Schatz!« -61-
Glücklich schnaubte das mächtige Tier, daß ein argloser Lauscher einen Vulkanausbruch befürchtet hätte, und ließ die Säulenbeine noch schneller wirbeln. Wie dumpfe Trommeln in einem atemlosen Wettstreit dröhnte der Galopp des Weißhorns über das weite Land. »Schneller, F6!« schrie Churm. »Schneller!« Und F6 lief schneller, pflügte stampfend durch das hüfthohe Gras und stürmte den Heldenhügeln entgegen. Der Horizont war in orangefarbenes Feuer getaucht, als der Sonne, wie es zuweilen geschah, beim Anblick der Welt schauderte, als sie sich schüttelte und ihr brodelndes Magmagesicht verzerrte, so , daß helleres, frischeres Licht aus ihren Tiefen strahlte und sich tausendfach in den gläsernen Halmen der Ebene brach. Churm erschien dies wie ein Omen, und im nächsten Moment sah er auch Schatten zwischen den kalten Flammen. Winzige Gestalten, die in endlosen Wellen über den Horizont brandeten, als sei die Stryge über ihre schlammigen Ufer gestiegen, um das Land unter ihren Fluten zu begraben. Cryptische Krieger, ganz in Metall gegürtet, mit Schwertern und Spießen in eisernen Handschuhen. Das Heer des Schwarzen Mirn marschierte auf die Heldenhügel zu. Zu spät! dachte Churm. Verzweiflung trübte den Silberglanz seiner Augen. Es ist zu spät! Die Schlacht beginnt! Und F6, einäugig, gepanzert, schwer wie ein Felsblock und schnell wie der Wind, reckte ihr gehörntes Haupt und stieß einen Schrei aus, daß ganze Büschel Glasgras klirrend zersprangen und die Luft in donnernden Kataklysmen erbebte. Furchtsam erstarb in ihrem Rücken das Seufzen der Schrunde, und der Vormarsch der dunklen Horden stockte für einen Moment, und plötzlich lachte Churm und ließ die Klinge Gly im Kirschlicht blitzen. Was für ein Narr war er doch! Die Schlacht verloren geben, bevor sie begonnen hatte! Mochten die Heere der -62-
cryptischen Schergen auch die ganze Ebene verdunkeln - dort oben auf den Kämmen der Heldenhügel standen die Scharen der Hainvölker, schweigend und wartend, armiert und gerüstet, zum Kampf entschlossen wie keine anderen Völker vor ihnen. Die Myrten und Anger, die Woyden und Nurn warteten in grimmiger Stille auf die Ankunft der Eroberer, und sie waren aus anderem Holz geschnitzt als die Alten von N'jyr, die sich in all den Jahrtausenden ihres Daseins zu sehr an das Leben gewöhnt hatten, um dem Tod auf dem Schlachtfeld ins blutige Auge zu sehen. Sie hatten sich hinter ihrer Großen Mauer verschanzt, wie sich die Bewohner Gorms hinter den trutzigen Wällen ihrer Feste verschanzt hatten; sie hatten auf die Festigkeit des Gesteins vertraut, statt auf die Festigkeit ihres Willens und ihres Mutes zu bauen, und N'jyr und Gorm waren gefallen. Und die Fischer von Hencoren... pah! Die einzigen Kriege, die sie geführt hatten, waren die Kriege gegen die dummen, zahnlosen Kreaturen im Strygensee gewesen, oder gegen die Glühwürmer, die in manchen Jahren aus den Purpursümpfen hervorgekrochen kamen und mit ihren riesenhaften fleischigen Leibern alles zermalmten, was sich ihnen in den Weg stellte... Aber die Hainvölker waren gestählt. Sie wußten, wie man die Schwerter schwang und die schweren Äxte auf die Häupter bewaffneter Eindringlinge schmetterte, denen die Gier nach den Schätzen der Haine die Gedanken verdreht hatte. Waren nicht die Myrten allein auf sich gestellt gegen die eroberungslustigen Soldatenkönige marschiert und hatten sie nicht die gesamte Brut zweier Burgen an einem Tag erschlagen? Und waren es nicht die Anger gewesen, die die stacheligen, monströsen Kreaturen vom Dorngrund zurück in den Westen gejagt hatten, als die Herren des Westens ihre Wurzeln in den heiligen Boden des Sternhains senken wollten? Selbst die Eisenherzöge in ihrer ganzen metallenen Macht hatten sich in die rostenden Höhen der Krograniten zurückziehen müssen, die eisernen Rümpfe und Glieder schartig von den -63-
Hieben woydischer Äxte, und sie hatten schwören müssen, in Ewigkeit die Haine zu meiden. Wie sollten sich die Hainvölker da vor den cryptischen Schergen fürchten, selbst wenn deren Zahl zwanzig- oder dreißigmal so groß war wie die Zahl der Krieger unter dem Banner der Hainfürsten? Aber vergiß nicht, flüsterte da eine Stimme in Churms Gedanken, vergiß nicht den Mahr... Der Nachtmahr! Dieses grausigste aller Geschöpfe unter dem Kirschlicht der Sonne, aus dem Todesschlaf erwacht, um Mirns massenmörderischen Plänen zu dienen, bis auch der Schwarze Mirn das Opfer seines unersättlichen Hungers wurde... Doch wenn der Nachtmahr von den Toten zurückgekehrt war - warum sollte es dann Sardor nicht auch gelingen? Ein Lächeln milderte den Grimm in Churms bärtigem Gesicht. Er beugte sich nach vorn und wisperte in F6s kleines, graues Ohr: »Er wird ihn töten, Fe, er wird den Nachtmahr töten, denn wenn einer es vermag, dann Sardor. Weißt du, was man über ihn sagt, Fe7 Weißt du es?« Das Weißhorn schnaubte und brüllte wieder, ließ das Glasgras auf weiter Fläche splittern und bersten, ließ Donner die Luft erschüttern, die Reihen der heranstürmenden Crypten wanken. »Du weißt es*, F6«, flüsterte Churm. »Du weißt von dem Eisernen, der am Boden eines fremden Meeres, in ätzendem, gelben Wasser, den Abzug der Gehörnten und Mahre erwartete, weil er sich vor den Schmerzarchen fürchtete und dem Exil, in dem die anderen vom Eisenvolk Zuflucht suchten: In den Regionen hinter der Zeit, wo es nur Schmerzen gibt. Du weißt, F£, daß dieser Eisenmann dann aus den Säurefluten emporschwamm, über die knöchernen Dämme stieg und die Länder jenseits der Dämme verwüstete, weil er sich in seinen -64-
Träumen zum Herrscher der Erde berufen wähnte. Und du weißt, Fe, daß Sardor seine klirrenden Schritte hörte und die halbe Welt umsegelte, um den Eisenmann am Fuß der Kronberge zu stellen und ihn, den das ätzende Wasser Leib und Geist zerfressen hatte, in einem Zweikampf von der Dauer eines Jahres zu besiegen. Du kennst diese Geschichte, Fe, wie du die anderen Geschichten kennst, die über Sardor erzählt werden. Ich traf ihn erst, als er schon tot und mumifiziert unter dem Moos der Heldenhügel lag, in seiner Gruft, die erst geöffnet werden soll, wenn die kosmischen Gespenster wieder zur Erde herabsteigen. Ich werde ihn rufen, Fe, hörst du? Ich werde Sardor rufen...« Das Weißhorn brüllte, und vor ihnen wuchsen die Heldenhügel auf, die sich wie gewaltige schwarze Wellen über die flache orangene See der Ebene erhoben, und auf den Kämmen und den Hängen bis hinunter zur breiten Grube zwischen Moos und Glasgras standen die Scharen der Hainvölker. Ihre Rüstungen waren schwarz und aus der ledrigen Borke der Pilzbäume gefertigt; Borke, die man im bleichen Glanz des Eisenrings von den Stämmen abzog und auf die Heldenhügel zum Trocknen legte. Verlor sie ihre feuchte Geschmeidigkeit, härtete sie, daß selbst Eisen weich dagegen wirkte, und man durfte nicht zu lange warten, wollte man sie zu Rüstungen schneidern. Die Helme waren von den Eisenherzögen geschmiedet und gegen altes Wissen eingetauscht worden, und ihr Stahl war rot im Sonnenlicht. Unter den Brünnen bärtige Gesichter und Augen grau wie Staub. Schwerter funkelten, Äxte blitzten, Spieße glitzerten wie ein Wald aus Metall. Von Kopf bis Fuß gepanzert warteten die Krieger der Hainvölker auf den nahenden Feind. Hier die Nurn: Klobige Gestalten, breit wie hoch, mit einer Haut so bleich wie die Borke der Pilzbäume; die Rüstungen schartig von den ewigen Händeln, die ihre Sippen um den Besitz -65-
prophetischer Tränke austrugen, bis ein gemeinsamer Gegner ihre Reihen schloß und sie ihre gehorteten Tränke teilten, um sich in den Schlachtrausch zu steigern. An ihrer Spitze Fürst Caliman, so alt, daß das Fleisch zwischen Haut und Knochen im Lauf der Jahre verdunstet war und sein Volk schon manches Mal überlegt hatte, ihn vom Fluch des Lebens zu erlösen und zu den anderen Helden in die Grüfte der Heldenhügel zu schaffen. Aber Caliman, skelettiert, knotig, knöchern und morsch, war noch immer stark genug, die Barmherzigkeit seiner treuen Gefolgsleute zurückzuweisen, und wenn es sein mußte, mit blankem Stahl. Wie ein böser Geist stand er auf einem der Hügelkämme im Kreis seiner Getreuen, klobig wie sie, doch alle überragend, und schüttelte seine frisch geschliffene Streitaxt den dunklen Heeren entgegen, die am Horizont aufmarschiert waren. Trotz des Donners, den Fes stampfende Säulenbeine erzeugten, konnte Churm das senile, furchtbare Geschrei des Nurnfürsten hören: »Ha! Laßt sie mir, laßt alle mir, und wagt nicht, auch nur einen Feind zu stehlen! Ich gehe Köpfe mähen und Leben ernten, oder das, was diese törichten cryptischen Bastarde Leben nennen... Was wollt ihr hier, was wollt ihr alle hier, ihr Nurn und Woyden, ihr Myrten und Anger? Geht zurück in die Wälder, geht mit den Weibern spielen, und laßt dem alten Caliman diese fette Beute aus dem Cryptenland... Kehrt heim, meine Kinder, euer Vater wird's schon richten. Die Ebene muß gedüngt werden, das Glas braucht frisches Blut. Jeden einzelnen dieser Hurensöhne werde ich an den Halmen aufspießen, und soll der Mahr doch seinen Hunger an ihnen stillen - meine Axt ist hungriger als er. Riecht den Tod, meine braven Kinder, riecht den cryptischen Tod...« Caliman brabbelte weiter, rannte entfesselt auf und ab, mit Schaum vor dem Mund und brennenden Augen, und schlug wie rasend mit der Axt ins schwarze Moos, daß man seine Schläge noch in den Grüften der schlafenden Helden hören mußte. Er drohte und schimpfte, verfluchte die Scharen der Nurn, die -66-
ihrem Fürsten nicht gönnten, allein die Feinde zurückzuschlagen, und er lobte die Crypten, daß sie weitermarschierten, wo sie doch wissen mußten, wer da auf den Hügeln auf sie wartete: Fürst Caliman, der Crypten Tod. Und dort hatten sich die Myrten aufgereiht, direkt am Graben, der Ebene und Hügel trennte und in dem die Eroberer bestattet werden sollten, damit sie nicht im Kirschlicht verwesten und die Würmer aus den Seufzerschründen anlockten. Waren die Nurn klobig und breit, menschliche Quader mit eckigen Gesichtern, so waren die Myrten schlank und hochgewachsen. Ihre schwarzen Rüstungen schmiegten sich wie eine zweite Haut an ihre blassen Glieder, und die Barte an Kinn und Wangen waren flaumig und hell und oft Zielscheibe gutmütigen Spotts. Die Myrten trugen Schwerter, deren Klingen lang und spitz wie Dornen waren, und wenn sie fechteten, bewegten sich die Klingen so schnell, daß sie verschwammen. Ihre Zungen waren flink wie die Schwerter, und viele von ihnen konnten mit dem Wind um die Wette laufen. Ganz gegen ihre Gewohnheit standen sie jetzt bewegungslos da, als hätten sie sich an den erdverbundenen Bäumen des Myrtenhains ein Beispiel genommen und unsichtbare Wurzeln in den Boden gesenkt, und nur ihr Fürst stolzierte mit wirbelndem Schwert am gähnenden Maul des Grabens entlang und rief mit heiterer Stimme: »Zwanzig für jeden, das wird reichen. Die anderen gehören mir. Bleibt anständig, zeigt keine Gier. Und seid vor Caliman auf der Hut. In der Hitze der Schlacht metzelt er alles nieder, was Waffen trägt. Geht ihm aus dem Weg und seid nachsichtig mit ihm. Er ist alt. Aber liebenswert. Und laßt euch nicht von den Crypten töten. Ich möchte nicht auf dem Schlachtfeld siegen, nur um später an Entkräftung zu sterben, weil ich all die vielen Witwen trösten muß...« Elegant warf der Myrtenfürst sein Schwert in die Luft, fing es wieder auf und stolzierte weiter, Ratschläge erteilend, zur Besonnenheit mahnend, seine Männer preisend. -67-
Über ihnen, auf den sanft abfallenden Böschungen, waren die Anger postiert. Sie verschmähten Schwert und Axt und vertrauten allein dem Spieß, den ihre muskulösen Arme weiter schleudern konnten als jeder Myrte, Nurn oder Woyde. Die Anger waren Hünen; von den Nurn hatten sie die breiten Schultern entlehnt, von den Myrten die Größe, von den Woyden den Mut. Auf dem Rücken, in einem langen Köcher, trugen sie weitere Spieße, um nicht waffenlos zu sein, wenn der erste sein Ziel gefunden hatte. Düster starrten sie hinunter in die Ebene und waren bereit, mit Wolken aus Spießen den Himmel zu verdunkeln, sobald die cryptischen Heere in Wurfweite waren. Höher als die Krieger, fast auf dem schwarzbemoosten Kamm des Hügels, stand der Angerfürst und intonierte das einzige Lied, das er kannte, und es bestand nur aus einem Wort: »Tod, Tod, Tod...« Und die Hügelkämme schließlich waren von den Woyden besetzt: Bartlose Gesichter mit sanften Augen und knospenden Mündern. Lockige Haare, die wie Mähnen über die gepanzerten Rücken fielen. Die Rüstungen mit zwei Höckern versehen, urn die schwellenden Brüste nicht einzuzwängen. Zarte Hände, die dünne Klingen hielten... Bei den Woyden kämpften die Frauen, damit das freundliche Gemüt der Männer keinen Schaden litt, und kein Myrte, Anger oder Nurn wagte es, eine Woydenfrau zum Kampf zu fodern, denn dies bedeutete den sicheren Tod. Mütterlich thronte die Woydenfürstin auf ihrem geflochtenen Sitz, auf dem sie die heranstürmenden Crypten zu erwarten gedachte, und sie nähte das Brautkleid für ihre älteste Tochter, während sie die Woydenfrauen mahnte, sittsam zu bleiben. »Achtet darauf, daß kein Schwerthieb eure Rüstung spaltet. Ihr wißt, wie närrisch die Männer werden können, wenn sie nackte Frauenhaut erspähen. Ich möchte nicht, daß sie in ihrer fleischeslüsternen Torheit die Schlacht vergessen und euch, meinen Töchtern, nachstellen. Und flucht nicht, wenn ihr mit dem ersten Hieb den cryptischen Feind verfehlt. Denkt an eure -68-
schutzlosen Männer im Hain und laßt euch nicht erschlagen. Der Krieg ist ein derber Zeitvertreib und läßt die Menschen verrohen, gleich von welchem Geschlecht sie sind. Gebt den Männern ein Beispiel, indem ihr ohne Grausamkeit kämpft. Bewegt euch anmutig und sorgt dafür, daß kein Crypte einen Fuß auf das Moos der Heldenhügel setzt... Hört euch nur diesen schrecklichen Caliman an, oder Fürst Tür von den Myrten, oder gar Gorrenhart, Fürst der Anger, und wahnsinnig wie alle vom Angerhain... Wie er vom Tod singt, als gäbe es nichts Vergnüglicheres auf der Welt... Das ist der verderbliche Einfluß des Krieges, meine Töchter, und ich möchte nicht, daß auch ihr ihm erliegt...« In einem fort gurrte die Fürstin Lidinya, während sie mit flinken Stichen das Brautkleid nähte und dann und wann, wie zufällig, das sanfte Gesicht dem Cryptenheer zuwandte. Ihre Stimme war hell wie das Plätschern eines kühlen Quells, und wenn man sie so sah, liebevoll plaudernd und selbstvergessen nähend, mochte man nicht glauben, daß sie mit ihren Töchtern die Eisenherzöge zurück in das Erzgestein der Krograniten gejagt hatte... Churm spornte das Weißhorn mit gellenden Schreien an. Die Heldenhügel waren greifbar nah und die Reihen der Hainvölker gerieten in Bewegung, als sie den Mann und das Tier erspähten. Durch ganze Wolken aus Glasgrassplittern galoppierte F6 und streckte sich, da sie gleich den Graben erreichen würde und zum Sprung ansetzen mußte. Die Ebene war jetzt lückenlos schwarz von den lausenden und abertausenden Crypten. Der Streifen aus orangener Glut, der das dunkle Heer noch von den Heldenhügeln trennte, schrumpfte mit beängstigender Schnelligkeit. Konnten Menschen so schnell marschieren? Menschen, die die Last schwerer Rüstungen und Waffen tragen mußten? -69-
Fe schnaubte. Ein warnender Laut, voll Unbehagen und animalischer Scheu. Churm drehte den Kopf und beobachtete mit forschenden Silberaugen die heranjagende Streitmacht des Schwarzen Mirn. Lauer Wind trug ihm das Klirren, Scheppern und Rasseln der Rüstungen zu. Ja, im Sturmlauf rasten die Söldner über das Land und zermalmten das gläserne Gras, aus dessen Splittern das Kirschlicht entfloh und die cryptischen Panzer blutig färbte. Und außer dem Lärm führte der Wind noch etwas anderes mit, einen Geruch. Einen grausigen Geruch. Süß und alt und modrig, wie der Geruch feuchten Gemäuers und offener Gräber, wie von Leichengift und faulem Dunst aus finsteren Schrunden, Schrunden, die wie tiefe Wunden in Milliarden Jahre altem Gestein klafften. Ein Schrei löste sich von Churms Lippen. Es war der Geruch des Nachtmahrs! Scheußlicher Brodem, der mit den Crypten zu den Heldenhügeln raste. Der Nachtmahr! Bei den Gehörnten, wo war der Nachtmahr? Der Himmel, von der Mittagssonne in Brand gesteckt, war wolkenlos. Kein Ort, wo sich der Mahr verbergen konnte. Und das kosmische Gespenst war zu groß, zu ungeheuerlich, um sich hinter dem Cryptenheer zu ducken und heimlich heranzuschleichen. Wo war der Mahr? Fe brüllte. Dir Hörn zuckte zur Seite, in mannshohes Glasgras, knickte Halme und traf mit dumpfem Krachen auf etwas Festes, Gepanzertes. Eine menschliche Gestalt in grauroter Rüstung wurde hochgeschleudert und prallte scheppernd auf den Boden, mit einer Wucht, daß der Panzer barst, in gezackte Stücke brach. Die Rüstung war leer. -70-
Ein Nebelschleier stieg aus der zertrümmerten Rüstung auf und huschte gen Norden, wurde vom Kirschlicht verschluckt. Der giftige, nachtmahrische Geruch war so schwer, daß Churm den Atem anhalten mußte. F6s donnerndes Gebrüll ließ das Gras zu beiden Seiten splittern, und aus den Scherben hoben sich weitere cryptische Krieger. Schwerter schlugen nach F6s gepanzertem Leib. Äxte fuhren nieder. Spieße prallten von den grauen Schuppen des Weißhorns ab. Zehn, zwanzig, dreißig Crypten stürmten aus ihren gläsernen, orangeglühenden Verstecken und stellten sich dem mächtigen Tier entgegen. Und es wurden immer mehr. Überall waren die Schergen, die Mirn über die Furt geschickt hatte, und bildeten einen Wall aus gerüsteten Leibern zwischen F6 und Heldenhügel. Sie mußten sich in der Nacht über die Stryge gewagt und im Glasgras verborgen haben. Vielleicht hatte der Schwarze Mirn von Churms Botengang erfahren, dem verzweifelten Versuch der Hainvölker, von den Dorngrundherren, den Soldatenkönigen oder den Eisenherzögen Hilfe zu erhalten, und Mirn hatte seine Häscher in die Ebene geschickt, Churm aufzulauern und ihn an der Rückkehr zu den Hügeln zu hindern... Das Weißhorn stampfte weiter. Das einäugige Haupt mit dem tödlichen Hörn schleuderte die Crypten zur Seite. Der Koloß pflügte durch den Menschenwall. Der Schwanz mit der dornigen Quaste schlug wild hin und her, zerschmetterte Panzer und Helme, ließ Schilde zerspringen. Churms Schwert kreiste und spaltete cryptische Brünnen, durchbohrte metallgegürtete Schultern und Brüste... während der nachtmahrische Gestank immer stärker wurde. Gestank, der wie Nebel aus zerbrochenen Rüstungen drang. Denn unter den Helmen saßen keine menschlichen Köpfe. Hinter den Brustpanzern schlug kein menschliches Herz. Aus den Stümpfen abgetrennter Glieder floß kein Blut. -71-
Die Erkenntnis traf Churm kalt und stählern wie ein Schwerthieb. Deshalb also stürmten die Crypten mit dieser übermenschlichen Schnelligkeit über die Ebene! Deshalb also hatte Mirn in kurzer Zeit ein solch gewaltiges Heer zusammenziehen können! Deshalb war Hencoren an einem Tag erobert worden, war Gorm in einer Nacht gefallen... Mirns Heer war kein menschliches Heer. In den Rüstungen steckten keine Menschen. Der böse, mordlüsterne Geist des Nachtmahrs lenkte diese gepanzerten Horden und kehrte zum Geborstenen Berg zurück, sobald die eiserne Schale, die er beseelte, Risse bekam und auseinanderfiel. Churm keuchte und schlug auf die gespenstischen Gegner ein, die sich trotz ihrer furchtbaren Verluste dem Weißhorn in den Weg stellten. Fe brüllte und stürmte durch den Wald der beseelten Rüstungen, rannte nieder, was nicht weichen wollte, rammte alles, was sich ihr entgegenstemmte. Doch der Wald wuchs vor dem Reiter und dem Tier, wuchs rascher als F6 zu laufen vermochte, und schon wimmelten die eisengegürteten Unholde am Fuß der Hügel. Ein Schlag traf Churms linkes Bein. Obwohl die Klinge des cryptischen Schwerts vom Hornstiefel abprallte, spürte Churm wilden Schmerz. Schmerz, der ihn daran erinnerte, daß auch ein Mann vom Orden des Horns sterblich war. »Fürsten!« schrie Churm. »Völker der Haine! Der Nachtmahr lenkt das cryptische Heer! Es sind keine Menschen, es sind Puppen, vom Mahr beseelt...« Spieße prasselten gegen Fes Schuppenkleid. Äxte versuchten die Sehnen der stampfenden Beine zu zertrennen. Schwertspitzen zielten nach dem großen, dunklen, verwundbaren Auge über dem Hörn. -72-
Über das Klirren der Waffen und den donnernden Galopp des Weißhorns vernahm Churm lautes Krachen, und er sah, daß die hölzernen Zugbrücken niedergelassen wurden und die ersten Nurn mit blanken Äxten, angeführt vom alten Caliman, über den Graben stürmten. Er sah, wie die Anger, Woyden und Myrten von den Kämmen und Böschungen heruntergeflutet kamen und mit grimmigen Rufen den Crypten Tod und Verderben schworen. Und er sah, daß das gewaltige Heer des Schwarzen Mirn in stiller, schauerlicher Raserei den Kampf gegen die Hain Völker aufnahm. Die Schlacht begann. Aber es war keine Schlacht Mensch gegen Mensch, sondern Mensch gegen Nachtmahr. Churm stöhnte in verzweifeltem Zorn und lenkte Fe durch das Gewühl der nachtmahrischen Marionetten, um Seite an Seite mit den Hainfürsten zu kämpfen. Er hatte sich geirrt. Er hatte geglaubt, daß sich Mirn trotz allem einen Funken Menschlichkeit bewahrt hatte und sich mit den Hainvölkern zunächst auf menschliche Weise messen würde. Aber Mirn war zu schlau, um Soldaten aus Fleisch und Blut in die Schlacht zu schicken und die Gefahr einer Niederlage einzugehen. Er war zu schlau und zu gierig. Er wollte die Haine überrennen und dann gleich zu den Burgen der Soldatenkönige vorstoßen, den ganzen Süden so rasch erobern, wie er Hencoren und Gorm und N'jyr erobert hatte. Und diese Gier trieb ihn dazu, den Hunger des Nachtmahrs zu einem Zeipunkt zu wecken, wo seine Macht über das kosmische Gespenst noch brüchig war. Selbst mit dem ersten, dem zweiten und dem dritten Logos in der Hand war es ein tödliches Wagnis, einen Mahr in den Dienst zu zwingen. Selbst mit dem ganzen verbotenen Wissen der Welt konnte man einen Mahr nur langsam beherrschen lernen. Aber weckte man seinen Hunger zu früh, dann zerriß er die unsichtbaren Ketten, die ihn an seinen menschlichen Herrn banden, und dann gab es kein Mittel mehr, ihn erneut zu -73-
bändigen. Dann gab es nur noch die Hoffnung, den Nachtmahr zu töten, ehe er nach seinem äonenlangen Schlaf zu einstiger Größe und früherer Kraft heranwuchs. Sardor! dachte Churm mit totenbleichem Gesicht. Ich muß in die Gruft, in Sardors Gruft, und ich muß ihn rufen, ehe alles verloren ist! Sardor... Doch die stählernen Marionetten des Nachtmahrs waren überall, und sie versperrten ihm den Weg zu den Hügeln. Fe wurde langsamer. Brüllte vor Zorn. Ließ den dornbesetzten Schweif pfeifen, den Schädel mit dem Hörn schwingen. Stampfte über berstende Rüstungen hinweg, aus denen der nachtmahrische Gestank drang. Pflügte eine Schneise durch die eisernen Reihen. Und für jeden niedergetrampelten Feind tauchten zehn neue auf. Und der waffenstarrende Wall, der ihnen den Weg zu den Hügeln versperrte, wurde mit jedem Atemzug dichter. Und ein Schwert traf Churms Helm, eine Axt seine Hüfte, ein Spieß seinen Schenkel. Seine Panzerung hielt. Aber die Stöße schmerzten. Betäubung trübte seine Gedanken. Indessen zuckte die Klinge Gly wie ein eigenständiges, lebendes Wesen auf und ab und schlitzte metallene Brustpanzer auf, legte Finsternis bloß, Finsternis und üblen Brodem, so daß die Schatten der nachtmahrischen Seele wie Nebel wallten, und aus dem Nebel sprachen Stimmen zu Churm. Du riechst nach Hörn, nach dem alten Feind... Erwacht, erwacht! Und dich will ich trinken... Gib auf, mein Schatz, gib her dein Fleisch... ... und laß an deiner Seel mich laben. Lüsternes Geflüster. Der Nachtmahr sprach und lockte ihn. Und Churm wurde müde. Süße Mattigkeit fiel über ihn. Der -74-
Mahr, der kosmische Nachtmahr rief. Flößte ihm Sehnsucht ein, schmerzliche Lust. Lust, sich hinzugeben. Lust, sich aufzugeben. Jene verschrobene, nichtmenschliche Lust, die Befriedigung in der Selbstzerstörung fand, im eigenen Tod nach namenlosen Schrecken. Die ihm Bilder vorgaukelte, verführerisch wie der feuchte Schoß einer Frau, wie klaffende Lippen zwischen klaffenden Schenkeln; Bilder von schwarzen Welten im Eis, von Höhlen, die noch kein menschliches Auge gesehen, Kavernen in drückender Tiefe, wo kein Laut war, wo es kein Leben gab, nur Kälte und Leere und monströse Gier. Bilder vom mahrischen Totentanz, ein wahnwitziger Reigen ohne Anfang und Ende, ein Wirbel aus Schwingen und schlingendem Schlund, ein Schlund, der ihn verschlucken wollte. Kraftlos wehrte er sich. Während die Klinge Gly Metall zerschnitt. Während die Hornhände zu eigenem Willen erwachten und mit furchtbarer Entschlossenheit den Menschenleib zu schützen suchten, mit dem sie verbunden waren. Komm, mein Herz, mein liebster Freund, flüsterte der Nachtmahr mit zärtlicher Stimme. Komm heim zu mir und leg dich zur Ruh. Hier, wo ich bin, gehörst du hin... Furchtsames Grollen drang aus Fes umpanzertem Maul. Wie aus weiter Ferne drang es an Churms Ohr. Er stöhnte, versuchte sich zu besinnen, dieses schaurige Gewisper aus seinem Kopf zu vertreiben. Komm schon, komm schon, komm zu mir, zur Angst, zum Tod, und leg dich zur Ruh... Churm schrie. Schrie sein Grauen hinaus, als er spürte, wie er den Halt verlor, den letzten Halt, und wie der Schlund sich um ihn schloß. -75-
Sein Schrei verklang. Traurig machte er sich zum Sterben bereit. Und in diesem Moment riß der Himmel auf. 4. Kapitel Sardor And all the Gods, and all the Heroes, woke And front their beds the Heroes rose. - Mathew Arnold »Balder Dead«, 1855 Er kam aus der Hölle und fand die Hölle vor. Er hatte den bittersüßen Geschmack des Wahnsinns gekostet, und der Wahnsinn ließ ihn nicht mehr los. Er war ein deutscher Flieger aus dem Jahr des Herrn 1917 A.D., aber das Land, das sich unter ihm von Horizont zu Horizont erstreckte, war nicht Deutschland, nicht einmal ein irdisches Land. Und der Himmel über ihm, dieser graue, purpurne und violette Himmel, von kosmischen Gewalten zerrissen, dieser Himmel mit seiner aberwitzigen Zyklopensonne, die rot wie eine Tollkirsche aus der Titanen Reich den vierten Teil des Fimaments ausfüllte, dieses ganze gottlose Panorama hatte nichts mit der Schöpfung des Allmächtigen zu tun. Wie die unlöschbaren Flammen des Fegefeuers brannte die geblähte rote Sonne auf eine Bergkette herab, neben der selbst die höchsten Gipfel des Himalayas wie Maulwurfshügel wirken mußten. Von rostrotem Schnee wie von Schorf verkrustet, erstreckte sich dieses düstere, zerklüftete Massiv von Nord nach Süd und schien nirgendwo ein Ende zu finden. Halb von Wolken verhüllt, die wie schmutzige Wattebäusche waren, wie Verbände auf entzündeten Wunden, lastete das satanische Gebirge auf der Scholle dieses fremden Kontinents und hatte mit seinem Gewicht die Ebene splittern lassen, die sich an seinen westlichen Flanken erstreckte. Schwarze Spalten klafften im Boden, von steil aufragenden Klippen und schwindelerregend hohen Felsnadeln überschattet. Bleiche Vegetation wucherte am -76-
Fuß der Klippen, der schrundigen Hänge, und wurde im Tal von orangener Glut verdrängt. Warnstein wußte nicht, was er scheußlicher fand: Das Madenweiß des Pflanzenteppichs, aus dem hier und da rostrote Flecke hervorsahen, oder das unheilvolle Glosen der Ebene, die sich in ihrer blasphemischen Häßlichkeit daran gemacht hatte, das Sonnenfeuer nachzuäffen. Und die Spalten! Wie ein Spinnennetz, von einer wahnsinnigen Spinne ohne Symmetrie über das Land geworfen. Rabenschwarz im glosenden Orange, teils breit, teils schmal, und mit gezackten Ausläufern nach einem breiten Fluß tastend, der sich von den Gletschern der Bergkette gespeist in gemächlichen Windungen nach Westen wälzte. Der Fluß brauchte einen Vergleich mit dem deutschen Rhein nicht zu scheuen, aber statt der klaren blauen Fluten jenes vertrauten Stroms schwappte eine dampfende rote Brühe in seinem Bett. Als würden die Berge bluten und ihren Lebenssaft in dieser offenen Ader verströmen. Am Nordufer des satanischen Gewässers entdeckte Dietrich von Warnstein geometrische Muster. Vor Verblüffung stieß er einen gellenden Schrei aus. Bei Gott, eine Stadt! Wirklich und wahrhaftig eine Stadt! Aber keine Stadt, wie er sie kannte. Aus weißem Stein errichtet, schien sie Wacht am Höllenstrom zu halten, mit Hunderten hohen, schlanken Türmen, mit zinnenbewehrten Wällen, deren Größe sich nur erahnen ließ, mit einem kolossalen Bauwerk in der Mitte, das Türme und Wälle gleichermaßen überragte und doch zu gewaltig war, um selbst ein Turm zu sein. Tod und Teufel, war da eine Glocke an der Spitze dieses Riesenbaus? Eine Glocke, in der gut und gerne ein ganzes Regiment Platz -77-
finden konnte? Warnstein wandte den Blick von den blendendweißen Mauern dieser unheimlichen Stadt ab. Eine schreckliche Ahnung war in ihm. Kein Mensch konnte eine derartige Stadt errichten. Kein Mensch konnte derartige Wälle auftürmen, neben denen sogar der Eifelturm von Paris winzig wirken mußte. Diese Stadt war selbst ein Gebirge, ein künstliches Gebirge, von Dämonenhand aus gewachsenem Granit gemeißelt und mit der weißen Farbe der Unschuld maskiert. Er wollte nicht wissen, wer in dieser schrecklichen Titanenstadt hauste. Und er wollte nicht wissen, wer jene andere, weiter westlich gelegene Stadt errichtet hatte, dort, wo sich der blutige Fluß in einen ebenso blutigen See ergoß. Kleiner war sie, aber nicht minder phantastisch als die weiße Zitadelle. Ganz aus Gold und Silber bestanden die seltsam zwiebeiförmigen Häuser, die domartigen Paläste und die filigranen Brücken, die die Gebäude miteinander verbanden. Wo Stadt und See zusammentrafen, machte das Ufer einen geraden, gezähmten Eindruck; Hafenanlagen, gewiß: Der Kai aus purem Gold, die Landungsstege aus Silber oder Platin, aber nirgendwo ein Schiff. Nur die blutrote Seeoberfläche und das blitzende Edelmetall am Ufer. Noch weiter im Westen veränderte sich die Farbe des Sees. Tupfer aus Purpur, Braun und Schwarz, die bald zu einer einzigen Fläche zusammenwuchsen. Sumpf, dunstverhangen. Mit purpurnen Gewächsen, die aus Nebelschwaden hervorlugten. Gewächsen, die an Gerüste gemahnten. Daß er aus dieser Entfernung ihre Form ausmachen konnte, verriet, daß sie groß sein mußten. Groß wie alles in diesem höllischen Reich, wie die Sonne, das Gebirge, die knochenweiße Stadt am Fluß. Zufrieden schnurrte der Mercedes-Motor des Albatros, -78-
offenbar erleichtert, den Gewalten der Gewitterfront und dem Mahlstrom aus Feuer und Dämonenfratzen entkommen zu sein. Wind pfiff Warnstein übermütig ins Gesicht; kalter Wind, der seltsam roch. Unbestimmbar, fremd. Kein Geruch, der Warnstein vertraut war. Und er wünschte, er hätte ihn nie kennengelernt. Denn hinter seiner unbestimmbaren Fremdheit verbarg dieser Geruch etwas. Wissen? Drohung? Faustische Erkenntnis? Oder Tod...? Dietrich von Warnstein biß die Zähne zusammen. Nur nicht die Nerven verlieren, dachte er. Reiß dich zusammen. Wenn du alles andere überstanden hast, dann wirst du auch dieses hier überstehen. Durchhalten, Leutnant von Warnstein, durchhalten, bis dieser Alptraum endet. Bis du erwachst. Aber war es denn ein Traum? Gab es für ihn überhaupt ein Erwachen? Mit einem gepreßten Fluch klammerte er sich an den Steuerknüppel. Wie gut es doch tat, das polierte Holz zu fühlen! Wenn ihm dieses ganze schreckliche Reich unter der roten Sonne auch fremd war - er hatte den Albatros. Die Maschine verband ihn mit der wirklichen Welt, mit dem deutschen Vaterland, das in den schrecklichsten aller Kriege der Menschheitsgeschichte verstrickt war. Um in diesem Ringen der Völker zu bestehen, brauchte das Deutsche Reich jeden Mann. Heim! sagte sich Dietrich von Warnstein. Ich muß versuchen, einen Weg aus dieser Hölle zu finden ‹r.. Also orientieren. Fakten sammeln. Lernen, was es über diese Welt zu lernen gibt. Ich bin hierhergekommen, also gibt es einen Weg, der mich auch wieder zur Örde führen kann. -79-
Fröstelnd wurde ihm bewußt, daß er sich sahon damit abgefunden hatte, nicht mehr auf der Erde zu sein. Allein diese unmögliche Sonne! Dieser brodelnde, geblähte Ball über seinem Kopf! Allmächtiger, an welchen Ort in Gottes großem Reich hatte es ihn nur verschlagen? Sofern dies überhaupt ein Teil von Gottes Reich war. Sofern er sich nicht in der Hölle selbst befand. ' Diese Sonne... Schaudernd wandte er den Blick von ihr ab. Sie war gigantisch, aber nicht so hell wie die gelbe Sonne, wie sie jeden Morgen über seiner ostpreußischen Heimat aufging. Das Gut Warnstein... Er sah es in diesem Moment vor sich: das prächtige Herrenhaus, die Behausungen der Dienstboten und Knechte, die Ställe und Schuppen und die weiten, fruchtbaren Felder, die sich bis zum Horizont dehnten. Grüne Felder und bunte Wiesen, wo genug Blumen wuchsen, um die Floristen von ganz Berlin zu versorgen. Und die schwarzen Schollen der Äcker... Aber hier brannte das Land in orangenem Feuer, und die Wasser der Flüsse waren rot wie Blut, die Berge und Gletscher von rostigem Ton, und die Städte waren weiß und für Riesen gebaut oder aus Gold und anderem Edelmetall gegossen... Warnstein schüttelte die Erinnerungen ab. Wenn er Ostpreußen jemals wiedersehen wollte, mußte er sich auf die Gegenwart konzentrieren. Träumen half ihm nicht. Vor allem dann nicht, wenn er sich wirklich in einem Traum befand, der nur dem Gehirn des Großen Versuchers entsprungen sein konnte. Wieder richtete er den Blick nach Norden. Jenseits der Stadt breitete sich jenes eigentümliche orangene Glühen bis zum Horizont aus. Brannte der Boden wirklich, oder war es nur eine verzerrte Reflexion des Kirschlichts? Bestand der Boden aus Kristall? Aus spiegelndem Metall? Oder gab es hier Gewächse, die von innen her leuchteten? Nach den -80-
Gitterbäumen, die er im Dunst der westlichen Sümpfe entdeckt hatte, hielt er alles für möglich... Aber da! Eine Straße? Dunkel und in sanften Windungen stieg ein breites Band vom Hochland des Nordens herab. Die Straße - wenn es eine Straße war - reichte bis zur weißen Riesenstadt. Auf halbem Weg zwischen Fluß und Horizont passierte sie einen wunderlichen Berg: Der Gipfel des Berges war geborsten. Ein Krater gähnte schwarz. Ein Vulkan? Warnstein runzelte die Stirn, während er den geborstenen Berg betrachtete. Etwas stimmte nicht mit diesem Berg. Er spürte überdeutlich eine Drohung, die Gegenwart von etwas Bösem, etwas Unmenschlichem. Unsinn! Er lachte und fuhr unter dem schrillen Klang seines Gelächters zusammen. Die Nerven behalten! sagte er sich. Zum Teufel mit diesem verwunschenen Berg. Und überhaupt - wie konnte er auf diese Entfernung etwas spüren, vorausgesetzt, in jenem finsteren Krater lauerte etwas, das genug Bosheit besaß, um ein Ungeheuer, ein Dämon zu sein? Die Einbildung mußte ihm einen Streich spielen. Schließlich war er erschöpft. Strapazen lagen hinter ihm, die manch anderer wohl nicht überstanden hätte, ohne den Verstand zu verlieren. Warnstein entschied, den Berg zu meiden. Was dort auch hausen mochte - er wollte nichts damit zu tun haben. Und selbst wenn er sich alles nur eingebildet hatte, würde er keinen Fuß in die Nähe des Berges setzen. Außerdem, was ging ihn dieser verfluchte Vulkan an? Und dann, zum erstenmal, seit er das Licht der roten Sonne gesehen hatte, beugte er sich über den Rumpf des Albatros und warf einen Blick auf das Land unter ihm. -81-
Hügel. Schwarze Hügel. Dahinter Wälder, aber keine normalen Wälder, keine irdischen Wälder mit Eichen und Buchen, Ahorn und Kastanien, mit Tannen und Kiefern und sonnigen Lichtungen... Diese Wälder wurden von kolossalen Pilzen gebildet. Pilze, groß wie Häuser. Verrückt, völlig verrückt! Vielleicht hatte er doch den Verstand verloren, und seine Augen sahen nicht die äußere Welt, sondern das kranke Reich der Phantasie. Und dort! Großer Gott! Großer Gott! Dort, wo die Hügel in die Ebene übergingen! Keine orangene Glut, sondern Grau, in dem es glitzerte, Grau, das bis zum Fluß reichte. Und in dem Grau wimmelten... Menschen? Teufel? Er wußte es nicht. Und wenn es um sein Leben gegangen wäre - er hätte es nicht zu sagen gewußt. Er wußte nur, daß diese Gestalten zu Tausenden und Abertausenden im glitzernden Grau wimmelten, am Fuß der Hügel hin und her wogten, wie besessen in einen höllischen Tanz verstrickt. Er war zu hoch, um Einzelheiten erkennen zu können, aber jetzt bemerkte er auch, daß weitere Scharen durch den Fluß wateten und sich den Heeren auf der Ebene anschlössen. Heere? Waren es Heere? Hatte es ihn von den Schlachtfeldern Verduns und der Marne in diese unirdische Region verschlagen, nur damit er ein weiteres Schlachtfeld vorgeführt bekam? Und wenn diese Winzlinge dort unten Soldaten waren - zum Teufel, wer kämpfte gegen wen? Warnstein lauschte. Der Motor war laut, aber nicht laut -82-
genug, um Kanonendonner zu übertönen. Also keine Artillerie. Wilde? Einfältige Eingeborene wie im schwülen Afrika oder im fernen China, die mit Äxten und Keulen aufeinander losgingen? War es möglich, daß ihm seine überreizten Sinne einen Streich spielten? Daß er in Wirklichkeit durch göttliche Fügung oder durch eine satanische Posse nach Asien gelangt war, nach Afghanistan, wo die grimmigen Bergvölker keinen Tag verstreichen ließen, ohne sich die Schädel einzuschlagen? War dieses Bergmassiv doch der Himalaya? Verzerrten heiße Luftschichten das Bild der Sonne, daß sie ihm so rot und riesig vorkam? Dietrich von Warnstein schüttelte den Kopf. Er wollte immer noch nicht wahrhaben, daß dies nicht die Erde war, und griff verzweifelt nach jedem Strohhalm. Die Stadt, der Fluß, die pilzförmigen Bäume! Jesus Christus, auf dem ganzen Erdball, nicht einmal in Afghanistan oder Tibet oder im unerforschten Herzen Afrikas konnte es derartige Bäume geben! Finde dich mit der Wahrheit ab, Dietrich von Warnstein, dachte er. Nur wenn du dich der Wahrheit stellst, wird es eine Rückkehr nach Deutschland geben... Er nickte mehrmals, wie um seinen stummen Entschluß zu bekräftigen, und ließ den Albatros abrupt zur Seite und in die Tiefe kippen. Der Wind pfiff ihm lauter um die Ohren. Die Tragflächen knarrten, die ganze Maschine ächzte, und erschrocken mäßigte er den Sturz. Das fehlte ihm noch, daß er durch seinen Leichtsinn den Albatros ruinierte. Wenn die Tragflächen brachen, war alles aus. Der rote Vogel schoß durch die Lüfte. Schräg wies die Schnauze mit dem wirbelnden Propeller auf den fernen Erdboden, die wimmelnden Gestalten, die schwarzen Wellen der Hügel. Warnsteins Herz klopfte in der Brust, als wollte es aus seinem knöchernen Käfig entfliehen. Sein Mund war trocken. Die Fliegerbrille schützte seine Augen vor dem scharfen Wind, -83-
der seine durchnäßte Kleidung rasch trocknete. Die glatten Haarsträhnen, die unter der Mütze hervorschauten, flatterten wie fröhliche Wimpel. Von einem Moment zum anderen fiel die Panik von Warnstein ab. Hol's der Teufel, dachte er, es gibt kein Land im ganzen Universum, das ein deutscher Offizier nicht bezwingen kann! Und wenn die ganze Welt voll Teufel war7... Na, wenn schon, dann auf sie mit Gebrüll! Er lachte in den Wind. Er stürzte tiefer und tiefer. Huschte über die Hügel hinweg, drehte eine weite Schleife und näherte sich ihnen erneut von Norden her. Endlich konnte er Einzelheiten erkennen. Ein Laut der Überraschung entschlüpfte seinen Lippen. Tatsächlich! Menschliche Gestalten! In Rüstungen, die jeden Zentimeter Haut bedeckten. Aberwitzige Ritter ohne Roß, die trotz ihrer metallenen Last flink wie Windhunde über die graue Ebene hetzten. Mit Äxten und Schwertern in den Eisenhandschuhen. Überall das Klirren von Metall, Rasseln und Scheppern. Aber keine Schreie, nicht hier, am Rand des eigentlichen Schlachtfeldes. Und keiner dieser sonderbaren Ritter beachtete ihn. Hörten sie ihn nicht? Dämpften ihre Rüstungen den dröhnenden Motorenlärm des Albatros? Zumindest sehen mußten sie ihn! Schließlich - sie konnten ja nicht blind auf ihre Feinde losstürmen. »Na wartet«, preßte Warnstein zwischen den Zähnen hervor. Wie kamen diese Wilden dazu, seinen Albatros so frech zu ignorieren? Hochmütige Bande! Also tiefer mit der Kiste! Dicht über die Eisenköpfe hinweg! Ein matter Stoß. Von unten. Wie von einem Schlag. -84-
Warnstein fuhr in seinem Sitz herum und sah zurück. Er riß den Mund auf. Stand da doch einer dieser Kerle in voller Rüstung und drohte ihm mit einem Schwert, das so lang wie ein ausgewachsener Mann sein mochte. Wahrscheinlich hatte der Lump auch noch die Dreistigkeit besessen, mit diesem Schwert nach dem Albatros zu schlagen. Darum wohl der Stoß. Warnstein fluchte und drehte sich wieder nach vorn. Klug geworden, ließ er die Maschine ein wenig steigen. So. Jetzt würde keiner von diesen klirrenden Hundesöhnen den Vogel mit Schwert, Axt oder Spieß erreichen können. Die Hügel kamen näher. Noch immer waren nur diese grotesken Ritter zu sehen. Wo steckten ihre Feinde? Waren sie so unterlegen, daß sie in der Masse der Ritter untergingen? Und die Ritter selbst... Gespenstische Burschen. Wie schnell sie waren. Und wie wenig der Albatros sie beeindruckte. Hatten sie schon mit Flugzeugen zu tun gehabt? Oder waren sie einfach zu dumm, um sich zu wundern? Warnstein machte ein finsteres Gesicht. Das gefiel ihm nicht. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Die Ritter... Nein, ein falscher Ausdruck. Diese Kreaturen hatten nichts mit den Rittern des Mittelalters gemein. Sogar die Rüstungen, die zuerst so vertraut gewirkt hatten, waren beim näheren Hinschauen fremd, unirdisch, unheimlich. Das Metall war dunkelrot. Vielleicht vom Sonnenlicht, vielleicht von Blut. In die Brustpanzer waren Symbole geritzt, und obwohl Warnstein sie nicht genau betrachten konnte, weil er zu schnell dahinflog, flößten ihm die Muster Furcht ein. Oder lag es gar nicht an den Mustern? Spürte er Furcht, weil er erneut jene böse, nichtmenschliche Aura fühlte, die auch von dem fernen Berg mit der geborstenen Spitze ausgegangen war? Instinktiv wußte Warnstein, daß er recht hatte. Und wie schnell diese gepanzerten Kreaturen sind! dachte er wieder. Geradezu unheimlich. Kein Mensch kann mit einer derartigen Metallast so schnell laufen! Selbst wenn die Rüstungen nur hauchdünn sein sollten - sie -85-
hindern, sie stören. Im besten Fall dürften die Kerle klirrend marschieren... Immer größer wurden die Hügel. Da! Ein menschliches Gesicht in diesem alptraumhaften Eisenwall! Schon war er vorbei, aber er war überzeugt, ein menschliches Gesicht gesehen zu haben. Bärtig und wild. Wie unter Schmerzen verzerrt. Aber ohne Zweifel das Antlitz eines Menschen! Menschen in dieser höllischen Region! Gütiger Himmel, waren diese Bärtigen gar die Feinde der Gepanzerten? Warnstein ließ den Albatros ein paar Dutzend Meter steigen, um einen besseren Überblick zu gewinnen. Plötzlich leuchteten seine Augen auf. Ja! Er hatte sich nicht geirrt! Da und dort und dort - kleine Gruppen bärtiger Männer in schwarzen Brustpanzern und mit rötlichen Helmen. Wie rasend schlugen sie mit Schwertern und Äxten auf die Reihen der dämonischen Ritter ein und... Warnstein schrie auf. Das Blut gefror ihm in den Adern. Heiliger Gott im Himmel, einer der Bärtigen hatte mit einem gewaltigen Axthieb den Kopf eines Ritters abgetrennt, aber aus der schrecklichen Wunde drang kein Blut. Da war nicht einmal Fleisch. Da war... nichts. Nichts? Und dieser Schatten, der aus der Rüstung entwich? Wie ein Nebelstreif? Der Schatten, der dann im Kirschlicht verschwand? Voll Grauen sah sich Warnstein um. Unter ihm wogte der tödliche Kampf, schlugen klirrend Klingen aufeinander, klang hier und dort ein röchelnder Todesschrei auf, aber nicht einer der Ritter vergoß einen Tropfen Blut. In den Rüstungen steckten keine Menschen. Sie waren leer. -86-
Aber wie bewegten sie sich? Wer hatte von dem starren Metall Besitz ergriffen, wer lenkte die eisernen Glieder. »Besessen«, flüsterte Warnstein. Er war bleich wie der Tod. Kalter Schweiß perlte von seiner Stirn. Er riß die Fliegerbrille vom Kopf. Er spürte, wie ihm schlecht wurde, und zwang sich mit aller Kraft, den Brechreiz zu unterdrücken. Und als hätte das Grauen seinen letzten Trumpf für diesen Moment aufgespart, fiel Warnsteins Blick auf eine weitere Gruppe Kämpfer mit rötlichen Helmen und schwarzen Brustpanzern. Kämpfer ohne Barte. Mit weicher Haut und zarten Zügen. Mit langen Haaren, die unter dem Nackenschutz hervorschauten und wild flatterten. Frauen! Mutter Gottes, dort kämpften Frauen gegen die dämonischen Rüstungen! Wieder eine Drehung des Kopfes, und den Steuerknüppel zur Seite gelegt, daß der Albatros aus dem Kurs ausscherte, der ihn geradewegs in die Böschung der schwarzbemoosten Hügel geführt hätte. Ja, die Bärtigen und ihre kriegerischen Frauen waren hoffnungslos unterlegen. Auf jeden von ihnen kamen dreißig oder vierzig der lebenden Rüstungen. Sie würden alle sterben... Nein! dachte Warnstein. Ich werde es nicht zulassen. Ich werde Ein Schrei zerschnitt die Luft, den Motorenlärm, den Gedanken, der soeben in seinem Kopf entstand. »Sardor!« Warnstein fuhr hoch. Sardor! Er kannte den Namen! Die Stimme, die in jenem höllischen Mahlstrom zu ihm gesprochen hatte... Auch sie hatte ihn Sardor genannt. »Sardor!« Wieder der Ruf. Drängend und triumphierend zugleich. -87-
Warnstein sah sich suchend um und entdeckte schließlich das Nashorn. Nashorn? Nein, es war keins von diesen urtümlichen Ungeheuern Afrikas. Es war größer. Drei- oder viermal so groß. Und das Hörn war weiß, lang, dick; zu lang und zu dick für ein gewöhnliches Rhinozeros. Der Leib war geschuppt, und über den Rücken zog sich ein Drachenkamm. Der Schwanz war eine muskulöse Peitsche mit einer Art Morgenstern als Quaste. Und dieses Monstrum hatte sechs Beine. Beine wie Säulen. »Ich will verdammt sein!« entfuhr es Warnstein. Im Nacken des Untiers saß ein bärtiger Kerl mit schwarzem Brustpanzer und stahlgrauem Helm, und wie als Tribut an sein titanisches Roß hatte der bärtige Unhold den Helm mit zwei spitzen Hörnern aus Gold geschmückt. Das Gesicht unter diesem barbarischen Kopfputz war verzerrt, sofern sich dies trotz des wuchernden Bartes feststellen ließ, und der Kerl schwenkte grüßend ein schwarzblaues Schwert. Das ungeheure Roß warf sich herum und stürmte dem Doppeldecker entgegen, der sich bereits in gefährlicher Bodennähe befand. Mit einer Verwünschung stieg Warnstein hoch, beschrieb eine enge Kurve und steuerte wieder auf das schuppige Roß des Fremden los. Himmel und Hölle! Lachte der Kerl doch wahrhaftig! Lachte mitten auf einem Schlachtfeld, auf dem Dämonen mit barbarischen Kriegern rangen, lachte lauthals, während sein Teufelsroß die besessenen Rüstungen zermalmte. »Sardor!« schrie der Schwarzbart wieder. Und dann: »Du bist gekommen! Du hast den Ruf gehört, Sardor!« Im ersten Moment begriff Warnstein nicht, doch dann saß er wie vom Donner gerührt da. Angst schnürte ihm die Kehle zu, -88-
eine schreckliche, eisige Angst, wie er sie nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte. Du bist gekommen! Du hast den Ruf gehört, Sardor! Es war unmöglich, ganz und gar unmöglich. Wie um alles in der Welt konnte dieser heidnische Unhold auf seinem nicht minder heidnischen Roß Deutsch sprechen? Wie war es möglich, daß Warnstein ihn verstand, wo dieser Barbar doch aus einer Welt stammte, die nie und nimmer die Erde war? Aber sprach der Schwarzbart wirklich Deutsch? Konnte es nicht sein, daß irgend etwas mit Warnsteins Kopf geschehen war, während des Sturzes durch den roten Mahlstrom? Diese Stimme, die Stimme des Sturmwinds... Hatte sie etwas mit seinem Verstand angestellt? Er schluchzte. Er war nahe daran, dem Wahnsinn zu verfallen - wenn er nicht schon verrückt war. »Sardor!« brüllte der rasende Heide und galoppierte unter dem Doppeldecker hinweg, riß sein schuppiges Höllenroß herum und ließ das blauschwarze Schwert auf eisengepanzerte Köpfe niedersausen. »Gott Sardor!« Gott Sardor! Genau das hatte ihm noch gefehlt. Reinste Blasphemie! Wie konnte es dieser aberwitzige Heide wagen, Gott den Allmächtigen zu lästern, von dem er obendrein wahrscheinlich noch nie etwas gehört hatte! Warnsteins Gesicht lief dunkelrot an. Sein Zorn - ein heiliger Zorn, wie ihn nur ein Christenmensch empfinden konnte, wenn er Zeuge einer unverzeihlichen Gotteslästerung wurde - dieser Zorn wischte alle Angst fort. »Angst, ha!« brüllte Warnstein. Er knirschte mit den Zähnen. »Gott Sardor - pah! Ich werde dich lehren...« Von allen Seiten brandete nun der Ruf heran, aus tausend heidnischen Kehlen grollte er über die Reihen der besessenen -89-
Rüstungen, deren Angriff plötzlich ins Stocken geriet. »Sardor! Sardor! Sardor!« »Warnstein!« kreischte Warnstein und richtete sich halb auf, damit die Heiden ihn auch sehen konnten. »Ich bin Dietrich von Warnstein, Leutnant in der Fliegertruppe Seiner Majestät Kaiser Wilhelm des Zweiten! Dietrich von Warnstein! Zur Hölle mit eurem Sardor!« Aber die heidnischen Wilden schienen nur das letzte Wort gehört zu haben, denn sie brüllten noch lauter und stimmten schließlich einen tolldreisten Sprechgesang an, in dem die Worte »Sardor«, »Tod« und »Gott« sich immer wiederholten. Sie johlten und schüttelten grimmig ihre Äxte, Schwerter und Spieße, steigerten sich in berserkerhafte Wut und droschen dann mit neuem Schwung auf die Rüstungen ein, die unter der Wucht der Attacke zurückwichen. Während Warnstein, vor Zorn an allen Gliedern zitternd, dicht über dem Boden seine unentschlossenen Kreise zog, nahm unten das aberwitzige Ringen seinen Fortgang. Warnstein beobachtete einen Heiden, der nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen schien und der mit Schaum vor dem Mund auf alles einhieb, was sich ihm in den Weg stellte. Dabei schrie er irgend etwas, das wie »Laßt sie mir! Sie sind mein!« klang, aber das Motorengeräusch übertönte zuweilen seine Worte, und Wamstein fragte sich, ob er sich das Gebrabbel nicht nur einbildete. Insbesondere die Weiber wirkten jetzt wie entfesselt. Mit glasigen Augen verfolgte der Flieger, wie sie tief in die Reihen der Rüstungen eindrangen, ihre dünnen, tödlichen Schwerter kreisen ließen, einige Dutzend Dämonen niederstreckten und sich blitzartig wieder zurückzogen. Aber trotz ihres Mutes, ihrer berserkerhaften Raserei waren die Erfolge der Barbaren nicht von Dauer. Zu viele Feinde standen ihnen gegenüber, Feinde, die keine Müdigkeit kannten, und ständig marschierten weitere Truppen klirrend und rasselnd -90-
vom Fluß heran. Warnstein rang sich zu einem Entschluß durch. Mochten sie auch Heiden sein; mochten sie in ihrem Unverstand auch Gott lästern und ihn in ihrer Einfalt für jemand namens Sardor halten - sie waren dennoch Menschen. Und ihre Gegner Dämonen, böse Geister, Kreaturen der Finsternis, die Metall für ihre mörderischen Pläne mißbrauchten. »Also gut!« schrie Warnstein zum Schlachtfeld hinunter. »Wollen wir doch sehen, ob sich Metall nicht mit Metall vertreiben läßt!« Der Motor brüllte auf. Der Albatros machte einen wilden Satz und schoß in die Höhe, drehte einen Looping und raste dann schräg auf einen Trupp der dämonischen Rüstungen zu. »Attacke!« kreischte Warnstein, sich nicht bewußt, daß sein Gesicht verzerrt war, daß seine Augen wie im Fieber flackerten und daß Blut von den Lippen tropfte, die er längst zerbissen hatte. Zuviel war in den letzten Stunden auf ihn eingestürmt. Sein Geist war umschattet, und der Angriff, den er flog, war ein selbstmörderisches Unternehmen. Die Maschine ächzte und schüttelte sich, schien jeden Moment auseinanderbrechen zu wollen, doch er achtete nicht darauf. Statt dessen gab er Gas. Und ließ das Maschinengewehr rattern. Eine Bombe schien in den Reihen der Rüstungen zu explodieren. Die Kugeln durchbohrten die eisernen Gestalten, und wo sie trafen und Löcher schlugen, quoll schwarzer Dunst heraus und entfloh. Und die Rüstungen stürzten klirrend und polternd zu Boden und rührten sich nicht mehr. Warnstein knirschte mit den Zähnen und ließ den roten Vogel erneut steigen, erneut eine Schleife fliegen, erneut einen Pulk Rüstungen ansteuern. Das Maschinengewehr donnerte. Zu Dutzenden fielen die -91-
Rüstungen. »Attacke!« kreischte Warnstein wieder. Und er stieg und stürzte, schickte Garbe um Garbe in das dämonische Heer, und Rüstung auf Rüstung brach scheppernd zusammen, bis der ganze Himmel von den schwarzen Nebelschleiern verhangen war und betäubender Geruch über allem lastete. Ein schrecklicher Geruch, von dem Warnstein glaubte, daß er dem tiefsten Höllenpfuhl entstieg, und Angst schlich sich kalt in seinen fiebrigen Rausch, und der Wahnsinn raunte ihm böse Dinge zu, Dinge, die er sofort vergaß, weil sie zu grausig waren, und der Albatros huschte mit ratterndem MG und dröhnendem Motor über die graue Ebene, bis die Zeit jede Bedeutung verlor. Und dann, irgendwann, zogen sich die Rüstungen zurück. In wilder Flucht stürmten sie zum fernen roten Fluß, und der Doppeldecker stieß immer und immer wieder auf sie nieder, und dann war die Ebene leer. Grau lag sie da, bedeckt von matten Glassplittern und reglosen Eisenteilen, und Warnstein erwachte aus seinem Rausch. Wie betäubt sah er nach unten, wo sich die bärtigen Heiden am Fuß der Hügel sammelten. Kleine Trupps wanderten über das Schlachtfeld, auf der Suche nach ihren Toten und Verwundeten, und der Schwarzbart auf seinem phantastischen Streitroß winkte dem Flieger auffordernd zu. Wenige Minuten danach landete der Albatros D-II1 vor den dunkelbemoosten Hügeln. Der Motor erstarb. Es wurde still. Müde, seltsam leer in Kopf und Herz, blickte Dietrich von Warnstein auf und starrte direkt in das Gesicht des Schwarzbarts. »Sardor?« sagte der Heide. Warnstein hob abwehrend die Hand. -92-
»Warnstein«, krächzte er. »Leutnant Dietrich von Warnstein. Vom Richthofen-Geschwader. Fliegertruppe des Deutschen Reiches. Im Dienst Seiner Majestät Kaiser Wilhelm des Zweiten. Nicht Sardor. Warnstein. Dietrich von Warnstein...« Mitgefühl schimmerte in den Augen des Heiden auf - Großer Gott, der Kerl hatte Augen aus purem Silber! - und er ergriff Warnsteins erhobene Hand. »Der Schlaf der Toten«, sagte der Heide dröhnend und laut genug, daß ihn seine barbarischen Freunde hören konnten, die einen weiten Kreis um den Doppeldecker gebildet hatten, »der Schlaf der Toten ist zu tief, als daß sie schnell daraus erwachen können. Sardor ist wach, aber ein Teil von ihm schläft noch immer, schläft und träumt in einem fremden Land...« Ein Lächeln teilte den buschigen schwarzen Bart. Die Silberaugen wanderten über den rotlackierten Rumpf des Albatros, über die doppelten Tragflächen. Und er grollte: »Ah, das ist gut. Ein guter Plan, Sardor! Dich in die Lüfte zu schwingen - wie der Nachtmahr...« Warnstein starrte die Hand des Heiden an. Was er zunächst für einen schwarzen Handschuh gehalten hatte, war in Wirklichkeit... Hörn. Geschmeidig, beweglich, aber unzweifelhaft Hörn. Aufkeuchend zog der Flieger seine Hand zurück. »Der Nachtmahr?« wiederholte er benommen. Der Heide nickte weise. »Der Nachtmahr. Er wartet auf dich. Auf dich und mich. Jenseits der Stryge. Im Geborstenen Berg.« Dann lachte er dröhnend, und Warnstein sah ihn an, und dann begriff er. Er sank in gnädige Ohnmacht. 5. Kapitel In der Gruft A carven slab recalls his name and deeds, Writ in a language no man living reads. -93-
- Agnes Mary Robinson »Etruscan Tombs«, 1888 Hier war es kühl und angenehm still. Fort war der Schlachtenlärm, der Stimmen Raunen, das Geklirr von Metall auf Metall. Fort war das erbarmungslose Licht, das wie strahlendes Blut von einem Himmel tropfte, der nicht der Himmel der Erde war. Fort waren die Toten und die zerschlagenen Rüstungen. Nur Kühle war hier. Und Stille. In angenehmer Dämmerung. Dietrich von Warnstein hatte die Augen aufgeschlagen und versuchte, sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Er schnüffelte und roch Erde, Staub und etwas Strenges, Fremdes, aber nicht so fremd wie der Gestank, der aus den Rüstungen gekrochen war, sobald ein Schwert sie gespaltet, ein Spieß sie durchbohrt, eine Axt sie zerschmettert hatte. Noch sah er nichts, nur Schatten, sonderbar geformt, die ebenso Geschöpfe seiner überhitzten Phantasie sein konnten. Er fühlte sich zerschlagen, aber die Müdigkeit war fort. Durst plagte ihn, und er sagte: »Hallo? Ist da jemand?« Knirschen im Zwielicht wie Schritte auf Sand. Dann ein Klirren. Etwas Blaues näherte sich ihm, ein langer Gegenstand, der von innen heraus blau leuchtete. Ein Schwert, dachte er. Es ist ein Schwert. Neben dem Schwert eine menschliche Gestalt, schwärzer als die Dunkelheit. »Du bist es!« stieß Warnstein hervor. »Der Schwarzbart! Der Mann mit den Hornhänden...« Leises Gelächter antwortete. Dunkle Laute, die zur Dämmerung paßten. »Ich bin es«, bestätigte der Schwarzbart. »Churm vom Orden des Horns. Der letzte Ordensmann.« -94-
»Der letzte?« wiederholte Warnstein. Er richtete den Oberkörper auf, stützte sich auf die Ellbogen. Erst jetzt bemerkte er, daß er nackt war. »Ich bin nackt!« rief er überrascht. »Gewiß.« Der Heide - Churm - war jetzt dicht bei ihm, aber sein schwarzer Bart, die schwarze Rüstung, die schwarzen Hornhände und -Stiefel und das schwarze Beinkleid aus gesponnenem Stahl ließen ihn mit dem Hintergrund verschmelzen. Nur das blaue Leuchten seines sonderbaren Schwertes und der Silberglanz der Augen stachen aus dem Dunkel hervor. Klirren und Knirschen. Churm hatte sich neben Warnstein auf dem Boden niedergelassen. »Wo ist meine Kleidung?« fragte der Flieger. »Zum Teufel, soll ich mir den Tod holen? Es ist kalt!« »Du bist vor kurzem von den Toten auferstanden«, grollte der Hornmann. »Was fürchtest du dann den Tod, Sardor?« »Sardor! Ha!« Warnstein schnaubte. »Mir scheint, hier liegt eine Verwechslung vor. Wie ich schon sagte, ich bin Leutnant Dietrich von...« »Ah!« machte Churm. »Noch immer im Traum gefangen! Ich denke, du bist tatsächlich dieser... Warnstein gewesen, Sardor, aber jetzt bist du erwacht. Es ist an der Zeit, deine Träume zu vergessen.« Warnstein seufzte. Offenbar war der vermaledeite Heide felsenfest davon überzeugt, es mit diesem Sardor zu tun zu haben. Besser, er ließ ihm zunächst seinen Willen. Diesen Wilden war nicht zu trauen. Möglicherweise meuchelten sie ihn ab, wenn sie erkannten, daß er gar nicht ihr Götze, sondern nur ein deutscher Flieger war. Der Teufel allein wußte, welchen Kulten sie in ihrer heidnischen Verblendung verfallen waren. Denkbar, daß sie Kannibalismus schätzten, Menschenopfer, Martern für ihre Gefangenen... Er schluckte. -95-
Nackt und waffenlos in der Gewalt äxteschwingender Heiden! Prächtig. Das hatte er nun davon. »Also gut«, nickte er widerwillig. »Sardor. Aber das ändert nichts daran, daß ich nackt bin. Wo ist meine Kleidung?« »Im Sternhain.« »Meine Ortskenntnisse sind nicht die besten...« »Das wird sich ändern«, versicherte Churm. »Darum bist du hier. Um das zu lernen, was du im Schlaf vergessen hast.« »Und wo«, sagte Warnstein ärgerlich, »ist dieses verflixte›Hier‹?« »Du bist in der Gruft. In Sardors Gruft.« Kaum waren Churms letzte Worte verklungen, sprang das verzauberte Schwert in die Höhe. Das blaue Leuchten wurde heller und trieb die Dunkelheit zurück, und in diesem überirdischen Glanz enthüllte sich Warnsteins staunenden Augen eine archaische Grabkammer. Die Wände bestanden aus weißen, glatten Steinblöcken, und die Fugen zwischen den Blöcken boten nicht einmal einer Rasierklinge Platz. Die Decke war niedrig und wohl aus einem einzigen Felsklotz gehauen, und sie war schwarz wie die Nacht. Fremde, verschlungene Schriftzeichen überzogen schwarz die Wände und weiß die Decke, und hier und dort hingen Schwerter, Spieße, Äxte und Schilde, vom Alter gedunkelt, verstaubt, brüchig. Auch auf dem schwarzen Boden lag Staub. Die Kammer war nicht groß. Im Höchstfall maß sie fünf mal fünf Meter und war knapp zwei Meter hoch, gerade hoch genug, daß Warnstein aufrecht stehen konnte. In der Mitte der Kammer erhob sich ein Block aus fleckigem Stein. Auf dem Block... Eine Gestalt in voller Rüstung. Helm und Brustpanzer, eiserne Handschuhe und eisernes Beinkleid, hornige Stiefel. -96-
Fasziniert sprang Warnstein auf und trat an das steinerne Bett, beugte sich über den reglosen Krieger. Mit einem Schrei schrak er zurück. Tot. Das Gesicht mumifiziert und braun, vertrocknet, eingefallen, die Zähne gefletscht... »Großer Gott!« flüsterte Warnstein. »Wer ist das?« Churrn lachte sein grollendes, heidnisches Gelächter. »Ich habe von deinem schrulligen Humor gehört, Sardor, aber die Legenden haben noch untertrieben. Sich selbst zu beschwören und sich selbst zu verleugnen - in einem Atemzug...« Warnsteins Blicke wanderten von Churm zu dem Toten. »Du meinst, das ist... Sardor?« »Wenn du es so willst.« Warnsteins Gelächter klang unnatürlich schrill. »Aber ich denke, du hältst mich für diesen Sardor!« »Gewiß.« Ruhig bleiben! dachte Warnstein. Dieser unverschämte Wilde scheint sich einen Scherz mit dir zu erlauben. Wir werden sehen, wer zuletzt lacht. Versuche es mit Logik. Was kann ein tumber Heide schon dem gewitzten Geist des weißen Mannes entgegensetzen, von zwei Jahrtausenden abendländischer Kultur geschärft? »Wie, mein armer heidnischer Tor«, sagte er sanft, »wie kann ich Sardor sein, wenn Sardor hier auf diesem Steinklotz liegt? Und das wohl schon seit einigen hundert Jahren - nach seinem ungesunden Aussehen zu urteilen?« »Seit zwanzigtausend Jahren«, erwiderte Churm ebenso sanft. »Aber warum solltest du nicht dort liegen und gleichzeitig vor mir stehen? Wer sollte dich daran hindern?« »So kommen wir nicht weiter«, knurrte Warnstein. »Vielleicht geht das nicht in deinen ungebildeten Schädel hinein aber ich bin nicht Sardor. Mein Name ist Dietrich von -97-
Warnstein. Ich bin Leutnant in der deutschen Fliegertruppe. Mein Geschwaderführer ist Manfred Freiherr von Richthofen. Ich weiß nicht, was mich an diesen Ort verschlagen hat oder was dies für ein Ort ist, aber ich weiß, daß ich hier nicht bleiben werde. Mein Vaterland befindet sich im Krieg. Deutschland muß sich der halben Welt widersetzen. Teufel auch, bin ich denn ein feiger Deserteur, daß ich mein Vaterland in der Stunde der höchsten Not im Stich lasse? Deutschland, du verfluchter Heide! Berlin! Der Kaiser!« Churm seufzte. »Du träumst noch immer«, murmelte er. »Ja, du träumst noch immer. Du weißt nicht, wer du bist und wo du bist und was deine Pflicht ist...« »Meine Pflicht gilt dem Reich«, fiel ihm Warnstein scharf ins Wort. »Dem Kaiser und dem Deutschen Reich.« »Träume!« brüllte Churm und war mit einem Satz bei dem nackten jungen Mann, packte ihn mit seinen Hornhänden an den Schultern, bleich wie Leichenhaut im blauen Gespensterlicht, schüttelte ihn wild. »Träume, Sardor! Wach auf, wach endlich auf! Der Nachtmahr droht! Ich kenne dieses Deutschland nicht, in dem du all diese Jahrtausende träumend verbracht hast. Ich kenne diesen Kaiser nicht. Ich weiß nichts vom Deutschen Reich und vom Vaterland, aber du bist nicht länger in diesem Totenreich, Sardor. Du bist heimgekehrt! Zu deinem Volk heimgekehrt... Als die Hainvölker in höchster Not nach dir riefen, hast du ihren Ruf vernommen und bist ihnen zu Hilfe geeilt. Und du bist jetzt hier, unter dem Moos der Heldenhügel, in deiner* Gruft, die zwanzigtausend Jahre lang die Schlafkammer deiner fleischlichen Hülle war. Erzähl mir nichts von diesem Deutschland! Erzähl mir nichts von diesem Traumland, das es nicht gibt und nie gegeben hat...« »Unsinn!« kreischte Warnstein. »Abergläubischer Unsinn!« »Du bist Sardor!« knirschte Churm und schüttelte ihn. -98-
»Sardor von den Hainvölkern, und wenn du noch immer träumst, dann werde ich dich aus deinen Träumen holen. Bei den Gehörnten und ihren mahrischen Dienern, wach endlich auf, Sardor, wach auf und erinnere dich... An den Eisenmann«, flüsterte Churm, »der aus dem ätzenden Meer emporstieg, lange nach dem Ende der kosmischen Kriege, und der die Länder jenseits der Knochendämme verwüstete, bis du ihn in jahrelangem Kampf bezwungen hast... An den Blinden Narg! Ah, weißt du nicht mehr? Die Grotten, in denen Narg die heißen Gefühle hortete, die er den Menschen stahl? Narg, der von einem Nachtmahr gebissen wurde und doch nicht starb, dafür aber alles verlor, was einen Menschen ausmacht, und der die Gefühle anderer stehlen mußte, um dunkel die Größe menschlicher Existenz zu erahnen? Du hast ihn aus den Grotten ans Kirschlicht der Sonne getrieben und zur Ebene von Nurmus Mu geführt, wo er vielleicht noch immer sitzt und mit den Blumen musiziert, damit die Musik seine kosmische Krankheit heilt... Und der Dom aus Stahl und Stein! Über der Ebene von Nurmus Mu! Im Land Nyanderhen! Der Dom mit seiner Kuppel aus lebendem Gebein, unter der Calhan residierte und sein Land verdarb. Calhan von Nyanderhen, der den Gehirnen diente, und durch die Gehirne den Eisenmännern, und der in den Kellern seines Doms aus Stahl und Stein vorzeitliches Wissen aufbewahrte: Bücher, die sprechen und lügen konnten; Bilder, die laufen und töten konnten; und Gedanken wie Seuchen und pures Gift. Erinnerst du dich jetzt, Sardor, erinnerst du dich, wie du hinauf zur Kuppel aus lebendem Gebein gestiegen bist und die konservierten Münder und Augen, die eingeleimten Arme und Beine, die Kronleuchter aus Menschenköpfen und die Kleiderhaken aus Menschenfingern vom Fluch des Gehorsams erlöst hast, so daß sie über Calhan herfielen, als der Tyrann sich in der nächsten Nacht zum Schlaf bettete? Erinnerst du dich? An den Glaspol, an die Schmerzarche im Quarz, an den ungeheuerlichen kranken Rumpf des letzten dolorosen Schiffes -99-
auf Erden, in das Than Mayen vor Äonen eingekerkert wurde, von eben diesem Calhan im Auftrag der Gehirne? Und erinnerst du dich, daß du Than Mayen aus seinem Kerker befreit hast, damit er den Gehirnen das Geschenk der Vergeltung bringen konnte? Erinnerst du dich, Sardor? An die Rostkinder der Stadt Hai Zun, die auf die Rückkehr der Eisenmänner aus ihrem Exil hinter der Zeit warten, an die glücklichen Kinder des Landes Mirsingval, die Gefährten für das Eisenspiel suchen und mit der Berührung ihrer zarten Hände alles Metall in Rost verwandeln? Sardor!« schrie Churm in heidnischem Zorn. »Was muß ich dir noch alles sagen, damit du dich an dich erinnerst? Muß ich dir von diesen anderen Dingen erzählen, von diesen verdorbenen Dingen, über die zu reden du verboten hast, weil allein die Erwähnung die Gefahr heraufbeschwört, selbst verdorben zu werden? Muß ich dich an das lüsterne Fleisch erinnern, ein ganzes tiefes Tal voll von rosigem, bebendem Fleisch, das köstliche Fleischeslust verspricht und jeden verschlingt, der so töricht ist, diesem Versprechen zu glauben? An den Ersten vom Dorngrund, den du in deiner arglosen Freundlichkeit in die Erde westlich der Purpursümpfe gepflanzt hast, ohne zu ahnen, daß uralte Dinge unter dem fetten Humus begraben sind, Dinge aus einer Zeit, da der Kosmos noch jung war und das Böse mit seinen unerforschten Möglichkeiten spielte und Dinge schuf, vor denen selbst das Böse in seiner elementaren Schlechtigkeit zurückschrak? Und heute ist der Westen mit Dornen gespickt, die heiser vor sich hin brabbeln und deinen Namen verfluchen, weil du sie mit einem solchen Leben gestraft hast. Ah, und der Alte vom Meer, der in deinem Auftrag den ersten Logos hüten sollte und ihn dann doch gegen Opfer an den Schwarzen Mirn verscherbelte, Opfer, die sogar den denkenden Schlachthäusern der Eisenmänner geschmeichelt hätten... Und die Flamminen, die am heißen Nordpol seit Menschengedenken brennen... Hast du ihnen nicht den zweiten Logos anvertraut und ihnen versprochen, sie zu schwängern, wenn du göttlich genug -100-
geworden bist, um dich zu Frauen aus prasselndem Feuer zu legen, und hast du nicht dieses Versprechen gebrochen, so daß die Flamminen in ihrem Zorn den zweiten Logos an Mirn verrieten? Und hast du nicht das Wissen um den dritten Logos mit einem Lichtmesser aus deinem Kopf geschnitten und dieses Wissen irgendwo begraben, ohne zu ahnen, daß jenes Messer mit den Gehörnten zur Erde gekommen ist und wie alle Werkzeuge der Gehörnten mehr als nur seinen Zweck erfüllt? Daß es nach getaner Arbeit flieht und darauf sinnt, seinem einstigen Besitzer zu schaden? Mirn muß in den Besitz des Lichtmessers gelangt sein, Sardor, und es hat ihm das Grab des Wissens um den dritten Logos verraten, und Mirn ist in den Geborstenen Berg hinabgestiegen und hat den Nachtmahr aus seinem Totenschlaf geweckt...« Die schwarzen Hornhände lösten sich von Warnsteins nackter Schulter, und Churm breitete in einer bittenden, verzweifelten Geste die Arme aus. »Sardor«, flüsterte er, »warum versteckst du dich noch immer in deinen Träumen? Warum stellst du dich nicht der Wahrheit? Nicht nur die Menschen machen Fehler, sondern auch Menschen, die lange genug leben, um göttliche Macht zu gewinnen. Nur, daß die Fehler der Götter von anderer Dimension sind als die Fehler der Menschen und nur von den Göttern selbst wiedergutgemacht werden können.« Warnstein sagte nichts. Seine Schultern schmerzten noch von dem stählernen Griff der unmenschlichen Hände, und eine schreckliche Leere war in seinem Kopf, als hätte ein unerklärlicher Einfluß alle Gedanken hinausgetrieben, um Platz für etwas anderes zu schaffen. Und er spürte mit plötzlicher kreatürlicher Furcht, daß sich dieses Andere im Steingewölbe der Gruft regte, in den Schatten jenseits des blauen Leuchtens, jenseits der Runen gar, die in den weißen Stein der Wände und in den schwarzen Stein der Decke geritzt waren. Und schaudernd sah er, wie diese verschlungenen -101-
Hieroglyphen zu wurmigem Dasein erwachten, wie sie sich wanden und mit animalischer Entschlossenheit neue Muster bildeten. Muster, die er verstand. Buchstaben, die zu ihm sprachen, aber nicht über den Umweg der Augen, sondern direkt in seinem Gehirn. Vielleicht schrie er. Vielleicht gaben seine Beine nach und er stürzte neben dem felsigen Totenbett der zwanzigtausend Jahre alten Mumie zu Boden. Aber vielleicht stützte ihn auch Churm, stützte ihn mit Händen aus schwarzem Hörn, damit er nicht den Blick von der flüsternden Schrift an der Wand abwenden konnte. Die fahlblau erleuchtete Grabkammer verschwamm vor Warnsteins Augen. Der Hornmann mit den Silberaugen löste sich auf. Der Boden verlor seine Festigkeit, und Warnstein schwebte in kosmischer Leere, umtanzt von uralten Runen, die ihm ihre grausame Bedeutung enthüllten, in Schatten, die Gestalt annahmen. Und nun, Dietrich von Warnstein? raunten ihm die Runen aus den Schatten zu. Was nun, Leutnant von Warnstein? Die Stimme! dachte Warnstein. Es ist die Stimme aus dem Sturm! Endlich daheim, nach so langer Zeit! wisperte es. Endlich vom Traum geheilt! raschelte es. Wer bist du? fragte Warnstein. Satan? Der gefallene Engel? Bin ich in der Unterwelt, der ewigen Verdammnis, um für meine Taten zu büßen, um bestraft zu werden...? Du bist ich. Wir sind heimgekehrt, endlich heimgekehrt... Der lange Schlaf. Wir haben geträumt... Das Raunen schwoll an, zu betäubendem Brausen, und ebbte ab, zu fahlem flüstern: Ich spüre dich. Ich fühle mich. Wie gut es tut, vereint zu sein. Großer Gott! dachte Warnstein verzweifelt. Allmächtiger Gott im Himmel und auf Erden, vergib mir! Gott ist tot. Deutschland ist tot. Es gibt kein Deutschland -102-
mehr. Es gibt keinen Gott mehr. Es hat Deutschland nie gegeben. Es hat Gott nie gegeben. Niemals, nirgendwo. Ich muß wahnsinnig sein, sagte sich Warnstein. Ganz und gar wahnsinnig. Tolle Träume, die mich plagen... Ah, Träume! wisperte es in seinem Kopf. Schwere Träume, die nicht weichen wollen. Träume von einem deutschen Land unter einer gelben Sonne. Träume vom Krieg und grünen Hügeln. Wer bist du? fragte Dietrich von Warnstein wieder. Wenn du nicht Satan bist, und wenn ich nicht wahnsinnig bin... Ich bin tot, flüsterte es. Ich bin ein Schatten. Du bist tot und ein Schatten wie ich. Allein. Doch zu zweit... Vereint... Wenn du und ich wir sind... Wenn das Wir zum Ich wird... SARDOR. Aber du bist tot! schrie Warnstein verzweifelt. Seit zwanzigtausend Jahren ist Sardor tot! Der Tod ist nicht mehr als ein Traum. Wir haben geträumt und uns im Traum gespalten, um nicht zu verblassen, dem Nichts zu verfallen, wie es all den anderen ergeht. Manchmal hört man sie, wie sie suchen und klagen. Haben wir geklagt? Nein, wir klagen nicht. Warnstein! dachte Warnstein, um Halt zu finden in dieser Haltlosigkeit. Ich bin Dietrich von Warnstein, und meine Heimat ist Deutschland, und ich habe fünfundzwanzig Jahre in diesem Deutschland gelebt, und die Sonne ist gelb und nicht rot, und der Feind ist der Engländer, der Franzose und Russe, der Feind kommt nicht in klirrenden Rüstungen, in denen niemand steckt... Und er dachte an Ostpreußen, an blauen Himmel, an Kanonendonner und Schützengräben, an Richthofen und die Kameraden von der Jagdstaffel 11 und an frischen Wind, der über die Tragflächen des Albatros pfiff, und während er dies dachte, zogen sich die Schatten zurück, verstummten die raunenden Runen, füllte er diesen ganzen Ort aus, was auch immer dies für ein Ort sein mochte und... Wie hartnäckig diese Träume sind! kehrte wispernd die -103-
Stimme zurück. Wie sehr sie sich an diese andere Hälfte klammern... Ah, wer weiß, Dietrich von Warnstein, vielleicht hast du recht. Vielleicht gibt es dein Deutschland wirklich, in einer anderen Welt, einer anderen Zeit, aber diese Welt und diese Zeit sind unwiederbringlich verloren. Verstehst du nicht? Erkennst du es nicht? Wo immer du auch einst gewesen bist, jetzt bist du hier, bei mir und dir. Es gibt kein Zurück... Kein Zurück? dachte Warnstein. Kein Weg nach Hause? Später? Wer weiß? Wenn wir - du und ich - unsre Pflicht erfüllt haben. Pflicht... Das Wort war vertraut, so schrecklich vertraut. Es verband sie - den Mann und die Stimme. Es weckte etwas in Warnstein. Er fragte: Wer bin ich? Er antwortete: Gespalten in das Du und Ich. Das Du ist Dietrich von Warnstein aus dem Land der Deutschen. Das Ich ist ein Schatten, namenlos und tot. Was werden wir sein? Sardor, von den Toten auferstanden... Wo werden wir leben? Auf einer Erde, die nicht deine Erde ist. Auf einer Welt, die nicht meine Welt ist. An einem Ort, von kosmischen Mächten zum Schlachtfeld auserwählt... Was ist unsere Pflicht? Den Menschen zu beschützen, wenn der zweite kosmische Krieg entbrennt. Die Eisenmänner zu schlagen, die Gehörnten zu vertreiben, die Nachtmahre für immer von ihren unheiligen Gelüsten zu heilen... Der Krieg naht, mein Freund. Ich spüre, wie er sich zwischen den Sternen regt. Ich spüre, wie sich mahrische Schädel aus schwarzen Schrunden schieben und mit hungrigen Augen in die Leere starren. Ich spüre, wie sich auf kalten Welten unter kalten Sonnen Hörner aus giftigem Staub erheben, und wie in den schmerzerfüllten Regionen hinter der -104-
Zeit eiserne Riesen in eisernen Schiffen die ferne Küste der Wirklichkeit ansteuern... Es wird nicht mehr lange dauern, mein Freund. Werden wir allein kämpfen müssen? fragte er sich, und gab sich zur Antwort: Gewiß nicht allein, denn unter dem Rund der roten Sonne gibt es Verbündete, die gesucht und gefunden und zu einem Heer geschmiedet werden müssen, stark genug, den Eisernen und Gehörnten und den mahrischen Schlächtern zu widerstehen. Stark genug, das alte Versprechen einzulösen, das dem Menschen gegeben wurde, zum Trost für das Leid der verflossenen Jahrmillionen. Aber die Zeit verrinnt, und ein langer Weg liegt vor uns, und hier und dort, im Geborstenen Berg und in fernen Ländern, erwachen die Vorboten der kosmischen Mächte... Der Nachtmahr ist los. Der erste Feind. Bist du bereit, Dietrich von Warnstein? Ich bin bereit, Schatten. Und in der Nacht, in der Stille und Kühle der Gruft unter dem schwarzen Moos der Heldenhügel, erwachte Sardor. 6. Kapitel Exkursion nach Gorm I wish you were dead, my dear; l would give you, had I to give, Some death too bitter to fear; H is better to die than live. - Algernon Charles Swinburne »Satia Te Sanguine«, 1866 Die Stryge dampfte. Oben am Himmel glitzerte der Eisenring wie ein dünner Streifen aus grünem Kristall und drehte sich träge in der Leere, die Erdball und Sterne trennte. Funkelnd wachte er über dem Rund der Welt und fing das Licht, das die Sterne vor Jahrmillionen durch das Nichts der kosmischen Schluchten geschickt hatten, und der Eisenring horchte das Licht aus, um zu -105-
erfahren, ob unter dem Feuer fremder Sonnen Pläne geschmiedet wurden, seinen Schützling zu verderben. Seit Äonen lauschte der Eisenring. Seit Äonen drehte er sich im All, unberührt von der Kälte, unbeeindruckt von den Dingen, die ihm das Licht verriet, das so leichtsinnig war, sich in das grüne Metall des Rings zu wagen, und das sich vor Scham verfärbte, wenn es unter Folter und Zwang all seine Geheimnisse enthüllt hatte. Krank und fahl, ein Schatten seiner selbst, wurde es dann aus dem Verlies geworfen und stürzte haltlos zur Erde hinab. Wo es in den roten, dampfenden Fluten der Stryge ertrank, an den knochenweißen Wällen der Feste Gorm zerschellte oder seine letzte Ruhestätte im Glasgras der Ebene fand. Der Eisenring war unersättlich in seinem Wissensdurst. Seine Neugier konnte nie gestillt werden, und zuweilen verstieg er sich in solche Rafferei, daß er alles Sternenlicht verschlang und der Himmel der Erde schwarz wurde - schwarz bis auf das Glitzern des Ringes und das müde Grün, das von ihm zu Boden tropfte. Der Eisenring wußte mehr, als alle anderen Geschöpfe, Dinge oder Naturgewalten, die im Kosmos wohnten. Der Eisenring wußte vom Tod ganzer Galaxien und vom Feuer, das in manchen abgelegenen Sphären loderte und Raum und Zeit zerfraß. Er wußte, wo die eisverkrusteten, düsteren Welten der Nachtmahre im Schutz ausgedehnter Staubwolken durch das All wanderten und wo die Gehörnten nach ihrem Abzug von der Erde eine neue Heimstatt gefunden hatten: Unter kalten Sonnen, in monströsen Burgen, deren Türme Ozeane aus Sand und aus flüssiger, zäher Luft überragten. Der Eisenring hatte den Aufstieg und den Fall des Rudels von Zwarn verfolgt, Raubtiere, die zu Raubmenschen geworden waren und die aus Barmherzigkeit alles töteten, in dem ein Funken Leben war, und die sich selbst zerrissen, als sie die Mahre trafen und erkannten, daß ihre Barmherzigkeit und die mahrische Bosheit -106-
vom selben Quell gepeist wurden. Der Eisenring hatte die Segelschiffe aus gefrorenen Gedanken beobachtet, die alle Galaxien mieden, weil sie sie für Trugbilder eines zornigen Gottes hielten, der keine Gedanken neben den seinen duldete, und ohne Bedauern hatte der Eisenring gesehen, wie die Segler in ihrem selbsterwählten dunklen Exil tauten, starben, spurlos verschwanden. Gehorsam sammelte der Eisenring alles Wissen, damit dereinst, wenn die Wehrglocke von Gorm die Rückkehr der Eisenmänner einläutete, seine ehernen Erbauer sich in der Welt zurechtfinden konnten, die sie vor so langer Zeit verlassen hatten. Der Eisenring wußte von Gorm. Doch dieses Wissen war von abstrakter Art, denn ihm war nur gestattet, den Weltraum auszuforschen, das Licht der Sterne auszuhorchen. Die Erde war ein weißer Fleck, der einzige weiße Fleck auf des Eisenrings kosmischer Karte, und manchmal, wenn ihm diese Leere in all ihrer Unerträglichkeit bewußt wurde, verfluchte er seine Erbauer und sehnte den Sturm der Mahre und Gehörnten herbei. In seiner Einsamkeit versuchte er sich auszumalen, wie wohl die Erde unter ihm beschaffen sein mochte, und er dachte sich goldene Länder und Städte aus Glas und Seen aus flüssigem Metall, und inmitten all dieser unerreichbaren Herrlichkeiten dachte er sich Gorm als geschliffenes Juwel, das sich von seinem grünen Licht ernährte. Aber Gorm war kein Juwel. In knöcherner Weiße türmten sich ihre Mauern am blutfarbenen, dampfenden Wasser der Stryge auf und warfen lange Schatten über das Hochland im Norden, die Ebene im Süden. Die Wälle waren glatt und makellos, und ihre zyklopische -107-
Höhe wurde nur noch von ihrer Dicke übertroffen. Ein einziges Tor - groß genug, um einen der Paläste von Hencoren hindurchzutragen - unterbrach der Stryge zugekehrt die Makellosigkeit der Mauer. Und wie das Material der Wälle, so stammte auch das Material der schwarzen Torflügel von einer anderen Welt, die sich unter einer anderen Sonne drehte. Das Material war weder Stein, noch Metall, und obwohl es an Knochen gemahnte, hatte es nichts mit Knochen gemein. Auf jener fernen Welt waren die Stoffe dichter und schwerer als der Stoff, aus dem die Erde gemacht, und alles war unter dem eigenen Gewicht zu schrecklicher Bewegungslosigkeit erstarrt. Nichts rührte sich dort. Nichts. Alles war hart, unzerstörbar, ewig. Und doch nicht hart und unzerstörbar genug... Niemand wußte, wer vor Jahrmillionen zur schweren Welt gereist war, um gewaltige Blöcke aus ihrem Leib zu schneiden und zur Erde zu schaffen. Niemand wußte, wie diese Blöcke den zerrenden Kräften der schweren Welt entrissen worden waren. Und niemand wußte, wer Block für Block am Strygenufer aufgetürmt hatte, zu Wällen und zyklopischen Türmen und zum Koloß des Wehrturms. Vielleicht die alte Rasse, menschliche Götter der Urzeit, von denen es hieß, daß ihre Macht groß genug gewesen war, um gleichzeitig gegen Eisenmänner, Gehörnte und Nachtmahre zu bestehen. Jene Rasse, die auch den Ahnenweg in den Krograniten angelegt hatte, den Weg aus unzerstörbarem Metall, neben dem selbst die stählernen Leiber der Eisenmänner brüchig waren. Doch wenn die alte Rasse Gorm errichtet hatte - warum auch den Wehrturm mit der gewaltigen Glocke, die ihre dröhnende Stimme erst erheben sollte, wenn der zweite und letzte kosmische Krieg begann? Hatte die alte Rasse ihren Untergang vorausgeahnt? Hatte sie -108-
prophetische Gaben besessen und gesehen, daß ihre Tage gezählt waren und die Erde für Äonen in den Besitz eiserner irdischer und horniger kosmischer Mächte übergehen würde? Und wenn dies alles zutraf - sollte die Wehrglocke vielleicht nicht nur die Eisernen und Gehörnten, sondern auch die Alten heimrufen, die irgendwo jenseits von Raum und Zeit auf die Stunde ihrer Rückkehr warteten? Denkbar, daß die Mauern von Gorm die Antwort auf alle Fragen bargen. Denkbar, daß im Innern der titanischen weißen Blöcke Stimmen eingeschlossen waren, die sich danach sehnten, aus ihren Kerkern befreit zu werden und alle Rätsel zu lösen. Aber die Mauern der Feste Gorm waren unangreifbar. Nichts konnte sie ritzen, nichts sie zerstören. Und selbst jetzt, nach einer halben Ewigkeit auf Erden, hatten sie nichts von ihrer erbarmungslosen Starre, ihrer zermalmenden Schwere verloren. Wer sich den zinngekrönten Trutzwällen näherte, wurde von einer unsichtbaren Faust gepackt und gegen die weiße Wand geschmettert. Der einzige Weg, über den man unversehrt in das Innere der Zitadelle gelangen konnte, war der Weg durch das schwarze Tor. Dort - und im Innern - war die Schwerkraft gezähmt. Kein Wunder, daß die Philosophen Gorms geglaubt hatten, im Schutz dieser Mauern dem Ansturm der Crypten standhalten zu können. Wie hätten sie auch wissen können, daß Mirn keine menschlichen Soldaten aufmarschieren lassen würde, sondern vom bösen Geist des Nachtmahrs beseelte Marionetten? Die Philosophen von Gorm hatten trotz ihrer tiefen Erkenntnisse über das Wesen der Welt und die Schrecken der Vergangenheit den Mahr für tot gehalten und für diesen Irrtum mit dem Leben büßen müssen. Wo einst weise Männer und Frauen über makellos weiße Alleen gewandelt waren, herrschte nun Leere. -109-
Wo kulinarische Kostbarkeiten aus tausend verschiedenen Kulturen geduftet hatten, hing nun süß und verdorben der Gestank des Nachtmahrs. Wo aus lichten Hallen die Stimmen kluger Lehrer gedrungen waren, döste jetzt Stille. Und im Nachtwind schaukelten die Stricke, die zahllos wie die Sterne am Himmel von den Erkern und Zinnen der Türme hingen und die der Mahr in seinem Hunger nach Menschenfleisch von ihrer Last befreit hatte. Nur noch die Köpfe der Gehenkten sahen mit blinden Augen auf die Plätze und Straßen der Festung herab. Und wie die Alleen waren auch die breiten Wälle leer. Es schien, als wären selbst die metallgepanzerten mahrischen Marionetten, die am Tage noch, vor der Schlacht am Fuß der Heldenhügel, wie eine zweite, eiserne Mauer die Zinnen gesäumt hatten, in wilder Hast aus der Feste entflohen. Schweigen lag über Gorm. Doch das Schweigen war nicht vollkommen. Es war nicht der Wind, der kühl um die Türme strich, sich am blassen Gestein rieb und sich in den hohen, schmalen, unverglasten Fenstern verfing, nicht der Wind brach das Schweigen. Auch wenn er säuselte und leise rauschte. Es war eine Stimme, die das Schweigen brach. Sie sprach im zyklopischen Rund des Wehrturms, der im Zentrum der Feste Gorm wie eine zweite Festung in den finsteren Himmel ragte. Die weiße Säule des Turms, mit der Wehrglocke als stählernes Haupt, ruhte auf einem quaderförmigen Sockel, groß genug, um einem Kaiser als Palast zu dienen. Knöchern weiß wie alles in Gorm, waren die meterdicken Blöcke seiner Außenmauern von ovalen Fensteröffnungen durchbrochen, aus denen Licht fiel. Das Licht war stetig, flackerte nicht. -110-
Es war auch nicht von dem grellen Gelb der Laternen, die die Städte zivilisierter Völker erhellten: Riesige Glaskugeln mit daumendicker Wandung, in die man die Glühwürmer aus den Purpursümpfen einsperrte und sich am Feuer ihrer gasgeblähten Schwänze ergötzte, bis alles Gas verbrannt und das Leben der Würmer beendet war. Das Licht aus dem Sockel des Wehrturms war rot. Kirschrot wie die Sonne. Es war tatsächlich Sonnenlicht - in faustgroßen Kristallen gespeichert, die vom verquarzten Südpol der Erde stammten, von kühnen Glassuchern gesammelt und als Tribut an den Hof des cryptischen Lichtdespoten geschickt. Zehntausende dieser Kristallbrocken gleißten im Lustgarten des Despoten und beschienen die Häuser aus Backwerk, die Firste aus Zuckerguß und die Straßen aus gegerbter Menschenhaut, und im Kirschlicht gewann die Haut einen Hauch Leben zurück, vor allem, wenn sie unter Schritten bebte. Der Despot schätzte diesen Augenblick und ließ seine Soldaten stundenlang, tagelang ohne Unterlaß die Hautstraßen hinauf- und hinuntermarschieren, nur um sich an der Travestie des Lebens zu laben, während er an seinen gebackenen Häusern knusperte und vom süßen Zuckerguß naschte... Gelächter fiel mit dem Kirschlicht aus den Fenstern und verlor sich in der Leere Gorms. Gelächter, das man nicht menschlich nennen konnte, obwohl es von menschlichen Lippen drang. Gelächter, klebrig wie die Fäden der Kummerspinnen, die in den cryptischen Ostprovinzen ihre Netze zwischen goldgeäderten Monolithen spannten und die Menschen, die sie fingen, gierig verzehrten... und die erst dann, wenn der Hunger gestillt, ihre Opfer betrauerten und das Schicksal anklagten, das ihnen neben der animalischen Gier auch Gefühl und Verstand geschenkt hatte. Genug Gefühl, um sich selbst vor Kummer zu -111-
verzehren, weil sie nur den menschlichen Körper und nie den menschlichen Geist kosten konnten. Gelächter, aasig wie L'Ingang, der jeden Wanderer erschlug und in den Knochenpfad schleuderte; kalt wie die Gletscher der Krograniten; und gelangweilt wie der Eisenring, der alles erforscht hatte, was es im Kosmos zu erforschen gab. Folgte man diesem außerordentlichen Gelächter durch die Fensterschläuche in den acht Meter dicken Mauern des Wehrturmsockels, gelangte man in eine weite, hohe Halle. Und wie um die barbarische Schwere der Festungsmauern auszugleichen, war die Anziehungskraft der Erde aus dieser Halle verbannt. Überall schwebten Quarzbrocken und verstrahlten ihr am Tag gehortetes Sonnenlicht, leuchteten den riesigen Saal bis in den letzten Winkel aus. Boden, Decke und Wände spiegelten das Kirschlicht und verstärkten es, bis es vor seiner eigenen Helligkeit durch die Fenster entfloh. Keine Säule stützte die hohe Decke, obwohl sie die Last des Wehrturms tragen mußte. Kein Stuhl, keine Bank, kein Kissen, kein Diwan lud einen zufälligen Besucher zum Verweilen ein. Der Saal war kahl. Nur an der Stirnwand, verspiegelt wie alles hier, bot sich dem, der kühn und des Lebens überdrüssig war, ein Sitzplatz an. Dieser Platz gehörte nicht an diesen Ort. Er war stumpf, nicht verspiegelt; er war klobig, nicht ätherisch leicht. Ein wuchtiger Thron, in Urzeiten aus dem Schädel eines leviathanischen Wesens geschnitzt, das eine frivole Menschenrasse zu ihrem Vergnügen erschaffen hatte. Der Name dieser Rasse, selbst die Erinnerung an ihre Existenz war schon vor dem Aufstieg der Eisenmänner in Vergessenheit geraten, und ihr künstlicher Leviathan mit ihnen. Äonen später hatten die wilden Vorfahren der Crypten das gigantische Skelett als Gott -112-
verehrt und es dann, im Zuge kultureller Verfeinerung und zivilisatorischer Entwicklung, zum Thron für ihre despotischen, todgeweihten Herrscher erkoren. Aber nach und nach war die Macht der Herrscher gewachsen, und es kam der Tag, da das cryptische Volk vergeblich darauf wartete, daß ihr Despot nach zehnjährigem Regiment den Freitod suchte. Vom Ritual des Selbstmordes erlöst, hatten die nachfolgenden Despoten keine Verwendung für den Knochenthron gehabt, und so war er verstaubt, bis Mirn ihn in einer entlegenen Schatzkammer aufspürte. Und nun saß Mirn auf dem Knochenthron. Er saß dort schon seit sechs Jahren und würde sich erst wieder von ihm erheben können, wenn alles Leben aus ihm verschwunden war. Aus dem cryptischen Herzland hatte Mirn den geschnitzten Schädel in die schwerelose Halle von Gorm schaffen lassen, und dort thronte er nun und gab sich der Qual der Langeweile, der Folter des Überdrusses, der Pein der Nutzlosigkeit hin. Zusammengesunken brütete er auf seinem knöchernen Sitz und streichelte mit fleischigen Fingern über die menschlichen Schädel, die auf den Armlehnen in grundloser Heiterkeit die Zähne bleckten. Ein Seufzer löste sich von den Lippen des Schwarzen Mirn und hallte fahl im Spiegelsaal. Sein Gesicht, das Gesicht des einzigen Sohns, den der cryptische Lichtdespot im Lauf seines langen, mordlüsternen Lebens gezeugt hatte, war von einem ungesunden gelben Ton. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und ihre Schwärze hatte ihm seinen Kosenamen verliehen. Das Gewand, das die Speckwülste von Brust und Bauch verhüllte, war ebenfalls schwarz, und unter dem schweren Saum sahen winzige Füße mit schwarzlackierten Zehen hervor. Mirn war häßlich, und er schätzte Häßlichkeit. Mirn war krank, und er pflegte seine Krankheiten, weil sie ein -113-
wenig Abwechslung in sein eintöniges Leben brachten. Überall im Cryptenland waren seine Boten unterwegs und hielten Ausschau nach Seuchen, Giften und anderen ungesunden Dingen, die ihrem Herrn ein wenig Kurzweil verschaffen konnten. Und Mirn war schlecht, und er kultivierte seine Bosheit, die ihm als höchstes Ziel menschlicher Existenz erschien. Doch nun, nach der Erweckung des Mahrs und der blutigen Eroberung Hencorens und Gorms, nagten Zweifel an seinem verderbten Herz. Er seufzte wieder und lauschte dem öden Klang seines Seufzers nach. Die Häßlichkeit seines Körpers, die sich im Boden und in den Wänden des Saales spiegelte und ihm vor Tagen so viel exquisiten Genuß bereitet hatte, war schal geworden. Seine Krankheiten langweilten ihn. Seine Bosheit verschaffte ihm kaum noch Befriedigung. »Wie übel mir das Schicksal doch mitspielt«, seufzte er. »Daß es mich ins Leben rief, statt mich bei den Ungeborenen zu lassen! Daß es mir den Tod verwehrt, wo der Tod doch mein einziger Trost ist!« Niemand hörte ihn. Nicht einmal er selbst achtete auf seine Worte, denn schon seit Jahren langweilte ihn das, was er sagte. Flüchtig dachte Mirn daran, sein Fleisch zu foltern, aber ach ! Auch die delikatesten Schmerzen würden ihn nicht von der Bürde der Langeweile erlösen. »Wenn ich doch nur die Langeweile genießen könnte!« schrie er in die leere Halle. »Doch es ist unmöglich. Genuß an der Langeweile ist ein Widerspruch in sich... Grausam, grausam, was mir angetan wird!« Er preßte eine Träne aus dem rechten Auge und versuchte sich seiner alten Leidenschaft, dem Selbstmitleid, hinzugeben, -114-
aber es mißlang. Wie alles in der letzten Zeit. »Soll ich morden?« fragte er laut. »Oder schänden?« Nein, nein! Er war diese Stümpereien leid. Sie stahlen ihm die Zeit, ohne ihm etwas dafür zu geben. »Vielleicht Vater töten...« Aber der Despot haßte seinen einzigen Sohn so sehr, daß er ihm verboten hatte, je wieder einen Fuß ins cryptische Herzland zu setzen. Und was war Vatermord schon, wenn der Sohn nicht eigenhändig den Erzeuger würgte? Und diese elenden Boten, die nach neuen Krankheiten suchten...! Nicht eine Seuche schleppten sie heran, die seinen Leib beeindruckte. Er schwärte und eiterte unter dem schwarzen Gewand, aber er verweigerte sich dem Tod. »Tod, Tod...«, krächzte Mirn und beneidete die Philosophen von Gorm. Wie süperb das Sterben am Galgen aussah! Wie sehr er sich danach sehnte, von einem Strick stranguliert zu werden...! »Vorbei, für immer vorbei!« krächzte Mirn. Nie würde er die Süße des gewaltsamen Todes kosten, nie die Wonnen schmerzhaften Sterbens genießen. Seit er den Knochenthron bestiegen hatte, in der aberwitzigen Hoffnung, daß der Thron ihn verstehen und sein Leben nehmen würde... seit jenem unseligen Tag vor sechs Jahren vegetierte er in der schaurigen Gewißheit vor sich hin, daß der Tod sich von ihm abgewandt hatte. Was ihm blieb, das war der Gram des Lebensmüden, den das Leben nicht aus seinen Klauen entließ. Und was hatte er nicht alles versucht! Sich mit Krankheiten infiziert, die ganze Völkerscharen dahinraffen konnten. Mit Knochenfäule, Wundstarrkrampf und Bleichsucht, mit dem epidemischen Krebs, der auf den Inseln vor der Glaspolküste grassierte und alles Fleisch knotig wuchern -115-
ließ, mit dem Gewebefraß, von dem es hieß, daß er einen Menschen binnen eines Tages in wässrigen Schleim verwandeln konnte... Selbst vor den kosmischen Seuchen, von den Nachtmahren zur Erde gebracht, hatte er nicht zurückgeschreckt und lüstern darauf gewartet, daß er kristallisierte, versteinerte, vereiste. Und als alles nichts half, als sein Körper nach den ersten vielversprechenden Blähungen und Entzündungen wieder gesundete, hatte er eine Handvoll Metallsporen geschluckt, eine ganze Handvoll, wo doch ein einziges dieser mikroskopischen Gebilde ausreichen sollte, den Geist des Menschen mit Raserei zu verdunkeln, ihn in den Rausch der Selbstzerstörung sinken zu lassen, bis ihn der Tod ernüchterte... Aber er lebte noch immer. Mirns feiste Hand tastete nach dem Dolch an seiner Seite, dem sorgsam vegifteten Dolch, und er hob die Klinge und betrachtete sie im Kirschlicht der Halle. Seine Hand verkrampfte sich um den kunstvoll geschnitzten Knauf, und dann warf er den Dolch mit einer lauten Verwünschung fort. Sah ihm mürrisch nach, bis ihn die rote Helligkeit verschluckte. Nutzloses Besteck! Er konnte hundertmal, er konnte tausendmal den Dolch in sein weiches Fleisch boren, und weder Stahl noch Gift würden ihn töten. Wutentbrannt hieb er mit der Faust auf die knöcherne Armlehne des Throns. »Wann ist es endlich soweit?« kreischte er. »Wann wirst du mir endlich das Leben nehmen? Wann wirst du endlich dein Versprechen erfüllen und mich von dieser grausamen Langeweile erlösen?« Der Knochenthron antwortete nicht. Er schwieg, wie er seit sechs Jahren geschwiegen hatte. Einst, bevor sich Mirn auf ihm niedergelassen hatte, war er nicht so wortkarg gewesen. Finster dachte Mirn an die unerfüllten Versprechen des Throns, an die schwärmerischen -116-
Schilderungen der Qualen und Leiden, an die delikaten Foltern des Fleisches und des Geistes, von dem er ihm erzählt hatte, an all die morbiden Lockungen. Qualen und Leiden, o ja! Die Qual der Langeweile und das Leiden am Überdruß. Und die Folter des Lebens... Der Schwarze Mirn schluchzte auf. Hieß es nicht, daß jeder, der den Knochenthron bestieg, verdammt war? Hieß es nicht, daß der Thron nach Leben hungerte? »Unsterblichkeit!« ächzte Mirn. »Dieses Ungeheuer hat mich mit Unsterblichkeit gestraft! Ausgerechnet mich, der ich den Tod über alles liebe!« Nach diesem Ausbruch, der nur eine Travestie seiner früheren Selbstzerfleischungen war, sank Mirns Kopf schwer zur Seite. Mit schwarzen Augen starrte er in das Kirschlicht der schwebenden Quarzbrocken, überwältigt von der Nutzlosigkeit seiner Existenz, der Fadheit seines verfluchten Daseins. Gleichgültigkeit hielt Einzug in sein matt schlagendes Herz. Ich bin ein Wrack, dachte er in dem kraftlosen Versuch, sich zu erniedrigen und in der Erniedrigung Befriedigung zu finden. Ein Nichts. Was ist erbärmlicher als ein verschmähter Liebhaber? Was ist langweiliger als eine Liebe, die nie Erfüllung findet? Ein armer Wicht, das bin ich, und diese Toren draußen in der Welt hassen mich. Er lachte klebrig, aasig, doch sein Gelächter, das einst grausam gewesen war und Grauen verbreitet hatte, erschien ihm nun hohl, ein Schatten seiner selbst. Wenn sie wüßten, dachte Mirn, wenn diese Tröpfe in der Welt nur wüßten, welch schauerliches Schicksal mich geschlagen hat - ah, sie würden mich bemitleiden und nicht hassen. Sie sind es, die Haß verdienen, die Hainvölker und die Herren vom Dorngrund, die Soldatenkönige und die Fischer von Hencoren, -117-
die Philosophen von Gorm und die brennenden Frauen am brennenden Nordpol! Sie verdienen Haß, weil sie versagt haben, ein wenig Licht in mein armseliges Leben zu bringen. Hencoren an einem Tag erobert und alle Fischer ersäuft! Gorm in einer Nacht besiegt und alle Philosophen gehenkt! Bei den kosmischen Mächten, hätten diese Narren denn nicht ein wenig länger Widerstand leisten können? Was ist das für eine Mordlust, die nur ein paar Stunden währt und dann wieder der Langeweile weicht? Und diese Uralten von N'jyr - rücksichtslos und grausam wie das Schicksal selbst. Nicht einer hat geklagt, nicht einer gewimmert, als sie ihre eigenen Grabsteine schnitzten und ihre eigenen Gräber graben mußten. Ah, die Welt ist schlecht! Die Welt ist zu schlecht für einen wie mich! Plötzlich glomm es grau in des Tyrannen schwarzen Augen auf. Die Hainvölker? Ob sie gnädiger waren? Ob zumindest sie den Anstand besaßen, dem stählernen Heer zu widerstehen, das er über die Stryge geschickt hatte? Mirn runzelte die Stirn. Die Schlacht mußte längst geschlagen sein. Warum erhielt er keine Meldung? Konnte es sein, daß die barbarischen Wilden aus dem Süden gesiegt hatten? Oho, war sein ganzes Heer bis auf den letzten Mann niedergemacht? Doch dann erinnerte er sich, daß seine Mannen hinter den Gold- und Silbermauern Hencorens lagerten und daß nicht Krieger aus Fleisch und Blut, sondern vom Nachtmahr beseelte Marionetten aus Eisen und Stahl gegen die Heldenhügel gezogen waren. Er selbst hatte den Befehl dazu gegeben, auf den Rat des Nachtmahrs hin, der im Geborstenen Berg döste und noch immer nicht zu seiner alten Macht und Bosheit zurückgefunden hatte... Zweifellos waren die Hainvölker überrannt, die Grüfte in den Heldenhügeln geschändet, die Wälder in Brand gesteckt. -118-
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Nachtmahr zu wecken. Diese Gespenster aus der Vergangenheit waren keine Künstler, sondern tumbe Schlächter. Sie mordeten zu schnell, zu gründlich. Ha! dachte Mirn. Wie kann ich jetzt am schnellen Tod etwas auszusetzen haben, wo doch das Grauen ewigen Lebens, ewiger Langeweile vor mir liegt? »Nachtmahr«, seufzte er, »warum metzelst du mich nicht nieder? Bin idj nicht dein Herr? Kann ich nicht verlangen, von deinen Krallen gepackt und in den gnädigen Schlund des Vergessens geschleudert zu werden? Bist auch du gegen mich? Hast auch du dich gegen mich verschworen?« Mit fahlem Entzücken bemerkte der Schwarze Mirn, daß nun auch aus seinem linken Auge eine Träne tropfte. »Meister! Meister!« Eine Stimme krähte mißtönend durch das grelle Rot, das vom Quarz verströmt den Saal wie Nebel füllte und die Augen blendete, auch wenn diese Augen so schwarz und düster waren wie die des Schwarzen Mirn. Die Stimme war von einer unschuldigen, trägen Bosheit, die Mirns verschrobenem Sinn für alles Abseitige schmeichelte. Es hatte Zeiten gegeben, da allein der Stimme Klang die Langeweile seiner öden Stunden vertrieben und ihm eine Ahnung davon vermittelt hatte, wieviel lustvolle Schlechtigkeit die Welt für den bereithielt, der diese Welt zu nehmen wußte. Das war es, was dem Schwarzen Mirn fehlte: Das Wissen, wie man mit der Welt und dem Leben umging. Aber wie sollte es auch anders sein - bei einem Menschen, der sein Menschsein verfluchte; einem Lebendgeborenen, der Totgeburten für das höchste Mutterglück hielt; einem Wesen, dem sogar die Existenz als Ding noch zu vital erschien? »Meister!« krähte es. »Meister, Meister!« Mirn beugte sich nach vorn und äugte scheel in die kirschfarbene Grelle. -119-
»Bosling?« murmelte er. »Bringst du schlechte Nachrichten? Üble Neuigkeiten, ja? Ah, wie ich mich nach Unglücksboten verzehre!« Sein gelbliches Gesicht nahm die Farbe schmutzigen Erdreichs an. Seine kurzen, dicken Finger zuckten und zitterten, krabbelten wie die Beine einer fettsüchtigen Spinne über die Totenschädel, bohrten sich in die leeren Augenhöhlen, die klaffenden Münder mit den gebleckten Zähnen. Sein ganzer schwammiger Leib schwabbelte und wabbelte unter dem nachtschwarzen Gewand und gab sumpfige Laute von sich. Und das Grau in seinen schwarzen Augen wurde heller, und seine welken Lippen öffneten sich, und schmalzige Seufzer drangen aus der wäßrigen, entzündeten Höhlung seines Mundes. »Meister, Meister!« krähte der Bosling, noch immer unsichtbar, noch immer irgendwo im Kirschlicht. »Wehe, Meister, wehe, wehe!« »Ah!« machte Mirn. »Oho!« schnaubte er. »Es ist schrecklich, Meister«, brabbelte der Bosling. »Es ist entsetzlich, Meister...« »Wie schön«, seufzte Mirn. Und der Bosling schoß wie ein fauler Apfel, im Gärungsprozeß begriffen und von seiner eigenen Gärung berauscht, aus dem Kirschlicht hervor. Mirn saugte entzückt jedes Detail dieses widerwärtigen, dieses maßlos scheußlichen Geschöpfes mit den Blicken auf. Der Leib des Boslings war ein bräunlicher Sack, hier und dort vom Schimmel befallen, von Pusteln bedeckt, von nässenden Geschwüren überzogen. Die Beine waren wie morsche Stöcke, auf denen bleiche kleine Pilze wucherten. Die Füße waren Krallen, und zwischen den hornigen, gekrümmten, messerscharfen Zehen nisteten geschwätzige Maden und zirpten -120-
dem Mirn Verwünschungen zu. Ihre größeren Verwandten, Mollusken, die einen jauchigen Gestank verströmten, klebten quallig am langen Hals des Boslings, und auf dieser knorpeligen Röhre schwankte ein rosiger Kopf, ein Kopf wie der eines menschlichen Säuglings, betrunken hin und her. Die blauen Kulleraugen waren weit aufgerissen, das blonde, flaumige Haar sträubte sich, der volle, rote Schmusemund war zu einem erstaunten O verformt! Dieser Gegensatz zwischen Rumpf und Schädel! Wie exquisit verdorben, wie delikat verrucht. Der Schwarze Mirn beneidete den Bosling um seine Häßlichkeit, sein abstoßendes Äußeres, und vor allem beneidete er ihn um den tödlichen Hauch, den er verbreitete. Alles Leben, dem er sich auf einen Schritt näherte, starb. Alles, was frisch war, verdarb. Häßlichkeit und Tod hatten sich die Hände gereicht, und aus dieser sonderbaren Vereinigung war der Bosling entstanden. Nicht Menschen hatten ihn gezeugt; kein Tier hatte ihn geworfen; kein Mineral hatte sich zu seinem Leib zusammengefügt. Der Bosling war aus dem Nichts aufgetaucht, aus der Zeit getropft, als Mirn den Knochenthron bestiegen hatte, und er diente Mirn, weil er die Freiheit verabscheute und höchste Lust aus der Versklavung gewann. Vielleicht war er die Seele des Knochenthrons. Vielleicht war er ein Erzeugnis jener, die sich im Exil hinter der Zeit auf den letzten kosmischen Waffengang vorbereiteten, in die Welt gekommen, um die Welt auszuspionieren. Vielleicht war er eine Laune der Natur, die zuweilen vom geraden Weg der Evolution abrückte und, gelangweilt von Schönheit und Zweckmäßigkeit, allen Ehrgeiz darauf verwandte, etwas Morbides, das Leben Verneinendes zu erschaffen. -121-
Mirn war es gleich. Er schätzte den Bosling, weil der Bosling alles war, was er für sich selbst erträumte, ohne daß dieser Traum jemals Wirklichkeit wurde. Und er schätzte ihn, weil der Bosling noch ärger war als Mirn selbst. Denn trotz der vom Knochenthron verliehenen Unsterblichkeit konnte Mirn sterben, sobald sich ein Gegner fand, gnädig und kühn genug, dem mörderischen Einfluß des Throns zu widerstehen und Mirn zu töten. Aber der Bosling konnte nicht sterben. Er brachte anderen den Tod, ohne selbst den Tod zu finden. Mochte man ihn auch zerhacken, verbrennen, in Säure auflösen; mochte man ihn vergiften, pfählen, hängen oder köpfen - nie verließ das Leben seinen mißgestalteten Leib. Aus Asche, aus Schlacke, aus Staub, über die ganz Welt verstreut, würde das Leben Fleisch und Knochen entstehen lassen und zum Bosling zusammenfügen. »Meister!« krähte der Bosling und ruderte mit den streichholzdünnen, morschen Armen, drehte sich wild in der Schwerelosigkeit des Spiegelsaals und prallte dann mit dem rosigen Kinderkopf gegen den Sockel des Throns. Ein knirschender Laut, der Mirn zu einem entzückten Ächzen veranlaßte. Er beugte sich weiter nach vorn. »Hmmm«, machte er lüstern. Des Boslings weicher Schädel war entzweigebrochen, und durch den Spalt sah er auf graues, faules Gewebe, grau und faul wie Boslings Gemüt, wie Mirns eigene Seele. Dann heilte die schreckliche Wunde, fügten sich Knochen zusammen, wuchs rosige Haut in rosige Haut. »Uuuh«, seufzte Mirn. »Mein süßer Unhold!« Klauenhände schabten über den Schädelthron. Der Kinderkopf stieg hoch, wackelte auf dem knorpeligen Hals, und -122-
der Gestank der schmarotzenden Mollusken stieg jauchig in Mirns geblähte Nüstern. Der Schwarze Mirn strahlte. Seine Langeweile verflog, Überdruß wich, Hoffnung keimte auf. Er tätschelte den blonden Haarflaum, umklammerte dann mit fleischiger Hand des Boslings dürre Kehle und hob ihri am Hals hoch, um die welken Lippen auf den vollen Kindermund zu drücken. »Bosling«, schnurrte Mirn, »du bist köstlich!« Der Wicht, nur halb so groß wie der fette Mann auf dem Thron, gurgelte im strangulierenden Griff. Die blauen Kulleraugen traten aus den Höhlen hervor, die rosa Zunge schob sich über die roten Lippen und hing schlaff über die Grübchen des Kinns; die rosige, glatte Haut des Gesichts färbte sich blau. Mirn lachte aasig und schüttelte seinen abscheulichen Diener wie eine Puppe hin und her, daß die Mollusken empört knarzten und die Maden zwischen den Krallenzehen ihre bleichen, augenlosen Madenköpfe reckten und obszöne Flüche zirpten. »Wenn ich nicht den Tod lieben würde«, schwärmte Mirn, »ich würde dich umgarnen, Bosling.« Er lockerte den Griff, wartete, bis die Pendelbewegungen des ranzigen Wichts aufhörten, und ließ den Diener dann endgültig los. Zwei Meter über dem Boden hing der Bosling in der Luft, direkt vor Mirns gelbem Gesicht, vor Mirns verdorrten Lippen, vor den abgrundtiefen schwarzen Augen. »Meister«, krächzte der Gnom, »Unglück, Meister, Unglück!« Mirn klatschte jauchzend in die Hände. »Die Schlacht...« »Ja?« raspelte Mirn. -123-
»... sie ist verloren, Meister.« »Wie wundervoll!« »Das ganze Heer...« »Hm?« machte Mirn. »... ist zerschmettert, Meister.« »Wie schön!« »Die Barbaren...« »Ho!« rief Mirn. »... haben gesiegt, Meister.« »Aber das ist ja köstlich! Köstlich!« Mirn zitterte vor Begeisterung. Sein ganzer verseuchter Leib schmatzte und gnatzte, seine schwarzlackierten Zehen spreizten sich, seine welke, gelbe Haut raschelte trocken. »Die Schlacht verloren, das Heer zerschmettert, der Triumph in des Feindes Hand! Ah, werden meine Träume doch noch wahr? Nimmt das Schicksal endlich den Fluch von mir, der mich von Sieg zu Sieg jagen ließ, der mir alles in den Schoß fallen ließ, der mich mit Langeweile peinigte?« Der Bosling gackerte. Mirn streichelte seine Wange. »Sprich weiter, mein Schatz, meine ranzige Wanze!« »Alles, Meister«, krächzte der Gnom, »sah so gut aus...« »Ich hatte es befürchtet«, klagte Mirn. »Aus allen Provinzen der südlichen Grenzen waren Schwert und Brünne zusammengerafft. Die cryptischen Söldner, dein menschlicher Troß, zog sich in Hencorens goldene Mauern zurück und entledigte sich allen Rüstzeugs - auf deinen Befehl »Wie gehorsam sie sind«, zürnte Mirn. »Scheußliches Volk! Keiner sagt nein. Keiner ist bereit, sich aufzulehnen und mit Folter und Tod bestraft zu werden... Sie hassen mich, Bosling, sie müssen mich hassen.« -124-
»Alle hassen dich, Meister!« krähte der Bosling. »Dabei habe ich Mitleid verdient.« Mirn schneuzte sich. »Aber fahre fort mit deinem Bericht.« »Sklaven...« »Haben wir Sklaven?« unterbrach Mirn. »Dürr und ausgemergelt, Meister. Jene von N'jyr, die sich in Verrat übten und uns vor Jahr und Tag die Tore der Großen Mauer öffneten. Nicht mehr als tausend.« »Tausend?« kreischte Mirn. »Tausend süße, ausgemergelte Sklaven? Und keiner hier, um vor mir zu siechen? Keiner hier, mein Auge zu erfreuen?« Der Bosling duckte sich. »Wo sind sie?« brüllte Mirn. »Was hast du mit meinen Sklaven gemacht?« »Der Nachtmahr, Meister«, wimmerte der Wicht. »Der Mahr?« »Er fraß sie. Zum Lohn...« Mirns finsteres Gesicht wurde heller. ^›Ah, der Mahr, er versteht es zu schlemmen... Aber lassen wir das. Stets falle ich dir ins Wort. Dabei bin ich so erpicht auf deinen Bericht. Wo waren wir? Was sagtest du? Das Rüstzeug zusammengerafft? Die Sklaven...?« »...schleppten alles die alte Eisenstraße hinauf zum Geborstenen Berg. Der Nachtmahr kroch aus dem Krater, verschlang das Sklavenvolk und blies seinen Atem in Schwert, Spieß und Brüne, in Panzerkleid und Metallscharnier. Du hättest sie sehen müssen, Meister«, schwärmte der Bosling und rollte die unschuldigen Augen. »Wie zahlreich, wie schimmernd, wie mächtig und stark! Gut hunderttausend im Eisenkleid! Unbesiegbar, wollte man meinen!« »Pah«, schnaufte Mirn. »Ich hasse Unbesiegbarkeit. Sie macht alles so klar, so unvorhersehbar.« -125-
Er neigte den Kopf. Spitzte ein schorfiges Ohr. Scheusal, Bestie, Abschaum, Lump! zirpten des Boslings Maden. Verfaule, verrecke, verbrenne, du Aas! Mirn schnurrte. Der Bosling krähte: »Klirrend marschierte dies dunkle Heer nach Gorm und verbrachte die Nacht in Gorms weißen Mauern, in den Zelten am Strygenufer.« »Ich weiß«, gähnte Mirn. »Ein Trupp schlich noch des Nachts durch das gläserne Gras bis zum Moos der Heldenhügel und verbarg sich dort, um Churm zu greifen, sollte er von seinem Botengang mit bewaffneter Macht zurückkehren.« »Churm.« Mirn runzelte die fahle Stirn. »Der letzte vom Orden des Horns. Ja, ich entsinne mich. Hat er Hilfe geholt? Ist daran unser Feldzug gescheitert? Kam er mit Soldaten, von den Königen des Südens in aller Hast ausgebrütet?« »Die Soldatenkönige verweigerten die Hilfe, Meister«, krächzte der Bosling. »Wie feige! Wie eigensinnig! Ich liebe sie!« Mirn faltete die plumpen Hände vor dem schmatzenden, geblähten Wanst. »Dann gaben ihm die Herren vom Dorngrund, gerührt von der Hainfürsten Flehen, ein Dornenheer mit auf den Weg?« »Die vom Dorngrund, Meister«, erwiderte der Wicht, »haben einen Pakt mit deinem Vater...« »Verflucht sei er!« »... geschlossen. Ihnen wurde die Unversehrtheit ihrer Grenzen versprochen, wenn sie die Crypten im Osten und Süden wüten ließen.« »Und sie hielten sich an diesen Pakt?« rief Mirn ungläubig. »Sie hielten sich daran«, bestätigte der Bosling. »Sie -126-
vertrauen vertraglichen Versprechungen.« »Wie närrisch.« Mirn schüttelte betrübt den Kopf. »Warum gibt es nur so viel Ehrlichkeit auf dieser schrecklichen Welt?« »Es war purer Eigennutz, Meister. Die vom Dorngrund hassen die Hainvölker für das, was einer vom Hain ihnen vor Urzeiten angetan.« »Angetan? Ah, ich hielt die Barbaren bisher für gute, langweilige Menschen... Wer war der Täter, und was war seine Tat?« »Der Täter«, knirschte der Bosling, »war Sardor, von dem noch die Rede sein wird, und die Tat war ein gutes Werk, das vom Boden des Westens verdorben. Dieser verfluchte Sardor pflanzte den Ersten von Dorngrund, und deshalb hassen die Dornigen alles, was in den Hainen haust: Weil ein Sohn der Haine ihnen das Leben gab, das sie noch mehr verabscheuen als den Tod.« Mirn lächelte sein krankes, klebriges Lächeln. »Ich verstehe sie«, nickte er. »O ja, ich verstehe sie. Aber wenn Churm weder von den Soldatenkönigen, noch von den Dornigen Hilfe erhielt, dann gewiß von den Eisenherzögen? Haben die metallenen Riesen ihre Schmieden im Erzgestein der Krograniten verlassen und das nachtmahrisch beseelte Heer erschlagen?« »Kein Eisenherzog folgte Churm in die Ebene, Meister«, antwortete der ranzige Wicht. »Das Eisenvolk trägt Churm noch den Diebstahl der Klinge Gly nach, und es fürchtet sich vor dem Mahr.« »Demnach mußten die Hainvölker aus eigener Kraft das Ringen bestehen, zu dem ich sie herausgefordert habe?« murmelte Mirn. »Und sie siegten?« »Sie siegten«, krähte der Bosling. »Aber nicht aus eigener Kraft.« »Wicht!« knirschte Mirn und packte wieder des Boslings -127-
dürren Hals, schüttelte ihn wild. »Du bist zu langatmig. Langeweile kehrt in deine Mär ein. Willst du mich peinigen?« Er zog die Hand zurück, und vom Schwung der Pendelbewegungen getrieben, wirbelte der Bosling zur hohen Decke hinauf. Seine madigen Untermieter, seine molluskischen Schmarotzer, zirpten und schmatzten voll Häme. »Meister, Meister!« krähte der Bosling. »Rede endlich!« donnerte Mirn. »Als die Schlacht begann...« »Hm?« »... und Churm auf seinem Roß in die Reihen der nachtmahrischen Häscher galoppierte...« »Ja?« »... und die barbarischen Scharen von ihren Fürsten geführt von den Hügeln stürmten...« »Ja, ja?« »... und Fürst Caliman metzelte, und Fürst Tür wütete, und Fürst Gorrenhart seine Spieße schleuderte, und Fürstin Lidinya ihre Weiberschar in die Reihen der Rüstungen schickte...« »Wicht!« knirschte Mirn wieder. »... da riß der Himmel auf.« »Der Himmel riß auf?« »Und Blitze zuckten.« »Blitze?« »Und etwas, das so rot wie die Sonne war, schoß aus den Blitzen heraus.« »Etwas so rot wie die Sonne?« »Es hatte Schwingen. Starre Schwingen, zwei an jeder Seite. Und es schrie mit grollender Stimme...« »Schwingen? Grollende Stimme?« Mirns Lider flatterten. -128-
»Ein Mahr? War es ein Mahr? Ein roter Nachtmahr?« »Kein Mahr, Meister«, krähte der Bosling und traf in diesem Moment mit dem spiegelnden Stoff der Decke zusammen. Der weiche Kinderkopf zerplatzte. Mirn schlug enttäuscht die Hände zusammen. Dieses dumme Geschöpf! Ausgerechnet jetzt! Fiebernd wartete Mirn, daß sich Knochen und Fleisch zusammenfügten und der Bosling seinen Bericht beenden konnte. Fiebernd verfolgte er, wie der faulige, sackartige Rumpf zuckte, sich unter Krämpfen verdrehte, träge zu Boden sank, während der geborstene Kopf auf dem Knorpelhals langsam, unerträglich langsam, wieder zusammenwuchs. Bis der Schädel fest, das Fleisch rosig und narbenlos war. Mirns Hand schoß nach vorn und bekam den Bosling an einem der dürren Beine zu packen. Scheusal, Scheusal, dreimal verfluchtes Scheusal! zirpten die Maden in ihrem Madenzorn. »Was war es dann, wenn kein Mahr?« grollte Mirn. »Ein Thron, Meister, ein Thron!« krähte der Bosling. »Wie? Ein Thron? Ein fliegender Thron?« »Ein fliegender Thron«, bestätigte der Wicht. »Der Thron für einen Gott. Vor Überraschung ließ Mirn seinen häßlichen Diener ein zweites Mal los, und das unheimliche Geschöpf flog haltlos davon, ins Kirschlicht hinein. Und aus der roten Helligkeit krähte es: »Der Thron für Sardor, Held der Hainvölker, durch tausendjährigen Schlaf vom Menschen zum Gott geworden. Und Sardors Thron spuckte Metall in die Reihen der Rüstungen.« »Es spuckte Metall?« ächzte Mirn, in der Falle der Wiederholung gefangen. »Wie sonderbar.« »Winzige Metallklumpen, die die Rüstungen durchbohrten und den Geist des Mahrs, der in ihnen eingeschlossen, aus seiner -129-
Schale vertrieben.« In der Ferne, dem blendenden Kirschlicht, knirschte es, und der Bosling schwieg für eine Weile. Möglicherweise hatte er sich diesmal das Genick gebrochen. Verwundert wartete Mirn. Und rief: »Ein Gott? Wahrhaftig ein Gott? Und er besiegte mein unbesiegbares Heer?« »Er trieb es in die Flucht«, ertönte wieder die Krähenstimme. »Nun weißt du es, Meister. Nicht Menschen sind deine Gegner, sondern ein leibhaftiger Gott stellt sich dir entgegen.« »Wie sonderbar«, sagte Mirn wieder. »Ein Gott? Seit Jahrmillionen hat es auf dieser öden Welt keinen Gott mehr gegeben...« Sein Mut sank. »Wie schrecklich. Heißt es nicht, daß Götter gut sind? Besser als jeder Mensch, und deshalb um so langweiliger?« »Äußerst langweilig«, bestätigte der Wicht. Kummer ließ Mirns kranken Leib erbeben, doch aus dem Kummer wurde unvermutet neue Hoffnung geboren. »Ein Gott, ein Gott«, brabbelte „er und spitzte die welken Lippen. »Sind sie nicht mächtig?« »Übermenschlich mächtig«, krähte der Bosling und kam aus den roten Lichtnebeln geschossen. »Oho!« rief Mirn. »Das ist mir gerade recht. Denn du weißt, wie sehr ich mich nach dem Tod verzehre...« »Ich weiß, Meister.« »Und du weißt, daß dieser erbarmungslose Thron mir den Tod verweigert?« »Ich weiß, Meister.« »Und daß ich Meuchelmörder gedungen, Gift geschluckt, mich mit Krankheiten verseucht habe?« »O ja, o ja, und alles vergebens...« Etwas wie Befriedigung schwang in der abscheulichen Stimme des Boslings mit, und die -130-
Maden kicherten, und die Mollusken schmatzten. »Wer könnte dich besser verstehen, dich besser kennen, Meister, als dein erbärmlicher Diener, dem nie auch nur die vage Möglichkeit des Todes gegeben wurde?« »Dafür liebe ich dich so sehr, mein Wicht«, gurrte Mirn. »Aber reden wir nicht von dir, sprechen wir von mir. Ich will sterben!« »Sterben!« krähte der Bosling. »Das Leben fortwerfen!« »Das Leben, das grausame Leben...« »Erlösung von der Fadheit der Existenz!« »Erlösung, gnädige Erlösung...« »Befreiung aus dem Kerker der Langeweile!« »Langeweile, so qualvoll, so öd...« »Und ich bin schlecht!« ächzte Mirn. »Keiner ist schlechter auf dieser Welt als der Schlächter, der Bosheit Held«, krächzte der Bosling, bekam mit einem Klauenfuß den Schädelschmuck des Schädelthrons zu packen und pendelte wie ein aberwitziger Schlegel vor dem Gesicht des Schwarzen Mirn hin und her. »Wenn es das Böse nicht schon seit Äonen gäbe!« schrie Mirn begeistert, »ich hätte es erfunden!« »Und so«, knarrte der Bosling, »hat das Böse dich erfunden. Du bist der übelste aller Übeltäter, der lumpigste aller Lumpen, das scheußlichste aller Scheusale. Du bist mein Meister, mein Herr!« »Ah!« stöhnte Mirn lustvoll. »Du liebst mich, mein faulender Freund.« »Ich liebe dich, ich liebe dich«, krähte der Wicht, »ich liebe dich wie das Messer, das die Kehle des Feindes aufschlitzt.« »Und da du mich liebst...« -131-
»Meister, Meister?« »... und du mich verstehst...« »Meister? Meister!« »... und der Tod dich ohnehin nicht schreckt...« »Meister...?« »... wirst du den Boten für mich spielen!« Der Schwarze Mirn kicherte klebrig vor sich hin. »Den Boten?« »Den Todesboten.« Der Bosling schmatzte erfreut, und die Maden zwischen seinen Zehen zirpten ohnmächtige Drohungen, weil sie wußten, daß jeder Botengang Mühsal für sie bedeutete. »Du wirst«, erklärte Mirn behaglich, »diesen Gott zum Kampfe fordern. Zum Zweikampf!« »Mit wem?« gurgelte der Wicht. »Mit dem Nachtmahr?« »Mit dem Schwarzen Mirn«, seufzte der Schwarze Mirn. »Und wenn das Schicksal gnädig ist - sich dieses eine Mal meiner erbarmt -, ah! Süßer Tod! Geliebter Tod! Vielleicht holt er mich heim...« Dann, mit unvermuteter Flinkheit, packte er den Bosling mit würgendem Griff, zog das kindliche Ohr des Wichtes an seine fahlen Lippen und flüsterte ihm die Einzelheiten seines schlauen, bösartigen Planes zu. 7. Kapitel Der Bosling The hangman, with his little bag, Went shuffling through the gloom... - Oscar Wilde »The Bailad of Reading Goal«, 1898 Der Sternhain war ein seltsamer Ort. Die Hainvölker nannten ihn Wald, aber er war kein Wald, wie Dietrich von Warnstein ihn kannte. Er hatte nichts gemein mit dem deutschen Wald, wo Wind in Baumwipfeln rauschte, wo -132-
Vögel zwitscherten und Laub und trockenes Geäst unter dem Schritt des Wanderers knisterte. Im Sternhain war es still. Es gab keinen Wind und keine Wipfel, in denen er sich verfangen und rauschend um seine Freiheit kämpfen konnte. Es gab kein Vögel, nicht einmal Getier. Und auf dem Boden lag kein Laub, nicht ein morscher Zweig. Die Bäume waren titanische Pilze, hoch wie der Kölner Dom, und ihre borkige Haut war weiß und feucht und fluoreszierte im Zwielicht, das hier ewig währte und sich weder vom Tag noch von der Nacht beeindrucken ließ. Zwischen diesen Riesenpilzen, deren Kappen ein einziges, undurchdringliches Dach bildeten, wuchs jenes schwarze Moos, das auch die Heldenhügel bedeckte. Strich man mit der Hand über dieses Moos, fühlt es sich wie Samt an. Kitzelte man es, kicherte es. Schritt man über den schwarzen Teppich, glaubte man, auf Watte zu gehen. Watte, die jeden Laut verschluckte. Außer dem Moos und den Pilzen gab es noch Blumen, die wie menschliche Augen aussahen: Blütenstempel aus Pupillen und Kelche aus Augäpfeln. Die Kelche saßen auf bleichen Stengeln, und sie drehten sich, beobachteten, starrten. Hier und dort, stets einzeln, niemals in Kolonien, schoben sie sich aus dem Moos heraus, sahen sich neugierig um, wippten dann wie zufrieden auf und ab und zogen sich wieder in ihr untermoosiges Reich zurück. Warnstein erinnerten die Augenblumen an Periskope, und er fragte sich, ob nicht ein riesenhaftes Tier unter dem Moos wohnte und zuweilen, von Langeweile geplagt, die Welt der Menschen ausforschte. Aber natürlich fand jede Frage, die er sich stellte, sogleich -133-
eine Antwort. Eine Antwort, die ohne Worte auskam: Sie entstand in seinem Kopf, einer Erinnerung gleich, die vorübergehend vergessen und bei Bedarf wieder zur Hand war. Die Augen gehörten dem Hain. Der Wald selbst, seiner pflanzlichen, in sich gekehrten Existenz überdrüssig, hatte schon vor langer Zeit Augen entwickelt, um an dem Treiben in der Welt teilzunehmen. Und er beobachtete die Heiden, die in seiner moosigen Stille wohnten, weil er Gefallen an ihnen gefunden hatte und sie vor allem Übel beschützen wollte, das es in der Welt jenseits seiner Grenzen gab. Aber die Augenblumen waren nicht das Seltsamste an dieser Zauberwelt. Die weiß lumineszierende Borke der Pilzbäume hinauf und hinunter, an den Unterseiten der weitgespannten Kappen entlang, krabbelten silberne Kreaturen, die an unbemalte Zinnsoldaten gemahnten, und in den Vertiefungen der Rinde hockten schwarze Wesen wie bebeinte Säckchen. Die einen rannten, als wäre der Gottseibeiuns persönlich hinter ihnen her, und die anderen hockten wie brütende Glucken da. Das war die Tierwelt des Sternhains. An den Stämmen der Pilze lehnten massive Hütten, von denen Warnstein zunächst geglaubt hatte, daß sie aus hölzernen Brettern und hölzernen Balken zusammengesetzt waren, doch als Baumaterial benutzten die Heiden vom Hain die Borke ihrer absonderlichen Bäume. Auf den Heldenhügeln getrocknet und im Licht des Eisenrings gehärtet, war die Borke wie Stahl. Warnstein seufzte. Lang ausgestreckt lag er auf dem dunklen Moos wie in einem kolossalen Bett. Eine der Frauen, die offenbar ihre ganze Zeit damit verbrachten, die emsig rasenden Zinnsoldaten von den Bäumen zu pfücken, ihnen etwas zuzuflüstern und sie dann wieder auszusetzen, eine der Frauen vom Sternhain hatte ihm -134-
einen Borkenkrug voll klarem Quellwasser und eine Art Brot gebracht. Eine Art Brot. Zwar sah es wie ein Laib Brot aus, aber beim Kauen war es zäh wie das Fleisch eines greisen Huhns, und es schmeckte nach türkischem Honig. Gemächlich kaute Warnstein auf dem Honigbrot, trank hin und wieder einen Schluck Wasser und ließ es sich gutgehen. Die Ereignisse in der Gruft waren weit fort. Manchmal glaubte er sogar, alles nur geträumt zu haben - die Stimme und das, was sie gesagt hatte - aber dann war da wieder dieses Raunen im Hintergrund und das Wissen um Dinge, die er unmöglich wissen konnte. Woher, um alles in der Welt, wußte er zum Beispiel, daß die Frauen jene wunderlichen Zinnsoldaten packten, um ihnen Aufträge zu geben, und daß eines dieser handspannengroßen Geschöpfe den Brotlaib aus der Kappe eines Pilzbaums geschnitten hatte? Und woher wußte er, daß die ganze Kappe eßbar war und wohl ein ganzes tausend verschiedener Geschmacksrichtungen zu bieten hatte? Und diese schwarzen, bebeinten Säckchen in ihren Borkenhöhlen! Woher war ihm klar, daß es sich dabei um Gefäße handelte, um lebende Gefäße für - Gott bewahre! -, für die Seelen der toten Wilden?« Ihn schauderte. Wie sie ihn anstarrten! Sie waren noch schlimmer als die Augen, die zu einem guten Dutzend in der Nähe seines Ruheplatzes wippten und ihn betrachteten, als wäre er ein Tier in einem gespenstischen Zoo. Nicht beirren lassen... Sardor, dachte Warnstein. Haltung bewahren. Sollen dich doch diese bebeinten, sackähnlichen -135-
Urnen anstarren! Sollen dich doch diese Augenblumen beobachten! Sie werden dich nicht dazu bringen, die Nerven zu verlieren. Außerdem... hier läßt's sich doch ertragen. Es gibt üblere Dinge in dieser Höllenwelt - wandelnde Rüstungen, zum Beispiel. Der Nachtmahr... Ihn schauderte wieder. Nein! Keine zehn Pferde würden ihn in die Nähe des Geborstenen Berges bringen! Tod und Teufel, schon aus der Entfernung war jene diabolische Aura unerträglich gewesen. Und dann noch über diesen Blutfluß setzen? An dem dämonischen Zyklopenbau namens Gorm vorbei? Durch ganze Scharen wandelnder Rüstungen? Ha! Er wäre ja närrisch, Kopf und Kragen zu riskieren, nur um am Berg angelangt von irgendeiner Kreatur Satans abgeschlachtet zu werden. Sollte Churm zusehen, wie er zurechtkam. Er, Warnstein, würde in diesem Wald bleiben. Hier gab es genug zu tun.. , Er kniff ein Auge zusammen und musterte eine der Heidenfrauen; nach ihrem schlanken Wuchs zu urteilen, mußte es eine Myrte sein. Und, Donnerwetter, wie schamlos diese Person herumlief! Die Beine bis zur Mitte der Oberschenkel frei, der Bauch frei und nur ein dünnes Tuch um die schwellenden Brüste geschlungen... Ihm wurde heiß, und er knöpfte den Kragenknopf auf. Er trug wieder seine alte Uniform und die Ulanenstiefel und auf dem Kopf die Fliegermütze. Es hatte einiges Geschrei gekostet, die Kleidungsstücke wieder an sich zu bringen, da diese Heiden sich allen Ernstes in den Kopf gesetzt hatten, sie als Reliquien zu verehren, aber... Aber ihrem Gott können sie natürlich nichts abschlagen! -136-
dachte Warnstein. Er lachte leise vor sich hin. Die Wilde schien ihn gehört zu haben, denn sie drehte den Kopf. Und lächelte. Zeigte blitzende Zähne. Und dann... Jesus Christus! Warnstein traf fast der Schlag. Knotete dieses schamlose Früchtchen doch ihr Brusttuch auf... ließ den Rock zu Boden gleiten... bot ihm ihr helles Hinterteil dar... und sank, sank, versank im Moos. Mit einem Schrei war Warnstein hoch. »Zu Hilfe!« brüllte er. »Das arme Kind...!« Er rannte los. Federnd gab das Moos unter ihm nach, und wild die Arme schwenkend, war er nach wenigen Sekunden bei der Stelle, wo die Heidin im Moos versunkn war. Sein Kinn fiel herab. Die Heidin lag in einer Mulde im Moos, in kristallklarem Wasser, und badete in sündhafter Nacktheit, als wäre sie ganz allein auf der Welt. Als wäre nicht der ganze Wald voller lüsterner Wilder, die gewiß nur von der Anwesenheit eines zivilisierten Christenmenschen davon abgehalten wurden, mit Gebrüll über diese jungfräuliche, arglose Maid herzufallen. »Uh«, machte Warnstein. »Ich... Uh, Sie sollten sich besser etwas anziehen, Gnädigste.« Die Heidin sah ihn erstaunt an, und ihr Erstaunen erleichterte Warnstein. Also war sie tatsächlich eine unverdorbene Wilde und nicht von der aufreizenden Verderbtheit gewisser Personen in gewissen Salons, die von den moralisch haltlosen Elementen unter seinen Kameraden besucht wurden. Dieses arme Geschöpf wußte nicht einmal, daß es in Sünde lebte, daß es in höchstem Maße unsittlich war, sich vor aller Augen zu entblößen. Was für ein allerliebstes Ding! So unschuldig, so rein! -137-
Er lächelte verzaubert. Dann wurde sein Blick streng. »Liebes Fräulein«, sagte er eindringlich, »ist Ihnen denn nicht bewußt, daß Sie sich in schreckliche Gefahr begeben? Daß es, uh, Unholde gibt, die von unbedecktem, uh, Fleisch... Ich meine«, schloß er verzweifelt, »es schickt sich nicht. Nicht nur göttliches Gebot, auch menschlicher Anstand verbietet es. Hat man Ihnen denn nicht beigebracht, sittsam und keusch...« Er stockte. Es waren Heiden! Wie konnten sie da etwas von Sitte und Keuschheit wissen! »Oh, wegen der Männer mache ich mir keine Gedanken«, sagte das arglose Persönchen. »Ich bin eine Moosfrau.« Sie drehte sich in ihrem grotesken Badezuber, und die rosa Spitzen ihrer Brüste hoben sich über die Wasseroberfläche. Warnstein schluckte. »Die Männer halten sich von den Moosfrauen fern«, fügte die Heidin hinzu. »Ah!« Warnsteins Gesicht hellte sich auf. »Ein Gelübde?« »Gelübde?« Sie runzelte die entzückende Stirn. »Ich weiß nicht, was das ist, Sardor...« »Man entsagt allen weltlichen Dingen«, erklärte er. »Vor allem der, uh, Fleischeslust...« »Oh, dann ist es kein Gelübde.« Sie lächelte ihn strahlend an. »Es wäre doch äußerst töricht, der Fleischeslust zu entsagen, nicht wahr? Nein, nein, wir Moosfrauen mögen die Fleischeslust. Wenn ich mit meinen Freundinnen die Wonnen der Lust...« »Freundinnen?« krächzte Warnstein. »Natürlich«, nickte sie sanft. »Das ist die Art der Moosfrauen... Oh! Ich habe dich gekränkt! Du begehrst mich, ist es das? Und bist enttäuscht, daß ich eine Moosfrau bin...« Warnstein stieß einen gellenden Schrei aus, fuhr herum und -138-
stapfte zurück zu seinem Ruheplatz. Ein Sündenbabel! dachte er erschüttert. Frauen, die sich zu Frauen legen! Heilige Mutter Gottes, es ist abscheulich! Es ist... Er ging langsamer. Andererseits, dachte er, ist dies eine fremde Welt. Man darf sie nicht mit irdischen Maßstäben messen. Und es sind Heiden, keine Christenmenschen. Demnach ist das, was bei einem Christen eine unverzeihliche Sünde wäre, bei ihnen nicht verwerflich. Sie wissen es nicht besser. Und zudem - seine Schritte wurden noch langsamer - hat es mich in dieses Reich verschlagen, und vieles deutet darauf hin, daß ich lange Zeit und vielleicht für immer hier bleiben muß... Ist es dann nicht hochmütig von mir, an den Regeln meiner Welt festzuhalten, die ich womöglich niemals wiedersehen werde, und mich den Regeln dieser Welt, meiner neuen Heimat, zu verweigern? Und gibt es da nicht noch eine zweite Sache, die ich bedenken muß? Die Tatsache, daß ich hier nicht Dietrich von Warnstein, sondern Sardor bin, von den Toten auferstandener Held der Hainvölker? Soll ich, dessen Wort für diese heidnischen Wilden göttlich ist, ihr naturverbundenes Leben durcheinanderbringen, indem ich an Prinzipien festhalte, die hier nichts bedeuten? Brächte ich durch missionarischen Eifer nicht erst die Sünde in diese Welt? Und ist es demzufolge nicht christlicher, die Heiden ihr heidnisches Leben so führen zu lassen, wie sie das bisher getan haben? Er blieb stehen und drehte sich halb zum moosigen Badezuber der nackten Wilden um. Sie war dem Wasser entstiegen, hatte ihre Kleidung ergriffen und schlenderte in das Zwielicht des Waldes hinein. »Entzückend«, seufzte Warnstein. »Gott, es wäre wirklich sündhaft, ihr weiszumachen, daß sie in Sünde lebt...« Frischen Mutes und mit einem munteren Liedchen auf den -139-
Lippen machte er sich auf die Suche nach Churm. Vorbei an den lumineszierenden, gewaltigen Pilzen, an leichtgeschürzten Frauen, die ihm - wie er erst jetzt bemerkte glutvolle Blicke zuwarfen, an nackten Kindern, die im Moos tollten oder die Zinnsoldaten jagten, vorbei an den Augenblumen und den bebeinten Urnen. Hier und dort unter den Stämmen lagen die Verwundeten der Schlacht und wurden von uralten brabbelnden Männern und runzligen Weibern gepflegt. Bei einigen Wilden stolzierten gar ganze Rudel der zweibeinigen schwarzen Säckchen auf und ab und schienen flüsternd miteinander zu debattieren, wie sonderbare Quacksalber, die sich nicht auf die Behandlung ihrer Patienten einigen konnten. Kopfschüttelnd machte Warnstein, daß er weiterkam. Endlich entdeckte er Churm. Der Mann mit den Hornhänden saß an die schwarze Borkenwand einer Hütte gelehnt und lauschte mit ausdruckslosem Gesicht den vier Hainfürsten, die darum stritten, wem der größte Verdienst am Sieg gebührte. »Wie der Sturm bin ich in ihre Reihen gebraust«, krächzte der knorrige Caliman, »und hätte man mich nur gelassen, ich hätte sie alle allein erschlagen...« »Gewiß«, nickte die Fürstin Lidinya, die noch immer am Brautkleid ihrer ältesten Tochter nähte. »Caliman Schlagetot, groß ist dein Wahn und groß ist dein Mut!« »Tod«, grollte Fürst Gorrenhart, der dieses Wort als sein liebstes erwählt und es in kindlichem Entzücken immer und immer wieder sprach. »Tod, Tod, Tod...« »Er ist so heiter heute, unser grimmiger Fürst der Anger«, flötete Lidinya. »Heiter wie stets«, nickte Tür, der schlanke Myrte. »Er ist nicht heiter, er ist krank«, knurrte Caliman. »Er macht -140-
mir meine Opfer streitig. Tausendundzwölf, ich habe gezählt jeden Streich habe ich gezählt...« »Aber gewiß«, wandte Tür ein, »hat nicht jeder Streich getroffen?« Caliman funkelte ihn an. »Tod«, sagte Gorrenhart. »Schon gut«, seufzte Lidinya. »Jeder meiner Streiche trifft«, sagte Caliman zu Tür. Der Myrte schlug sich auf die Schenkel. »Demnach bist du ein Possenreißer, der anderen Streiche spielt, mein Fürst?« »Wie?« sagte Caliman. »Er versteht deine Spitzfindigkeit nicht, Myrtenfürst«, warf die Woyde ein. »Er ist zu alt.« »Wer«, grollte Caliman, »behauptet, daß ich alt bin?« »Ich habe tausendunddreizehn erschlagen«, erklärte Tür. »Nicht mehr und nicht weniger.« »Und ich tausendundvierzehn«, flötete die Woydin und stach mit ihrer Nadel in den weißen Stoff, des Brautkleids. »Und wie ist es mit dir, grausamer Gorrenhart?« Der Anger hob sein haariges Haupt. »Tot«, murmelte er. »Alle Feinde sind tot.« »Sie haben nie gelebt, Angerfürst«, erinnerte Lidinya. »Es waren nur Rüstungen, vom Nachtmahr gelenkt.« Tür schüttelte den Kopf. »Wie betrüblich. Was hat dann unsere Zählerei für einen Sinn gehabt?« »Keinen, wie schon oft.« Lidinya blickte auf. »Ah, Sardor kommt!« Dietrich von Warnstein lächelte verzerrt. Sardor... War er Sardor? In der Gruft - da hatte alles so einfach ausgesehen. Da hatte er gespürt, daß er Sardor war, und den kalten Hauch des zwanzigtausendjährigen Schlafs gefühlt. Doch nun... Er war -141-
wieder sein altes Ich, Dietrich von Warnstein, Jagdflieger und Soldat des deutschen Kaisers, den ein unergründliches Schicksal in eine Welt verschlagen hatte, die fremd, wild und höllisch war. Nur manchmal... wenn es in seinem Kopf raunte; wenn er Dinge wußte, die er nicht wissen konnte... »Er zweifelt noch immer«, sagte Churm und funkelte ihn mit Silberaugen an. »Es ist das Vorrecht eines Gottes, zu zweifeln und zu leugnen«, sagte die Woydenfürstin. »Zumindest ist unser Gort noch menschlich genug, um unseren Frauen nachzustarren«, krächzte Caliman und kicherte. Verschwörerisch blinzelte er Warnstein zu. Warnstein errötete. »Frauen!« rief Gorrenhart. »Wenn er nicht vom Tod spricht, dann von den Weibern.« Fürst Tür bleckte die Zähne. »Also wird ihn der Tod bei einem Weib überraschen.« »Oder«, lächelte Lidinya süß, »oder ein Weib wird ihm den Tod bringen...« »Ergeht es nicht allen Männern so?« fragte Tür freundlich. Warnstein ließ sich ins Moos sinken. Er fühlte sich plötzlich benommen, und das leichte Gerede der Heiden verlor sich zu einem sinnentleerten Rauschen. Er senkte den Kopf. Churms Blicke ruhten noch immer auf ihm, und er spürte ihre brennende Intensität. »Wer bin ich?« flüsterte Warnstein. »Wer bin ich wirklich?« Die Hainfürsten verstummten. Sie sahen ihn an. »Deutschland«, sagte Warnstein. »Der Krieg... Meine Jugend in Ostpreußen... Habe ich alles nur geträumt, wie es die Stimme in der Gruft behauptet hat? Aber der Albatros... Mein Vogel draußen vor dem Hain... Er ist wirklich und kein Traum.« Churm lachte. -142-
Warnstein hob den Kopf. »Warum sollten Träume nicht Wirklichkeit sein, Sardor?« fragte der Mann vom Orden des Horns. »Und die Wirklichkeit nicht ein Traum?« Warnstein wollte antworten, wollte ihm sagen, daß die Träume nur in den Köpfen der Menschen existierten, daß aber die Wirklichkeit außerhalb der Köpfe lag, aber da schnürte ein schreckliches Gefühl seine Kehle zu. Das Gefühl, von einer bösen Kraft belauert zu werden, von einem diabolischen Einfluß, der sich in den Frieden des Sternhains schlich und die Stille bedrückend, das Dämmerlicht bedrohlich, die angenehme Kühle frostig machte. Etwas näherte sich. Etwas, das nicht in den Hain gehörte. Er keuchte, und als er aufsah, blickte er direkt in Churms Silberaugen, und im Silber spiegelte sich seine Furcht. »Was ist das?« raunte Caliman. »Etwas kommt«, flüsterte Tür. »Es ist schon ganz nah«, wisperte Lidinya. »Tod«, grollte Gorrenhart. Schreie gellten in der Ferne, Gebrüll, in dem sich Angst und Zorn mischte. Churm, Warnstein, die Fürsten sprangen auf. Churm griff nach der blauen Klinge Gly; Tür zückte sein Dornschwert; Calimans mächtige Axt glänzte fahl im Lumineszieren der Pilzbäume; Gorrenharts Spieß suchte hungrig nach Beute; und die Fürstin Lidinya hielt stoßbereit ein Messer in der zierlichen Faust. Plötzlich wurde sich Warnstein seiner Waffenlosigkeit bewußt. War es das, was ihn gestört hatte? Eine Waffe... In seinem Hinterkopf raunte es. Eine bestimmte Waffe... Ja; da war etwas, an das er sich erinnern mußte. Erinnern an etwas, das er nie gewußt hatte. -143-
Er fröstelte. Im Hain schwoll das Geschrei an, und plötzlich wuchsen aus dem Zwielicht die schlanken Gestalten der Myrten, die klobigen Leiber der Nurn, die hühnenhaften Anger, die kriegerischen Woydenfrauen. Sie bildeten eine Gasse, einen waffenstarrenden doppelten Wall, und durch diese Gasse hüpfte etwas auf die Fürsten zu. Kein Mensch. Der Geruch von Fäulnis ging von dieser satanischen Kreatur aus, die auf dürren, übermäßig langen Beinen über das Moos hoppelte, und wo die Klauenzehen das Moos berührten, verwandelte sich das Schwarz in Grau, das samtene Kissen in eine morsche Masse. Auf einem trunken schwankenden Knorpelhals, von weißlichen, amöbenhaften Klumpen bedeckt, saß die abscheuliche Travestie eines Kinderkopfes. »Ein Bosling«, knurrte Churm, und Glys tödliche Spitze richtete sich auf den teuflischen Gnom, der krähend und krächzend heranhüpfte. »Der, der den Tod bringt, ohne je vom Tod erlöst zu werden«, sagte Caliman. »Der Henker allen Lebens«, flüsterte Tür. »Tod!« grollte Gorrenhart. Blanke Schwerter säumten den Weg des Gnoms, der in aberwitzigem Vergnügen krähte und die streichholzdünnen Knochenarme schlenkerte. Vor seiner geblähten Brust hing eine Tasche, aus Menschenhaut gefertigt, an einem Riemen aus geflochtenem Menschenhaar. Die blauen Kulleraugen des Boslings waren starr auf Glys blaue Spitze gerichtet, und die blutroten Lippen des kindlichen Schmollmundes formten ein erstauntes O. Zehn Schritte von den Hainfürsten entfernt, umringt von den Barbarenkriegern, von allen Seiten durch gezückte Waffen -144-
bedroht, hielt der Bosling in seiner elenden Hüpferei inne und zerfetzte mit den Klauenfüßen das Moos. Wie Schorf breitete sich Grau um ihn aus und stellte sein Wachstum ein, als es einen Durchmesser von zwei Metern erreicht hatte. Knarren und Knirschen durchlief den Wald. Die mächtigen weißen Stämme der Pilzbäume schaukelten unvermittelt hin und her und die silbernen Kreaturen, die an der Borke hinauf- und hinuntergelaufen waren, sprangen in riesigen Schwärmen zu Boden, fielen wie Regen von den Pilzdächern, wimmelten zwischen den Augenblumen, die drohend den Bosling fixierten, und dann verschmolzen die winzigen Geschöpfe, bis sie die Größe ausgewachsener Menschen erreicht hatten. Silberne, gesichtslose Soldaten. Mit Armen, die in Sicheln endeten, in Klingen und Hammerköpfen. Die Barbarenkrieger öffneten ihre Reihen, wichen zurück, machten den silbernen Soldaten Platz. Der Bosling duckte sich. »Nein, nein, nein!« krähte er. Hob abwehrend die dürren Arme, warf wilde Blicke nach rechts und links. »Nein, nein, nein!« »Halt!« grollte Churm. Die Soldaten des Waldes verharrten, aber der Ring, den sie um den Bosling gelegt hatten, war lückenlos bis auf eine schmale Öffnung, auf die Churm jetzt zuschritt. »Sie können ihn nicht töten«, sagte Caliman, »aber sie können ihn in Scheiben schneiden, so daß er Tage brauchen wird, um all seine Einzelteile aufzusammeln.« Der alte Fürst kicherte. Warnstein fuhr beim Klang des greisenhaften Gelächters zusammen. -145-
»Und er fürchtet sich vor Gly, der Unhold«, fügte Fürst Tür hinzu. »Denn Gly, von dem verfluchten Eisenherzog Hartrokor geschmiedet, ist die einzige Waffe, die ihm Schmerzen zufügen kann. Nicht töten, nein, aber Schmerzen bereiten.« »Was will er?« stieß Warnstein hervor, ohne den Blick von dem grausigen Wicht abzuwenden. »Woher kommt er?« »Er kommt aus dem Nichts«, raunte ihm die Fürstin Lidinya ins Ohr. Sie stand dicht neben ihm, und sie roch nach dem bittersüßen Aroma des Mooses. »Er tropft aus der Zeit. Und er ist nicht der einzige seiner Art. Noch vor Jahrhunderten gab es keinen Bosling auf Erden, aber seit kurzem tauchen immer mehr von ihnen auf. In allen Ländern, wie man hört... Und so ist es prophezeit«, sagte die Fürstin, »daß vor dem zweiten, dem letzten kosmischen Krieg, der Tod in leiblicher Gestalt über die Erde wandeln wird...« »Tod!« bekräftigte Fürst Gorrenhardt. »Ich verstehe...«, sagte Warnstein. »Geht er an dir vorbei, dieser Tod in Boslinggestalt, geht er einen Schritt an dir vorbei, stirbst du. Auch du, Sardor«, raunte Lidinya. »Für den Bosling und den Tod sind Götter und Menschen eins...« »Was willst du?« dröhnte Churms tiefe Stimme durch den Hain. Der Gnom gackerte. »Ein Bote bin ich«, krähte er. »Und wer schickt den Tod auf Botengang?« fragte Churm, trat noch näher an den Bosling heran und zielte mit der Klinge Gly auf den geblähten, ranzigen Leib des Scheusals, als wollte er es kitzeln. Der Bosling fuhr zurück und warf aus blauen Kulleraugen furchtsame Blicke auf die leuchtende Waffe. »Mein Meister«, krähte er, »mein Meister schickt mich.« -146-
»Gewiß trägt dein Meister einen Namen?« »Mirn!« Der Bosling gackerte erneut. »Es ist der Schwarze Mirn, Hommann.« Die Klinge Gly glitt höher, am knorpeligen, molluskenbedeckten Hals hinauf, am Kinn vorbei bis zur Nasenwurzel des Boslings. »Also«, grollte Churm, »hat Scheusal zu Scheusal gefunden. Ich verbeuge mich vor der Weisheit des Schicksals.« »Du bist großzügig, Hornmann«, krähte der gnomenhafte Unhold. »Großzügig wie Mirn...« »Ah! Lob aus dem Mund des Todes... Aber vertändeln wir unsere Zeit nicht mit Artigkeiten. Was willst du?« »Ich habe eine Botschaft für den Gott, der fliegt...« Der Bosling verdrehte den Hals und warf Warnstein einen bösen, hungrigen Blick zu. »Eine Botschaft für Sardor. Von Mirn.« Warnstein zögerte nicht länger. Mit einem Dutzend langer Schritte war er an Churms Seite. Und der Fäulnisgeruch, der von der widerwärtigen Kreatur ausging, raubte ihm einen Moment lang den Atem. »Ich bin Sardor«, preßte er hervor. »Du bist ein Gott?« krähte der Wicht. Warnstein zögerte und nickte dann. »Du fliegst?« krächzte der Gnom. »Ich fliege.« Warnstein lachte grimmig auf. »Weiß Gott, ich fliege!« »Oh«, seufzte der Bosling. »Wie schön, wie schön. Denn Mirn läßt fragen, Sardor, Gott und Flieger, ob du ihm die Gnade erweisen könntest, ihm das Leben zu nehmen, das nur Langeweile für ihn bereithält.« Warnstein runzelte die Stirn. »Er leidet am Leben, der mörderische Mirn«, fügte der -147-
Bosling gackernd und krähend hinzu. »Ach, was hat er nicht schon alles versucht, um die Wonnen des Sterbens zu genießen! Vergeblich, vergeblich... Nicht einmal ich, der ich allen den Tod bringe, habe ihn erlösen können... Nun?« Der Kreatur blasphemische Kinderaugen fixierten kalt den Flieger. »Wie lautet deine Antwort?« Warnstein wechselte einen Blick mit Churm. Das Gesicht des Hornmanns war ausdruckslos, und die Silberaugen sagten: Die Entscheidung liegt bei dir. »Sage deinem Meister«, antwortete Warnstein bedächtig, »daß ich mich in meiner Barmherzigkeit seinem Wunsch nicht verschließen kann. Sage ihm, daß ich es vorziehen würde, ihn am Leben zu lassen und einen guten Menschen aus ihm zu machen, aber daß ich den reiflich überlegten Entschluß eines erwachsenen Mannes respektiere - sofern er mich nicht zum Schlächter herabwürdigen will. Denn es handelt sich doch um ein Duell, das dieser Mirn anstrebt?« »Ein Duell, ein Duell«, krähte der Bosling eifrig. »In der Luft, im Fluge. Das ist die Bedingung. Und er wünscht dir Sieg und sich den Tod.« »Ich hoffe«, sagte Warnstein stirnrunzelnd, »er wird ehrlich kämpfen?« »Ehrlich? Ehrlich?« Der Kinderkopf auf dem Knorpelhals wackelte hin und her. »Wer hat je gehört, daß Mirn ehrlich kämpft?« Warnstein hüstelte. »Ich meine, er will dieses Duell doch nicht dazu mißbrauchen, Selbstmord zu begehen - mit meiner Hilfe?« »Selbstmord ist ihm verwehrt«, krähte der Wicht. »Der Thron... du verstehst?« »Nein.« »Aber du kommst?« -148-
»Ich komme.« Warnstein dachte nach. »Der Zeitpunkt?« Der Bosling nestelte an seiner grausigen Tasche aus Menschenhaut. Dann hielt er einen roten Fleischklumpen, einen zuckenden Klumpen rohen Fleisches in der Hand und warf ihn Warnstein vor die Füße. »Wenn das Herz nicht mehr schlägt...«Er gackerte. »Mirns Herz, das er sich, um seinen Respekt zu bezeugen, eigenhändig aus der Brust schnitt.« Warnstein starrte benommen auf das pulsierende Herz vor seinen Füßen. Er schluckte. Er hüstelte. Er räusperte sich. »Nun,«, sagte er mehr zu sich selbst als zu dem Bosling, »man soll nicht über die exzentrischen Sitten fremder Völker spotten. Allerdings...« »Ja? Ja?« krähte der Bosling besorgt, als fürchtete er, daß Warnstein es sich im letzten Moment anders überlegen würde. »Allerdings, allerdings?« »Allerdings«, erklärte Warnstein, »frage ich mich, woher dein heidnischer Meister eine Flugmaschine nehmen will.« Plötzlich gackerte der Gnom, kreischte vor Vergnügen, wirbelte herum, sprang mit einem Satz über die Phalanx der silbernen Waldsoldaten hinweg und war nur Sekunden später wie ein Spuk in der Dämmerung des Hains verschwunden. Zurück blieb das blutige, schwammig pulsierende Herz des Schwarzen Mirn. 8. Kapitel Zu den Seufzerschründen In Höhen, Tiefen, wo die Klüfte immer gähnen, Im All, im Schweigen und am lächelnd finstren Strand Selbst auf der Nächte Grund läßt Gottes weise Hand Die Schattenwesen sich ins Ungemeßne dehnen. - Baudelaire »Der Abgrund«, 1862 »Es ist Aberwitz, Sardor!« schrie Churm über den dröhnenden -149-
Galopp des Weißhorns hinweg. »Wahnsinn, und wenn er auch noch so göttlich ist...« Sardor lachte...« Voll und heiter hallte sein Gelächter über das Glasgras der Ebene, durch die das Weißhorn pflügte, als wollte es dieses ganze orangen glosende Feld in einen Stoppelacker verwandeln. Und F6 brüllte ungestüm, laut wie Gottes himmlische Posaune, die am Jüngsten Tag die Toten ins Leben zurückrufen würde, um sie zu richten und von ihren irdischen Sünden zu erlösen. Vom Horizont schwebten Seufzer heran. Kummervoll strichen sie über die gläsernen Halme, wurden von den Nadelspitzen in Streifen geschnitten, vom frischen Morgenwind gepackt und in den Himmel getragen. Wo Wolken, purpurn und violett, vor der flammenden Sonne flohen, die in ihrer ganzen gewaltigen Größe über die Gipfel der Krograniten stieg. »Laß uns umkehren, Sardor!« schrie Churm. »Wer in die Schrunde hinabsteigt, wird niemals wieder das Tageslicht sehen...« Das Weißhorn stürmte unbeirrt auf die dunklen Zacken zu, die in der Ferne die orangene Glut der Ebene dämpften. Nebel stieg aus den Spalten empor und wurde wie die Seufzer vom Wind ergriffen und zerteilt. Vor Churm saß Sardor im Nacken des grauen, gepanzerten Ungeheuers, und er war jetzt tatsächlich Sardor, Gott und Held aus zwanzig Jahrtausende alter Gruft, und nicht mehr Dietrich von Warnstein aus dem unerreichbaren deutschen Land. Tr seinem Körper pulsiel'e Kraft, wie er sie nie zuvor gekannt, und sein Wille war von einer Entschlossenheit, die jede menschliche Entsc1-' senheit übertraf. »Zu den Seufz hründen!« brüllte er in den Wind, das unheilvolle Geseufze, das lauter wurde und in prustenden Fanfarenstößen über das Land dröhnte. -150-
Während F£ übermütig brüllte. Und Sardor lachte. Und Churm ihm verzweifelt Einhalt gebot. Denn Churm wußte, welch tödliches Gewürm an der Schrunde Grund in ewiger Finsternis hauste und nur dann und wann zum Licht der Sonne emporkroch, um seine animalischen Gelüste an toten Menschenleibern und morschen Mumien zu stillen. Nicht um das Fleisch oder die Knochen der Toten ging es dem Gewürm, sondern um die unsichtbaren Mineralienspuren im Gewebe und im Gebein, und oft schon hatten die Krieger der Woyden, Anger, Myrten und Nurn aus den Hainen zu den Heldenhügem stürmen und die lästerlichen Kreaturen von den Schlafstätten ihrer Helden vertreiben müssen. Aber in den Schrunden war der Wurm der Herr. »Mein Schwert!« rief Sardor und deutete mit dem schwarzen Handschuh auf die schwarzen Klüfte, die mit jedem Atemzug ein Stück näher sprangen. »Das Schwert des Sardor! In den Schrunden, Hornmann, es wartet in den Seufzerschründen auf mich - seit zwanzigtausend Jahren!« Wieder lachte er, aus Lust am Leben und am jagenden Ritt. Von einem Moment zum anderen war die Veränderung erfolgt, kurz nach dem Auftauchen von Mirns Todesboten und nach der Übergabe des blutigen Geschenks, dessen matter Schlag die Zeit bis zum Duell in den Lüften maß. Von einem Moment zum anderen war das Wissen in Warnsteins Gedanken aufgeblitzt, und das Raunen in seinem Hinterkopf war zu einem Choral angeschwollen und hatte alle Zweifel hinweggefegt. Deutschland ist tot! hatte die Stimme in der Gruft gesagt. Es hat Deutschland nie gegeben. Und sie hatte recht. Alles, was zählte, alles, was wirklich war, das war diese zauberische Welt im Kirschlicht der Titanensonne, und er war Sardor, und er hatte eine Pflicht zu erfüllen - sich selbst und den Menschen gegenüber. -151-
»Die Menschen, Churm!« schrie er über die Schulter hinweg, »müssen gerüstet sein, wenn die Eisenmänner aus ihrem Exil zurückkehren, und wenn die Gehörnten wieder von den Sternen herabsteigen, und wenn die mordlüsternen Schwärme der Nachtmahre erneut den Himmel verdunkeln... Ich sage: Nie wieder soll ein Mensch von diesen gnadenlosen Unholden auf die Schlachtbank geführt werden; nie wieder soll ein Mensch ein Werkzeug in den kalten Händen der Gehörnten sein; nie wieder soll ein Mensch des Nachtmahrs grausige Gelüste stillen... Noch ist Zeit, die Vorbereitungen zu treffen. Noch hat die Wehrglocke ihre Stimme nicht erhoben und zur letzten kosmischen Schlacht gerufen... Und überall auf dem Erdenrund warten Männer wie du und Frauen wie Lidinya, warten, ohne es zu ahnen, daß Sardor kommt und sie zu einem Heer schmiedet, stark genug, tapfer genug, verzweifelt genug, den kosmischen Mächten die Stirn zu bieten und sie für alle Ewigkeit von diesem Globus zu vertreiben... Bist du mein Mann, Freund Churm vom Orden des Horns?« schrie Sardor. »Wirst du bereit sein, wenn die Wehrglocke schlägt? Wirst du kommen, wie die anderen, die ich finden muß und die ich finden werde?« Churm hieb ihm mit der Hornhand auf die Schulter. »Zähl auf mich, Sardor«, brüllte er in den pfeifenden Wind. »Rufe mich, wenn die Zeit kommt, und ich werde da sein! Mit der Klinge Gly und meinem Roß F6 werde ich an deiner Seite gegen die Scharen der Eisernen ziehen und gegen die Gehörnten, die all meine Brüder und Schwestern zum Dank für treue Dienste in einer Nacht erschlugen, und gegen die Nachtmahre, von denen einer schon im Geborstenen Berg lauert.« Wieder lachte Sardor, und Churm stimmte in das Gelächter ein, und Fe ließ dazu ihre Posaunenstimme erklingen, und die Seufzer aus den Schrunden flauten wie verängstigt für eine Weile ab. -152-
Die Schrunde... Dunkel, gezackt, klaffend und bodenlos. An den Rändern der Risse im Boden wuchs kein noch so kümmerlicher Grashalm, und der Boden war schwarz wie der Schlund selbst. Der Nebel, der aus den seufzenden Tiefen aufstieg, war von fahlem Weiß und roch nach erhitztem Metall. Und es seufzte und ächzte in einem fort, als wären alle Sünden der Menschheitsgeschichte in diese Klüfte geschleudert worden, um ihre Untaten zu beweinen und ihr Schicksal zu betrauern. Fes donnernder Galopp mäßigte sich, wurde zu einem Trott. An der Grenze zwischen der Orangenglut des Grases und dem Schwarz des vergifteten Bodens blieb das Weißhorn stehen. Schnaubte. Scharrte mit den Vorderläufen im grau glitzernden Glasstaub. Das lärmende Geseufze war jetzt ohrenbetäubend. Mit verzerrtem Gesicht sprang Sardor von F6s Panzerrrücken, und einen Atemzug später war Churm an seiner Seite, mit Helm und Harnisch, grimmig funkelnden Silberaugen, und die Klinge Gly blank und blau in der Hornhand. Schweigend traten die beiden Männer an den Rand der Schlucht. Hier war sie noch schmal; knapp zwanzig Meter lagen zwischen Klippe und Klippe, doch weiter in Richtung Krograniten wurde der Schrund breiter und breiter und klaffte wie ein ungeheurer Talkessel mit rußigen Wänden und nebligem Grund. Dunstschwaden trieben feucht den Männern ins Gesicht. Von drunten stieg Schmatzen hoch. Etwas blitzte durch die Nebel wölken. »Ein Quecksilberwurm«, murmelte Churm. »Einer von den harmlosen Bewohnern der Schrunde.« -153-
Sardor lachte auf. »Hab keine Angst«, sagte er. »Das Gewürm wird sich von uns fernhalten. Es kennt mich, und es fürchtet mich.« Es fürchtete ihn tatsächlich. Er wußte es. Er - Sardor - war vor zwanzigtausend Jahren, nach einem Leben, das länger gewährt hatte als das Leben jedes anderen Menschen, des Daseins müde in die Klüfte hinabgestiegen, um sein Schwert der Obhut des seufzenden Gewürms zu übergeben. Natürlich hatte das Gewürm, an äonenlange Zügellosigkeit gewöhnt, den Wunsch des ungebetenen Eindringlings zurückgewiesen. Natürlich hatte es sich in blitzenden Scharen herangewälzt, um diesen vorwitzigen Menschen zu zermalmen. Und er hatte das Gewürm gestraft, wie es nie zuvor gestraft worden war, seit es sich aus den zerfallenen Überresten der denkenden Schlachthäuser in Myriaden Einzelwesen aufgespaltet hatte. Er hatte es zu Tausenden erschlagen und den Grund des Schrundes mit zahllosen Brocken aus Quecksilber und Blei, Kupfer und Zink, Eisen und Gold übersät, bis die Überlebenden ihre Niederlage eingesehen und sich ihm unterworfen hatten. Seufzend, wie es ihre Art war. Seufzend, weil sie tief im Innern ihrer Leiber aus halb verflüssigtem Metall die Erinnerung an unsägliche Schuld bewahrten: an ihr Erbe, das das Erbe der denkenden Schlachthäuser war. »Hört ihr mich?« schrie Sardor in den Schlund hinab. »Hört ihr mich, ihr Würmer? Sardor steigt zu euch hinunter, um das zu holen, was er in eure Obhut gab!« Das Seufzen wurde lauter und lauter, und hier und da, da und dort, an mehr und mehr Stellen im wallenden Nebel, blitzten -154-
und glitzerten bleierne und kupferne Leiber, reckten Würmer aus Gold und Platin augenlose Köpfe dem Rufer zu. »Komm«, sagte Sardor zu Churm. Ein schmaler Sims sprang ganz in der Nähe aus der rußigen Klippenwand hervor und fiel schräg in die Tiefe ab. Die beiden Männer folgten diesem Sims, in das Geseufze, in die Nebelschwaden, den metallischen Gestank. Churms Silberaugen waren schmale Schitze im bärtigen Gesicht. Gly drohte, suchte hungrig nach Feinden und fand keine. Das Gewürm hielt sich fern. Begnügte sich damit, zu seufzen und unheilvoll zu blitzen. Schließlich, als sie nach Stunden, wie es schien, den Grund des Schrundes erreicht hatten, wo statt Nebel Finsternis war, hob Churm die Klinge, und sie warf strahlendblaues Licht durch die Schwärze. Riß blattgoldbewucherte Felsen aus der Dunkelheit; enthüllte träge Bäche aus Blei und stille Weiher aus halb erstarrtem Silber. Und Schleif spuren im nackten Fels. Schleifspuren von Würmern, groß wie Dampflokomotiven. Unablässig seufzte es von überallher, und unablässig reflektierte Glys Blaulicht auf lauerndem Metallgewürm, das hastig davonkroch, sobald es vom Licht getroffen wurde. Sardor achtete nicht darauf. Zwanzig Jahrtausende waren seit seinem letzten Besuch an diesem Ort verstrichen, und doch hatte sich nichts verändert. Die Bleibäche folgten noch immer ihrem vorbestimmten Lauf, die Süberseen lagen träge dort, wo sie auch damals gelegen hatten. Hier in den Schrunden hatte die Zeit wenig Bedeutung. »Wohin?« flüsterte Churm. »Komm«, raunte Sardor zurück. Ein Instinkt führte ihn so sicher wie der Instinkt die Zugvögel -155-
von ihren Sommerfrischen zu den Winterquartieren geführt hatte - vor Äonen, als noch Zugvögel über das junge Antlitz der Erde geflogen waren. Zugvögel... dachte Sardor. Erinnerungen aus den Träumen, mit denen er sich in der Gruft die Zeit vertrieben hatte. Verblaßt wie all die anderen Erinnerungen und doch noch kräftig genug, um jeden Moment in den Vordergrund treten zu können. Er lächelte. Es spielte keine Rolle. Er, Sardor, und Dietrich von Warnstein waren eins. Zwei Seiten einer Münze. Noch waren sie getrennt, in zwei Seelen gespalten, aber die Grenze zwischen ihnen wurde immer durchlässiger. Bald würden sie miteinander verschmelzen. Dann würde aus Sardor Dietrich von Warnstein werden, und aus Dietrich von Warnstein Sardor. Wenn das letzte Trennende, das letzte Bruchstück aus den Träumen verschwunden war. Sardor lächelte wehmütig, während er mit sicheren Schritten die Finsternis durchmaß und sich rasch jenem Ort näherte, den er vor vielen Menschenaltern zum Rastplatz seines Schwertes bestimmt hatte. Ob Warnstein es wußte? Ob Warnstein es ahnte? Dieses andere Ich im Hintergrund seiner Gedanken, das die Hälfte des wiederauferstandenen Sardor war? Ahnte Warnstein, daß bald die letzte Nabelschnur zum Traumland, zu jenem fremden, grausigen Deutschland einer anderen Erde, gekappt werden würde? Sardor schüttelte unwillig den Kopf. Warum dachte er von Warnstein wie von einem anderen Menschen? Der Flieger war ein Teil von ihm, wie er ein Teil des Fliegers war. -156-
»Was ist das?« stieß Churm hervor. Die Klinge Gly senkte sich und deutete mit der leuchtenden Spitze auf einen weißen Strich in der Finsternis. »Das Schwert«, sagte Sardor. »Das Schwert des Sardor.« Das Seufzen der Würmer verebbte. Stille trat ein, nur von den Schritten der beiden Männer durchbrochen. Sardor ging schneller. Er lief und stolperte nicht, obwohl es dunkel und der Boden uneben war. Der weiße Strich kam näher, wurde größer und breiter, und dann beleuchtete Glys blaues Feuer einen würfelförmigen Monolith. Schwarz wie die Nacht der Schrunde, glatt wie ein Spiegel, groß wie ein Haus. Und an diesem Monolith, von unsichtbaren Klammern gehalten, prangte das Schwert. Es war größer als Gly, besaß eine breitere Klinge, und es war schneeweiß. Der Knauf, bislang stumpf, begann bei Sardors Nahen von innen heraus zu glühen, kirschrot zu glühen, und mit der zunehmenden Glut klang das kummervolle Geseufze der Würmer wieder auf, und der Monolith knirschte und bebte, schwankte ächzend hin und her, und die Glut des Knaufes wurde so hell, daß Churm geblendet die Augen schloß. Das Schwert bewegte sich. Die weiße Klinge löste sich mit einem Ruck von dem Monolith und flog Sardor entgegen, flog direkt in dessen offene Hand, und als sich Haut und Knauf berührten, zerfiel der Monolith zu Staub. Aus dem Seufzen wurde ein gellender Schrei. Sardor hob das Schwert, von rotem Feuer und blauem Licht umspielt, und er leistete den Schwur, den abzulegen er sich selbst vor zwanzig Jahrtausenden verpflichtet hatte. »Für die Menschen!« sagte er. Er sprach nicht laut, aber der Klang seiner Stimme genügte, -157-
um das Geschrei und das Geseufze gleichermaßen verstummen zu lassen. Fragend sah er Churm an, und der Mann vom Orden des Horns tat es ihm nach, bohrte Gly in die Höhe und rief: »Für die Menschen!« Dann, ohne ein weiteres Wort, ohne sich noch einmal umzudrehen, stiegen die beiden Männer wieder zur Ebene hinauf, und Fe trug sie in rasendem Galopp zu den Heldenhügeln und zu den Hainen zurück, und als sie den Sternhain erreichten, traten die vier Fürsten aus dem Zwielicht der Pilzbäume. Ihre Gesichter waren ernst. Auf einem Schild aus schwarzer, stählern erstarrter Borke lag das rohe, rote Herz des Mirn. Es hatte zu schlagen aufgehört. 9. Kapitel Der letzte Flug des Albatros Es gibt eben nichts Schöneres für einen jungen Kavallerieoffizier, als auf Jagd zu fliegen. - Manfred. Freiherr von Richthofen »Der rote Kampfflieger«, 1917 Die Hauptsache für einen Jagdflieger ist das MG... Ein gut schießendes MG ist besser als ein gut laufender Motor... Auf das Fliegen selbst lege ich bedeutend weniger Wert. - Manfred Freiherr von Richthofen »Sein militärisches Vermächtnis«, 1938 Wieder in der Luft! Sich wieder den Wind um die Nase pfeifen zu lassen, schwerelos in den Himmel zu steigen, umschnurrt von den 160 Pferdestärken des Mercedes-Motors - ah, konnte es denn ein größeres Glück geben? -158-
Dietrich von Warnstein jauchzte. Der Albatros raste wie ein roter Blitz durch die Lüfte, und das Land unter ihm war auf Spielzeuggröße geschrumpft. Jagdflug! Feindflug! Und wenn auch der Feind kein englischer Lord und kein Franzmann war - Hauptsache, wieder fliegen, auf dem Albatros hoch über der Welt reiten! Abrupt wurde der Jagdflieger wieder ernst, wurde sich schmerzhaft bewußt, daß dieses Glück nicht von Dauer war. Der Benzintank war nur noch halb gefüllt, und wenn der durstige Motor den letzten Tropfen Sprit gesoffen hatte, würde der Albatros flügellahm am Boden liegenbleiben müssen. Dreimal verflucht, daß es in dieser heidnischen Welt kein Benzin gab! Was war ein Jagdflieger ohne sein Himmelsroß? Eine Karikatur, nichts weiter! Unwirsch verzog Warnstein den Mund. Hör auf damit, sagte er sich. Genieße die Fliegerei, solange du noch kannst. Was nützt es, sich wegen dem Unausweichlichen zu grämen? Denk an den Kampf, an das Duell mit diesem Schwarzen Mirn... Er schauderte. Unter ihm erstreckten sich die verfilzten Pilzdächer der Haine; in der Mitte der Sternhain, der kleinste von allen, umgeben von einem Streifen Glasgras, orangen wie immer im Sonnenlicht, dort der Anger-, da der Myrtenhain, weiter südlich die Wälder der Nurn und der Woyden. Und dort die Ebene zwischen den Hainen und der höllischen auf dem Mahr angebraust, wie der Däumling auf seiner Wildente... Sei's drum! sagte sich Warnstein übermütig. Dann würde auch der Nachtmahr Blei zu kosten bekommen. Er schoß über die Stryge hinweg und kreiste über Gorm. -159-
Dieser Turm im Zentrum der Zitadelle! Was für ein Koloß! Und diese Glocke an seiner Spitze - die Wehrglocke, die das Ragnarök dieser verwunschenen Welt einläuten sollte... Warnstein lauschte in sich hinein, lauschte, ob sich nicht Sardors Stimme meldete, aber der körperlose Gast in seinem Bewußtsein blieb stumm. Schien wohl zu schlafen, der Kerl! Sollte er doch. Hatte sich seinen Schlummer redlich verdient. War schließlich kein Kinderspiel gewesen, in den Schrund mit seinen wurmigen Mietern hinabzuklettern... Er ließ den Albatros kreisen und hielt Ausschau nach dem Schwarzen Mirn. Nichts. Hatte sich der Hundesohn einen Scherz mit ihm erlaubt? Versteckte er sich hinter dem weißen Stein von Gorm? Zuzutrauen war's ihm. All diese Bösewichte neigten zur Feigheit. Keiner brachte genug Schneid auf, dem Gegner Äug in Äug entgegenzutreten. Vertraute Mirn darauf, daß der Nachtmahr ihn aus dieser Zwickmühle heraushaute? Hatte er seinen faulenden Boten in den Sternhain geschickt, um den Flieger in eine üble Falle zu locken? »Mirn!« brüllte Dietrich von Warnstein. »Schwarzer Mirn! Sardor ist da, um dir deinen Wunsch zu erfüllen! Zeige dich, Unhold, und kämpfe wie ein Mann!« Er drehte eine weitere Schleife über den Zinnen von Gorm und achtete peinlich darauf, den Turmspitzen nicht zu nahe zu kommen. Churm hatte ihn vor der unseligen Anziehungskraft gewarnt, die dem weißen Stein innewohnte. »Mirn!« brüllte er wieder. »Lump! Zeige dich!« Der Motor dröhnte durch des Tages Stille, von keinem Vogelschrei zerrissen, nur vom Windgebrause und gepfeife an -160-
den Tragflächen gemildert. »Mirn!« schrie Warnstein. Stryge, das Schlachtfeld, wo er vor Tagen die Horden Mirns verjagt hatte. Die Erinnerung ließ ihn auflachen. Ein tolldreister Kampf, und ebenso tolldreist würde er diesem Mirn in die Parade fahren! Er gab Gas und steuerte den Albatros in Richtung Stryge, über das Grau des leeren Schlachtfeldes hinweg, parallel zu den rostroten Berggiganten der Krograniten. Der Himmel war leer. Da waren nur die Wolken - und natürlich diese unerhörte Sonne. Ein roter Riese, und da behaupteten die Heiden doch glatt, daß diese Welt die Erde war! Ha! Warnstein schnaubte. Wer hatte je davon gehört, daß die gute Mutter Erde ein solch satanisches Gestirn umkreiste? Nein, nein, diese Welt mußte in irgendeinem fernen Teil von Gottes Kosmos liegen, dort, wo auch das Tor zur Hölle klaffte. »Na wenn schon!« schrie er in den brausenden Wind. »Ich bin Sardor und auf dieser Welt daheim!« Er lachte wieder und tastete nach dem Schwert, das er wie im Traum aus dem satanischen Schlund der seufzenden Grube geholt hatte. Sah man es, meinte man unwillkürlich, daß diese Klinge einen Zentner wiegen mußte, so groß und breit war sie. Aber hielt er sie in der Hand, führte er sie, war sie beinahe gewichtslos, eine natürliche Fortsetzung seines Arms. Nun, hier in der Luft würde ihm das Schwert keinen Nutzen bringen. Hier mußte er sich ganz auf sein treues Maschinengewehr verlassen. Ho, ho, diesem Mirn würde er eine Ladung Blei auf den Pelz brennen, daß dem guten Mann Hören und Sehen verging! Sterben wollte dieser Unhold? Bitteschön, sollte er doch - nach ehrlichem Kampf natürlich. -161-
Die Stryge kam näher. Gorm wuchs auf, zyklopisch und weiß wie eh und je, und in der Ferne, im Westen der Alten Eisenstraße, reckte sich auch der Geborstene Berg in all seiner zerklüfteten Häßlichkeit in den nicht minder häßlichen Himmel. Der Nachtmahr! Fliegen sollte dieses Untier können... Vielleicht kam Mirn Tod und Teufel, wie lange sollte er denn noch kreisen? Sein Sprit reichte nicht ewig... »Ah! Wie wunderbar...« Hohl drang eine Stimme an Warnsteins Ohr. Matt und dennoch laut genug, um über das Motorengedröhn vernommen zu werden. Mirn? Wo steckte der Unhold? Er gab Gas, zog den Albatros hoch und drehte dann einen Looping. Da! Unter ihm! Aber... Heilige Mutter Gottes! Das war das absonderlichste Fluggerät, das Warnstein je gesehen hatte. »Ein Thron«, murmelte er ungläubig. »Meiner Treu, ein Thron aus einem Riesenknochen geschnitzt! Und auf dem Thron ein fetter Kerl in schwarzer Robe und mit ungesunder Gesichtsfarbe, die welken Lippen zu einem kranken Lächeln verzerrt! Und dieser verfluchte Thron fliegt, als hätte er Flügel!« Der Thron schoß heran, lautlos, riesig, drohend. Mirns übles Grinsen wurde breiter, und der Unhold winkte ihm zu. »Sardor!« ächzte der Schwarze Mirn. »Wie außergewöhnlich einfallsreich! Und wie barmherzig, daß du gekommen bist, um mich vom Leben zu erlösen...!« Die höllische Flugmaschine des Bösewichts schoß jetzt Seite -162-
an Seite mit dem Albatros durch die Lüfte, fort von Gorm, dem Norden zu, wo der Geborstene Berg sich schwarz und narbig unter der Sonne duckte. Mirn beugte sich zur Seite, hob ein feistes Bein und schlenkerte seinen winzigen Fuß, als wäre er närrisch geworden, vom Höhenrausch gepackt. »Messen wir uns, fliegender Gott!« rief Mirn mit aasigem Lächeln. »Und ich wünsche dir alles Glück der Welt!« »Ich pfeife auf dein Glück!« schrie Warnstein zurück. Mirn lachte klebrig und machte eine Handbewegung, und um den Albatros stand die Luft in Flammen. Hitze leckte nach dem Holz der Tragflächen, nach dem roten Rumpf und versengte Warnsteins Haar, das strähnig unter der Fliegerkappe hervorlugte. Der Benzintank! Wenn er explodierte...! Instinktiv riß Warnstein die Maschine hoch, und der Höllenthron und das Feuer waren jetzt unter ihm. Dann eine Schleife, nicht zu eng, um die Kiste nicht zu überlasten, und im Sturzflug drauf auf den frechen Kerl. Zielen und schießen. Das Maschinengewehr donnerte los. Eine ganze Garbe jagte in die freie Brust des Unholds, und er bebte unter den Einschlägen der Kugeln. Ein wahnsinniges Grinsen verzerrte das gelbliche Gesicht und machte es noch häßlicher, als es ohnehin schon war. Warnstein zog den Albatros zur Seite. Das war's dann gewesen, dachte er zufrieden... »Köstlich, köstlich, mehr davon!« Warnstein gurgelte. Er wurde aschfahl. Großer Gott, das konnte doch nicht sein! Unmöglich, eine derartige Salve zu überleben! -163-
Doch in diesem Moment, so dicht, daß die knöcherne Höllenmaschine des Feindes fast die rechten Tragflächen des Albatros streifte, raste Mirn an ihm vorbei, aasig lächelnd, närrisch mit den Beinen strampelnd und sich vor Vergnügen auf die feisten Schenkel klopfend. »Mehr, mehr!« hörte er den Dämon in Menschengestalt stöhnen. Wieder eine Handbewegung. Wieder ein lodernder Feuerball. So heiß, so verzehrend... Warnstein schrie wie von Sinnen und ließ die Maschine stürzen, so schnell stürzen, daß es in allen Fugen krachte. Das Feuer blieb über ihm zurück und erlosch. Der rote Lack am Rumpf hatte Blasen geworfen, und die Ränder der Tragflächen schienen angekohlt. »Höllenhund!« knirschte Dietrich von Warnstein. Siedender Zorn kochte in ihm hoch. Höher mit der Kiste und dem Thron nach, diesem grotesken Knochenvogel mit seinem diabolischen Piloten. Der Mercedes-Motor brüllte, und der Propeller rotierte in mechanischer Raserei, ließ den Albatros steil in den Himmel schießen, bis er hundert Meter über dem aberwitzigen Feind war. Scheel gaffte Mirn nach oben. Lachte sein vermaledeites Aasgelächter und winkte. Feuerkugeln lösten sich von seinen Fingerspitzen. Zur Seite mit dem Vogel! Um Haaresbreite verfehlten ihn die flammenden Geschosse, und dann stürzte er auf den Knochenthron nieder. Ließ das MG rattern. Pumpte den Unhold mit Blei voll. Ließ eine Garbe in den weißen Knochenrücken des Throns einschlagen, daß die Splitter stoben und tiefe Löcher klafften. Und der Thron torkelte. »Hurra!« brüllte Warnstein. -164-
»Köstlich!« ächzte Mirn. »Mehr, mehr!« »Stets zu Diensten, Unhold!« kreischte Warnstein, warf den Albatros herum, stieg, stürzte, jagte Garbe um Garbe los. Aber der Unhold wollte nicht sterben. Großer Gott, er mußte förmlich durchsiebt sein, und trotzdem johlte, lachte und winkte er in einem fort, schien aus dem tödlichen Duell unmenschlichen Genuß zu ziehen. Warnstein brach der Schweiß aus. Überall Feuer. Um ihn herum, über seinem Kopf... runter mit dem Vogel, aber schnell! Der Albatros stürzte. Und begann nun auch zu trudeln, trudelte wie der Höllenthron. Nein, nein! Die rechte obere Tragfläche brannte! Lichterloh schlugen Flammen aus dem Holz. Da! Eine der höllischen Feuerkugeln klebte an der Schwinge. Verzweiflung überfiel den Flieger. Den Tod vor Augen, stürzte er noch schneller, in der Hoffnung, daß der brausende Wind das Feuer löschen würde. Wo war Mirn? Wo war der Hund? »Köstlich!« stöhnte es direkt über ihm. Warnstein legte den Kopf in den Nacken. Der Thron fiel sich immer schneller überschlagend in die Tiefe. Ein Wunder, daß Mirn nicht von seinem Sitz geschleudert wurde, aber wahrscheinlich hielt er sich mit seinen Zauberkräften fest. Noch einmal alles auf eine Karte setzen! Noch einmal das Äußerste von der treuen alten Kiste fordern, und sollte sie dabei zerbrechen. Das war allemal ehrenvoller, als jämmerlich zu verbrennen. Dem Unhold den tödlichen Schlag versetzen, bevor ihn selbst der Tod ereilte... Der Albatros bäumte sich auf, knarrte und knirschte, ächzte -165-
protestierend, gehorchte dann dem Steuerknüppel und war über dem Thron, dem johlenden, rasenden Mirn. Und noch eine Garbe. In den Thron. Dieses Höllending mit Blei spicken, bis es barst, bis es zerbrach... Die Wucht, mit der die Kugeln in den Knochen einschlugen, ließ den Thron einen Satz machen. Risse zeigten sich in seinem makellosen Weiß. Von den Armlehnen brachen Totenschädel und fielen mit skelettiertem Grinsen in die Tiefe. In die Tiefe, wo der Krater des Geborstenen Berges klaffte. Der Geborstene Berg! In der Hitze des Gefechts hatte Warnstein gar nicht bemerkt, daß sie sich diesem verwunschenen Krater genähert hatten. Und jetzt spürte er auch die böse Aura. Lauernd, haßerfüllt, voll satanischer Gier. Und er stürzte. Und der Knochenthron barst. Und Mirn fiel durch die Lüfte, ruderte mit den Armen, drehte sich wie toll und tauchte dann wie ein Spuk neben Warnstein auf, klammerte sich affengleich an den Rumpf direkt neben seinem Sitz. Warnstein starrte in das verzerrte Gesicht des Unholds. Mirn löste eine Hand vom Rumpf, und als sie wiederauftauchte, blitzte ein Messer. Mirn holte aus. Warnstein schrie, und wie von einem eigenen Willen beseelt, flog das weiße Schwert mit dem roten Knauf in seine Faust und zuckte auf Mirns Schädel nieder, bevor das Messer seinen tödlichen Stich vollenden konnte. Mirn seufzte. -166-
»Danke«, flüsterte er mit grausig gespaltenem Schädel. »Hab Dank, hab Dank...« Und er verschwand. Während der Albatros weiter stürzte, auf den finsteren Krater hinunter, brennend, waidwund, mit splitternden Tragflächen... Dietrich von Warnstein wartete mit geschlossenen Augen auf den Tod. Da packte ihn eine unsichtbare Kraft, und ein Bitz zuckte durch seinen Kopf, löschte alles aus. 10. Kapitel Der Nachtmahr Hier kommt das Ungetüm mit spitzem Schwänze, Das Berge nimmt und Mauern bricht und Waffen, Hier kommt es, das die ganze Welt verstänkert. - Dante Alighieri »Die Göttliche Komödie« Tief unten im finstersten Gewölbe der Erde, wo sich kein Lichtstrahl hinwagte, kein Lüftchen regte, wo alles pechschwarz und stickig war, hauste der Nachtmahr, das kosmische Gespenst. Vom ersten Logos zu Fleisch geworden; vom zweiten Logos ins Leben geholt; vom dritten Logos aus dem Schlaf erweckt, lauerte der Mahr in seiner dunklen Grube. Groß war er, der Mahr, und von Haar bewachsen, das jedes für sich eine Sichel war. Die ledrigen schwarzen Schwingen gefaltet, den Kopf horchend zur Seite geneigt, das Maul halb geöffnet, zum Schlingen bereit, hockte er in seiner Felsenhöhle und wartete auf die Beute, die vom Himmel fiel. Nicht tot durfte sie sein, obwohl er auch die Toten schätzte. Warm mußte sie sein, damit er an ihr sein kaltes Gemüt wärmen konnte. Beben mußte sie, zucken und leben, damit das Fieber der Jagd sein kaltes Herz erhitzen konnte. Und fest mußte sie sein, nicht in Stücke zerbrochen, damit er -167-
in seinem verzehrenden Hunger nicht die Krumen aufpicken und das Blut aus Ritzen und Löchern schlürfen mußte. Aus diesem Grund, nicht aus Erbarmen, hatte er in böser Gier seinen Geist hinauf zur Erde geschickt und über dem Grund der Erde die Beute gepackt und sie hinab in die Kluft des Berges gezogen. Wo sie nun lag. Beute. Der Nachtmahr rührte sich. Trocken schabten Lederschwingen über Gestein, und aus Poren groß wie Köpfe drang wäßriger Schleim. Eine Klaue schloß und öffnete sich. Das Maul klaffte auf, und ein Gurgeln drang aus des Nachtmahrs dunklem Schlund. Das Gurgeln erstarb. Der Mahr war nicht klug, doch schlau, verschlagen und in tausend Ränken bewandert. Er roch die Beute und fiel dennoch nicht über sie her, wie es gewöhnlich die Mahre taten, wenn sie ausgehungert Opfer witterten. Das Böse in seiner kosmischen Seele warnte ihn. Die Beute bewegte sich, und er tastete nach ihr. Nicht mit Klauen, sondern mit purem Geist, und sein Geist zuckte zurück in den mährischen Schädel und verkroch sich tief im Eis. Eis, in Jahrmillionen gefroren, so daß es niemals mehr tauen konnte. Eis, das das Denken erlernt hatte und das Denken zum Morden mißbrauchte. Und in seiner kosmischen Schläue ersann der Mahr einen Plan, wie er scheußlicher nicht denkbar war. Gute Beute, schnurrte er im Eis. Guuute Beute... Gut und gefährlich dazu. -168-
Denn die Beute hielt ein Schwert in der Hand. Kein gewöhnliches Schwert, kein gewöhnliches Metall, kein Stoff, der vertraut. Wieder gurgelte der Mahr in trägem Verdruß. Was ist das nur, was soll das sein, was ist das nur, was ist das nur? schnurrte er tiefgefroren vor sich hin, in täuschender Einfalt, die Tücke verbarg. Kein Stein, kein Metall, kein Knochen, kein Holz, nicht einmal Eis... Was ist das nur, was ist das nur? Etwas Tödliches. Der Nachtmahr spürte es. Und mürrisch wunderte er sich über den Lauf der Welt, die in den Zeitaltern, die er verschlafen, Dinge erschaffen hatte, die von Menschenhand geführt einen Mahr erschlagen konnten. Übel, übel, ungeheuer! schnurrte er vor sich hin. So etwas, nein, so etwas. Seine Klauen umkrallten Gestein und zerbröselten es. Zähne mahlten. Trübe Augen starrten. Blitzten dann in Tücke auf, schielten lüstern durch den Spalt zur schmackhaften Beute, die auf glasierter Lava lag. Ein weißes Schwert in der Hand. Schrecklich, scheußlich, so abscheulich, schnurrte der Mahr. Wird mich stechen, wenn ich es laß. So etwas, nein, so etwas... Er gurgelte böse. Aber ich laß ihn nicht, ich faß ihn mir, ich kaue, schlucke und verdaue und nage dann dies Schwert entzwei... Der monströse Schädel des Mahrs wippte auf und ab. Die schlauen Augen, soeben noch trüb, glitzerten wie Sterne, und mit heiterem Schnurren setzte er seinen Plan in die Tat um. Und verwandelte sich. Ich lebe! dachte Dietrich von Warnstein. Ich bin vom Himmel gestürzt, und ich lebe... -169-
Für eine Weile lahmte ihn diese erstaunliche Tatsache, und es dauerte, bis er den gezackten rötlichen Fleck hoch über sich als die Krateröffnung des Geborstenen Berges identifizierte. Ich bin im Berg! Er lag auf dem Rücken, hielt mit der rechten Hand das weiße Schwert umklammert, das er bei seinem Sturz instinktiv gepackt haben mußte, und nach und nach bewegte er vorsichtig jedes Glied. Keine Schmerzen. Nicht einmal eine Prellung hatte er sich zugezogen! Es war unmöglich, völlig unmöglich! Er dachte an Mirn, den Schwarzen Mirn, dem er hoch in der Luft den Wunsch erfüllt hatte, von dem dieser Unhold ganz besessen gewesen war. Aus dem öden Dasein zu scheiden... Warnstein lächelte humorlos. Aber das hatte diesen Hund nicht daran gehindert, mit einem Messer auf ihn loszugehen! Aber was sollte er sich jetzt noch Gedanken um diese Kreatur machen! Mirn war tot, und die cryptischen Soldaten, die ohne Waffen und ohne Rüstungen in der goldenen Stadt Hencoren lagerten, würden nach dem Verlust ihres Anführers abziehen. Und wenn nicht - nun, Caliman, dieser alte Schlächter, wetzte bereits seine Axt für sie... Ich bin im Geborstenen Berg. Der Mahr! Von dem Gedanken wie von einem Schlag getroffen, sprang Dietrich von Warnstein auf. Keuchend sah er sich um, starrte in die Schatten, in die bizarren Gebilde aus erstarrter Lava, die sich überall auftürmten. Monumente aus Schwärze... Es war still. So still, daß das Pochen seines eigenen Herzens wie das hohle Echo eines Maschinengewehrs in dieser bedrohlichen Dunkelheit hallte. Nur die weiße Klinge des Schwertes -170-
verbreitete einen Hauch Helligkeit - und der rote Fleck dort oben, wo sich Kirschlicht verwegen in den Krater stahl, um schon nach wenigen Metern zurückzuschrecken. In der weißen Aura der Klinge sah er etwas rot glänzen. Warnstein machte zwei, drei vorsichtige Schritte darauf zu. Als er erkannte, um was es sich handelte, schnürte ihm Trauer die Brust zusammen, und er schämte sich der heißen Tränen nicht, die er vergoß: ein Bruchstück des Albatros. Der Vogel war hin. So treue Dienste hatte er ihm geleistet, so manche gefährliche Situation mit Bravour bestanden, aber jetzt würde die Kiste nie wieder fliegen. Gänsehaut strich mit klammen Fingern über seinen Rücken. Seine Nackenhärchen stellten sich auf. Er wirbelte herum, hob das Schwert zum Schlag - und stieß einen verdutzten Schrei aus. Statt des Ungeheuers, des nachtmahrischen Monstrums, das er erwartet hatte, sah er eine menschliche Gestalt. Schlank, mit heller Haut und schwarzem Haar. Eine Frau! dachte Warnstein. Schluchzend irrte die arme Maid durch das Labyrinth der Lavamonumente. Zerrissene Fetzen bedeckten nur notdürftig ihre Blöße. Plötzlich entdeckte sie ihn, sah das leuchtende Schwert. Eine zarte Hand fuhr hoch zum vollen Mund, der Warnstein süß und einladend erschien. Sie schrie erstickt. »Hab keine Angst«, sagte er rasch und senkte das Schwert. »Ich bin kein Unhold. Du hast vor mir nichts zu fürchten...« Sie zögerte. »Wer... wer bist du?« stammelte sie mit einer unvergleichlich klaren, melodischen Stimme. -171-
»Sardor«, sagte Warnstein. Er lächelte jungenhaft. »Ich bin Sardor.« Sein Lächeln schien die Maid zu beruhigen, denn sie wagte sich näher. Und nach jedem Schritt fiel Warnstein das Atmen schwerer. Fieber befiel ihn. Seine Wangen glühten. Seine Blicke strichen liebkosend über ihre Blöße, ihre weißen, vollen Brüste, wanderten dann hinauf zur Lieblichkeit ihres Antlitzes, wieder hinunter, zum kaum verhüllten jungfräulichen Schoß, zu den milchhäutigen Schenkeln. Er schluckte. Er roch ihren Duft. Süß und bitter zugleich, Pfirsisch und Mandeln und einen Hauch von Fleisch. Dann war sie vor ihm, sah zu ihm hoch, unschuldig und rein, und ihr Mund lockte ihn, und ihr Atem ging schneller, und sie umschlang ihn mit ihren Armen. Wie unter mesmerischem Einfluß stehend, suchten seine Lippen ihren Mund, strichen seine Hände über die sanfte Wölbung ihres Rückens, ihres Gesäßes, über die Hüfte und hinunter zur Lende und umschlosssen die Grotte, die ihn feucht begrüßte. Er war in einem Rausch, und er wußte es. Doch das Wissen spornte ihn nur noch mehr an, und sie war so warm, so weich und lüstern. Sie entglitt seinen Armen, und er keuchte verzweifelt auf, bis sich die Verzweiflung in neuerliche Lust verwandelte, als sie vor ihm kniete, geschwind seinen Gürtel löste, die Hose aufknöpfte und dann mit kundigen Fingern sein Geschlecht liebkoste. Er wuchs in ihrer Hand, und ihre Lippen öffneten sich, und ihre Lippem umschlossen ihn, und er stieß tiefer in diese feuchte, warme Höhle hinein. -172-
Er ächzte. Da störte ihn etwas. Er wollte es fortwischen, aber es drängte sich hartnäckig auf, zerriß die Schleier seiner animalischen Lust, und es raunte warnend in seinem Kopf. »Offne die Augen! wisperte es. Öffne die Augen, und sieh genau hin! Warnstein wehrte sich. Er wollte nicht. Er wollte wieder in den Taumel aus purer Lust sinken, doch die Stimme - diese vertraute Stimme, die schon im Mahlstrom und in der Gruft zu ihm gesprochen - diese Stimme schwatzte und drängte, drohte und flehte, so daß er sich ihrem Drängen nicht mehr verschließen konnte. Widerwillig öffnete er die Lider. Das Grauen gefror sein Blut. Es war kein Weib, das da vor ihm kniete, es war nicht einmal ein Mensch, sondern ein monströses Wesen, vier- oder fünfmal so groß wie er, schwarz und haarig, aus scheußlichen Poren ranzige Flüssigkeit verströmend. Und diese widerwärtige, Gottes weise Schöpfung verhöhnende Kreatur roch auch nicht nach Pfirsich und Mandeln, sondern nach Staub und Moder und Leichengift. Und das schrecklichste war: Im klaffenden, zähnestarrenden Maul des Monstrums.. steckte sein Schwert, und es nagte daran, saugte daran, lutschte in wahnwitziger Raserei, und das Weiß der Klinge begann matt zu werden, und das Rot des Knaufes begann grau zu werden... »Mein Schwert!« brüllte Dietrich von Warnstein. »Mein Schwert!« Kraft floß aus einer unsichtbaren Quelle in seine Glieder, dieselbe Kraft, die ihn in der Gruft gestärkt und in die Seufzerschründe geführt hatte, und sie machte ihn stark genug, -173-
den Bann abzuschütteln und sein Schwert aus dem Maul des Nachtmahrs zu zerren. Der Mahr gurgelte. Und kreischte in enttäuschender Raserei, spreizte die gewaltigen Schwingen, hob eine der Klauen, jede Kralle eine Sichel, und fuhr mit dem zähnestarrenden Maul auf ihn nieder. Warnstein riß das Schwert hoch, und Sardor ließ es auf den Schädel des kosmischen Gespenstes niedersausen, daß der Mahr wie toll kreischte. Wieder stieß Sardor zu, führte Streich um Streich, sprang hin und her, um den tödlichen Klauen, den mörderischen Fängen seines nachtmahrischen Widersachers zu entgehen, trieb den Mahr zurück, trieb ihn hinein in das Labyrinth aus glasierten Lavasäulen. Die Bewegungen des Unholds wurden schwächer, die entsetzlichen Schreie wurden leiser, und bald zuckte es nur noch, gurgelte nur noch, und schließlich erstarb jede Bewegung, jeder Laut, und als sich der Mahr nicht mehr rührte, verwandelte sich sein grauer, geblähter Titanenleib in einen grauen, morschen Kadaver, schrumpfte, zerfiel, löste sich auf in Staub, und dann war nicht einmal mehr Staub da. Der Nachtmahr war besiegt, der Alpdruck von den Hainvölkern genommen. Und der Mann in der Fliegeruniform, mit der Fliegermütze auf den zerzausten Haaren und den Ulanenstiefeln an den Füßen, dieser Mann hob zögernd sein Schwert, das nun wieder weiß und glänzend war. Und in der glänzenden Klinge spiegelte sich sein Gesicht. Ein junges Gesicht mit hellem Flaum an Kinn und Wangen. Mit gerader Nase und dünnen Lippen und grauen Augen. Augen, die über einen Abgrund von zwanzigtausend Jahren blickten, und über einen zweiten Abgrund, dessen Dauer und Breite sich nicht in Worte fassen ließ und hinter dem ein Land namens Deutschland lag... unerreichbar, fremd und fahl. -174-
Der Mann lächelte. »Sardor«, sagte er. »Ich bin Sardor. Und dies ist meine Welt.« Und in Gedanken fügte er hinzu: Bis meine Pflicht erfüllt ist, die kosmischen Mächte bezwungen sind und es Zeit wird, Abschied zu nehmen... Dann drehte er sich um und schritt durch die Finsternis des Geborstenen Berges, der nun von allen Bösen erlöst, und machte sich auf die Suche nach einem Weg ins Freie. Wo eine rote Sonne ihr Licht wie verwässertes Blut auf die Erde tropfen ließ. ENDE DES ERSTEN BUCHES
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