GEO W. PROCTOR
ROTE WOLKEN ÜBER CHICAGO
THE CHICAGO CONVERSION V – Die Außerirdischen 3
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Am...
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GEO W. PROCTOR
ROTE WOLKEN ÜBER CHICAGO
THE CHICAGO CONVERSION V – Die Außerirdischen 3
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Amerikanischen übertragen von Andreas Brandhorst Deutsche Erstveröffentlichung Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany – 4/88 – 1. Auflage © 1985 by Warner Bros. Inc.
© der deutschsprachigen Ausgabe Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Design Team München Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 23713 Lektorat: Christoph Göhler Redaktion: Antje Hohenstein Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23713-0
Die kleine Armee der Widerstandskämpfer schickt ihre wenigen Flugzeuge gegen die Visitors. Hinter jeder Maschine erstreckt sich ein roter Kondensstreifen – rot, weil er das Toxin, das tödliche Gift für die Visitors, enthält. Doch einen Visitor gibt es, der sich nicht in den Tiefen des Raumes versteckt – einen einzigen, der entschlossen ist, den Widerstand zu brechen und die Erde zurückzuerobern. Währenddessen versuchen ein Mann und eine Frau, die sich und einen Zufluchtsort gefunden haben, die tödliche Bedrohung zu stoppen, und riskieren dabei ihr Leben und ihre Liebe…
Für Jeanne Clanan Brent Hampton Ruth Hampton Becky Matthews Steve Oller Teresa Patterson Bob Wayne Ohne sie wäre dieses Buch nicht entstanden.
1. Kapitel
Bunter Tod schwebte über Chicago gen Himmel. Tausende von Luftballons tanzten in einer leichten Morgenbrise an dem wolkenlosen Firmament. Viele Männer, Frauen und Kinder in den Straßen beobachteten die Farbenpracht, und sie lächelten – als stiegen die Ballons aus Anlaß eines Festes empor. Doch das war nicht der Fall, im Gegenteil. Die roten, blauen, grünen und gelben Luftblasen waren die entscheidende Waffe in einem weltweiten Krieg, bei dem es um das Überleben der ganzen Menschheit ging. Denn die Ballons enthielten nicht nur Helium, sondern auch ein rötliches Pulver. V-Staub, Eidechsen-Arsen, Schlangengift – das waren nur einige wenige Namen, die Widerstandskämpfer während der Vorbereitungen auf die Offensive für jene Substanz geprägt hatten. Jetzt aber war niemandem mehr zum Scherzen zumute. In tödlichem Ernst wurde die rettende Waffe gegen die Außerirdischen zum Einsatz gebracht, die die Herrschaft über die Erde beanspruchten. Die Fremden hatten eine stellare Kluft von fast neun Lichtjahren überwunden. Sie stammten vom vierten Planeten der Sonne Sirius, und sie kamen in gewaltigen, stadtgroßen Raumschiffen und nannten sich Visitors. Lächelnd sprachen sie von Freundschaft und boten den Bewohnern der Erde an, ihren Wissensschatz mit ihnen zu teilen. Und die Menschen glaubten ihnen, nahmen sie mit offenen Armen auf und gestatteten den außerirdischen Besuchern, sich in ihrer Heimat niederzulassen. Die Visitors richteten Basen und Stützpunkte ein, und während sie ihren Gastgebern
Gelegenheit gaben, sich langsam an ihre Anwesenheit zu gewöhnen, begannen sie damit, in allen Bereichen der irdischen Gesellschaft Einfluß zu nehmen. Die Visitors gingen sehr behutsam zu Werke und bereiteten so den Weg für weitaus einschneidendere Veränderungen. Als die Menschheit schließlich ihre Absichten durchschaute, war es bereits zu spät: Mit Hilfe ihrer Stoßtruppen übernahmen die Gäste von den Sternen die Macht. Sie kontrollierten das Transportwesen, die Kommunikation, die Polizeikräfte, lokale Verwaltungen und nationale Regierungen. Aus der ausgestreckten Hand, die Freundschaft bot, wurde eine Faust der Tyrannei! Doch es gab Menschen, die das nicht einfach so hinnahmen. Männer, Frauen und Kinder schlossen sich zu Gruppen zusammen, die eine weltweite Widerstandsfront bildeten. Ihrer Mühe und Opferbereitschaft war es zu verdanken, daß die Visitors entlarvt wurden. Diese trugen nämlich im wahrsten Sinne des Wortes eine Maske: Hinter den so menschenähnlichen Zügen verbargen sich die grünen und schwarzgefleckten Gesichter von Reptilien. Noch weitaus schrecklicher war der Grund, der sie dazu veranlaßt hatte, sich auf die weite Reise zu begeben – sie wollten die Heimat der Menschen in eine Wüste verwandeln! Die großen Ozeane auf der Erde stellten für die Visitors eine einzigartige Kostbarkeit dar, denn auf ihrem Heimatplaneten gab es nur einige seichte Seen, und die dortigen Flüsse waren kaum mehr als Rinnsale. Darüber hinaus bot die Erde den extraterrestrischen Invasoren noch andere natürliche Ressourcen an – die Menschen selbst. Denn auf der Welt, von der die Visitors stammten, herrschte nicht nur Mangel an Wasser, sondern auch an Nahrung. Der größte Teil der irdischen Bevölkerung nahm die Herrschaft der Visitors lethargisch hin. Bereitwillig glaubten
sie den Lügen, die ihnen die Außerirdischen im Fernsehen auftischten – das war wesentlich einfacher, als den Gerüchten nachzugehen, die unter der Bevölkerung kursierten. Gerüchten, in denen es hieß, die Bewohner ganzer Städte seien über Nacht verschwunden, wie Vieh verstaut in den großen Lagerkammern an Bord der riesigen Mutterschiffe. Und war es denn vorstellbar, daß man hochrangige menschliche Regierungsbeamte einer Art Gehirnwäsche unterzogen hatte, so daß sie zu willfährigen Marionetten der Visitors wurden? Für die Mitglieder der ständig wachsenden Widerstandsbewegung schon. Einige von ihnen hatten es mit eigenen Augen gesehen, und deshalb wußten sie Bescheid. Ein kleines Team in Los Angeles – ihm gehörten Wissenschaftler an, die den Verfolgungen durch die Visitors entkommen waren – entwickelte einen bakteriologischen Giftstoff mit tödlicher Wirkung für die Außerirdischen. Wenn die Substanz in die Atemwege der Reptilien geriet, starben sie innerhalb von zwei Minuten. Gleichzeitig blieb das Toxin für irdische Lebewesen jedoch völlig unschädlich. Sowohl das Gift als auch das Gegenmittel – die Angehörigen der Fünften Kolonne in den Reihen des Gegners sollten geschützt werden – wurde zu anderen Widerstandsgruppen in allen Teilen der Welt geschmuggelt. Und jenes Toxin war es, das nun in bunten Luftballonschwärmen über Chicago aufstieg. Auch Dutzende von Privatflugzeugen setzten das Gift in der Atmosphäre frei, ließen purpurne Todeswolken am Himmel zurück. Auf dem Boden warteten Kämpfer mit Granaten und Sandstrahlgebläsen darauf, die tödliche Substanz unmittelbar gegen den Feind zum Einsatz zu bringen. Als sie das Zeichen erhielten, stürmten sie über die Michigan Avenue und die Adams Street und griffen die Kunstakademie von Chicago an, in der sich das Hauptquartier der lokalen Visitor-Streitkräfte befand.
Und während im Herzen Chicagos Menschen und Außerirdische durch blaue Energieblitze oder panzerbrechende Geschosse starben, stieg am Rande der Stadt ein zweiter Schwarm bunter Luftballons mit dem Toxin in die Höhe. Jeff Stevenson balancierte vorsichtig auf den oberen Ästen eines alten Kirschbaums in der Nähe der gleichnamigen Stadt am Lake Zürich, rund sechzig Kilometer nordwestlich von Chicago. Er hob einen Feldstecher aus Armeebeständen und blickte in Richtung auf die Silhouette der fernen Stadt. »Kannst du irgend etwas erkennen, Jeff?« fragte seine Frau von unten. Ein dünnes Lächeln umspielte Jeffs Lippen, während er den kleinen Fleck beobachtete, der sich unter dem gewaltigen Mutterschiff bewegte, das über Chicago schwebte. Der winzige Punkt hinterließ eine breite Wolke, die aus VisitorToxin bestand und ein großes V bildete – das internationale Zeichen des Widerstandes. V für Victory, für Sieg! Jeffs Züge verhärteten sich. Ein bläulicher Blitz zuckte aus der Hülle des riesigen, scheibenförmigen Raumschiffes, und der kleine dunkle Fleck verschwand. Er ließ den Feldstecher sinken und schob ihn ruckartig zurück in die lederne Hülle an seinem Gürtel. Das war nur einer von uns, dachte er. Das V bleibt. Nur das ist wichtig: Das V bleibt. »Jeff?« rief Linda. »Was hast du gesehen?« Jeff Stevenson blickte lächelnd in ihr hübsches Gesicht, das rote Haare umrahmten, dann ließ er sich langsam von Ast zu Ast herab. »Das Mutterschiff…« »Und die Ballons? Was ist damit?« fragte Linda mit gerunzelter Stirn, als Jeff zu Boden sprang. »Wie Fliegen, die aus der Stadt emporschwirren.« Jeffs Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Unglaublich! Ein einzigartiger Anblick!«
Lindas rechte Hand fuhr an ihre Hüfte. Stahl kratzte an Leder, als sie ein metallisch glänzendes Jagdmesser zog. »Es gibt noch einige Fliegen mehr, die nur darauf warten, losschwärmen zu können!« Einen Wimpernschlag lang sah sie ihn fest an, dann drehte sie sich um und lief in Richtung auf ein freies Feld, das sich nördlich des Baumes erstreckte. Jeff holte eine stählerne Klinge hervor, ähnlich wie die seiner Frau, kontrollierte kurz die 45 er Automatik, die er in einem Gürtelholster trug. Dann folgte er ihrer schlanken Figur mit dem roten Haarschopf. Sie eilten durch hüfthohes Gras. Es wuchs auf einem Feld, das einst zum Anbau von Zuckermais gedient hatte. Als sie den kleinen Hügel in der Mitte der Lichtung erreicht hatten, verharrten sie. Aus der Nähe schien es ihnen, als müsse die getarnte Plane auf den ersten Blick zu erkennen sein. Allerdings war sie auch gar nicht dazu gedacht, die Bodenpatrouillen der Visitors zu täuschen. Vielmehr sollte sie das, was sie bedeckte, vor den neugierigen Blicken jener Außerirdischen verbergen, die dann und wann mit ihren Shuttles Kontrollflüge unternahmen. Linda sah Jeff an, und es blitzte in ihren smaragdgrünen Augen. Ohne zu zögern bückten sie sich, und die scharfen Klingen durchtrennten zwei der zahlreichen Stricke, die die Plane am Boden hielten. Das Segeltuch beulte sich so heftig, als wolle sich etwas Lebendiges darunter einen Weg ins Freie bahnen. Der Mann und die Frau setzten an weiteren Seilen an, und auf diese Weise schoben sie sich Meter für Meter an der Plane entlang. Sie hielten erst inne, als das dicke Tuch nur noch an einer Seite befestigt war. Entschlossen richteten sich Jeff und Linda Stevenson auf und lächelten, während sie die Messer in die Futterale zurückschoben.
»Laß uns die Visitors grüßen!« Jeff deutete auf das andere Ende der Abdeckung. Lindas Lächeln wuchs in die Breite, und sie nickte, bevor sie nach einem Zipfel der Plane griff. Jeffs Hände packten an der gegenüberliegenden Seite zu. Mit einem Ruck zogen sie das Tuch beiseite. Sofort stiegen tausend bunte Luftballons in die Höhe, jeder davon mit einigen Gramm des roten Giftpulvers. »Mit unseren besten Empfehlungen«, sagte Linda gepreßt. Sie trat an die Seite ihres Mannes und deutete mit ausgestrecktem Arm auf einen Ballon, der ihnen ein grinsendes Mickymaus-Gesicht zudrehte. Jeff umfaßte die Hand seiner Frau und drückte sie. Mickymaus – diese Figur hatte für sie besondere Bedeutung. Carla hatte sie so sehr geliebt. Jeff schloß die Augen, um die Tränen zurückzuhalten und die Erinnerungsbilder an jenen Abend zu verdrängen, der inzwischen ein halbes Jahr zurücklag. Linda und er hatten ihre vierjährige Tochter einem Babysitter anvertraut und waren ins nahe Barrington gefahren, um sich dort den neuesten StevenSpielberg-Film anzusehen. Als sie einige Stunden später nach Lake Zürich zurückkehrten, erwartete sie eine entsetzliche Überraschung. Die Stadt war leer. In einer Seitenstraße fanden sie einen schwerverletzten Polizisten: Die energetische Entladung einer Visitor-Waffe hatte ihm den Brustkorb verbrannt. Bevor er starb, sagte er ihnen, was geschehen war. Eine ganze Flotte von Visitor-Shuttles war aus der Dunkelheit hervorgebrochen, und aus jedem einzelnen stürmten Dutzende von Soldaten. Sie trugen rote Uniformen, schwarze Stiefel und Helme mit Visieren. Zwei Stunden später waren die Gebäude der Stadt leer. Alle Bewohner von Lake Zürich wurden wie Tiere in die Fahrzeuge der Invasoren getrieben. Und mit ihnen verschwand auch Carla Stevenson.
Mit einem Kopfschütteln verscheuchte Jeff die Erinnerung, schlug die Augen wieder auf und schaute den emporschwebenden Ballons nach. Einen Tag nach dem Überfall, so entsann er sich, traf eine Spähergruppe des Widerstands ein, und jene Männer und Frauen erklärten, was es mit dem Überfall der Außerirdischen auf sich hatte. Seither ging Jeff von Carlas Tod aus. Zwar war es durchaus möglich, daß sie noch lebte, irgendwo an Bord des riesigen Mutterschiffes – solche Gerüchte gab es über den Sohn Michael Donovans, jenes Reporters, dem eine entscheidende Rolle beim Widerstand in Los Angeles zukam. Doch Jeff lehnte es ab, sich an eine falsche Hoffnung zu klammern, der ja doch nur eine tiefe Enttäuschung folgen würde. Statt dessen entschieden seine Frau und er sich für den Kampf an der Seite anderer Männer und Frauen, die wußten, daß das Schicksal der ganzen Menschheit auf dem Spiel stand. Sie halfen der Widerstandsbewegung in Chicago bei der Organisation und dem Einrichten eines Hauptquartiers, für das sie ein leerstehendes Hotel am Ufer des Sees wählten. Linda und Jeff Stevenson hatten diesen Schritt getan, um andere Kinder zu retten, die sonst ein ähnliches Schicksal wie ihre kleine Carla erlitten hätten. Dabei warteten sie auf eine Gelegenheit, sich für die Verschleppung ihrer Tochter zu rächen. Heute wird Micky die verdammten Reptilien zur Rechenschaft ziehen! dachte Jeff, während die Ballons gen Himmel schwebten. Der Gasdruck in ihnen war genau berechnet worden, so daß sie in einer bestimmten Höhe platzen und ihren tödlichen Inhalt freigeben würden. Dann sollte der Vermehrungsprozeß der virulenten Bakterien beginnen. Der Wind trieb sie weiter, und mit dem Regen erreichten sie den Boden, machten das Wasser für die Visitors ungenießbar, und durchdrangen alle
Organismen. Es war abzusehen, daß das Toxin schon nach kurzer Zeit ein untrennbarer Bestandteil der gesamten irdischen Nahrungskette sein würde. Und damit wurde alles, was sich auf der Erde befand, zu tödlichem Gift für die Echsenwesen, die menschliche Masken trugen und gekommen waren, um die Lagergewölbe an Bord der Mutterschiffe mit Wasser und Fleisch zu füllen. Für Carla, fügte Jeff in Gedanken hinzu und drückte die Hand seiner Frau. »Wir sollten jetzt besser zum Hauptquartier zurückkehren. Bestimmt wird es bald heiß hergehen.« Linda beugte sich vor und hauchte ihm einen Kuß auf die Lippen, der nicht nur für ihn allein bestimmt war, sondern auch für Carla. »Habe ich dir schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?« fragte Jeff. Als Linda den Kopf schüttelte, meinte er: »Dann hole ich das hiermit nach.« Die rothaarige Frau blickte an ihm vorbei, riß plötzlich die Augen auf und erstarrte. Mit jähem Ruck drehte Jeff sich um. Fünf Visitor-Shuttles rasten in Delta-Formation heran, und die Spitze des V deutete auf die Lichtung. »Lauf!« Jeff stieß Linda in Richtung des Kirschbaums und riß gleichzeitig die 45er aus dem Holster. »Geh in Deckung!« Sie zögerte nur einen Sekundenbruchteil, wandte sich dann um und rannte davon, um sich unter den ausladenden Ästen des Baums zu verstecken. Doch sie war erst zwei Schritte weit gekommen, als es am Bug des ersten Shuttles aufblitzte. Der grelle, blauweiße Strahl traf Linda zwischen den Schulterblättern, und es blieb ihr gerade noch Zeit, einen wimmernden Schrei auszustoßen, bevor sie starb. »Nein!« Das Entsetzen schnürte Jeff die Kehle zu. Er beobachtete voll Grauen, wie seine Frau zusammenbrach und im hohen Gras zu Boden sank. »Nein!«
Erst Carla – und jetzt auch Linda! Irgend etwas tief in ihm begann zu zittern, und heißer Zorn verdrängte jede klare Überlegung. Die Reptilien, die dreimal verfluchten Echsen – sie hatten ihm alles genommen, all das, was das Leben für ihn lebenswert machte. Er schloß beide Hände um den Kolben der 45er, wirbelte um die eigene Achse und zielte auf die heranfliegenden Kampfeinheiten der Visitors. Ganz langsam krümmte sich sein Zeigefinger um den Abzug. Flammende Kugeln aus geballter Energie lösten sich von den Shuttles, und bevor Jeff Stevenson auch nur einen einzigen Schuß abfeuern konnte, erfaßte ihn die Glut und ließ nur Asche von ihm übrig. »Ein zwar ungeplanter, aber nützlicher Test für die Bordgeschütze, nicht wahr, Captain?« In Geralds Stimme klang ein zischendes Vibrieren mit; es kostete ihn erhebliche Mühe, mit seiner geteilten Reptilienzunge die Worte einer fremden Sprache zu formulieren. »Wir haben nur wertvolle Nahrungsmittel verschwendet«, entgegnete der Leiter der Einsatzgruppe und schüttelte bedauernd den Kopf. Nach einigen Sekunden wandte er den Blick von den beiden toten Menschen ab und musterte den Offizier neben sich auf der Pilotenbank. Er sah einen blonden und blauäugigen Mann – die Tarnung war perfekt. »Nun, ich bin trotzdem sicher, der Große Denker wird unsere heutigen Aktionen begrüßen, Frank.« Gerald betätigte einige Tasten, und das Shuttle näherte sich dem See. Glitzerndes Sonnenlicht spiegelte sich auf dem Wasser. Eine weitere Schaltung aktivierte die interne Kommunikation. »Eine Minute bis zur Landung. Bereiten Sie sich darauf vor, den Feind sofort zu stellen.« »Unser Denker wird insbesondere den Tod der Menschen zu schätzen wissen, gegen die wir jetzt vorgehen – ebenso wie die
Kommandantin Alicia«, stimmte Frank seinem Vorgesetzten zu. »Bestimmt können Sie mit einer Belohnung dafür rechnen, maßgeblich an der Zerschlagung der hiesigen Widerstandsgruppe beteiligt gewesen zu sein.« Franks anerkennendes Lächeln verschwand unter der Gasmaske, die er sich auf Mund und Nase preßte. Anschließend klappte er das getönte Helmvisier herunter. Gerald war bemüht, sich seine Zufriedenheit nicht anmerken zu lassen. Als einfacher Lieutenant hatte er sich vor vier Monaten freiwillig für die Aufgabe gemeldet, die Fünfte Kolonne an Bord des Mutterschiffes zu unterwandern, das von Alicia befehligt wurde und über Chicago schwebte. Damals war er ein namenloser Soldat gewesen, einer unter Tausenden. Die erste Beförderung erfolgte, nachdem es ihm gelungen war, fünfundzwanzig Verschwörer zu entlarven. Inzwischen war er Procaptain und stand damit eine Stufe über Frank, der noch vor kurzer Zeit ranghöher über ihm gestanden hatte. Seine Agententätigkeit bei der Fünften Kolonne, die mit den menschlichen Widerstandskämpfern zusammenarbeitete, brachte ihm das Wohlwollen der Kommandantin Alicia ein. Immerhin war er es gewesen, der ihr als erster von der »Geheimwaffe« berichtet hatte, die bald gegen die Visitors zum Einsatz gebracht werden sollte. Gerald zweifelte nicht daran, daß der Erfolg bei der bevorstehenden Aktion ihn einige weitere Sprossen der Karriereleiter höher bringen würde. Sogar John, der Oberste Kommandeur der Invasionsstreitmacht, mußte dann auf ihn aufmerksam werden. Gerald nickte langsam: Mit zweihundertfünfzig Einsatzsoldaten würde er den Auftrag im Handumdrehen erledigen, das Hauptquartier der Widerstandsbewegung von Chicago zu vernichten, bevor die Menschen Gelegenheit bekamen, ihre geheime Waffe einzusetzen.
Ein derartiger Sieg könnte mich ein ganzes Stück weiterbringen, überlegte er, und seine Mundwinkel zuckten in einem angedeuteten Lächeln. Vielleicht wird mir eine komplette Kompanie unterstellt. Oder man macht mich zum Befehlshaber der Leibgarde Alicias, wer weiß? Dieser letzte Gedanke hatte einen besonderen Reiz, denn es war kein Geheimnis, daß die Kommandantin ihr Bett mit dem derzeitigen Sicherheitschef teilte. »Gibt es schon Meldungen, wozu die Luftballons dienen?« Als Gerald das dumpfe Vibrieren in Franks Stimme hörte, verflüchtigten sich seine erotischen Visionen. »Nichts Genaues.« Auf der anderen Seite des Sees machte er die weißen Konturen des Hotels aus, in dem die Widerstandskämpfer ihr Versteck hatten. »Das Oberkommando nimmt an, es handelt sich um einen Versuch, Verwirrung zu stiften, vielleicht auch um eine Art Signal.« Mit einem leisen Summen glitten die Shuttles über die Wasserfläche. Als sie das Ufer erreichten, betätigte Gerald einige Tasten, und die Kampfeinheit sank zu Boden. Zusammen mit den anderen landete sie auf einem leeren Parkplatz hinter dem Hotel. »Gruppe Rot – das Hauptgebäude…«, sagte Gerald, nachdem er erneut die interne Kommunikation eingeschaltet hatte. »Gruppe Blau – nehmen Sie sich die zehn kleinen Häuser am See vor. Die Logistikeinrichtungen befinden sich im fünften. Unser Gegner darf auf keinen Fall die Möglichkeit erhalten, eine Nachricht zu senden.« Ein weiterer Tastendruck, und das Außenschott öffnete sich. Dutzende von Stiefeln kratzten über den Boden. Gerald drehte sich um und nickte Frank zu. Gemeinsam folgten sie den fünfzig bewaffneten Soldaten, die nach draußen sprangen und sofort in Stellung gingen.
Weitere Gestalten in roten Uniformen kamen aus den anderen Shuttles hervor. Innerhalb weniger Augenblicke bildeten sich zwei Gruppen: Die eine rückte in Richtung auf das Hauptgebäude vor, und die andere wandte sich den weißen Bungalows am Ufer zu. »Es sind nicht einmal Wächter postiert«, bemerkte Frank und sah Gerald an. »Vermutlich schlafen sie noch. Ich glaube, unserem Sieg steht nichts im Wege.« Nicht unserem – meinem. Gerald stellte sich vor, wie er Alicia küßte, und er glaubte bereits, ihren kühlen, geschmeidigen Leib zu spüren – ihren wirklichen Körper, der nicht mehr von einer menschlichen Maske verhüllt war. Ich hätte nicht gedacht, daß es so einfach ist! Langsam ließ er seinen Blick über die unbewegte Landschaft schweifen. Nichts rührte sich; alles blieb still. Nein, so einfach nicht. »Procaptain«, ertönte eine Stimme aus dem kleinen Empfänger, der in Geralds linkem Ohr steckte. »Hier spricht Gruppenführer Rot. Wir sind im Erdgeschoß. Bisher keine Feindberührung.« »Keine Feindberührung?« Unter dem fast völlig schwarzen Helmvisier weiteten sich Geralds Augen. »Unmöglich! Gestern wimmelte es im Hotel von Widerstandskämpfern. Es müssen über dreihundert gewesen sein…« »Gruppenführer Blau meldet, daß die ersten beiden Bungalows leer sind«, berichtete Frank. »Leer?« Tiefe Furchen bildeten sich in Geralds Stirn. »Aber wie…« Er unterbrach sich, holte tief Luft und kämpfte gegen die Panik an, die seine Selbstbeherrschung bedrohte. »Frank, ich möchte mir die Häuser selbst ansehen.« Als sie sich dem Ufer des Sees näherten, knackte es erneut in Geralds Ohrempfänger, und der Gruppenführer Rot teilte ihm mit, es hielte sich nicht ein einziger Mensch im Hotel auf. Die Nervosität des Procaptains nahm zu. Aus irgendeinem Grund
waren die Widerstandskämpfer aus ihrem Hauptquartier geflohen. Warum? Verdammt! Habe ich etwas übersehen, einen Fehler gemacht? Als Gerald und Frank auf den ersten Bungalow zugingen, beendete ein lautes Knallen die morgendliche Stille – die Entladung einer Projektilwaffe. Unmittelbar darauf zischten und fauchten die Energieschleudern der Visitor-Soldaten. Gerald drehte sich um und beobachtete, wie vier rotgekleidete Gestalten zu Boden sanken. Orangefarbenes und rotes Feuer flammte aus den Fenstern des fünften Gebäudes – aus dem Haus, in dem die Kommunikationsgeräte der Widerstandsgruppe installiert waren. Erneut ertönte das hämmernde Pochen einer Maschinenpistole. Drei weitere Soldaten starben, und die anderen wichen zur Seite und machten Anstalten, in Deckung zu gehen. »Nein!« übertönte Geralds Stimme den Lärm. »Greift das Haus an! Rückt vor! Rückt vor! Überwältigt den Feind!« Hundertsiebzehn schwarze Gewehrläufe richteten sich auf den weißen Bungalow. Blaue Energieblitze zuckten aus den Mündungen, und die Glut raste durch die geöffneten Fenster. Schmerzensschreie wurden laut – diesmal stammten sie aus menschlichen Kehlen. Weitere Schüsse peitschten und töteten acht Visitors. Und wieder bestand die Antwort aus dem Fauchen der Strahler. Kurz darauf herrschte Stille. Gerald hob den Arm, und die Soldaten stellten das Feuer ein. Der Procaptain neigte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen und lauschte, und als alles ruhig blieb, ließ er die Hand sinken. Die Visitors rückten auf das Haus vor, und Gerald und Frank folgten den Kämpfern. Als sie sich in unmittelbarer Nähe des Bungalows befanden, sprangen fünf Soldaten vor, verwandelten die Tür mit Hilfe ihrer Waffen in graue Asche
und stürmten ins Innere des Gebäudes. Einige Sekunden verstrichen, und dann kehrte einer von ihnen zurück und winkte: Alles in Ordnung; keine Gefahr. »Gruppenführer Blau«, sagte Gerald und ging mit Frank zusammen weiter. »Kontrollieren Sie die anderen Bungalows.« In den drei kleinen Räumen lagen die Leichen von acht Männern und Frauen, die während des sinnlosen Versuchs gestorben waren, das Haus zu verteidigen. Narren! Warum haben sie sich nicht ergeben? Sie mußten doch wissen, daß sie keine Chance gegen uns hatten. »Das Funkgerät ist zerstört.« Frank deutete auf einen Klumpen aus geschmolzenem Metall in der einen Ecke des Wohnzimmers. »Bestimmt konnten sie niemanden mehr vor dem Angriff warnen.« Gerald nickte, obgleich sich Zweifel in ihm regten und mit brodelndem Zorn verbanden. Wo sind die menschlichen Kämpfer? Gestern hielten sich hier noch mehr als dreihundert auf. Blieben nur acht zurück? Weshalb? Es ist wohl kaum ein glorreicher Sieg, lächerliche acht Gegner außer Gefecht gesetzt zu haben… »Procaptain, Sie sollten sich einmal ansehen, was wir im letzten Bungalow gefunden haben«, klang die Stimme des Gruppenführers Blau aus dem Ohrempfänger. Gerald gab keine Antwort, winkte Frank zu und schritt an den kleinen Gebäuden entlang. Der Leiter der Einheit Blau und drei seiner Soldaten schoben gerade zwei große Pappkartons durch die Tür nach draußen. »Was haben Sie entdeckt?« fragte Gerald, als er heran war. »Ich bin mir nicht sicher.« Der Gruppenführer schüttelte den Kopf. »Zuerst fand ich das hier.« Gerald nahm die beiden Kunststoffbeutel entgegen, die ihm der Soldat reichte. Jeder enthielt weiße Pillen, die etwa zweimal so groß waren wie die bei den Menschen
gebräuchlichen Aspirin-Tabletten. Gerald drehte die Beutel hin und her und wurde auf ein Etikett aufmerksam. »ANTITOXIN«, las er, »100 STÜCK.« »Um was mag es sich dabei handeln?« erkundigte sich Frank. Gerald runzelte die Stirn und richtete seinen Blick wieder auf den Sergeant. »Was gibt es sonst noch?« »Das hier.« Der Gruppenführer deutete auf die beiden Kartons. »Das Haus ist voll davon.« Die Furchen in Geralds Stirn vertieften sich. In den Behältern lagen Plastiktüten mit einem rötlichen Pulver. Es sah aus wie getrocknetes Menschenblut. Und auf den Klebeschildern stand nur: »V-STAUB.« »Seltsam«, brummte Frank und nahm eine der Tüten zur Hand. »Vielleicht ein Nahrungskonzentrat?« Er öffnete den kleinen Beutel und schob den Zeigefinger hinein. Als er ihn wieder hervorzog, haftete ein Teil des Pulvers an seinem Handschuh. Gerald gab den Soldaten die Anweisung, zu den Shuttles zurückzukehren und dort Aufstellung zu nehmen. Währenddessen klappte Frank das Helmvisier hoch, nahm die Gasmaske ab und schnupperte an der roten Substanz. »Riecht nicht gerade appetitanregend.« Eine geteilte Zunge zuckte zwischen seinen Lippen hervor und berührte das Pulver. »Und es schmeckt noch schlimmer. Wie können Menschen ein so widerwärtiges Zeug zu sich nehmen? Aber ich glaube, in dieser Hinsicht brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, solange… Aarghh!« Gerald drehte den Kopf, als er das Keuchen vernahm, und erstaunt beobachtete er, wie Frank die Tüte fallen ließ, mit beiden Händen nach dem Kragen seiner Uniform griff und ihn aufriß.
»Ich kriege… keine Luft mehr«, stöhnte der Visitor. »Das Pulver… das Pulver…« Er krümmte sich zusammen. Krämpfe ließen ihn zittern, und er sank auf die Knie. »Frank!« Gerald machte ein paar Schritte, um seinem früheren Vorgesetzten zu helfen. Der Offizier hob die rechte Hand und winkte ihn zurück. »Das Pulver. Es ist… Gift. Kommen Sie mir… nicht zu nahe.« Gift? – Geralds Gedanken rasten. Gift… Toxin… Antitoxin… Rasch wich er zurück, senkte den Blick und starrte auf die beiden Beutel mit den weißen Tabletten. Innerhalb von wenigen Sekundenbruchteilen schloß sich die logische Kette. Zwar waren die Visitors an Bord der großen Mutterschiffe gegen alle irdischen Krankheiten immunisiert worden, doch es war denkbar, daß die Menschen ein neues Virus entdeckt hatten, das nur den Außerirdischen gefährlich werden konnte. Die Folgerung lag auf der Hand: Bei der Geheimwaffe handelte es sich um das rote Pulver, das die Widerstandskämpfer sinnigerweise »V-Staub« nannten! Und in den beiden Beuteln… das Antitoxin, mit dem die Angehörigen der Fünften Kolonne geschützt werden sollten, die den Menschen halfen. Geralds Herz pochte schneller und pumpte grünes Blut durch seine Adern. Er verstand nun alles – und hegte an seinen Schlußfolgerungen nicht mehr den geringsten Zweifel. »Bleibt von ihm weg!« befahl er den Soldaten, während er einen der beiden Beutel aufriß. »Die Menschen haben ein Gift entwickelt, das nur auf uns wirkt. Brennt das Haus nieder! Verbrennt sowohl die Kartons als auch Franks Leiche!« Die Bewaffneten reagierten sofort, richteten ihre Waffen auf den Bungalow und feuerten. Schon nach wenigen Sekunden ging das Haus in Flammen auf. Gerald zog die Gasmaske vom Gesicht und schob sich eine der Tabletten in den Mund.
Unterdessen verwandelten blauweiße Energieblitze Frank und die Behälter mit den Pulver-Tüten in Asche. »Sergeant«, wandte sich Gerald an den Gruppenführer Blau. »Nehmen Sie diese Pillen und verteilen Sie sie an Ihre Leute. Anschließend sollen sie in die Shuttles zurückkehren.« Gerald warf dem brennenden Gebäude noch einen letzten Blick zu, und dann lief er zu seiner eigenen Kampffähre. Noch war es nicht zu spät. Noch konnte er einen wichtigen Sieg erringen. Den rund zweihundert Einsatzsoldaten, die zu seinem Kommando gehörten und durch das Antitoxin geschützt waren, mochte es gelingen, den kurz bevorstehenden Angriff auf das Visitor-Hauptquartier in Chicago abzuwehren. Die Beförderung und der Platz in Alicias Bett – diese beiden Ziele waren noch nicht in unerreichbare Ferne gerückt. »Zurück in die Shuttles!« rief er erneut, bevor er selbst einstieg und im Pilotensessel Platz nahm. In rascher Folge betätigte er einige Tasten und stellte eine Verbindung zum Mutterschiff her. »Hier spricht Procaptain Gerald. Ich habe gerade ein Lager entdeckt und zerstört, das hochgiftige Substanzen enthielt, mit denen der Widerstand…« »Zu spät, Gerald!« unterbrach ihn Alicias Stimme. »Unsere Sicherheitsstreitkräfte in Chicago sind dem Toxin zum Opfer gefallen.« Gerald hörte voller Entsetzen zu, als die Kommandantin schilderte, was unterdessen in der Stadt geschehen war. »Alle noch mobilen Kampfeinheiten werden angewiesen, unverzüglich an Bord des Mutterschiffes zurückzukehren«, schloß Alicia. »Der Oberste Kommandeur John hat den Rückzug aus der irdischen Atmosphäre befohlen.« »Aber… aber meine Leute und ich… wir sind immun«, stammelte Gerald, und seine Traumbilder von Ruhm und Macht lösten sich schlagartig auf. »Wir können innerhalb weniger Minuten in Chicago sein und zuschlagen. Ich…«
»Sofortiger Abbruch aller Aktionen und Rückkehr ins Mutterschiff!« sagte Alicia scharf. »So lautet die Order.« Ein plötzliches Knacken beendete den Komkontakt. Gerald schlug mit der Faust auf die Armlehne des Sessels und stieß einige zischende Flüche in seiner Muttersprache aus. »Die Soldaten befinden sich alle in den Shuttles«, erklang es aus seinem Ohrempfänger. Gerald setzte sich auf und streckte die Hände nach den Kontrollen aus. Unverzügliche Rückkehr an Bord des Mutterschiffes – er begriff, daß ihm gar keine andere Wahl blieb, als sich an die Anweisung zu halten. An diesem Morgen waren ihm schon zu viele Fehler unterlaufen, und er wollte seine Lage nicht noch verschlimmern. »Bereiten Sie sich auf den Start vor«, sagte er ins Mikrofon der internen Kommunikation und wartete dreißig Sekunden, bevor er das Shuttle aufsteigen ließ und es in Richtung auf die gewaltige silberblaue Scheibe steuerte, die über Chicago schwebte. Eine Stunde später setzten sich die fünfzig Mutterschiffe der Visitors in Bewegung, verließen die irdische Lufthülle und tauchten in die Schwärze des Weltraums. Weit unten blieben jubelnde Menschenmassen zurück. Die Menschheit hatte den ersten Feind aus dem All besiegt – mit einem Kinderspielzeug, das roten Staub gen Himmel trug.
2. Kapitel
Samuel Walker band sich ein rasiermesserscharfes Stilett an der rechten Wade fest und rollte das Hosenbein hinab, um die Waffe zu verbergen. Anschließend schob er einen Revolver vom Kaliber 32 in das vorbereitete Holster hinten am Gürtel. Er streifte sich einen schwarzen Pullover über den Kopf und zog ihn ganz herunter, so daß der Stoff die 32er bedeckte. Dann griff er nach einem schwarzen Riemen, an dem zwei weitere Waffen baumelten: eine 45er Automatik und ein sieben Zoll langes Jagdmesser. Der Revolver und das Stilett stellten gewissermaßen seine Reserve dar. Anschließend betrachtete sich Walker in einem gezackten Spiegelsplitter, der an einer kahlen Holzwand hing. Er schürzte die Lippen und schüttelte skeptisch den Kopf. Man hätte meinen können, er sei eine der Figuren aus Alfred Hitchcocks… Der Titel des Films fiel ihm nicht ein. Sam erinnerte sich nur noch daran, daß Cary Grant einen Juwelendieb gespielt hatte, der in… Nizza sein Unwesen trieb und sich in Grace Kelly verliebte. Das liegt daran, daß du dich dauernd in diesem verdammten Loch verkriechst, Sam Walker, sagte er sich. Du vergißt allmählich, wie es in der wirklichen Welt zugeht. Gleichmütig zuckte er mit den Schultern, und als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf zwei große, nackte Brüste: Kathleen Wagner zog sich gerade ebenfalls einen schwarzen Pullover über den Kopf; dessen unterer Rand schob sich erst über den aufgerichteten Brustwarzen zusammen, bevor der dunkle Stoff ihren schlanken Oberkörper verhüllte.
»Hör auf zu grinsen, mein Lieber. Und mach den Mund zu. Sonst fängst du noch an zu sabbern.« Kathleens nußfarbene Augen musterten ihn amüsiert. »Wir sind jetzt sechs Monate zusammen. Du hattest also Zeit genug, dich an meinen Anblick zu gewöhnen.« Walker zog Kathleen zu sich heran und wollte sie auf die Wange küssen. Statt dessen aber trafen seine Lippen ihren Mund, und ihre Zunge tastete seiner entgegen. Ihre Leidenschaft erstaunte ihn. Immerhin hatten sie sich gerade zwei Stunden lang geliebt. »Mhm«, schnurrte Kathleen, als sie langsam zurücktrat. »Das reicht jetzt – sonst kommen wir überhaupt nicht mehr zum Einkaufen.« Ein leichtes Lächeln umspielte Walkers Lippen. Er griff nach einem zweiten schwarzen Riemen, an dem ebenfalls eine 45 er und ein Jagdmesser befestigt waren, und reichte ihn Kathleen. Er kannte ihre Neigung, beschönigende Ausdrücke zu verwenden. Sie wohnten in einem kleinen Verschlag, der zum Stallbereich des verlassenen Arlington Park Race Track gehörte. Sie waren schwerer bewaffnet als Walker während seiner Zeit in Vietnam, und sie hatten vor, durch die Nacht zu schleichen und sich in den leeren Supermärkten zu besorgen, was sie brauchten – was Kathleen als Einkaufen bezeichnete. Sie band sich den Riemen um und ging dann zu den drei Kerzen hinüber, die auf einer Feldkiste brannten. Einkaufen! Walkers Lächeln wurde immer breiter, als er sich der Tür näherte. Manchmal war es nur Kathleens besonderer Sinn für Humor, der ihn davor bewahrte überzuschnappen. Sie wartete sein Zeichen ab, bevor sie die drei Kerzen löschte. Die Tür durfte nur dann geöffnet werden, wenn es in ihrer Unterkunft völlig dunkel war – eine Vorsichtsmaßnahme, die Kathleen stillschweigend akzeptiert hatte.
»Wohin geht’s heute abend?« flüsterte sie, als sie sich an Walker vorbei nach draußen schob. »Wie ich hörte, gibt es drüben in Palantine ein neues Restaurant. Wie wär’s damit?« »Wir überqueren den Northwest Highway, statten dem Supermarkt einen Besuch ab und kehren so schnell wie möglich hierher zurück.« Walker nahm zwei große Leinentaschen zur Hand und reichte Kathleen eine davon. »Ich hatte gehofft, wir könnten uns auch in der Bücherei umsehen. Ich bin inzwischen ganz in die MacDonalds Geschichten von Travis McGee vernarrt.« »Ich schätze, heute abend müssen wir uns mit dem Zeitungsstand im Supermarkt begnügen«, erwiderte Walker. Er verließ den Stall ebenfalls. Das perlmuttene Licht des Vollmondes fiel auf den Rennplatz. »Seltsam: Ich werde dieses komische Gefühl einfach nicht los…« Er legte den Kopf in den Nacken und sah in die Höhe. Dies war bereits die fünfte Nacht, in der sich vor dem Glanz der Sterne nicht mehr die gewaltige diskusförmige Masse des Visitor-Mutterschiffes zeigte. Während all der Monate, die Walker nun bereits in diesem Vorort von Chicago festsaß, hatte sich das riesige Raumschiff der Außerirdischen nur zweimal entfernt – jeweils für eine einzige Nacht. Der Anblick der kolossalen Masse, die über der Stadt schwebte, weckte zwar ständiges Unbehagen in ihm, doch der Umstand, daß es keine Erklärung für ihr Verschwinden gab, machte ihn nur noch nervöser. »Was hältst du davon, wenn wir Batterien für das Radio holen?« Kathleen wandte den Blick vom leeren Himmel ab und sah Sam an. »Kann sicher nicht schaden.« Walker setzte sich in Bewegung und schritt an den leeren Ställen entlang, in denen einmal einige der besten Rennpferde des ganzen Landes
untergebracht gewesen waren. »Aber ich bezweifle, ob wir etwas Wichtiges in Erfahrung bringen können.« Alle Nachrichten wurden von den Invasoren zensiert und der Öffentlichkeit anschließend von Kristine Walsh präsentiert, der offiziellen menschlichen Sprecherin der Visitors. Aus diesem Grund lag Kathleens Transistorradio schon seit vielen Wochen in einer Ecke ihres Verstecks. »Vielleicht… haben sie Chicago leergeräumt und sind weitergezogen, um sich eine andere Stadt vorzunehmen?« Mit zitternden Fingern griff Kathleen nach Sams Hand. »Sie sind schnell – aber nicht so schnell.« Walker versuchte vergeblich, seine Stimme fest und zuversichtlich klingen zu lassen. Kathleen und er wußten, wie rasch die Außerirdischen die Bevölkerung ganzer Städte verschwinden lassen konnten – in dieser Hinsicht hatten sie beide einschlägige Erfahrungen sammeln können. Kathleen hatte sich in jener Nacht, als die Visitors Arlington Heights stürmten, in einem Keller verkrochen – und anschließend geglaubt, sie sei die einzige Überlebende in diesem Vorort von Chicago. Bis sie zwei Wochen später Walker fand, der sich in einem leerstehenden Lebensmittelgeschäft versteckt hatte. Von jenem Tag an machten sie aus der Not eine Tugend und blieben zusammen. Sieben Wochen später wurden sie ein Liebespaar. Seit damals war ein halbes Jahr verstrichen, und Walker sah in Kathleen jetzt so etwas wie eine Ehefrau – obgleich sie niemals über eine Heirat gesprochen hatten. Gewisse Dinge zwischen Mann und Frau, dachte er, brauchen nicht extra laut ausgesprochen zu werden. Es gab andere Bindungen als die, die man für gewöhnlich mit Dokumenten und Urkunden besiegelte, stärkere und dauerhaftere, die ihren Ursprung in Herz und Seele hatten.
»Janus hat lange nichts mehr von sich hören lassen.« Kathleen duckte sich unter dem Geländer weg, das eine kleinere Rennbahn vom Rest des Anwesens trennte. »Ob ihm etwas zugestoßen ist?« »Der alte Knacker kommt gut allein zurecht«, brummte Walker. »Um ihn brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.« Der sechzigjährige Janus Brodaski arbeitete als Späher für die Widerstandsbewegung in Chicago und beobachtete die Aktivitäten der Visitors in den nordwestlichen Vororten – ein bärbeißiger Veteran des polnischen Freiheitskampfes während des Zweiten Weltkrieges. Walker verdankte ihm sein Leben. Brodaski hatte ihn versteckt, nachdem Sams Versuch gescheitert war, durch das Sicherheitsnetz der Außerirdischen im Westen Palantines zu schlüpfen. »Das letzte Mal haben wir ihn vor neun Tagen gesehen.« In dem blassen Mondlicht konnte Walker deutlich sehen, wie Kathleen die Stirn runzelte. »Normalerweise setzt er sich doch alle drei Tage mit uns in Verbindung. Er war immer sehr pünktlich.« »Vielleicht bekam er von der Widerstandsbewegung einen neuen Auftrag.« Walker legte seiner Begleiterin kurz die Hand auf die Schulter. »Der alte Knabe ist nicht auf den Kopf gefallen. Und bestimmt gibt es Wichtigeres für ihn zu tun, als sich um Leute wie uns zu kümmern.« Kathleen gab keine Antwort, brachte die Absperrung auf der gegenüberliegenden Seite der Bahn hinter sich und ging an dem hohen Drahtzaun entlang, der das Gelände begrenzte. Nach zweihundert Metern verharrte sie neben einem leeren Entwässerungsgraben und blickte sich argwöhnisch um. Als sie sicher war, daß keine Gefahr drohte, sprang sie in den Graben und kroch durch die Lücke zwischen Zaun und Boden. Wie sehr sie sich in einigen wenigen Monaten verändert hat, dachte Walker, als er sah, wie sich Kathleen auf der anderen
Seite des Zauns aufrichtete und erneut die Umgebung beobachtete. Sie wies nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit der ängstlichen Anwaltsgehilfin auf, die er vor einem halben Jahr kennengelernt hatte. Er grinste unwillkürlich, als er ihr folgte. Der Überlebenskampf hat sie abgehärtet, fügte er in Gedanken hinzu. Heute braucht sie meine Hilfe nicht mehr. Aber es gab auch noch einen anderen Grund für die Veränderung in ihrem Aussehen und Verhalten, und bei dem Gedanken daran krampfte sich etwas in Walkers Magengrube zusammen. Kathleen war schwanger. Sie hatte bereits zweimal vergeblich auf ihre Periode gewartet. Die Freude, mit der Walker auf diese Mitteilung reagierte, war nur zum Teil gespielt. Ein Kind – davon träumte er schon lange. Aber nicht jetzt, nicht ausgerechnet jetzt! Walker versuchte vergeblich, seine Zweifel zu verdrängen. Eine Welt, die von Fremden aus einem anderen Sonnensystem beherrscht wurde, von Reptilien, die nach menschlichem Fleisch gierten… Was für ein Leben mochte ihren Sohn oder ihre Tochter erwarten? Ein Kind brauchte Wärme und Sonnenschein, um aufzuwachsen, Freiheit und Liebe. Außerdem gab es in diesem Zusammenhang noch ein anderes sehr unmittelbares Problem: Sie hatten keine Möglichkeit, mit einem Säugling in dem Stall zu leben, der ihnen als Versteck diente. Babies weinen – ganz gleich, wie sehr sich ihre Eltern um sie kümmern. Und irgendwann würde jemand auf das Wimmern und Schluchzen aufmerksam werden. »Und ich kann dich wirklich nicht dazu überreden, einen Ausflug in die Stadt zu unternehmen?« Kathleen drehte sich zu ihm um, als sie den Northwest Highway erreichten. »Nein. Wir beschränken uns auf den Supermarkt.« In Sams Stimme ließ sich eine Schärfe vernehmen, die aber nicht Kathleen galt. Sein Zorn richtete sich gegen die Bedingungen,
die ihn daran hinderten, ein normales Leben als Ehemann und Vater zu führen. Sie waren wie zwei schwarze Schatten, kaum sichtbar in der Dunkelheit der Nacht, als sie über die breite Straße rannten und sich hinter die Büsche und Sträucher duckten, die in der Nähe eines verlassenen Fast-Food-Restaurants wuchsen. Sie sahen sich aufmerksam um, und als weiterhin alles still blieb, setzten sie den Weg nach Westen fort, an einer Tankstelle und dem Bürogebäude einer Versicherung vorbei. Veränderungen – immer nur Veränderungen! Nichts bleibt so, wie es ist. Nichts! Walker konnte schwer mit der Verbitterung fertig werden, die in ihm steckte. Sein Leben war ständig durch Ereignisse verändert worden, auf die er keinen Einfluß hatte. Uncle Sam sorgte für den ersten Schicksalsschlag, als er gerade erst achtzehn Jahre alt war – mit einem Einberufungsbefehl. Er mußte sein Studium gleich zu Anfang wieder abbrechen und seine Bücher gegen den Steuerknüppel eines Helikopters eintauschen. Irgendwie gelang es ihm, in Vietnam zu überleben, er hatte wohl mehr Glück als viele andere. Im Jahre 1975 erinnerte sich Uncle Sam erneut an ihn, holte ihn über den Pazifik und zwang ihn dazu, einen neuerlichen Überlebenskampf zu führen – diesmal in einem Land, das er bis dahin für seine Heimat gehalten hatte, das aber mindestens ebenso gefährlich war wie die Reisfelder am Mekong. Allerdings gab man ihm diesmal weder einen Hubschrauber noch eine M16. Kam nicht sonderlich gut mit dem Job zurecht, dachte Walker und verzog das Gesicht, als er sich an die Jahre der Wanderschaft von einer Stadt zur anderen erinnerte, ohne daß es ihm gelang, Ordnung in sein Leben zu bringen.
Als er in Los Angeles eintraf, wußte er zwar nicht so recht, was er an der Westküste sollte, fand aber eine Anstellung als Pilot und flog erneut einen Helikopter – diesmal für ein kommerzielles Lufttaxi-Unternehmen. Damit erfolgte eine weitere wichtige Veränderung in seiner Existenz, und diesmal kam er wieder zur Ruhe. Er fand sogar Gelegenheit, die Abendschule zu besuchen und sein Elektrotechnik-Studium abzuschließen. Eine Woche nach der Promotion trafen die Visitors mit ihren riesigen Raumschiffen ein, und Walker reagierte aufgeregt und begeistert wie die meisten anderen Menschen auf die Ankunft der angeblichen Freunde von den Sternen. Ihr Wissen mochte in der irdischen Gesellschaft die Veränderungen bewirken, die schon seit Jahrhunderten auf sich warten ließen. Kurze Zeit später fuhr er wegen eines Vorstellungsgesprächs nach Chicago. Aus der neuen Arbeit wurde nichts, und während er seinen Kummer mit einem Sechserpack Bier hinunterzuspülen versuchte, sah er die erste Fernsehsendung, bei der es um die »Verschwörung der Wissenschaftler« gegen die Visitors ging. Gerüchte über einen bevorstehenden Angriff auf die außerirdischen Besucher dienten als Vorwand, die Flughäfen zu schließen und nur noch »offizielle« Flüge zuzulassen. Aus den gleichen Sicherheitsgründen wurde der Eisenbahn- und Bus-Verkehr eingeschränkt. Erst als Walker einen Wagen mietete, um damit nach Los Angeles zurückzukehren, wurde er sich des vollen Ausmaßes der Visitor-Kontrolle bewußt. Alle Verbindungswege nach Chicago waren blockiert. Innerhalb weniger Wochen hatten die Außerirdischen die Metropole völlig abgeriegelt. Fünfmal versuchte er, durch die Maschen des Abschirmnetzes zu schlüpfen und die Stadt zu Fuß zu verlassen. Es war ganz einfach, aus dem Stadtzentrum in die leeren Vororte zu gelangen – die Bürger Chicagos ignorierten
die Tatsache, daß die Bewohner der Satellitensiedlungen über Nacht verschwunden waren. Doch am Rande der Stadt traf Walker auf eine unüberwindliche Barriere aus Soldaten in roten Uniformen. Die Visitors hatten Chicago vom Rest der Welt isoliert. Beim letzten Versuch, den Kordon zu durchbrechen, wurde Walker entdeckt. Die Visitors verfolgten ihn, doch Janus Brodaski kam ihm zu Hilfe und ermöglichte ihm die Flucht, erst durch ein altes Lager und dann durch einen unterirdischen Wartungstunnel. Janus versuchte, ihn für die Widerstandsbewegung zu gewinnen, aber Walker lehnte ab und versteckte sich in einem Pferdestall des verlassenen Arlington Parks. Er hatte bereits einen sinnlosen Krieg für seine Heimat geführt und wollte diesen Fehler nicht wiederholen. Er hielt es für besser, einfach abzuwarten, bis alles wieder ins Lot käme. Ins Lot. Walker schüttelte den Kopf. Kathleens Schwangerschaft führte zu einer weiteren Zuspitzung ihrer Lage. Wenn sie überleben und das Kind großziehen wollten, das nun in Kathleens Bauch wuchs, mußten sie die Absperrung der Visitors überwinden und in die relative Sicherheit des Hinterlandes gelangen. Und um das zu bewerkstelligen, brauchten sie Janus. Die Widerstandskämpfer kannten Schleichwege, um die Wachtposten der Außerirdischen unbemerkt zu passieren. Janus konnte ihnen bestimmt einen sicheren Weg zeigen. Wäre er doch nur hier. »Ich glaube, die Luft ist rein.« Kathleens Stimme unterbrach seine Gedankengänge. Er sah um die Ecke einer alten Autowaschanlage und blickte über einen großen Parkplatz. Nichts. Nirgends zeigte sich die Silhouette eines Kampfshuttles der Visitors.
Einmal war eine Einsatzgruppe der Fremden eine ganze Woche lang in unmittelbarer Nähe des Supermarktes stationiert gewesen, um Leute wie Walker und Kathleen zu stellen, Versprengte, die es bisher geschafft hatten, den Suchpatrouillen zu entgehen. Und manchmal schwebte zum gleichen Zweck ein Shuttle mit ausgeschalteten Positionslichtern über dem Gebäude. Sicher wußten die Reptilien, daß sich Menschen in der Nähe versteckten, und aus diesem Grund vermied er jedes Risiko. Es gab mehrere Supermärkte im nächsten Umkreis, und wenn sie auf Visitor-Wächter stießen, machten sie einfach kehrt und nahmen sich einen anderen vor. »Alles klar«, sagte Walker, als er in die Schatten zurückwich. »Bist du bereit?« Kathleen nickte und lief an Sams Seite über den Parkplatz. Sie hielten erst inne, als sie die Wand des Einkaufsmarktes erreicht hatten. Dort zögerten sie und blickten sich noch einmal um, bevor sie ein Fenster öffneten, ins Gebäude kletterten und durch den großen Lagerraum liefen. »Ich kümmere mich um Obst und Gemüse«, flüsterte Kathleen. »Du besorgst das Fleisch. In fünf Minuten treffen wir uns in der Elektroabteilung, wo wir sicher Batterien fürs Radio finden.« Bevor Sam noch eine Antwort geben konnte, huschte sie durch den rechten Gang davon. Er schlug die entgegengesetzte Richtung ein und verschwand nach links. Der Supermarkt gehörte zu den Geschäften, die während der Rezession der späten siebziger Jahre entstanden waren. Das Warenangebot bestand nur aus Konservendosen, und die meisten davon lagerten in großen Pappkartons. Der Mangel an frischen Lebensmitteln hatte einmal Walkers Abscheu erweckt, doch jetzt sah er das alles aus einer anderen Perspektive, denn
konservierte Nahrung konnte man auch noch nach langer Zeit genießen. In der Fleischabteilung holte er rasch verschiedene Dosen mit Thunfisch, Lachs, Geflügel und unterschiedlichen Fertiggerichten mit Kalbs-, Rind- und Schweinefleisch. Als die Tasche zur Hälfte gefüllt war, verließ er die Abteilung und suchte Kathleen. Er fand sie vor den Regalen mit den Elektroartikeln. »Welche Batterien eignen sich für das Radio?« fragte sie, als er näher kam. »Typ D oder C?« »Keine Ahnung«, brummte Sam. »Nimm einfach Packungen von beiden Sorten…« Seine geflüsterten Worte wurden von einer laut hallenden Stimme übertönt. »He, ihr Schleicher – ich weiß, daß ihr dort drin seid! Ihr braucht euch nicht mehr zu verstecken! Kommt raus, Schleicher! Kommt schon!« Walker und Kathleen dachten nicht mehr an die Batterien, als sie herumwirbelten und ihre automatischen 46er zogen. Die breite Eingangstür des Supermarktes stand weit offen, und der helle Lichtkegel einer Taschenlampe strich durch die Dunkelheit.
3. Kapitel
Seit dem Verlassen der jetzt fast neun Lichtjahre entfernten Heimatwelt war es Geralds sehnlichster Wunsch gewesen, mit Alicia in ihrem Privatquartier allein zu sein. Doch bei seinen Träumen hatte er sich eine Kommandantin vorgestellt, die nackt auf dem Bett neben ihm lag. Die Wirklichkeit unterschied sich kraß von allem, was er sich ausgemalt hatte: Unbehaglich steif stand er vor dem Schreibtisch der Kommandantin des Mutterschiffes, und Alicias kühles Interesse galt dem Computerdisplay, das die letzten Berichte der biologischen Forschungsabteilung projizierte. Aus den Bewegungen, mit denen sie sich das schulterlange blonde Haar ihrer menschlichen Maske zurückstrich, schloß Gerald, daß die Informationen nicht gerade für ihn sprachen. Er riskierte es, den Blick kurz von der Kommandantin abzuwenden und die Computergraphik auf dem Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand zu studieren. Die optischen Sensoren übermittelten ein deutliches Bild der Visitor-Flotte: fünfzig gewaltige Raumschiffe, die hinter dem irdischen Mond schwebten. Nur das Mutterschiff von Los Angeles hatte nicht die Atmosphäre der Erde verlassen. Dem verdammten Fernsehjournalisten Michael Donovan war es mit Hilfe des Visitor-Verräters Martin gelungen, jene Einheit unter Kontrolle zu bringen. Von der Kommandantin Diana lag bisher keine Nachricht vor. Wir verstecken uns, dachte Gerald bitter. Mehr noch: Wir sitzen fest. Durch das Bakteriengift, mit dem die Widerstandsbewegung die irdische Lufthülle für die Visitors
verseucht hatte, waren ihre Eroberungspläne blockiert. Und sie konnten auch nicht ins Sirius-System zurückkehren, denn dort wartete der Große Denker – und keiner der Flottenoffiziere wollte ihm den Fehlschlag der Mission eingestehen und sich dadurch seinen Zorn zuziehen. Gerald sah einen kleinen Lichtpunkt – ein Shuttle, das sich von der dicken Scheibe eines Mutterschiffes löste und ein anderes ansteuerte. In diesem Augenblick hätte er seine Rangabzeichen für die Möglichkeit gegeben, an Bord der Fähre zu wechseln und Alicias Quartier zu verlassen. »Procaptain Gerald«, zischte die Kommandantin, hob den Kopf und musterte ihn aus kalten blauen Augen, »aufgrund dieser Berichte hier gibt es eigentlich nur eine Strafe für Ihre unglaubliche Dummheit: Man sollte Sie aus der Schleuse stoßen – ohne Raumanzug.« Gerald schluckte unwillkürlich. Er hatte mit einer Degradierung gerechnet, damit, daß er für den Rest seines Lebens in den hydroponischen Anlagen des Schiffes als Schlammräumer arbeiten mußte. Doch Alicias Worte kamen einem Todesurteil gleich! »Sie haben Angst, nicht wahr? Ich rieche, daß Sie vor Furcht schwitzen. Und es ist die Art von Furcht, von der Sie sich während des Angriffes auf das Hauptquartier der Widerstandsgruppe beherrschen ließen!« Alicia benutzte die zischende, fauchende Sprache der Visitors. »Sie hielten die Waffe in der Hand, die uns den Sieg über die Rebellen ermöglicht hätte. Aber Ihr eigenes wertloses Leben war Ihnen wichtiger als die Mission – wichtiger als der Große Denker und die Rettung unseres Volkes, unserer Heimat!« »Ich habe das Antitoxin an meine Leute verteilen lassen.« Geralds Gedanken rasten, und verzweifelt versuchte er, überzeugende Gründe zu seiner Rechtfertigung vorzubringen. »Mit zweihundert immunen Einsatzsoldaten wäre ich in der
Lage gewesen, den Angriff der Menschen auf das Hauptquartier unserer Streitkräfte in Chicago zurückzuschlagen…« »Sie hatten Angst vor dem Tod, Sie Narr!« Alicia hieb mit der Faust auf den Schreibtisch. »Mit dem Inhalt der beiden Beutel hätten meine Wissenschaftler das Gegenmittel analysieren und reproduzieren können! Mit nur einer einzigen Tablette wären wir imstande gewesen, binnen kurzer Zeit die Besatzungen aller Mutterschiffe zu immunisieren. Aber Ihre Todesangst hat alles ruiniert. Sie sind ein Feigling!« Gerald setzte zu einer Antwort an, doch daraus wurde nur ein heiseres Krächzen. Alicia deutete auf das elektronische Display. »Seit fünf Tagen arbeiten meine besten Biologen rund um die Uhr daran, das Antitoxin in den Stoffwechselsystemen Ihrer Leute zu isolieren. Die Versuche blieben nicht nur vergeblich, sondern führten inzwischen zum Tod von insgesamt sieben guten Soldaten. Befindet sich die fremde Substanz einmal in unserem Blutkreislauf, so lassen sich dort zwar Veränderungen beobachten, der Wirkstoff selbst aber bleibt unauffindbar.« Aus zusammengekniffenen Augen starrte sie Gerald an, und ihre Lippen waren nur noch ein dünner weißer Strich. »Einige meiner Ratgeber verlangen jetzt, daß Sie die Konsequenzen für Ihr Verhalten auf sich nehmen und sich freiwillig für die Antitoxin-Forschung zur Verfügung stellen sollten.« »Wenn das von mir verlangt wird…« Es fiel dem Procaptain schwer, diese Worte zu formulieren, und das Zittern in seiner Stimme ließ sich nicht überhören. »Es war nur mein Bestreben, dem Großen Denker zu dienen.« Alicia hörte schon gar nicht mehr hin. »Vielleicht ist trotz Ihres feigen Verhaltens noch nicht alles verloren. Wenn es den menschlichen Wissenschaftlern gelungen ist, ein Gegenmittel herzustellen, so sind auch unsere Spezialisten dazu fähig. Ich
bin sicher, eines Tages kehren wir zur Erde zurück, und dann gehört sie endgültig uns.« Die Kommandantin zögerte, drehte sich um und sah auf den großen Wandschirm. Lange Zeit beobachtete sie die Flotte der riesigen Raumschiffe, die über der erdabgewandten Seite des Mondes in der festgelegten Warteformation aufgereiht waren. »Ich habe nicht vor, einfach die Hände in den Schoß zu legen und auf jenen Tag zu warten«, fügte sie hinzu und richtete ihren Blick wieder auf Gerald. »Ich habe einen Plan, der uns die Rückkehr ermöglichen und die Anerkennung des Großen Denkers einbringen könnte. Einen Plan, der Ihnen die Chance gibt, sich zu rehabilitieren, Gerald.« »Ich bin bereit, Ihnen in jeder Hinsicht zu Diensten zu sein.« Seine Stimme überschlug sich fast, und sein Pulsschlag beschleunigte sich. Alicia bot ihm eine Alternative zum Tod. Und ganz gleich, was sie im Sinn hatte: Er wollte ihr Angebot in jedem Fall annehmen. »Es gibt noch immer Leute auf der Erde, die uns unterstützen.« Alicias Mundwinkel kamen in die Höhe und deuteten ein zufriedenes Lächeln an. »Selbst der Widerstandsbewegung in Chicago gehören Personen an, die uns helfen werden – Konvertierte. Ihre Aufgabe, Gerald, besteht darin, unsere irdischen Verbündeten zu sammeln. Sie und Ihre immunen Soldaten könnten einen wichtigen Beitrag zur Rückeroberung der Erde leisten.« Alicia winkte Gerald näher an den Schreibtisch heran, betätigte einige Tasten des Computerterminals und drehte den Monitor herum, so daß der Procaptain die Darstellung auf dem Bildschirm beobachten konnte. »Ich habe bereits Funkkontakt mit einem der Konvertierten in Chicago aufgenommen. Sie werden sich mit ihm treffen. Im Hangar eins wartet bereits ein Shuttle auf Sie. Nach der Einweisung brechen Sie sofort auf.«
Gerald hörte ihr aufmerksam zu und verbarg die Genugtuung, die nach und nach alle Reste von Furcht und Besorgnis aus ihm verdrängte. Alicia gab ihm nicht nur die Möglichkeit, der Hinrichtung zu entgehen; darüber hinaus bot sie ihm die Chance zu weiteren Beförderungen. Vielleicht ging sein Wunschtraum doch noch in Erfüllung…
4. Kapitel
Walker duckte sich an die Regale, um dem Lichtkegel zu entgehen, der in dem verlassenen Supermarkt hin und her wanderte. Mit seiner 45er Automatik zielte er auf die Tür am Ende des Ganges und wartete. Dicht neben ihm hockte Kathleen, starrte in die andere Richtung und hielt ihre Waffe ebenfalls einsatzbereit. »He, ihr kleinen Schleicher, ihr könnt rauskommen!« befahl wieder die laute Stimme. »Ihr braucht euch nicht mehr zu verstecken. Ich habe euch kommen sehen.« Walker wich einen Schritt zurück, beugte sich zu Kathleens Ohr und flüsterte ihr zu: »Vermutlich wimmelt es draußen jetzt überall von Reptilien. Wenn wir davonkommen wollen, haben wir von der Hintertür aus eine bessere Chance. Wir können es nicht schaffen, den großen Parkplatz vor dem Eingang zu überqueren.« »Nun kommt doch endlich, ihr Schleicher. Habt keine Angst. Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um Versteck zu spielen.« Als Walker sich der hinteren Tür zuwandte, streckte Kathleen plötzlich die Hand aus und hielt ihn fest. »Warte, Sam. Die Stimme… sie zischt und vibriert nicht. Ich glaube, wir haben es gar nicht mit einem Visitor zu tun.« Sie neigte den Kopf zur Seite und lauschte, als die donnernde Stimme noch einmal ertönte. »Verdammt, Sam: Ich schätze, es ist Janus.« »Janus?« Walker horchte und erinnerte sich daran, daß der alte polnische Freiheitskämpfer während der letzten Monate immer nur geflüstert und niemals in normalem Tonfall gesprochen hatte.
»Nun kommt schon, ihr Schleicher!« rief der Mann am Eingang. »Fürchtet ihr euch etwa? Die Echsen sind fort! Wir haben sie in die Flucht geschlagen!« Kathleen hatte recht – daran zweifelte Walker nun nicht mehr. Der Mann sprach mit einem leichten Akzent, den er kannte. Vorsichtig stand Sam auf, bereit, sofort wieder in Deckung zu gehen. »Janus? Sind Sie das?« »Wen, zum Teufel, haben Sie denn erwartet?« Der Lichtkegel bewegte sich und verharrte auf Walkers Gesicht. »Glauben Sie etwa, eins der Reptilien käme laut schreiend herein?« Ein metallisches Klicken – und das Licht erlosch. Das Geräusch von Schritten auf staubigem Boden. Janus Brodaski näherte sich ihnen, und kurz darauf sahen sie die vertraute Gestalt des Polen. Für einige wenige Sekunden schaltete er die Taschenlampe wieder ein, und diesmal fiel das Licht auf die Züge des sechzigjährigen Mannes. »Sie können von Glück sagen, daß Kathleen und ich Ihnen nicht ein paar Kugeln verpaßt haben«, sagte Walker, als der Beobachter der Widerstandsbewegung heran war. »Was fällt Ihnen ein, einfach so hereinzuplatzen? Und dann die verdammte Taschenlampe! Sind Sie übergeschnappt? Mit dem Licht hätten Sie die Visitors auf uns aufmerksam machen können…« »Die Visitors?« Janus hob die Hand und schob sich die fleckige Baseballmütze zurück. Einige Strähnen schlohweißen Haares ragten darunter hervor. »Verstehen Sie denn noch immer nicht? Ich sagte, die verdammten Echsen sind weg! Wir haben sie mit dem V-Staub vertrieben! Ach, Sie hätten es sehen sollen. Tausende von Luftballons, die gen Himmel stiegen, gefüllt mit Bakterien, die bei den Reptilien innerhalb kurzer Zeit zum Tod führen. Meine Güte, war das ein Anblick! Davon können wir noch unseren Enkeln erzählen…«
»Weg?« Kathleen starrte Janus ungläubig an. »Die Visitors sind weg?« »Schon seit fünf Tagen.« Janus grinste von einem Ohr zum anderen. »Ist euch denn nicht aufgefallen, daß das Mutterschiff nicht mehr über Chicago schwebt? Und es wird auch nicht zurückkehren. Wir haben so viel Echsengift in der Atmosphäre freigesetzt, daß sie für immer die Finger von der Erde lassen müssen!« »Sie sind fort!« Kathleen umarmte Walker, und Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Hast du gehört, Sam? Sie sind geflohen. Geflohen!« Walker beobachtete, wie Kathleen zu zittern begann. Risse entstanden in der Maske, die sie seit Monaten trug. Er sah, wie sich unter der harten Schale einer entschlossenen Kämpferin plötzlich wieder ein Teil der Frau regte, die sie zuvor gewesen war. Er hielt sie fest und strich ihr übers Haar, während sie weiter schluchzte und die Tränen vergoß, die sie viel zu lange zurückgehalten hatte. »Sie hätten dabei sein sollen, Sam.« Janus ließ sich im Schneidersitz nieder, als sich Walker und Kathleen auf den Boden hockten, und er legte die Taschenlampe so hin, daß ihr Schein von den Batterien im Regal zurückgeworfen wurde. »Es war einfach prächtig! Die Visitors begriffen zu spät, was geschah.« Walker schlang die Arme um Kathleen und ignorierte die Anspielungen des alten Mannes. Janus hatte jede Gelegenheit genutzt, um auf Sams Ablehnung anzuspielen, sich der Chicagoer Widerstandsgruppe anzuschließen. Selbst jetzt war er noch davon überzeugt, daß Walker die falsche Entscheidung getroffen hatte. Sam berührte das nicht mehr. Die Schreckensherrschaft der Visitors – vorbei. Und Kathleen und er gehörten zu den Überlebenden!
»Gift… rotes Schlangengift – damit haben wir ihnen den Garaus gemacht«, fuhr Janus fort, und Walker erfuhr von der Entdeckung dieses Stoffes, seiner Wirkung und von seiner Verteilung, vor allem aber vom Einsatz des V-Staubs. »Ein Siegestag wie kein anderer zuvor! Wirklich schade, daß Sie das verpaßt haben.« »Was ist mit den anderen Städten und Ländern?« fragte Kathleen und rieb sich die Augen. »Haben alle Visitors die Flucht ergriffen?« »Ja, alle. Die verfluchten Echsen zogen ihre Schwänze ein und sind inzwischen auf dem Rückweg in ihre Heimat.« Janus’ Lächeln verschwand. »Aber auf der Welt, die sie zurückließen, gibt es ernste Probleme. Der Krieg ist nicht ohne Folgen für Chicago geblieben. Es wird geplündert. Chaos herrscht. Und vermutlich sieht es andernorts nicht besser aus.« »Vermutlich?« Walker hob die Augenbrauen. »Wir sind nicht ganz sicher.« Janus nestelte wieder an seiner Mütze. »Die Visitors haben die Kommunikationsverbindungen unterbrochen. Die meisten Satelliten sind nur noch Weltraumschrott. Sie wurden wohl zerstört, als die Echsen noch hier waren. Vielleicht auch bei der Flucht.« Er zuckte mit den Schultern. Walker nickte langsam. Die Vernichtung der Kommunikationssatelliten bedeutete, daß die elektronischen Nachrichtensysteme nur noch in Bruchteilen vorhanden waren. Das, was noch funktionierte, stand wahrscheinlich allein den Regierungszentren zur Verfügung. Vorausgesetzt, von ihnen war überhaupt noch etwas übriggeblieben, verbesserte sich Walker in Gedanken. »Paul Nordine hat alle Leute, die bis zum V-Tag mit ihm zusammenarbeiteten, zur Unterstützung der provisorischen Stadtverwaltung Chicagos herangezogen«, fügte Janus hinzu. »Wir halten sowohl die Kraft- als auch Wasserwerke in
Betrieb, doch es besteht das Problem, genügend Lebensmittel in die Stadt zu bringen. Das Transportsystem wurde von den Visitors kontrolliert. Es sind weder Züge noch Lastwagen unterwegs.« Walker atmete tief durch und versuchte, sich in Nordines Lage zu versetzen. Der Anführer der Widerstandsgruppe sah sich nun mit einer Aufgabe konfrontiert, die ebenso schwer sein mochte wie der Kampf gegen die außerirdischen Invasoren. Das Unterfangen, in einer Stadt von der Größe Chicagos die Ordnung wiederherzustellen, würde Nordine kaum mehr Zeit für andere Dinge lassen – zumal er als Klempner in dieser Hinsicht kaum Erfahrungen hatte. »Außerdem wird die Lage in den überfüllten Krankenhäusern kritisch«, sagte Janus. »Es fehlt an Medikamenten.« »Was ist mit all den Menschen, die an Bord der Mutterschiffe verschleppt wurden?« warf Walker ein. »Mit den Männern, Frauen und Kindern, in denen die Visitors nichts weiter sehen als nur Schlachtvieh?« »Sie befinden sich nach wie vor in den Lagerkammern der Raumschiffe.« Janus senkte den Blick, und seine Schultern zitterten kurz. »Es gab keine Möglichkeit, sie…« »Nein!« Entschlossen schüttelte Kathleen den Kopf. »Davon will ich nichts hören. Nicht jetzt, bitte. Heute abend sollten wir feiern. Die Visitors sind fort. Das genügt mir derzeit.« Janus lächelte wieder und nickte verständnisvoll. »Ja, Sie haben recht. Aber ich muß mich jetzt wieder auf den Weg machen.« »Wohin wollen Sie?« Kathleen sah zu ihm auf. »Können Sie nicht bleiben und mit uns auf den Sieg anstoßen?« »Nein, das geht nicht.« Aus Janus’ Lächeln wurde ein breites Grinsen, und er schüttelte den Kopf. »Es gibt noch andere Schleicher, die sich in ihren dunklen, schmutzigen Schlupfwinkeln verbergen und die gute Nachricht erfahren
sollten. Es wird Zeit, daß sie aufhören, wie Ratten zu leben und ans Tageslicht zurückkehren.« Er klopfte Walker auf die Schulter, drehte sich um und ging hinaus. Als er die Tür seines zitronengelben Ford Pinto öffnete, brummte er kurz, nahm hinter dem Steuer Platz und blickte noch einmal zu Sam und Kathleen zurück. »Feiert nur. Morgen komme ich zurück, und dann unterhalten wir uns in aller Ruhe. Wir brauchen Hilfe in der Stadt.« Sie sahen dem Wagen nach, der über den leeren Parkplatz rollte, den Northwest Highway erreichte und in Richtung Palantine fuhr. Als die Dunkelheit der Nacht den Ford verschluckt hatte, zog Walker Kathleen zu sich heran und küßte sie. »Janus meinte, wir sollten feiern«, hauchte Walker, als Kathleen den Kopf zurückneigte. »Irgendwelche Vorschläge?« »Auf dem Rückweg fällt mir bestimmt etwas ein.« Mit den Fingerspitzen berührte sie seine Wange und lächelte hintergründig. »Und wenn nicht… Nun, vielleicht hast du eine Idee.« Walker grinste, gab Kathleen einen zweiten Kuß und löste sich dann von ihr. »Warte hier. Ich bin gleich wieder da.« Im Laufschritt kehrte er in den dunklen Supermarkt zurück. »Sam?« rief Kathleen ihm nach. »Es dauert nur einen Augenblick. Ich hole rasch etwas für unsere Feier!« Zwei Minuten später trat er mit den beiden Leinenbeuteln, die sie im Verkaufsraum zurückgelassen hatten, wieder durch die Tür. Einen davon reichte er Kathleen, legte den Arm um ihre Hüfte und machte sich mit der Frau, die er liebte, auf den Rückweg zum Arlington Park. Nach einer Weile hob er den Blick und sah zum sternenbesetzten Himmel auf, als wolle er sich vergewissern, daß das riesige Mutterschiff der Visitors tatsächlich nicht mehr
über der Stadt schwebte. Verschwunden. Für immer! Langsam wurde ihm klar, daß Kathleen und er nun die Möglichkeit hatten, ein normales Leben zu führen. Ebenso wie unser Kind. Er lächelte und drückte Kathleen einige Sekunden lang an sich, bevor er sie losließ, damit sie unter dem Zaun hindurchkriechen konnte. Nein, der Sohn oder die Tochter Samuel Walkers wird im Sonnenschein aufwachsen, nicht in einem dunklen Pferdestall. Als er beobachtete, wie sich die Frau auf der anderen Seite der Drahtbarriere aufrichtete, fiel ihm ein, daß sie erst dann eine richtige Familie waren, wenn er eine ganz bestimmte Frage stellte – eine Frage, die zu Beginn des Abends sinnlos gewesen wäre. »Weißt du, was wir morgen machen sollten, wenn Janus zurückkehrt?« Er sprang ebenfalls in den Graben und schob sich auf die andere Seite des Zauns. »Wir fragen ihn nach einem Priester, der aus einer Sünderin wieder eine ehrbare Frau machen kann.« Kathleen drehte sich um und sah ihn überrascht an. »Ist das ein Antrag, Sam Walker?« »Ich würde sogar vor dir auf die Knie sinken, wenn mir das dein Ja-Wort einbrächte.« Er zog sie erneut an sich. »Glaubst du, daß du es die nächsten fünfzig Jahre mit jemandem wie mir aushalten kannst?« »Und ob!« antwortete sie und schmiegte sich an ihn. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn leidenschaftlich. Walker spürte Nässe auf ihren Wangen – Tränen des Glücks. Arm in Arm schritten sie an den Ställen entlang, und diesmal brauchten sie sich nicht mehr im Schatten zu halten. Es bestand keine Gefahr mehr. Als sie den ersten der beiden asphaltierten Wege erreichten, die den Stallbereich von der Rennbahn trennten, blieb Kathleen stehen und sah zur Tribüne
zurück. Nach kurzem Zögern drückte sie Walker ihren Beutel in die Hand. »Sam, vielleicht hört sich das dumm an, aber ich hätte gern Blumen für die Feier.« »Wenn du mir sagst, wo ich sie besorgen soll, mache ich mich sofort auf den Weg«, gab er zurück. »Aber ich glaube, in diesem Teil der Stadt sind nicht mehr viele Blumenläden geöffnet.« »Ich habe welche auf der Wiese dort drüben gesehen.« Sie deutete in die entsprechende Richtung und lächelte. »Bring du die Vorräte in den Stall. Ich stelle unterdessen den schönsten Blumenstrauß zusammen, den du je gesehen hast.« »Soll ich dich begleiten?« »Ich möchte deine Gefühle nicht verletzen, nicht ausgerechnet heute abend«, antwortete sie vorsichtig. »Aber ich würde gern eine Zeitlang mit jemand anders allein sein. Ich habe ihm für viele Dinge zu danken.« Walker nickte. »Leg ein gutes Wort für mich ein, wenn du zu ihm betest. Und denk daran: Tulpen mag ich besonders gern.« Das Licht des Vollmonds spiegelte sich kurz auf Kathleens weißen Zähnen wider. Dann wandte sie sich von ihm ab und eilte auf die Wiese zu. Walker sah ihr kurz nach, lächelte ebenfalls und setzte den Weg zu dem Stall fort, der ihnen seit einem halben Jahr als Unterkunft diente. Janus hatte recht: Es gab keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Sie würden in ein anderes Quartier wechseln, in eine richtige Wohnung ziehen. Neue Veränderungen kündigten sich an – aber zur Abwechslung einmal welche, die Sam Walker begrüßte. Im Innern des Stalls setzte er die beiden Beutel ab, zog einen kleinen Tisch in die Mitte des Raumes und bedeckte ihn mit einem bunten Tuch, das Kathleen in einem Stoffgeschäft entdeckt hatte. Er schnitt eine kurze Grimasse, als er zwei
Klappstühle zu beiden Seiten des Tisches aufstellte: kein besonders festliches Arrangement, aber besser als gar nichts. Seine Rückkehr in den Supermarkt hatte nicht nur den beiden Beuteln gegolten. Er griff in eine der Leinentaschen und holte zwei Duftkerzen und die passenden gläsernen Ständer hervor. Er preßte die Kerzen hinein und zündete sie mit einem Streichholz an. Anschließend stellte er eine Flasche Champagner auf den Tisch. Seit Monaten hatten Kathleen und er keinen Alkohol mehr zu sich genommen, und vermutlich war eine Flasche Sekt mehr als genug für sie beide. Einige Sekunden lang betrachtete Walker sein Werk, nickte zufrieden und trat in die Tür. Auf der Schwelle blieb er kurz stehen, die Daumen hinter den Gürtel gehakt. Als er die Waffen an dem schwarzen Riemen bemerkte, zuckte er kurz mit den Schultern, warf beide aufs Bett und legte auch den kleineren Revolver und das Stilett ab. Er lächelte ironisch, als er sich wieder der Tür zudrehte. Er fühlte sich genauso nackt, wie noch Wochen nach seiner Rückkehr aus Vietnam. Während der vergangenen Monate waren die Waffen Teil seiner Bekleidung geworden wie Hose und Pullover. Vielleicht traf das sogar in einem besonderen Maße zu, denn mit Flanell und Wolle ließ sich nichts gegen die zweibeinigen Echsen vom Sirius unternehmen. Und wenn das alles stimmte, was ihnen Janus von Chicago berichtet hatte, mochte es ratsam sein, die Waffen auch im Verlauf der nächsten Monate noch ständig zu tragen. Doch Walker verbannte diese trüben Gedanken und beschloß, erst am kommenden Tag damit zu beginnen, sich Sorgen um den Rest der Welt zu machen. An diesem speziellen Abend konnten sie durchaus auf automatische 45er und scharfe Messer verzichten.
Er trat nach draußen und schloß behutsam die Tür des Stalles – zum einen aus reiner Gewohnheit, zum anderen deswegen, weil Kathleen nicht sofort sehen sollte, welche Überraschung sie erwartete. Walker drehte sich um und schritt in Richtung der Tribüne und der sandigen Rennbahn, die davor ein langgestrecktes Oval bildete. Er hatte zwar nicht vor, Kathleen bei ihrem Gebet zu stören, er wollte aber am asphaltierten Weg auf sie warten und mit ihr zusammen zum Stall zurückkehren. Kathleen mit einem Blumenstrauß in der Hand… eine Kathleen, die ein langes Abendkleid trug und von der ein verlockender Duft ausging… Kathleen mit ihrem Kind in den Armen… Walker schüttelte den Kopf, während er an den Unterständen entlangwanderte. Die Bilder, die an seinem inneren Auge vorbeistrichen, zeigten ihm eine völlig andere Frau als die schwarzgekleidete Kämpferin, mit der er das letzte halbe Jahr verbracht hatte. Wir haben gerade erst begonnen, uns kennenzulernen, dachte er und preßte sich die Hand auf den rechten Kiefer, den plötzlich ein pochender Schmerz durchzog. Aber wir brauchen uns damit nicht zu beeilen. Es bleibt uns ein ganzes Leben lang Zeit. Er preßte seine Hand stärker auf die schmerzende Stelle und zuckte unwillkürlich zusammen. Das Pochen wurde zu einem Vibrieren, das nacheinander die Nerven verschiedener Zähne erfaßte. »Verdammt!« Walker blieb stehen und drückte auch mit der anderen Hand zu. Sein letzter Arztbesuch lag inzwischen ein Jahr zurück, aber selbst ein großes Loch in einem Zahn konnte keinen solchen Schmerz bewirken. Es fiel ihm jäh ein, daß er in Vietnam manchmal ein ähnliches Pochen verspürt hatte, ein Hämmern, das seine ganze Mundhöhle erfaßte – und der Grund dafür war ein gewisser Neigungswinkel der Rotorblätter eines
Helikopters, wodurch ein Vibrieren in einem ganz bestimmten Frequenzbereich entstand. Doch solche Erlebnisse lagen nun schon viele Jahre zurück. Ein ähnliches Gefühl… Walker erstarrte, und plötzlich schnürte ihm irgend etwas die Kehle zu. Ein solcher Schmerz hatte ihn auch an jenem Tag erschreckt, als die Visitors eintrafen und eines der großen Mutterschiffe über Los Angeles hinwegschwebte! Ruckartig hob er den Kopf. Er hatte damals eine ganze Woche gebraucht, um sich an das dumpfe Brummen zu gewöhnen, das der Gravitationsantrieb des riesigen Raumschiffes verursachte. Eiseskälte breitete sich in ihm aus. Dicht über den Schuppen und Ställen glitt ein Kampfshuttle der Außerirdischen dahin. Wie ein gewaltiges, flügelloses Insekt summte es durch die Nacht, und das Mondlicht rief matte Reflexe auf den weißen Flanken hervor. Wie ist das möglich? fuhr es Walker durch den Sinn. Das Toxin, der V-Staub – Janus hatte ihnen versichert, daß die Visitors geflohen, zu ihrer Heimatwelt zurückgekehrt waren! Er vergaß den pochenden Zahnschmerz und lief los. Er stürmte von einem Stall zum anderen, in die Richtung, in die das Shuttle der Fremden geflogen war. Als er den letzten Verschlag am Rande eines Parkplatzes erreichte, blieb er stehen und wich in die Finsternis zurück. Er holte einige Male tief Luft, und aus weit aufgerissenen Augen beobachtete er, wie das Shuttle der Visitors in der Mitte der großen Asphaltfläche landete. Die Luke öffnete sich, und das Außenschott schwang nach oben, während die untere Einstiegsklappe eine Rampe bildete, die bis zum Boden reichte. Walker ließ die rechte Hand sinken und tastete nach dem Gürtel. Die Waffen – er hatte sie im Stall zurückgelassen!
Links flammte das Licht zweier Scheinwerfer auf, und unmittelbar darauf hörte er das kurze Wimmern eines Anlassers, dann das Brummen eines Motors. Walker beugte sich vor und sah einen dunklen Wagen, der zwischen zwei Unterständen weiter im Norden hervorrollte und auf das Shuttle zuhielt. Als der Fahrer ausstieg, traten elf bewaffnete Visitors in roten Uniformen aus der Kampffähre hervor. Zehn von ihnen umringten den Wagen, und der elfte wandte sich an den Mann, der ihn gesteuert hatte. Walker sah sich rasch um. Es gab keine Möglichkeit, näher heranzukommen. Nur ein weißgetünchter Holzzaun trennte ihn von der offenen Fläche des Parkplatzes. Und selbst von dort aus wäre es nicht möglich gewesen, das Gespräch zwischen Mensch und Außerirdischem zu belauschen. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Wagen. Das Standlicht brannte noch und gab genug Helligkeit ab, daß Walker deutlich das Nummernschild lesen konnte. Das Fahrzeug war in Illinois zugelassen, und das Kennzeichen lautete: 049-ESB. Allerdings reichte der trübe Mondschein nicht aus, um das Modell oder die Farbe des Wagens zu erkennen. Während Sam die Szene beobachtete, legte der Visitor seinem menschlichen Gesprächspartner die Hand auf die Schulter, und Seite an Seite schritten sie an dem Shuttle entlang auf das geöffnete Schott zu. Wie ist das möglich? wiederholte Walker in Gedanken. Wieso konnten die Reptilien die giftdurchtränkte Luft atmen und blieben trotz der zerstäubten Bakterienstämme am Leben? Hatte Janus den endgültigen Sieg über die Visitors nur erfunden? Walker schüttelte den Kopf. Nein, der alte polnische Freiheitskämpfer würde ihnen nichts vormachen. Und das bedeutete, daß sich diese elf Echsenwesen von ihren
Artgenossen unterschieden und aus irgendeinem Grund gegen den V-Staub immun waren. Warum? Immer wieder stellte sich Walker diese Frage. Gerade als der Fahrer kurz darauf wieder hinter dem Steuer Platz nahm, stieß einer der Visitors einen dumpfen Schrei aus und zeigte auf die Rennbahn. Elf Läufe von Energieschleudern schwangen herum. Nein! Nicht das! stöhnte Walker entsetzt auf und sah nach Osten. Kathleen! Mit einem großen Blumenstrauß in der Hand duckte sie sich unter dem Absperrgeländer hinweg und wanderte über den Rasen am Rand des Parkplatzes. Nach einigen Schritten blieb sie plötzlich stehen, hob den Kopf und starrte auf das Shuttle. Die Blumen fielen zu Boden, als sie nach dem 45 er in ihrem Gürtelholster griff. »Neeiin!« Walkers Schrei verlor sich in dem Zischen und Fauchen von elf Energiewaffen. Blaue Blitze zuckten durch die Nacht, und die Glut raste auf Kathleen zu. Die tödlichen Funken trafen den ungeschützten Körper der Frau, und sie zitterte und zuckte wie eine Marionette an den Fäden eines übergeschnappten Puppenspielers. Wild ruderte sie mit den Armen, als wolle sie auf diese Weise die energetischen Flammen löschen, die sie erfaßt hatten und verbrannten. Sie war schon tot, als sie zu Boden sank. Walker war vor Entsetzen wie gelähmt, und voller Grauen beobachtete er, wie das helle Gleißen verblaßte. Er hörte, wie der Motor des Wagens gestartet wurde, und in seinen Kiefern spürte er wieder die schmerzenden Vibrationen. Doch er wandte seinen Blick nicht von der reglosen Gestalt ab, die am Rande des Parkplatzes im Gras lag. Wie ein Schlafwandler taumelte er los, verließ den Schatten des Verschlages und schaffte es irgendwie, über den Holzzaun
zu klettern. Seine Beine schienen sich von ganz allein zu bewegen. »Kathleen.« Walkers Stimme war ein heiseres Flüstern, immer verzweifelter stöhnte er. »Kathleen…« Er lief automatisch weiter und schenkte seiner Umgebung dabei nicht die geringste Beachtung. Seine Wahrnehmung beschränkte sich allein auf den bewegungslosen Körper der Frau, die er so sehr geliebt hatte. »Nein! Kathleen, neeiin!« Im taufeuchten Gras sank er auf die Knie, schlang vorsichtig die Arme um den Leichnam und hob ihn an. Er drückte Kathleen an sich und wünschte leidenschaftlich, sie würde die Lider heben und ihn anlächeln. Tot. Tränen quollen ihm aus den Augen, und er zitterte und bebte. Seine strahlenden Zukunftsträume und Hoffnungen erloschen, und die Dunkelheit der Nacht breitete sich auch in seinem Innern aus. Kathleen, seine Frau – das ungeborene Kind, das mit ihr gestorben war. Warum? Gott, warum? Er hob den Kopf und sah über den leeren Parkplatz. Das Shuttle der Visitors war verschwunden. Walker schlug die Hände vors Gesicht. Hatten die Außerirdischen ihn denn nicht gesehen? Warum war er mit dem Leben davongekommen? Er sah in Richtung des Highways, und in der Ferne machte er die Rücklichter eines Wagens aus, der sich vom Arlington Park entfernte. Die Zeichen des Nummernschildes, auf das er nur einen kurzen Blick geworfen hatte, brannten vor seinem inneren Auge. 049-ESB – dieser Code prägte sich fest in sein Gedächtnis. Samuel Walker stand auf, kehrte mit Kathleens leblosem Körper in den Armen zu den Ställen zurück.
5. Kapitel
Sam Walker ließ sich auf die Knie sinken und pflanzte sorgfältig die Blumen ein, die aus einem kleinen Beet im Zentrum des Arlington Parks stammten. Als die letzte Tulpenknolle sechs Zoll tief im Boden ruhte, richtete er sich wieder auf und wischte sich die schmutzigen Hände an der Hose ab. Er ließ seinen Blick über das geschmückte Grab schweifen und nickte zufrieden. Der Regen würde den kleinen Hügel innerhalb kurzer Zeit glätten, und er war sicher, daß spätestens in einem Jahr nichts mehr auf Kathleens letzte Ruhestätte hinweisen würde. »Wollen Sie nichts hinterlassen?« fragte Janus Brodaski. Seine Stimme klang traurig und ein leichter polnischer Akzent war unüberhörbar. »Irgend etwas sollte als Zeichen bleiben. Ein Kreuz vielleicht.« Walker schüttelte den Kopf. »Kathleen sagte mir einmal, es sei ihr Wunsch, unter einem Apfelbaum bestattet zu werden, in einem einfachen Grab. Sie meinte, der Sinn des Todes bestehe darin, ein neues Leben zu schaffen.« Er schloß die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Die Erinnerung an Kathleen war so deutlich, daß er ihr Lachen zu hören und das humorvolle Blitzen in ihren Augen zu sehen glaubte. Er meinte fast, ihre Lippen auf den seinen zu spüren. »Jedes Jahr sollen meine Freunde kommen, einen Apfel pflücken, hineinbeißen und sagen: ›In diesem Sommer schmeckt Kathleen wirklich gut.‹ Auf diese Weise sollte man sich an einen Verstorbenen erinnern, als jemanden, der neues
Leben schuf.« Er seufzte. »Diese Auffassung war typisch für sie.« Walker sah seinen weißhaarigen Freund an, der die Baseballmütze in der Hand hielt und das blumengeschmückte Grab betrachtete. »Jedes Jahr kommen wir hierher«, sagte er. »Wir bewundern die Tulpen, Rosen und Lilien, die an dieser Stelle prächtiger blühen werden als an anderen. Und dann wissen wir, daß Kathleen weiterlebt und werden an ihre Schönheit erinnert.« Janus schüttelte mehrmals den Kopf, als sie sich von dem Grab abwandten und zum Stallbereich wanderten. »Was mich angeht: Ich ziehe einen marmornen Gedenkstein mit einer Inschrift vor.« Walker gab keine Antwort. Jeder Schritt entfernte ihn weiter von dem Leben, auf das er sich noch vor zwölf Stunden so sehr gefreut hatte. Jeder Tag erschien ihm jetzt trostlos und jeder Gedanke an die Zukunft sinnlos. Das Gefühl der Desorientierung kehrte zurück, das ihn auch nach seiner Rückkehr aus Vietnam geplagt hatte. Er kam sich wie ein körperlicher Geist vor, der durch eine ihm fremde Welt schwebte. »Sam, begleiten Sie mich nach Chicago.« Janus’ Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Sie müssen Paul Nordine von den Ereignissen der vergangenen Nacht berichten. Der V-Staub hätte eigentlich alle Visitors töten sollen.« Vor Walkers innerem Auge wahrte nur ein ganz bestimmtes Nummerschild klar abgegrenzte Konturen: 049-ESB – die einzige Spur, die zu Kathleens Mördern führte. Er war entschlossen, ihr zu folgen und sie zur Rechenschaft zu ziehen. »…ist die Gefahr offenbar noch nicht überwunden«, vernahm er Janus’ Worte. »Paul sollte Bescheid wissen. Vielleicht kann er sich einen Reim darauf machen. Begleiten Sie mich, Sam.«
Walker sah den alten Mann an und nickte. »Lassen Sie uns sofort aufbrechen. Ich möchte noch heute mit Paul Nordine sprechen.« Janus drehte abrupt den Kopf. »Ist das Ihr Ernst?« »Ja.« »Ich helfe Ihnen dabei, die Sachen aus dem Stall zu holen, die Sie mitnehmen wollen.« Er deutete auf den verbeulten Ford Pinto, der am Rande der Rennbahn stand. »Anschließend fahren wir in die Stadt.« »Wir brauchen nicht in mein Quartier zurück.« Walker klopfte auf das Arsenal, das er am Gürtel trug. »Ich habe alles bei mir.« Janus setzte sich seine Baseballmütze auf und nickte. Er mußte sich beeilen, um mit Walker Schritt zu halten.
Arlington Heights, Mount Prospect, Des Plaines – ein Vorort Chicagos ging in den anderen über, als Janus seinen alten Ford über den Northwest Highway steuerte. Und alle Städte waren menschenleer. Walker schüttelte den Kopf, als er die geisterhaft öden Straßen und Häuser sah, und stellte sich vor, wie nachts die Visitors gekommen waren, wie sie Männer, Frauen und Kinder aus ihren Wohnungen getrieben und an Bord der großen Mutterschiffe gebracht hatten. Dort wurden sie wie Vieh in der Bereithaltungshibernation verstaut, als Nahrung, die schließlich den Echsenwesen aufgetragen werden sollte. Wie viele Menschen hatten die Fremden von den Sternen verschleppt? Es mußten viele Millionen sein – und es gab keine Möglichkeit, sie zu retten. In Des Plaines lenkte Janus seinen Pinto auf einen Zubringer, und kurz darauf passierten sie eine Mautstation. Es war niemand da, der eine Gebühr von ihnen verlangen konnte, und
sie setzten die Fahrt nach Süden fort, über den Tri-State Tollway. Früher hatte auf der breiten, mehrspurigen Autobahn dichter Verkehr geherrscht, doch jetzt war sie ebenso leer wie die anderen Straßen. Erst als sie sich nach Osten wandten und den Kennedy Expressway in der Nähe des internationalen Flughafens O’Hare erreichten, sah Walker Spuren, die der Kampf gegen die Visitors hinterlassen hatte. Janus nahm den Fuß vom Gas und steuerte den Ford vorsichtig an den ausgebrannten Resten von Personen- und Lastwagen vorbei, die hier und dort Barrieren auf der Fahrbahn bildeten. Walker verzog das Gesicht und wandte betroffen den Kopf von einer Seite zur anderen. Janus’ Schilderungen waren recht düster gewesen, doch so etwas hatte er nicht erwartet. Und als er die rußigen Ruinen zu beiden Seiten des Expressways sah, krampfte sich etwas in seinem Magen zusammen. »Vor rund drei Monaten führte Paul Nordine einen Angriff auf die Visitor-Basen in der Nähe des Flughafens«, erklärte Janus und bedachte seinen jüngeren Begleiter mit einem kurzen Blick. »Hier wurden keine Aufräumarbeiten durchgeführt. Auf diese Weise wollten uns die Visitors klarmachen, daß Widerstand sinnlos ist. In jener Nacht fanden dreihundert Männer und Frauen den Tod. Aber sie zogen es vor, im Kampf zu sterben, als von den Echsen an Bord der Mutterschiffe gebracht und wie Filets in großen Kühlkammern gelagert zu werden. Und sie verkrochen sich auch nicht in dunklen Löchern.« Walker ignorierte den Seitenhieb des alten Mannes. Er hatte überlebt – die anderen nicht. Wer also war der Gewinner? Doch während er noch die zerstörten Fahrzeuge beobachtete, bildete sich vor seinem inneren Auge Kathleens Gesicht. Er schluckte und begriff plötzlich, wie die Antwort auf seine Frage wirklich lautete.
Als sie schließlich Irving Park erreichten, steuerte Janus den Ford vom Expressway hinunter. »Normalerweise kämen wir auf der Autobahn schneller vorwärts, aber zwischen Belmont und Fullerton wurden die Brücken gesprengt, ebenso zwischen North Avenue und Chicago Avenue. Besser ist es, wir fahren in Richtung Lake Shore Drive weiter, um von dort aus zur Kunstakademie zu gelangen.« »Zur Akademie?« Walker hob erstaunt die Augenbrauen. »Das war doch ein wichtiger Stützpunkt der VisitorStreitkräfte, nicht wahr?« »Paul hielt es für eine gute Idee, dort sein Hauptquartier einzurichten«, erklärte Janus, »um der Bevölkerung zu demonstrieren, daß die Echsen wirklich fort sind.« Walker sah aus dem Fenster und stellte fest, daß jetzt ganze Wohnviertel zerstört waren. Einige Blocks wirkten völlig unversehrt, doch daran schlossen sich Straßenzüge an, die so aussahen, als hätten dort Brandbomben ein Inferno entfesselt. »Hier bei uns ist es schlimmer als in anderen Teilen der Welt«, sagte Janus. »Um die Kontrolle über diese Region zu erringen, mußten uns die Visitors völlig isolieren. Und das erweckte das Mißtrauen der Bevölkerung. Wir begriffen wesentlich eher, was die Echsen im Schilde führten. Wir griffen früher zu den Waffen, und unser Kampf dauerte länger.« Walker nickte. Während all der Monate, die er in seinem Versteck verbracht hatte, schien Chicago zu einer völlig anderen Stadt geworden zu sein. Doch trotz der Ruinen gefiel sie ihm besser als die leeren Vororte. Wenigstens gab es hier Menschen, Männer und Frauen, die jetzt ein neues Leben begannen. Janus fuhr über den Lake Shore Drive, und es dauerte nicht lange, bis Walker weiter vorn die Kunstakademie sah.
»Da wären wir«, meinte Janus und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Paul müßte jetzt eigentlich da sein.« »Gut«, sagte Walker und dachte erneut an das Kennzeichen mit der Nummer 049-ESB.
Obwohl Walker nicht übermäßig groß war, überragte er Paul Nordine um einige Zoll, und wegen seiner gedrungenen Statur wirkte der Anführer von Chicagos Widerstandsbewegung noch kleiner. Er schien an harte Arbeit gewöhnt zu sein, doch sein Gesichtsausdruck und seine intelligenten dunklen Augen verrieten, daß seine Fähigkeiten sich nicht nur darauf beschränkten, zwei Wasserrohre zusammenzufügen. Nachdem Walker und Janus eine halbe Stunde lang gewartet hatten, bestellte Nordine sie in sein Büro, in dem sich außer ihm auch noch sein hünenhafter Stellvertreter Steve Tyford aufhielt. Nordines Händedruck war fest, sein Lächeln offen. Walker bewunderte die Art und Weise, in der der Organisator der provisorischen Stadtverwaltung es verstand, das übliche Höflichkeitsgeschwätz zu vermeiden: Statt Zeit zu verschwenden, kam er sofort auf den Kern der Sache zu sprechen. Dabei lehnte er sich zurück und hörte aufmerksam zu, als Sam ihm von der Landung des Shuttles erzählte, den Mann im Wagen erwähnte und Kathleens Tod schilderte. Nur einmal griff er nach einem Kugelschreiber und machte sich Notizen – als Walker das Autokennzeichen nannte. »Die Sache ist mir ein Rätsel, Mr. Walker.« Steve Tyford hob die Hand, strich sich fahrig durchs blonde Haar und verzog kurz das Gesicht. »Nur die Angehörigen der Fünften Kolonne erhielten das Antitoxin. Und ich versichere Ihnen: Ohne das Gegenmittel hat der rote Staub eine absolut tödliche Wirkung auf die Reptilien.«
Nordine warf Tyford einen kurzen Blick zu und schüttelte andeutungsweise den Kopf. »Sind Sie ganz sicher, daß es sich bei den Leuten im Shuttle um Visitors handelte, Mr. Wal… Sam?« Walker runzelte die Stirn und begriff nicht ganz, auf was der Anführer der Widerstandskämpfer hinauswollte. »Sie kamen mit einer Kampffähre der Visitors. Sie waren wie Visitors gekleidet und bewaffnet. Mir scheint der Fall klar zu sein.« »Mir auch«, erwiderte Nordine. »Aber wie konnten sie zurückkehren?« Tyford war immer noch nicht überzeugt. »Das Antitoxin wurde rund um die Uhr bewacht. Und ohne das Gegenmittel wären die Echsen sofort verreckt.« »Auch andere Gruppen verfügten über den V-Staub«, gab Nordine zu bedenken. »Vielleicht konnten die Visitors das Antitoxin anderenorts erbeuten. Oder sie haben es eben doch in unserem alten Hauptquartier gefunden.« Der kleine, athletische Mann zögerte, schürzte kurz die Lippen und berichtete von dem Angriff der Außerirdischen auf das Hotel und die Bungalows, die den Widerstandskämpfern bis kurz vor ihrer Offensive gegen die Invasoren als Stützpunkt gedient hatten. »Dort hatten wir auch zwei Beutel mit dem Gegenmittel. Bisher gingen wir davon aus, daß es verbrannte, als die Visitors unsere Basis in Lake Zürich zerstörten. Aber vielleicht haben sich die Echsen vorher gründlich umgesehen und es entdeckt.« Nordine trat hinter seinen Schreibtisch, auf dem diverse Akten und Unterlagen hohe Stapel bildeten, ließ sich in den Sessel sinken und seufzte. »Die einzige plausible Erklärung ist nun einmal die, daß die Visitors irgendwie in den Besitz des Antitoxins gelangt sind. Vielleicht fanden sie es hier in Chicago, möglicherweise auch in Paris, Kairo oder Hongkong.
Der Ort spielt keine Rolle. Es kommt jetzt nur darauf an festzustellen, ob es tatsächlich Echsen gibt, die vor dem VStaub geschützt sind.« »Könnten die Visitors in dem Shuttle nicht auch Angehörige der Fünften Kolonne gewesen sein, von der Janus mir erzählte?« fragte Walker. »Ein Mensch wird nicht so ohne weiteres zum Verräter an seinem eigenen Volk. Und das dürfte bei den Außerirdischen nicht anders sein.« »Diese Möglichkeit müssen wir natürlich auch schnellstens überprüfen, Sam«, entschied Nordine. »Doch ich glaube, in der Zwischenzeit müssen wir von der Annahme ausgehen, daß die Visitors über das Gegenmittel verfügen.« Er drehte den Sessel herum und reichte Tyford den Zettel, auf dem er das Autokennzeichen notiert hatte. »Steve, diese Sache hier hat Priorität. Wenden Sie sich an die Polizei. Sie soll die Nummer überprüfen. Wenn wir wissen, wer der Fahrer des Wagens war, ergibt sich vielleicht eine Antwort auf die Frage, warum, zum Teufel, er sich mit den Visitors traf. Fahren Sie anschließend mit fünfzig Freiwilligen zum Arlington Park. Vielleicht halten die Reptilien jenen Bereich für sicher genug, um dort erneut zu landen. Und wenn das geschieht, sollen sie gebührend empfangen werden.« »Nordine, ich möchte mich Tyfords Gruppe anschließen«, erklärte Walker entschlossen. »Das dachte ich mir schon«, erwiderte der Anführer der Widerstandskämpfer und warf dann dem Polen einen kurzen Blick zu. »Janus sollte ebenfalls mitgehen. Er kennt das Gelände und unterhält gute Beziehungen zu den Leuten, die er ›Schleicher‹ nennt. Sie können uns als Späher helfen und Ausschau halten.« Nordine richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Tyford. »Ich verlasse mich auf Sie, Steve. Ich kann mich nicht selbst um diese Sache kümmern, denn jetzt muß ich mich erst mal
wegen der bevorstehenden Wahl auf das Komitee des Bürgermeisters konzentrieren.« Walker wollte offensichtlich etwas einwenden, überlegte es sich dann aber anders und schwieg. Nach Janus’ Schilderungen wimmelte es in Chicagos Verwaltungsstruktur geradezu von Konvertierten – von Leuten also, die eine Gehirnwäsche hinter sich hatten und nichts anderes waren als willfährige Sklaven der Visitors. Nordine und seinen Kämpfern war es in der Vergangenheit allerdings gelungen, die meisten von ihnen zu identifizieren, sie zu entmachten und psychiatrischer Pflege anzuvertrauen. Das war kein leichtes Unterfangen gewesen, denn viele von diesen Visitor-Marionetten nahmen wichtige Stellungen ein. Zwar unterstützten viele Mitglieder der Widerstandsbewegung eine Kandidatur Nordines für das Bürgermeisteramt, doch der frühere Klempner lehnte kategorisch ab. Er hatte einmal gesagt, er habe nicht deswegen gegen einen Tyrannen gekämpft, nur um einen anderen auf den Thron zu setzen – selbst wenn der Paul Nordine heiße. Es war eine Bemerkung, die Walker diesem Mann nach der persönlichen Begegnung mit ihm durchaus zutraute. »Steve, ich möchte, daß Sie und Ihre Leute heute nachmittag an der Rennbahn in Stellung gehen, verstanden?« Nordine schob den Sessel zurück und stand auf. »Und nun, meine Herren: Der Bürgermeister wartet bereits auf mich.« Walker sah Nordine an, als der das Büro verließ, und richtete dann den Blick auf Tyford. Der hochgewachsene Mann lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. »Es freut mich, Sie bei unserer Truppe begrüßen zu können, Mr. Walker«, sagte er und wandte sich dann an Janus. »Es wird eine gute Stunde dauern, so viele Laster zu beschaffen, wie wir brauchen, um alle Männer nach Arlington Heights zu transportieren. Unten im Keller haben wir eine kleine Kantine
eingerichtet. Erwarten Sie aber nicht zuviel: Dort gibt es nur belegte Brötchen und heißen Kaffee. Wir treffen uns dort, sobald alles geregelt ist, in Ordnung?« »Eine Tasse Kaffee wäre nicht schlecht«, sagte Walker und versuchte sich daran zu erinnern, wann er die letzte getrunken hatte. Tyford machte sich sofort auf den Weg, um seine Einsatzgruppe zusammenzustellen, und Walker und Janus gingen in den Keller. Drei Tassen Kaffee später erschien Nordines Stellvertreter in der Tür und winkte sie zu sich. »Die Leute warten draußen«, sagte er. »Sie sind bewaffnet, und zu unserer Ausrüstung gehören auch zwei Gewehre für Sie.« Er grinste. »Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben, können wir jetzt mit der Echsenjagd beginnen.«
6. Kapitel
Walker arbeitete sich aus den Büschen und Sträuchern heraus, hinter denen er sich die ganze Nacht über versteckt hatte. Er rieb sich die Augen und sah zum Himmel auf. Im Osten kündigte ein matter, rosafarbener Glanz den neuen Tag an, und im Westen verlor sich das Glühen der Morgendämmerung in dunklen Wolken. »In ungefähr einer Stunde wird es regnen.« Beim Klang von Janus’ Stimme drehte sich Walker um. Der alte Mann schlurfte durch das taufeuchte Gras heran und sah genauso müde und erschöpft aus, wie er sich selbst fühlte. Der Pole setzte neben ihm sein großkalibriges Jagdgewehr ab und stützte sich auf die Flinte. »Morgengrauen – und damit wird es Zeit, ins Bett zu gehen.« Janus brummte vor sich hin, als er sich zusammen mit Walker auf den Rückweg zu den Stallgebäuden machte. »Hoffentlich können wir bald wieder wie richtige Menschen leben. Ich komme mir schon wie eine Nachtratte vor.« Walker nickte stumm. Seine Gedanken schweiften ab, und er dachte an das Shuttle und die Visitors, die Kathleen erschossen hatten. Wo, zum Teufel, stecken die Mistkerle jetzt? Aus einem Reflex heraus sah er erneut zum Himmel auf. Vielleicht kommen sie gar nicht zurück. Aber das Treffen mit dem Fahrer des Wagens – nichts weiter als ein Zufall? Er preßte die Lippen zusammen und schloß die Hand so fest um das Gewehr, daß die Knöchel weiß hervortraten. Er konnte einfach nicht glauben, daß Kathleens Tod gewissermaßen nur ein bedauerlicher Unfall war. Andererseits jedoch… Im Verlaufe der vergangenen Woche hatten Tyford und seine
Männer ständig die Rennbahn überwacht, am Nachthimmel dabei aber nur einige Sternschnuppen und zwei Flugzeuge gesehen, die später auf dem wieder geöffneten Flughafen O’Hare landeten. Walker seufzte und kaute auf seiner Unterlippe. Fragen ohne Antworten. Nur eins stand fest: Kathleen lag unter einem Blumenbeet begraben, und die Visitors waren wegen des Mannes in dem dunklen Wagen gekommen. Niemand vermochte zu sagen, aus welchem Grund das Treffen stattgefunden hatte – und ob es sich wiederholen würde. Während sie über die Rennbahn wanderten und die einzelnen Absperrgeländer hinter sich brachten, beobachtete Walker die anderen Männer aus Tyfords Einsatzgruppe, die nun zu dem Verschlag zurückkehrten, der ihnen am Rande des Parkplatzes als provisorisches Hauptquartier diente. Sie schlurften ebenso wie Janus, und in ihren Mienen zeigte sich die Erschöpfung eines ereignislosen Wartens. Walker folgte dem alten Polen durch das hohe Gras, überquerte den Parkplatz, kletterte über den Holzzaun und betrat den Schuppen. Steven Tyford hockte auf der Kante seines Feldbettes und sprach in das Mikrofon eines tragbaren Funkgerätes. Sam horchte kurz auf, konnte jedoch nicht mehr als die eine oder andere Silbe verstehen. Tyfords Gemurmel klang wie das Summen eines lästigen Insekts. Nach einer Weile hängte ihr Gruppenleiter das Mikrofon ein und schaltete den Apparat aus. Einige Sekunden lang ließ er die Schultern hängen, beugte sich vor und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Als er aufstand, wirkte er ebenso müde wie die anderen Männer. »Sam«, sagte Tyford und ging plötzlich entschlossen auf Walker zu. Er schien verlegen zu sein. »Ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie.«
Tyford sah sich nervös um, bevor er Walker ansah. »Ich habe gerade mit Paul Nordine gesprochen. Die Lage in der Stadt verschärft sich. Es gibt nicht genug Nahrungsmittel, und die Plünderungen nehmen zu…« In Sam regte sich bittere Enttäuschung. »Und deshalb braucht Nordine Ihre Leute«, fügte er hinzu. »Er hat mir die Rückkehr nach Chicago nicht befohlen«, sagte Tyford und strich sich durch das zerzauste blonde Haar. »Er überläßt mir die Entscheidung.« »Und Sie haben beschlossen, sich mit Ihren Männern auf den Weg zu machen«, erwiderte Walker scharf. Tyford senkte den Kopf und nickte. »Wir sind schon seit einer Woche hier, und es ist überhaupt nichts geschehen. Wir verschwenden nur unsere Zeit – obgleich wir in Chicago dringend gebraucht werden. Sam, bitte versuchen Sie, mich zu verstehen. An meiner Stelle…« Walker drehte sich ruckartig um und verließ den Schuppen. Tyford hatte bereits eine Entscheidung getroffen, und jede weitere Diskussion war sinnlos. »Sam!« rief Tyford ihm nach. »Wohin gehen Sie, Sam?« Walker drehte sich um und starrte den hochgewachsenen Mann finster an. »Ich habe vor, mich hinzulegen und auszuruhen. Sieht ganz danach aus, als müßte ich in der kommenden Nacht allein Wache halten.« »Sam, es hat doch keinen Sinn, noch länger hierzubleiben«, wandte Tyford ein. »Ein Mann mit Ihren Fähigkeiten sollte uns in der Stadt helfen.« »Wenn Sie damit einverstanden sind, behalte ich das Gewehr«, erwiderte Walker nur. »Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir das Funkgerät überlassen könnten. Dann bleibe ich mit Ihnen in Verbindung.« »Sam, seien Sie doch vernünftig«, sagte Tyford. »Es hat keinen Zweck…«
Diesmal wurde er von Janus unterbrochen. »Ich bleibe ebenfalls hier, Steven.« Der alte Freiheitskämpfer rückte sich die Baseballmütze zurecht und ging zu Walker hinüber. Sie hoben die Hand zu einem kurzen Abschiedsgruß, wandten sich um und gingen in Richtung des Stalles, in dem sich Sam und Kathleen viele Monate lang versteckt hatten. Tyford und seine Leute sahen ihnen nach. Als sich die beiden Männer auf den einfachen Feldbetten ausstreckten, begann es draußen zu regnen, und eine Zeitlang lauschten sie stumm dem lauten Pochen auf dem Holzdach. Nach einer Weile murmelte Walker einen Fluch, drehte sich auf die Seite und schlief ein. »Im Vergleich zu den Lügen der Visitors waren die der Nazis kleine Fische«, sagte Janus und drehte sich in der Dunkelheit zu Walker um. »Als sie kamen, behaupteten sie, Freunde zu sein und ihr Wissen mit uns teilen zu wollen. Mussolini kam an die Macht, indem er versprach, für Pünktlichkeit im Zugverkehr zu sorgen. Hitler baute Autobahnen. Echsen oder Menschen – es gibt kaum Unterschiede. Und hätten wir uns nicht rechtzeitig mit dem V-Staub gegen die Invasoren zur Wehr setzen können, hätten wir ihre Art von Blitzkrieg erlebt. So wie damals, als Hitlers Truppen in Polen einfielen.« Walker schenkte dem alten Mann nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit. Bereits seit zwei Stunden verglich Janus die Invasion der Visitors mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Sam unterbrach den Monolog seines Begleiters aber auch nicht und murmelte dann und wann seine Zustimmung. Der Große Denker der Fremden aus dem All – vielleicht handelte es sich dabei um das Visitor-Äquivalent Adolf Hitlers. Jedenfalls zeigten seine Methoden und Ziele eine auffallende Ähnlichkeit mit denen des Führers der deutschen Faschisten. Der eigentliche Unterschied bestand nur darin, daß die Außerirdischen einen Eroberungs- und Vernichtungsplan verfolgt hatten, der sich nicht nur auf einige wenige Staaten
beschränkte, sondern die ganze Welt umfaßte. Allerdings: Wenn die Nazis damals über die Technologie der Visitors verfügt hätten, wäre durchaus eine Ausdehnung ihrer Schreckensherrschaft auf alle Länder der Erde möglich gewesen. »Als Warschau an den Feind fiel, nahm meine ganze Familie den Kampf gegen die Faschisten auf«, fuhr Janus nach einer kurzen Pause fort. Sie standen vor den Ställen der Rennbahn und sahen immer wieder zum Himmel hoch. »Nur ich kam mit dem Leben davon. Ich bin der letzte Brodaski.« Der Pole begann damit, den Tod seiner Eltern und Geschwister zu schildern, und Walker hörte ihm weiterhin mit halbem Ohr zu. Ab und zu trat er einige Schritte vor und ließ den Blick über die Rennbahn schweifen. Es regnete inzwischen nicht mehr, und die schwarzen Wolken hatten sich verzogen. Am dunklen Himmel schimmerten unzählige Sterne. Vor rund einer Stunde war über dem westlichen Horizont der Mond aufgegangen. Die achte Nacht seit Kathleens Tod – und noch immer zeigte sich weit und breit keine Spur von den Visitors. »Freunde und Verwandte, alle gehörten sie zur politischen Widerstandsbewegung«, sagte Janus. »Und ich sah, wie sie starben, Sam. Viele von ihnen lagen in meinen Armen. Sie opferten sich, damit andere das Ziel erreichen konnten, dem ihr Kampf galt: Freiheit. Man muß bereit sein zu sterben, wenn man seine Freiheit bewahren will.« Diese Überzeugung hatte auch Walker vertreten, damals, vor Vietnam. Aber in den Dschungeln und auf den Reisfeldern Südostasiens wurde nicht gekämpft, sondern gemordet. Und während er seinen Hubschrauber flog und Soldaten absetzte, die von Maschinengewehrsalven dahingerafft wurden, ging es ihm nicht darum, die Freiheit zu verteidigen, sondern einzig und allein ums Überleben. Sein Ziel bestand nur noch darin,
die eigene Haut zu retten und nicht in einem Leichensack in die Heimat zurückzukehren. »Auch damals gab es Leute, die das Ausmaß der Gefahr nicht begriffen und es vorzogen, sich wie Ratten in dunklen Löchern zu verkriechen«, fuhr Janus fort. »Einige brauchten etwas länger, um zu verstehen, wie wichtig der aktive Widerstand war.« Diesmal berührte die Anspielung des Polen etwas tief in Walkers Innerem, und er zuckte zusammen. Wenn Janus den Krieg in Vietnam erlebt hätte, wäre er vielleicht in der Lage gewesen, ihn zu verstehen – einen Krieg, in dem es keine klare Trennung zwischen den Guten und Bösen gab, in dem diejenigen, die eigentlich die Freiheit verteidigen sollten, Napalm gegen Kinder einsetzten und wehrlose Frauen niedermetzelten. »Ich dachte, nach dem Krieg sei alles überstanden«, sagte Janus leise, »und dann mußte ich die Erfahrung machen, daß jener Kampf niemals wirklich zu Ende geht. Immer wieder gibt es Leute, die einem ihren Willen aufzwingen wollen.« Ein dumpfer, pochender Schmerz breitete sich in Walkers Unterkiefer auf. Für einige Sekunden erstarrte er, dann griff er zu dem Gewehr, das an der nahen Wand lehnte. »Sie sind da, Janus!« »W-was?« stotterte der alte Mann, hob seine Waffe ebenfalls und spähte in die Dunkelheit. »Sind Sie sicher, Sam? Woher wollen Sie das wissen?« »Ich spüre sie.« Walker nahm sich nicht die Zeit, Janus die Auswirkungen der Vibrationen auf seine Zähne zu erklären. »Kommen Sie. Vom Parkplatz aus können wir das ganze Gelände überblicken.« Die beiden Männer schlichen an dem Stall entlang und hielten auf die große Asphaltfläche zu, doch schon nach wenigen Schritten blieben sie wie angewurzelt stehen und
sahen nach oben. Das Shuttle, nach dem sie die ganze Zeit über Ausschau gehalten hatten, schwebte direkt über ihnen und sank langsam herab. Walkers Gedanken rasten. Die Kampffähre der Visitors machte Anstalten, genau vor dem Stall zu landen, in dem Kathleen und er sich ein halbes Jahr lang versteckt hatten! »Zurück!« Walker griff nach Janus’ Arm und zog den alten Mann in die Finsternis des Schuppens. Draußen sank das Shuttle weiterhin dem Boden entgegen, und die Landestützen waren bereits auf einer Höhe mit dem Dach des Unterstandes. »Verdammter Steven!« fluchte Janus leise. »Er hätte uns das Funkgerät überlassen sollen.« »Hat er aber nicht.« Walker dachte konzentriert nach. Es mußte ihnen irgendwie gelingen, nach Chicago zu gelangen, um der Widerstandsgruppe Bescheid zu geben. Und das konnten sie nur mit dem alten Ford Pinto des Polen schaffen. »Hier entlang.« Entschlossen zog Walker seinen Gefährten am Arm, lotste ihn nach draußen und rannte an den Schuppen entlang. Als er das Ende der langen Reihe erreichte, wandte er sich nach links, um wieder zu dem Stall zurückzukehren. Gleich darauf aber blieb er erschrocken stehen. Gleich zwei Visitor-Fähren setzten auf der anderen Seite des Verschlages zur Landung an. »Mist!« Walker warf einen Blick zurück. Die Landestützen der ersten Kampffähre berührten gerade den Boden. »Drei?« brachte Janus ungläubig hervor. »Was wollen die Echsen hier?« Walker gab keine Antwort, zeigte auf den nächsten Stall und drängte: »Nehmen Sie die Beine in die Hand! Wir müssen weg von hier, bevor die Reptilien ausschwärmen!«
Janus lief ohne zu zögern los, und Walker folgte ihm auf den Fersen. Entsetzt riß er plötzlich die Augen auf, als er zwei weitere Einsatzfahrzeuge der Visitors sah, die unmittelbar vor ihnen schwebten. »Zwei Menschen fliehen in westliche Richtung!« hallte es vibrierend aus einem Shuttle-Lautsprecher. Der Bug des rechten Flugbootes schwang herum, um den beiden Männern zu folgen. Walker richtete den Lauf seines Gewehrs nach oben und drückte zweimal ab, ohne genau zu zielen. Es krachte laut, und unmittelbar darauf hörten sie ein schrilles Jaulen, als die beiden Geschosse von der Außenfläche der Kampffähre abprallten und als Querschläger davonsirrten. Sofort änderte das Shuttle den Kurs und entfernte sich von den beiden Männern. Walker übernahm die Führung, und Janus hielt sich dicht hinter ihm, als er über die freie Fläche zwischen den beiden langen Stallreihen stürmte. Er blieb nicht stehen, als er die nächsten Schuppen erreichte, sondern eilte um einen Verschlag herum und lief auf den nächsten zu. Im Osten erklang eine zischende Stimme und befahl den Visitor-Soldaten, auszuschwärmen und die Fliehenden zu stellen. In der nachfolgenden Stille vernahm Walker das Knirschen von Sand und kleinen Steinen unter schweren Schritten. Er stellte sich die Gestalten in roten Uniformen vor, die nun die gelandeten Kampffähren verließen. Jede von ihnen trug eine Energiewaffe, und die Gesichter mit den menschlichen Masken verbargen sich hinter dunklen Helmvisieren. Auch am dritten Schuppen verharrte Walker nicht und hielt auf den vierten zu. Erst dort duckte er sich in den Schatten und schnappte nach Luft. »Wir sind… nicht schnell genug, um… ihnen zu entwischen. Müssen uns… verstecken. Sie benutzen
die… verdammten Shuttles wie… Helikopter. Können uns dauernd… aus der Luft beobachten, während uns die… Einsatzsoldaten den Fluchtweg… abschneiden.« Das dumpfe Pochen in seinem Unterkiefer bestätigte ihm, daß er recht hatte. Grelles Scheinwerferlicht machte die Umgebung taghell. Die Lichtkegel gingen von den feindlichen Flugbooten aus und tasteten über das Gelände. »Wo sollen wir uns denn verstecken?« fragte Janus und verzog kurz das Gesicht. »Hier.« Walker öffnete die Tür und bedeutete seinem Gefährten mit einem Wink, den Stall zu betreten. Janus kam seiner Aufforderung nach und brummte: »Die Echsen brauchen nur in den Schuppen zu sehen, um uns zu finden.« »Eben nicht«, erwiderte Walker und grinste. »Wir verbergen uns oben im Dachgebälk. Die Visitors müßten schon Eulenaugen haben, um uns dort in der Finsternis zu entdecken.« Er nahm Janus’ Gewehr, legte es beiseite und half dem Polen, sich auf die mehr als mannshohe Trennwand zwischen zwei Boxen hochzuziehen. Als Janus oben Halt gefunden hatte, reichte er ihm die Waffen, sprang und zog sich selbst in die Höhe. Anschließend kletterten sie zusammen in das Dachgebälk empor. Dort streckten sie sich auf den breiten Balken aus und warteten mit klopfendem Herzen und schußbereiten Gewehren. Schon nach wenigen Minuten hörten sie leise Stimmen und das Geräusch sich nähernder Schritte. Die Visitors durchsuchten die einzelnen Schuppen. Walkers Pulsschlag beschleunigte sich, als sie sich immer mehr dem Unterstand näherten, in dem er sich mit dem alten Polen versteckte.
Unten knarrte die Tür in ungeölten Angeln. Walker hielt den Atem an, und sein Zeigefinger tastete nach dem Abzug der Flinte. Heu knisterte, und eine schemenhafte Gestalt bewegte sich langsam durch die Finsternis. Walker legte das Gewehr an und zielte, bereit dazu, sofort zu feuern, wenn der Außerirdische den Kopf heben sollte. Er hatte keineswegs die Absicht, allein zu sterben, sondern wollte mindestens einen von Kathleens Mördern mit in den Tod nehmen. Doch der Visitor bemerkte sie nicht, drehte sich wortlos um und trat wieder nach draußen. Hinter ihm schloß sich die Tür. Mit einem kaum hörbaren Seufzen ließ Walker den angehaltenen Atem entweichen. »Vielleicht können sie im Dunkeln nicht annähernd so gut sehen, wie wir bisher annahmen«, flüsterte Janus. Walker gab keine Antwort, nahm den Finger vom Abzug und setzte das Gewehr ab. Vielleicht hatten sie es wirklich den schlechten Augen der Echsenwesen zu verdanken, daß sie nicht entdeckt worden waren. Walker zuckte mit den Schultern. Was auch der Grund sein mochte: Einzig wichtig war, daß sie noch lebten. Und jetzt konnten sie nur abwarten und hoffen. Draußen wurde es allmählich wieder still, und sowohl die Geräusche schwerer Schritte als auch die vibrierenden Stimmen verklangen. Walker zog vorsichtig die verkrampften Beine an, die schon zu schmerzen begannen. Selbst als es draußen völlig still geworden war, mußten sie sich noch eine Viertelstunde gedulden, bis endlich auch Walkers dumpfer Zahnschmerz nachließ. Er seufzte erleichtert: Die Flugboote der Visitors schwebten nicht mehr über der Rennbahn.
»Wir warten noch eine halbe Stunde, und dann versuchen wir, mit Ihrem Wagen in die Stadt zurückzukehren.« Er musterte Janus, der sich an dem Balken neben ihm festhielt. »Sind die Reptilien wirklich fort?« Die Stimme des alten Mannes zitterte leicht. »Ich bin nur in einem Punkt ganz sicher: Wir können nicht den Rest unseres Leben hier oben verbringen.« Walker runzelte die Stirn. Janus hatte offensichtlich Angst. Nach einigen Sekunden zuckte er mit den Achseln und dachte daran, daß eine solche Lage selbst Männern, die über wesentlich mehr Kampferfahrung verfügten, Furcht eingejagt hätte. Er neigte den Kopf von einer Seite zur anderen und lauschte. Aber er hörte nichts anderes als ein gelegentliches Knacken im Gebälk des Schuppens und das sanfte Seufzen einer leichten Brise, die über das Dach hinwegstrich. Tausend Möglichkeiten kamen Walker in den Sinn, als er daran dachte, was sie draußen erwarten mochte. Weitere gelandete Fähren? Vielleicht war eine ganze Visitor-Armee in Stellung gegangen. Doch eines stand fest: Irgendwann mußten sie ihr Versteck unter dem hohen Dach des Schuppens verlassen. Es blieb ihnen nur der Versuch übrig, Janus’ Wagen zu erreichen und damit nach Chicago zu fahren. Es kam darauf an, Nordine und seine Leute zu warnen. »Ich klettere runter.« Walker reichte Janus sein Gewehr. »Bleiben Sie hier, bis ich festgestellt habe, ob die Luft rein ist.« Er wartete keine Antwort ab, kroch über den Balken, erreichte die Zwischenwand, ließ sich daran herab und sprang zu Boden. Die Geräusche, die er dabei notgedrungen verursachte, blieben ohne jede Reaktion. Walker holte einige Male tief Luft, trat an die Stalltür heran und öffnete sie einen Spaltbreit. Nichts rührte sich. Er schob die Tür weiter auf.
Jeden Augenblick rechnete er mit dem Aufblitzen bläulicher Energiestrahlen, aber nichts dergleichen geschah. Walker beobachtete die anderen Ställe, massige Schatten in der Dunkelheit der Nacht. Und nirgends spiegelte sich das Licht der Sterne auf den weißen Außenflächen eines Visitor-Shuttles wider. Zuversicht regte sich in ihm, als er auf den Weg trat, fort von dem Schuppen, und einen Blick gen Himmel wagte. Nichts. Sie sind weg! Verwirrt schüttelte Walker den Kopf. Die ganze Sache ergab überhaupt keinen Sinn. Warum haben sie sich wieder zurückgezogen? Er versuchte, sich in die Lage der Fremden zu versetzen, um sich ein Bild von ihren Absichten und Motivationen machen zu können. Fünf Kampffähren, die den Schuppen anflogen, der Janus und ihm als Quartier diente. Hatten die Reptilien gewußt, wen sie dort finden würden? Anschließend ihrer beider Flucht an den Ställen entlang – und die Suche nach ihnen. Aus welchem Grund waren die Visitors wieder verschwunden? Walker zuckte mit den Schultern. Die Sache blieb ihm ein Rätsel. Er begriff nur, daß ihnen jetzt keine unmittelbare Gefahr mehr drohte. Niemand konnte sie daran hindern, zu Janus’ Wagen zu gelangen! Er drehte sich um, kehrte zum Schuppen zurück und zog die Tür auf. »Alles klar! Wir können los!« Janus warf Walker die beiden Gewehre zu und kletterte ebenfalls aus dem Dachgebälk herab. Als sie ihr Versteck verließen, sahen sich die beiden Männer immer wieder wachsam um. Vorsichtig hielten sie auf den nächsten Stall in der langen Reihe zu, und nach wie vor blieb um sie herum alles still. Walker blieb kurz stehen und lauschte. Dann nickte er Janus zu, und sie schlichen weiter. Als sie sich in der Mitte der freien Fläche zwischen den Verschlägen befanden, hörte Walker plötzlich ein lautes
Knarren, und vor und hinter ihnen schwangen Stalltüren auf. Dutzende von Gestalten stürmten durch die Finsternis. Er stieß Janus nach rechts und rief: »Laufen Sie! Die verdammten Mistkerle haben uns eine Falle gestellt!« Janus taumelte, fand das Gleichgewicht wieder und kam seiner Aufforderung nach. Walker rannte ebenfalls und hielt sich an der Seite des alten Mannes. Rechts und links traten Visitors aus den Ställen hervor und hoben ihre Energieschleudern. »Halt!« Die Stimme vibrierte hinter ihnen. Janus duckte sich und lief weiter. Walker folgte ihm dichtauf. »Halt!« ertönte es erneut. »Ihr seid umzingelt. Jeder Fluchtversuch ist sinnlos. Laßt die Waffen fallen und ergebt euch!« Sie wußten die ganze Zeit über, daß wir hier sind! fuhr es Walker durch den Sinn. Deshalb kamen sie – wegen uns! »Zum Teufel auch!« fluchte Janus knurrend. Weiter vorn waren zwanzig Visitors in Stellung gegangen und versperrten den Weg nach Süden. Walker und Janus verharrten kurz und blickten sich rasch um. An allen Seiten waren rotgekleidete Soldaten postiert, die Waffen einsatzbereit in den Händen. »Laßt die Gewehre fallen und ergebt euch!« donnerte hinter ihnen wieder die nachhallende Stimme. »Zwingt uns nicht dazu, auf euch zu schießen.« »Die verfluchten Echsen haben uns tatsächlich umzingelt«, stieß Janus flüsternd hervor und warf dem Mann neben sich einen fragenden Blick zu. »Es bleiben uns zwei Möglichkeiten. Entweder ergeben wir uns, oder…« Ein metallisches Klicken ertönte, als er den Sicherungsbügel des Gewehrs zurückschob. »Oder wir setzen uns zur Wehr und…«
»…und erledigen einige von ihnen, bevor es uns erwischt«, beendete Janus und hob seine Waffe. »Schicken wir sie zur Hölle!« Der Lauf seiner Flinte schwang herum, als sich der alte Mann drehte und auf die Visitors anlegte, die im Osten vor einem Schuppen standen. Sekundenschnell drückte er ab, und eine orangefarbene Flammenzunge leckte aus der Mündung des großkalibrigen Gewehrs. Unmittelbar darauf entlud sich auch Walkers Waffe. Und Seite an Seite stürmten sie dem Feind entgegen. »Feuer!« befahl eine vibrierende Lautsprecherstimme. Walker sah, wie weiter vorn zwei Soldaten taumelten und zu Boden sanken, bevor blaue Blitze aus der Nacht heranrasten. Eine der Energieentladungen traf Janus mitten in die Brust. Der alte Mann gab einen gurgelnden Schrei von sich, der sofort abbrach, als er von einem zweiten Strahl getroffen und zu Boden geschleudert wurde. Nur einen Sekundenbruchteil später spürte Walker, wie in seiner linken Schulter heißer Schmerz aufflammte. Ein weiterer Blitz knisterte über das rechte Bein. Er wankte, und immer wieder betätigte sein Zeigefinger den Abzug. Es krachte und knallte, und er konnte gerade noch sehen, wie ein dritter Visitor fiel. Ganz deutlich sah Walker, wie der weißblaue Blitz heranzuckte. Er wollte ihm ausweichen, sich ducken, aber er war nicht schnell genug. Die Glut erfaßte ihn, und er schrie, als ihm der Schmerz durch alle Glieder fuhr. Ihm wurde schwarz vor Augen, und als er ins Gras sank, zerstoben seine Gedanken in betäubender Schwärze.
7. Kapitel
Das stechende Pochen im Unterkiefer holte Walker aus der Bewußtlosigkeit zurück. Er stöhnte, öffnete langsam die Augen und rechnete damit, glitzernde Sterne zu sehen. Statt dessen erwartete ihn trübes Dämmerlicht. Und das Summen? Es stammte weder von unten noch von oben. Es kam von allen Seiten, hüllte ihn ganz ein – ein Geräusch, dem er weiter keine Beachtung geschenkt hätte, wäre nicht das Pulsieren an seinen Zahnwurzeln gewesen. Er hob eine Hand, um sich die Wange zu massieren, doch diese Bewegung ließ ihn gleich wieder aufstöhnen. Jeder Muskel in seinem Körper schien zu brennen. Er fühlte sich so, als sei eine Dampfwalze über ihn hinweggerollt. Plötzlich erinnerte er sich an etwas, an Schüsse, an blaue Energieblitze… Walker blinzelte und zuckte zusammen, als er versuchte, den Kopf zu drehen. Der stechende Schmerz in seinem Nacken war dabei kaum zu ertragen. Was ist mit mir geschehen? Wo bin ich? Walker riß die Augen weit auf, um in dem trüben Licht besser zu sehen. Ein Visitor-Shuttle? Und bei diesem Gedanken fiel ihm alles wieder ein: die fünf Flugboote, die rotgekleideten Soldaten, die Entladungen ihrer Energiewaffen. Ich befinde mich an Bord einer Kampffähre! Er lebte noch – und das schien keinen Sinn zu ergeben. Deutlich erinnerte er sich daran, daß er zunächst an der Schulter und am Bein getroffen worden war. Dann der dritte Blitz, eine Glut, die seinen ganzen Körper erfaßte. Gleich
dreimal hatte man ihn getroffen – und doch konnte er noch denken und fühlen. Er biß die Zähne zusammen und versuchte, den Schmerz in seinen Muskeln zu ignorieren, als er über seinen Brustkorb tastete. Verwirrt runzelte er die Stirn, als er feststellte, daß er keine Verletzungen davongetragen hatte. Nicht einmal der schwarze Pullover war verkohlt. Vorsichtig rollte sich Walker auf die Seite und untersuchte seinen rechten Oberschenkel. Auch dort zeigten sich keine Brandspuren. Abgesehen von dem Brennen auf der Haut deutete nichts darauf hin, daß ihn Energieblitze erfaßt hatten. Er mußte die Zähne zusammenbeißen, als er sich auf den Ellenbogen in die Höhe stemmte. Er zog den Pullover hoch und entdeckte einen roten Fleck mitten auf der Brust. »Sieht wie ein Sonnenbrand aus. Und fühlt sich auch so an.« Ruckartig drehte Walker den Kopf. Janus saß an der einen Wand, hatte die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen. »Die Waffen der Echsen waren auf Betäubung eingestellt. Sie wollten uns gar nicht töten, nur gefangennehmen.« »Uns gefangennehmen?« Walker stöhnte und fluchte halblaut, und nach einer Weile gelang es ihm, sich aufzusetzen. Er sah den Polen an und fragte: »Aus welchem Grund?« Janus schnaufte verächtlich. »Um uns zu verspeisen. Weshalb sonst?« »Sie sind viel zu alt und zäh – die Visitors werden sich an Ihnen den Magen verderben.« Walker versuchte, seinen Gefährten mit einem Scherz aufzumuntern. Aber weder Janus noch er selbst lächelten. Vielleicht hat er recht, dache Sam. Welchen Grund gab es sonst dafür, daß man sie nicht auf der Stelle erschossen hatte? Er erinnerte sich an die Gerüchte, daß die Visitors lebende Nahrung brauchten –
oder Fleisch von Lebewesen, die gerade erst getötet worden waren. »Nun, wenn uns die verdammten Reptilien auf ihre Speisekarte setzen wollen, so werde ich dafür sorgen, daß einige von ihnen eine unangenehme Überraschung erleben, bevor sie mich in den Ofen schieben.« Walker machte Anstalten, sich zu erheben. »Stehen Sie nicht…« Sam stemmte sich in die Höhe – und sein Kopf stieß an eine stahlharte Decke. »…auf!« Walker sank auf die Knie zurück und fluchte. Das Bild vor seinen Augen verschwamm. Das Halbdunkel täuschte. Sie befanden sich nicht in einem Raum, wie er zunächst angenommen hatte, sondern in einer Art Lagerfach, das nur wenig mehr als einen Meter hoch war. »Warum, zum Teufel, haben Sie mich nicht gewarnt?« Er starrte Janus an. »Ich hätte mir einen Schädelbruch zuziehen können.« »Ich wollte es gerade.« Janus zuckte mit den Schultern. »Aber Sie waren schneller als ich.« Walker schnaufte und sah sich um. In den Wänden ihres Gefängnisses ließen sich keine Fugen erkennen. Wenn es einen Ausgang gab, so blieb er ihm verborgen. »Wenn es uns nicht vor dem Start des Shuttles gelingt, ins Freie zu kommen, landen wir doch noch auf den Tellern der Visitors.« Auf Händen und Knien kroch Walker an den Wänden des knapp zwei Meter langen und hundertfünfzig Zentimeter breiten Lagerabteils entlang, und es schien so, als seien alle – unbestimmt ob es Material aus Metall oder Kunststoff war – lückenlos zusammengeschweißt.
»Verfluchter Mist!« Wütend schlug er mit der Faust auf eine der Seitenflächen. »Wenn wir keine Tür finden, sitzen wir hier fest.« »Vermutlich wollten die Echsen ganz sichergehen, daß wir ihnen nicht entwischen können.« Janus ließ sich ebenfalls auf die Knie sinken und schob sich an Walker heran. »Warm oder kalt?« fragte er, als er sich an der Seite des jüngeren Mannes befand. »Warm oder kalt?« wiederholte Janus. Er deutete auf die nächste Wand. »Diese hier ist wärmer als die auf der anderen Seite. Wo, meinen Sie, geht es nach draußen?« »Wenn der Stoffwechsel der Visitors ebenso beschaffen ist wie der der irdischen Reptilien, so führt Kälte zu einer Verlangsamung ihrer Reaktionen«, antwortete Walker. »Ich vermute, die Innenräume des Flugbootes sind hinter der warmen Wand.« »Ich bin mir da nicht so sicher – mir fällt da wieder dieser Bericht ein, der kurz nach dem Erscheinen der Mutterschiffe weltweites Aufsehen erregte.« Janus näherte sich der kühlen Wand. »Erinnern Sie sich? Es ging dabei um einen Visitor, der in einem Chemiewerk einen menschlichen Arbeiter rettete und sich dabei Temperaturen aussetzte, die denen flüssigen Stickstoffs oder Sauerstoffs entsprechen.« Walker runzelte die Stirn und nickte knapp. Er hatte die Artikel über den Vorfall auch gelesen. Seit dem Eintreffen der fremden Raumschiffe wurde ein Großteil der Nachrichtensendungen den Sirianern gewidmet, und es war nicht leicht, alle Meldungen im Gedächtnis zu behalten. Ein weiteres Problem kam hinzu: Es war schwierig, die Lügen, die die Bevölkerung eines ganzen Planeten getäuscht hatten, von der Wahrheit zu trennen.
Janus betastete die kühlere Wand, wich gleich darauf ein wenig zurück und stemmte die Füße dagegen. »Versuchen wir’s mal auf diese Weise.« Er zog die Beine an und trat ruckartig zu. Ein Fluch löste sich von seinen Lippen, und er versuchte es erneut. Beim dritten Mal half ihm Walker bei seinen Bemühungen, und sein Stöhnen begleitete das Ächzen des alten Mannes. Jeder Stoß bewirkte neuen Schmerz, der durch alle Muskeln zog. »Hat keinen Sinn«, keuchte Janus nach einigen Minuten und ließ sich zurücksinken. Selbst in dem matten Zwielicht konnte Walker das verzerrte Gesicht seines Gefährten sehen, und er ahnte, wie es um ihn stand. Er spürte die Erschöpfung ebenfalls. Janus aber war viele Jahre älter als er, und daher belasteten ihn die Anstrengungen sicher weitaus mehr. Andererseits… Irgendwie mußten sie entkommen, wenn sie nicht in den Kochtöpfen der Visitors enden wollten. »Ruhen Sie sich ein wenig aus«, sagte Walker. »Gleich versuchen wir’s noch mal zusammen.« Und im Anschluß an diese Worte trat er erneut zu. Seine Füße stießen auf keinen Widerstand, sondern trafen ins Leere. Abrupt hob Walker den Kopf. Die Wand war verschwunden, und er starrte direkt in die dunkle Mündung eines Strahlengewehrs. »Kommt raus!« befahl eine weibliche Stimme aus der Dunkelheit hinter der Energiewaffe. Eine ruckartige Bewegung des Laufs unterstrich die scharfen Worte. »Los, bewegt euch! Und versucht keine Tricks. Ich würde es sehr bedauern, euch erschießen zu müssen, nachdem wir euch so hervorragend lebend gefaßt haben.« Was, zum Teufel, soll das bedeuten? Walker ließ seinen Blick durch den Raum jenseits ihrer Zelle schweifen. Das Licht dort
war ein wenig heller, und er konnte mindestens zwanzig Paar Stiefel erkennen – die schwarzen Stiefel von Einsatzsoldaten. Und ebenso viele Waffen zielten auf den Zugang der kleinen Kammer. Sie machten deutlich, daß jeder Fluchtversuch einem Selbstmord gleichkam. Auf Händen und Knien kroch er aus dem Lagerungsabteil, und Janus folgte dicht hinter ihm. Die Frau deutete mit dem Lauf des Gewehres befehlend nach oben, und Walker stand auf. Ein flaues Gefühl quälte ihn in seiner Magengrube, als er feststellen mußte, wie sehr er die gegnerische Streitmacht unterschätzt hatte. Er sah sich mindestens fünfzig Visitors gegenüber. »Faltet die Hände hinterm Kopf und geht langsam an die Wand zurück«, vibrierte die weibliche Stimme hinter einem dunklen Helmvisier. Die Mündung zielte genau auf Walkers Brust. Hilflos zuckte er mit den Achseln und kam der Anweisung nach, ebenso wie Janus. Kurz darauf erweckte ein leises Zischen seine Aufmerksamkeit. Er wandte den Blick zur Seite und sah, wie sich der Zugang des Lagerabteils schloß. Einige Sekunden später war nur noch eine fugenlose Wand zu erkennen. »Oh, unsere Gäste sind erwacht«, erklang weiter rechts eine männliche Stimme. »Ich dachte schon, wir müßten sie schlafend ins Mutterschiff mitnehmen. Alicia wäre sehr ungehalten gewesen, hätte sie darauf warten müssen, daß unsere beiden Gefangenen das Bewußtsein wiedererlangen.« Die Einsatzsoldaten traten zur Seite, und für einige Sekunden beobachtete Walker weiter hinten blinkende Lichter an einer U-förmigen Apparatur, bei der es sich um die Kontrollkonsole des Shuttles handeln mochte. Darüber gab es ein langes Aussichtsfenster. Walker hielt unwillkürlich den Atem an, als
er in der Schwärze des Alls die dicke Scheibe eines riesigen Mutterschiffes ausmachte. Lieber Himmel – wir haben die Erde verlassen! Ihm wurden die Knie weich, als er begriff, wie ausweglos ihre Lage war. Jenseits der Außenwände des Flugbootes lauerte die Leere des Alls – ein sicherer Tod. Meine Güte – ich weiß nicht einmal, wo wir sind! Ein Mann erhob sich aus einem der beiden Sessel vor den Kontrollen und kam auf sie zu. Als er den Helm absetzte, schnappte Janus nach Luft. »So sieht man sich wieder.« Der Visitor strich sich blondes Haar aus der Stirn und bedachte den alten Polen mit einem Lächeln. »Gerald?« Janus starrte den Mann ungläubig an. »Aber… Sie kamen am V-Tag zusammen mit zehn Angehörigen der Fünften Kolonne im Daley Center ums Leben!« Gerald lachte leise, und sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Wie Sie sehen können, bin ich noch immer recht lebendig. Jemand anders starb an meiner Stelle. Eine List, die es mir ermöglichte, am gleichen Tag den Angriff auf das Hauptquartier der Widerstandsgruppe zu leiten. Schade, daß Sie nicht dort waren. Dann wäre Ihnen die Reise mit diesem Shuttle erspart geblieben.« »Ein Spion!« ächzte Janus. Er spuckte aus. »Sie sind ein verdammter Spion.« Gerald lachte erneut. »Nun, in dieser Hinsicht vertreten wir entgegengesetzte Standpunkte. Es kommt ganz auf die jeweilige Perspektive an.« Walker achtete kaum auf den Wortwechsel zwischen Janus und Gerald. Seine Aufmerksamkeit galt in erster Linie dem gewaltigen Mutterschiff. Eine rechteckige Öffnung bildete sich inmitten der Lichter, die am Rumpf des riesigen Raumschiffes glühten, und das Shuttle hielt genau darauf zu.
Als sie näher heran waren, beobachtete Walker Bewegungen auf einer langen Plattform, die er für ein Landedeck hielt. Visitors in roten Uniformen eilten zwischen Dutzenden von Flugbooten hin und her. Es blieb ihm ein Rätsel, was für eine Art von Kraftfeld die Luft im Hangar daran hinderte, ins Vakuum des Weltraums zu entweichen. Ohne eine weitere Kurskorrektur glitt das Shuttle in die weite Halle und schwebte in Richtung auf ein rotes Zeichen am Boden. Dort angekommen, sank es langsam herab und setzte mit einem kaum spürbaren Ruck auf. »Das Antitoxin im Hauptquartier…«, brachte Janus hervor. »Sie haben es gefunden und eingenommen. Darum sind Sie und Ihre Leute nicht dem Gift zum Opfer gefallen.« Bei diesen Worten richtete Walker seinen Blick wieder auf das junge Gesicht dieses Mannes, den Janus Gerald genannt hatte. Das getarnte Echsenwesen lächelte spöttisch und deutete auf das Schott, das sich in der einen Flanke des Flugbootes öffnete. »Ich wünschte, wir könnten unser nettes Gespräch weiterführen, Janus, aber es gibt da jemanden, der bereits auf Sie und Ihren Begleiter wartet. Und es könnte gefährlich werden, Alicias Geduld über Gebühr zu strapazieren.« Der Lauf eines Strahlengewehres traf Walker an den Rippen. Er hielt seine Hände nach wie vor hinter seinem Kopf gefaltet, drehte sich langsam um und verließ das Shuttle. Als er das Landedeck betrat, taumelte er unwillkürlich, so beeindruckten ihn die ernormen Ausmaße des Hangars. Er mußte mehrere Kilometer lang und mindestens fünfzig Meter hoch sein. Endlos erstreckte er sich nach rechts und links. Und die Anzahl der Flugboote, die auf den Landefeldern mit den roten Markierungen standen? Er konnte sie nicht annähernd abschätzen.
»Durch den Korridor dort vorn.« Gerald nickte in Richtung auf einen seltsam geformten Durchgang auf der anderen Seite des Hangars. Zwei Einsatzsoldaten übernahmen die Führung, und sechs andere schritten neben und hinter den beiden Gefangenen her. Das Licht wurde trüber, als sie die verwinkelte Passage erreichten. Walker blinzelte, damit sich seine Augen schneller an das Halbdunkel gewöhnten und er seine Umgebung beobachten konnte. Die fremden Schriftzeichen, die er hier und dort an den Wänden sah, blieben ohne Sinn für ihn. Er versuchte sich den Weg einzuprägen, den sie nahmen, jede Kreuzung und Kurve im Gang. Doch schon nach zehn Minuten gab er es auf, da er völlig die Orientierung verloren hatte. Selbst wenn es ihnen gelingen sollte, Gerald und den Soldaten zu entkommen, überlegte Walker – sicher verirrten sie sich in dem Labyrinth von Fluren, Tunneln, Passagen und Kammern. Und falls sie es doch schafften, in den Hangar mit den Flugbooten zurückzufinden? Was dann? Sam verstand sich darauf, Hubschrauber zu fliegen, aber er war kein Astronaut. Konnte er denn hoffen, mit seiner Helikopter-Ausbildung ein Visitor-Shuttle zur Erde zurückzufliegen? Im Weltraum genügte es nicht, den Bug einer Flugmaschine aufs Ziel auszurichten und das Gaspedal durchzutreten. An der nächsten Abzweigung wandten sie sich nach links, und kurz darauf betraten die Soldaten eine große Kammer. Vor einer schwarzumrandeten Tür in der gegenüberliegenden Wand des riesigen Raumes blieben sie stehen. Gerald näherte sich dem Schott und preßte die Hand auf eine grüne Sensorfläche. Eine Öffnung bildete sich. Erneut schwindelte Walker angesichts der gewaltigen Ausmaße des Mutterschiffes. Die Halle hinter dem Schott war mindestens dreimal so groß wie die Kammer, die sie gerade
durchquert hatten. Und an den Wänden zeigten sich Tausende von blinkenden Lichtern, Dioden, Bildschirmen und Kontrolleinrichtungen. An der Wand gegenüber gab es auch eine wesentlich schlichtere Konsole. Fünf weißgekleidete Visitors saßen davor und betätigten dann und wann einige Tasten. Durch eine halbhohe Glaswand sahen sie in einen kleinen Raum. Der Sessel in der Mitte der Halle schwang herum, und Walker sah in seinen Polstern eine außergewöhnlich schöne Frau. Sie strich sich das schulterlange blonde Haar zurück und musterte die beiden Gefangenen. Vielleicht ist sie sogar zu schön, dachte Walker und beobachtete sie. Dabei beschlich ihn das merkwürdige Gefühl, daß mit ihr etwas nicht stimmte. Doch so sehr er auch nach einem Makel in der menschlichen Maske Ausschau hielt – er konnte nicht den geringsten Fehler darin entdecken. Die Züge waren ebenmäßig und perfekt. Aber das Unbehagen blieb. »Bringen Sie sie näher heran, Gerald.« Der Visitor kniff die blauen Augen zusammen. »Zu Befehl, Alicia.« Gerald gab Walker und Janus einen Stoß, und einen Meter vor der Kommandantin in ihrem Sessel ließ er sie stehenbleiben. Alicia sah erst Walker und dann Janus an. Nach einigen Sekunden atmete sie tief durch und schüttelte den Kopf. »Sind dies die beiden Kontaktpersonen, die Sie erwähnten? Aus irgendeinem Grund hatte ich mehr erwartet.« »Machen Sie sich keine Sorgen – sie werden uns von Nutzen sein. Dieser Mann hier gehört der Widerstandsbewegung an.« Gerald deutete auf Janus. »Und der andere ist derjenige, dessen Frau wir getötet haben. Niemand in Chicago wird argwöhnen, sie könnten konvertiert worden sein.«
»Konvertiert!« Janus versteifte sich, und er starrte Gerald und Alicia wuterfüllt an. »Niemals! Janus Brodaski läßt sich nicht zu einem Echsen-Sklaven machen! Eher sterbe ich!« Alicia lachte leise und humorlos. »Vielleicht kommen Sie wirklich ums Leben. Einige Menschen haben den Konvertierungsprozeß nicht überstanden. Doch die meisten wurden dadurch zu treuen Dienern unseres Großen Denkers. Ich glaube, Sie werden ebenfalls auf unsere Seite wechseln.« Abrupt drehte sich Alicia zur Konsole um. »Wir verschwenden Zeit, Gerald. Sorgen Sie dafür, daß sie entkleidet und in die Konvertierungskammer gebracht werden. Ich muß mich um andere Dinge kümmern.« Acht Läufe von Strahlengewehren kamen in die Höhe und richteten sich auf die beiden menschlichen Gefangenen. Gerald sah sie an. »Ziehen Sie sich aus.« »Nein.« Walker konzentrierte alle Kraft, die ihm noch verblieben war, auf dieses eine Wort. Ihre einzige Hoffnung bestand in offener Gegenwehr – selbst wenn sie diese nur mit Worten leisten konnten. »Erschießen Sie uns ruhig. Zwei Leichen nützen Ihnen überhaupt nichts.« Janus sammelte Speichel und spuckte Gerald ins Gesicht. »Der Tod ist mir lieber, als zu einem verdammten EchsenZombie zu werden!« Gerald senkte kurz den Kopf und wischte sich die Wange sauber. Dann hob er mit einem Ruck den Arm, umfaßte Janus’ linkes Handgelenk und drückte so fest zu, daß der alte Mann die Finger strecken mußte. »Wenn Sie unbedingt sterben wollen… Diesen Wunsch kann ich Ihnen durchaus erfüllen.« Geralds Blick richtete sich auf Walker, während er die kleine Energieschleuder aus seinem Gürtelholster zog. »Aber ich versichere Ihnen, es wird ein langsamer und sehr qualvoller Tod.«
Walker sah zu, wie Gerald die Mündung der Waffe auf Janus’ kleinen Finger richtete. Ein leises Klicken ertönte. Und ein bläulicher Blitz zischte. Janus schrie. Er bebte am ganzen Leib, und die Knie knickten ihm ein. Zwei Wächter hielten ihn an den Schultern fest und verhinderten, daß er zu Boden sank. Walker riß entsetzt die Augen auf, betrachtete das kalkweiße Gesicht des alten Mannes, dann die verkohlte Kuppe des kleinen Fingers. Der üble Geruch verbrannten Fleisches stieg ihm in die Nase. »Der Mensch kann erhebliche Schmerzen ertragen, bevor er schließlich zusammenbricht und stirbt. Wir haben genügend Möglichkeiten, die Leidenszeit bedeutend zu verlängern.« Gerald preßte die Mündung des Strahlers auf den nächsten Knöchel und drückte erneut ab. »Neeiin!« heulte Walker, und seine Stimme vermischte sich mit Janus’ schrillem Aufschrei. Er sprang vor und wollte seine Hände um Geralds Kehle schließen. Doch er hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als ihn zwei Visitor-Soldaten von hinten packten. »Bitte… bitte…«, keuchte Janus, und sein Gesicht war eine schmerzverzerrte Fratze. Gerald zielte auf das letzte Gelenk des kleinen Fingers. »Die Entscheidung liegt nicht bei mir, Janus, sondern bei Ihrem sturen Begleiter.« »Sam.« Janus rollte mit den Augen. »Ich… ich halte es nicht aus… Sam. Diese Schmerzen sind entsetzlich.« Der unerschütterliche Janus Brodaski, den Walker während der letzten Monate kennengelernt hatte, existierte nicht mehr. Jetzt war er nichts weiter als ein alter Mann – ein alter Mann, der sich qualerfüllt hin und her wand, als Gerald ihm den kleinen Finger verschmorte. In Walkers dunklen Augen glitzerte Haß, als er sich wieder dem Visitor zuwandte.
Gerald zuckte nur mit den Achseln und drückte seine Waffe zum drittenmal ab. »Genug!« Walker versuchte, Janus’ Schmerzensschrei zu übertönen. »Das reicht. Hören Sie endlich auf.« Ein zufriedenes Lächeln umspielte Geralds Lippen. Er nickte den Soldaten zu. »Entkleidet sie und bringt sie in die Kammer.« Kalte Hände rissen Walker den schwarzen Pullover über den Kopf, zerrten ihm die Stiefel von den Füßen und griffen auch nach seiner Hose. Er bekam eine Gänsehaut, als ihm die kühle Bordluft über die nackte Haut strich, und dabei mußte er kurz daran denken, daß die Temperatur für echte Reptilien viel zu niedrig war – jedenfalls für Echsen vom irdischen Typus. »Sam…« Janus sah Walker an, und seine Lippen zitterten heftig, als er vergeblich nach den richtigen Worten suchte. Dann ließ er nur den Kopf hängen. Vier Visitor-Soldaten führten ihn in die kleine Kammer mit den Glaswänden. Bevor Walker seinem Gefährten noch versichern konnte, daß er ihn verstand und ihm keine Vorwürfe machte, erhielt er ebenfalls einen Stoß. Zwei Lichtkreise entstanden auf – nein, in – dem Boden des Konvertierungskäfigs. Die Soldaten schoben Janus in den einen und führten Walker zu dem anderen. In dem Augenblick, als ihn die Außerirdischen losließen, versuchte Sam, an die gläserne Barriere heranzuspringen, hinter der die Kommandantin des Mutterschiffes saß. Doch seine Arme und Beine waren wie gelähmt. Er konnte sich nicht von der Stelle rühren. »Widerstand ist zwecklos«, hallte Alicias scharfe Stimme durch die Kammer. »Ich beherrsche nun Ihren Körper.« Walker starrte das als faszinierende Frau getarnte Echsenwesen an, das einen gelben Sensorpunkt berührte. Und obgleich er sich mit ganzer Kraft dagegen zu wehren
versuchte, streckte er die Arme in Richtung der Kommandantin aus. »Wenn Sie aus freiem Willen dazu bereit sind, mich zu umarmen, gehören Sie mir.« Alicias Stimme schien nicht nur in der Kammer zu erklingen, sondern auch inmitten seiner Gedanken. »Sie werden sich nach mir sehnen, Samuel Walker, Tränen des Glücks vergießen, wenn sie meinen Leib an dem Ihren spüren.« »Niemals!« brüllte er. Vielleicht hätte ihn diese Antwort zuversichtlicher gestimmt – wenn er sicher gewesen wäre, daß er sie wirklich laut aussprach. Er hörte seine Stimme, glaubte wenigstens, sie zu hören, doch seine Lippen bewegten sich nicht. Er versuchte, die Augen zu schließen, aber die Lider gehorchten nicht mehr seinem Willen. »Sie werden mich umarmen, Sam. Und dann genießen wir zusammen eine Ekstase, die sich Menschen nicht einmal erträumen können.« Alicias vibrierende, nachhallende Stimme verklang, und zurück blieb ein Hauch von Verlockung. Die Kommandantin stand auf der anderen Seite der Glaswand auf, und ihre Lippen deuteten ein wissendes Lächeln an. Sie stieg auf die Konsole mit den farbigen Anzeigen, richtete sich auf und ließ das Gewand fallen. Mit ausgestreckten Armen trat sie durch die kristallene Barriere und kam in die Kammer. Nein, das ist unmöglich! Walkers Verstand weigerte sich zu akzeptieren, daß ein Wesen in der Realität durch feste Wände gehen konnte. »Umarme mich, Sam. Wenn du mich liebst, kann ich dich beschützen. Wenn du mich liebst, sorge ich dafür, daß weder dir noch deinem Gefährten ein Leid geschieht.« Völlig nackt stand Alicia vor ihm, und sie lächelte erneut, als sein Blick über ihren prächtig gebauten Körper glitt, als er ihre vollen Brüste bewunderte, die aufgerichteten Brustwarzen
betrachtete, als er seinen Blick weiterschweifen ließ, hin zum Nabel, dann… »NEIN!« Walker schüttelte langsam den Kopf, und der bewegte sich wirklich von einer Seite zur anderen, das spürte er ganz deutlich! Wieder sah er Alicias pralle Brüste und erinnerte sich an das Gefühl, daß mit dieser Frau etwas nicht stimmte. Plötzlich fiel ihm ein, was es war. »Echsen haben keine Brüste! Eine Maske! Es ist nichts weiter als eine Maske!« Aus dem verlockenden Glitzern in Alicias blauen Augen wurde ein zorniges Irrlichtern. Wie Wachs, das von einer Flamme erhitzt wurde, löste sich die falsche Haut auf und rann von dem wirklichen Gesicht der Frau, einem Gesicht, das aus grünschwarzen Schuppen bestand. Gelb-orangefarbene Schlitzaugen glühten dort, wo eben noch azurne Pupillen gewesen waren. Und eine geteilte Schlangenzunge züngelte zwischen hornigen Lippen hervor. »Echse!« zischte Walker. »Reptil!« »Nun gut, Samuel Walker, wenn Sie mich zurückweisen…« Alicias Gestalt löste sich auf, und einen Sekundenbruchteil später saß sie wieder an der Konsole, diesmal in eine rote Uniform gekleidet. Und erneut sah er die ebenmäßigen Züge einer schönen Frau. »Dann umarmen Sie sich eben selbst.« Walkers ausgestreckte Arme bewegten sich und schlangen sich um ihn. Illusion. Er hatte die nackte Alicia als ein Trugbild erkannt, und er versuchte sich einzureden, daß sein jetziges Gefühl ebenfalls auf eine gesteuerte Vision zurückging. Andererseits jedoch konnte er spüren, wie Finger Druck auf die Haut an seinen Seiten ausübten. »Umarmen Sie Ihr gesamtes Ich!« fauchte Alicias Stimme hinter seiner Stirn.
Und Walkers Gedanken verloren sich in einem gleißenden Lichtstrudel. Sein Bewußtsein von der Gegenwart wirbelte dahin, und die Konturen der Konsole jenseits der Glaswand verflüchtigten sich. Raum und Zeit lösten sich auf, fügten sich neu zusammen und ein Gespenst von Erinnerungen senkte sich über ihn… Walker fühlte den Steuerknüppel eines Hubschraubers, doch die Maschine reagierte nicht, als er daran zog. Auch der Druck auf die Pedale blieb wirkungslos. Die Rotorblätter drehten sich immer langsamer, und der Helikopter fiel dem Dschungel entgegen. Illusion! Walkers Gedanken rasten. »Oh, nein, es ist keine Illusion, Yankee! Du wirst jetzt sterben!« Walker war an einen Baumstamm gebunden. Die Gerüche des Regenwaldes vermischten sich mit dem Schweißgeruch seiner Furcht. Ein alter Vietnamese stand vor ihm. Er trug einen Strohhut und lächelte. Hinter ihm sah er das brennende Wrack des abgestürzten Hubschraubers. »Fahr zur Hölle!« knurrte der Asiate und zog Walkers Messer aus dem Futteral. Mit beiden Händen umfaßte er den Griff, hob die Klinge hoch über den Kopf und stieß zu. Illusion! Walker versuchte, dem scharfen Stahl, der sich in seinen Brustkasten bohrte, keine Beachtung zu schenken. Nichts weiter als eine Illusion! Ich verfluche dich, Alicia! Ich verfluche dich und deine Echsenbrut! Nichts. Walker schwebte – in grauer Leere. Völliges Nichts umhüllte ihn. Er vernahm keinen Laut, nicht einmal seinen eigenen Herzschlag. Und es gab auch keine Farben in dieser absoluten Stille: Unter seiner transparenten Haut zeigten sich durchsichtige Knochen und Organe.
Allein. Kalter Schweiß bildete sich auf der konturlosen Oberfläche seines Nicht-Körpers, ein Schweiß, den er weder fühlen noch riechen konnte. Die Ziellosigkeit seines Denkens und Fühlens nach dem Krieg, das Empfinden der Desorientierung, die Einsamkeit – all das kehrte nun zurück. Er schwebte dahin, allein, verloren in nebelhaftem Grau. Illusion! hallte Walkers innere Stimme durch diese Schattenwelt der Isolation. »Sie fürchten die Einsamkeit, Sam«, hörte er Alicias Stimme in lange verdrängten Erinnerungen. »Sie sind allein – für immer und ewig! Und Sie werden bis ans Ende der Zeit im Nichts schweben, wenn Sie sich nicht dazu bereitfinden, mich in die Arme zu schließen.« »Illusion!« Walker mußte sich dazu zwingen, in die gespenstische Leere zu schreien. Das Nichts blieb, und die uralte Furcht ließ ihn wimmern. Nein. Nein. Nein. »Umarme mich«, flüsterte Alicia. »Du brauchst mich nur in die Arme zu nehmen…« Walker wich zurück. Das verdammte Echsenwesen erkundete seine Erinnerungen und seine Ängste und suchte nach einer Möglichkeit, seinen Widerstandswillen zu brechen – was bisher nicht einmal Dutzende von Schicksalsschlägen zustande gebracht hatten. Kathleen, die ihn vor der Einsamkeit rettete. Kathleen, die seinem Leben wieder einen Sinn gab. Kathleen, rief er den flüchtigen Erinnerungsbildern zu. Und in der farblosen Leere erinnerte er sich angestrengt an das Gesicht der Frau. Kathleen. Er trat auf sie zu, breitete die Arme aus… »Nein!« zischte Alicia. »Sie ist tot!« Kathleen verschwand. Der grinsende Tod nahm ihren Platz ein und streckte Walker bleiche Knochenhände entgegen. Er sank zurück ins Nichts, zurück in die Einsamkeit.
»Nur ich kann dich retten, Sam.« Wieder Alicias verlockende Stimme, die einer sanften Frühlingsbrise glich. »Umarme mich. Liebe mich. Mehr verlange ich gar nicht von dir. Schließ mich in die Arme – auf daß wir für immer zusammen sein können.« »Neeiin!« Walkers Nicht-Stimme hallte in dem Grau wider, erzeugte schrille Echos in seinem Innern. Er schrie und schrie und schrie. Und niemand hörte ihn, niemand gab Antwort. Um ihn herum herrschte ewige Stille.
8. Kapitel
Walker spürte kalte Hände, die ihn in die Gegenwart zogen. Mattes Licht erhellte eine Welt der Dunkelheit, und er taumelte und zuckte. Trüb glänzende Funken tanzten durch den Nebel vor seinen Augen, und erneut spürte er Kühle, die ihn berührte und über seine Haut strich. Er blinzelte. Der Dunst verflüchtigte sich kurz, und für einige Sekunden sah er einen Kopf. Das Gesicht blieb hinter einem dunklen Helmvisier verborgen. »Erbrachte… erbrachte… das… das… Verfahren… Verfahren… den… den… gewünschten… gewünschten… Erfolg… Erfolg…?« hallte irgendwo in der Ferne Geralds Stimme. »Es… es… war… war… so… so… erfolgreich… erfolgreich… wie… wie… man… man… es… es… von… von… der… der… ersten… ersten… Phase… Phase… erwarten… erwarten… kann… kann…«, erklang die vibrierende Antwort aus Alicias Richtung. Zwei Hände schoben sich unter Walkers Achseln und stützten ihn. Während er spürte, wie man ihn bewegte, zitterte ein dünnes Lächeln in seinen Mundwinkeln. Die Stimme der Kommandantin gellte nicht mehr hinter seiner Stirn! Das Nichts war verschwunden! Verschwunden! Aus Walkers Lächeln wurde ein zufriedenes Grinsen. Und ich bin noch immer Samuel Walker – ein Mensch. Ein Mensch, du verdammte Echse! Es ist dir nicht gelungen, einen Sklaven aus mir zu machen! »Ihr braucht mich nicht zu tragen. Ich kann auf eigenen Füßen stehen.« Er schüttelte aber nur den Kopf und schaffte es
nicht, die fremden Hände zur Seite zu stoßen. Er versuchte, das Gleichgewicht zu wahren, wankte jedoch. »Nun, ein wenig Hilfe wäre vielleicht doch nicht so schlecht.« Er neigte den Kopf von einer Seite zur anderen, und durch den Nebel, der sich wieder vor seinen Augen verdichtete, sah er zwei Helme. Vor ihm erstreckten sich mehrere Korridore und bildeten ein Labyrinth, das noch unentwirrbarer erschien als zuvor. Wie hell das trübe Licht an Bord des Mutterschiffes nach der farblosen Leere wirkte! Er hörte ein mechanisches Zischen, sah einen weißen Glanz und fühlte, wie man ihm einen Stoß gab. Haltlos stolperte er auf eine Liege zu und sank nieder. Die Schritte der beiden Soldaten, die ihn gestützt hatten, entfernten sich, und das Zischen erklang erneut. »Sam?« Walker stemmte sich auf den Ellbogen in die Höhe, hob mühsam den Kopf und blinzelte einige Male, bis er Janus erkennen konnte, der auf dem Rand der zweiten Liege hockte. Walker sah sich in dem kleinen Raum um, in den er gestoßen worden war. Die Einrichtung bestand nur aus den beiden Kojen. »Sam?« wiederholte Janus. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Sam?« Walker nickte und verzog das Gesicht. »Ich bin nach wie vor ein Mensch.« »Dann richten Sie sich auf«, verlangte Janus. »Was?« Walker versuchte, sich auf den alten Polen zu konzentrieren. »Ich sagte, Sie sollen sich aufrichten, Sam.« Janus’ Stimme klang schärfer. »Jetzt sofort.« Walker stöhnte, rollte sich auf die Seite und kämpfte einige Sekunden lang gegen den Schwindel an, bis er seinen Oberkörper in die Höhe bringen konnte. Er lehnte den Rücken
an die kühle Wand und starrte den alten Mann an. »Ich begreife nicht, was das soll«, ächzte er. »Würden Sie mir bitte erklären…« »Fangen Sie!« Janus warf ihm einen Schuh zu. Aus einem Reflex heraus hob Walker die rechte Hand und griff danach. »Was soll das, zum Teufel?« »Ich wollte nur sichergehen, daß Sie wirklich ein Mensch geblieben sind.« Janus lächelte dünn. »Es gibt untrügliche Zeichen, an denen man Leute erkennen kann, die von den Visitors konvertiert wurden. Rechtshänder, die man in die Umwandlungskammer bringt, kommen als Linkshänder wieder heraus.« »Und ich habe mit der rechten Hand nach dem Schuh gegriffen.« Walker lächelte ebenfalls – und abrupt holte er aus und warf den Schuh zurück. Die Rechte des alten Mannes kam in die Höhe und fing ihn. Walker nickte. »Das hat nicht viel zu bedeuten.« Janus bewegte die linke Hand und hielt sie so, daß Walker den schwarzen Stumpf sehen konnte, der von seinem kleinen Finger übriggeblieben war. »Damit könnte nicht einmal eine Echse etwas auffangen.« Sorgenfalten bildeten sich auf Walkers Stirn. Im Nichts von Alicias Konvertierungskammer hatte er ganz vergessen, was die Echsen mit Janus gemacht hatten. Er beugte sich vor und fragte: »Wie steht’s damit?« Janus winkte ab und deutete auf ein schwarzes Bündel, das vor Walkers Liege auf dem Boden lag. »Ziehen Sie sich an, wenn Sie nicht erfrieren wollen. Die verdammten Reptilien haben vergessen, die Heizung einzuschalten.« Bevor er nach seinen Sachen griff, nahm Walker eine Decke vom Fußende von Janus’ Koje und breitete sie über den alten Mann. Der Stumpf des kleinen Fingers mochte ihm noch immer erhebliche Schmerzen bereiten, aber zum Glück ließen sich keine Anzeichen einer Infektion erkennen. Die
Energieentladungen von Geralds Laser hatten die Wunde geschlossen. »Wie lange dauert es wohl, bis wir ebenfalls zu Linkshändern geworden sind?« fragte Janus leise, während Walker sich die Socken über die Füße streifte und anschließend die Hose anzog. »Bevor es dazu kommt, verschwinden wir von hier.« Walker versuchte, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben und über die dumpfe Furcht hinwegzutäuschen, die sich in ihm regte. »Dann sollten wir uns beeilen, denn ich kann nicht mehr lange Widerstand leisten.« Janus’ Stimme wurde zu einem düsteren Flüstern. »Es war schrecklich. Alicia las in meinen Gedanken wie in einem offenen Buch. Ja, sie blätterte in den einzelnen Kapiteln meines Lebens – bis sie die Seiten fand, auf die sie es abgesehen hatte. Dann schleuderte sie mich in die Vergangenheit zurück, zeigte mir meine Verwandten, meine Freunde. Und auch die Nazis. Ich mußte alles noch einmal durchmachen. Sie zwang mich…« Er brach ab und starrte auf seine linke Hand. Walker schloß die Augen und holte tief Luft, bevor er sich auf der Liege ausstreckte. Janus hatte recht. Zwar wußte er nicht, wie die Mechanismen der Konvertierungskammer funktionierten, aber er zweifelte nicht daran, daß sie von Alicia zunächst nur dazu verwendet worden waren, den Bewußtseinsinhalt ihrer beiden Gefangenen zu erfassen, ihre schwachen Punkte zu entdecken, alle jene tief in ihnen verwurzelten Ängste, die ihr einen Ansatzpunkt boten. »Fast einen ganzen Tag lang hat sie uns in der Kammer bearbeitet«, sagte Walker langsam. »Und doch konnte sie unseren Willen nicht brechen. Wir sind zu stark für sie.«
»Wir waren dem Umwandlungsverfahren nicht einmal eine Stunde lang ausgesetzt.« Janus hob die rechte Hand und deutete auf seine Armbanduhr. »Keine sechzig Minuten…« Verwirrt schloß Walker die Augen und atmete tief durch. Weniger als eine Stunde. Und doch hatte er das Gefühl gehabt, eine Ewigkeit lang in dem farblosen Nichts zu schweben. Nach einer Weile schlug er die Augen wieder auf und sah sich zum zweitenmal aufmerksam in ihrer Zelle um. In der Wand am Fußende der Liegen konnte er eine Tür erkennen, und in der Decke bemerkte er ein Gitter. Dahinter schloß sich ein etwa sechs Zoll breiter Belüftungsschacht an. Das Licht kam von allen Seiten ohne einen bestimmten Ursprung und war so matt wie überall an Bord des gewaltigen Mutterschiffes. Nur durch die Tür konnten sie den kleinen Raum verlassen. »Janus, ist Ihnen irgend etwas aufgefallen, als man Sie hierher brachte?« fragte Walker. »Etwas, das uns bei der Flucht helfen könnte?« Als Janus keine Antwort gab, drehte Walker sich um. Der alte Mann lag unter der Decke und schnarchte leise. Die physische und psychische Erschöpfung forderte ihren Tribut. Einige Sekunden lang überlegte Walker, ob er Janus wecken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er ließ sich wieder zurücksinken und dachte daran, daß sich die Befürchtungen des alten Polen vermutlich bestätigen würden. Es konnte sicher nicht mehr lange dauern, bis es Alicia gelang, sie ebenfalls zu willfährigen Marionetten der Visitors zu machen. Noch eine oder zwei weitere Behandlungsphasen… Walker stellte sich vor, wie er der Aufforderung der Kommandantin nachkam und sehnsüchtig die Arme nach ihr ausstreckte. Nein, das durfte er nicht zulassen. Es blieb ihnen gar keine andere Wahl, als einen Fluchtversuch zu wagen, selbst auf die Gefahr hin, daß sie dabei ums Leben kamen. Und dazu mußten sie ausgeruht sein.
Walker rollte sich auf die Seite und schlief innerhalb weniger Sekunden ein. Doch in seinen Träumen sah er Kathleens Gesicht, das sich in einen grinsenden Totenschädel verwandelte.
Als Walker das dumpfe Zischen vernahm, mit dem sich das Schott öffnete, fuhr er ruckartig in die Höhe. Ein Visitor stand im Zugang ihrer Zelle, die eine Hand um den Kolben eines Lasers geschlossen. »Wecken Sie Ihren Gefährten, Mr. Walker. Wir müssen uns beeilen, wenn Sie in Sicherheit gelangen wollen, bevor Alicia Sie für die nächste Behandlungsphase abholen läßt.« Die Stimme hinter dem dunklen Helmvisier klang weiblich, und Walker erinnerte sich daran, sie schon einmal gehört zu haben – als man ihnen befohlen hatte, das Lagerabteil zu verlassen. »Bitte. Es bleibt uns nur wenig Zeit.« »Was… was ist denn los?« Janus blinzelte, starrte erst die Visitor an und dann Walker. »Was hat das zu bedeuten, Sam?« »Das weiß ich ebensowenig wie…« »Erklärungen würden uns nur aufhalten«, warf die Gestalt in der roten Uniform ein. Die Visitor klappte das Visier hoch, und die beiden Männer sahen die sympathischen und hübschen Züge einer Frau. Brünette Haarsträhnen ringelten sich unter dem Helm hervor und umrahmten ein Gesicht, in dem sich Besorgnis zeigte. »Bitte beeilen Sie sich. Entkleiden Sie die beiden Wächter hier und ziehen Sie ihre Uniformen an!« Erst jetzt bemerkte Walker die beiden Gestalten, die reglos vor der Tür lagen. Er beobachtete sie einige Sekunden lang und richtete den Blick dann wieder auf die Visitor. »Wir rühren uns nicht von der Stelle, solange wir nicht wissen, was hier gespielt wird.«
»Verdammte menschliche Sturheit!« zischte die Frau und sah kurz über die Schulter. »In jedem Augenblick könnte jemand kommen und auf die beiden Soldaten aufmerksam werden.« Walker schüttelte den Kopf. »Richten Sie Alicia einen schönen Gruß und sagen Sie ihr, wir hätten nicht die Absicht, auf einen ihrer Tricks hereinzufallen.« »Alicia hat damit überhaupt nichts zu tun. Mein Name ist Jennifer. Ich gehöre zur Fünften Kolonne an Bord dieses Mutterschiffes. Und wenn Sie sich jetzt endlich in Bewegung setzen, haben Sie vielleicht noch eine Chance, eine kleine Chance, mit dem Leben davonzukommen.« Die Stimme Jennifers zitterte, und in ihren grünen Augen blitzte es. Walker und Janus blieben sitzen. »Narren! In sechs Stunden soll die zweite Behandlungsphase in der Konvertierungskammer beginnen. Und in zwei Stunden verläßt ein Shuttle den Hangar eins und steuert Arlington Heights an.« Jennifer seufzte. »Die Zeit reicht kaum mehr aus, das Flugboot zu erreichen. Außerdem besteht die Möglichkeit, daß Alicia Ihre Flucht bemerkt, bevor Sie landen. Begreifen Sie jetzt, wie wichtig es ist, nicht noch mehr Zeit zu verlieren?« Janus tauschte mit Walker einen kurzen Blick, und der jüngere Mann nickte. Sie standen beide auf und zogen die Wächter in die Zelle. Walker hielt sich nicht damit auf festzustellen, ob die beiden Soldaten tot oder nur bewußtlos waren. Er half Janus dabei, den einen Wächter zu entkleiden, und im Anschluß daran zogen sie den anderen aus. Einige Minuten später trugen die beiden Gefangenen rote Uniformen und Helme und richteten ihre Laser auf Jennifer. »Wir kommen mit Ihnen«, sagte Janus. »Aber glauben Sie nur nicht, wir würden Ihnen trauen.«
»Ich erschieße Sie bei dem ersten Anzeichen dafür, daß Sie uns in eine Falle locken wollen«, sagte Walker fest und ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit. Jennifer rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf. »Dann sollten Sie wissen, wie man mit den Lasern umgeht. Der kleine Hebel an der Seite dient zur Regelung der Energiestärke. Wird er ganz nach vorn geschoben, töten die Strahlen. Im Moment sind die beiden Ergschleudern auf Betäubung justiert. Können wir jetzt los?« Walker schob den Hebel ganz nach vorn, nickte und gab der Frau einen Wink, die Führung zu übernehmen. Jennifer schloß die Tür der Zelle hinter ihnen und schritt dann durch den linken Korridor. Fünfmal wandten sie sich nach rechts, und kurz darauf blieben sie vor einem Schott stehen. Die Finger der Visitor tasteten über ein Kontrollfeld in der Wand, das aus zehn Tasten bestand. Ein leises Zischen, und das Segment vor ihnen schob sich zur Seite. »Ein Wartungsschacht. Dieser Weg ist sicherer. In den Hauptkorridoren würden wir früher oder später jemandem begegnen.« Jennifer winkte. »Kommen Sie.« »Warum gehen wir nicht einfach in den Passagen weiter?« fragte Walker, als sich das Schott hinter ihnen schloß. »In den Uniformen wird uns niemand erkennen.« »Mit Ihren Stimmen fallen Sie sofort auf«, erwiderte Jennifer. »Ein Wort würde genügen, um Sie zu verraten.« Die Visitor drehte sich und schritt durch den schmalen Schacht. Walker schloß die Hand fester um den Kolben der Waffe, folgte ihr und achtete darauf, daß der Lauf des Lasers ständig auf den Rücken der Frau deutete. Er wußte es zwar nicht genau, glaubte aber, daß Jennifer sie in die Richtung führte, aus der sie kamen. Der Schacht wies viele Kurven und Abzweigungen auf, und schon nach kurzer Zeit verlor Walker die Orientierung. Er
folgte Jennifer einfach, sah immer wieder Rohre und dicke Kabelstränge. Nach und nach argwöhnte er, daß die Visitor sie im Kreise führte. Er biß sich auf die Lippen. Die Befreiung aus der Zelle, die Hoffnung auf ein Entkommen – und dann, wenn sie das Shuttle erreichten, eine neuerliche Gefangennahme… eine solche Taktik traute er Alicia durchaus zu. Die tiefe Enttäuschung über das Scheitern ihrer Flucht mochte den Konvertierungsprozeß erleichtern. »Nach oben!« Jennifer blieb neben einer Leiter stehen. »Wir müssen zum nächsten Deck hoch.« Walker legte den Kopf in den Nacken und erblickte eine dunkle Öffnung in der Decke des Tunnels. Die Sprossen reichten mindestens dreißig Meter weit, und in der Ferne ließ sich mattes Licht erkennen. Er sah Jennifer an. »Nach Ihnen.« Die Frau zuckte kurz mit den Schultern und stieg die Leiter hoch. Walker deutete auf Janus’ linke Hand und sah den Polen fragend an. Der ältere Mann starrte den Schacht empor, holte tief Luft und nickte. »Ich schaffe es schon.« Walker trat zur Seite, so daß Janus der Visitor folgen konnte. Er nahm sich vor, seinen Gefährten zu stützen, wenn sich dessen Verletzung als einschneidende Behinderung erweisen sollte. Er schlang sich den Riemen des Gewehrs über die Schulter, griff nach einer Sprosse und zog sich in die Höhe. Nach rund fünfzehn Metern wurde Walker auf Janus’ Stöhnen und Ächzen aufmerksam. Ab und zu sah er in dem trüben Licht das Gesicht des älteren Mannes, das immer dann zu einer schmerzverzerrten Fratze wurde, wenn er seine linke Hand belastete. Doch Janus hielt nicht inne und kletterte weiter. Auf seiner blassen Haut glänzte der Schweiß, und er schnaufte und keuchte, als er hinter Jennifer aus dem Tunnel kroch.
»Jetzt kommen wir leichter voran«, versicherte die Visitor und half Janus beim Aufstehen. Walker brachte die letzte Sprosse hinter sich, erreichte den Gang und erhob sich ebenfalls. Als er weiter vorn die Zugänge von vier Wartungstunneln sah, hob er die Augenbrauen und musterte Jennifer fragend. Die Frau blickte kurz auf den Laser, dessen Lauf immer noch auf sie gerichtet war. »Weiter vorn gibt es einen Ausgang«, sagte sie und deutete in Richtung auf die rechte Passage. »Wir müssen etwa zweihundert Meter im Hauptkorridor zurücklegen, und anschließend gehen wir durch einen Lagerbereich, um in den Hangar eins zu gelangen.« Nach etwa fünfzig Metern blieb Jennifer vor einem Schott stehen. Erneut tasteten ihre Finger über eine Kontrolleinheit, und als die Tür aufglitt, spürte Walker einen kühlen Luftzug. »Warum ist es hier kälter?« fragte er und durchschritt das Schott. »Still!« Jennifer hob den Zeigefinger an die Lippen. »Dieser Teil des Raumschiffes gehört nicht zu den arbeitsintensiven Bereichen, aber es könnten Wächter in der Nähe sein. Wenn die Soldaten Ihre Stimmen hören, sind wir erledigt.« »Und die Kälte?« beharrte Walker flüsternd. In Jennifers grünen Augen blitzte Verärgerung auf. »Die Räume in dieser Sektion dienen der Lagerung. Die Temperatur ist deshalb so niedrig, weil…« Sie zögerte, und unsicher wechselte ihr Blick zwischen den beiden Menschen hin und her. »Es ist einfacher, wenn ich Ihnen zeige, was ich meine. Hier entlang. Und klappen Sie die Helmvisiere herunter. Ich möchte vermeiden, daß die Wächter Sie erkennen.« Walker fluchte lautlos und folgte der Frau. Die getönte Sichtscheibe verwandelte das trübe Licht in Schwärze. Wenn Jennifer beabsichtigte, sie in eine Falle zu locken, so bot sich
ihr nun eine gute Gelegenheit dazu. Er war praktisch blind, und sicher ging es Janus nicht anders. Nach hundert Metern wurde ihm der Grund für Jennifers Besorgnis klar. Eine Tür öffnete sich, und zwei VisitorSoldaten traten auf den Gang und sahen ihnen entgegen. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Sergeant?« fragte einer von ihnen. »Wir führen nur eine Bereichskontrolle durch«, erwiderte Jennifer knapp. »Setzen Sie Ihren Dienst fort.« Die beiden Soldaten salutierten und warteten, bis die Frau und ihre beiden Begleiter vorbeigeschritten waren. Dann wandten sie sich um und gingen in die entgegengesetzte Richtung davon. Walker nahm den Finger vom Auslöser der Strahlenwaffe und ließ leise den angehaltenen Atem entweichen. Kurz darauf blieb Jennifer vor einem weiteren Schott stehen. Es war breiter als die anderen, die sie bisher gesehen hatten. Zögernd gab sie einen Code in das Tastenfeld, und die Luke öffnete sich mit einem überraschend lauten Zischen. »Jetzt verstehen Sie sicher, warum es hier so kalt ist«, sagte die Visitor. Walker schob das Helmvisier hoch, sah sich um und nickte langsam. »Dies ist also die Lagersektion, die Sie vorhin erwähnten…« Jennifer seufzte bestätigend und senkte betroffen den Blick. »Ihr verdammten Echsen!« Janus klappte sein Visier ebenfalls hoch. Und er erbleichte, als er den Blick durch den Raum schweifen ließ. »Nicht einmal Hitlers Krematorien waren so schlimm wie das hier…« Das Lagerabteil ließ sich nicht mit Begriffen wie »Raum« oder »Sektion« umschreiben. Es handelte sich vielmehr um ein gewaltiges Gewölbe, das alle Maßstäbe sprengte, an die Walker gewöhnt war: Es erstreckte sich kilometerweit. Sie
standen auf einem breiten Laufsteg, und Walker trat an die Brüstung heran, starrte in die Tiefe und ihm schwindelte. Er hatte plötzlich das Gefühl, auf dem Dach eines Wolkenkratzers zu stehen. Die riesenhafte Kammer war gefüllt mit Abertausenden von halbtransparenten Kapseln, die eine milchige, geleeartige Substanz erhielten. Doch Walkers Übelkeit kam nicht vom Anblick jener Masse: In dem trüben Grauweiß konnte er die Konturen menschlicher Gestalten ausmachen. Barrington, Arlington Heights, Rolling Meadows, Des Plaines – irgendwo in ihm erklangen die Namen der Vororte Chicagos, deren Bewohner von den Visitors verschleppt worden waren. Männer, Frauen und Kinder, über Nacht verschwunden. »Verstaut in individuellen Konservierungsbehältern«, brummte Janus, der Walkers Gedanken zu erraten schien. Walker kniff die Augen zusammen und sah Jennifer an. »Sind sie tot?« Die Visitor hob den Kopf. »Nein. Sie hibernieren.« »Um irgendwann als Echsen-Schmaus zu dienen!« Janus fluchte. »Wie viele sind es? Zehntausend?« »Mehr. Dies ist nur eine Lagersektion von vielen.« Jennifers Stimme war kaum mehr als ein schamerfülltes Raunen. »Mir sind die Hände gebunden. Aber wenigstens habe ich die Möglichkeit zu verhindern, daß Sie ebenfalls hier enden – oder von Alicia konvertiert werden. Wir müssen jetzt weiter, wenn wir das Shuttle rechtzeitig erreichen wollen.« Bevor Walker oder Janus Einwände erheben konnten, wandte sich die Visitor zur Seite und schritt über den breiten Laufsteg. Eine Zeitlang wanderte sie an der Brüstung entlang, und Walker konnte seinen entsetzten Blick nicht von den vielen Hibernationskapseln abwenden. Nach einer Weile öffnete Jennifer ein Schott, das dem ähnelte, durch das sie in die
gewaltige Kammer gelangt waren. Im Hauptkorridor wandte sie sich nach links, bis sie eine Abzweigung erreichten, wo sich die Visitor für eine der vier Passagen entschied. Kurz darauf blieb sie vor einer weiteren Luke stehen, und zum fünften Mal betätigte sie die Tasten eines Kontrollfeldes. Ein Wartungstunnel schloß sich an das Schott an, ein weiterer mit Rohren und Kabelsträngen gefüllter Schacht. Doch der Zugang zum unteren Deck unterschied sich völlig von der Leiter-Passage, die sie zuvor benutzt hatten. Eine rechteckige Öffnung zeigte sich im Boden, und in der Tiefe erklang ein dumpfes Rauschen und Tosen, wie von einem heranziehenden Orkan. »Ein Belüftungsschacht!« rief Jennifer, um das Zischen und Fauchen zu übertönen. »Der einzige Weg nach unten.« Walker trat an den Rand der Öffnung heran und blickte in die Tiefe. Eiskalte Luft wehte ihm ins Gesicht. Er blinzelte, als ihm Tränen aus den Augen quollen, die auf seinen Wangen sofort zu gefrieren schienen. In einer Entfernung von rund dreißig Metern sah er Zugänge in den stählernen Wänden, aus denen dicke Rohre ragten. Unterhalb dieser Öffnungen setzte sich der Schacht fort. Walker hielt vergeblich nach einer Leiter Ausschau. »Wie, zum Teufel, sollen wir das Deck unter uns erreichen?« schrie er. Jennifer zeigte eine erstaunliche Kraft, als sie Walker von der Bodenöffnung fortdrängte. Sie rückte den Riemen des Lasers zurück, schob sich die Waffe auf den Rücken, streckte Arme und Beine – und sprang in den Schacht. »Nein!« entfuhr es Walker, und aus einem Reflex heraus versuchte er, die Visitor festzuhalten. Doch seine Finger faßten ins Leere. Erschrocken beobachtete er, wie die Frau in die Tiefe stürzte.
Nur einige Sekundenbruchteile später lächelte er überrascht: Jennifer fiel nicht, sondern schwebte. In der Haltung eines Fallschirmspringers bot sie dem Wind genügend Widerstand, und langsam sank sie den Rohren weiter nach unten entgegen. Als sie dort ankam, winkte sie den Männern zu und kroch in einen der beiden Tunnelzugänge. »Sam, ich kann nicht…« Janus riß die Augen auf, und sein Gesicht war kalkweiß. »Es bleibt uns keine andere Wahl!« rief Walker. Er legte dem älteren Mann den einen Arm um die Taille und zerrte ihn auf die Öffnung im Boden zu. »Heben Sie die Arme und spreizen Sie die Beine!« Als Janus seiner Aufforderung nachgekommen war, gab ihm Walker einen Stoß. Der Pole fiel. Mehrere Flüche erklangen, bei denen es unter anderem um die Verwandtschaftsbeziehungen Walkers zu einer räudigen Hündin, seine bevorzugten Sexualpartner und die ewige Verdammnis seiner Seele ging. Janus’ Stimme verklang erst, als er die Rohre erreichte. Jennifer zog ihn in den nahen Tunnel. Walker schlang sich den Waffenriemen über die Schulter, breitete Arme und Beine aus und stürzte sich ebenfalls in den Schacht. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, als drehe sich ihm der Magen um. Dann spürte er, wie der eisige Wind ein Kissen unter ihm bildete. Sanft wie eine Feder sank er hinab und näherte sich den Röhren. Einige Sekunden später stand er fröstelnd im Wartungsschacht und rieb sich die kalte Haut. »Der Hangar eins befindet sich jenseits des Schottes dort.« Jennifer deutete auf die Tür am Ende des Tunnels. Sie mochte etwa zwanzig Meter entfernt sein. »Klappen Sie die Helmvisiere herunter. Und schweigen Sie, wenn Sie sich nicht durch Ihre Stimmen verraten wollen!«
Walker nahm wieder den Laser zur Hand und überprüfte noch einmal die Justierung. Wenn die Flucht durch das labyrinthische Innere des Mutterschiffes nur einer von Alicias Tricks war, so mußte die befürchtete Falle auf der anderen Seite des Schotts sein. Er ließ das dunkle Visier herab, wartete, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, und gab der Frau ein Zeichen. Als sie das Schott passierten, nahm Walkers Nervosität rapide zu. Im Gegensatz zu ihrer Ankunft an Bord des Mutterschiffes war der weite Bereich des Hangars jetzt nahezu verlassen. Nur drei Visitors standen neben der geöffneten Luke eines Shuttles und unterhielten sich leise. Walkers Zeigefinger tastete nach dem Auslöser der Strahlwaffe. Er hatte nicht die Absicht, sich einfach zu ergeben. »Wir warten hier, bis die beiden Arbeiter gehen.« Jennifer deutete auf das Flugboot. »Ich kümmere mich um den Wächter.« Walker schwieg und nickte. Das Warten dauerte nur einige Minuten, doch Walker erschien es wie eine Ewigkeit. Dann endlich lachten die Arbeiter, winkten und wandten sich von dem Shuttle ab. Jennifer winkte ihren beiden Begleitern zu und trat vor. »Soldat, Ihre Aufgabe besteht darin, Wache zu halten. Schwatzen steht nicht auf Ihrem Dienstplan!« In Jennifers Stimme war eine militärische Schärfe zu vernehmen, die Walker zuvor schon einmal gehört hatte. »Warum haben Sie die beiden Techniker von der Arbeit abgehalten?« Der Wächter drehte sich um, und als er Jennifer sah, nahm er rasch Haltung an. Die Visitor hob ruckartig das Gewehr, und der Kolben traf das unter der menschlichen Maske verborgene Kinn des Soldaten. Der Mann stöhnte leise und sank zu Boden. Jennifer richtete den Lauf auf ihn, aber er rührte sich nicht.
»Erschießen Sie ihn, wenn er sich bewegt«, sagte die Frau und warf Janus einen kurzen Blick zu. Walker dagegen forderte sie auf: »Kommen Sie. Wir müssen uns den Piloten vornehmen.« Seite an Seite betraten sie das Shuttle. Wie sich herausstellte, war der Pilot überhaupt kein Problem. Jennifer hielt ihm nur den Laser an die Stirn und drohte, ihm den Kopf von den Schultern zu brennen, wenn er sich weigern sollte, ihre Anweisungen zu befolgen. Der Mann schluckte und nickte hastig. »Tragen Sie den Wächter herein«, wandte sie sich an Walker. »Wenn er entdeckt wird, war alles umsonst.« Walker drehte sich sofort um, kehrte zu Janus zurück und zerrte den bewußtlosen Soldaten ins Shuttle. Hinter dem alten Polen und ihm schwang die Luke zu. Walker wirbelte um die eigene Achse. Jennifer bedrohte nach wie vor den Piloten und zischte einige Befehle in der Sprache der Visitors. Der Mann gehorchte wortlos, griff nach einem Hebel auf der Konsole und schob ihn nach vorn. Das Flugboot glitt übers Deck und näherte sich dem Außenschott. Als sich die beiden großen Segmente auseinanderschoben, drückte er den Hebel ganz nach vorn, und das Shuttle beschleunigte. Einige Sekunden später befanden sie sich außerhalb des riesigen Mutterschiffes. »Sperren Sie ihn und den Wächter im Lagerabteil ein!« sagte Jennifer und bedeutete dem Piloten, seinen Platz hinter den Kontrollen zu verlassen. Während Walker den Visitor mit seiner Waffe in Schach hielt, wandte sich die Frau der Konsole zu und betätigte eine Taste. Hinter Walker ertönte ein leises Zischen, und als er sich umdrehte, sah er, wie sich eine der Lagernischen öffnete. Kurz darauf waren sowohl der Soldat als auch der andere Visitor in der kleinen Kammer gefangen. Walker ließ den
Laser sinken und seufzte. Erst jetzt zweifelte er nicht mehr daran, daß Jennifer wirklich das war, was sie zu sein behauptete: eine Angehörige der Fünften Kolonne. Ihre Absicht bestand tatsächlich darin, ihnen zu helfen. Es gab keine Falle. Walker trat an die Seite der Sternenfrau mit dem menschlichen Aussehen und beobachtete, wie jenseits des Bugfensters die bewegungslosen Massen der Mutterschiffe vorbeiglitten. Vor ihnen erstreckte sich eine Licht Jahrmilliarden tiefe schwarze Leere. »Wir haben es geschafft!« Walker grinste. »Wir haben es wirklich geschafft!« »Noch sind wir nicht auf der Erde.« Jennifer nahm ihren Helm ab und schüttelte den Kopf. Langes, kastanienfarbenes Haar fiel ihr auf die Schultern. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, als sie aufsah. »Es kommt nach wie vor darauf an, Sie nach Hause zu bringen, bevor Alicia Ihre Flucht bemerkt.« »Ich verlasse mit ganz auf Sie.« Zuversichtlich legte er ihr die Hand auf die Schulter. Jennifer sah wieder nach draußen. »Es hängt nicht nur von mir ab, Sam Walker. Wir brauchen auch eine gehörige Portion Glück.« Walker blickte ebenfalls durch das lange Fenster und preßte die Lippen zusammen. Eine schmale weiße Sichel formte sich in der Schwärze – Sonnenlicht, das von der Oberfläche des irdischen Mondes reflektiert wurde. Die Flotte der Visitors war nicht etwa geflohen, sondern hatte sich nur ein wenig zurückgezogen. Die Mutterschiffe verbargen sich hinter Luna. Mit wachsendem Entsetzen starrte er auf die Streitmacht des Feindes, und nach einer Weile bemerkte er jenseits der Sichel eine gefleckte Scheibe. Die Erde, dachte er und bewunderte die blaue Pracht seiner Heimatwelt. Wir sind unterwegs nach Hause!
9. Kapitel
Walkers Füße betätigten die Kontrollpedale, und die Hände strichen über die Schaltvorrichtungen zu beiden Seiten des Pilotensessels. Ein kleiner Lichtfleck, der auf einem Minidisplay in der Konsole blinkte, verschob sich um zwei Grad von der Darstellung der Erde. Rasch berührte er einige Sensorpunkte und korrigierte damit den Kurs des Shuttles. »Ein Kinderspiel!« Er sah Jennifer an und grinste. »Das Ding fliegt praktisch von ganz allein.« »Im All braucht man nur die Scanner aufs Ziel zu richten und den Kurs zu halten«, erwiderte sie und lächelte ebenfalls. »In der Atmosphäre eines Planeten aber reagiert das Shuttle eher wie eines Ihrer modernen Flugzeuge.« Walker steuerte die Kampffähre mit der Freude eines Kindes, das gerade ein neues Spielzeug erhalten hat. Er wünschte sich, eine größere Kontrolle auf die Systeme des Shuttles ausüben zu können, aber das blieb ihm aufgrund gewisser Sicherheitsmaßnahmen versagt, die Alicia angeordnet hatte. Janus sah ihm über die Schulter, betrachtete kurz die größer werdende Scheibe vor ihnen und fragte: »Wo wollen Sie mit diesem Ding landen?« »Der Navigationscomputer ist auf eine Basis in der Nähe des Arlington Parks programmiert«, erklärte Jennifer. »Es ist mir nicht gelungen, jene Datenbasis zu löschen. Mit anderen Worten: Ich kann kein anderes Ziel angeben.« Walker biß sich auf die Lippen. Jennifers Worte erinnerten ihn an das, was sie auf der Erde erwartete. Gerald und seine immunen Soldaten hatten die verlassene Rennbahn zu ihrem geheimen Stützpunkt gemacht. Der abgelegene Arlington Park
stellte den idealen Brückenkopf für die Visitors dar, um erneut die Kontrolle über die Menschheit zu erringen. »Es ist mir nach wie vor ein Rätsel, was zweihundert Soldaten bewerkstelligen sollen.« Janus schüttelte den Kopf. »Alles ist vergiftet: die Luft, das Wasser, der Boden. Die Erde ist für die Visitors doch jetzt wertlos.« »Alicia hat eine neue Operationsbasis, und sie hofft, von dort aus Chicago beherrschen zu können und Zugang zur SeenRegion zu haben.« Als Walker aufstand, nahm sie wieder hinter den Kontrollen Platz. »Die irdischen Wasservorkommen stellen einen Schatz dar, den sie nicht einfach aufgeben will.« »Aber der V-Staub!« wandte Janus ein. »Das Wasser ist tödlich für Sie!« »Ihre Wissenschaftler entwickelten ein Antitoxin.« Jennifer sah den alten Mann an. »Und früher oder später dürfte das auch unseren Biologen gelingen.« Janus’ erstaunter Gesichtsausdruck ähnelte Walkers Verblüffung. Der jüngere Mann runzelte bestürzt die Stirn, als er über etwas nachzudenken begann, das eigentlich offensichtlich hätte sein sollen. Der rote Giftstaub stellte die einzige Waffe gegen die Visitors dar. Doch warum sollte es den Außerirdischen nicht gelingen, ebenfalls ein Gegenmittel herzustellen? Walker zweifelte nicht daran, daß sie die nötigen Voraussetzungen dafür hatten. Das wissenschaftliche Potential der extraterrestrischen Reptilien war beträchtlich. »Im Moment hat es Alicia allerdings nicht in erster Linie auf das Wasser und das Nahrungsmittelreservoir der Erde abgesehen«, fügte Jennifer hinzu. »Sie will Paul Nordine und die anderen.« »Nordine?« Walker drehte ruckartig den Kopf und starrte die Frau groß an.
»Auf diese Weise bereitet sie ihre Rückkehr vor. Ihr Plan besteht darin, die wichtigsten Personen der neuen Verwaltungsstruktur Chicagos zu entführen und sie zu konvertieren, und sie wird mit dem Anführer der Widerstandsbewegung beginnen.« Jennifer seufzte. »Sie beide sollten bei Nordines Verschleppung helfen.« Walker schauderte. Ein einfacher Plan – und dem Erfolg stand praktisch nichts entgegen! Wer würde schon auf den Gedanken kommen, die Visitors könnten auf einen vergifteten Planeten zurückkehren? Die Entführung von Entscheidungsträgern, ihre Konvertierung – und im Anschluß daran würde man sie zurückbringen, ohne daß irgend jemand Verdacht schöpfte. Bis schließlich wieder die riesigen Raumschiffe am Himmel auftauchten und die Visitors erneut Anspruch auf die Erde erhoben. Und dann war es für die Menschheit zu spät! »Das bedeutet, in Chicago gibt es einen Verräter, der mit der Echsenbrut zusammenarbeitet!« Zorn gleißte in Janus’ blauen Augen. »Möglich.« Jennifer nickte. »Vermutlich handelt es sich um eine oder mehrere Personen, die Alicia konvertierte, bevor die Flotte zum Rückzug gezwungen wurde. Denken Sie daran: Die Umwandlungen begannen am Tage unserer Ankunft. Monate vergingen, bevor jemand auch nur ahnte, daß unsere Kommandanten Menschen zu willfährigen Marionetten machten.« »Ein Verräter«, wiederholte Janus, und er strich über die weißen Stoppeln, die sich an seinem Kinn gebildet hatten. »Wer?« Nachdenklich verließ er die Pilotenkanzel, ließ sich im Innenraum auf die Bank sinken und grübelte. Auch auf Walkers Wangen hatte sich ein Bart gebildet. Schon seit zwei Tagen habe ich mich nicht mehr rasiert, dachte er in
dem Versuch, die Zeit abzuschätzen, die seit ihrer Gefangennahme verstrichen war. Er nahm in dem Sessel neben Jennifer Platz und beobachtete die blauweiße Scheibe der Erde. Unter den faserigen Wolkenschichten ließen sich nun die ersten Umrisse der Kontinente erkennen. Die Ereignisse der letzten Tage schienen plötzlich Teil einer fernen Vergangenheit zu sein, so als beträfen sie gar nicht ihn selbst, sondern einen anderen Mann, der ebenfalls den Namen Samuel Walker trug. Der Sieg über die Visitors, Kathleens Tod, die Landung der Flugboote, Alicias Konvertierungskammer, Jennifer, die Flucht – die Erinnerungen an all das trübten sich, als Walker überlegte, was sie nach der Ankunft in Arlington Park unternehmen sollten. »Können wir nach der Landung sofort wieder starten und Chicago anfliegen?« fragte er, während sein Blick nach wie vor auf dem blauen Glanz jenseits des langen Fensters ruhte. »Der Navigationscomputer ist darauf programmiert, das Shuttle nach einem neuerlichen Start zum Mutterschiff zurückzusteuern«, erwiderte Jennifer. »Dann jagen wir den verdammten Computer eben in die Luft«, sagte Walker. »Und übernehmen anschließend die manuelle Kontrolle.« Jennifer schüttelte den Kopf. »Diese Kontrollen hier sind direkt mit dem Bordrechner verbunden, der alle Schaltungen des Piloten analysiert und mit den Daten des Programms vergleicht. Ich glaube, ein ähnliches System verwenden Sie in Ihren modernen Düsenjägern. Der Computer verhindert, daß ein Pilot das Shuttle zu eigenen Zwecken einsetzt.« »Zur Hölle mit Alicia und ihren Sicherheitsprogrammen!« Walker hieb mit der Faust auf die Armlehne des Sessels.
»Sie fürchtet Verschwörer in unseren Reihen«, erklärte Jennifer. »Immer mehr Visitors begreifen allmählich, daß der Große Denker uns in Hinsicht auf Ihr Volk belog.« »Und Sie?« Walker musterte die Frau an seiner Seite. »Gehören Sie zu denen, die sich erst kürzlich der Fünften Kolonne anschlossen?« Jennifer lachte leise und widerhallend. »Die Fünfte Kolonne an Bord des Mutterschiffes unter Alicias Befehl bestand aus mir allein, als wir unsere Heimatwelt verließen. Ich war bereits eine Gegnerin des Großen Denkers, bevor er die Invasion anordnete.« »Und doch kamen Sie mit den anderen hierher und sind Teil von Geralds Streitmacht.« Walker musterte sie aufmerksam und versuchte, das Mienenspiel der menschlichen Maske zu deuten. »Meine Aufgabe bestand darin, für eine Opposition an Bord des Schiffes zu sorgen, und so die Macht des Großen Denkers von innen her auszuhöhlen.« Sie sah ihn an. »Um ganz offen zu sein: Es ging mir nicht in erster Linie um die Menschheit, sondern mein eigenes Volk. Die Bewohner der Erde interessierten mich nicht – bis ich sie kennenlernte. Da wurde mir klar, daß uns der Große Denker mit einer weiteren Lüge getäuscht hatte.« Jennifer fügte hinzu, sie habe einen Verräter in der Fünften Kolonne entdeckt und geplant, ihn während des Durcheinanders am V-Tag zu töten. »Sie kennen ihn: Es ist Gerald. Doch der erwartete Kampf blieb aus. Es gelang mir nicht, nahe genug an ihn heranzukommen .« »Aber Sie konnten eine Tablette des Antitoxins einnehmen«, sagte Walker und dachte daran, daß Jennifer zu der Streitmacht gehört hatte, von der der Stützpunkt des Widerstandes in Lake Zürich angegriffen worden war.
Die Visitor nickte. »Ich war überzeugt, Alicia würde Gerald hinrichten lassen, weil er das Gegenmittel an seine Leute verteilte. Statt dessen ist er nun die Angriffsspitze, die eine neue Invasion Ihrer Heimat vorbereitet. Ich ließ ihn nur deshalb am Leben, um Alicias Pläne in Erfahrung zu bringen.« »Und jetzt retten Sie zwei Fremde, anstatt ihn zu erledigen.« Walker zögerte kurz. »Was ist, wenn uns etwas zustößt? Sie werden doch sicher an Bord des Mutterschiffes gebraucht.« Jennifer zuckte mit den Schultern und lächelte. »Zwei Leben zu bewahren erschien mir wichtiger, als eins zu vernichten. Und was das Mutterschiff angeht: Es gibt dort noch andere Angehörige der Fünften Kolonne, die mindestens ebenso tüchtig sind wie ich. Man wird mich bestimmt vermissen, doch meine Abwesenheit bringt unsere Sache nicht in Gefahr. Außerdem: Sobald wir gelandet sind, bin ich Ihnen ausgeliefert.« »Ausgeliefert?« Walker starrte sie verwirrt an. Dann verzog er das Gesicht, als er verstand, was die Frau meinte. Jennifer hatte ihre Welt zwei völlig fremden Personen geopfert. Sie konnte nun nicht mehr zum Mutterschiff zurückkehren, denn im Lagerabteil befanden sich zwei Visitors, die wußten, welch entscheidende Rolle sie bei der Flucht der beiden Menschen gespielt hatte. »Können wir uns die beiden Kerle nicht irgendwie vom Hals schaffen, bevor wir landen?« fragte Walker. »Dann hätten Sie vielleicht noch eine Chance. Behaupten Sie einfach, Sie seien von uns überwältigt und gezwungen worden, das Flugboot zu steuern.« Walker bemerkte einen traurigen Glanz in Jennifers grünen Augen, und ihre Mundwinkel zitterten kurz, als sie ihn ansah. »Und was ist mit den Soldaten, die vor Ihrer Zelle Wache hielten? Sie haben mich erkannt.«
Sie schwieg einige Sekunden lang und holte tief Luft. »Nein, mein Freund. Die beiden Visitors im Lagerungssegment sollen überleben. Ich würde sie selbst dann nicht töten, wenn mir das einen Vorteil einbrächte. Sie hielten sich nur an ihre Befehle und wußten es nicht besser.« »Und Gerald?« »Mit ihm ist es völlig anders.« Jennifer preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. »Er weiß genau, was er macht. Mein Volk bedeutet ihm ebensowenig wie die Menschheit. Er will Karriere machen, und dafür geht er über Leichen.« Walker lehnte sich zurück und blickte wieder durch das breite Fenster, das einen Großteil der Bugfläche einnahm. Im Verlaufe der vergangenen Monate hatte irgendeine heimtückische Spinne ein weites Netz gesponnen, in dem sich die Völker zweier Welten verstrickten. Wie banal der Zank und die lokalen Kriege auf der Erde wirkten, wenn man sie mit einer interstellaren Konfrontation verglich! »Ich wünschte, ich könnte mich auf angemessene Weise für das bedanken, was Sie für uns getan haben«, sagte er schließlich. »Ich werde nicht allein sein.« Jennifer lächelte und versuchte, sich zuversichtlich zu geben. »Auf der Erde gibt es andere Visitors wie mich, Angehörige der Fünften Kolonne, die geblieben sind, um denen zu helfen, die für den Großen Denker nichts weiter sind als Vieh.« Wie viele Fremde von den Sternen waren auf der Erde zurückgeblieben? Walker wußte es nicht. Seit dem Rückzug der Visitors hatte er nur gerüchteweise von ihnen gehört. Unterschied sich ihr Schicksal so sehr von dem der Männer, Frauen und Kinder, die in den Hibernationskapseln an Bord der Mutterschiffe ruhten?
»Die Menschen im Frachtgewölbe«, sagte Walker langsam. »Was geschieht mit ihnen?« »Nichts – bis auf weiteres zumindest. Sie bleiben im Kälteschlaf, bis die Flotte in unsere Heimat zurückkehrt.« »Sie sollen als Nahrung für Ihr Volk dienen, nicht wahr?« Jennifer nickte. »Nicht nur die Verschleppten an Bord der Mutterschiffe, sondern die ganze Menschheit – dem Willen des Großen Denkers entsprechend. Aber machen Sie sich keine Sorgen: Die Fracht ist für die Bevölkerung unserer Heimatwelt bestimmt. Die Visitors an Bord ernähren sich von Organismen, die auf der Erde als Versuchstiere verwendet werden: Ratten, Mäuse, Kaninchen, Vogel. An das große Lagergewölbe schließt sich ein kleineres mit Käfigen und Pferchen an, in denen jene Wesen gezüchtet werden.« Walker seufzte erleichtert. Wenigstens derzeit drohte den Menschen an Bord keine Gefahr. »Finden Sie unsere Eßgewohnheiten so abscheulich?« Jennifer hob die Augenbrauen. »Ja – einmal ganz abgesehen davon, daß ich mich noch nie als eine Art Leckerbissen betrachtet habe. Nun, Ratten und Mäuse gelten bei uns nicht gerade als Delikatessen.« Walker schauderte, als er sich vorstellte, solche Tiere zu verspeisen. Nachdenklich verzog Jennifer die Lippen. »Aber Menschen essen ebenfalls Fleisch. Ist der Unterschied denn so groß?« »Zwischen Rattenragout und einem saftigen Beefsteak? Das glaube ich schon.« »Ich habe einmal ein solches Steak probiert«, sagte Jennifer und musterte ihn. »Wie mögen Sie es am liebsten?« »Dick und blutig«, antwortete Walker und verzog unangenehm berührt das Gesicht, als ein dünnes, vielsagendes Lächeln Jennifers Lippen umspielte. »Wie lange dauert es noch bis zur Landung?« fragte Walker und wechselte damit das Thema.
»Wir sind auf halbem Wege zwischen Mond und Erde.« Die Visitor nickte in Richtung eines Displays, auf dem sich fremde Schriftsymbole zeigten. »Noch zwei Stunden, bis wir den Arlington Park erreichen.« Walker rechnete rasch. »Vier Stunden für einen Flug vom Mond zur Erde.« Jennifer bestätigte. »Vielleicht sollten Sie die uns noch verbleibende Zeit ebenso nutzen wie Janus.« Sie neigte kurz den Kopf, und Walker sah nach hinten. Janus hatte sich auf dem Boden des Shuttles ausgestreckt und schnarchte. »Vermutlich haben Sie recht.« Walker machte es sich so bequem wie möglich und schloß die Augen. Er wußte, daß er nicht die Ruhe finden würde, um zu schlafen, aber er wollte mit sich und seinen Gedanken allein sein und die Gelegenheit nutzen, Jennifers Informationen mit all ihren Konsequenzen zu verarbeiten.
10. Kapitel
Das Visitor-Shuttle fiel. Tief unten glitt die Erde dahin: das Blau der Ozeane, die schiefergrauen und ockerfarbenen Töne von Bergketten, die grünen und braunen Flächen der Kontinente. Walkers Pulsschlag beschleunigte sich, und das dumpfe Pochen in seinen Ohren gab den Takt für sein schnaufendes Atmen an. Zum wiederholten Male erinnerte er sich an seine Erfahrungen als Hubschrauber-Pilot in Vietnam und versuchte, die gegenwärtige Situation einzuschätzen. Doch das Flugboot war kein Helikopter, und es raste mit einer Geschwindigkeit dahin, die weit höher war als die all jener Maschinen, die Walker jemals gesteuert hatte. Verdammt, wir sind viel zu schnell! Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, als er den Blick auf Jennifer richtete. Sie saß neben ihm im Pilotensessel und sah durch das breite Fenster. Sanft ruhten ihre Hände auf den Schalteinrichtungen der Konsole. Die Hebel bewegten sich von ganz allein: Der Bordcomputer hatte die vollständige Kontrolle übernommen. Walker schüttelte den Kopf und versuchte, mit der Panik fertig zu werden, die sich in ihm regte. Er schloß die Augen, aber selbst das half nicht. Ihm fielen die Bilder wieder ein, die er als Kind im Fernsehen beobachtet hatte, die NASASimulationen von dem Wiedereintritt einer Raumkapsel in die Atmosphäre. Vor seinem inneren Auge sah er den Hitzeschild, der durch die Reibungswärme hell aufglühte. Zum Teufel auch: Ich weiß nicht einmal, ob dieses Ding über einen Hitzeschild verfügt!
»Holen Sie tief Luft und entspannen Sie sich.« Jennifer versuchte, ihn zu beruhigen. Walker gab sich alle Mühe, ihren Rat zu beherzigen. Aber das Herz klopfte ihm bis zum Halse. »Ich sagte es Ihnen ja schon: Das Shuttle fliegt praktisch von ganz allein.« Die Visitor bedachte ihn mit einem aufmunternden Lächeln. »Ich kann gar keine Schaltfehler machen: Der Computer würde alle Anweisungen ignorieren, die eine Gefahr für das Flugboot darstellen.« Walker schluckte. »Ja, ich weiß. Das Problem ist nur: Mein Magen will sich einfach nicht davon überzeugen lassen.« »Sie hätten schlafen sollen.« Jennifers mitfühlendes Lächeln wuchs in die Breite, und sie wandte sich halb um und deutete auf Janus, der nach wie vor auf dem Boden des Innenraums lag und schnarchte. »Bitten Sie Ihren Magen darum, noch einige Minuten auszuhalten. Das Schlimmste haben wir inzwischen fast überstanden.« Walker richtete einige stumme Worte an das Rumoren in seinem Innern, aber der Magen antwortete mit einem zittrigen Knurren. Draußen wurde der helle Tag zu trübem Zwielicht, als sie sich ihrem Zielpunkt näherten, und bald tauchten sie in die Dunkelheit der Nacht. Das Flugboot raste hoch über der Erdoberfläche dahin. Das feurige Glühen, das Walker beim Eintritt in die Atmosphäre erwartete, blieb aus. Das Shuttle fiel einfach durch die Lufthülle und schien dabei auf überhaupt keinen Widerstand zu stoßen. Hier und dort machte er unten die Lichter von Städten aus, die die Schreckensherrschaft der Visitors überstanden hatten. »Das ist Chicago.« Jennifer beugte sich vor und deutete auf einen besonders hellen Fleck. »Sie sollten jetzt Janus wecken. Wir landen in zehn Minuten.«
Walker stand auf, machte mit weichen Knien ein paar Schritte in den Innenraum und trat an die Seite des alten Mannes. Als er ihn behutsam an der Schulter berührte, schlug Janus die Augen auf. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« Janus stemmte sich auf den Ellenbogen in die Höhe und blinzelte einige Male, als habe er Mühe, in die Wirklichkeit zurückzufinden. »Noch scheint alles bestens zu sein«, erwiderte Walker. »Aber die Landung steht bevor, und wir müssen mit Schwierigkeiten rechnen.« Er half Janus auf die Beine, und gemeinsam kehrten sie in die Pilotenkanzel zurück. Ein Blick durch das lange Fenster beruhigte das Rumoren in Walkers Magengrube. Die Landschaft sauste jetzt nicht mehr unter ihnen hinweg, sondern glitt so langsam dahin, daß sogar Einzelheiten auszumachen waren. Sie näherten sich dem Lichtermeer Chicagos. »Ist unsere Flucht bereits entdeckt worden?« fragte Janus als erstes. Er stützte die Hände auf die Rückenlehne des Sessels, in dem Walker Platz genommen hatte, und blickte in die Nacht. »Ich habe die Kommunikationssignale des Mutterschiffes überwacht«, beruhigte sie Jennifer. »Von uns war nicht die Rede. Allerdings könnte Alicia durchaus einen mir unbekannten Code verwendet haben.« »Na ja, ich hoffe nur, wir werden nicht unmittelbar nach der Landung angegriffen«, sagte Walker. »Vermutlich nicht.« Jennifers Gesicht wirkte sehr ernst. »Doch Geralds Soldaten dürften sofort Bescheid wissen, wenn sie das Lagersegment öffnen und die beiden Visitors darin finden.« »Wir brauchen nur Zeit genug, um Janus’ Wagen zu erreichen«, erklärte ihr Walker. Und in Gedanken fügte er hinzu: Wenn der Ford Pinto überhaupt noch da ist.
Eine kaum spürbare Vibration erfaßte das Shuttle, als sich die Geschwindigkeit weiter reduzierte. Das Flugboot ging tiefer, und Walker versuchte, in der Dunkelheit vor und unter ihnen vertraute Konturen zu erkennen. Von oben wirkte das Gelände fremd. Erst als er vor ihnen die Stallreihen des Arlington Parks erkannte, war Walker sicher, daß sie das Ziel erreicht hatten. »Ich sehe niemanden.« Janus kaute auf seiner Unterlippe, als das Shuttle über die Schuppen der Rennbahn hinwegglitt. »Vielleicht haben sich Gerald und seine Leute auf und davon gemacht.« Jennifer und Walker widersprachen nicht – obgleich sie beide wußten, wie sinnlos es war, eine Nachschubfähre zu einem verlassenen Stützpunkt zu schicken. Kurz darauf streckte Walker die Hand aus und deutete auf den Parkplatz. Dort stand immer noch Janus’ alter Ford. »Am besten wenden wir uns sofort in Richtung der Ställe«, schlug er vor. »Dort gehen wir in Deckung und sondieren die Lage.« »Es rührt sich noch immer nichts«, ließ sich der ältere Mann vernehmen. »Wo stecken Gerald und seine Soldaten?« »Bestimmt verlassen sie ihre Verstecke erst, wenn wir gelandet sind«, hielt ihm Jennifer entgegen. Walkers Gedanken rasten. Wenn Jennifer recht hatte, mochte ihnen das die Zeit geben, die sie brauchten. »Setzt dieses Ding von ganz allein auf?« Jennifer nickte und hob fragend die Augenbrauen. »Dann sollten wir nicht warten, bis die Visitors ins Freie treten, um uns zu begrüßen. Wenn das Shuttle landet, springen wir sofort raus und laufen zu den Schuppen.« Walker zeigte auf einige Ställe am nördlichen Rand des Parkplatzes. »Wenn wir es bis dahin schaffen, gelingt es uns vielleicht, das Rennbahngelände zu verlassen.«
Janus kehrte in den Innenraum zurück, und Walker und Jennifer standen auf und folgten ihm. Vor der geschlossenen Luke warteten sie, die Waffen einsatzbereit in den Händen, und kurz darauf spürten sie einen leichten Ruck, als das Flugboot aufsetzte. Das Schott öffnete sich automatisch. Walker sprang auf den Boden, noch bevor sich das untere Lukensegment ganz in eine Rampe verwandelt hatte. Er schwang den Laser herum und suchte nach einem Ziel, doch nirgends bewegte sich etwas. »Los«, flüsterte er, winkte Janus zu und deutete nach Norden. Und dann, an Jennifer gerichtet: »Laufen Sie!« »Zusammen mit Ihnen«, erwiderte die Frau. Walker warf ihr einen kurzen Blick zu, doch er hatte keine Zeit mehr für einen Fluch. Jenseits des niedrigen weißen Holzzauns, der den Parkplatz begrenzte, öffneten sich knarrend einige Stalltüren. Walker wandte sich ruckartig um und rannte los. Jennifer folgte ihm dicht auf den Fersen. Auf halbem Weg zur Deckung der Schuppen im Norden hörten sie eine scharfe Stimme. »Halt!« Walker duckte sich und rannte weiter. Und nach wenigen Sekunden vernahmen sie den Befehl: »Feuer!« Ein rhythmisches Zischen und Fauchen beendete die Stille der Nacht. Blaue Energieblitze zuckten durch die Dunkelheit. Walker sprang nach rechts und lief im Zickzack, und dicht neben ihm tanzten tödliche Funken über den Boden. Noch fünfzig Meter, fünfundzwanzig… In Gedanken maß Walker die Entfernung, die es noch bis zu den Ställen zurückzulegen galt. Einige Sekunden und ein wenig Glück – und Jennifer und er waren in… Jennifer? Walker sah sich rasch um. Die Frau befand sich nicht mehr an seiner Seite. Wo, zum… Ein schmerzerfülltes Stöhnen hinter ihm beantwortete die Frage, noch bevor seine Gedanken sie ganz formulieren
konnten. Er wirbelte um die eigene Achse. Jennifer kniete fünf Meter hinter ihm und preßte sich die Hand auf die rechte Schulter. Walker reagierte aus einem inneren Reflex. Er hob den Laser und betätigte den Auslöser. Energetisches Feuer loderte den Visitors entgegen, die gerade auf ihn angelegt hatten. Jennifer winkte in Richtung des nächsten Stalles. »Verschwinden Sie! Fliehen Sie, verdammt!« »Ich gebe Ihnen Feuerschutz!« rief Walker. »Laufen Sie zum Schuppen!« Doch Jennifer wandte sich nur um, nahm ihre Strahlenwaffe vom Boden und schoß auf die heranstürmenden Soldaten. Walker beobachtete, wie vier Gestalten in roten Uniformen zu Boden gingen, bevor Jennifer von mehreren Blitzen gleichzeitig getroffen wurde. Dann gab es keinen Grund mehr, ihr Feuerschutz zu geben. Nur ein verkohlter Leichnam blieb von der Visitor zurück, die sich geopfert hatte, um zwei Fremden das Leben zu retten. Walker drehte sich um und rannte auf den Stall zu. Dort duckte er sich hinter eine Wand und beantwortete Janus’ fragenden Blick mit einem knappen »Sie ist tot.« Anschließend schlich er mit dem alten Mann auf die andere Seite der Stallreihe. In der Deckung der Unterstände liefen sie von einem Schuppen zum anderen. Walker fluchte bei jedem Schritt. Die Stelle des Grabens, wo sie sich unter dem Drahtzaun hinwegschieben konnten, befand sich hinter ihnen. Und in jener Richtung erwartete sie der sichere Tod. Sie mußten unbedingt eine gewisse Entfernung zwischen sich und die Visitor-Soldaten legen. Sie brauchten Zeit, um den Zaun zu erklettern oder mit ihren Waffen eine Bresche in ihn zu brennen.
Walker blieb am Kontrollschuppen stehen, in dem siegreiche Vollblüter einst von Veterinären auf Dopingspuren untersucht worden waren. Aus der Ferne hörten sie die Stimmen der Visitors. »Lieber Himmel!« brachte er hervor. »Geralds Leute kontrollieren die ganze Rennbahn!« Er sah nach Norden und beobachtete den Zaun, von dem sie nur wenige Meter trennten. Er begriff, daß sie es niemals auf die andere Seite schaffen konnten, ohne daß die Visitors auf sie aufmerksam werden und sie unter Beschuß nehmen würden. Andererseits konnten sie auch nicht an Ort und Stelle warten. Sie mußten in Bewegung bleiben. »Die Tribüne!« Walker deutete auf die dunkle Silhouette im Süden. »Von dort aus haben wir vielleicht die Möglichkeit, das Gelände zu verlassen!« Er erwähnte nicht, daß sie zuvor einen weiteren Parkplatz überqueren mußten, auf dem sie keine Deckung hatten. Geralds Soldaten reagierten sofort. Blauweiße Blitze gleißten durch die Nacht, als Walker und Janus die Pferdekoppel erreichten. Sie suchten hinter einer Mauer Schutz, holten einige Male tief Luft, sprangen jäh auf und feuerten auf ihre Verfolger. Ohne Pause hasteten sie in Richtung des Zugangstunnels, von dem aus man die Sitzplätze der Tribüne erreichen konnte. Janus streckte den Arm aus und griff nach Walkers Schulter, als sie die Rennstrecke auf der anderen Seite erreichten. »Echsen!« Einige Soldaten liefen über die freie Fläche im Zentrum der Anlage. »Die Kerle haben uns umzingelt!« In der Stimme des alten Mannes zitterte die einsetzende Panik. Im Osten konnte Walker keine Visitors ausmachen. Allerdings war er nicht bereit, sein Leben aufgrund einer
bloßen Vermutung zu riskieren, daß Gerald dort keine Wächter postiert hatte. »Auf die Tribüne. Wir müssen uns irgendwo verstecken.« Walker setzte über den hüfthohen Drahtzaun hinweg, der die Rennstrecke vom Gebäude trennte. Er beobachtete die dunklen Konturen, während Janus ihm folgte. In den Sitzreihen konnten sie sich nicht verbergen, ebensowenig in den Boxen und den Wettnischen. Dort würden die Visitors zuerst nach ihnen suchen. Walker legte den Kopf in den Nacken und blickte zum hohen Dach der Tribüne empor. Seine Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. Am äußeren Rande des Daches gab es eine kleine Kammer – die Kabine des Ansagers. Dahinter entdeckte er einen Laufsteg, der schließlich an einer metallenen Wendeltreppe endete. Walker zeigte in die entsprechende Richtung und eilte zusammen mit Janus auf die Tribüne. Selbst die Kabine des Ansagers stellte ein Risiko dar – doch es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ein Wagnis einzugehen. Als die beiden Männer die Treppe erreichten, hörten sie irgendwo hinter sich das Geräusch eiliger Schritte. Walker bedeutete dem alten Polen, in die erste Etage zu steigen, und er deckte ihn, indem er mit dem Laser in die Dunkelheit zielte. Kurz darauf folgte er Janus, und es dauerte nicht lange, bis sie unentdeckt den Laufsteg erreichten. Dort duckten sie sich, hasteten leise weiter, öffneten die Tür der kleinen Kammer und schlichen hinein. »Wenn die Echsenbrut entscheidet, hier nach uns zu suchen, sitzen wir in der Falle.« Janus ging in die Hocke, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schnappte nach Luft. Walker gab keine Antwort und sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die Nische des Ansagers bot ihnen nur wenig Platz. An der einen Seite zog sich ein tischartiges Regal
entlang, und davor standen sechs Klappstühle. Die Wände waren nur etwa einen Meter hoch; der Rest bestand aus breiten Fensterflächen, die bis zur Decke reichten. Walker schob sich an eines der Fenster heran und sah nach draußen. Weiter oben spannte sich ein Netzwerk aus stählernen Trägern, die das lange Dach stützten. Einige Sekunden lang erwog Walker die Möglichkeit, sich an den Holmen entlangzuhangeln und auf das Dach zu klettern. Er senkte den Blick. Die Visitor-Soldaten waren von hier oben nur als Schatten erkennbar, wie sie im Bereich der Sitze nach den beiden geflohenen Menschen suchten. Er biß sich auf die Lippe. Nein, es hatte keinen Sinn, über die Stahlträger zu klettern. Sie konnten sie nur durch ein Fenster erreichen, und dazu mußten sie zunächst eine Scheibe einschlagen – was hundertprozentig die Aufmerksamkeit des Feindes auf ihr Versteck gezogen hätte. Außerdem, dachte Walker bitter, wäre Janus dadurch sicher überfordert. Zwar hatte der alte Mann seine Verletzung die ganze Zeit über nicht erwähnt, aber sie stellte bestimmt eine erhebliche Behinderung dar. »Was machen sie jetzt?« Als Walker die Stimme seines Gefährten hörte, wandte er sich vom Fenster ab, ließ sich ebenfalls auf dem Boden nieder und seufzte. »Sie fragen sich bestimmt, wie es zwei Menschen gelingen konnte, sich einfach in Luft aufzulösen«, flüsterte er. »Sie werden auch hier nach uns suchen«, sagte Janus. »Es mag eine Weile dauern, bis Gerald diese Kabine entdeckt, aber er wird keine Möglichkeit außer acht lassen. Irgendwann kommen seine Leute, und dann ist es aus mit uns.« »Im Augenblick geht es mir darum, Zeit zu gewinnen. Vielleicht fällt uns irgend etwas ein.« Ein weiteres Mal sah
sich Walker in der kleinen Kammer um, und nach einer Weile richtete er den Blick wieder auf die stählernen Träger.
»Jetzt wird’s ernst«, sagte Janus. Er sah kurz aus dem Fenster und duckte sich dann wieder. »Die Echsenbrut kommt die Treppe hoch.« Walker kroch über den Boden und schob sich an die Glasfläche heran. Deutlich waren einige Visitor-Soldaten zu sehen, die sich der Ansagernische näherten. Sie hatten bereits die dritte Etage erreicht. Die beiden Männer kauerten nun schon seit zwei Stunden in der winzigen Kammer – ohne daß einer von ihnen einen Plan entwickelt hätte, der ihnen zur Flucht verhelfen konnte. Jetzt ging die kurze Atempause zu Ende. Walker huschte an die Tür heran, öffnete sie einen Spaltbreit und fluchte. »Von hier aus haben wir kein freies Schußfeld. Der Laufsteg ist im Wege.« Janus deutete auf die Fenster zu beiden Seiten der Tür. »Sie geben uns nur wenig Deckung, wenn der Kampf beginnt. Wir können die Scheiben einschlagen und die Reptilien von dort aus unter Beschuß nehmen. Sie wissen jetzt ohnehin, daß wir hier sind.« Walker nickte langsam, hob seine Waffe und holte mit dem Kolben aus. Glas zerbrach, und die Splitter fielen in die Dunkelheit unter der Kabine. Ohne weitere Verzögerung zielten sie auf die herankommenden Soldaten und setzten die fremden Strahlenwaffen wie Maschinenpistolen ein. In rascher Folge zuckten blauweiße Energieblitze aus den Läufen und zischten zur Tribüne hinab. Energetische Glut tanzte über die metallene Treppe und die Wand dahinter. Schreie gellten.
Walker wußte nicht, wie viele Visitors sie ins Jenseits schickten, denn die grellen Entladungen machten ihn für kurze Zeit blind. Aber das Fauchen und Zischen dort unten bedeutete, daß der Feind das Feuer erwiderte. Glas splitterte hinter ihnen. Walker duckte sich an die Wand und hob die Hände über den Kopf. Weitere Blitze trafen ins Ziel und zerstörten die Fenster weiter vorn. Eine Ewigkeit lang wartete Walker darauf, daß das Bersten und Krachen endlich nachließ. Stunden schienen zu vergehen, bevor das Fauchen verklang. Langsam ließ er die Arme wieder sinken und sah zu Janus. Entsetzen malte sich in den Zügen des alten Mannes, und er bebte am ganzen Leib, als er nun über den Boden zur offenen Tür kroch. Er sah kurz nach draußen, drehte sich dann zu Walker um und stöhnte: »Sie haben sich nicht zurückgezogen, sondern kommen immer näher. Ich kann schon das Geräusch ihrer Schritte hören.« »Dann beginnt also die zweite Runde.« Walker stemmte sich in die Höhe. »Nein, mein Freund, das hat keinen Sinn. Auf diese Weise können wir sie nicht entscheidend aufhalten.« Janus hob den Kopf. »Mir ist aufgefallen, daß Sie mehrmals zu den Stahlträgern hochgesehen haben. Schaffen Sie es, von dort aus aufs Dach zu klettern?« »Vielleicht.« Er hatte in Janus’ Stimme einen sonderbaren Klang vernommen. »Warum fragen Sie?« »Möglicherweise könnte es einem von uns gelingen, den Visitors zu entwischen und Paul vor Alicias Plan zu warnen«, murmelte Janus leise. Und er fügte hinzu: »Ich bleibe hier. Mit dieser Hand käme ich nicht weit.« Er starrte auf den schwarzen Stummel, der von seinem linken kleinen Finger übriggeblieben war. »Nein«, sagte Walker fest. »Ich lasse Sie nicht zurück.«
»Es bleibt Ihnen keine Wahl.« Janus hob den Laser so, daß der Lauf auf Walkers Brust zeigte. »Verschwinden Sie. Bevor die Echsenbrut den Laufsteg erreicht.« Walker schüttelte den Kopf. »Allein hätten Sie nicht die geringste Chance. Schießen Sie nur.« Einige Sekunden lang glaubte er, Janus könne sich tatsächlich dazu hinreißen lassen, auf ihn abzudrücken. Dann ließ der alte Mann die Schultern hängen und senkte die Waffe. »Warum tun Sie mir das an, Sam?« Tränen schimmerten in seinen Augen. »Warum wollen Sie mir die letzte Chance nehmen, mich als Mann zu beweisen?« »Zum Teufel auch, wovon reden Sie denn überhaupt?« Walker runzelte die Stirn. »Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um…« »Er ist besser als jeder andere.« Ruckartig straffte er die Schultern und sah den jüngeren Mann an. »Ich habe Sie angelogen, Sam, von Anfang an. Ich war kein tapferer Widerstandskämpfer, sondern ein verdammter Feigling. Während meine Freunde und Verwandten gegen die Nazis kämpften, versteckte ich mich. Ich überlebte, während sie starben.« Er zögerte kurz und schluckte. »Ich wollte ebenfalls zur Waffe greifen, aber… aber ich konnte es nicht. Ich hatte panische Angst vor dem Tod. Und so verkroch ich mich. Seit damals werde ich von Alpträumen heimgesucht, in denen des Nachts immer wieder die Gesichter derjenigen auftauchen, die mutiger waren als ich und die ihr Leben ließen…« Walker starrte den älteren Mann fassungslos an. »Paul Nordine bot mir die Möglichkeit, meine Selbstachtung zurückzugewinnen«, fuhr Janus fort. »Aber wieder regten sich die alten Ängste in mir. Anstatt gegen die Visitors zu kämpfen, versteckte ich mich erneut, ebenso wie Sie. Janus Brodaski, der Feigling. Ich beobachtete die Außerirdischen, anstatt bei ihrer
Vertreibung von der Erde zu helfen. Ja, ich beobachtete sie aus sicherer Entfernung – aus Furcht vor dem Tod, den ich doch so sehr herbeisehne.« »Aber…« setzte Walker an. »Nein, mein Freund, ich weiß, wer und was ich bin. Und jetzt bietet sich mir die Möglichkeit, das zu ändern.« Janus’ Stimme klang fast flehentlich. »Bitte, lassen Sie mir diese Chance! Gehen Sie! Bringen Sie sich in Sicherheit!« »Janus…« Walker brach ab, als der Blick des alten Polen weiterhin auf ihm ruhte. Ob es ihm gefiel oder nicht: Einem von ihnen mochte es tatsächlich gelingen, an den Stahlträgern entlangzuklettern und aufs Dach zu gelangen. Nur einem – denn der andere mußte dem Gefährten Feuerschutz geben. »Bitte, Sam. Ich möchte nicht als Feigling sterben. Bitte. Gehen Sie jetzt. Verschwinden Sie, bevor es zu spät ist. Es kommt ganz auf Sie an. Warnen Sie Paul.« Es kommt ganz auf Sie an… Walker nickte langsam und hob den Laser. »Nehmen Sie wenigstens diese Waffe. Sie können sie bestimmt gut gebrauchen.« »Nein, ich glaube, dies Gewehr hier genügt mir völlig.« Ein melancholisches Lächeln umspielte Janus’ Lippen. »Behalten Sie Ihren Laser und machen Sie sich endlich auf den Weg. Wir haben bereits zuviel Zeit vergeudet.« Walker zog sich den Riemen des Strahlers über die Schulter, griff nach der zitternden Hand des Polen und drückte sie fest. Dann wandte er den Blick von ihm ab und schob sich rasch an die gegenüberliegende Wand der Kabine heran. Dort drehte er sich noch einmal um und sah zu Janus zurück. Der alte Mann nickte nur wortlos und stumm, hob sein Gewehr, zielte aus einem Fenster und schoß auf die Visitors, die sich dem Laufsteg näherten.
Als Walker das Zischen hörte, sprang er auf den hölzernen Sims, beugte ich aus dem Fenster und streckte die Arme aus. Die Finger der rechten Hand glitten über den oberen Rand der Kabine und fanden Halt. Walker holte tief Luft und zog sich in die Höhe. Einige Sekunden lang schwang er wie ein Pendel hin und her, und als er über das Dach der Ansagerkabine blickte, fluchte er lautlos. Der Raum zwischen dem oberen Ende der Nische und den Stahlträgern bot ihm nicht genügend Platz. Walker brachte den rechten Arm in die Höhe und tastete nach einem der metallenen Holme. Dann zog er den linken nach und neigte sich von der Kabine fort. Unter ihm erklang das Zischen und Fauchen, mit dem sich Janus’ Waffe entlud, und nur einen Sekundenbruchteil später gellten die vibrierenden Schreie der Visitors. Walker spannte die Muskeln an. Zentimeter um Zentimeter kam er in die Höhe, und kurz darauf lag er bäuchlings auf dem kühlen Stahl. Er schnappte einige Male nach Luft, bevor er den Kopf hob. Der Holm, auf dem er sich jetzt befand, gehörte zu netzartigen Querverstrebungen der Hauptträger. Knapp ein halber Meter trennte ihn von der Unterseite des Tribünendaches. Erneut führte der einzige Weg nach oben. Walker setzte sich wieder in Bewegung, kroch über den Holm und näherte sich dem Rand des Daches. Unten blitzte es immer wieder auf, und nach einer Weile wagte es Walker, in die Tiefe zu blicken. Geralds Soldaten erwiderten Janus’ Feuer. Dann und wann verfehlte ein Strahl die Ansagerkabine und knisterte daran vorbei, doch niemand schien den Mann im Stützgerüst zu bemerken. Bisher war Walkers Flucht unentdeckt geblieben. Als er das Ende des Holms erreichte, rollte er sich vorsichtig auf den Rücken und schob erst den rechten Arm um die Dachkante, dann auch den linken. Er unterdrückte jeden
Gedanken daran, wie leicht er jetzt den Halt verlieren könnte, holte tief Luft, beugte die Knie und zog sich in die Höhe. Er grinste unwillkürlich, als er festen Beton unter sich spürte – er hatte es geschafft: Er lag auf dem Tribünendach! Jetzt brauchte er nur noch einen Weg nach unten zu finden. Walker stand auf und huschte an den hinteren Rand der geneigten Fläche. Und dort entdeckte er das, worauf er ängstlich gehofft hatte: eine schmale Leiter. Aufmerksam beobachtete er das Gelände unten und nickte langsam, als er seine Vermutung bestätigt sah: Die Wächter hatten ihre Posten verlassen. Geralds gesamte Streitmacht hatte sich auf der Tribüne versammelt und versuchte, die Ansagerkabine zu stürmen. Walker griff nach den Holmen der Leiter, setzte seinen Fuß auf die oberste Sprosse und begann den Abstieg. Nur wenige Sekunden später hörte er einen menschlichen Schrei. Janus! Walker hielt inne, und Tränen schossen ihm in die Augen. Als er horchte, hörte er nur noch die vibrierenden, nachhallenden Stimmen der Visitors und das Kratzen von Stiefeln auf den metallenen Stufen der Wendeltreppe. Er ist tot! Er dachte an Jennifer, die ebenfalls ihr Leben geopfert hatte, um ihm die Flucht zu ermöglichen. Dies war nicht der geeignete Ort, um Janus’ Tod zu betrauern – dazu hatte er später noch Gelegenheit. Wenn es ihm gelang, den Außerirdischen zu entkommen. Walker nahm jeweils zwei Sprossen auf einmal und kletterte in die Tiefe. Als er den Boden erreicht hatte, drehte er sich sofort um und lief nach Osten. Zehn Minuten später brachte er den Drahtzaun am Rande des Rennbahngeländes hinter sich.
11. Kapitel
Walker blickte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Rund drei Kilometer weiter im Westen glänzten die hellen Scheinwerfer eines Visitor-Shuttles. Die Lichtkegel glitten wie suchende Finger über die Rennbahn. Drei Kilometer, dachte er und verzog kurz die Lippen. Die Entfernung verschaffte ihm einen gewissen Bewegungsspielraum, doch noch war er nicht in Sicherheit. Drei oder vier Flugboote schwebten dahin. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Gerald und seine Leute begriffen, daß der zweite Mensch das Gelände des Arlington Parks verlassen hatte. Und da seine Absicht darin bestand, Paul Nordine zu warnen, gab es nur ein Ziel für ihn: Chicago. Selbst wenn die Shuttles ihre Geschwindigkeit nicht erhöhten: Sie waren schnell genug, um ihn in einer oder zwei Stunden einzuholen. Walker hatte auch nicht vor, die Flucht zu Fuß fortzusetzen. Er beobachtete die Straße des Wohnviertels, in dem er sich befand und ließ seinen Blick über die Autos schweifen, die am Straßenrand parkten – wie geduldige Diener, die auf die Rückkehr ihrer Herren warteten. Walker schauderte, als er auf den nächsten Wagen zuhielt. Die Besitzer dieser Autos ruhten nun in den Kapseln der Bereithaltungshibernation, an Bord von Alicias Mutterschiff – wie Vieh, das auf einer fernen Sirius-Welt gezüchtet und geschlachtet werden sollte. Er klappte die Motorhaube eines Wagens auf und verband die beiden Batteriepole mit einem Draht, der aus einem der fünfzig anderen Autos stammte, mit denen er es bereits versucht hatte. Nichts geschah. Er trat an das nächste Fahrzeug heran und
wiederholte seine Anstrengungen. Wieder blieb das erhoffte Ergebnis aus. Walker überquerte die Straße und nahm sich einen blauen Lieferwagen vor, doch auch damit hatte er keinen Erfolg. Zwar pries die Fernsehwerbung die Qualität von Autobatterien in höchsten Tönen, doch sechs Monate der Inaktivität waren nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. Bei den Wagen handelte es sich nur noch um nutzlose Kästen aus Glas, Kunststoff und Blech – Erinnerungen an die Welt vor dem Eintreffen der Visitors. Walker ließ sich von den mehrmaligen Enttäuschungen nicht aus der Ruhe bringen und setzte seine Bemühungen mit anderen Fahrzeugen fort. Als er sich über den Motor eines 84er Caprice beugte, knisterte ein Funke. Er wich zurück, hielt unwillkürlich den Atem an und riß ungläubig die Augen auf. Zögernd stellte er erneut eine Verbindung zwischen den beiden Polen her. Es zischte, und wieder sprang ein Funke über. Diesmal warf Walker den Draht gleich beiseite, ließ die Motorhaube zufallen und griff zur Fahrertür der großen Limousine. Die Tür war verschlossen. Er hielt sich nicht mit nutzlosen Versuchen auf, das Schloß zu knacken, sondern hob schnell den Laser und drückte ab. Ein blendend heller Blitz raste aus dem Lauf der Waffe, und Glas splitterte. Sofort griff Walker nach dem kleinen Hebel an der Innenfläche der Tür. Es klickte leise, und das Schloß schnappte auf. Jetzt wollen wir nur hoffen, daß der Tank nicht leer ist! Er strich die Glassplitter auf dem Fahrersitz beiseite, setzte sich und nahm den charakteristischen Geruch eines fabrikneuen Wagens wahr, als er sich unter das Armaturenbrett beugte. Nach einigen Sekunden fand er die Zündungsdrähte, zerrte sie
so weit wie möglich hervor und entfernte die Plastikumhüllung. Dann richtete er sich wieder auf, holte tief Luft, trat das Gaspedal einige Male durch – und hielt die beiden Drähte aneinander. Der Motor keuchte kurz, sprang aber nicht an. Walker trat erneut aufs Gas. Der Anlasser rumorte, als sich die beiden Drähte zum zweitenmal berührten. Der Motor stotterte. Und einige Sekunden später schnurrte er ruhig und gleichmäßig. Vorsichtig verknüpfte Walker die beiden Zündungsdrähte und blickte prüfend auf die Instrumente. Der Zeiger der Tankanzeige zeigte auf ein weißes »F« – voll. Zuversicht regte sich in dem Mann hinter dem Steuer, und er betätigte den Wischer. Innerhalb weniger Sekunden entfernten die Gummiblätter den monatelangen Staubbelag von der Windschutzscheibe. Ganz automatisch tastete seine linke Hand nach dem Schalter für die Scheinwerfer, doch als er das kühle Metall berührte, zuckte er erschrocken zusammen. Er mußte seine alten Angewohnheiten kontrollieren, wenn er sich nicht verraten wollte: Die Visitors hätten den hellen Schein wohl kaum übersehen. Er schaltete das Radio an. Irgendeine namenlose Stimme sagte, es sei vier Uhr morgens und leicht bewölkt. Im Verlaufe des Tages, so fügte sie hinzu, könne es zu einigen Niederschlägen kommen. Die nächste Nachrichtensendung wurde für vier Uhr dreißig angekündigt. Dann folgte Musik, und das erste Stück war »Maybellene« von Chuck Berry. Walker schloß die Tür, legte den Gang ein und steuerte den großen Caprice auf die Straße. Fünfzehn Minuten und vier Songs später erreichte er den Northwest Tollway und setzte die Fahrt nach Osten fort, in Richtung Chicago.
Nach einer Weile spürte er ein dumpfes Vibrieren in seinem Unterkiefer. Er blickte in den Rückspiegel und beobachtete den Himmel. Nirgends glänzten die Positionslichter eines Visitor-Shuttles, aber das Pochen an den Zahnwurzeln wurde immer schmerzhafter. Walker gab Vollgas – nur um unmittelbar darauf auf die Bremse zu treten. Gummi quietschte über den Asphalt. Der Caprice rutschte, und die Reifen qualmten, bevor der große Wagen zum Stehen kam. Oben blitzte es grell auf. Zwei blauweiße Flammen rasten heran und brannten einige Meter vor dem Wagen über die Straße. Mondschein spiegelte sich matt auf den Flanken eines Flugbootes wider, das rasch an Höhe gewann und in der Nacht verschwand. Walker stieß einen Fluch aus, drehte das Lenkrad und trat aufs Gas. Obgleich er sich vorbeugte und immer wieder nach oben sah, gelang es ihm, den Chevy an einem umgestürzten Bus vorbeizusteuern, ohne das Tempo zu verringern. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, als er in der Schwärze einen weißen Fleck ausmachte, der schnell größer wurde. Die Kampffähre der Visitors kehrte zurück. Er kämpfte gegen die hochsteigende Panik an und widerstand der Versuchung, den Caprice von der Straße und in Richtung eines Gebäudes zu lenken, in dem er sich verbergen konnte. Dann säße ich wieder in der Falle, dachte er. Und wenn er den Weg zu Fuß fortsetzte, war es nur eine Frage der Zeit, bis ihn Geralds Soldaten erwischten. Nein, nur die Straße bot ihm eine Chance. Energieblitze lösten sich vom Bug des heranschwebenden Shuttles. Walker preßte die Lippen aufeinander. Das Flugboot folgte dem Verlauf der Straße, als es sich ihm näherte. Die
Tatsache, daß er mit genau dieser Taktik gerechnet hatte, verbesserte seine Lage nicht sonderlich, gab ihm aber einen geringen Vorteil, weil er vorbereitet war. Der Motor dröhnte, und mit Vollgas steuerte Walker den Wagen direkt auf das energetische Feuer zu. Zwar heulte der Fahrtwind laut an dem zerbrochenen Seitenfenster vorbei, aber trotzdem konnte er das Fauchen und Knistern hören, mit dem die Laserglut über den Asphalt brannte. Seine Hände schlossen sich ganz fest ums Lenkrad. Fünfzehn Meter weiter vorn loderten die Flammen. Mit einem Ruck riß Walker das Steuer herum, und die Reifen quietschten erneut, als die Limousine dem Straßenrand entgegenschleuderte, um dem Feuer zu entgehen. Eine Faust schien den Wagen zu treffen und mit zerschmetternder Wucht auf den Kofferraum zu hämmern. Der Chevy neigte sich jäh zur Seite, und blauweißes Licht tauchte das Innere des Fahrzeugs in einen blendend hellen Glanz. Walker drehte das Steuer hin und her, bekam das Auto wieder unter Kontrolle und lenkte es in die Straßenmitte zurück. Er warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und erbleichte. Das Heck des Wagens war nur noch eine rußgeschwärzte, zerbeulte Masse. Walker schluckte einige Male und versuchte, die Übelkeit aus sich zu verdrängen. Wenn die Laserentladung den Benzintank getroffen hätte, wären von ihm und dem Caprice nurmehr Fetzen übriggeblieben. Doch das Glück war ein unzuverlässiger Verbündeter, wie Walker sehr wohl wußte. Er versuchte, sich in die Lage des Shuttle-Piloten zu versetzen. An seiner Stelle hätte er nach zwei vergeblichen Versuchen die gegenwärtige Taktik aufgegeben. Das Flugboot ließ sich auch wie ein Helikopter verwenden, und das bedeutete: Wenn die Kampffähre dem Wagen in einem gewissen Abstand folgte, waren nicht die
Fähigkeiten eines Scharfschützen notwendig, um das Ziel zu treffen. Der Visitor an den Geschützkontrollen brauchte nur Geduld, weiter nichts. »Verdammte Mistkerle!« preßte Walker zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. Es dauerte nicht lange, bis er im Rückspiegel den abgeflachten Bug des Shuttles ausmachte, und das bestätigte seine vorherigen Überlegungen. Er drehte das Lenkrad nach rechts, und der Chevy wich abrupt zur Seite. Zwei flammende Strahlen trafen die Stelle, an der sich eben noch der Wagen befunden hatte. Als das Flugboot den Kurs korrigierte, um wieder direkt hinter das Auto zu gelangen, steuerte Walker den Caprice nach links. Die nächsten Laserblitze kochten funkenstiebend über die rechte Leitplanke. Fünfmal wiederholte Walker das Manöver, und Schweiß perlte auf seiner Stirn. Inzwischen strichen die tödlichen Strahlen immer dichter an dem Chevy vorbei, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis eine Entladung ins Ziel traf. Zehn Sekunden noch, vielleicht zwanzig oder dreißig – mehr aber nicht. Es sei denn, ich gehe in die Offensive. Walker griff nach der Waffe auf dem Beifahrersitz, hielt sie mit der linken Hand aus dem Fenster und richtete den Lauf gen Himmel. Dann trat er auf die Bremse. Als das Shuttle über ihn hinwegsauste, betätigte er den Auslöser. Ein Blitz jagte in die Höhe, verfehlte das Flugboot aber noch. Walker gab erneut Vollgas, zielte auf die Kampffähre und feuerte noch einmal. Wieder raste der Strahl an dem weißen Oval vorbei. Diese Aktion brachte Walker nur eine kurze Atempause, bevor das Shuttle in größerer Distanz hinter ihm der Straße entgegensank. Grelle Blitze erhellten die Nacht, und Funken
wirbelten über den Asphalt, als Walker den Chevy in einem rasenden Zickzack steuerte. Dann sauste der Wagen unter einer Brücke hindurch. Der Visitor an den Kontrollen schien das Hindernis erst im letzten Augenblick zu bemerken, und das Shuttle verfehlte die Träger aus Stahl und Beton nur knapp. Walker grübelte noch, als plötzlich eine bestimmte Idee in ihm entstand. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance… Zum drittenmal nahm das Flugboot die Verfolgung auf. Entschlossen riß Walker das Steuer nach rechts und links und entging den Laserblitzen, die sich vom Bug des Shuttles lösten. Auf seinen Lippen erschien ein grimmiges Lächeln, als er weiter vorn die dunklen Konturen der Hochstraßen ausmachte, die zum Flughafen führten. Er wich einer weiteren Flammenzunge aus und steuerte den Wagen unter die erste Brücke. Die Kampffähre stieg in die Höhe, glitt über die Zubringer und sank auf der anderen Seite wieder herab. Aber der Pilot mußte offensichtlich überrascht feststellen, daß die Limousine verschwunden war. Walker hatte gebremst und unter einer der Hochstraßen angehalten. Er wartete, während der Motor leise brummte. Im Osten schwebte das Visitor-Shuttle dahin und stand dicht vor der letzten Brücke bewegungslos in der Luft. Blitze zuckten und brannten über das Netzwerk aus Beton, das Walker schützte. Ihr habt nur eine Möglichkeit, wenn ihr mich erwischen wollt, dachte Walker und beobachtete das Flugboot. Ihr müßt landen und mich holen. Kommt schon… Kurz darauf sank das Shuttle dem Asphalt entgegen. Zischend ließ Walker den angehaltenen Atem entweichen. Der entscheidende Augenblick kam. Es gab zwei Alternativen für
den Piloten: Er konnte landen oder unter den Zubringern hindurchfliegen. Walker kniff die Augen zusammen. Und seufzte, als er das Shuttle aufsetzen sah. Der Mann im Caprice wartete. Am Flugboot öffnete sich eine Luke, und das untere Teil neigte sich dem Boden zu und bildete eine Rampe. Walker trat das Gaspedal voll durch. Zwei lange schwarze Streifen blieben auf dem Asphalt zurück, als die Reifen durchdrehten und der große Wagen jäh beschleunigte. Die Tachometernadel sprang zitternd nach rechts. Ein Kloß steckte in Walkers Hals, als er die Entfernung zum Flugboot abzuschätzen versuchte. Er streckte die linke Hand aus, griff nach dem Schalter für die Scheinwerfer, zögerte kurz und drehte ihn. Fast gleichzeitig öffnete er die Tür und rollte sich aus dem Chevy. Ein scharfer Schmerz stach in seine Schulter, als er auf die Straße fiel und dahinschlidderte. Sein Schrei ging dabei aber in dem donnernden Getöse einer Explosion unter: Der Wagen war auf das Shuttle geprallt. Flammen rasten zum Himmel und verbrannten nicht nur die Kampffähre, sondern auch den Caprice. Walker drehte sich um und hob die Arme schützend über den Kopf. Um ihn herum fielen glühende Trümmerstücke zu Boden. Unvermittelt breitete sich eine tiefe Stille aus. Walker hob den Kopf und stand langsam auf. Dicke, fette Rauchschwaden stiegen von den beiden brennenden Wracks in die Höhe. Nirgends regte sich etwas. Walker fühlte sich gleichzeitig erleichtert und entsetzt, und er schauderte. Von der Besatzung des Flugbootes konnte niemand überlebt haben. Er griff nach dem Laser, den er beim Sturz aus dem Wagen fallengelassen hatte, drehte sich um und wankte in Richtung auf die Böschung auf der anderen Seite des Highways. Die
Flammen mochten Geralds anderen Suchgruppen als Wegweiser dienen, und außerdem war er nun wieder zu Fuß. Er mußte die Deckung der Häuser südlich der Autobahn erreichen, bevor weitere Flugboote eintrafen.
Seit fünfzehn Minuten saß Walker auf einer umgedrehten Mülltonne in einer Wandnische vor der Tür einer Zahnarztpraxis. Er massierte sich die immer noch schmerzende linke Schulter und beobachtete, wie die Sonne über den Horizont stieg und das Grau der Morgendämmerung verdrängte. Mit dem goldfarbenen Licht überkam ihn endlich auch ein wenig Entspannung. Von jetzt an drohte ihm praktisch keine Gefahr mehr. Gerald war alles andere als ein Narr. Er würde es nicht riskieren, seine Shuttles tagsüber starten zu lassen. Zu leicht hätte jemand auf die Visitors aufmerksam werden können. Walker stand auf und rieb sich die Augen. Wenn es jetzt noch zu einem Angriff kam, so kamen die Greiftrupps zweifellos zu Fuß. Geralds immunen Soldaten standen Hunderte von verlassenen Läden zur Verfügung, in denen sie sich mit normaler Menschenkleidung versorgen konnten, um sich nicht durch ihre roten Uniformen zu verraten. Genauso sicher waren sie in der Lage, einen oder mehrere fahrbereite Wagen aufzutreiben. »Da fällt mir ein: Ich sollte mir ein neues Auto besorgen«, sagte er laut. Er blickte sich um und sah Bäume hinter den Geschäften auf der anderen Straßenseite. Bäume, kein Wald aus Neonleuchten – ein sicheres Zeichen dafür, daß er es mit einem Wohnviertel zu tun hatte. Und das bedeutete Garagen und…
Er unterbrach diesen Gedankengang. Er befand sich nicht mehr in Arlington Heights. Es war durchaus denkbar, daß einige der Häuser nach wie vor bewohnt waren. Mit anderem Worten: Möglicherweise würde es weitaus schwieriger werden, einen Wagen zu finden, als er bisher angenommen hatte. Er griff nach dem Laser an der Wand und ging langsam über den nahen Parkplatz. Am Rande einer namenlosen Straße blieb er stehen, und als er sich gerade wieder in Bewegung setzen wollte, hörte er hinter sich eine scharfe Stimme. »Rühr dich nicht von der Stelle, Echse!« Walker wirbelte um die eigene Achse und starrte auf die beiden Mündungen einer doppelläufigen Flinte.
12. Kapitel
»Weg mit der Waffe! Laß sie fallen, oder ich pumpe dich voll Blei!« Walker ließ den Laser langsam sinken, aber seine Hand blieb fest um den Kolben geschlossen. Sein Blick glitt über das großkalibrige Gewehr, das über das Dach eines Kombiwagens hinweg auf ihn gerichtet war. Er konnte den Mann, der damit auf ihn zielte, nicht sonderlich gut erkennen, er sah lediglich zerzaustes schwarzes Haar. Das Gesicht blieb hinter der Flinte verborgen. »Hast du ihn nicht verstanden, Echse?« Eine zweite männliche Stimme erklang hinter Walker und das Geräusch näherkommender Schritte. »Echse? Zum Teufel, was soll dieser Unsinn?« Walker wollte sich gerade umdrehen, als er den Lauf einer Pistole im Nacken spürte. »Du sollst den Strahler fallen lassen«, sagte der Mann hinter ihm, und ein metallisches Klicken verriet, daß er den Hahn der Pistole gespannt hatte. »Worauf wartest du noch?« Widerstrebend ließ Walker die Visitor-Waffe los, und scheppernd fiel sie zu Boden. Sein Magen krampfte sich zusammen als er sah, wie ein etwa achtzehn Jahre alter Bursche in schwarzem Leder an ihm vorbeisprang, nach dem Laser griff und damit auf ihn zielte. Er grinste und zeigte dadurch eine breite Zahnlücke. »In Ordnung, du zweibeiniges Krokodil – heb die Hände und falte sie hinterm Kopf!« befahl Fehlender Zahn. Walker gehorchte. »Verdammt! Ich hatte gehofft, er würde sich wehren.« Die doppelläufige Flinte glitt vom Dach des Kombiwagens, und
ein Mann kam hinter dem Fahrzeug hervor, der nur ein oder zwei Jahre älter war als Fehlender Zahn. »Wäre mir eine Freude gewesen, ihn ins Jenseits zu schicken.« Auch Schrotflinte trug eine schwarze hautenge Lederhose. An seiner Taille zeigte sich ein breiter Gürtel mit Chrombeschlägen. Mit Eisennieten versehene Riemen umgaben die Handgelenke, und ein gelbes Netzhemd bedeckte seinen Oberkörper. Walker seufzte innerlich. Er hatte es nicht mit einem Trupp von Geralds Soldaten zu tun, sondern mit den Angehörigen einer Straßengang. »Vielleicht geht dein Wunsch noch in Erfüllung, Willie«, sagte der dritte Mann, der hinter Walker stand und ihm nach wie vor den Lauf der Pistole an den Nacken preßte. »Wenn der Mistkerl zu fliehen versucht…« Der Mann trat vor, und Walker riß unwillkürlich die Augen auf, als er eine blaue Uniform sah. »Was soll das alles, Officer?« fragte er und starrte den Polizisten verwirrt an. Als er Anstalten machte, die Hände sinken zu lassen, hielt ihm der Uniformierte den Revolver sofort wieder dicht vor die Nase und zog erneut den Hahn zurück. »Ganz ruhig, Echse – oder Willie bekommt seinen Spaß.« Der Polizist kniff die Augen zusammen, und sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß er jederzeit bereit war abzudrücken. »So, und jetzt sag uns, warum deine VisitorFreunde heute morgen am Flughafen solchen Radau machten?« »Meine Visitor-Freunde?« brachte Walker hervor. »Was soll denn das heißen, verdammt? Mein Name ist Sam Walker, und ich…« »Er sieht wie eine verfluchte Echse aus, Jim«, wandte sich Fehlender Zahn an den Polizisten. »Er trägt eine Visitor-
Uniform und war mit einem Visitor-Laser bewaffnet. Mir scheint der Fall klar zu sein.« Walker zuckte innerlich zusammen. Mit fast den gleichen Worten hatte er vor Tagen auf Nordine eingeredet. »Hören Sie, ich muß nach Chicago, um…«, versuchte er zu erklären, doch Fehlender Zahn und der Polizist namens Jim hörten Schrotflinte zu. »Ich begreife nur nicht, was eine Echse hier macht. Warum ist sie nicht schon längst von dem Gift krepiert?« Schrotflinte rieb sich das haarlose Kinn. »Außerdem spricht der Kerl auch nicht wie ein Visitor.« Jim ließ den Revolver sinken und musterte Walker mißtrauisch. »Wie Tommy schon sagte: Er trägt eine rote Uniform und führte einen Laser bei sich.« »Es läßt sich ja ziemlich einfach feststellen, ob er ein Mensch ist oder nicht, Mann.« Schrotflinten-Willie trat vor, zwickte Walker in die Wange und zog heftig. »Hölle und Verdammnis, die Haut ist echt!« Der Schmerz war so stark, daß Walkers Augen tränten. Der junge Mann runzelte enttäuscht die Stirn und versuchte es mit der anderen Wange. Anschließend sah er den Polizisten an und zuckte mit den Schultern. »Er gehört nicht zu den Echsen, Jim.« »Zum Teufel, was machen Sie dann aber in dieser Uniform?« brachte der Officer argwöhnisch hervor. Walker erzählte seine Geschichte so rasch und zusammenhängend wie möglich, doch es gelang ihm nicht, den Zweifel des Polizisten auszuräumen. Er schüttelte den Kopf, griff nach Walkers Arm und drehte ihn abrupt auf den Rücken. Handschellen schnappten zu. »Ich glaube, wir sollten den Kerl zur Polizeiwache bringen«, sagte Jim und gab Walker einen Stoß.
Noch einmal versuchte Sam, dem Officer verzweifelt klarzumachen, wie wichtig es für ihn war, sich mit Nordine in Verbindung zu setzen. Aber der Polizist antwortete nur. »Halt die Klappe, Echsenfreund.«
Nachdem er in eine Zelle gebracht worden war, nahm man Walker die Handschellen wieder ab, und hinter ihm fiel die Gittertür ins Schloß. Er drehte sich um und schloß die Hände um zwei der eisernen Stangen. »Sergeant, bitte hören Sie mich an! Paul Nordine ist in Gefahr. Rufen Sie das Hauptquartier der Widerstandsgruppe an. Fragen Sie nach Nordine oder seinem Stellvertreter Steve Tyford. Beide können mich identifizieren.« »Ja, ja.« Der dickliche Sergeant schüttelte den Kopf. »Vielleicht mache ich das, wenn das Telefon funktioniert. Möglicherweise vergesse ich’s auch einfach, Walker – oder wie immer Sie heißen.« »Begreifen Sie denn nicht, Sergeant? Paul Nordine ist in Gefahr! Die Visitors…« In hilfloser Wut ballte Walker die Fäuste, als der Polizist nur mit den Schultern zuckte und ging. Ich habe es bis hierher geschafft – um von einigen verdammten Ignoranten aufgehalten zu werden. Walker hämmerte an die Gitterstangen, schrie laut, setzte sich schließlich auf den Rand der schmalen Liege und stützte den Kopf in die Hände. Zwei Stunden später kehrte der Sergeant mit dem Frühstück zurück, das aus zwei trockenen ToastScheiben und einer Tasse Kaffee bestand. Diesmal reagierte der Mann wenigstens mit einem Brummen auf Walkers Bitten, bevor er wieder davonwankte. Sam blieb allein in einem Zimmer zurück, das in vier Zellen aufgeteilt war, und erst als er den Kaffee trank und nach dem Toast griff, machte er sich klar, daß er schon seit Tagen nichts
mehr gegessen hatte. Nach sechs Stunden stattete ihm der Sergeant einen weiteren Besuch ab und brachte wortlos das Mittagessen, das der Gefangene mit ebensolchem Heißhunger verschlang wie das Frühstück. Walker wanderte unruhig in der Zelle auf und ab, als sich die Tür zu den Haupträumen der Polizeiwache zum drittenmal an diesem Tag öffnete. Der Sergeant kam mit drei anderen Officern herein. »Es scheint, im Hauptquartier der Widerstandsgruppe kennt man zumindest Ihren Namen.« Der dickliche Beamte entriegelte die Tür und öffnete sie. »Diese Männer bringen Sie dorthin.« Erneut wurden Walker Handschellen angelegt, und anschließend begleitete man ihn zum hinteren Ausgang der Wache. Draußen stand ein schwarzer Gefangenenwagen bereit. Walker kletterte hinein und nahm auf einem der Wandsitze Platz. Ein Uniformierter folgte ihm und trug den Visitor-Helm und den Laser. Beide waren mit Beweismittel-Etiketten versehen. »Ich dachte, Sie würden mich zu Paul Nordine bringen«, sagte Walker und starrte auf die beiden Gegenstände. »Aber mir scheint, ich soll vor Gericht gestellt werden.« Der Officer sah ihn einige Sekunden lang schweigend an und wandte dann wortlos den Blick von ihm ab. Er holte eine Zigarette hervor, zündete sie an und rauchte in aller Seelenruhe. Walker lehnte sich zurück und versuchte, die Muskeln in den Armen zu lockern und ruhig zu bleiben. Zwar war es in dem Transporter alles andere als bequem, und seinen Bewacher konnte man nicht gerade als einen redseligen und unterhaltsamen Reisebegleiter bezeichnen, aber Walker tröstete sich damit, nun wieder auf dem Weg nach Chicago zu sein.
Fünf Zigaretten später hielt der Wagen plötzlich an. Der Officer gab ein unverständliches Brummen von sich, griff nach den beiden Beweismitteln, stand auf und befahl Walker mit einer Geste, den Transporter zu verlassen. Die rückwärtige Tür öffnete sich. Sam stieg aus, und sofort traten zwei Uniformierte auf ihn zu und packten ihn an den Armen. Sie führten ihn in ein leeres Zimmer im ersten Stock der Kunstakademie. Schweigend warteten sie dort eine Stunde lang. Schließlich trat Steve Tyford ein. Die drei Beamten sprangen sofort auf und versuchten, Haltung anzunehmen. »Kennen Sie diesen Mann, Mister Ty…?« begann einer der Polizisten. »Sam?« unterbrach ihn Tyford. »Zum Teufel, wieso tragen Sie denn eine Visitor-Uniform?« Bevor Walker darauf antworten konnte, bedachte Steve die Polizisten mit einem scharfen Blick. »Und was soll ich davon halten, daß Sie ihn wie einen Verbrecher hierher schleppen? Nehmen Sie ihm die verdammten Handschellen ab. Ich habe Ihrem Captain bereits gesagt, daß ich Sam kenne.« »Ich schätze, das genügt als Antwort auf meine Frage«, sagte der Officer. Er befreite Walker von dem Stahl an seinen Handgelenken und reichte ihm sowohl den Helm als auch den Laser zurück. »Ich glaube, das gehört Ihnen. Aber seien Sie auf der Hut. Heutzutage ist es alles andere als ungefährlich, in der Aufmachung eines Visitors herumzulaufen. Vielleicht schießt man beim nächsten Mal sofort auf Sie – ohne sich die Zeit zu nehmen, vorher Fragen zu stellen.« »Teilen Sie Ihrem Captain mit, daß Mr. Nordine und ich die Hilfe der Polizei in dieser Angelegenheit sehr zu schätzen wissen.« Steve trat an die Tür und hielt sie auf, bis die drei Beamten das Zimmer verlassen hatten. Dann sah er Walker entschuldigend an und meinte: »Es tut mir leid, daß Sie so lange warten mußten, aber wir sind gerade dabei umzuziehen.
Die Stadt will ihr Kunstmuseum zurück. Und mit ein wenig Glück wird in einem Monat gar kein Hauptquartier der Widerstandsbewegung mehr gebraucht. Die Lage müßte sich bald einigermaßen normalisiert haben.« Er setzte sich und bot Walker an, ebenfalls Platz zu nehmen. »Und jetzt sagen Sie mir, was geschehen ist. Befindet sich Janus noch immer in Arlington Heights?« Walker schüttelte den Kopf. »Ich muß mit Paul Nordine reden.« »Ich weiß. Der Polizeibericht erwähnte, Sie hätten behauptet, Pauls Leben sei in Gefahr. Er bat mich, mit Ihnen zu sprechen. Er berät sich gerade mit einigen Leuten von der Gewerkschaft. Es geht darum, mehr Lebensmittel in die Stadt zu bringen. Wenn es erforderlich ist, empfängt er Sie im Anschluß an die Konferenz.« »Wenn es erforderlich ist!« entfuhr es Walker. Irrationaler Zorn quoll in ihm empor, und für einen Sekundenbruchteil fühlte er sich versucht, Tyford die Faust ins Gesicht zu schlagen. Aber er beherrschte sich, holte tief Luft und entschied sich für den Weg des geringsten Widerstandes. »Es begann in der Nacht, als Sie und Ihre Leute Arlington Park verließen…« Ausführlich schilderte Walker die Ereignisse der vergangenen drei Tage. Er begann mit der Verschleppung an Bord des Mutterschiffes und endete mit Officer Jim und seinen beiden Rocker-Gehilfen. Während seines Berichts wurde Steve immer blasser und als Walker schließlich schwieg, zitterten seine Hände. »Janus ist wirklich tot?« fragte er leise voll Erschütterung. Walker nickte. »Und vielleicht droht den Bewohnern dieser Stadt ein ähnliches Schicksal, wenn es uns nicht gelingt, Alicias Pläne zu durchkreuzen.«
Steve kaute auf der Unterlippe und dachte nach. »Hören Sie: Paul muß die Entscheidung treffen. Ich möchte, daß Sie hierbleiben und warten. Ich bringe ihn so rasch wie möglich zu Ihnen, aber es könnte eine Stunde dauern, ihn aus der Konferenz zu holen.« Walker warf einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand ihm gegenüber. Es war sieben Uhr abends. »Ich habe den ganzen Tag gewartet«, erwiderte er. »Eine Stunde mehr oder weniger macht wohl keinen Unterschied.« Steve lächelte. »Wir kommen so schnell wie möglich zu Ihnen.« Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Walker lehnte sich zurück und stützte den Kopf an die Wand. Zufriedenheit erfüllte ihn, und er entspannte sich. Er hatte es geschafft und das zu Ende gebracht, wofür Jennifer und Janus ihr Leben geopfert hatten. Lächelnd schloß er die Augen.
Eine laute Stimme im Gang weckte Walker, und er blinzelte und rieb sich die Augen. Die Anstrengungen der vergangenen Tage forderten ihren Tribut – aus diesem Grund war er eingeschlafen. Er blickte auf das Ziffernblatt an der Wand. Acht Uhr dreißig? Erneut rieb er sich die Augen, doch die Anzeige änderte sich nicht. Es war halb neun, und Steve und Paul ließen weiterhin auf sich warten. Er stand auf, trat auf die Tür zu, öffnete sie und sah auf den Gang. Drei Männer unterhielten sich laut, während sie Aktenkarren durch den Korridor schoben. »Hat jemand von Ihnen Paul Nordine oder Steve Tyford gesehen?« rief er ihnen zu. »Klar. Sie gingen gerade nach draußen.« Einer der Männer deutete auf die Ausgangstür. »Sie sind auf dem Weg zu einer neuen Wahlveranstaltung. Und wenn Sie mich fragen: Auf
diese Weise wollen sie sich nur vor der schweren Arbeit drücken.« »Was für eine Wahlveranstaltung?« fragte Walker verwirrt. »Sie sollten doch zu mir…« Er sprach nicht weiter und stürmte los. Als er das Gebäude verließ, sah er nur noch, wie Nordine und Tyford in eine dunkelblaue Limousine stiegen. Er rief, aber die Türen schlossen sich. Hastig sprang er die Stufen der breiten Zugangstreppe hinunter. Als er bis auf drei Meter herangekommen war, fuhr der Wagen los, und Walker blieb stehen. Plötzlich lief es ihm eiskalt über den Rücken. Sein Blick fiel auf das Kennzeichen der Limousine: 049-ESB.
13. Kapitel
049-ESB! Das Entsetzen hinderte Walker zunächst daran, einen klaren Gedanken zu fassen, aber dann fügten sich die einzelnen Mosaiksteine von einem Augenblick zum anderen zu einem einheitlichen Bild zusammen. Steve Tyford ist Alicias Verbindungsmann in Chicago! Plötzlich war alles klar. Steve hatte es deshalb abgelehnt, sein Funkgerät im Arlington Park zurückzulassen, weil er es brauchte, um Kontakt mit dem Mutterschiff aufzunehmen. Walker erinnerte sich wieder an seinen Verdacht, daß Geralds Soldaten ganz genau über das Versteck der beiden zurückgebliebenen Männer Bescheid wußten. Natürlich: Steve hatte ihnen den entsprechenden Stall beschrieben. Das lange Warten in der Kunstakademie, der Hinweis darauf, Nordine sei in einer wichtigen Besprechung – nur eine Hinhaltetechnik, die Tyford Zeit genug gab, zum Anführer der Widerstandsgruppe zu gelangen. Walkers Wut machte sich mit einigen Flüchen Luft. Vielleicht hatte Steve auch dafür gesorgt, daß man ihn einen ganzen Tag lang auf der Polizeiwache festhielt. In der Zwischenzeit hatte er dann einen geeigneten Plan entwickeln können, der sicher vorsah, Nordine zu entführen und Gerald und seinen Leuten auszuliefern. Ist er ein Verräter, oder wurde er von Alicia konvertiert? überlegte Walker. Nun, das spielte im Augenblick keine Rolle. Es kam nur auf das Ergebnis an. Und das bestand darin, daß man ihn an Bord eines Visitor-Shuttles verfrachtet hatte – um ihn vier Stunden später den Schrecken der Umwandlungskammer auszusetzen.
Walker wirbelte um die eigene Achse und rannte zur Kunstakademie zurück. Sowohl die Widerstandsgruppe als auch die Polizei mußten von Alicias Absichten erfahren, die Stadt zurückzuerobern, über die sie vor zwei Wochen die Kontrolle verloren hatte. Doch als er die Tür aufriß, packte ihn erneut eisiges Entsetzen. An wen soll ich mich wenden? Ihn kannten doch nur Nordine und Tyford. Und welcher Widerstandskämpfer oder Polizist würde ihm seine Geschichte glauben, Paul Nordine sei von seinem Stellvertreter entführt worden, um zu einer willfährigen Marionette der Außerirdischen gemacht zu werden? Eben jenes Feindes, der nicht auf die Erde zurückkehren konnte, weil ihn das Toxin in der Atmosphäre binnen kurzer Zeit getötet hätte… Wer glaubt einem Mann, der die Uniform eines Visitors trägt? Ein flaues Gefühl breitete sich in Walkers Magen aus. Alicias Plan war so einfach und genial, daß ihm kaum mehr eine Chance blieb. Niemand würde auf ihn hören. Niemand würde ernsthaft in Erwägung ziehen, Steve könne ein Verräter sein – jener Tyford, der an Nordines Seite so entschlossen gegen die Visitors gekämpft hatte… Es gab nur einen Mann, der das verstand und wußte, welche fürchterliche Gefahr Chicago drohte. Und dieser Mann hieß Samuel Walker. Wenn Steve Tyford aufgehalten werden sollte, so mußte er die Sache selbst in die Hand nehmen. Walker drehte den Kopf und blickte sich um. Nach einigen Sekunden sah er, wonach er Ausschau gehalten hatte. Auf dem Parkplatz der Kunstakademie stand ein weißer Lieferwagen. Auf der langen Ladefläche lagen die Aktenbündel, die von den drei Männern im Flur aus dem Gebäude gebracht worden waren. Die Fahrertür stand offen. Walker konnte nicht erkennen, ob der Zündschlüssel im
Schloß steckte. Aber er war sicher, daß es ihm irgendwie gelingen würde, den Motor zu starten. Rasch kehrte er in die Kunstakademie zurück und stürmte durch den Gang. Er nahm den Helm und die Strahlenwaffe an sich und lief wieder nach draußen. Die drei Arbeiter schoben gerade ihre Karren an den Lieferwagen heran. Walker kämpfte gegen seine Nervosität an, und während die Männer weitere Aktenbündel auf die Ladefläche warfen, riß Walker die Beweismittel-Etiketten von seiner Visitor-Ausrüstung. Einige Sekunden später kehrten die drei Widerstandskämpfer ins Gebäude zurück. Walker eilte die Stufen hinunter, lief über den Parkplatz und schob sich hinter das Steuer. Er lächelte zufrieden, als er den Zündschlüssel auf dem Beifahrersitz liegen sah, schloß die Tür, schob den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn. Der Anlasser jaulte einige Male, und dann sprang der Motor an. Walker gab Gas, und Dokumentenbündel und zusammengebundene Akten zitterten und rutschten von der Ladefläche. Er sah nicht zu dem Durcheinander zurück, das er auf dem Parkplatz hinterließ. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die dunklen Straßen der Stadt. Walker schaltete die Scheinwerfer aus, als er die Hochstraßen in der Nähe des Flughafens O’Hare erreichte und den Weg nach Westen über den Northwest Tollway fortsetzte. Das Licht des Halbmondes genügte, um den umgestürzten und ausgebrannten Fahrzeugen auszuweichen, die hier und dort auf der Fahrbahn lagen. Er wußte, daß sich jedes schwache Schimmern der Mondsichel auf dem weißen Lack des Lieferwagens widerspiegelte, und wenn einige Shuttles von Geralds Streitmacht irgendwo in der Nähe Patrouille flogen, so konnten ihn die Piloten wohl kaum übersehen. In diesem Punkt blieb Walker nichts anderes übrig, als die Finger zu kreuzen und auf sein Glück zu vertrauen. Vielleicht waren Gerald und
seine Soldaten so sehr mit den Vorbereitungen auf Nordines Ankunft beschäftigt, daß sie einem einzelnen Wagen auf der Autobahn keine Beachtung schenkten. Es erfolgte kein Angriff. Nach einer Weile sah Walker weiter vorn die Schilder, die auf den Arlington Park hinwiesen, und er bog vom Highway ab und näherte sich dem Rennbahngelände. Einige Sekunden lang erwog er die Möglichkeit, das Gaspedal voll durchzutreten und das Tor zu durchbrechen. Er verzog das Gesicht. Eine solche Szene hätte einem Actionfilm alle Ehre gemacht. Der Held am Steuer seines Wagens, die Bösewichter, die sich schreiend zur Seite warfen, um dem dahinrasenden Fahrzeug zu entgehen. Kurz darauf würde der Retter mit quietschenden Reifen anhalten, die Tür aufstoßen, das arme Opfer retten und zwei schwarze Streifen auf dem Asphalt zurücklassen. Für Helden ist alles ganz einfach, dachte er. Wenn sie nach einem guten Drehbuch handeln und der Regisseur sein Handwerk versteht. Dies aber war kein Film, und bei den Echsen auf der Rennbahn handelte es sich nicht um Komparsen, die nur als Staffage dienten. Wenn Walker das Tor durchbrach, würden sich zweihundert Laser auf ihn richten – und der Wagen hätte sich unmittelbar darauf in einen Flammenball verwandelt. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, die Ställe zu erreichen: Nordine stand dort nicht bereit, um sofort einzusteigen. Walker betrachtete kurz den Helm, der neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Zusammen mit der Uniform und der Strahlenwaffe hatte er genügt, um die Wächter an Bord des Mutterschiffes zu täuschen. Vielleicht erwiesen sie sich jetzt als sein Trumpf. Walker folgte dem Verlauf der Straße, die westlich am Arlington Park vorbeiführte, und nach einem knappen Kilometer schaltete er den Motor aus und ließ den Wagen
weiterrollen. Erst nach rund zweihundert Metern kam er zum Stehen. Nachdenklich kaute Sam auf den Lippen. Es wäre ihm lieber gewesen, den Lieferwagen noch etwas näher an die Rennbahn heranzubringen, aber er konnte nicht riskieren, daß die Visitors das Brummen des Motors hörten. Außerdem: Wenn er es schaffte, Nordine zu befreien, so gab es keine Garantie dafür, daß sie das Gelände auf dem gleichen Weg verlassen konnten, den er gekommen war. Wenn ich ihn finde, überlegte er, ließ die Schlüssel im Zündschloß, öffnete die Tür und trat in die Nacht. Wenn ich auf die Rennbahn gelange, ohne entdeckt zu werden. Durch ein verlassenes Wohnviertel lief er nach Osten und erreichte kurz darauf eine Sackgasse. Nur eine weite Wiese mit hüfthohem Gras und der Drahtzaun trennten ihn noch vom Stallbereich. Geduckt schlich Walker weiter. Auch diesmal war das Glück auf seiner Seite. Weit und breit zeigte sich kein Wächter. Er richtete sich auf und wollte gerade beginnen über den Zaun zu klettern, als er ein Geräusch vernahm und erstarrte. Sand und kleine Steine knirschten unter den Stiefeln zweier Visitors, die weiter links hinter einem Schuppen hervorgetreten waren und an der Absperrung entlangschritten. Walker sprang zurück und ließ sich bäuchlings ins Gras sinken. Er hielt den Laser so, daß der Lauf auf den Zaun zielte, und sein Finger tastete nach dem Auslöser. Die Schritte kamen näher. Durch das hohe Gras sah er die schattenhaften Gestalten der beiden Soldaten. Er hörte ihre flüsternden Stimmen – offenbar handelte es sich um einen Mann und eine Frau. Sie unterhielten sich über mögliche Beförderungsaussichten für die Mitglieder von Geralds Kommandogruppe. Vorausgesetzt natürlich, ihre Mission war erfolgreich.
Sie wanderten an Walker vorbei, ohne auch nur einen Blick zur Seite zu werfen. Sam ließ den angehaltenen Atem in einem leisen Seufzen entweichen, als die beiden Visitors das Ende der Stallreihe erreichten und sich von dort aus nach Osten wandten. Kurze Zeit später verschwanden sie hinter den Verschlägen, und nach einigen Minuten Abwarten richtete er sich wieder auf und lauschte. Erst als er ganz sicher war, daß sich keine weiteren Außerirdischen in der Nähe befanden, setzte er sich in Bewegung, kletterte über den Zaun und sprang auf der anderen Seite zu Boden. Er verharrte, blickte sich um und vergewisserte sich, daß ihn niemand bemerkt hatte. Im Westen machte er den Glanz zweier Autoscheinwerfer aus. Walker eilte auf den nächsten Schuppen zu, drückte sich an die Wand und wartete. Der Wagen näherte sich der Rennbahnzufahrt. Vor dem Zaun hielt der Fahrer an und wartete, bis ein Visitor das Tor öffnete. Erschrocken dachte Walker daran, was geschehen wäre, wenn ihn zuvor jener Wächter gesehen hätte, aber dann drängte er diese Überlegungen beiseite. Es kam jetzt nur noch auf das Fahrzeug an. Wegen der großen Entfernung konnte er die Insassen nicht erkennen, aber er war sicher, daß Tyford hinter dem Steuer saß. Offenbar hatte sich Nordines Stellvertreter für die längere Route durch die leeren Vororte entschieden. Der Wagen rollte durch das Tor, und Walker schob sich rasch an der Schuppenwand entlang, verließ die Deckung und eilte zu der nächsten Stallreihe, die bis zur Rennstrecke reichte. Fünf hölzerne Unterstände brachte er hinter sich, und dann blieb er stehen. Drei Visitors kamen ihm entgegen. Walker fragte sich, ob er einfach vortreten und seine Verkleidung auf die Probe stellen sollte, entschied sich aber dagegen. Dafür war er noch immer zu nahe am Stallbereich.
Bei den Soldaten, die so weit vom Parkplatz entfernt stationiert waren, der nun als Landefläche für die Flugboote diente, handelte es sich gewiß um Wächter. Es wäre töricht – wenn nicht gar selbstmörderisch – gewesen, ausgerechnet jetzt eine Konfrontation zu riskieren. Er wartete, bis die drei Gestalten vorbei waren, und dann löste sich Walker aus den dunklen Schatten und hastete leise weiter. Als er den fünften Stall vor dem Parkplatz erreicht hatte, stellte er fest, daß er den Weg nicht fortsetzen konnte, ohne von den Visitors gesehen zu werden. Vor ihm wimmelte es nachgerade von Leuten in roten Uniformen. Er klappte das getönte Helmvisier herunter, wartete, bis sich seine Augen einigermaßen an die Finsternis gewöhnt hatten, holte tief Luft und trat ins Freie. Nach einigen Sekunden lächelte er. Niemand schenkte ihm Beachtung. Bisher klappt es ausgezeichnet, dachte er und ging an den vier letzten Schuppen vorbei. Zwanzig Soldaten umringten Tyfords dunkelblauen Wagen. Etwas weiter links standen Steve und Gerald und sprachen miteinander. Mondlicht spiegelte sich matt auf den weißen Flanken eines Shuttles wider, das auf dem Parkplatz bereitstand. Die offene Luke wirkte wie ein gähnendes Maul. Von Paul Nordine war weit und breit nichts zu sehen. Walker atmete tief durch, stieß sich von der Wand des letzten Stalls ab und schlenderte auf die Soldaten zu, die in der Nähe der dunklen Limousine warteten. Dort entdeckte er den Anführer der Widerstandsgruppe. Nordine saß auf dem Beifahrersitz des Wagens. Der Kopf war zur Seite geneigt, die Augen geschlossen – so als schliefe er. Entweder mit Drogen betäubt oder bewußtlos; Walker war sich nicht ganz sicher. Er beobachtete das Innere des Wagens, und sein Pulsschlag beschleunigte sich. Der Zündschlüssel steckte im Schloß.
Wenn es ihm gelang, hinter das Steuer zu gelangen, mochte ein Entkommen möglich sein. Und eine geringe Chance war besser als gar keine. Er ging an den Visitors vorbei, die sich leise unterhielten und dem reglosen Nordine immer wieder neugierige Blicke zuwarfen, und nach einer Weile befand er sich auf der Fahrerseite der Limousine. Einer der Soldaten wich ein wenig zur Seite, und Walker nutzte die Gelegenheit, um an die Tür heranzutreten. Nur noch wenige Zentimeter trennten seine rechte Hand vom Griff. In Gedanken ging er noch einmal seinen Plan durch. Den neben ihm stehenden Uniformierten zur Seite stoßen, die Tür aufreißen, hinters Steuer springen, den Motor starten – und Vollgas geben. Voller Sorge dachte er an die Laser der Soldaten, das geschlossene Tor, an das Shuttle, das sicher die Verfolgung aufnehmen würde. Aber zunächst einmal ging es darum, in den Wagen zu gelangen. Walker drehte sich zu dem Visitor an seiner Seite um, spannte die Muskeln… »Bringt Nordine ins Shuttle«, wandte sich Gerald mit vibrierender Stimme an seine Leute. »Sergeant, Ihre Männer sollen sich für den Start bereitmachen. Alicia wartet auf uns.« Einer der Visitors auf der anderen Seite des Wagens öffnete die Beifahrertür. Zwei Soldaten zogen den reglosen Nordine vom Sitz und trugen ihn zu dem Flugboot. »Sie haben den Befehl des Procaptains gehört.« Jemand schob Walker von der Limousine fort. »Los, Bewegung.« Es blieb Sam keine andere Wahl, als zusammen mit den zwanzig anderen Visitors Aufstellung zu beziehen und in das Shuttle einzusteigen. Einige Minuten später verließen sie die Erdatmosphäre, und der Pilot nahm Kurs auf den Mond.
14. Kapitel
Entweder waren die Shuttles nicht für interplanetare Flüge konzipiert, oder die Visitors konnten Unbequemlichkeiten weitaus besser ertragen als ein durchschnittlicher Mensch. Zu diesem Schluß kam Walker, als sie etwa ein Viertel der Strecke bis zum Mond zurückgelegt hatten. Der Innenraum des Flugbootes hatte keine Sitzbänke oder Stühle. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als dem Beispiel der Soldaten zu folgen und möglichst ruhig zu stehen. Aus Furcht davor, sich zu verraten, wagte er es nicht einmal, sich an die Wand zu lehnen. Die ganze Zeit über befürchtete er, einer der Außerirdischen könnte ihn ansprechen, aber sie schwiegen, standen einfach nur da und starrten sich an. Er machte sich auch Sorgen wegen seines Körpergeruchs. Seit drei Tagen schon hatte er sich nicht mehr waschen können, und vielleicht wurden die Visitors auf seine Ausdünstungen aufmerksam. Wenn sie Verdacht schöpften… Er fragte sich, wie er nur zum zweitenmal aus dem Mutterschiff fliehen sollte. Selbst wenn er es schaffte, Paul Nordine zu befreien und ein Shuttle zu erreichen: Irgendwie mußte er die Kampffähre zur Erde zurückfliegen. Jennifer hatte ihm zwar die Kontrollen erklärt, doch diesmal war er auf sich allein gestellt und konnte nicht auf die Hilfe einer erfahrenen Pilotin zurückgreifen. Dieser letzte Gedanke beschäftigte ihn besonders. Das dunkle Helmvisier schirmte sein Gesicht ab, und so war er in der Lage, den Blick nach rechts und links schweifen zu lassen, ohne daß jemand etwas davon bemerkte. Er beobachtete die
Pilotenkanzel und sah zu, welche Tasten und Sensorfelder die Finger des Visitors an der Konsole berührten. Dabei versuchte er, sich alle Schaltungsvorgänge fest ins Gedächtnis einzuprägen. Als das Shuttle den Mond passierte und die gewaltige Flotte in Sicht kam, war Walker sicher, die Systeme eines Flugbootes kontrollieren zu können – immer vorausgesetzt, daß sich ihm eine Möglichkeit bot, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Die Kampffähre glitt an den riesigen Massen der Mutterschiffe vorbei, und diesmal sah Walker überall Bewegung: winzige Lichtpunkte, die zwischen den Raumschiffen hin und her schwebten. »Warum herrscht hier solche Aktivität?« wandte sich Gerald an den Piloten. »Alicia hat die anderen Kommandanten von ihren Plänen für die Rückeroberung Chicagos unterrichtet«, erwiderte der Visitor an der Konsole. »Seitdem folgt ein offizieller Empfang auf den nächsten. Allen Befehlshabern ist an einem vertraulichen Gespräch mit Alicia gelegen.« »Sie wollen nicht in die zweite Reihe zurückgedrängt werden«, stellte Gerald fest. »Wenn wir Erfolg haben, möchten sie behaupten können, eine wichtige Rolle bei unserer Mission gespielt zu haben. Sie selbst haben bisher nichts unternommen, und deshalb fürchten sie die Verärgerung des Großen Denkers. Seit die irdische Atmosphäre vergiftet worden ist, versuchte nur Alicia, eine Möglichkeit für unsere Rückkehr zu finden. Vielleicht vermuten die anderen Kommandanten, Alicia könne bald zur obersten Kommandantin der ganzen Flotte werden.« Walker beachtete die Stimmen nicht weiter und beobachtete die Flotte, ohne den Kopf zu drehen. An fast allen Mutterschiffen zeigten sich große helle Rechtecke – geöffnete Hangars. Eine Idee reifte in ihm. Wenn er es zusammen mit
Nordine schaffte, in ein Shuttle zu gelangen, so konnten sie wenigstens sofort starten, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sich das Außenschott des Hangars öffnen ließ. Kurz darauf sah er, wie sich das Flugboot einem der stadtgroßen Mutterschiffe näherte. Der Pilot zog langsam die Hebel zu beiden Seiten seines Sessels zurück, und das Shuttle glitt in Richtung des langen Landedecks, hielt auf eines der roten Symbole zu und setzte mit einem leichten Ruck auf. Walker ließ den Piloten nicht aus den Augen. Als der Visitor eine rote Taste auf der linken Seite der Konsole berührte, schwang die Luke auf. Drei weitere rote Kontrollfelder darunter färbten sich grün, nachdem sie berührt worden waren. Das leise Summen der Antriebsaggregate verklang. Walker bekam keine Gelegenheit, weitere Einzelheiten über die Bedienung der Kontrollen in Erfahrung zu bringen. Der neben der Luke wartende Sergeant befahl seinen Leuten, das Shuttle zu verlassen. Sam schloß sich ihnen an und verließ ebenfalls das Flugboot. Auf dem Landedeck nahm er zusammen mit den anderen Haltung an. Einige Sekunden später kam Gerald, und die beiden Visitors in seinem Gefolge stützten Nordine. Der Anführer der Chicagoer Widerstandsbewegung sah benommen aus. Seine Augen waren geweitet, und er blinzelte mehrmals, als bemühe er sich, gegen die betäubende Wirkung einer Droge anzukämpfen. »Ihr beiden – übernehmt die Führung.« Der Sergeant deutete auf zwei Soldaten, und die beiden Männer traten vor Nordine und seine Eskorte. »Und dann ihr.« Das Herz pochte Walker bis zum Halse empor, als der Sergeant auf ihn zeigte. Er schluckte, und zusammen mit dem Uniformierten an seiner Seite bezog er hinter Nordine und seinen beiden Wächtern Aufstellung. Als Gerald mit dem Gefangenen und den sechs Soldaten seiner Eskorte auf den
nahen Korridor zuhielt, seufzte Walker lautlos. Er hatte sich nur deshalb nicht verraten, weil er diese Routine von seiner ersten Ankunft an Bord des Mutterschiffes her kannte. Diesmal aber war sein Kopf klar, und er konnte sich ganz auf die Umgebung konzentrieren. Er merkte sich jeden Gang, durch den sie schritten, jede Abzweigung. Nach einer Weile erreichten sie die Konvertierungskammer, und dort warteten Alicia und vier weißgekleidete Assistenten an den Konsolen. Nordine war noch immer nicht ganz zu sich gekommen und gab nur ein dumpfes Stöhnen von sich, als ihn zwei der Soldaten entkleideten und in den Glaskäfig führten. Walker folgte dem Beispiel der anderen Visitors, wich an die Wand zurück und nahm Haltung an. Er schloß die Augen und dachte an die Route zurück zum Hangar. Doch so sehr er sich auch zu konzentrieren versuchte: Immer wieder hallten Nordines entsetzte Schreie an seine Ohren. Rund eine Stunde später marschierten fünf Wächter und ein Mensch in Visitor-Verkleidung durch einen Gang. Nach etwa siebzig Metern wandten sie sich nach links. Vor der Zelle verharrten sie, und Walker beobachtete aufmerksam, wie einer der Soldaten einige Tasten der Kontrolleinheit in der Wand betätigte. Er prägte sich die Codefolge ein. Vier der Außerirdischen trugen Nordine in die kleine Kammer und legten ihn auf die Koje. Der Visitor neben Walker streifte sich den Riemen des Lasers von der Schulter und stellte sich neben die Tür. Walker trat an die andere Seite. »Richard und ich kehren in einer Stunde zurück, um Sie abzulösen«, sagte einer der Außerirdischen und bedachte Walker und den anderen Soldaten mit einem durchdringenden Blick. »Sie sollten äußerst wachsam sein. Sie wissen ja, was mit Dan und Joyce geschah, die Alicias beide letzten Gefangenen entkommen ließen.«
Walker nickte nur, doch der Wächter an der anderen Seite sagte mit weiblicher Stimme: »Dan konnte überhaupt nicht mehr klar denken. Schon seit Monaten versuchte er, sich einen Platz in Jennifers Bett zu sichern. In dieser Hinsicht brauchen Sie sich über mich keine Sorgen zu machen, Wesley.« Wesley lachte leise. »Das kann ich mir denken, Belinda. Die Sache sähe wohl ein wenig anders aus, wenn Ihr Partner weiblichen Geschlechts wäre, eh?« Wesley und die drei anderen Visitors drehten sich um und gingen fort. Belinda starrte ihnen wütend nach, und ihre rechte Hand schloß sich fest um die Waffe. »Verdammter Mistkerl! Er glaubt nur deshalb, ich würde Frauen vorziehen, weil ich ihn nicht an mich heranlasse!« Walker gab keine Antwort. Er erinnerte sich immer wieder daran, daß er es nicht mit einer menschlichen Frau zu tun hatte, sondern mit einem extraterrestrischen Reptil, das aus einem fernen Sonnensystem stammte. Belinda drehte den Kopf und sah ihn an. »Sie reden wohl nicht viel, wie? Was ist los mit…« Walker gab ihr keine Gelegenheit, die zweite Frage zu beenden. Abrupt trat er vor, hob den Laser und schlug mit dem Kolben auf eine Stelle dicht unterhalb des Visierrandes. Er benutzte dabei die gleiche Taktik, die Jennifer angewendet hatte – und sie erwies sich als ebenso erfolgreich. Es knackte laut, als der Kolben auf das so menschenähnlich getarnte Kinn der Visitor traf. Belinda gab ein überraschtes Ächzen von sich, sank zu Boden und blieb reglos liegen. Walker starrte einige Sekunden lang auf sie hinab, entschied sich dann aber gegen eine genauere Untersuchung, ob sie nur bewußtlos oder tot war. Er wollte es nicht wissen. Er wandte sich von ihr ab, blickte auf das Kontrollfeld in der Wand und überlegte kurz. Dann drückte er einige der Tasten.
Ein leises Zischen – und die Tür öffnete sich. Paul lag auf der schmalen Koje und hob den Kopf. »Nicht schon wieder. Bitte!« Walker klappte das Visier hoch und grinste. »Ich bin zwar nicht die Kavallerie, aber Sie müssen sich mit mir begnügen.« »Wal… Walker?« Es zuckte in Nordines Gesicht, und in seinen Augen funkelte es mißtrauisch. »Sam Walker?« »Genau der.« Er zerrte Belinda in die Zelle. »Vielleicht ist Ihnen ihre Uniform ein wenig zu eng, doch daran läßt sich nichts ändern. Ziehen Sie sie an. Beeilen Sie sich; wir haben nicht viel Zeit. In einer knappen Stunde kommen zwei andere Wächter, um mich und diese Visitor hier abzulösen.« »Was… was machen Sie hier?« fragte Nordine verwirrt, und seine Worte hörten sich so an, als sei ihm die Zunge im Weg. Walker bückte sich, und während er die rote Uniform von Belindas Körper zerrte, gab er dem Anführer der Widerstandsgruppe einen knappen Lagebericht. Selbst nackt unterschied sich die Visitor in keinem Detail von einer menschlichen Frau. »Dann wissen Sie also über Steve Bescheid?« Paul sah ihn groß an. Walker nickte nur und blickte auf die Frau. Unterdessen versuchte Paul, sich in die Uniform der Wächterin zu zwängen. Belinda war ein Mensch. Walker konnte sich nicht davon überzeugen, daß die rosafarbene Haut Echsenschuppen bedeckte. Er bückte sich noch einmal und strich mit einer Fingerkuppe über die Wange. Sie fühlte sich erstaunlich kalt an. Und als er an der Haut zog… Sie riß, und darunter zeigte sich ein grünschwarzer Glanz. In Walker stieg Übelkeit hoch, und er drehte sich rasch um. »Sie sollten das jetzt mit Ihrer eigenen Wange wiederholen«, sagte Paul und richtete Belindas Laser auf ihn.
Walker zuckte mit den Schultern und erinnerte sich daran, mit welchem Argwohn er auf Jennifers Eintreffen reagiert hatte. Er zwickte sich in die Wange, zog und schnitt eine Grimasse. »Zufrieden?« »Ja.« Paul lächelte. »Wie haben Sie sich unsere Flucht vorgestellt?« »Klappen Sie das Visier herunter«, erwiderte Walker und senkte die Sichtscheibe seines Helms. »Folgen Sie mir. Und ganz gleich, was auch geschieht: Geben Sie keinen Ton von sich.« Paul kam der Aufforderung nach und nickte wortlos. Walker winkte, und ging Paul voran aus der Zelle. Eine weitere Tastenfolge, die er zuvor ebenfalls beobachtet hatte – und die Tür schloß sich. Walker dachte daran, daß Jennifer sie durch die Wartungsschächte geführt hatte, und wünschte sich, den gleichen Weg nehmen zu können. Doch er kannte nur eine einzige Route zum Hangar – die durch die Hauptkorridore. Paul hielt sich einen Schritt hinter ihm, als sie den unbewachten Zugang der Konvertierungskammer passierten und durch das Tunnellabyrinth des Mutterschiffes wanderten. Nach einer halben Stunde erreichten die beiden Männer den Hangar. Das Außenschott war weit geöffnet, und jenseits des unsichtbaren Abschirmfeldes erstreckte sich die Schwärze des Alls. Eine Zeitlang beobachtete Walker die Arbeiter und Techniker, die auf dem weiten Landedeck hin und her eilten. Dann richtete sich sein Blick auf ein Shuttle in etwa dreißig Metern Entfernung. Es war nur halb so groß wie die anderen Flugboote. Ein Jäger, dachte Walker. Offenbar handelte es sich nicht um eine einfache Kampffähre zum Transport von Truppen, sondern um eine Maschine, die man für den unmittelbaren Gefechtseinsatz konzipiert hatte. Die Seitenluke stand offen und wurde nicht bewacht.
Walker nickte kurz in Richtung des Shuttles und betrat mit Paul das Landedeck. Er mußte sich zur Ruhe zwingen und widerstand mit Mühe der Versuchung, schneller zu gehen. Es kam jetzt darauf an, nicht die Aufmerksamkeit der anwesenden Visitors zu erregen. Niemand hielt sie auf. Sie näherten sich dem Flugboot und gingen an Bord, ohne daß man ihnen Beachtung schenkte. Walker nahm den Helm ab, eilte an die Konsole und betätigte die rote Taste in der linken oberen Ecke. Die Luke schloß sich. Erst dann drehte er den Kopf und sah sich das Innere des Shuttles an. Im Heck bemerkte er einen Sitz, der für den Bordschützen gedacht war, und die beiden Läufe eines Lasergeschützes bestätigten seine vorherige Vermutung über den Zweck des Flugbootes. »Können Sie dieses Ding steuern?« Paul hob die Augenbrauen. »Das wird sich gleich herausstellen.« Walker legte Helm und Waffe beiseite und setzte sich in den Pilotensessel. Nachdem Paul neben ihm Platz genommen hatte, streckte er die Hand nach den grün leuchtenden Feldern vor sich aus. Durch seine Berührung glühten sie rot auf, und der pochende Schmerz an seinen Zahnwurzeln machte ihn sicher, daß der Antrieb aktiviert war. Walker lächelte. Er griff nach den Hebeln zu beiden Seiten des Sessels und schob sie nach vorn. Das Shuttle hob sanft ab, und der Bug richtete sich auf das offene Außenschott. Dutzende von Arbeitern und Technikern wandten sich um. Zu spät! Walker lachte laut und drückte die Hebel einige Zentimeter weiter nach vorn. Das kleine Flugboot reagierte sofort und raste hinaus in die Leere des Weltraums.
15. Kapitel
Walker hatte einmal irgendwo gelesen, die Gravitation sei die schwächste Kraft im Universum. Jetzt aber fühlte sie sich wie eine unsichtbare Faust an, die sich um das Shuttle geschlossen hatte und es zu der silbrigen Sichel weiter links zerrte. Jennifer schien nicht die geringste Schwierigkeit dabei gehabt zu haben, das Flugboot am Mond vorbeizusteuern. Sam dagegen mußte dauernd die Positionsanzeige im Auge behalten und ständig Kurskorrekturen vornehmen. »Mir scheint, das Geschütz ist ganz einfach zu bedienen«, unterbrach Pauls Stimme Walkers innere Flüche. »An beiden Griffen befindet sich eine Taste – offenbar der Auslöser. Die Läufe lassen sich zwar nicht herumschwenken, doch dafür gibt es eine Art elektronischen Sucher, der…« »Gut.« Walker beobachtete, wie sich der blinkende Punkt, der auf dem Display die Position des Shuttles angab, erneut dem sichelförmigen Mondsymbol näherte. »Verdammt!« Er bewegte die Hebel, um die gravitationelle Abdrift auszugleichen. Der Visitor-Jäger kehrte auf den ursprünglichen Kurs zurück – nur um sich gleich darauf wieder zur Seite zu neigen. Walker nahm wieder eine Korrektur vor. »Irgend etwas nicht in Ordnung?« Paul runzelte besorgt die Stirn und ließ sich in den Sessel neben Walker sinken. »Ein akademischer Grad in Astrophysik wäre jetzt sehr hilfreich«, brummte Sam. »Und ich dachte, der Flugverkehr über Los Angeles sei schlimm. Aber bisher ging es mir auch noch nie darum, einem Mond auszuweichen.« Er kniff die Augen zusammen, als er wieder auf das Display sah.
Die Kursabweichung war minimal, aber am unteren Rand des Anzeigefeldes leuchteten jetzt drei Punkte. Er steuerte den Jäger nach rechts, dann nach links – und die drei Punkte paßten sich seinen Manövern an. Und schlossen auf. »Paul, ich hoffe, Sie kommen wirklich mit dem Geschütz zurecht.« Er drehte kurz den Kopf zu Nordine. »Wir werden nämlich verfolgt. Von drei anderen Shuttles, die ganz plötzlich hinter uns aufgetaucht sind.« Paul beobachtete die Bewegungen auf dem kleinen Schirm, stand auf und eilte zum Sitz des Bordschützen. »Mit bloßem Auge kann ich sie nicht sehen, aber der Sucher zeigt mir drei Ziele.« »Der obere Teil des Feldes ist zwölf Uhr, der rechte Rand drei Uhr!« rief Walker dem Anführer der Widerstandsgruppe zu. »Wo sind die Verfolger?« »In sechs Uhr!« Sam betätigte den Hebel, den er mit einem Höhenruder verglich. Der Bug des Jägers kippte nach links, hin auf die breiter werdende Mondsichel. Im Weltraum gab es natürlich kein oben und unten, zumindest nicht in dem Sinne, an den er von der Erde her gewöhnt war. Dennoch dachte er in solchen Begriffen, um sich die Orientierung zu erleichtern. »Noch immer sechs Uhr«, erklang Pauls Stimme aus dem Heck. Walker senkte den Hebel ein wenig. »Ja, so ist es gut«, sagte Paul. »Noch ein bißchen, und das mittlere Flugboot befindet sich genau im Zentrum des Suchers.« Sams Hand schloß sich ein weiteres Mal um den Hebel, und als einer der Lichtpunkte in das Fadenkreuz der Zielerfassung glitt, stabilisierte er die Fluglage. Kein Zischen oder Fauchen ertönte, und es war nicht einmal eine Vibration zu spüren.
Walker hörte nur ein dumpfes Klicken, und zwei blauweiße Energieblitze zuckten aus den Läufen des Bordgeschützes. Sam ging wieder auf den ursprünglichen Kurs und beobachtete dabei das Display. Nach wie vor blinkten dort drei Lichtpunkte. »Vielleicht sind sie außer Reichweite«, überlegte Paul. »Dann wären wir es ebenfalls«, erwiderte Walker. »Und was mich angeht…« »Himmel und Hölle!« entfuhr es Nordine. »Ich habe einen erwischt!« Sams Blick richtete sich einmal mehr auf das Display: Die Darstellung zeigte nur noch zwei Verfolger. Doch Walkers Lächeln dauerte nur wenige Sekundenbruchteile. »Sam, die Mistkerle nehmen uns unter Beschuß!« Walker brauchte sich nicht extra umzudrehen. Er sah sechs Glutstreifen, die unter dem Flugboot hinwegrasten und in der Ferne verblaßten. Einen Augenblick später begriff er, daß Pauls Treffer nur ein Glücksfall gewesen war. Offenbar verfügten die Visitor-Shuttles hinter ihnen ebenfalls über elektronische Zielerfassungen, und die Kanoniere hatten nur gewartet, bis die Schnittpunkte ihrer Fadenkreuze genau auf den Jäger wiesen. Die Kurskorrektur, dachte Sam. Ohne sie hätte es uns erwischt. »Halten Sie mich ständig auf dem laufenden, Paul!« rief er. »Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn sich die Positionen der beiden Flugboote verändern.« »Acht Uhr – und sie gleiten langsam in die Mitte«, antwortete Paul. Walker betätigte den Hebel. »Sieben Uhr, ganz unten.« Der Mann an der Konsole befeuchtete sich die spröden, trockenen Lippen und sah durch das breite Bugfenster. Die Sichel des Mondes war inzwischen hinter dem Jäger
zurückgeblieben, und vorn leuchtete die blauweiße Scheibe der Erde. »Sieben Uhr, zur Mitte hin!« rief Paul. Vier Stunden. Walker betätigte die Kontrollen. Vier Stunden und über dreihunderttausend Kilometer. Ein weiter Weg nach Hause – besonders für einen Hubschrauber-Piloten, der ein fremdes Raumschiff flog. »Eine Verzögerung?« fragte Lewis, der Kommandant des Mutterschiffes von Houston. Alicia winkte den Kurier hinaus, der ihr die Mitteilung überbracht hatte. »Sie ist nur vorübergehender Natur.« Alicia bebte vor Zorn, aber sie ließ sich nichts davon anmerken und gab sich ruhig. »Paul Nordine ist geflohen.« »Geflohen! Das bringt den ganzen Plan in Gefahr!« Lewis beugte sich abrupt vor und starrte die Kommandantin an. »Drei Shuttles haben die Verfolgung aufgenommen«, sagte Alicia und verschwieg, daß eins der Flugboote vernichtet worden war. »Nordine muß natürlich eliminiert werden. Aber es gibt noch andere Leute in Chicago, die uns ebenfalls von Nutzen sein können. Wir brauchen uns nur mit dem konvertierten Steve Tyford in Verbindung zu setzen und ihm einen neuen Auftrag zu geben. Nordines Flucht ist ein Ärgernis, weiter nichts.« »Vielleicht für Sie, Alicia.« Lewis stand auf und schüttelte den Kopf. »Aber ich bezweifle, daß die anderen Kommandanten Ihre Ansicht teilen.« Alicia fühlte sich versucht, dem untersetzten Mann klarzumachen, daß sie sich überhaupt nicht um die Meinung ihrer Kollegen scherte. Einzig und allein sie hatte gehandelt, während sich die anderen Kommandanten hinter dem irdischen Mond verbargen und es nicht einmal wagten, sich mit der Heimatwelt in Verbindung zu setzen und den Großen Denker vom Fehlschlag ihrer Mission zu unterrichten. Aber Alicia
beherrschte sich, und als sie antwortete, klang ihre Stimme ebenso ruhig wie zuvor. »Und Sie, Lewis? Was halten Sie von der gegenwärtigen Situation?« »Es steht mir nicht zu, eine solche Beurteilung vorzunehmen«, entgegnete er. »Die Rückeroberung Chicagos ist Ihr Plan. Ich bin bereit, mich auf die Rolle eines Beobachters zu beschränken und Sie gewähren zu lassen.« Wie großzügig! dachte Alicia voller Verachtung. »Im Grunde genommen finde ich an Ihrer Strategie nichts auszusetzen«, fuhr Lewis fort. »Aber einige der anderen Kommandanten meinen, Sie hätten uns vor Beginn der Aktion informieren sollen.« Um den Befehl über Gerald und seine immunen Soldaten an den Obersten Kommandeur abzutreten? fuhr es Alicia durch den Sinn. Begriffen ihre Kollegen denn nicht, daß es nötig gewesen war, eine rasche Entscheidung zu treffen, um das Chaos auf der Erde nach Abzug der Flotte als einen Vorteil zu nutzen? »Bei meiner Entscheidung ging es mir nur um den Ruhm unseres Großen Denkers«, sagte sie. »Wir alle sind bestrebt, dem Großen Denker zu dienen«, erwiderte Lewis. »Aber es gibt Offiziere, die sich durch Sie ihrer Chance beraubt fühlen, ihre Loyalität zu beweisen.« »Das lag nicht in meiner Absicht.« Alicia sorgte dafür, daß in ihrer Stimme ein Hauch von Betroffenheit zu hören war. Obgleich ihr euch sicher genauso verhalten hättet, wie ihr es mir jetzt zum Vorwurf macht. Ob es ihr gefiel oder nicht: Sie mußte versuchen, die anderen Kommandanten zu besänftigen und ihnen eine Möglichkeit geben, das Gesicht zu wahren – ohne daß dadurch ihre Pläne gefährdet wurden. »Ja, ich sehe jetzt ein, daß meine Handlungen auch falsch gedeutet werden konnten. Vielleicht wäre es angebracht, aus den
Kommandanten der anderen Mutterschiffe ein Komitee zu bilden…« »Ein guter Vorschlag, Alicia.« Lewis lächelte und nickte zustimmend. »Fünf Offiziere, die die Flotte repräsentieren, müßten eigentlich genügen. Und natürlich sollten sich die Mitglieder des Komitees an Bord Ihres Schiffes begeben und hier bleiben, bis die derzeitige Krise überwunden ist.« »Selbstverständlich.« Die Kommandantin lächelte ebenfalls. Die Vorstellung gefiel ihr ganz und gar nicht, sich von Lewis und vier weiteren Kommandanten ständig in die Karten blicken zu lassen. Im Augenblick blieb ihr allerdings keine Wahl. Nach dem erfolgreichen Abschluß ihres Unternehmens würde sie aber schon dafür sorgen, daß Lewis und die anderen ihre Anmaßung bitter bereuten. Einige Stunden später betraten Lewis und vier andere Kommandanten den Kontrollraum von Alicias Mutterschiff, um in Erfahrung zu bringen, ob der Jäger mit Nordine an Bord inzwischen zerstört worden war.
Die Sowjetunion, China, Japan und der Pazifik – nur Farbschlieren ohne Konturen, die innerhalb weniger Sekunden in tintenschwarzer Nacht verschwanden. Walker steuerte das Shuttle in die Atmosphäre und dachte dabei an Jennifers Worte. Hoffentlich verhinderte der Bordcomputer, daß sich der Jäger in glühende Schlacke verwandelte. »Sie folgen uns noch immer!« rief Paul vom Heck der Maschine. »Zwölf Uhr, ganz am oberen Rand.« Walker fluchte. Also ließen die Visitors auch in der vergifteten Lufthülle der Erde nicht locker. Er schob den Hebel nach vorn, mit dem sich die Flughöhe kontrollieren ließ, und das Shuttle ging tiefer und sauste durch einige faserige Wolkenfetzen. Voraus zeigte sich mattes Grau
in der Nacht und kündigte den kommenden Tag an. Auf dem Display der Konsole zeigte sich die Erde nicht länger als Kreis; vielmehr war auf dem kleinen Schirm nun eine detaillierte Darstellung des Terrains unter ihnen zu sehen. Walker lächelte. Eine Straßenkarte hätte nicht besser sein können. Sie überquerten gerade die Rocky Mountains, an die sich die Ebenen Colorados anschlossen. Sam seufzte erleichtert. Er kannte jetzt nicht nur ihre genaue Position, sondern sie befanden sich auch in der Atmosphäre. Zwar hatte er noch nie einen Jet geflogen, »nur« einen Hubschrauber, aber die Art und Weise, wie der Jäger zu reagieren begann, wurde ihm vertrauter. »Zwölf Uhr, zur Mitte hin«, beschrieb Paul die Manöver der beiden Verfolger. »Ich ziehe hoch und lasse das Flugboot dann durchsacken«, kündigte Walker an. »Dadurch müßten die beiden feindlichen Einheiten gleich zweimal durch Ihr Fadenkreuz gleiten.« Er wartete keine Antwort ab und zog den Hebel zurück. Der Jäger raste nach oben, und Sam vernahm ein leises Klicken, als Paul die Tasten des Auslösers betätigte. Zwei Blitze zuckten von den Läufen des Bordgeschützes, diesmal begleitet von einem dumpfen Fauchen. Walker drückte den Hebel nach vorn, und Nordine feuerte erneut. »Sie sind noch immer hinter uns«, sagte Paul. Die beiden blinkenden Punkte auf der Karte machten deutlich, daß sie keinen Erfolg gehabt hatten. Gleichzeitig schloß Walker aus den Computerlinien, daß sie nun über Kansas hinwegrasten. Als er sich ihre Geschwindigkeit vorzustellen versuchte, lief es ihm kalt über den Rücken. Dann zuckte er jedoch nur mit den Schultern. Immerhin hatte es die Maschine in nur vier Stunden vom Mond bis zur Erde geschafft; sicher hielt sie auch die gegenwärtige Belastung aus. »Zwölf Uhr, langsam ins Zentrum.«
Walker ging tiefer. Am linken Horizont ragten dunkle Gewitterwolken wie massive Berge in die Höhe. Er nahm eine Kurskorrektur vor und hielt genau auf die Sturmfront zu. Die beiden auf dem Display blinkenden Punkte verblaßten. »Was ist denn jetzt los?« entfuhr es Paul überrascht. »Der Sucher zeigt nichts mehr an. Haben die Visitors aufgegeben?« »Ich weiß nicht.« Walker runzelte verwirrt die Stirn. »Vielleicht handelt es sich um einen Instrumentenfehler. Halten Sie auch weiterhin die Augen offen.« Auf dem Display war nach wie vor die Karte zu sehen, und das deutete darauf hin, daß keine Fehlfunktion vorlag. Die Sensoren der Orter erfaßten das Terrain, das sie überflogen, und der Schirm zeigte einen Kurs, der über Kansas und Missouri hinwegführte. Als sie die Grenze zu Illinois erreichten, drehte Walker nach Norden ab, in Richtung Chicago, und anschließend reduzierte er die Geschwindigkeit, um nicht über das Ziel hinauszuschießen. »Noch immer nichts«, berichtete Paul. »Und draußen sehe ich nur eine dicke Nebelsuppe. Wie tief reichen die Wolken?« »Keine Ahnung.« Walker kniff die Augen zusammen und blickte erneut aufs Display. Die Unwetterfront blieb auf der Darstellung unsichtbar. Man hätte meinen können, die Scanner seien zu ihrer Erfassung gar nicht in der Lage. Sam nickte langsam und lächelte dünn. Das war die Erklärung! Die Visitors kamen von einem wasserarmen Planeten. Vermutlich gab es in ihrer Heimat keine großen Ansammlungen von Wasserdampf in der Atmosphäre. Und da der Bordcomputer mit den entsprechenden Scanner-Daten nichts anfangen konnte, ignorierte er sie einfach. Das bedeutete: In den Wolken waren sie für die Ortungssensoren der beiden Verfolger unsichtbar geworden!
»Wir haben es geschafft!« Walker lachte, und mit wenigen Worten erklärte er Paul seine Überlegungen. »Wir sind gleich da. Wird eine nette Überraschung, wenn ich direkt auf dem Parkplatz der Kunstakademie lande.« Er verzögerte weiter und ging erneut tiefer. Chicago tauchte vorn auf dem Display auf. Sam hielt auf die Stadt zu und schätzte, daß es noch etwa zehn Minuten dauern mochte, bis sie ihr Ziel erreichten. Vor ihnen lichteten sich die Wolken, und an einigen Stellen schimmerte Sonnenlicht. Innerhalb weniger Sekunden blieb die Sturmfront zurück, und über ihnen erstreckte sich ein klarer Himmel. Walker entdeckte zwei blinkende Punkte auf dem Schirm, und im gleichen Augenblick rief Nordine: »Sam, sie befinden sich direkt hinter uns!« Vier blauweiße Energieblitze rasten in diesem Moment dicht an dem Shuttle vorbei. Walker reagierte in einem Reflex. Er zog den Hebel des Höhenruders instinktiv zu sich heran, und der Bug des Jägers hob sich jäh nach oben. Sekundenbruchteile später hatte er das Gefühl, ein enormes Gewicht presse sich auf ihn. Der Bordcomputer verhinderte zwar eine Überlastung der Shuttle-Struktur, doch er war nicht darauf programmiert, einen menschlichen Piloten zu schützen. Die Andruckskräfte nahmen zu: Acht G drückten Walker in den Sessel. Er ächzte und kämpfte gegen die unsichtbare Masse an, die auf ihm lastete und Sterne vor seinen Augen tanzen ließ. Nach wie vor war seine Hand um den Hebel geschlossen, und der Jäger stieg weiter steil in die Höhe, erreichte den Scheitelpunkt des gewagten Loopings und kam wieder herab. Durch dies Manöver befand sich die Maschine plötzlich direkt hinter den beiden Verfolgern. Walker justierte die
Zielerfassung auf die rechte Kampffähre und löste den Buglaser aus. Es blitzte grell auf, und die energetische Entladung traf das Heckgeschütz des rechten Angreifers. Das Visitor-Shuttle platzte auseinander, und glühende Trümmerstücke fielen in die Tiefe. Walker brauchte nicht extra nach dem letzten Verfolger zu suchen. Direkt vor ihm leuchteten tödliche Laserfunken, und das gegnerische Flugboot kam auf Kollisionskurs heran. Sam hatte wieder keine Zeit zu überlegen, wie er der Gefahr begegnen sollte. Er bewegte automatisch den Richtungshebel von links nach rechts und berührte gleichzeitig den Feuerknopf. Einer der Blitze traf genau ins Ziel, und der letzte Verfolger verschwand in einem orangefarbenen Flammenball. »Ich hab ihn erle…« Walker sprach den Satz nicht zu Ende. Glühende Metallfetzen sausten durch die Luft, und eines der Trümmerstücke traf die Flanke des Jägers. Walker spürte, wie ihm die Kontrollhebel aus den Händen gerissen wurden. Das Flugboot drehte sich um die eigene Achse und fiel dem Häusermeer Chicagos entgegen.
16. Kapitel
In dem großen Kontrollraum des Mutterschiffes herrschte Stille, als die Nachricht von der Zerstörung des letzten Shuttles eintraf. Ian brach das Schweigen. »Ziehen Sie Ihre Truppen zurück, Alicia. Der Mensch hat alle drei Kampffähren vernichtet. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als den immunen Soldaten zu befehlen, unverzüglich den RennbahnStützpunkt zu verlassen.« Alicia starrte den Kommandanten des Mutterschiffes von London finster an. Heißer Zorn rumorte in ihr, aber sie beherrschte sich und schluckte die Flüche herunter, die sie Ian und den fünf anderen Kommandeuren an den Kopf werfen wollte, die an Bord ihres Raumschiffes gekommen waren, um sie zu überwachen. »Ian hat recht«, warf Lewis ein. »Wir dürfen es nicht riskieren, die immunen Soldaten zu verlieren. Bisher ist es den Wissenschaftlern nicht gelungen, das Antitoxin in ihren Stoffwechselsystemen zu analysieren. Mit anderen Worten: Geralds Leute sind unsere einzige Hoffnung, mit dem Gift fertigzuwerden, das die Menschen gegen uns in der Hand haben. Wenn unsere Spezialisten zusammenarbeiten, schaffen sie es vielleicht, ein Gegenmittel zu entwickeln.« »Geben Sie den Befehl zum Rückzug«, sagte Maria, die Kommandantin des Mutterschiffes von Mexico City. »Unser Großer Denker kann auf jene Streitmacht nicht verzichten. Ihr Plan läßt sich nach wie vor durchführen. Wir beraten uns mit den restlichen Kommandeuren und wählen eine andere Stadt – eine, deren Bewohner noch keinen Verdacht geschöpft haben.«
Alicia begriff allmählich, daß ihr Unternehmen gescheitert war und daß es keine Chance mehr gab, die Mission zu Ende zu bringen. Die Einsicht in den Fehlschlag lastete wie eine schwere Bürde auf ihren Schultern, als sie nickte. »Ich schicke Procaptain Gerald und fünf Shuttles zur Erde.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Seufzen, das ihre Niederlage eingestand. »Er soll sowohl die evakuierten Soldaten als auch das Ausrüstungsmaterial zurückbringen.« Alicia spürte die zufriedenen Blicke der Kommandanten auf sich, als sie sich umdrehte und Gerald zu sich rief.
Walker tastete nach den Kontrollhebeln zu beiden Seiten des Pilotensessels und hielt sie fest. Er gab sich alle Mühe, gegen die Flut der Panik anzukämpfen, die die Reste seines rationalen Verstandes davonzuspülen drohte. Das Trudeln beenden, die Fluglage stabilisieren! befahl er sich. Das Trudeln beenden! Er fühlte, wie sich das Shuttle um die eigene Achse drehte, während es in die Tiefe stürzte. Vorsichtig zog er den Richtungshebel auf sich zu. Das taumelnde Zittern des Jägers ließ allmählich nach und hörte dann ganz auf. Paul Nordine gab im Heck ein erleichtertes Ächzen von sich. Walker lächelte nicht und blieb unverändert ernst. Es ging jetzt darum, den Bug des Flugbootes hochzuziehen – wenn sie nicht an irgendeinem Wolkenkratzer Chicagos zerschellen wollten. Er bewegte das Höhenruder. Nichts! Die Maschine reagierte nicht. Sie fiel weiterhin der großen Stadt entgegen. Walker zog den Hebel ganz zu sich heran, doch der Fallwinkel des Shuttles veränderte sich nicht. Das
Trümmerstück, das sich in die eine Flanke des Jägers gebohrt hatte, mußte eine wichtige Einheit des elektronischen Steuerungssystems getroffen haben. Was alles ausgefallen war, wußte Sam nicht genau. Er begriff nur, daß sie ohne eine funktionierende Höhenkontrolle nicht die geringste Chance hatten, mit dem Leben davonzukommen: Das Flugboot wurde zu ihrem Sarg. Walker gab nicht auf und zerrte immer wieder an dem Hebel, und endlich spürte er einen leichten Widerstand. Der Jäger begann zu vibrieren, und der Bug richtete sich ein wenig auf. Die Vibrationen nahmen zu, verwandelten sich erst in ein Zittern und dann in ein rhythmisches Beben. In der Außenhülle des Shuttles knarrte und knackte es. Walker zog weiter an dem Hebel und kämpfte gegen die Kraft an, die ihn aus seiner Hand reißen wollte. Der Bug neigte sich noch einige Zentimeter nach oben. Das genügt nicht, verdammt! Sam betätigte die Richtungskontrolle, und der Jäger glitt von einer Seite zur anderen. Er korrigierte den Kurs einige Male, bis er sah, daß sie auf einen sich von Osten nach Westen schlängelnden grauen Streifen zuhielten – die teilweise geborstenen Reste des Eisenhower Expressways von Chicago. Das Knistern in der Mechanik des Flugbootes verstärkte sich, und mit einem Ruck kam der Bug hoch. Aber noch immer raste die Maschine den Straßenschluchten im Zentrum der Großstadt entgegen. Der Congress Expressway glitt unter ihnen dahin, dann der Lake Shore Drive. Kurz darauf sah Walker nur noch das Glitzern des Michigan-Sees. Er berührte die drei Tasten an der unteren Seite der Konsole. Das stotternde Summen des Antriebs verklang, und gleichzeitig ließ das schmerzhafte Pochen an seinen Zahnwurzeln nach. Mit beiden Händen umfaßte er den Höhenregler und riß ihn mit einem Ruck zurück.
Das kleine Shuttle berührte die Wasseroberfläche und hüpfte davon. Noch drei weitere Male prallte es ab, bevor es schließlich aufsetzte. Das vibrierende Zittern ließ abrupt nach, und der Visitor-Jäger tanzte leicht auf den Wellen. »Das war die schlimmste Landung, die ich jemals erlebt habe, Sam!« kam Pauls heisere Stimme aus dem Heck der Maschine. »Wenn Sie mich damit beeindrucken wollten… Nun, das ist Ihnen durchaus gelungen.« Er unterbrach sich kurz. »He, Sam, wir haben ein Leck!« Es knisterte und zischte in der Außenhaut ihrer Kapsel – Kurzschlüsse im elektrischen System. Walker drehte sich um. In der rechten Wand des Shuttles klaffte ein Riß. Funken stoben, und Wasser flutete in den Innenraum. »Raus hier!« Sam drückte links die rote Taste in der oberen Ecke der Konsole. »Nach draußen – bevor wir im See versinken.« Paul stand sofort auf, streifte sich die Stiefel von den Füßen und sprang durch die geöffnete Luke. Drei Sekunden später folgte Walker ihm. Keiner von beiden sah zu dem untergehenden Shuttle zurück. Statt dessen schwammen sie in Richtung der Stadtsilhouette Chicagos, das etwa anderthalb Kilometer entfernt war. Sie hatten knapp ein Drittel der Strecke zurückgelegt, als sie das Brummen eines Motors hörten. Von Südwesten her näherte sich ihnen ein Boot der Küstenwache. Fünf Minuten später zog man sie aus dem Wasser, hüllte sie in Decken und reichte ihnen Tassen mit heißem Kaffee. »Sie haben doch sicher ein Funkgerät an Bord, nicht wahr?« fragte Paul. »Ich muß mich mit der Polizei in Verbindung setzen.« Walker lächelte und erinnerte sich an Officer Jim und daran, wie man ihn nach seiner ersten Rückkehr von Alicias Mutterschiff begrüßt hatte. Zwar trugen Paul und er immer
noch rote Visitor-Uniformen, doch der junge Lieutenant von der Küstenwache schien zumindest den Anführer der Widerstandsgruppe zu erkennen und führte ihn in eine kleine Kabine. Einige Minuten später kehrte Nordine zurück und griff nach der Tasse Kaffee, die er bei Walker gelassen hatte. Er trank einen Schluck und sagte: »Ich habe dafür gesorgt, daß uns Steve nicht durch die Lappen geht.« Am Kai des Yachthafens von Chicago warteten zwei Polizeiwagen. Paul und Sam verabschiedeten sich von den Beamten der Küstenwache und dankten ihnen dafür, daß sie sie aus dem Wasser gefischt und mit trockener Kleidung ausgestattet hatten. Anschließend gingen sie auf die beiden Fahrzeuge zu. »Die Kunstakademie ist umstellt«, teilte ihnen ein Captain namens Beeman mit, als sie ins erste Fahrzeug stiegen. »Der Chief meinte, Sie wollten diese Sache bestimmt selbst in die Hand nehmen.« »In der Tat«, brummte Paul. Beeman lenkte den Wagen nach Norden auf die Fahrbahn des Lake Shore Drive. »Man kann Steve nicht für seine Handlungen verantwortlich machen. Er wurde von den Visitors konvertiert. Vermutlich gibt es keinen Menschen, der in der Lage wäre, dem verdammten Umwandlungsprozeß zu widerstehen. Glauben Sie mir: Tyford ist ein Opfer und nicht aus freiem Willen zum Verräter geworden.« Beeman wußte vielleicht nicht genau, wovon Paul sprach, aber Walker verstand ihn nur zu gut. Er erinnerte sich in allen Einzelheiten an das farblose Nichts, mit dem Alicia ihn in der Konvertierungskammer konfrontiert hatte. Und er fragte sich, welches persönliche Grauen die Kommandantin in Steve Tyfords Bewußtsein geweckt hatte, um ihn ihrem Willen zu unterwerfen und zu einem Sklaven zu machen.
Die Fahrt zur Akademie dauerte nicht einmal fünf Minuten. Auf dem Parkplatz hielt Beeman an und wartete auf die Entscheidung des Mannes im Fond. Paul beobachtete das Gebäude, und aus seinem Gesicht konnten sie ablesen, daß er verschiedene Möglichkeiten durchspielte. Kurz darauf sah er den Polizei-Captain an. »Lassen Sie Ihre Leute ausschwärmen, wenn wir drinnen sind. Und geben Sie uns zehn Minuten. Sind wir bis dahin nicht zurück, so leiten Sie alles Notwendige in die Wege.« Beeman nickte zustimmend. Paul stieg aus, und Walker folgte ihm. Seite an Seite näherten sie sich dem Eingang der Kunstakademie. »Mit ein wenig Glück können wir diese Sache hinter uns bringen, ohne daß irgend jemand zu Schaden kommt.« Paul blieb vor Steves Büro stehen, holte tief Luft und öffnete die Tür. Tyford saß hinter einem einfachen Schreibtisch und sprach gerade mit zwei Männern vor sich. Als er Nordine sah, riß er verblüfft die Augen auf. »Sie? Aber wie…« Im nächsten Augenblick brach die Hölle los. Tyford sprang hoch, und die beiden Männer vor dem Schreibtisch wirbelten herum und stürmten in Richtung Tür. Eine menschliche Lokomotive prallte auf Walker und schleuderte ihn in den Flur zurück. Er stieß mit dem Hinterkopf an die Wand, und es wurde schwarz vor seinen Augen. Als er wieder zu sich kam, schienen direkt hinter seiner Stirn tausend Preßlufthämmer bei der Arbeit zu sein, und oberhalb des Nackens ertastete er eine taubeneigroße Beule. Er lag auf einem Sofa, und ein Arzt beugte sich über ihn. Der junge Mann wollte erst einmal seinen Namen wissen. Sam kam der Aufforderung nach. Anschließend hielt ihm der Mediziner die
Hand vor die Augen und fragte ihn, wie viele Finger er sehe. Walker gab Antwort und fluchte ausgiebig. Paul Nordine stand hinter dem Arzt und lachte leise. »Ich glaube, er ist noch immer ganz der alte.« »Ich rate Ihnen, ihn ins Krankenhaus zu bringen, damit dort eine Röntgenuntersuchung durchgeführt wird.« Der junge Arzt schloß einen Metallkoffer, der aussah wie ein Werkzeugkasten. »Mit Kopfverletzungen sollte man sehr vorsichtig sein.« Dann ging er aus dem Büro und ließ Paul und Walker allein. »Was halten Sie von dem Vorschlag?« fragte Nordine. »Gar nichts«, erwiderte Sam. Und er fügte hinzu: »Was ist mit Steve?« »Beeman und seine Leute haben ihn und auch die beiden anderen gestellt, als sie auf dem Parkplatz in einen Wagen steigen wollten«, erwiderte Paul. »Die beiden anderen?« stöhnte Walker. Dann erinnerte er sich wieder an die Männer vor Tyfords Schreibtisch und daran, daß er von einem der Gorillas an die Wand geschleudert worden war. »Zwei weitere Konvertierte – Agenten von Alicia in der Widerstandsbewegung.« Paul seufzte. »Die Polizei hat sie ins Hospital gebracht, in die psychiatrische Abteilung.« »Wieso das denn?« Walker richtete sich auf. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen, und er wartete und blinzelte einige Male, bevor er zu Nordine aufsah. »Die Ärzte meinen, mit ein wenig Glück und viel Geduld könne es ihnen eines Tages vielleicht gelingen, das Chaos zu entwirren, das der Umwandlungsprozeß in ihnen erzeugte«, sagte Paul. »Bis dahin aber müssen sie unter Beobachtung bleiben, an einem sicheren Ort, wo sie weder sich selbst noch anderen schaden können.«
Walker schürzte die Lippen. Opfer. Zuerst Kathleen, Jennifer und Janus. Und nun Steve Tyford und die beiden anderen Männer. Sechs weitere Opfer der Visitors. »Wollen Sie wirklich auf eine Röntgenuntersuchung verzichten?« fragte Nordine. Walker nickte, und der Schmerz pochte in seinen Schläfen. »Es geht mir prächtig«, log er. »Gut«, sagte Paul. »In fünfzehn Minuten treffe ich mich mit dem Bürgermeister und dem Polizeipräsidenten. Wir müssen etwas gegen den Visitor-Stützpunkt im Arlington Park unternehmen. Und vermutlich wollen Sie an der Aktion teilnehmen.« Walker stand auf, schwankte einige Male und preßte kurz die Lippen zusammen. »Sie verschwenden Ihre Zeit, wenn Sie auf mich warten.«
17. Kapitel
Walker stand in der Tür des Supermarktes, in dem Janus Kathleen und ihm vom Sieg über die Visitors berichtet hatte. Er blickte nach Süden, doch selbst mit dem Feldstecher konnte er auf dem Rennbahngelände keine Bewegungen erkennen. »Vielleicht haben sie sich auf und davon gemacht«, flüsterte Paul leise. »Dort drüben scheint alles ruhig zu sein.« »Es wurden den ganzen Tag über keine Shuttles gesichtet«, hielt Walker dagegen. Er spielte damit auf die Helikopter der Polizei an, die den Arlington Park immer wieder überflogen hatten, während die Widerstandskämpfer in Stellung gingen. »Und ich glaube, trotz der großen Entfernung zur Stadt würden Alicia und Gerald keine Evakuierung am Tag riskieren.« Walker schwieg kurz und ließ den Blick noch einmal über die Ställe und Schuppen schweifen. »Nein, ich bin sicher, die Visitors sind noch immer da und haben sich in den Unterständen versteckt. Wenn es erst dunkel wird, kommen sie bestimmt aus ihren Löchern gekrochen.« Paul sah auf die Armbanduhr. »Noch eine halbe Stunde.« Er hob seinen eigenen Feldstecher und sah in Richtung auf die Rennbahn. Dreißig Minuten. Walker verzog das Gesicht. In einer halben Stunde ging es los, und diesmal drehten sie den Spieß um: Diesmal waren nicht Menschen die Gejagten, sondern Visitors. Er lehnte sich an die Mauer neben der Tür und musterte die fünfzig Männer und Frauen, die im Mittelgang des Verkaufsraumes warteten. Jeder von ihnen war mit einem Gewehr bewaffnet. Einige verfügten auch über Dolche und Handgranaten – Beute aus den Arsenalen der Nationalgarde,
die Paul und seine Leute während des Guerillakrieges gegen die Visitors überfallen hatten. Der Streitmacht gehörten keine Profis an. Die Polizei von Chicago hatte alle Hände voll damit zu tun, in der Stadt für Ordnung zu sorgen. Zwar standen inzwischen mehr Lebensmittel und Medikamente zur Verfügung, aber es herrschte noch immer Mangel. Tag und Nacht kam es zu Plünderungen. Abgesehen von drei Hubschraubern, die fünf Minuten nach Beginn des Angriffes zum Einsatz kommen sollten, überließ die Polizei die Aktion gegen Gerald und seine Soldaten allein Paul Nordine. Bei den schwarzgekleideten Kämpfern handelte es sich um Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung, deren gemeinsames Ziel der Widerstand dagegen war, daß ihre Heimat von außerirdischen Invasoren beherrscht wurde. Sie hatten sich sofort bereit erklärt, zu den Waffen zu greifen und sich Paul anzuschließen. Sie waren gekommen, um gegen einen Feind vorzugehen, der sich immer noch nicht geschlagen gab. »Dort, zwischen den beiden Schuppen auf der linken Seite«, sagte Nordine. »Ein Wächter. Sie hatten recht. Die Visitors sind noch immer da und patrouillieren am Rande des Geländes.« Walker machte einen kurzen roten Schimmer aus, als der Soldat von einem Stall zum nächsten ging. Kurz darauf trat die Gestalt hinter einem Schuppen hervor und wanderte über eine freie Fläche. Jene Wächter waren der Grund, warum Paul und seine Streitmacht auf die Nacht warteten. Die Finsternis vergrößerte ihre Aussichten auf einen Erfolg. Die Kämpfer trugen nicht nur dunkle Kleidung, sondern hatten sich auch die Gesichter geschwärzt. Wenn sie sich dem Drahtzaun am Rande des
Arlington Parks näherten, würden sie als Schemen und Schatten mit der Nacht verschmelzen. »Noch fünfzehn Minuten«, hauchte Paul, nachdem er erneut auf die Uhr gesehen hatte. Und wenn wir den Zaun erreicht haben? Walkers Hand schloß sich fester um den Griff seines Jagdgewehres. Pauls Plan war einfach, vielleicht sogar primitiv. Insgesamt vier Gruppen aus jeweils fünfzig Kämpfern warteten im Norden, Süden, Westen und Osten der Rennbahn. Um neun Uhr, wenn das letzte Licht der untergegangenen Sonne verblaßt war, sollten sie aufbrechen und das Anwesen umstellen. Um neun Uhr fünfzehn würden sie mit ihren Handgranaten Löcher in die Zaunbarriere sprengen, die sie von den Visitors trennte. Anschließend sah die Taktik vor, daß sie sich von allen Seiten dem Parkplatz nähern sollten, der sich zwischen dem Stallbereich und der eigentlichen Rennbahn erstreckte. Möglicher Widerstand von seiten des Feindes mußte sofort gebrochen werden. Und für den Fall, daß sich Geralds Soldaten in einem der Gebäude verbarrikadierten, hatte Paul einen eindeutigen Befehl gegeben: »Räuchert sie aus.« Ja, ein schlichter Plan, fuhr es Walker durch den Sinn. Doch er mochte durchaus zum Erfolg führen. Im Hauptquartier von Lake Zürich waren nur zweihundert Tabletten des Antitoxins zurückgeblieben. Das bedeutete, daß Geralds Streitmacht höchstens aus zweihundert Visitors bestehen konnte – von denen noch diejenigen abgezogen werden mußten, die Janus, Jennifer und er, Sam, erschossen hatten. Paul wollte sie alle, tot oder lebendig. Keiner der immunen Feinde sollte jemals wieder eine Gefahr darstellen. Ein dumpfes Pochen schmerzte an Walkers Zahnwurzeln, und er versteifte sich unwillkürlich. »Paul…«
»Shuttles!« brachte Nordine zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Gleich fünf Stück, die sich von Westen her nähern!« Walker blickte aus der Tür. Die fünf weißen Gebilde sahen wie monströse Insekten aus, als sie fast lautlos durch die Luft schwebten. Über der Rennbahn stoppten sie und landeten hinter den Schuppen. Tausend Fragen gingen Sam durch den Sinn, aber er bekam keine Gelegenheit mehr, nach Antworten zu suchen. Paul blickte auf die Uhr und sah zu Walker auf. »Neun Uhr. Los geht’s!« Nordine drehte sich um und gab den Männern und Frauen das Zeichen. Schweigend standen sie auf, entsicherten die Gewehre und eilten los. Einige von ihnen trugen Benzinkanister bei sich, wie man sie für Autos verwendet. Draußen teilten sich die Kämpfer in zwei Gruppen. Die eine lief nach Osten, die andere nach Westen, über den leeren Parkplatz, auf den Northwest Highway zu. Dort duckten sich die schwarzgekleideten Gestalten und warteten am Straßenrand. Paul winkte erneut, und daraufhin setzten sich die Männer und Frauen wieder in Bewegung, rannten über die Fahrbahn und gingen an den Eisenbahnschienen nördlich der Rennbahn in Deckung. Paul schob den linken Ärmel seines schwarzen Sweatshirts zurück und sah auf die Uhr. Als er sich auf den Rücken drehte, geschah das nicht, um den Kämpfern ein weiteres Zeichen zu geben. Statt dessen hakte er eine Handgranate vom Gürtel, zog den Sicherungsbügel, zählte die Sekunden ab und warf den eiförmigen Gegenstand in Richtung Zaun. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor das donnernde Krachen einer Explosion ertönte – ein Geräusch, dem Dutzende von Echos folgten. Überall am Rande des Parks
blitzte es, als die Angehörigen von Nordines Streitmacht Löcher in die Absperrung sprengten. Der Angriff begann. Walker gab einen Kampfschrei von sich, sprang auf und stürmte los. Die anderen Männer und Frauen folgten ihm über die Geleise hinweg und rannten durch die breite Lücke im Zaun. Ihr Heulen und Kreischen vermischte sich mit dem der anderen Kämpfer. Paul warf sich durch das Loch im Drahtgespinst, und Walker folgte ihm dichtauf. Weiter rechts rasten blauweiße Laserfunken durch die Dunkelheit der Nacht. Eine schemenhafte Gestalt stöhnte und fiel mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Walker wirbelte herum, hob das Gewehr, zielte auf den vor einem Schuppen hockenden Visitor und drückte ab. Seine Waffe entlud sich mit einem lauten Knallen. Ein panzerbrechendes Geschoß traf das Ziel, und die Aufprallwucht schleuderte den Außerirdischen zurück. Er prallte an die Stalltür, sank in den Staub und blieb reglos liegen. Paul schoß ebenfalls. Ein zweiter Visitor taumelte aus den Schatten und fiel, bevor er seinen Laser abfeuern konnte. »Zum Teufel, wo sind die anderen?« Paul warf Walker einen kurzen Blick zu. »Ich dachte, nach der Sprengung des Zauns würde es hier überall von ihnen wimmeln!« Walker runzelte die Stirn. Bisher war er ganz auf die beiden Soldaten konzentriert gewesen, und deshalb hatte er gar nicht bemerkt, daß sie auf geringen Widerstand stießen. Nur hier und dort zuckten vereinzelte Laserblitze. Nordines Kämpfer bekamen es allein mit den Visitor-Wächtern an der Peripherie des Geländes zu tun. Wo blieb Geralds Armee? Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, als ein ganz bestimmter Verdacht in ihm immer stärker wurde.
»Die Shuttles, Paul!« Er setzte sich wieder in Bewegung, ging erst, lief dann und rannte auf den Parkplatz zu, auf dem die Flugboote gelandet waren. »Gerald evakuiert seine Truppen! Er versucht zu fliehen!« Mit langen Schritten näherte sich Walker dem Schuppen weiter links. Dabei stieß er fast gegen Janus’ alten Ford Pinto, den die Visitors dort abgestellt hatten. Einige Sekunden lang duckte er sich hinter den zerbeulten Wagen, startete wieder und stürmte zum Ende der Stallreihe. Dort fluchte er halblaut, als er seine Befürchtungen bestätigt sah. Etwa hundert Meter entfernt trennte eine asphaltierte Straße die Schuppenreihe vom Parkplatz. Dutzende von Visitors hatten hintereinander Aufstellung bezogen und gingen an Bord eines Shuttles. Die Ställe im Süden verwehrten Walker den Blick auf den restlichen Teil des Parkplatzes, doch er wußte, daß dort die anderen Flugboote standen und ebenfalls Soldaten aufnahmen. Paul blieb neben Walker stehen – und riß die Augen auf, als er sah, was sich auf dem Parkplatz abspielte. »Wir müssen sie irgendwie aufhalten!« Nordine drehte sich um und wandte sich an die anderen Kämpfer. Seine Anweisungen waren ganz schlicht: Vergeßt die Schuppen und greift den Parkplatz an. Walker hörte, wie die Männer und Frauen den Befehl weitergaben. In einer Minute oder weniger würden sich die Einsatzgruppen dem neuen Ziel zuwenden. Aber in einer Minute ist es vielleicht schon zu spät! Sam kniff die Augen zusammen. Er war schon einmal mit einem von Geralds Shuttles fertiggeworden. Und mit dem Ford Pinto ließ sich das möglicherweise wiederholen. Ein metallisches Scheppern erklang, und Walker drehte den Kopf. Einer der schwarzgekleideten Widerstandskämpfer hatte den Benzinkanister fallengelassen, der ihn jetzt nur noch
behinderte. Andere Männer und Frauen folgten seinem Beispiel. Walker traf eine rasche Entscheidung. »Sam?« rief Paul. »Was haben Sie vor?« Walker achtete nicht auf ihn und eilte zurück. Sein Verhalten mochte als feige Flucht gedeutet werden, doch ihm blieb keine Zeit für Erklärungen. Er schlang sich den Riemen des Gewehrs über die Schulter und griff nach zwei Kanistern. Einen Augenblick später war er neben dem alten Ford. Die Schlüssel steckten. Er warf die beiden Behälter mit dem Benzin auf den Rücksitz und nahm hinter dem Steuer Platz. Als er den Zündschlüssel drehte, wummerte der Anlasser, und der Motor sprang sofort an. Sam legte den ersten Gang ein und fuhr los. Das Auto rollte an den Ställen vorbei. Einige Sekunden später erreichte er das Ende der Schuppenreihe, drehte das Lenkrad und gab Gas. Nach einigen Metern steuerte er das Fahrzeug auf die asphaltierte Straße. Auf dem Parkplatz herrschte ein wüstes Durcheinander. Die Visitors warteten jetzt nicht mehr in geordneter Aufstellung darauf, ins Shuttle steigen zu können. Statt dessen umringten sie das Flugboot und feuerten mit ihren Lasern immer wieder auf Nordines angreifende Kämpfer. Dutzende von blauweißen Blitzen zuckten grell dahin. Der Bleihagel von Pauls Streitmacht blieb jedoch nicht ohne Wirkung: Dann und wann krümmte sich einer der Außerirdischen zusammen und sank leblos auf den Beton. Der Tod wütete aber auch in den Reihen der schwarzgekleideten Männer und Frauen. Immer wieder trafen Energiefunken ins Ziel und verbrannten menschliches Fleisch. Walker schloß die linke Hand so fest um das Lenkrad, daß die Knöchel weiß hervortraten, holte tief Luft und biß die Zähne zusammen. Mit der rechten Hand griff er nach dem
Schalthebel. Und dann gab er erneut Vollgas und ließ die Kupplung kommen. Die Reifen quietschten und ließen zwei schwarze Streifen auf dem Asphalt zurück. Der Pinto beschleunigte jäh. Walker legte den zweiten Gang ein, dann den dritten. Als er nur noch knapp zwanzig Meter von den Visitors entfernt war, die das Shuttle verteidigten, schaltete er die Scheinwerfer ein und beobachtete, wie sich einige der Soldaten umdrehten und ihre Laser auf das heranrasende Fahrzeug richteten. Walker wartete nicht, bis der Feind das Feuer eröffnete. Er stieß die Tür auf, sprang aus dem Wagen, prallte auf den Boden und… Sein Kopf stieß auf den harten Asphalt, und ein stechender Schmerz durchpulste ihn, gefolgt von einer Woge aus lichtloser Finsternis. Nein! Er versuchte, die Dunkelheit zurückzudrängen, denn er wollte sich nicht von der Schwärze überwältigen lassen. Irgendwo hörte er Schreie und das Donnern einer Explosion. Er bemühte sich, die Augen zu öffnen, um festzustellen, ob die Auto-Rakete ihren Zweck erfüllt hatte. Aber die Finsternis lastete wie ein schweres Gewicht auf seinen Lidern, und eine sonderbare Taubheit breitete sich in ihm aus. Pock-pock-pock-pock-pock. Ein beständiges, mechanisches Pochen – ein akustischer Haltepunkt, an dem er sich orientieren konnte. Er konzentrierte sich auf das Geräusch wie auf eine hilfreiche Hand, die ihn am Versinken in die Bewußtlosigkeit hinderte. Hubschrauber! Walker schlug die Augen auf. Die drei Polizei-Helikopter schwebten hoch über dem Parkplatz. Die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer tasteten über den Beton und richteten sich auf die Visitors. Die Scharfschützen neben den Piloten feuerten.
Walker stemmte sich auf den Ellenbogen in die Höhe und versuchte, das Hämmern hinter seiner Stirn zu überhören. Zufrieden stellte er fest, daß sowohl der alte Ford als auch das Shuttle in Flammen standen. Ein grimmiges Lächeln umspielte Sams Lippen, und er stand auf, nahm sein Gewehr an sich und taumelte in Richtung des Schuppens am Rande der Betonfläche. Als er ihn erreichte, hatte er zumindest eine gewisse Kontrolle über Arme und Beine zurückgewonnen. Sie genügte, um sich an dem Stall vorbeizuschieben, die Tür zu öffnen und den Unterstand zu betreten. Dort nutzte er die Deckung einer Wand und schoß auf die Visitors, die vor den vier anderen Flugbooten standen. Nach einer Weile ließ er sich auf die Knie sinken, holte einige Patronen aus der Tasche und lud das Gewehr. Als er die Waffe wieder hob, richtete sich seine Aufmerksamkeit auf eine vertraute Gestalt – einen blonden Mann, dessen Augen hinter den dunklen Gläsern einer Sonnenbrille verborgen waren. Walker zielte sorgfältig, und sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Und plötzlich schien der ganze Himmel zu brennen. Laserstrahlen rasten in die Höhe und trafen einen der Helikopter. Die Libelle aus Stahl, Kunststoff und Glas drehte sich einige Male; knisternde Flammen leckten aus dem Triebwerk. Der Hubschrauber stürzte ab, und gellende Schreie ertönten – die abrupt verklangen, als die Maschine aufschlug. Walkers Blick glitt wieder dorthin, wo er zuvor Gerald gesehen hatte. Aber der Visitor war in der Menge der Soldaten verschwunden, die versuchten, sich den Weg zu den vier übriggebliebenen Shuttles freizukämpfen. Sam fluchte, zielte auf das nächste Flugboot und drückte ab. Fünf panzerbrechende Geschosse jagten aus dem Gewehrlauf und prallten jaulend an der Außenhülle der Kampffähre ab. Ein blauer Blitz trieb Walker an die gegenüberliegende Stallwand
zurück, und die tödlichen Funken knisterten einige Meter entfernt vorbei. Als das Zischen und Fauchen verklang, hob er das Gewehr und legte erneut an. Dann aber zögerte er. Eine Luke schloß sich, und langsam stieg eins der vier weißen Shuttle in die Höhe. Gleichzeitig sanken die beiden übriggebliebenen Helikopter dem Flugboot entgegen. Walker riß entsetzt die Augen auf. Die beiden Piloten machten einen fatalen Fehler, und als sie sich dessen bewußt wurden, war es bereits zu spät. Metall kreischte, als die Hubschrauber kollidierten, und unmittelbar darauf regnete es Feuer und Glassplitter. Eins der sich noch drehenden Rotorblätter hämmerte an die Seite des aufsteigenden Shuttles, und einen Augenblick später krachte das Donnern einer Explosion. Die glühenden Reste dreier Flugmaschinen fielen auf den Parkplatz herab. Meterlange Flammenzungen leckten prasselnd über den Beton und tasteten nach den anderen Kampffähren, die daraufhin ebenfalls detonierten. Niemand von den Visitor-Soldaten konnte dem Inferno entrinnen. Sie ließen ihre Waffen fallen, achteten gar nicht mehr auf die Widerstandskämpfer und versuchten nur noch, dem Feuer zu entkommen. Schreie erklangen, zischende und fauchende Schreie, die aus keiner menschlichen Kehle stammten, und sie vermischten sich mit dem Tosen der Flammen. Walker senkte das Gewehr und schloß die Augen. Es war ein schrecklicher Tod, bei lebendigem Leibe zu verbrennen – selbst für verhaßte Feinde.
Die Luft war erfüllt von Kerosingeruch und dem Gestank verkohlter Reptilien. Walker wandte sich von dem Grauen ab,
das den Parkplatz heimgesucht hatte. Er wischte sich über die Augen und ging los, setzte einfach nur einen Fuß vor den anderen. Er brauchte frische Luft und wollte den Schreckensvisionen der flammenden Hölle entkommen, dem kreischenden Gellen der Visitors, das er immer noch zu hören glaubte. Keiner der Außerirdischen auf dem Parkplatz war mit dem Leben davongekommen. Alle hatten im Feuer den Tod gefunden. Walker atmete tief durch. Er ahnte, daß sich diese Schreckensszenen fortan in seinen Alpträumen wiederholen würden. Hinter sich hörte er die Stimmen der Männer und Frauen, die festzustellen versuchten, wie viele Verluste Nordines Streitmacht erlitten hatte. Nicht nur knapp zweihundert feindliche Soldaten waren gestorben, sondern auch Dutzende von menschlichen Kämpfern. Walker gab sich alle Mühe, nicht an all das Leid und Elend zu denken, das ihn noch mehr belastet hätte. Selbst der entscheidende Sieg über die Gefahr, die von Gerald und den anderen immunen Visitors ausging, spendete ihm nur einen geringen Trost. Er mußte Abstand von dem gewinnen, was er gesehen hatte und den Schock überwinden, der ihn noch immer innerlich erschütterte. Walker näherte sich der rückwärtigen Seite des Schuppens, aber als er das Knarren einer rostigen Angel vernahm, sah er rasch nach links. Die Tür eines nahen Stalls öffnete sich, und jemand trat heraus – ein Mann in einer roten Uniform. Nein…nein… In ungläubigem Entsetzen starrte Sam auf das blonde Haar und die dunkle Sonnenbrille. Dem Procaptain der Visitor-Streitmacht war es irgendwie gelungen, dem Feuer auf dem Parkplatz zu entkommen. Und während seine Soldaten verbrannten, hatte er in einem Versteck gewartet. »Gerald!« kam es von Walkers Lippen.
Der Außerirdische wirbelte herum und griff nach seinem Laser. Sams rechte Hand kam ruckartig in die Höhe, und der Lauf des Gewehrs richtete sich auf den Visitor. Der Zeigefinger zog den Abzug durch. Es knallte, und einen Sekundenbruchteil später gab Gerald ein dumpfes Heulen von sich. Die Strahlenwaffe wurde ihm aus den Fingern gerissen und verschwand in der Nacht. Aber der Procaptain achtete gar nicht weiter auf seine verletzte Hand, sondern ging sofort zum Angriff über! Walker betätigte den Abzug zum zweitenmal, doch diesmal ertönte nur ein leises Klicken. Leergeschossen – Sam konnte gerade noch begreifen, was das bedeutete, bevor sich der Visitor auf ihn stürzte. Walker ließ die nutzlos gewordene Flinte fallen, krümmte sich zusammen und sank zu Boden. »Sie!« Zorn vibrierte in Geralds nachhallender Stimme. »Wenigstens bleibt mir noch das Vergnügen, Sie umzubringen – eine kleine Entschädigung für die Niederlage, die ich Ihnen zu verdanken habe!« Walker hatte nicht die Kraft, sich zur Seite zu rollen, als der Visitor nach seinem Pullover griff und ihn mühelos in die Höhe zerrte. Er konzentrierte sich ganz darauf, die Faust zu ballen und zum Schlag auszuholen. Gerald fauchte. Eine geteilte Schlangenzunge zuckte zwischen seinen Lippen hervor, und unter der zerrissenen Haut zeigten sich grünschwarze Echsenschuppen. Im nächsten Augenblick flog Walker durch die Luft, davongeschleudert wie eine leichte Kinderpuppe. Der harte Aufprall preßte ihm die Luft aus den Lungen. Er keuchte und schnaufte, schüttelte den Kopf und versuchte, auf diese Weise den Nebel zu lichten, der plötzlich vor seinen Augen wallte. Sein Blick fiel auf Gerald, der sich nun die
menschliche Maske vom Leib riß. Der Kopf darunter schien aus einem Alptraum zu stammen. Ein lippenloser Mund öffnete sich und zeigte zwei Reihen rasiermesserscharfer Zähne. Echse oder Reptil – solche Bezeichnungen reichten nicht für eine Beschreibung des Visitors aus. Das waren lediglich Begriffe, die für entsprechende irdische Geschöpfe geprägt worden waren. Doch jenes fauchende und zischende Wesen, das sich jetzt Walker näherte, stammte nicht von der Erde, sondern von einem fremden Planeten. Sam hatte die starr blickenden Augen mit den orangefarbenen, geschlitzten Pupillen schon einmal gesehen – in Florida, im Kopf eines Alligators. Er streckte die Arme aus, winkelte die Ellenbogen an und strengte sich an, wieder hochzukommen, und von dem echsenköpfigen Tod fortzukriechen, der es auf sein Leben abgesehen hatte. Die rechte Hand ertastete etwas Kühles und Hartes. Das Gewehr! Er fühlte den Lauf, schloß die Finger um den Stahl. Und als Gerald neben ihm stehen blieb und sich zu ihm herabbeugte, schwang er die Waffe herum. Der Kolben traf den Visitor an der Schläfe. Gerald ächzte, preßte sich die Hand an den Schädel und taumelte zurück. Walker stand auf, holte erneut mit dem Gewehr aus, benutzte es wie eine Keule und schlug immer wieder zu. Er sah, wie die ledrige Schuppenhaut des Außerirdischen aufriß und grünes Blut aus der Wunde tropfte. Aber er hielt nicht inne, versetzte ihm weitere Hiebe, die Gerald in die Knie zwangen. Er hörte erst auf, als der Visitor mit dem Gesicht nach unten im Sand lag und sich nicht mehr rührte. Einige Minuten lang stand Walker neben dem bewegungslosen Körper, schnappte nach Luft und starrte auf den Toten. Als er Pauls Stimme hörte, sah er auf. Der Anführer
der Widerstandsgruppe und sechs andere Kämpfer näherten sich ihm. »Es ist vorbei, Sam«, sagte Paul sanft. »Sie haben gewonnen. Er ist tot. Sie können das Gewehr jetzt sinken lassen.« »Vorbei.« Walker nickte, blickte auf seine Waffe und das grüne Blut an dessen Lauf. Mit einem Fluch schleuderte er die Flinte davon. Sam schob sich an Paul und seinen Begleitern vorbei. Er sehnte sich nach Ruhe, nach dem Vergessen des Schlafs.
18. Kapitel
»Wir werden angegriffen. Die Evakuierungs-Shuttles drei und vier stehen in Flammen. Wir versuchen zu starten, bevor…« Statisches Knistern drang aus dem Lautsprecher im großen Kontrollraum des Mutterschiffes von Chicago. Alicia sah den Kommunikations-Offizier an. Die schwarzhaarige Frau, die die Verbindung mit dem Stützpunkt im Arlington Park gehalten hatte, schüttelte den Kopf. »Was ist mit den Sensoranzeigen?« Alicias Blick richtete sich auf einen anderen Offizier mit kurzgeschnittenem Haar. »Negativ«, antwortete der Mann. »Alle Flugboote wurden zerstört.« Bei diesen Worten lief es der Kommandantin kalt über den Rücken, und sie schauderte innerlich. Nein! Unmöglich! Das darf nicht sein! Sie schloß die Augen. Die plötzliche Stille im Kontrollraum legte sich wie ein schweres Gewicht auf ihre Schulter. Ihr Plan für die Rückeroberung Chicagos – endgültig gescheitert. Warum? Was war schiefgegangen? »Kommandantin Alicia…« Lewis’ Stimme brach das Schweigen. »Angesichts des Fehlschlages legen wir Ihnen nahe, unverzüglich zurückzutreten.« »Was?« Alicia konnte ihre brodelnde Wut nicht länger beherrschen. Sie riß die Augen auf und starrte auf die Instrumentenkonsolen, den Rücken jenen fünf Personen zugewandt, die sich anmaßten, über ihre Entscheidungen zu urteilen. »Lewis, Sie aufgeblasener Mistkerl! Dies ist mein Schiff! Und Sie sind nichts weiter als ein geduldeter Gast an Bord. Während Sie sich zusammen mit den anderen Feiglingen
vor Angst zitternd hinter dem Mond verkrochen haben und den Zorn des Großen Denkers fürchteten, habe ich – und nur ich – gehandelt. Es steht Ihnen nicht zu, mir irgendwelche Ratschläge zu geben oder gar von mir etwas zu verlangen.« Ruckartig drehte sich Alicia um. Und aus ihrer Wut wurde verblüffte Verwirrung, als sie den auf sie zielenden Laser sah. »Was soll das bedeuten?« fragte sie. »Das Ende Ihrer Karriere«, erwiderte der Kommandant des Mutterschiffes von London kühl. »Lewis schlug vor, Ihnen die Möglichkeit zum Rücktritt zu geben – ein Zugeständnis an das übliche Protokoll, das er für angebracht hielt. Sie haben die Gelegenheit nicht wahrgenommen, und deshalb entheben wir Sie Ihres Kommandos. Der Plan für die Rückeroberung Chicagos stammte von Ihnen, und für den Fehlschlag werden Sie sich vor dem Großen Denker zu verantworten haben – Sie allein. Bis zur Rückkehr zu unserer Heimatwelt stehen Sie unter Arrest, um sicherzustellen, daß Sie keine anderen Besatzungsmitglieder dieses Schiffes mit Ihren Ideen infizieren. Wächter, bringt sie fort!« Die Soldaten im Kontrollraum – ihre Soldaten – kamen dem Befehl ohne zu zögern nach. Sechs von ihnen traten auf die ehemalige Kommandantin zu, und zwei griffen nach ihren Armen. »Das können Sie nicht mit mir machen!« kreischte Alicia. »Dies ist mein Schiff! Mein Schiff!« »Es war Ihrs. Es dürfte nicht schwer sein, einen Ersatz für Sie zu finden. Einen Offizier, dessen Ehrgeiz nicht nur auf persönlichen Ruhm zielt.« Mit einem Wink bedeutete Ian den Wächtern, die Gefangene aus dem Kontrollraum zu führen. Die fünf Kommandanten würdigten sie keines Blicks, als die heulende Alicia auf den Korridor gezerrt wurde.
Walker stand an einem kleinen Erdhügel im Arlington Park. Die Tulpen auf Kathleens Grab waren bereits verwelkt, doch dafür öffneten sich die Blüten anderer Blumen. Er nickte zufrieden. »Sam!« rief Paul Nordine ihm zu. Walker drehte sich um und sah, wie der Anführer der Widerstandsgruppe auf ihn zutrat. Mit der rechten Hand fuhr er sich durch das dichte schwarze Haar und warf einen kurzen Blick in Richtung der Tribüne. »Wir haben Janus’ Leiche gefunden«, sagte er. »Meine Leute holen sie gerade aus der Ansagerkabine. Er wird ein ordentliches Begräbnis bekommen.« »Er wünschte sich eine marmorne Gedenktafel mit einer Inschrift«, sagte Walker und erinnerte sich an die entsprechenden Bemerkungen des alten Polen. »Als eine letzte Botschaft an die Nachwelt.« »Ich sorge dafür, daß sein Wunsch in Erfüllung geht«, erwiderte Paul. Er sah nach Osten. »Bald beginnt ein neuer Tag.« Walker beobachtete den Horizont. Das Grau der Morgendämmerung verdrängte bereits die Schwärze der Nacht. »Und bestimmt wird es ein guter Tag, Sam. In der vergangenen Nacht haben wir einen Tumor entfernt, der unsere Stadt zu zerstören drohte und dann die ganze Welt.« Paul seufzte. »Jetzt ist Chicago sicher.« »Zur Zeit jedenfalls.« Walker schauderte, als er sich an Jennifers Worte entsann, die sie an Bord des Shuttles an ihn gerichtet hatte. »Die Visitors geben sicher nicht auf, Paul. Die Erde ist zu kostbar für sie. Eines Tages werden sie eine Möglichkeit finden, hierher zurückzukehren. Eigentlich wissen wir nur sehr wenig von ihnen und darüber, was ihre Wissenschaft zu leisten vermag. Sie verfügen über
Raumschiffe, mit denen sie interstellare Entfernungen zurücklegen können. Wohingegen unser Raumfahrtprogramm praktisch auf Eis liegt. Ich frage mich, wozu sie sonst noch fähig sind.« Paul nickte nachdenklich. »Sie haben recht. Wir wissen nur wenig über die Visitors. In einem Punkt aber können wir ganz sicher sein: Sie sind noch immer dort draußen. Und ihre hinter dem Mond wartenden Mutterschiffe sind wie ein Damoklesschwert, das ständig über uns schwebt. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als den Himmel zu beobachten und uns auf einen neuen Angriff des Feindes aus dem All vorzubereiten.« Paul holte kurz Luft und sah Walker an. »Es geht jetzt um den Wiederaufbau, Sam. Wir müssen uns verteidigen können, wenn die Visitors wiederkommen.« »Die Freiheit stellt etwas dar, um das man jeden Tag von neuem kämpfen muß«, wiederholte Walker Janus’ mahnende Worte. »Tag und Nacht«, warf Nordine ein. »Eine Aufgabe, für die wir alle Männer, Frauen und Kinder brauchen, die wir bekommen können. Vor einigen Monaten lehnten Sie es ab, sich uns anzuschließen. Haben Sie Ihre Meinung inzwischen geändert?« Walker starrte auf Kathleens Grab und richtete den Blick dann wieder auf den Mann an seiner Seite. »Was erwarten Sie von mir?« »Daß Sie hart arbeiten, härter als jemals zuvor in Ihrem Leben.« Paul lächelte und reichte Walker die Hand. »Nun, dann sollten wir sofort damit beginnen.« Sam ergriff die Hand und schüttelte sie. »Lassen Sie uns jetzt nach Chicago zurückkehren. Wenn ich mich recht entsinne, sprachen Sie vom Wiederaufbau einer Stadt.«