Nr. 414
Ruf der Höheren Welten Eine Körperlose erwacht von Horst Hoffmann
Als Atlantis-Pthor, der durch die Dimension...
7 downloads
461 Views
273KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 414
Ruf der Höheren Welten Eine Körperlose erwacht von Horst Hoffmann
Als Atlantis-Pthor, der durch die Dimensionen fliegende Kontinent, die Peripherie der Schwarzen Galaxis erreicht – also den Ausgangsort all der Schrecken, die der Dimensionsfahrstuhl in unbekanntem Auftrag über viele Sternenvölker gebracht hat –, ergreift Atlan, der neue Herrscher von Atlantis, die Flucht nach vorn. Nicht gewillt, untätig auf die Dinge zu warten, die nun zwangsläufig auf Pthor zukommen werden, fliegt er zusammen mit Thalia, der Odinstochter, und einer Gruppe von ausgesuchten Dellos die Randbezirke der Schwarzen Galaxis an und erreicht das sogenannte Marantrone-rRevier, das von Chirmor Flog, einem Neffen des Dunklen Oheims, beherrscht wird. Dort beginnt für Atlan und seine Gefährten eine Serie von Abenteuern, die beinahe tödlich ausgehen. Die ersten Stationen des gefahrvollen Weges sind unter anderem Enderleins Tiegel, der Schrottplanet, Xudon, der Marktplanet, und Gooderspall, die Welt der Insektoiden. Während Atlan und Thalia gegenwärtig wieder einmal von Verfolgern bedrängt werden, blenden wir um zum Geschehen auf Pthor. Dort erwacht eine Schläferin – und an sie ergeht der RUF DER HÖHEREN WELTEN …
Ruf der Höheren Welten
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Thalia - Die beiden Pthorer in aussichtsloser Lage. Leenia - Eine Schläferin erwacht. Mod-Poluur - Ein Monstrum. Sator Synk - Der Orxeyaner hat Kummer mit Robotern. Heimdall - Der Odinssohn hält Atlan für einen Verräter.
Prolog Auf Pthor herrschte die Ruhe vor dem Sturm. Die Ruhe – das war die Furcht der Atlanter vor der Reaktion derjenigen, die in der Schwarzen Galaxis die Macht hatten und früher oder später erscheinen würden. Das war die Untätigkeit, zu der die Odinssöhne und ihre Helfer verurteilt waren, war die Qual, die der Gedanke an die Zukunft hervorrief, war das Gefühl, sich verstecken zu müssen, wo es keine Verstecke gab. Denn niemand zweifelte daran, daß es gegen die erwarteten Invasoren aus dem dunklen Sternennebel, dessen schreckliche Aura selbst bis hierher zu spüren war, wo Atlantis zwischen den vorgelagerten Mikrogalaxien und der Schwarzen Galaxis gestrandet war, keine Gegenwehr geben würde. Der Sturm – das war jener Angriff, mit dem nun seit Wochen bereits stündlich gerechnet wurde. In vielen Teilen des Dimensionsfahrstuhls kam es zu Unruhen. Die Odinssöhne hatten alle Mühe, die vor Angst halb verrückten Stämme im Westen zu beruhigen. Sie standen allein da. Atlan, der für fast alle Pthorer zu einer Symbolfigur geworden war, dem sie die Befreiung vom Joch der Unterdrücker zu verdanken hatten, war mit einem Organschiff in Richtung Schwarze Galaxis aufgebrochen. Seitdem hatte niemand mehr etwas von ihm und Thalia gehört. Die Stimmen mehrten sich, die Atlan als Verräter beschimpften, der sich rechtzeitig abgesetzt hatte, bevor Atlantis unterging. Eigentlich glaubte niemand mehr an Atlans Rückkehr. Diejenigen, die seine Motive für den Flug ins Ungewisse kannten, gaben zwar nicht alle Hoffnung auf einen Erfolg auf, aber der Zweifel überwog. Atlan war al-
lein gegen eine Macht, von der sich niemand auch nur die entfernteste Vorstellung machen konnte. Ob Atlan nun als Verräter oder als ein Held angesehen wurde, der sein Leben aufs Spiel setzte, um soviel wie möglich über die Verhältnisse in der Schwarzen Galaxis herauszufinden – er war verschollen. Atlantis war ohne König, ohne eine Figur, zu der man aufsehen konnte. Man war allein, wartete, und lebte in Angst. Dies war Pthor – eine Welt für sich, über die sich das Leichentuch des Schweigens gelegt hatte. Und dies war die Situation, in der irgendwo in der Nähe der Senke der Verlorenen Seelen ein Wesen aus einem langen Schlaf erwachte, das ebensowenig wie Atlan von Atlantis stammte. Es hatte den Ruf gehört – den Ruf der Höheren Welten. Und es wußte, daß die Zeit der Passivität nun vorbei war, denn mit dem Ruf war die Erinnerung an jene zurückgekehrt, die es hierher geschickt hatten – und an den Auftrag, den es in ihrem Namen auszuführen hatte.
1. Leenia/Wommser – Erwachen Die Felsenhöhle lag am Rand eines der vielen kleinen Hügel in einem dicht bewaldeten Gebiet zwischen der Senke der Verlorenen Seelen und dem Dämmersee. Sie war nicht groß, doch dem Wesen, das in ihr lag, genügte sie. Leenia ruhte auf einem einfachen Lager aus Stroh. Alles, was sie besaß, war der leicht strahlende rote Anzug, der ihren Körper bis zum Hals und den Händen wie eine zweite Haut umschloß. Die Energieglocke über der jungen Frau war kaum zu erkennen. Leenia schlief. Mehr noch: sie befand sich
4 in einem Zustand zwischen Sein und Nichtsein. Das gleiche galt für Wommser, jenes Wesen, das aus einem für Menschen unbegreiflichen gegenseitigen Einwirken von Normal und Antimaterie entstanden war. Die Bewußtseine von Wommser und Leenia waren zu einer Einheit verschmolzen. Wie ein Magnet hatte das artgleiche Wesen Wommser angezogen und in sich aufgenommen, als der Dimensionssymbiont sich schon dem sicheren Tod gegenübergesehen hatte. Nun hatte er ein neues Leben gefunden. Für ihn stellte es die dritte Stufe seiner Evolution dar, von der er nicht wußte, wann und wie sie einmal enden würde. Darüber konnte Wommser sich gegenwärtig allerdings keine Gedanken machen. Sein Bewußtsein war wie das von Leenia ausgeschaltet, bis der Ruf der Höheren Welten an Leenia ergehen würde. So lag das Doppelwesen in einer todesähnlichen Starre, bis zu jenem Tag, an dem der Anzug stärker zu strahlen begann. Blitze durchzuckten das Innere der Höhle, so grell, daß ein Mensch innerhalb von Sekundenbruchteilen erblindet wäre. Dann, nach fast einer Minute, wurde es dunkel. Draußen war es Nacht, und als auch das Leuchten des Anzugs verebbte, war für mehrere Minuten nichts in der Höhle zu erkennen – bis Leenias Augenlider violett zu schimmern begannen. Unendlich langsam richtete Leenia sich auf. Noch immer waren die Augen geschlossen, und weiterhin verstärkte sich ihr unter der Haut hervordringendes Leuchten. Unbekannte Energien wirkten im Körper des Doppelwesens – Energien, die nicht von dieser Welt waren. Plötzlich stieß die Frau einen markerschütternden Schrei aus und stürzte seitwärts zu Boden. Ihr Körper bäumte sich wie unter furchtbaren Schmerzen auf. Leenia wimmerte und zitterte. Das Leuchten ihrer Augen verschwand. Wieder breitete sich Dunkelheit in der Höhle aus. Nur Leenias Schluchzen war zu hören. Sie, die sich bisher nur telepathisch hatte
Horst Hoffmann mitteilen können, stieß einen letzten verzweifelten Schrei aus: »Es geht nicht, Wommser! Wir haben versagt!« Der rote Anzug begann zu glühen, und die Schutzglocke baute sich wieder über der Frau auf, als diese das Bewußtsein verlor. Doch die Komponente Wommser war wach. Wommser konnte nichts anderes tun, als zu versuchen, Leenias Leben zu erhalten. Ungeheure psionische Energien flossen von ihm zur Mentalpartnerin über und speisten die immer schwächer werdende Lebensflamme.
* Als Leenia sich wieder zu rühren begann, war es hell. Selbst hier, weitab von jeder Sonne, herrschte der gewohnte Rhythmus von Tag und Nacht auf Pthor. Der Wölbmantel spendete tagsüber das Licht, ohne das jedes Leben auf Atlantis in Situationen wie der jetzt gegebenen zum Untergang verurteilt wäre. Er garantierte also in zweierlei Hinsicht die Sicherheit der Pthorer – doch für Leenia wirkte er verhängnisvoll. Du darfst nicht aufgeben, hallte Wommsers telepathischer Ruf in ihrem Bewußtsein. Du hast nicht versagt. Irgend etwas hindert uns daran, zu entmaterialisieren und Kontakt zu unseren Welten aufzunehmen. Wir wurden zurückgeworfen, nachdem wir uns bereits von hier gelöst hatten. Sekunden des Schweigens. Wommser spürte, wie die Mentalpartnerin neue Energien aufbaute – im gleichen Maß, wie das Leuchten des Anzugs abebbte. Was bisher nur hatte Vermutung sein können, war nun zur Gewißheit geworden, nachdem Leenia und mit ihr Wommser einen Großteil ihrer Erinnerungen wiedererlangt hatte. Es war der Anzug, der die Energien aus einem übergeordneten Kontinuum zapfte. Doch auch er war nicht in der Lage, den Wölbmantel über Pthor zu durchdringen. Leenias bange Frage: Wir waren entmaterialisiert? Und ohne Zeitverlust zurück, kam es von
Ruf der Höheren Welten Wommser. Wieder das Schweigen. Es bedurfte nicht vieler Fragen zwischen den beiden Bewußtseinskomponenten von Leenia und Wommser. Sie bildeten eine Einheit. Jeder der Partner wußte, was der andere dachte. Aus der Vereinigung war etwas Neues entstanden, und Leenia hatte eine neue Fähigkeit erhalten: Sie war nun imstande, zu entmaterialisieren und an anderem Ort wieder stofflich zu entstehen. Vielleicht war es nur der Vereinigung mit Wommser zu verdanken, daß das, wozu sie von ihren Artgleichen nach Pthor gebracht worden war, tatsächlich eingetreten war. Leenia hatte nicht nur körperliche Form annehmen können – jenseits der für Wesen ihrer Art todbringenden Aura der Schwarzen Galaxis –, sondern sie war nun fähig, von einem Medium ins andere überzuwechseln. Damit war das erreicht worden, worauf die Körperlosen jahrtausendelang hingearbeitet hatten. Zum erstenmal, so schien es nun, war eine von ihnen in der Lage, körperlich innerhalb der Aura der Schwarzen Galaxis zu existieren, denn diese Aura reichte bis hierhin, wo Pthor zum Stillstand gekommen war. Leenia spürte sie. Sie bereitete ihr Schmerzen, aber sie konnte darin leben. Sie hätte Triumph empfinden müssen, denn dies bedeutete nichts anderes, als daß sie tatsächlich zur Weltenspringerin geworden war. Sie würde jederzeit in der Schwarzen Galaxis selbst im Sinne ihres Volkes körperlich aktiv werden können. Doch dazu brauchte sie Anweisungen, die sie nur in ihrer Daseinsebene erhalten konnte – in der Ebene der Höheren Welten. Und der Weg dorthin war ihr verbaut. Noch einmal stellte Leenia sich die Frage, was sie daran hinderte, zu den Artgleichen zu gelangen, und unter Abwägung aller Fakten kam sie wie Wommser zu dem Schluß, daß es tatsächlich der Wölbmantel über Pthor war, der sie am Verlassen des Dimensionsfahrstuhls und am überwechseln in die übergeordneten Kontinua hinderte. Wir müssen es noch einmal versuchen!
5 drängte Leenia. Panik und Verzweiflung bemächtigten sich ihrer. Wommser hatte Mühe, stabilisierend auf sie einzuwirken. Es hat keinen Sinn. Diesmal würden meine Kräfte nicht ausreichen, um dich zu retten. Wir würden beide sterben. Aber mein Volk! Es wartet auf mich. Ich habe den Ruf gehört. Mein Volk weiß, daß ich hier bin! Die Arbeit von Jahrtausenden darf nicht umsonst gewesen sein. Ich muß meinen Auftrag ausführen! Der Auftrag. Leenia wußte, daß sie einen Auftrag zu erfüllen hatte, doch wie dieser konkret aussah, war ein Teil jenes Wissens, das noch nicht an die Oberfläche ihres Bewußtseins vorgedrungen war. Einst hatte ihr Volk, hatten die Körperlosen von den Höheren Welten das Gute in der Schwarzen Galaxis verkörpert, bis sie von den Dunklen Mächten regelrecht verdrängt wurden. Es gab für sie keine Möglichkeit mehr, körperlich in der Schwarzen Galaxis und deren Umfeld existent zu werden. Deshalb entwickelten sie einen Langzeitplan, um dieses Ziel sozusagen auf Umwegen zu erreichen – das Ziel, wieder Einfluß auf die Schwarze Galaxis zu nehmen und dort positiv zu wirken. Leenia war das Ergebnis einer Konzentration von Energien, wie sie selbst in der langen Geschichte der Körperlosen einmalig war. Dann, als wieder ein Dimensionsfahrstuhl die Schwarze Galaxis verließ, war es gelungen, Leenia auf Pthor zu placieren. Dies alles wußte Leenia jetzt, nachdem der Ruf an sie ergangen war – bis auf eines. Sie kannte das Geheimnis ihrer Herkunft nicht. Leenia war in ihrem Selbstverständnis eine der Körperlosen, allerdings mit Fähigkeiten versehen, die ihren Artgenossen fehlten. Als solche sollte sie mit Pthor in die Schwarze Galaxis eindringen und Kontakt mit den Ihren aufnehmen, sobald Atlantis dorthin zurückkehrte. Es muß einen Weg geben! Immer noch stand Leenia unter dem Schock. Vielleicht, kam es von Wommser. Ebenso wie Leenia wußte er, daß Pthor
6 vor der Schwarzen Galaxis festhing – diese Information war Teil des Rufes gewesen. Was war der Grund? War etwa sie, Leenia, der Hemmschuh? War es möglich, daß die finsteren Mächte sie »geortet« und Pthor deshalb kurz vor dem Ziel gestoppt hatten? Welche Möglichkeit? fragte Leenia flehend. Die Struktur des Wölbmantels muß so beschaffen sein, daß er undurchlässig für jene Energieform ist, als die wir versuchten, zu unseren Welten zu gelangen. Wommser »sprach« von den Höheren Welten, die er niemals gesehen hatte, schon wie von seiner Heimat. Ich sehe nur eine Möglichkeit. Wir müssen ihn körperlich durchdringen, um dann einen weiteren Versuch zu wagen. Womit? kam Leenias Frage. Wommser dachte an die Zeit zurück, als er in Kolphyr herangewachsen war und an die späteren Begegnungen mit dem Bera und seinen Freunden Atlan und Razamon. Die von ihnen erhaltenen Informationen gaben nicht allzu viel her. Zwar hatte er nach seiner Vereinigung mit Leenia mit ihr zusammen noch einmal versucht, zur FESTUNG zu gelangen, aber dieses Vorhaben war gescheitert. So wußte Wommser nichts über die derzeitigen Verhältnisse auf Pthor. Er wußte nicht, daß Atlan und Thalia Atlantis verlassen hatten, daß Razamon verschollen war und daß es nur ein einziges Schiff gab, das Flüge in den Weltraum gestattete – die GOL'DHOR. Zugors schieden von vorneherein für Leenia/Wommsers Zwecke aus, denn Leenia besaß keinen Raumanzug, und weder sie noch Wommser wußten, ob ihr Körper im Vakuum des Alls überleben konnte. Leenia signalisierte Zustimmung, als Wommser seine Bedenken äußerte. Sie war darauf angewiesen, sich wie eine normale »Körperliche« zu ernähren. Ihr Stoffwechsel glich dem ihren. Also bestand auch eine große Wahrscheinlichkeit dafür, daß sie Sauerstoff zum Leben brauchte. Wir müssen suchen, dachte Wommser. Hier werden wir nicht viel finden können.
Horst Hoffmann Wir müssen zur FESTUNG. Dort laufen alle Fäden zusammen. Atlan wird uns helfen. Atlan … Leenia kannte ihn nur aus Wommsers Erinnerungen. Der einzige Mensch, dem sie bisher begegnet war, und der nicht zu jenen gehörte, die aus der Senke der Verlorenen Seelen geflohen waren und die Gegend unsicher machten, war ein Mann gewesen, der sich Lebo Axton genannt hatte. Leenia fühlte, daß er nicht von Pthor stammte. Vielleicht war er sogar ein Freund Atlans. Sollte dies so sein, würde er ihr eine große Hilfe sein können, denn Atlan kannte sie ja nicht. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor war der, daß Wommser sich nicht im klaren darüber war, welche Rolle Atlan inzwischen spielte. Hatte er sich endgültig mit den Odinssöhnen arrangieren können, oder war die latente Rivalität, wie Wommser sie in Erinnerung hatte, offen zutage getreten? Und noch etwas anderes beunruhigte Leenia: Sie wußte, daß Wommser an Atlan hing, an dem Mann, den sie nicht kannte, aber für den sie unterschwellig bereits die gleiche Sympathie empfand wie Wommser. Wommser erinnerte sich mit Hochachtung an den Mann, dessen Auftauchen auf Pthor schließlich zum Sturz der Herren der FESTUNG geführt hatte. Atlan verfolgte das Ziel, die Dunklen Mächte in der Schwarzen Galaxis unschädlich zu machen, und Wommser vermittelte Leenia einen Eindruck von der Kompromißlosigkeit dieses Mannes. Zwei Parteien versuchten, Einfluß auf die Schwarze Galaxis zu nehmen – die Körperlosen und Atlan mit seinen Freunden. Was nun, wenn sie sich dabei gegenseitig in die Quere kamen? Was, wenn Leenia eines Tages gezwungen sein müßte, gegen Atlan zu kämpfen? Worin bestand ihr Auftrag? Was sollte sie in der Schwarzen Galaxis ausrichten? Dutzende quälender Fragen und keine Antwort. Es hat keinen Sinn aufzugeben! mahnte Wommser. Zögernde Zustimmung – und Angst. Leenia erinnerte sich nur
Ruf der Höheren Welten zu gut an den ersten Versuch, zur FESTUNG zu gelangen, wo Wommser damals Kolphyr vermutet hatte, zu dem es ihn immer noch zog. Auf jener Fahrt war der Anzug, den Leenia trug, zum erstenmal aktiv geworden. Fast wäre sie von ihm erstickt worden, bevor sie die rettende Höhle erreichte. Seitdem war er ihr fast unheimlich. Wir brauchen ein Fahrzeug, kam es von Wommser. Leenia gab sich einen Ruck. Sie signalisierte ihr Einverständnis. Wie schon einmal, würde sie ihr Glück wieder in der Senke der verlorenen Seelen versuchen. Dort sollte es noch Tores oder sogar Zugors geben. Leenia verließ die Höhle und wußte, daß es diesmal keinen Weg zurück mehr geben würde. Immer wieder tauchten die Schreckensbilder ihrer letzten Fahrt vor ihrem geistigen Auge auf. Leenia erinnerte sich auch an die schwarzen Scheiben, die plötzlich überall aufgetaucht waren, und die sie nur mit aller ihr zur Verfügung stehenden psionischen Energie hatte zerstören können. Natürlich konnte sie nicht ahnen, daß es sich um Roboter gehandelt hatte, die von Gynsaal aus gesteuert worden waren – von jenem Gynsaal, das Atlan längst unschädlich gemacht hatte. So mußte sie fürchten, den Scheiben wieder zu begegnen, und was noch schlimmer war: Sie mußte annehmen, daß diese von der FESTUNG aus gesteuert wurden. Leenia trat den Weg ins vollkommen Ungewisse an.
2. Am nördlichen Ufer des Regenflusses – der Sitz des Zentrums Mod-Poluur Rund 200 000 Wesen unterschiedlichster Herkunft hatten sich in den Tiefschlafkammern der Glaspaläste befunden, als Pthor auf der Erde materialisierte und Atlans Odyssee begann. Inzwischen waren viele Tausende von ihnen nach ihrer Wiedererweckung umgekommen – jene Bedauernswerten, die als lebende Ga-
7 lionsfiguren der Organschiffe in der Schwarzen Galaxis fungieren sollten. Ein Großteil war geflüchtet und qualvoll zugrunde gegangen. Andere hatten sich in den Wäldern niedergelassen und fristeten ein erbärmliches Dasein. Glücklich waren jene, die von den Dellos in das vielschichtige Staats und Sozialgefüge von Atlantis integriert werden konnten. Doch das waren die wenigsten. Die meisten Schläfer waren umgekommen, weil sie in der »neuen« Umgebung nicht leben konnten oder von Piraten entführt und getötet worden waren, die hier, überall an den Ufern des Regenflusses, reiche Beute zu machen hofften. Wer in der Wildnis überleben wollte, mußte sich mit anderen zusammentun, und so entstanden die ersten Banden. Nur das Gesetz des Stärkeren zählte. Die Schläfer, die den Dellos entkommen waren, suchten Schutz und bezahlten dafür. Mod-Poluur war einer derjenigen, die solchen Schutz gewährten. Wer zu ihm stieß und sich ihm unterordnete, war ihm bedingungslos ausgeliefert – er verkaufte Leben und Seele an das Wesen, das einem Alptraum entsprungen zu sein schien und sich selbst als »Zentrum« bezeichnete. Mod-Poluur residierte in einer von seinen ersten Anhängern eigens für ihn ausgehobenen Bodenmulde. Sie war etwa drei Meter tief und hatte einen Durchmesser von knapp fünf Metern. Über die Mulde war ein dichtes Netz gespannt, das Mod-Poluur selbst aus Drüsensekret gesponnen hatte. Niemand konnte ihn sehen. Selbst seine engsten Vertrauten wußten nicht, wie das Zentrum aussah. Diejenigen, die die Mulde ausgehoben hatten, bevor Mod-Poluur sich in sie zurückzog, waren tot. Das einzige, was vom Zentrum an die Oberfläche ragte, waren neun ständig pulsierende Kugeln von etwa einem halben Meter Durchmesser. Sie ragten wie Ballonpilze rund um die Mulde aus dem Boden. Niemand wußte, wozu sie dienten. Vielleicht atmete das Zentrum damit, vielleicht handelte es sich um Sinnesorgane des unter dem un-
8 durchsichtigen Netz verborgenen Hauptkörpers – es interessierte niemanden. Diejenigen, die neugierig geworden waren, lebten nicht mehr. Zu der Zeit, als Leenia ihre Höhle verließ und sich auf den Weg zur Senke der verlorenen Seelen machte, hatte das Zentrum 37 Extremitäten, wie es seine Anhänger nannte. Sie hatten sich ihm alle auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das Zentrum gewährte ihnen auf eine Art und Weise Schutz, die sie nicht begreifen konnten. Wer sich in der Nähe des Zentrums aufhielt, hatte keine Gefahr zu fürchten. Anders war es, wenn eine Gruppe, die immer aus drei Wesen bestand, ausgeschickt wurde, um entweder neue Extremitäten für Mod-Poluur zu gewinnen oder weitere Gebiete von »unerwünschtem Leben« zu säubern. Denn das, was das Zentrum besaß, reichte seiner Machtgier nicht aus. Seine Anhänger, die alle Befehle nur auf telepathischem Weg erhielten, folgten den entsprechenden Anweisungen nur zu gern, auch wenn sie wußten, daß sie bei jeder Mission den Tod finden konnten. Wenn sie starben, dann für das Zentrum und für die Vollkommene Gemeinschaft, die es anstrebte. Es war Nacht auf Pthor, als Mod-Poluur Chron-Kehr, Rhek-Moyn und Zkeh-Noh zu sich rief. Die drei ehemaligen Schläfer erschienen nur Minuten später am Rand der Mulde, wo eine der Kugeln von innen heraus grünlich leuchtete. Sie tauchte die unmittelbare Umgebung in fluoreszierendes Licht. »Wir sind hier, Meister«, zischte ChronKehr. Ihr werdet eines unserer Fahrzeuge nehmen und sofort aufbrechen, lautete die Antwort des Zentrums. Es ist Leben in unserer Nähe – wertvolles Leben für uns. Eure Aufgabe ist es, es zu mir zu locken. »Wir können die Eindringlinge fangen«, sagte Rhek-Moyn. Im nächsten Augenblick bäumte er sich vor Schmerzen auf und sank bewußtlos zu Boden. Niemand außer mir hat dazu die Macht!
Horst Hoffmann Es ist nur ein Eindringling. Brecht auf und führt ihn zu mir. »Wie sollen wir ihn finden?« fragte Chron-Kehr. »Und wie sollen wir ihn zu dir bringen können, wenn nur du Macht über ihn hast?« Ihr werdet ihm sagen, daß er alles bei uns finden wird, was er für den Weg zur FESTUNG braucht. Der Zugor wird der Köder sein. Das war das letzte, was das Zentrum von sich gab. Chron-Kehr und Zkeh-Noh packten den noch bewußtlosen Rhek-Moyn und schafften ihn ins Lager, in dem Wesen unterschiedlichster Art versammelt waren. Sie wußten, daß ihr Leben von der Erfüllung des Auftrags abhing. Rhek-Moyn hatte gefrevelt. Vom Erfolg der Mission hing es ab, ob er und seine Rassegefährten weiterhin im Schutz des Zentrums leben konnten. Chron-Kehr machte einen der von den Dellos erbeuteten Zugors startbereit, während Rhek-Moyn von Zkeh-Noh zur Besinnung gebracht wurde. Diesmal hatte es sie getroffen, die drei Echsenabkömmlinge aus einer Galaxis, die bereits mehrere Male von Pthor heimgesucht worden war. Als Chron-Kehr zurückkam, um seine Begleiter zu holen, starrte er einige Minuten lang in die Feuer, um die herum die anderen, artfremden Extremitäten saßen oder schliefen. Er dachte an seine Heimat. Die Erinnerung daran war nur noch sehr vage, aber den Namen des Planeten, auf dem er geboren worden war, würde er niemals vergessen. Topsid. Chron-Kehr, Rhek-Moyn und Zkeh-Noh waren Topsider. Jahrtausende bevor ihre Nachkommen zum erstenmal auf Terraner und auf einen Mann namens Perry Rhodan gestoßen waren, waren sie von den Horden des über ihre Heimatwelt hereinbrechenden Atlantis verschleppt worden. Die Erde war nicht der einzige Planet der Milchstraße, auf dem Pthor materialisiert war.
Ruf der Höheren Welten Rhek-Moyn kam zu Bewußtsein. Die drei Topsider brachen auf. Irgendwo am Nordufer des Regenflusses würden sie den Eindringling finden. Er kam aus der Richtung des Dämmersees. Das hatte Mod-Poluur in ihr Unterbewußtsein projiziert – ebenso wie die Merkmale, an denen sie den Eindringling erkennen sollten.
* Leenia wählte nicht den direkten Weg zur Senke, sondern bewegte sich am Ufer des Regenflusses entlang in östlicher Richtung. In den Wäldern zwischen dem Hügelgebiet und der Senke wimmelte es von versprengten Nichtpthorern. Hier am Ufer war das Gelände übersichtlicher. Leenia nahm den Umweg in Kauf. Bis zu den ersten Glaspalästen waren es mehr als fünfzig Kilometer. Insgeheim hoffte Leenia darauf, einem Trupp Dellos zu begegnen, die um die Senke herum patrouillierten. Immer wieder mußte sie an die Begegnung mit Lebo Axton zurückdenken. Auch er war von Dellos eingefangen worden. Doch als die Dämmerung hereinbrach, war Leenia keinem einzigen Wesen begegnet – von den kleinen Tieren, die im hohen Gras und in den Büschen lebten, abgesehen. Fast wirkte die Ruhe beängstigend. Oftmals blieb Leenia stehen und lauschte. Sie sah sich um, aber die Gegend war verlassen. Nur das Rauschen des mächtigen Flusses und die Schreie vorüberziehender Vögel waren zu hören. Und doch hatte Leenia das Gefühl, beobachtet zu werden. Es ist nichts, versuchte Wommser sie zu beruhigen. Wir müssen weiter und einen Ruheplatz für die Nacht suchen. Es wurde nun schnell dunkler. Während sie weiterging, blickte Leenia immer wieder zum Himmel auf. Sie sah den Wölbmantel über Pthor, doch sie wußte, daß draußen, Lichtjahre entfernt, die dunklen Sterne der Schwarzen Galaxis matt leuchteten. Sie hat-
9 te sich mittlerweile an die Aura gewöhnt und nahm sie kaum noch wahr. Dennoch fiel es ihr schwer, sich auf den Weg zu konzentrieren. Als Leenia eine ihr geeignet erscheinende Stelle zum übernachten fand, hatte sie etwa die Hälfte ihres Weges zurückgelegt. Sie war ein Stück landeinwärts marschiert und hatte wieder leicht hügeliges Gebiet gefunden. In einer kleinen Senke zwischen zwei Erhebungen legte sie sich ins hohe Gras. Schlaf brauchte sie nicht, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Bald mußte sie den Regenfluß endgültig verlassen und nach Norden gehen. In der Dunkelheit fiel die Orientierung schwer, und außerdem wußte Leenia nicht, ob sie einen heimtückischen Angriff überleben würde. Wenn auch ihr Körper nur eine Hülle war, konnte sie nicht sicher sein, daß sie in ihrer jetzigen Zustandsform hier auf Pthor ohne ihn überleben konnte – als ein Wesen aus reiner Energie. Leenia lag mit offenen Augen im Gras und versuchte weitere Erinnerungen zutage zu bringen – vergeblich. Das Verlangen nach der Rückkehr zu den Ihren wurde um so stärker, je mehr sie sich auf die Höheren Welten konzentrierte. Leenia war immer noch in ihren Träumen gefangen, als sie das Maschinengeräusch hörte. Es kam aus der Luft. Leenia richtete sich auf und sah die Lichter am Himmel. Sie näherten sich. Das Fahrzeug, zu denen sie gehörten, setzte zur Landung an. Ein Zugor! meldete sich Wommser. Das ist unsere Chance! Man hat uns entdeckt. Ein kurzes Zögern, dann fügte er hinzu: Vielleicht Dellos, die uns zur FESTUNG bringen könnten. Vielleicht sind es aber auch Piraten oder ehemalige Schläfer, die den Zugor erbeutet haben. Wir müssen vorsichtig sein, Leenia. Ja, Wommser. Die Frau im roten Anzug stand nun hochaufgerichtet da und wartete, bis die Scheinwerfer das Gelände in Helligkeit tauchten. Der Zugor landete zehn Meter von ihr ent-
10 fernt. Leenia war bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr zuzuschlagen. Nur vage war das violette Flimmern zu erkennen, das ihre Augen umspielte. Noch bevor Chron-Kehr ausstieg und sie ansprach, wußte Leenia, weshalb er und seine beiden Begleiter gekommen waren. Doch ihre telepathischen Fähigkeiten reichten nicht aus, um die ganze Wahrheit zu erkennen. Nur besonders stark ausgeprägte und an sie gerichtete Gedanken konnte sie klar empfangen. So blieb die Absicht der Fremden vage. Sie waren hier, um Leenia mit dem Fahrzeug als Köder zu fangen, um sie zu ihrem Herrn zu bringen. Mehr »sah« Leenia nicht. So kam es, daß sie im Gefühl der eigenen Überlegenheit in die Falle ging. Für sie war das Fahrzeug wichtig. Es ersparte ihr den Weg zur Senke der verlorenen Seelen. Und wo sich eine flugfähige Maschine befand, konnte es noch weitere geben – vielleicht sogar einen Hinweis auf raumtüchtige Fahrzeuge. In einer anderen Situation hätte Leenia sich die Frage gestellt, woher die Fremden wußten, was sie so dringend brauchte. Sie wäre vorsichtiger gewesen und hätte versucht herauszufinden, wer ihr Herr war. Doch die sich so unverhofft bietende Möglichkeit und die jähe Hoffnung, schneller als erwartet zu ihrem Volk gelangen zu können, machten sie unvorsichtig. Wommser schwieg. Immer noch war Leenia überzeugt davon, jeden Gegner, der sich ihr offen stellte, besiegen zu können. Sie hätte die drei Fremden schon jetzt töten und ihr Fahrzeug nehmen können, doch sie erhoffte sich mehr davon, in ihr Lager zu gelangen. Hatte sie eine Garantie dafür, daß man ihr in der FESTUNG wirklich helfen würde? Der Topsider stand breitbeinig vor Leenia. Er hatte die Hand am Griff einer schweren Strahlwaffe. Es ist gut, dachte die Frau an ihn gerichtet. Ich komme mit euch. Chron-Kehr zuckte zusammen. Noch hatte er kein Wort gesprochen. Ich komme mit, bekräftigte Leenia. Gehen
Horst Hoffmann wir. Der Topsider verstand die Welt nicht mehr. Hinter der »Gefangenen« her bestieg er den Zugor und startete ihn. Wommser? fragte Leenia, als sich der Mentalpartner immer noch nicht meldete. Ich bin beunruhigt, kam es zurück. Die drei sind nur Ausführende. Der Drahtzieher … ich kann ihn nicht erfassen. Irgendein Bandenchef, dachte Leenia, die mit ihren Gedanken wieder in gänzlich anderen Räumen weilte. Ich werde mit ihm fertig. Skepsis von Seiten des Dimensionssymbionten. Wieder das Gefühl, beobachtet zu werden, aber nicht von den drei Echsenabkömmlingen, und nicht von irgendwelchen in der Gegend herumstreunenden Exoten. Wommser zog sich in sich selbst zurück. Er kapselte sich ab. Leenia spürte es zwar, aber sie war viel zu sehr in ihre Sehnsucht nach den Artgleichen versunken, um jetzt auf den Partner einzugehen. Wommser spürte es, und er beschloß abzuwarten. Der Zugor jagte in östlicher Richtung durch die Nacht, bis die Feuer des Lagers zu sehen waren.
* Nun, als Leenia sah, wie viele Exoten um die Feuer herumsaßen, begann sie unsicher zu werden. Wenn sie alle gleichzeitig über sie herfielen, hatte sie kaum eine Chance. Doch die ehemaligen Schläfer sahen sie nur neugierig an. Niemand rührte sich. Und doch hatte Leenia das Gefühl, als ob sie alle nur auf etwas warteten, auf ein Zeichen vielleicht oder auf den Auftritt ihres Herrn. Leenia versuchte, ihre Gedanken aufzufangen – vergeblich. Jetzt fiel es ihr auch immer schwerer, die Gefühlsströme der drei Echsen wahrzunehmen. Irgend etwas lähmte ihre Sinne, etwas, das ganz nahe und doch unerreichbar zu sein schien. Leenias Unruhe wuchs. Doch sie wußte, daß sie den einmal beschrittenen Weg zu
Ruf der Höheren Welten Ende gehen mußte. Flucht hatte keinen Sinn. Leenia sah weitere Zugors im Licht der Feuer. Sie könnte die Echsen unschädlich machen und mit dem Fahrzeug zu entkommen versuchen, doch die anderen würden ihr schnell auf den Fersen sein, und es konnte kein Zweifel daran bestehen, wer mit den Zugors besser umgehen konnte – sie oder die mit ihnen vertrauten Bandenmitglieder. Die Echsen standen wie versteinert um Leenia herum. Auch sie warteten. Leenia hatte keine Lust, untätig zu bleiben, bis der große Unbekannte sich zeigte. Bringt mich zu eurem Herrn! forderte sie Chron-Kehr auf. Wieder zuckte der Topsider heftig zusammen, als er die lautlose Stimme in seinem Bewußtsein vernahm. Die Fremde sprach auf die gleiche Weise zu ihm wie das Zentrum. Chron-Kehr wußte nicht, wie er reagieren sollte. Auch Rhek-Moyn und Zkeh-Noh wurden unruhig. Warum meldete sich das Zentrum nicht? Warum ließ der Meister seine Untergebenen warten? Sicher hatte er seine Gründe. Chron-Kehr verscheuchte die Unsicherheit. Der Meister stand hinter ihm. Seine Macht war unbegrenzt. Was hatte Chron-Kehr schon von dieser Fremden zu befürchten? »Das Zentrum allein entscheidet, wann du zu ihm gebracht wirst«, zischte der Topsider, nicht sicher, ob die Stimme ihn auch verstehen würde. Doch schon war wieder die Stimme in seinem Kopf: Ich will ihn jetzt sehen! »Schweig!« fuhr Chron-Kehr Leenia an. Ganz kurz blitzte es in den Augen der Frau auf, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Es hatte keinen Sinn, aus purem Zorn einen der Exoten zu töten. Es mußte einen Weg geben, den Bandenchef aus der Reserve zu locken und ihn dazu zu bringen, ihr zu geben, was sie brauchte. Inzwischen hatte Leenia die Illusion fallengelassen, hier so etwas wie ein Raumfahrzeug zu finden. Sie schalt sich eine Närrin, weil sie so töricht gewesen war und sich von ihren Hoffnungen und Wünschen hatte leiten lassen. Sie mußte
11 ihre Welten und ihr Volk vergessen, bis sie einen Weg zur Heimkehr gefunden hatte. Etwas anderes fiel ihr ein: Aus den Gedanken der Echsen wußte sie, daß es sich bei den zusammengewürfelten Exoten um Plünderer handelte und nicht, wie sie sonst hätte vermuten können, um eine nur aufs Überleben bedachten Notgemeinschaft. War es denn so unwahrscheinlich, daß sie auf einem ihrer Raubzüge einen Raumanzug erbeutet hatten? Viele wiedererwachte Schläfer konnten ohne Raumanzug nicht unter den Umweltbedingungen, wie Pthor sie bot, existieren. Dennoch versetzte die Überheblichkeit des »Zentrums« Leenia in Zorn. Der Chef hockte irgendwo und genoß seinen vermeintlichen Triumph. So leicht wie Leenia war ihm ganz bestimmt noch niemand in die »Falle« gelaufen. Noch einmal konzentrierte sie sich auf die drei Echsen und versuchte bei jeder von ihnen, in ihrem Bewußtsein etwas über ihren Herrn zu erfahren. Das Ergebnis war wiederum gleich Null. Es war, als ob irgend etwas ihre Gedanken blockieren würde, sobald sie an ihn dachten. Leenia nickte grimmig und beschloß, eine Probe ihrer Fähigkeiten zu geben. Sie sah zu den drei hinter dem Lager abgestellten Zugors hinüber. Der rechte, dachte sie intensiv. Seht ihn euch an! Die Topsider folgten der Aufforderung nur zögernd. Als sie alle drei zu den Fahrzeugen hinüberblickten, blitzte es in Leenias Augen auf. Ein blendend heller violetter Strahl traf den Zugor und ließ ihn in einer fürchterlichen Explosion vergehen. Die um die Feuer sitzenden Exoten sprangen auf. Einige rannten in Panik davon, andere scharten sich um Leenia und kamen drohend näher. Es dauerte eine Weile, bis die Topsider sich vom Schock erholt hatten. Als Chron-Kehr den anrückenden Bandenmitgliedern etwas zurief und sich dann an sie wandte, wußte Leenia, daß sie Erfolg gehabt hatte. »Der Meister möchte dich sehen«, zischte Chron-Kehr. »Folge mir.«
12 Befriedigt ging Leenia hinter der Echse her. Die beiden anderen folgten ihr. Ein schmaler Pfad führte zwischen Büschen hindurch vom Lager weg. Leenia spürte plötzlich Unbehagen, dann Übelkeit. Leenia blieb stehen und hatte das Gefühl, sich erbrechen zu müssen. Dann war der Spuk vorbei – so plötzlich, wie er gekommen war. »Weiter!« zischte Chron-Kehr. »Der Herr wartet!« Von hinten bekam Leenia einen Stoß, sie fuhr herum und sah den Holzstab, den einer der beiden hinter ihr gehenden Topsider nun in der Hand hielt. Was nun geschah, war eine instinktive Reaktion. Leenia hatte lernen müssen, sich zu verteidigen. Sie konzentrierte sich. Rhek-Moyn verging in dem violetten Strahl aus Leenias Augen. Leenia schrie auf und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Sie hatte furchtbare Schmerzen und sah kaum, wie Zkeh-Noh den Stab aufhob, den sein Artgenosse vor seinem Tod fallen gelassen hatte. Der Schlag traf sie auf die Stirn. Leenia geriet ins Taumeln. Die Schmerzen drohten ihr das Gehirn zu zerreißen. Bunte Punkte tanzten sekundenlang vor ihren Augen. Sie konzentrierte sich auf den Topsider, bereit zu töten. Nichts geschah. Zkeh-Noh stand breitbeinig vor ihr, den langen Stab zu einem neuen Schlag erhoben. Ein nie gekanntes Gefühl der Angst, der Verzweiflung und Hilflosigkeit erfaßte Leenia. Sie versuchte, die todbringenden Energien in sich aufzubauen und abzustrahlen, immer und immer wieder. Und jedesmal war der Erfolg der gleiche. Nichts. Leenia hatte ihre einzige Waffe verloren. Körperlich war sie den Echsen unterlegen. Sie war in ihrer Gewalt. Wommser! dachte sie flehend. Wir müssen springen! Es geht nicht, lautete die Antwort des Mentalpartners. Sie kam wie aus weiter Ferne. Wommser zog sich sofort wieder zurück. Er gab keine Erklärung ab, doch Leenia begann zu begreifen. Irgend etwas hatte sie gelähmt. Es
Horst Hoffmann mußte in den Augenblicken geschehen sein, als sie die Übelkeit verspürte. Irgend etwas – und Leenia glaubte zu wissen, was oder wer es war. »Weiter!« Wieder die gleiche stereotype Aufforderung Chron-Kehrs. »Der Herr wartet!« Leenia folgte dem Topsider. Sie hatte sich wie eine Idiotin verhalten. Sie hatte sich selbst überschätzt. Nun, so schien es, mußte sie für diese Überheblichkeit bezahlen. Doch wer konnte die Macht haben, ihre Energien zu neutralisieren? Wommser? fragte sie. Keine Antwort. Vor einer grünlich leuchtenden Kugel am Rand einer Bodenmulde blieb Chron-Kehr stehen. Er forderte Leenia auf, an ihm vorbeizutreten. Das, was wie eine alles vernichtende Flutwelle über Leenias Bewußtsein hereinbrach, traf sie stärker als jeder körperliche Schmerz. Sie erlebte das Grauen – und dies war erst der Anfang. Wenn Mod-Poluur mit ihr fertig war, würde sie nichts weiter als eine willenlose Sklavin sein – ein Werkzeug des Zentrums. Für Leenia bedeutete es das Ende aller Hoffnungen, doch das empfand sie nicht einmal mehr. Sie hatte nicht die Kraft zum Widerstand.
3. Viele Lichtjahre entfernt in der Schwarzen Galaxis – Atlan und Thalia an Bord der KNIEGEN Sie hatten zu früh triumphiert. Atlan stieß eine Reihe von Verwünschungen aus, als Dorkan Moht, die Galionsfigur der KNIEGEN, über Funk meldete, daß die Scuddamoren-Schiffe, die nach der Flucht der KNIEGEN von Mogteeke-nArv die Verfolgung aufgenommen hatten, immer näher kamen. Die KNIEGEN flog mit voller Leistung. Dennoch würden die Verfolger sie eingeholt haben, bevor sie die notwendige Geschwindigkeit erreicht hatte, um auf Überlicht zu gehen und sich somit vorerst in
Ruf der Höheren Welten Sicherheit bringen zu können. Die KNIEGEN war gegen die Übermacht ohne Chance. Die Scuddamoren waren schneller und besser bewaffnet. Ein offenes Gefecht bedeutete die Zerstörung der KNIEGEN. Und die Alternative? »Wenn wir sie wenigstens so lange auf Entfernung halten könnten, bis wir die Eintauchgeschwindigkeit erreicht haben!« preßte Thalia hervor. »Wir setzen ihnen ein paar Schüsse vor den Bug, und …« »Und sie blasen uns aus dem All.« Atlan schüttelte grimmig den Kopf. Die Verfolger waren nun als leuchtendrote Punkte auf einem Ortungsschirm zu erkennen. Die eingeblendeten Anzeigen bestätigten Dorkan Mohts Angaben. Der Abstand verringerte sich von Minute zu Minute. Atlan konnte nicht darauf bauen, daß man Thalia und ihn schonen würde. Wie kompromißlos die Scuddamoren jetzt vorgingen, hatte sich auf Mogteeken-Arv gezeigt. Atlans wertvollstes Faustpfand, das Kistchen mit den 250 Ärgetzos, war unterwegs zu Chirmor Flog, dem mächtigen Neffen des mysteriösen Dunklen Oheims. Atlan und Thalia waren den Scuddamoren jetzt bereits zum wiederholten Mal entkommen und hatten ihnen großen Schaden zugefügt. Sie kannten das Geheimnis dieser Wesen und stellten somit die vielleicht größte Gefahr für Chirmor Flog dar, die jemals im MarantronerRevier aufgetaucht war. Nein, schonen würde man sie nicht mehr. Egal, ob sich Atlan mit der KNIEGEN zum Kampf stellte oder ob er sich wiederum in Gefangenschaft begab, am Ende stand der sichere Tod. Auch Thalia wußte dies. Sie stand schweigend vor den Schirmen. Atlan zog sie zu sich heran und suchte nach Worten, um sie zu beruhigen. Er fand sie nicht. Die Verfolger kamen näher. Dorkan Moht tat alles, was in seiner Macht stand, um die KNIEGEN doch noch in Sicherheit zu bringen. Es war aussichtslos. Ein schneller Tod durch die Geschütze der Verfolger oder ein qualvolles Ende in der Gefangenschaft. Wider-
13 sprüchliche Gefühle. Atlan war einerseits nicht bereit, auch nur eine Sekunde seines und Thalias Leben zu verschenken. Insgeheim versuchte er trotz allem noch, einen Ausweg aus einer Situation zu finden, aus der es keinen Ausweg gab. Zum andern aber konnte er sich vorstellen, was ihn und die Odinstocher in der Gefangenschaft erwarten mochte. Das Goldene Vlies. Atlan war davon überzeugt, daß die Scuddamoren inzwischen gemerkt hatten, daß der golden schimmernde Anzug einen Schutzschild darstellte. Sie würden sich darauf einstellen. Letztendlich war der Anzug der Vernichtung auch für den Arkoniden immer noch ein Rätsel. So oft hatte er ihm das Leben gerettet – aber konnte er blind darauf vertrauen, daß dies wieder und wieder der Fall sein würde? Konnte der Anzug ihn in der Gluthölle der explodierenden KNIEGEN retten? Die Scuddamoren kamen näher. Der Abstand zwischen ihnen und der KNIEGEN betrug nunmehr kaum noch hunderttausend Kilometer. Dorkan Moht meldete, daß die KNIEGEN angerufen wurde. Atlan reagierte nicht. Wie versteinert stand er vor den Kontrollen der Zentrale. Plötzlich spürte er eisige Kälte. »Was wird aus Pthor?« fragte Thalia kaum hörbar. Atlan fand keine Antwort. Auch seine Gedanken kreisten in diesen Augenblicken um Atlantis, um die Odinssöhne, um Razamon, der irgendwo verschollen war. Irgend etwas in Atlan wehrte sich dagegen zu akzeptieren, daß der ehemalige Berserker, der längst zu seinem Freund geworden war, tot sein sollte. Atlan sah Stationen seines Lebenswegs vor seinem inneren Auge vorbeiziehen, während er die auf dem Monitor eingeblendeten Werte kaum wahrnahm. In wenigen Minuten würden die Scuddamoren nahe genug sein, um das Feuer zu eröffnen. Wieder Dorkan Mohts Stimme. Der Kommandant der kleinen Scuddamoren-Flotte rief die KNIEGEN erneut an. Diesmal reagierte Atlan. Die Stimme des Retortenwesens hallte aus den Lautsprechern der Zen-
14
Horst Hoffmann
trale. Der Scuddamore forderte die KNIEGEN zur Kapitulation auf. »Nein«, flüsterte Thalia. »Bitte nicht, Atlan. Eher …« »Ich weiß«, sagte der Arkonide. Er hatte Mühe, die Worte herauszubringen. Selbst falls das Goldene Vlies ihn ein weiteres Mal schützen würde – Thalia würde einen qualvollen Tod in den Folterkammern der Scuddamoren erleiden, wenn man sie nicht gar zu Chirmor Flog bringen würde. Noch vor kurzer Zeit hatte Atlan sich danach gesehnt, nach Säggallo zu gelangen. Das war vorbei. »Wir werden ihnen nicht in die Hände fallen.« Atlans Hand näherte sich dem Pult mit den Feuerknöpfen. Seine Entscheidung war gefallen. Der Arkonide spürte Thalias Hand auf seiner Schulter. »Es ist …«, begann die Odinstochter und schüttelte vor Verzweiflung den Kopf. »Du sollt wissen, daß ich dich …« »Ich weiß es, Thalia. Und mir geht es ebenso.« Einen Moment lang hatte er den Wunsch, alles zu vergessen und die letzten Minuten seines Lebens mit Thalia zu verbringen, sie zu lieben, alles andere auf sich zukommen zu lassen. Irgendwann würde der Feuerschlag sie treffen, und alles würde vorbei sein. Als die Schutzschirme der KNIEGEN aufglühten, handelte Atlan instinktiv. Er schlug mit der Faust auf den Kopf, der die automatisch justierten Geschütze Tod und Verderben in die Reihen der Verfolger bringen lassen sollte – ein letztes Aufbäumen vor dem Unabwendbaren. Dann wartete er auf das Ende. Thalia lag in seinen Armen und weinte.
4. Pthor – die FESTUNG und drei ratlose Herrscher Weder Sigurd noch Heimdall oder Balduur wußten einen Ausweg aus der hoffnungs-
los erscheinenden Lage. Tagelang gingen die Söhne Odins sich aus dem Weg, nur um nicht gefragt zu werden, was zu tun sei, wer die Führung übernehmen sollte, wie man dem, was unabänderlich kommen würde, begegnen konnte. Jeder der drei Brüder hatte Angst vor der Verantwortung. Es kam zu Streitereien, wobei besonders der finstere Heimdall sich auszeichnete, der sich nicht über Atlans »Verrat« beruhigen wollte. Balduur schwelgte in seinen Träumen von vergangenen Zeiten. Als einziger versuchte Sigurd, logisch zu denken und das Beste aus der gegebenen Situation zu machen. Er war es, der immer wieder Dellos ausschickte, um überall dort, wo Unruhen ausbrachen, Ordnung zu schaffen und alle nur mögliche Hilfe für die verunsicherten Bewohner des Dimensionsfahrstuhls zu leisen. Valjaren, Dalazaaren, Orxeyaner und viele andere spürten ebenso wie die Odinssöhne, daß etwas bevorstand, gegen das die Abwehrschlacht gegen die Invasionsarmee der Krolocs nur ein Vorspiel gewesen war. Die einzige Unterstützung kam aus Wolterhaven, wo die Robotbürger unablässig neue Berechnungen anstellten und die Odinssöhne mit Informationen versorgten. Doch auch sie konnten nur mit Unbekannten operieren. Es war in einer der selten gewordenen Stunden, in denen die Söhne Odins beieinander saßen und berieten, als die Ankunft eines Mannes gemeldet wurde, der kurz vor dem Halt des Dimensionsfahrstuhls noch für einige Furore gesorgt hatte. Niemand anders als Sator Synk, der Orxeyaner und spezielle Freund aller Roboter, begehrte vorgelassen zu werden. »Was kann er wollen?« fragte Balduur. »Vielleicht haben die Orxeyaner ihn aus der Stadt geworfen«, meinte Heimdall, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich hörte, daß er die Einrichtung zweier Gaststätten und einen Teil des Marktplatzes demoliert hat. Wo er auch ist, sucht er Streit.« »Vergeßt nicht, was er für Pthor getan hat, Brüder«, sagte Sigurd. »Er leidet immer
Ruf der Höheren Welten noch darunter, daß sich der Robotbürger Bediennark und seine drei Diener auf Wolterziel für ihn geopfert haben.« »Wenn du ihm das ins Gesicht sagst, gibt's die schönste Keilerei«, kam es von Balduur. Der stillste der drei Odinssöhne schmunzelte still vor sich hin. Sigurd gab Anweisung, den Orxeyaner vorzulassen. Dann stand er vor ihnen – auf den ersten Blick ein wilder und verwegen dreinschauender Mann mit einem bis auf die Brust hinabreichenden roten Bart. Vom Gesicht waren fast nur die kleinen, hellblau funkelnden Augen und die Nase zu sehen. Sator Synk war nur wenig mehr als anderthalb Meter groß, breit und stämmig. Seine Kleidung war die eines Orxeyaners. Nur unter Protest hatte er den Raumanzug, den er während seines Fluges ins Vorfeld der Schwarzen Galaxis getragen hatte, abgegeben. Atlan hatte ihn für die Dellos gebraucht, die ihm und Thalia an Bord der GRIET gefolgt waren. Sator Synk grüßte knapp und kam ohne lange Umschweife zur Sache. »Ich habe mir viele Gedanken über die Lage Pthors gemacht«, verkündete er mit grimmiger Miene, »und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß endlich etwas unternommen werden muß.« »In der Tat?« Sigurd saß in einem prunkvollen Sessel und blickte den Orxeyaner amüsiert an. »Wahrlich ein weißer Schluß. Und was gedenkst du zu tun, Synk?« Der Bärtige trat vor einen Tisch mit Früchten und Getränken und schlug mit der Faust auf die Platte. Die silbernen Pokale kippten fast um. »Wir haben die GOL'DHOR! Gebt mir das Schiff und stellt mir eine Mannschaft! Ich werde aufbrechen, um Atlan zu suchen, das ist mein fester Entschluß!« »Atlan!« Als wäre der Name ein Reizwort für ihn, sprang Heimdall auf und knallte seinen Weinpokal auf den Tisch. »Du kannst ihn lange suchen. Der Verräter hat sich abgesetzt!«
15 In Synks Augen blitzte es kurz auf. Sie wurden zu schmalen Schlitzen, als der Orxeyaner vor den weit größeren Odinssohn trat und ihn anfauchte: »Sagtest du Verräter? Atlan ein Verräter? Ich bin ein einfacher Atlanter, und ich weiß gerade soviel, um unsere derzeitige Lage beurteilen zu können, aber man redet so einiges über euch, speziell über einen von euch, der lieber von seinem Parraxynt träumt, als sich der Realität zu stellen. Was wärt ihr denn ohne Atlan? Ich …« »Schweig!« Auch Sigurd war aufgestanden und versuchte, die Streithähne auseinanderzubringen. »Wir wissen wohl, was Atlan für uns getan hat, aber Heimdalls Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen.« »Dann gebt mir die Chance, ihm zu beweisen, wie töricht dieser Verdacht ist! Die GOL'DHOR und eine Mannschaft! Mehr will ich nicht. Oder sollen wir warten, bis der Gegner zuschlägt? Dann nützt uns auch das Schiff nichts mehr.« »Da hat er recht«, gab Balduur, immer noch etwas belustigt, zu. »Natürlich habe ich recht. Was können wir noch verlieren? Wenn ihr mir nicht traut, kann ja einer von euch mitfliegen, oder besser noch alle drei.« »Hüte deine Zunge«, herrschte Heimdall den Orxeyaner an. »Du redest mit den Söhnen des großen Odins, den Herrschern über Pthor.« »Aha!« Synk stemmte die Hände in die Hüften und blickte triumphierend zu Heimdall auf. »Solange Atlan nicht zurück ist, so war es doch. Es wäre dir wohl nur recht, wenn er nicht zurückkäme, oder irre ich mich da?« Ehe Heimdall den Orxeyaner packen konnte, war Synk unter den Händen des Hünen regelrecht weggetaucht. Sigurd hatte alle Mühe, den aufgebrachten Bruder zu beruhigen. »Vielleicht hat er recht«, sagte er, und nun lag kein Spott mehr in seiner Stimme.
16 »Nur die GOL'DHOR wäre in der Lage, das zu vollbringen, was Atlan sich vorgenommen hatte, ganz egal, ob er uns anlog oder wirklich die Peripherie der Schwarzen Galaxis auskundschaften wollte. Eine gute Besatzung …« Balduur räusperte sich. »Synk ist nicht der erste, der diesen Vorschlag macht«, sagte er. »Sollten wir die GOL'DHOR wirklich aufs Spiel setzen, müßte er auf jeden Fall hierbleiben.« »Was soll das?« Respekt schien für den Orxeyaner ein Fremdwort zu sein. »Wer machte hier einen Vorschlag, und warum soll ich nicht mitfliegen können?« Auch Sigurd schien überrascht. Als er den Bruder anblickte, erklärte Balduur: »Ich hatte heute Kontakt mit den Robotbürgern.« Sator Synk zuckte bei dem Wort zusammen. »Sie machten den gleichen Vorschlag. Zwar ist die Erfolgschance einer solchen Mission denkbar niedrig, aber unter den gegebenen Umständen ist es das einzige, was wir tun können. Die GOL'DHOR soll mit einer Robotbesatzung ausgerüstet werden und einem ersten Erkundungsflug nicht weiter als fünfzig Lichtjahre tief in die Schwarze Galaxis aufbrechen.« »Aber das …« Synk schnappte nach Luft und ließ sich in Sigurds Sessel fallen. »Das ist total verrückt!« »Mindestens ein organisches Wesen müßte den Flug allerdings mitmachen«, fuhr Balduur ungerührt fort. »Es ist nicht sicher, ob Roboter den emotionalen Kontakt zur GOL'DHOR herstellen können wie ein normaler Pthorer.« »Roboter, ha!« Synk sprang wieder auf und drehte sich wie ein aufgezogener Kreisel um die eigene Achse. »Das ist der übelste Scherz, den ich in meinem Leben gehört habe. Ich kenne sie, diese hinterhältigen Maschinen. Wenn ich sehe, daß auch nur einer dieser Blechkästen an Bord der GOL'DHOR geht, haue ich ihn
Horst Hoffmann zu Klump! Jawohl! Ich habe sie kennengelernt, und sie sind … sie sind grausam!« »Ich sagte ja, daß du hierbleiben müßtest, falls wir uns tatsächlich für den Einsatz des Schiffes entscheiden würden. Außerdem haben die Robotbürger eine vollkommen logische Erklärung für ihre Forderung. Im Gegensatz zu organischen Wesen glauben sie unempfänglich für die unheilvolle Aura der Schwarzen Galaxis zu sein.« »Logik, ha!« Synks Hände fuchtelten in der Luft herum, als ob sie sie stückchenweise zerkneten wollten. »Ich kenne ihre Logik! Nein! Gebt mir zehn Dellos, und ich zeige diesen arroganten Blechfiguren, wozu ›organische Besatzungsmitglieder‹ fähig sind!« Schweigen. Die Odinssöhne blickten sich an. Heimdall war anzusehen, daß er Synk am liebsten auf der Stelle den Hals umgedreht hätte. »Wir sollten uns mit den Robotbürgern besprechen«, schlug Sigurd vor. Als Balduur die Schultern zuckte, wandte er sich an den Orxeyaner. »Warte draußen. Ein Dello wird dich in ein Quartier führen. Wir benachrichtigen dich, sobald unsere Entscheidung getroffen ist.« »Eure Entscheidung? Daß ich nicht lache! Ihr seid doch längst zu Sklaven der Robotherren geworden. Sie lachen über euch! Ihr …« »Jetzt reicht's!« Sigurds Gesicht verriet, daß das, was für ihn bisher eher ein Spiel gewesen war, vorbei war. Synk genoß eine Art Narrenfreiheit, doch auch diese hatte ihre Grenzen. Und der Orxeyaner verstand. Leise vor sich hin fluchend verließ er den Raum, um den vor der Tür bereits wartenden Dello aufs heftigste zu beschimpfen. In seinem Quartier angelangt, bemerkte er als erstes die Flasche mit alkoholischem Getränk auf dem einzigen Tisch des Raumes. Synk brauchte in seinem Zorn weniger als eine Viertelstunde, um sie zu leeren. Alle Roboter des Universums konnten ihm ein für allemal gestohlen bleiben. Bedi-
Ruf der Höheren Welten ennark! Was wollte er von ihm, wenn er jede Nacht wie ein Phantom erschien und Synk schweißgebadet erwachen ließ? Hatte Synk ihm befohlen, sich auf Wolterziel für ihn zu opfern? Nie wieder, dachte der Orxeyaner. Nie wieder fliege ich mit Robotern auf einem Schiff. Eher soll mich der Herr der Finsternis persönlich zu sich holen. Doch immer wieder ertappte Sator Synk sich bei dem Gedanken, wie es wohl an Bord der GOL'DHOR sein würde, wenn er als einziges ›organisches Besatzungsmitglied‹ unter lauter Robotern Kurs auf die Schwarze Galaxis nähme. Vielleicht würde er das, wofür er sich fälschlicherweise selbst die Schuld in die Schuhe schob, wiedergutmachen können. Um sich dies selbst gegenüber nicht zugeben zu müssen, steigerte er sich immer weiter in seinen Zorn hinein – bis der Dello erschien und verkündete, daß die Odinssöhne ihn zu sehen wünschten.
* Die Entscheidung war gefallen, aber sie war anders ausgefallen, als Synk es sich in seinen schlimmsten Träumen hätte ausmalen können. Es waren die Robotbürger gewesen, die den Vorschlag machten, daß fünf ihrer Diener und Sator Synk als einziges organisches Besatzungsmitglied an Bord der GOL'DHOR den Wölbmantel durchdringen und Kurs auf die Schwarze Galaxis nehmen sollten. Als Begründung dafür, daß ausgerechnet ihr spezieller Freund den Flug mitmachen sollte, gaben sie gerade diese seine »Vorliebe« für Roboter aller Art an. Sein Ehrgeiz, ihnen zu beweisen, daß er ihnen doch überlegen war, würde ihn zu den Höchstleistungen befähigen, die er bringen mußte, um das, was ihm bevorstand, meistern zu können. Sator Synk blickte von einem Odinssohn zum andern. Er war den Verzweiflungstränen nahe. Das durfte einfach nicht wahr sein!
17 »Natürlich können wir dir nicht befehlen, an Bord der GOL'DHOR zu gehen«, sagte Sigurd. »Ich selbst hätte auch Interesse an dem Flug und würde lieber selbst mit den Robotern fliegen als das Risiko eingehen, jemanden mitzuschicken, der Angst vor ihnen hat und …« »Angst?« kreischte Synk. »Ich und Angst vor Robotern? Ich zertrümmere sie einen nach dem anderen, so wahr ich hier stehe!« Inzwischen saß der Orxeyaner wieder auf seinen vier Buchstaben. »Ich fliege mit! Ich werde jedem dieser Ungeheuer auf die Metallfinger sehen, damit sie keinen Unfug stiften. Angst, pah! Ohne mich wäre Bediennark …« Synk verstummte mitten im Satz. Der Herr Bediennark. Der Schuldkomplex. Das tragische Ende, das die Mission gefunden hatte, die fast ebenso begonnen hatte wie der geplante Flug der GOL'DHOR. »Dann ist ja alles in Ordnung.« Sigurd ließ Synk keine Zeit, es sich doch noch anders zu überlegen. »Du wirst die fünf Robotdiener mit einem Zugor abholen. Man erwartet dich in Wolterhaven.« In der Hölle! dachte der Orxeyaner. Als ob ich nicht wüßte, daß diese Drahtgestelle sich nur an mir rächen wollen! Aber da haben sie sich getäuscht. Sator Synk wird ihnen zeigen, wozu er fähig ist! Synk verbrachte die Nacht in der FESTUNG. Am Morgen brach er auf, ein fluchendes und zeterndes Bündel aus Energie – organischer Energie, wohlgemerkt. Jawohl, er würde es ihnen zeigen, allen Robotern, die nur darauf warteten, ihn versagen zu sehen, weil sie sich ja so überlegen fühlten. Dabei würden weder Robotdiener aus Wolterhaven noch der wilde Orxeyaner jemals die GOL'DHOR besteigen. Doch von dem, was auf ihn zukam, ahnte Sator Synk nichts. Hätte er es gewußt – er wäre niemals in Richtung Wolterhaven aufgebrochen.
5. Am Nordufer des Regenflusses – Leenia/
18
Horst Hoffmann
Wommser und das Zentrum Mod-Poluur hatte die Energien des Wesens in sich aufgesogen wie ein trocken ins Wasser geworfener Schwamm die Flüssigkeit. Die Frau war nicht mehr fähig, von ihren natürlichen Waffen Gebrauch zu machen. Sie war eine Hülle, in der Mod-Poluur hauste – und noch etwas anderes. Das Zentrum stieß auf Widerstand. Irgend etwas in der Fremden hinderte ihn daran, es völlig auszufüllen. Mod-Poluur konnte nicht ins Bewußtsein der Gefangenen vorstoßen. Es war, als ob sie überhaupt keines hätte, und doch war es da, hinter einer undurchdringlichen Mauer verborgen, die es zu sprengen galt. Mod-Poluur würde Geduld haben, tagelang, wochenlang, falls es sein mußte. Er spürte, daß dieses Wesen für ihn wertvoller als alle anderen Extremitäten sein konnte. Er würde ihm seine Kräfte zurückgeben, wenn sein Wille gebrochen und es ganz im Bann des Zentrums war. Mod-Poluur sah schon im Geist vor sich, wie die Frau für ihn kämpfen würde, wie die todbringenden Energien, die die Extremität Rhek-Moyn das Leben gekostet hatten, seine Gegner vernichten würden. Mod-Poluurs Kräfte wirkten weiter auf die Fremde ein. Irgendwann würde die Mauer fallen, die ihr Bewußtsein umgab. Das Zentrum hatte keinen Zweifel daran. Ein psionischer Kampf zwischen ihm und dem, das ihm noch Widerstand leistete, entbrannte. Am Ende würde Mod-Poluur sämtliche Erinnerungen und alles Wissen des Wesens ausgebreitet vor sich haben, und dann konnte er es für alle Zeiten gefügig machen. So sah das Zentrum seine neue Gefangene und was in ihr vorging. Noch war sie nur gelähmt und unfähig, irgend etwas aus eigenem Willen zu unternehmen. Noch …
* Das, was Mod-Poluur für Leenias Bewußtsein hielt, das sich verzweifelt gegen den Schwall anstürmender psionischer Energien wehrte, war nicht Leenia. Sie, die Kom-
ponente Leenia, war psychisch tot. Es war Wommser, der auf den Überfall Mod-Poluurs vorbereitet gewesen und sich völlig in sich zurückgezogen hatte, um im entscheidenden Augenblick Leenias Bewußtseinsinhalt in sich aufzunehmen. Leenia, die viel zu leichtsinnige Partnerin, hätte keine Chance gegen den mentalen Überfall gehabt. Sie war leer. Mod-Poluur achtete darauf, daß seine wertvolle Gefangene nicht starb, doch ohne die Energien, die Wommser in sie überfließen ließ, um ihre Lebensfunktionen auf einem minimalen Niveau aufrechtzuerhalten, wäre sie körperlich gestorben. Was in diesem Fall mit ihr und ihm, Wommser, geschehen wäre, wußte der Mentalpartner nicht. Er konzentrierte all seine Energien auf die Abwehr des Monstrums, das auch von ihm Besitz ergreifen wollte. Dennoch wußte Wommser, daß er sich nicht sehr lange würde halten können. Er würde regelrecht ausgezehrt und gezwungen werden, Leenias Bewußtseinsinhalt und damit den seinen freizugeben. Und Wommser wußte, was das bedeutete. So war auch er gelähmt. Er erinnerte sich an jene Zeit, als er noch nicht an die Partnerin gebunden war. Vielleicht hätte er dann einfach entmaterialisieren können, in die Sicherheit des Dimensionsnestes fliehen. Doch das war vorbei. Die beiden Topsider und andere herbeigeeilte Bandenmitglieder, deren Neugier stärker gewesen war als die Furcht vor dem Meister, ahnten nichts von dem furchtbaren Kampf, der zwischen dem, was unter dem Netz in der Bodenmulde verborgen war, und der wie aus Stein gemeißelt dastehenden Gefangenen tob te. Wommser würde bis zum letzten kämpfen. Für Leenia. Für ihre Hoffnungen, die seine Hoffnungen geworden waren. Für alle, die zu seinen Freunden geworden waren, und für deren Ziele. Für Atlan und gegen die Mächte, die die Schwarze Galaxis beherrschten, denn Wommser glaubte, in der Aura, die bis hierher drang, etwas wiederzuerkennen: Die gleiche Ausstrah-
Ruf der Höheren Welten lung war von den Schattenballungen ausgegangen, die ihn aus seinem Dimensionsnest vertrieben und fast getötet hätten. So würde es ein Kampf um Leben oder Tod werden. Denn Wommser war entschlossen, sich eher selbst zu opfern, bevor er unter Mod-Poluurs Gewalt geriet. Sich und damit Leenia, die jetzt nur Hülle war und sich nicht wehren konnte, weder gegen Mod-Poluur noch gegen den Teil ihrer selbst, der Wommser hieß. Und irgendwo in Räumen, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen, wartete man auf sie. Die Wesen, die die Höheren Welten gleichermaßen bildeten und bevölkerten, »sahen«, was mit Leenia vorging, doch sie hatten keine Möglichkeit zum Eingreifen.
6. Einmal Wolterhaven und zurück Der Orxeyaner schlug sich die Hände vors Gesicht, als er die Stadt der Roboter am Horizont auftauchen sah. Der Zugor geriet ins Wanken. Synk konnte sich gerade noch an der Steuersäule festhalten und mit Mühe das Fahrzeug wieder auf Kurs bringen. »Es war mein Vorschlag«, knurrte er immer wieder. »Ich hatte die Idee, mit der GOL'DHOR nach Atlan zu suchen. Diese Blechkerle haben kein Recht, mitzufliegen und die Idee für sich zu beanspruchen. Logik, pah!« Aber warum hatten sie wirklich ausgerechnet ihn als »organisches Besatzungsmitglied« vorgeschlagen, ja geradezu gefordert? Es konnte sich nur um Rache handeln! »Sympathien, lächerlich!« Synk dachte wieder an den Herrn Bediennark und seine drei Diener. Und wie immer, zeigte sich die tief ins Unterbewußtsein verdrängte Trauer als Aggression. »Du warst mir nicht sympathisch, Bediennark! Nie im Leben! Und ich weiß, daß du gelogen hast. Auch du konntest mich nicht ausstehen. Ach, was sage ich? Du fühltest dich ja so sehr überlegen! Aber warte! Sator Synk wird es dir zeigen!«
19 Der Orxeyaner steigerte sich immer mehr in seinen Zorn hinein, je näher er Wolterhaven kam. Auf einer der Plattformen landete er den Zugor und stieg aus. Sekunden später erschienen drei Robotdiener. »Hier bin ich«, knurrte er, bevor einer der Roboter etwas sagen konnte. »Wo sind die Kerle, die unter meinem Kommando in die Schwarze Galaxis fliegen wollen? Ich habe nicht die Absicht, mich auch nur eine Minute länger als unbedingt nötig hier aufzuhalten. Also, ich warte hier auf sie.« »Du bist unser Gast, bis alle Vorbereitungen abgeschlossen sind, Sator Synk«, kam es knarrend aus einem zwischen Tentakeln und stabförmigen Extremitäten verborgenen Lautsprecher. »Wir haben uns große Mühe gegeben, dein Quartier nach deinem Geschmack einzurichten. Wir sind dir diese Aufmerksamkeit schuldig, nach dem, was du für den Herrn Bediennark getan hast.« Synk kniff die Augen zusammen. Er war für einen Moment sprachlos, was bei ihm einiges heißen wollte. Er und etwas für diesen Bediennark getan, den arroganten Robotbürger, der ihn den Verrückten auf Wolterziel ausgeliefert und nachher die Unverschämtheit besessen hatte, von Sympathie zu sprechen? Das war schon mehr als Provokation. »Ihr legt mich nicht mehr 'rein«, brüllte Synk. »Nicht noch einmal! Her mit den fünf Blechkästen, die mich begleiten wollen! Wenn sie in einer Minute nicht hier sind, fliege ich zurück und berichte den Odinssöhnen, daß ihr euch geweigert habt, mit mir zusammenzuarbeiten, daß ihr … daß ihr Sabotage betreibt!« »Wir stehen in ständigem Kontakt mit der FESTUNG«, versetzte der Sprecher der drei Diener ungerührt. »Die Odinssöhne wissen über alles Bescheid, was hier vorgeht.« Also doch! dachte Synk. Sabotage, Verschwörung! Aber gerade das stachelte ihn an. Hatte man ihn nicht einen Feigling genannt? Er würde es ihnen zeigen, ihnen allen. »Wann werden eure fünf Kumpane zum
20 Abflug bereit sein?« »Der Begriff ›Kumpane‹ ist uns nicht geläufig«, sagte der Roboter. Synk stöhnte laut und suchte etwas, worauf er sich setzen konnte. »Mitverschwörer! Komplizen!« Synk verdrehte die Augen. »Robotisches Leben von wahrer Intelligenz, das einen Knacks hat. Und Knacks bedeutet, daß ihr nicht alle Sinne beieinander habt, daß … daß eure Schaltelemente durcheinander geraten sind.« Täuschte er sich, oder blickten sich die drei Roboter gegenseitig an? »Wir werden unsere Schaltelemente auf eventuelle Fehler überprüfen lassen«, versicherte dann der Sprecher. »Nun aber führen wir dich in dein Quartier. Es wird einige Stunden dauern, bis unsere beiden Begleiter ebenfalls auf fehlerhafte Schaltelemente untersucht und für den Abflug bereit sind.« O nein! durchfuhr es Synk. Nicht das! Er sah zurück zum Zugor, bereit, jeden Augenblick hineinzuspringen und diesen Ort des Wahnsinns zu verlassen. Doch da packten ihn schon die Tentakelarme der Roboter und zerrten ihn zu einer Öffnung in der Plattform. Synk protestierte, stieß die wüstesten Beschimpfungen aus, doch alles nützte nichts mehr. Durch den AntigravSchacht gelangte er tiefer in die Stadt der Roboter, bis er vor der Tür seines in aller Eile eingerichteten Quartiers stand. Synk traute seinen Augen nicht. Er hatte einen völlig kahlen Raum erwartet. Nun aber sah er eine Couch, einige Sessel und einen Tisch, auf dem mehrere Flaschen des in Orxeya beliebtesten alkoholischen Getränks standen. Synk schluckte. »In der Botschaft, die unser Herr Bediennark dir mitgab, war außer den Ergebnissen eurer Mission auch einiges über dich gespeichert«, erklärte der Roboter im Eingang. »Diese Botschaft war es auch, die uns zu der Entscheidung führte, dich als organisches Besatzungsmitglied auf der GOL'DHOR zu dulden. Der Herr Bediennark würdigte ausdrücklich deine Fähigkeiten, und …«
Horst Hoffmann »Und gleich werdet ihr anfangen, von Sympathie zu faseln!« platzte es aus dem Orxeyaner heraus. »Fähigkeiten, ha! Natürlich habe ich sie, im Gegensatz zu euch!« Synk nahm sich eine der Flaschen und trank sie in einem Zug halb aus. Sogleich wurde ihm anders. Wohlige Wärme durchströmte ihn. »Nicht schlecht. Ich muß zugeben, daß ihr Geschmack habt.« Sofort erkannte er seinen Fehler. »Daß ich Geschmack habe, wollte ich sagen.« Er trank die Flasche ganz aus, und plötzlich sah er die drei Robotdiener mit anderen Augen. Fast glaubte er eine ganz besondere Art von Ästhetik in ihrer Konstruktion zu erkennen. Wieso hatte er eigentlich etwas gegen sie? Im Grunde genommen war Bediennark doch ein ganz anständiger Kerl gewesen. »Du da«, sagte Synk zu dem ihm am nächsten stehenden Roboter. »Komm mal her.« Er legte dem Maschinenwesen eine Hand auf die Schulter. »Du mußt das alles, was ich sagte, nicht so ernst nehmen. Ich freue mich sogar auf unseren gemeinsamen Flug, und ich sage dir, äh …« »Äh?« ahmte der Roboter den Orxeyaner nach. »Dieser Begriff ist mir …« »Nicht geläufig, das weiß ich ja. Ich wollte sagen, daß wir es diesen Schwarzen aus der Galaxis schon zeigen werden, und wir werden Atlan da heraushauen, so wahr ich Sator Synk heiße!« Die drei Robotdiener zogen sich zurück und ließen den Orxeyaner allein. Konnte Robotern etwas peinlich sein? Unsinn, dachte Synk. Die nächste Flasche. Bediennark! Er war doch ein patenter Kerl gewesen. Für Augenblicke drohte die Trauer Synk zu übermannen, doch ein weiterer Schluck half dem schnell ab. Sator Synk trank auch die letzte Flasche aus und schlief auf der Couch ein. Als er erwachte, fühlte er sich so elend wie noch nie. Und als er die fünf Robotdie-
Ruf der Höheren Welten ner vor sich stehen sah, glaubte er, den Lohn für alle Sünden seines Lebens zu empfangen.
* Alles konnte Sator Synk den Robotbürgern von Wolterhaven vorwerfen, nur eines nicht: daß sie nicht in der Lage waren, sich in die Psyche eines organischen Wesens zu versetzen. Der Synk bereits hinlänglich bekannte Robotdiener an der Spitze der Gruppe brachte eine neue Flasche zum Vorschein und reichte sie Synk, der zunächst einmal ungläubig blickte, dann jedoch um so schneller zugriff. Als er ausgetrunken hatte, fühlte er sich wohler. Erstaunt bemerkte er erst jetzt, daß jeder der fünf Roboter einen Farbfleck auf der Brust hatte. Blau, grün, gelb, rot und weiß – perfekte Unterscheidungsmerkmale, und zwar solche, wie Synk sie kurz nach dem Start der WOLTERBOOT von den drei Dienern des Herrn Bediennark gefordert hatte. Was hatte die Botschaft, die Bediennark ihm mitgegeben hatte, wirklich alles enthalten? Sympathiebezeigungen, Charakterbeschreibungen und wahrscheinlich eine Aufzählung aller Vorlieben des Orxeyaners. Synk hoffte, daß Atlan nur das erfahren hatte, was ihn direkt anging. Aber hatten die Roboter ihn dann nicht in der Hand? Synk fühlte sich wohler, natürlich, aber konnte er den Robotdienern und ihren Herren auch wirklich trauen? Wollten sie ihn betrunken machen, um seine Sinne zu vernebeln? Würden sie ihn bei der erstbesten Gelegenheit verraten? Waren sie imstande, so gemein zu sein? Nicht auszudenken, wie groß die Blamage wäre, falls jemand über Synks wahres Verhältnis zum Herrn Bediennark und seinen Dienern erfuhr. Es gab nur eines, um sich Klarheit zu verschaffen. Sator Synk mußte die Roboter testen, hier und jetzt, bevor es zu spät war. »Du da«, knurrte der Orxeyaner und zeigte auf den rot markierten Diener. »Ja, dich meine ich. Ab sofort bist du der Sprecher für euch fünf. Wer mir etwas zu sagen hat, tut
21 das über dich. Ist das klar?« »Verstanden und akzeptiert, Sator Synk.« »Schön.« Der Orxeyaner nickte grimmig. »Und dann soll jeder von euch wissen, daß ich der Kommandant bin, ich ganz allein und ab sofort. Das gilt für den Flug zur FESTUNG und für die Zeit, die wir an Bord der GOL'DHOR verbringen werden. Verstanden?« »Verstanden und akzeptiert«, bestätigte »Rot«. Synk schielte mißtrauisch von einem Roboter zum andern. Spielten sie ihm nur etwas vor, oder meinten sie wirklich, was sie sagten? Daß Roboter lügen konnten, wußte Synk, zumindest bildete er sich das ein. »Wir verstehen uns also. Wann können wir aufbrechen?« »Sofort.« »Und auch eure Herren haben meine Bedingungen akzeptiert?« »Ja, Sator Synk. Deine Bedingungen waren uns bekannt.« Natürlich, dachte das Rauhbein aus der Händlerstadt. Sie wissen ja über mich Bescheid. Einige Augenblicke lang war er versucht, eine Bestätigung von einem der Robotbürger selbst zu fordern, doch dann, als er die fünf Diener still und in Reih und Glied vor sich stehen sah, begann er zu glauben, daß sie es wirklich ehrlich mit ihm meinten. Warum auch nicht? War es nicht nur natürlich, daß sie seine Führerqualitäten erkannt hatten? Der Alkohol machte sich erst jetzt wieder voll bemerkbar – so sehr, daß Synk sich nicht einmal die Frage stellte, warum das so war. Das Mißtrauen schwand. Seine kleine Streitmacht stand vor ihm. Wozu also noch zögern? »Wir brechen auf«, verkündete der Orxeyaner. »Bringt mich zum Zugor!« »Bist du sicher, daß du ihn steuern kannst?« fragte der rot markierte Diener. »Wir gaben dir den Alkohol zwar als Medizin, aber seine Nebenwirkungen …« Synk winkte ab. »Unsinn!« sagte er barsch. »Ich bin schon
22
Horst Hoffmann
ganz anders berauscht gewesen und trotzdem … Aber das gehört nicht hierher. Ich steuere das Ding. Keine Widerrede!« Minuten später befanden Synk und seine Streitmacht sich im Zugor. Das Fahrzeug hob ab und stieg viel zu steil in den Himmel auf. »Soll nicht doch einer von uns …?« wagte Rot zu fragen. »Unsinn. Das war nur ein Test, um festzustellen, ob der Zugor nicht überladen ist und uns alle sechs tragen kann. Haltet euch fest. Wir machen übrigens einen kleinen Umweg. Ich möchte Orxeya noch einmal sehen.« Keine Antwort, also auch kein Widerspruch. Synk nickte zufrieden. Das Schweigen der Roboter war ein weiteres Zeichen für ihre Bereitschaft, sich Synks Befehlen zu fügen. Denn Sentimentalität war etwas, das sie kaum verstehen konnten. Und Sentimentalität war es, die Synk Kurs auf Orxeya nehmen ließ. Er wollte seine Heimatstadt tatsächlich noch ein letztes Mal sehen. Denn unbewußt rechnete er nicht damit, daß er von seiner Mission lebend zurückkehren würde. Unbewußt empfand er immer noch Schuldgefühle dem Herrn Bediennark gegenüber, der sich für ihn geopfert hatte.
* Kurs auf Orxeya – das hieß für Sator Synk in seinem gegenwärtigen Zustand erst einmal Kurs nach Nordost. Die Richtung stimmte zwar annähernd, aber in seinem Eifer schoß der Orxeyaner im wahrsten Sinn des Wortes über sein Ziel hinaus. Er hatte soviel mit Kurs, Höhen und Geschwindigkeitskorrekturen zu tun, daß er dies erst bemerkte, als er den Regenfluß unter sich schimmern sah. Das brachte ihn halbwegs zur Besinnung. Synk drehte sich zu den Robotern um. »Das ist nicht Orxeya«, sagte er. »Der Regenfluß. Ich habe mich auf euch verlassen. Wieso habt ihr mich nicht darauf aufmerksam gemacht, daß … äh … die Steuerung des Zugors fehlerhaft ist?«
»Wir waren und sind der Überzeugung, daß unser Kommandant weiß, was er tut, und daß der Umweg über den Regenfluß nicht ohne Grund genommen wurde«, kam es von Rot. Synk schüttelte in stummer Verzweiflung den Kopf. Die euphorisierende Wirkung des Alkohols ließ nun rapide nach. Der Orxeyaner hatte das Gefühl, daß der Zugor sich immer schneller in der Luft drehte und irgend jemand ihm einen Schraubstock am Kopf angelegt hatte. Ihm war übel – furchtbar übel. Synk versuchte verzweifelt, etwas gegen das Kreisen zu unternehmen, riß an allen erreichbaren Hebeln und brachte es fertig, daß das Fahrzeug sich tatsächlich zu drehen begann. Dazu schwankte es und neigte sich so stark zur Seite, daß drei Robotdiener gleichzeitig den Orxeyaner stützen mußten. »Mir ist schlecht«, brachte der Kommandant hervor. »Wir … wir müssen notlanden. Einer von euch übernimmt die Steuerung.« Das war vorläufig das letzte, was der Orxeyaner herausbringen konnte. Ein Robotdiener stellte sich an die Steuersäule in der Mitte des schalenförmigen Fahrzeugs und stabilisierte den Kurs. Es dauerte nicht lange, bis er einen geeigneten Landeplatz fand – am nördlichen Ufer des Flusses, zwischen dem Dämmersee und der Senke der verlorenen Seelen.
* Der psionische Kampf zwischen dem Zentrum Mod-Poluur und der Bewußtseinskomponente Wommser tobte nun schon länger als einen Tag, ohne daß es einem der beiden Gegner gelungen war, entweder die Blockade um das Bewußtsein Leenia/ Wommsers zu brechen oder sich aus der Gewalt des Zentrums zu befreien. Wommser spürte, wie seine Energien langsam schwanden. Eine Stunde noch, vielleicht zwei. Dann mußte er das tun, was nicht zu vermeiden war. Wommser hatte absolut keine Vorstellung davon, was geschehen mochte, wenn er
Ruf der Höheren Welten schlagartig seinen und Leenias Bewußtseinsinhalt und alle noch in ihm steckende Energie freigab und dem Gegner entgegenschleuderte. Er, Wommser, würde dies auf keinen Fall überleben. Mod-Poluur wahrscheinlich auch nicht. Aber welche weiteren Wirkungen würde es haben? Wommser konnte nicht weiter darüber nachdenken. Er durfte es nicht. Und Mod-Poluurs Ansturm wurde stärker. Das Zentrum legte all seine Lebensenergie in sein Anrennen. Die grüne Kugel, von der die Extremitäten ihre Befehle bekamen, leuchtete nur noch schwach. Doch noch war die Kommunikation möglich. So erfuhr Mod-Poluur vom Auftauchen eines Fremden, der von fünf Robotern begleitet wurde und in einem Zugor gelandet war – nicht weit vom Lager entfernt. Das Zentrum brauchte ein Ventil, um den Zorn über das bisherige Scheitern seiner Anstrengungen abzulassen. So schickte es drei Technos aus, die als einige der ersten in Mod-Poluurs Gewalt geraten waren. Sie sollten den Fremden fangen, die Roboter vernichten und den Zugor zum Lager bringen.
* Sator Synk kam im gleichen Augenblick wieder zu Bewußtsein, in dem die Technos erschienen. Sie ließen den Robotdienern keine Chance. Vier der fünf Maschinenwesen vergingen im Feuer der Angreifer. Das fünfte konnte sich gerade noch rechtzeitig hinter dem Zugor in Sicherheit bringen. Was aus ihm wurde, sollte Synk nicht erfahren, denn einer der Technos richtete die Waggu auf ihn und paralysierte ihn. Synk fiel zu Boden und wurde zurück in den eigenen Zugor geschleppt. Er konnte sehen und denken, aber keinen Finger rühren. Die Technos legten ihn auf den Rücken und starteten das Fahrzeug. All dies geschah innerhalb weniger Sekunden. Synk begriff nichts. Wie kamen Technos hierher, und warum hatten sie seine
23 Roboter zerstrahlt? Er lebte, aber was stand ihm bevor? Die Technos unterhielten sich, doch Synk konnte kein Wort verstehen. Woher hatten sie die Strahler? Vor dem Fall der FESTUNG war es oft geschehen, daß Technos nach Orxeya kamen, aber immer waren sie nur mit Waggus bewaffnet gewesen. So viele quälende Fragen. Synk wünschte sich, wieder berauscht zu sein, und sogar der elende Zustand, in dem er sich vor der Landung befunden hatte, wäre ihm lieber gewesen als seine jetzige Lage. Sator Synks Gedanken galten einzig und allein den Robotern. Wieder waren zumindest vier von ihnen an seiner Seite gestorben. Und er war schuld an allem, hämmerte es in seinem Bewußtsein. Hätte er nicht die Landung befohlen, wären die Technos nicht über ihn und die Robotdiener hergefallen. Ihre Motive interessierten den Orxeyaner in diesen Minuten, da er zum Nichtstun verurteilt im Zugor lag, überhaupt nicht. Was sie angerichtet hatten, war mehr, als er in dieser kurzen Zeit geistig verarbeiten konnte. Es war sein Glück, daß er gelähmt war, denn andernfalls wäre er wie ein Berserker über die drei hergefallen. Warum war von den Robotdienern nichts mehr übrig als ein paar Stücke Metall, die verstreut auf dem Boden lagen? Weshalb hatten sie ihm das antun müssen? Lastete ein Fluch auf ihm? Dann versuchte der Orxeyaner sich wieder einzureden, daß sie es mit Absicht getan hatten, daß sie ihn nur deshalb betrunken gemacht hatten, um ihn genau an der Stelle, wo das Verderben über sie gekommen war, landen zu lassen. Alles ein abgekartetes Spiel! dachte Synk. Sie wollten mich quälen! Ich sollte mir noch mehr Gewissensbisse machen als ohnehin schon. Aber da haben sie sich gewaltig geirrt! Je weniger dieser verdammten Blechkerle es auf Pthor gibt, desto besser für uns alle! Zwei innere Stimmen lagen im Wettstreit
24
Horst Hoffmann
miteinander – echte Trauer, Verzweiflung und ohnmächtiger Zorn und der vorgeschobene Roboterhaß, mit dem Synk unbewußt versuchte, seine wahren Gefühle zu verdrängen. Dieser Haß auf alles, was metallene Tentakel, Antennen, Räder und Blinkleuchten hatte, war es schließlich auch, der Synk die Frage stellen ließ, was ihm nun weiter bevorstand, was die Roboter mit ihrem Verrat bezweckt hatten. Synks Gedanken waren wirr, aber immer mehr fragte er sich nun, wohin die Technos ihn brachten. Im Auftrag der Odinssöhne handelten sie bestimmt nicht, auf eigene Faust wohl ebensowenig. Technos waren gewohnt, Befehle auszuführen. Synk stellte die wildesten Spekulationen an, doch er war weit davon entfernt, die schreckliche Wahrheit zu erahnen. Er war immer noch paralysiert, als der Zugor am Rand des Lagers landete und die Technos ihn herauszerrten. Einer von ihnen lud sich den Orxeyaner über die Schulter und trug ihn bis zu einer schwach grünlich leuchtenden Kugel, die wie ein Riesenpilz aus dem Boden ragte und leicht pulsierte. Sator Synk kam nicht mehr dazu, sich weitere Gedanken zu machen und Fragen zu stellen. Mod-Poluur nahm von ihm Besitz, und bei dem Orxeyaner würde es nicht Stunden dauern, bis er zum willenlosen Sklaven geworden war, der niemals mehr er selbst sein würde. Es begann zu dämmern. Das letzte, was Synk bewußt wahrnahm, war der sich aufbäumende Körper einer atemberaubend schönen jungen Frau wenige Meter neben ihm. Ja, sie war schön – selbst jetzt noch, als das Grauen ihr Gesicht zu einer Grimasse hatte werden lassen.
* In der FESTUNG war man beunruhigt. Die Odinssöhne standen ununterbrochen in Verbindung mit Wolterhaven. Sator Synk
und die Robotdiener mußten längst eingetroffen sein. Selbst dann, wenn der Orxeyaner nur langsam geflogen wäre, hätte er schon seit Stunden angekommen sein müssen. Die Nacht brach über Pthor herein, ohne daß der Zugor geortet werden konnte oder Synk auf die Funkanrufe der Odinssöhne antwortete. »Wir sollten ein Suchkommando ausschicken«, schlug Balduur vor. »Unsinn!« Heimdall lachte rauh. »Wir kennen ihn doch, diesen Hitzkopf von Orxeyaner. Sicher hat es Streit mit den Robotern gegeben, und er prügelt sich irgendwo auf dem Weg mit ihnen herum.« Beide sahen Sigurd an, von dem sie eine Entscheidung erwarteten. Lange stand der blonde Sohn Odins vor einem Bildschirm, die Augen in die Ferne gerichtet. »Wir warten bis zum Morgengrauen«, sagte er dann. »Wenn Synk bis dahin nicht hier ist, breche ich selbst auf, um ihn zu suchen.«
* Der Robotdiener, der leise tickend vor den Überresten seiner Artgenossen stand, trug eine rote Markierung auf der Brust. Er hatte den plötzlichen Überfall überlebt – als einziger. Keiselpoll, wie er wirklich hieß, hatte sich hinter den Zugor retten können, als die Angreifer auftauchten. Dennoch hätte ihn der Techno, der ihn verfolgt und gestellt hatte, erschießen können. Der Strahl war wenige Zentimeter neben Keiselpoll in den Boden gefahren. Einen zweiten Schuß hatte es nicht gegeben. Der Techno war verschwunden und zu seinen beiden Begleitern zurückgekehrt, wobei er wußte, daß Keiselpoll lebte. Das war etwas, das der Robotdiener nicht verstand. Er suchte vergeblich nach einer Erklärung für das vollkommen unlogische Verhalten des Technos, während er seine vier Artgenossen betrauerte. Keiselpoll trauerte nicht wie es ein Men-
Ruf der Höheren Welten sch an seiner Stelle getan hätte. Es war etwas vernichtet worden, das denken, auf Impulse reagieren und selbständige Entscheidungen treffen konnte – etwas wie er selbst, etwas, das Wert hatte. Der Robotdiener stellte sich die gleiche Frage wie vorher Sator Synk: weshalb der Überfall? Synk war entführt worden, ohne daß Keiselpoll etwas dagegen tun konnte. Seine Logik hatte ihm gesagt, daß es besser war, so zu tun, als ob er auch funktionsuntüchtig gemacht worden wäre. Aber er existierte, konnte denken und sich die zu unternehmenden Schritte überlegen. Keiselpoll hatte sich die Richtung genau gemerkt, in die der Zugor mit Sator Synk gestartet war. Seine Aufgabe und die seiner vier vernichteten Artgenossen war es gewesen, Synk in jeder Hinsicht zu unterstützen und ihn dann zu provozieren, wenn er in eine Lage geriet, die Höchstleistungen von ihm erforderte. Dieser Auftrag galt weiterhin. Sator Synk mußte gerettet werden – falls er noch lebte. So machte Keiselpoll sich auf den Weg. Er marschierte durch Dickicht, hohes Gras und kleine Wälder in die Richtung, in die der Zugor geflogen war. Es begann zu dämmern, und Keiselpolls Infrarotoptiken gestatteten es ihm, auch ohne seine Scheinwerfer, die ihn jedem Gegner schnell verraten hätten, seinen Weg zu finden. Während der Roboter sich dem Lager der Anhänger Mod-Poluurs näherte, machte gerade in diesem Lager ein anderes Wesen sich seine Gedanken über das, was vorgefallen war. Zpehk, der Techno. Er war es gewesen, der vor dem Robotdiener gestanden und an ihm vorbeigeschossen hatte, und das mit voller Absicht. Zpehk wußte nicht, was plötzlich über ihn gekommen war. Der Befehl des Zentrums war eindeutig gewesen: Vernichtung aller Roboter und Festnahme des Fremden. Wieso hatte Zpehk das Maschinenwesen nicht zerstrahlen können? Zpehk saß abseits vom Lager im Gras. Ir-
25 gend etwas geschah mit ihm. Er spürte es, und es jagte ihm Angst ein. War er zum Verräter am Zentrum geworden? Würde es nun grausame Rache an ihn nehmen? Zpehk konnte noch nicht ahnen, daß Mod-Poluur mit dem Kampf gegen das, was sich in der Gefangenen immer noch gegen ihn sträubte, und mit der Integration Sator Synks so überfordert war, daß er keine Gelegenheit fand, seine Extremitäten zu überprüfen, wie es sonst ständig der Fall war. Zpehk wußte nicht, daß nur dies dafür verantwortlich war, daß er noch lebte. Welche Art von Leben? fragte sich der Techno nicht zum erstenmal. Nur wenige von seiner Art hatten sich die gleiche Frage schon gestellt und litten unter der Unsicherheit. War er, waren seine Artgenossen geborenes Leben oder Retortenwesen? Waren sie Androiden, Züchtungen? Die Radkränze, Röhren und Drähte, die immer dann sichtbar wurden, wenn ein Techno ins Mondlicht einer gerade heimgesuchten Welt geraten war – was hatten sie zu bedeuten? Immer wieder die gleichen quälenden Fragen. Fragen, wie sie sich nur Ausnahmeerscheinungen stellen konnten. Eine solche Ausnahmeerscheinung stellte Zpehk dar, und als solche hatte er sich am ehesten halbwegs aus dem Bann des Monstrums befreien können, als es sich völlig auf die Gefangene konzentrierte und dabei zwangsläufig die Kontrolle über seine Extremitäten vernachlässigen mußte. Doch noch kam es Zpehk nicht annähernd in den Sinn, sich offen gegen den Meister aufzulehnen. Er fühlte sich zwischen zwei Welten hin und her gerissen. Bilder aus einer im Dunkel liegenden Vergangenheit: Es war ein Techno, er hatte den Herren der FESTUNG, beziehungsweise deren Nachfolgern zu dienen. Die Roboter an Bord des Zugors waren Robotbürger aus Wolterhaven gewesen, Verbündete der FESTUNG. War es dieser erste Funke der Erinnerung
26
Horst Hoffmann
gewesen, der ihn daran gehindert hatte, auf den Robotdiener hinter dem Zugor zu schießen und den beiden anderen Technos vorzuspielen, daß er ihn vernichtet hatte? Zpehk hatte sich erhoben und weiter vom Lager entfernt. Es war dunkel geworden. Die Feuer brannten wieder, und Zpehk hatte nur den einen Wunsch, möglichst weit von ihnen und den Mitgliedern der Gemeinschaft um das Zentrum entfernt zu sein. Immer noch fühlte er sich ihnen zugehörig, aber ihre Nähe, vor allem aber die Nähe des Zentrums, bereitete ihm nun Qualen. Vielleicht war es die Struktur seines Gehirns, die ihn als ersten halbwegs dem Bann des Meisters entfliehen ließ. Zpehk wußte es nicht. Er wußte auch nicht, was er zu tun hatte, als er dem Robotdiener gegenüberstand. Zpehk hatte die Strahlwaffe in der Hand. Er richtete sie unsicher auf Keiselpoll.
* Fast eine Minute verging – eine Minute, in der Keiselpolls elektronisches Gehirn auf Hochtouren arbeitete, versuchte, den Gegner und die Chancen einzuschätzen, die er bei einem Kampf haben würde. Es war jener Techno, der Keiselpoll verschont hatte. Der Robotdiener erkannte ihn sofort. Dann endlich senkte Zpehk den Lauf der Waffe. »Du bist hier, um deinen Herrn zu retten«, begann der Techno unvermittelt. »Es ist zu spät. Ihm ist nicht mehr zu helfen.« »Wo ist er?« wollte Keiselpoll wissen. Immer noch stellte das Verhalten des Technos für ihn ein Rätsel dar, und Keiselpoll war bereit, jeden Augenblick seine Tentakel zu gebrauchen, um dem Gegenüber den Strahler zu entreißen. Doch der Techno machte keine Anstalten, ihn anzugreifen. »Dein Herr befindet sich in der Gewalt des Meisters. Es gibt kein Entkommen.« »Wer ist dieser Meister?« »Das Zentrum, unser aller Herr. Niemand
kann sich von ihm lösen. Wir leben durch ihn. Niemand kann gegen seine Befehle verstoßen oder …« »Du hattest den Befehl, uns zu vernichten?« »So ist es.« »Uns alle? Warum hast du mich verschont?« »Es …« Zpehk schüttelte den Kopf und schloß für einen Moment die Augen. »Ich verstehe es selbst nicht. Etwas in mir sagt mir, daß es nicht recht ist, was wir tun. Die Kraft des Meisters ist nicht mehr die gleiche wie bisher, aber sie wird wiederkehren.« Zpehk blickte den Robotdiener an. Seine Fäuste waren geballt. Ein innerer Kampf tobte in ihm. Der Techno mochte erkannt haben, daß sich ihm hier und jetzt die vielleicht niemals mehr wiederkehrende Chance bot, das Monstrum unschädlich zu machen. Doch Zpehk hatte keine Chance. Hier mochte die Macht des Zentrums geschwächt sein – in unmittelbarer Umgebung der Mulde bestimmt nicht mehr. Der Teil von Zpehk, der Mod-Poluur war, kämpfte gegen den Techno, gegen das, was Zpehk einmal gewesen war, an. Er wurde stärker. Zpehk wußte, daß er keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Er selbst konnte sich nicht in unmittelbare Nähe des Zentrums wagen. Doch der Robotdiener … Alles hing davon ab, ob Mod-Poluur auch anorganisches Leben unter seinen Bann zwingen konnte. »Wenn du etwas für deinen Herrn und für uns alle tun willst, mußt du dich beeilen«, sagte der Techno schnell zu Keiselpoll. »Der Meister wird wieder Gewalt über mich haben. Ich werde versuchen, dich zu zerstören, wenn er es von mir fordert. Sieh dich also vor. Nun komm mit. Ich führe dich.« Keiselpoll stellte keine Fragen, als Zpehk sich umdrehte und losmarschierte. Er begriff, daß es sich bei dem »Meister« um ein Etwas handelte, das eine noch unbekannte Anzahl von Wesen unter seine Gewalt gebracht hatte und sie für sich arbeiten ließ. Doch das war auch schon fast alles. Zpehk reagierte nicht mehr auf Fragen. Manchmal
Ruf der Höheren Welten zuckte er zusammen oder blieb stehen. Einmal stieß er einen heiseren Schrei aus. Keiselpoll befürchtete, daß andere Mitglieder dieser seltsamen Gemeinschaft auf den Plan gerufen würden, doch nichts geschah, bis der Techno auf eine große Lichtung trat, in deren Mitte ein fein schimmerndes Netz über den Boden gespannt war. Um es herum konnte Keiselpoll neun leicht pulsierende Kugeln erkennen. Eine von ihnen leuchtete grünlich. Vor und neben ihr lagen Sator Synk und eine Fremde. »Dort ist es!« stieß Zpehk hervor, bevor er sich ein letztes Mal aufbäumte. Die Hand mit der Waffe fuhr hoch, während der Techno sich gleichzeitig nach Keiselpoll umdrehte. Keiselpoll hatte mit dem Angriff gerechnet. Er hätte Zpehk töten können, doch er wußte, daß dieser nicht für seine Handlungen verantwortlich zu machen war. So schossen Keiselpolls Tentakelarme auf die Hand mit der Waffe zu und entrissen dem Techno den Strahler. Wieder stieß Zpehk einen Schrei aus, den Schrei eines Wesens, das alle Qualen der Hölle erlebte. Zpehk sank zu Boden. Noch einmal sah er Keiselpoll an. »Du … du mußt ihn töten! Er ist … im Boden, unter dem Netz. Schnell, bevor die anderen …« Weiter kam Zpehk nicht. Er war tot. Unsicher blickte Keiselpoll von Sator Synk zu der Fremden im roten Anzug, deren Körper heftig zitterte. Der Robotdiener unterdrückte den Impuls, Synk zu packen und einfach fortzuschleppen. Nach den Worten des Technos zu schließen, bedeutete dies ein unkalkulierbares Risiko für den Orxeyaner, und noch lebte Synk. Keiselpoll sah es an den kaum wahrnehmbaren Atemzügen. Zpehks letzte Worte wurden dem Roboter klar, als er den Lärm hinter sich hörte. Ein halbes Dutzend bewaffneter Wesen stürmte auf die Lichtung. Gleichzeitig begann die Kugel vor Synk und der Fremden stärker zu leuchten. Keiselpoll wußte nun, daß das, was sich dort unter dem Netz be-
27 fand, seine Streitmacht mobilisiert hatte, daß es wußte, warum er hier war. Der Robotdiener hatte keine Wahl. Er wußte, was er zu tun hatte und daß es sein Ende bedeuten würde.
* Wommser spürte, wie der mentale Druck etwas nachließ. Er konnte sogar einen Teil der Unsicherheit des Gegners mitempfinden. Irgend etwas oder irgend jemand bedrohte ihn, so daß er einen Teil seiner Energien diesem anderen entgegenschleudern mußte. Und genau das war Wommsers Chance. Er versuchte sich aufzubäumen, sich von ModPoluur zu lösen, einen Gegenschlag zu landen, Mod-Poluur unter seine Kontrolle zu bringen – vergeblich. Selbst jener Teil von Mod-Poluurs Kräften, die er noch auf Leenia/Wommser konzentrierte, reichte aus, um dessen Bewußtsein nicht zur aktiven Entfaltung kommen zu lassen. Wommser war mit seiner Kraft am Ende. Er hatte alles in den Ausbruchsversuch hineingelegt – alles, außer der Energiereserve, die nötig war, um das schnelle Ende herbeizuführen. Wommser begann damit, diese Reserven aufzubauen. Es tut mir so leid, Leenia, dachte er, doch die Partnerin konnte ihn nicht empfangen. Wommser bündelte die eigene und die von Leenia noch latent vorhandene Energie wie eine Linse das Licht der Sonne auf den Brennpunkt. Dieser Brennpunkt war ModPoluur – und mit ihm das Doppelwesen. Noch wenige Sekunden Leben …
* Keiselpoll wartete nicht ab, bis die Heranstürmenden ihn erreicht hatten oder schießen konnten. So schnell, daß die Versklavten nur einen metallen blinkenden Schemen wahrnehmen konnten, stürmte er auf das Netz zu und sprang mit einem gewaltigen Satz hinein. Es riß auf und schien den Robotdiener zu verschlingen. Keiselpoll spürte, wie er in
28 etwas Zähes, Pulsierendes fiel. Das Ende eines seiner Tentakel war auf den Knopf der Selbstvernichtungsschaltung gepreßt. Der Robotdiener war von dem gallertartigen Etwas, in das er versunken war, völlig umschlossen, als die verheerende Explosion erfolgte. Eine Stichflamme nach der anderen schoß aus der Bodenmulde. Die neun sie umgebenden Kugeln begannen so hell zu strahlen, daß alle Extremitäten, die in ihrer Nähe standen, innerhalb von Sekundenbruchteilen das Augenlicht verloren. Die Versklavten schrien gepeinigt auf und begannen wie besessen auf der Lichtung umherzurennen. Einige wälzten sich am Boden und preßten die Hände vor die Augen. Andere starben auf der Stelle. Sie waren die ersten, die mit Mod-Poluur ihr Leben ließen. Wie eine gärende Teigmasse quoll der Körper des Monstrums, den bisher keiner seiner Sklaven gesehen hatte, über den Rand der Mulde hinaus. Die neun Kugeln platzten auf. Kleine grüne Flämmchen tanzten auf der Gallertmasse, bis diese nicht mehr pulsierte. Mod-Poluur war erstarrt. Feine Risse bildeten sich in seinem Körper. Niemand würde jemals sagen können, was bei Mod-Poluurs Tod geschehen war, wohin die ungeheuren Energien entwichen waren, die dieses Geschöpf, das jahrtausendelang in einem der Glaspaläste der Technos geruht hatte, zu produzieren in der Lage gewesen war. Wohin geht die Flamme, wenn das Streichholz abgebrannt ist? Im Lager lebte bald niemand mehr. Die Extremitäten folgten ihrem Meister. Von Keiselpoll war nichts mehr übrig. Leenia und Sator Synk lagen nach wie vor am Rand der Mulde, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. Die rissig gewordene amorphe Masse war keine zehn Zentimeter von Leenias Kopf entfernt. Und Wommser schwieg.
Horst Hoffmann
7. Die FESTUNG – und der Kampf um die GOL'DHOR Der Morgen brach an, ohne daß man in der FESTUNG ein Lebenszeichen Sator Synks empfangen hatte. Wieder trafen die drei Odinssöhne zusammen. Diesmal wirkte selbst der finstere Heimdall nachdenklich. Er machte sich weniger Sorgen um den Orxeyaner als vielmehr um die Gründe für dessen Ausbleiben. Synk hatte darauf gebrannt, an Bord des goldenen Raumschiffs gehen und sich auf die Suche nach Atlan machen zu können – so sehr, daß er selbst die Begleitung durch Robo ter akzeptiert hatte. Synk mochte ein seltsamer Kauz sein, aber er würde alles darangesetzt haben, so schnell wie möglich zurückzukehren. Und es war unvorstellbar, daß die fünf angekündigten Robotdiener ohne ernstzunehmenden Grund eine Verspätung duldeten. Was also war geschehen, so fragten sich die Söhne Odins. Wer war in der Lage, die sechs aufzuhalten, ohne daß diese auch nur die Möglichkeit gehabt hatten, einen Hilferuf oder eine Nachricht zu funken? Vieles war auf Pthor in Bewegung geraten, vieles, dessen die Odinssöhne immer noch nicht Herr geworden waren, ganz besonders nun, als an vielen Orten des Dimensionsfahrstuhls die Panik ausbrach. Ein weiteres Gespräch mit den Robotbürgern in Wolterhaven brachte die Gewißheit, daß weder Synk noch einer der fünf Diener sich bisher dort gemeldet hatten. Sigurd erhob sich und atmete tief durch. »Ich begleite dich«, sagte Heimdall. »Es reicht, wenn einer von uns in der FESTUNG zurückbleibt.« »Es reicht, wenn einer von uns sich in Gefahr begibt«, entgegnete Sigurd. Heimdall wollte widersprechen, doch im gleichen Augenblick, als er zum Protest ansetzte, stürmte ein Dello in den Raum. »Was fällt dir ein?« brüllte Heimdall den Androiden an. »Hat man es neuerdings nicht
Ruf der Höheren Welten mehr nötig, sich bei den Herren Pthors anzumelden?« »Laß ihn«, sagte Sigurd und legte eine Hand auf den Arm des Bruders. »Sieh ihn dir an. Er ist halb verrückt vor Angst.« »Es ist etwas Unerklärliches geschehen«, brachte der Dello hervor. »Eine … eine Fremde befindet sich in der FESTUNG. Ich sah, wie sie wie aus dem Nichts heraus entstand. Und bei ihr ist ein Mann. Er ist …« »Er ist klein und stämmig und hat einen langen roten Bart«, unterbrach Sigurd den Androiden. Der Dello starrte ihn fassungslos an. »Woher …?« »Woher ich das weiß?« Sigurd lachte humorlos. Er drehte sich zu seinen verblüfften Brüdern um. »Es sieht so aus, als brauchten wir uns nicht mehr darum zu streiten, wer sich auf die Suche nach Sator Synk macht.« Wieder an den Dello gewandt, sagte er: »Bringt ihn zu uns, ihn und die Fremde. Wie sieht sie aus?« Der Androide beschrieb sie, so gut er konnte. Die Odinssöhne konnten nicht allzu viel damit anfangen. Was lag näher, als die Frau im roten Anzug mit dem langen Ausbleiben des Orxeyaners in Verbindung zu bringen? Was lag näher, als sie dafür verantwortlich zu machen, daß die fünf Robotdiener nicht mit Synk in der FESTUNG erschienen waren – auf welche unglaubliche Art auch immer dies geschehen war? Irgend etwas Unheimliches hatten die Odinssöhne vermutet, etwas, mit dem weder Synk noch die Robotdiener hatten fertig werden können. Die Art und Weise, wie Synk und die Fremde in die FESTUNG gelangt waren, war unheimlich. Und Sator Synk war ganz bestimmt nicht in der Lage, aus dem Nichts heraus zu entstehen. »Rufe ein paar Dellos«, sagte Sigurd zu Balduur. »Sie sollen sich im Nebenraum bereit halten. Und sie müssen bewaffnet sein.«
29
* Leenia folgte den Dellos ohne Widerstand. Sie hatte nach dem Erwachen genug von dem bärtigen Mann, der nun an ihrer Seite ging, über die FESTUNG und die Zustände auf Pthor gehört, um sich ein ungefähres Bild machen zu können. So wußte sie auch von Atlans Aufbruch. Man führte sie zu denjenigen, die in Abwesenheit Atlans den Dimensionsfahrstuhl regierten. Nicht so vage wie ihre Vorstellung von Pthor war jedoch ihr Ziel. Sator Synk hatte viel geredet – sehr viel sogar. Das meiste hatte Leenia nicht verstanden. Seine Selbstanklagen und sein Verhältnis zu Robotern interessierten sie auch nicht. Was sie einzig und allein interessierte, war das Raumschiff, von dem Synk immer wieder geredet hatte. Leenia wußte nun, daß es ein Schiff gab, mit dem sie den Wölbmantel durchdringen konnte. Leenia hatte viel gefragt. Sie hatte sich inzwischen darauf umstellen können, sich auf akustische Weise mit anderen zu verständigen. Dies war jetzt effektiver. Dieses Schiff trug den Namen GOL'DHOR. Dieses Schiff befand sich in unmittelbarer Nähe der FESTUNG. Dieses Schiff mußte Leenia besitzen, um zu den Höheren Welten gelangen zu können. Mit dem Tod Mod-Poluurs waren schlagartig alle Energien zurückgekehrt. So war Leenia in der Lage gewesen, an der Lichtung zu entmaterialisieren und innerhalb der FESTUNG wieder stofflich zu werden. Mehr noch: Sie hatte Sator Synk, der dem Tod nahe gewesen und nur durch ihr Einwirken wieder stabilisiert worden war, mit sich nehmen können. Leenia war sicher, daß sie ebenso wieder in der Lage war, durch einen Blick ihrer Augen, durch einen einzigen Impuls Tod über jeden zu bringen, der sie an ihrem Vorhaben zu hindern versuchte. Sie hoffte, daß sie nicht dazu gezwungen sein würde. Diejenigen, die Pthor in Abwesenheit At-
30
Horst Hoffmann
lans verwalteten, waren nicht ihre Feinde. Was Wommser nicht hatte wissen können, weil er mit ihr die Entwicklung der letzten Monate regelrecht verschlafen hatte, hatte Leenia von Sator Synk erfahren, von dem Mann, der nun schweigend neben ihr marschierte, durch endlos erscheinende Korridore. Synk bot ein Bild des Elends. Er wußte, daß »Rot« sich für ihn geopfert hatte. Er hatte erfahren, wie alle Sklaven des Monstrums in der Bodenmulde einen qualvollen Tod gestorben waren, viele von ihnen erst Stunden nach dem Ende Mod-Poluurs. Sie waren unfähig gewesen, ohne das, was sie zu einem Teil des Zentrums gemacht hatte, noch zu existieren. Synk tat Leenia leid. Doch ihr kam es nun einzig und allein darauf an, die GOL'DHOR in ihren Besitz zu bringen, und Wommser bestärkte sie in ihrem Vorhaben. Die Motive der beiden Bewußtseinskomponenten waren fast identisch. Beide wollten zu jenen Wesenheiten gelangen, die von ihrer Art waren. Doch Wommser dachte an Atlan, von dem das Doppelwesen nun wußte, daß er irgendwo in der Schwarzen Galaxis verschollen war und sich mit größter Wahrscheinlichkeit in Lebensgefahr befand. Leenia/ Wommsers Entschluß stand fest. Es würde keinen Kompromiß geben. Vor einer großen Tür machten die sie eskortierenden Dellos halt. Die Tür öffnete sich, und Leenia sah in die Gesichter der Odinssöhne.
* Sigurd führte das Wort, während seine Brüder sich im Hintergrund hielten und abwechselnd Synk und Leenia anstarrten. Die Dellos hatten sich zurückgezogen. Andere hielten sich in einem Nebenraum auf, von wo sie sofort zuschlagen konnten, falls ihren Herren Gefahr drohte. Synk hatte ausführlich berichtet, allerdings den wahren Sachverhalt, was seinen »Umweg« anbetraf, etwas korrigiert. So hat-
te er angegeben, nahe Orxeya von einem fremden Zugor angegriffen worden zu sein. Um die Bösewichter gleich mit zur FESTUNG bringen zu können, habe er sie verfolgt und sei von hinzukommenden Zugors eingekreist und zur Landung am Regenfluß gezwungen worden. Nach heldenhaftem Kampf habe man ihn überwältigt und zu der grünlich schimmernden Kugel geschleppt, wo er in den Bann einer fremden Macht geraten war. Der Rest seiner Schilderungen deckte sich mit der Wahrheit. Synk sprach stockend und ballte die Fäuste, als er berichtete, daß der rot markierte Robotdiener sich für ihn geopfert hatte. Als dies geschah, war der Orxeyaner natürlich unfähig gewesen, irgend etwas wahrzunehmen. Er wußte es von Leenia – und der Name war das einzige, was er über die Fremde zu sagen vermochte. Erst jetzt machte er sich Gedanken darüber, daß er geredet hatte wie ein Buch und daß sie nur Fragen gestellt hatte. »Wer bist du?« wandte sich Sigurd dann auch an die Frau im roten Anzug. Leenia war auf die Frage vorbereitet. Laut Wommser hatte es etwa 200 000 Schläfer der verschiedensten Rassen in der Senke der verlorenen Seelen gegeben. Leenia glaubte nicht, daß die Odinssöhne auch nur annähernd darüber Bescheid wußten, wie alle diese Wesen im einzelnen aussahen. »Ich wurde von meiner Heimatwelt entführt und in eine der Tiefschlafkammern in der Senke der verlorenen Seelen gebracht. Nach meinem Erwachen konnte ich dem Chaos entkommen und streifte so lange durch die Wälder der Umgebung, bis ich von den Sklaven des unheimlichen Wesens gefangengenommen wurde – ebenso wie kurz darauf Sator Synk.« »Wie heißt der Planet, von dem du stammst?« fragte Sigurd. Schnell überlegte sie sich einen Namen. Sie konnte nur hoffen, daß es in der FESTUNG keine Speicher gab, in denen die Namen aller von Pthor heimgesuchter Welten festgehalten und jederzeit
Ruf der Höheren Welten abrufbar waren. »Neebya«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Ich heiße Leenia.« Sie machte diese Angabe unaufgefordert, weil sie damit rechnen mußte, daß sich Lebo Axton in der FESTUNG befand. Er würde sie sofort wiedererkennen. Dann war es gut, wenn sich ihre Aussagen deckten. Der blonde Jüngling nickte. Hinter ihm erhob sich einer der beiden anderen Odinssöhne, jener, dessen Anblick Leenia Furcht einflößte. Er verließ den Raum ohne ein Wort. Leenia kannte die Namen der Odinssöhne aus Wommsers Erinnerungen. War Heimdall gegangen, um ihre Angaben zu überprüfen? Sie machte sich bereit, beim geringsten Anzeichen einer Entdeckung zu fliehen. Doch wohin sollte sie sich wenden? Vielleicht würde sie weitere wertvolle Stunden damit verbringen müssen, nach dem Raumschiff zu suchen – immer wieder auf der Flucht vor ihren Verfolgern. Sie brauchte jemanden, der ihr den Weg wies und sie in den Weltraum brachte, jemanden, der gleichermaßen eine Geisel war. Einer der Odinssöhne, kam es von Wommser. Wenn einer von ihnen mit an Bord ist, werden die anderen nicht wagen, auf uns schießen zu lassen. Zustimmung. Leenia konnte nicht wissen, wie wertvoll die GOL'DHOR tatsächlich für die Odinssöhne war. Doch auch wenn sie um die Bedeutung dieses phantastischen Schiffes gewußt hätte, wäre es fraglich gewesen, ob die drei es nicht lieber geopfert als einer Fremden überlassen hätten. Sator Synk schied ohnehin als Geisel oder als Pilot aus. Er bot ein Bild des Jammers. Sigurd stellte weitere Fragen, und Leenia antwortete. Vielleicht konnte sie noch einiges erfahren, das ihr später von Nutzen sein würde. Sigurds Gedanken konnte sie nicht empfangen. Er kapselte sich ab. Ein Zeichen von Mißtrauen? Synk dachte an nichts anderes als an Roboter, die sich für ihn opferten. Als Heimdall zurückkehrte, genügte ein Blick in seine Augen, um Leenia wissen zu lassen, woran sie war. Der Odinssohn hielt
31 eine Lähmwaffe auf sie gerichtet. »Es gibt keine Welt, die Neebya heißt«, sagte der Finstere. »Ich habe mich bei den Robotbürgern erkundigt. Die Frau lügt. Ich halte sie für eine Abgesandte der Mächte der Schwarzen Galaxis.« Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Heimdall rief einen Namen. Eine Tür wurde von außen aufgerissen, und vier Dellos stürmten in den Raum, die Waffen auf Leenia gerichtet. Leenia ließ ihnen keine Chance. Vor den Augen der überraschten Odinssöhne vergingen sie in violettem Feuer. Leenia wartete nicht ab, bis weitere Wachen heran waren. Sie sprang auf Heimdall zu und entmaterialisierte mit ihm, bevor er schießen konnte. »Aber das ist … das ist unmöglich!« entfuhr es dem fassungslosen Sigurd. »Wo ist sie geblieben? Das kann nicht sein!« Balduur war ruhiger – zumindest nach außen hin. »Doch, Bruder«, sagte er. »Wir hätten wissen müssen, daß wir sie nicht halten können. So wie sie gekommen ist, ist sie gegangen.« »Mit Heimdall!« schrie Sigurd zornig. Er packte einen Pokal und schleuderte ihn gegen die Wand. »Und nun?« »Nun müssen wir warten«, entgegnete Balduur. »Sie wird ihre Bedingungen stellen. Umsonst hat sie Heimdall nicht mitgenommen.«
* Leenia und Heimdall materialisierten einige Dutzend Kilometer von der FESTUNG entfernt. Der Odinssohn sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. Er konnte nicht fassen, was geschehen war. Eben noch hatte er bei seinen Brüdern gestanden, und nun befand er sich mitten auf einem freien Feld. Nur in der Ferne war Wald zu erkennen. Sein Blick traf Leenia. Sie war einige Meter zurückgesprungen, um nicht das Opfer eines Tobsuchtsanfalls zu werden. In der Hand hielt sie die Waggu, die sie dem Odinssohn
32 entrissen hatte. »Ich wußte es!« schrie Heimdall. »Du bist mit den Mächten des Bösen im Bunde. Du bist eine Spionin aus der Schwarzen Galaxis! Ich werde dich …!« Ein Blitz aus Leenias Augen brachte den Rasenden zum Schweigen. Nur Zentimeter vor seinen Füßen fuhr er in den weichen Boden und ließ heißen Dampf aufsteigen. »Du wirst mich zu eurem Raumschiff führen!« sagte Leenia mit fester Stimme. »Zur GOL'DHOR!« »Wozu? Du kamst ohne Schiff hierher, und du wirst keines brauchen, um deinen Auftraggebern zu berichten, was sie wissen wollen. Wann werden sie kommen? Wann beginnt die Invasion?« Er hat Angst, meldete sich Wommser. Doch er würde lieber sterben, als dir zu verraten, wo sich die GOL'DHOR befindet. Achte auf ihn! Ich muß das Schiff haben! dachte Leenia. Heimdall wird dich nicht zu ihm führen, aber du hast ihn als Geisel. Benutze ihn als Druckmittel seinen Brüdern gegenüber. Dazu müßte ich in die FESTUNG zurückkehren. Es wird überall von Wachen wimmeln, und ich weiß nicht, wie unser Körper auf Paralysestrahlen reagiert. Niemand wird uns angreifen. Nur wir wissen, wo sich Heimdall befindet. Wir bringen ihn in ein sicheres Versteck. Wohin, Wommser? In die Höhle. Wieder entmaterialisierte das Doppelwesen mit Heimdall, ohne an Energie zu verlieren. Das energetische Gleichgewicht, das zur Stabilisierung des Körpers und dessen Funktionen notwendig war, wurde durch den Anzug gewährleistet. Leenia betäubte Heimdall mit der erbeuteten Waggu, legte ihn in der Höhle, die so lange ihr Versteck gewesen war, ab und »sprang« direkt in die FESTUNG. Sie materialisierte vor Sigurd. Balduur war gegangen, um mit Hilfe der Robotbürger und des Wachen Auges eine Spur von Leenia zu finden.
Horst Hoffmann »Hör mir zu«, sagte Leenia. Das Sprechen fiel ihr jetzt immer leichter. »Ich bin nicht das, wofür ihr mich haltet. Auch ich kämpfe gegen jene, die die Schwarze Galaxis beherrschen. Keine Fragen, Sigurd: Ich könnte dir keine Antwort geben. Ich weiß, daß du mir nicht glauben, noch weniger vertrauen kannst. Deshalb schlage ich dir einen Handel vor: Heimdall gegen die GOL'DHOR.« Das war nicht mehr die sensible Frau, der Lebo Axton auf seiner Flucht aus der Senke der verlorenen Seelen begegnet war. Leenia hatte sich den Gegebenheiten anpassen müssen, um ihr Ziel zu erreichen. »Niemals wirst du die GOL'DHOR bekommen!« entgegnete Sigurd heftig. »Nie! Wir würden uns selbst ans Messer liefern!« »Und dein Bruder Heimdall? Ist er dir gleichgültig? Nur ich weiß, wo er sich befindet, und er wird sterben, wenn ihr ihn nicht rechtzeitig findet. Und du irrst dich, Sigurd. Ich will die GOL'DHOR nicht für mich haben. Ich brauche sie nur, um in ihr den Wölbmantel durchdringen zu können. Ich werde verschwinden, und ihr könnt euch das Schiff zurückholen.« Es war dem Odinssohn anzusehen, daß er aus den Worten der Fremden nicht schlau wurde. »Welche Garantie kannst du uns geben?« »Keine. Aber du kannst mit mir an Bord kommen, meinetwegen auch ein paar Dellos, die das Schiff zurückbringen, nachdem es für mich seinen Zweck erfüllt hat. Wenn du wieder auf Pthor bist, wirst du wissen, wo sich dein Bruder befindet.« Sigurd ließ sich in seinen Sessel fallen. Lange blickte er Leenia in die Augen, in diese unergründlichen Augen, die noch vor kurzem das Verderben über die Dellos gebracht hatten. Schließlich nickte er. »Ich weiß, daß ich vielleicht das Schicksal Pthors aufs Spiel setze, aber ich bin bereit, dir zu glauben.« Sigurd breitete die Arme aus, als ob er die Luft um sich herum einfangen wollte. »Sie ist überall, diese schreckliche Aura
Ruf der Höheren Welten der Schwarzen Galaxis. Du nimmst sie. Ich spüre es. Um Heimdalls und Pthors willen bin ich bereit, das Risiko einzugehen.« Balduur trat ein. Er stieß einen Laut der Überraschung aus und suchte den großen Raum nach Heimdall ab. »Es ist gut, Bruder«, sagte Sigurd. »Ich werde sie an Bord der GOL'DHOR bringen.« Sigurd wartete auf einen Protest, doch Balduur blieb schweigend im Eingang stehen. »Du wirst während meiner und Heimdalls Abwesenheit regieren, Balduur. Ich weiß, was ich tue.« Sigurd sah wieder Leenia an. »Ich hoffe es. Gehen wir?« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Leenia. »Es genügt, wenn du an den Standort der GOL'DHOR denkst und deine Gedanken an mich richtest.« »Du kannst sie lesen?« »Nur Botschaften.« Sigurd nickte seinem Bruder noch einmal zu. Dann stand er auf und reichte Leenia eine Hand. »Du wirst keinen Raumanzug brauchen«, versicherte sie. »Komm und vertraue mir.« Vor Balduurs Augen entmaterialisierten die beiden.
* Sie wurden in der Zentrale der GOL'DHOR wieder stofflich. Sigurd blickte ebenso verunsichert um sich wie vor ihm Heimdall. »Jetzt rufe die Dellos«, sagte Leenia. Wieder stand der Zweifel in Sigurds Gesicht geschrieben. Das goldene Schiff stellte immer noch ein Rätsel für die Pthorer dar, aber der Odinssohn konnte sich nicht vorstellen, daß es die Fremde als Pilotin »akzeptieren« würde. »Was willst du wirklich?« fragte Sigurd, den Blick starr auf die Kontrollen gerichtet. »Ich sagte dir bereits, daß ich dir nicht viel erklären kann, Sigurd. Bringe mich durch den Wölbmantel, und ich werde so
33 verschwinden, wie ich gekommen bin. Es wird alles so sein, als hätte es mich nie gegeben. Du wirst in dem Augenblick, in dem ich die GOL'DHOR verlasse, wissen, wo sich Heimdall befindet. Versuche mir zu vertrauen. Du hast den Anfang ja bereits gemacht.« Sigurd nickte nur und trat an ein Pult, von wo aus er einen Dello zur GOL'DHOR rief. »Nur ein Mann?« fragte Leenia überrascht. »Mehr brauchen wir nicht, um die GOL'DHOR zu fliegen.« Eine halbe Stunde später erhob sich die GOL'DHOR, die wie ein riesiges goldenes Insekt aussah, in den Himmel. Leenias Herz klopfte, als sie die Nähe des Wölbmantels spürte, auf den das Schiff immer schneller werdend zuschoß. Die GOL'DHOR stieg senkrecht in die Luft. Immer näher, unaufhaltsam. Leenia spürte einen zunehmenden Druck im Kopf. Auch Wommser wurde unruhig. Dann war es soweit. Ein stechender Schmerz in Leenias Kopf. Für Sekunden wurde es dunkel vor ihren Augen. Als sie wieder sehen konnte, war der Druck verschwunden. Die GOL'DHOR stand reglos im Weltraum, unter sich Atlantis und vor sich die dunklen Sterne der Schwarzen Galaxis. Die Aura der geheimnisvollen Sterneninsel war für Leenia jetzt deutlicher zu spüren als auf Pthor unter dem Wölbmantel, doch sie tötete Leenia nicht. Ein Gefühl der Übelkeit – das war alles. Es ließ sich ertragen, und Leenia würde sich auch daran gewöhnen. Sie drehte sich zu Sigurd um und nickte dankbar lächelnd. »Vielleicht werde ich eines Tages Gelegenheit haben, auch euch zu helfen«, sagte sie. »Lebt wohl, Sigurd – du und alle Pthorer. Und hab Dank.« Sigurd starrte lange auf die Stelle, an der sie gestanden hatte. Wohin? fragte er sich immer wieder. Wohin ist sie gegangen? Er wußte jetzt, daß er keinen Fehler ge-
34
Horst Hoffmann
macht hatte. Die Fremde war nie und nimmer eine Agentin der Mächte, die jeden Augenblick nach Pthor greifen konnten. Sie hatte ihr Versprechen gehalten. Sie hatte die GOL'DHOR nicht an sich gebracht, und Sigurd wußte jetzt, wo sich sein Bruder befand. Wie er dazu kam, war ihm unbegreiflich – er wußte es einfach. »Wir fliegen zurück, Jarsen«, sagte er zum Dello. »Aber nicht direkt zur FESTUNG. Wir werden einen kleinen Umweg machen müssen.« Die GOL'DHOR nahm Kurs auf das Gebiet zwischen dem Dämmersee und der Senke der verlorenen Seelen.
8. ÜBER DIE HÖHEREN WELTEN: Es gibt eine Ebene jenseits des Vorstellbaren, eine unter unzähligen Ebenen mit jeweils unterschiedlichem energetischen Niveau, mit Gesetzen, die für unser RaumZeit-Kontinuum keine Gültigkeit haben können. Wir könnten sie als die Ebene der multidimensionalen Wesen bezeichnen, als die Heimat von Lebensformen aus reiner Energie, von »Zufallsprodukten« der Schöpfung wie Wommser eines ist, jenes Wesen, das aus dem Aufeinandertreffen von Normal und Antimaterie geboren wurde – unter ebenfalls abnormen Bedingungen. Wir könnten sie als die Ebene vergeistigten Lebens bezeichnen, als die Heimat von Wesenheiten, die einmal körperlich waren und den letzten Schritt einer Evolution vollzogen haben, von der wir nur die Spitze des Eisbergs begreifen können. Es gibt nicht viele, die diesen Schritt getan haben, und es wird Jahrhunderte, Jahrtausende vielleicht dauern, bis irgendwo im Universum ein weiteres zu ihnen stößt, angezogen vom Energieniveau der Daseinsebene. Einen von ihnen haben wir kennengelernt – Waaylon, den dreiäugigen Eripäer, der in die Gemeinschaft der Körperlosen eingegangen ist.
Sie sind unterschiedlicher Herkunft und Ursprungs, doch durch ihr energetisches Niveau artverwandt und unsterblich geworden. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie sich für begrenzte Zeit im normalen Universum unter den Sterblichen aufhalten konnten, immer dann, wenn die Sehnsucht nach der früheren Existenzform übermächtig wurde. Die Höheren Welten sind nicht zu lokalisieren. Sie sind überall und füllen ihre Ebene aus. Doch um in unser Raum-Zeit-Gefüge zurückkehren zu können, und sei es auch nur für Stunden, brauchen die Körperlosen einen Bezugspunkt, einen Ort, den sie aufgrund seiner speziellen Beschaffenheit als Energieschleuse benutzen können. Ein solcher Ort im Universum war die Schwarze Galaxis. In ihr gab es mehrere Verbindungspunkte zwischen den Daseinsebenen. Sie existieren immer noch, doch durch das Einwirken der Dunklen Mächte wurde den Körperlosen der Zugang in unsere Existenzebene versperrt. Nur eines stand in ihrer Macht: sie konnten für kurze Zeit Objekte oder Leben in ihre Ebene herüberziehen. Doch die Sehnsucht danach, sich wieder im Kontinuum der Körperlichen aufhalten zu können, wuchs unaufhörlich. Deshalb hatte man Leenia geschaffen. Deshalb hatte man sie jenseits der Aura der Schwarzen Galaxis auf Pthor deponiert. Und deshalb wartet man nun sehnsüchtig auf ihre Rückkehr.
9. An Bord der KNIEGEN Die KNIEGEN war umzingelt. Der Schutzschirm war längst überlastet, und es war nur eine Frage von Minuten, bis er unter dem konzentrierten Feuer der Scuddamoren-Schiffe zusammenbrechen und die KNIEGEN in einem Glutball vergehen würde. Immer noch standen Atlan und Thalia reglos in der Zentrale. Die Zielautomatik erfaßte die laufend ihre Position wechselnden Scuddamoren. Einer der Verfolger war ver-
Ruf der Höheren Welten nichtet worden, und die KNIEGEN feuerte weiter aus allen Rohren – bis zum bitteren Ende. Es war ein letztes Aufbäumen vor dem Unausweichlichen. Dorkan Moht, die Galionsfigur, ließ das Organschiff wilde Sprünge vollführen. Nur ihr war es zu verdanken, daß das Schiff nicht längst schon vernichtet worden war. Dann erfolgten drei Treffer auf einmal. Die Schutzschirme brachen zusammen. Ein weiterer Energiestrahl fuhr in den Bug der KNIEGEN. Atlan und Thalia wurden zu Boden geschleudert. Der Schrei der Galionsfigur hallte in ihren Ohren. Sie warteten auf den nächsten und letzten Treffer, eng umschlungen und die Augen geschlossen. Nichts geschah. Plötzlich war nur noch Stille – und ein unheimliches Licht, das durch die geschlossenen Augenlider der beiden Menschen drang. Atlan hatte für Sekunden das Gefühl, als wühlte jemand in seinen Eingeweiden herum, als würde sein Inneres nach außen gestülpt. Er öffnete die Augen und sah das rote Wabern – zuerst auf den wenigen noch intakten Schirmen, dann überall um sich herum. Es kam durch die Wände. Kleine gelbe Lichter entflammten, erloschen sogleich wieder oder blähten sich zu schnell vergehenden Kugeln auf. Und Atlan wußte, daß er etwas Derartiges schon einmal gesehen hatte. All das, was bisher in seinem Unterbewußtsein verborgen gewesen war, brach mit einem Schlag durch. Atlan erinnerte sich an die Begegnung mit dem »Lebensfeld«, daran, daß diese Ballung körperloser Intelligenzen ihn bereits einmal gerettet hatte. Der Arkonide wartete darauf, wieder dieses alte, vertraut erscheinende Gesicht zu sehen und die Stimme zu hören, die damals zu ihm gesprochen hatte. Doch es blieb ruhig. Die KNIEGEN schien in einem Meer aus roter Glut zu schweben, jenseits aller Gesetze von Zeit und Raum. Atlan wußte, daß das Schiff und damit Thalia und er selbst sich nicht mehr im normalen Raum-Zeit-Gefüge befanden. Wieder hatte das Unfaßbare eingegriffen,
35 aus welchen Motiven auch immer. Wichtig war jetzt nur eines: hier gab es keine Scuddamoren-Schiffe, und die KNIEGEN war noch nicht auseinandergebrochen. Als weitere Minuten vergingen, ohne daß etwas geschah, richtete Atlan sich auf. »Könnt ihr uns hören?« rief er laut. »Gebt Antwort!« Nichts. »Es hat keinen Sinn«, flüsterte Thalia, die das gleiche wahrnahm wie der Arkonide. »Erinnere dich an unsere erste Begegnung mit diesen Wesen. Sie sagten sinngemäß, daß sie nicht lange in der Aura des Bösen existieren können. Diesmal ist es ihnen nicht einmal gelungen, sich wenigstens für kurze Zeit voll zu etablieren.« Wie zur Bestätigung ihrer Worte wurde es schlagartig finster. Die Dunkelheit war vollkommen. Selbst die Lichter der Kontrollen waren erloschen. Ein einziger Stern war durch eines der Bullaugen der KNIEGEN zu sehen. Das Schiff schien im absoluten Nichts zu treiben. Doch auch dieser Zustand dauerte nur Sekunden. Dann erfüllte ein unwirklich erscheinendes violettes Licht die Zentrale der KNIEGEN. Atlan und Thalia schlugen sich geblendet die Hände vor die Augen. Als der Arkonide wieder sehen konnte, weil das Licht nachließ, erblickte er die Fremde. Und ein weiterer Teil der Erinnerung brach durch. Die Worte des »Alten« bei der ersten Begegnung mit der vergeistigten Kollektivintelligenz: Aber du sollst wissen, daß sich eine von uns auf Pthor befindet. Sie weiß nichts von ihrer Herkunft und wird sich erst erinnern, wenn unser Ruf an sie ergeht. Du wirst ihren Namen wissen, wenn sie dir eines Tages gegenübersteht. »Leenia«, brachte der Arkonide hervor. »Du bist Leenia.« Die Fremde nickte. Dann zeigte sich ein Lächeln auf ihrem schönen Gesicht. »Ein Teil von mir ist Leenia«, sagte sie.
36 »Der andere heißt Wommser.« »Wommser?« fragte der Arkonide ungläubig. »Aber das kann nicht sein! Wommser ist …« »Er ist ein Teil von mir geworden, Atlan, und nur ihm ist es zu verdanken, daß ich jetzt hier bin.« »Was wirst du tun?« Leenia wurde schlagartig ernst. »Ich will versuchen, euch in Sicherheit zu bringen, zu den Höheren Welten, Atlan. Zu jenen, die all ihre Hoffnung in dich gesetzt haben. Aber es wird nicht einfach sein. Es gibt einen Störfaktor an Bord.« »Was?« »Die Galionsfigur. Sie stirbt und strahlt Impulse aus, die unsere Reise schon jetzt stark beeinträchtigen.« Leenia redete in Rätseln. Welche Reise? Was waren die Höheren Welten, und was sollte er dort, wo er gerade neue Hoffnung geschöpft hatte, doch noch gegen die Mächte der Schwarzen Galaxis vorgehen zu können. Atlan wollte Fragen stellen, aber plötzlich wurde es um ihn herum wieder hell, und auf dem Hauptbildschirm war etwas zu erkennen, das der Phantasie eines surrealistischen Malers hätte entsprungen sein können. Die KNIEGEN befand sich im Innern einer gigantischen Hohlkugel. Es war eine Welt. Atlan konnte Gebirgszüge mit nadelförmig in die »Höhe« ragenden Felsspitzen erkennen. Er sah sie wie aus wenigen Kilometern Entfernung vor sich – und doch waren sie so weit von ihm entfernt wie eben die »Oberfläche« eines Planeten von seinem Zentrum. Und die KNIEGEN war das Zentrum der Hohlwelt. Alle herkömmlichen Maßstäbe galten hier nicht mehr. Atlan brauchte nur einen Teil der phantastischen Landschaft anzusehen, und schon schien sich eine extrem starke Teleoptik vor seine Augen zu schieben. Alles andere verschwamm – es blieb nur der winzige anvisierte Fleck. Atlan sah Flüsse, die die in allen Farben schimmernden Ebenen wie goldene Bänder durchzogen. Seltsame Pflanzen, groß wie
Horst Hoffmann Häuser, bedeckten weite Teile der Landschaft. Dunkle Flecke schoben sich über die Hügel. Eine Welt ohne Ende. »Woher kommt das Licht?« fragte Thalia leise. Atlan wurde sich ihrer Gegenwart erst jetzt wieder bewußt. Zu groß war das Wunder. Die Stimme der Odinstochter jedoch riß ihn in die Realität zurück. Die Fremde stand immer noch an der gleichen Stelle und schien in sich hineinzulauschen. Auch Thalia war der Faszination dieser Welt erlegen. Sie zeigte keine Angst. Das Licht … Thalia hatte recht. Es mußte eine Lichtquelle geben, eine künstliche Sonne oder etwas anderes im Zentrum der Hohlwelt. Aber dort war nur die KNIEGEN. Atlan versuchte, über die Kontrollen Entfernungsangaben zu erhalten, aber die Geräte zeigten nichts mehr an. »Wir müssen fort von hier«, sagte Leenia, ohne Atlan oder die Odinstochter anzublicken. »Der Sog wird zu stark, als daß wir ihm noch lange Widerstand leisten könnten. Wir müssen die Oberfläche erreichen.« Atlan begriff, daß er sich völlig umzustellen hatte, solange er sich in diesem unwirklich erscheinenden Raum befand. Es gab kein »oben« und »unten« im herkömmlichen Sinn mehr. Die »Oberfläche« war die Innenschale der Kugel. »Was soll das Ganze überhaupt?« fragte der Arkonide unwirsch. Es gefiel ihm nicht, daß Leenia ihn und Thalia einfach überging und Entscheidungen traf, die vielleicht alles andere als in Atlans Sinn waren. Denn daß sie für das, was in diesen Momenten geschah, verantwortlich war, stand für ihn außer Zweifel. Leenia hatte die KNIEGEN hierher versetzt. »Ich sagte schon, daß ich versuchen will, euch in Sicherheit zu bringen – dorthin, wo man euch vielleicht helfen wird, euer Ziel zu erreichen.« »Zu diesen Höheren Welten?« Atlan trat vor die Fremde. »Ich möchte dir vertrauen
Ruf der Höheren Welten können, Leenia. Ich weiß, daß ich Wommser vertrauen kann oder konnte, solange wir uns auf Pthor befanden. Aber ich muß wissen, was geschieht. Wo sind diese Welten?« Leenia streckte einen Arm aus und zeigte auf den Hauptbildschirm. »Dort. Überall.« »Ich sehe nur eine Welt!« »Sie ist endlos. Was du siehst, ist nur etwas, das wir in deinem Bewußtsein entstehen lassen, um dir einen Orientierungspunkt zu geben, etwas, das dich an dein Universum erinnert, an das du dich klammern kannst.« »Wir?« fragte Thalia. »Der alte Mann, dessen Gesicht wir im roten Wabern sahen, sprach von körperlosen Wesen. Du gehörst zu ihnen und sollst als einzige in der Lage sein, körperlich in der Aura der Schwarzen Galaxis zu existieren.« Thalia nickte grimmig. »Und nun, wo wir anscheinend in deinem … Universum sind – wo sind die anderen?« »Überall«, antwortete Leenia wieder. Immer noch machte sie den Eindruck, als sei sie nur halbwegs bei der Sache. Erneut zeigte sie auf den Bildschirm. »Dort.« »Aber das ist lächerlich!« Thalia geriet plötzlich in Zorn. »Atlan, ich habe das Gefühl, daß sich hier jemand einen schlechten Scherz mit uns erlaubt. Vielleicht steckt Chirmor Flog selbst dahinter, und er läßt uns wieder etwas vorgaukeln. Dort draußen ist nur Landschaft, und ich bezweifle, daß dieses Wunderuniversum um uns herum überhaupt existiert.« »Was du zu sehen glaubst, sind wir«, entgegnete Leenia geduldig. »Wir bilden diese Welt, und sie ist unendlich. Seht ihr diesen Berg dort?« Atlan und Thalia folgten dem ausgestreckten Zeigefinger der Unheimlichen und sahen einen schneebedeckten Gipfel, der alle anderen bei weitem überragte. Sofort wurde er größer und schien wieder nur wenige Kilometer von der KNIEGEN entfernt zu sein. »Er ist überall«, sagte Leenia. »Gleichzeitig direkt vor uns und am Ende dieses Universums. Wir müssen ihn errei-
37 chen. Erst dann sind wir in Sicherheit. Der Sog wird stärker. Er wird uns in die Schwarze Galaxis zurückreißen, wenn es uns nicht schnell gelingt, ihm zu entkommen. Stellt ihn euch als eine Art Schleuse, als einen Verbindungstunnel zwischen dem Universum, in dem ihr lebt, und unserem vor.« »Wenn ihr so mächtig seid«, fragte Thalia spöttisch, »weshalb könnt ihr uns dann nicht von hier wegbringen?« »Weil Leenia die einzige ist, die hier existieren kann«, antwortete Atlan für die körperlich Gewordene. »Habe ich recht, Leenia? Wir befinden uns immer noch in diesem … Tunnel, also noch zum Teil in der Schwarzen Galaxis.« »So ist es. Und nur mit Hilfe der Galionsfigur kann ich die KNIEGEN ganz aus ihm herausbringen.« »Du willst doch nicht behaupten, daß unser Antrieb in dieser Dimension, wo doch alles anders sein soll, funktionieren kann?« Immer noch war Thalia ablehnend. »Wir brauchen ihn. So wie er ist, könnte er die KNIEGEN hier keinen Zentimeter fortbewegen, aber seine Energien können umgeformt und für unsere Zwecke genutzt werden. Dazu muß ich mit Dorkan Moht zusammenarbeiten. Wir stehen noch in Verbindung, aber seine Impulse werden immer schwächer und stören immer mehr, als daß sie helfen. Ihr müßt etwas für ihn tun.« »Wie denn?« fragte Atlan. »Wir kennen seinen Metabolismus nicht.« »Versucht es!« Leenias Stimme verriet plötzlich Angst. Sie sah Atlan in die Augen. Der Arkonide zuckte unter dem Blick zusammen. »Stärkt ihn. Er muß noch einige Minuten leben, oder wir stürzen zurück!« »Und das bedeutet?« »Die Scuddamoren werden die KNIEGEN endgültig vernichten.«
* Atlan hatte keine Wahl. Ganz egal, was ihn dort erwartete, wohin Leenia und
38 Wommser ihn zu bringen versuchten – es war besser als der Tod im Strahlfeuer der Scuddamoren. Unter den gegebenen Umständen konnte er gar nichts anderes tun, als das unmöglich Scheinende zu versuchen. Atlan war bereit, Leenia zu vertrauen. Ebenso wie Sigurd spürte er jene Ausstrahlung, die in krassem Gegensatz zu der der Schwarzen Galaxis stand. Vielleicht bot sich ihm hier unverhofft doch eine Chance, mit der Hilfe mächtiger Verbündeter einen entscheidenden Schlag gegen Chirmor Flog zu führen. Thalia war in der Zentrale der KNIEGEN zurückgeblieben. Inzwischen hatte sich ihr Zorn gelegt. Atlan hatte sie gebeten, bei Leenia zu bleiben und auf sie zu achten. Er wußte nichts Rechtes mit der Frau anzufangen. Ein körperlich gewordenes Energiewesen, wenn dieser Begriff überhaupt zutraf – aber wie lange? Atlan hatte das Gefühl, daß Leenia nicht so stabil war, wie sie zu sein vorgab. Atlan verscheuchte die Gedanken. Jetzt zählte nur eines: Dorkan Moht mußte am Leben bleiben. Atlan wußte, daß er im Begriff war, den Tod der Galionsfigur eher zu beschleunigen als aufzuhalten. Aber Moht würde mit Sicherheit ohnehin sterben, vielleicht langsam dahinsiechen. Noch einmal mußte er sich gegen sein Schicksal aufbäumen. Noch ein einziges Mal! Dorkan Moht ähnelte einer aufrecht gehenden Eidechse mit hellgrünen Schuppen. Atlan betrachtete den Koffer in seiner Hand. Er enthielt Injektionen, Drogen und starke Stimu lanzien. Ob diese Mittel in der gewünschten Weise auf Moht wirkten, war die große Frage. Der Arkonide brauchte nur wenige Minuten, bis er den an der obersten Stelle der KNIEGEN, die die Form einer verbeulten Halbkugel hatte, gelegenen Bug mit der Galionsfigur erreicht hatte. Er konnte selbst nicht eindringen. Die Bugkuppel bildete eine separate Einheit. Dorkan Moht war nur über Funk und die telepathischmechanischen Bordkommunikationssysteme
Horst Hoffmann mit dem eigentlichen Schiff verbunden. Über diese Kommunikationssysteme gab er auch die für die Steuerung erforderlichen Impulse. »Beeile dich, Atlan!« hallte Leenias Stimme aus den Lautsprechern der Korridore. »Du hast gut reden«, murmelte der Arkonide. Er stand vor einem Schott, das nur dann geöffnet werden konnte, wenn eine Galionsfigur gestorben und gegen eine neue ausgetauscht werden mußte. Allerdings hatten die Konstrukteure des Schiffes mit einem Notfall wie dem jetzt eingetretenen gerechnet. Im Schott befanden sich drei etwa faustgroße Vertiefungen mit einer transparenten Klappe darüber. Neben ihnen sah Atlan einige Knöpfe mit Markierungen, die ihn ihren Zweck schnell erkennen ließen. Über jeder Vertiefung befand sich ein kleiner, noch dunkler Bildschirm. Der Arkonide atmete tief durch und nahm die erste Kapsel aus dem Koffer. Durch einen leichten Druck auf den entsprechend gekennzeichneten Knopf ließ er die Klappe zurückschwingen. Dann legte er die Kapsel in die Vertiefung. Atlan klappte den Verschluß wieder zu und beobachtete, wie die Hülle der Kapsel aufgelöst wurde. Eine grünliche Flüssigkeit begann zu schäumen und wurde abgesaugt. Ein Druck auf den Knopf, der den kleinen Sichtschirm aktivierte. Zum erstenmal sah Atlan die Bugkuppel aus dieser Perspektive. Dorkan Moht lag reglos in seinem Sessel. Die transparente Hülle der Kuppel selbst war wie durch ein Wunder unbeschädigt. Der Energiestrahl hatte sich wenige Zentimeter neben ihr in die »Haut« der KNIEGEN gefressen. Dorkan Mohts Verletzung stammte von den Erschütterungen. Bevor Atlan sich auf den Weg gemacht hatte, hatte er eine Skizze der Bugkuppel studiert. Auf der anderen Seite des Schottes befanden sich drei aus mehreren Segmenten bestehende Kunstarme mit jeweils einer Injektionsnadel und verschiedenen Greifwerkzeugen am Ende.
Ruf der Höheren Welten Einer von ihnen rückte nun in Atlans Blickfeld. Die Nadel war weit ausgefahren. Der Arkonide war sicher, daß sich die Droge inzwischen im Ende des Kunstarms befand. Dorkan Moht erhielt die Injektion in den rechten Oberarm. Er zuckte kurz zusammen. Einige Augenblicke sah es so aus, als wollte er sich aufrichten. Dann aber verließ ihn die Kraft erneut. »Die falsche Droge!« war Leenias Stimme zu hören. »Die anderen beiden, schnell! Der Sog hat uns erfaßt. Und ich … ich muß …« »Sie beginnt zu verschwimmen, Atlan!« hörte der Arkonide Thalia schreien. »Und jetzt wird es …« Der Rest ging in einem Knistern unter, das überall zu sein schien, selbst in Atlan. Mit seinem Einsetzen wurde es dunkel. Violette Nebel begannen um Atlan zu tanzen, wobei ihr Leuchten seine Intensität ständig veränderte. Dann sah der Arkonide die bizarre Landschaft um sich herum wieder, aber nun schien er ohne die KNIEGEN in ihr zu schweben. Wieder Dunkelheit. Ein ständiger Wechsel, immer schneller werdend. Endlich sah Atlan die Wände des Korridors und das Schott wieder klar vor sich. Einen Augenblick war es still. Dann meldete sich Leenia wieder: »Ich habe eine letzte Frist für uns gewinnen können. Ein zweites Mal wird es nicht geben! Du mußt es jetzt schaffen, Atlan!« Atlan wurde hellhörig. Von welcher Frist sprach Leenia? Wieder dieses Gefühl, als ob die gesamte Entwicklung an ihm vorbeiginge, als ob er nur Statist in einem Spiel sei, das höhere Mächte gegeneinander austrugen. Die zweite Kapsel. Atlan legte sie in eine der beiden noch nicht benutzten Vertiefungen. Ein zweiter Injektionsarm näherte sich der Galionsfigur. Alles hing nun davon ab, wie Dorkan Moht auf diese Injektion reagieren würde. Atlan versuchte wiederum, einen Sinn in die Worte der Fremden zu bringen, während er
39 über den kleinen Sichtschirm die Reaktion des Echsenähnlichen beobachtete. War sie nicht so souverän, wie sie sich gab? Gab es andere, Körperlose wie sie, die sie zu sich herüberzuziehen versuchten? War es das, was ihr Angst einflößte, wogegen sie ankämpfen mußte? Und Wommser, Kolphyrs ehemaliger Symbiont? Welche Rolle spielte er? Atlans Gedankengänge wurden durch die ruckhaften Bewegungen der Galionsfigur unterbrochen. Dorkan Moht bewegte sich. Atlan hielt den Atem an, als das Wesen sich im Sessel aufrichtete und beide Hände gegen den Schädel preßte. »Wir haben es geschafft!« drang Leenias Stimme aus den Lautsprechern. »Wir können dem Sog entkommen! Wir …« »Was ist los?« rief der Arkonide. Seine Stimme wurde von den überall angebrachten Mikrophonen des Bordkommunikationssystems aufgefangen, doch es dauerte Sekunden, bis er eine Antwort erhielt. Es war Thalia, die in Panik schrie: »Du mußt zurückkommen, Atlan! Sofort! Es … es geschieht wieder. Sie beginnt durchsichtig zu werden. Sie … sie ist verschwunden!« Thalias Erregung zeigte, wie sehr die Odinstochter sich inzwischen an Leenia und die Macht, die hinter ihr stand, geklammert hatte. Atlan zögerte keinen Augenblick. Er stürmte durch die Korridore in die Zentrale der KNIEGEN zurück. Thalia war leichenblaß. Sie war allein. »Sie ist weg, Atlan«, flüsterte die Odinstochter und warf sich an die Brust des Arkoniden. »Einfach verschwunden. Sie versuchte sich dagegen zu wehren, als ob irgend etwas sie von uns weggerissen hätte. Ich habe Angst, Atlan. Was sollen wir hier ohne sie tun?« Ein Blick auf die Schirme. Wieder die unendlich erscheinende phantastische Welt um sie herum. Die KNIEGEN war in Bewegung geraten, Atlan spürte es. Und er spürte, daß sie ohne Leenia verloren waren. Es sah ganz so aus, als wären sie dem Sog
40
Horst Hoffmann
entkommen und aus dem Dimensionstunnel endgültig ins Universum gelangt, in dem die körperlosen Wesen existierten, die ihre Heimat selbst als die »Höheren Welten« bezeichneten. Verloren. Es gab hier keine Scuddamoren-Schiffe, aber auch kein Pthor und keine Schwarze Galaxis. Atlan hatte sich ein Ziel gesetzt, als er von Atlantis aus aufgebrochen war, um den direkten Einflußbereich jener Mächte auszukundschaften, mit denen er und die Pthorer es mit Sicherheit zu tun bekommen würden. Dies schien ferner als je zuvor. »Wird sie zurückkommen?« fragte Thalia leise. Atlan wußte es nicht. Er versuchte, Kontakt mit der Galionsfigur aufzunehmen – ohne Erfolg. Dorkan Moht reagierte nicht, obwohl einige Kontrollinstrumente anzeigten, daß er noch lebte. Was war während Atlans Abwesenheit in der Zentrale geschehen? Thalia hatte keine Erklärung. Sie konnte nur berichten, was sie gesehen hatte. Ohne Dorkan Moht war eine Rückkehr aus diesem fremden Universum nicht möglich. Aber hier konnte Atlan nichts ausrichten. Es gab zwei Möglichkeiten für ihn. Entweder die Rückkehr, auf die Gefahr hin, sofort wieder auf Scuddamoren zu treffen, oder den Kontakt mit den Körperlosen. Zu beidem brauchte er Leenia. Doch die Minuten vergingen, und Leenia erschien nicht wieder.
10. Körperlose unter sich Leenia hatte bis zuletzt gegen den Zwang angekämpft, der sie zurück in die Gemeinschaft der Körperlosen zog. Es war nicht so, daß ihr jemand den Befehl zur Rückkehr gegeben hätte. Vielmehr war sie sich der ungeheuren Verantwortung bewußt gemacht worden, die sie trug. Das Drängen auf die Rück-
kehr war begründet gewesen. Noch länger in der Nähe des Sogs zu bleiben, wäre selbst für sie ein Risiko gewesen, das in keiner Relation zu der Bedeutung stand, die ihr von ihren Schöpfern beigemessen wurde, von jenen, von denen sie glaubte, daß sie so waren wie sie. Dennoch wehrte sich etwas in ihr, dem Drängen zu folgen. Wommser. Wir dürfen Atlan und Thalia nicht im Stich lassen! appellierte Wommser. Sie sind hier verloren. Sie müssen zurück in ihren Raum, an eine Stelle der Schwarzen Galaxis, wo sie vorerst sicher sind! Ich habe getan, was ich konnte, entgegnete Leenia. In ihren Gedanken schwang Verzweiflung mit. Das Schiff ist durch den Sog nicht mehr gefährdet. Aber dann kannst du an Bord bleiben! Allein werden sie sich niemals zurechtfinden. Atlan und Thalia müssen leben! Versuche, deine Artgenossen zu überzeugen! Es sind auch deine Artgenossen. Wommser kapselte sich ab. Erst nach einiger Zeit dachte er: Ihre Denkweise ist mir fremd. Sie wird dir vertraut werden, sobald du lange genug unter uns gelebt hast. Du bist noch zu sehr der Welt verbunden, aus der du stammst. Und diese Welt ist auch für euer Schicksal bestimmend. Wenn ihr die dunklen Mächte aus der Schwarzen Galaxis bekämpfen und vertreiben wollt, dann müssen Atlan und Thalia dorthin zurückkehren können. Ich bin hier, um diese Mächte zu bekämpfen, dachte Leenia. Deshalb darf ich mich nicht in Gefahr begeben. Wommser schwieg. Er wußte ja, daß die Komponente Leenia so empfand wie er selbst. Es war nicht wirklich sie, die zu ihm sprach. Hunderte von vergeistigten Intelligenzen waren um sie herum und übertrugen ihre Bedenken gegen ein Verbleiben Leenias in der KNIEGEN auf sie. Tatsächlich fühlte Wommser sich noch wie ein Fremdkörper in diesem Universum
Ruf der Höheren Welten aus reiner Energie. Er hatte Schmerzen empfunden, als Leenia mit ihm zusammen über dem Wölbmantel entmaterialisiert und ohne Zeitverlust inmitten dieses Meeres aus Leben wiedererstanden war. Genau wie jetzt hatte sie keinen Körper mehr gehabt. Ihr und damit sein Bewußtsein trieb zwischen anderen, die sie sofort aufnahmen. Freude, Glück, Triumph – all das hatte Wommser so empfunden, als ob diese Gefühle aus ihm selbst herausgekommen wären. Es war das gewesen, was die Körperlosen gefühlt hatten. Fast schon hatten sie Leenia abgeschrieben. Nun schien sich die Bemühungen von Jahrtausenden doch noch ausgezahlt zu haben. Um so kostbarer war Leenia nun für die Vergeistigten. Leenia und Wommser. Der Dimensionssymbiont fühlte eine nie gekannte Wärme und Geborgenheit. Doch die Freude über das, was die Erfüllung seines Lebens darstellte, wurde durch die Art und Weise, wie er hierhergelangt war, getrübt. Die Körperlosen bildeten eine Einheit mit sich und ihrem Universum. Das, was sie entschieden, alles, was zu geschehen hatte, war das Ergebnis einer gemeinsamen Willensfindung. Sie handelten und lebten wie eine einzige Intelligenz. Und Leenia gehörte dazu. Sie hatte sich unterzuordnen, wenn die anderen Entschlüsse faßten, die sie schmerzten. Doch sie konnte ihre Argumente in die Waagschale werfen, um die kollektive Willensbildung zu beeinflussen. Was immer dabei herauskam – Leenia erkannte den Beschluß der Einheit an und handelte danach, denn sie wußte, daß der Beschluß das Ergebnis eines Abwägens von Für und Wider war, der von Wesenheiten getroffen wurde, die ihr zumindest ebenbürtig an Intelligenz und Weitsicht waren. Eine solche Abwägung hatte dazu geführt, daß sie nach der Rückkehr von Pthor ins »normale« Universum in die Schwarze Galaxis pendeln und dort an Bord der KNIEGEN stofflich werden durfte, nachdem die Körperlosen das Organschiff nur kurzfristig vor den Scuddamoren hatten schützen kön-
41 nen. Nur sie war in der Lage gewesen, Atlan, Thalia und ihr Schiff auf die Ebene der Höheren Welten herüberzuziehen. Was nun zu geschehen hatte, beschloß die Einheit aller Wesen dieser Ebene. Gegen eine weitere Präsenz Leenias an Bord der KNIEGEN und damit in der Nähe des Sogs sprach das Risiko, das sie dabei einging. Leenia konnte in Gemeinschaft mit Wommser in der Aura der Schwarzen Galaxis existieren, doch noch bestand keine vollkommene Klarheit darüber, wie lange dies der Fall sein konnte. Auch war nicht sicher, ob sie einem Überraschungsschlag in ihrer körperlichen Existenzform gewachsen war. Dies galt vor allem für Einsätze in der Schwarzen Galaxis selbst, wie sie für später vorgesehen waren. Würde Leenia die Zerstörung ihrer körperlichen Hülle überleben? Dies war eine der Fragen, auf die es erst noch eine Antwort zu finden galt. Die Körperlosen empfanden Respekt vor der Art und Weise, wie Atlan und Thalia gegen die Mächte vorgingen, die sie einst aus dem Universum der Körperlichen verbannt hatten. Doch waren sie es wert, Leenia möglicherweise zu opfern? Sie hatten Erfolge errungen wie niemand, der sich bisher gegen einen Neffen des Dunklen Oheims aufgelehnt hatte. Doch bisher hatten sie auch nur in einem der äußeren Reviere operiert. Für Leenias Rückkehr auf die KNIEGEN sprach, daß gerade die Unterstützung durch die Körperlosen Atlan dazu befähigen könnte, auch in den Zentrumsrevieren mit Erfolg gegen den Dunklen Oheim zu kämpfen. Bei der zu fällenden Entscheidung spielte es eine große Rolle, ob man diesem Sterblichen – aus der Sicht der Körperlosen war Atlan trotz des Zellaktivators ein solcher – zutrauen konnte, mit der Hilfe Leenias auch dort bestehen zu können. Wenn man ihn jetzt unterstützte, setzte man alle Hoffnung in ihn. Doch Leenias und Wommsers Drängen hatte schließlich Erfolg. Man faßte den Entschluß, den Sterblichen eine Rückkehr zu ermöglichen. Der ursprüngliche Plan, direkten Kontakt zu Atlan
42
Horst Hoffmann
und Thalia aufzunehmen, war bereits verworfen worden, als sich herausgestellt hatte, daß diese Menschen nicht in der Lage waren, mit den Körperlosen – mit Ausnahme der dazu präparierten Leenia – zu kommunizieren. So wurde Leenia zum zweitenmal zu ihnen geschickt.
11. An Bord der KNIEGEN Atlan wußte nicht, zum wievielten Male er verzweifelt versuchte, doch noch Kontakt mit dem sterbenden Dorkan Moht zu bekommen, als Thalia aufschrie. Der Arkonide fuhr herum und sah gerade noch, wie sich Leenias Körperkonturen stabilisierten. Sie stand an der gleichen Stelle wie bei ihrem ersten Erscheinen. Leenia ließ Atlan gar nicht erst zu Wort kommen. »Ich habe euch nicht im Stich gelassen«, sagte sie. »Ich mußte vorübergehend in unsere Gemeinschaft zurückkehren, um neue Anweisungen entgegenzunehmen. Ich werde versuchen, euch zurück in eure Daseinsebene zu bringen, allerdings an einen Ort, wo die Scuddamoren euch nicht vermuten werden. Ob mir das gelingt, hängt davon ab, wie lange Dorkan Moht noch lebt. Wir dürfen den Dimensionstunnel, durch den wir gekommen sind, nicht mehr benutzen. Die Scuddamoren werden noch auf euer Wiedererscheinen warten.« »Es gibt also nicht nur diese eine Verbindung zwischen den beiden Räumen?« fragte Thalia. »Es gibt mehrere, doch alle Tunnel münden in die Schwarze Galaxis. Verlangt jetzt keine weiteren Erklärungen. Um an einem anderen Ort eures Universums herauszukommen, müssen wir auch hier unsere Position verändern.« Leenia schwieg, und weder Atlan noch Thalia wagten sie jetzt in ihrer Konzentration zu stören. Sie versuchte erneut, Kontakt zu Dorkan Moht aufzunehmen, das war of-
fensichtlich. »Es geht nicht!« preßte sie nach einer Weile hervor. »Er ist zu schwach!« »Wir könnten es mit einer weiteren Injektion versuchen«, schlug Thalia vor. »Wir wissen jetzt, was er braucht.« »Um zu sterben«, ergänzte Atlan. Eine weitere Injektion würde die Galionsfigur nicht überleben. Und sie mußte leben, zumindest bis sie mit Leenia zusammen die KNIEGEN an jenen »Ort« in diesem phantastischen Kosmos gebracht hatte, von wo aus das Schiff ins Normaluniversum zurückkehren konnte. »Ich versuche es noch einmal«, sagte Leenia. Atlan mußte sich immer wieder verdeutlichen, daß er es mit einem Wesen zu tun hatte, das nur äußerlich wie ein Mensch war. Wenn sie mit ihren Kräften nichts ausrichten konnte, waren alle Bemühungen seinerseits von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Nein! meldete sich der Extrasinn. Du hast Dorkan Moht die Injektionen gegeben. Leenia mag über Fähigkeiten verfügen, die uns unbegreiflich sind, aber Dorkan Moht ist Leben deiner Art, und es ist möglich, daß Leenia unfähig ist, die wahre Ursache seiner Passivität zu ergründen. Atlan begriff. Ein Mensch seiner Zeit war imstande, die kompliziertesten mathematischen Gleichungen zu lösen, aber unfähig, das zu begreifen, was in den sogenannten niederen Kreaturen, Tieren und Pflanzen, vorging. Stand Leenia so weit über ihm und Wesen seiner Art, daß das gleiche für sie zutraf? Atlan berührte einige Sensortasten und drückte auf Knöpfe. Auf einem Monitor sah er Diagramme und Zahlenreihen und erhielt ein ungefähres Bild von Dorkan Mohts Zustand. Er lebte noch und müßte in der Lage sein, sich ein letztes Mal aufzubäumen, wenn er wollte. »Nichts«, sagte Leenia niedergeschlagen. »Er reagiert überhaupt nicht mehr.« »Und seine Lebensfunktionen lassen nach«, murmelte Thalia, die Atlans Platz vor dem Monitor eingenommen hatte, als der Arkonide begonnen hatte, in der Zentrale
Ruf der Höheren Welten auf und ab zu wandern. Beide Auskünfte bestärkten ihn in seinem verzweifelten Entschluß. Die Galionsfigur reagierte nicht auf Leenias Bemühen, Kontakt zu ihr herzustellen, und es war sicher, daß sie dem Tod geweiht war. Bis jetzt hatte Atlan sich dagegen gesträubt, Dorkan Moht im wahrsten Sinn des Wortes noch einmal aufzuputschen, ihn zu einem letzten Gewaltakt zu bewegen, an dessen Ende der Tod stehen mußte. Nun glaubte Atlan zu wissen, was den Echsenähnlichen apathisch machte. Es waren nicht nur die Folgen der bei der Schießerei erlittenen Verletzung. »Ich muß zu ihm«, sagte der Arkonide. »In die Bugkuppel.« »Aber das bedeutet seinen Tod!« entfuhr es Thalia. »Ich weiß«, murmelte Atlan. »Er wird nicht sofort sterben.« Und er wußte auch, daß nur die Galionsfigur selbst den Impuls zur Öffnung des Schottes geben konnte, solange sie lebte. Atlan schloß sich an das mechanischtelepathische Kommunikationsnetz der KNIEGEN an und dachte intensiv daran, daß er jetzt ein zweites Mal zur Bugkuppel aufbrechen würde, um in sie einzudringen und bis zu Mohts Tod bei diesem zu bleiben. Alles hing davon ab, daß er mit seiner Vermutung recht behielt. Atlan erhielt keine Antwort. Er hatte es nicht anders erwartet. »Unternimm jetzt keinen weiteren Versuch«, bat er Leenia. »Ich gehe zu Dorkan Moht. Entweder stirbt er oder er rettet uns.« Zu Thalia gewandt, sagte der Arkonide: »Halte die Stellung. Es kann sein, daß ich nicht zurückkomme. Dann liegt es an dir, über die Zukunft zu entscheiden.« Welch heroische Sprüche! kommentierte der Extrasinn. Das hast du ihr schon mehr als einmal gesagt. Sieh zu, daß du zur Bugkuppel kommst! »Laß mich mit dir gehen«, flehte die Odinstochter. Sie klammerte sich an Atlans
43 Arm fest. Der Arkonide streifte ihre Hand sanft, aber energisch ab. »Nein, Thalia. Du mußt bei Leenia bleiben.« Dann brach er auf, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Das Schicksal der KNIEGEN lag in der Hand eines Sterbenden.
* Atlan stand vor dem Schott. Neben ihm befand sich ein Mikrophon der Bordsprechanlage. Atlan drückte auf einen Knopf. »Wenn du dazu in der Lage bist, dann öffne«, sagte er. Nichts geschah. »Thalia?« Die Odinstochter und Leenia konnten jedes Wort, das er an Dorkan Moht richtete, mithören. »Seine Lebensfunktionen sinken weiterhin, aber er müßte in der Lage sein, die notwendigen Schaltungen vorzunehmen. Vielleicht solltest du ihm doch eine weitere Injektion …« »Nein!« rief Atlan barsch. Er sah sich um. Nicht jedes Organschiff war gleich, doch er nahm an, daß es in unmittelbarer Nähe der Bugkuppel ebenfalls Anschlüsse für das mechanischtelepathische Kommunikationssystem gab. »In einem Nebengang«, sagte Thalia auf eine entsprechende Frage. »Etwa fünf Meter hinter dem Schott.« »Danke.« Atlan verwünschte sich selbst, weil er sich nicht gründlich genug auf das vor ihm Liegende vorbereitet hatte. In der Zentrale gab es Übersichtstafeln, auf denen das »Innenleben« der KNIEGEN in jeder Einzelheit festgehalten war. Sekunden später stand er vor dem Anschluß und nahm erneut Kontakt zur Galionsfigur auf. Wieder sandte er nur eine Botschaft, ohne Antwort zu erhalten. Als er diesmal zum Schott ging, war es offen. Der Weg in die Bugkuppel war frei.
44
Horst Hoffmann
Atlan trat ein. Er sah Dorkan Moht in seinem Sessel. Die Augen der Galionsfigur waren auf ihn gerichtet. Atlan kniete sich vor dem Echsenähnlichen nieder. »Du weißt, daß du sterben wirst«, begann er. »Nein«, antwortete die Galionsfigur. »Ich werde nicht mehr sterben – kein zweites Mal. Sieh dir die Welt um uns herum an. Es ist das Reich der Ewigen. Auch du gehörst nun zu uns, Atlan. Auch du bist gestorben und wieder auferstanden. Laß uns die Träume vergessen, die uns an die frühere Existenz erinnern. Laß uns nur wir selbst sein …«
* Triumph und Trauer. Unbändiges Mitleid mit einem Wesen, das glaubte, allen Schmerz und alle Todesqualen hinter sich zu haben und bereits ins »Reich der Ewigen« eingegangen zu sein. Wieder, nachdem er bereits geglaubt hatte, alle Skrupel über Bord geworfen zu haben, kamen Atlan die Gewissensbisse. Er hatte recht gehabt. Dorkan Moht lebte noch. Er konnte ihn mit ein bißchen Glück und viel Geschick dazu bringen, noch einmal all seine Kraft zusammenzunehmen. Aber hatte er das Recht dazu? Durfte er die Galionsfigur quälen? Er mußte es tun! Er hatte eine Verantwortung zu tragen und nicht nur für sich und Thalia. »Hör zu«, sagte er eindringlich und blickte dabei in die runden Augen des Wesens. »Es stimmt nicht. Wir leben. Du bist nicht tot, aber du wirst sterben müssen.« Atlan suchte nach Worten. Er war sicher, daß die Galionsfigur sich nicht in dieser Umgebung zurechtfand und deshalb glaubte, ins Reich der Toten eingegangen zu sein. »Du lebst noch«, sagte er. »Nun liegt es an dir, ob du dort, wo du geboren wurdest, auch ins Reich der Ewigen eingehen wirst oder nicht. Dies hier ist ein uns unbegreifli-
cher und fremder Raum. Hier können wir nicht leben und nicht in Frieden sterben, hörst du? Es kommt nur auf dich an, ob wir in unser Universum zurückkehren können, wo du deine Ruhe finden kannst.« Keine Reaktion. Atlan schwitzte. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Lebensfunktionen, Thalia?« »Sie sinken weiter ab«, kam es aus einem unsichtbaren Lautsprecher, »aber sie scheinen sich zu stabilisieren.« Atlan nickte. »Du weißt, daß das Wesen Leenia Kontakt sucht?« fragte er die Galionsfigur. Und nun hatte er das Gefühl, daß Dorkan Moht ihn zum erstenmal direkt ansah. »Ja«, hörte der Arkonide endlich. »Ich weiß es und ich höre es.« »Dann mußt du tun, was sie von dir verlangt!« sagte Atlan hastig. »Für dich und für uns! Du bist verwirrt, und du findest dich in diesem Raum nicht zurecht. Mir geht es ebenso, Dorkan Moht! Deshalb hilf uns zurückzukehren. Vertraue dich ganz Leenia an. Denke an die große Plejade. Soll alles, was wir auf uns genommen haben, umsonst gewesen sein?« Phrasen, dachte Atlan bitter. Seelenmassage für einen Sterbenden. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte Dorkan Moht. Atlan schwieg. Er wußte, daß er nicht mehr tun konnte.
* Als der Arkonide in die Zentrale zurückkehrte, kam Thalia auf ihn zugelaufen. »Störe sie nicht«, flüsterte sie und blickte zu Leenia hinüber. »Sie hat Kontakt. Wir bewegen uns.« Die Kontrollen verrieten nach wie vor nichts darüber. Es war wieder nur ein Gefühl, das auch Atlan empfand. Die KNIEGEN trieb irgendwo in diesem unbegreiflichen Raum. Dorkan Moht hatte also in der erhofften Weise reagiert. Doch seine Lebensfunktionen sanken weiter ab, nachdem
Ruf der Höheren Welten sie, wie Thalia versicherte, vorher einen steilen Sprung nach oben gemacht hatten. Dies war das Aufbäumen gewesen, zu der Zeit, als Atlan noch zur Zentrale unterwegs gewesen war. Nun schien es so, als sei diese Belastung endgültig zuviel für die Galionsfigur gewesen. Als Leenia die Augen aufschlug, wußte der Arkonide, daß Dorkan Moht gestorben war. Er brauchte dazu nicht erst auf die Anzeigen zu blicken. »Werden wir es schaffen?« fragte er. Leenia nickte. »Ich hoffe es. Allerdings nicht mit der KNIEGEN. Wir treiben auf einen der Tunnel zu, aber nur ihr selbst könnt ihn passieren. Das Schiff …« Es sah so aus, als wüßte Leenia nicht, wie sie das erklären sollte, was nur ihr begreiflich war. Dann fuhr sie fort: »Die KNIEGEN ist enger mit der Galionsfigur verbunden, als ich eben noch glaubte. Dorkan Moht muß noch vor seinem Tod etwas unternommen haben, das es unmöglich machte, das Schiff in euer Universum zurückzuschicken. Er war die KNIEGEN, und er …« »Er wollte mit ihr sterben«, vollendete Atlan den Satz. Und er glaubte, die Handlungsweise der Galionsfigur verstehen zu können, die genau gewußt haben mußte, daß es keine Rückkehr für sie mehr geben würde. Und nun? Was sollten Atlan und Thalia ohne ein Raumschiff in der Schwarzen Galaxis ausrichten können? Wo würden sie sich wiederfinden? »Macht euch bereit«, sagte Leenia. »Es wird nicht angenehm für euch sein. Ihr werdet den Sog gleich fühlen.« Atlan spürte ihn bereits. Es wurde dunkel. Nur Leenia leuchtete wie von innen heraus. Auf dem Hauptbildschirm war von der bizarren Landschaft der Hohlwelt nichts mehr zu sehen. »Ich muß Abschied nehmen«, sagte Leenia. »Diejenigen, zu denen ich gehöre, rufen mich zurück.«
45
* Noch Sekunden standen sich Atlan und Leenia schweigend gegenüber. Sie sahen sich in die Augen, als ob jeder der beiden versuchte, darin zu lesen, etwas von dem verstehen zu können, was den anderen ausmachte. »Es tut mir leid«, sagte Leenia dann leise. »Ich wollte, daß ich euch besser helfen könnte, aber …« Sie zuckte die Schultern und versuchte zu lächeln. »Vielleicht wird der Tag kommen.« »Du hast uns schon geholfen«, sagte Atlan, der spürte, wie die Körperlose litt. Fast scheu blickte sie von ihm zu Thalia und wieder zurück. »Ich habe eine letzte Frage.« Atlan nickte. Er hatte darauf gewartet. »Jetzt spricht Wommser aus dir, oder? Er will wissen, wo Kolphyr ist.« »Der Kontakt zu ihm riß ab, als ich aus meinem Dimensionsnest vertrieben wurde«, bestätigte Leenia/Wommser. Wieder nickte der Arkonide. Der VontharaAlarm, die Lähmung, die fast alle Wesen auf Pthor befallen hatte. Atlan konnte nur annehmen, daß Wommser gerade zu dieser Zeit geflohen war. Der Dimensionssymbiont bestätigte diese Vermutung durch Leenia. »Wir wissen es nicht, Wommser«, sagte Atlan. »Wir alle wären froh gewesen, ihn wieder bei uns zu haben.« »Aber er lebt?« »Er ist nicht tot«, formulierte Atlan ausweichend. Er hatte nicht übertrieben. Oft genug hatte er sich gefragt, was aus den alten Kampfgefährten, mit denen er gegen die FESTUNG gezogen war, geworden sein konnte. Immer noch hoffte er darauf, daß der Bera und auch Koy, der Trommler, eines Tages zur FESTUNG zurückkehren würden. Doch die FESTUNG und Pthor waren weit. »Ich muß gehen«, sagte Leenia. Sie wollte etwas hinzufügen, aber schon wurde ihr
46 Körper transparent und war gleich darauf völlig verschwunden. Atlan und Thalia waren allein. »Und nun?« fragte die Odinstochter. Der Arkonide brauchte keine Antwort zu geben. Thalias Schrei zeigte ihm, daß sie das gleiche fühlte wie er. Es war, als wollte man ihm den Magen auspumpen, als hätte man seinen Kopf zwischen einen Schraubstock geklemmt. Es wurde dunkel, dann wieder so hell, daß die Augen schmerzten. Ganz kurz war noch einmal die unendliche Hohlwelt um die beiden Menschen herum zu sehen. Dann war nichts mehr. Es gab keine KNIEGEN, keinen Boden unter den Füßen, kein Oben und Unten. Atlan hatte das Gefühl, als schrumpfe er immer mehr zusammen, als würde er zu einem mikroskopisch kleinen Etwas. Von irgendwoher, aus dem unendlich erscheinenden Dunkel, kam eine Stimme. Thalia. Atlan versuchte, mit seinen Sinnen das Dunkel zu durchbrechen – vergeblich. Die Übelkeit und die Schmerzen waren wie weggeblasen. Atlan war nur noch er selbst. Er hatte keinen Körper mehr, doch sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Er wußte, daß er sich in dem von Leenia angesprochenen Dimensionstunnel befand, irgendwo zwischen zwei Existenzebenen, die nichts gemeinsam hatten. So, dachte Atlan, mochte es einem Teleporter oder jemandem, der einen Transmitter benutzte, zumute sein, wenn die Zeit mitten im Sprung angehalten würde. Graue Schlieren begannen sich zu bilden. Atlan sah ohne Augen. Er empfand. Und plötzlich hatte er, der relativ Unsterbliche, der Mann, der es mit jedem leibhaftigen Gegner aufgenommen hätte, furchtbare Angst. Angst davor, niemals wieder aus diesem Nichts zu entkommen, für immer in diesem Zustand verbleiben zu müssen. Wieder der Schrei aus der Unendlichkeit. Er hallte in Atlans Kopf. Irgendwo trieb Thalia, ebenso hilflos wie er. Er wollte zu ihr, ihr helfen, ihr Trost zusprechen. Doch es gab nichts als das monotone
Horst Hoffmann Grau um ihn herum. Dann endlich – Atlan hatte jeden Sinn für die Zeit verloren – sah er einen sich schnell vergrößernden Lichtpunkt genau vor sich. Er trieb darauf zu.
12. Auf Pthor In der FESTUNG herrschte Stille. Alle Abgesandten der verschiedenen Rassen Pthors wurden abgewiesen. Die Odinssöhne waren nicht zu sprechen. Sie saßen wieder zusammen und berieten sich. Heimdall warf Sigurd und Balduur finstere Blicke zu. »Und ich behaupte immer noch, daß sie eine Spionin ist!« dröhnte seine Stimme durch den Saal. »Es war ein Fehler, sie mit der GOL'DHOR in den Weltraum zu bringen, ein böser Fehler, Sigurd!« »Wenn ich deine törichten Reden höre, glaube ich fast selbst daran. Ich hätte dich in der Höhle liegen lassen sollen.« »Ich hätte mich selbst hierher zurück durchschlagen können!« »Ja«, sagte Sigurd bissig. »Vielleicht hättest du unterwegs ein paar Gordys getroffen, die mit dir gegen das Gesindel gekämpft hätten, das sich in der Umgebung der Senke herumtreibt. Denke an das, was Synk uns berichtet hat. Es wird noch mehr Monstren wie diesen Mod-Poluur geben, und wenn selbst Leenia ihm fast unterlegen wäre …« »Sie ist eine Spionin aus der Schwarzen Galaxis«, beharrte Heimdall. »Vielleicht kannte sie sich auch nur deshalb so gut auf Pthor aus, weil ihr jemand den Kontinent und den Weg zur FESTUNG erklärt hat.« Balduur blickte auf. »Die Phantasie geht mit dir durch, Bruder.« »So? Und wenn der Verräter Atlan uns nicht nur im Stich gelassen hat, sondern sich darüber hinaus mit denjenigen verbündet hat, die die Schwarze Galaxis beherrschen? Was dann? Er könnte die Spionin geschickt
Ruf der Höheren Welten und instruiert haben, um sein erbärmliches Leben zu retten.« »Du gehst zu weit!« protestierte Sigurd heftig. »Ach was! Wir sollten Atlan vergessen und unsere Macht festigen. Vielleicht werden wir ihm eines Tages wieder gegenüberstehen. Dann soll er unsere Macht zu spüren bekommen. Wir sind die Herrscher, und wir sind stark, stärker als mit einem Weib an der Seite!« »Denke an die Worte unseres Vaters!« entfuhr es Sigurd. Er baute sich vor Heimdall auf und sah dem Bruder in die schwarzen Augen. »Und jetzt ist es genug. Diese Fremde ist keine Spionin. Ich habe das Gefühl, daß du einen Vorwand suchst, um …« »Woher willst du das wissen? Sie lähmte und verschleppte mich. Sie erpreßte euch! Du bist mit Blindheit geschlagen, Sigurd!« »Sie ist keine Spionin«, wiederholte Sigurd. »Ich weiß es einfach.« Höhnisch lachend wandte Heimdall sich an Balduur. »Er weiß es, hörst du? Wenn du mich fragst, dann hat sie ihm den Kopf verdreht!« Der Streit ging weiter. Heimdall und Sigurd beschuldigten sich gegenseitig der Voreingenommenheit. Nur Balduur schwieg die meiste Zeit über. Er sprach zwar nicht so offen wie Heimdall von einem Verrat Atlans, aber auch er glaubte, daß der Arkonide nicht nach Pthor zurückkehren würde. Balduur träumte den Traum von einem allein von den Odinssöhnen geführten Pthor. Doch wieviel Zeit würden sie haben, um ihre Macht zu festigen und alle Pläne zu verwirklichen? Wann würden die ersten Raumschiffe aus der Galaxis am Himmel erscheinen? Ganz andere Sorgen hatte ein kleiner bärtiger Muskelprotz, der laut schimpfend neben dem Zugor stand, mit dem er bis kurz vor Orxeya gelangt war. Er hatte seine Heimatstadt nicht erreicht, weil die Dellos, denen er das Fahrzeug unter dem Vorwand abgeschwatzt hatte, daß er einen Geheimauf-
47 trag für die Odinssöhne auszuführen habe, die Energiespeicher nicht ausreichend aufgeladen hatten. So mußte er notlanden und den Rest des Weges nun zu Fuß zurücklegen. Dabei dachte er an Roboter – Robotbürger, Robotdiener, faßförmige, kugelförmige, tentakelschwingende, vor allem aber grausame Roboter – eben an alles, was aus Metall, Plastik und einem künstlichen Gehirn bestand. »Ich hasse sie!« brüllte er immer wieder. »Sie alle!« Doch manchmal blickte er nach Südwesten, wo sich viele Kilometer entfernt die Stadt Wolterhaven befand. Warum hatten sie ihm das angetan? Weshalb hatten die Robotdiener sich für ihn geopfert? »Ihr wollt mich quälen«, murmelte der wilde Mann aus Orxeya. »Ihr glaubt, mich auf diese Art unter Druck setzen zu können. Aber da täuscht ihr euch, ihr zusammengeleimten Blechkisten! Nicht mich! Nicht mit mir!« So gelang es Synk wenigstens für wenige Minuten, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Nach stundenlangem Fußmarsch erreichte er die Händlerstadt. Er passierte die Tore und schleuderte jedem, der ihn nach seinem Abenteuer mit der GOL'DHOR fragte, einige derbe Verwünschungen entgegen. Natürlich hatte Synk vor dem Aufbruch zur FESTUNG in angeheitertem Zustand von dem geprahlt, was er vorhatte. Sator Synks erster Weg führte zu einem Gasthaus, wo er etwas zu essen und einen Dreiliterkrug mit einem stark alkoholhaltigen Getränk bestellte. Den Krug trank er aus, das Essen ließ er stehen. Er hatte keinen Appetit. »Ach, bevor ich's vergesse«, sagte der Wirt, als Synk sich zum Aufbruch bereit machte. »Du hast einen Gast.« »Einen Gast?« Synk sprach schon sehr langsam und hatte gewisse Schwierigkeiten mit der Aussprache. »We … welchen Gast? Ich habe niemanden eingeladen.« »Er wartet in deinem Haus auf dich.« Täuschte der Held von Orxeya sich, oder
48 sah er ein schadenfrohes Grinsen auf dem Gesicht des Wirtes? Natürlich fielen sie nun alle über ihn her! Sator Synk trat fluchend ins Freie und schlug einem Mann, der ihn fragte, wo er denn die GOL'DHOR gelassen habe, die Faust auf die Nase. Niemals wieder! dachte er sich. Niemals wieder werde ich diesen Ignoranten meine Dienste anbieten! Und Ignoranten waren für den Angetrunkenen jetzt alle, die nicht wie er davon überzeugt waren, daß er seine Mission zur vollen Zufriedenheit aller ausgeführt hätte, wenn die Odinssöhne ihn nicht gezwungen hätten, die fünf Robotdiener mit an Bord des goldenen Schiffs zu nehmen. Das Kapitel GOL'DHOR war für Sator Synk ein für allemal abgeschlossen. Sollten die Odinssöhne doch zusehen, wie sie mit der bevorstehenden Invasion fertig wurden! Immer noch im Glauben, der Wirt und alle anderen, die ihm schadenfroh nachsahen, hätten nur ihre Freude an seinem Reinfall, betrat Synk schwankend sein Haus. Mit dem »Gast« sollte er schnell fertig werden. Sicher ein Schmarotzer, dachte er, jemand, der es sich während seiner Abwesenheit bei ihm zu Hause bequem gemacht hatte. Aber der Bursche sollte sein blaues Wunder erleben. »Komm heraus!« brüllte Sator Synk, als sich niemand blicken ließ. »Ich weiß, daß du hier bist, und falls du nicht hier bist, weiß ich es auch, nämlich, daß du …« Der Orxeyaner wurde sich des Unsinns, den er daherredete, bewußt. Er durchsuchte noch einmal alle Räume und beschloß, sich in eine stille Ecke zurückzuziehen und auf den »Gast« zu warten. Je länger er so hinter einem großen Schrank dasaß, desto stärker wurde die Überzeugung, daß der Wirt ihm einen Streich gespielt hatte. Doch das war nicht der Fall. Synk hörte etwas quietschen. Es war nicht nur die Haustür, die er endlich einmal ölen mußte. Etwas anderes, seltsam Bekanntes … Und dann sah er den Roboter. »O nein!« Der Orxeyaner schlug sich bei-
Horst Hoffmann de Hände vors Gesicht. Der Alkohol, dachte er. Die Rache der Robotbürger. Jetzt wollen sie mich endgültig zugrunde richten. Doch als er die Hände herunternahm, stand der Roboter immer noch vor ihm. Es handelte sich um eine Kugel von etwa einem halben Meter Durchmesser. Mehrere Schläuche, Greifarme und Antennen ragten aus ihr heraus. Ganz oben auf der Kugel befand sich eine rotierende Scheibe. »Es erfüllt mich mit großer Freude, dich zu sehen, Sator Synk«, drang es plärrend aus einem nicht zu erkennenden Lautsprecher. »Wir hatten dich eher zurückerwartet.« Das darf nicht sein! durchfuhr es den Orxeyaner. Das darf einfach nicht sein! Herr der Welten, laß mich aufwachen! Synk schloß die Augen. Den Roboter schien das nicht im geringsten zu berühren. »Ich heiße Diglfonk«, hörte Synk. »Mein Herr, der Robotbürger Soltzamen, hat mich geschickt, um dir über die erlittene Enttäuschung hinwegzuhelfen. Ich bringe dein Haus in Ordnung und sorge für dich. Wenn du einen Wunsch hast, so teile ihn mir mit. Wir stehen nach wie vor in deiner Schuld und …« »Aber ich habe fünf von euch auf dem Gewissen!« krächzte Synk in höchster Verzweiflung. »Fünf Robotdiener sind gestorben, weil ich …« »Es war unsere Schuld, daß du notlanden mußtest, Sator Synk. Wir sind über alles informiert und wissen um deine Qualen. Kann ich nun etwas für dich tun?« Synk fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sie war naß. Er mußte Fieber haben. »Ja«, brachte er gerade noch hervor. »Verschwinde! Geh mir aus den Augen!« »Ich bedaure«, sagte Diglfonk, »aber ich befinde mich nicht in deinen Augen, also kann ich auch nicht daraus verschwinden.«
13. Atlan und Thalia – irgendwo in der Schwarzen Galaxis Das Licht wurde heller. Atlan hatte das Gefühl, aus einem Tunnel
Ruf der Höheren Welten herauszuschießen. Vielleicht war es auch nur ein Vergleich, den er unwillkürlich zog. Immer noch konnte er seinen Körper nicht fühlen. Dafür spürte er jetzt die Nähe Thalias. Aus dem Punkt wurde ein Kreis. Das Dunkel wich nach allen Seiten hin. Ein Lichtblitz, dann das Gefühl, auseinandergerissen zu werden. Atlan schrie, und er hörte seine Stimme. Er empfand Qualen und Schmerz – und er hatte wieder einen Körper. Er fühlte eine Hand auf seinem Arm. Das Licht war erloschen. Wieder umgab ihn und Thalia völlige Dunkelheit. Aber sie waren, lebten in ihrem Universum. Wo sie sich nun befanden, erschien dem Arkoniden im Augenblick zweitrangig. Sie hatten festen Boden unter den Füßen. Was war geschehen? Atlan erinnerte sich lediglich daran, an Bord der KNIEGEN gewesen zu sein. Er sah die Scuddamoren-Schiffe vor sich, die Energiestrahlen, die auf die KNIEGEN zuschossen, die Überlastungsanzeigen der Schutzschirme. Dann war nichts mehr. Allmählich gewöhnten sich die Augen des Arkoniden an die Dunkelheit. Er konnte jetzt einen kleinen silbern schimmernden Mond am Himmel erkennen, am Mond des Planeten, auf dem er und Thalia sich befanden. »Wo sind wir hier, Atlan?« fragte Thalia leise. Der Arkonide sah sich um. Ringsumher sah er verschwommen schroffe Felskonturen. »Ich weiß es nicht«, sagte er wahrheitsgemäß. »Ich habe ebensowenig eine Erklärung wie du. Wir müßten an Bord der KNIEGEN sein …« »Aber wir sind es nicht, Atlan. Ich habe das Gefühl, daß irgend etwas mit uns geschehen ist.« Atlan erging es ebenso. Doch je mehr er sich zu erinnern versuchte, desto mehr mußte er erkennen, daß es keinen Sinn hatte. Sie befanden sich auf einer fremden Welt – irgendwo in der Schwarzen Galaxis. Er spürte die Aura. Da standen sie – zwei Verlorene ohne
49 Raumschiff und jegliche Ausrüstung. Alles, was sie besaßen, waren Thalias Raumanzug, Atlans Goldenes Vlies und die große Plejade. »Es sieht so aus«, murmelte der Arkonide, »als müßten wir wieder ganz von vorn anfangen.« Und der Gedanke daran, was ihnen hier in dieser unheimlichen Umgebung bevorstehen mochte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
* JENSEITS VON RAUM UND ZEIT Leenia spürte, wie die Impulse von allen Seiten her auf sie eindrangen. Aus ihnen sprach ein einziger Vorwurf. Dabei war sie es, die Vorwürfe zu machen hatte. Wir hätten sie nicht im Stich lassen dürfen, dachte Leenia, an die anderen gewandt. Wir haben sie nicht im Stich gelassen. Wir haben dich ein weiteres Mal zu ihnen geschickt, obwohl dir Gefahr drohte. Atlan wird beweisen müssen, ob er uns eine Hilfe sein kann. Wenn wir ihn unterstützen, kann er es! Nein, Leenia, kam es von überallher. Du wirst dich nicht noch einmal für ihn in Gefahr begeben, nicht ehe wir es für richtig halten – wir als Gesamtheit. Noch wissen wir nicht, wie du als Körperliche in der Aura des Bösen bestehen kannst. Erst wenn wir Gewißheit haben, können wir dich wieder schicken. Und es gibt wichtigere Aufgaben für dich, als auf den Sterblichen zu achten. Stummer Protest, doch Leenia und Wommser wußten, daß Widerspruch jetzt keinen Sinn hatte. Beide Komponenten des Doppelwesens warteten. Alles war in Bewegung geraten. Entscheidungen standen bevor. Und es war fast schon makaber, daß nicht sie, die für den Einsatz in der Schwarzen Galaxis präparierte Leenia, die Dinge ins Rollen gebracht hatte, sondern ein Sterblicher. Leenia und Wommser waren sich fast
50
Horst Hoffmann
sicher, daß sie Atlan eines Tages wiedersehen würden. Die Frage war nur, unter welchen Umständen. ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 415 von König von Atlantis mit: Herrscher von Ringtor von Peter Terrid