Roland und der Meuchelmörder von Ekkehart Reinke scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Ein Schrei durchbr...
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Roland und der Meuchelmörder von Ekkehart Reinke scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Ein Schrei durchbrach die Mittagsstille auf Schloß Camelot! Die meisten Bewohner schliefen fest. Das morgendliche Jagdvergnügen mit dem anschließenden üppigen Festschmaus hatte die Herren stark ermüdet. Manche waren noch an der Tafel eingeschlummert. Die Damen hielten Schönheitsschlaf. Da ertönte dieser entsetzliche Schrei!
Er drang aus dem Erdboden, brach sich an den meterdicken Grundmauern und verhallte fast ungehört. Nur Paul, der diensthabende Wächter im Verlies, fuhr erschrocken in die Höhe. Es war der Schrei eines Menschen unter unerträglichem Schmerz, in auswegloser Todesnot. Und so verzerrt er auch klang, Paul erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte Haggan vom Horn, dem Gefangenen des Königs. »Hilfe! Hilfe!« brüllte Haggan. »Man hat mich vergiftet!«
Paul sprang auf. Ein Zittern befiel ihn. Er wurde abwechselnd rot und blaß. Eisiger Schreck durchfuhr ihn, dem siedendheiß fürchterliche Ahnungen folgten. Er tat ein paar zögernde Schritte von der Bank weg, auf der er es sich gerade mit einem Krüglein Branntwein behaglich gemacht hatte. »Hilfe! Wächter! Tod und Verdammnis, das Gift bringt mich um!« So grauenhaft waren die Schreie, daß er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Hastig griff Paul nach dem Schlüsselbund. Gift! Wie konnte das nur geschehen? Er hatte mit eigener Hand die dünne Gemüsesuppe aus der Küche geholt, sie herübergetragen und dem Gefangenen gebracht. »Hölle und Teufel! Kommt denn keiner? Soll ich verrecken?« Wo kam das Gift her? Plötzlich erinnerte sich Paul, daß er auf dem Weg von der Küche in einem Gang die Schüssel abgesetzt hatte, um mit einer hübschen Kammerfrau zu plaudern, die er verehrte. Vor Angst brannten ihm die Fußsohlen. Während seines Geschwätzes mit der Zofe hatte er nicht auf die Suppenschüssel geachtet! Jeder konnte unbemerkt Gift hineingeschüttet haben ... »Wächter! Wo bleibst du? Hilfe! Ich sterbe!« Die Stimme überschlug sich in unvorstellbarer Qual. Paul rannte schon zur Eisentür. Auf keinen Fall durfte Haggan sterben! Er als Wächter bürgte dem König mit seinem eigenen Leben dafür! Mit fliegenden Händen schloß er die schwere Eisentür auf und trat in das tief unter der Erde gelegene, kreisrunde Verlies. Wegen seiner besonderen Gefährlichkeit war Haggan mit Ketten an die gegenüberliegende Wand gefesselt worden. Nicht einmal in den zehn Tagen seit seiner Gefangennahme hatte man sie gelöst. Und doch hatte dieser unbeugsame Mann seinen Kerkerwächtern bisher immer in stolzer, ja hochmütiger Haltung entgegengeblickt und zu ihnen in einem Tone gesprochen, als sei er ein Fürst, und sie seien seine Sklaven. Jetzt aber wand er sich, ein zuckendes Bündel, auf dem kotigen Boden, wimmerte und stöhnte und schlug wie rasend mit den
ungefesselten Beinen um sich. Und immer wieder gellten die Schreie: »Hilfe! Gift! Ich verrecke!« Die Ketten klirrten, als er die Hände auf den Magen preßte. Der Schmerz schien seine Gedärme zu zerreißen. Unschlüssig trat Paul an den Gefangenen heran. Blaß und verzagt mühte er sich doch um einen beruhigenden Tonfall, als er ihn ansprach: »Schon gut, Ritter Haggan. Ich bin ja da!« Er kniete neben dem Schreienden nieder und beugte sich über ihn. Im selben Augenblick schnellte der eben noch hilflos zusammengekrümmte Gefangene wie eine angreifende Schlange hoch, warf die mit Ketten gefesselten Arme um den Hals des überraschten Wärters und drückte sie im Würgegriff zusammen. Rostiges Eisen drückte gegen Pauls Kehle. Sein blasses Gesicht verlor die letzte Farbe und wurde kalkweiß. Er wollte nach Luft schnappen. Vergeblich. Nicht mal ein Seufzer entfloh dem blutleeren Mund. Ohne Gegenwehr sackte Paul zusammen. Ein triumphierendes Lächeln kräuselte die strengen Lippen Haggans. Er entriß dem Leblosen das Schlüsselbund und öffnete das Schloß, mit dem seine Ketten an zwei eisernen Ringen in der Wand befestigt waren. Dann tastete er mit den Händen Pauls Körper ab. Im Wams fand er einen Hirschfänger. Den steckte er zu sich. Dann stand er auf und ging, ohne noch einen Blick auf seinen Kerker zu werfen, festen Schrittes zur Tür hinaus. Dort verhielt er und lauschte. Noch immer herrschte Stille im Schloß. Ohne länger zu zögern, schlich Haggan die schier endlosen, gewundenen Stufen empor, die nach oben in die eigentliche Burg führten. Die Entbehrungen der letzten zehn Tage, das Leben in Schmutz und feuchter Kälte hatten ihm nichts anhaben können. Auch die abgerissene, zerfetzte Kleidung konnten das kundige Auge nicht darüber hinwegtäuschen, daß Haggan ein ungewöhnlicher Mann war. Das kantige, gebräunte Viereckgesicht umrahmte glattes schwarzes Haar und ein wilder Vollbart. Unter den dichten Brauen waren
tiefliegende scharfe graue Augen, die ständig eine Drohung auszustrahlen schienen. Wenige hielten diesem stechenden Blick längere Zeit stand. Der Mann maß nur wenig über Mittelgröße, aber die wuchtigen, breiten Schultern und die muskulösen Gliedmaßen vermittelten den Eindruck gewaltiger Körperkraft. Das war Haggan vom Horn, vor dem die Mächtigen zitterten, des Königs Artus gefährlichster Feind! Artus hatte es als einen glücklichen Tag bezeichnet, als das Schicksal ihm diesen Ritter in die Hände spielte. Unverzüglich ließ er ihn in den Kerker werfen und befahl, daß er nie wieder das Licht des Tages erblicken solle. Aber jetzt schlief der König wie seine Getreuen, und sein Gefangener erreichte eben die Wachstube knapp unterhalb des Erdgeschosses. Er suchte nach einer Waffe. Nichts! Da nahm er den Branntweinkrug an sich, nachdem er einen kräftigen Zug daraus getan, der Feuer in seine Adern jagte. Oben spähte er geduckt hinaus. Vor ihm lag ein breiter Gang, an dessen Wände einige Gobelins hingen. Sonst war der Gang leer. Kein menschliches Wesen zeigte sich. Beruhigt schlich Haggan weiter. Bald teilte sich der Gang. Geradeaus ging es zur großen Halle. Haggan schnupperte. Er brauchte nur dem Geruch zu folgen ... Plötzlich erstarrte er. In der Halle rührte sich etwas. Die Hunde waren aufmerksam geworden! Dann fiel ein Schatten in den Gang. Der Schatten eines Mannes! Gedankenschnell zwängte sich Haggan hinter einen Gobelin, der eine biblische Szene zeigte: Salome bringt König Herodes das Haupt von Johannes dem Täufer. Während sich Haggan mit angehaltenem Atem an die Wand lehnte und wünschte, er könne mit ihr verschmelzen, dachte er daran, daß Artus ihm das Schicksal von Johannes zugedacht hatte. Seine Hände umschlossen den Griff des Hirschfängers und den Griff des Kruges. Nie wieder würde er sich schmählich in Ketten schlagen lassen, um später enthauptet zu werden!
Näherten sich da Schritte? War er schon entdeckt? Jeden Augenblick erwartete er einen Alarmruf. Erregt drehte er an seinem breiten Siegelring, den ihm Artus' Häscher belassen hatten. Doch nichts geschah. Vorsichtig lüpfte Haggan den Gobelin. Der Schatten war verschwunden! Haggan zögerte nicht länger. Er verließ das Versteck. Wieder stieg ihm Küchengeruch in die Nase. An der Stelle, wo weitere Gänge abzweigten, verharrte er kurz. Der Geruch schien von links zu kommen. Nach 20 Schritten stand er vor einer Tür. Er hörte Geschirrklappern und fröhliche Stimmen. Haggan riß die Tür auf! Drei Küchenjungen in weißen Gewändern starrten ihn an. Er ließ ihnen keinen Augenblick zur Besinnung. Den Hirschfänger zwischen den Zähnen, stürmte er wie ein Orkan unter sie. Den ersten packte er um die Hüfte, hob ihn, als wäre er eine Feder, und warf ihn in den großen Suppenkessel. Den zweiten stieß Haggan roh in eine riesige klebrige Teigmasse und wälzte ihn darin umher, bis er in dem zähen Gemisch wie gefesselt war. Der dritte wandte sich zur Flucht. Haggan warf ihm den Krug an den Schädel, erwischte ihn am Rockzipfel und drehte ihn wirbelnd herum. Er zog ihn so dicht an sich heran, daß ihre Nasen sich fast berührten. Sie hatten die gleiche Größe. »Zieh dich aus!« zischte ihm Haggan ins Gesicht. Seine tiefliegenden grauen Augen waren wie Dolche. »Runter mit den Kleidern! Beeil dich, oder ich stoße dir den Hirschfänger in den Leib. Und keinen Ton!« Aschfahl im Gesicht, gehorchte der stämmige Küchenjunge. Indessen hatte sich auch Haggan seiner arg mitgenommenen Kleidung entledigt. Er warf sie seinem nackten Gegenüber vor den dicken weißen Bauch. »Zieh das an!« Gleichzeitig griff er zu den Küchenkleidern und stieg hinein. Als er fertig war, tunkte er den Burschen, der im Kessel hockte, noch einmal kräftig in die Abwaschbrühe und befahl ihm mit erschreckender Geste Schweigen, so ihm sein Leben lieb sei. Dann
verklebte er dem zweiten Burschen Augen und Mund mit einer Handvoll Teig und schob ihn in den Backofen. Sein Glück wollte es, daß kein Feuer darunter brannte. Zitternd stand der Dritte in Haggans abgerissenen Kleidern vor ihm und vernahm die scharfe Stimme des Gefürchteten: »Du rennst jetzt durchs Burgtor ins Freie, als wäre der Gottseibeiuns hinter dir her! Verstanden? Was sollst du tun?« »Ich renne durchs Burgtor ins Freie«, stammelte der andere. Haggan versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. »Als wäre der Gottseibeiuns hinter dir her!« fuhr er ihn in unterdrücktem Ton an, der dennoch seine Wirkung nicht verfehlte. »Als wäre der Gottseibeiuns hinter mir her!« wiederholte der Küchenhelfer schlotternd. »Du rennst und rennst - über die Zugbrücke und dann ins Tal zu den Bauernhöfen ...« »Ich renne und renne ...« Schon traf ihn der nächste Schlag. »Laß mich ausreden, elender Suppenrührer! Was auch geschieht, du hörst nicht auf zu rennen, und wenn dir die Schildwachen das Hinterteil mit Pfeilen spicken! Du rennst so lange, ohne dich umzuschauen, bis du besinnungslos zu Boden fällst. Merk es dir! Denn sonst, du verdammter Bratspießwender, dreh ich dir noch vor dem Abendläuten mit eigener Hand dreimal den Hals um! Und nun fort mit dir!« Haggan gab dem Jungen einen wuchtigen Stoß, und der rannte nun wie ein Besessener in die angegebene Richtung. Durchs Burgtor an den schläfrigen Schildwachen vorbei. Über die Zugbrücke. Und hinunter ins Tal zu den Bauernhäusern in der Ferne. Mit Bedauern sah Haggan, daß der Branntweinkrug zerschellt war. Dann verließ er die Küche. In ruhigem Schritt näherte er sich den Wachen. Er fand, daß sie dem Flüchtigen verdutzt und unentschlossen nachschauten. Gerade rief der Wachhabende: »Männer, das muß der Gefangene des Königs sein! Einen halben Dukaten dem, der ihn wiederbringt! Drauf, ihr Männer, ihm nach!« Und dann stürzten fast alle Wachen in höchster Eile dem
Flüchtigen hinterdrein. Haggan wartete, bis die Verfolger die Zugbrücke überquert hatten. Nun schritt er ebenfalls lässig ins Freie. Niemand kümmerte sich um ihn. Die Wachen waren es gewöhnt, daß die Bediensteten der Küche häufig einmal herauskamen, um nach der Hitze von Herd und Ofen frische Luft zu schöpfen. Wo der Weg ins Tal führte, bog Haggan nach rechts ab und erreichte, jetzt schneller ausschreitend, bald den Wald. Kaum war er unter den mächtigen Buchen und hochragenden Tannen, als er Hufschlag hinter sich vernahm. Er fuhr herum. Mit gezogenem Schwert sprengte ein Reiter auf ihn los! »Hab' ich dich, Schurke!« rief der Reiter. »Eine falsche Bewegung, und mit dieser Klinge stoße ich dich nieder, daß du für immer das Atmen vergißt!« Ehe es sich Haggan versah, hatte ihm der Reiter eine Schlinge über den Kopf geworfen, die langsam an seinem Körper herabglitt. Mit einem Ruck zog der Reiter den Strick an, und die Schlinge schnürte dem gestellten Flüchtling die Arme fest an den Leib. Erbittert knirschte Haggan mit den Zähnen. »Du mußt der Schatten sein, den ich im Schlosse sah«, murmelte er zornig. »Und ich glaubte, dich getäuscht zu haben!« Der Reiter frohlockte: »Schwarz wie Haar und Bart ist deine Seele, Haggan. Und hättest du dich in einen Engel verwandelt und trügest schimmernde Flügel auf dem Rücken und wäre der Schein des Himmels um dich, dein rabenschwarzes Gelock verriete dich doch!« Er riß sein Pferd herum und schlug den Rückweg zum Schloß ein. Wohl oder übel mußte Haggan ihm folgen. Doch sie hatten noch keine fünf Klafter zurückgelegt, als ein hünenhafter, starkknochiger Graukopf aus dem Schutz der Bäume trat, sich dem Pferd in den Weg stellte, mit einer Hand in die Zügel griff und mit der anderen, die ein ungefüges Langschwert schwang, zum Streich ausholte. Ehe der Reiter sich verteidigen konnte, stürzte er schwer getroffen aus dem Sattel. »Trumm!« rief Haggan überrascht und über alle Maßen erfreut.
»Mein treuer Trumm! Du kamst im rechten Augenblick!« Der grauhaarige Hüne überzeugte sich, daß der Reiter unter der vereinten Wirkung von Schlag und Sturz das Bewußtsein verloren hatte. Mit wenigen Handgriffen befreite er alsdann Haggan von dem Strick, umarmte ihn freudig und rief: »Daß Ihr wieder frei seid, Herr, ist der schönste Moment meines Lebens. Seit fünf Tagen und Nächten harrte ich hier Eurer.« Noch einmal tauchte er in den Wald und führte einen Fuchshengst hervor, der Haggan mit einem Wiehern begrüßte. Der Ritter entledigte sich rasch der Küchentracht und legte den Kettenpanzer an, den Trumm ihm reichte. Sie bestiegen die Pferde, Haggan den Fuchs, reckte sich in den Steigbügeln und schüttelte die Faust gegen Schloß Camelot, das mit seinen weißen Mauern, den goldbedeckten Zinnen und den schlanken Türmen wie ein steingewordenes Märchen auf der Anhöhe emporragte. »König Artus«, rief er mit einer Stimme, die Trumm frösteln machte, »meine Rache wird fürchterlich sein! Und wären die Mauern deines Schlosses 1000 Klafter dick und die Zahl deiner Ritter unermeßlich, ich hole dich aus ihrer Mitte und reiße dir den Kopf mitsamt der Krone von den Schultern!« Er hielt inne und sandte einen letzten grausamen Blick zu Camelot hinüber. Dann klatschte er mit dem Zügel auf den Hals des Fuchses. * Einmal in jeder Woche hielt König Artus Audienz, wenn er nicht gerade auf der Suche nach dem heiligen Gral durch ferne Lande streifte. Dann konnte jeder Untertan seines Reiches ihm dringende Anliegen vortragen. Manchem wurde hier sein Recht, das er auf andere Weise nie erlangt hätte. Doch an diesem trüben Tage wurden alle Bittsteller schon vor der Bannmeile abgewiesen und auf die kommende Woche vertröstet. Denn schwere Sorgen suchten den König heim, und deshalb widmete er die heutige Audienz nur einem einzigen Manne.
Dieser Mann war Ritter Roland, den reitende Boten von einer nahegelegenen Burg geholt hatten, wo er eine leichte Wunde auskuriert hatte. Als der hochgewachsene blonde Mann im hirschledernen Anzug des Jägers, von mehreren Pagen geleitet, zum Thronsaal schritt, folgten ihm viele Blicke, in denen je nach Geschlecht und Wesensart alle menschlichen Gefühlsregungen verborgen waren: Bewunderung und Neid, Verehrung und Mißgunst, Liebe und Abneigung. Doch Roland nahm nichts davon wahr. In gesammelter Erwartung schritt er an Hofschranzen und Dienern, an Rittern und Damen, an Edelleuten und Gesinde vorüber, ohne ihrer zu achten. Hinter ihm schloß sich die mit Gold- und Silberwerk verzierte mächtige Flügeltür, und Roland sah sich dem König und zwei Rittern der Tafelrunde gegenüber. Nach der Begrüßung erteilte Artus dem einen seiner Paladine das Wort. Und der hob an, die wildbewegte Geschichte derer vom Horn zu berichten. Es wuchs in Burgund der ungeschlachte Ritter Greif vom Horn auf und erwarb sich alsbald den Ruf eines ungestümen und unberechenbaren Mannes, der jedoch bei allen tollen Abenteuern stets die Grenzen der Ehre wahrte und nie einer unredlichen oder niederträchtigen Handlung bezichtigt wurde. Greif hatte zwei Söhne, von denen jeder eine Seite seines zwiespältigen Charakters geerbt zu haben schien. Jorn, der jüngere, war allgemein beliebt wegen seiner ehrlichen Gesinnung und seines freundlichen Wesens. Er war der Liebling des Vaters und wich selten von seiner Seite. Dagegen galt der ältere Sohn Haggan als finsterer Bursche, mit dem nicht gut Kirschen essen war. Er hatte nur wenige Freunde, wüste Gesellen. Die Frauen gingen ihm aus dem Wege. Die meisten Männer mieden ihn. Wo immer er auftauchte, mit seinem helmgleichen rabenschwarzen Haar und dem wirren Vollbart verbreitete der stiernackige junge Ritter Unruhe und Leid. Sein alter Vater Greif war froh, daß Haggan sich selten auf der
Burg oder auch nur in ihrer Nähe aufhielt. Die Sucht nach Abenteuern trieb Haggan in die Ferne. Selten hielt er sich an die goldenen Regeln des Rittertums. Er raubte, vergewaltigte, brandschatzte und erschlug. Sein Gefolge verwandelte sich mehr und mehr in einen trunk- und rauflüsternen Haufen von Raubrittern. Niemand war vor ihnen sicher, ob Mann, ob Weib, ob reich oder arm. Immer üblere Kerle sammelten sich um ihn. Ritter ohne Ehre, Knappen ohne Treue, Dirnen und Verstoßene. Bei ihren nächtlichen Gelagen träumten sie von dem ganz großen Streich. Camelot wollten sie erobern, den weisen, gütigen König Artus stürzen, alle Ritter der Tafelrunde ermorden, Haggan zum neuen König krönen und dann eine Schreckensherrschaft errichten: Willkür statt Gerechtigkeit, Gemetzel statt Turnier. Haggan verschmähte das Wappen seiner Ahnen, den Greif, und ließ sich ein neues Wappen auf den Schild malen: fünf schwarze Wölfe mit roten Zungen auf silbernem Grund! Wüste Reden führte der gefürchtete Ritter, wenn die Sprache auf seinen Vater Greif und seinen jüngeren Bruder Jorn kam. Am liebsten hätte er sie wohl auch umgebracht. Selten tauchte er noch in der väterlichen Burg auf - und darüber waren alle nur froh. Bei seinem letzten Besuch vor zwei Jahren aber traf er dort ein reizendes Burgfräulein namens Griseldis an. Haggan war sofort entflammt und warb mit der ihm eigenen Heftigkeit um sie. Doch die junge Schöne zeigte sich eher entsetzt denn geschmeichelt und floh der Gegenwart des ungeliebten Verehrers, wo es nur anging. Als er sie heftiger bedrängte, verbat sie sich in klaren Worten jede weitere Annäherung. Denn Griseldis, die Lieblingsnichte der Königsgattin Ginevra, liebte Haggans Bruder Jorn, und es war ausgemacht, daß sie im nächsten Monat Hochzeit feierten. Als Haggan das erfuhr, bekam er einen Wutanfall und schwor, daß er es ihnen allen heimzahlen werde. Wie ein Rasender verließ er die
Burg. Die Hochzeit fand statt. Nur ein Umstand sollte bald die glückliche Ehe trüben. Vater Greif überlebte die Aufregungen nicht lange. In seinem letzten Willen setzte er Jorn zum Alleinerben ein. Auf die Nachricht von Greifs Tod stattete Haggan der Burg noch einen Besuch ab. Er traf Griseldis allein, riß der Widerstrebenden die Kleider vom Leib und vergewaltigte sie. Dann schloß er sie in der Kemenate ein und legte Feuer. Die Burg brannte bis auf die Grundmauern ab. Wie durch ein Wunder wurde Griseldis gerettet. Haggan aber hatte sich in einen Hinterhalt gelegt. Dort lauerte er Jorn auf und tötete ihn meuchlings. Mehrere Zeugen stellten ihn noch mit dem blutbefleckten Schwert in der Hand neben dem sterbenden Bruder. Haggan kämpfte sich den Weg frei und machte sich zu seinen Raubrittern auf, um alles für die geplante Eroberung Camelots vorzubereiten. So eilig hatte er es, daß er Tag und Nacht querfeldein ritt, bis ihn der Schlaf übermannte. Ein glücklicher Zufall wollte es jedoch, daß eine starke Streife des Königs ihn, bevor er weiteren Schaden anrichtete, schlafend antraf und gefangennahm. Nach zehn Tagen im Kerker aber glückte Haggan die Flucht. Reiner Zufall, daß diesmal kein Toter zu beklagen war. Der Wächter Paul, die drei Küchenjungen und der Reiter, denen Haggan so übel mitgespielt hatte, überlebten die schweren Mißhandlungen und waren in der Pflege des königlichen Arztes. Der Erzähler schwieg. Roland holte tief Atem, und sein Blick suchte das Auge des Königs. Im Thronsaal war völlige Stille. Aus dem Hof drang ab und zu Hundegebell. Quer durch das Gemach fiel ein Streifen Sonne und glitzerte auf der Krone. Roland senkte geblendet die Lider. Mit fast geschlossenen Augen vernahm er Artus' leise Stimme, in der verhaltene Leidenschaft bebte. »Roland, Ihr habt manch starken Gegner niedergeworfen - nun bringt mir diesen Mann, der wie ein Ungewitter mein Land verwüsten will! Aber bewahrt Vorsicht und nehmt Euer Herz in
beide Hände! Denn er ist der gefährlichste Gegner, dem Ihr je entgegentratet. Er ist stärker als der grimme Bär, brutaler als der rasche Blitz, gemeiner als die tückische Schlange und reißender als die hungrigen Wölfe, die er im Wappen führt. Sein Wort ist Lüge, und sein Tun ist Untat. Sein Dasein beleidigt das Menschengeschlecht. Gürtet Euch, Roland, mit den schärfsten Waffen, umgebt Euch mit erprobten Freunden und wappnet Euer Herz mit stählerner Tapferkeit - sonst werdet Ihr unfehlbar unterliegen. Roland, bringt mir Haggan vom Horn, den Hochverräter!« * In aller Herrgottsfrühe ritt Roland davon. Er war allein. Allein mit seinem herrlichen Rappschimmel Samum, den die Stallknechte prächtig herausgeputzt hatten. Sogar ein Schachbrettmuster hatten sie ihm ins Fell gestriegelt. Als einzige Begleitung hatten Roß und Reiter ein kräftiges Packpferd. Die Luft ging schneidend. Kahl standen die Bäume gegen den fahlen Himmel. Schnee lag in der Luft. Roland ritt ostwärts, dem Städtchen Beauvais zu. Hier hoffte er, Haggans Spur zu finden. Denn der zweite Paladin im Thronsaal hatte ihm geheimnisvoll mitgeteilt: »Dort wohnt der Kaufmann Klotz. Wenn überhaupt einer, so muß er wissen, wo sich Haggans geheimnisvolle Zuflucht befindet, in der er mit seinem Gesindel zu lagern pflegt. Klotz trieb mit ihm Handel, soviel ist bekannt. Er kaufte sein Raubzeug. Bringt Klotz zum Sprechen, und Ihr seid auf der Fährte!« Roland blickte sich um. Nicht länger mehr grüßten ihn die vertrauten Türme Camelots. Ein Hügel schob sich davor. Roland hielt an. Ein Reiter jagte ihm nach. Es war ein junger Kerl mit weichen Gesichtszügen, lang wehendem aschblonden Haar und von schmaler Gestalt. In den hellen Augen stand Keckheit. Nun war er heran und parierte seinen kleinen Grauen. Außer Atem vom schnellen Galopp rief er: »Welch Glück, Euch noch zu
erreichen, Ritter! Sehr früh begabt Ihr Euch auf den Weg. Ich nenne mich Hein. Nehmt mich zum Knappen!« Roland lachte. »Ich habe Boten zu Louis und Pierre geschickt, die auf Urlaub weilen. Sie erwarten mich am Treffpunkt.« »Nun, so nehmt mich, bis Ihr sie trefft! Ein Ritter ohne Knappe das ist wie ein Lenz ohne Liebe, wie ein Schwertarm ohne Kraft.« »Deine Rede ist kühn, aber dein Körper wirkt schwächlich.« »Täuscht Euch nicht, Ritter! Die schlanke Pappel überragt die mächtige Eiche. Jagt mich nicht weg! Ich folge Euch doch. Ihr braucht mich.« »Ausgerechnet einen Hänfling! Kannst du überhaupt Reisig zum Lagerfeuer tragen, ohne in die Knie zu gehen?« Hein lachte. Es klang wie Vogelruf so hell. »So sprach mein früherer Ritter auch!« Er nannte einen Namen, den Roland nicht kannte. »Den ganzen Tag zog er mich auf. Doch als uns die sechs Normannen überfielen, war er heilfroh, mich an seiner Seite zu haben. Ihr hättet sehen sollen, welche Arbeit mein Schwert verrichtete. Ich erledigte drei. Drei muskelstrotzende Normannen!« »Und dein Ritter die anderen drei?« fragte Roland zweifelnd. »Leider nicht. Zwei erschlug er. Der dritte überwand ihn. Ich sah meinen Ritter sterben. Der letzte Normanne floh. Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf, ihn wiederzutreffen. Seine Kumpane sollten im Jenseits wieder vollzählig sein. Laßt Ihr mich an Eurer Seite, Herr?« Roland glaubte ihm wenig. Der junge Kerl prahlte. Er wollte ihm ein hartes Nein antworten, ihn mit herrischer Gebärde wegjagen. Aber da traf ihn sein schwebender Blick. Der rührte ihn. Ein Gefühl ergriff Roland, über dessen Natur er sich nicht schlüssig wurde. Und ohne es zu wollen, sprach er: »Nun wohl. Sei mein Knappe bis Beauvais!« * Am Abend des sechsten Tages erreichten sie die Stadt. Die Tore waren schon geschlossen. Aus dem schmalen Fenster des Torhauses
blickte finster ein spitzbärtiger Mann auf sie herab. »Packt euch!« rief er. »Kein Fremder bekommt Einlaß zur Nacht. Ihr mögt morgen wiederkommen. Nur im hellen Tageslicht lassen sich Spitzbuben von ehrlichen Männern unterscheiden.« Roland hatte schon eine barsche Antwort auf der Zunge, da drängte sich Hein auf seinem kleinen Grauen heftig an ihm vorbei. Sein helles Haar wehte. »Kein Wort weiter, du jämmerlicher Greis! Weißt du denn nicht, wer hier Einlaß begehrt? Der hochberühmte Ritter Roland und sein edler Knappe Hein, dessen Schwert schon manchen Schwätzer das Schweigen lehrte! Heraus mit dem Schlüssel! öffnet das Tor!« Sein Auftritt hatte zur Folge, daß sich eine Flut von Beschimpfungen aus dem Fenster über die beiden ergoß. Hein antwortete in gleicher Münze. Als das Wortgefecht auf dem Höhepunkt war, flog eine enge Tür zu Füßen der Mauer auf, und ein Trupp Stadtsoldaten quoll heraus. Drohend erhoben sie die langen Spieße. Der Spitzbart zeterte: »Jagt sie davon!« Anstatt ihn, wie er versprochen, das Schweigen zu lehren, riß Hein erschrocken seinen Grauen herum und verbarg sich zitternd hinter Roland. Der sah es mit spöttischem Lächeln, zog sein Schwert, schlug mit der Breitseite gegen seinen Schild und gebot mit mächtiger Stimme Ruhe. Im flackernden, Ungewissen Licht zweier Fackeln standen sich die Parteien unschlüssig gegenüber. Der Spitzbart brach das kurze Schweigen. »Wenn Ihr wirklich ein Ritter seid, und ein hochberühmter dazu, so werdet Ihr das Gesetz der Stadt ehrfürchtig achten. Das Tor bleibt geschlossen für jedermann. Und wenn Ihr noch so gewalttätig wärt, Ritter, gegen diesen Wald von Spießen kommt Ihr nicht an.« »Aber ich habe dringende Botschaft für Kaufmann Klotz«, sagte Roland. »Den kenne ich«, erwiderte der Herr des Tores trocken. »Der empfängt niemand zur Nacht.« Roland vermeinte, ein geringfügiges Zögern aus seinem Tonfall
herauszuhören. Er beharrte: »Das kannst du schwerlich beurteilen. Ich warne dich, dir Klotzens Wohlwollen zu verscherzen!« »Nichts da! Kein Wort mehr! Das Tor bleibt geschlossen für jedermann ...« Er ließ den Satz in der Schwebe und fuhr dann leiser fort: »... es sei denn ...« Nun schwieg er endgültig und sah Roland gespannt an. Der Ritter streifte sich einen Handschuh ab und griff mit den Fingern in den anderen. Langsam zog er sie wieder heraus. Die Hand war nun geschlossen. »Es sei denn«, sagte er, nur für den spitzbärtigen Wortführer vernehmlich, »ich besäße einen Magneten für Euren Torschlüssel, nicht wahr?« Dessen Augen funkelten begehrlich. Mit einer Handbewegung scheuchte er seine Männer zurück. Als der letzte Spießträger in der kleinen Pforte verschwunden war, fragte er Roland leise: »Besitzt Ihr ihn denn, einen Magneten?« Der Ritter öffnete die Hand. Ein Dukaten lag darin. »Das Magnetchen möchte mir schon gefallen. Nur fürchte ich, es ist zu schwach für den großen Schlüssel.« »So will ich es verdoppeln«, sagte Roland und fischte einen zweiten Dukaten aus dem Handschuh. »Verdreifacht es, und das Tor wird geöffnet!« Da spornte Hein sein Pferd und ritt den feilschenden Anführer der Stadtsoldaten fast um. Nach dem Abzug der spießbewehrten Männer war sein Mut offenbar wieder gewaltig gewachsen. »Nichts da!« rief Hein. »Ein Dukaten genügt, oder wir stürmen das Torhaus.« Der Anführer behielt die Ruhe. »Ein Schritt durch die Pforte würde Euer letzter sein. Mit eingeschlagenem Schädel brächet ihr auf der Schwelle zusammen.« »Laßt Euch das nicht bieten!« forderte Hein seinen Ritter auf. Aber Roland griff schon zum drittenmal in den Handschuh und zahlte dem Torwächter, was er verlangt hatte. Der wurde nun überaus freundlich. »Ich gebe Euch einen Soldaten mit, der Euch auf schnellstem Wege zu Kaufmann Klotz führt«, versprach er. »Als Fremde würdet Ihr in dieser Dunkelheit
stundenlang vergeblich umherirren und sein Haus trotzdem nicht finden.« Hein zog ein ärgerliches Gesicht. Aber Roland, dem es darauf ankam, keine Stunde zu versäumen, bedankte sich und folgte, nachdem das Stadttor umständlich auf- und wieder zugeschlossen war, dem entschlossen voranschreitenden Soldaten über den kleinen Platz an der Innenseite der Stadtmauer in eine stockdunkle Straße. Indessen begab sich der Spitzbart in das Häuschen zurück und befahl seinen Soldaten: »Legt die Uniformen ab und schlüpft in die Kapuzen! Jean führt die Fremden in die Irre. An dem bewußten Platz legen wir uns in den Hinterhalt und erledigen sie.« Dann bestimmte er zwei Männer, die den Posten am Tor halten sollten. Die übrigen beeilten sich, die Maskerade zu vollziehen. »Meinst du, daß sich der Überfall lohnt, Oberst?« fragte ein Soldat den Anführer. »Wer drei Dukaten so mir nichts dir nichts aus dem Handschuh zieht«, entgegnete der, »trägt noch viele kleine Brüderchen am Leibe versteckt!« * Seit einer halben Stunde folgten sie nun schon dem unbeirrt vorantappenden Führer. Allmählich gewöhnte sich das Auge an die Dunkelheit und unterschied Häuser, Fenster, Giebel, Straßenecken, Brunnen und kleine Plätze. »Herr Ritter«, flüsterte Hein. »Es kommt mir vor, als seien wir an diesem gelben Haus schon dreimal vorbeigekommen. Ich fürchte, der Mann führt uns falsch.« »Warum sollte er?« erwiderte Roland unwillig. »Er sitzt doch bestimmt lieber im warmen Torhäuschen, als sich hier nächtens die Füße wundzulaufen.« Dieser Hein war doch gar zu ängstlich! Und wie voll hatte er früher den Mund genommen! Man sollte einen Aufschneider in Zukunft nicht Prahlhans nennen, sondern Prahlhein dachte Roland.
»Ich erkenne das Haus aber an seinem winzigen Erker mit den gekreuzten Gitterstäben davor«, beharrte der Knappe. Aus einer Seitengasse erschien ein Schemen, der sich beim Näherkommen in einen späten Heimkehrer verwandelte. »Sagt mir, guter Mann«, rief Roland ihm zu, »sind wir auf dem rechten Weg zum Kaufmann Klotz?« Der Mann lüftete ein wenig die Kapuze, die fast sein ganzes Gesicht verbarg, und erwiderte: »Das seid Ihr, Herr! Erlaubt, daß ich mich anschließe! Ich wohne dem Kaufmann gleich gegenüber.« Roland nickte befriedigt. Wer wollte schon etwas auf die Fantastereien dieses jungen Burschen Hein geben, dem noch nicht einmal die ersten Barthaare sprossen! Doch schon war der Knappe wieder an seiner Seite. »Kam Euch die Stimme des Mannes nicht bekannt vor, Herr Ritter?« raunte Hein. Roland schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist der Oberst der Stadtsoldaten!« fuhr Hein in ängstlichem Tone fort. »Hier stimmt etwas nicht. Eine Teufelei ist im Gange ...« »Schweig, feigherziger Jüngling, und verdächtige nicht ehrbare Männer!« Und fortan schwieg Hein beleidigt. Nach einer Weile blieb ihr Führer, der bisher kein Wort gesprochen, stehen und bedeutete Roland zu halten. »Verzeiht mir, Herr Ritter, aber ich muß Euch jetzt bitten, abzusteigen. Vor uns liegt die engste Gasse der Stadt, und an einem bestimmten Punkte stoßen zwei gegenüberliegende Balkons fast aufeinander, so daß nur ein Fußgänger darunter passieren kann, aber kein Reiter.« »Bin sowieso froh, endlich aus dem Sattel zu kommen«, sagte Roland und kam dem offenbar wohlgemeinten Rat nach. Hein folgte seinem Beispiel. Roland schritt weiter. Plötzlich wurde es so dunkel, daß er den Führer nicht mehr sah. Dann blieb Samum stehen. Kein Aufmuntern half. Der Hengst blieb störrisch. Er wollte nicht weiter. Roland ging nach vorn, die Hände vorgestreckt. Er stieß gegen Mauerwerk. Eine
Hauswand! Mit leichtem Argwohn drehte er sich herum. Dies war eine Sackgasse! Oder hatte er nur eine Biegung verpaßt? Wind fing sich in dem Winkel, schnitt in die Augen und verschluckte Geräusche. Er ahnte mehr, als daß er ihn sah, den Knappen. Plötzlich spürte er, daß Hein aus irgendeinem Grunde nicht mehr aufrecht stehen konnte. Seine Knie gaben nach. Der Oberkörper fiel vornüber. Ein leises Ächzen kam aus seinem Mund. Sein Körper lag zu Rolands Füßen. »Hein, was ist?« Beunruhigt zog Roland das Schwert. Sterne tanzten vor seinen Augen. Der Schädel dröhnte. Irgend etwas war mit voller Gewalt auf seinem Helm gelandet. Er sprang über den gestürzten Hein hinweg. Hier hatte er mehr Platz. Die Sterne vergingen. Schattenhafte Gestalten umsprangen ihn. Hände packten ihn. Roland schüttelte sie ab. Er hob das Schwert. Eine Stimme ganz in der Nähe sagte: »Heraus mit dem Dukatenbeutel, und wir schonen Euch!« Diesmal erkannte auch er den Tonfall. Es war wirklich der spitzbärtige Anführer der Stadtsoldaten, wie Hein vermutet hatte! Der heimtückische Überfall machte Roland zornig. Er hieb und stach um sich. Wild tanzten die Schattenmänner durcheinander. Wieder traf ihn ein Schlag. Seine Rippen dröhnten. »Zurück!« rief Roland. Gleichzeitig machte er einen Ausfall. Die Feinde wichen zurück. Niemand wollte mit seiner Klinge Bekanntschaft schließen. So schaffte sich der Ritter Luft. In dem engen Windfang wäre er verloren gewesen. Hier war es heller. Über ein schimmerndes Schindeldach lugte der Halbmond. Roland sah die Waffen der Gegner. Sie hatten die Spieße zu Hause gelassen und trugen statt dessen Morgensterne und Todeskugeln. Das waren Metallklumpen, die durch einen kurzen Lederriemen mit einem festen Knüppel verbunden waren. Der Mann, der ihm am nächsten war, schwang gerade die Todeskugel gegen ihn. Roland sprang zur Seite und führte im
gleichen Augenblick einen Hieb gegen den Lederriemen, Seine Klinge durchschnitt ihn, und die Kugel flog auf ihn zu. Er fing sie mit der Linken. Und wieder vernahm er die bekannte Stimme vom Stadttor, leicht verzerrt von Ungeduld und Ärger: »Streckt die Waffen, Ritter, und rückt den Beutel heraus! Wir wollen Euch nichts Böses ...« Roland warf die Kugel in die Richtung der Stimme. Er mußte getroffen haben, denn es folgte ein greller Aufschrei. Erneut zuckte Rolands Klinge im Mondlicht, und die Schatten wichen auseinander. Der getroffene Anführer jammerte laut. Er beklagte seine Schulter und seinen Arm. Wahrscheinlich war er im Gelenk getroffen worden. Sein Heulen schwoll immer mehr an. Mehrere Stimmen geboten ihm Ruhe. Aber er jammerte nur lauter. Fenster wurden aufgerissen. Rufe erklangen: »Wer lärmt da unten?« »Überfall!« rief Roland aus voller Lunge. »Ergreift die Räuber!« Den Angreifern wurde es mulmig. In aller Stille hatten sie Roland und Mein abtun wollen. Aufsehen zu erregen, bedeutete ihnen fast größere Gefahr als feindliche Waffen. Eine rauhe Stimme mahnte zum Rückzug. »Weg mit euch, Kameraden! Verstreut euch! Und schleppt den Obersten mit!« Das aber wollte Roland nicht zulassen. Ungestraft und unerkannt sollten die dreisten Banditen nicht entkommen! Bestimmt war es nicht ihr erster Raubüberfall gewesen. Gelang ihnen die Flucht, so war zu befürchten, daß sie ihre niederträchtigen nächtlichen Verbrechen fortsetzen würden. Mit Riesenschritten eilte Roland an die Stelle, wo der Anführer zusammengesunken war. Der Kerl saß auf dem Boden. Mit dem Rücken lehnte er an der Hauswand. Der Ritter stellte sich vor ihn, als gelte es, den Leib eines lieben Freundes zu schützen. Da sausten zwei Morgensterne zu gleicher Zeit auf ihn zu. Doch rechtzeitig riß Roland das Schwert hoch, schlug von der Seite zu, und der gute Stahl fraß sich durch das nagelbestückte Kernholz wie durch Butter. Ungefährlich fielen die abgehackten Enden der gräßlichen
Waffen auf die Erde. »Flieht, Männer!« rief eine schrille Stimme. Die Kapuzenmänner ergriff Panik. Soviel Widerstand waren sie nicht gewohnt. Doch Fliehen erwies sich als schwieriger als gedacht. Denn nun waren sie in der eigenen Falle gefangen. Aus den Häusern der Nachbarschaft strömten beherzte Männer herbei und versperrten den Ausweg. Keiner kam mit leeren Händen. Sie hatten zum Werkzeug gegriffen, das ihnen sonst den Beruf ermöglichte. Der Metzger hielt das Schlachtemesser, der Bäcker die Brotschaufel und der Schmied den Hammer. Dennoch gelang es im Handgemenge zwei Banditen zu entschlüpfen. Drei aber wurden überwältigt. Rufe des Erstaunens wurden laut, als man ihnen in die Gesichter leuchtete. »Das sind ja Stadtsoldaten!« »Hier liegt ihr Oberst!« Dann umringten die Männer Roland und drückten mit schwieligen Händen seine Rechte. Auf der nachtdunklen Straße herrschte mittlerweile ein Trubel wie sonst nur an geschäftigen Tagen auf dem Marktplatz. Ein gewichtiger Herr, den eine silberne Halskette schmückte, nahte bedächtig. Man öffnete ihm eine Gasse. Es war der Bürgermeister. Roland erfuhr, daß er Beauvais hieß - wie die Stadt. Sicherlich hatte dieser glückliche Umstand seine Wahl in das hohe Amt begünstigt. Überglücklich bedankte er sich bei Roland, nachdem man ihn von allem unterrichtet hatte: »Ihr habt mir und meiner Stadt einen unschätzbaren Dienst erwiesen! Seit Monaten schon konnte sich nachts kein Fremder auf die Straße wagen, ohne ausgeplündert zu werden. Wie oft verlangte ich vom Obersten der Stadtpolizei, er solle die Banditen fangen! Immer wieder fand er Ausflüchte und Entschuldigungen für sein Unvermögen. Und nun stellt sich dank Eures Heldenmutes heraus, daß er selber der Schuldige ist! Welch eine Kanaille! Mißbraucht sein Vertrauensamt dazu, um mit seinen Kreaturen Überfälle auszuführen und Menschen Schaden anzutun! Ich bin erschüttert. Dieser Schuft, dieser Halunke, dieser
Malefizkerl...« Roland fiel ihm ins Wort. »Herr Bürgermeister, verzeiht... Mein Knappe wurde verwundet. Ich muß mich um ihn kümmern.« »Wie konnte ich das übersehen!« rief der dicke Würdenträger. »Ich lasse den Tapferen sofort in mein Haus schaffen. Die denkbar beste Pflege soll ihm dort zuteil werden. Auch Euch bitte ich, für die Nacht mit meiner bescheidenen Hütte vorliebzunehmen.« »Eigentlich war ich auf dem Wege zum Kaufmann Klotz.« »Oh, zum Klotz wollt Ihr! Ein wohlangesehener Herr ist das. Er macht glänzende Geschäfte. Doch rate ich Euch, ihn erst morgen am Vormittag aufzusuchen. Seitdem die Überfälle begannen, fürchtet er so um seine reichen Lager, daß er sein Haus vor Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen wie eine Festung verbarrikadiert hält und niemanden einläßt.« Wohl oder übel willigte Roland ein. Er mußte noch eine Weile warten, bis Herr Beauvais alle notwendigen Anordnungen getroffen hatte. Das Oberhaupt der Lohgerberzunft übernahm mit seinen Männern den Abtransport der beiden Banditen und des verwundeten Anführers ins Stadtgefängnis. Die Metzger machten sich auf, das Torhäuschen zu besetzen. Und die Straßenfeger erboten sich, nach den beiden geflohenen Banditen zu fahnden. Sie kannten von ihrer Arbeit her jeden Winkel der Stadt. Endlich folgte Roland dem Bürgermeister in dessen Haus. Es war alles andere als eine bescheidene Hütte. Die zahlreichen Räume sprachen von behaglichem, bürgerlichen Wohlstand. Überrascht sah sich Roland plötzlich vier jungen Mädchen gegenüber, die wie die Orgelpfeifen aufgereiht vor ihm knicksten. »Meine vier Töchter«, stellte Herr Beauvais vor. »Wie Ihr seht, zieren sie mein Haus aufs angenehmste, gemahnen mich jedoch auch durch ihren bloßen Anblick daran, daß es mir noch obliegt, einen Stammhalter zu zeugen. Bisher war mir das nicht vergönnt. Doch...«, fügte er mit verschmitztem Ausdruck hinzu, »...noch ist nicht aller Tage Abend!« Seine Frau, die genauso dick war wie er, konnte daraufhin einen
tiefen Seufzer nicht unterdrücken. Die Töchter erröteten und schlugen brav die Augen nieder. Nein, nicht alle vier! Die Älteste, die 18 Jahre zählen mochte, schaute Roland frei und keck ins Auge. Wenn ihre Wangen glühten, so nicht vor Scham, sondern vor innerem Feuer. Roland musterte sie mit erwachendem Interesse. Sie war ein hübsches, wohlgestaltetes Mädchen mit runden Hüften, was darauf schließen ließ, daß sie eines Tages in ähnlichem Leibesumfang prangen würde wie ihre Eltern. Man bemühte sich, Roland allerlei Erfrischungen anzubieten. Er aber bat nur um ein heißes Bad und verlangte, nach seinem Knappen zu sehen. Sofort wurde ein Dienstmädchen beauftragt, das Feuer zu schüren, einen Kessel aufzusetzen und den Zuber zu richten. Indessen betrat Roland besorgt das kleine Zimmer, in das man Hein gebettet hatte. Mit mattem, schwebendem Lächeln sah der Knappe zu ihm auf. »Hast du Schmerzen?« fragte Roland. Hein rollte mit den Augen. »Das Schlimmste ist vorüber. Als mich der Schlag traf, war ich wie gelähmt. Noch als sie mich herschafften, brannte mein Arm wie Feuer. Sie holten den Bader. Er meinte, der Knochen sei heil, und verband die tiefe Fleischwunde. Nun befinde ich mich ganz wohl.« »Eine Nacht auf weichen Kissen - das wird dich wieder auf die Beine bringen!« »Mag sein. Doch hättet Ihr auf mich gehört, als ich Euch vor dem falschen Führer und dem anderen Manne warnte, so wären wir ohne Schlag und Gegenschlag davongekommen.« »Das mag wohl sein. Ich habe derlei Hinterlist nicht vermutet. Doch hat die Sache ihr Gutes. Die Schufte wurden entlarvt, und die Stadt ist von einer Plage befreit. Morgen wird der Bader wieder nach deiner Wunde sehen.« »Nicht nötig, Herr Ritter. So ein Fliegenstich wirft mich nicht um! Ich fühl's - morgen früh bin ich wieder der alte Raufbold, der sich vor Tod und Teufel nicht fürchtet!« Roland hatte Mühe, sich das Lachen zu verbeißen. Hein war
unverbesserlich. Kaum befand er sich in Sicherheit, so brach seine Prahlsucht wieder durch! Er wünschte ihm eine gute Nacht. Als er noch einen Blick auf das blasse ovale Gesicht mit den langen aschblonden Haaren warf, fühlte er sich seltsam gerührt. Rasch verließ er das Zimmer. Draußen empfing ihn die Dienstmagd, zeigte ihm die Waschküche und den für ihn bestimmten Schlafraum und berichtete, die Familie des Bürgermeisters habe sich zur Ruhe begeben. Roland entließ sie. Aus dem Zuber dampfte es. Roland entkleidete sich, wusch Staub und Blutspritzer von Gesicht und Händen und stieg dann vorsichtig in das heiße Wasser. Eine Zeitlang meinte er zu verbrühen, aber mit einem Schlag hatte er sich daran gewöhnt. Nun fühlte er sich ungemein behaglich. Die Ereignisse des Tages verschwammen. Er dachte an morgen. An Kaufmann Klotz. Von ihm hing es ab, ob er Haggan aufspüren konnte. Er hoffte, daß seine Knappen Louis und Pierre morgen Beauvais erreichen würden. Vielleicht auch sein Freund Volker vom Hohentwiel, der fahrende Ritter und berühmte Minnesänger. Seine Gedanken verloren sich. Er wurde müde. Die Augenlider fielen ihm zu. Er raffte sich auf, griff nach der Bürste und bearbeitete damit seinen Rücken. Plötzlich spürte er neben dem Borstenkratzer die Berührung einer weichen Hand. Er warf die Bürste weg und überließ sich mit wohligem Schauer dem prickelnden Streicheln. Erst nach einiger Zeit warf er einen Blick über die Schulter. Die älteste Tochter des Bürgermeisters stand da hinter ihm in einem tief ausgeschnittenen weißen Nachtgewand, aus dessen Spitzensaum die rosigen Knospen ihrer entzückenden Brüste hervorlugten, und streichelte seinen Rücken. »Jungfer!« stieß er erschrocken hervor. »Mein Name ist Anni«, sagte sie lächelnd. »Anni, ich bitte dich, verlasse sofort diesen Raum! Wenn deine Eltern ...« Unbegreiflicherweise geriet Roland ins Stocken, stammelte etwas von Bürgerehre und Gastrecht und schwieg dann
verwirrt. Ihre Hände glitten zu seiner Brust und wurden fordernder. Ihre Zähne öffneten sich. Die Zungenspitze erschien zwischen den weißen Perlen. Ihre Augen blickten begehrlich. »Wie Ihr befehlt, Herr Ritter. Gleich begebe ich mich in mein Zimmer. Es ist das dritte zur rechten Hand. Ich verriegle es nie. Wach werde ich liegen, bis... bis Ihr kommt...« Ihre Hände glitten tiefer. Platsch! Annis Hände tauchten ins Wasser. Sie beugte sich vor und küßte Roland auf den Mund. Ihre vollen Lippen schmiegten sich zärtlich auf seine. Unwillkürlich hielt Roland ihre Hände fest und zog sie nach oben. Dann machte er sich aus ihrer Umarmung frei. Kopfschüttelnd sah sie ihn an. »Herr Ritter, ich begreife nicht...« Er legte den Finger auf seinen Mund und winkte ihr, zu verschwinden. Was sollte er ihr sagen? Er begriff sich ja selber nicht. Aber wie konnte er den Verheißungen einer Liebesnacht nachgeben, während unter demselben Dache sein junger Knappe Hein vielleicht unter plötzlich wiederkehrenden Wundschmerzen litt? * Kaufmann Klotz war säbelbeinig und pockennarbig. Sein abgewetzter, speckig schimmernder Tuchrock verriet nichts von dem Reichtum, über den er verfügte. Fast unterwürfig empfing er Roland und strich dessen gestrige Verdienste um die Stadt Beauvais mit schmeichelnden Worten heraus. »Verfügen Sie über mich, Herr Ritter!« sagte er. »Ich wäre glücklich, Euch zu Diensten zu sein, obwohl ich bei Gott nicht weiß, wie ich schwacher und unwürdiger Bürger einem Helden wie Euch nützen könnte. Es sei denn ... Wünscht Ihr Stoffe zu kaufen? Oder eine Rüstung? Oder Waffen? Sagt nur frei heraus, wonach es Euch gelüstet! Kaufmann Klotz gibt alles wohlfeil her - vor allem dem Ritter Roland. Und sollte es Euch an Geld gebrechen - Kaufmann Klotz leiht Euch gern jede Summe und verlangt nur geringe zehn
Prozent Zinsen. Das ist wie geschenkt!« Roland hob abwehrend die Hand. »Nur eine Auskunft erbitte ich, Klotz!« Wenn Kaufmann Klotz einem anderen zuhörte, riß er die Augen weit auf und öffnete leicht den Mund, als trinke er die Worte seines Gegenübers wie einen köstlichen Saft. »Ihr kennt Haggan vom Horn?« fragte Roland geradezu. »Nur flüchtig. Wir trieben bisweilen Handel. Kauf und Verkauf. Das ist nun vorbei. König Artus hält Haggan gefangen.« »Nicht mehr«, sagte Roland. »Haggan entflohen.« »Was Ihr nicht sagt! Welch großes Unheil! Man sagte mir, Haggan vom Horn sei eine Bestie, die den Tod verdient.« Wenn Kaufmann Klotz sprach, dann lehnte er sich mit geschlossenen Augen weit zurück, als wolle er dem anderen die geheimen Gedanken verbergen, die hinter den sorgsam gewählten Worten stecken mochten. »So heißt es«, sagte Roland ernst. »Und es heißt auch, daß Ihr, Kaufmann Klotz, seinen Aufenthaltsort kennt.« Die aufgerissenen Augen Klotzens verengten sich, wurden zu Schlitzen und verschwanden schließlich hinter den schweren Lidern. »Seinen Aufenthaltsort?« wiederholte er tonlos. »Sein Versteck, seine Zuflucht, seinen Unterschlupf!« Der Raum lag im Halbdunkel. Die in düsteren Farben gegossenen Butzenglasscheiben der Fenster ließen nur wenig Helligkeit herein. Klotz schwieg lange. Dann drang ein herzergreifendes Stöhnen aus seiner Kehle. Er sprang auf und marschierte auf Säbelbeinen, die überlangen Arme mächtig schwingend, diagonal durch das Besuchszimmer, wobei er mit klagender Stimme, als sei er den Tränen nahe, ausrief: »Nichts weiß ich, Herr Ritter. Wer mag mich verleumdet haben? Ich schwöre es Euch, daß ich gar nichts weiß von Haggans Umtrieben außer daß er mir noch hundert Dukaten schuldet. Beim Haupte meines Kindes, beim Augenlicht meiner Mutter, beim unbefleckten Ruf meines Hauses schwöre ich Euch: unwissend bin ich wie ein
Neugeborener!« So sehr Roland auch in ihn drang, Klotz wich von dieser Aussage nicht ab. Der Ritter sah bald ein, daß er hier keine Auskunft erhalten würde. In kaltem Ton verabschiedete er sich. Er trat auf die Straße. Die Enttäuschung drückte ihn schwer. Was war nun zu tun? Haggan war wie von der Erde verschwunden. Wenn schon Kaufmann Klotz leugnete, sein Versteck zu kennen, so würde es ihm niemand sagen können. Wohin sollte Roland sich wenden? Noch nie war er so verzagt gewesen. Schweren Herzens schritt er dem Haus des Bürgermeisters entgegen. Schon der Morgen war voll Aufregungen gewesen. Heins Wunde hatte sich über Nacht entzündet. Man hatte zum Bader geschickt. Der entfernte den Eiter, legte Heilkräuter und einen neuen Verband auf. In aller Herrgottsfrühe waren, wie erhofft, Louis und Pierre eingetroffen. Sie hatten sich zu Roland durchgefragt. Während Pierre sich mit der Familie Beauvais am Frühstückstisch niederließ, um ihn zwei volle Stunden lang nicht zu verlassen, nahm Louis einen geflüsterten Befehl Rolands entgegen und ward nicht mehr gesehen. Zu dem Zeitpunkt, da Roland von seinem vergeblichen Gang zurückkehrte, war Louis noch nicht wieder aufgetaucht. Selbst der Anblick der rosigen Anni riß Roland nicht aus seiner Niedergeschlagenheit. Doch war es angenehm, wie sie um ihn herum schwirrte und girrte. Ihr glattes freundliches Gesicht ließ nicht darauf schließen, daß sie die ganze Nacht in vergeblicher Erwartung Rolands wachgelegen hatte. Um nicht unhöflich zu erscheinen, begann Roland ein oberflächliches Gespräch mit ihr. Bald kam die Rede auf Kaufmann Klotz. »Er treibt sogar mit dem Morgenland Handel«, verkündete sie voll Bürgerstolz. »Bestimmt ist er der reichste Mann der Stadt.« »Und sein Kind?« fragte Roland. »Ist es ein Sohn oder eine Tochter?« Sie schüttelte voll Mitgefühl den Kopf. »Das ist sein einziger Kummer. Klotzens Ehe blieb kinderlos.«
Roland horchte auf. Die Worte, die Klotz im Zimmer hinter den Butzenscheiben so feierlich gesprochen, hatte er wörtlich im Gedächtnis. »Kennst du zufällig seine Mutter, Anni?« »Ich kannte sie flüchtig. Warum fragt Ihr? Sie ist seit vielen Jahren tot.« »Ganz recht. Ich glaube, er erwähnte es. Was ich noch wissen möchte: ist er wohlgelitten in der Stadt? Ist sein Ruf untadlig?« Sie kicherte. »Jeder stellt sich gut mit ihm. Aber es gibt manch böses Gerücht. Und einige Leute gibt es, die er zugrunde richtete. Dreimal wurde er wegen Wuchers angeklagt und mußte hohe Strafen zahlen. Aber noch immer verleiht er Geld zu schlimmen Zinsen. Ein Ehrenamt, wie mein Vater es innehat, würde man ihm seines schlechten Rufes wegen nie antragen.« In diesem Augenblick wurde Anni von ihrer Mutter gerufen, und Roland blieb allein zurück. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. Kaufmann Klotz wußte mehr über Haggan, als er zugab. Wieder hörte er ihn mit bewegter Stimme schwören: Beim Haupte meines Kindes, beim Augenlicht meiner Mutter, beim unbefleckten Ruf meines Hauses ... Kaufman Klotz hatte ihn schamlos belogen! * Vergnügt vor sich hinpfeifend, betätigte ein junger Jäger den schweren bronzenen Türklopfer an Kaufmann Klotzens Haus. Als die Dienstmagd ihm öffnete, bot er ihr zwei Hasen und fünf Rebhühner zum Kauf an. »Alles ganz frisch«, sagte er. »Erst heute früh habe ich die Tiere mit Pfeil und Bogen erlegt.« Die Dienstmagd musterte den etwas wild aussehenden Mann nicht ohne Wohlgefallen, zögerte aber. »Wir kaufen sonst immer bei dem alten Will ...« »Der alte Will«, unterbrach sie der Jäger, »liegt krank im Bett und bat mich, für ihn einzuspringen. Er verlangt für die Tiere anderthalb
Dukaten.« Wieder stutzte die Dienstmagd. So wohlfeil trennte sich der alte Will doch sonst nicht von seiner Jagdbeute! Doch sie nahm das Wild an sich und wandte sich zur Küche. »Wart einen Augenblick! Ich hole dir das Geld.« Als sie nach einiger Zeit wiederkam, wunderte sie sich, denn der Jäger war verschwunden. Achselzuckend ging sie in die Küche zurück. Er wird schon wiederkommen, dachte sie. Sie ahnte nicht, daß der Jäger noch im Hause war. Er hatte sich, kaum daß sie ihm den Rücken kehrte, auf leisen Sohlen eine Treppe hinaufgeschlichen, die zu den Privatgemächern des Hausherrn führten. Oben trat er vorsichtig in einen Gang, auf den mehrere Türen mündeten. Die eine stand ein wenig offen. Lautlos schlüpfte er hinein, und lautlos schloß er sie von innen. Als erstes vergewisserte er sich, daß er allein war. Ganz still stand er in dem prachtvoll eingerichteten Schlafzimmer und lauschte. Von nebenan klangen Stimmen. Mit unendlicher Vorsicht näherte er sich der Wand. Aber auch als er sein Ohr dagegen legte, blieben die Stimmen unverständlich. Nicht mal einzelne Worte waren zu unterscheiden. Da bemerkte er dicht unter der Decke eine Klappe in der getäfelten Wand. Mit den gleitenden Bewegungen eines geschmeidigen scheuen Waldtiers trug er rasch ein Marmortischchen unter die Klappe, stellte vorsichtig einen Stuhl darauf und kletterte dann gewandt in die Höhe. Alles geschah völlig lautlos. Als er auf dem Stuhl stand und sich reckte, war sein Kopf in Höhe der Klappe. Er probierte vorsichtig mit den Händen. Die Klappe ließ sich zur Seite schieben! Durch die entstandene unauffällige Öffnung drangen die bisher unverständlichen Stimmen nun klar und deutlich ins Schlafgemach. »Mein lieber Lutz von Lutzerath«, sagte gerade Kaufmann Klotz. »Die Nachricht von Haggans Entkommen kann nicht mehr bezweifelt werden. Dieser Ritter, der mich des Morgens aufsuchte, ist einer von des Königs einfältigen Turnierschlägern, der nicht ein-
mal Fantasie genug hätte, um so etwas zu erfinden!« »Nun, das ist doch höchst erfreulich«, antwortete der andere, der demnach nur Lutz von Lutzgerath sein konnte. »Auch für dich, Klotz! Wenn Haggan auf freiem Fuß ist, wird er dir bald wieder reiche Beute bringen.« »Wahrhaftig, Lutz?« »Aber sicher. Ich kenne Haggan gut. Abenteuer sind sein Leben. Da fällt immer Beute an. Er faulenzt keinen Tag.« »Soll mir schon recht sein. Und deine Pläne, wenn ich fragen darf?« »Ich habe noch ein mehrtägiges Geschäft in der Stadt zu erledigen«, sagte die Stimme des Ritters Lutz von Lutzerath, »das von den deinen recht verschieden ist. Es handelt sich, im Vertrauen gesagt, um eine Tuchhändlersfrau, deren Ehemann für einen Monat auf Handelsreise ging. Dabei fällt mir ein - was wollte dieser Ritter Roland eigentlich von dir? Solltest du ihn auf Haggans Spur setzen?« »So ist es. Natürlich leugnete ich jede Kenntnis seines Verstecks. Dessen genaue Lage kenne ich übrigens wirklich nicht. Denn den Plan dazu übergab ich aus Gründen eigener Sicherheit, als Haggan von Artus ergriffen ward, deinem Bruder, dem wohllöblichen Atz von Atzerath, auf dessen fester Burg ein so gefährliches Dokument weit besser verwahrt ist als in meiner schlichten Bürgerwohnung.« Der heimliche Lauscher hatte genug gehört. Es wurde für ihn höchste Zeit zum Rückzug. Bisher hatte ihm das Glück zur Seite gestanden. Er wollte seine Treue lieber nicht auf die Probe stellen. Doch beim Heruntersteigen passierte das Mißgeschick. Der Stuhl kam auf der blanken Marmorplatte des Tischchens ins Rutschen und fiel mit Gepolter auf den Fußboden! Die beiden Männer im Nebenzimmer horchten auf. »Was geschieht da in meinem Schlafzimmer?« verwunderte sich Klotz. Ritter Lutz von Lutzerath reagierte schneller. Er sprang auf, rannte zum Gang und prallte vor der Nebentür mit Rolands Knappen Louis denn niemand anders als er war der Eindringling - zusammen. Louis
versuchte den Ritter über den Haufen zu rennen. Aber er blieb mit der Fußspitze an der Türschwelle hängen und stürzte vornüber. Lutz griff gedankenschnell zu. Mit einer Hand packte er Louis am Kragen seiner Lederjacke, die andere preßte er ihm gegen die Kehle, daß dem Knappen die Luft wegblieb. Indessen war auch Klotz auf den Gang getreten und fragte voll Argwohn: »Wen haben wir denn da erwischt? Wer ist der Schandbube, der sich in fremde Häuser einschleicht?« »Das werden wir gleich erfahren«, erwiderte Lutz und schleifte den vom Würgegriff halb bewußtlosen Louis in das Besucherzimmer, wo er ihn gegen Klotzens Schreibtisch schleuderte. Mit geschlossenen Augen rutschte der ertappte Lauscher auf den Boden und lag in kläglicher Haltung da. Lutz gab ihm einen Fußtritt. »He, du Lumpenkerl! Sag uns deinen Namen und was dich hertreibt! Wolltest du etwa unser Gespräch belauschen?« »Er wird ein Dieb sein«, keifte Klotz. »Wir müssen seine Taschen untersuchen!« Er tat es gleich selber, fand aber nichts als ein weißes Tüchlein und einen halben Dukaten, den er verächtlich zu Boden warf. »Wirst du wohl antworten, wenn ich dich etwas frage?« rief Lutz und stieß Louis mit dem Fuß an. Der rührte sich nicht und gab keinen Mucks von sich. »Er ist ohnmächtig«, bemerkte der Kaufmann. »Du hast ihn zu hart angefaßt. Nicht daß er es nicht verdiente ...« »Und wäre er nicht ohnmächtig, sondern schon halbtot, ich wollte ihn doch zum Reden bringen!« Der Ritter sprach's und zog eine Reitgerte hervor. Damit versetzte er Louis drei kräftige Hiebe, daß Kaufmann Klotz schaudernd zur Seite blickte. Nun wurde auch Lutz nachdenklich. »Sollte er wirklich hinüber sein? Ein Wunder wäre es nicht bei meiner Stärke, die sich in manchem Turnier bewährte! Doch wünschte ich nie, meine Kraft an solchem hergelaufenen Lumpen zu erproben ...« Klotz beugte sich zu Louis nieder. »Er ist tot«, sagte er nach einer
Weile tonlos. »Er atmet nicht mehr.« Lutz stieß einen Fluch aus. »Das bringt mir wenig Ehre.« »Ehre!« rief Klotz und schloß die Augen. »Wer denkt bei so was an Ehre! Mir bringt es schweren Verdruß, wenn man den Toten in meinem Hause findet. Die Leute von Beauvais mögen mich nicht. Natürlich ist das der reine Neid. Sie verübeln mir den günstigen Gang meiner Geschäfte. Man wirft mir Knüppel zwischen die Beine, wo es nur angeht. Unlängst klagten sie mich sogar des Wuchers an, obwohl ich Geld zu nur zehn Prozent Zinsen an Honoratioren und zu nur 20 Prozent an armes Volk verleihe ...»Er riß die Augen wieder auf und blickte wie gehetzt umher, als könne jeden Augenblick der Büttel eintreten und ihm die Hand auf die Schulter legen. »Ich hab' eine Idee, wie wir uns seiner entledigen«, sagte Lutz, der die Ruhe nicht verloren hatte. »Dann sprecht!« forderte Klotz. »Wir werfen ihn einfach aus dem Fenster. Draußen ist wüstes Wetter, ein grauslich trüber Tag, kein Volk auf den Straßen. Zuvor drücken wir ihm einen Krummdolch in die Hand - ich sehe genügend Waffen an jener Wand hängen. Wenn man ihn findet, wird jeder meinen, er sei in raubmörderischer Absicht am Haus emporgeklettert, um durch ein Fenster einzusteigen, was er ja wohl auch tat, und sei dabei abgestürzt und aus eigener Schuld zu Tode gekommen.« »Vortrefflich!« lobte der Kaufmann den arglistigen Plan. »Vielleicht haben wir sogar noch das Glück, daß sich ihn im Sturz der Krummdolch in den Leib bohrt.« Ohne Verzug machten sie sich an die Ausführung, öffneten das Fenster, fanden die Gasse menschenleer und hoben den nicht sehr schweren Körper mit vereinten Kräften auf das Sims. »Nun den Dolch in seine Hand!« Auch das geschah. Sie waren eben dabei, den reglosen Körper hinabzustoßen, als die vermeintliche Leiche lebendig wurde. Louis hatte sie getäuscht. Er konnte nämlich gut und gern 100 Atemzüge lang die Luft anhalten.
Derlei Kniffe hatte ihn sein früheres Leben als Räuber in den Wäldern gelehrt. Plötzlich entglitten dem Kaufmann die Füße, die er angehoben hatte. Und ehe er sich von der Überraschung erholte, trafen ihn diese Füße mit solcher Kraft vor die Brust, daß er fast bis an das andere Ende des Gemachs zurücktaumelte. Aber auch diesmal war Lutz von Lutzerath auf der Hut. Er hatte Louis an den Schultern ans Fenster getragen und ließ nicht los. Ja, er verdoppelte seine Anstrengungen, um den von den »Toten« Erwachten aus dem Fenster zu werfen. Da spürte er plötzlich die Schneide des Krummdolchs an seiner Kehle. »Loslassen!« herrschte Louis ihn an. »Oder ich mache Euch kalt!« Dem Ritter blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Ehe sich Louis aber vom Fenstersims wieder in den Raum schwingen konnte, hatte Lutz eine andere Waffe, ein Langschwert, von der Wand gerissen und versperrte Louis den Weg zur Tür. Seine Haltung verriet, daß er etwas vom Waffenhandwerk verstand ... Und was sollte ein kurzer Krummdolch gegen ein Langschwert ausrichten? Louis ließ sich nicht einschüchtern. Er hatte seinerzeit viele Lektionen von einem berühmten Fechtmeister erhalten und nichts davon verlernt. So griff er jetzt mutig an. Seine Beine tanzten wie auf einer Bauernhochzeit. Ein Irrwisch konnte nicht schneller im Raum herumhuschen als er. Wie mit einem Säbel fuhrwerkte er mit dem Krummdolch durch die Luft. Da mußte Lutz gewaltig auf der Hut sein. Sonst hätte er sich gleich im ersten Durchgang eine gefährliche Verwundung eingefangen, die ihn kampfunfähig gemacht hätte. Wieder und wieder kreuzten sie die Klingen, daß die Funken stoben. Allmählich gewann der Ritter die Oberhand. Die Ungleichheit der Waffen machte sich im Lauf des Kampfes zu seinem Vorteil bemerkbar.
Klotz hatte sich ängstlich hinter seinen eichenen Schreibtisch verzogen. Er war ein Mann des schnellen Geldes - nicht der schnellen Klinge. Aus sicherer Deckung verfolgte er zunächst besorgt, dann bald mit größerer Zuversicht den Fortgang des Kampfes. »Gib's ihm!« rief er haßerfüllt und schwenkte die überlangen Arme wie Flegel. »Er brach den Frieden des Hauses! Jetzt hast du ihn! Er wollte meine Gelder rauben! Jetzt ist er in der Klemme! Er wollte an mein Leben! Hau ihm auf den Schädel!« Nun hatte der pockennarbige Kaufmann keine Bedenken mehr, daß man einen Toten in seinem Hause finden würde. Denn Louis starb ja als Eindringling mit geraubter Waffe in der Faust - das konnte später niemand ableugnen. Der Knappe war in eine Zimmerecke gedrängt und wehrte sich nur noch mit dem Mute der Verzweiflung. Doch keine Todesangst lahmte seinen Arm. Im Innern aber verfluchte er sein Mißgeschick beim Verlassen des Lauscherpostens. Immer näher rückte ihm Lutz zu Leibe. Ein Schlag ritzte Louis' Jägerjoppe auf. Danach rückte Lutz einen weiteren Schritt vor. Jetzt gab es kein Entkommen mehr. Der nächste Streich würde den Knappen fällen. Schon holte Lutz zum Todesstreich aus. Hoch schwang er das Langschwert, höher als bisher! Und da geschah es. Als er die Waffe niedersausen lassen wollte, blieb sie mit der Spitze im Kronleuchter hängen. Er riß und zerrte. Er fluchte, und Klotz jammerte um sein schönes Stück. Endlich hatte Lutz die Waffe frei und schlug zu. Doch wo Louis eben noch gestanden, war jetzt nur noch die Wand. Und in die bohrte sich die Schwertklinge. Diesmal half kein Ziehen und Zerren, kein Toben und Stoßen. Das Schwert ließ sich nicht mehr befreien. Zu tief hatte es sich in der Wand verbissen.
Klotz schloß schaudernd die Augen. Der Krummdolch erschien drohend vor des Ritters Gesicht. Was blieb Lutz übrig? Er mußte die Waffe loslassen und drei schnelle Rückwärtsschritte tun. Geistesgegenwärtig griff er nach einem breiten Ledersessel, um damit die erwartete Attacke des Gegners abzuwehren. Aber Louis hatte gar nicht die Absicht, den Kampf blutig zu beenden. Nicht dafür hatte ihn Ritter Roland hergeschickt. Kundschaften sollte er - und keine Wunden schlagen! Deshalb warf er dem weichenden Lutz den Krummdolch vor die Füße, sprang behend zur Tür hinaus und eilte, so schnell er konnte, die breite Treppe hinunter. Gerade wollte er unten die Haustür öffnen und ins Freie stürmen, da trat ihm unvermutet die Dienstmagd entgegen. Sie schimpfte, aber nicht allzu grimmig: »Ein saumseliger Vertreter des alten Will bist du. Glaubte schon, du kämst nicht wieder. Hier, nimm dein Geld!« Eilig griff Louis nach den anderthalb Dukaten, denn jeden Augenblick konnte Lutz auf dem Treppenabsatz erscheinen. Plötzlich aber gedachte er des halben Dukaten, den ihm Klotz abgenommen hatte, als er ihn für tot hielt. Noch nie hatte Louis, weder als Räuber noch als Schankwirt oder als Knappe, freiwillig einen halben Dukaten fahrenlassen. Und so rief er keck: »Ich hab mir's anders überlegt«, schaute aber aus den Augenwinkeln unentwegt nach oben. »Fünf Stück Wild! Dafür mußt du mir schon zwei Dukaten geben!« Die Dienstmagd weigerte sich. Louis ließ nicht nach. »Gesagt ist gesagt!« rief die Dienstmagd zornig. »Ich bleibe hier so lange, bis ich meinen Lohn habe!« beharrte Louis. Im gleichen Augenblick erblickte er einen Stiefel des Ritters auf der obersten Stufe! Immer noch zögerte die Dienstmagd. Schon zeigte sich der zweite Stiefel. Louis wich und wankte nicht. »Geht!« rief die Dienstmagd und stampfte mit dem Fuß auf.
»Nicht ohne den halben Dukaten, mein schönes Kind!« schmeichelte ihr Louis, während schwere Schritte bedrohlich auf der Treppe dröhnten und in der Hand des eilig nahenden Lutz ein neues Schwert aus Klotzens Waffensammlung sichtbar wurde. »Mein schönes Kind - hast du gesagt?« wiederholte die Dienstmagd zweifelnd. »Meinst du das ehrlich?« Nur zehn Stufen war Lutz noch entfernt. »Kannst du zweifeln?« erwiderte Louis. Die Dienstmagd strahlte und versenkte die Hand in der Küchenschürze. Lutz war bis auf fünf Stufen heran. Der Dienstmagd fiel ein, daß sie trotz des Aufgelds noch günstig davonkam, und sie hielt Louis den halben Dukaten hin. Drei Stufen noch ... Die Hand des Knappen griff wie eine Geierkralle nach der Münze, und dann schoß er auf die Gasse hinaus, als stände sein Hosenboden in hellen Flammen. * Im Haus des Bürgermeisters Beauvais hatte Ritter Roland mit wachsender Ungeduld die Rückkehr seines Knappen Louis erwartet. Als er endlich kam, schloß sich der Ritter sofort mit ihm in ein enges Gemach ein und ließ sich im Flüsterton berichten. In aller Ausführlichkeit erzählte Louis, wie er sich eingeschlichen und seinen Lauscherplatz gefunden habe. Das Gespräch zwischen Klotz und Lutz gab er fast wörtlich wieder. Dagegen verschwieg er listig, wie es seine Art war, daß er schließlich entdeckt worden war und alle Begebnisse danach. Das sollte sich noch als verhängnisvoll erweisen. Sofort danach blies Roland zum Aufbruch. Vergebens baten ihn Beauvais und seine ganze Familie fast mit Tränen in den Augen, ihnen das nicht anzutun! Nie hätten sie liebere und verdienstvollere Gäste gehabt.
Umsonst verwies der Knappe Pierre auf die Annehmlichkeiten eines Aufenthalts bei den Beauvais und die Unwirtlichkeit des Reisens unter freiem Himmel beim augenblicklichen Wetter. Und auch der Einwand von Louis, Lutz wolle sich noch mehrere Tage der Liebe wegen in der Stadt umtun und könne daher keineswegs seinen Bruder warnen, verschlug bei Roland nicht. Der befahl den Abmarsch. Die kleine Burg des Atz von Atzerath lag nur drei Tagereisen weit nach Süden. Zuvor aber besuchte Roland noch Hein, der blaß und still in seinen Kissen lag. Er entlohnte ihn und entließ ihn aus seinen Diensten. »Sobald Volker vom Hohentwiel hier auftaucht, sagt ihm, wir seien nach der Burg des Atz von Atzerath geritten! Bewahre das aber vor allen anderen als tiefes Geheimnis!« Hein nickte. Er sah Roland aus seinen hellen schwebenden Augen merkwürdig an. Auch Roland hatte ein eigentümliches Gefühl in der Kehle, als er sich von ihm abwandte. Draußen empfahl er den Verwundeten der besonderen Pflege der Jungfer Anni. Die hübsche Tochter des Herrn Beauvais hatte für dieses Ansinnen aber nur ein spöttisches Achselzukken übrig. Am Stadttor trat zu Ehren Rolands die ganze Wache heraus und erwies ihm Reverenz. Heute wurde sie von der Zunft der Rosinenbäcker gestellt, was man unschwer an dem süßen Duft merkte, der aus der Wachstube kam. Noch einmal bedankten sich die wackeren Männer bei Roland und erzählten ihm, daß die von ihm entlarvten Stadtsoldaten inzwischen im Gefängnis ihrem Prozeß entgegensähen. »Werdet ihr sie hängen?« fragte Louis. »Wohl kaum«, war die Antwort, »selbst wenn sie es verdient haben mögen. Wahrscheinlich werden sie ein paar Jahre lang niedere, ungeliebte Arbeiten verrichten müssen. So nützen sie der Gemeinde, die sie so lange betrogen, während ein Gehenkter nur den Krähen und Raben nützt.« Roland schmunzelte über diesen Beweis praktischen Bürgersinns.
Dann ritten sie weiter. Louis führte das Packpferd. Schon in den Gassen hatte es gestürmt. Doch vor den Toren der Stadt empfing sie die Sturmsbraut mit überwältigendem Temperament. Die Dämmerung fiel ein. Dunkle Wolken jagten dahin. Die Bäume bogen sich unter dem Anprall heftiger Böen. Sie ritten nach Süden. Aber es war schwer, die Richtung beizubehalten, so gewaltig wehte es übers freie Feld von Westen her. Pierre biß sich auf die Lippen. Zu klagen war sinnlos. In diesem Tosen der Elemente wäre seine Stimme kläglich untergegangen. Sehnsüchtig blickte er nach fernen Lichtpünktchen aus, die ein Dörflein angekündigt hätten. Vielleicht wäre es sogar in einem Wald ein wenig angenehmer? Schützten Bäume nicht vor heftigen Stürmen? Aber - sagte sich Pierre - heut war es wohl wahrscheinlicher, daß der Sturm Äste und Stämme knickte, sie auf den Reiter warf und ihn erschlug. Unmerklich ließ der Sturm nach. Langsamer wurde der Fluß der Wolken. Schon erreichte ein hastig vorgestoßenes Wort das Ohr des Kameraden. Nicht länger mehr wirbelte der Staub der Felder um die Pferdehufe. Dafür begann ein anderer Wirbel. Schnee! Er fiel nicht als sanfte weiße Flockenpracht. In Bächen, die verwirrende Zickzackkurven beschrieben, stürzte er aus dem schwarzen Himmel, der 200 Klafter tief zu lasten schien. Er biß in die Haut, er näßte die Pferde, er verwirrte den Blick. Dann begann es zu grollen. Von fernher leuchtete es geisterhaft über dem Horizont. Verängstigt murmelte Pierre Gebet um Gebet. Und das Grollen wurde zum Donner, das ferne Leuchten zu blendenden Blitzen, die neben ihnen in den Boden fuhren. Während Schnee in riesigen Mengen sie umhüllte, brach ein tosendes Wintergewitter los. Die Pferde scheuten. Manchmal brachen sie, von einem besonders hellen Blitz zu Tode erschreckt, mehrere Galoppsprünge in seitliche Richtung weg, ehe der Reiter sie wieder in die Hand bekam. Zuweilen sah man im Aufleuchten eines Blitzes noch einen
Kameraden aus der Dunkelheit herausgehoben. Aber meistens war nicht einmal der Hals des eigenen Pferdes zu erkennen. Als die Gewalt des Gewitters gebrochen war, hatten sie einander verloren. Der Schneesturm wütete weiter, und jeder war auf sich allein gestellt. Vergebens blieben- Schreie. Vergebens war angestrengtes Spähen in diese oder jene Richtung. Nie kam Antwort. Nichts war zu sehen als eine graue Finsternis, gebildet aus düsterster Nacht und Unmassen von Schnee. So irrte jeder dahin und wußte nicht einmal, in welcher Richtung er ritt. Immer weiter gerieten sie auseinander. Die Pferde schnaubten. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Die nassen Flanken zitterten. Der Schnee drohte unüberwindlich zu werden. Manchmal brachen sie bis zum Bauch ein. Und als der Flockenwirbel nachließ, kam die Kälte ... * Pierre rief so lange nach den Gefährten, bis er heiser war und keinen Ton mehr herausbrachte. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Vielleicht war er im Kreis geritten? Eine Zeitlang klammerte er sich an diese Vorstellung. Dann mußte er ja früher oder später auf die Mauer der guten Stadt Beauvais stoßen, die ihm jetzt als der Inbegriff aller Wärme und Geborgenheit erschien. Denn die Kälte, die über die schneebedeckte Ebene fiel, machte ihm schwer zu schaffen. Er fror erbärmlich. Viel zu dünn war er bekleidet. Da nützte ihm auch sein leichter Fettpanzer nichts. Mit tausend Klingen schnitt der Frost in seinen Leib, und seine Zähne klapperten wie Schlegel aufs Trommelfell. Über ihm rissen die Wolken auf. Stücke des Himmels wurden sichtbar. Einzelne Sterne flackerten trügerisch. Er erkannte keinen. Keiner war ein Anhaltspunkt für ihn. Er hatte Mühe, die Zügel festzuhalten. Sein Wallach tat ohnehin,
was ihm einfiel. Das Tier war nicht weniger verwirrt als er. Häufig blieb es einfach stehen. Was treibe ich eigentlich hier? fragte sich Pierre. Er zitterte am ganzen Körper und wußte sich nicht mehr zu erinnern, wie er in diese fürchterliche Lage geraten war. Mißmutig rieb er sich die klammen Finger. Selbst zum Beten war er zu schwach. Es war ihm, als trüge er vor dem Gesicht ein undurchdringliches Visier aus dickem, starrem Eis. Als der Wallach sich wieder in Bewegung setzte, konnte Pierre sich nicht mehr im Sattel halten. Sein Körper rutschte unaufhaltsam ab. Er wehrte sich nicht. Er plumpste in den Schnee. Es tat nicht weh. Weicher war er nie gefallen. Plötzlich merkte er, daß die unerträglichen Schmerzen, die Frost, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit ihm bereitet hatten, vergangen waren. Es war schön, so im Schnee zu liegen. Er sehnte sich nicht mehr nach den Mauern von Beauvais. Hier war es doch bequem! Lag er überhaupt auf Schnee? Oder war es ein unermeßlich großes Bett? Gleichviel. Er fühlte sich leicht. So leicht, wie ein dicker Junge sich nirgends sonst fühlen konnte. Und darum wollte er hier auch bleiben. Für immer! Schöner konnte es nirgends sein. Er schloß die Augen. Die eisverkrusteten Lippen verzogen sich zu einem glücklichen Lächeln. Sanft berührte der Tod seine Stirn. * Zu keiner Zeit dachte Louis ans Aufgeben. Er richtete alle Sinne aufs Überleben. Fremd war ihm solch Wetter nicht. Die Räuberjahre im Wald hatten ihn gelehrt, alle möglichen Widernisse zu überleben. Natürlich war es ein großes Glück, daß er das Packpferd bei sich hatte. Es trug Decken, die er ihm bald abnahm. Bevor er eine um sich schlang, breitete er je eine Decke über seine beiden Pferde. Nun
konnten sie der einbrechenden Kälte viel besser trotzen. Als die ersten Sterne aus der unermeßlichen Tiefe des Himmels durch die Wolkenlöcher brachen, pfiff er fast vergnügt vor sich hin. Er sah den unscheinbaren Polarstern, den er im Rücken behalten mußte. Vor sich erblickte er die eindrucksvollen Schultersterne des Orion. Vorwärts! Es galt, keine Zeit zu verlieren. Sie mußten in Bewegung bleiben. Keine Ebene ist unendlich. Irgendwann würde er auf günstigeres Gelände stoßen. Wenn sein Reitpferd Miene machte, stehenzubleiben, sprang er ab und stapfte selber voran. Das tat gut. Es brachte das Blut in Wallung. Bevor er sich wieder in den Sattel schwang, klopfte er den beiden Pferden den Hals, richtete ihre Decken und sprach mit tiefer, beruhigender Stimme auf sie ein. So vermittelte er den Tieren eine Zuversicht, die er selber kaum besaß. Wenn er dann wieder in den Sattel stieg, schritten sie so unbekümmert durch den tiefen Schnee, als kämen sie eben aus dem Stall auf eine grüne Wiese. Allmählich gewöhnten sich die Augen des Knappen an die Umgebung, die zuerst so völlig gleichförmig erschien. Er unterschied kleine Bodenwellen. Er bemerkte hier und da einen kahlen Strauch, der nur noch in erbärmlich wirkender Gebärde die Astspitzen aus dem Schnee reckte. Dann richtete sich Louis jedesmal im Sattel auf, um den Blick aus schmal zusammengezogenen Augenschlitzen über das Gelände schweifen zu lassen. Und er schnupperte. Er sog den Wind ein und prüfte seinen besonderen Duft wie ein Wild. Louis war ein Waldläufer. Seine Instinkte waren so scharf wie die von Hirsch, Luchs, Marder und Wolf. Aber sein Verstand war hundertmal schärfer. Und dieser Verstand sagte ihm plötzlich, von Beobachtung und Geruch angeregt, daß er nur um einen Achtelkreis nach links abzufallen brauche, um auf Wald zu stoßen. Und im Wald würde er diese entsetzliche Nacht, die mit immer grimmiger werdender Kälte
vor ihm lag, überwinden. Dessen war er sich sicher. »Vorwärts, meine munteren Hüpfer!« spornte er die Gäule an, die erwartungsfroh die Ohren spitzten. »Spreizt eure zierlichen Beine, spannt eure mächtigen Muskeln! Vorwärts, jetzt geht es ins gelobte Land!« Und wieder teilte sich die Munterkeit seiner Stimme den Tieren mit. Sie gehorchten ihm, als verstünden sie jedes Wort. Ihm fiel ein Liedchen ein, das er oft von Volker gehört hatte. Und inmitten trostloser Verlassenheit, todesstarrer Kälte und im Banne einer immer größer werdenden Erschöpfung stimmte Louis das Liedchen an: »Weiß wie der Schnee, Still wie der See, Scheu wie das Reh Liebchen, bist du! Aber küsse ich dich, Änderst du dich ... Nicht mehr so lind, Ich dich dann find, Sondern wild wie den Wind ...« Das Liedchen brach ab. Teils weil Louis der Text ausging - teils weil ihm der Frost zu scharf in die Kehle biß. Als der Hustenanfall vorüber war, sagte ihm der nächste Atemzug, daß er dem Wald nun ganz nahe war. Er roch Esche und Buche, Ahorn und Eiche, Tanne und Fichte! Der Wald! Die Rettung! Er würde Reisig sammeln und ein Feuer entfachen. Das größte Feuer, das er je entfacht hatte. Es dauerte nun nicht mehr lange, bis sie den Waldrand erreichten. Louis sprang ab, ergriff den Zügel des Reitpferdes und ging vorsichtig voran. Denn der Boden war schwierig. Umgestürzte Stämme zwangen zu großen Umwegen. Wie leicht konnte sich ein Pferd ein Bein brechen! Darum ließ er beim Weiterschreiten größte Umsicht walten. Tiefer drangen sie ein. Manchmal versank er bis an die Hüften in einem Schneeloch. Dann wieder reichte ihm der Schnee nur bis an die Fußknöchel, und er folgte diesem Wildwechsel so lange er konnte. Große Schneeklumpen lösten sich aus den Baumkronen und fielen ihm und den Pferden klatschend und kalt auf den Kopf und Schultern. Er suchte nach einer Lichtung. Keine einfache Aufgabe, denn je tiefer sie in den Wald eindrangen, um so schwärzer wurde die Nacht. Hierhin drang kein Sternenlicht mehr.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Durch die Stämme flackerte Feuerschein! Er schloß die Augen und schüttelte unwirsch den Kopf. Spukgeister narrten ihn. War es so weit gekommen, daß er Irrlichter sah? Das durfte nicht sein! Wer denen vertraute - das wußte er - war unrettbar verloren. Er zwang sich zur Ruhe und blieb geraume Zeit mit geschlossenen Augen regungslos stehen. Endlich öffnete er die Lider. Es war nicht zu glauben! Noch immer flackerte Feuer, wo nur schwarzer Wald sein durfte. Dreimal wiederholte er sein Manöver, ehe er daran glaubte, was seine Augen ihm mitteilten. Aber erst dann setzte er sich in Bewegung und ging auf das Feuer zu, als der Wind seiner Nase den würzigen Geruch brennenden Holzes zutrug. Tief aufatmend schritt Louis nun auf den Feuerschein zu. Es dauerte viel länger, als er gedacht hatte, denn der Boden wurde mit jedem Schritt unwegsamer. Aber endlich wehte ihm wärmere Luft entgegen ... Einige Schritte noch ... Der Wald öffnete sich. In der Mitte einer großen Lichtung brannte ein Lagerfeuer, wie er es hatte entfachen wollen. Die Scheite prasselten und knackten in der Winternacht. Die Flammen schlugen hoch bis zur halben Höhe der Bäume. Funken stoben. Gluthauch wehte herüber. Zwei Schatten hoben sich vom Feuer ab. Jetzt wuchsen die Schatten und verwandelten sich in zwei menschliche Gestalten. Zwei dick vermummte Gestalten, deren Gesichter nicht zu erkennen waren, starrten ihm entgegen. Louis' Hand fuhr unwillkürlich zum Schwertgriff. Gleich darauf schämte er sich dieser Bewegung. Denn die Männer winkten ihm, ans Feuer zu treten. Einer ging auf ihn zu und rief freundlich: »Komm näher, Fremder! Wärm dich und deine Gäule! Sollst auch ein Schüsselchen voll heißer Suppe haben. Komm! Hier ist es behaglicher.« Louis sah, daß sie den Platz vom Schnee gesäubert hatten. Er stieg vom Pferd und ließ sich zu Boden gleiten. Sogleich spürte er, wie
müde er war. Es war ihm bisher überhaupt nicht zu Bewußtsein gekommen. Dennoch wollte er sofort wieder aufspringen. »Meine Pferde ...«, sagte er matt. »Um die kümmert sich mein Freund«, sagte der eine dickvermummte Fremde. Wirklich begab sich der andere, ohne ein Wort zu äußern, zu den Tieren. Der erste, der Wortführer des Zwiegespanns zu sein schien, fragte indes: »Wer bist du? Und was treibst du hier?« Nach kurzer Überlegung erwiderte der Knappe ausweichend: »Mein Name ist Louis. Ich stehe im Ritterdienst und habe mich verirrt.« »Ich heiße Funkenmann!« erklärte der Fremde nicht ohne Stolz. »Und mein Genosse nennt sich Schiebermann.« Er war sehr gesprächig und setzte Louis ausführlich darüber in Kenntnis, daß sie hier in diesem Teil des Waldes vom Unwetter überrascht worden seien. »Zum Glück fanden wir eine alte, halbverfallene Hütte. Dort verbargen wir uns.« Mit vielen Gesten schilderte er, wie sie während des Gewitters wimmernd am Boden gelegen hatten und mehrmals glaubten, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Viel schauriger rollte der Donner im Wald als auf der Ebene, meinte er. Zudem folgte auf fast jeden betäubenden Donnerschlag das nicht geringer laute Krachen eines vom Blitzschlag gefällten oder durch den Sturm gestürzten Baumes. Louis hörte ihm kaum zu. Wohlig räkelte er sich vor dem Feuer. Doch als er unter dem Einfluß der Wärme das Blut wieder in seine froststarren, bisher gefühllosen Hände und Füße strömte, spürte er nach anfänglich angenehmen Kribbeln so zerreißenden Schmerz, daß er am liebsten laut aufgeschrien hätte. Nach dem Unwetter - berichtete Funkenmann eifrig - hatten es sein Kamerad und er bei der einsetzenden Kälte nicht mehr in der baufälligen Hütte ausgehalten. Sie rissen, was es an losen Balken und Brettern gab, gänzlich herab und errichteten daraus das Lagerfeuer, das sie seitdem ständig mit abgesplitterten Ästen fütterten.
Allmählich ließen die Schmerzen in Louis' Händen und Füßen nach. Die Wärme drückte auf seine Augenlider. Was hatte er auch alles schon durchgemacht! Es war ja nicht allein der lange Ritt. Auch der Kampf mit Lutz von Lutzerath hatte viele Kräfte gekostet. Als Schiebermann, der inzwischen die Pferde abgesattelt, erfrischt und trockengerieben hatte, mit einer Schüssel heißer Suppe kam, war Louis schon fest eingeschlafen. Die beiden Genossen schauten schweigend auf den friedlich schlafenden Knappen. Schließlich ergriff Funkenmann das Wort. Mitleidig sagte er: »Armer Kerl! Sitzt wahrscheinlich das ganze Jahr über in einem behaglichen Burggemach. Kein Wunder, daß er bei der leisesten Anstrengung aus dem Sattel fällt!« * Als Roland sich von seinen Knappen getrennt sah, wußte er gleich, daß jedes Suchen bei diesen entfesselten Naturgewalten sinnlos war. Er tröstete sich damit, daß sie ja früher oder später von allein zusammentreffen würden. Das Ziel - die Burg des Atz von Atzerath kannten sie ja. Wenn er sich Sorgen machte, so nur um seinen kostbaren Araberhengst. Doch Samum ertrug Kälte und Schnee weit besser, als er es bei einem so hochgezüchteten Tier für möglich gehalten hatte. Der Hengst trabte durch den hohen Schnee fast so leichtfüßig wie auf festem Boden. Er war wirklich ein Ausnahmepferd, wie es in jedem Jahrzehnt nur einmal geboren wird! Roland fühlte keine Müdigkeit. Das Wetter focht ihn nicht an. Als Sohn armer Köhlersleute war er von früher Jugend auf daran gewöhnt, die schlimmsten Wechselfälle des Klimas unter freiem Himmel zu ertragen. Kein Blitz ängstigte ihn, kein Donner ließ ihn zusammenzucken. Der wilde Tanz der Schneemassen hatte ihm sogar eine geheime Freude bereitet. Und die folgende grimme Kälte machte seinen Kopf klar, das Gemüt frei und belebte seinen Körper wie ein Bad im frischen Quell.
Er hatte sich vorgenommen, die Burg von Atzerath in zwei statt in den üblichen drei Tagesritten zu erreichen. Und da Samum so willig unter ihm ging wie stets, beschloß er, von diesem Vorhaben nicht abzuweichen. Er wollte die ganze Nacht durchreiten und sich und Samum erst am Morgen drei oder vier Stunden Schlaf gönnen. Zwischen den jagenden Wolken erschien hin und wieder der Mond. In seinem bleichen Licht erblickte Roland weit vor sich dunkle, geduckte Flecken im Schnee. War es ein Waldstück? Oder ein Gehöft? Roland hielt gerade darauf zu. Wenn dort Menschen wohnten, konnte er sich von ihnen vielleicht bestätigen Lassen, daß er noch auf dem richtigen Weg zur Burg von Atzerath war. Samum, der bisher bemerkenswerten Gleichmut bewiesen hatte, wurde plötzlich unruhig. Seine Schritte wurden kürzer. Ein Zittern, das nicht von der Kälte herrührte, durchlief seine Flanken. Irgend etwas flößte dem stolzen Araber Furcht ein. »Ruhig, Samum!« sagte Roland. »Es ist nichts ...« Der Hengst war aus dem Trab in einen zögernden, fast stolpernden Schritt verfallen. Alle Versuche des Ritters, ihn aufzumuntern, schlugen fehl. Samum benahm sich widerborstig, bockte und brach mehrmals zur Seite weg. »Samum!« rief Roland ärgerlich. Aber da sein stolzes Pferd noch nie ein solches Verhalten an den Tag gelegt hatte, widerstand er der Versuchung, es zu strafen. »Komm, sei ein guter Kerl! Geh, geh!« Doch nun blieb Samum, am ganzen Körper zitternd, endgültig stehen. »Nun, wenn du es nicht anders willst...« Roland stieg ab. Er klopfte Samum den Hals, zog sein Schwert und ging zu Fuß weiter. Die Augen hielt er unverwandt auf die rätselhaften dunklen Flecke in der eintönig weißen Landschaft gerichtet, die ein Gemäuer, ein Gehölz, ja sogar eine Tierherde sein konnten. Im Ungewissen Licht dieser stürmischen Nacht erlangte auch das schärfste Auge keine Gewißheit.
Unheilverkündend knirschte der Schnee unter Rolands Füßen. Der Ritter ruckte an Samums Zügel. Aber der Hengst wollte ihm nicht mehr folgen. Er stemmte sich mit den Vorderbeinen gegen den Boden und gab keinen Fußbreit nach. Da ließ Roland den Zügel los und schritt allein weiter. Nach zehn Schritten blieb er stehen, um zu lauschen. Der Wind fuhr mit schaurigem Singen durch die aufgehäuften Schneehügel. Nachtvögel stießen unheimliche, klagende Töne aus. In der Ferne heulte ein Tier. Ein Hund? Oder ein Wolf? Was waren das für Bewegungen vor ihm? »Holla!« rief Roland laut. »Ist da jemand?« Es dünkte Roland, als bekomme er Antwort. Sie klang hohl und war kaum zu verstehen. Da merkte er, daß es das Echo seiner eigenen Worte war. Noch mehrmals wiederholte er den Ruf. Jedesmal antwortete ihm nur sein Echo. Da faßte er sein Schwert fester und ging ohne weiteres Zögern auf die geheimnisvollen dunklen Flecken in der weißen Einöde zu. Beim sechsten Schritt wankte der Boden unter ihm! Ringsum krachte und polterte es. Entsetzt wollte Roland zurückspringen. Aber es war schon zu spät. Sein Fuß fand keinen Halt mehr. Die Erde gab nach. Wie durch Zauberei versank Roland im Boden. Er warf die Arme zur Seite und den Kopf nach hinten. Aber da verschwand schon der Himmel mit den gezackten Wolken und den matten Sternen vor seinen Augen. Roland stürzte unwiderruflich ins Leere. Eine Ewigkeit schien dieser Sturz ins Innere der Erde zu dauern. Dann war er jäh zu Ende. Mit furchtbarer Wucht schlug Roland in der Tiefe auf, und sein Bewußtsein verlöschte auf der Stelle. * Anni Beauvais, die Tochter des Bürgermeisters, trat rasch in den
Raum, in dem der leicht verwundete Hein ruhte. »Bist du wach, Kleiner?« Er schlug entrüstet die hellen Augen auf. »Schon wieder ist ein Ritter gekommen«, sagte sie. »Soll ein berühmter Sänger sein. Nennt sich Volker vom Hohentwiel. Er will dich sprechen.« »Bitte ihn herein!« forderte Hein sie streng auf. »Gleich, gleich! Nur nicht so ungestüm! Meine drei Schwestern sind bei ihm. Sie himmeln seine romantischen schwarzen Locken, den frech gezwirbelten Schnurrbart und seine munteren grünen Augen an. Ich weiß nicht - mir gefällt er nicht so besonders ...« »Ich sagte: bitte ihn herein!« unterbrach sie der Verwundete und hob drohend den verbundenen Arm. Seine Unterredung mit Volker war von kurzer Dauer. Sobald der Sänger vernommen hatte, daß Roland ihn auf Burg Atzerath erwarte, sprang er auf und wollte davoneilen. Doch schließlich hörte er sich noch Heins Bericht über Rolands Abenteuer in Beauvais an. Dann fragte er kurz: »Willst du mich begleiten?« »Ich fühle mich noch zu schwach«, sagte Hein. »Meine Armwunde...« Doch Volker war schon aus der Tür, Eine Stunde später kam Anni erneut zu dem Knappen. »Meine Schwestern weinen herzzerreißend«, berichtete sie herablassend. »Und warum? Nur weil dieser Lockenkopf mit der Fiedel auf dem Rücken uns schon wieder verließ! Beim Himmel, was sie nur an ihm finden! Gegen Roland verblaßt er - wie alle!« »Ja, Roland«, seufzte Hein. »Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?« fragte Anni eifrig. Der Knappe war nicht sonderlich begierig auf die Geheimnisse der Bürgermeisterstochter, aber da er sich ein wenig langweilte, ermunterte er sie, ihm ihr Herz auszuschütten. Ohne weiteres platzte sie heraus: »Ritter Roland liebt mich.« Hein richtete sich auf. »Du lügst!« Ohne seinen heftigen Einwand zu beachten, fuhr Anni
schwärmerisch fort: »Gleich am ersten Abend gestand er mir seine Gefühle. Es geschah, als ich ihn im Zuber mit heißem Wasser badete. Oh, er hat einen herrlichen Körper, dein Ritter! Ich versah mich keines Bösen, da umarmte er mich plötzlich und flüsterte mir Worte ins Ohr! Worte, sag' ich dir! Oh, was für Worte er raunte! Ich wette, du kennst derlei Worte nicht einmal! So feurig war er, daß fast der Zuber umgestürzt wäre!« »Ich glaube dir kein Wort«, flüsterte Hein. »Nun«, sagte Anni lachend, »das liegt ja nur daran, daß du Milchbart überhaupt nichts von der Liebe verstehst. Womöglich hast du noch nie mit einem Mädchen das Lager geteilt. Nun?« Verlegen wendete Hein den Kopf ab. Triumphierend schloß Anni ihren Bericht: »Da ist dein Ritter Roland aus anderem Holz, mein Lieber! Er nahm sich nach dem aufregenden Bad kaum die Zeit zum Abtrocknen. So eilig hatte er es, in meine Kammer zu kommen, die er erst nach dem dritten Hahnenschrei verließ. Ach, was weißt denn du, du ...« Anni suchte nach einem Wort, in das sie ihre ganze Überlegenheit verpacken konnte: »... du jugendlicher Jüngling!« Den Kopf hoch erhoben, rauschte sie stolz zur Tür hinaus. Hein blieb unbeweglich liegen. Er war fast völlig unter der Bettdecke verschwunden. Manchmal bewegten sich seine blassen Lippen und formten den Satz: »Sie lügt ja ...« Plötzlich warf er das Bettzeug von sich, sprang auf und kleidete sich in Windeseile an. Er raffte seine Waffen und die wenigen anderen Habseligkeiten zusammen, die er besaß, fand den Weg zum Stall, band seinen kleinen Grauen los, saß auf und ritt, ohne nach rechts oder links zu sehen, zum Stadttor. Dort erfuhr er auf Befragen, daß Ritter Volker vom Hohentwiel die Stadt erst vor kurzer Zeit auf dem gleichen Weg verlassen hatte. Heute hatten die Lohgerber die Wache übernommen, und statt nach Zuckerwerk roch es nach herberen Düften, so daß sich Hein verstohlen die Nase zuhielt. Der Wachhabende spähte über die verschneite Ebene, über der sich
ein klarer Winterhimmel spannte. Schließlich machte er in der Ferne einen winzigen schwarzen Punkt aus und erklärte mit großer Bestimmtheit: »Dort, junger Herr, dort reitet Volker vom Hohentwiel!« Noch nie hatte sich der kleine Graue so anstrengen müssen wie an diesem Tage. Unerbittlich trieb Hein ihn an. So war noch keine Stunde vergangen, als Volker hinter sich Rufe hörte. Er hielt an und wartete geduldig, bis Hein mit flatternden Haaren und geröteten Wangen herangaloppiert kam. In seinen hellen Augen leuchtete ein kecker Mut. »Welch Glück, daß ich Euch noch einholte, Herr!« rief Hein. »Sonst wärt Ihr womöglich mutterseelenallein nach Atzerath und ins Verderben geritten.« »Was für ein Verderben?« fragte Volker verwundert. »Ich traue diesem Atz jede Scheußlichkeit zu«, versetzte Hein mit wissendem Gesichtsausdruck. »Nehmt mich zum Knappen, Herr, und es wird Euch niemand zu nahe treten!« »Aber vor kurzem fühltest du dich noch zu matt zum Aufstehen und klagtest über Schmerzen in deiner Armwunde ...« »... die ich empfing, als ich Euren Freund Roland aus den Händen mordgieriger Banditen rettete!« rief Hein voller Stolz. »Es ist wahr, manch anderer würde solche Wunde noch wochenlang pflegen. Aber Ihr müßt wissen, ein Rauhbein und Draufgänger, wie ich es bin, den hält es nicht daheim, wenn er weiß, daß Ritter zu Abenteuern aufbrechen.« Zweifelnd betrachtete Volker die schmale Gestalt des Jungen. »Deine Rede klingt mutig, aber ich fürchte, daß dein Anblick keinem Gegner Schrecken einflößt.« »Um so besser! So wird er mich unterschätzen und um so gewisser in die Grube fahren, wenn meine Klinge ihn überrascht. Nehmt mich mit, Ritter, Ihr werdet mich doch nicht los!« Volker hatte auf seinen zahllosen Fahrten schon die seltsamsten Vögel kennengelernt und hatte deshalb ein weites Herz auch für absonderliche Gesellen. Lachend fragte er: »Kannst du singen,
Knappe Hein?« »Ja, Herr. Vor allem Eure Lieder.« Und er sang glockenrein ein paar wohlbekannte Verse: »Weiß wie der Schnee, Still wie der See, Scheu wie das Reh, Liebste, bist du!« Volker nickte zufrieden. »Bleibe bei mir! Du kannst gut die zweite Stimme übernehmen. So werden wir uns also unterwegs die Zeit mit Chorgesang vertreiben!« »Einverstanden, Ritter. Aber auch wenn Ihr anders entschieden hättet, wärt Ihr mich nicht losgeworden. Ein Raufbold wie ich ist von niemandem zu bändigen!« * Roland erwachte. Alles war in ein Ungewisses Graulicht getaucht. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Seine letzte Erinnerung war dieser furchtbare Sturz. Noch dröhnte ihm der Kopf. Er wagte kaum, sich zu bewegen. Alle Knochen im Leibe taten ihm weh. Erst als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, konnte er sich ein Bild der Umgebung machen. Er lag auf dem Grund einer wohl sechs Klafter tiefen Grube, deren Seitenwände senkrecht in die Höhe wuchsen. Oben war die Grube mit Latten und ineinander verwobenem Flechtwerk aus Laub und Zweigen kunstvoll abgedeckt. Nur gerade über ihm war ein unregelmäßig gezacktes Loch, durch das etwas Tageslicht sickerte. Dieses Loch hatte er bei seinem Sturz gerissen! Ihn schauderte. Er mußte dem Schicksal dankbar sein, daß er den Fall in solche Tiefe lebend überstanden hatte. Und dennoch war es kein Wunder. Es war in Wirklichkeit eine natürliche Folge seiner unermüdlichen Übungen bei den täglichen, stundenlang währenden Ritterspielen auf Schloß Camelot. Jeden Teil eines echten Turnierkampfs hatte er da wieder und wieder geprobt - nicht zuletzt das Fallen von dem in vollem Galopp dahinjagenden Pferd.
Trotzdem hatte er Glück gehabt! Denn jetzt erkannte er, daß in unregelmäßigen Abständen ein Klafter lange, oben zugespitzte Pfähle aus dem Grund ragten. Wäre er auf einen gefallen, so hätte er einen grauenvollen Tod erlitten! Und der nächste Pfahl war nur einen halben Schritt entfernt ... Bei dieser Vorstellung drehte sich Roland der Magen um. Er brach alles heraus, was er in den letzten 24 Stunden zu sich genommen hatte. Einem anderen Wesen war es schlimmer ergangen als ihm. Gegenüber hing der Kadaver eines gepfählten Wolfes! Nun begriff Roland auch, wovor Samum gescheut hatte. Der Hengst hatte den Wolf gewittert... In diesem Augenblick gab sich Roland das Versprechen, in Zukunft den Instinkten seines treuen Pferdes zu vertrauen. Aber hatte er überhaupt noch eine Zukunft? Aus eigener Kraft konnte er diese Grube nie verlassen. Die senkrechten Wände waren unersteigbar. Es sei denn, er hätte ein Werkzeug. Roland überlegte. Vielleicht gelang es ihm, einen Pfahl aus dem Boden zu reißen und mit seiner Hilfe Stufen in die Wand zu bohren? Aber wie sollte er das ungefüge Werkzeug handhaben, sobald er einmal den festen Grund verlassen hatte und in der Wand hing? Ein Schauer überlief ihn. Plötzlich hörte er Geräusche von oben. Es wurde merklich heller. Dort, wo an der gegenüberliegenden Ecke zwei Wände im rechten Winkel aufeinanderstießen, riß eine unsichtbare Hand ein Stück der Auflage ab. Gespannt richtete Roland die Augen auf diese Stelle. Durch die neugeschaffene Öffnung wurde jetzt eine rohgezimmerte Leiter herabgelassen. Als sie fest auf dem Boden stand, reichte sie mit dem oberen Ende noch zur Öffnung hinaus. Eine Weile geschah nun gar nichts. Dann schoben sich lange, in Fellhosen gekleidete Beine in Rolands Blickfeld. Sie stiegen die Sprossen hinab, die weit auseinanderlagen. Ein kräftiger Körper folgte. Bedächtig kam ein Mann herunter. Er war von Kopf bis Fuß in Lammfell gekleidet.
Unten wandte der Mann Roland sein Gesicht zu. Es war knochig und wirkte wie aus Holz. Unter den buschigen Brauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren, lagen die Augen tief in den Höhlen. Die Wangen waren eingefallen. Der Mund saß schief. Der Mann hatte nur ein Ohr. Das andere hatte er vor Jahren im Kampf mit einem Wolf verloren. Der Mann hieß Klopper und war ein Gutsherr von grausamer Gemütsart. Doch stand er als Lehnsmann in hohem Ansehen bei dem Ritter Atz von Atzerath, dem er zur vertraglich festgelegten Abgabe stets ein gutes Aufgeld zahlte. Dafür konnte Klopper auf seinem Grund und Boden schalten und walten, wie er wollte. In der Grube, die wirklich ursprünglich nur als Wolfsfalle gedacht war, hatte er im vergangenen Winter bereits zwei Männer gefangen und sie, nachdem er sie all ihrer Habe beraubt hatte, grausam ermordet. Nichts anderes hatte er mit Roland im Sinn. Nur dem Umstand, daß er in dessen Taschen keinerlei Münze gefunden hatte, verdankte es Roland, daß er noch atmete. Kloppers Stimme war rauh wie ein ungehobeltes Brett: »Bist du endlich aufgewacht, Hans?« Roland schluckte. Dann antwortete er mit Würde: »Du scheinst mich zu verwechseln. Ich heiße Roland!« Klopper lachte. Es klang, als krächze ein Schwarm Raben. »Jeden meiner Knechte nenne ich Hans. Merk dir das!« »Ich bin nicht dein Knecht, Bauer! Ich bin ein Ritter und werde dich lehren ...« Klopper schnitt ihm das Wort ab. »Vielleicht warst du einer, bevor du dich erfrechtest, meinen Hof zu überfallen, und dabei in diese Wolfsgrube fielst. Du mußt reich sein. Das sah ich an deinem Pferd, das jetzt in meinem Stall steht. Ein Ritter, der sich einen Solchen edlen Araber leisten kann, führt mindestens 500 Dukaten mit sich.« Roland lachte bitter auf. Sein ganzes Besitztum bestand aus 46 Dukaten, die in der Satteltasche des Packpferds untergebracht waren. »Hör zu, Hans!« schepperte Kloppers rauhe Stimme. »Ich bin ein guter, weichherziger Mensch, wie du ihn auf 100 Meilen in der
Runde nicht noch einmal finden wirst. Deshalb töte ich dich nicht, wie es mein Recht wäre. Da schau dir den Wolf an! Du hast das gleiche Schicksal verdient. Doch gib mir freiwillig deine 500 Dukaten, und du sollst frei sein. Du mußt sie gut versteckt haben, Hans, sonst hätte ich sie in deinen Taschen gefunden, als du wie tot dalagst.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, holte der Mann, der nur ein Ohr hatte, eine lange Pferdepeitsche hinter dem Rücken hervor und schlug damit auf Roland ein. Der wäre unfehlbar getroffen worden, hätte er sich nicht rechtzeitig zur Seite gerollt. Nun ist es genug - dacht er - wälzte sich herum und wollte aufspringen. Aber er sank kraftlos zurück. Erst in diesem Augenblick merkte Roland, daß er an Händen und Füßen mit derben Stricken gefesselt war! Der Mann lachte sein mißtönendes Rabengelächter. »Nun, Hans, entscheide dich! Sag mir, wo deine Dukaten sind! Oder ich prügle dich durch und schicke dich dann zur Feldarbeit. Immer in Fesseln, versteht sich. Ich bin die Milde und Güte in Person, das sagt man auf 100 Meilen im Umkreis. Aber so ein verstockter Kerl wie du bringt das sanfteste Gemüt in Wallung.« Während er sprach, hatte Roland sich auf den Bauch gewälzt. Trotz der Fesseln brachte er es fertig, ungesehen von Klopper, seine rechte Hand durch den offenen Hosenschlitz an die Innenseite des Oberschenkels zu führen. Hier hatte er für den Notfall ein kleines, scharfes Messer mit Scheide durch einen dünnen Lederriemen befestigt. Zu seiner ungeheuren Erleichterung stellte er fest, daß der geldgierige Klopper es bei seiner Durchsuchung übersehen hatte. So scharf war er hinter den Dukaten hergewesen! In fliegender Eile zog Roland das Messerchen heraus und zersäbelte die Stricke. Schon zischte die Peitschenschnur wieder durch die Luft, und diesmal fand sie ihr Ziel. Glühende Zangen bissen in Rolands Rücken.
Er sprang auf. Die Stricke fielen herab. In seiner Hand verborgen ruhte das Messerchen. Klopper brüllte wutentbrannt. Es war ihm unerklärlich, wie Roland sich von den Fesseln befreien konnte. Doch er faßte sich schnell und schlug ohne Ansatz wieder zu. Der Gutsherr war ein Meister im Umgang mit der Peitsche. Die lederne Schnur traf haargenau Rolands Handgelenk. Der Schmerz war so furchtbar, daß er das Messerchen fallen lassen mußte. Und wieder wirbelte die Peitsche! Da ergriff Roland die Flucht. Von Pfahl zu Pfahl sprang er, während die wütenden Schmerzen in Rücken und Hand ihm die Tränen in die Augen trieben. Wie Raubtiere im Käfig schlichen die beiden Männer zwischen den Pfählen umher. Roland hatte alle Sinne gespannt. Er ahnte hellsichtig den Zeitpunkt, wann er den nächsten Sprung wagen durfte. Dreimal ging es gut. Jedesmal kam er der rettenden Leiter ein kleines Stück näher. Jetzt trennten ihn nur noch zwei Klafter von ihr. Im Geist sah er sich schon hinaufklettern ... Da verlegten ihm ein paar klatschende Peitschenhiebe den Weg. »Ich weiß genau, was du vorhast, Hans!« rief Klopper überlegen. »An die Leiter kommst du nie!« Und er lachte krächzend. Roland gab den Plan auf. Er mußte Neues ersinnen. Sein Entschluß war schnell gefaßt. Nur vier Schritte trennten ihn von Klopper. Der schlich noch näher heran. Die Peitsche wippte in seiner Hand. Sein verbliebenes Ohr glühte. Roland stieß sich kräftig ab, flog ihm dicht über dem Boden mit vorgestreckten Armen entgegen und umfaßte seine Knie, während er mit der Schulter die Hüfte des Gegners traf. Klopper verlor das Gleichgewicht und stürzte hintenüber. Im nächsten Augenblick wälzten sich beide übereinander. Keuchender Männeratem. Heiseres Stöhnen. Schmerzensschreie.
Dumpfer Klang, wenn sie im wilden Ringkampf mit den Körpern gegen einen Pfahl prallten. Schließlich gewann Roland die Oberhand. Klopper lag besiegt unter ihm. Er konnte die Peitschenhand nicht rühren. Wütend spuckte er Roland ins Gesicht. »Ergib dich!« rief der Ritter. Klopper gab nicht nach. Auf alle Arten versuchte er, Roland abzuschütteln. Noch hielt ihn der Ritter allein durch sein Gewicht fest. Aber er merkte, daß ihn die Kräfte verließen. Der nächtliche Tiefensturz und die nachfolgende stundenlange Fesselung hatten ihn mürbe gemacht. Tausend Trommeln lärmten in seinem Schädel. Die Muskeln wurden ihm schlaff. Da half kein Aufbäumen. Seine Gegenwehr wurde schwächer. Es war das Werk eines Augenblicks, und die Lose waren vertauscht. Erschöpft lag Roland auf dem Rücken und blickte erbittert in das wutverzerrte Gesicht seines Bezwingers. Nie im Leben würde er den unmenschlichen Blick aus den kleinen, falschen Augen vergessen! Nie den Anblick des hölzernen Peitschenstiels, mit dem Klopper vor seiner Nase herumfuchtelte. Nie diese von Gier triefende, böse Stimme: »Die Dukaten her, Hans!« Roland war am Ende. Und er hatte Haggan noch nicht einmal aufgespürt! Scham erfüllte ihn wegen seines Versagens. Da fühlte er eine schmale, harte Erhöhung unter der rechten Hüfte. Es war das Messerchen! Vorsichtig tastete er danach, während jäh Hoffnung in ihm aufflammte. Er packte zu und stach von unten auf den triumphierenden Gegner ein. Mühevoll drang die schmale Klinge durch das dicke Lammfell. Dann war ihr Weg schon fast beendet. Kaum einen Zoll tief bohrte sie sich in Kloppers Oberarm. Aber der siegessichere Gutsherr erschrak bei dem unerwarteten Schmerz so sehr, daß er aufsprang und wie von Sinnen zur Leiter rannte. Sogar die Peitsche ließ er in seiner Verwirrung liegen und klamm hastig die Sprossen empor. Roland wäre gern liegengeblieben, um sich ein wenig auszuruhen.
Aber er blieb dem anderen dicht auf den Fersen. Der hätte sonst, kaum oben angelangt, die Leiter hochgezogen, und wieder wäre ihm Roland auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen. Dennoch war Roland erst in der Mitte der Leiter angekommen, als Klopper schon zur Grube hinauskroch. Oben drehte er sich blitzschnell um, ergriff die Holmenden und drückte sie von sich weg. Er wollte die Leiter samt Roland umstürzen. Roland kletterte wie ein Besessener. Um den rechten Holm wand er sich zur Wandseite der Leiter. So verhinderte sein Gewicht vorerst das Umstürzen. Nur noch ein Klafter, und er war oben! Doch nun schob Klopper aus Leibeskräften. Die Leiter neigte sich. Von Haß erfüllt, hing Kipper schon halben Leibes über der Grube und drückte die Holme weiter von sich. Dann gab er ihr den entscheidenden Stoß. Im gleichen Augenblick ließ Roland los und sprang in die Höhe. Trotz seiner Erschöpfung konnte er mit den Fingerspitzen den oberen Grubenrand erreichen. Blitzartig fuhr ihm sein Königssprung bei den Wikingern durch den Kopf. Bange Augenblicke lang hing Roland in der Schwebe. Dann zog er sich unendlich langsam hoch. Zoll um Zoll näherte sich sein Kopf dem Grubenrand. Da brach der Sand unter seinen Fingern weg! Die Linke rutschte ab. Roland hing nur noch an einem Arm, während sein Körper frei in der Luft pendelte. Unter sich sah er die zugespitzten Pfähle. Er raffte die letzten Kräfte zusammen. An einem Arm hängend, holte er Schwung und warf die Beine nach oben. Sein linker Fuß verhakte sich an der rettenden Kante. Dann stemmte er den Körper hoch. Als er schweratmend, aber in Sicherheit oben lag, hörte er hinter sich die Leiter in die Grube plumpsen. Gleich darauf folgte ein entsetzlicher Schrei, der wie abgerissen verstummte. Im Liegen wandte Roland den Kopf und schaute in die Tiefe.
Es war ein grauenhaftes Bild. In seiner blinden Vernichtungswut hatte Klopper die Holme ein wenig zu spät losgelassen. Er bekam Übergewicht und stürzte selber nach unten. Genau in einen der von ihm scharf zugespitzten Pfähle! So fand Klopper den Tod, den er Roland zugedacht hatte. Schweißgetränkt kam der junge Ritter auf die Beine, wandte der schrecklichen Grube den Rücken und machte auf müden Beinen ein paar schwere Schritte auf das Gehöft zu. Und sah sich fünf Bauern gegenüber, die mit Dreschflegeln, Knüppeln und Peitschen auf ihn losgingen! Ihre finsteren Mienen ließen keinen Zweifel darüber, daß sie ihn erschlagen wollten. Roland dachte an Flucht. Aber wohin sollte er fliehen? Hinter ihm gähnte die Wolfsfalle, die zur Todesfalle geworden war. Blieb nur die Flucht nach vorn. Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob er die Hand wie zum Gruß. »Männer«, sagte er mit klarer Stimme, »was wollt ihr von mir?« Dabei musterte er einen nach dem anderen. Nur auf dem ersten Blick sahen sie gleich aus: ungepflegt, abgerissen, mit strubbligem Haar und schmutzigen Gesichtern. Doch bald erkannte er Unterschiede. Zwei Männer fielen ihm besonders auf. Der Hagere am rechten Flügel hinkte und hatte einen unsteten Blick. In der Mitte stand, zwei Schritte vor allen anderen, ein Vierschrötiger mit tiefen Falten zwischen Augen und Mund und rötlichem Backenbart. Roland hielt ihn für den Anführer. Er hatte sich nicht getäuscht. Der Rote war es, der ihm antwortete. Er sagte: »Wir wollen dir danken, Fremder. Du hast uns von einem strengen Gutsherrn erlöst, der uns schuften und hungern ließ, der uns piesackte und schlechter behandelte als sein Vieh. Seit Jahren waren wir ihm Untertan und hatten schon alle Hoffnung aufgegeben. Keiner von uns weiß noch seinen eigenen Namen, denn er nannte jeden verächtlich Hans. Noch einmal: Dank, Fremder!« Roland atmete tief durch. Mit freundlicher Geste streckte er dem Sprecher die Hand hin. Doch der schüttelte finster den Kopf. »Wir haben unsere Pflicht
erfüllt, Fremder, und dir gedankt, wie es uns zustand. Das ist nun abgetan und vergessen. Jetzt werden wir dich totschlagen.« »Aber warum?« »Weil du 500 Dukaten bei dir führst. Wir haben es vorhin alle gehört. Und weil wir hier nicht bleiben können. Sowie Ritter Atz von Kloppers Tod erfährt, wird er uns einen neuen Lehnsmann schicken, der vielleicht noch strenger ist als der verblichene Klopper. Deshalb müssen wir so weit von diesem verfluchten Ort fliehen, wie es nur geht. Ohne Geld kommen wir nicht weit, und man würde uns nur wieder einfangen. Du hast 500 Dukaten. Das sind für jeden von uns 100. Damit läßt es sich weit gehen und lange leben.« Roland erkannte, daß es sinnlos gewesen wäre, ihm zu versichern daß er kein Geld bei sich trug. Sie würden ihm ebensowenig glauben wie vorher Klopper. »Gut«, sagte er laut. »Dann werden wir eben kämpfen!« Die fünf Männer stießen wilde Schreie aus und rückten näher. »Aber nicht so!« fuhr Roland fort. »Fünf Bewaffnete gegen einen mit leeren Händen! So kämpfen Memmen, aber keine Männer. Gebt mir eine Waffe von jener Art, wie ihr sie führt - und ich bin bereit! Aber ich denke, ihr seid ehrliche Leute und werdet einzeln gegen mich antreten ...« »Spar deinen Atem!« unterbrach ihn der Rote. »Bewaffnet und im Einzelkampf bist du uns überlegen. Sonst hättest du Klopper nicht erledigen können. Kämpfen wir also ehrlich, werden wir es einer nach dem anderen mit dem Leben bezahlen. Nein, Fremder. Lieber wollen wir feige Memmen sein, vor denen jeder ehrliche Mann verächtlich ausspeit, wenn wir dich dadurch überwinden und dich von den Dukaten befreien können!« Die anderen stimmten ihm lauthals zu und machten sich gegenseitig Mut. Jetzt oder nie! dachte Roland. Die Aufmerksamkeit der Männer war vorübergehend abgelenkt. Während sie noch miteinander sprachen, lief er auf den Anführer los. Der sah ihn kommen. Sein Gesicht war entschlossen. Er schwang den riesigen Dreschflegel.
Bis auf drei Klafter näherte sich Roland. Dann bog er unvermittelt nach rechts ab und sprang den hinkenden Hageren an. Roland hatte den Mann richtig eingeschätzt. Er hatte überhaupt keine Lust, sich zur Wehr zu setzen, und versuchte wegzurennen. Roland entriß ihm die Keule und stieß ihn zurück. Der Mann warf sich zu Boden, zog sich die Jacke über den Kopf und erwartete winselnd den tödlichen Schlag. Doch Roland fiel schon knüppelschwingend über den nächsten her. Die Überraschung benahm den Männern den Atem. Auch dieser Mann mußte seinen Knüppel loslassen. Brüllend landete er auf dem Rücken. Der dritte verlor jeden Mut. Er rannte davon, bevor Roland ihm nahe kam. Schon war er hinter der Ecke des Gehöfts verschwunden. Nun waren nur noch zwei Männer übrig, der Rotbart und ein ebenso stämmiger Glatzkopf. Mit unartikuliertem Schrei stürzten sich die beiden auf Roland. Doch im Übereifer behinderten sie sich gegenseitig. Ehe die Dreschflegel Roland treffen konnten, waren sie ineinander verhakt. Während die beiden noch mit den vorübergehend unbrauchbaren Waffen herumfuchtelten, trat Roland mit erhobenem Knüppel dicht vor sie hin. »Laßt die Waffen fallen und schert euch weg!« befahl er. Der Glatzkopf gehorchte. Nun trug der Rotbart das Gewicht beider Dreschflegel. Er schien zu wanken. In Wirklichkeit aber holte er zum Wurf aus. Gleich darauf traf das Doppelgerät Roland mit großer Wucht vor die Brust. Der Himmel verrutschte. Roland brach zusammen, während ihm der Knüppel entglitt. Sterne tanzten am hellen Tag. Die vorhergegangenen Anstrengungen hatten seine letzten Kraftreserven erschöpft. Die Sinne vergingen ihm. Mit einem tierischen Schrei hob der Rote die Keule auf. Da erscholl hinter ihm eine Stimme: »Nun ist es genug! Laß den Mann am Leben!« Der Rote fuhr herum. Er sah einen Reiter hoch zu Pferd vor sich, stieß einen Schrei aus, ließ alles fallen, was er in den Händen hielt,
und rannte davon, so schnell ihn seine Füße trugen. In diesem Augenblick erwachte Roland. Verschwommen sah er den Reiter, der ihn vor Ungewissem Los bewahrt hatte. In seinem geschwächten Zustand sah er nur ein gebräuntes Gesicht und schwarzes Haar. Volker vom Hohentwiel, dachte Roland. Mein Freund ist da! Dann versank er wieder in die wolkigen Schwaden der Bewußtlosigkeit. * Rolands sonst so scharfer Blick hatte ihn getrogen. In seinem jämmerlichen Zustand täuschte ihn das volle dunkle Haar des Reiters. Der Mann, der dem Roten Einhalt geboten hatte, war nicht sein Freund Volker vom Hohentwiel. Es war Haggan, den man im Lande den Gräßlichen nannte. Haggan, der Schänder seiner Schwägerin Griseldis, der Mörder seines Bruders Jorn. Haggan, der nach König Artus' Worten stärker als der grimme Bär war, brutaler als der rasche Blitz, gemeiner als die tückische Schlange und reißender als die hungrigen Wölfe, die er im Wappen führte. Haggan, der Mann, der Artus den Kopf mitsamt der Krone von den Schultern reißen wollte! Er ritt auf einem robusten Schimmel, den er bei einem Scharmützel einem fahrenden Ritter abgenommen hatte. Auf dem Fuchshengst, den er zuerst geritten, saß jetzt sein grauhaariger Vertrauter Trumm. Der Hüne ritt heran und sagte tadelnd: »Ich begreife Euch nicht, Herr! Es ist doch sonst nicht Eure Art, dem Schicksal in den Arm zu greifen!« »Recht hast du, Trumm«, entgegnete Haggan und musterte den kraftlos dahingestreckten Roland. »Mir gefiel die Art, wie dieser Bursche da fünf Männer auf einmal angriff. Ich glaube, in ihm ein würdiges Mitglied meiner Bande zu finden. Aber da ich ihn aus der Nähe sehe, fürchte ich, mich geirrt zu haben.« Trumm sah verachtungsvoll auf Roland hinab. »In diesen glatten
Zügen hat kein Laster seine Spuren hinterlassen. Er taugt eher zum Vasallen des Königs als zum Mitglied unserer Bande. Ich hätte nicht übel Lust, den Rotbart zurückzurufen, damit er seinen Mord vollende.« »Laß es sein!« gebot Haggan. »Er scheint sowieso am Verrecken. Uns wird dieser Jüngling nie gefährlich werden, und hätte er doppelt soviel Mut, als er ihn hier zeigte. Oh, Trumm, ich habe ein mächtiges Verlangen, meine wilden Kerle wiederzusehen! Wie ich sie kenne, haben sie inzwischen unsere Kriegskasse bis auf den letzten Groschen geplündert, die Weinkeller des Atz von Atzerath, meines lieben Freundes, leergesoffen und seinem Weibervolk nachgestellt. Die Burg ist nicht mehr fern. Vorwärts, Trumm, wir reiten!« * Warmer Atem blies Roland ins Gesicht. Weiche Haut kitzelte seine Wangen. Er warf sich herum. Langsam schlug er die Augen auf. Samum war es, sein treuer Hengst, der seinen edlen Kopf an seines Herrn Wange rieb. Roland fühlte sich frisch wie nach einem langen Schlaf. Er griff nach dem herabhängenden Zügel und zog sich in die Höhe. Sein Kopf war klar. Noch stand die Sonne am Himmel. Schnee gleißte. Er tätschelte dem Pferd den Hals. Samum schnaubte leise. Nicht weit entfernt standen vier der Männer, mit denen er sich geschlagen hatte. Die Männer, die ihre eigenen Namen nicht mehr kannten, weil sie ein grausamer Gutsherr als Sklaven behandelt und unterschiedslos jeden Hans genannt hatte. Sie hatten sich kaum verändert. Noch immer trugen sie abgerissene Kleider, hatten strubblige Haare und schmutzige Gesichter. Aber ihre Hände waren jetzt leer und ihre Blicke eher freundlich. Mit einem Schlag fiel Roland wieder ein, was geschehen war, bevor er besinnungslos wurde. War es wirklich Volker, der ihn gerettet hatte? Oder hatte ihm sein ermattetes Auge einen Streich gespielt?
Da trat der Rotbart einen Schritt vor. »Gott sei Dank, daß Ihr lebt und bei Kräften seid, Herr«, sagte er in ehrerbietigem, fast demütigem Ton. »Verzeiht uns, daß wir Euch Böses wollten! Die lange Knechtschaft hat unsere Herzen verhärtet und unseren Geist verwirrt. Nicht aus eigenem Antrieb gingen wir Euch ans Fell. Jemand hetzte uns auf. Als Ihr leblos zu Boden sankt, taten wir alles, um Euch wiederzubeleben. Wir rieben Eure Stirn mit Schnee ab. Wir massierten Eure Brust und die Gelenke. Nichts half. Dann entdeckten wir Euren edlen Hengst in Kloppers Stall und Eure Waffen in seiner Stube und ahnten, daß Ihr ein großmächtiger Ritter sein müßt. Wir führten den Hengst zu Euch, und er vollbrachte das Wunder. Noch einmal, Herr: verzeiht uns armen Hansen!« »Wo ist der Ritter, der mich beschützte, als ich wehrlos lag?« fragte Roland. »Er ritt mit seinem Begleiter, einem riesenhaften Graukopf, davon. Wir kennen seinen Namen nicht. Nur einmal sahen wir ihn vor vielen Monden, und Klopper nannte ihn den >freundlichen Herrn.niemals< gesagt«, belehrte ihn Jong von oben herab und nestelte an seinem Gurt. »Doch hörte ich von keinem, der sich nicht nach kürzerem oder längerem Nachdenken eines anderen besann.« Die grauen Augen des bedrängten Ritters Atz begannen zu flackern. Aufmerksam beobachteten ihn seine vier Wächter. Jong zog ein spitzes, zweiseitig geschärftes Messer aus dem Gurt. »Ich gebe dir jetzt Zeit zum Nachdenken, unglückseliger Atz«, sagte Jong. »Da es sich besser nachdenken läßt, wenn man durch seine Umgebung nicht abgelenkt wird, schneide ich dir die Ohren ab und steche dir die Augen aus.« »Das wirst du nicht wagen!« knirschte Atz erblassend. »Es ist keinerlei Wagnis dabei«, versetzte Jong. Auf seinen Wink packten die Vier den Ritter erneut so, daß er keinen Muskel bewegen konnte. Nur den Kopf drehte er angstvoll zur Seite. Langsam kam der Bucklige näher. Die Spitze des Messers auf des anderen Gesicht gerichtet. Als die Klinge noch einen Zoll von seinem linken Auge entfernt war, schrie Atz laut auf: »Halt, Jong!
Ich will dir alles sagen. Du sollst das Geheimnis erfahren. Ich liefere dir den Plan zu Haggans Versteck aus. Aber laß mir mein Augenlicht!« Gleichmütig steckte Jong das Messer wieder in den Gurt. »Warum nicht gleich so, dummer Atz? Wo bewahrst du den Plan auf?« »In meinem Schlafgemach«, stammelte der verzweifelte Ritter. Als die kleine Gruppe auf ihrem Wege an der Mauernische vorbeikam, wollte Lutz das Schwert ziehen und angreifen. Aber jetzt war es Atz, der verneinend den Kopf schüttelte. Er wußte, daß jeder Befreiungsversuch scheitern würde. Sie würden nur beide ihr Leben einbüßen. Im Schlafgemach wurde es Atz gestattet, sich frei zu bewegen. Neben dem hohen Bett stand ein rohgezimmerter Schrank mit einer großen Lade. Ohne weiteres Säumen trat Atz an ihn heran, zog die Lade auf und holte nach einigem Kramen ein schmales Blatt weißen Papiers heraus. Jong stand auf der Schwelle und sah ihm gespannt zu. Atz sah flüchtig auf das Papier und streckte dann den Arm aus, um es Jong zu überreichen. Der ging, ein hämisches Grinsen auf den Lippen, langsam auf ihn zu. In diesem Augenblick zerknüllte Atz das Papier zu einem Knäuel, kaum halb so groß wie eine Kinderfaust, und schob es sich blitzschnell in den Mund. Ehe Jong oder einer seiner Vertrauten eingreifen konnte, hatte Atz das Papier hinuntergewürgt. Der Bucklige erstarrte mitten im Schritt. Atz brach in ein Gelächter aus. »Das wird dich lehren, dem Wort eines Ritters nicht länger zu mißtrauen! Niemals solltest du unser Geheimnis erfahren - das versprach ich dir - und nun ist es für ewig vernichtet!« Es war sein letztes Lachen, und es waren seine letzten Worte in dieser Welt. Er hatte den Anführer der Höllensöhne übertölpelt, und der meinte vor Wut zu zerspringen. Mit einem tierischen Laut sprang Jong ihn an und stieß ihm das Messer tief in den Leib.
Lachend ging Atz in den Tod, und die Wut des geprellten Mörders verwandelte sich in Raserei. Dabei wußte Jong noch nicht einmal, daß Atz ihn doppelt getäuscht hatte. Denn das verschluckte Papier war nicht nur weiß, sondern auch unbeschrieben gewesen. Das Geheimnis von Haggans Unterschlupf schlummerte woanders ... * Als der wuchtige graue Turm von Schloß Atzerath über den schneebedeckten Fichten auftauchte, erfüllte Hein eine freudige Vorahnung. Während des scharfen Ritts hatte er die anfängliche Beklommenheit gegenüber den beiden schwergerüsteten und gewalttätig aussehenden Männern völlig verloren. Er hielt sie jetzt für Männer, die den Grobian herauskehrten, aber wenn es drauf ankam, kaum über die Stränge schlagen würden. Mehrmals hatten sie sich unterwegs besorgt nach ihm umgeschaut, um sich zu vergewissern, daß sein kleiner Grauer auch mit ihnen Schritt zu halten vermochte. Außerdem glaubte Hein, daß die Fiedel ihm zusätzlichen Schutz gab. Wer würde sich schon an einem Spielmann vergreifen? Wieder versank der Turm hinter einem steilen Vorhügel. Der Weg wurde schmal und gewunden. Nur hintereinander konnten sie hier reiten, und die Pferde hatten große Mühe. Der Graue schnaufte laut, aber er fiel nicht zurück. Er hatte schließlich nur ein geringes Gewicht zu tragen. Die Kuppe des Vorhügels war unbewaldet. Oben hielten sie. Nur ein schmales Tal trennte sie noch von der Burg, die jetzt in ihrer ganzen Ausdehnung vor ihnen lag. Heins Begleiter berieten sich flüsternd. Dann winkte ihm der riesige Graukopf. Sie wandten sich nach rechts, weg von der Burg, auf ein Gewirr von felsigen Erhebungen zu, die eine Schlucht umsäumten. Hein sah sich um. Der andere Fremde ritt geradewegs auf die Burg zu. Doch schon entzogen die Bäume ihn seinen Blicken. Warum
hatten sie sich getrennt? Was führten sie im Schilde? In weniger als einer Stunde durchquerte Haggan das Tal und erreichte das Burgtor, vor dem drei Männer Wache hielten. In einem plötzlichen Entschluß klappte er das Visier hinunter. Bei seinem Nahen hatten sich die Wachen erhoben und blickten ihm gespannt entgegen, die Lanzen drohend erhoben. »Wer seid Ihr, Ritter?« rief ihn einer an. »Das erfahrt ihr früh genug!« entgegnete Haggan mit rauher Stimme. »Macht Platz!« »Laßt euer Gesicht sehen, Herr!« verlangte der zweite Wächter. »Aus dem Weg!« brüllte Haggan. »Gebt die Parole!« rief der dritte. Da spornte Haggan den mächtigen Schimmel und preschte vorwärts. Einen riß es vom Anprall herum. Den zweiten warf Haggans Lanze zu Boden. Den dritten packte er am Kragen, hob ihn hoch und donnerte ihm ins Ohr: »Schließ das Tor auf!« Zitternd brachte der Mann einen Schlüssel zutage. Haggan ließ ihn herab, und bald war sein Weg frei. Im Vorhof lagerten noch einige verschüchterte Knappen. Haggan parierte den Schimmel, sprang klirrend herab und warf einem den Zügel zu. »Los, ihr Faulenzer!« rief er. »Nehmt euch des Schimmels an! In zwei Stunden will ich ihn gut herausgefüttert und strahlend gestriegelt sehen!« Dann stampfte er sporenklirrend auf das zweite Burgtor zu. Zwei Knappen liefen ihm voraus und rissen eilfertig das Tor auf. Mit einem Blick aus den schmalen Visierschlitzen übersah Haggan die weite Halle. Wenn auch die Rauchschwaden aus dem offenen Kamin den Raum wie feiner Nebel füllten, war für den Neuankömmling kein Zweifel möglich. Er war mitten in eine Sauforgie geraten! Ein flüchtiges Lächeln umspielte das strenge Gesicht Haggans. So und nicht anders hatte er seine wüsten Gesellen anzutreffen erwartet. Aber jetzt würde er dem Treiben ein Ende gebieten. Kaum jemand hatte sein Eintreten bemerkt. Wilde Gesänge stiegen zur
rauchgeschwängerten Decke auf. Hier stieß einer dem Kameraden unsanft vom Spundloch des Weinfasses weg. Da verirrte sich die Hand eines anderen im Mieder der laut aufkreischenden Magd. Einige Kerle hockten am Boden, der Blick selig auf den Becher gerichtet, den die Hand fest umklammert hielt. Andere würfelten. Zwei prügelten sich. Warum, hatten sie schon vergessen. Haggan klappte das Visier auf, nahm ein paar Schritte Anlauf und sprang auf den langen Eichentisch in der Mitte der Halle. Dann brüllte er: »Hört her, ihr Saufsäcke, ihr Wüstlinge, ihr Armleuchter!« Köpfe wandten sich. Gesichter starrten den Mann auf dem Tisch an, der in voller Rüstung vor ihnen stand. Der Lärm verebbte. Mancher rieb sich die Augen. War es möglich? »Ruhe! Haltet das Maul, ihr Lieblinge Haggans! Euer Herr ist zurückgekehrt! Wo bleibt mein Begrüßungstrunk?« Da begriffen sie alle. Auch die, deren Geist vom Trunk schon umnebelt war. Und dann stiegen Schreie empor: »Hoch Haggan!« Aber nicht minder laut erschallte es: »Nieder mit Haggan!« Einer wankte unsicheren Schritts auf den Ritter zu und reichte ihm einen Becher, den größten, den es gab, empor. Haggan griff danach. Noch während er trank, umringte ihn eine Horde von etwa acht Männern, die auf Jongs Seite standen und nicht daran dachten, den Rückkehrer als Hauptmann anzuerkennen. Mit vereinten Kräften stürzten sie den Tisch um. Doch Haggan war auf allerlei Überraschungen vorbereitet. Er warf das schwere Trinkgefäß dem vordersten Angreifer ins Gesicht und sprang gleichzeitig mit vorgestrecktem Schwert in den Haufen hinein. Drei riß er um. Den vierten fegte ein Hieb seiner mit Eisen bewehrten Linken von den Füßen. Dann fuhr er wie ein Racheengel zwischen die übrigen. Sie bekamen kaum die Arme hoch zur Verteidigung. Hatten sie vergessen, daß Haggans Kraft schier unmenschlich war? Jammernd fanden sie sich auf dem Rücken wieder, hielten sich die schmerzenden Rippen und verwünschten sich heimlich für ihren Trotz.
Zwei, die Haggans wirbelnde Schläge noch nicht erreicht hatten, fielen vor ihm auf die Knie und winselten um Gnade. Er versetzte jedem einen Fußtritt, daß sie sich überkugelten. Jubel. Hochrufe. Die Halle dröhnte. Die Höllensöhne feierten mit Getöse ihren Herrn, den sie doch noch vor einer Stunde leichtfertig verraten hatten. Haggan legte Helm und Harnisch ab. Mit spöttischem Blick umfaßte er die Männer, die er seit Jahren kannte, benutzte und von Herzen verachtete. Plötzlich trat Stille ein. Jong kam in die Halle. Der Bucklige wirbelte herein wie eine Feuerkugel. Er war außer sich. Dämonen schienen ihn zu treiben. Er entriß dem Nächststehenden einen Spieß. Scheu wichen alle vor ihm zurück. Wie von Zauberhand ergab sich eine Gasse, die geradewegs zu Haggan führte. Mit gesenktem Kopf raste Jong auf den Zurückgekehrten zu. »Jong!« Haggans Stimme traf ihn wie ein Bolzen. Er erstarrte und richtete sich auf. »Kommst du, um mir erneut Treue zu schwören?« Jong stieß einen unartikulierten Schrei aus. Wie haßte er diese Stimme! Sie wollte ihn demütigen, vor aller Augen erniedrigen, in den Dreck stoßen. Erbitterung erfüllte ihn. Seine Starre löste sich. Er drang auf Haggan ein. Als die Spitze des Spießes nur noch einen Fuß von seiner Brust entfernt war, schlug Haggan mit dem Schwert die Waffe zur Seite. Jong strauchelte. Haggans zweiter Schlag traf seinen Buckel. Der Spieß entglitt Jongs Händen und rollte über den Boden. Jong stöhnte. Haggan hob den Fuß, um ihn dem Geschlagenen auf die Schulter zu setzen. Da fühlte er sich hinterrücks von starken Armen gepackt. Sie zerrten an seinen Schultern. Sie rüttelten an seinen Knien. Haggan wankte. Sie wollten ihm das Schwert entwinden. Aber er ließ es nicht los. Seine Muskeln spannten sich und drangen fingerdick unter der
Haut hervor. Mit seiner urwüchsigen Kraft wehrte sich Haggan vom Horn, Haggan der Gräßliche gegen die vier Getreuen Jongs. Aber wie sollte er sie abschütteln, einer gegen vier? * An der ersten Felsnadel, die klobig aus dem Boden wuchs und hoch über den Baumwipfeln in einer Spitze endigte, hielt Trumm an, und auch Hein stoppte den Grauen. Vor ihnen wölbte sich der Eingang in eine enge Schlucht, in die nie Tageslicht fiel. Trumm zog ein schwarzes Tuch hervor. »Komm näher, Spielmännchen!« sagte er freundlich. »Ich will dir die Augen verbinden.« Hein entflammte. »Die Augen verbinden? Das ist nicht ritterlich! Ich lasse es nicht zu.« »Papperlapapp! Ritterlich hin, ritterlich her. Dies ist ein Ort des Geheimnisses, den nur wenige Menschen auf Erden finden. Kein anderer darf den Weg erspähen. Sobald wir an Ort und Stelle sind, fällt das Tuch. Das verspreche ich dir.« Hein wich zurück. Jähe Angst ergriff von ihm Besitz. Der Graukopf wollte ihm Böses! Ablehnend streckte er die Hände nach vom. »Weg mit dem Tuch! Ich traue Euch nicht!« »Das Köpfchen her! Zum letztenmal, Knäblein!« Hein riß am Zügel des Grauen. Er wollte fliehen. Doch dazu kam er nicht mehr. Der Riese drängte den Fuchshengst heran, war neben ihm, und wie gelähmt hing Hein in seiner bärenhaften Umarmung. Er mochte schreien und sich sträuben - mühelos bändigte ihn Trumm und knüpfte das schwarze Tuch um seinen Kopf, so daß er nichts mehr sah. Ein leichter Klaps auf den Rücken: »Keine Angst, Bürschlein! Dir geschieht nichts. Trumm« - zum erstenmal hörte Hein den Namen - »vergreift sich nur an Männern!« »Hölle und Teufel!« brauste Hein auf. Aber ein zweiter, diesmal schmerzhafter Klaps ließ ihn verstummen. Sein Mut war dahin. Mit klopfendem Herzen ließ er es zu, daß Trumm den Grauen antrieb.
»Und laß dir nicht einfallen, die Hände von den Zügeln zu nehmen!« mahnte Trumm grollend. Dann ritten sie in die Schlucht. Hein, der nichts mehr sehen konnte, schien es eine Ewigkeit. Ihm war, als schlängle sich der Weg in unendlich vielen Windungen. Dann wieder hatte er das Gefühl, als ritten sie geradewegs in den Berg hinein. Mal meinte er wieder, es ginge aufwärts, hoch, immer höher, zu fernen Gipfeln. Dann wieder dröhnte das Echo der Hufschläge in seinen Ohren und vermittelte ihm das Gefühl, tief unter der Erde zu sein. Und nie verließ ihn die bohrende Angst vor einem meuchlerischen Streich aus dem Dunkeln. Endlich wieder Trumms Stimme: »Steig ab, Fiedler!« Hein gehorchte. Eine grobe Hand griff nach seinem Ellbogen und führte ihn weiter. »Fünf Stufen!« warnte Trumm. Jäh ging es abwärts. Hein stolperte und griff mit der freien Hand ins Leere. Das höhnische Lachen Trumms empörte ihn. Die Stufen waren zu Ende. Es ging weiter vorwärts, im Kreis herum, eine Biegung nach links, eine nach rechts ... Nahm der Weg kein Ende? Dann fiel das Tuch. Kein sah sich in einem achteckigen Raum, der rings mit kostbaren Teppichen behängt war. Auch der Fußboden wölbte sich unter orientalischem Webwerk. An den Wänden waren gepolsterte Ruhebänke und feingeschnitzte Regale mit Krügen, in denen Vorräte lagerten. Die Mitte nahm ein ebenfalls achteckiges Tischlein mit solider Marmorplatte ein. Ein vielarmiger Leuchter spendete mildes Licht. Mit großen Augen sah Kein sich um. Nirgends war ein Eingang zu erblicken. Wie waren sie hereingekommen? Er erschrak, als Trumms Stimme, die in dem Gemach wie eine Trommel dröhnte, ihn neuerdings ansprach. »Dies ist der geheime Unterschlupf Haggans des Gräßlichen!« Hein erschauerte. Er schloß die Augen. Er war in der Höhle des Löwen! Würde er sie jemals lebend verlassen? Dann hörte er Wasser rauschen. Er öffnete die Lider. Sein Blick
fiel auf einen Wasserfall, der in Wandnähe aus der Decke kam, in eine Vertiefung sprudelte, sich dort sammelte und unterirdisch wieder abfloß. »Warte hier!« bedeutete ihm Trumm und verzog das Gesicht. Es sollte wohl ein Lächeln sein. »In den Regalen ist Speis und Trank. Im Wasserfall kannst du baden. Ich bin bald wieder da.« Langsam drehte Hein sich um. Niemand war hinter ihm. Trumm war verschwunden. Es mußte Geheimtüren geben. Aber Hein war viel zu müde und eingeschüchtert, um nach ihnen zu suchen. Seufzend streckte er sich auf der Ruhebank aus, nachdem er die Fiedel vom Rücken gestreift hatte. Indessen stapfte Trumm in gebückter Haltung einen niedrigen Gang, der vom Unterschlupf zu der 500 Klafter entfernten Burg führte. Mit einer Kerze leuchtete er seinen Schritten voraus. Hin und wieder blieb er stehen und zog eine Karte zu Rate, denn der Gang verästelte sich häufig, und ohne eine Planzeichnung hätte er sich rettungslos verirrt. Der Geheimgang war Bestandteil eines natürlichen Höhlensystems, das der Baumeister von Atzerath durch Zufall bei den Arbeiten am Fundament gefunden hatte. Als einzigen weihte er den damaligen Burgherrn ein. Gemeinsam durchforschten sie monatelang die meilenweiten Gänge, die oft tief unter der Erde unvermittelt endeten. Nur einer führte eine halbe Meile von Atzerath entfernt inmitten fast undurchdringlichen, dornigen Gestrüpps und dichtverwachsenem Unterholz ans Tageslicht. Der Baumeister fertigte eine Karte an, von der später noch einige wenige Abschriften hergestellt wurden. Sollten je Feinde die Burg besetzen, würde der Burgherr einen fabelhaften Fluchtweg zur Verfügung haben. Kurz bevor der Gang an der Erdoberfläche mündete, ließ er von dem Baumeister und zwei zum Schweigen verpflichteten Arbeitern an einer Stelle, wo ein unterirdischer Wasserfall floß, den achteckigen Schlupfwinkel erbauen. Übrigens wurden nach der Beendigung dieses unterirdischen Bauwerks die drei Beteiligten nie wieder gesehen. Nur der Burgherr
wußte, wie sie umgekommen waren und daß er ihre Leichen mit eigener Hand in einen Seitengang geschleppt hatte. Nie würde man dort ihre Skelette finden. Das Geheimnis vererbte der tückische Burgherr seinen Söhnen Atz und Lutz. Diese teilten es später mit Haggan, ihrem Busenfreund, der es an Trumm weitergab. Nachdem nun Atz tot war, kannten nur noch drei Männer das Geheimnis. Den Zugang zum Schloß bildete eine für Uneingeweihte völlig unsichtbare Tapetentür in der Kemenate, die für die Frau des Burgherrn gedacht war. Da Atz unbeweibt war, blieb die Kemenate unbenutzt. Dennoch beachtete Trumm, als er sie erreichte, alle gewohnten Vorsichtsmaßnahmen, ehe er sie von außen her öffnete. Durch aufmerksames Horchen hatte er sich vergewissert, daß kein Unbefugter zufällig in der Kemenate war. Von dort gelangte Trumm rasch in die Halle. Er kam gerade in dem Augenblick, als Haggan von Jongs vier Getreuen überrumpelt worden war. Der riesige Graukopf kam seinem Herrn sofort zu Hilfe. Als er den ersten Schlag führte, erwachten mehrere Höllensöhne aus der Erstarrung und schlugen mit scharfer Klinge auf die Jong-Anhänger ein. Keiner überlebte. Sie wollten auch dem zitternden Jong das gleiche Schicksal bereiten. Aber Haggan hielt sie mit herrischer Gebärde zurück. »Einen so schnellen Tod hat der Verräter nicht verdient!« verkündete Haggan finster, und Jong, der das hörte, wand sich vor Furcht wie in Krämpfen. Haggan fuhr fort: »Das Urteil über Jongs Missetat aber überlasse ich dem Burgherrn Atz von Atzerath! Wo ist er? Wo ist mein Freund Atz? Warum eilt er nicht herbei, um mich an seine Brust zu drücken?« Totenstille trat nach diesen Worten ein. Schuldbewußt blickten die Höllensöhne, von denen keiner besser war als Jong, zu Boden. Noch einmal rief Haggan, lauter diesmal, nach Atz. Da schlurfte ein Mann mit gesenktem Kopf langsam durch die weite Halle heran. Haggan faßte ihn scharf ins Auge und erkannte
ihn. »Lutz!« rief er überrascht. »Du hier? Komm, alter Freund und Eisenfresser! Wo ist dein Bruder? Wo ist Atz? Warum läßt er mich warten? Ist das gastlich? Ist das fürstliche Manier?« Noch drei Schritte tat Lutz. Dann blieb er stehen. Dumpf klang seine Stimme, als er antwortete: »Es ist noch keine halbe Stunde her, da wurde mein Bruder von deinem Unterführer Jong meuchlings erstochen!« »Ist das wahr?« fragte Haggan. Der Bucklige bedeckte seine Augen mit den Händen. Er ertrug Haggans bohrenden Blick nicht länger. »Es ist wahr«, sagte Lutz tonlos. »Und ich wünsche, da ich der Erbe meines Bruders bin, das Urteil über den Meuchelmörder zu sprechen.« »Das steht dir zu, Lutz, falls es mit meinem übereinstimmt.« Der Bruder des Burgherrn erhob seine Stimme nicht, aber die Worte seines Urteils waren bis in den letzten Winkel der Halle zu vernehmen. Noch bevor er geendet hatte, gab es einen dumpfen Krach. Jong, der bucklige Aufrührer, war ohnmächtig umgefallen. * Als der nächste Morgen graute, standen fünf Männer auf der unbewaldeten Kuppe und schauten angestrengt zu den grauen Mauern und dem wuchtigen Turm von Burg Atzerath hinüber. In der vergangenen Nacht waren Roland, Louis und die beiden Gaukler auf Volker vom Hohentwiel gestoßen. Der briet gerade zwei frischerlegte Fasanen an einem kleinen Lagerfeuer und beklagte sich lauthals über Kein, der ihn schnöde verlassen und ihm die Fiedel gestohlen hatte. Roland freute sich über das Wiedersehen mit dem Freunde, aber der Verdacht gegen Hein erboste ihn mehr, als er sich selber erklären konnte. Wie kam es nur, daß ihm der prahlerische und keineswegs mutige Junge so ans Herz gewachsen war?
Die ersten Sonnenstrahlen strichen über die Burgzinnen und erfaßten die Flagge mit dem silbernen Hirsch auf schwarzem Grunde über dem Burgfried. Plötzlich erschien eine Gruppe von Männern, und die Flagge wurde heruntergeholt. Gleich darauf stieg am Flaggenmast ein zappelnder Körper empor, der mit einem Ruck erschlaffte. Und jetzt hing statt der Fahne mit dem Atzerath-Wappen ein Gehenkter über der Burg! Roland und Volker wechselten einen Blick. Das grausige Schauspiel überzeugte die beiden Ritter, daß Haggan der Gräßliche das Kommando auf der Burg führte. Vorsichtig zogen sie sich in die Deckung der dichtstehenden Fichten zurück und beobachteten, wie überall verstärkte Wachtposten aufzogen. Louis fluchte lautlos vor sich hin. »Verdammt, verdammt, wir kamen zu spät. Diese Feste können wir zu dritt nie erstürmen. Und hätte jeder von uns zehn Löwen im Leib, so müßten wir doch im Hagel der Geschosse untergehen, noch bevor wir das erste Bollwerk genommen hätten!« Mißmutig formte er Schneebälle und warf sie gegen die unverschämt grinsenden Funkmann und Schiebermann. Volker schien von allen Sorgen unberührt. Er wälzte sich auf den Rücken und sang mit seiner klaren, warmer Stimme: »Hör ich nur des Hochwaldes Rauschen, Und denke voll Liebe an dich, Dann möcht' ich mit niemandem tauschen, Kein König ist reicher als ich!« Roland lauschte dem Freunde mit halbem Ohr, während seine Augen auf Funkenmann und Schiebermann nachdenklich ruhten. Natürlich war auch ihm klar, daß die Burg weder im Handstreich noch auf andere gewaltsame Art zu erstürmen war. Aber es mußte doch einen Weg geben! Auf keinen Fall würde er unverrichteter Dinge von hier abziehen. Der gefährlichste Mann des Reiches, Haggan der Gräßliche, mußte auf irgendeine Weise unschädlich gemacht werden! Der Ritter zermarterte sich den Kopf. Allmählich begann sich ein Gedanke in ihm zu formen. Er spann ihn weiter aus, und sein Mund
verzog sich zu einem Lächeln. So mußte es gehen! »Freunde!« rief er, an einen Buchenstamm gelehnt. »Ich habe die Lösung! Wir werden Haggan aus der Burg, aus der Mitte seiner verruchten Kumpane herausholen, wenn ihr mir vertrauensvoll folgt. Hört meinen Plan!« Volker und Louis waren aufgesprungen und zu ihm getreten. Aufmerksam hingen ihre Blicke an seinen Lippen. Sie würden ihm auch in die Hölle folgen, wenn er es verlangte! Die Höllensöhne sollten sie kennenlernen! »Sprich, Roland!« forderte Volker ihn auf. »Wie lautet dein Plan?« Roland aber winkte den beiden Gauklern, die sich bescheiden abseits hielten. »Kommt her, alle beide! Ich brauche euch. Ihr wißt, daß ich Haggan gefangennehmen und nach Schloß Camelot zurückbringen muß. Seid ihr bereit, mir dabei zu helfen?« Die Gaukler sahen einander verlegen an. Dann erwiderte Funkenmann: »Herr, wie sollten wir Euch helfen? Wir sind armseliges, fahrendes Volk und im Waffenhandwerk nicht erfahren. Schiebermann hier, mein Geselle, kann wohl Schwerter schlucken, aber nicht mit ihnen fechten. Und ich kann nur Feuer schlucken und Flammen sprühen. Gaukelei, nichts als Gaukelei!« »Eure Kunststücke werden uns sehr nützlich sein«, behauptete Roland. »Und nun hört, was ich mir ausgedacht habe!« Vor den untereinander so verschiedenen Männern entwickelte Roland seinen tollkühnen Plan. Ihre Gesichter waren ernst, und der Gedanke an die vor ihnen liegenden Gefahren verschlug ihnen den Atem. * Vom Wachtturm klang ein Warnruf. »Über das Tal nähern sich fünf Männer!« Der Wachhabende am Tor trat heraus. Er legte den Kopf in den Nacken und rief nach oben: »Sind sie bewaffnet?«
»Es sieht nicht so aus. Doch sind es auch keine Bauern des Burglehens. Es sind Fremde. Sie wirken zerlumpt und arm. Ein Pferd führen sie mit sich.« »Dank für die Meldung. Wir werden sie schon auf den rechten Weg bringen!« Der Wachhabende lachte roh, und seine drei Posten stimmten ein. Auf ihre Lanzen gestützt, erwarteten sie die angekündigten Fremden. Endlich wurden sie auch von ihrem Standplatz aus sichtbar. Die Gruppe bot wirklich keinen kriegerischen Anblick. An der Spitze ging ein Hinkefuß, dessen rechtes Auge hinter einer Binde verborgen war. Er trug gelbe, anliegende Hosen, hohe Stiefel, einen weiten Mantel voller Flicken und vereinzelter Risse. Auf dem Kopf saß ihm der Hut wie ein Topfdeckel. Es war Volker, und seine Kleider stammten aus dem Vorrat Funkenmanns, der ihm mit seinem Gesellen auf dem Fuße folgte und mit pfiffigem Ausdruck aus seiner Vermummung schaute. Dann kam Louis und zuletzt Roland, der sich mit Schiebermanns Hilfe recht vagabundenhaft ausstaffiert hatte. Er führte das Packpferd mit sich. Die übrigen Pferde hatten sie am Waldrand angebunden. In dicke Bündel gehüllt, führten sie ihre Waffen mit sich. Aber niemand vermutete sie in dem wollenen Zeug auf dem breiten Rücken des Gauls. Die Wachen empfingen sie sehr ungnädig. »Zieht weiter, Lumpenpack! In dieser Burg wohnen nur ehrliche Leute.« Das »Lumpenpack« ließ betreten die Köpfe hängen. Aber Volker hinkte unbekümmert weiter und öffnete den Mund zu einer längeren Rede. Er verstand es, den Wachhabenden neugierig zu machen, indem er sich und die anderen Mitglieder seiner »Truppe« als bestaunenswerte Künstler vorstellte, die schon an vielen Burgen beifallumrauscht ihre Vorstellungen gegeben hätten. Die Wachen lauschten dem Redefluß des einäugigen Hinkebeins, und ihre Augen glänzten in der Vorahnung eines glänzenden Schauspiels. Allein der Wachhabende hegte noch Zweifel. »Eh' ich euch glaube und Zutritt gewähre, gebt mir eine Kostprobe eures
Könnens!« verlangte er. Volker winkte Schiebermann zu sich. »Dieser wunderbare Künstler«, schwärmte er dann, »nährt sich nicht von Fleisch, Korn und Früchten, sondern von nacktem Eisen. Seht ihr, wie er mit begehrlichen Blicken das Schwert an Eurer Hüfte betrachtet? Er möchte es zu gern verschlucken!« »Verschlucken?« rief der Wachhabende. »Das kann kein sterblicher Mensch! Die Klinge ist scharf, das Eisen lang und hart.« »Und doch wette ich, daß er die Waffe bis zum Heft verschluckt.« Die Wachen lachten laut. »Ich setze einen Dukaten dagegen.« »Topp!« rief Volker. »Die Wette gilt!« Immer noch lachend händigte der Wachhabende Schiebermann sein Schwert aus. Unter gewaltigem Hokuspokus nahm der Gaukler die Klinge entgegen, rieb sich den Bauch, öffnete den Mund, weit und immer weiter, hob das Schwert, daß es in der Sonne blitzte und blinkte, schob es in den Mund und durch die Gurgel. Dann tat er, als gelinge das Kunststück nicht, zog das Schwert heraus, setzte neuerlich an - und so trieb er es einigemal. Dann gab er sich einen Ruck, schien seinen ganzen Mut zusammenzunehmen, stand aufrecht, gereckt wie ein junger Buchenstamm, und schob nun wirklich das Schwert von oben in seinen Leib, immer tiefer, bis nur noch das Heft herausschaute. Mit offenen Mündern sahen die Wachen zu. Aber Schiebermann stolzierte wie ein Posten mit dem Schwert im Leibe einigemal auf und ab, ehe er endlich mit nicht weniger Hokuspokus als zu Anfang das Schwert Stück um Stück wieder ans Tageslicht holte. Der Wachhabende war begeistert und wollte sofort seinen verlorenen Dukaten bezahlen. Aber Volker wehrte ab. »Behalte die Münze!« sagte er und deutete auf Louis. »Ich habe einen Zauberer bei mir, der mir so viele Dukaten aus der Luft holt, wie ich haben will!« Louis wies seine leeren Hände vor, fuchtelte schneller, als Blicke folgen konnten, durch die Luft, drehte sich auf dem Hacken einmal um sich selber, griff dem Wachhabenden ans Ohr und hielt plötzlich
einen Dukaten zwischen Zeige- und Mittelfinger! Lauter Beifall lohnte seine Vorführung. »Und nun«, rief Volker, »führt uns zum Burgherrn!« »Folgt mir!« sagte der Wachhabende. »Haggan wird euch nicht mehr von seiner Seite lassen. So etwas wie euch gibt es im ganzen Lande kein zweitesmal!« So hielten sie Einzug auf Burg Atzerath. * Nachdem der Aufrührer Jong gehängt worden war, trieb Haggan die Burgbewohner zu emsiger Arbeit an. Zunächst mußten sie die von ihren Saufereien verdreckten Innen- und Außenräume reinigen. Dann wurden sie zu Waffenübungen gerufen, die bis zum Abend fortgesetzt werden sollten. Knappen und Höllensöhne stöhnten einträchtig nebeneinander unter den ungewohnten Strapazen, die durch ihre Brummschädel vom übertriebenen Weingenuß des Vorabends besonders anstrengend waren. Haggan setzte die Burg in den bestmöglichen Verteidigungszustand. Er rechnete damit, daß früher oder später ein Trupp von König Artus' Rittern vor Atzerath auftauchen würde. Aber er war guten Mutes, sowohl einem wagemutigen Sturm wie auch einer längeren Belagerung trotzen zu können. Es kam nur darauf an, seinen Männern den Liederjahn wieder auszutreiben, der während seiner Gefangenschaft auf Camelot eingerissen war. Die Halle funkelte wieder vor Sauberkeit, als ihm die Gaukler gemeldet wurden. Kein Ritter des Mittelalters hätte sich ein solches Schauspiel an einem eintönigen Wintertag versagt. In diesem Punkte unterschied sich der Geschmack des Burgadels in keiner Weise von dem des Volkes, das zur Sommer- und Herbstzeit in Scharen auf die Jahrmärkte strömte. Haggan nahm mit Trumm und Lutz auf hohen Stühlen Platz und sah den Gauklern erwartungsfroh entgegen. An ihrer bescheidenen
Kleidung nahm er keinen Anstoß. Wer weiß, wie lang und beschwerlich die Reise war, die hinter ihnen lag! Als erster trat Louis auf. Indem er das Gackern von Hennen nachahmte, zauberte er Eier vom Fußboden, von den Wänden und aus der Luft. Trumm kreischte vor Vergnügen. Haggan lachte breit. Sogar Lutz, dem nach seines Bruders Tod der Sinn eigentlich nicht nach Vergnügungen stand, wurde aufmerksam. Jetzt näherte sich Louis den Zuschauern und pflückte Trumm eine Blume aus der Nase. Dann begab er sich zu Lutz und hob die Hand in der Absicht, aus dem Ärmel des Ritters einen Dukaten zu zaubern. Urplötzlich erhob sich Lutz halb, packte Louis am Arm und schrie: »Dich erkenn' ich trotz deiner Verkleidung, Unseliger! Du bist der Dieb, der sich bei Kaufmann Klotz einschlich. Vorsicht, Haggan! Hüte dich, Trumm! Dies sind keine echten Gaukler! Sie wollen uns Böses!« Alle drei sprangen auf und zogen die Waffen. Dabei mußte Lutz den ertappten Louis loslassen, der auf der Stelle zu Roland eilte. Der hatte bereits das Deckenbündel geöffnet und reichte Louis und Volker ihre Handwaffen. Oh, wie flink zeigte sich jetzt das ehemalige Hinkebein Volker! Louis wandte sich gegen Lutz von Lutzerath, und der einstige Waldräuber, der bei einem Fechtmeister fleißig Unterricht genommen hatte, entzauberte in Windeseile den viel ungelenkeren Ritter. Er umtanzte ihn und ließ die Klinge schwirren, daß Lutz glaubte, sein Gegner führe drei oder gar vier Waffen zugleich. Doch im Vertrauen auf seine Kraft setzte Lutz alles auf einen mit voller Gewalt von oben her geführten Schlag, der Louis den Schädel spalten sollte. Nicht noch einmal durfte ihm dieser Frechling entwischen! Indessen fühlte Volker kaum die Waffe in der Hand, da sah er sich schon dem Graukopf Trumm gegenüber, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte. Trumms Kampfstil war in Jahrzehnten gleich geblieben und immer gleich erfolgreich gewesen. Mit seinem Zweihandschwert mähte er alles nieder, was sich ihm in den Weg
stellte. Aber er hatte noch nie einen so eleganten Fechter wie Volker zum Gegner gehabt. Nie war der Sänger da, wo Trumms Waffe vernichtend einschlug. Dafür wurde fast jeder Schlag Volkers ein Treffer. Bald tropfte Blut auf den eben gesäuberten Fußboden, und Trumm sah sich in höchsten Nöten. Er war in die Verteidigung gedrängt. Aber wie sollte der plumpe Mann sich gegen den hervorragend fechtenden Volker verteidigen? Trumm dämmerte es, daß er verloren war. Seine Wunden schmerzten. Schon stand er mit dem Rücken zur Wand. Sein Blick war trüb geworden, und er konnte Volkers Bewegungen nicht mehr folgen. Da rutschte der Minnesänger auf dem glatt gescheuerten Boden aus und fiel! Als er wieder hochkam, war Trumm geflohen. Volker sah gerade noch einen Hacken - dann war der Riese außer Sichtweite. Trumm stürzte in die Kemenate. Ein Blick über die Schulter. Keiner verfolgte ihn. Mit bebenden Händen öffnete er die geheime Tapetentür ... Im selben Augenblick führte der bis zum äußersten gereizte Lutz einen Fehlhieb und rannte, vom eigenen Schwung vorwärtsgetrieben, in die Klinge des Knappen Louis. Mit einem Aufschrei, dem röchelnde Laute folgten, sank er nieder. In einem anderen Teil der Halle standen sich Roland und Haggan gegenüber. »Wenn Ihr Haggan seid«, rief Roland schneidend, »so ergebt Euch! Ich stehe hier in des Königs Auftrag, um den Flüchtigen aus Camelots Verlies zurückzubringen. Tot oder lebendig - Ihr entgeht mir nicht!« Der Gräßliche maß ihn mit verächtlichem Blick. »Denkt Artus, den Gott verdammen möge, so gering von mir, daß er mir einen Milchbart schickt, um mich gefangen zu nehmen? Wo sind Eure Narben, wo sind die Gesichtsrunen des Mannes, Ritter Namenlos?« »Kein Wort mehr!« unterbrach ihn Roland. »Meinen Namen sollt Ihr erfahren. Ich bin Roland! Und jetzt werft das Schwert weg! Ergebt Euch auf Gnade und Ungnade!«
Haggan lachte ihm ins Gesicht. Roland wartete noch ein paar Atemzüge lang. Haggan hörte nicht auf zu lachen. Er lachte ihn aus. Da faßte Roland sein Schwert fester und rief: »Dann muß ich Euch mit Gewalt gefangennehmen!« Er ging in Angriffsstellung und ... Unvermittelt ließ Roland die Waffe sinken. »Verzeiht, Ritter«, sagte er niedergeschlagen. »Ich kann gegen Euch nicht kämpfen. Ihr wart es, der mir das Leben gerettet habt als ich wehrlos in der Hand der wilden Bauern war.« »So ist es«, bestätigte Haggan grinsend. »Ohne mich lägt ihr jetzt erschlagen und steif gefroren auf Kloppers Hof.« Und wieder schallte sein Lachen durch die Halle und gellte Roland in den Ohren. Volker und Louis sahen ihn zögern und kamen neugierig näher. Kein Zweifel, daß sie Haggan angreifen würden, wenn Roland es nicht tat. Haggans stechende Augen rollten. Er schaute von einem zum anderen. Rolands Gesicht spiegelte den inneren Kampf, der in ihm tobte. Und ehe noch die Freunde eingreifen konnten, hatte er sich entschieden. »Hört meinen Vorschlag, Haggan! Ich darf Euch kein Leid zufügen - nach dem, was Ihr an mir getan habt. Aber des Königs Auftrag muß erfüllt werden. So laßt uns in ritterlichem Zweikampf nach strengen Turnierregeln den Zwist entscheiden. Hebt meine Lanze Euch aus dem Sattel, so gebt Ihr Euch gefangen. Werft Ihr mich in den Staub, so bin ich Euer Gefangener, und Ihr mögt mit mir verfahren, wie es Euch gefällt.« Noch immer lachte Haggan. Sein Blick tastete über Rolands Gestalt. Er schätzte ihn ab. Nun, er war gutgewachsen, groß und geschickt in seinen Bewegungen. Aber wie sollte er gegen ihn, Haggan, vor dem Fürsten zitterten, bestehen? Ein Jüngling ohne die Erfahrung vieler kampfdurchtoster Jahre? Haggans Entschluß war gefaßt. »Ich nehme den Vorschlag an. Erwartet mich in einer Stunde, so Ihr Roß und Lanze habt, vor den Toren der Burg! Genießt die letzte Stunde, die Ihr in Freiheit
verbringen werdet!« Dann wandte er sich und verließ eilends die Halle. Auch er begab sich zur Kemenate. Auch er betrat den geheimen Gang. Als er den unterirdischen Raum erreichte, saß Trumm auf einem Schemel und kühlte seine Wunden. Hein hatte sich, so weit es der Raum zuließ, von ihm zurückgezogen und blickte furchtsam Haggan entgegen. Trumms Gesicht spiegelte Schmerzen wider. Doch als Haggan rasch eintrat, verzog er die Lippen zu einem gequälten Lachen. Er deutete auf Hein. »Sieh unser Spielmännchen, Haggan! Ich überraschte ihn beim Baden. Vor Schreck sang er wie eine Lerche. Und er ist eine Lerche! Die Männerkleider dienten dazu, uns zu täuschen. Das halbgare Bürschlein wird nie ein Mann werden. Es ist ein Mädchen!« Und mit den Händen malte Trumm fast zärtlich die Umrisse eines weiblichen Körpers in die Luft. * Eine Stunde ist eine kurze Zeit. Es gab noch viel zu tun. Louis verließ die Burg, wobei er am Tor einen längeren Aufenthalt hatte, weil die Wächter ihn darum baten, noch ein wenig für sie zu zaubern. Dieser Bitte konnte er sich natürlich nicht entziehen, und so holte er ihnen Löffel, Eier und Federn aus Ohren und Nasen, zum Abschluß sogar einen halben Dukaten, den ebenso selbstverständlich der Wachhabende für sich behielt. »Als Andenken«, sagte er listig. Und überlegte doch schon, ob er mit dieser Münze wohl endgültig die Gunst der immer noch zwischen Tugend und Gefühl schwankenden Magd Hulda gewinnen könne. Eilends begab sich Louis dann ins Tal, wo sie die Pferde angepflockt hatten. Sie grasten am Bachrand, aber der edle Samum gebärdete sich höchst ungeduldig. Louis klopfte ihm den Hals. »Warte nur, mein Schöner«, sagte er, »bald wirst du dich tummeln können, wenn du meinen Herrn in den
schwersten Kampf seines Lebens trägst - gegen Haggan vom Horn, den noch nie ein Gegner überwand!« In der Burg hatten indessen die Höllensöhne und Knappen gemerkt, daß niemand mehr ihre ermüdenden Waffenspiele beaufsichtigte. Einer nach dem anderen schlich sich davon. Den Anfang machten die Kühneren unter ihnen. Da nichts darauf geschah und sich weiterhin weder der gefürchtete Haggan noch sein zweites Ich, der riesige Trumm, blicken ließen, faßten sich auch die übrigen ein Herz, warfen die Waffen weg und folgten dem Vortrupp. Die Fässer waren leergetrunken. Aber einige kannten den Weg zum Weinkeller, über dessen Vorräte sagenhafte Berichte im Schwange waren. Geräuschvoll tappste die wüste Horde in langer Schlange über glatte, breite Steinstufen nach unten. Bald verkündete ein langanhaltendes Freudengeheul Roland und Volker, die sich in der Halle aufhielten, daß die Höllensöhne das Ziel ihrer Sehnsüchte entdeckt hatte. »Die werden uns nicht mehr in die Quere kommen«, sagte Volker und lachte. Roland zerbrach sich den Kopf darüber, wie Haggan und Trumm nach Belieben, wie es schien, an jedem Ort der Burg plötzlich auftauchen und spurlos wieder verschwinden konnten. Während sie auf die Rückkehr von Louis warteten, streifte er ruhelos durch die Räume und fand schließlich den erstochenen Atz, der in seinem Zimmer aufgebahrt lag. Der breite Siegelring an seiner Hand fiel Roland auf. Er hatte die gleichen Ringe bei Haggan und Trumm gesehen. Bargen die Ringe ein Geheimnis? Er tastete den Ring vorsichtig ab und fand einen schmalen, kaum fühlbaren Vorsprung an der rechten Seite, der sich eindrücken ließ. Roland bewegte den Mechanismus, und der Ringdeckel klappte auf. War im Inneren des Ringes ein Plan verborgen? Aber nein. Dort war nur in feinster Goldschmiedearbeit das Wappen der Atzeraths - ein Hirsch - verborgen. Seufzend klappte Roland den Ringdeckel zu und gab das Suchen
auf. Zu wohlbehütet war dieses Geheimnis. Er verließ die Kammer mit dem toten Burgherren, ging in die Halle zurück und berichtete Volker von seinem Fund. Da hörten sie Hufschlag im Vorhof, und sie traten ins Freie. Louis war mit den restlichen Pferden zurückgekehrt. Auf den ersten Blick sah Roland, daß sein Samum sich in glänzender Form befand. Auf ihn würde er sich bei dem heißen Gang, der ihm bevorstand, verlassen können. Es fehlte jetzt nur noch eine halbe Stunde an der vereinbarten Zeit. Mit der umsichtigen Hilfe seines Knappen legte Roland die Rüstung an, die ihn schon so oft geschützt hatte, stieg in den Sattel des ungeduldig tänzelnden Arabers und nahm den Schild. Noch immer trug er kein anderes Wappen als den unglückseligen Würfel, der nur ein Auge zeigte. Zuletzt griff der Ritter nach der Lanze, wog sie in der Hand und konzentrierte sich ganz auf den bevorstehenden Kampf. Es war früher Nachmittag, und die Wintersonne sank schon tief gegen Süd westen. Auch Louis und Volker saßen auf, und gemeinsam ritten sie zu den Auen am Bach hinunter. Die Wachen erkannten sie nicht. Sie achteten ihrer auch kaum, weil sie gerade in ein hitziges Streitgespräch über die Frage verwickelt waren, ob der fremde Magier nun mit überirdischen Mächten oder schlicht mit dem Teufel im Bunde stehe. Ein einziger wagte die Bemerkung, es sei alles nichts weiter als ein flinker, von jedem erlernbarer Gauklertrick. Aber er wurde zuerst ausgelacht. Schließlich verbot man ihm sogar unter Androhung von Prügeln, weiterhin so ketzerische Ansichten laut werden zu lassen. Nun warteten die drei Freunde am Bach, dessen Ränder zugefroren waren. Mit einem Blick auf den Stand der Sonne sagte Volker: »Die Zeit ist um.« Seine Stimme klang beklommen. »Vielleicht kommt Haggan gar nicht«, sagte Louis. »Kann sein, daß er in seinem Versteck liegt, gebratene Hühnchen frißt und sich
über uns lustig macht!« Rolands Herz tat einen schnelleren Schlag. Und obwohl er sich dagegen sträubte, gewann er an Louis' Gedanken Geschmack. Wäre es denn so schlimm, wenn Haggan in seinem Schlupfwinkel bliebe und nicht zum Duell erschiene? Genau das ist es ja, was ich mir wünsche, stellte Roland erschrocken fest. Und er dachte: Nun ist es klar. Ich fürchte mich vor dem Duell mit dem Gräßlichen, dem niemand gewachsen ist. Außerdem ist es Unrecht, daß ich überhaupt gegen ihn kämpfe. Unrecht, daß ich ihm die Freiheit nehme und ihn in Ketten dem König ausliefern will. Er hat mir doch das Leben gerettet! Oh, käme er mir nie mehr unter die Augen! Ich könnte ihn doch nicht besiegen. Seine Arme waren wie Blei. Da blitzten Funken am jenseitigen Rand der Auen auf. Die Sonne spiegelte sich in einer Rüstung. Auf schneeweißem Pferd kam der Gefürchtete geritten: Haggan vom Horn. Als er sich näherte, erkannte Roland schaudernd das Wappen des Gräßlichen auf seinem Schild: fünf schwarze Wölfe mit roten Zungen auf silbernem Grund! Langsam wurden Roß und Reiter größer. Die Strahlen der Sonne funkelten und gleißten auf der Rüstung, daß Haggan von einem Glanz umgeben schien, der Roland in den Augen schmerzte. Gern hätte er Samum herumgeworfen und wäre davongeritten, denn dieser strahlende Anblick nahm ihm den letzten Zweifel. Es war vermessen, sich mit dem übermächtigen Kämpfer zu schlagen! Haggans Worte fielen ihm ein: »Genieße deine letzte Stunde in Freiheit!« Doch es war zu spät zu schmählicher Flucht. Haggan hielt 20 Schritt entfernt und hob die Lanze zum Gruß. Er ist sich seiner Sache so sicher, daß er sogar auf Trumms Begleitung verzichtet hat, dachte Roland. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Leise bat er Louis, ihm einen Becher Wasser zu bringen. Der Knappe eilte zum Bach, um daraus zu schöpfen.
Volker ritt zu Haggan hinüber und fragte: »Wollen wir Lose werfen, um die Seiten zu bestimmen?« Haggan lachte laut auf. »Wozu die Umstände? Ob ich den Bach zur Rechten oder zur Linken, die Sonne im Gesicht oder im Rücken habe, gilt mir gleich. Der Sieg ist mir sicher.« Volker war tief beeindruckt von dem überlegenen Auftreten des Gegners. Aber er ließ sich nichts anmerken, als er in gewollt gleichgültigem Ton antwortete: »Ihr habt völlig recht. Beim Seitenwechsel nach dem ersten Gang gleichen sich mögliche Vorteile ja sowieso aus.« »Wer sagt Euch denn, daß es einen zweiten Gang geben wird?« erwiderte Haggan spottend. »Ich gedenke, ein schnelles Ende zu machen. Und nun gebt den Weg frei! Ich reite bis zu jener Birke dort zurück. Alsdann gebt das Zeichen!« Roland trank durstig das eiskalte Bachwasser und verfolgte mit brennenden Augen den Weg Haggans bis zu der Birke. Dort wendete der Gräßliche. Volker hob den Arm. Die Pferde galoppierten an. Es war ein herrliches Bild, als die beiden Ritter über die weiße Schneefläche mit eingelegten Lanzen schnurstracks aufeinander zuritten. Der Rappe Samum erschien dem Auge kaum schneller als Haggans stolzer Schimmmel. Und wieder begann Haggans Rüstung zu blinken, zu prunken und zu glühen. Louis wendete den Blick ab. Er konnte die Spannung nicht mehr ertragen. Roland war so bleich wie der Schnee geworden. Doch niemand sah es dank des geschlossenen Visiers. Aber von dem Augenblick an, da sein Roß ihn dem Gegner entgegentrug, war die Angst von ihm abgefallen. Die bleierne Schwere in den Armen lahmte ihn nicht mehr. Er stürmte in den Kampf. Ohne Furcht, aber auch ohne Zuversicht. Jedes Gefühl war aus seinem Herzen geflohen. Näher und näher kamen sich die Ritter. Und dann der Zusammenstoß! Haggan fing Rolands Lanzenstoß mit dem Schild auf. So ruckte er
um keines Haares Breite im Sattel. Doch als er am Gegner vorbei war, ließ er den Schild sinken. Er spürte den Anprall von der Schulter bis zu den Fingerspitzen. Ihm war, als seien sämtliche Muskeln betäubt. Roland wurde knapp über der rechten Hüfte getroffen und ein stumpfer Schmerz schien ihm die Eingeweide zu zerreißen. Hätte ihn die Lanze höher am Körper erwischt, an Brust oder Schulter, er hätte sich nicht im Sattel halten können. Auch so schwankte er wie ein Bootsmast im Sturm. Diesmal trabte Roland bis zu der Birke, um dort zu wenden. Jetzt ritt er gegen die Sonne. Aber Haggan blitzte und prunkte und glühte nicht mehr. Wirkte er im Sonnenlicht fast wie ein überirdisches Wesen, so war er jetzt eine gewöhnliche, wenn auch stattliche Rittererscheinung. Beim zweiten Zusammenprall wankten beide, doch war keiner ernstlich in Gefahr, aus dem Sattel zu fallen. Schon während sein Schimmel zur Birke galoppierte, schaute Haggan sich um. Er meinte wohl, Roland sei zu Boden gestürzt. Als er sah, daß dies nicht zutraf, schüttelte er unmutig den Kopf, daß sein Helmbusch hin- und herflog. Beim nächsten Gang gab er seinem Pferd die Sporen. Er wollte dem Kampf offenbar mit aller Gewalt ein Ende bereiten. Als die Ritter noch zehn Schritt voneinander entfernt waren, grub Haggan erneut die Sporen in die schon blutenden Weichen des Schimmels. Das Tier machte einen unerwarteten Sprung, und Rolands Lanze stieß ins Leere. Doch Haggan traf, und es war ein Treffer, der Roland von Kopf bis zu den Zehen durchschüttelte. Volker bedeckte sich unwillkürlich die Augen mit der Hand. Als er sie schnell wieder wegzog, lag Rolands Körper fast waagerecht zur Seite. So ging es zehn Galoppsprünge lang weiter, und bei jedem fürchtete Volker den Sturz seines Freundes. Aber er überstand die schlimme Lage. Und nach dem zehnten Sprung arbeitete er sich mit größter Anstrengung wieder nach oben. Es sah aus, als krieche er mühselig
auf sein Pferd hinauf. Dann saß er wieder kerzengerade im Sattel. Doch er konnte Lanze und Schild kaum mehr halten. Da hörte er Volker schreien. Er horchte, verstand ihn aber nicht. Doch nach dem Wenden erkannte er, was der Freund ihm mitteilen wollte. Haggans Lanze war gesplittert, und in seinem Übermut hatte er keine zweite mitgebracht! Roland gewann Zuversicht. Nun war er im Vorteil. Sollte der Gräßliche doch nicht unüberwindbar sein? Samum schien die Gefühle seines Reiters zu spüren. Mit erhöhter Schnelligkeit jagte er auf Haggan los. Schneller als in den vorherigen Gängen schmolz der Abstand zwischen den Gegnern. Doch was war das? Haggan hatte die zersplitterte Lanze weggeworfen und parierte den Schimmel lange vor dem Ort ihres Aufeinandertreffens. Wollte er aufgeben? Ein Hochgefühl schwellte Rolands Brust. Aber dann sah er, daß Haggan das Schwert zog. Er wollte einen Schwerterkampf zu Pferde! So stand es in keiner Turnierregel, und Roland hatte es kaum je geübt. Natürlich hätte er versuchen können, Haggan mit der Lanze aus dem Sattel zu heben. Aber sein Gefühl für Fairneß hinderte ihn daran. Nach kurzem Überlegen warf auch er die Lanze weg, zog ebenfalls sein Schwert und drang auf Haggan ein. Nun sangen die Klingen ihr klirrendes Lied. Wie zustoßende Schlangen zuckten sie gegeneinander. Schlag - Parade -Gegenschlag. Das Bild wechselte ständig. Selten, daß ein Hieb zum Treffer wurde. Wenn das Schwert zur Parade zu spät kam, rettete meist doch der Schild. Dennoch gab es die ersten Wunden, wenn der wuchtige Schwerthieb die Rüstung durchfuhr. Das war, als würden lodernde Fackeln gegen den Körper gedrückt. Aber je mehr Fackeln Roland an seiner linken Körperseite spürte, desto mehr wuchs sein Kampfgeist. Er wehrte sich mit Umsicht und dem ganzen Schwung seiner unverbrauchten Jugendkraft. Trotzdem merkte er, daß die Waage des Sieges sich auf Haggans Seite neigte.
Woran liegt es? fragte er sich verzweifelt. Und dann erkannte er den Grund. Haggan, der im Schwerterkampf zu Pferde erfahren schien, hetzte seinen Schimmel ständig dazu an, Samum zu bedrängen. So wurde Roland dauernd herumgedreht und sah den nächsten Schlag oft erst im letzten Augenblick von rechts kommen, wenn er ihn von der anderen Seite erwartete. Sobald er dies erkannte, manövrierte er dagegen, und rasch kam Haggan in ähnliche Bedrängnis. Nun war der Kampf wieder unentschieden. Wohl eine Stunde lang wogte der Kampf hin und her, und die Ritter nutzten dabei die ganze Länge und Breite der Bachauen. Wohl eine Stunde lang schrie Louis wie ein Besessener seinem Herrn Warnungen, aufmunternde Worte und flehende Wünsche zu, von denen der nicht das geringste wahrnahm. Volker verkrampfte die Hände um seinen Schwertgriff, als wolle er ihn zerdrücken. Als erster bemerkte er, daß Roland einen Plan verfolgte. Wenn auch der Kampf im Zickzack über das Schneefeld hin und hersprang, war es Roland doch gelungen, den Gegner immer näher zum Bach zu drängen. Zu spät merkte es Haggan, daß der Schimmel in Gefahr kam, mit den Hinterbeinen in den halbzugefrorenen Wasserlauf abzugleiten. Zweimal konnte er es noch gerade so vermeiden. Doch dann geschah es. Der Schimmel glitt rückwärts in den Bach und versuchte, mit einem irren Luftsprung herauszukommen. Haggan wurde wie eine Puppe weggeschleudert und knallte aufs Eis, das unter ihm brach. Ehe er sich's versah, lag er im eiskalten, schnellfließenden Wasser. Nur sein Schwert ragte wie ein abgebrochener Wurzelstab nach oben. Wie der Blitz sprang Roland vom Pferd, führte einen Hieb gegen Haggans Waffe, die davonflog, und zerrte den halb betäubten Gegner aus dem Wasser. Dann kniete er sich auf seine Brust und sagte schweratmend: »Ergebt Euch - oder Ihr sterbt auf der Stelle!« Haggans Lippen bewegten sich mühsam. Doch ehe das erste Wort
hörbar wurde, rief eine bekannte Stimme: »Werft Euer Schwert weg, Roland! Sonst mache ich Eure Braut vor Euren Augen nieder!« Roland sah sich um. In einiger Entfernung saß Trumm auf dem Fuchshengst, vor sich im Sattel gefesselt Hein. Ein Hein in Mädchenkleidern! Wie Schuppen fiel es Roland von den Augen. Was sein Verstand nicht durchschaute, hatte sein Herz fast vom ersten Augenblick an begriffen. Darum hatte er Hein sofort gern gehabt! Darum gewann er den vermeintlichen Jüngling von Tag zu Tag lieber und nahm ihm weder die laute Prahlerei noch sein zaghaftes Handeln übel. Trumm schwenkte sein Schwert. Nun sah Roland, daß der Graukopf die sechsköpfige Wache der Burg mitgebracht hatte. Sie hielt sich zu seinem Schutz im Halbkreis um ihn geschart. Und dann hörte er Hein, der in Wirklichkeit Heide hieß, und die flatternde helle Stimme schnitt ihm durchs Herz: »Hab Erbarmen, süßer Roland! Hilf mir, mein geliebter Ritter! Ich will nicht so jung sterben!« Roland erhob sich. Er schleuderte sein Schwert weit von sich und breitete die Arme aus, um anzuzeigen, daß er waffenlos war. Es schmerzte ihn nicht, daß Haggan, den er überwunden zu haben geglaubt hatte, nun abermals frei kam. Es reute ihn nicht, daß er bei der Erfüllung eines Auftrags von König Artus zum erstenmal versagt hatte. Und er verschwendete nicht den kleinsten Gedanken an die Gefahr, die Haggan nun neuerdings über Camelot bringen würde. Alles in ihm drängte zu dem Mädchen. Nichts wünschte er sehnlicher, als sie in seine Arme zu schließen. Was wogen dagegen Pflicht, Ruhm und Ehre? Sie erschienen ihm geringer als Staub. Und er rief: »Nun gebt mir meine Braut frei!« Die Antwort Trumms ließ nicht lange auf sich warten. »Ich bringe sie Euch ...« Im leichten Trab kam Trumm auf Roland zu, vor sich das Mädchen Heide. Verzehrend brannten sich Rolands Augen in ihre weichen Züge, ihr langes, aschblondes Haar und die hellen Augen, die so keck strahlen konnten und jetzt trüb vor Tränen waren.
Nun war sie ihm ganz nahe. Er streckte die Arme aus, um sie von Trumms Fuchshengst zu heben. Da führte Trumm überraschend einen heimtückischen Schlag. Von oben drang sein Schwert durch Rolands Helm. Wie vom Blitz getroffen, stürzte Roland kopfüber in den Schnee. Den entsetzen Schrei Heides hörte er nicht mehr. Und nicht Trumms rauhe Stimme: »Das ist dein Ende, Roland!«
ENDE DES 1. TEILS DER TRILOGIE
Freude herrscht im Schloß Camelot. Der totgeglaubte Roland war zurückgekehrt! - Nach einem triumphalen Empfang erzählte Roland vor dem König und der Tafelrunde von seinen Abenteuern, und der Jubel wurde unermeßlich, als er ankündigte, er habe Haggan gefangengenommen ... »Wo ist er?« fragten alle durcheinander. Die Ritter sprangen auf. »Wo habt Ihr ihn verborgen?« Auch König Artus wurde ungeduldig. Es kostete Roland einige Überwindung, die Wahrheit zu sagen, die jetzt in seinen Ohren wie ein unerhörter Fehltritt klang. »Ich ließ ihn auf der Waldburg zurück. Er gab mir sein Ehrenwort, später nach Camelot zu folgen. Zehn Tage Frist gab ich ihm.« Verwunderte Blicke trafen Roland. Der König legte eine Hand vor die Augen. Stimmengewirr. Roland kam sich wie ein Verfemter vor, und bald sollte er es auch sein. Ein paar Tage später kam Roland in Haft. Ihm sollte der Prozeß gemacht werden. Roland ahnte bereits sein Urteil. . .
Rolands Entritterung ist ein dramatischer Ritter-Roman. Ruhm und Ehre sollen ihm aberkannt werden, und ihm droht die Todesstrafe. Liebe Leser, Sie erhalten den Ritter-Roland-Roman Band 29 in 14 Tagen bei Ihrem Zeitschriftenhändler. DM 1,60.