Patricia Highsmith
Ripley´s Game oder Der amerikanische Freund Roman
Aus dem Amerikanischen
von Anne Uhde
Diogen...
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Patricia Highsmith
Ripley´s Game oder Der amerikanische Freund Roman
Aus dem Amerikanischen
von Anne Uhde
Diogenes
Vorlage für dieses eBook:
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
›Ripley´s Game‹
Copyright © 1974 by Patricia Highsmith
Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Titel
›Ripley´s Game oder Regel ohne Ausnahme‹ 1976
im Diogenes Verlag
Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, 1977
ISBN 3 257 20346 2
Dieses eBook ist NICHT FÜR DEN VERKAUF bestimmt!
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»Es gibt keinen perfekten Mord«, sagte Tom abschlie ßend zu Reeves. »Das ist doch nichts als Spielerei, wenn einer versucht, sich so was auszudenken. Ungelöste Mordfälle, die gibt´s natürlich haufenweise, aber das ist ganz was anderes.« Das Gespräch begann ihn zu lang weilen. Er ging vor dem Kamin auf und ab, in dem ein kleines Feuer gemütlich prasselte. Seine Worte hatten etwas steif und anmaßend geklungen, das fand er selber; aber es war nun einmal so – er konnte Reeves diesmal nicht helfen und hatte ihm das auch schon auseinander gesetzt. »Ja, ja, klar«, entgegnete Reeves. Er saß in einem der gelbseidenen Sessel, hager und vornübergebeugt, die Hände zwischen den Knien verschränkt. Das knochige Gesicht mit dem hellbraunen Haar und den kalten grauen Augen hatte wenig Anziehendes, doch ohne die fünf Zoll lange Narbe, die von der rechten Schläfe über die Wan ge fast bis zum Mund verlief, hätte es ein gutaussehendes Gesicht sein können. Die Narbe hob sich hellrot von der Wange ab – sicher das Überbleibsel einer schweren Wunde, die schlecht oder gar nicht vernäht worden war. Tom hatte nie danach gefragt, aber Reeves hatte einmal unaufgefordert erklärt: »Ein Mädchen war das – mit ihrer Puderdose. Unglaublich, was?« (Tom glaubte es auch nicht.) Ein kurzes trauriges Lächeln hatte die Worte be gleitet; daran entsann sich Tom, denn Reeves lächelte selten. Und ein andermal hieß es: »Ein Pferd hat mich abgeworfen – ein paar Meter hat mich der Gaul noch am Bügel mitgeschleift.« Das hatte Reeves einem Bekann ten erzählt, aber Tom war dabei gewesen. In Wahrheit
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war vermutlich ein stumpfes Messer schuld, bei irgendei ner bösen Rauferei. Heute war Reeves mit einem speziellen Wunsch ge kommen: Tom sollte ihm jemanden bringen oder vor schlagen, der einen oder zwei ›einfache Morde‹ über nehmen sollte, dazu vielleicht noch einen ebenso einfa chen und ungefährlichen Diebstahl. Reeves war aus Hamburg nach Villeperce gekommen, um sich mit Tom über seinen Plan zu unterhalten; er wollte heute über Nacht bleiben und morgen in Paris mit einem dritten ver handeln; dann wollte er nach Hamburg, wo er wohnte, zurückkehren, vermutlich um weiter nachzudenken, wenn er nichts erreicht hatte. Reeves war in erster Linie Hehler, befaßte sich aber in letzter Zeit auch mit verbotenem Glücksspiel in Hamburg, und eben diese Spieler dort wollte er schützen, so hatte er erklärt. Schützen – vor wem eigentlich? Na ja, vor italienischen Gaunern, die sich da einzudrängen versuchten. Einer der Italiener in Hamburg war ein Handlanger der Mafia, den sie vermut lich als Späher ausgeschickt hatten, und ein zweiter, aus einer anderen Mafia-Familie, konnte ebenfalls einer sein. Wenn man diese Eindringlinge – einen oder beide – li quidierte, so habe man damit, meinte Reeves, weiteren Versuchen der Bande die Spitze abgebrochen; auch werde auf diese Weise die Hamburger Polizei auf die Gefahr aufmerksam gemacht, und die Polizei werde dann den Rest übernehmen und die Mafia aus der Stadt entfernen. »Unsere Boys in Hamburg sind wirklich ganz ordentlich«, hatte Reeves überzeugend erklärt. »Na ja, sie haben ein paar private Kasinos laufen, das ist viel leicht verboten, aber als Spielklubs sind sie zugelassen, und was sie dabei für sich abschneiden, das hält sich in Grenzen. Nicht zu vergleichen mit Las Vegas, wo einfach
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alles von der Mafia kontrolliert wird, direkt unter den Au gen der Polizei!« Tom schob mit dem Feuerhaken die Glut zusammen; dann nahm er ein weiteres der sauber gespaltenen Holz scheite und legte es in den Kamin. Es war fast sechs, bald Zeit für Drinks. Warum eigentlich nicht jetzt schon? »Sag mal, hast du –« Die Tür ging auf, und Mme. Annette, die Haushälterin, kam aus der Küche herein. »Entschuldigung, Messieurs – aber soll ich die Drinks schon bringen, M. Tome? Ich meine nur, weil der Herr keinen Tee wollte.« »Sehr schön, Mme. Annette, gerade hatte ich auch daran gedacht. Bitten Sie doch auch meine Frau dazu, ja?« Heloise würde die Stimmung ein wenig auflockern, dachte Tom. Bevor er nachmittags um drei nach Orly ge fahren war, um Reeves vom Flughafen abzuholen, hatte er ihr gesagt, Reeves habe etwas mit ihm zu bespre chen; daher hatte sie sich heute nachmittag im Garten und oben im Haus zu tun gemacht. »Tom, hör mal – du würdest es wohl nicht selber ü bernehmen?« fragte Reeves dringlich mit letzter Hoff nung, denn die Zeit wurde knapp. »Du hast keinerlei Verbindung mit uns, und genau das brauchen wir. Kein Risiko. Und das Geld ist ja auch nicht schlecht, meine ich. Sechsundneunzigtausend Dollar.« Tom schüttelte den Kopf. »Ich habe Verbindung zu dir – das kann man doch wohl sagen.« Scheiße. Er hatte ein paar belanglose Sachen für Reeves Minot erledigt – ge stohlene Kleinigkeiten weitergeschickt oder winzige Ge genstände aus Zahnpastatuben herausgeklaubt, in de nen Reeves sie versteckt und die er dann, auf diese Weise getarnt, irgendeinem ahnungslosen Besucher mit gegeben hatte, Mikrofilmrollen oder so was; die hatte Tom dann weitergeleitet. »Was stellst du dir vor, wieviel 6
an Moritaten ich mir noch leisten kann? Ich hab schließ lich meinen Ruf zu wahren hier.« Tom hätte fast gelä chelt bei diesen Worten, obgleich sein Herz etwas schneller schlug. Er reckte sich ein wenig und dachte an sein schönes Haus, an die sichere Existenz, die er heute hatte, sechs Monate nach der Derwatt-Affäre, bei der es beinahe zur Katastrophe gekommen wäre, aber er hatte dann doch noch Glück gehabt und war mit heiler Haut davongekommen, nur ein Hauch von Verdacht war viel leicht hängengeblieben. Sie war dünn, die Eisdecke, auf der er sich bewegte, aber gebrochen war sie nicht. Er war damals mit dem englischen Detective Inspector Webster und zwei forensischen Experten nach Salzburg gefahren, und sie hatten das Waldgebiet aufgesucht, wo er die Leiche – angeblich die Leiche des Malers Derwatt – verbrannt hatte. Der Inspektor hatte Tom gefragt, wa rum er den Schädel zertrümmert habe; und wenn Tom an das Gespräch dachte, fuhr ihm noch immer ein Schauer über den Rücken, denn er hatte es getan, um den Ober kiefer zu zerschlagen und die Zähne verstecken zu kön nen. Der Unterkiefer war damals viel leichter herauszu trennen, den hatte er in einiger Entfernung vergraben. Aber die oberen Zähne . . . Einer der Männer fand dann mehrere und nahm sie mit; doch kein Zahnarzt in London besaß Unterlagen oder Abdrücke von Derwatts Gebiß, weil ja Derwatt angeblich die letzten sechs Jahre in Mexi ko gelebt hatte. »Es paßte irgendwie zu der Einäsche rung – ich meine zu der Vorstellung, ihn zu Asche wer den zu lassen«, hatte er damals erwidert. Der Tote, den er da verbrannt hatte, war Bernard Tufts gewesen. Ja, ihn schauderte heute noch, sowohl bei dem Gedanken an jenen gefährlichen Augenblick des Gesprächs wie bei der Erinnerung an den gräßlichen Moment, als er mit ei nem schweren Stein auf den verkohlten Schädel ein 7
schlug. Aber wenigstens hatte er Bernard nicht getötet. Bernard hatte Selbstmord begangen. »Also ich weiß nicht«, sagte er jetzt zu Reeves, »du kennst so viele Leute, da wirst du doch einen auftreiben können, der das übernimmt.« »Ja, und dann ist die Verbindung da – viel deutlicher als mit dir. Die Leute, die ich kenne, sind leider alle keine unbeschriebenen Blätter.« Reeves´ Stimme verriet seine Niedergeschlagenheit. »Du kennst doch eine Menge hochachtbarer Leute, Tom. Ich meine so Leute, die über jeden Verdacht erhaben sind, weißt du.« Tom lachte. »Und wie willst du die zu so was überre den? Das verrate mir mal. Manchmal redest du wirklich wie nicht gescheit, Reeves.« »Nein – du weißt schon, was ich meine. Ich dachte an einen, der es für Geld macht – für nichts als Geld. Braucht gar kein Profi zu sein, die Vorarbeit übernehmen wir. Es wäre so eine Art – eine Art offizielle Tötung, ver stehst du. Und es muß jemand sein, dem man so etwas niemals zutrauen würde.« Mme. Annette kam herein und schob den Barwagen ins Zimmer. Der silberne Eisbehälter schimmerte. Beim Fahren quietschte der Wagen leise; seit Wochen hatte Tom vorgehabt, ihn zu ölen. Er hätte das Hinundherge rede mit Reeves fortsetzen können, denn die gute Annet te verstand kein Englisch, aber das Thema langweilte ihn allmählich, und er war froh über die Unterbrechung. Mme. Annette war über sechzig, mit klaren Zügen und von kräftigem Körperbau. Sie stammte aus der Norman die und war in jeder Hinsicht eine Perle von Wirtschafte rin. Kaum vorstellbar, wie das Haus ohne sie hätte aus kommen sollen. Jetzt kam auch Heloise aus dem Garten herein, und Reeves erhob sich. Heloise trug weite rosa-weiß gestreif 8
te Hosen, alle Streifen waren von oben nach unten mit dem Aufdruck LEVI versehen. Das lange blonde Haar fiel ihr lose auf den Rücken und glänzte im Widerschein des Feuers. Unschuldig rein, dachte Tom bei ihrem Anblick; was haben wir dagegen für Pläne gewälzt! Das Licht in ihrem Haar schimmerte wie Gold und ließ ihn an Geld denken. Er hatte jetzt eigentlich genug Geld, er brauchte nicht mehr, selbst wenn der Verkauf der Derwatt-Bilder, an dem er beteiligt war, in absehbarer Zeit zu Ende ging, weil es weitere Bilder nicht gab. Er war außerdem noch am Verkauf der Derwatt-Kunstartikel beteiligt, und der ging ja weiter. Dann war da noch sein nicht sehr großes, aber langsam steigendes Einkommen aus den Green leaf-Wertpapieren; die waren ihm durch ein Testament zugefallen, das er eigenhändig gefälscht hatte. Und schließlich, nicht zu vergessen: der sehr anständige Zu schuß von Heloises Vater. Man brauchte also nicht zu knausern. Und Mord, solange er nicht zwingend notwen dig schien, war Tom verhaßt. »Nun – haben Sie alles besprochen?« fragte Heloise auf englisch und ließ sich graziös auf das gelbe Sofa fal len. »Ja, danke schön«, erwiderte Reeves. Die Unterhaltung wurde französisch fortgesetzt, denn Heloise war im Englischen nicht ganz zu Hause. Reeves sprach nur einigermaßen Französisch, konnte sich aber behelfen, und zudem drehte sich das Gespräch um Be langlosigkeiten, um den Garten und den milden Winter, der jetzt anscheinend vorbei war, denn es war nun An fang März, und die Narzissen fingen schon an zu blühen. Tom füllte Heloises Glas mit Sekt aus einer der kleinen Flaschen, die auf dem Wagen standen. »Und was macht Hamburg?« fragte Heloise noch ein mal auf Englisch, und Tom sah einen lustigen Funken in 9
ihren Augen aufblitzen, als Reeves sich um eine konven tionelle französische Antwort bemühte. In Hamburg, be richtete er, sei es jetzt auch nicht mehr kalt, und er habe ebenfalls einen Garten, sein ›petite maison‹ liege nahe der Alster, einer Art See mitten in der Stadt. Viele Ham burger besäßen ein Haus am Wasser und manchmal auch ein kleines Boot. Tom wußte, Heloise mochte Reeves Minot nicht. Sie traute ihm nicht, er war der Typ, den sie sich für ihren Mann nicht gerade wünschte. Befriedigt sagte sich Tom, daß er heute abend Heloise offen und ehrlich erzählen konnte, er habe sich geweigert, Reeves´ Wünschen nachzukommen. Heloise machte sich oft Gedanken, was ihr Vater wohl zu manchen Dingen sagen würde, wenn er sie erführe. Jacques Plissot war Fabrikant von Pharma zeutika, Millionär und Gaullist: der untadelige französi sche Bürger, wie er im Buche stand. Und er hatte Tom eigentlich nie gemocht. Häufig warnte Heloise ihren Mann und sagte: »Viel wird mein Vater sich nicht mehr bieten lassen!« – wobei es Tom klar war, daß es ihr mehr um seine Sicherheit ging, als um den finanziellen Zu schuß, den sie von ihrem Vater erhielt und den er, wie sie behauptete, oft zu sperren drohte. Einmal in der Wo che, meistens am Freitag, aß sie bei ihren Eltern in Chantilly. Tom wußte: wenn der Vater tatsächlich den Zuschuß einstellte, konnten sie Belle Ombre, ihr Haus in Villeperce, nicht halten. Zum Dinner gab es zunächst kalte Artischocken mit einer speziell von Mme. Annette erfundenen Sauce, und als Hauptgericht Médaillons de bœuf. Heloise hatte sich umgezogen, sie trug jetzt ein einfaches blaßblaues Kleid. Sicher spürte sie schon, daß Reeves den Zweck seines Besuches nicht erreicht hatte.
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Vor dem Schlafengehen vergewisserte sich Tom, daß sein Gast alles hatte, was er brauchte, und fragte ihn, ob und zu welcher Zeit er morgens gern Tee oder Kaffee hätte. Kaffee um acht, erwiderte Reeves. Man hatte ihm das Gästezimmer oben links eingeräumt und dazu das Bad, das sonst zu Heloises Zimmer gehörte. Die Zahn bürste hatte Mme. Annette schon hinübergebracht in Toms Bad, das neben seinem Schlafzimmer lag. »Du, ich bin froh, daß er morgen abreist. Warum ist er bloß so – so gehemmt?« Heloise stand am Waschtisch und bürstete sich die Zähne. »Ach, so ist er immer.« Tom stellte die Dusche ab, trat aus der Badewanne und wickelte schnell das große gel be Laken um sich. »Vielleicht ist er deshalb so dünn.« Sie sprachen englisch, mit Tom allein hatte Heloise keine Hemmungen. »Wo hast du ihn eigentlich kennengelernt?« Das wußte Tom nicht mehr. Und wann? Ach – vor fünf oder sechs Jahren. In Rom –? Wer hatte ihn denn be kannt gemacht? Tom war zu müde zum Nachdenken, und es war ja auch nicht weiter wichtig. Er hatte noch mehr Bekannte dieser Art und hätte nicht sagen können, wie und wo er jeden kennengelernt hatte. »Was wollte er denn heute von dir?« Tom legte den Arm um ihre Hüfte und drückte das weiche Nachthemd fest an den Körper. Er küßte sie auf die kühle Wange und sagte: »Ach, etwas Unmögliches. Ich hab Nein gesagt, das hast du wohl gemerkt, nicht wahr? Und nun ist er enttäuscht.« In dieser Nacht hörte man mehrmals ein einsames Käuzchen rufen, das nicht weit entfernt im Pinienwald hinter dem Hause saß. Tom hatte den linken Arm unter Heloises Nacken geschoben und lag ruhig neben ihr, hellwach. Sie war eingeschlafen, ihr Atem ging weich und 11
langsam. Tom seufzte tiefsinnend, doch seine Gedanken nahmen nicht den richtigen logischen Verlauf. Der zweite Kaffee nach dem Essen ließ ihn nicht einschlafen. Er dachte an eine Party in Fontainebleau, vor einem Monat etwa, eine zwanglose Geburtstagsparty für eine junge Frau – wie hieß sie noch? Es war der Nachname, der ihm nicht einfallen wollte, ein englischer Name – gleich mußte er ihn haben. Ihr Mann, der Gastgeber, war Anfang drei ßig, und sie hatten einen kleinen Sohn. Das Haus war einfach und schmucklos, zweistöckig, in einer Wohnge gend von Fontainebleau; hinten war ein kleiner Garten. Der Mann stellte Bilderrahmen her, deshalb war Tom von Pierre Gauthier mitgenommen worden. Gauthier hatte ein Geschäft für Kunstgewerbeartikel in der Rue Grande, und Tom kaufte seine Farben und Pinsel bei ihm. Gauthier hatte ihn gedrängt: »Kommen Sie doch mit, M. Reepley, und bringen Sie auch Ihre Frau mit! Wirklich, er freut sich, wenn viele kommen, er ist ein bißchen depri miert, wissen Sie . . . und wo er doch Bilderrahmen macht – vielleicht können Sie ihm mal was zukommen lassen.« Tom blinzelte im Dunkeln und schob den Kopf etwas zurück, damit die Augenlider Heloises Schulter nicht be rührten. Er sah einen großen blonden Engländer vor sich, den er irgendwie nicht mochte, denn in der Küche – sie war halbdunkel, das Linoleum abgetreten, die Decke rauchgeschwärzt mit Stuck aus dem vorigen Jahrhundert – hatte der Mann – hieß er Trewbridge? Tewksbury? – zu Tom etwas unfreundlich, beinahe höhnisch gesagt: »O ja, von Ihnen habe ich schon gehört.« Tom hatte vorher noch gar nicht mit ihm gesprochen; alles, was er gesagt hatte, war: »Ich bin Tom Ripley, ich wohne in Villeperce.« Er hatte ihn dann fragen wollen, wie lange er schon in Fontainebleau wohnte, es war doch denkbar, daß ein 12
Engländer mit einer französischen Frau sich freute, einen Amerikaner mit einer französischen Frau kennenzuler nen; aber auf seine Worte folgte dann diese unhöfliche Erwiderung. Trevanny – ja, so hieß er doch? Blond, glat tes Haar, ähnlich wie ein Holländer, aber Engländer und Holländer hatten ja oft eine gewisse Ähnlichkeit. Jetzt fiel Tom noch etwas ein, und zwar eine Bemer kung von Gauthier, etwas später am gleichen Abend. »Er ist deprimiert, wissen Sie – er meint das gar nicht so. Er ist nämlich krank – eine Blutkrankheit, Leukämie, glaube ich, jedenfalls was Ernstes. Sie sehen es ja auch dem Haus an, so sehr gut geht´s ihnen nicht.« Gauthier hatte ein Glasauge von merkwürdigem Grüngelb, offenbar soll te es in der Farbe zu dem lebenden Auge passen, und das war nicht gelungen. Das falsche sah aus wie das Auge einer toten Katze. Man versuchte immer, nicht hin zusehen, aber es zog die Blicke geradezu hypnotisch an. Deshalb hatten Gauthiers trübe Worte, zusammen mit dem Glasauge, bei Tom einen starken Eindruck vom To de hinterlassen, den er nicht vergessen hatte. O ja, von Ihnen habe ich schon gehört. Was meinte er bloß? Bedeutete es, daß Trevanny oder wie er hieß, die Gerüchte um Tom Ripley kannte und der Ansicht war, Tom habe den Tod von Bernard Tufts und auch den von Dickie Greenleaf verschuldet? Oder war dieser Trevanny einfach jedem Menschen gegenüber verbittert, weil er krank war – vergrätzt, wie einer mit einem Magenleiden? Jetzt erinnerte sich Tom auch an die Ehefrau: nicht gera de hübsch, aber nett anzusehen, kastanienbraunes Haar, ein offenes und freundliches Gesicht. Sie hatte sich viel Mühe gemacht mit der Party in dem kleinen Wohnzimmer und der Küche, wo es nur wenige Stühle gab und nie mand sich hingesetzt hatte.
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Tom wurde nachdenklich; langsam stieg eine Idee in ihm auf und nahm Gestalt an. Ob dies vielleicht ein Mann war, der so eine Aufgabe übernehmen würde, wie Ree ves sie im Sinne hatte? Nicht ausgeschlossen, überlegte er; und bei diesem Engländer bot sich vielleicht eine Kon taktmöglichkeit, ein Weg, der auch bei anderen Leuten gangbar wäre, wenn man den Boden etwas vorbereitete, doch in diesem Falle war er bereits vorbereitet. Trevanny machte sich ernste Sorgen um seine Gesundheit. Na ja – die Idee war im Grunde nichts als ein Scherz. Zugege ben: ein schlechter Scherz, aber der Mann war ja auch reichlich unfreundlich zu ihm gewesen. Außerdem würde der Scherz vermutlich nach zwei oder drei Tagen plat zen, sobald nämlich Trevanny seinen Arzt aufgesucht hatte. Die Idee machte Tom allmählich Spaß. Behutsam lös te er sich von Heloise, damit sie nicht aufwachte, wenn er lachen mußte. Man stelle sich bloß mal vor, daß Trevan ny tatsächlich auf Reeves´ Plan einging und ihn ausführ te wie ein Soldat oder wie ein Schlafwandler. Ob sich der Versuch wirklich lohnte? Ja, er lohnte sich. Tom hatte nichts zu verlieren und Trevanny erst recht nicht. Im Ge genteil, Trevanny hatte viel zu gewinnen, und Reeves hatte ebenfalls zu gewinnen, wie er behauptete, aber das war seine Sache. Was Reeves eigentlich mit dieser gan zen Angelegenheit bezweckte, das war Tom ebenso un klar wie Reeves´ Getue mit den Mikrofilmen, bei denen es sich vermutlich um internationale Spionage handelte. Ob die hohen Herren in den Regierungen wohl eine Ah nung hatten, wie verrückt sich manche ihrer Agenten auf führten? Sinnlos jagten sie mit Pistolen und Mikrofilmen von Bukarest nach Moskau und Washington – erwach sene Männer, die sich gewiß mit der gleichen Begeiste rung und demselben Energieaufwand dem internationa 14
len Kriegsgeschehen an den Briefmarkenbörsen oder der Beschaffung geheimer Pläne von Miniatureisenbahnen widmen könnten.
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So kam es, daß Jonathan Trevanny – wohnhaft in Fon tainebleau, Rue St-Merry – zehn Tage später, am 22. März, einen seltsamen Brief von seinem guten Freund Alan McNear erhielt. Alan war der Pariser Manager einer englischen Firma für elektronische Geräte; den Brief hat te er kurz vor seiner Abreise nach New York, wo er ge schäftlich zu tun hatte, geschrieben, eigenartigerweise nachdem er gerade am Tag vorher noch bei den Trevan nys in Fontainebleau gewesen war, an einer Abschieds party, die sie für ihn gegeben hatten. Jonathan hätte eher einen kurzen Dankbrief für die Party erwartet (oder viel mehr gar nicht erwartet), und Alan schrieb auch ein paar Worte des Dankes, aber dann hieß es weiter: ›Jon, ich war ganz entsetzt, als ich hörte, daß deine al te Krankheit sich verschlimmert hat; ich hoffe immer noch, daß es nicht stimmt. Man sagte mir, du wüßtest Bescheid, wolltest aber deine Freunde nicht damit behel ligen. Nun sag mir bloß: Wozu hat man denn Freunde? Du kannst doch nicht annehmen, zwischen uns würde sich etwas ändern, weil wir meinten, du würdest nun nur noch Trübsal blasen? Deine Freunde, zu denen ich mich ganz gewiß zähle, sind immer und jederzeit für dich da. Ich kann das schriftlich nicht so ausdrücken, du mußt mir bitte glauben. Aber ich werd´s nachholen, wenn wir uns in ein paar Monaten wiedersehen, falls ich einen Urlaub herausschlagen kann. Bitte verzeih diese unzureichen den Worte.‹ Was um Himmels willen meinte Alan damit? War es denkbar, daß Dr. Perrier, der Hausarzt, zu Jonathans Freunden etwas gesagt hatte, das er ihm, dem Patienten, verschwieg? Irgend etwas in der Richtung, daß er nicht 16
mehr lange zu leben habe? Auf der Abschiedsparty war Dr. Perrier nicht gewesen, aber vielleicht hatte er zu ir gend jemand etwas gesagt? Möglicherweise sogar zu Simone? Und Simone behielt es womöglich auch für sich und sagte ihrem Mann nichts davon? Das alles ging Jonathan durch den Kopf, als er um halb neun Uhr morgens in seinem kleinen Garten stand. Ihn fröstelte trotz des Pullovers, und die Hände trugen Spuren von Gartenerde. Am besten suchte er Dr. Perrier gleich heute auf. Mit Simone zu reden hatte keinen Zweck; wer weiß, sie würde sich vielleicht verstellen. A ber Liebling, wie kommst du darauf? Ganz sicher war Jon nicht, daß er sie durchschauen würde. Und Dr. Perrier – ob er dem glauben durfte? Der war wie ein Luftballon, immer erfüllt von fröhlichem Optimis mus: wunderbar bei harmlosen Wehwehs, man fühlte sich dann sofort besser, manchmal geradezu schon ge heilt. Aber Jon wußte, bei ihm war es keine Belanglosig keit. Er litt an myeloischer Leukämie, das war ein Über schuß an weißen Blutkörperchen im Knochenmark. So bald die Schwäche ihn überkam, mußte er seinen Arzt aufsuchen oder im Krankenhaus in Fontainebleau eine Bluttransfusion vornehmen lassen. Nur hatte Dr. Perrier, ebenso wie ein Pariser Spezialist, ihm nicht verschwie gen, daß eines Tages die Verschlechterung sich vermut lich beschleunigen werde, und dann sei mit Transfusio nen nicht mehr viel zu machen. Das wußte Jonathan, er hatte viel über seine Krankheit gelesen. Bis heute gab es kein Mittel gegen myeloische Leukämie. In den meisten Fällen dauerte es sechs bis zwölf Jahre bis zum Ende, manchmal auch nur sechs bis acht Jahre. Er war jetzt im sechsten Jahr. Jonathan stellte die Harke in den kleinen ummauerten Raum, der früher als Außentoilette gedient hatte und 17
heute zum Geräteschuppen umgewandelt worden war. Er ging hinüber zur hinteren Treppe, blieb mit einem Fuß auf der ersten Stufe stehen und sog in tiefen Zügen die frische Morgenluft ein. Wie viele solcher Morgen werd ich noch erleben? dachte er. Aber das hatte er sich auch im letzten Frühling gefragt. Kopf hoch – er wußte ja seit sechs Jahren, daß er vielleicht keine fünfunddreißig wer den würde. Mit festen Schritten stieg er die acht eisernen Stufen hinauf. Jetzt war es 8.52 Uhr. Um neun oder kurz nach neun mußte er in seinem Laden sein. Simone war mit Georges auf dem Weg zur Ecole Ma ternelle; das Haus war leer. Jonathan wusch sich die Hände am Küchenausguß und benutzte dazu die Gemü sebürste, was Simone nicht gern sah, aber er ließ die Bürste sauber liegen. Der einzige andere Waschtisch war oben im Badezimmer. Telefon hatten sie nicht. Sobald er im Laden war, wollte er bei Dr. Perrier anrufen. Jonathan verließ das Haus und ging bis zur Rue de la Paroisse; hier bog er links ab und schritt die Straße hin unter bis zur Kreuzung der Rue des Sablons. In seinem Geschäft wählte er Dr. Perriers Nummer, er wußte sie auswendig. Die Sprechstundenhilfe meldete sich; der Doktor sei besetzt. Das hatte Jonathan erwartet. »Es ist dringend, wirklich. Und es dauert bestimmt nicht lange – ich will ihn bloß etwas fragen, etwas sehr Wichtiges. Ich muß ihn sprechen.« »Ist es die Schwäche, M. Trevanny?« »Ja«, sagte Jonathan sofort. Sie gab ihm einen Termin: zwölf Uhr mittags. Eine un heilvolle Zeit, dachte er. Jonathan war Bilderrahmer. Er schnitt Glas und Pappe zurecht und fertigte den Rahmen an; für unentschlossene Kunden suchte er Rahmen aus seinem Vorrat heraus, und in seltenen Glücksfällen, wenn er auf Auktionen oder 18
bei Althändlern alte Rahmen einhandelte, fand er auch ein Bild, das zu dem Rahmen paßte. Das konnte er dann säubern und zum Verkauf in sein Schaufenster stellen. Doch das Geschäft ging nicht besonders; sie lebten von der Hand in den Mund. Vor sieben Jahren hatte er noch einen Partner gehabt, ebenfalls Engländer, aus Man chester war er; sie hatten in Fontainebleau ein Antiquitä tengeschäft aufgemacht, meistens war es alter Kram, den sie aufpolierten und dann verkauften. Aber für zwei war das nicht genug zum Leben gewesen, deshalb war Roy ausgeschieden und hatte in der Nähe von Paris eine Stellung als Automechaniker in einer Garage angenom men. Bald darauf hatte dann ein Pariser Arzt zu Jonathan das gleiche gesagt, was er von einem Londoner Arzt er fahren hatte: »Neigung zur Anämie. Ich rate Ihnen, sich häufig zur Kontrolle untersuchen zu lassen. Möglichst keine schwere Arbeit.« So hatte er den Umgang mit Schränken und Sofas aufgegeben und war zu Bilderrah men und Glas übergegangen, das war leichter. Vor sei ner Heirat hatte er Simone gesagt, er werde vielleicht nur noch sechs Jahre zu leben haben, denn gerade als sie sich kennenlernten, hatten ihm zwei Ärzte bestätigt, die Ursache seiner periodischen Schwächeanfälle sei mye loische Leukämie. Langsam und ruhig begann Jonathan seinen Tag. Seine Gedanken waren bei Simone. Wenn er jetzt starb, könnte sie wieder heiraten. Sie arbeitete jede Woche an fünf Nachmittagen von halb drei bis halb sieben in einem Schuhgeschäft in der Avenue Franklin Roosevelt, das war nicht weit von zu Hause, man konnte zu Fuß hinge hen. Aber sie tat das erst seit einem Jahr, seit Georges alt genug war, um in der französischen Abart eines Kin dergartens untergebracht zu werden. Sie brauchten eben die zweihundert Francs, die Simone wöchentlich verdien 19
te; trotzdem war es Jonathan unbehaglich bei dem Ge danken an Brezard, ihren Chef; das war ein Casanova, der seine Verkäuferinnen gern mal in den Po kniff und sein Glück sicher auch im Hinterzimmer versuchte, das als Lager diente. Simone war zwar eine verheiratete Frau, und Brezard wußte das sehr gut, es gab also wohl eine Grenze, die er nicht überschreiten durfte, aber das hinderte so einen ja nicht daran, es immer mal wieder zu versuchen. Simone war alles andere als ein Flirt – im Gegenteil, sie war eher schüchtern, es sah aus, als glau be sie, für Männer nicht attraktiv zu sein. Jonathan liebte diese Eigenschaft an ihr; für sein Gefühl knisterte sie ge radezu vor Sex-Appeal – allerdings war es vielleicht eine Art von Sex-Appeal, auf die nicht jeder Mann ansprach, und es ärgerte ihn besonders, daß dieser Wühleber, die ser Brezard, die ganz spezielle Art von Anziehung an Simone offenbar bemerkt hatte und daß er daran teilha ben wollte. Nicht daß Simone viel von ihm sprach; sie hatte bisher nur einmal erwähnt, daß er es mit seinen Verkäuferinnen versuchte – es gab noch zwei außer ihr. Einen Augenblick lang stellte sich Jonathan, während er einer Kundin ein gerahmtes Aquarell vorführte, Simone vor, wie sie nach angemessenem Zögern ihrem odiösen Chef nachgab – er war immerhin Junggeselle und finan ziell besser gestellt als Jonathan. Ach, Blödsinn, dachte er gleich darauf. Simone konnte diesen Typ nicht ausste hen. »Wunderhübsch, wirklich! Genau richtig!« sagte die junge Frau in dem hellroten Mantel erfreut und hielt das Bild auf Armeslänge von sich. Ein Lächeln erschien zögernd auf Jonathans langem, ernsthaftem Gesicht, als sei eine kleine private Sonne durch die Wolken hervorgebrochen und leuchte nun von innen heraus. Sie war so ehrlich entzückt! Er kannte sie 20
gar nicht; sie holte nur das Bild ab, das eine ältere Dame – vielleicht ihre Mutter – ihm neulich gebracht hatte. Der Preis war eigentlich zwanzig Francs höher, als er zu nächst geschätzt hatte, denn der Rahmen war nicht der, den die andere Dame ausgesucht hatte (davon war nicht genug auf Lager gewesen), aber er sagte jetzt nichts da von und nahm die vereinbarten achtzig Francs dankend entgegen. Etwas später holte er einen Besen und säuberte den Holzfußboden; die drei oder vier Bilder in dem kleinen Schaufenster wurden mit dem Staubwedel abgestaubt. Heute morgen fiel ihm auf, wie schäbig der Laden war. Nirgends ein bißchen Farbe; Rahmen jeder Größe stan den an die ungestrichenen Wände gelehnt, Musterleisten hingen von der Decke herab, und auf dem Ladentisch lagen Auftragsbuch, Lineal und Bleistifte. Weiter hinten gab es einen langen Holztisch, an dem Jonathan mit der Gehrungslade, Sägen und Glasschneidern arbeitete. Dort lagen auch die sorgsam geschützten Bogen für die Passepartouts sowie eine dicke Rolle mit braunem Pa pier, Bindfaden, Draht, Leimtöpfe, Kästchen mit Nägeln verschiedener Größe, und über dem Tisch an der Wand hingen Gestelle mit Messern und Hämmern. Im Grunde liebte Jonathan die altertümliche Atmosphäre des neun zehnten Jahrhunderts, das Fehlen jeglichen kommerziel len Gehabes. Sein Geschäft sollte aussehen, als gehöre es einem guten, soliden Handwerker, und das war ihm auch wohl gelungen. Er forderte niemals überhöhte Prei se und hielt stets die Termine ein; wenn er sich einmal verspätete, so schickte er dem Kunden eine Karte oder rief ihn an. Sie wußten das zu schätzen, das hatte er festgestellt. Um elf Uhr fünfunddreißig hatte er zwei kleine Bilder gerahmt und mit den Namen der Eigentümer versehen. 21
Jetzt stand er am Ausguß und wusch sich Gesicht und Hände mit kaltem Wasser, fuhr mit dem Kamm durch die Haare, streckte sich und nahm sich vor, auf das Schlimmste gefaßt zu sein. Dr. Perriers Praxis war nicht weit, in der Rue Grande. Jonathan drehte sein Türschild um, auf dem ›Ouvert à 14.30 heures‹ stand, schloß die Tür ab und machte sich auf den Weg. Im Vorzimmer mit dem staubig-kränklichen Lorbeer baum mußte er warten. Niemals blühte der Baum, er wuchs nicht und starb nicht und veränderte sich niemals. Im stillen verglich Jonathan sich selber mit der Pflanze; er versuchte, an anderes zu denken, doch immer wieder wanderten seine Augen zu ihr hinüber. Ein paar Hefte PARIS MATCH lagen auf dem ovalen Tisch, alt und zer fleddert; Jonathan fand sie noch trübseliger als den Lor beer. Er hielt sich im stillen vor, daß Dr. Perrier ja auch noch als Krankenhausarzt in dem großen Hôpital de Fon tainebleau angestellt war; sonst wäre es unsinnig gewe sen, sein Leben und die Antwort auf die Frage, ob man bald sterben müsse, in die Hände eines Arztes zu legen, der in einer so schäbigen kleinen Behausung praktizierte. Die Sprechstundenhilfe kam heraus und ließ ihn ein treten. »Nun, wie geht´s denn meinem interessanten Patien ten?« Dr. Perrier rieb sich die Hände und streckte Jona than die Rechte entgegen. Jonathan schüttelte die Hand. »Danke schön, ich fühle mich ganz wohl. Aber was ist mit – ich meine die Tests, die wir vor zwei Monaten gemacht haben? Wie ich höre, sind sie nicht sehr günstig ausgefallen – –?« Dr. Perrier blickte ihn verständnislos an, und Jonathan beobachtete ihn scharf. Dann lächelte der Arzt, wobei unter dem nachlässig getrimmten Schnurrbart gelbliche Zähne sichtbar wurden. 22
»Nicht sehr günstig – wieso? Sie haben doch die Re sultate gesehen.« »Ja, schon – aber ich bin ja kein Fachmann. Vielleicht – ich meine, vielleicht verstehe ich sie nicht richtig.« »Aber ich hab sie Ihnen doch erklärt! Also was gibt´s denn nun heute – ist es wieder die alte Müdigkeit?« »Nein, eigentlich nicht.« Jonathan merkte, der Arzt war in Eile, er wollte zum Mittagessen, deshalb sagte er has tig: »Offen gesagt, ein Freund von mir hat irgendwie erfah ren, daß – daß mir eine Krise bevorsteht. Oder daß ich vielleicht nicht mehr lange zu leben habe. Ich habe natür lich angenommen, der Bescheid müsse von Ihnen stam men.« Dr. Perrier schüttelte den Kopf und lachte, er hüpfte ein paarmal wie ein Vogel und blieb dann stehen, die mageren Arme auf die Glasplatte des Bücherschränk chens gelegt. »Mein lieber M. Trevanny – erstens hätte ich das, wenn es stimmte, keinem Menschen gesagt. Das gehört sich nicht für einen Arzt. Zweitens trifft es, soweit es den letzten Test betrifft, ja gar nicht zu. Möchten Sie gern, daß wir heute noch einen Test machen? Vielleicht heute nachmittag im Krankenhaus, da könnte ich –« »Nein, das ist nicht nötig. Ich wollte nur eins wissen: Stimmt es? Oder wollen Sie es mir nur nicht sagen, viel leicht, um mich zu schonen?« Jonathan lachte unsicher. »Aber woher denn! Halten Sie mich für so einen Arzt?« Ja, das tue ich, dachte Jonathan und blickte Perrier in die Augen. Und Gott segne ihn dafür, in manchen Fällen; aber er selber war eben nicht so ein Patient; mit ihm soll te man offen sprechen, er wußte mit Tatsachen fertig zu werden. Jonathan biß sich auf die Lippen. Er konnte na 23
türlich das Labor in Paris aufsuchen und darauf beste hen, noch einmal mit Dr. Moussu, dem Spezialisten, zu sprechen. Und er konnte auch versuchen, heute beim Lunch etwas aus Simone herauszukriegen. Dr. Perrier klopfte ihm freundschaftlich auf den Arm. »Ich will ja nicht fragen, wer Ihr Freund ist, aber entweder irrt er sich, oder er ist kein guter Freund, meine ich. Also Sie kommen zu mir, wenn Sie wieder müde werden – das ist jetzt die Hauptsache, nicht wahr?« Zwanzig Minuten später stieg Jonathan die Stufen zu seiner Haustür hinauf. Er hatte eine Apfeltorte und ein langes Weißbrot bei sich. Er schloß die Tür auf und ging den Flur entlang bis zur Küche, wo es nach Bratkartoffeln roch: ein Duft, der ihm das Wasser im Munde zusam menlaufen ließ und der stets Lunch bedeutete, nicht Din ner. Simone schnitt die Kartoffeln immer in lange schma le Streifen, nicht in kleine Stücke wie die Chips-Verkäufer in England. Warum mußte er jetzt an England denken? Simone stand am Herd, sie hatte eine Schürze um und eine lange Gabel in der Hand. »Hallo, Jon. Du bist spät heute.« Jonathan legte den Arm um sie und küßte sie auf die Wange, dann hielt er den Karton in die Höhe und zeigte ihn Georges, der, den blonden Kopf gebeugt, am Tisch saß und aus einer leeren Cornflakeschachtel Figuren für sein Mobile ausschnitt. »Oh, Kuchen? Was für Kuchen?« fragte Georges be gierig. »Apfel.« Jonathan stellte den Karton auf den Tisch. Sie setzten sich zu Tisch. Für jeden gab es ein kleines Steak, grünen Salat und die köstlichen, duftenden Brat kartoffeln. »Brezard fängt mit der Inventur an«, erzählte Simone. »Nächste Woche kommen die Sommersachen, deshalb 24
macht er Freitag und Samstag Ausverkauf. Kann sein, daß ich heute abend etwas später komme.« Sie hatte den Apfelkuchen auf dem Asbestteller ge wärmt. Jonathan wartete ungeduldig darauf, daß Georges ins Wohnzimmer ging, wo er einen Teil seiner Spielsachen hatte, oder hinaus in den Garten. Als er end lich draußen war, sagte Jonathan: »Ich bekam heute einen komischen Brief von Alan.« »Von Alan? Wieso komisch?« »Er hat ihn geschrieben, gerade bevor er nach New York ging. Er hatte offenbar gehört –« Ob er ihr den Brief zeigen sollte? Sie konnte Englisch gut lesen. Er beschloß, weiterzureden. »Er hat irgendwo gehört, daß es mir schlechter geht, daß eine ernste Krise bevorsteht oder so was. Weißt du irgendwas davon?« Er beobachte te ihre Augen. Simone sah ehrlich überrascht auf. »Wieso ich – nein, natürlich nicht, Jon. Ich könnte es doch nur von dir hö ren.« »Ich habe eben mit Dr. Perrier gesprochen, deshalb kam ich etwas später. Er sagt, er weiß nichts von einem Wechsel in meinem Befund, aber du kennst ja Perrier!« Jonathan lächelte; sein Blick ließ sie nicht los. »Hier ist der Brief.« Er zog ihn aus der hinteren Tasche und über setzte ihr den Absatz. »Mon dieu! Woher kann er das gehört haben?« »Das frage ich mich auch. Ich werde ihm schreiben und ihn fragen, meinst du nicht?« Wieder lächelte Jona than, diesmal war es ein offenes Lächeln, denn er war sicher, daß Simone nichts wußte. Mit einer zweiten Tasse Kaffee ging Jonathan hinüber in das kleine Wohnzimmer, wo Georges mit seinen Figu ren ausgestreckt auf dem Boden lag. Jonathan setzte sich an den kleinen Schreibtisch, an dem er sich immer 25
wie ein Riese vorkam, es war ein zierlicher französischer ecritoire, ein Geschenk von Simones Verwandten. Jona than achtete darauf, sich nicht zu schwer auf die Platte zu stützen, und begann einen Luftpostbrief an Alan McNear im Hotel New Yorker. Der Anfang geriet ihm ganz munter, dann kam der zweite Absatz. ›Ich weiß nicht recht, was du mit der schlimmen Nach richt meinst, die dich so erschreckt hat. Mir geht es durchaus gut. Heute morgen habe ich meinen Arzt hier gefragt, ich wollte wissen, ob er mir die Wahrheit sagt. Er behauptet, von einer Verschlimmerung nichts zu wissen. Deshalb wüßte ich sehr gern, von wem du es gehört hast, lieber Alan. Könntest du mir das wohl recht bald kurz mitteilen? Es hört sich nach einem Mißverständnis an, und ich möchte es natürlich gerne aus der Welt schaffen; du kannst sicher verstehen, daß ich sehr gern wissen möchte, woher du es hast.‹ Den Brief warf er auf dem Weg zu seinem Geschäft in einen gelben Kasten. Sicher konnte er erst in einer Wo che mit Alans Antwort rechnen. An diesem Nachmittag war Jonathans Hand so ruhig und sicher wie je, als er das Messer am Rand des stäh lernen Lineals entlangzog. Er dachte an den Brief, der wohl heute abend oder morgen früh auf den Weg zum Flughafen Orly gebracht wurde. Er dachte an sein Alter, vierunddreißig Jahre, und wie kläglich wenig er im Leben erreicht hatte, wenn er jetzt in ein paar Monaten sterben sollte. Er hatte einen Sohn gezeugt, das war gewiß et was, aber kaum etwas besonders Verdienstvolles. Er würde Simone nicht sehr gut versorgt zurücklassen; und ihren Lebensstandard hatte er eher etwas gesenkt als gehoben. Ihr Vater war zwar nur Kohlenhändler, aber im Laufe der Jahre hatte die Familie es doch zu bescheide nem Wohlstand gebracht; sie hatten zum Beispiel ein 26
Auto und waren gut eingerichtet. Im Juni oder Juli miete ten sie für den Urlaub ein Haus unten im Süden, und im letzten Jahr hatten sie die Miete für einen weiteren Monat bezahlt, so daß Jonathan und Simone mit Georges hat ten hinfahren können. Jonathan hatte es nicht so weit gebracht wie sein Bruder Philip, der zwei Jahre älter war und schwächlicher aussah und der sein Leben lang ein langweiliger Streber gewesen war. Heute war er Profes sor für Anthropologie an der Universität Bristol: sicher nicht gerade ein Genie, aber ein zuverlässiger Beamter mit einer soliden Laufbahn und einer Frau und zwei Kin dern. Jonathans verwitwete Mutter lebte sehr zufrieden in Oxfordshire bei ihrem Bruder und seiner Frau, wo sie das Haus und den großen Garten versorgte. Er selber, dach te Jonathan, war eigentlich der Versager in der Familie, sowohl gesundheitlich wie beruflich. Mit achtzehn hatte er Schauspieler werden wollen und hatte zwei Jahre lang eine Schauspielschule besucht. Sein Gesicht paßte nicht schlecht dafür, fand er; kein wirklich schönes Gesicht mit der großen Nase und dem breiten Mund, aber hübsch genug für jugendliche Helden und gleichzeitig auch mar kant genug für das schwere Heldenfach später. Ach, es war bei den Luftschlössern geblieben: er hatte kaum zwei kleine Rollen gehabt in den drei Jahren, als er sich in London und Manchester an den Theatern herumtrieb und daneben natürlich, um zu leben, immer noch andere Jobs hatte annehmen müssen, einmal sogar als Gehilfe bei einem Tierarzt. »Sie brauchen so viel Platz und sind dabei noch unsicher«, hatte ein Regisseur einmal zu ihm gesagt. Und als er dann bei einer dieser Gelegenheitsar beiten für einen Antiquitätenhändler tätig war, fand er, das Antiquitäten-Geschäft müßte ihm eigentlich liegen. Er hatte soviel wie möglich von seinem Boss, Andrew Mott, gelernt. Dann kam der große Schritt, die Übersied 27
lung nach Frankreich mit seinem Freund Roy Johnson; auch er brachte viel Begeisterung und wenig Kenntnisse mit für den Aufbau eines Antiquitätengeschäfts aus dem Althandel. Jonathan erinnerte sich gut an seine Visionen von Ruhm und Abenteuer in einem neuen Land, an die Träume von Freiheit und Erfolg in Frankreich. Und wie hatte die Wirklichkeit ausgesehen? Weder Erfolge noch intellektuelle Freundinnen, noch Kontakte mit Bohémiens oder sonst einer Schicht der französischen Gesellschaft, die er sich vorgestellt hatte, die aber vielleicht gar nicht existierte – nichts von alledem. Er hatte weiterstolpern müssen und war nicht besser dran gewesen als zu der Zeit, da er sich um Bühnenrollen bemühte und jede Art Broterwerb hatte annehmen müssen. Das einzige wirkliche Glück seines Lebens war seine Ehe mit Simone. Die Nachricht von seiner Krankheit war damals im gleichen Monat gekommen, in dem er Simone Foussadier kennenlernte. Er hatte sich manchmal merk würdig schwach gefühlt und hatte das erst auf die Ver liebtheit, auf romantische Gefühle geschoben. Aber auch als er sich etwas mehr Ruhe gönnte, war es nicht besser geworden, einmal war er auf einer Straße in Nemours ohnmächtig geworden und hatte daraufhin einen Arzt aufgesucht, Dr. Perrier in Fontainebleau; der hatte es für eine Veränderung im Blutbild gehalten und hatte ihn an einen Dr. Moussu in Paris verwiesen, einen Spezialisten. Moussu hatte nach zweitägiger Untersuchung den Be fund bestätigt – myeloische Leukämie – und erklärt, er habe noch etwa sechs bis acht Jahre zu leben, vielleicht, wenn er Glück habe, auch zwölf. Die Milz werde sich ver größern; das war auch bereits eingetreten, nur hatte Jonathan davon nichts bemerkt. Der Heiratsantrag, den er Simone in ungelenken Worten machte, war daher gleichzeitig eine Liebes- und eine Todeserklärung gewe 28
sen, und die meisten jungen Frauen hätte das gewiß ab geschreckt oder zu einer Bitte um Bedenkzeit veranlaßt, aber Simone hatte nur gesagt, ja, sie liebe ihn auch. »Auf Liebe kommt es an, nicht auf Zeit«, hatte sie gesagt. Kei nerlei Rechnen und Überlegen, wie Jonathan es bei den Franzosen und überhaupt bei Südländern immer voraus gesetzt hatte. Mit ihrer Familie habe sie schon gespro chen, hatte Simone gesagt – und dabei kannten sie sich erst zwei Wochen. Jonathan fühlte sich plötzlich in eine feste Welt versetzt – fester und sicherer, als er sie je ge kannt hatte. Liebe, wirkliche Liebe und nicht nur romanti sches Gefühl, Liebe, die außerhalb seiner Kontrolle lag, hatte ihn wie durch ein Wunder gerettet, gewissermaßen vom Tode errettet. Was er damit meinte, war: sie hatte dem Tod seinen Schrecken genommen. Und nun kam der Tod, nach sechs Jahren, wie Dr. Moussu in Paris vorausgesagt hatte. Vielleicht. Jonathan wußte nicht mehr, was er glauben sollte. Er mußte wohl Moussu noch einmal aufsuchen. Vor drei Jahren war bei Jonathan unter Dr. Moussus Anlei tung in einem Pariser Krankenhaus ein vollständiger Blutaustausch vorgenommen worden. Man hoffte, der Überschuß an weißen Bestandteilen werde in dem aus getauschten Blut nicht wieder auftreten, doch nach acht Monaten hatte man wiederum einen weißen Überschuß festgestellt. Aber bevor er sich bei Dr. Moussu meldete, wollte Jo nathan den Antwortbrief von Alan McNear abwarten. Ganz sicher würde Alan sofort schreiben, darauf konnte man sich verlassen. Bevor er seinen Laden verließ, warf Jonathan noch ei nen Blick rings auf den Raum, der ein bißchen aussah wie bei Dickens. Es war nicht richtig schmutzig, nur die Wände müßten frisch gestrichen werden. Ob er anfangen 29
sollte, das Ganze etwas aufzupolieren, seine Kunden hochzunehmen, wie es andere Leute taten, Messingkram zu hohen Preisen verkaufen? Er wand sich bei dem Ge danken. Nein – für so was war er einfach nicht der richti ge Mann. Das war Mittwoch gewesen. Am Freitag, als sich Jona than mit einer hartnäckigen Schraube abmühte, die seit etwa hundertfünfzig Jahren in einem Eichenholzrahmen festsaß und sich nicht lösen ließ, mußte er plötzlich die Zange fallen lassen und nach einem Sitz tasten – einer Holzkiste, die an der Wand stand. Er erhob sich gleich wieder und netzte sich am Ausguß das Gesicht mit kal tem Wasser, wobei er sich so tief wie möglich bückte. Nach etwa fünf Minuten war die Schwäche vorbei, und mittags hatte er sie schon vergessen. Solche Anfälle tra ten alle zwei oder drei Monate auf; er war froh, wenn es nicht auf der Straße passierte. Am Dienstag, sechs Tage nachdem er seinen Brief an Alan eingesteckt hatte, kam die Antwort aus dem Hotel New Yorker. Samstag, 25. März Lieber Jon, ich bin sehr froh, daß du mit dem Arzt gesprochen hast und der Bescheid so gut ist! Der Mann, der mir er zählte, es ginge dir schlechter, war ein kleiner Kahlkopf mit Schnurrbart und Glasauge, etwa Anfang vierzig. Er schien echt besorgt zu sein, vielleicht solltest du es ihm nicht allzu übelnehmen, er kann es ja von jemand ande rem gehört haben. Mir geht es sehr gut – schade, daß ihr beide nicht hier seid, zumal ich auf Spesen lebe . . . Der Mann, den Alan meinte, war Pierre Gauthier, er hatte ein Geschäft für Kunstgewerbeartikel in der Rue Grande; nicht eigentlich ein Freund, eher ein Bekannter. 30
Er schickte oft Kunden zu Jonathan, die Bilder einzurah men hatten. Gauthier war bei der Abschiedsparty für Alan dabeigewesen, das wußte Jonathan noch genau; er mußte an diesem Abend mit Alan gesprochen haben. Es war ganz ausgeschlossen, daß Gauthier das aus Bosheit erzählt hatte. Immerhin, es war erstaunlich, daß Gauthier überhaupt wußte, daß Jonathan an einer Blutkrankheit litt, aber so etwas sprach sich wohl herum. Das beste war sicher, Gauthier einfach zu fragen, von wem er es gehört hatte. Es war jetzt zehn Minuten vor neun; Jonathan hatte – ebenso wie gestern morgen – zu Hause auf die Post ge wartet. Am liebsten hätte er sich sofort zu Gauthier auf den Weg gemacht, aber das war vielleicht übertrieben eilig; es war wohl besser, er beruhigte sich erst mal, ging ins Geschäft und begann den Tag wie immer. Da ihn mehrere Kunden aufhielten, konnte er erst um 10 Uhr 25 eine Pause machen. Er steckte die weiße Kar te an die Tür, die besagte, er werde um elf zurück sein, und machte sich auf den Weg. Bei Gauthier waren zwei Kundinnen im Laden. Jona than tat so, als stöbere er zwischen den Pinselgestellen herum, bis Gauthier frei war; dann streckte er Gauthier die Hand entgegen und sagte: »M. Gauthier – wie geht es Ihnen?« Gauthier nahm sie in seine beiden Hände und erwider te mit herzlichem Lächeln: »Und Ihnen, lieber Freund?« »Vielen Dank, recht gut. Ecoutez, ich will Sie nicht lange stören, aber ich möchte Sie gern etwas fragen.« »Ja, gern – was denn?« Jonathan machte eine Handbewegung, und Gauthier trat von der Tür zurück, die sich jeden Augenblick öffnen konnte. Der kleine Laden war nicht sehr geräumig. »Ich bekam heute einen Brief von einem Freund – von mei 31
nem Freund Alan, Sie erinnern sich vielleicht. Der Eng länder, auf der Party bei uns, vor ein paar Wochen.« »Ja, natürlich! Ihr Freund, der Engländer. Alain.« Gauthier wußte, wen Jonathan meinte, und sah ihn auf merksam an. Jonathan versuchte, das Glasauge unbeachtet zu las sen und sich nur auf das andere Auge zu konzentrieren. »Ja, also – Sie haben offenbar Alan erzählt, Sie hätten gehört, ich sei sehr krank und hätte vielleicht nicht mehr lange zu leben.« Gauthiers freundliches Gesicht nahm einen feierlichen Ausdruck an. Er nickte. »Ja, M´sieur, das hatte ich ge hört, und ich hoffe, es stimmt nicht. Ich erinnere mich an Alain, Sie hatten uns bekannt gemacht und gesagt, er sei Ihr bester Freund, deshalb nahm ich an, er wüßte es. Vielleicht hätte ich lieber nichts sagen sollen – es tut mir leid, vielleicht war es taktlos von mir. Ich nahm an, Sie versuchten, Haltung zu bewahren, sozusagen, wie es in England üblich ist.« »Es ist nicht weiter schlimm, M. Gauthier, denn soviel ich weiß, stimmt es gar nicht. Ich bin gerade beim Arzt gewesen, und –« »Ah, bon! Ja, das ist dann ja was anderes. Da bin ich aber sehr froh, M. Trevanny! Haha!« Gauthier lachte wie erlöst, als sei ein Gespenst verschwunden und nicht nur Jonathan, sondern er selbst sei wieder unter den Leben den. »Bloß – ich wüßte gern, woher Sie es gehört haben. Wer hat Ihnen erzählt, ich sei krank?« »Ah ja. Ja.« Gauthier legte einen Finger an die Lippen und dachte nach. »Wer war das noch? Ja – ein Mann. Natürlich, ja!« Es war ihm offenbar eingefallen, aber er schwieg. Jonathan wartete. 32
»Er hat aber gesagt, er sei nicht ganz sicher. Er hatte es gehört. Eine unheilbare Blutkrankheit, sagte er noch.« Jonathan wurde es, wie mehrmals in der letzten Wo che, warm vor Anspannung. Er befeuchtete die Lippen. »Wer denn bloß? Woher wußte er es – hat er das nicht gesagt?« Wieder zögerte Gauthier. »Wo es nun gar nicht stimmt – wäre es da nicht besser, wir vergessen die ganze Sa che?« »War es jemand, den Sie näher kennen?« »Nein, näher nicht, das kann ich Ihnen versichern.« »Ein Kunde von Ihnen?« »Ja. Ja, ein Kunde. Sehr netter Herr – ein Gentleman. Und da er ja extra sagte, er sei nicht ganz sicher – ich meine, M´sieur, Sie sollten es ihm nicht nachtragen. Glauben Sie mir, ich kann es Ihnen nachfühlen, wie un angenehm eine solche Bemerkung für Sie sein muß.« »Da läuft es also nun auf die Frage hinaus, wie dieser Herr erfahren haben will, daß ich so krank wäre.« Auch Jonathan lachte jetzt. »Ja, genau. Nun, die Hauptsache ist ja, daß es gar nicht stimmt. Darauf kommt es ja nur an, nicht wahr?« Jonathan spürte in Gauthier die sehr französische Höf lichkeit, die Unlust, einen Kunden zu vergrämen, und – wie zu erwarten – die Abneigung, über den Tod zu spre chen. »Ja, Sie haben recht, das ist die Hauptsache.« Jo nathan schüttelte Gauthier die Hand und verabschiedete sich. Beide lächelten jetzt. Am gleichen Tag fragte Simone beim Lunch, ob Jona than von Alan gehört habe. Er bejahte. »Es war Gauthier, der das zu Alan gesagt hat.« »Gauthier? Der mit dem Laden?« »Ja.« Jonathan zündete sich zum Kaffee eine Zigaret te an. Georges war im Garten. »Ich war heute morgen 33
bei ihm und habe ihn gefragt, woher er es hatte. Er sag te, von einem Kunden. Komisch, nicht? Er wollte mir nicht sagen, wer es war, und das kann ich verstehen. Es ist natürlich ein Mißverständnis, das weiß Gauthier auch.« »Aber das ist doch ganz schrecklich«, sagte Simone. Jonathan lächelte. Er merkte, wirklich schrecklich fand sie es gar nicht, da sie wußte, daß Dr. Perrier sich güns tig geäußert hatte. »Weißt du, im Englischen sagt man, bloß keinen Elefanten aus einer Mücke machen.« Eine Woche später stieß Jonathan mittags in der Rue Grande auf Dr. Perrier; der Arzt war in Eile auf dem Weg zur Bank, die um Punkt zwölf schloß. Trotzdem blieb er stehen und fragte nach Jonathans Befinden. »Danke schön, ganz gut«, sagte Jonathan. Seine Ge danken waren bei der Saugpumpe für die Toilette, die er in einem hundert Meter entfernten Laden besorgen woll te; auch der Laden wurde um zwölf geschlossen. »M. Trevanny –« der Arzt war stehengeblieben, eine Hand auf dem großen Türknauf am Eingang der Bank. Er trat einen Schritt zur Seite, näher zu Jonathan. »Sie wis sen, was wir neulich besprachen – da kann natürlich kein Arzt hundertprozentig sicher sein, bei einem Befund wie dem Ihren. Ich wollte nicht, daß Sie annehmen, ich könn te Ihnen nun vollkommene Gesundheit garantieren, ich meine, daß Sie jahrelang immun sind – das nicht. Sie wissen selber –« »O nein, das habe ich auch nicht angenommen«, un terbrach ihn Jonathan. »Schön, dann haben Sie mich also verstanden.« Dr. Perrier lächelte, nickte grüßend und verschwand in der Bank. Jonathan ging weiter. Die Saugpumpe – es war gar nicht die Toilette, sondern der Küchenausguß, der ver stopft war, das fiel ihm jetzt ein. Simone hatte ihre Pumpe 34
vor Monaten einer Nachbarin geliehen, aber die – jetzt waren seine Gedanken bei dem, was Dr. Perrier eben gesagt hatte. Wußte er nun doch etwas, hatte er viel leicht nach dem letzten Test einen Verdacht, der noch so vage war, daß er nicht darüber reden wollte? Am Eingang zur Drogerie traf Jonathan ein freundlich lächelndes dunkelhaariges Mädchen, das gerade im Begriff war, abzuschließen und die äußere Türklinke ab zunehmen. »Tut mir leid, aber es ist fünf Minuten nach zwölf«, sagte sie.
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In der letzten Märzwoche war Tom damit beschäftigt, ein lebensgroßes Porträt von Heloise – liegend auf dem gel ben Satinsofa – anzufertigen. Heloise fand sich nur sel ten zu einer Sitzung bereit. Immerhin, das Sofa hielt still, das hatte Tom nun glücklich auf die Leinwand gebannt. Von Heloise hatte er bisher sieben oder acht Skizzen gemacht: den Kopf auf die linke Hand gestützt, die Rech te auf einem großen Bildband ruhend. Er behielt die bei den besten Blätter; die andern warf er weg. Reeves Minot hatte ihm inzwischen geschrieben und gefragt, ob Tom noch etwas Neues eingefallen sei – ein Jemand, meinte Reeves. Der Brief war zwei Tage nach einem Gespräch gekommen, das Tom mit Gauthier ge führt hatte – er kaufte gewöhnlich seine Farben bei Gauthier. Tom hatte Reeves geantwortet: »Ich bin noch beim Überlegen, aber wenn dir etwas einfällt, warte nicht auf mich.« Das ›ich bin noch beim Überlegen‹ war nur eine Höflichkeitsfloskel, es stimmte gar nicht, wie so viele Phrasen, die das Räderwerk der Gesellschaft ölen sollen. Finanziell wurde Toms Haus von Reeves jedenfalls kaum geölt; die kleinen Beträge, die er Tom für gelegentliche Dienste als Mittler und Hehler zukommen ließ, hätten kaum die Kosten der Kleiderreinigung gedeckt. Aber es konnte nie schaden, freundliche Beziehungen aufrecht zuerhalten. Reeves hatte Tom damals einen falschen Paß verschafft und expreß nach Paris geschickt, als Tom ihn brauchte, um seine Aussage im Falle Derwatt zu stüt zen. Wer weiß, vielleicht hatte er Reeves irgendwann noch mal nötig. Die Sache mit Jonathan Trevanny war für Tom nichts als eine Spielerei; mit Reeves´ Interessen und Plänen 36
hatte sie gar nichts zu tun. Überdies hatte Tom für Glücksspiel nichts übrig, und er hielt auch nicht viel von Leuten, die ganz oder teilweise davon lebten. Es war für ihn nicht mehr als Zuhälterei. Den Gag mit Trevanny hat te er aus reiner Neugier eingefädelt, und weil Trevanny ihm damals eine so höhnische Antwort gegeben hatte. Er war gespannt, ob sein ziellos abgegebener Schuß uner warteterweise vielleicht doch ins Schwarze traf und Jona than Trevanny (den Tom für spießig und selbstgerecht hielt) für eine Weile hübsch in Bangen versetzte. Dann konnte Reeves seinen Köder auswerfen und mußte da bei natürlich unterstreichen, daß Trevanny ja doch bald sterben werde. Tom bezweifelte, daß Trevanny anbeißen würde, aber er geriet erst mal eine Weile in Unruhe, das war wohl sicher. Leider hatte Tom keine Ahnung, wie schnell das Gerücht Trevanny zu Ohren kommen würde. Gauthier klatschte zwar gern, aber selbst wenn er es mehreren Leuten erzählte, so war es möglich, daß keiner den Mut aufbrachte, mit Trevanny selber darüber zu re den. So kam es, daß Tom – der zwar wie immer beschäftigt war mit seiner Malerei, der Frühjahrsarbeit im Garten, seinen deutschen und französischen Studien (er war jetzt bei Schiller und Molière) und dazu noch mit der Überwa chung eines Teams von drei Maurern, die an der rechten Rasenseite hinten im Garten ein kleines Treibhaus bau ten – weiterhin die Tage zählte und sich ausmalte, was sich seit jenem Nachmittag Mitte März ereignet haben konnte, als er Gauthier erzählt hatte, er habe gehört, Trevanny habe nicht mehr lange zu leben. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß Gauthier darüber mit Trevanny selber sprach – außer wenn sie sich näherstanden, als Tom annahm. Gauthier hatte es vermutlich jemand ande rem weitererzählt. Tom rechnete mit der Tatsache (denn 37
es war ganz sicher eine Tatsache), daß ein bevorstehen der Todesfall für die meisten Menschen ein interessantes Gesprächsthema war. Etwa alle zwei Wochen fuhr Tom nach Fontainebleau, das zwölf Meilen von Villeperce entfernt war. Fontaine bleau war günstiger als Moret, wenn die Wildledermäntel zu reinigen waren und wenn man Radiobatterien oder die etwas ausgefallenen Sachen besorgen wollte, die Mme. Annette für die Küche brauchte. Jonathan Trevanny hatte Telefon in seinem Laden, das hatte Tom im Telefonbuch festgestellt, offenbar aber nicht in seinem Haus in der Rue St-Merry. Tom hatte versucht, die Hausnummer he rauszufinden, aber er würde das Haus auch so wiederer kennen, wenn er es sah. Gegen Ende März wurde er neugierig, er wollte Trevanny sehen – natürlich aus der Entfernung; und so beschloß er eines Freitags morgens, als Markt war und er in Fontainebleau zwei runde Blu menschalen aus Terracotta gekauft und im Kofferraum des Renault-Kombiwagens verstaut hatte, durch die Rue des Sablons zu gehen, wo sich Trevannys Geschäft be fand. Es war kurz vor Mittag. Der Laden konnte einen neuen Anstrich gebrauchen, er sah etwas deprimierend aus, fand Tom, so als gehöre er einem alten Mann. Tom hatte nie zu Trevannys Kun den gehört; in Moret, das näher lag, gab es einen recht guten Bilderrahmer. Das kleine Geschäft lag in einer Reihe von Läden – eine Schnellwäscherei, ein Schuh macher, ein bescheidenes Reisebüro –, links war die Tür und rechts ein quadratisches Schaufenster mit einem Sortiment Rahmenleisten und einigen Bildern mit hand geschriebenen Preisschildern. Tom ging lässig über die Straße, warf einen Blick in den Laden und sah Trevannys große nordische Gestalt in zwanzig Fuß Entfernung hin ter dem Ladentisch stehen; er zeigte einem Kunden ein 38
Stück Leiste, mit dem er sich beim Reden auf den Hand ballen klopfte. Jetzt blickte er auf und sah Tom, gab je doch kein Zeichen des Erkennens und sprach weiter zu dem Kunden. Tom schlenderte weiter. Trevanny hatte ihn sicher nicht erkannt. Tom bog in die Rue de France ein, die wichtigste Straße nach der Rue Grande, und ging weiter bis zur Rue St-Merry, wo er sich nach rechts wandte. Oder lag Trevannys Haus links? Nein, rechts. Da war es ja schon: grau, schmal, engbrüstig, mit schwarz-dünnem Geländer an der Vordertreppe. Das kleine Geviert zu beiden Seiten der Stufen war zementiert, es sah leer und nackt aus ohne jeden Blumenschmuck. Aber hinten war ein Garten, daran erinnerte sich Tom. Die Fenster waren zwar blankgeputzt, aber die Gardinen hingen etwas schlaff herunter. Ja, dies war das Haus, in dem er sich an jenem Februarabend auf Einladung von Gauthier einge funden hatte. Links am Haus entlang führte ein schmaler Gang, vermutlich zum Hintergarten. Ein grüner Müllkübel aus Kunststoff stand vor der abgeschlossenen Eisenpfor te zum Garten; sicher benutzten die Trevannys meistens die hintere Küchentür, die Tom an dem Abend damals auch gesehen hatte, wenn sie in den Garten wollten. Tom ging jetzt langsam die andere Straßenseite ent lang, aber er bemühte sich, den Eindruck zu vermeiden, als halte er sich hier absichtlich länger auf. Es war im merhin möglich, daß Trevannys Frau oder sonst jemand gerade aus einem der Fenster sah. Mußte er noch irgendwas besorgen? Ja: Zinkweiß. Seins war fast alle. Und das bekam er bei Gauthier, der führte ja solche Sachen. Tom beschleunigte seine Schrit te und gratulierte sich zu dem Einfall, denn das Zinkweiß brauchte er tatsächlich, er konnte also bei Gauthier als
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echter Kunde auftreten und trotzdem vielleicht seine Neugierde befriedigen. Gauthier war allein im Geschäft. »Bonjour, M. Gauthier«, sagte Tom. »Bonjour, M. Reepley«, gab Gauthier mit freundlichem Lächeln zurück. »Wie geht es Ihnen?« »Sehr gut, danke, und Ihnen? Ich hätte gern etwas Zinkweiß.« »Zinkweiß.« Gauthier zog eine flache Schublade aus dem Wandschrank. »Das haben wir hier. Und Sie neh men gern das von Rembrandt, ich weiß.« Das stimmte. Auch Derwatt-Zinkweiß und andere Derwatt-Farben lagen da bereit, jede Tube trug die küh ne, etwas nach unten geneigte Unterschrift von Derwatt in Schwarz auf dem Etikett, doch Tom war es unange nehm, wenn er zu Hause malte und nach einer Tube griff, jedesmal auf den Namen Derwatt zu stoßen. Er be zahlte jetzt, und als er das Wechselgeld und die kleine Tüte mit dem Zinkweiß in Empfang nahm, sagte Gauthier: »M. Reepley, Sie erinnern sich vielleicht an M. Tre vanny, den Bilderrahmer aus der Rue St-Merry?« »Ja, natürlich«, sagte Tom, der schon überlegt hatte, wie er das Gespräch auf Trevanny bringen konnte. »Ja – das Gerücht, das Sie gehört hatten, ich meine, daß er bald sterben müsse, das stimmt überhaupt nicht.« »Nein? Das ist ja schön, wirklich. Ich freue mich, das zu hören.« »Ja. Er ist sogar deshalb zum Arzt gegangen. Ich glaube, es hat ihn doch beunruhigt – das ist ja auch ver ständlich, nicht wahr? Haha. – Aber Sie sagten doch, jemand habe es Ihnen erzählt, M. Reepley?«
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»Ja. Ein Mann, der auch auf der Party war, damals im Februar. Als M. Trevanny Geburtstag hatte. Deshalb nahm ich an, es sei Tatsache und jeder wüßte es.« Gauthier sah nachdenklich aus. »Haben Sie mit M. Trevanny darüber gesprochen?« fragte Tom. »Nein, das nicht. Aber mit seinem besten Freund habe ich eines Abends gesprochen – das war ein anderer A bend, als wir mal bei Trevannys waren, vor kurzem. Of fenbar hat der es dann Trevanny erzählt. Wie so etwas herumkommt!« »Sein bester Freund?« fragte Tom unschuldig. »Ja, ein Engländer, Alain Soundso. Er wollte am nächsten Tag nach Amerika fliegen. Aber ich – wissen Sie vielleicht noch, wer es Ihnen erzählt hat, M. Reepley?« Langsam schüttelte Tom den Kopf. »Nein – ich komm nicht mehr auf den Namen. Ich wüßte nicht mal mehr, wie er ausgesehen hat. An dem Abend waren eine Men ge Leute da.« »Ja, nämlich –« Gauthier beugte sich vor, als wäre noch ein Dritter im Raum. »Er hat mich nämlich gefragt, wer es mir gesagt hätte, und ich hab natürlich nicht ge sagt, daß Sie es waren. Solche Sachen werden leicht falsch ausgelegt, und ich wollte Ihnen doch keine Unan nehmlichkeiten machen! Haha.« Das blanke Glasauge lachte nicht, es starrte geradezu verwegen aus dem Ge sicht heraus, als sei dahinter ein zweites Gehirn verbor gen, ein Computergehirn, das im Nu jede Frage beant worten könnte, sobald jemand auf den richtigen Knopf drückte. »Das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank. Sie haben recht, es ist nicht schön, über den Gesundheitszustand anderer Menschen etwas zu sagen, was gar nicht stimmt, 41
nicht wahr?« Tom lachte freundlich, er war im Begriff zu gehen und fügte hinzu: »Aber sagten Sie nicht, mit sei nem Blut sei irgendwas los?« »Ja, das stimmt. Leukämie, glaube ich. Aber damit lebt er schon lange – er hat mir mal erzählt, er habe das schon jahrelang.« Tom nickte. »Jedenfalls freut es mich, daß keine Ge fahr besteht. A bientôt, M. Gauthier. Vielen Dank.« Tom ging zu seinem Wagen zurück. Der Schock, den Trevanny gehabt haben mußte, hatte vielleicht nur ein paar Stunden gedauert, bis er seinen Arzt aufsuchte, a ber er mußte doch seinem Selbstvertrauen einen kleinen Riß beigebracht haben. Mehrere Leute, vielleicht sogar er selber, hatten angenommen, er habe nur noch ein paar Wochen zu leben. Und zwar deshalb, weil diese Möglichkeit für einen Mann mit seiner Krankheit durchaus nicht ausgeschlossen war. Schade, daß er jetzt wieder beruhigt war; aber vielleicht war dieser feine, fadendünne Riß alles, was Reeves brauchte. Dann konnte jetzt der zweite Akt des Spiels beginnen. Trevanny würde wahr scheinlich Reeves´ Vorschlag ablehnen. Dann war damit das Spiel zu Ende. Andererseits: Reeves würde ja, wenn er mit ihm Verbindung aufnahm, so tun, als stehe es fest, daß Trevanny nur noch wenige Wochen zu leben habe. Sehr komisch, die Vorstellung, daß Trevanny doch viel leicht schwach wurde. Heloise hatte heute Besuch von ihrer Pariser Freundin Noelle, die über Nacht blieb. Nach dem Lunch verließ Tom die Damen und tippte auf der Schreibmaschine ei nen Brief an Reeves. 28. März 19Lieber Reeves, ich habe eine Idee, falls du den Gesuchten noch nicht gefunden hast. Der Mann heißt Jonathan Trevanny, An 42
fang dreißig, Engländer, macht Bilderrahmen, verheiratet mit einer Französin, ein kleiner Sohn. [Hier fügte Tom Trevannys private und Geschäftsadresse und die Tele fonnummer ein.] Er macht den Eindruck, als könne er Geld gebrauchen. Vielleicht ist er nicht genau der Typ, den du suchst, aber er sieht aus wie die verkörperte An ständigkeit und Unschuld. Wichtig für dich ist aber vor allem, daß er nur noch wenige Monate oder Wochen zu leben hat, das habe ich festgestellt, er hat nämlich Leu kämie und hat gerade eben erst erfahren, wie schlecht es um ihn steht. Vielleicht wäre er bereit, einen gefährlichen Job anzunehmen, um jetzt noch ein bißchen Geld zu verdienen. Ich kenne ihn nicht persönlich und brauche auch wohl nicht zu betonen, daß mir nicht daran liegt, seine Be kanntschaft zu machen oder daß du meinen Namen er wähnst. Wenn du es mit ihm versuchen willst, schlage ich vor, daß du nach F´bleau kommst, in dem reizenden ›Ho tel de l´Aigle Noir‹ für ein paar Tage ein Zimmer nimmst, Trevanny zunächst in seinem Laden anrufst, einen Ter min vereinbarst und dann alles mit ihm besprichst. Daß du nicht gerade deinen richtigen Namen angibst, brauche ich wohl nicht zu empfehlen. Tom sah das Projekt plötzlich in rosigem Licht. Bei der Vorstellung, wie Reeves mit seiner entwaffnenden scheinbaren Zaghaftigkeit, die so täuschend ehrlich wirk te, den Plan vor Trevanny ausbreitete – Trevanny mit der Lauterkeit eines Heiligen! – mußte Tom lachen. Ob er es wagen konnte, in der Bar oder im Speisezimmer des Hôtel de l´Aigle Noir ebenfalls einen Tisch zu nehmen, wenn Reeves dort mit Trevanny verabredet war? Nein, lieber nicht, das wäre zu riskant. Dabei fiel ihm ein ande rer Punkt ein, und er fügte seinem Brief noch einige Zei len hinzu: 43
Wenn du nach F´bleau kommst, nimm bitte unter kei nen Umständen, weder telefonisch noch brieflich, Ver bindung mit mir auf. Zerreiß meinen Brief, bitte. Herzlichst Tom
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Am Freitag, 31. März, klingelte nachmittags das Telefon in Jonathans Laden. Er war gerade dabei, ein großes Bild mit einer Rückwand aus braunem Papier zu verse hen und suchte hastig nach passenden Gewichten – ei nen Stein mit der Aufschrift LONDON, den Leimtopf, ei nen hölzernen Hammer –, bevor er den Hörer abnehmen konnte. »Hallo –?« »Bonjour, M´sieur. M. Trevanny? . . . Sie sprechen si cher Englisch, nicht wahr. Hier ist Stephen Wister, W-i-s t-e-r. Ich halte mich ein paar Tage in Fontainebleau auf und würde Sie gern einen Augenblick sprechen. Es han delt sich um eine Sache, die Sie interessieren könnte, glaube ich.« Der Mann hatte einen amerikanischen Akzent. »Ich kaufe keine Bilder«, sagte Jonathan. »Ich mache nur Bil derrahmen.« »Nein, es handelt sich um etwas anderes, mit Ihrer Arbeit hat es nichts zu tun. Aber am Telefon kann ich das nicht erklären. Ich wohne im Aigle Noir.« »Ja –?« »Ob Sie vielleicht heute abend nach Ladenschluß ein paar Minuten Zeit hätten? Um sieben oder halb sieben, ginge das? Wir könnten ein Glas Wein zusammen trinken oder einen Kaffee.« »Ja, aber – ich möchte gern wissen, worum es sich handelt.« Eine Kundin hatte den Laden betreten – wie hieß sie noch: Mme. Tissot – Tissaud? Jonathan lächelte ihr entschuldigend zu. »Das muß ich Ihnen erklären, wenn wir uns treffen«, gab die sanfte, ernste Stimme zurück. »Es dauert nicht 45
mehr als zehn Minuten. Hätten Sie heute um sieben viel leicht etwas Zeit?« Jonathan machte eine unruhige Bewegung. »Halb sie ben wäre besser.« »Gut. Ich treffe Sie unten in der Halle. Ich trage einen graukarierten Anzug. Aber ich sage dem Portier Be scheid, dann geht das in Ordnung.« Gewöhnlich machte Jonathan etwa um halb sieben den Laden zu. Heute stand er um viertel nach sechs am Kaltwasserhahn und bürstete sich die Hände. Es war mildes Wetter, und er trug einen Rollkragenpullover mit einer alten beigen Cordjacke, eigentlich nicht elegant ge nug für den Aigle Noir; und wenn er seinen zweitbesten Regenmantel anzog, machte das auch nicht viel aus. Ach was – wieso sollte ihn das kümmern? Der Mann wollte ihm irgendwas verkaufen, um etwas anderes konnte es sich nicht handeln. Der Weg nahm nur fünf Minuten in Anspruch. Das Ho tel hatte vorn an der Straße einen kleinen, von hohen eisernen Gitterstäben eingerahmten Hof, einige Stufen führten hinauf zur Eingangstür. Ein schlanker Mann mit kurzgeschnittenem Haar und gespanntem Blick kam et was unsicher auf Jonathan zu. Jonathan fragte: »Mr. Wister?« »Ja.« Wisters Mundwinkel zuckte bei der Andeutung eines Lächelns, er streckte die Hand aus. »Wollen wir hier in der Bar etwas trinken, oder möchten Sie lieber woanders hingehen?« Die Bar des Hotels sah ruhig und freundlich aus. Jona than zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen.« Jetzt erst sah er die gräßliche Narbe in Wisters Gesicht. Sie traten an die breite Eingangstür zur Hotelbar. Drinnen war es fast leer, nur ein Mann und eine Frau sa
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ßen an einem kleinen Tisch. Wister wandte sich ab, als störe ihn die Stille, und sagte: »Ach, lassen Sie´s uns woanders versuchen.« Sie traten auf die Straße und wandten sich nach rechts. Jonathan kannte das nächste Lokal, das Café du Sport oder so ähnlich: um diese Zeit lärmten dort junge Leute an den Spielautomaten und Arbeiter an der Theke. Wister blieb an der Schwelle stehen, als sehe er sich plötzlich vor einem Schlachtfeld in voller Aktion. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir hinaufgingen in mein Zimmer?« fragte Wister und wandte sich ab. »Da ist es jedenfalls ruhig, und wir können uns irgendwas rauf schicken lassen.« Sie kehrten ins Hotel zurück, stiegen eine Treppe nach oben und betraten ein einladendes Zimmer in spani schem Stil: schwarzes Gußeisen, himbeerrote Bettdecke, blaßgrüner Teppich. Daß der Raum bewohnt war, sah man nur an dem Koffer, der auf dem Gestell stand. Wister war ohne Schlüssel hereingekommen. »Was trinken Sie – Scotch?« Wister war ans Telefon getreten. »Ja, sehr gut.« Wister gab die Bestellung in ungeschicktem Franzö sisch auf. Die Flasche sollte heraufgebracht werden, mit reichlich Eis dazu. Dann folgte Schweigen. Warum war der Mann so ner vös, fragte sich Jonathan, der aus dem Fenster geblickt hatte und dort stehen geblieben war. Offenbar wollte Wister nicht reden, bevor die Drinks gekommen waren. Jetzt hörte man ein diskretes Klopfen an der Tür. Ein Kellner in weißer Jacke trat mit freundlichem Lä cheln ins Zimmer. Stephen Wister füllte die Gläser bis zum Rand und fragte, als der Kellner das Zimmer verlas sen hatte: 47
»Wären Sie daran interessiert, eine größere Geld summe zu verdienen?« Jonathan lächelte. Er saß in einem bequemen Sessel und hatte das mächtige Glas mit geeistem Whisky in der Hand. »Wer wäre das wohl nicht?« »Ich suche einen Mann, der eine gefährliche Aufgabe übernimmt. Eine wichtige Aufgabe wäre vielleicht besser gesagt. Ich würde ihn gut bezahlen.« Rauschgift, dachte Jonathan. Der Mann brauchte ver mutlich einen, der den Stoff übernahm oder ablieferte. »Was ist Ihr Geschäft?« fragte er höflich. »Oh, ich habe mehrere. Im Moment befasse ich mich gerade mit – nun ja, Glücksspiel. Spielen Sie, Mr. Tre vanny?« »Nein«, erwiderte Jonathan lächelnd. »Ich auch nicht. Aber darum handelt es sich auch gar nicht.« Wister stand von der Bettkante auf und begann, langsam im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich wohne in Hamburg.« »Ach –?« »Innerhalb der Stadtgrenzen ist Glücksspiel verboten, aber in privaten Klubs wird natürlich doch gespielt. Aber es geht nicht darum, ob es verboten ist oder nicht. Mir liegt daran, daß eine Person liquidiert wird, vielleicht auch zwei, und möglicherweise kommt noch ein Dieb stahl dazu. Und damit habe ich meine Karten auf den Tisch gelegt.« Das Gesicht, das er Jonathan zuwandte, trug einen ernsten und hoffnungsvollen Ausdruck. Umgebracht meint er, dachte Jonathan erschreckt, doch dann lächelte er und schüttelte den Kopf. »Wer hat Ihnen bloß meinen Namen genannt?« Stephen Wister lächelte nicht. »Ach, das ist ja egal.« Immer noch ging er hin und her, das Glas in der Hand; die grauen Augen wanderten hinüber zu Jonathan und 48
dann wieder fort. »Läge Ihnen nicht vielleicht etwas an sechsundneunzigtausend Dollar? Das sind vierzigtau send Pfund, ungefähr vierhundertachtzigtausend Francs – neue Francs. Dafür ist nichts zu tun, als einen Mann, oder vielleicht zwei, umzubringen, wir müssen sehen, wie es läuft. Und es wird so gemacht, daß für Sie keinerlei Risiko damit verbunden ist.« Wieder schüttelte Jonathan ablehnend den Kopf. »Ich weiß gar nicht, wo Sie erfahren haben wollen, daß ich so ein Typ bin. Sie müssen mich verwechselt haben.« »O nein, keineswegs.« Jonathans Lächeln verschwand unter dem starren Blick. »Es muß aber ein Irrtum sein – würden Sie mir viel leicht sagen, wieso Sie gerade mich angerufen haben?« »Nun, Sie sind doch –« die Frage schien Wister über aus peinlich zu sein. »Sie haben doch nur noch ein paar Wochen zu leben, das wissen Sie selber. Sie haben eine Frau und ein kleines Kind, nicht wahr? Möchten Sie de nen nicht etwas hinterlassen, wenn Sie nicht mehr da sind?« Jonathan fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Woher wußte der Mann so viel? Und dann erkannte er, daß alles zusammenhing, daß derjenige, der zu Gauthier von seinem baldigen Tod gesprochen hatte, auch diesen Mann kannte und in irgendeiner Beziehung zu ihm stand. Jonathan wollte Gauthier jetzt nicht erwäh nen. Gauthier war ein redlicher Mann, und dieser hier war ein Gauner. Auf einmal schmeckte der Whisky nicht mehr. »Ich – da war kürzlich so ein dummes Gerücht, ich weiß –« Jetzt schüttelte Wister langsam den Kopf. »Das war kein dummes Gerücht. Vielleicht hat Ihnen der Arzt nicht die Wahrheit gesagt.«
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»Und Sie wollen mehr wissen als mein Arzt? Mein Arzt lügt mir nichts vor. Daß mein Blut nicht in Ordnung ist, das stimmt, aber – mir geht es absolut nicht schlechter als –« Er brach ab. »Lassen wir das. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen, Mr. Wister.« Wister biß sich auf die Unterlippe. Die lange Narbe schlängelte sich wie ein ekler Wurm. Jonathan wandte den Blick ab. Ob ihn Dr. Perrier viel leicht doch belogen hatte? Es war wohl das beste, mor gen früh das Pariser Labor anzurufen und einige Fragen zu stellen. Oder er fuhr einfach nach Paris und ließ sich nochmals den Sachverhalt erklären. »Es tut mir leid, Mr. Trevanny, hier sind offenbar Sie nicht informiert. Aber Sie wußten von dem Gerücht, Sie haben es nicht jetzt erst von mir gehört. Natürlich liegt die Entscheidung bei Ihnen, aber unter diesen Umständen ist doch so ein Betrag, meine ich, nicht zu verachten. Sie könnten aufhören zu arbeiten, das Leben genießen – ich meine, Sie könnten zum Beispiel mit Ihrer Familie eine Reise um die Welt machen und trotzdem Ihrer Frau noch einiges hinterlassen . . .« Jonathan wurde schwach; er stand auf und holte tief Atem. Es war gleich vorüber, aber er blieb doch lieber stehen. Wister redete weiter, doch Jonathan hörte kaum noch zu. ». . . meine Idee. Ich weiß ein paar Männer in Ham burg, die würden die sechsundneunzigtausend Dollar aufbringen. Der Mann oder die Männer, die aus dem Weg geräumt werden müssen, gehören zur Mafia.« Jonathan hatte sich erst halb erholt. »Danke, nein, ich bin kein Killer. Darüber brauchen wir nicht länger zu re den.« Wister sprach ruhig weiter. »Aber wir suchen eben ei nen, der keine Verbindung mit uns hat, oder mit Ham 50
burg. Der erste Mann ist bloß ein Handlanger, der muß in Hamburg erschossen werden. Weil wir nämlich wollen, daß die Polizei denkt, daß zwei Mafiabanden sich in Hamburg bekriegen. Wir möchten die Polizei auf unserer Seite haben.« Er ging immer noch im Zimmer auf und ab und wandte kaum den Blick vom Fußboden. »Der erste soll im Gedränge erschossen werden, in einer Men schenmenge an der U-Bahn. Das ist die Untergrundbahn bei uns, die bei Ihnen Subway heißt. Die Pistole fällt so fort auf den Boden, der – der Täter geht in der Menge unter und verschwindet. Eine italienische Waffe, ohne jeden Fingerabdruck. Keinerlei Spuren.« Er ließ die Hän de sinken wie ein Dirigent am Schluß des Stückes. Jonathan ging zum Sessel zurück; ein paar Sekunden lang brauchte er einen Halt. »Tut mir leid. Nein.« Sobald er sich kräftig genug fühlte, wollte er zur Tür gehen. »Ich bin morgen den ganzen Tag hier – vermutlich noch bis zum späten Nachmittag am Sonntag. Vielleicht überlegen Sie sich´s noch mal. Noch ein Scotch? Tut Ihnen vielleicht gut.« »Danke, nein.« Jonathan kam aus dem Sessel hoch. »Ich möchte jetzt gehen.« Wister nickte. Man sah ihm die Enttäuschung an. »Vielen Dank für den Drink.« »Nicht der Rede wert.« Wister öffnete ihm die Tür, und Jonathan verließ das Zimmer. Er hatte erwartet, daß Wister ihm ein Kärtchen mit Namen und Adresse in die Hand drücken werde. Er war froh, daß das nicht gesche hen war. In der Rue de France brannten jetzt, um 7.22 Uhr, alle Straßenlaternen. Hatte Simone ihn nicht gebeten, etwas mitzubringen? Vielleicht Brot? Er ging in eine Bäckerei und kaufte ein langes Meterbrot. Der kleine vertraute Einkauf gab ihm Trost. 51
Zum Abendessen gab es Gemüsesuppe, ein paar restliche Scheiben fromage de tête und TomatenZwiebel-Salat. Simone erzählte vom Tapetenausverkauf in einem Laden nahe bei ihrer Arbeitsstelle. Hundert Francs würden reichen, um das Schlafzimmer zu tapezie ren; sie hatte eine wunderhübsche Tapete mit grün-lila Muster gesehen, ganz hell und art nouveau. »Mit dem einen Fenster ist das Zimmer wirklich sehr dunkel, weißt du, Jon.« »Ja. Klingt nicht schlecht, vor allem wenn es ein Aus verkauf ist«, meinte Jonathan. »Es ist einer. Aber ein richtiger – nicht diese dämliche Art Ausverkauf, wo irgendwas fünf Prozent runtergesetzt wird. Wie es mein geiziger Chef macht.« Sie tauchte Brotkrumen in ihre Salatsauce und schob sie sich in den Mund. »Hast du Kummer, Jon? Ist irgendwas passiert heute?« Jonathan mußte plötzlich lächeln. Nein, er hatte kei nerlei Kummer. Er war froh, daß Simone seine Verspä tung und den starken Drink, den er sich einverleibt hatte, nicht bemerkte. »Nein, mein Liebes, passiert ist nichts. Vielleicht ist es das Ende der Woche. Beinahe das Ende, jedenfalls.« »Bist du müde?« Eine Frage, wie der Arzt sie stellte; sie war schon Rou tine geworden. »Nein . . . Ich muß heute abend noch ei nen Kunden anrufen, zwischen acht und neun.« Es war jetzt 8.37 Uhr. »Am besten gehe ich jetzt gleich. Vielleicht trinke ich nachher noch eine Tasse Kaffee, mein Herz.« »Darf ich mit?« fragte Georges. Er legte die Gabel hin und lehnte sich zurück, um mit einem Satz vom Stuhl springen zu können.
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»Nein, heute nicht, mon petit vieux. Ich habe nicht viel Zeit. Und du willst ja auch bloß am Spielautomaten dre hen, ich kenne dich doch.« »Hollywood Chewing Gum!« schrie Georges fröhlich. Er sprach es französisch aus, es klang wie: »Ollyvoo chevan gom!« Jonathan schüttelte sich, während er im Flur seine Ja cke vom Haken nahm. Der Kaugummi in der grünweißen Packung, die häufig im Rinnstein und zuweilen auch in Jonathans Garten zu finden war, hatte für französische Kinder eine schwer erklärliche Anziehungskraft. »Oui, Monsieur«, sagte Jonathan und ging hinaus. Dr. Perriers Privatnummer stand im Telefonbuch; hof fentlich war er zu Hause. Ein kleiner Tabakladen, wo man telefonieren konnte, lag näher als Jonathans Ge schäft. Er fühlte, wie wachsende Unruhe in ihm aufstieg. Zwei Straßen weiter sah man die schräg-rote zylindrische Leuchte über dem Tabac, und er beschleunigte seine Schritte. Er mußte jetzt die Wahrheit erfahren. Er nickte dem jungen Mann hinter dem Ladentisch, den er flüchtig kannte, einen Gruß zu und wies auf den Apparat und auf das Regal, wo die Telefonbücher lagen. »Fontaine bleau!« rief er laut. Es ging lärmend zu in dem kleinen Laden, auch die Musikbox war in vollem Gang. Jonathan suchte die Nummer heraus und wählte. Dr. Perrier meldete sich, er erkannte Jonathans Stim me. »Ich wollte Sie bitten, einen neuen Test zu machen. Möglichst heute abend noch. Jetzt gleich – wenn Sie eine Probe nehmen könnten.« »Jetzt – heute abend?« »Ja. Ich könnte sofort kommen. In fünf Minuten.« »Haben Sie – ist es die Schwäche?«
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»Ja, ich – ich dachte, wenn der Test morgen nach Pa ris gehen könnte –« Jonathan wußte, daß Dr. Perrier ge wöhnlich am Samstag morgen seine Testampullen nach Paris schickte. »Wenn Sie vielleicht heute abend oder morgen früh eine Probe nehmen könnten –« »Morgen früh habe ich keine Sprechstunde, da muß ich Besuche machen. Wenn Sie so unruhig sind, kom men Sie nur her zu mir, jetzt gleich.« Jonathan bezahlte das Gespräch. Als er schon an der Tür war, fiel ihm der Kaugummi ein, er kaufte zwei Päck chen Hollywood Chewing Gum und steckte sie in die Rocktasche. Perrier wohnte drüben am Boulevard Magi not, zu Fuß etwa zehn Minuten entfernt. Jonathan mach te sich eilig auf den Weg. Das Haus war groß und düster, und die Concierge war eine alte knochige Frau, langsam und umständlich, sie hockte in ihrem kleinen Glaskasten mit vielen künstlichen Blumen und starrte auf den Fernsehschirm. Während Jonathan vor dem Fahrstuhl stand und wartete, daß der wacklige Drahtkäfig herunterkam, kam die Concierge ins Treppenhaus und fragte neugierig: »Ihre Frau kriegt ´n Kind, Monsieur?« »Nein, nein«, gab er lächelnd zurück. Richtig, Dr. Per rier war ja praktischer Arzt. Der Fahrstuhl kam, und Jona than fuhr nach oben. »Nun – was gibt´s?« fragte Dr. Perrier und forderte seinen Besucher mit einer Handbewegung auf, ihm durch ein Eßzimmer in den nächsten Raum zu folgen. »Hier, bitte.« Die Wohnung war spärlich erleuchtet. Irgendwo war ein Fernsehapparat eingeschaltet. Der Raum, in den sie jetzt traten, glich einem kleinen Büro; die Regale waren mit medizinischen Büchern gefüllt, und auf dem Schreib tisch stand die schwarze Arzttasche. 54
»Mon dieu – Sie sehen aus wie kurz vor einem Kollaps – so rote Backen, und gelaufen sind Sie offenbar auch noch. Sagen Sie bloß nicht, Sie hätten wieder ein Ge rücht gehört, daß Sie am Rand des Grabes stehen!« Jonathan bemühte sich, ruhig zu antworten. »Ich möchte bloß wissen, woran ich bin, das ist alles. Ehrlich gesagt, es geht mir nicht allzu gut. Ja, ich weiß, der letzte Test ist erst zwei Monate her, aber – der nächste ist En de April fällig, da macht es doch vielleicht nichts –« Er brach ab und hob die Schultern. »Es ist ja nicht weiter schwierig, etwas Mark abzunehmen, nicht wahr, und wenn es dann morgen früh abgeschickt werden kann –« Er merkte, er drückte sich ungeschickt aus, er fand nicht die richtigen französischen Worte, und vor allem war ihm das gräßliche Wort moelle, Mark, zuwider, bei dem er immer an das eigene, abnorm weiße Knochenmark den ken mußte. Und Dr. Perrier, das spürte er, fand es rat sam, seinem Patienten den Willen zu tun. »Schön, ja, die Probe kann ich nehmen. Das Resultat wird wahrscheinlich das gleiche sein wie beim letztenmal. Absolute Gewißheit gibt es nun mal bei Medizinern nicht, M. Trevanny . . .« Der Arzt redete weiter, während Jona than seinen Pullover auszog, dem Wink des Arztes nachkam und sich auf dem alten Ledersofa ausstreckte. Der Arzt führte die Nadel zur Betäubung ein. »Aber ich habe durchaus Verständnis für Ihre Unruhe«, sagte er einige Sekunden später, während er leicht auf die Spritze klopfte, die in Jonathans Brustbein eindrang. Das knirschende Geräusch war Jonathan verhaßt; den leichten Schmerz fand er ganz erträglich. Vielleicht erfuhr er diesmal doch etwas Definitives. Bevor er sich verab schiedete, konnte er es nicht lassen, noch einmal zu sa gen: »Ich muß die Wahrheit wissen, Dr. Perrier. Halten Sie es für möglich, daß das Labor uns keinen ganz richti 55
gen Gesamtbericht gibt? Die Zahlen sind ja sicher richtig, das glaube ich schon –« »Und so einen Gesamtbericht oder eine ganz genaue Prognose, die bekommen Sie eben nicht, mein Bester.« Jonathan ging nach Hause. Er hatte vorgehabt, Simo ne zu erzählen, er sei bei Perrier gewesen, er habe sich wieder mal Sorgen gemacht; aber er brachte es nicht fertig. Simone hatte genug mit ihm durchgemacht. Was konnte sie schon sagen, wenn er es ihr erzählte? Sie würde sich nur noch etwas mehr ängstigen, genau wie er. Georges war schon oben im Bett, und Simone las ihm vor: natürlich wieder Asterix. Georges lag in seine Kissen gelehnt, und Simone saß auf einem niedrigen Hocker unter der Lampe: ein Bild häuslichen Glücks wie aus dem Jahre 1880, dachte Jonathan, nur Simones Slacks paß ten nicht ganz dazu. Georges Haar schimmerte maisgelb im Lampenlicht. »Le chevan gom?« fragte Georges und lachte seinen Vater an. Jonathan lächelte und holte ein Päckchen aus der Tasche. Das zweite mochte auf eine andere Gele genheit warten. »Du warst lange fort«, sagte Simone. »Ja. Ich hab noch ein Bier getrunken«, gab er zurück. Am nächsten Tag rief Jonathan, wie ihn Dr. Perrier angewiesen hatte, zwischen halb fünf und fünf das Eb ber-le-Valent-Laboratorium in Neuilly an, nannte und buchstabierte seinen Namen und sagte, er sei ein Patient von Dr. Perrier in Fontainebleau. Dann wartete er darauf, mit der richtigen Abteilung verbunden zu werden. Er hör te das automatische blup im Apparat, das die verstriche nen Einheiten zählte. Papier und Bleistift hielt er bereit. Jemand fragte, ob er bitte noch einmal seinen Namen buchstabieren würde. Jetzt kam eine Frauenstimme, die 56
den Bericht vorzulesen begann, und Jonathan schrieb eilig die Zahlen mit. Hyperleukozytose 190000. War das nicht höher als das letztemal? »Natürlich geht der schriftliche Bericht an Ihren be handelnden Arzt. Er wird am Dienstag dort sein.« »Dieser Bericht ist nicht so günstig wie der letzte, nicht wahr?« »Ich habe den letzten Bericht nicht vor mir, Monsieur.« »Ist denn vielleicht ein Arzt dort? Könnte ich vielleicht mit einem Arzt sprechen, bitte?« »Ich bin Arzt, Monsieur.« »Ach. Dann ist dieser Bericht – egal ob Sie den letzten vor sich haben oder nicht –, ich meine, es ist kein günsti ger Bericht, nicht wahr?« Es klang wie der Text aus einem Lehrbuch, als sie jetzt sagte: »Der Zustand ist nicht ganz ungefährlich, die Widerstandskraft ist herabgesetzt . . .« Jonathan hatte das Gespräch in seinem Geschäft ge führt. Er hatte das Schild an der Tür auf die Seite umge dreht, auf der Fermé stand, und hatte auch die Gardine an der Tür zugezogen, obgleich man ihn durch das Fens ter sehen konnte. Als er jetzt das Schild wegnehmen wollte, sah er, daß er gar nicht abgeschlossen hatte. Da heute nachmittag niemand zu erwarten war, der ein Bild abholen wollte, konnte er es sich wohl leisten, jetzt schon zu schließen. Es war vier Uhr fünfundfünfzig. Er ging zu Dr. Perriers Sprechstunde. Sicher mußte er mindestens eine Stunde warten; sonnabends war es im mer voll, da arbeiteten die meisten Leute nicht und hatten Zeit, zum Arzt zu gehen. Drei Patienten kamen vor Jona than, aber die Schwester kam und fragte ihn, ob er den Arzt lange in Anspruch nehmen werde, und als Jonathan das verneinte, schob sie ihn ein und entschuldigte sich
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bei dem nächsten Patienten. Vielleicht geschah das auf Dr. Perriers Anweisung –? Als Dr. Perrier Jonathans gekritzelte Notizen sah, hob er die Augenbrauen und sagte: »Das ist nicht vollstän dig.« »Ja, ich weiß, aber man kann doch etwas daraus ent nehmen, nicht wahr? Es ist etwas schlechter, nicht wahr?« »Also wirklich – Sie tun, als wollten Sie es gern schlechter haben!« sagte der Arzt mit seiner üblichen heiteren Zuversicht, der Jonathan jetzt nicht mehr recht traute. »Ganz offen gesagt, ja, es ist etwas schlechter, aber nur sehr wenig – nicht gravierend.« »In Prozenten – würden Sie sagen zehn Prozent schlechter?« »M. Trevanny, Sie sind kein Auto. Und es wäre unsin nig, wenn ich irgend etwas sagen wollte, bevor ich am Dienstag den ganzen Bericht in Händen habe.« Langsam ging Jonathan nach Hause. Er nahm den Weg über die Rue des Sablons für den Fall, daß er je mand sah, der zu ihm in den Laden wollte. Es war aber niemand da. Nur in der Wäscherei ging es lebhaft zu, im Eingang stießen die Leute mit ihren Wäschebündeln auf einander. Jetzt war es fast sechs. Simone kam heute erst kurz nach sieben aus ihrem Geschäft, später als sonst, denn ihr Chef Brezard wollte noch den letzten Franc mit nehmen, bevor der Laden bis Montag geschlossen wur de. Und Wister wohnte immer noch im Aigle Noir. Ob er wohl nur auf ihn, Jonathan, wartete und hoffte, er werde seinen Entschluß ändern und Ja sagen? Wäre es nicht wahnsinnig komisch, wenn Dr. Perrier mit Stephen Wister unter einer Decke steckte, wenn die beiden gemeinsam den Bericht des Ebberle-Valent-Labors manipuliert hät ten, damit er möglichst schlecht ausfiel? Und wenn auch 58
noch Gauthier zu der Kumpanei gehörte, der Überbringer der bösen Nachricht? Wie ein Alptraum war das, in dem sich die seltsamsten Elemente verbündeten – gegen den Träumenden. Aber Jonathan wußte, er träumte nicht. Er wußte, Perrier war nicht in Stephen Wisters Sold, und ebensowenig das Labor. Und es war auch kein Traum, daß sein Zustand sich verschlimmert hatte, daß der Tod ein wenig näher war, als er gedacht hatte. Aber das traf schließlich auf jeden Menschen zu, der noch einen einzi gen Tag erlebte, sagte er sich. Jonathan dachte an den Tod und an den Prozeß des Älterwerdens; das war in jedem Falle ein Abstieg, buchstäblich ein abwärts füh render Pfad. Die meisten Menschen hatten die Chance, es langsam angehen zu lassen. Sie konnten etwa mit fünfundfünfzig anfangen, oder wann sonst sie das Tempo verlangsamten, und dann weiter hinabsteigen, bis siebzig oder was immer ihr letztes Jahr sein sollte. Sein Tod, das sah er jetzt, war wie der plötzliche Sturz von der Klippe. Wenn er versuchte, sich vorzubereiten auf das Ende, so machte sein Kopf nicht mit, die Gedanken scheuten zu rück und suchten auszuweichen. Er war eben im Geist erst vierunddreißig und wollte noch leben – leben. Nirgends in seinem Haus, das in der Dämmerung fast graublau aussah, brannte Licht. Es war eigentlich ein düsteres Haus, und als Jonathan und Simone es vor fünf Jahren kauften, hatte sie das amüsiert. »Das SherlockHolmes-Haus« hatte Jonathan es immer genannt, als sie sich noch nicht entschieden hatten und dieses Haus mit einem anderen in Fontainebleau verglichen. »Ich mag das Sherlock-Holmes-Haus aber doch lieber«, hatte er einmal gesagt, er hörte es noch. Das Haus sah nach 1890 aus, es erinnerte an Gaslampen und blankpolierte Treppengeländer, obgleich nirgends im Haus das Holz blankpoliert war, als sie dann einzogen. Aber man hatte 59
den Eindruck, es lasse sich etwas daraus machen, viel leicht ein Haus mit dem speziellen Charme der Jahrhun dertwende. Die Räume waren klein, aber interessant ge schnitten, der Garten war ein Rechteck voll verwilderter Rosen, aber die Rosenbüsche waren jedenfalls da, und der Garten mußte nur mal gelichtet und aufgeräumt wer den. Die kleine Glasveranda hinten am Haus mit dem ausgezackten Glasdach hatte Jonathan an Vuillard und Bonnard erinnert. Jetzt fiel es ihm auf, daß das Haus, in dem sie nun seit fünf Jahren wohnten, nichts von seinem düsteren Charakter verloren hatte. Eine neue Tapete würde das Schlafzimmer auffrischen, ja, aber das war ja nur ein einziges Zimmer. Das Haus war noch nicht be zahlt, sie hatten noch drei Jahre an der Hypothek zu til gen. Eine Wohnung, wie sie sie in Fontainebleau im ers ten Jahr ihrer Ehe gehabt hatten, wäre billiger gewesen, doch Simone war an ein Haus mit kleinem Garten ge wöhnt – ihr Leben lang hatte sie in Nemours einen Gar ten gehabt, und Jonathan, der Engländer, liebte Gärten ebenfalls. Ihm tat es niemals leid, daß das Haus ein so tiefes Loch in ihr Einkommen fraß. Woran er jetzt dachte, als er die Stufen zur vorderen Haustür hinaufstieg, war weniger die restliche Hypothek als die Tatsache, daß er vermutlich in diesem Hause sterben werde. Sehr wahrscheinlich war es ihm nicht mehr vergönnt, in einem helleren, fröhlicheren Haus mit Simone zu wohnen. Das Sherlock-Holmes-Haus, dachte er, war schon Jahrzehnte alt, bevor er geboren wurde, und würde sicher noch weitere Jahrzehnte existieren, wenn er längst tot war. Es war sein Schicksal gewesen, sich dieses Haus auszusuchen. Eines Tages trug man ihn, die Füße voran, aus diesem Hause heraus, vielleicht noch lebend, aber dem Tode nahe, und dann kam er nicht mehr zurück. 60
Zu seiner Überraschung war Simone in der Küche und spielte am Tisch eine Art Kartenspiel mit Georges. Mit fragendem Lächeln blickte sie auf, dann merkte er, was ihr eingefallen war: er hatte ja heute nachmittag das Pa riser Labor anrufen sollen. Das konnte sie aber nicht er wähnen, wenn das Kind dabei war. »Der Alte hat heute früh zugemacht«, erzählte sie. »Es war nichts los im Geschäft.« »Prima!« sagte Jonathan. »Und was wird hier gespielt in dieser Spielhölle?« »Ich gewinne!« rief Georges auf französisch. Simone stand auf und folgte ihrem Mann in den Flur, wo er seinen Mantel aufhängte. Fragend sah sie ihn an. »Kein Grund zur Sorge«, sagte Jonathan, doch sie machte eine Handbewegung und ging den Flur hinunter bis zum Wohnzimmer. »Es scheint eine Kleinigkeit schlimmer zu sein, aber es geht mir ja nicht schlechter, also was soll´s. Ich hab jetzt genug davon. Komm, wir trinken einen Cinzano.« »Du hast dir Sorgen gemacht wegen der dummen Klatscherei, nicht wahr, Jon?« »Ja, das stimmt.« »Ich möchte bloß wissen, wer das in die Welt gesetzt hat.« Ihre Augen wurden schmal vor Bitterkeit. »Eine scheußliche Sache so was. Hat Gauthier dir nicht gesagt, wer es ihm erzählt hat?« »Nein. Er sagt, es war irgendwo ein Mißverständnis oder eine Ubertreibung.« Jonathan wiederholte, was er Simone schon einmal gesagt hatte. Aber er wußte, es war kein Mißverständnis; die ganze Geschichte war ge nau kalkuliert und geplant worden.
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Jonathan stand am Schlafzimmerfenster im ersten Stock und sah zu, wie draußen Simone die Wäsche auf die Leine hängte: Kissenbezüge, Georges´ Schlafanzüge, ein Dutzend Paar Socken, die Jonathan und Georges gehörten, zwei weiße Nachthemden, Büstenhalter, Jona thans beige Arbeitshosen – alles bis auf die Bettlaken, die Simone in die Wäscherei gab, weil sie Wert auf gut gebügelte Laken legte. Sie trug heute Tweedhosen und einen dünnen roten Pullover, der eng am Körper lag. Der Rücken wirkte stark und geschmeidig, als sie sich jetzt über den ovalen Wä schekorb beugte, um die Tischtücher herauszunehmen. Es war ein sonnigwarmer Tag; der Wind brachte die erste Ahnung vom Sommer. Jonathan hatte sich heute gedrückt vor der Fahrt nach Nemours, wo Simones Eltern, die Foussadiers, ihre Kin der zum Lunch erwarteten. Gewöhnlich fuhr er jeden zweiten Sonntag mit Simone hin. Wenn ihr Bruder Gérard sie nicht mit dem Wagen abholte, nahmen sie den Bus nach Nemours. Es folgte ein großes Essen bei den El tern, auch Gérard, seine Frau und die beiden Kinder wa ren dabei; sie wohnten ebenfalls in Nemours. Daß Georges mitkam, war für die Eltern jedesmal eine große Freude, immer hatten sie irgendein Geschenk für ihn. Gegen drei Uhr stellte dann der Vater, Jean-Noel, den Fernsehapparat an. Jonathan langweilte sich häufig da bei, aber er ging mit, weil es sich nun mal so gehörte und er auch beeindruckt war von dem engen Familienleben der Franzosen. »Geht´s dir auch gut?« hatte Simone gefragt, als Jonathan sagte, er wollte nicht mitfahren. 62
»Ja, Liebes – ich bin nur heute nicht recht in Stim mung, das ist alles. Und dann möchte ich auch gern im Garten das Stück für die Tomaten vorbereiten. Fahr du doch heute mal allein mit Georges, ja?« Simone und Georges fuhren also ohne ihn mit dem Zwölf-Uhr-Bus. Simone hatte den Rest des gestrigen bœuf bourguignon in einen kleinen roten Topf getan und auf den Herd gestellt, so daß Jonathan ihn nur aufzu wärmen brauchte, wenn er hungrig war. Jonathan lag daran, eine Weile allein zu sein. Er dach te immer noch an den geheimnisvollen Stephen Wister und seinen Plan. Er hatte nicht etwa die Absicht, ihn heu te im Aigle Noir anzurufen, obgleich er keinen Augenblick vergessen konnte, daß Wister noch dort war, keine drei hundert Meter entfernt. Er hatte nicht vor, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, obwohl ihn die Vorstellung merk würdig beunruhigte; es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel, dieses Projekt, wie ein kühner Farbstrich in sei nem monotonen Alltagsleben, und er wollte sich noch ein bißchen daran freuen, ihn sozusagen genießen. Außer dem hatte er das Gefühl (es hatte sich schon häufig bes tätigt), daß Simone seine Gedanken lesen konnte oder daß sie jedenfalls wußte, wenn ihn etwas stark beschäf tigte. Wenn er an diesem Sonntag seinen Gedanken nachhing, so wollte er nicht, daß Simone das merkte und ihn fragte, was los sei. Deshalb nahm er sich energisch das Beet vor und träumte im Garten weiter. Vierzigtau send Pfund. Damit konnte man den ganzen Rest der Hy pothek ablösen, ein paar Sachen, die sie auf Abzahlung gekauft hatten, begleichen, das Haus innen streichen, wo es notwendig war, einen Fernsehapparat kaufen, eine Reserve für Georges´ Ausbildung zurücklegen, ein paar Kleidungsstücke für Simone und ihn selber – o Gott, wel che Erleichterung. Keine Sorgen mehr! Ein Mann von der 63
Mafia, oder auch zwei – schwarzhaarige untersetzte Schurken, die, von einem Schuß getroffen, die Arme hochwarfen und zu Boden sackten. Was Jonathan sich absolut nicht vorstellen konnte, als er den Spaten in die lockere Gartenerde stieß, war, daß er selber es war, der mit einer Schußwaffe auf den Rücken eines Mannes ziel te und dann abdrückte. Interessanter und geheimnisvol ler, vielleicht auch gefährlicher, war der Gedanke, wie Wister gerade auf ihn gekommen war. Es gab offenbar ein Komplott gegen ihn in Fontainebleau, das bis nach Hamburg reichte. Eine Verwechslung war ausgeschlos sen, denn Wister hatte ja von Jonathans Krankheit, sei ner Frau und dem Kind gesprochen. Es mußte da je manden geben, den Jonathan bisher für einen Freund oder guten Bekannten gehalten hatte und der es keines wegs gut mit ihm meinte. Wister verließ Fontainebleau wahrscheinlich heute nachmittag gegen fünf. Um drei Uhr hatte Jonathan zu Mittag gegessen und im Wohnzimmer die Schublade des runden Mitteltisches, die alte Papiere und Quittungen enthielt, aufgeräumt. Dann nahm er – frohgelaunt, denn er war überhaupt nicht müde – Besen und Kehrschaufel zur Hand und machte sich daran, Ofenrohr und Fußbo den rund um den Ölofen zu säubern. Kurz nach fünf, als Jonathan in der Küche am Ausguß stand und sich den Ruß von den Händen bürstete, kam Simone mit Georges, ihrem Bruder Gérard und seiner Frau Yvonne an, und alle nahmen einen Drink in der Kü che. Die Großeltern hatten Georges eine runde Schach tel mit Ostereiern geschenkt, darin lagen ein Osterei in Goldpapier, ein Schokoladenhäschen und farbige Gum midrops, alles unter gelbem Zellophan und noch unge öffnet, denn Simone hatte ihm verboten, es zu öffnen, weil er in Nemours schon andere Süßigkeiten gegessen 64
hatte. Georges lief mit den Foussadier-Kindern hinaus in den Garten. »Tritt nicht auf die weiche Erde, Georges!« rief Jona than ihm nach. Er hatte alles geharkt und die Steine lie gen lassen, damit Georges sie aufsammelte; sicher ließ er sich dabei jetzt von seinen Vettern helfen, damit der kleine rote Wagen gefüllt wurde, für den er von seinem Vater jedesmal fünfzig Centimes bekam, wenn der Wa gen voll war. Er war niemals richtig voll, meist war nur der Boden bedeckt. Es begann zu regnen. Vor wenigen Minuten hatte Jo nathan die Wäsche hereingeholt. »Wunderbar sieht der Garten aus«, sagte Simone. »Schau mal, Gérard!« Sie stand auf der kleinen hinteren Veranda und machte eine Handbewegung zu ihrem Bru der hinüber. Jetzt sitzt Wister sicher schon im Zug von Fontaine bleau nach Paris, dachte Jonathan. Vielleicht nahm er auch einfach ein Taxi von Fontainebleau nach Orly, er schien ja genug Geld zu haben. Oder er war jetzt schon in der Luft, auf dem Wege nach Hamburg. Simones An wesenheit, die Stimmen von Schwager und Schwägerin, löschten Wister langsam aus, verwandelten ihn in ein Phantasiebild. Ein kleiner Triumph stieg in Jonathan auf: er hatte Wister nicht angerufen. Es war, als habe er da durch so etwas wie einen Sieg erfochten oder zumindest einer Versuchung widerstanden. Gérard Foussadier war Elektriker, ein solider korrekter Mann, etwas älter als Simone, mit hellerem Haar und sorgfältig gestutztem braunem Schnurrbart. Er hatte ein Hobby, Seegeschichte, und er baute Fregatten nach dem 19. und 20. Jahrhundert, die er mit winzigen elektrischen Birnen ausrüstete, so daß er von einem Schalter in sei nem Wohnzimmer aus das Schiff ganz oder teilweise 65
erleuchten konnte. Er lachte selber über den Anachro nismus – elektrisches Licht in alten Fregatten! – doch die Wirkung war wirklich hübsch, wenn es überall im Hause dunkel war und die acht oder zehn Schiffe im Wohnzim mer wie über ein dunkles Meer segelten. »Simone sagt, du machst dir Sorgen – um deine Ge sundheit«, sagte Gérard ernst. »Das tut mir leid, Jon.« »Ach, nichts Besonderes. Ich hatte gerade wieder eine Untersuchung, und der Bericht war ungefähr derselbe.« Jonathan war an diese Klischees schon gewöhnt, sie be deuteten nicht mehr als die Antwort: »Danke, sehr gut«, wenn einer sich nach dem Befinden erkundigte. Gérard war offenbar zufrieden mit seiner Antwort, Simone hatte also wohl nicht viel gesagt. Simone und Yvonne unterhielten sich über Linoleum. Der Linoleumbelag in der Küche war vor dem Herd und dem Ausguß durchgetreten; er war nicht mehr neu ge wesen, als sie das Haus kauften. »Geht´s dir wirklich gut, Lieber?« fragte Simone, als die Verwandten sich verabschiedet hatten. »Mehr als gut, mein Herz. Ich hab sogar den Boiler raum in Angriff genommen, den Ruß«, sagte Jonathan lächelnd. »Verrückt. Aber heute abend bekommst du ein an ständiges Dinner, paß mal auf. Mama hat keine Ruhe gegeben, ich mußte drei paupiettes vom Lunch für dich mitnehmen. Sie schmecken wunderbar.« Kurz vor elf, als sie gerade zu Bett gehen wollten, wurde Jonathan von einer plötzlichen Schwäche befallen; es war, als versinke er mit den Beinen, mit dem ganzen Körper in einer weichen Masse, als bewege er sich nur mühsam vorwärts, bis zu den Hüften im Schlamm. Mü digkeit? Es schien ihm mehr psychisch als physisch zu sein. Er war froh, als er im Bett lag und das Licht ausge 66
schaltet war; jetzt konnte er sich entspannen, die Arme um Simone geschlungen und ihre Arme um ihn, wie sie immer lagen vor dem Einschlafen. Seine Gedanken wa ren schon wieder bei Stephen Wister (ob das sein richti ger Name war?), der sich jetzt auf dem Flug nach Osten befand, die lange Gestalt im Flugzeugsessel ausge streckt. Er stellte sich Wisters Gesicht mit der rosa Narbe vor, angespannt nachdenkend; aber Wister dachte sicher nicht mehr an Jonathan Trevanny, der dachte bestimmt jetzt an jemand anderen. Zweifellos hatte er noch zwei oder drei andere in petto. Am nächsten Morgen war es kalt und neblig. Gleich nach acht verließ Simone mit Georges das Haus und brachte den Kleinen in die Ecole Maternelle, und Jona than stand in der Küche und wärmte sich die Finger an einem zweiten Schüsselchen mit café au lait. Die Hei zung im Haus war nicht ausreichend. Den Winter hatten sie wieder mal so einigermaßen hinter sich gebracht, doch selbst jetzt im Frühling war das Haus morgens kalt. Der Heizkessel, den sie beim Kauf des Hauses mit über nommen hatten, genügte zwar für die fünf Heizkörper im Parterre, nicht aber für die zusätzlichen fünf, die sie hoff nungsvoll im ersten Stock eingebaut hatten. Man hatte sie gewarnt, daran erinnerte er sich, doch ein neuer Heizkessel hätte dreitausend Francs gekostet, und die hatten sie nicht. Drei Briefe waren durch den Schlitz in der Haustür auf den Boden gefallen. Einer war die Rechnung der Elektri zitätswerke. Den nächsten Umschlag, weiß und quadra tisch, drehte Jonathan um und sah auf der Rückseite den Aufdruck Hôtel de l´Aigle Noir. Er öffnete ihn, und eine Geschäftskarte fiel heraus. Er hob sie auf und las ›Ste phen Wister, bei‹ handschriftlich über den Kopf des Auf drucks gesetzt: 67
Reeves Minot Hamburg 39 Agnesstraße 59 Tel. 97.29.57. Auch ein Brief war dabei. 1. April 19Lieber Mr. Trevanny, sehr schade, daß ich bis heute nachmittag nichts von Ihnen gehört habe. Für den Fall, daß Sie Ihren Entschluß doch noch ändern, lege ich eine Karte mit meiner Ham burger Adresse bei. Sollten Sie sich meinen Vorschlag überlegen wollen, so rufen Sie bitte jederzeit mit RGespräch bei mir zu Hause an. Oder kommen Sie ein fach nach Hamburg, dann können wir die Sache bespre chen. Sobald ich von Ihnen höre, werde ich telegrafisch eine Rückflugkarte anweisen lassen. Vielleicht wäre es übrigens keine schlechte Idee, daß Sie in Hamburg einen Spezialisten wegen Ihrer Krankheit konsultieren, damit Sie eine zweite Diagnose haben. Das könnte Sie möglicherweise beruhigen. Sonntag abend fahre ich nach Hamburg zurück. Mit freundlichen Grüßen Stephen Wister Der Brief überraschte, amüsierte und ärgerte Jonathan – alles auf einmal. Beruhigen. – Wieso? Wister war doch sicher, daß Jonathan bald sterben werde. Wenn der Hamburger Spezialist sagte: »Ja – Sie haben leider nur noch einen oder zwei Monate« – würde ihn das beruhi gen? Jonathan schob den Brief und die Karte in die hin tere Hosentasche. Eine Gratisreise nach Hamburg. Wister strengte sich wirklich an, das mußte man sagen. Ganz interessant, daß er den Brief Samstag abend ab geschickt hatte, damit er Montag morgen ankam, obwohl ihn doch Jonathan irgendwann am Sonntag hätte anrufen 68
können. Aber sonntags wurden die Briefkästen in der Stadt nicht geleert. Es war jetzt 8.52 Uhr. Was lag an Arbeit vor? Er brauchte weißes Papier, das lieferte eine Firma in Melun. Mindestens zwei Kunden mußte er eine Postkarte schreiben, ihre Bilder waren seit mehr als einer Woche fertig. Jonathan ging meistens auch montags in seinen Laden, kramte und räumte auf, obwohl das Geschäft ge schlossen blieb, denn in Frankreich durfte kein Ladenge schäft sechs Tage in der Woche geöffnet sein. Um Viertel nach neun war Jonathan in seinem Ge schäft, zog die grüne Jalousie an der Tür zurück und schloß wieder ab. Das Schild Fermé ließ er im Eingang stecken. Er machte sich an seinem Arbeitstisch zu schaf fen, in Gedanken immer noch in Hamburg. Vielleicht war es keine schlechte Idee, die Ansicht eines Spezialisten einzuholen. Vor zwei Jahren hatte Jonathan einen Spe zialisten in London konsultiert. Sein Bericht stimmte mit dem des französischen Arztes überein, und das war in Ordnung, dann mußte die Diagnose stimmen. Vielleicht waren die Deutschen noch etwas gründlicher oder eher up to date? Wenn er nun auf Wisters Vorschlag einging und die Flugkarte akzeptierte? (Er nahm eine Postkarte und schrieb sich die Adresse ab.) Aber dann war er Wister verpflichtet. Jonathan erkannte, daß er schon mit der Idee spielte, einen Menschen für Wister umzubringen – nein, nicht für Wister, sondern des Geldes wegen. Ei nen Mafioso. Waren das nicht sowieso alles Verbrecher? Natürlich, hielt er sich vor, konnte er Wister das Geld, wenn er die Flugkarte annahm, immer noch zurückzah len. Die Sache war nur die: er konnte den Betrag nicht einfach jetzt vom Konto holen, es war nicht genug da. Wenn er tatsächlich Gewißheit über seinen Zustand ha ben wollte, dann war Deutschland – oder auch die 69
Schweiz – die beste Instanz. Die hatten doch immer noch die besten Ärzte der Welt, oder? Jonathan legte die Karte mit der Adresse des Papierlieferanten in Melun neben das Telefon, damit er morgen daran dachte, ihn anzuru fen; heute war dort geschlossen. Ob Stephen Wisters Vorhaben am Ende doch ausführbar war? Sekundenlang sah sich Jonathan im Kreuzfeuer der deutschen Polizei: sie hatten ihn gestellt, nachdem er gerade den Italiener erschossen hatte. Aber selbst wenn er, Jonathan, tot war, würden Simone und Georges die vierzigtausend Pfund bekommen. Jonathan kam in die Wirklichkeit zu rück. Er würde keinen Menschen umbringen, ausge schlossen. Aber eine Reise nach Hamburg war doch wunderbar, eine große Sache, selbst wenn sie schlechte Neuigkeiten brachte. Jedenfalls würde er Tatsachen er fahren. Und wenn Wister das jetzt bezahlte, so konnte Jonathan ihm das Geld in drei Monaten zurückzahlen, wenn er alles zusammenkratzte, keinerlei Kleidung kauf te und auf jedes Glas Bier verzichtete. Ihm graute etwas davor, Simone von der Sache zu erzählen; natürlich hatte sie nichts dagegen, es ging ja darum, einen neuen Arzt – vermutlich eine Autorität auf ärztlichem Gebiet – aufzu suchen. Das Geld mußte er aus eigener Tasche zusam mensparen. Gegen elf Uhr vormittags meldete Jonathan ein Ge spräch mit Wister in Hamburg an, aber ein normales, kein R-Gespräch. Nach drei oder vier Minuten klingelte das Telefon, und die Verbindung war da, klar und viel deutli cher als die meisten Gespräche mit Paris. »Ja – hier Wister«, sagte die helle, angespannte Stimme. »Ich habe heute morgen Ihren Brief bekommen«, be gann Jonathan. »Das mit meinem Flug nach Hamburg –« »Ja, warum nicht?« meinte Wister leichthin. 70
»Ich meine, wenn ich einen Spezialarzt aufsuchen könnte –« »Das Geld geht sofort an Sie ab, telegrafisch. Sie können es auf dem Postamt in Fontainebleau abholen – in zwei Stunden oder so müßte es da sein.« »Ja – danke, das ist sehr freundlich. Wenn ich dann da bin –« »Können Sie heute schon kommen? Heute abend? Ein Zimmer habe ich für Sie.« »Heute schon? Das weiß ich nicht recht.« Immerhin – warum eigentlich nicht? »Rufen Sie mich wieder an, wenn Sie die Flugkarte haben. Sagen Sie mir dann, wann Sie ankommen. Ich bin den ganzen Tag zu Hause.« Jonathans Herz schlug etwas schneller, als er den Hö rer auflegte. Als er mittags zu Hause war, ging er nach oben ins Schlafzimmer, um nachzusehen, ob sein Koffer in Ord nung war. Ja, da stand er, oben auf dem Schrank. Seit dem letzten Urlaub vor fast einem Jahr, in Arles, hatte er dort gestanden. Zu Simone sagte er: »Liebes, ich muß dir etwas Wich tiges sagen. Ich habe beschlossen, nach Hamburg zu fahren und einen Spezialisten aufzusuchen.« »Nach Hamburg? Hat Perrier das vorgeschlagen?« »Nein – es war eigentlich meine eigene Idee. Ich hätte gern die Ansicht eines deutschen Arztes, das ist es. Na türlich ist es eine teure Sache.« »Ach, Jon, teuer! Hast du denn heute morgen etwas gehört? Der Laborbericht kommt doch erst morgen, nicht wahr?« »Ja. Aber was die hier sagen, ist immer dasselbe. Ich möchte hören, was ein neuer Arzt sagt.« »Und wann willst du fahren?« 71
»Bald. Diese Woche.« Kurz vor fünf ging Jonathan zum Postamt in Fontaine bleau. Das Geld war angekommen. Er legte seinen Per sonalausweis vor und nahm zwölfhundert Franc in Emp fang. Dann ging er zum Reisebüro auf der Place Franklin Roosevelt, ein paar Straßen weiter, und erstand ein Rückflugticket nach Hamburg für eine Maschine, die am gleichen Abend um 9.25 Uhr vom Flughafen Orly abflog. Er mußte sich beeilen, das wußte er und tat es gern, es ließ ihm keine Zeit zum Überlegen und Zögern. Er ging in sein Geschäft und rief Hamburg an, diesmal mit RGespräch. Auch jetzt war Wister am Telefon. »Ausgezeichnet. Um elf Uhr fünfundfünfzig also. Dann nehmen Sie den Flughafenbus bis zur Endstation in der Stadt, ja? Dort hole ich Sie ab.« Jonathan rief noch einen Kunden an, der ein wichtiges Bild abzuholen hatte, und teilte ihm mit, der Laden sei Dienstag und Mittwoch ›aus Familiengründen‹ geschlos sen. Das war die übliche Redewendung; er mußte ein Schild mit entsprechender Aufschrift für ein paar Tage an der Tür stecken lassen. So etwas war nicht weiter wich tig; viele Läden in der Stadt waren ab und zu aus dem einen oder anderen Grunde geschlossen. Einmal hatte Jonathan ein Schild mit der Aufschrift ›Wegen Katzen jammer geschlossen‹ an einer Ladentür gesehen. Er schloß ab und ging nach Hause, um zu packen. Mehr als zwei Tage würde er nicht fortbleiben, überlegte er, außer wenn man in der Hamburger Klinik darauf be stand, daß noch weitere Tests gemacht wurden; dann mußte er bleiben. Er hatte die Züge nach Paris nachge sehen, einer ging um sieben, das paßte gut. Er mußte erst nach Paris fahren und dann nach Les Invalides, um von dort aus den Bus nach Orly zu nehmen. Als Simone 72
mit Georges nach Hause kam, hatte er den Koffer schon unten. »Heute abend?« fragte Simone. »Ja, Liebes, je eher, je besser. Das war so ein Einfall von mir, weißt du. Mittwoch bin ich zurück, vielleicht auch schon morgen abend.« »Ja, aber – wo kann ich dich erreichen? Hast du ein Hotelzimmer bestellt?« »Nein. Ich muß dir telegrafieren, mein Kleines. Mach dir keine Sorgen.« »Hast du denn alles mit dem Arzt abgemacht? Wer ist überhaupt der Arzt?« »Das weiß ich noch nicht. Ich weiß nur das Kranken haus.« Jonathan ließ seinen Paß fallen, als er versuchte, ihn in die innere Rocktasche zu stecken. »So hab ich dich noch nie gesehen«, sagte Simone langsam. Jonathan lächelte ihr zu. »Nun, jedenfalls bin ich nicht dem Zusammenbruch nahe!« Simone wollte mit ihm zum Bahnhof FontainebleauAvon fahren und mit dem Bus zurückkommen, aber Jo nathan bat sie, im Hause zu bleiben. »Ich schick dir sofort ein Telegramm«, versprach er. »Wo ist das, Hamburg?« fragte Georges zum zwei tenmal. »Allemagne – Deutschland«, sagte Jonathan. Er hatte Glück und erwischte ein Taxi in der Rue de France; der Zug fuhr ein, als er am Bahnhof Fontaine bleau-Avon ankam, und er hatte gerade Zeit genug, eine Fahrkarte zu lösen und eilig einzusteigen. In Paris nahm er dann ein Taxi vom Gare de Lyon bis Les Invalides. Etwas Geld war noch übrig von den zwölfhundert Franc, und eine Weile wollte er sich jetzt um Geld keine Sorgen machen. 73
Im Flugzeug döste er vor sich hin, eine Zeitschrift auf den Knien. Er stellte sich vor, jemand anderes zu sein. Es war, als schöbe der schnelle Flug den neuen Men schen immer weiter fort von dem Mann, der im dunklen grauen Haus in der Rue St-Merry zurückgeblieben war. Ein anderer Jonathan war gerade dabei, Simone in der Küche beim Geschirrspülen zu helfen, und schwatzte mit ihr über alltägliche Dinge, was das Linoleum für den Kü chenboden wohl kosten würde und dergleichen mehr. Die Maschine setzte zur Landung an. Hier war die Luft schärfer und viel kälter. Es folgte die Fahrt über eine lan ge, erleuchtete Autostraße, dann die Stadtstraßen mit mächtigen Häusern, die hoch in den nächtlichen Himmel ragten. Die Straßenbeleuchtung war in Form und Farbe anders als die in Frankreich. Und da stand Wister. Lächelnd und mit ausgestreckter rechter Hand kam er auf Jonathan zu. »Willkommen, Mr. Trevanny! War der Flug angenehm? Mein Wagen steht hier um die Ecke. Hoffentlich hat es Ihnen nichts ausge macht, mit dem Bus bis hierher zu fahren. Mein Fahrer – er ist nicht mein Fahrer, aber ich nehme ihn manchmal – war bis vor ein paar Minuten anderweitig besetzt.« Sie gingen auf die Straße. Wister redete immer weiter mit seinem amerikanischen Akzent. Außer der langen Narbe deutete nichts an ihm auf Gewalt. Er war eher zu ruhig, zu gelassen, fand Jonathan, was vom psychiatri schen Standpunkt aus vielleicht bedenklich war. Oder ob er vielleicht ein Magengeschwür hatte? Jetzt blieb Wister neben einem schimmernd schwarzen Mercedes stehen. Ein älterer Mann ohne Mütze ergriff Jonathans mittelgro ßen Koffer und hielt ihm und Wister die Tür offen. »Das ist Karl«, sagte Wister. »Guten Abend«, sagte Jonathan. Karl lächelte und murmelte etwas auf Deutsch. 74
Die Fahrt war lang. Wister zeigte Jonathan das Rat haus, »sehr alt, und die Bomben haben es verschont« – und dann eine große Kirche oder Kathedrale, den Namen verstand Jonathan nicht. Er saß neben Wister im Rück sitz. Sie fuhren jetzt durch ein Stadtviertel mit etwas länd lichem Charakter, dann kam noch eine Brücke und da nach eine dunklere Straße. »Da sind wir. Hier wohne ich«, sagte Wister. Der Wagen war in eine leicht ansteigende Einfahrt eingebogen und hielt nun vor einem großen Haus. Meh rere Fenster und auch die breite Eingangstür waren hell erleuchtet. »Das Haus ist alt, es hat jetzt vier Wohnungen. Eine gehört mir«, erklärte Wister. »In Hamburg gibt es viele solcher Häuser, alle umgebaut in Wohnungen. Schöne Aussicht auf die Alster von meiner Wohnung aus. Das hier ist die große, die Außenalster. Sie werden sie mor gen besser sehen können.« Sie fuhren in einem modernen Lift nach oben. Karl trug Jonathans Koffer. Oben drückte Karl auf den Klingel knopf, und eine ältere Frau in schwarzem Kleid und wei ßer Schürze öffnete freundlich lächelnd die Wohnungs tür. »Dies ist Gaby«, sagte Wister zu Jonathan, »meine Haushälterin – stundenweise. Sie arbeitet noch bei einer anderen Familie hier im Haus, und dort schläft sie auch, aber heute hatte ich ihr gesagt, wir hätten gern noch et was zu essen heute abend. Gaby, dies ist Herr Trevanny aus Frankreich.« Die Frau begrüßte Jonathan zuvorkommend und nahm ihm den Mantel ab. Mit ihrem runden Gesicht sah sie aus wie die verkörperte Zuverlässigkeit. »Wenn Sie sich die Hände waschen wollen, das kön nen Sie hier«, sagte Wister und wies auf ein Badezim 75
mer, wo das Licht brannte. »Ich mache Ihnen einen Whisky zurecht. Haben Sie Hunger?« Als Jonathan aus dem Badezimmer kam, brannten in dem großen, quadratischen Wohnraum alle vier Lampen, und Wister saß, eine Zigarre rauchend, auf einem grünen Sofa. Vor ihm auf einem Tischchen standen zwei Whis kys. Gaby kam gleich darauf herein mit einem Tablett mit Sandwiches und einem hellgelben runden Käse. »Oh, vielen Dank, Gaby«, sagte Wister und fuhr dann, zu Jonathan gewandt, fort: »Dies ist eigentlich spät für Gaby, aber als ich ihr sagte, ich erwarte einen Gast, be stand sie darauf, sie wollte dableiben und die Sandwi ches servieren.« Es war eine heitere Bemerkung, doch Wister lächelte nicht dabei; er zog sogar angespannt die geraden Augenbrauen zusammen, während Gaby die Teller und Bestecke auf dem Tisch ordnete. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte er: »Wie fühlen Sie sich – ist alles in Ordnung? Die Hauptsache ist jetzt zunächst der Besuch beim Spezialarzt. Ich kenne da ei nen sehr guten Mann, Dr. Heinrich Wentzel, er ist Häma tologe am Eppendorfer Krankenhaus, das ist die Univer sitätsklinik hier. Weltbekannt. Ich habe Sie für morgen um zwei bei ihm angemeldet, wenn Ihnen das recht ist.« »Ja, natürlich. Vielen Dank«, erwiderte Jonathan. »Dann können Sie vorher erst mal ausschlafen. Hof fentlich hat Ihre Frau nichts dagegen gehabt, daß Sie sich so kurzfristig zu der Reise entschlossen –? Schließ lich ist es ja nur vernünftig, bei ernsthafter Erkrankung mehr als einen Arzt zu befragen, nicht wahr?« Jonathan hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war verwirrt, beunruhigt, und außerdem lenkte ihn der Gedanke an seine Umgebung ab, die Tatsache, daß dies alles deutsch sein sollte und daß er in Deutschland war, zum erstenmal. Die Einrichtung war konventionell und eher 76
modern als antik, nur an der gegenüberliegenden Wand stand ein hübscher Biedermeier-Schreibtisch. An allen Wänden standen niedrige Bücherregale, an den Fenstern hingen lange grüne Vorhänge, und die Lampen in den Zimmerecken verbreiteten freundliches Licht. Ein rötlicher Holzkasten stand geöffnet auf der Glasplatte des niedri gen Tischchens und bot in verschiedenen Fächern Zigar ren und Zigaretten. Vor dem weißen Kamin lag das Mes singzubehör, doch brannte jetzt kein Feuer. Über dem Kamin hing ein interessantes Bild, das aussah wie ein Derwatt. Und wo war eigentlich Reeves Minot? Wahr scheinlich war Wister Minot, dachte Jonathan. Ob Wister ihm das jetzt mitteilen würde, oder nahm er an, daß Jo nathan es erraten hatte? Jonathan dachte gerade an zu Hause: er und Simone müßten eigentlich ihr ganzes Haus innen weiß tapezieren oder streichen. Von der Idee mit der art-nouveau-Tapete im Schlafzimmer müßte er Simone abbringen. Wenn sie hellere Räume erreichen wollten, wäre doch Weiß das logische – ». . . haben Sie vielleicht auch an die andere Sache gedacht«, sagte Wister mit seiner sanften Stimme. »Was ich Ihnen in Fontainebleau vorschlug, meine ich.« »Ich fürchte, da kann ich Ihnen heute nichts anderes sagen als neulich«, gab Jonathan zurück. »Und das be deutet – also deshalb schulde ich Ihnen jetzt zwölfhun dert Franc.« Jonathan zwang sich zu einem Lächeln. Er spürte die Wirkung des Whiskys, und sobald ihm das klar wurde, trank er nervös einen weiteren Schluck. »Ich kann es Ihnen in drei Monaten zurückzahlen. Für mich ist die ser Spezialarzt jetzt die Hauptsache. Alles zu seiner Zeit.« »Selbstverständlich«, sagte Wister, »An eine Rückzahlung brauchen Sie nicht zu denken. Das ist Unsinn.« 77
Jonathan wollte ihm nicht widersprechen, doch fühlte er eine leise Scham in sich aufsteigen. Vor allem fühlte er sich merkwürdig – als ob er träume oder gar nicht er sel ber sei. Das liegt nur an der Fremdheit ringsum, dachte er. »Der Italiener, den wir liquidieren wollen, der hat einen ganz normalen Job.« Wister hatte die Hände hinter dem Kopf gefaltet und blickte zur Decke empor. »Ha – sehr komisch – er tut nämlich nur so, als ob er da bestimmte Arbeitszeiten hätte. Er treibt sich in den Klubs in der Reeperbahngegend herum und tut so, als machte er sich was aus dem Spiel, und er tut auch so, als ob er eine Stellung als Weinprüfer hätte, er hat bestimmt irgendei nen Kumpan in der – in dieser Weinfirma oder so was. Da geht er jeden Nachmittag hin, aber abends ist er im mer in irgendeinem der privaten Klubs, da spielt er ein bißchen und sieht zu, wen er da treffen kann. Vormittags schläft er, weil er die ganze Nacht auf ist. Es ist also so – « Wister setzte sich auf, »jeden Nachmittag nimmt er die U-Bahn nach Hause bis zu seiner Wohnung, die hat er gemietet. Der Mietvertrag läuft auf sechs Monate, und die Anstellung bei den Weinleuten ist auch für sechs Monate, damit alles seine Ordnung hat. – Bitte nehmen Sie doch!« Wister reichte den Teller über den Tisch, als habe er gerade erst gemerkt, daß die Platte mit den Sandwi ches dort stand. Jonathan nahm ein Sandwich mit Zunge. Es gab auch Salat und kleine Gurken. »Die Hauptsache ist Folgendes: jeden Nachmittag et wa um Viertel nach sechs steigt er an der U-Bahn-Station Steinstraße aus, allein. Er sieht aus wie jeder gewöhnli che Angestellte, der aus dem Büro kommt. Das ist die Zeit für uns, dann müssen wir ihn kriegen.« Wister breite te die knochigen Hände aus, mit dem Handrücken nach 78
oben. »Wenn Sie ihn mitten in den Rücken treffen, so brauchen Sie nur einmal zu schießen – vielleicht sicher heitshalber zweimal, das ist alles. Dann lassen Sie die Pistole fallen und fertig. Bob´s your uncle, sagt man glaube ich im Englischen, was?« Ja, Jonathan kannte die Redensart, vor langer Zeit hatte er sie gehört. »Wenn es so einfach ist, wozu brau chen Sie mich dann?« Er brachte ein höfliches Lächeln zustande. »Ich bin doch ein absoluter Amateur, milde gesagt. Bei mir würde das bestimmt schiefgehen.« Wister schien ihn gar nicht gehört zu haben. »Die Leu te vor der U-Bahn wird man vielleicht festhalten. Oder nur einige, das kann man nicht wissen. Vielleicht dreißig oder vierzig im ganzen, wenn die Cops schnell genug da sind. Es ist ein sehr großer Bahnhof mit direkter Verbindung zum Hauptbahnhof, wo die Fernzüge halten. Kann sein, man durchsucht Sie. Und wenn schon –« Wister zuckte die Achseln. »Die Waffe haben Sie längst fallen lassen. Sie hatten einen dünnen Strumpf über die Hand gezo gen, und den Strumpf haben Sie gleich nach dem Schuß ebenfalls weggeschmissen. Keine Pulverspuren bei Ih nen, und keine Fingerabdrücke an der Waffe. Sie haben keinerlei Beziehung zu dem toten Mann. Aber so weit kommt es ja gar nicht. Ein Blick auf Ihren französischen Personalausweis – und dann noch Ihre Verabredung mit Dr. Wentzel – und Sie sind raus. Woran mir liegt – uns liegt, das ist vor allem das eine: wir wollen jemand, der keinerlei Verbindung zu uns oder zu den Klubs hat . . .« Jonathan hörte sich das alles an und sagte nichts da zu. Am Tage der Tat, dachte er, mußte er in einem Hotel wohnen, er konnte nicht gut Wisters Logiergast sein, falls irgendein Polizist ihn fragte, wo er wohne. Und Karl und die Haushälterin, wie stand es mit denen? Wußten sie etwas, und waren sie zuverlässig? Ist ja alles Blödsinn, 79
dachte Jonathan und wollte lächeln, aber er lächelte nicht. »Sie sind müde«, sagte Wister. »Soll ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen? Gaby hat Ihren Koffer schon hinge bracht.« Fünfzehn Minuten später stand Jonathan nach einer heißen Dusche im Schlafanzug in seinem Zimmer. Das Fenster ging zur Straße hinaus, wie das Wohnzimmer, wo beide Fenster an der Straßenfront lagen, und Jona than blickte auf eine Wasserfläche und sah Lichter am nahen Ufer und rote und grüne Lampen auf den festge machten Booten. Es sah dunkel, friedlich und weiträumig aus. Ein Scheinwerferstrahl fuhr schützend über den Himmel. Das Bett im Zimmer war breit, die Bettdecke adrett zurückgeschlagen. Auf dem Nachttisch stand ein Glas mit Flüssigkeit, die wie Wasser aussah, daneben lag ein Päckchen mit Gitane-Zigaretten – seine Marke – mit Aschbecher und Streichhölzern. Er nahm das Glas und trank einen Schluck. Es war tatsächlich Wasser.
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Jonathan saß auf dem Bettrand und trank schluckweise den Kaffee, den Gaby gerade gebracht hatte. Der Kaffee war so, wie er ihn gern mochte: stark, mit einem Schuß fetter Sahne. Jonathan war schon um sieben aufgewacht und dann wieder eingeschlafen, bis Wister um halb elf an die Tür klopfte. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen – ich freue mich, daß Sie gut geschlafen haben«, sagte Wister. »Gaby hat schon den Kaffee fertig, oder hätten Sie lieber Tee?« Er hatte hinzugefügt, er habe für Jonathan ein Zimmer im Hotel Victoria bestellt; vor dem Lunch wollten sie hin fahren. Jonathan dankte ihm. Mehr wurde über das Hotel nicht gesprochen. So fing es also an, dachte Jonathan; das mit dem Hotel hatte er ja schon gestern abend über legt. Wenn er Wisters Plan ausführte, durfte er nicht bei ihm wohnen. Er war auch froh, in wenigen Stunden nicht mehr unter Wisters Dach zu sein. Mittags erschien ein Freund oder Bekannter von Wister namens Rudolf Soundso: jung und schlank, mit glattem schwarzem Haar, höflich und etwas rastlos. Ein Medizinstudent, gab Wister an. Er sprach offenbar nicht viel Englisch. Er erinnerte Jonathan an Fotos von Franz Kafka. Alle drei stiegen in den Wagen, Karl saß am Steuer, und sie fuhren in Jonathans Hotel. Alles ringsum sah so neu aus, fand Jonathan, und dann sagte er sich, daß Hamburg ja von Bomben zerstört worden war. In einer Geschäftsstraße hielt der Wagen. Da war das Hotel Victoria. »Im Hotel sprechen sie alle Englisch«, sagte Wister. »Wir warten hier.« 81
Jonathan ging hinein. An der Tür nahm ein Page ihm den Koffer ab. Er füllte die Anmeldung aus und holte sei nen Paß aus der Tasche, um die Nummer richtig einzu setzen. Er bat, den Koffer in sein Zimmer hinaufbringen zu lassen, so hatte Wister es ihm geraten. Das Hotel ge hörte zur mittleren Kategorie, das sah er. Dann fuhren sie in ein Restaurant zum Lunch, an dem Karl nicht teilnahm. Vor dem Essen tranken sie eine Fla sche Wein, und Rudolf wurde zusehends aufgeschlosse ner. Er erzählte auf Deutsch ein paar Scherze, die Wister übersetzte. Jonathan dachte an den Termin um zwei Uhr in der Klinik. »Reeves –«, sagte Rudolf zu Wister. Jonathan meinte, es schon einmal gehört zu haben, und diesmal irrte er sich nicht. Wister oder Reeves Minot nahm es so gelas sen auf wie Jonathan. »Anämie«, sagte Rudolf zu Jonathan. »Schlimmer«, gab Jonathan lächelnd zurück. Reeves übersetzte das englische Wort und sprach weiter Deutsch zu Rudolf. Es hörte sich, fand Jonathan, so un geschickt an wie sein eigenes Französisch, aber er kam vermutlich ebensogut damit durch. Das Essen war ausgezeichnet und die Portionen e norm groß. Reeves hatte seine eigenen Zigarren mitge bracht, doch bevor sie sie zu Ende geraucht hatten, muß ten sie aufbrechen. Das Krankenhaus, ein Konglomerat aus vielen Ge bäuden, lag in einem Grüngelände voller Bäume und blumengesäumter Wege. Wieder hatte Karl sie gefahren. Der Flügel, den Jonathan aufsuchen mußte, glich einem Zukunftslabor – die Zimmer lagen wie im Hotel zu beiden Seiten des Ganges, nur hatten sie verchromte Stühle oder Betten und wurden von farbigen oder buntschillernden Lampen erleuchtet. Es roch hier nicht nach Desinfek 82
tionsmitteln, sondern nach irgendeinem merkwürdigen Gas, es erinnerte Jonathan etwas an den Geruch unter dem Röntgenapparat vor fünf Jahren, der ihm bei der Leukämie so gar nichts genützt hatte. Dies war ein Ort, an dem sich der Laie willenlos dem allwissenden Arzt überließ, dachte Jonathan. Er merkte, wie ihn die Schwäche überkam, fast eine Ohnmacht. Er schritt ne ben Rudolf einen scheinbar endlosen Korridor mit schall dichtem Fußboden entlang. Rudolf sollte dolmetschen, wenn es nötig war. Reeves war mit Karl im Wagen zu rückgeblieben. Jonathan wußte nicht, ob sie auf ihn war ten wollten. Er hatte auch keine Ahnung, wie lange die Untersuchung dauern würde. Dr. Wentzel war ein großer starker Mann mit grauem Haar und Schnauzbart; er sprach etwas Englisch, be mühte sich aber gar nicht um ausführliche Sätze. »Wie lange?« Sechs Jahre. Jonathan wurde auf die Waage gestellt, gefragt, ob er in der letzten Zeit an Gewicht ver loren habe, der Oberkörper wurde freigemacht und die Milz abgetastet. Währenddessen murmelte der Arzt kurze deutsche Sätze, und die Schwester machte Notizen. Der Blutdruck wurde gemessen, die Augenlider betrachtet, Urin- und Blutproben genommen, und schließlich nahm der Arzt eine Knochenmarkprobe aus dem Brustbein, und zwar mit einer Art Drucksonde, die schneller und weniger unangenehm funktionierte als das Instrument bei Dr. Perrier. Die Resultate, so hieß es, würden morgen früh vorliegen. Die ganze Untersuchung hatte nur drei viertel Stunden in Anspruch genommen. Jonathan und Rudolf gingen hinaus. Der Wagen stand ein paar Meter entfernt auf einem Parkplatz, zusammen mit anderen Wagen.
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»Wie war´s? Wann erfahren Sie es?« fragte Reeves. »Möchten Sie zu mir zurückkommen oder lieber ins Hotel fahren?« »Ich glaube, lieber ins Hotel, danke schön«, erwiderte Jonathan und ließ sich erleichtert in die Ecke des Wa gens fallen. Rudolf berichtete offenbar in den höchsten Tönen von Dr. Wentzel, bis sie vor dem Hotel hielten. »Zum Dinner holen wir Sie ab«, sagte Reeves mit hei terer Stimme. »Um sieben also.« Jonathan holte sich den Schlüssel und fuhr hinauf in sein Zimmer. Er zog das Jackett aus und ließ sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett fallen. Nach einigen Minuten raffte er sich auf und trat an den Schreibtisch. In der Schublade lag Briefpapier. Er setzte sich hin und schrieb: 4. April 19Meine liebste Simone, gerade habe ich die Untersuchung hinter mir, morgen früh erfahre ich die Resultate. Ausgezeichnetes Kran kenhaus. Der Arzt sah aus wie Kaiser Franz Josef, er soll der beste Hämatologe der Welt sein, stell dir vor! Egal wie das Resultat ausfällt, mir ist schon leichter zumute, wenn ich es nur weiß. Wenn ich Glück habe, bin ich mor gen schon zu Hause, bevor du dies bekommst, außer wenn Dr. Wentzel noch weitere Tests machen will. Ich werde dir jetzt gleich ein Telegramm schicken, nur damit du weißt, daß es mir gut geht. Du fehlst mir, ich denke sehr an dich und an Cailloux. Alles Liebe und à bientôt! Jon Jonathan hängte seinen besten Anzug – den dunkel blauen – in den Kleiderschrank, ließ die übrigen Sachen im Koffer und ging nach unten, um den Brief einzuste 84
cken. Gestern abend hatte er im Flughafen einen Rei sescheck über zehn Pfund (aus einem alten Scheckbuch, das noch drei oder vier Schecks enthielt) in deutsches Geld umgewechselt. Er setzte ein kurzes Telegramm an Simone auf, das besagte, es gehe ihm gut und ein Brief sei unterwegs. Dann trat er aus dem Hotel, merkte sich den Straßennamen und das Aussehen der umliegenden Gebäude, wobei ihm eine enorme Bierreklame beson ders auffiel, und machte sich zu einem Spaziergang auf. Überall war lebhafter Verkehr. Leute, die Einkäufe machten, Fußgänger mit Hunden an der Leine, Obst- und Zeitungsverkäufer füllten die Gehwege. Jonathan besah sich ein Schaufenster mit sehr schönen Strickwaren und Pullovern; vor dem Hintergrund aus weißen Schafspel zen hing ein eleganter blauseidener Hausmantel. Jona than versuchte, den Preis in Francs umzurechnen, und gab es auf, es interessierte ihn zu wenig. Er überquerte eine lebhafte breite Straße mit Autobussen und Straßen bahnen, stand dann vor einem Kanal mit schmaler Brü cke und beschloß, nicht hinüberzugehen. Ein Kaffee wä re nicht schlecht jetzt. Er kam an eine freundlich ausse hende Konditorei mit Kuchen im Schaufenster, einem Ladentisch und kleinen Kaffeetischchen im Innern; doch als er davorstand, brachte er es nicht fertig hineinzuge hen. Er wußte auch, woran es lag: er hatte Angst vor dem Bericht morgen früh. Plötzlich überkam ihn das alte Gefühl der Ausgehöhltheit, es war, als sei er dünn wie Seidenpapier, und die Stirn fühlte sich kühl an, als sei das Leben selbst im Begriff, daraus zu entweichen. Was Jonathan ebenfalls wußte oder doch argwöhnte, war, daß man ihm morgen früh einen falschen Bericht aushändigen werde. Rudolfs Anwesenheit bei der Unter suchung war ihm verdächtig. Medizinstudent –? Er war keine Hilfe gewesen, denn man hatte ihn gar nicht ge 85
braucht. Die Assistentin des Arztes hatte Englisch ge sprochen. Vielleicht fertigte Rudolf heute abend einen unechten Bericht an, der dann morgen früh irgendwie unterschoben wurde. Wer weiß, vielleicht hatte er sich sogar nachmittags heimlich Briefpapier aus der Klinik beschafft? – Oder er selber, sagte sich Jonathan mah nend, war nicht mehr recht bei Verstand. Er wandte sich um und ging zurück zum Hotel, wobei er den kürzesten Weg wählte. Er holte seinen Schlüssel an der Rezeption ab und ging hinauf in sein Zimmer. Dann zog er die Schuhe aus, ging ins Badezimmer, hielt ein Handtuch ins Wasser und legte sich hin, mit der Kompresse über Stirn und Augen. Er war nicht müde, nur seltsam war ihm zumute. Reeves Minot war komisch: einem völlig Fremden zwölfhundert Franc auszuzahlen, ihm diesen irrsinnigen Vorschlag zu machen und mehr als vierzigtausend Pfund zu versprechen. Es konnte nicht wahr sein. Reeves Minot würde das Geld niemals aus zahlen, er lebte in einer Phantasieweit. Er war vielleicht kein Gauner, aber irgendwas war mit ihm los, er war nicht ganz dicht, er war ein Typ, der sich an Träumen von Macht und Stärke berauschte. Das Klingeln des Telefons weckte Jonathan. Eine Männerstimme sagte auf englisch: »Unten wartet ein Herr auf Sie.« Jonathan blickte auf seine Uhr: es war eben nach sie ben. »Bitte sagen Sie ihm, ich bin in zwei Minuten un ten.« Er wusch sich das Gesicht, zog einen Rollkragenpullo ver und ein Jackett an. Auch den Mantel nahm er mit. Karl war mit dem Wagen da, allein. »Hatten Sie einen netten Nachmittag, Sir?« fragte er auf englisch. Bei der leichten Unterhaltung stellte Jonathan fest, daß Karls Wortschatz im Englischen gar nicht gering war. 86
Wie viele fremde Gäste er wohl schon für Reeves Minot herumgefahren hatte? Was mochte Karl von Reeves hal ten und von seinen Geschäften? Vielleicht war es ihm ganz gleichgültig. Was war eigentlich Reeves´ angebli cher Beruf? Karl hielt den Wagen auch diesmal in der ansteigen den Einfahrt an, und heute fuhr Jonathan allem mit dem Lift in den zweiten Stock. An der Tür begrüßte ihn Reeves Minot in grauer Fla nellhose und Pullover. »Kommen Sie, kommen Sie. Ha ben Sie sich etwas ausgeruht heute nachmittag?« Sie tranken einen Whisky. Der Tisch war für zwei ge deckt, es wurde also wohl kein weiterer Gast erwartet heute abend. »Ich möchte, daß Sie sich ein Bild von dem Mann an sehen, den wir im Auge haben.« Reeves hievte seine lange Gestalt vom Sofa hoch und trat an den Biedermei erschreibtisch, wo er etwas aus einer Schublade nahm: zwei Fotos von einem Mann, eins en face, das andere im Profil in einer Gruppe von mehreren Leuten, die sich über einen Tisch beugten. Ein Roulettetisch, das sah Jonathan. Er besah sich das von vorn aufgenommene Bild; es war klar und deut lich wie ein Paßfoto. Der Mann mußte etwa vierzig sein, er hatte das kantig-fleischige Gesicht vieler Italiener. Von den Nasenflügeln zogen sich Falten bis hinunter zu den dicken Lippen. In den dunklen Augen lag ein argwöhni scher, fast erschrockener Ausdruck, doch das halbe Lä cheln schien zu fragen: »Na, was könnt ihr mir schon an haben?« Er hieße Salvatore Bianca, sagte Reeves. »Das da –« Reeves wies auf das Gruppenbild, »wurde vor einer Woche in Hamburg aufgenommen. Er spielt gar nicht selber, er schaut nur zu. Das ist selten, daß er auf das Rad blickt, so wie hier . . . Er hat wahrscheinlich sel 87
ber ein halbes Dutzend Menschen umgelegt, sonst hätte er´s bei der Mafia nicht mal so weit gebracht, wie er heu te ist. Aber als Mafioso ist er unwichtig. Leicht zu erset zen. Man muß bloß irgendwo anfangen, nicht wahr . . .« Reeves redete weiter, während Jonathan seinen Whisky austrank und Reeves ihm das Glas von neuem füllte. »Er geht nie ohne Hut – draußen, meine ich. Einen Homburg. Und meistens einen Tweedmantel . . .« Reeves hatte einen Plattenspieler, und Jonathan hätte gern Musik gehört, aber er fand, es wäre unhöflich, dar um zu bitten, obwohl Reeves sicher zum Apparat ge stürzt wäre und genau das Gewünschte aufgelegt hätte. Endlich unterbrach ihn Jonathan. »Ein unauffälliger Mann, Hut in die Stirn und Kragen hochgeschlagen, und den soll man aus einer Menschenmenge herausfinden, wenn man nichts gesehen hat als diese beiden Fotos?« »Ein Freund von mir wird im selben Zug fahren; er steigt am Rathaus ein, wo Bianca auch einsteigt, und fährt bis Messberg mit, das ist die nächste Station. Dann kommt schon Steinstraße. Hier, sehen Sie!« Wieder folgte ein Redestrom, und dabei zeigte Reeves Jonathan eine Straßenkarte von Hamburg, die sich wie ein Akkordeon zusammenfalten ließ und die U-BahnStationen in blauen Kreisen zeigte. »Sie steigen am Rathaus mit Fritz in die Bahn. Fritz kommt heute abend her, nach dem Essen.« Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, wollte Jona than sagen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Reeves so lange in dem Glauben gelassen hatte, er wer de mitmachen. Oder war es gar nicht so? Nein, so war es nicht. Reeves hatte sich eben auf ein verrücktes Wagnis eingelassen; vermutlich war das so üblich bei ihm, und er, Jonathan, war nicht der erste, an den Reeves heran
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trat. Jonathan hätte ihn gern danach gefragt, aber Ree ves redete immer weiter. »Ich will Ihnen nichts vormachen: es ist durchaus mög lich, daß wir noch einen umlegen müssen . . .« Jonathan war froh, daß jetzt die Schattenseite zur Sprache kam. Reeves hatte alles reichlich rosig ausge malt, dem kinderleichten Schuß folgte gleich ein Haufen Geld, herrliches Leben in Frankreich oder sonstwo, eine Weltreise, von allem das Beste für Georges (auch nach dem Namen seines Sohnes hatte Reeves sich erkun digt), Sicherheit für Simone. Mein Gott, wie soll ich ihr bloß all das Geld erklären, dachte Jonathan. »Dies ist Aalsuppe«, verkündete Reeves und nahm seinen Löffel zur Hand. »Hamburger Spezialität, wissen Sie. Gaby ist darin Meisterin.« Die Suppe schmeckte sehr gut. Dazu gab es einen hervorragenden kühlen Mosel. »Hamburg hat einen berühmten zoologischen Garten, wissen Sie: Hagenbecks Tierpark in Stellingen. Hübsche Fahrt, vielleicht können wir morgen vormittag hinfahren. Das heißt –« eine Sorgenfalte erschien plötzlich auf Ree ves´ Gesicht – »wenn mir nichts dazwischenkommt. Ich rechne halbwegs mit einer Sache. Das erfahre ich aber heute abend oder morgen früh.« Es klang, als ob der Tierpark wer weiß wie wichtig sei. Jonathan sagte: »Morgen früh soll ich die Resultate von der Klinik bekommen. Ich soll um elf dort sein.« Verzweif lung ergriff ihn, als ob elf Uhr seine Todesstunde bedeu te. »Ach ja, natürlich. Na ja, zu Hagenbeck können wir auch noch nachmittags fahren. Die Tiere sind da in ihrer natürlichen – natürlichen Umgebung, wissen Sie . . .« Sauerbraten und Rotkohl.
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Es klingelte. Reeves blieb sitzen, und gleich darauf er schien Gaby und teilte mit, Herr Fritz sei gekommen. Fritz hatte eine Mütze in der Hand und trug einen et was schäbigen Mantel. Er war ungefähr fünfzig. »Dies ist Paul, Fritz«, sagte Reeves zu Fritz und wies auf Jonathan. »Ein Engländer. Dies ist Fritz.« »Guten Abend«, sagte Jonathan. Fritz machte eine grüßende Handbewegung zu Jona than hin. Ein ziemlich harter Kerl, dachte Jonathan, aber er sieht freundlich aus. »Setz dich, Fritz«, sagte Reeves. »Glas Wein oder Whisky?« Er sprach deutsch und fügte dann englisch hinzu: »Paul ist unser Mann.« Er reichte Fritz ein hohes Stielglas mit Weißwein. Fritz nickte. Jonathan mußte innerlich lachen. Das übergroße Weinglas sah aus wie das Requisit einer Wagneroper. Reeves saß jetzt seitwärts auf seinem Stuhl. »Fritz ist Taxifahrer«, sagte Reeves. »Hat Bianca schon oft abends nach Hause gefahren, was, Fritz?« Fritz murmelte etwas und lächelte dabei. »Nein, nicht oft – zweimal«, verbesserte sich Reeves. »Wir wollen keine –« er zögerte, als wisse er nicht, in welcher Sprache er fortfahren solle, und sprach dann englisch weiter zu Jonathan. »Bianca wird wahrscheinlich Fritz nicht wiedererkennen. Und wenn er ihn erkennt, macht es auch nichts, weil Fritz ja schon am Meßberg aussteigt. Worauf es ankommt, ist, daß Sie sich morgen abend mit Fritz draußen vor der Station Rathaus treffen. Dann wird Ihnen Fritz den – unseren Bianca zeigen.« Fritz nickte, er schien jedes Wort verstanden zu ha ben. Morgen also. Jonathan hörte schweigend zu.
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»Sie beide steigen also an der Haltestelle Rathaus ein, und zwar ungefähr um Viertel nach sechs. Seien Sie lie ber schon etwas vor sechs da, Bianca könnte ja aus ir gendeinem Grund mal früher kommen, obgleich er ziem lich regelmäßig um sechs Uhr fünfzehn einsteigt. Karl fährt Sie hin, Paul, da ist also weiter keine Schwierigkeit. Sie und Fritz kommen sich beide nicht nahe, aber es kann sein, daß Fritz in den Zug einsteigen muß, in den selben wie Bianca, damit er ihn Ihnen ganz eindeutig zeigen kann. Jedenfalls steigt Fritz an der nächsten Hal testelle, Meßberg, wieder aus.« Dann sagte Reeves ein paar deutsche Worte zu Fritz und streckte die Hand aus. Aus seiner Innentasche zog Fritz eine kleine schwarze Pistole hervor und gab sie Reeves. Reeves warf einen Blick zur Tür, als sei er in Sorge, daß Gaby hereinkom men könne, doch groß schien die Sorge nicht zu sein, und die Waffe war kaum größer als seine Handfläche. Er hantierte einen Augenblick damit, öffnete sie und besah sich die Zylinder. »Geladen – hat aber ´ne Sicherung. Verstehen Sie was von Schußwaffen, Paul?« Jonathan hatte nur eine blasse Ahnung. Unter Mithilfe von Fritz erklärte ihm Reeves die Waffe. Das wichtigste war die Sicherung. Und so drückte man ab. Dies war die italienische Waffe, die Reeves erwähnt hatte. Fritz mußte gehen. Er verabschiedete sich, nickte Jo nathan zu und sagte: »Bis morgen also. Um sechs!« Reeves brachte ihn an die Tür. Er kam mit einem bräunlichen Tweedmantel – nicht neu – zurück und sag te: »Hier der ist sehr weit. Probieren Sie ihn mal an.« Jonathan hatte wenig Lust, doch er stand auf und zog den Mantel an. Die Ärmel waren reichlich lang. Er steckte die Hände in die Taschen und stellte fest, was ihm Ree 91
ves jetzt auch mitteilte: daß die rechte Manteltasche durchgeschnitten war. Er sollte die Pistole in der Jacken tasche tragen und durch die Manteltasche danach lan gen, möglichst nur einmal feuern und die Waffe fallen lassen. »Sie sehen die Menschen vor sich«, sagte Reeves be lehrend. »Paar hundert Leute. Sie treten dann zurück, genau wie alle anderen, weil die Explosion Sie erschreckt hat.« Reeves machte es vor, der Körper lehnte sich zu rück, und er machte ein paar Schritte rückwärts. Zum Kaffee tranken sie Steinhäger. Reeves fragte nach Jonathans Zuhause, nach Simone und Georges. Sprach Georges auch Englisch oder nur Französisch? »Er lernt jetzt Englisch«, gab Jonathan zur Antwort. »Ich bin da im Nachteil, weil ich nicht so viel mit ihm zu sammen bin.«
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Am nächsten Morgen kurz nach neun rief Reeves Jona than im Hotel an und sagte, Karl werde ihn um zwanzig vor elf mit dem Wagen abholen und ins Krankenhaus fahren. Auch Rudolf werde mitkommen. Das hatte sich Jonathan schon gedacht. »Viel Glück also«, sagte Reeves. »Wir sehen uns spä ter.« Jonathan war unten in der Halle und las in der Times, als Rudolf ein paar Minuten vor der verabredeten Zeit hereinkam. Er lächelte – ein scheues, mausartiges Lä cheln – und sah Kafka noch ähnlicher als zuvor. »Morgen, Herr Trevanny«, sagte er. Jonathan und Rudolf nahmen hinten im Wagen Platz. »Viel Glück mit dem Bericht«, sagte Rudolf liebens würdig. »Ich möchte auch mit dem Arzt sprechen«, gab Jona than ebenso liebenswürdig zurück. Er war überzeugt, daß Rudolf ihn verstanden hatte, obgleich er etwas ver wirrt sagte: »Wir werden versuchen –« Jonathan betrat das Krankenhaus mit Rudolf zusam men. Rudolf hatte vorher gesagt, er könne den Bericht ja abholen und dabei feststellen, ob der Arzt frei war. Karl hatte bereitwillig übersetzt, so daß Jonathan alles verstand. Karl kam ihm dabei neutral vor und war es wohl auch. Aber die ganze Atmosphäre schien seltsam, als ob jeder nur schauspielerte, und zwar schlecht, auch er sel ber. Rudolf sprach mit einer Schwester am Empfangs tisch in der Haupthalle und fragte nach dem Bericht für Herrn Trevanny. Die Schwester suchte in einem Kasten, der verschlossene Umschläge in verschiedenen Größen
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enthielt, und zog einen geschäftsmäßig aussehenden Umschlag hervor, der Jonathans Namen trug. »Wie ist es mit Dr. Wentzel – kann ich ihn sprechen?« fragte Jonathan die Schwester. »Dr. Wentzel?« Sie schlug einen Ordner mit Klarsicht register auf, drückte auf eine Taste und hob den Hörer ab. Eine Minute lang sprach sie deutsch in die Sprech muschel, dann legte sie auf und sagte auf englisch zu Jonathan: »Dr. Wentzel ist heute den ganzen Tag be setzt, sagt die Assistentin. Möchten Sie einen Termin abmachen für morgen früh um zehn Uhr dreißig?« »Ja, das möchte ich«, sagte Jonathan. »Gut, das notiere ich dann. Aber die Assistentin sagt, in dem Bericht werden Sie vieles an – vieles an Informa tion schon finden.« Sie gingen zum Wagen zurück. Rudolf war enttäuscht, dachte Jonathan, oder kam es ihm nur so vor? Nun, je denfalls hatte Jonathan den dicken Umschlag jetzt in Händen. Den echten Bericht. Im Wagen sagte Jonathan »Entschuldigung« zu Ru dolf und öffnete den Umschlag. Er enthielt drei maschi nengeschriebene Seiten, und Jonathan sah schon auf den ersten Blick, daß viele der Worte mit den französi schen und englischen Termini übereinstimmten, die er so gut kannte. Nur auf der letzten Seite standen zwei lange Absätze auf Deutsch. Das lange Wort für die weißen Blutkörperchen war auch hier dasselbe. Er erschrak ein wenig, als er 210000 Leukozyten las, das war höher als in dem letzten französischen Bericht, höher als es jemals gewesen war. Mit der letzten Seite gab er sich nicht ab. Als er die Bogen zusammenfaltete, sagte Rudolf ein paar Worte, sehr höflich, und streckte die Hand aus, und Jo nathan reichte ihm den Bericht – ungern, aber was blieb
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ihm anderes übrig? Und so wichtig war es auch wieder nicht. Rudolf sagte zu Karl, er solle fahren. Jonathan blickte aus dem Fenster. Er hatte keine Lust, Rudolf um irgend eine Erklärung zu dem Bericht zu bitten; lieber wollte er sich ein Wörterbuch vornehmen oder Reeves fragen. In seinen Ohren begann es zu sausen, er lehnte sich zu rück und versuchte, tief zu atmen. Rudolf warf ihm einen Blick zu und ließ sofort ein Fenster herunter. »Meine Herren«, sagte Karl jetzt über die Schulter, »Herr Minot erwartet Sie beide zum Lunch. Später dann vielleicht zu Hagenbeck.« Rudolf lachte und antwortete auf deutsch. Jonathan hätte gern gesagt, man möge ihn ins Hotel zurückbringen. Aber was sollte er da? Sich den Kopf ü ber den Bericht zerbrechen, von dem er nicht alles verstand? Rudolf wollte aussteigen; Karl setzte ihn an einem Kanal ab, und Rudolf streckte die Hand aus und schüttelte Jonathans Rechte mit kräftigem Druck. Dann fuhr Karl weiter zu Reeves Minot. In der Alster spiegelte sich die Sonne, kleine verankerte Kanus schaukelten auf dem Wasser, und mehrere Boote segelten glatt und weiß wie neue Kinderschiffchen über die weite Wasserfläche. Gaby machte Jonathan die Tür auf. Reeves sprach gerade am Telefon, war aber bald fertig. »Tag, Jonathan! Was gibt´s Neues?« »Ach, nicht viel Gutes«, sagte Jonathan blinzelnd; das Sonnenlicht in dem weißen Raum blendete ihn. »Und der Bericht – wie ist es damit? Kann ich ihn se hen? Verstehen Sie denn alles?« »Nein – alles nicht.« Jonathan reichte ihm den Um schlag. »Haben Sie auch den Arzt gesprochen?« »Nein, er hatte keine Zeit.« 95
»Nun setzen Sie sich erst mal hin, Jonathan. Ein Drink wird Ihnen guttun.« Reeves trat an das Regal, auf dem die Flaschen standen. Jonathan setzte sich aufs Sofa und lehnte den Kopf zurück. Ihm war leer zumute, leer und mutlos, aber jedenfalls im Augenblick nicht zum Umfallen. »Ist der Bericht schlechter als der, den Sie in Frank reich bekommen hatten?« fragte Reeves, als er mit Whisky und Soda zurückkam. »Ja, das kann man sagen«, erwiderte Jonathan. Reeves besah sich die letzte Seite. »Sie sollen sich vor kleinen Verletzungen in acht nehmen. Ganz interes sant.« Und nicht gerade neu, dachte Jonathan. Er blutete leicht. Er wartete auf Reeves´ Kommentar; er hatte an genommen, Reeves werde die Seite übersetzen. »Hat Ihnen Rudolf dies nicht übersetzt?« »Nein. Aber ich hab ihn auch nicht darum gebeten.« ». . . ob sich der Zustand verschlimmert hat, kann ich nicht sagen, da mir der letzte Bericht . . . Diagnose – – – in Anbetracht der langen Zeit keineswegs ungefährlich – und so weiter. Ich kann es Ihnen auch wörtlich überset zen, wenn Sie wollen«, erbot sich Reeves. »Bei einem oder zwei Ausdrücken werd ich ein Wörterbuch brau chen, für diese zusammengesetzten Dinger, aber die Hauptsache ist mir klar.« »Dann sagen Sie mir nur die Hauptsache.« »Die hätten das ja nun wirklich auch auf englisch für Sie ausfertigen können«, meinte Reeves unzufrieden und vertiefte sich von neuem in die Seite. ». . . beträchtliche Granulation der Zellen sowie der weißen Bestandteile. Da Sie schon Röntgenbestrahlung gehabt haben, wird eine Wiederholung im Augenblick nicht empfohlen, weil die kranken Zellen resistent werden können . . .« 96
Reeves las noch eine Weile weiter. Eine zeitliche Vor aussage enthielt der Bericht nicht. Keine Andeutung von Schlußlicht, nirgends. »Sie haben ja nun Dr. Wentzel heute nicht gesprochen – soll ich versuchen, für morgen früh einen Termin für Sie zu bekommen?« Reeves klang ehrlich besorgt. »Vielen Dank, aber ich habe schon einen Termin ab gemacht. Um halb elf soll ich dort sein.« »Sehr schön. Und da die Schwester dort Englisch spricht, brauchen Sie also auch Rudolf nicht. Warum le gen Sie sich nicht einen Augenblick hin?« Reeves zog ein Kissen in die Sofaecke. Jonathan lehnte sich zurück, einen Fuß auf dem Bo den, der andere baumelte über dem Sofarand. Er fühlte sich schwach und müde, so als ob er stundenlang schla fen könnte. Reeves schlenderte auf das sonnige Fenster zu und plauderte vom Tiergarten. Er sprach von einem seltenen Tier – Jonathan hörte den Namen und vergaß ihn sofort wieder –, das kürzlich aus Südamerika ge schickt worden war. Zwei waren es. Die wollten sie anse hen, sagte Reeves. Jonathans Gedanken waren bei Georges, der seinen kleinen Wagen voller Steine hinter sich her zog. Cailloux. Jonathan wußte, er würde Georges nicht mehr viel älter werden sehen, jedenfalls niemals richtig groß, mit Stimmbruch. Er setzte sich plötz lich auf, biß die Zähne zusammen und versuchte gewalt sam, seine Kraft zurückzugewinnen. Gaby trat ein mit einem großen Tablett. »Gaby hat einen kalten Lunch vorbereitet, damit wir essen können, wann Sie Lust haben«, erklärte Reeves. Lachs mit Mayonnaise. Viel konnte Jonathan nicht es sen, doch das braune Brot, Butter und Wein schmeckten ihm gut. Reeves redete von Salvatore Bianca, von der Verbindung der Mafiosi zur Prostitution, daß sie häufig 97
Prostituierte in ihren Spielsälen anstellten und den Mäd chen neunzig Prozent ihrer Einnahmen wegnahmen. »Erpressung!« sagte Reeves. »Geld ist ihr einziges Ziel, und das Mittel dazu ist Terror. Sehen Sie sich Las Vegas an! Aber die Hamburger Boys zum Beispiel, die wollen keine Prostituierten.« Aus Reeves´ Stimme klang morali sche Entrüstung. »Sie haben auch ein paar Mädchen da, zugegeben. An der Bar zum Beispiel. Vielleicht sind sie auch zu haben, schon möglich, aber bestimmt nicht dort im Hause.« Jonathan hörte kaum zu, seine Gedanken waren weit weg. Er stocherte auf dem Teller herum; das Blut stieg ihm in die Wangen, lautlos focht er einen Kampf mit sich selber aus. Er wollte es versuchen mit dem Schießen. Und zwar nicht, weil er glaubte, er müsse doch bald sterben, in ein paar Tagen oder Wochen – nein, einfach weil er das Geld brauchte, weil er es für Simone und Georges haben wollte. Vierzigtausend Pfund oder sechsundneunzigtausend Dollar, oder vielleicht auch nur die Hälfte, wenn das zweite Mal nicht notwendig war oder wenn sie ihn schon beim erstenmal schnapp ten. »Aber Sie werden es doch tun, nicht wahr?« fragte Reeves und wischte sich die Lippen mit der frischgestärk ten weißen Serviette. »Wenn mir etwas zustößt«, sagte Jonathan, »können Sie dann dafür sorgen, daß meine Frau das Geld be kommt?« »Ja, aber –« Reeves´ Narbe zuckte, als er jetzt lächel te. »Was sollte Ihnen zustoßen? Ja, gewiß, ich werde dafür sorgen, daß Ihre Frau das Geld bekommt.« »Wenn aber doch was passiert – wenn es nur einmal dazu kommt – zum Schießen, meine ich –« Reeves preßte die Lippen zusammen, als beantworte er die Frage nur ungern. »Dann wird nur die Hälfte ge 98
zahlt. Aber ganz offen gesagt, es werden sicher zwei. Und nach dem zweiten wird der Gesamtbetrag bezahlt. – Nun, das ist wirklich sehr schön.« Er lächelte – zum ers tenmal sah Jonathan ein echtes Lächeln auf seinem Ge sicht. »Sie werden sehen, wie einfach es ist, heute a bend. Und nachher feiern wir dann, wenn Sie Lust ha ben.« Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen, was Jonathan für ein Zeichen der Begeisterung nahm, aber es war das Signal für Gaby, die gleich darauf he reinkam und die Teller abräumte. Zwanzigtausend Pfund, dachte Jonathan. Keine phan tastische Summe, aber immerhin besser als ein toter Mann und dazu die Bestattungskosten. Kaffee. Dann die Fahrt zum Zoo. Die Tiere, die Ree ves ihm hatte zeigen wollen, waren zwei kleine bärenar tige Viecher, braungelb wie Rahmbonbons. Eine kleine Menschenmenge stand davor, Jonathan gelang es nicht, sie richtig zu sehen. Aber er war auch nicht sehr interes siert. Er sah statt dessen mehrere Löwen in scheinbarer Freiheit herumgehen. Reeves war besorgt um Jonathan, er durfte nicht müde werden. Es war jetzt fast vier Uhr. Als sie wieder in Reeves´ Wohnung waren, bestand Reeves darauf, daß Jonathan eine kleine weiße Tablette einnahm, »ein mildes Beruhigungsmittel«, wie er sagte. »Ich brauche doch gar keins«, protestierte Jonathan. Er war völlig ruhig und fühlte sich ganz wohl. Jonathan schluckte also die Pille. Reeves bat ihn, sich ein paar Minuten im Gästezimmer hinzulegen. Er schlief nicht ein, und um fünf kam Reeves herein und sagte, es sei bald Zeit für Karl, ihn ins Hotel zu fahren. Der Mantel war im Hotel. Reeves brachte ihm noch eine Tasse Tee mit Zucker, sie schmeckte gut und ganz normal, es war also wohl nichts darin als Tee. Dann gab ihm Reeves die
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Pistole und erklärte ihm noch einmal die Sicherung. Jo nathan steckte sie in die Hosentasche. »Dann also bis heute abend!« sagte Reeves heiter. Karl fuhr Jonathan ins Hotel; er werde im Wagen war ten, sagte er. Jonathan fuhr hinauf in sein Zimmer; fünf oder zehn Minuten hatte er wohl noch. Er putzte sich die Zähne (mit Seife, die Zahnpasta hatte er für Simone und Georges zu Hause gelassen, und neue hatte er noch nicht gekauft) und blieb einen Augenblick am Fenster stehen, ohne etwas zu sehen oder auch nur an irgendwas zu denken, dann trat er an den Kleiderschrank und nahm den Mantel heraus, der ihm etwas zu groß war. Er war getragen, aber nicht viel. Wem er wohl gehört hat te . . . Eigentlich war das ganz richtig so; er konnte nun so tun, als stehe er auf der Bühne, in den Kleidern eines anderen, und die Pistole war auch nur eine Attrappe in irgendeinem Bühnenstück. Aber tief innerlich war ihm alles sehr klar: er wußte genau, was er vorhatte. Er fühlte kein Mitleid für den Mafioso, den er – hoffentlich – töten würde, und auch für sich selber nicht. Tod war Tod. Bi ancas Leben und seins waren nichts mehr wert, aus ganz verschiedenen Gründen. Interessant war nur die Tatsache, daß Jonathan Geld dafür bekam, wenn er Bi anca umbrachte. Er nahm die Waffe und den Nylon strumpf und steckte beides in die Rocktasche. Er konnte den Strumpf, wie er feststellte, mit den Fingern einer Hand über dieselbe Hand ziehen. Unruhig wischte er mit den bestrumpften Fingern echte und eingebildete Finge rabdrücke von der Waffe ab: Wenn er den Schuß abfeu erte, mußte er den Mantel etwas zur Seite halten, sonst schoß er ein Loch in den Stoff. Einen Hut hatte er nicht. Komisch – daran hatte Reeves nicht gedacht. Jetzt war es zu spät.
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Jonathan verließ sein Zimmer und zog die Tür fest hin ter sich ins Schloß. Unten stand Karl neben dem Wagen, und als Jona than herantrat, hielt er ihm die Tür offen. Wieviel wohl Karl wußte? Womöglich alles? Jonathan beugte sich vor, um Karl zu sagen, er sollte zur U-Bahn-Station Rathaus fahren, als Karl über die Schulter sagte: »Sie treffen sich mit Fritz an der U-Bahn Rathaus – das stimmt doch, nicht wahr?« »Ja«, gab Jonathan erleichtert zurück. Er lehnte sich in die Ecke zurück und fingerte an der Pistole. Die Siche rung ließ sich vor- und rückwärts schieben! Vorwärts, das hieß aus. »Herr Minot meinte, hier wäre es am besten, Sir. Da drüben ist der Eingang.« Karl öffnete die Tür, stieg aber nicht aus wegen des dichten Verkehrs an Fußgängern und Wagen. »Ich soll Sie um halb acht im Hotel abho len.« »Ja, danke.« Einen Augenblick kam sich Jonathan verloren vor, als die Wagentür hinter ihm zufiel. Er sah sich nach Fritz um. An der breiten Straßenkreuzung mündete die Große Johannisstraße hier in die Rathaus straße. Es war wie in London, Piccadilly Circus; auch hier schien die U-Bahn mindestens vier Eingänge zu haben wegen der vielen Kreuzungen. Jonathan suchte mit den Augen nach der untersetzten Gestalt mit der Mütze in der Hand. Eine Gruppe von Männern, die aussahen wie Fußballer, hastete die Stufen hinunter, und jetzt wurde Fritz sichtbar, der ruhig am Metallgeländer der Treppe stand. Jonathans Herz tat einen Sprung, als habe er bei einem heimlichen Rendezvous endlich sein Mädchen erspäht. Fritz machte eine Handbewegung zur Treppe und stieg selber hinab.
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Jonathan bemühte sich, die Mütze im Auge zu behal ten, obgleich jetzt mehr als fünfzehn Leute zwischen ih nen waren. Fritz trat etwas zur Seite. Offenbar war Bian ca noch nicht erschienen, und sie mußten auf ihn warten. Ringsum war deutsches Stimmengewirr und Gelächter, eine laute Stimme rief: »Wiedersehen, Max!« Fritz stand etwa vier Meter entfernt an einer Wand, und Jonathan ließ sich langsam in die gleiche Richtung treiben, hielt sich jedoch in sicherer Entfernung, und be vor er die Wand erreichte, sah er, wie Fritz nickte und diagonal von der Wand auf einen Schalter zuging. Jona than kaufte eine Fahrkarte. Fritz schob sich in der Menge vorwärts. Die Fahrkarten wurden gelocht. Fritz, das stand fest, hatte jetzt Bianca erblickt, aber Jonathan sah ihn noch nicht. Auf dem Bahnsteig stand ein Zug. Als Fritz auf ein be stimmtes Abteil zueilte, folgte ihm Jonathan. Das Abteil war mäßig voll; Fritz blieb stehen und hielt sich an einer verchromten Stange fest. Er zog eine Zeitung aus der Tasche und nickte jetzt nach vorn, sah aber Jonathan nicht an. Da stand der Italiener, näher bei Jonathan als bei Fritz: ein dunkler Mann mit eckigem Gesicht; er trug ei nen eleganten grauen Mantel mit braunen Lederknöpfen und einen grauen Hut und starrte verdrossen und gedan kenverloren vor sich hin. Jonathan blickte zu Fritz hin über, der so tat, als lese er die Zeitung; als er den Blick auffing, nickte er leicht und lächelte bestätigend. An der nächsten Haltestelle, Meßberg, stieg Fritz aus. Jonathan blickte wieder zu dem Italiener hinüber, ganz kurz, obwohl sich Bianca mit seinem starren Blick ins Leere gar nicht ablenken ließ. Wenn er nun an der nächsten Haltestelle gar nicht ausstieg, sondern immer
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weiterfuhr bis zu irgendeinem Bahnhof, wo kaum jemand den Zug verließ? Doch als der Zug die Fahrt verlangsamte, schob sich Bianca zur Tür. Steinstraße – Jonathan hatte Mühe, hin ter ihm zu bleiben, ohne jemanden anzustoßen. Jetzt kam eine breite Treppe. Die Menge, etwa achtzig bis hundert Menschen, schob sich vor der Treppe dichter zusammen und begann dann, die Stufen hinaufzustei gen. Der graue Mantel des Italieners war zum Greifen nahe vor Jonathan, noch ein paar Meter von der Treppe entfernt. Jonathan sah einzelne graue Haare unter den schwarzen an seinem Hinterkopf. Am Hals hatte er eine kleine gezackte Vertiefung wie von einer Furunkelnarbe. Jonathan hatte die Pistole aus der Jackettasche ge nommen und hielt sie in der rechten Hand. Er schob die Sicherung hoch, hielt den Mantel zur Seite, zielte auf den grauen Mantel und drückte ab. Es klang wie ein heiseres »Ka-booumm«. Jonathan blieb stehen, ließ die Pistole fallen und wich ein wenig nach links zurück. Ein erschrecktes »Oo-h-h-« kam aus der Menschenmenge. Er war einer der wenigen, die keinen Laut von sich gaben. Bianca war zusammengesackt und lag auf dem Bo den, eine kleine ungewisse Leere um sich. »Pistole . . .« – ». . . erschossen . . .« hörte man aus der Menge. Die Pistole lag auf dem Steinboden; jemand wollte sie aufhe ben und wurde von drei anderen daran gehindert, sie zu berühren. Viele der Vorübergehenden schritten uninte ressiert oder in Eile vorüber und stiegen die Treppe hin auf. Jonathan trat ein wenig nach links und ging an der Gruppe um Bianca vorbei bis zur Treppe. Jemand rief nach der Polizei. Jonathan beschleunigte seinen Schritt, ging aber nicht schneller als die anderen Leute, die jetzt nach oben zum Ausgang stiegen. 103
Dann war er oben angelangt und ging weiter, einfach geradeaus, ohne Ziel. Er ging mäßig schnell, als wisse er, wohin er gehe, aber er hatte keine Ahnung. Rechts sah er einen mächtigen Bahnhof liegen; den hatte Ree ves erwähnt, das wußte er. Er hörte keine Schritte hinter sich, niemand schien ihm zu folgen. Er löste die Finger der rechten Hand von dem Strumpf, aber er wollte ihn nicht so nahe der U-Bahn wegwerfen. »Taxi!« Das Taxi, das da vorüberfuhr, war frei, vermut lich auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Der Wagen hielt, und Jonathan stieg ein und nannte den Straßennamen seines Hotels. Erleichert ließ er sich zurückfallen, hatte jedoch keine Ruhe: immer wieder blickte er links und rechts aus dem Fenster, als erwarte er, einen gestikulie renden Schutzmann zu sehen, der auf den Wagen zeigte und den Fahrer anhalten wollte. Unsinn. Er war vollkom men sicher. Aber als er das Victoria-Hotel betrat, überkam ihn das gleiche Gefühl – als habe die Polizei irgendwie seine Ad resse ausfindig gemacht und warte nun unten in der Hal le auf ihn. Natürlich war niemand da, er ging gelassen in sein Zimmer und schloß die Tür. In der Tasche suchte er nach dem Strumpf. Er war weg, irgendwo mußte er ihn verloren haben. Es war zwanzig Minuten nach sieben. Jonathan zog den Mantel aus, ließ ihn auf einen Sessel fallen und griff nach den Zigaretten, die er vergessen hatte mitzuneh men. Tief atmete er den tröstenden Rauch der Gitane ein. Dann ging er ins Badezimmer, legte die Zigarette auf den Wannenrand und wusch sich Gesicht und Hände. Darauf zog er sich bis zum Gürtel aus und wusch sich noch einmal mit heißem Wasser und Seifenlappen. Als er den Pullover anzog, klingelte das Telefon. »Herr Karl wartet hier unten«, meldete die Rezeption. 104
Jonathan ging hinunter, den Mantel über dem Arm. Er wollte ihn Reeves zurückgeben; tragen wollte er ihn nicht mehr. »Guten Abend, Sir.« Karl strahlte, als habe er gehört, was passiert war und fände es gut. Im Wagen zündete sich Jonathan noch eine Zigarette an. Heute war Mittwoch – er hatte zu Simone gesagt, er sei vielleicht schon heute abend zurück, aber seinen Brief bekam sie sicher erst morgen. Ihm fiel ein, daß er noch zwei Bücher aus der Volksbibliothek nahe der Kir che von Fontainebleau zu Hause hatte, die eigentlich am Sonnabend zurückgegeben werden mußten. Wieder stand er in Reeves´ gemütlicher Wohnung. Er reichte Reeves, nicht Gaby, den Mantel. Ihm war seltsam zumute. »Wie geht´s, Jonathan?« fragte Reeves unruhig, und als Gaby hinausgegangen war, erkundigte er sich ge spannt: »Wie war´s?« Sie standen im Wohnzimmer. »Alles in Ordnung, glaube ich«, gab Jonathan zurück. Reeves lächelte – das kleine Lächeln, brachte sein Gesicht zum Strahlen. »Sehr gut. Großartig. Ich habe noch gar nichts gehört, wissen Sie. Darf ich Ihnen ein Glas Sekt anbieten? Oder lieber einen Whisky?« »Ja, lieber Whisky.« Reeves stand über die Flaschen gebeugt und fragte leise: »Wie oft – wieviel Schuß, Jonathan?« »Einer.« Und wenn er nun gar nicht tot war, fiel es Jo nathan plötzlich ein. Das war doch immerhin möglich? Er nahm den Whisky, den Reeves ihm reichte. Reeves hielt ein Stielglas mit Sekt in der Hand, das er jetzt erhob. Er nahm einen tiefen Schluck und fragte: »Keine Schwierigkeiten? Mit Fritz klappte auch alles?« Jonathan nickte und warf einen Blick auf die Tür, durch die Gaby eintreten mußte, wenn sie zurückkam. 105
»Hoffentlich ist er tot. Mir fiel gerade ein – vielleicht ist er gar nicht tot.« »Ach, dies genügt, selbst wenn er nicht tot ist. Haben Sie ihn fallen sehen?« »O ja«, sagte Jonathan mit tiefem Seufzer. Er merkte erst jetzt, daß er minutenlang kaum zu atmen gewagt hatte. »Vielleicht wissen sie es jetzt schon in Mailand«, mein te Reeves gutgelaunt. »Italienisches Geschoß – sie be nutzen bei der Mafia zwar nicht immer italienische Waf fen, aber es paßte doch ganz hübsch, finde ich. Er gehörte zur Familie Di Stefano. Es gibt hier noch die Familie Genotti, von der sind jetzt auch ein paar Leute in Hamburg, und wir hoffen, daß die beiden Familien jetzt anfangen, sich gegenseitig umzubringen.« Das hatte Reeves schon mal gesagt. Jonathan setzte sich auf das Sofa, während Reeves hochbeglückt im Zimmer auf und ab ging. »Wenn es Ihnen recht ist, bleiben wir heute abend hier und tun gar nichts weiter«, sagte Reeves. »Wenn jemand anruft, sagt Gaby einfach, ich bin nicht zu Hause.« »Gaby und Karl – wieviel wissen die?« »Gaby weiß gar nichts, und Karl – bei dem macht es nichts, wenn er was weiß. Er ist nicht interessiert, wissen Sie. Er arbeitet noch für andere Leute und wird gut be zahlt. Es liegt in seinem Interesse, nichts zu wissen, ver stehen Sie.« Ja, das verstand Jonathan, aber es trug nicht zu sei ner Beruhigung bei. »Ja, übrigens – ich möchte morgen nach Hause fahren.« Das bedeutete zweierlei: erstens sollte Reeves ihm heute abend das Geld geben oder das Nötige zur Zahlung veranlassen, und zweitens müßte ein eventueller zweiter Auftrag noch heute abend bespro chen werden. Jonathan hatte die Absicht, jeden weiteren 106
Auftrag abzulehnen, egal wie die Sache finanziell aus sah; aber die Hälfte der vierzigtausend Pfund stand ihm für das, was er getan hatte, doch wohl zu. »Wenn Sie wollen – warum nicht«, meinte Reeves. »Aber Sie haben ja noch den Termin beim Arzt morgen früh.« Jonathan hatte jedoch nicht vor, noch einmal zu Dr. Wentzel zu gehen. Unschlüssig fuhr er sich mit der Zun ge über die Lippen. Der Befund war schlecht und sein Zustand noch schlechter. Und es kam noch etwas hinzu: Dr. Wentzel mit dem großen Schnauzbart verkörperte ein Amt, eine Behörde, und Jonathan hatte das undeutliche Gefühl, es könne gefährlich sein, wenn er dem Arzt noch einmal gegenübertrat. Er wußte, das war nicht logisch gedacht, aber das Gefühl wurde er nicht los. »Ich weiß eigentlich nicht, warum ich noch mal hingehen soll – ich bleibe ja nicht in Hamburg. Ich werde den Termin morgen früh absagen. Die Rechnung kann er mir nach Fontaine bleau schicken, er hat meine Adresse.« »Französisches Geld können Sie ihm nicht schicken.« Reeves lächelte. »Wegen der Rechnung machen Sie sich nur keine Gedanken. Schicken Sie sie mir, wenn Sie sie haben.« Darauf ging Jonathan nicht weiter ein, aber er wußte: Reeves´ Unterschrift auf einem Scheck an den Arzt, das wollte er unter keinen Umständen. Zur Sache jetzt, mahnte er sich, und mit der Sache meinte er das Geld, das er von Reeves zu bekommen hatte. Zur Sache also. Statt dessen lehnte er sich zurück und fragte interessiert: »Was tun Sie hier – ich meine, was arbeiten Sie?« »Oh, arbeiten –« Reeves zögerte einen Moment, aber die Frage schien ihn durchaus nicht in Verlegenheit zu bringen. »Verschiedenes. Ich arbeite zum Beispiel für ein paar Kunsthändler in New York. Die Bücher da drüben – 107
« Er zeigte auf das unterste Regal in einem Bücherbord. »Das sind alles Kunstbücher, hauptsächlich deutsche Kunst, mit Namen und Adressen der Leute, denen die Sachen gehören. In New York sind deutsche Maler sehr gefragt. Dann sehe ich mich hier unter den jungen Ma lern um und empfehle sie an Kunstgalerien und Käufer in Amerika. Sie würden sich wundern, wieviel zum Beispiel nach Texas geht.« Erstaunt hörte ihm Jonathan zu. Wenn das alles stimmte, mußte Reeves Minot in der Lage sein, Gemälde mit der kalten Objektivität eines Geigerzählers zu schät zen. Ob er tatsächlich ein guter Kenner war? Über dem Kamin hing ein Bild, eine Szene in rötlichen Tönen; sie zeigte ein Bett, in dem ein alter Mensch – Mann oder Frau? – offenbar im Sterben lag, und Jonathan hatte er kannt, daß das tatsächlich ein Derwatt war. Ein sehr wertvolles Stück, und offensichtlich Reeves´ Eigentum. »Neuerwerbung«, sagte Reeves, der Jonathans Bli cken gefolgt war. »Ein Geschenk – von einem Freund, als Dank sozusagen.« Er sah aus, als habe er noch mehr sagen wollen und sich dann eines Besseren besonnen. Beim Dinner wollte Jonathan wieder die Geldsache zur Sprache bringen, und wieder brachte er es nicht fertig. Reeves fing an, von anderen Dingen zu reden: Schlitt schuhlaufen auf der Alster im Winter und Eissegeln mit Booten, die schnell waren wie der Wind und manchmal aufeinanderprallten. Erst eine Stunde später, als sie beim Kaffee auf dem Sofa saßen, sagte Reeves: »Heute abend kann ich Ihnen nicht mehr als fünftau send Franc geben, das ist natürlich lächerlich. Taschen geld, mehr nicht.« Er ging zum Schreibtisch und zog eine Schublade hervor. »Aber es ist wenigstens in Francs.« Er kam mit den Scheinen in der Hand zurück. »In Mark könnte ich Ihnen noch mal dasselbe geben.« 108
Jonathan wollte keine Mark. Die mußte er in Frank reich umwechseln, und das wollte er nicht. Das französi sche Geld war in Päckchen von je zehn Hundert-FrancNoten gebündelt, wie die Banken in Frankreich sie immer ausgaben. Reeves legte die fünf Häufchen auf den nied rigen Tisch, aber Jonathan vermied es, sie zu berühren. »Mehr habe ich jetzt nicht, bis alle bezahlt haben. Es sind vier oder fünf Leute«, erklärte Reeves. »Aber daß ich es kriege, in Mark, daran besteht kein Zweifel.« Jonathan war in einem Handel dieser Art selber alles andere als geschickt; trotzdem hatte er das unsichere Gefühl, daß Reeves hier auf schwachem Boden stand, wenn er andere Leute um Geld ersuchte, nachdem die Tat vollbracht war. Seine Freunde hätten doch wohl vor her das Geld hinterlegen müssen, vielleicht treuhände risch oder so, oder zumindest einen größeren Betrag. »Nein, danke, in Mark möchte ich es nicht«, sagte er. »Ja, natürlich, das verstehe ich. Noch eins: Sie müß ten Ihr Geld auf ein geheimes Schweizer Konto einzah len, meinen Sie nicht? Sie wollen doch nicht, daß es auf Ihrem Konto in Frankreich erscheint. Und im Strumpf aufbewahren, wie es viele Franzosen tun, wollen Sie es doch auch nicht, oder?« »Kaum. – Bis wann können Sie die Hälfte beschaf fen?« fragte Jonathan, als sei er völlig sicher, daß das Geld kommen werde. »In acht Tagen. Vergessen Sie nicht: es kann sein, daß noch eine zweite Sache zu erledigen ist – damit die erste überhaupt wirkt. Das müssen wir sehen.« Jonathan fühlte eine gewisse Gereiztheit in sich auf steigen und versuchte, sie zu verbergen. »Und wann wissen Sie das?« »Auch in acht Tagen. Vielleicht auch schon in vier. Ich lasse von mir hören.« 109
»Ja, aber – offen gesagt – ich finde, es müßte jetzt mehr gezahlt werden als dies, das scheint mir nicht mehr als fair.« Er fühlte sein Gesicht warm werden. »Ja, Sie haben ganz recht. Deshalb tut´s mir ja auch leid, daß es so wenig ist. Ich werde Ihnen was sagen, Jonathan. Ich werde mein möglichstes tun, und die nächste Nachricht, die Sie von mir bekommen, ist dann die hübsche Meldung von einem Schweizer Bankkonto mit Angabe des Betrages, der Ihnen gehört.« Das klang schon besser. »Und wann?« fragte Jona than. »Bis in acht Tagen. Ehrenwort.« »Wieviel – die Hälfte?« »Ich bin nicht sicher, ob ich die Hälfte beschaffen kann, bevor – ich habe Ihnen doch erklärt, Jonathan, die Geschichte hier fährt auf zwei Geleisen. Die Boys, die das Geld bezahlen, die wollen Resultate sehen. Be stimmte Resultate.« Reeves blickte Jonathan an. Jonathan sah die Frage in Reeves´ Augen. War er be reit zu der zweiten Tat oder nicht? Wenn nicht, so sagte er es besser jetzt gleich. »Ich verstehe«, sagte Jonathan. Ein wenig mehr, vielleicht ein Drittel der Gesamtsumme, das wäre nicht schlecht. Etwa vierzehntausend Pfund. Für die geleistete Arbeit war das ein hübscher kleiner Betrag. Jonathan beschloß, sich still zu verhalten und heute abend darüber nichts mehr zu sagen. Am nächsten Tag flog er mit der Mittagsmaschine nach Paris zurück. Reeves hatte versprochen, den Ter min bei Dr. Wentzel abzusagen, das hatte Jonathan ihm also überlassen. Er hatte ferner gesagt, er werde Jona than übermorgen, am Samstag, in seinem Geschäft anrufen. Dann hatte er Jonathan zum Flughafen gebracht und ihm die Morgenzeitung gezeigt, die ein Foto von Bi anca auf dem Bahnsteig der U-Bahn brachte. Reeves 110
triumphierte innerlich, das sah man: nach dem Bericht gab es keinerlei Hinweise außer der italienischen Pistole; man nahm an, es handele sich bei dem Täter um einen Angehörigen der Mafia. Bianca wurde hier als Soldat der Mafia oder Handlanger bezeichnet. Jonathan hatte die Titelseiten der Zeitungen schon morgens an den Kiosken gesehen, als er sich Zigaretten besorgte, aber er hatte keine Lust, eine Zeitung zu kaufen. Jetzt im Flugzeug reichte ihm die Stewardeß mit freundlichem Lächeln ein Blatt. Er ließ es zusammengefaltet auf dem Schoß liegen und schloß die Augen. Es war fast sieben Uhr, als Jonathan, nach einer Fahrt mit Zug und Taxi, zu Hause ankam und die Haustür auf schloß. »Jon! Simone kam im Flur auf ihn zu und begrüßte ihn. Er schloß sie in die Arme. »Hallo, mein Liebes!« »Ich hab dich schon erwartet – genau jetzt!« sagte sie lachend. »Was gibt´s Neues? Komm, zieh deinen Mantel aus. Heute morgen habe ich deinen Brief bekommen, wo du schreibst, du kämst vielleicht schon gestern abend. Bißchen verrückt geworden?« Jonathan warf seinen Mantel über den Haken und hob Georges in die Höhe, der ihm gegen die Beine geprallt war. »Na – und was macht mein Unnütz? Was macht mein Cailloux?« Er küßte den Kleinen auf die Wange. In dem Plastik beutel, den er mitgebracht hatte, steckte ein kleiner Lastwagen mit Ladeklappe und ebenso eine Flasche Whisky. Der Lastwagen konnte warten, erst mal kam der Whisky; und er zog die Flasche hervor. »Ah, quel luxe!« sagte Simone fröhlich. »Wollen wir sie gleich aufmachen?«
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»Aber ganz bestimmt«, erwiderte Jonathan und ging mit ihr in die Küche. Simone trank ihren Whisky gern mit Eis; Jonathan war das nicht wichtig. »Was haben die Ärzte gesagt – erzähl doch mal.« Si mone trat mit dem Eisschälchen an den Ausguß. »Ach – eigentlich dasselbe wie unsere Ärzte hier, weißt du. Aber sie wollen ein paar Mittel bei mir auspro bieren. Darüber bekomme ich noch Bescheid.« Diese Erklärung hatte sich Jonathan im Flugzeug zurechtge legt. Sie hielt ihm den Weg offen, falls er noch einmal nach Deutschland fahren würde. Und was hatte es schon für einen Sinn, ihr zu sagen, daß der Zustand etwas schlechter war oder schlechter aussah? Sie konnte doch nichts dabei tun, als sich noch ein bißchen mehr Sorgen machen. Jonathans Optimismus war während des Fluges noch etwas gestiegen. Wenn er beim erstenmal glatt durchkam, dann gelang es ihm vielleicht auch beim zwei tenmal. »Heißt das, daß du noch mal hinfahren müßtest?« fragte sie. »Ja, möglich.« Jonathan sah zu, wie sie die beiden Gläser nicht kleinlich füllte. »Aber sie wollen mich dafür bezahlen. Das soll ich alles noch erfahren.« »Tatsächlich?« fragte Simone erstaunt. »Ist das Whisky? Und was krieg ich?« sagte Georges auf Englisch und so deutlich, daß Jonathan in Lachen ausbrach. »Möchtest du? Na komm, trink mal einen Schluck«, sagte Jonathan und hielt ihm das Glas hin. Simone legte ihm die Hand auf den Arm. »Hier ist doch Orangensaft, Georgie!« Sie goß ihm den Saft ein. »Sie probieren eine bestimmte Heilkur aus, ist es das?« Jonathan zog die Brauen zusammen; noch war er Herr der Lage. »Liebling, eine Kur gibt es doch nicht. Sie wol 112
len – sie wollen neue Medikamente ausprobieren, weißt du. Mehr weiß ich auch nicht. Prost, mein Herz!« Eine leichte Euphorie hatte sich seiner bemächtigt: in seiner inneren Rocktasche steckten fünftausend Franc, und er war sicher, jedenfalls für den Augenblick, sicher im Schoße seiner Familie. Wenn alles gutging, dann waren die fünftausend nicht mehr als ein Taschengeld, wie Reeves Minot gesagt hatte. Simone lehnte sich im Stuhl zurück. »Sie wollen dich bezahlen dafür? Dann ist es also mit Gefahr verbun den?« »Nein, ich glaube nicht. Mit – mit gewissen Unannehmlichkeiten vielleicht. Zum Beispiel, daß ich noch mal nach Deutschland fahren muß. Ich meine, sie bezahlen mein Fahrgeld, das ist alles.« Er hatte das noch nicht im einzelnen überlegt; er konnte ja sagen, Dr. Perrier werde ihm die Spritzen verabfolgen und die Pillen verschreiben. Im Augenblick sagte er doch wohl das Richtige. »Meinst du – meinst du, sie halten dich für einen be sonderen Fall?« »Ja, in gewisser Weise schon. Ich bin natürlich gar keiner«, sagte er lächelnd. Er war ja auch gar kein be sonderer Fall, und Simone wußte das. »Es ist nur mög lich, daß sie ein paar Tests ausprobieren wollen, weißt du. Mehr weiß ich noch nicht, mein Herz.« »Du siehst jedenfalls richtig glücklich aus. Ich freue mich so, Lieber.« »Komm, laß uns heute ausgehen zum Essen. In das Restaurant unten an der Ecke. Georges nehmen wir mit«, protestierte er, als sie Widerspruch erhob. »Nun komm schon, das können wir uns doch mal leisten.«
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Jonathan nahm von dem Geld viertausend Franc und steckte sie in einen Umschlag. Hinten im Laden stand eine große Kommode mit acht Schubladen, und in eine dieser Schubladen legte er den Umschlag – es war die zweitunterste, und sie enthielt nichts als Drahtenden und Bindfaden und ein paar Anhänger mit verstärkten Lö chern, lauter Krimskrams, den nur ein sehr sparsamer oder exzentrischer Mensch aufbewahren würde. Diese und die unterste Schublade (er hatte keine Ahnung, was die enthielt) öffnete er selten oder nie, und deshalb war es auch unwahrscheinlich, daß Simone sie je öffnete, wenn sie – was nicht oft vorkam – einmal im Laden aus half. Die richtige Geldschublade war das obere rechte Fach unter dem Ladentisch. Die letzten tausend Franc zahlte er am Freitag morgen auf ihr gemeinsames Konto bei der Société Générale ein. Es war durchaus möglich, daß Simone von diesen extra tausend erst in zwei oder drei Wochen etwas merkte; und sagen würde sie viel leicht nichts dazu, selbst wenn sie den Betrag im Scheckbuch sah. Und selbst wenn sie eine Bemerkung machte, konnte er immer noch sagen, ein paar Kunden hätten plötzlich ihre Schulden bezahlt. Er beglich die Haushaltsrechnungen gewöhnlich mit Scheck; das Scheckbuch lag immer in der Schublade des kleinen Schreibtisches im Wohnzimmer, außer wenn einer von ihnen es mitgenommen hatte, um irgendwas zu bezah len, was vielleicht einmal im Monat vorkam. Und Freitag nachmittag wußte Jonathan auch schon, was er mit einem Teil des Geldes machte: er kaufte in einem Geschäft in der Rue de France ein senffarbenes Tweedkostüm für Simone, Preis 395 Franc. Schon vor 114
Tagen, bevor er nach Hamburg fuhr, hatte er das Kostüm gesehen und dabei an Simone gedacht, weil es wie für sie gemacht schien: der runde Kragen, der dunkelgelbe, braungefleckte Tweed, die vier quadratisch aufgesetzten braunen Knöpfe. Der Preis war ihm völlig irrsinnig er schienen, mehr als nur reichlich hoch, das wußte er noch. Jetzt kam es ihm geradezu billig vor; stolz und glücklich sah er zu, wie das schöne Stück sorgfältig in schneeweißes Seidenpapier gelegt und verpackt wurde. Und Simones strahlendes Gesicht beim Auspacken brachte die eigene Freude noch einmal zurück. Es war sicher seit zwei Jahren das erste neue Stück, das erste wirklich hübsche Kleid für sie. Die billigen Kleidchen vom Markt oder vom Prisunic zählten nicht. »Aber es war gewiß wahnsinnig teuer, Jon!« »Nein – nicht so schlimm. Die Ärzte in Hamburg haben mir einen Vorschuß gegeben, falls ich wiederkommen muß, weißt du. Ganz anständiger Betrag. Mach dir bloß keine Gedanken.« Simone strahlte. Sie wollte sich gar keine Gedanken machen, das sah Jonathan ihr an. Jedenfalls nicht jetzt. »Ich nehm´s als ein nachträgliches Geburtstagsge schenk.« Auch Jonathan lächelte jetzt. Seit ihrem letzten Ge burtstag waren fast zwei Monate vergangen. Am Samstag morgen klingelte das Telefon bei Jona than. Es hatte heute morgen schon ein paarmal geklin gelt, aber diesmal war es das unregelmäßige Scheppern eines Ferngesprächs. »Hier ist Reeves. Wie geht´s Ihnen?« »Danke, gut.« Jonathans Nerven spannten sich, er war auf einmal wachsam. Er hatte einen Kunden im La den, der sich die Musterstücke für Rahmenholz, die an
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der Wand hingen, besah. Aber Jonathan sprach jetzt Englisch. »Ich komme morgen nach Paris«, sagte Reeves, »und möchte Sie gern sprechen. Ich bringe Ihnen etwas mit – Sie wissen schon.« Seine Stimme klang gelassen wie immer. Simone hatte Jonathan gebeten, morgen mit zu ihren Eltern nach Nemours zu kommen. »Geht es vielleicht abends, oder so um sechs herum? Mittags habe ich eine Verabredung, die länger dauern kann.« »Ja, natürlich, das verstehe ich. Sonntagsessen in Frankreich! Gut, dann etwa um sechs. Ich wohne im Ho tel Gayré, Boulevard Raspail.« Von dem Hotel hatte Jonathan gehört. Er werde zwi schen sechs und sieben dort sein, sagte er. »Sonntags fahren weniger Züge.« Reeves erwiderte, das mache gar nichts. »Dann also bis morgen.« Offenbar brachte er Geld mit. Jonathan wandte sich dem Kunden zu, der einen Rahmen ausgesucht hatte. Simone sah in dem neuen Kostüm phantastisch aus, als sie sich am Sonntag auf den Weg machten. Jonathan hatte sie gebeten, bei ihren Eltern nichts davon zu sagen, daß die deutschen Ärzte ihn bezahlten. »Ich bin doch nicht verrückt!« erklärte Simone so ü berzeugend scheinheilig, daß Jonathan lachen mußte. Simone gehörte doch viel stärker zu ihm als zu ihren El tern, dachte er. Zuweilen schien es ihm umgekehrt zu sein. Als sie bei den Eltern waren, erklärte Simone wichtig: »Sogar heute muß Jon nach Paris und dort mit einem Kollegen der deutschen Ärzte sprechen.«
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Beim Essen ging es diesmal besonders vergnügt zu. Jonathan und Simone hatten eine Flasche Johnny Wal ker mitgebracht. Da von St-Pierre-Nemours am Sonntag nachmittag kein passender Zug fuhr, nahm Jonathan den 4-Uhr-49 Zug von Fontainebleau und kam um halb sechs in Paris an, wo er die Métro nahm. Gleich neben dem Hotel war eine Haltestelle. Reeves hatte an der Rezeption hinterlassen, man solle Jonathan zu ihm hinauf schicken. Er war in Hemdsärmeln und hatte offenbar auf dem Bett gelegen und Zeitungen gelesen. »Hallo, Jonathan, guten Tag! Wie geht´s denn? Kommen Sie, setzen Sie sich hin – irgendwo. Ich will Ih nen was zeigen.« Er trat an seinen Koffer. »Hier – für den Anfang.« Er hielt einen weißen Umschlag hoch und entnahm ihm einen maschinengeschriebenen Bogen, den er Jonathan reichte. Es war ein englischer Brief an eine Schweizer Bank, unterschrieben von Ernst Hildesheim. Der Briefschreiber bat um Eröffnung eines Kontos im Namen von Jonathan Trevanny, Adresse Soundso in Fontainebleau (es war die Geschäftsadresse); ein Scheck über achtzigtausend Mark sei beigefügt. Der Brief war ein Durchschlag, war jedoch unterschrieben. »Wer ist Hildesheim?« fragte Jonathan und überlegte gleichzeitig, daß eine Mark etwa 1,6 französische Franc wert war; achtzigtausend Mark waren umgerechnet also etwas über hundertzwanzigtausend Franc. »Das ist ein Geschäftsmann in Hamburg, dem ich ab und zu mal einen Gefallen getan habe, wissen Sie. Er wird nicht überwacht, kein Mensch kümmert sich um ihn, und das Geld erscheint nicht in seinen Firmenbüchern, für ihn ist also alles in Ordnung. Er hat mir einen Barsch eck gesandt. Also, Jonathan, für Sie ist die Hauptsache, 117
daß der Betrag jetzt auf Ihren Namen eingezahlt worden ist, gestern ist er in Hamburg abgegangen, Sie werden nächste Woche Ihre Kontonummer erfahren. Hundert achtundzwanzigtausend Francs.« Reeves lächelte nicht, aber er sah zufrieden aus. Er langte nach einem Käst chen auf dem Nachttisch. »Das sind holländische Zigar ren – mögen Sie? Sie sind recht gut.« Zigarren – das war mal etwas anderes; lächelnd nahm Jonathan eine und ließ sich von Reeves Feuer geben. »Danke schön. Auch für das Geld.« Es war nicht mal ein Drittel, das war ihm klar. Und erst recht nicht die Hälfte. Nur sagen konnte er das nicht. »Ja, der Anfang war gut. Die Kasino-Boys in Hamburg waren auch ganz zufrieden. Ein paar Mafiosi treiben sich da noch herum, die gehören zu der Genotti-Familie; sie behaupten, sie hätten keine Ahnung, daß Salvatore Bi anca tot ist, aber das würden sie natürlich immer sagen. Der nächste für uns ist jetzt also ein Genotti, damit es aussieht wie eine Revanche für Bianca. Und zwar muß es ein großes Tier sein, ein Capo, das ist der Chef direkt unter dem Boss, wissen Sie. Es gibt da einen, der heißt Vito Marcangelo, er reist fast jedes Wochenende von München nach Paris, weil er da eine Freundin hat. Er ist in München der Chef des Rauschgiftrings – zumindest für seine Familie. Was Rauschgift angeht – da ist heute in München viel mehr los als in Marseille . . .« Jonathan hörte nur halb zu; er wartete auf eine Pause, um erklären zu können, er wolle eine zweite Aufgabe nicht übernehmen. Er war unsicher; seine Anschauungen hatten sich gewandelt in den letzten achtundvierzig Stunden. Und seltsamerweise genügte schon Reeves´ Anwesenheit, um Jonathan jeden Wagemut zu nehmen und die Tat realer und nüchterner erscheinen zu lassen. Und außerdem: er hatte jetzt einen Betrag von einhun 118
dertachtundzwanzigtausend Francs in der Schweiz . . . Er setzte sich auf eine Sesselkante. ». . . im fahrenden Zug, am Tage. Mozart-Expreß heißt er.« Jonathan schüttelte den Kopf. »Bedaure, Reeves – nein. Ich glaube, das bringe ich wirklich nicht fertig.« Ihm fiel plötzlich ein, daß Reeves den Scheck sperren lassen konnte. Er brauchte bloß an Hildesheim zu telegrafieren. Na gut, nicht zu ändern. Reeves war niedergeschmettert. »Ach. – Ja, dann – das bedaure ich ebenfalls. Sehr. Na, dann müssen wir jemand anders finden – wenn Sie es nicht übernehmen wollen. Und – ja, der andere wird dann leider auch den größeren Teil des Geldes kriegen.« Er schüttelte den Kopf, sog an seiner Zigarre und starrte einen Augenblick aus dem Fenster. Dann beugte er sich vor und packte Jonathan an der Schulter. »Jon – das erstemal ging doch so prima!« Jonathan lehnte sich zurück, und Reeves ließ ihn los. Jonathan wand sich, wie jemand, der sich gezwungen sieht, eine Entschuldigung vorzubringen. »Aber im Zug – einen Mann im Zug erschießen?« Er sah sich im Geist in Polizeifäusten, noch am Ort der Tat gestellt, ohne eine Möglichkeit des Entkommens. »Nein, nicht erschießen, das geht nicht im Zug. Zu laut. Ich dachte an Erdrosseln. Mit einer Schlinge.« Jonathan glaubte, nicht recht gehört zu haben. Reeves erklärte gelassen: »Bekannte Methode bei der Mafia. Eine Schlinge aus einer ganz dünnen Schnur. Lautlos. Man zieht sie fest zu – so. Das ist alles.« Jonathan stellte sich vor, wie seine Finger einen war men Hals berührten. Ekelhaft. »Vollkommen ausge schlossen. Das kann ich nicht.«
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Reeves holte tief Atem, wartete einen Augenblick und änderte die Tonart. »Der Mann wird streng bewacht – meistens zwei Leibwächter. Aber in der Eisenbahn – die Leute mögen nicht mehr stillsitzen, gehen im Gang auf und ab, gehen auch mal auf die Toilette oder in den Speisewagen, vielleicht auch allein. Kann sein, daß es nicht geht, daß Sie keine Gelegenheit finden, aber versu chen könnten Sie es. – Oder man könnte ihm einen Stoß geben, einfach aus der Tür rausstoßen. Die Türen in die sen Zügen lassen sich auch während der Fahrt öffnen. Aber er würde sicher schreien. Und vielleicht wäre er auch gar nicht tot, wenn er rausfliegt.« Irrsinn, dachte Jonathan, doch ihm war nicht zum La chen zumute. Reeves brütete schweigend weiter und starrte an die Decke. Jonathans Gedanken waren bei Simone. Wenn man ihn nach einem Mord oder versuch ten Mord festnahm, würde sie das Geld bestimmt nicht anrühren. Sie wäre viel zu entsetzt, viel zu beschämt. »Ich kann Ihnen da wirklich nicht helfen«, sagte er und stand auf. »Aber – Sie könnten doch wenigstens im Zug mitfah ren, Jonathan. Wenn sich keine Gelegenheit ergibt, müs sen wir uns eben was anderes einfallen lassen, vielleicht geht es dann mit einem anderen Capo oder auf andere Weise. Mensch, aber wir hätten gerade diesen so gern. Er will jetzt Rauschgift aufgeben und zu den Hamburger Kasinos überwechseln, wissen Sie; da will er was Neues organisieren, so habe ich jedenfalls gehört.« In anderem Ton setzte er leicht hinzu: »Wäre Ihnen eine Pistole lie ber, Jon?« Jonathan schüttelte den Kopf. »Um Himmels willen, das bringe ich nicht fertig. Im Zug? Nein.« »Hier – sehen Sie sich dies an.« Rasch zog Reeves die linke Hand aus der Hosentasche. Eine dünne weiße 120
Schnur kam zum Vorschein; das Ende war durch eine Schlinge gezogen, die sich bis zum Knoten am Seilende zuziehen ließ. Reeves warf die Schlinge über den Bett pfosten und riß die Schnur zur Seite. »Sehen Sie? Nylon – fast so stark wie Draht. Ein Grunzer ist das höchste, was einer da noch von sich ge ben kann.« Jonathan war entsetzt. Das Opfer mußte mit einer Hand festgehalten werden – gräßlich. Außerdem würde das doch sicher drei Minuten dauern? Reeves schien aufzugeben, jedenfalls für den Augen blick. Er schlenderte zum Fenster hinüber und wandte sich um. »Überlegen Sie sich´s, Jonathan. Sie können mich anrufen, oder ich rufe Sie in zwei, drei Tagen an. Marcangelo fährt meistens am Freitag mittag von Mün chen ab. Es wäre ideal, wenn die Sache am nächsten Wochenende über die Bühne gehen könnte.« Jonathan war aufgestanden und machte einen Schritt auf die Tür zu. Die Zigarre drückte er im Aschbecher auf dem Nachttisch aus. Reeves musterte ihn nachdenklich; vielleicht blickte er auch an ihm vorbei und überlegte schon in Gedanken, wer sonst für den Job in Frage kam. Die lange Narbe sah – wie immer in einer bestimmten Beleuchtung – viel di cker aus, als sie tatsächlich war. Vielleicht hatte er wegen der Narbe einen Minderwertigkeitskomplex in bezug auf Frauen, dachte Jonathan. Wie lange mochte er sie schon haben? Vielleicht erst zwei, drei Jahre, das war schwer zu sagen. »Möchten Sie unten etwas trinken?«
»Nein, danke«, sagte Jonathan.
»Ach, ich wollte Ihnen ja noch ein Buch zeigen!« Ree
ves ging noch einmal an seinen Koffer und zog ein Buch mit hellrotem Umschlag heraus. »Hier, sehen Sie mal. 121
Sie können es behalten – großartige journalistische Ar beit – eine Dokumentation. Da haben Sie die Leute, mit denen wir es zu tun haben. Nur daß sie aus Fleisch und Blut sind, wie jeder Mensch. Verwundbar, das meine ich.« Das Buch hieß Schnitter des Unheils: Anatomie des organisierten Verbrechens in Amerika. »Ich rufe Sie Mittwoch an«, fuhr Reeves fort. »Dann könnten Sie Donnerstag nach München kommen, dort übernachten, ich bin im selben Hotel, und Freitag nach mittag fahren Sie mit dem Zug nach Paris zurück.« Jonathans Hand lag auf dem Türknauf, den er jetzt umdrehte. »Tut mir leid, Reeves, aber diesmal geht´s nicht, glaube ich. Bye-bye.« Jonathan trat aus dem Hotel und ging über die Straße zur Métro-Station. Während er auf dem Bahnsteig auf den Zug wartete, las er den Klappentext des Buches. Hinten auf dem Umschlag waren Polizeifotos, en face und im Profil, von sechs oder acht abstoßend aussehenden Männern mit herabgezogenen Mundwinkeln, die Ge sichter schlaff und gleichzeitig böse, mit dunkel starren den Augen. Seltsam war die Ähnlichkeit im Ausdruck bei allen, egal, ob sie mager oder rundlich waren. Das Buch enthielt fünf oder sechs Seiten Fotos. Die Kapitel trugen die Namen amerikanischer Städte: Detroit, New York, New Orleans, Chicago; und hinten fand sich neben dem Index eine Darstellung der Mafia-Familien, wie Stamm bäume, nur waren dies alles Männer der Gegenwart: Bosse, Unterbosse, Leutnants, Handlanger. Bei der Fa milie Genovese, die Reeves auch genannt hatte, gab es fünfzig oder sechzig untere Grade. Die Namen waren echt, in vielen Fällen waren auch die Adressen in New York und New Jersey genannt. Auf der Fahrt nach Fon tainebleau blätterte Jonathan weiter in dem Buch. Einer 122
der Männer war als Ahlen-Willy Alderman aufgeführt. Reeves hatte in Hamburg von ihm erzählt: er brachte sein Opfer dadurch um, daß er sich über dessen Schulter beugte, als wolle er ihm etwas sagen, und ihm dann eine Ahle ins Trommelfell stieß. Diesen Mann sah man hier auf dem Bild, breit grinsend, inmitten der SpielerKumpanei von Las Vegas: ein halbes Dutzend Männer mit italienischen Namen, dazu ein Kardinal, ein Bischof und ein Monsignore (deren Namen ebenfalls genannt waren) mit dem Zusatz, daß der Geistlichkeit ›ein Betrag von 7500 Dollar zugesagt worden war, der über fünf Jah re verteilt werden sollte‹. Jonathan war eine Weile be drückt von dem Gelesenen, er klappte das Buch zu und starrte ein paar Minuten aus dem Fenster, dann schlug er es wieder auf. Schließlich waren es Tatsachen, die das Buch enthielt. Interessante Tatsachen. An der Station Fontainebleau-Avon nahm Jonathan den Bus bis zum Platz am Schloß, dann ging er die Rue de France hinauf zu seinem Laden. Den Schlüssel hatte er bei sich. Er ging hinein und legte das Mafia-Buch in die gleiche kaum benutzte Schublade, die auch das ver steckte Geld enthielt. Dann schloß er den Laden ab und ging nach Hause.
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Als Tom Ripley an einem Dienstag im April an Trevannys Geschäft vorbeikam, hatte er das Schild Fermeture pro visoire pour raisons de famille gleich bemerkt. Vielleicht war Trevanny also tatsächlich nach Hamburg gefahren? Tom war gespannt, das zu erfahren, aber nicht genügend gespannt, um Reeves anzurufen. Am Donnerstag mor gen gegen zehn ging dann das Telefon – es war Reeves in Hamburg, und man hörte seiner Stimme den unter drückten Jubel an, als er sagte: »Tom – es ist geschafft! Alles in – alles okay, Tom. Ich danke dir sehr!« Diesmal fand Tom keine Worte. Trevanny hatte es tat sächlich erledigt? Da Heloise mit ihm im Wohnzimmer war, konnte er nicht viel sagen. »Gut. Freut mich sehr.« »Den falschen Arztbericht brauchen wir gar nicht mehr. Alles tadellos. Gestern abend.« »Ja, und – kommt er nun zurück nach Hause?« »Ja. Heute abend.« Tom wollte das Gespräch nicht lange ausdehnen. Reeves hatte vorgehabt, den Befund über Trevannys Gesundheitszustand durch einen falschen Bericht zu er setzen, der ungünstiger war als der richtige. Tom hatte das im Scherz vorgeschlagen, aber Reeves war genau der Typ, der so was in die Tat umsetzte. Ein übler Trick und alles andere als komisch, dachte Tom. Und nun war es gar nicht mehr nötig. Tom lächelte in ungläubigem Erstaunen. Aus der freudigen Erregung in Reeves´ Stimme war eindeutig zu erkennen, daß sein Opfer tat sächlich tot war. Tot – und von Trevanny umgebracht. Tom war mehr als überrascht. Reeves hatte sehr deutlich von Tom ein Wort des Lobes für die Organisation der 124
Sache erwartet; aber Tom konnte nichts sagen – Heloi ses Englisch war gar nicht so schlecht, und er hatte keine Lust, etwas zu riskieren. Ihm fiel plötzlich Mme. Annettes Pariser Zeitung ein, die sie jeden Morgen kaufte, Le Pari sien Libéré; aber Mme. Annette war noch nicht vom Ein kaufen zurück. »Wer war das?« fragte Heloise. Sie saß am Couch tisch und sortierte alte Zeitschriften aus, die sie wegwer fen wollte. »Reeves«, gab Tom zur Antwort. »Nichts Wichtiges.« Reeves langweilte Heloise. Ihm fehlte jedes Talent zum Plaudern, und er sah aus, als mache ihm das Leben keinen Spaß. Jetzt hörte Tom auf dem Kiesweg vor dem Haus die schnellen Schritte der Haushälterin. Er ging in die Küche. Sie kam durch die Seitentür herein und sah ihn freundlich lächelnd an. »Hätten Sie gern noch Kaffee, M. Tome?« fragte sie und stellte den Korb auf den Küchentisch. Eine Artischo cke rollte auf die Tischplatte. »Nein, nein, vielen Dank, Mme. Annette, ich wollte bloß mal einen Blick in Ihren Parisien werfen, wenn ich darf. Die Rennen . . .« Auf der zweiten Seite fand er, was er suchte. Ohne Foto. Ein Italiener namens Salvatore Bianca, achtund vierzig Jahre alt, war in einer U-Bahn-Station in Hamburg erschossen worden. Von dem Täter fehlte jede Spur; die Pistole, die am Tatort gefunden wurde, war italienisches Fabrikat. Der Tote gehörte, das war bekannt, zur MafiaFamilie Di Stefano in Mailand. Die Meldung war einspal tig und knapp zehn Zentimeter lang; aber – wer weiß – vielleicht war dies erst der Anfang, der zu größeren Din gen führte. Jonathan Trevanny, der harmlos aussehende, rechtschaffene Trevanny, war der Versuchung des Gel 125
des erlegen (nur das konnte es sein) und hatte einen Mord ausgeführt – erfolgreich ausgeführt. Tom war ein mal der gleichen Versuchung erlegen, im Falle Dickie Greenleaf. War es denkbar, daß Trevanny einer von uns war? Aber uns – das hieß für Tom einzig und allein Tom Ripley. Ein Lächeln zog über sein Gesicht. Vorigen Sonntag hatte Reeves Tom von Orly aus an gerufen, deutlich niedergeschlagen, und berichtet, Tre vanny wolle nicht mitmachen. Wüßte Tom vielleicht noch irgend jemand anderen? Tom hatte die Frage verneint. Reeves hatte weiter gesagt, er habe Trevanny einen Brief geschrieben, der Montag morgen ankommen müs se, darin habe er ihn aufgefordert, zu einer ärztlichen Un tersuchung nach Hamburg zu kommen. Darauf hatte Tom dann gesagt: »Wenn er kommt, kannst du ja dafür sorgen, daß der Befund ungünstig ist.« Tom wäre vielleicht noch am Freitag oder Samstag nach Fontainebleau gefahren, um seine Neugier zu be friedigen und einen Blick auf Trevanny in seinem Laden zu werfen, vielleicht auch ein Bild zum Einrahmen zu bringen (wenn Trevanny nicht den Laden für den Rest der Woche geschlossen hielt, um sich zu erholen); au ßerdem hatte er vorgehabt, am Freitag bei Gauthier nach Keilrahmen zu fragen. Aber dann hatten sich Heloises Eltern für das Wochenende angesagt – sie blieben von Freitag bis Sonntag – und brachten damit am Freitag den ganzen Haushalt in Aufruhr. Mme. Annette machte sich – ganz unnötig – Sorgen wegen des Menüs und wegen der Qualität der frischen moules, die es Freitag abend geben sollte; und nachdem sie das Gastzimmer blitzblank ge putzt und hergerichtet hatte, mußte sie auf Heloises Wunsch Bettwäsche und Handtücher wieder umwech seln, weil sie alle Toms Monogramm TPR trugen und nicht das P der Familie Plissot. Die Plissots hatten näm 126
lich den jungen Ripleys zur Hochzeit zwei Dutzend ex quisite reine Leinenlaken aus dem Familienbestand ge schenkt, und Heloise fand es sowohl höflich wie diploma tisch, diese Laken zu benutzen, wenn ihre Eltern zu Be such kamen. Mme. Annette hatte daran im Moment nicht gedacht, woraus ihr selbstverständlich niemand einen Vorwurf machte. Tom wußte genau, Heloise hatte noch einen weiteren Grund für den Wechsel der Laken: sie wollte nicht, daß sein Monogramm ihre Eltern, wenn sie zu Bett gingen, daran erinnerte, daß ihre Tochter mit ihm verheiratet war. Die Eltern waren spießig und krittelten gern, und das wurde noch verstärkt durch die Tatsache, daß Arlène Plissot, eine schlanke und immer noch attrak tive Frau von fünfzig, sich große Mühe gab, unbefangen und der Jugend gegenüber tolerant und aufgeschlossen zu sein; aber ihr fehlte einfach das Zeug dazu. Das Wo chenende wurde zur Qual. Und dabei war ein besser ge führter Haushalt als Belle Ombre kaum zu denken. Das silberne Teeservice (ebenfalls ein Hochzeitsgeschenk der Eltern) wurde von Mme. Annette stets spiegelblank poliert, selbst das Vogelhäuschen im Garten wurde täg lich geputzt, als sei es ein Gästehaus en miniature. Jeder Holzgegenstand im Hause schimmerte und duftete nach dem Lavendelwachs, das Tom immer aus England mit brachte. Und dann hatte Arlène, als sie im lila Hosenan zug auf dem Bärenfell vor dem Kamin lag und die nack ten Füße wärmte, gesagt: »Bohnerwachs ist nicht genug für solche Fußböden, Heloise. Die muß man ab und zu mit Leinöl und weißem Spiritus behandeln – aber ange wärmt, damit das Holz es besser einsaugt.« Als die Eltern Sonntag nachmittag nach dem Tee das Haus verlassen hatten, hatte sich Heloise die Kappe vom Kopf gerissen und sie gegen die Glastür geschleudert. Es gab einen häßlich knackenden Ton, denn in der Kap 127
pe steckte eine schwere Nadel, aber das Glas war heil geblieben. »Champagner!« rief Heloise, und Tom lief in den Kel ler und holte ihn. Er machte die Flasche auf und sie tran ken, obgleich das Teegeschirr noch nicht abgeräumt war (ausnahmsweise hatte sich Mme. Annette ein Weilchen hingelegt), und dann hatte das Telefon geklingelt. Es war Reeves Minot; seine Stimme klang niederge schlagen. »Ich bin in Orly, gleich geht meine Maschine nach Hamburg. Ich habe unseren gemeinsamen Freund heute in Paris gesprochen, und er lehnt den nächsten – die nächste Sache ab, du weißt schon. Sagt nein, er will nicht. Es muß aber sein, das habe ich ihm erklärt. Einmal noch.« »Hast du ihm schon was bezahlt?« Tom beobachtete Heloise, die mit dem Sektglas in der Hand im Zimmer herumtanzte und den Walzer aus dem Rosenkavalier dazu summte. »Ja, ungefähr ein Drittel, das ist doch nicht schlecht, finde ich. Ich hab´s in der Schweiz für ihn eingezahlt.« Tom glaubte sich an eine Summe von fast fünfhunderttausend Franc zu erinnern. Ein Drittel davon war nicht gerade fürstlich, aber doch wohl angemessen, dachte Tom. »Du meinst also noch ´ne Erschießung«, sagte er. Heloise wirbelte im Zimmer umher und sang »La-da da la-dee-dee . . .« »Nein, das nicht.« Reeves Stimme klang hart. Leiser fügte er hinzu: »Erdrosseln. Im Zug. Ich glaube, deshalb will er nicht.« Tom war entsetzt. Ganz klar, daß Trevanny sich da weigerte. »Wieso im Zug – muß das sein?« »Ich habe einen Plan . . .«
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Pläne hatte Reeves immer. Tom hörte höflich zu. Die Idee schien ihm unsicher und recht gefährlich. Schließ lich unterbrach ihn Tom. »Vielleicht hat er jetzt erstmal genug.« »Nein, ich glaube, er hätte schon Interesse. Aber er will nicht – er will nicht nach München kommen, und die Sache muß bis zum nächsten Wochenende erledigt sein,« »Du hast schon wieder den Paten gelesen, Reeves. Überleg dir was anderes – irgendwas mit ´ner Pistole.« »Zuviel Lärm.« In Reeves´ Stimme war nicht ein Fun ken Humor zu spüren. »Ich weiß noch nicht – entweder muß ich einen anderen finden, oder wir müssen eben Jonathan überreden.« Der läßt sich nicht überreden, dachte Tom. Ungeduldig sagte er: »Dazu ist Geld das beste Mittel – wenn das nicht zieht, kann ich dir auch nicht helfen.« Das Ge spräch erinnerte ihn unangenehm an den Besuch seiner Schwiegereltern. Hätten er und Heloise sich derartige Mühe gegeben, sich drei Tage lang so angestrengt, wenn sie auf die fünfundzwanzigtausend Francs verzich ten könnten, die Jacques Plissot seiner Tochter jährlich aussetzte? »Wenn ich ihm noch mehr gebe, steigt er vielleicht tat sächlich aus«, sagte Reeves. »Ich sage dir ja, es kann sein, daß ich es gar nicht kriege, ich meine den Rest, wenn er die zweite Sache nicht macht.« Reeves kannte eben Trevanny nicht, dachte Tom. Er verstand ihn gar nicht. Wenn Trevanny die ganze Sum me erhielt, dann würde er entweder die Sache überneh men oder das Geld zurückgeben. »Wenn dir wegen ihm noch irgendwas einfällt«, sagte Reeves langsam und mit einiger Mühe, »oder wenn du
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sonst jemand weißt, der es machen würde, ruf mich doch bitte an, ja? Morgen oder übermorgen, wenn´s geht.« Tom war froh, als sie aufgelegt hatten. Er schüttelte schnell den Kopf und blinzelte. Reeves Minots Ideen ga ben Tom oft das Gefühl, als hülle ihn ein nebelhafter Traum ein, der keine Spur von Wirklichkeit an sich hatte. Heloise setzte mit einem Sprung über die Rückwand des gelben Sofas, wobei sie mit einer Hand leicht die Lehne berührte und in der anderen ihr Sektglas festhielt. Wortlos landete sie auf dem Sitz und hob ihm graziös das Glas entgegen. »Grâce à toi, ce week-end était très réussi, mon trésor!« »Danke, meine Süße.« Ja, das Leben war wieder schön, sie waren allein und konnten sich barfuß zu Tisch setzen, wenn sie Lust hat ten. Ach, Freiheit! Toms Gedanken waren bei Trevanny. Er hatte nicht allzu viel übrig für Reeves, der sich immer gerade so durchschlängelte oder sich im letzten Moment zu retten wußte, wenn die Situation brenzlig wurde. Aber Trevan ny, den verstand er überhaupt nicht. Er überlegte, wie er Trevanny näher kennenlernen konnte. Es war etwas schwierig, denn er wußte, Trevanny mochte ihn nicht. Am einfachsten war es, wenn er ihm ein Bild zum Einrahmen brachte. Das mußte gehen. Dienstag fuhr Tom nach Fontainebleau und ging zu nächst zu Gauthier, um Keilrahmen zu besorgen. Viel leicht würde ihm Gauthier irgendwas Neues von Trevan ny erzählen, über seine Reise nach Hamburg, denn offi ziell war er ja nach Hamburg gefahren, um dort einen Arzt aufzusuchen. Tom erledigte seinen Einkauf bei Gauthier, der jedoch Trevanny nicht erwähnte. Im Hi nausgehen fragte Tom: »Wie geht es denn unserem Freund Trevanny?« 130
»Ach ja, der ist letzte Woche nach Hamburg gefahren, zu einem Spezialisten.« Gauthiers Glasauge starrte Tom an, während das lebende Auge glitzerte und leicht be trübt aussah. »Der Befund war nicht sehr gut, sagt er. Wohl etwas schlechter als der von seinem Arzt hier. Aber er ist ganz zuversichtlich. Sie kennen ja die Engländer, nicht wahr – ihre wahren Gefühle zeigen sie nicht.« »Das tut mir leid, daß es ihm schlechter geht«, sagte Tom. »Ja – jedenfalls hat er es so erzählt. Aber er hat den Mut nicht verloren.« Tom legte die Keilrahmen in seinen Wagen und nahm eine Aktentasche vom Rücksitz. Er hatte ein Aquarell mitgenommen, das er Trevanny zum Einrahmen geben wollte. Vielleicht brachte die Unterhaltung heute nicht allzuviel, aber er mußte ja irgendwann das Bild wieder abholen, damit hatte er die zweite Chance, ihn zu sehen. Tom ging zu Fuß in die Rue des Sablons und trat in den kleinen Laden. Trevanny unterhielt sich gerade mit einer Frau, er hatte ein Stück Rahmenleiste in der Hand und hielt es gegen einen Holzschnitt. Er streifte Tom mit ei nem Blick, und Tom war sicher, daß er ihn erkannt hatte. »Es sieht jetzt vielleicht reichlich kräftig aus, aber mit einem weißen Passepartout –« sagte er zu der Kundin. Seine Aussprache war recht gut. Tom sah Trevanny an und suchte nach einer Verände rung, irgendeinem Zeichen der Anspannung oder sonst etwas, aber er sah nichts. Dann kam er an die Reihe und sagte mit freundlichem Lächeln: »Bonjour – guten Morgen. Ich bin Tom Ripley – ich war im Februar mal bei Ihnen – ich glaube jedenfalls, es war Februar. Ihre Frau hatte Geburtstag.« »Ach ja.«
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Tom sah deutlich, daß Trevannys Haltung ihm gegen über immer noch die gleiche war wie damals im Februar, als er gesagt hatte: »Ach ja, von Ihnen habe ich schon gehört.« Tom nahm das Aquarell aus seiner Aktentasche und sagte: »Hier dieses Bild – meine Frau hat es gemalt, das hätte ich gern gerahmt. Vielleicht ein schmaler dun kelbrauner Rahmen und unten ein Passepartout, höchs tens siebeneinhalb Zentimeter, dachte ich.« Trevanny besah sich das Bild, das auf dem glatten, abgegriffenen Ladentisch zwischen ihnen lag. Es war hauptsächlich in Grün und rötlichem Blau gehalten, eine Skizze von der Ecke des Hauses mit dem Hintergrund winterlicher Kiefern. Nicht schlecht – Heloise wußte, wann sie aufhören mußte, dachte Tom. Sie hatte keine Ahnung, daß Tom das kleine Aquarell aufbewahrt hatte; wenn er es gerahmt nach Hause brachte, war das hof fentlich eine hübsche Überraschung. »So etwas vielleicht«, sagte Trevanny jetzt und zog ein Stück Holz von einem Regal herunter, aus dem ein Haufen Leisten hervorragte. Er legte es über das Bild in einer Entfernung, die dem Kartonrand entsprach. »Ja, das ist hübsch. Ja.« »Wollen Sie das Passepartout in Weiß oder Eierscha len? So vielleicht?« Tom entschied sich für eine Farbe, und Trevanny schrieb Toms Namen und Adresse sorgsam in Druck buchstaben auf einen Block. Auch die Telefonnummer gab Tom an. Was konnte man noch sagen? Trevannys Kühle war beinahe mit den Händen zu greifen. Er würde bestimmt ablehnen, aber Tom fand, er habe nichts zu riskieren, deshalb sagte er:
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»Vielleicht kommen Sie mal mit Ihrer Frau auf einen Drink zu uns. Villeperce ist nicht weit. Bringen Sie auch Ihren Jungen mit.« »Vielen Dank – ich habe aber keinen Wagen«, erwi derte Trevanny mit höflichem Lächeln. »Meine Frau und ich, wir gehen nicht viel aus.« »Keinen Wagen, das ist kein Problem. Ich könnte Sie ja abholen. Und Sie müssen natürlich mit uns essen, klar«, sprudelte Tom heraus, fast ohne es zu wollen. Tre vanny schob die Hände in die Taschen seines langen Pullovers und schaukelte einen Augenblick auf den Ab sätzen, als sei sein Entschluß schwankend geworden. Seine Neugier war geweckt, das spürte Tom. »Meine Frau ist etwas schüchtern«, sagte Trevanny, und zum ersten Mal verzog sich sein Gesicht zu offenem Lächeln. »Sie kann nicht viel Englisch.« »Ach – meine auch nicht, wissen Sie. Sie ist auch Französin. Aber – wenn es Ihnen zu weit ist, wie wäre es denn jetzt mit einem kleinen Pastis? Wollten Sie nicht gerade schließen?« Das stimmte. Es war kurz nach zwölf. Sie gingen in ein Lokal an der Ecke der Rue de France und der Rue St.-Merry. Unterwegs kaufte Trevanny noch Brot in der Bäckerei. Er bestellte ein Bier vom Faß, und Tom trank dasselbe und legte eine Zehn-Franc-Note auf den Schanktisch. »Wie sind Sie nach Frankreich gekommen?« fragte Tom. Trevanny berichtete von dem Antiquitätengeschäft, das er zusammen mit einem englischen Freund aufge macht hatte. »Und Sie?« fragte er dann. »Ich – ach, meiner Frau gefällt´s hier, und mir auch. Ich kann mir eigentlich kein besseres Leben vorstellen. Wenn ich Lust habe, kann ich reisen. Ich habe viel freie 133
Zeit – Muße würden Sie sagen. Gartenarbeit, Malen – ich male eben wie ein Sonntagsmaler, aber es macht mir Spaß. Und wenn ich Lust habe, fahre ich ein paar Wo chen nach London.« Damit hatte er seine Karten auf den Tisch gelegt, harmlos und naiv. Aber vielleicht fragte sich Trevanny im stillen, woher das Geld kam. Vermutlich hat te er irgendwo die Dickie-Greenleaf-Geschichte gehört und das meiste davon längst vergessen, wie viele andere auch, nur ein paar Einzelheiten blieben im Gedächtnis, etwa Dickie Greenleafs »geheimnisvolles Verschwin den«, obgleich man später seinen Selbstmord als Tatsa che akzeptierte. Vielleicht wußte Trevanny sogar, daß Tom aus Dickie Greenleafs Testament ein Einkommen bezog (das Testament hatte Tom selber gefälscht), denn das hatte alles in den Zeitungen gestanden. Und dann war letztes Jahr noch die Sache Derwatt hinzugekom men; die französischen Zeitungen hatten allerdings we niger von Derwatt gesprochen als von dem merkwürdi gen Verschwinden von Thomas Murchison, dem Ameri kaner, der Gast in Toms Haus gewesen war. »Hört sich hübsch an, so ein Leben«, meinte Trevanny trocken und wischte sich den Bierschaum von der Unter lippe. Trevanny, das merkte Tom, wollte ihn etwas fragen. Was wohl? Tom überlegte, ob es denkbar war, daß Tre vanny trotz seiner englischen Gelassenheit auf einmal seiner Frau die Sache beichtete oder zur Polizei ging und ein Geständnis ablegte? Nein – Tom war überzeugt, daß Trevanny seiner Frau nichts erzählt hatte und nichts er zählen würde von dem, was er getan hatte. Fünf Tage war es erst her, daß Trevanny eine Pistole genommen und einen Mann erschossen hatte. Natürlich hatte Ree ves den Boden vorbereitet und ihm alles mögliche erzählt von der Schlechtigkeit der Mafia und was für ein Segen 134
für die Menschheit es wäre, wenn Trevanny oder sonst jemand einen aus der Bande ins Jenseits beförderte. Dann fiel Tom die Schlinge ein. Ausgeschlossen – Tre vanny mit einer Schlinge in der Hand war einfach unvor stellbar. Wie er sich wohl fühlte, jetzt nach der Tat? Viel leicht hatte er noch gar keine Zeit gehabt, darüber nach zudenken. Jetzt zündete er sich eine Zigarette an. Er hat te starke große Hände. Er war der Typ, der in alten Klei dern und ungebügelten Hosen herumlaufen konnte und doch immer wie ein Gentleman aussah. Ein gutgeschnit tenes herbes Gesicht – er sah überhaupt gut aus, ganz ohne es zu wissen, dachte Tom. Trevannys ruhige blaue Augen blickten Tom an. »Kennen Sie vielleicht zufällig einen Amerikaner namens Reeves Minot?« fragte er. »Nein«, sagte Tom. »Wohnt der hier in Fontaine bleau?« »Nein. Aber ich glaube, er reist viel.« »Nein, kenne ich nicht.« Tom trank sein Bier. »Ja, ich muß nun wohl gehen. Meine Frau wartet.« Sie verließen das Lokal und schlugen draußen ver schiedene Richtungen ein. »Danke für das Bier«, sagte Trevanny. »Aber bitte sehr.« Tom ging zu seinem Wagen, den er auf dem Parkplatz vor dem Hôtel de l´Aigle Noir abgestellt hatte, und fuhr nach Villeperce. Seme Gedanken waren bei Trevanny. Ein enttäuschter Mann, enttäuscht, weil er es nicht sehr weit gebracht hatte; er war sicher in der Jugend ehrgeizig gewesen. Tom entsann sich der Frau, eine attraktive jun ge Frau, solide und zuverlässig – eine Frau, die niemals ihren Mann antrieb oder an ihm herumnörgelte, damit er mehr Geld verdiente. Auf ihre Art war Trevannys Frau bestimmt ebenso aufrichtig und anständig wie ihr Mann. 135
Und trotzdem war er auf Reeves Vorschlag eingegangen. Daraus war zu schließen, daß Trevanny ein Mann war, der – wenn man es klug anfing – sich in jede Richtung ziehen ließ. Mme. Annette begrüßte Tom mit der Nachricht, daß Heloise sich etwas verspäten werde; sie hatte in einem Antiquitätengeschäft in Chilly-en-Biere eine englische Commode de bateau entdeckt, sie gekauft und mit einem Scheck bezahlt, aber sie hatte den Händler zur Bank be gleiten müssen. »Sie kann jetzt jeden Augenblick kom men, mit der Kommode«, sagte Mme. Annette, und ihre blauen Augen strahlten. »Sie läßt Sie bitten, mit dem Es sen auf sie zu warten, M. Tom.« »Aber selbstverständlich«, gab Tom ebenso vergnügt zurück. Das Konto war dann etwas überzogen, deshalb hatte Heloise wahrscheinlich mit zur Bank gehen und dort mit einem der Angestellten reden müssen. Und das in der Mittagszeit, wenn die Bank geschlossen war? Wie sie das wohl bewerkstelligt hatte? Und Mme. Annette war voller Freude, denn es kam wieder ein neues Möbelstück ins Haus, an dem sie sich mit ihrem unermüdlichen Ein wachsen und Polieren zu schaffen machen konnte. Seit Monaten hatte Heloise nach so einer seemännischen messingbeschlagenen Kommode für Tom gesucht. Es war ihre Idee, daß er so ein Möbel in seinem Zimmer ha ben mußte. Tom beschloß, den günstigen Moment zu nützen und Reeves anzurufen. Er lief hinauf in sein Zimmer; es war jetzt zweiundzwanzig Minuten nach eins. Seit drei Mona ten hatten sie zwei neue Apparate mit Wählscheiben im Haus, mit denen sie auch Ferngespräche selbst wählen konnten und keine Vermittlung mehr brauchten.
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Reeves´ Haushälterin meldete sich. Tom sprach deutsch und fragte nach Herrn Minot. Ja, er war zu Hau se. »Hallo, Reeves! Hier ist Tom. Ich kann nicht lange sprechen, ich wollte dir nur schnell sagen, daß ich unse ren Freund gesprochen habe. Wir haben ein Glas zu sammen getrunken, vorhin . . . Ja, in Fontainebleau. Ich glaube –« Tom stand, den Hörer in der Hand, ange spannt am Fenster und blickte auf die Bäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite und auf den blauen leeren Himmel. Er wußte nicht recht, was er noch sagen sollte, er wollte Reeves nur sagen, er solle weiter versu chen. »Ich weiß nicht recht, aber ich glaube, das wird noch was. Es ist nur so eine Idee von mir. Versuchs doch nochmal.« »Meinst du wirklich?« fragte Reeves begierig. Er hing an Toms Worten wie an einem nie versagenden Orakel. »Wann erwartest du ihn?« »Nun ja, ich hoffe, er kommt Donnerstag nach Mün chen. Das ist übermorgen. Ich versuche, ihn dazu zu bringen, daß er dort auch noch einen Arzt aufsucht. Und dann – Freitag nachmittag geht der Zug so um zwei Uhr zehn von München ab nach Paris.« Tom war einmal mit dem Mozart-Expreß gefahren; damals hatte er den Zug in Salzburg bestiegen. »Weißt du, ich würde es ihm überlassen, was er lieber will, die Kanone oder – das andere Zeug, aber von der Kanone würde ich ihm abraten.« »Das habe ich ja versucht«, erwiderte Reeves. »Glaubst du denn wirklich, den kriegen wir noch rum?« Tom hörte, wie ein Wagen, nein zwei Wagen auf den Kiesweg vor dem Hause auffuhren. Sicher Heloise mit dem Antiquitätenhändler. »Ich muß aufhören, Reeves, ja – jetzt sofort.« 137
Als er später in seinem Zimmer allein war, betrachtete Tom eingehend die hübsche Kommode, die zwischen den beiden Fenstern stand: Eichenholz, starke solide Arbeit, mit schimmernden Eckbeschlägen aus Messing und ebensolchen Griffen an den Schubladen. Das blanke Holz sah lebendig aus, gleichsam animiert von den Hän den des Herstellers, oder von den Händen des Kapitäns oder der Offiziere, die es benutzt hatten. Zwei glänzende dunkle Kerben im Holz, das waren die Narben, die das Schicksal jedem im Laufe seines Lebens beibringt. Oben war eine ovale kleine silberne Plakette eingesetzt, darauf stand in verschlungenen Buchstaben: Capt. Archibald I. Partridge, Plymouth 1734, und in ganz kleinen Buchsta ben der Name des Möbeltischlers. Handwerksstolz, dachte Tom, und der Gedanke gefiel ihm.
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Am Mittwoch rief Reeves wie vereinbart Jonathan im Ge schäft an. Jonathan hatte gerade viel zu tun und mußte Reeves bitten, kurz nach zwölf noch einmal anzurufen. Das geschah, und nach den üblichen Höflichkeitsflos keln fragte er, ob Jonathan am nächsten Tag nach Mün chen kommen könne. »Auch in München gibt es gute Ärzte – sehr gute so gar. Ich denke da an einen bestimmten Internisten, Dr. Max Schroeder – ich habe mich erkundigt, der hätte am Freitag morgen Zeit für Sie, um acht ungefähr. Wenn es Ihnen recht ist – das brauche ich nur noch zu bestätigen. Wenn Sie –« »Gut«, sagte Jonathan. Er hatte gewußt, daß die Un terhaltung so verlaufen würde, ganz genau so. »Ja, in Ordnung, Reeves. Ich werde mich also um die Flugkarte kümmern –« »Nur Hinflug, Jonathan. Na schön, das müssen Sie entscheiden.« Das wußte Jonathan sehr wohl. »Wenn ich die Flug zeiten weiß, rufe ich zurück.« »Nicht nötig, ich kenne den Flugplan. Die eine Ma schine geht ab Orly um dreizehn Uhr fünfzehn, direkt nach München, wenn Sie die erreichen.« »Allright, das werde ich versuchen.« »Wenn ich nichts mehr höre, nehme ich an, daß Sie mit dieser Maschine kommen. Ich treffe Sie dann am Au tobusbahnhof, wie neulich.« In Gedanken versunken ging Jonathan zum Spülstein, strich sich über das Haar und griff dann nach seinem Regenmantel. Der Tag war kalt und regnerisch. Jonathan hatte seinen Entschluß schon gestern gefaßt. Er wollte 139
alles so machen wie neulich, einen Arzt aufsuchen – diesmal in München – und dann den Zug besteigen. Das war weiter nicht schwierig. Zweifelhaft war ihm nur, ob er bei der Sache durchhalten werde. Wie weit würde er im stande sein zu gehen? Er verließ sein Geschäft und schloß die Tür ab. Auf dem Bürgersteig stieß er an einen Mülleimer und merkte, daß er dahinschuffelte, anstatt richtig zu gehen. Er hob den Kopf höher. Er würde sich von Reeves außer der Schlinge noch eine Pistole geben lassen, und wenn ihn bei der Schlinge der Mut verließ (womit er fest rechnete) und er dann zur Schußwaffe griff, dann war das eben nicht zu ändern. Er würde mit Reeves eine Vereinbarung treffen: wenn er die Pistole benutzte, würde man ihn natürlich sofort schnappen: dann wollte er die nächste Kugel – oder die nächsten beiden Kugeln – für sich selber verwenden. Auf diese Weise konnte er niemals Verrat üben an Reeves und den anderen Leuten um Reeves. Dafür mußte dann Reeves den Rest des Geldes an Simone auszahlen. Es war Jo nathan klar, daß man seine Leiche nicht für die eines Ita lieners halten würde, aber es war ja wohl denkbar, daß der Clan Di Stefano auch einen nichtitalienischen Killer angeheuert haben konnte. Zu Simone sagte Jonathan: »Heute morgen hat mich der Arzt aus Hamburg angerufen. Ich soll morgen nach München fahren.« »Nanu – so bald schon?« Ihm fiel jetzt ein, er hatte Simone gesagt, es könne vierzehn Tage dauern, bis die Ärzte ihn wieder kommen ließen. Dr. Wentzel, hatte er berichtet, habe ihm Tablet ten gegeben und wollte das Ergebnis beobachten. Tat sächlich hatte er mit Dr. Wentzel auch über Tabletten gesprochen, aber der Arzt hatte ihm keine gegeben; bei Leukämie war gar nichts zu machen, man konnte mit 140
Tabletten höchstens das Fortschreiten der Krankheit et was verlangsamen. Sicher hätte Dr. Wentzel ihm welche gegeben, wenn er noch einmal zu ihm gegangen wäre. »In München ist noch ein anderer Arzt, Schroeder heißt er. Dr. Wentzel möchte gern, daß ich den auch noch auf suche.« »Wo ist das, München?« fragte Georges. »In Deutschland.« »Wie lange wirst du fortbleiben?« fragte Simone. »Wahrscheinlich bis – ja bis Samstag morgen«, gab Jonathan zur Antwort. Der Zug von München kam viel leicht abends so spät in Paris an, daß er den letzten Zug nach Fontainebleau nicht mehr erreichte. »Was ist mit dem Geschäft? Soll ich morgen vormittag hingehen? Und Freitag morgen auch? Wann mußt du morgen weg?« »Das Flugzeug geht um ein Uhr fünfzehn. Ja, mein Herz, es wäre mir lieb, wenn du morgen und Freitag früh hingehen könntest, selbst wenn es nur für eine Stunde ist. Ich habe ein paar Kunden, die ihre Bilder abholen wollen.« Behutsam spießte Jonathan mit dem Messer ein Stück Camembert auf, das er sich genommen hatte, aber nun nicht mehr mochte. »Bedrückt dich etwas, Jon?« »Nein, Liebes. Eigentlich im Gegenteil – wenn sie mir jetzt was Neues sagen, kann es nur etwas Besseres sein.« Lauter munteres Geplauder, im Grund war das alles Unsinn. Gegen die Zeit konnten auch die Ärzte nichts ausrichten. Er warf einen Blick auf seinen Sohn, der etwas erstaunt aussah, aber nicht erstaunt genug, um weitere Fragen zu stellen. Jonathan wußte, Georges hatte solche Unterhaltungen mit angehört, seit er über haupt Worte verstand. Man hatte ihm gesagt: Vater hat einen Bazillus – das ist so etwa wie eine Erkältung. Da 141
von ist er manchmal müde. Es ist aber nicht ansteckend, für niemanden, auch für dich nicht. »Schläfst du im Krankenhaus?« fragte Simone. Jonathan verstand sie nicht gleich. »Nein. Der Arzt – seine Assistentin sagt, sie haben mir ein Hotelzimmer bestellt.« Am nächsten Morgen verließ Jonathan das Haus kurz nach neun, um den Zug um neun Uhr zweiundvierzig nach Paris zu nehmen, der nächste wäre zu spät gewe sen für den Anschluß nach Orly. Er hatte am Tag vorher noch seine Flugkarte besorgt, nur den Hinflug, hatte bei der Société Générale weitere tausend Franc auf sein Konto eingezahlt und fünfhundert in seine Brieftasche gesteckt. Die Schublade im Laden enthielt jetzt noch zweitausendfünfhundert Franc. Auch das Buch, Schnitter des Unheils, hatte er herausgenommen und in seinen Koffer gesteckt, um es Reeves zurückzugeben. Kurz vor fünf stieg Jonathan aus dem Bus, der ihn in München zur Endstation der Autobusse gebracht hatte. Es war ein warmer sonniger Tag. Er sah kräftige Männer mittleren Alters in Lederhosen und grünen Trachtenja cken. Auf dem Gehweg spielte ein Leierkasten. Jetzt er blickte er Reeves, der auf ihn zukam. »Hallo, Jonathan – ich habe mich etwas verspätet, entschuldigen Sie! Wie geht es Ihnen?« »Danke, ganz gut«, gab Jonathan lächelnd zurück. »Ich habe ein Zimmer im Hotel für Sie genommen. Jetzt nehmen wir erstmal ein Taxi. Ich wohne in einem anderen Hotel, aber ich komme mit rauf zu Ihnen, da können wir reden.« Sie bestiegen das Taxi, und Reeves redete von Mün chen. Er sprach, als ob er die Stadt gut kenne und sie gern habe, nicht als ob er aus Nervosität rede. Er hatte eine Karte mitgebracht und zeigte auf den Englischen 142
Garten, wo das Taxi nicht vorbeifuhr, und auf den Stadt teil an der Isar, wo Jonathan morgen früh um acht den Arzt aufsuchen sollte. Beide Hotels, sagte Reeves, seien zentral gelegen. Jetzt hielt das Taxi, und ein Page in dunkelroter Uniform öffnete die Wagentür. Jonathan füllte die Anmeldung aus. Die Halle ringsum war voller Farben, die Fenster aus buntem Glas, auf de nen Ritter und Troubadoure dargestellt waren. Ihm war froh zumute, weil er sich ungewöhnlich wohl fühlte, daher kam auch die gute Stimmung. Ob dies der Auftakt für böse Nachrichten war, die ihm morgen bevorstanden – irgendeine Katastrophe? Im Grunde war es doch wider sinnig, diese frohe Stimmung. Vorsicht, sagte er sich warnend, als sei er im Begriff, ein Glas zuviel zu trinken. Reeves kam mit ihm nach oben. Der Page hatte den Koffer ins Zimmer gesetzt und schloß jetzt die Tür hinter sich. Jonathan hängte seinen Mantel, wie er es zu Hause tat, an einen Haken an der Garderobe. »Wir könnten Ihnen morgen früh noch einen neuen Mantel besorgen – vielleicht auch noch heute nachmit tag«, sagte Reeves und warf einen vorsichtigen Blick auf Jonathans Mantel. »Ja –?« Er war tatsächlich ziemlich schäbig, das muß te Jonathan zugeben. Er lächelte freundlich. Wenigstens hatte er seinen guten Anzug und die einigermaßen neuen schwarzen Schuhe mitgebracht. Er hängte den Anzug in den Schrank. »Ja, weil – sie fahren ja erster Klasse im Zug.« Ree ves ging zur Tür und schob den Knopf nach unten; jetzt ließ sich die Tür von außen nicht öffnen. »Hier ist die Pis tole – italienisches Fabrikat wie neulich, aber etwas an ders. Einen Schalldämpfer konnte ich nicht kriegen, aber ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß er viel ausmacht.«
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Jonathan begriff. Er betrachtete die kleine handliche Waffe, die Reeves aus der Tasche gezogen hatte. Einen Augenblick überkam ihn ein Gefühl der Leere, des Stumpfsinns. Wenn er diese Pistole überhaupt benutzte, so hieß das, daß er sofort hinterher sich selber erschie ßen mußte. Eine andere Bedeutung hatte die Waffe für ihn nicht. »Ja, und dann dieses hier.« Reeves zog die Schlinge aus der Tasche. Im Licht des Nachmittags sah sie bläß lich, fast fleischfarben aus. »Versuchen Sie´s doch mal – hier an der Stuhllehne«, sagte Reeves halblaut. Jonathan nahm die Schnur und ließ die Schlinge über einen vorstehenden Knauf der Lehne fallen. Nachlässig zog er daran, bis sie fest lag. Ihn schauderte gar nicht, sein Kopf war einfach leer. Wenn irgend jemand die Schnur bei ihm fand, in seiner Tasche oder sonstwo, würde er dann sofort wissen, wofür sie bestimmt war? Nein, wahrscheinlich nicht. »Sie müssen sie natürlich stramm anziehen – mit ei nem Ruck«, sagte Reeves ernst, »und dann festhalten.« Plötzlich fühlte Jonathan, wie Ärger in ihm aufstieg, er wollte eine heftige Antwort geben und nahm sich zu sammen. Er löste die Schnur von der Stuhllehne und wollte sie auf das Bett fallen lassen, aber Reeves sagte: »Behalten Sie´s in der Tasche oder stecken Sie´s in die Tasche des Anzugs, den Sie morgen tragen wollen.« Jonathan war im Begriff, die Schnur in seine Hosenta sche zu schieben; dann besann er sich und steckte sie in die Tasche des blauen Anzugs. »Hier – die beiden Bilder wollte ich Ihnen noch zei gen.« Reeves zog einen Umschlag aus der inneren Ja ckentasche, er war nicht verschlossen und enthielt zwei Fotos, einen Glanzabzug in Postkartengröße und einen 144
Zeitungsausschnitt, zweimal gefaltet. »Das ist Vito Marc angelo.« Jonathan betrachtete das Glanzfoto, das an mehreren Stellen geknickt war: das Bild eines Mannes mit rundem Kopf und Gesicht, dicken geschwungenen Lippen und wellig-schwarzem Haar. Durch den hellgrauen Streifen an beiden Schläfen sah es aus, als steige Dampf aus dem Kopf. »Er ist ungefähr einsachtundsechzig groß. Das Haar ist noch grau, er läßt es nicht tönen. Hier – da wird gefei ert.« Das Zeitungsbild zeigte drei Männer und zwei Frauen, die hinter einem Tisch standen. Ein Pfeil, mit Tinte ge zeichnet, wies auf einen untersetzten lachenden Mann mit hellgrauen Schläfen. Die Unterschrift war deutsch. Reeves nahm die Bilder wieder an sich. »Kommen Sie, wir wollen den Mantel besorgen. Irgendwo wird schon noch was offen sein. Ja, übrigens – die Sicherung bei der Pistole ist die gleiche wie bei der anderen. Sie ist geladen, sechs Kugeln. Ich leg sie hier rein, ist das recht?« Reeves nahm die Pistole vom Fußende des Bet tes und steckte sie in eine Ecke von Jonathans Koffer. »Brienner Straße – da gibt´s recht gute Läden«, sagte er, als sie im Fahrstuhl nach unten fuhren. Sie gingen zu Fuß. Der alte Mantel war im Hotel geblieben. Jonathan wählte einen dunkelgrünen Tweedmantel. Der Preis war jetzt wohl egal. Ihm kam der Gedanke, daß er den Mantel vielleicht nur vierundzwanzig Stunden tra gen werde. Reeves bezahlte ihn, er bestand darauf, ob gleich Jonathan erklärte, er könne ihm das Geld wieder geben, sobald er etwas französisches Geld umgewech selt hatte.
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»Aber nein, das ist meine Sache«, sagte Reeves und zuckte leicht mit dem Kopf, was bei ihm soviel wie ein Lächeln bedeutete. Jonathan behielt den Mantel gleich an; sie verließen das Geschäft und schlenderten durch die Straßen. Ree ves zeigte ihm im Vorbeigehen ein paar bekannte Stel len: den Odeonsplatz und den Anfang der Ludwigstraße, die bis nach Schwabing führte, wo Thomas Mann ge wohnt hatte. Sie gingen zum Englischen Garten und nahmen dann ein Taxi, das sie zu einem Bierlokal brach te. Tee wäre Jonathan lieber gewesen. Er merkte, daß Reeves sich Mühe gab, damit er, Jonathan, sich ent spannte; er kam sich aber völlig entspannt und gelöst vor. Er machte sich nicht mal Sorgen wegen Dr. Max Schroeder und seinem Befund morgen früh. Was Dr. Schroeder morgen sagte, hatte einfach keine Bedeutung mehr. Sie aßen in einem lärmenden Restaurant in Schwa bing zu Abend, und Reeves berichtete, daß hier praktisch jeder entweder »Künstler oder Schriftsteller« sei. Das amüsierte Jonathan – der Kopf schwamm ihm ein wenig von all dem Bier, und jetzt tranken sie Gumpoldskirche ner. Gegen Mitternacht stand Jonathan, nachdem er ge duscht hatte, im Pyjama in seinem Hotelzimmer. Um Viertel nach sieben morgen früh sollte das Telefon ihn wecken; gleich darauf folgte dann das kontinentale Frühstück. Jonathan setzte sich an den Schreibtisch, nahm Briefpapier aus der Schublade und adressierte ei nen Umschlag an Simone. Jetzt fiel ihm ein, daß er ü bermorgen zurück sein werde, vielleicht sogar schon morgen abend spät. Er zerknüllte den Umschlag und warf ihn in den Papierkorb. Vorhin, beim Essen, hatte er Reeves gefragt: »Kennen Sie einen Mann namens Tom 146
Ripley?« Reeves hatte ihn verständnislos angesehen und erwidert: »Nein – warum?« Jonathan ging zu Bett. Er drückte auf den Knopf am Kopfende des Bettes, damit wurden alle Lichter gelöscht, auch das im Bad. Sehr praktisch. Hatte er heute abend seine Tabletten genom men? Ja, vor dem Duschen. Das Fläschchen mit den Tabletten hatte er in seine Jackentasche gesteckt, damit er es morgen Dr. Schroeder zeigen konnte, falls der sich dafür interessierte. Reeves hatte ihn gefragt: »Haben Sie schon Nachricht von der Schweizer Bank?« Nein, das hatte er nicht, aber vermutlich war heute morgen ein Brief gekommen, ans Geschäft adressiert. Ob Simone ihn wohl öffnete? Mög lich war es, etwa fifty-fifty; kam darauf an, wieviel sie im Laden zu tun hatte. Die Schweizer Bank würde ein Gut haben von achtzigtausend Mark bestätigen, und wahr scheinlich hatte man ihm auch Karten oder Formulare geschickt, die er unterschreiben sollte, damit sie seine Unterschrift hatten. Auf dem Briefumschlag war sicher kein Absender angegeben und auch sonst nichts, das auf eine Bank schließen ließ. Da er ja Samstag zurückkom men wollte, ließ Simone vielleicht alle Post ungeöffnet. Fifty-fifty, dachte er noch einmal und glitt sacht in den Schlaf. Die Atmosphäre im Krankenhaus am nächsten Morgen erschien Jonathan routinemäßig und trotzdem seltsam gelöst, fast formlos. Reeves war die ganze Zeit dabei, und obgleich die Unterhaltung auf deutsch geführt wurde, merkte Jonathan, daß Reeves dem Arzt nichts von der vorherigen Untersuchung in Hamburg mitteilte. Der Ham burger Bericht war an Dr. Perrier gegangen, der ihn jetzt sicher schon, wie versprochen, ans Ebberle-ValentLaboratorium geschickt hatte. 147
Auch hier sprach eine der Schwestern perfekt Eng lisch. Dr. Max Schroeder war etwa fünfzig, das schwarze Haar war modern geschnitten und fiel ihm bis auf den Kragen. »Er sagt also ungefähr«, übersetzte Reeves, »dies sei ein klassischer Fall, und die Aussicht für die Zukunft sei nicht gerade rosig.« Nein, etwas Neues gab es auch hier nicht. Nicht mal die Mitteilung, daß der Untersuchungsbefund morgen früh zum Abholen bereitliegen werde. Es war fast elf, als Jonathan und Reeves das Kran kenhaus verließen. Sie gingen am Ufer der Isar entlang; man sah Babies in Kinderwagen, Wohnblocks, eine Apo theke, ein Gemüsegeschäft – alles, was zum täglichen Leben gehörte, und Jonathan hatte das Gefühl, über haupt nicht daran teilzuhaben heute morgen. Selbst zum Atmen mußte er sich ermahnen. Heute war ein Tag des Mißlingens, dachte er. Er hätte sich gern in den Fluß ge stürzt und wäre vielleicht ertrunken oder zum Fisch ge worden. Reeves´ Gegenwart und sein sporadisches Ge rede reizte ihn; schließlich gelang es ihm, ihn nicht mehr zu hören. Heute brachte er es bestimmt nicht fertig, je manden umzubringen, weder mit der Schlinge noch mit der Pistole. »Ich muß doch noch meinen Koffer holen, wenn ich den Zug um zwei Uhr soundsoviel haben will«, unter brach er Reeves. Sie fanden ein Taxi und stiegen ein. Dicht neben dem Hotel war ein Schaufenster mit lauter blanken Gegenständen, die wie Tannenbaumschmuck glitzerten. Jonathan trat näher. Die meisten waren Sou venirs für Touristen, das erkannte er enttäuscht, doch dann sah er weiter hinten einen Kreiselkompaß, der schräg gegen den Kasten gestellt war. 148
»Ich will noch etwas für meinen Sohn kaufen«, sagte er und ging in den Laden, wo er auf den Kreisel wies und »Bitte« sagte. Nach dem Preis fragte er nicht; er hatte morgens im Hotel zweihundert Francs gewechselt. Der Koffer war bereits gepackt, er mußte ihn nur noch schließen und trug ihn dann selber hinunter. Reeves steckte ihm einen Hundertmarkschein in die Hand, damit er die Hotelrechnung selbst bezahlte; es hätte auffallen können, wenn Reeves das tat. Geld war Jonathan jetzt ganz gleichgültig geworden. Sie kamen zu früh zum Bahnhof. Jonathan wollte im Wartesaal nichts essen, nur Kaffee wollte er, und Reeves bestellte. »Die Gelegenheit müssen Sie selbst finden, das ist mir klar, Jon«, sagte Reeves. »Kann sein, daß es gar nicht geht, ja – aber den Mann müssen wir haben . . . Bleiben Sie in der Nähe vom Speisewagen. Sie können zum Bei spiel im nächsten Wagen auf dem Gang stehen, eine Zigarette rauchen, das müssen Sie sehen . . .« Jonathan trank noch eine Tasse Kaffee. Reeves kauf te ihm einen Daily Telegraph und ein Taschenbuch für die Fahrt. Dann fuhr der Zug ein, glatt und grau-blau ruckelte er sacht über die Schienen. Mozart-Expreß. Reeves spähte nach Marcangelo aus, der hier mit mindestens zwei Leibwächtern einsteigen sollte. Etwa sechzig Leute auf dem Bahnsteig waren im Begriff, den Zug zu besteigen, und ebenso viele stiegen aus. Reeves packte Jonathan am Arm und wies nach vorn. Jonathan stand mit dem Koffer in der Hand neben dem Wagen, in den er gerade einsteigen wollte; die Nummer war auf seiner Fahrkarte vermerkt. Jetzt sah er – ob sie das waren? – die Gruppe der drei Männer, die Reeves meinte: drei untersetzte
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Männer, jeder mit Hut, die zwei Wagen weiter nach vorn jetzt den Zug bestiegen. »Das ist er. Ich hab sogar das Grau im Haar erkannt«, sagte Reeves. »Wo ist der Speisewagen?« Er trat zu rück, um besser sehen zu können, ging weiter nach vorn und kam dann zurück. »Vorne – der Wagen vor dem von Marcangelo.« Der Lautsprecher verkündete jetzt die Zugabfahrt auf französisch. »Haben Sie die Pistole in der Tasche?« fragte Reeves. Jonathan nickte. Als er im Hotel seinen Koffer holte, hatte ihn Reeves daran erinnert, die Waffe in die Tasche zu stecken. »Sie sorgen dafür, daß meine Frau das Geld bekommt, ja? was auch mit mir passiert«, sagte er. »Ich versprech´s Ihnen.« Jonathan drückte ihm den Arm. Zum zweitenmal schrillte die Pfeife und die Türen wur den zugeschlagen. Jonathan stieg ein und blickte sich nicht mehr um; er wußte, daß Reeves ihm mit den Bli cken folgte. Jonathan fand seinen Platz, in dem Achtper sonenabteil saßen nur noch zwei andere Reisende. Die Sitze waren dunkelrot gepolstert. Jonathan stellte den Koffer ins Gepäcknetz und legte den neuen Mantel, zu sammengefaltet und die Innenseite nach außen, oben drauf. Ein junger Mann kam ins Abteil und lehnte sich aus dem Fenster, wobei er sich auf deutsch mit jeman dem auf dem Bahnsteig unterhielt. Die anderen Mitrei senden waren ein Mann mittleren Alters, der in Papiere vertieft war, offensichtlich geschäftliche Sachen, und eine zierliche Frau mit kleinem Hut, die einen Roman las. Jo nathan saß neben dem Geschäftsmann, der den Fens terplatz in Fahrtrichtung hatte. Jonathan schlug seinen Telegraph auf. Es war zwei Uhr elf.
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Draußen glitten die Vororte von München vorüber, Bü rohäuser, Zwiebeltürme. An der Abteilwand gegenüber von Jonathan hingen drei eingerahmte Fotos – ein Schloß, ein See mit ein paar Schwänen, und ein Aus schnitt aus den schneebedeckten Alpen. Der Zug glitt sanft über die Schienen und schaukelte leise. Jonathan schloß halb die Augen, verschränkte die Finger und stützte die Ellbogen auf die Armlehnen, so konnte er bei nahe einschlafen. Es war Zeit genug; er hatte Zeit, einen Entschluß zu fassen, ihn zu ändern, sich wieder umzu besinnen. Marcangelo fuhr wie er selber nach Paris, und dort kam der Zug erst eine Stunde vor Mitternacht, um elf Uhr sieben an. In Straßburg hatten sie kurzen Aufenthalt, etwa um halb sieben, hatte Reeves gesagt. Ein paar Mi nuten vergingen, dann wurde Jonathan wach und sah, daß sich hinter der Abteiltür ein dünner aber regelmäßi ger Strom von Menschen auf dem Gang entlangschob. Ein Mann trat in die Abteiltür mit einem Tablett voller Brötchen, Wein und Bierflaschen. Der junge Mann im Abteil nahm ein Bier. Im Gang stand ein untersetzter Mann, der eine Pfeife rauchte; ab und zu drückte er sich gegen das Fenster um andere vorbeizulassen. Man konnte ja mal an Marcangelos Abteil vorbei schlendern, als ob man in den Speisewagen wollte – nur um sich zu orientieren, dachte Jonathan, aber er brauch te mehrere Minuten, um den Entschluß auszuführen, und rauchte inzwischen eine Gitane. Die Asche ließ er in den Metallbehälter fallen, der unter dem Fenster angebracht war; er tat das sehr vorsichtig, um kein Fleckchen auf die Knie des Mannes mit den Geschäftspapieren fallen zu lassen. Schließlich stand er auf und ging den Gang entlang nach vorne. Die Tür am Ende des Wagens ließ sich nur schwer öffnen. Es kamen noch zwei Türen, bevor er 151
Marcangelos Wagen erreicht hatte. Er ging langsam, mit festen Schritten, weil der Zug sanft und unregelmäßig schwankte, und spähte unauffällig in jedes Abteil. Marc angelos Abteil war sofort zu erkennen, denn Marcangelo saß auf einem Mittelplatz, er schlief und hatte die Hände über dem Magen gefaltet, das Kinn war im Kragen versunken, und deutlich war auch der graue Streifen an der Schläfe zu sehen, der sich aufwärts nach hinten zog. Mit einem Blick nahm Jonathan auch die beiden anderen Männer wahr, offenbar ebenfalls Italiener; sie saßen zu einander vorgebeugt, redeten und gestikulierten. Sonst war, soviel Jonathan im Vorbeigehen sehen konnte, nie mand im Abteil. Er ging zum Ende des Wagens und blieb vor der Wagentür stehen, wo er sich eine Zigarette an zündete und aus dem Fenster blickte. An diesem Wage nende befand sich eine Toilette, die runde Vertiefung ü ber dem Türgriff war jetzt rot, das hieß also Besetzt. Arn gegenüberliegenden Wagenfenster stand ein schlanker Mann mit Glatze, vielleicht wartete er ebenfalls, daß die Toilette frei wurde. Die Idee, hier jemanden umzubringen, war absurd – hier kamen dauernd Leute. Selbst wenn nur der Killer und das Opfer auf der kleinen Plattform waren, mußte doch in wenigen Sekunden jemand kommen. Der Zug war keineswegs laut, und wenn ein Mann aufschrie, selbst wenn er schon die Schlinge um den Hals hatte, mußten ihn nicht die Leute im nächsten Abteil unter allen Umständen hören? Ein Mann und eine Frau kamen jetzt aus dem Speise wagen. Sie traten in den Gang und ließen die Tür hinter sich offen, die jedoch sofort von einem Kellner in weißer Jacke geschlossen wurde. Jonathan ging den Gang zurück und blickte noch ein mal in Marcangelos Abteil, diesmal ganz kurz. Der Italie
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ner saß, fett vornübergeneigt, redete und rauchte eine Zigarette. Wenn es geschah, so mußte es vor Straßburg ge schehen, überlegte Jonathan. Sicher stiegen in Straß burg viele Leute zu, die auch nach Paris wollten. Aber darin konnte er sich natürlich irren. In etwa einer halben Stunde mußte er seinen Mantel anziehen, hinausgehen, sich am Ende von Marcangelos Wagen aufstellen und warten, bis er kam. Und wenn er nun die Toilette am an deren Wagenende benutzte? An beiden Wagenausgän gen war je ein WC. Und wenn er überhaupt nicht hin ging? Auch das war möglich, wenn auch nicht sehr wahr scheinlich. Und wenn die Italiener nun einfach keine Lust hatten, zum Essen in den Speisewagen zu gehen? Nein, sie würden sicher gehen, aber dann alle drei zusammen. Wenn also nichts zu machen war, dann mußte sich Ree ves etwas anderes einfallen lassen, einen besseren Plan machen. Fest stand nur eins: Marcangelo oder jemand gleichwertiges mußte umgebracht werden, und zwar von ihm, Jonathan, wenn er mehr Geld haben wollte. Kurz vor vier Uhr zwang sich Jonathan aufzustehen und vorsichtig seinen Mantel vom Koffer herunterzuneh men, den er im Gang anzog. Die rechte Tasche war schwer. Dann ging er mit dem Taschenbuch den Gang hinauf und stellte sich vor die Wagentür am Ende des Wagens, in dem Marcangelo saß.
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Diesmal warf Jonathan keinen Blick in das Abteil der Ita liener, als er vorbeiging, doch sah er aus dem Augenwin kel mehrere Männer im Abteil stehen, sie schienen einen Koffer herunterzuholen, oder sie balgten sich im Scherz. Er hörte sie lachen. Einen Augenblick später stand Jonathan angelehnt gegen eine metallgerahmte Karte von Mitteleuropa, vor sich die halbverglaste Gangtür. Durch die Scheibe sah er, wie ein Mann näher kam und die Tür aufstieß. Er sah aus wie einer der Leibwächter, ein Dreißiger mit dunklem Haar, kräftiger Figur und dem mißmutigen Ausdruck, der darauf hindeutete, daß er eines Tages einer schlechtge launten Kröte gleichen würde. Jonathan dachte an die Fotos auf dem Schutzumschlag der Schnitter des Un heils. Der Mann ging auf die Toilette zu und trat ein. Jo nathan blickte weiter in sein geöffnetes Buch. Nach ganz kurzer Zeit kam der Mann wieder heraus und ging in den Gang zurück. Jonathan merkte, daß er den Atem angehalten hatte. Wenn das nun Marcangelo gewesen wäre, hätte er da nicht die einzigartige Gelegenheit gehabt, als kein Mensch aus dem Gang und aus dem Speisewagen vor beikam? Er hätte ja genau so hier gestanden und so ge tan, als lese er, wenn es tatsächlich Marcangelo gewe sen wäre. Seine rechte Hand in der Tasche schob den Sicherheitshebel auf und ab. Was hatte er schließlich zu riskieren? Was hatte er zu verlieren? Nicht mehr als sein eigenes Leben. Marcangelo konnte jetzt jeden Augenblick kommen, die Gangtür aufstoßen, und dann – es konnte doch ge nau so vor sich gehen wie neulich in Hamburg, in der 154
Untergrundbahnstation. Oder nicht? Und die nächste Ku gel dann für sich selber. Oder auch anders: er sah sich Marcangelo erschießen und die Pistole sofort aus der Tür neben der Toilette hinauswerfen, oder aus dem Fenster – es sah aus, als ließe es sich öffnen – und dann ruhig in den Speisewagen gehen, einen Platz suchen und etwas bestellen. Alles ganz unmöglich. Ich werd erst mal was trinken, dachte er und ging in den Speisewagen, wo noch viele Tische frei waren. Auf der einen Seite standen Tische für vier, auf der anderen für zwei Personen. Jonathan nahm an einem der kleinen Tische Platz und bestellte, als der Kellner herantrat, ein Bier, das er gleich in Wein umänderte. »Weißwein, bitte«, sagte er auf deutsch. Eine Viertelflasche kühler Riesling erschien. Hier klang das klucke-di-kluck der Räder viel gedämpfter, luxuriöser. Das Fenster war größer und doch irgendwie privat, und der Wald draußen – war es der Schwarzwald? – sah durch diese Scheiben phantastisch grün und dicht aus, mit zahllosen hohen Tannen. Sie schienen in Deutsch land so viel Wald und Holz zu haben, daß sie nichts zu schlagen brauchten. Nirgends sah man Papier herumlie gen, und ebenso war kein Mensch zu sehen, der sich um Papier oder Abfälle kümmerte, was Jonathan erstaunte. Wer besorgte in Deutschland das Aufräumen und wann? Jonathan versuchte, sich mit dem Wein Mut anzutrinken. Irgendwo war ihm der Schwung abhanden gekommen, den mußte er nur zurückgewinnen. Er trank den Rest Wein, als sei es ein letzter pflichtgemäßer Schluck, zahlte und zog den Mantel wieder an, den er auf den gegenü berliegenden Stuhl gelegt hatte. Los jetzt. Er ging jetzt hin und wartete am Wagenende, bis Marcangelo er
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schien, und dann feuerte er – egal ob der Mann allein kam oder mit zwei Leibwächtern. Jonathan hielt vor der Tür zum Speisewagen und schob sie zurück. Wieder stand er in dem kleinen Vor raum, lehnte sich an die Landkarte und blickte in das dumme Taschenbuch . . . Ob Elaine etwas ahnte? dachte David. Verzweifelt ging er in Gedanken . . . Jonathans Blicke wanderten über die Buchstaben wie die Augen eines Analphabeten. Ihm fiel etwas ein, an das er schon vor Tagen einmal gedacht hatte. Simone würde das Geld nicht annehmen, wenn sie erfuhr, wofür er es bekommen hatte, und das mußte sie ja erfahren, wenn er sich hier im Zug erschoß. Oder ob Reeves oder sonst jemand sie vielleicht überreden, überzeugen konnte, daß das, was er getan hatte, eigentlich doch kein Mord war? Jetzt mußte er fast lachen – es war ganz hoffnungslos. Was machte er noch hier? Er konnte doch einfach weitergehen, zu rück zu seinem Platz im Abteil. Ein Mann kam den Gang herauf. Jonathan blickte auf und blinzelte ungläubig. Der Mann, der da auf ihn zukam, war Tom Ripley. Tom schob die halbverglaste Tür auf und lächelte leicht. »Jonathan«, sagte er leise, »geben Sie mir das Ding her, ja? Die Schlinge meine ich.« Er stand neben Jonathan und blickte aus dem Fenster. Der Schreck lahmte Jonathan. Auf welcher Seite stand Tom Ripley – auf Marcangelos? Er fuhr zusammen, als jetzt drei Männer im Gang erschienen. Tom schob sich etwas näher an Jonathan, um ihnen Platz zu machen. Die Männer sprachen deutsch und gingen weiter in den Speisewagen. Über die Schulter sagte Tom: »Die Schnur. Wir wollen es mal versuchen, einverstanden?«
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Jonathan begriff, wenigstens teilweise. Ripley war ein Freund von Reeves; er kannte Reeves´ Plan. Jonathan hatte die Hand in der Hosentasche und knetete die Schnur zusammen, dann zog er die Hand heraus und schob die Schlinge in Toms bereitgehaltene Hand. Er sah Tom dabei nicht an und merkte, wie ein Gefühl der Erleichterung in ihm aufstieg. Tom schob die Schlinge in seine rechte Jackentasche. »Bleiben Sie hier stehen, vielleicht brauche ich Sie.« Er ging zur Toilette hinüber, sah, daß sie frei war und trat ein. Innen schloß er die Tür ab und besah sich die Schnur – sie war nicht mal zur Schlinge gezogen. Er zog sie zurecht und steckte die fertige Schlinge vorsichtig in die rechte Jackentasche. Ein leichtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Weiß wie ein Bettlaken war Jona than geworden! Tom hatte vorgestern Reeves angerufen und von ihm erfahren, daß Jonathan kommen wollte, sich aber vermutlich für die Pistole entscheiden werde. Jona than mußte also jetzt eine Pistole bei sich haben, und hier im Zug, in dieser Situation, hielt Tom eine Schußwaf fe für ganz unmöglich. Er trat auf das Pedal, hielt die Hände unter den Was serstrahl, schüttelte sie und fuhr sich mit den Handflä chen über das Gesicht. Jetzt wurde er selber nervös – sein erstes Unternehmen bei der Mafia! Tom hatte gleich das Gefühl gehabt, daß Jonathan diese Sache womöglich verpatzen werde, und da er ihn da hineingebracht hatte, war es wohl nicht mehr als billig, daß er ihm heraushalf. Er war also gestern nach Salz burg geflogen und war dort heute in den Zug eingestie gen. Er hatte Reeves obenhin gefragt, wie Marcangelo aussähe; Reeves würde wohl kaum annehmen, daß Tom im gleichen Zug saß, denn Tom hatte ihm auch noch ge sagt, er halte seinen Plan für ganz hirnverbrannt, und ihm 157
geraten, er solle Jonathan die Hälfte des Betrages zahlen und für den zweiten Teil jemand anderen finden, wenn ihm daran lag, daß es gelänge. Aber Aufgeben – das war nichts für Reeves; der war in dieser Beziehung wie ein kleiner Junge, der ein selbsterfundenes Spiel spielte, ein strenges Spiel mit strikten Regeln – für andere. Deshalb hatte sich Tom entschlossen, Trevanny zu helfen, und daß es dabei um die Mafia ging, war ihm besonders will kommen. Ha – ein großer Mafioso! Vieleicht sogar zwei Mafiosi! Tom haßte die Mafia. Er haßte ihre Drohungen und Erpressungen, ihre Kirchenfrömmigkeit, die Feigheit, mit der sie die Drecksarbeit stets von den kleinen Leuten ausführen ließen, so daß das Gesetz die Großen niemals fassen konnte, weil ihnen nie etwas anderes als Steuer hinterziehung oder ähnlicher Kleinkram nachzuweisen war. Verglichen mit den Mafiosi kam sich Tom geradezu hochmoralisch vor. Bei diesem Gedanken mußte er laut auflachen; das Lachen hallte wider in dem kleinen mit Fliesen ausgekleideten Raum, in dem er stand. (Viel leicht wartete jetzt gerade Marcangelo draußen vor der Tür!) Ja, es gab viele Leute, die unehrlicher, korrupter und viel erbarmungsloser waren als Tom Ripley: nämlich die Mafiosi, dieser Schub von liebenswürdigen, ewig schwatzenden Familien, die angeblich gar nicht existier ten, so behauptete jedenfalls die Italo-amerikanische Li ga, die sie als Phantasieprodukt der Romanschriftsteller hinstellte. Selbst die Wunder der Kirche beim Fest von San Gennaro, wo das Blut aus den Wunden der Heiligen figuren floß und kleine Mädchen die Jungfrau Maria leib haftig vor sich sahen: das alles war angeblich wirklicher, realer als die Mafia! Ach, zum Teufel. Tom spülte sich den Mund, spuckte das Wasser ins Becken, spülte nach, schloß die Tür auf und trat hinaus. 158
Auf dem Platz vor der Tür stand kein Mensch außer Jonathan Trevanny; er rauchte eine Zigarette, die er je doch sofort fallen ließ – wie ein Soldat, der sich unter den Augen des vorgesetzten Offiziers keine Nachlässigkeit erlaubt. Tom lächelte ihm beruhigend zu und stellte sich an das Fenster neben Jonathan. »Sind sie jetzt gerade vorbeigekommen?« Tom hatte absichtlich nicht durch die beiden Türen in den Speise wagen geblickt. »Nein.« »Vielleicht müssen wir bis nach Straßburg warten, a ber ich hoffe nicht.« Eine Frau kam aus dem Speisewagen; sie konnte of fenbar die Türen nur mit Mühe öffnen, und Tom sprang hinzu und öffnete ihr die zweite. »Danke schön«, sagte sie, und Tom erwiderte: »Bitte.« Er trat auf die andere Seite des Vorplatzes und zog eine Herald-Tribune aus der Tasche. Es war 5.11 Uhr; um 6.33 sollten sie in Straßburg ankommen. Vermutlich, dachte Tom, hatten die Italiener zum Lunch reichlich gegessen und gingen deshalb jetzt nicht in den Speisewagen. Ein Mann kam und ging in die Toilette. Jonathan tat wieder so, als lese er in seinem Ta schenbuch, aber als er merkte, daß Tom ihn ansah, blick te er auf und sah, daß Tom lächelte. Als der Mann aus dem WC kam, trat Tom neben Jonathan. Ein paar Meter weiter unten im Gang standen zwei Männer und blickten aus dem Fenster, einer rauchte eine Zigarre, und keiner beachtete ihn und Jonathan. »Ich werde versuchen, ihn da drinnen zu kriegen, im WC«, sagte Tom jetzt. »Dann müssen wir ihn da aus der Tür hieven.« Er deutete mit dem Kopf auf die Wagentür neben der Toilette. »Wenn ich mit ihm da drinnen bin, 159
müssen Sie zweimal an die Tür klopfen, sobald die Luft rein ist, dann schmeißen wir ihn so schnell wie möglich raus.« Nachlässig zündete sich Tom eine Gauloise an, dann gähnte er betont langsam. Jonathans Angst, die ihren Höhepunkt erreicht hatte, während Tom in der Toilette war, legte sich etwas. Tom wollte es also machen; den Grund dafür konnte sich Jo nathan in diesem Augenblick nicht vorstellen. Vielleicht – auch das war möglich – hatte Tom vor, die Sache zu verpatzen und sie dann Jonathan in die Schuhe zu schieben. Nein – wozu? Wahrscheinlich wollte er einen Teil des Geldes haben, vielleicht den ganzen Rest. Das war Jonathan jetzt alles egal, es spielte keine Rolle. Er sah, wie ein besorgter Ausdruck in Toms Gesicht trat. Er lehnte sich gegen die Wand gegenüber dem WC und hielt die Zeitung in der Hand, aber er las nicht. Und dann sah Jonathan zwei Männer näherkommen. Der zweite war Marcangelo. Der erste war keiner der beiden Italiener. Jonathan blickte zu Tom hinüber, der sofort aufsah, und nickte einmal. Der erste Mann sah sich suchend auf dem kleinen Vorplatz um, erblickte das WC und trat hinein. Marcange lo ging an Jonathan vorbei, sah das Besetztzeichen an der Tür, wandte sich um und ging in den Gang zurück. Jonathan sah, wie Tom grinste und mit dem rechten Arm eine kreisende Bewegung machte, als wollte er sagen: »Verdammt, der ist uns entwischt.« Marcangelo stand jetzt, deutlich sichtbar, nur wenige Meter entfernt wartend im Gang und sah aus dem Fens ter. Jonathan fiel etwas ein: die beiden Leibwächter, die in der Mitte des Wagens saßen, wußten nicht, daß Marc angelo hatte warten müssen; die etwas längere Zeit spanne mußte also ihren Argwohn wecken, wenn er nicht zurückkam. Jonathan nickte leicht zu Tom hinüber, hof 160
fentlich verstand Tom, was das heißen sollte: daß näm lich Marcangelo ganz in der Nähe war und wartete. Der fremde Mann kam aus der Toilette und ging zu rück in sein Abteil. Jetzt trat Marcangelo heran; Jonathan warf Tom einen Blick zu, aber Tom war in seine Zeitung versunken. Tom wußte, daß die untersetzte Gestalt, die jetzt nä herkam, Marcangelo war, doch er blickte nicht von der Zeitung auf. Dicht vor ihm öffnete Marcangelo die Tür zur Toilette, und Tom sprang vor, wie ein Mann, der zuerst hinein will, doch im selben Moment warf er blitzartig dem Italiener die Schlinge über den Kopf, wobei er hoffte, der Schrei werde dem anderen in der Kehle steckenbleiben, als er ihn jetzt, mit bösartigem Ruck an der Schlinge, in den kleinen Raum hineinstieß und die Tür schloß. Noch ein grimmiger Ruck an der Schnur – sicher hatte Marc angelo diese Methode in seiner besten Zeit mehr als einmal angewendet – und Tom sah, wie das Nylonseil in dem fleischigen Nacken verschwand; er hielt es hinter dem Kopf fest und zog es durch eine weitere Drehung noch strammer. Mit der linken Hand schob er den Hebel um, der die Tür verschloß. Marcangelos ersticktes Gur geln ließ nach, die Zunge kam zwischen den gräßlich nassen Lippen hervor, die Augen schlossen sich verzagt und öffneten sich wieder, schreckerfüllt, mit dem leeren verständnislosen Blick des Sterbenden. Die Unterkiefer prothese fiel scheppernd auf den Fliesenboden. Tom hat te das Gefühl, als seien sein Daumen und Zeigefinger fast durchgeschnitten durch die Kraft, die er beim Halten der Schlinge aufwenden mußte; doch der Schmerz lohn te sich. Marcangelo war auf den Boden gerutscht und wurde durch die Schlinge in Toms Hand in halb sitzender Stellung gehalten. Er war jetzt ohne Bewußtsein, und Tom hielt es für ausgeschlossen, daß er noch atmete. 161
Tom nahm das Gebiß und warf es in das Toilettebecken; mit dem Fuß erreichte er das Pedal, das das Becken leerte. Angewidert wischte er sich die Finger an Marcan gelos gepolsterter Schulter ab. Jonathan hatte gesehen, wie der Verschlußhebel auf Rot gestellt wurde. Die Stille machte ihm Angst. Wie lan ge konnte es dauern? Was geschah da drinnen? Wieviel Zeit war verstrichen? Immer wieder ging sein Blick durch die Türscheibe in den Wagengang. Jetzt kam ein Mann aus dem Speisewagen; er wollte in die Toilette, sah das Besetztzeichen und ging weiter in den Gang. Jeden Augenblick, dachte Jonathan, konnten jetzt die Leibwächter erscheinen, wenn Marcangelo auch nur ein wenig länger als normal ausblieb. Im Augenblick war die Luft rein – sollte er klopfen? Marcangelo mußte doch jetzt tot sein. Jonathan trat an die Tür und klopfte zweimal. Tom kam gelassen heraus, schloß die Tür und warf einen Blick ringsum. Jetzt trat eine Dame in rötlichem Tweedkostüm auf den kleinen Vorplatz – eine kleine Frau mittleren Alters, die ganz offensichtlich zur Toilette wollte, wo an der Tür der Hebel auf Frei stand. »Entschuldigen Sie«, sagte Tom, »ein Freund von mir ist da drinnen – ihm ist übel.« »Wie bitte?« »Mein Freund ist da drin – ihm ist übel. Entschuldigen Sie, gnädige Frau. Er kommt sofort heraus.« Sie nickte freundlich lächelnd und ging in den Gang zurück. »Okay – helfen Sie mir jetzt!« flüsterte Tom und trat vor die Tür der Toilette. »Da kommt einer«, sagte Jonathan. »Einer von den I talienern.«
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»Verdammt.« Der Italiener würde womöglich einfach vor der Tür warten, dachte Tom, wenn er selber jetzt hi neinging und die Tür verschloß. Der Italiener, fahlblaß, etwa dreißigjährig, warf einen Blick auf Jonathan und Tom und dann auf die Tür, deren Verschluß auf Frei stand. Er ging weiter in den Speise wagen – zweifellos, um sich dort nach Marcangelo um zusehen. Tom fragte Jonathan: »Wenn ich zuerst zuschlage, können Sie ihm dann eins mit der Pistole versetzen?« Jonathan nickte. Die Pistole war zwar klein, aber Jona than merkte, wie endlich sein Mut zurückkehrte. »Sie müssen zuschlagen, als ob es ums Leben gin ge«, fügte Tom hinzu. »Was es vielleicht auch wirklich tut.« Der Leibwächter kam jetzt mit etwas schnelleren Schritten aus dem Speisewagen zurück. Tom stand links von ihm; er packte ihn plötzlich vorn am Hemd und riß ihn zur Seite, so daß er vom Speisewagen aus nicht mehr zu sehen war, dann versetzte er ihm einen Schlag aufs Kinn, dem ein zweiter Schlag mit der linken Faust in die Magengrube folgte. Jonathan hatte die Pistole in der Hand und ließ den Griff mit voller Wucht auf den Hinter kopf des Mannes krachen. »Die Tür!« sagte Tom mit einer Kopfbewegung, wäh rend er versuchte, den Italiener zu halten, der nach vorn sackte. Er war nicht bewußtlos, die Arme ruderten schwach hin und her, aber Jonathan hatte schon die Wagentür aufgerissen, und Toms Instinkt riet ihm, nicht eine Sekunde mehr zu verlieren und den Mann schnells tens hinauszuwerfen. Das Geräusch der Räder war plötz lich viel lauter geworden. Schiebend und mit den Füßen tretend, brachten sie den Mann an den Türeingang, ein letzter Stoß – und er war draußen. Tom verlor dabei das 163
Gleichgewicht und wäre hinausgefallen, hätte ihn nicht Jonathan an der Jacke festgehalten. Bang! Die Tür war wieder zu. Jonathan fuhr sich mit den Fingern durch das wirre Haar. Tom wies ihn durch eine Handbewegung an, auf die andere Seite der Plattform zu treten, wo er den Gang übersehen konnte. Jonathan ging hinüber, und Tom sah, wie er sich zusammennahm und versuchte, wie ein nor maler Reisender auszusehen. Fragend hob Tom die Augenbrauen, und Jonathan nickte. Mit einem Satz verschwand Tom in der Toilette und schob den Hebel um; Jonathan würde hoffentlich so viel Verstand haben, daß er noch einmal klopfte, wenn die Luft rein war. Marcangelo lag zusammengesackt auf dem Boden, der Kopf neben dem Beckenpedal, das Ge sicht von bläulicher Blässe. Tom wandte den Blick ab; jetzt hörte er draußen ein Geräusch, das waren die Spei sewagentüren, und dann endlich zwei Klopftöne. Diesmal öffnete er die Tür nur einen Spalt. »Scheint in Ordnung«, sagte Jonathan. Mit dem Fuß schob Tom die Tür auf, vorbei an Marc angelos Schuhen, die an die Tür stießen, und machte Jonathan ein Zeichen, die Wagentür zu öffnen. Was zu tun blieb, taten sie gemeinsam. Jonathan mußte Tom beim Anfassen des schweren Italieners helfen, sonst hät te sich die Tür nicht ganz öffnen lassen, sie schwang immer wieder zu durch den Fahrtwind. Mit dem Kopf zu erst warfen sie ihn hinaus, er überschlug sich und fiel kopfüber nach unten; der letzte Fußtritt von Tom berührte ihn nicht mehr, der Körper war auf die geschotterte Bö schung gefallen – sie war so nahe, daß Tom einzelne Steine und Grashalme erkennen konnte. Er hielt jetzt Jo nathans rechten Arm fest, während Jonathan nach dem Türgriff langte und die Tür wieder schloß. 164
Schweratmend machte Tom auch die Tür zur Toilette wieder zu und versuchte, ruhig zu erscheinen. »Gehen Sie jetzt auf Ihren Platz zurück, und dann steigen Sie in Straßburg aus«, sagte er. »Die werden sich jeden hier im Zug genau ansehen.« Nervös tätschelte er Jonathans Arm. »Alles Gute, Jon.« Er blickte Jonathan nach, wie er die Tür zum Gang aufmachte und durchging. Dann wandte Tom sich um und wollte in den Speise wagen gehen, doch gerade kam eine Gruppe von vier Leuten heraus, und er mußte zur Seite treten, als sie schwatzend und lachend durch die beiden Türen schrit ten. Schließlich konnte er hinein und nahm am ersten leeren Tisch Platz, und zwar so, daß er die Tür, durch die er gerade gekommen war, im Auge behalten konnte. Jeden Augenblick mußte jetzt der zweite Leibwächter kommen. Er nahm die Speisekarte und besah sich das Menü. Kohlsalat, Zunge, Gulaschsuppe . . . Die Karte war in Französisch, Englisch und Deutsch gehalten. Jonathan ging den Gang von Marcangelos Wagen ent lang und sah sich dort dem zweiten Leibwächter gegen über, der ihn grob anstieß bei dem Versuch vorbeizuge hen. Jonathan war ganz froh, daß er noch etwas benommen war, sonst hätte er womöglich bei dem physi schen Zusammenstoß sehr heftig reagiert. Jetzt hörte man ein langes Pfeifsignal und dann zwei kürzere. Hatte das etwas zu bedeuten? Er fand seinen Sitz und setzte sich, ohne den Mantel auszuziehen und ohne einen der vier Mitreisenden im Abteil anzusehen. Auf seiner Uhr war es jetzt fünf Uhr einunddreißig. Es war kurz nach fünf gewesen, als er zuletzt nach der Uhr gesehen hatte: es kam ihm wie eine Stunde oder noch mehr vor. Er wand sich innerlich, schloß die Augen, räusperte sich, während er sich vorstellte, wie Marcangelo und der Leibwächter unter die Räder geraten waren und in Stücke zerfetzt 165
wurden. Vielleicht waren sie gar nicht unter die Räder gekommen. War der Leibwächter überhaupt tot? Viel leicht wurde er gerettet, dann konnte er ihn und Tom Rip ley genau beschreiben. Warum hatte Tom Ripley ihm wohl geholfen? Konnte man es überhaupt Hilfe nennen? Was versprach er sich davon? Er war jetzt in Ripleys Hand, das erkannte er. Aber Ripley wollte sicher nur Geld. Oder doch etwas anderes, viel Schlimmeres? Er pressung? Erpressung hatte viele Formen. Ob er versuchen sollte, heute abend in Straßburg ein Flugzeug nach Paris zu bekommen, oder war es besser, in einem Hotel in Straßburg zu übernachten? Was war sicherer? Wovor eigentlich sicherer, vor der Polizei oder vor der Mafia? Womöglich hatte ein Mitreisender, der gerade aus dem Fenster schaute, gesehen, wie ein Kör per – vielleicht sogar zwei – aus dem Zug fielen? Oder waren die beiden Körper so nahe am Zug herausgefal len, daß man sie nicht sehen konnte? Wenn jemand was gesehen hätte, so hätte der Zug nicht angehalten, son dern die Meldung wäre durch Funk weitergegeben wor den. Sicher, so wurde das gemacht. Jonathan behielt den Gang im Auge, falls irgendein Zugwächter auftauch te oder sonst irgend etwas Ungewöhnliches geschah, aber er sah nichts. Tom saß in diesem Augenblick, nachdem er Gulasch suppe und eine Flasche Carlsberg bestellt hatte, vor sei ner Zeitung, die er gegen das Senfglas gestellt hatte, und knabberte an einem frischen Brötchen. Er amüsierte sich im stillen über den aufgeregten Italiener, der zuerst ge duldig vor der besetzten Toilette gewartet hatte, aus der schließlich zu seiner Überraschung eine Frau heraus kam. Jetzt spähte er schon zum zweitenmal suchend durch die beiden Glastüren in den Speisewagen. Und nun kam er herein, gab sich gelassen und suchte mit den 166
Augen überall nach seinem Capo oder dem Kumpel oder beiden. Er ging durch den ganzen Wagen, als erwarte er, Marcangelo irgendwo unter einem Tisch ausgestreckt oder im Gespräch mit dem Küchenchef am anderen Wa genende zu finden. Tom hatte nicht aufgeblickt, als der Italiener vorbei ging, aber seinen Blick hatte er gefühlt. Jetzt riskierte er einen Blick über die Schulter, wie ein Fahrgast, der auf sein bestelltes Essen wartet, und sah den Leibwächter – dunkelblond, gelockte Haare, Nadelstreifenanzug, breite rote Krawatte – weiter hinten im Wagen mit einem Kellner reden. Der Kellner hatte keine Zeit, er schüttelte den Kopf und schob sich mit seinem Tablett an ihm vorbei. Der Leibwächter kam wieder auf dem Gang zwischen den Tischen zurück und ging hinaus. Die pfefferrote Suppe erschien, zusammen mit dem Bier. Tom war hungrig, er hatte nur wenig Frühstück ge gessen in seinem Salzburger Hotel heute morgen. Dies mal war er nicht im Goldenen Hirsch abgestiegen, denn dort kannten sie ihn. Er war nach Salzburg und nicht nach München geflogen, weil er es vermeiden wollte, auf dem Bahnhof mit Reeves und Jonathan Trevanny zu sammenzustoßen. In Salzburg hatte er Zeit gehabt, für Heloise eine grüne Lederjacke mit grünem Filzbesatz zu kaufen, die er bis zu ihrem Geburtstag im Oktober ver stecken wollte. Er hatte zu Heloise gesagt, er wolle sich in Paris eine oder zwei Kunstausstellungen ansehen und werde eine Nacht, vielleicht auch zwei Nächte, fortblei ben, und da das nichts Ungewöhnliches war – er wohnte dann meist im Intercontinental oder im Ritz oder im Pont Royal –, hatte sie sich auch nicht weiter gewundert. In Wahrheit wechselte er die Hotels, damit Heloise, wenn sie ihn in Paris glaubte und er gar nicht dort war, sich nicht beunruhigte, falls sie ihn etwa im Intercontinental 167
telefonisch nicht erreichen konnte. Er hatte auch jetzt sein Flugticket in Orly gekauft, und nicht bei einem der Reisebüros in Fontainebleau oder Moret, wo man ihn kannte, und hatte seinen falschen Paß mitgenommen, den ihm Reeves im letzten Jahr verschafft hatte: Robert Fiedler Mackay, Amerikaner, Ingenieur, ledig, geboren in Salt Lake City. Ihm war der Gedanke gekommen, daß die Mafia, wenn sie sich anstrengte, sich sehr wohl die Liste der Fahrgäste des Zuges beschaffen konnte. Ob er bei der Mafia auf der Liste der beachtenswerten Leute stand? Er wußte nicht recht, ob das nicht zuviel Ehre war, aber irgendeiner aus Marcangelos Familie hatte vielleicht schon mal Tom Ripleys Namen in der Zeitung gelesen. Kein wichtiger Name, nicht viel daraus zu machen, auch nicht weiter vielversprechend für Erpressungen, doch immerhin ein Mann an der Grenze des Gesetzes. Aber dieser Leibwächter hatte den kräftigen jungen Mann in der Lederjacke, der an einem Tisch auf der an deren Gangseite saß, viel länger gemustert als Tom. Vielleicht war doch alles in Ordnung. Jonathan Trevanny brauchte jetzt jemand, der ihn be ruhigte, ihm weiterhalf. Trevanny nahm bestimmt an, er wolle Geld von ihm haben, ihn irgendwie unter Druck setzen. Tom mußte leise lachen (er blickte immer noch in seine Zeitung, es konnte auch Art Buchwald sein, über den er sich amüsierte), als er an Trevannys Gesicht dachte, in dem Moment, da Tom auf dem Gang erschien, und an sein Erstaunen, als er begriff, daß Tom ihm hel fen wollte. Tom hatte sich zu Hause die Sache lange ü berlegt und beschlossen, ihm bei dem häßlichen Unter nehmen zu assistieren, damit Jonathan wenigstens das Geld bekam, das man ihm versprochen hatte. Es war nämlich so, daß Tom ein etwas schlechtes Gewissen hatte, weil er Jonathan hier hereingeritten hatte; wenn er 168
ihm jetzt half, so würde das sein Gewissen erleichtern. Ja, wenn alles gut ging, so würde Trevanny aus dieser Sache als ein viel glücklicherer Mensch herauskommen, dachte Tom, der viel von positivem Denken hielt. Nicht das beste hoffen, sondern das beste denken mußte man, dann kam schon alles zurecht. Er mußte Trevanny nochmal sprechen und ihm einiges erklären, und vor al lem sollte Trevanny alles mit dem Mord an Marcangelo auf sich nehmen, damit er von Reeves den Rest des Geldes bekam. Keiner durfte ihn und Trevanny für Freunde halten, das war sehr wichtig. Sie durften auch gar keine Freunde werden. (Was wohl Trevanny jetzt machte, falls der zweite Leibwächter den ganzen Zug durchstreifte?) Die teure Mafia würde versuchen, den oder die Killer aufzuspüren. Häufig brauchte sie Jahre zu so was, aber aufgeben tat sie nie. Auch wenn der Ge suchte nach Südamerika floh, konnten sie ihn kriegen, das wußte Tom. Doch es schien ihm, daß im Augenblick die Gefahr für Reeves Minot größer war als für ihn selber oder Trevanny. Morgen früh konnte er Trevanny in seinem Geschäft anrufen. Oder morgen nachmittag, falls er heute nicht mehr nach Paris kam. Tom zündete sich eine Gauloise an und betrachtete die Frau in dem rötlichen Tweedkos tüm, die er und Trevanny vorhin schon gesehen hatten. Sie saß sinnend am Tisch und aß einen appetitlich an gemachten Salat aus Gurken und Tomaten. Tom war ganz euphorisch. Jonathan verließ in Straßburg den Zug. Er hatte den Eindruck, als wären hier mehr Polizisten als sonst zu se hen, vielleicht sechs anstatt der üblichen zwei oder drei. Der eine Beamte schien jemand anzuhalten und seine Papiere zu prüfen. Oder hatte der Mann einfach nach dem Weg gefragt, und der Cop sah im Straßenverzeich 169
nis nach? Jonathan hielt seinen Koffer in der Hand und trat aus dem Bahnhof. Er hatte beschlossen, heute in Straßburg zu übernachten – warum, das hätte er nicht sagen können, es kam ihm einfach sicherer vor als Paris heute abend. Der zweite Leibwächter war vermutlich nach Paris weitergefahren, um dort seine Freunde zu treffen – außer wenn er zufällig in diesem Moment Jona thans Spur verfolgte und schon die Pistole in der Hand hielt für den Schuß in den Rücken. Jonathan fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Plötzlich war er todmüde. An einer Straßenkreuzung setzte er den Koffer am Bordstein ab und sah sich in der fremden Umgebung um. Es war ein belebter Platz mit viel Autoverkehr und zahlreichen Fußgängern. Zwanzig Minuten vor sieben, sicher die Hauptverkehrszeit in Straßburg. Ob er im Hotel besser einen falschen Namen angab? Wenn er einen falschen Namen eintrug und irgendeine falsche Nummer dazu setzte, fragte kein Mensch nach seinem richtigen Aus weis. Dann wurde ihm jedoch klar, daß eine solche fal sche Angabe ihn noch viel unruhiger machen würde. Langsam kam es ihm zum Bewußtsein, was er getan hat te, und einen Augenblick wurde ihm schwindlig. Er nahm den Koffer und ging weiter. Die Pistole wog schwer in der Manteltasche, aber er hatte Angst, sie in ein Abflußrohr oder in einen Mülleimer fallen zu lassen. Er sah es kom men, daß er weiterfuhr nach Paris, weiter nach Hause, die Stufen hinaufstieg und die Pistole immer noch in der Tasche trug.
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Tom holte den grünen Renault Kombi, den er in Paris nahe der Porte d´Italie abgestellt hatte, und fuhr noch in der Nacht nach Villeperce zurück. Kurz vor ein Uhr war er zu Hause. Vorne war alles dunkel, aber als er mit dem Koffer die Treppe hinaufstieg, sah er zu seiner Freude hinten in Heloises Eckzimmer Licht und ging hinein zu ihr. »Endlich! Wie war´s in Paris? Was hast du gemacht?« Heloise, in grünseidenem Pyjama, hatte die rosa Dau nendecke bis zur Taille hochgezogen. »Ach, heute abend war ein mieser Film.« Tom erkann te das Buch, das sie las, er hatte es für sie gekauft, es war ein Buch über die sozialistische Bewegung in Frank reich. Nicht gerade ein Mittel, um sich bei ihrem Vater beliebt zu machen, dachte er. Heloise äußerte häufig recht linke Ansichten und dachte nicht im Traum daran, sie in die Tat umzusetzen. Aber sie ließ sich doch wohl langsam von ihrem Mann immer weiter nach links schie ben, dachte Tom. Mit der einen Hand schiebt man, mit der anderen nimmt man – so war das nun mal. »Hast du Noelle gesehen?« fragte Heloise. »Nein, warum?« »Sie hatte eine Dinnerparty, heute abend glaube ich, und sie brauchte noch einen Mann. Sie hat uns natürlich beide eingeladen, aber ich hab ihr gesagt, du wärst wahrscheinlich im Ritz, sie sollte dich anrufen.« »Ich war diesmal im Grillon«, sagte Tom liebevoll. Wie gut sie duftete – eine Mischung von Eau de Cologne und Nivea, und er selber war noch so unsauber nach der lan gen Eisenbahnfahrt. »Sonst alles all right hier?«
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»Ja, sehr all right«, sagte Heloise. Es klang fast ver führerisch, aber er wußte, so war es nicht gemeint. Sie meinte nur, der Tag sei schön und nicht irgendwie be sonders gewesen, und sie war froh und zufrieden. »Ich möchte erst mal duschen. In zehn Minuten bin ich bei dir.« Tom ging hinüber in sein eigenes Badezimmer, wo über der Wanne eine Deckenbrause angebracht war, nicht so eine Handbrause wie bei Heloise. Etwas später, nachdem er die österreichische Jacke für Heloise in der untersten Schublade unter seinen Pul lovern versteckt hatte, lag Tom schläfrig neben Heloise im Bett, zu müde, um noch L´Express anzusehen. Ob L´Express wohl nächste Woche ein Bild von einem der beiden Mafiosi, oder von beiden, neben den Schienen, bringen würde? Und der Leibwächter? Ob er tot war? Tom hoffte inständig, daß er unter die Räder geraten war, denn er war wahrscheinlich nicht tot gewesen, als sie ihn hinauswarfen. Und Jonathan – der hatte ihn, Tom, zurückgerissen, als er im Begriff war, hinauszufallen. Tom lag mit geschlossenen Augen und wand sich bei dem Gedanken, was hätte passieren können. Jonathan hatte ihm das Leben gerettet, mindestens hatte er ihn vor einem schlimmen Fall bewahrt – womöglich hätten ihm sonst die Räder einen Fuß abgeschnitten. Nach einer ruhigen Nacht stand Tom gegen halb neun auf, als Heloise noch schlief. Er trank seinen Kaffee un ten im Wohnzimmer, und obwohl er neugierig war, stellte er um neun nicht die Nachrichten im Radio an. Er schlenderte durch den Garten, besah sich stolz das Erd beerbeet, wo er neulich Unkraut gejätet und die Ranken beschnitten hatte, und betrachtete die drei Jutesäcke mit Dahlienknollen, die überwintert hatten und nun gepflanzt werden sollten. Heute nachmittag mußte er versuchen, Trevanny telefonisch zu erreichen. Je eher sie sich tra 172
fen, um so schneller kam Trevanny zur Ruhe. Ob er wohl auch den blonden Leibwächter gesehen hatte, der sich so aufgeregt gebärdete? Tom war in einem Wagengang an ihm vorbeigekommen, als er aus dem Speisewagen zurückkam und seinen Platz aufsuchte, drei Wagen wei ter hinten; der Mann hatte ausgesehen, als sei er dem Platzen nahe vor hilfloser Wut. Zu gern hätte Tom im besten Straßenitalienisch zu ihm gesagt: »Wenn Sie so weitermachen, werden Sie sicher gefeuert, was?« Es war noch nicht elf, als Mme. Annette vom Einkau fen zurückkam; und als Tom die Seitentür zur Küche ins Schloß fallen hörte, ging er hinüber, um sich Le Parisien Liberé anzusehen. »Die Rennen«, sagte er lächelnd und nahm die Zei tung vom Tisch. »Ah oui! Haben Sie gewettet, M. Tome?« Sie wußte, er wettete nicht. »Nein, nein, aber ein Freund von mir – ich möchte nur mal nachsehen.« Unten auf der Seite eins fand Tom, was er suchte, ei ne kurze Meldung, etwa zehn Zentimeter lang. Italiener erdrosselt, ein zweiter schwer verletzt. Der Erdrosselte war als Vito Marcangelo, zweiundfünfzig, aus Mailand identifiziert worden. Aber Tom interessierte sich weit mehr für den anderen, Filippo Turoli, einunddreißig, der ebenfalls aus dem Zug geworfen worden war und mit Gehirnerschütterung, Rippenbrüchen und einem schwer verletzten Arm, der wahrscheinlich amputiert werden mußte, in einem Straßburger Krankenhaus lag. Turoli, so hieß es, sei bewußtlos und sein Zustand kritisch. Ein Mit reisender hatte offenbar einen Mann auf der Böschung liegen sehen und einen Bahnbeamten alarmiert, doch inzwischen hatte der pompöse Mozart-Expreß, der mit voller Geschwindigkeit auf Straßburg zuraste, bereits mehrere Kilometer zurückgelegt. Eine Rettungsmann 173
schaft hatte die beiden Männer dann gefunden. Die Poli zei schätzte, daß sie in einem Abstand von etwa vier Mi nuten hinausgefallen waren. Die Ermittlungen wurden fortgesetzt. Die späteren Blätter würden bestimmt noch weitere Berichte bringen, wahrscheinlich auch Fotos, dachte Tom. Das mit den vier Minuten war typisch französische Findigkeit, es klang wie eine Rechenaufgabe für Schüler. Ein Zug legt in der Stunde hundert Kilometer zurück; ein Mafioso fliegt raus; ein zweiter Mafioso fliegt ebenfalls raus und wird 6⅔ Kilometer vom ersten Mafioso entfernt aufgefunden. Frage: wieviel Zeit liegt zwischen den bei den Rausschmissen? Antwort: vier Minuten. Von dem zweiten Leibwächter war kein Wort erwähnt; offensicht lich hatte er den Mund gehalten und keine Beschwerde gegen den Service im Zug vorgebracht. Aber dieser Turoli, der war also nicht tot. Und es war durchaus möglich, daß Turoli Tom gesehen hatte, bevor dieser seinen Kinnhaken landete. Dann wußte er, wie er aussah und konnte ihn beschreiben oder identifizieren, wenn er ihn irgendwann wiedersah, Jonathan hatte er vermutlich gar nicht gesehen, der hatte ja von hinten auf ihn eingeschlagen. Um halb vier verließ Heloise das Haus, um Agnès Grais auf der anderen Seite von Villeperce zu besuchen, und Tom suchte im Telefonbuch Trevannys Nummer in Fontainebleau und stellte fest, daß er sie richtig behalten hatte. Trevanny meldete sich. »Hallo – hier ist Tom Ripley. Ich rufe wegen meines Bildes an – sind Sie allein?« »Ja.«
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»Ich möchte Sie sprechen – es ist wichtig. Können wir uns heute treffen – vielleicht nach Geschäftsschluß? Um sieben? Ich könnte –« »Ja.« Angespannte Wachsamkeit klang aus der Stim me. »Ich werde mit dem Wagen um die Ecke bei der Sa lamander-Bar warten, ja? Rue Grande – Sie kennen die Bar?« »Ja, ich kenne sie.« »Dann können wir irgendwo hinfahren und reden. Also um Viertel vor sieben?« »In Ordnung«, sagte Trevanny; es klang, als presse er die Worte durch die Zähne. Tom hängte auf. Das gab noch eine Überraschung für Trevanny, aber eine angenehme, dachte er. Etwas später, als Tom in seinem Atelier war, rief He loise an. »Du, Tome – ich komme nicht zum Essen, Agnès und ich wollen etwas Fabelhaftes kochen, und du mußt her kommen. Antoine ist auch hier – weil doch Samstag ist. Also kannst du so um halb acht hier sein?« »Acht wäre mir lieber, mein Herz. Ich bin grad bei der Arbeit.« »Tu travailles?« Tom lächelte. »Ja, ich zeichne. Um acht bin ich dort.« Antoine Grais war Architekt, er hatte eine Frau und zwei kleine Kinder, und Tom freute sich auf einen ruhigen ungestörten Abend mit den Freunden. Er fuhr schon früh nach Fontainebleau und besorgte noch eine Topfpflanze – eine Kamelie – als Geschenk für Agnès Grais; falls er sich verspätete, konnte er das als Grund angeben. In Fontainebleau kaufte er außerdem einen France Soir für den Fall, daß etwas Neues über Turoli drinstand. Von seinem Befinden stand da nichts, wohl aber berich 175
tete die Zeitung, man halte die beiden Italiener für Mit glieder der Mafia-Familie Genotti, sie seien vermutlich Opfer einer rivalisierenden Gangstergruppe geworden. Das würde Reeves freuen, wenn er es las; das hatte er ja gewollt. Ein paar Meter hinter der Salamander-Bar fand Tom einen Parkplatz am Bordstein. Er blickte in den Rückspiegel und sah Trevanny auf sich zukommen; er hatte einen auffallend abgetragenen Regenmantel an und ging wie immer mit großen langsamen Schritten. Jetzt hatte er den Wagen gesehen. »Hallo!« sagte Tom und öffnete die Tür. »Kommen Sie rein, wir können nach Avon fahren oder sonst wohin.« Trevanny stieg ein und murmelte kaum hörbar ein Wort zur Begrüßung. Avon war die kleinere Schwesterstadt von Fontaine bleau. Tom fuhr die Straße hinunter zum Bahnhof und bog dann rechts in die Straße ein, die nach Avon führte. »Alles in Ordnung?« fragte Tom freundlich. »Ja«, erwiderte Trevanny. »Die Zeitungen haben Sie gesehen, nehme ich an.« »Ja.« »Der Leibwächter da – der ist nicht tot.« »Ich weiß.« Seit acht Uhr morgens, als er in Straßburg die Zeitungsberichte sah, hatte Jonathan sich eingebil det, Turoli werde jeden Augenblick aus der Bewußtlosig keit erwachen und eine genaue Beschreibung von ihm und Tom Ripley geben, den beiden Männern an der Zug tür. »Sind Sie gestern abend noch nach Paris zurückge kommen?« »Nein, ich – ich bin in Straßburg geblieben und habe heute morgen das Flugzeug genommen.« »Und in Straßburg – ging da alles glatt? War der zwei te Leibwächter nirgends in Sicht?« 176
»Nein«, sagte Jonathan. Tom fuhr jetzt langsam, er suchte nach einem ruhigen Platz zum Parken. In einer kleinen Seitenstraße mit zwei stöckigen Häusern hielt er am Straßenrand und löschte die Lichter. »Wissen Sie«, sagte er und zog seine Ziga retten aus der Tasche, »die Zeitungen haben bisher nichts von einer Spur gesagt, jedenfalls nicht von der richtigen. Wir haben das ganz gut hingekriegt, meine ich. Der bewußtlose Leibwächter, das ist der einzige Pferde fuß.« Tom bot Jonathan eine Zigarette an, doch Jona than nahm eine von den eigenen. »Haben Sie was von Reeves gehört?« fragte Tom. »Ja, heute nachmittag. Vor Ihrem Anruf.« Reeves hat te schon vormittags angerufen, und Simone war am Tele fon gewesen. Jemand in Hamburg – ein Amerikaner, hat te sie gesagt. Auch das machte Jonathan unruhig, ein fach daß Simone mit Reeves gesprochen hatte, obgleich Reeves seinen Namen nicht genannt hatte. »Hoffentlich macht er keine Schwierigkeiten mit dem Geld«, sagte Tom. »Ich habe ihn neulich mal angesto ßen. Er müßte jetzt umgehend mit der ganzen Summe rausrücken.« Und wieviel wollen Sie davon? hätte Jonathan gern gefragt, aber er beschloß, Ripley selber davon anfangen zu lassen. Tom ließ sich lächelnd hinter das Steuerrad sinken. »Sie glauben sicher, daß ich von den – von den vierzig tausend was abhaben will, nicht wahr? Will ich aber gar nicht.« »Oh. Ja, offen gesagt, das habe ich angenommen.« »Ja, deshalb wollte ich Sie heute sprechen. Das war einer der Gründe. Der andere Grund – ich wollte wissen, ob Sie sich Sorgen machen –« Jonathans Anspannung machte auch Tom unsicher, er kämpfte mit den Worten, 177
dann lachte er. »Na klar machen Sie sich Sorgen. Aber es gibt solche und solche. Vielleicht kann ich Ihnen doch helfen – das heißt, wenn Sie mit mir reden wollen.« Was hatte er bloß vor, dachte Jonathan. Irgendwas wollte er doch bestimmt. »Was ich nicht ganz verstehe, ist, warum Sie überhaupt in dem Zug waren.« »Weil´s mir Freude gemacht hat. Es macht mir Freu de, solche Männer wie die beiden gestern aus der Welt zu schaffen. Mehr war es nicht. Es hat mir auch Freude gemacht, Ihnen eine kleine Extraeinnahme zu verschaf fen. Nein, wissen Sie, mit Sorgen, da meinte ich, ob es Sie bedrückt, was wir – was wir getan haben. Ich kann es schlecht ausdrücken – vielleicht weil es mich überhaupt nicht belastet. Vorläufig jedenfalls nicht.« Jonathan war konsterniert. Da stimmte irgendwas nicht – Tom Ripley versuchte, ihm auszuweichen oder zu scherzen. Die Aversion, die Jonathan hegte, war noch nicht gewichen. Er traute Tom Ripley nicht. Und nun war es zu spät. Noch gestern im Zug, als er sah, wie Ripley im Begriff war, die Sache zu übernehmen, hätte Jona than sagen können: »Na schön – machen Sie´s nur«, und hätte zurückgehen können auf seinen Platz. Damit wäre zwar die Hamburger Affäre nicht ausgelöscht ge wesen, die Ripley auch kannte, aber – Er wußte, gestern war nicht Geld der Antrieb gewesen. Er war einfach in Panik geraten, schon bevor Ripley erschien. Jetzt hatte Jonathan das Gefühl, nicht das richtige Mittel zur Vertei digung in der Hand zu haben. »Ich nehme an, Sie waren es, der die Geschichte verbreitet hat, daß ich auf dem letzten Loch pfeife«, sagte er. »Sie haben Reeves mei nen Namen genannt.« »Ja«, sagte Tom reumütig und offen. »Aber immerhin, Sie hatten ja die Wahl – Sie hätten zu Reeves´ Vorschlag nein sagen können.« Er wartete, doch Jonathan sagte 178
nichts darauf. »Aber jetzt geht es Ihnen doch viel besser, oder nicht? Ich hoffe, Sie denken noch lange nicht ans Sterben, und außerdem haben Sie ja eine ganz schöne Stange Geld bekommen. Das ist doch auch was wert, oder?« Jonathan sah das harmlos-strahlende Lächeln in dem Gesicht des Amerikaners aufsteigen. Kein Mensch, der Tom Ripley in diesem Augenblick gegenüberstand, wür de glauben, daß er jemanden umbringen, mit seinen Händen erdrosseln könnte, und genau das hatte er vor vierundzwanzig Stunden getan. »Machen Sie das öfter, solche Scherze?« fragte er mit leisem Lächeln. »Nein. Nein, bestimmt nicht. Dies war das erste Mal.« »Und Sie erwarten gar nichts?« »Ich kann mir nicht vorstellen, was ich von Ihnen er warten sollte. Nicht mal Freundschaft, das wäre zu ris kant.« Jonathan wand sich innerlich. Er zwang sich, mit dem Fingertrommeln auf der Streichholzschachtel aufzuhören. Tom sah ihm an, was er dachte: daß nämlich Tom Ripley ihm jetzt Daumenschrauben ansetzen konnte, ob er nun etwas von ihm wollte oder nicht. »Sie sind genau sowenig in meiner Hand wie ich in Ihrer«, sagte er. »Er drosselt habe doch ich den Kerl. Sie können ebensoviel gegen mich vorbringen wie ich gegen Sie. So müssen Sie die Sache ansehen.« »Stimmt«, gab Jonathan zu. »Woran mir liegt, ist vor allem, Sie zu schützen.« Jetzt lachte Jonathan. Ripley lachte nicht. »Vielleicht wird´s nicht nötig sein – hoffen wir es. Schwierig wird es immer erst durch andere Leute.« Einen Augenblick starrte Tom durch die Windschutzscheibe. »Ihre Frau zum Beispiel – was haben Sie ihr von dem Geld gesagt? Wie Sie dazu kommen?« 179
Das war tatsächlich ein Problem, ein sehr reales, greifbares und völlig ungelöstes Problem. »Ich habe ge sagt, die deutschen Ärzte zahlten etwas. Für – für Tests, die sie mit mir machen.« »Hm – nicht schlecht«, meinte Tom nachdenklich, »a ber wir finden vielleicht noch was besseres. Die ganze Summe können sie ja auf diese Weise unmöglich erklä ren, dazu ist es zuviel, und es wäre doch schön, wenn Sie beide was davon hätten. Wie ist es – könnte nicht jemand in Ihrer Familie sterben? In England? Ein allein stehender Vetter zum Beispiel.« Jonathan lächelte und sah Tom an. »Daran habe ich auch schon gedacht, aber es ist einfach keiner da.« Jonathan hatte nicht viel Übung im Erfinden solcher Geschichten, das merkte Tom. Er selber hätte sich mit Leichtigkeit etwas für Heloise ausdenken können, wenn er plötzlich zu Geld – zu viel Geld – gekommen wäre. Er würde einen möglichst exzentrischen Verwandten erfin den, der die ganzen Jahre allein und menschenscheu in Santa Fé oder in Sausalito gelebt hatte, einen angeheira teten Vetter seiner Mutter oder sowas; den hätte er dann noch mit Einzelheiten ausgeschmückt, an die er sich aus einem kurzen Zusammentreffen in Boston erinnerte, als er noch ganz klein war, ein Waisenjunge (das stimmte wirklich). Nie hätte er diesem Vetter so viel Großmut, ein so goldenes Herz zugetraut. »Das müßte doch aber zu machen sein, wo Ihre Familie so weit weg ist, in England. – Wir überlegen das noch mal«, fügte er hinzu, als er sah, daß Jonathan etwas Ablehnendes sagen wollte. Tom warf einen Blick auf seine Uhr. »ja, ich glaube, ich muß jetzt gehen, und Sie sicher auch – es ist Essenszeit. Ach, noch etwas: die Pistole. Keine große Sache, aber sind Sie sie los?«
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Die Waffe steckte in der Tasche des Regenmantels, den Jonathan anhatte. »Ich hab sie hier, und ich wär sie wirklich gern los.« »Geben Sie her.« Tom streckte die Hand aus. »Dann ist das auch erledigt.« Jonathan gab ihm die Waffe, und Tom schob sie ins Handschuhfach. »Die ist nie benutzt worden, da ist die Gefahr nicht allzu groß, aber ich werd sie doch wegschaffen, weil´s eine italienische Waffe ist.« Nachdenklich hielt Tom inne. Da war doch noch etwas, und er mußte jetzt darauf kommen, denn er hatte nicht die Absicht, Jonathan wiederzusehen. Dann fiel es ihm ein. »Ja, übrigens – ich nehme an, Sie werden Reeves sagen, daß Sie diese Sache allein gemacht haben. Ree ves weiß nichts davon, daß ich mit im Zug war, und das ist auch weitaus das beste.« Jonathan war im Grunde gegenteiliger Ansicht gewe sen und brauchte einen Augenblick zur Besinnung. »Ich dachte, Sie und Reeves sind gute Freunde –?« »Gute Bekannte, mehr eigentlich nicht. Wir halten Dis tanz.« Was Tom da sagte, war eigentlich laut gedacht; ihm lag daran, die richtigen Worte zu finden, um Trevan ny keine Angst einzujagen, ihm etwas mehr Sicherheit zu geben. Es war schwierig, das merkte er. »Außer Ihnen weiß keiner, daß ich in dem Zug war. Meine Fahrkarte habe ich unter falschem Namen gekauft – ich bin über haupt mit falschem Paß gereist, wissen Sie. Es war mir klar, daß Sie mit dieser Art von – mit dieser Erdrosselung nicht gut zurechtkommen würden. Ich hatte mit Reeves gesprochen, telefonisch.« Tom ließ den Motor an und blendete die Scheinwerfer auf. »Reeves ist nicht ganz dicht, wissen Sie.« »Wieso –?«
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Ein Motorrad mit starkem Scheinwerfer kam laut knat ternd um die Ecke und jagte vorüber, so daß das Surren des Motors einen Augenblick nicht zu hören war. »Er macht so Spielereien«, sagte Tom. »Sie wissen vielleicht, daß er in erster Linie Hehler ist, er nimmt Sa chen an und gibt sie weiter. An sich ist das genauso blöd wie Spionage und sowas, aber wenigstens ist er noch nicht geschnappt worden – ich meine verhaftet und wie der entlassen und so. Es soll ihm in Hamburg recht gut gehen, ich kenne seine Wohnung dort nicht. Ich finde nur, er sollte seine Finger von dieser Art Sachen lassen. Paßt nicht zu ihm.« Jonathan hatte sich vorgestellt, Tom Ripley sei ein häufiger Gast bei Reeves in Hamburg. Er erinnerte sich, wie Fritz an dem Abend zu Reeves gekommen war, er hatte ein kleines Päckchen mitgebracht: Juwelen viel leicht? Oder Rauschgift? Jonathan sah jetzt den Viadukt vorübergleiten, dann kamen die dunkelgrünen Bäume am Bahnhof in Sicht, die Baumkronen waren von den Stra ßenlampen hell erleuchtet. Alles war bekannt, vertraut, nur Tom Ripley, der neben ihm saß, war sehr fremd. Wieder stieg Angst in ihm auf. »Darf ich mal fragen, wie Sie eigentlich auf mich gekommen sind?« Tom war gerade im Begriff, oben an der Avenue Franklin Roosevelt in die etwas schwierige Linkskurve einzubiegen, wobei er den Gegenverkehr passieren las sen mußte. »Ach, eigentlich war es ein dummer Grund, das muß ich zugeben. Damals an dem Abend im Febru ar, als ich bei Ihnen war, da haben Sie etwas gesagt, das ich nicht sehr nett fand.« Jetzt war die Fahrbahn frei. »Sie sagten: ›O ja, von Ihnen habe ich schon gehört‹, und Sie sagten es recht unfreundlich.« Ja, Jonathan entsann sich. Er wußte auch, daß er an dem Abend besonders müde und daher schlecht gelaunt 182
gewesen war. Und wegen dieser kleinen Unhöflichkeit hatte Tom Ripley ihn also in diese üble Lage gebracht. Nein, so war es nicht – er selber hatte das verschuldet. »Wir brauchen uns nicht wieder zu treffen«, sagte Tom. »Ich denke, wir können die Sache als gelungen ansehen, wenn wir von dem Leibwächter nichts mehr hören.« Sollte er jetzt zu Jonathan sagen: ›Es tut mir leid?‹ Ach was, Unsinn. »Und vom moralischen Stand punkt aus machen Sie sich doch hoffentlich keine Vor würfe. Diese Männer waren Mörder – sie bringen oft völ lig unschuldige Leute um, und wir haben nichts getan, als dem Gesetz etwas nachgeholfen. Genau das, was die Mafia selbst für gut und richtig hält. Das ist eine ihrer Grundregeln.« Tom bog jetzt in die Rue de France ein. »Ich werd Sie nicht direkt vor Ihrer Haustür absetzen.« »Nein, irgendwo hier. Vielen Dank.« »Mein Bild – ich werde mal sehen, daß ein Bekannter es für mich abholt.« Tom hielt den Wagen an. Jonathan stieg aus. »Wie Sie wollen.« »Rufen Sie mich an, wenn irgendwas schiefgeht«, sagte Tom und lächelte. Jetzt lächelte auch Jonathan, als amüsiere ihn die Bemerkung. Tom fuhr an. Jonathan schlug den Weg nach Hause ein. Schon nach wenigen Sekunden fühlte er sich besser, vor allem erleichtert, und zwar hauptsächlich deswegen, weil Rip ley völlig unbesorgt schien. Der Leibwächter war noch am Leben, und sie beide hatten im Zug doch lange Zeit dort an der Tür gestanden, aber weder das eine noch das andere machte ihm Kopfschmerzen. Und dann die Sache mit dem Geld – nicht zu fassen. Völlig unbegreif lich, wie im Grunde die ganze Angelegenheit. Jetzt kam das Sherlock-Holmes-Haus in Sicht, und Jonathan verlangsamte seine Schritte, obgleich er wußte, 183
es war später als sonst. Gestern waren die Unterschrifts karten von der Schweizer Bank gekommen, Simone hat te den Brief nicht aufgemacht, und er hatte die Karten unterschrieben und sie gleich am Nachmittag zurückge sandt. Seine Kontonummer bestand aus vier Ziffern, er dachte, er werde sie behalten, aber er hatte sie schon jetzt vergessen. Simone hatte seine zweite Reise zu ei nem deutschen Spezialisten hingenommen, aber das war der letzte Besuch, jetzt folgten keine mehr, und er mußte doch irgendwie erklären, woher das Geld kam – nicht die ganze Summe, aber doch allerhand Extrageld, das er jetzt hatte; er mußte eben Geschichten erfinden von Spritzen und Medikamenten, vielleicht mußte er einfach noch ein oder zwei Mal nach Deutschland fahren, um die Behauptung zu erhärten, daß die Ärzte ihre Versuche fortsetzten. Das alles war peinlich und schwierig, es lag ihm gar nicht. Er hoffte immer noch, daß ihm noch was besseres einfiel, aber er wußte, das war unwahrschein lich, wenn er sich nicht gründlich anstrengte. »Du kommst spät«, sagte Simone. Sie war mit Georges im Wohnzimmer, das Sofa lag voller Bilderbü cher. »Ja – Kunden«, sagte Jonathan und warf den Regen mantel über einen Haken. Wie gut, daß die Pistole nicht mehr drinsteckte. Er lächelte Georges zu. »Na, mein Kleiner, und was machst du?« Er sprach englisch. Georges lachte über das ganze Gesicht wie ein kleiner blonder Kürbis. Ein Vorderzahn war herausgefallen, als Jonathan in München war. »Ich le-lese«, sagte er. »Ich lese, meinst du. Le-lesen, das tut jemand, der ei nen Sprachfehler hat.« »Was ist das, Sprachfehler?« »Ein Sprachfehler, das ist – zum Beispiel Stottern. B bé-bégayer, wenn man« – 184
»O Jon, schau mal her.« Simone griff nach einer Zei tung. »Ich hab´s heute mittag nicht gesehen – sieh mal. Zwei Männer – nein, ein Mann ist gestern im Zug von Deutschland nach Paris umgebracht worden. Ermordet und dann aus dem Zug geworfen. Glaubst du, das war der Zug, mit dem du gefahren bist?« Jonathan blickte auf das Bild des Toten, der auf der Eisenbahnböschung lag, und besah sich den Bericht, als sei er ihm ganz neu. Erdrosselt . . . dem zweiten Opfer wird wahrscheinlich ein Arm amputiert werden müs sen . . . »Ja, das stimmt. Der Mozart-Expreß. Ich habe nichts davon gemerkt. Aber der Zug hatte ungefähr drei ßig Wagen.« Er hatte Simone erzählt, er sei gestern a bend so spät in Paris angekommen, daß er den letzten Zug nach Fontainebleau nicht mehr erreicht habe, er sei daher über Nacht in einem kleinen Hotel in Paris geblie ben. »Die Mafia«, sagte Simone kopfschüttelnd. »Die müs sen im Abteil die Vorhänge zugezogen haben, als sie den erdrosselten. Huh.« Sie erhob sich und ging in die Küche. Jonathan blickte auf seinen Sohn, der in ein AsterixBild vertieft war. Wie gut, daß er dem Kind nicht erklären mußte, was erdrosseln bedeutete. Tom war an diesem Abend bei Antoine und Agnès Grais zwar nicht ganz entspannt, aber in bester Laune. Das Ehepaar Grais wohnte in einem steinernen runden Haus mit Türmchen und vielen Kletterrosen. Antoine war Ende dreißig, korrekt, fast streng und enorm ehrgeizig, was Haus und Garten anging. Er arbeitete die Woche über in einem bescheidenen Fotoatelier in Paris und kam zu den Wochenenden zu seiner Familie aufs Land, wo er dann unermüdlich im Garten arbeitete. Tom wußte, An toine hielt ihn für faul, denn selbst wenn Toms Garten 185
ebenso gepflegt aussah wie der von Antoine, so war das schließlich kein Wunder, denn Tom hatte ja den lieben langen Tag nichts anderes zu tun. Das fabelhafte Ge richt, das Agnès und Heloise gekocht hatten, war Hum mer in Reis mit viel Frutti di Mare und zwei verschiede nen Saucen. »Ich habe eine glänzende Idee«, sagte Tom nach denklich, als sie beim Kaffee saßen. »Nämlich wie man einen Waldbrand starten könnte, vor allem unten im Sü den, wo sie im Sommer so viele dürre Bäume haben. Also, man nimmt ein Brennglas und macht es an einer Kiefer fest – das kann man sogar im Winter machen; und dann im Sommer scheint die Sonne hindurch, und das Vergrößerungsglas setzt die trockenen Nadeln in Brand. Das muß man natürlich in der Nähe eines Hauses ma chen, das jemandem gehört, den man nicht leiden kann. Auf einmal steht dann alles in Flammen. Die Polizei oder die Versicherung wird unter all dem verkohlten Zeug das Brennglas bestimmt nicht finden, und selbst wenn – Fa belhaft, was?« Antoine lachte halb widerwillig. Die Frauen schüttelten sich entsetzt und fasziniert. »Wenn das mal unserem Haus im Süden passiert, weiß ich jedenfalls, wer dahintersteckt«, sagte Antoine mit tiefer Baritonstimme. Er besaß in der Nähe von Can nes ein kleines Grundstück mit Haus, das sie im Juli und August, wenn die Preise saisonmäßig hoch waren, ver mieteten und in anderen Sommermonaten selbst be wohnten. Toms Gedanken waren noch bei Jonathan. Ein Mann voller Hemmungen, ohne Elastizität, doch im Grunde ein anständiger Kerl. Er würde noch Unterstützung brauchen – hoffentlich nur moralische Unterstützung.
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Da man nicht wußte, wie es mit Filippo Tutoli ausgehen werde, fuhr Tom am Sonntag nach Fontainebleau hin über und besorgte sich die Londoner Sonntagszeitungen, den Observer und die Sunday Times, die er sonst erst Montag morgens im Journaux-Tabac in Villeperce er stand. Der Zeitungskiosk in Fontainebleau stand vor dem Hôtel de l´Aigle Noir. Tom sah sich auf der Straße nach Trevanny um, der ja vermutlich auch sonntags die Lon doner Zeitungen kaufte, aber er sah ihn nicht. Es war elf Uhr, vielleicht hatte Trevanny sie schon geholt. Tom stieg wieder in den Wagen und schlug zuerst den Observer auf, fand jedoch nichts über den Zwischenfall im D-Zug. Vielleicht war es für die englischen Zeitungen nicht wich tig genug. Er nahm die Sunday Times vor und fand auf Seite drei einen kurzen Bericht, den er gespannt durch las. Er war in leichtem Ton gehalten: ». . . hat hier die Mafia offenbar blitzartig zugeschlagen . . . Filippo Turoli aus der Familie Genotti erwachte – mit nur einem Arm und schwerverletztem Auge – am Samstag früh aus der Bewußtlosigkeit. Inzwischen hat sich sein Zustand so weit gebessert, daß er wahrscheinlich bald in ein Kran kenhaus nach Mailand überführt werden kann. Ob er ir gend etwas weiß von dem Überfall, konnte bisher nicht festgestellt werden; er sagt kein Wort.« Daß er nichts sagte, war Tom nicht neu; aber er kam offensichtlich mit dem Leben davon, und das war Pech. Vermutlich, über legte Tom, hatte Turoli bereits seinen Kumpanen eine Beschreibung von ihm, Tom, gegeben, denn ganz be stimmt hatten sie ihn in Straßburg besucht. Prominente Mafiosi wurden im Krankenhaus Tag und Nacht bewacht; genauso machten sie es sicher auch mit Turoli, überlegte 187
Tom, als ihm der Gedanke, den Italiener einfach umzu bringen, kurz durch den Kopf ging. Tom erinnerte sich noch gut an Joe Colombo, Haupt der Profaci-Familie in New York, den die Mafia im Krankenhaus bewacht hatte. Trotz erdrückender Gegenbeweise hatte Colombo hart näckig geleugnet, daß er zur Mafia gehöre oder daß die Mafia überhaupt existiere. Dabei hatten die Schwestern über die Beine der Leibwächter, die im Gang schliefen, hinwegsteigen müssen, als Colombo in der Klinik lag. Nein, es hatte keinen Zweck, so etwas mit Turoli zu un ternehmen. Turoli hatte wahrscheinlich längst von ihm berichtet und ihn auch beschrieben: ein Mann etwa Mitte dreißig, braunes Haar, etwas über mittelgroß, der ihm einen Schlag ans Kinn und in die Magengrube versetzt hatte; außerdem mußte noch ein zweiter dabeigewesen sein, der ihm einen Hieb auf den Hinterkopf verpaßte. Die Frage war jetzt, ob Turoli ihn ganz bestimmt und zweifelsfrei erkennen würde, wenn er ihn wiederfand, und das hielt Tom für durchaus denkbar. Komisch: wenn Turoli auch Jonathan gesehen hatte, würde er den viel leicht noch eher wiedererkennen, einfach weil Jonathan nicht aussah wie einer aus der Masse, er war größer und blonder als die meisten. Turoli würde natürlich seine Ein drücke mit denen des zweiten Leibwächters vergleichen, der ja wohlauf war. Tom fuhr nach Hause. Heloise war im Wohnzimmer; als er hereinkam, sagte sie: »Du – hättest du nicht Lust zu einer Kreuzfahrt auf dem Nil?« Tom war mit seinen Gedanken so weit weg, daß er ei nen Augenblick nachdenken mußte, was und wo der Nil war. Heloise lag barfuß auf dem Sofa, vertieft in Reise prospekte. Ein Reisebüro in Moret schickte ihr von Zeit zu Zeit unaufgefordert einen Packen solcher Broschüren;
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sie war immerhin eine gute Kundin. »Ach, ich weiß nicht. Ägypten –« »Schau mal, sieht das nicht verführerisch aus?« Sie zeigte ihm das Bild eines kleinen Schiffs, Isis hieß es und sah eigentlich aus wie die Dampfboote auf dem Missis sippi, die an der schilfigen Küste entlangschipperten. »Ja, das tut es, da hast du recht.« »Oder woanders hin – aber wenn du keine Lust hast, kann ich ja mal Noelle fragen«, meinte sie und wandte sich wieder den Prospekten zu. Tom sah, der Frühling begann ihr ins Blut zu steigen. Es juckte ihr in den Füßen. Kurz nach Weihnachten wa ren sie das letzte Mal fortgewesen, auf einer Jacht, die von Marseille nach Portofino und zurück segelte. Sehr hübsch. Die Eigentümer waren Freunde von Noelle, älte re Leute, sie besaßen ein Haus in Portofino. Im Augen blick hatte Tom keine Lust zu irgendeiner Reise, doch das behielt er für sich. Sie verbrachten einen ruhigen gemütlichen Sonntag. Tom machte zwei Skizzen von Mme. Annette am Bügel brett – sie bügelte gewöhnlich am Sonntag nachmittag in der Küche und stellte dabei ihren transportablen Fern sehapparat vor dem Küchenschrank auf. Wie sie da stand, die untersetzte kleine Figur über die Bügelwäsche gebeugt, das war für Tom der Inbegriff des Französi schen, der beschaulichen Häuslichkeit. Er wollte diesen Eindruck auf der Leinwand festhalten – das blasse Gelb der Küche im Sonnenlicht und das zarte Lavendelblau des Kleides, das Mme. Annette anhatte und das die strahlendblauen Augen so gut zur Geltung brachte. Abends lagen Tom und Heloise vor dem Kamin und waren in die Sonntagszeitungen vertieft, als das Telefon klingelte. Tom meldete sich.
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Es war Reeves, die Stimme klang sehr erregt. Die Verbindung war schlecht und undeutlich. »Kannst du einen Moment warten – ich lauf schnell nach oben«, sagte Tom. Reeves sagte ja, er werde war ten, und Tom rief Heloise zu: »Reeves – sauschlechte Verbindung«, und lief eilig die Treppe hinauf. Es war nicht gesagt, daß die Leitung oben besser war, aber er wollte bei dem Gespräch allein sein. Reeves sagte: »Meine Wohnung, habe ich gesagt. In Hamburg. Heute wurde eine Bombe reingeworfen.« »Was –?! Mein Himmel!« »Ich spreche aus Amsterdam, da bin ich jetzt.« »Bist du verletzt?« fragte Tom. »Nein!« schrie Reeves mit fast umkippender Stimme. »Es war fast ein Wunder, ich war zufällig gerade aus so um fünf heute nachmittag, und Gaby auch, weil sie sonn tags nicht kommt. Diese – diese Männer, die müssen die Bombe durchs Fenster geschmissen haben. Es gab ´n ganz schönen Krach. Die Leute unter mir haben gehört, daß ein Wagen schnell ans Haus fuhr und nach einer Minute oder so wieder wegjagte, und zwei Minuten spä ter kam der scheußliche Knall. Alle Bilder sind von der Wand gefallen, durch den Luftdruck.« »Hör zu – wieviel wissen sie?« »Ja, ich dachte, es wäre besser, wenn ich eine Weile verschwinde. Hat keine Stunde gedauert, bis ich aus der Stadt raus war.« »Wie haben sie es herausgefunden?« schrie Tom in den Apparat. »Keine Ahnung. Wirklich, ich habe keine Ahnung. Viel leicht haben sie aus Fritz was rausgekriegt, ich hatte heute eine Verabredung mit ihm, und er ist nicht gekom men. Ich kann nur hoffen, daß er heil und gesund ist. A ber immerhin, er weiß ja nicht, wie – wie unser Freund 190
heißt, du weißt schon. Ich habe ihn immer Paul genannt, wenn er hier war. Ich habe gesagt, er ist Engländer; Fritz denkt sicher, er wohnt in England. Ich glaube, sie haben das einfach auf Verdacht gemacht, Tom, wirklich. Ich glaube, im großen und ganzen ist unser Plan doch ge lungen.« Das war typisch Reeves: die Wohnung zertrümmert, seine Sachen verloren, aber der Plan war gelungen. »Reeves, hör bitte mal zu, was machst du nun mit deinen Sachen in Hamburg? Mit den Papieren zum Beispiel?« »Im Banksafe«, gab Reeves prompt zur Antwort. »Die kann ich mir schicken lassen. Was für Papiere über haupt? Wenn dir das Kopfschmerzen macht: ich habe ein einziges kleines Adreßbuch, und das hab ich immer bei mir. Meine Sachen sind bestimmt hin, da bin ich ganz sicher – Bilder und Schallplatten und so – aber die Poli zei sagte, soweit wie möglich würden sie aufpassen auf den Kram. Ja, sie haben mich vernommen – sehr höflich und nett natürlich, paar Minuten lang, aber ich hab ihnen erklärt, das sei ein ziemlicher Schock für mich gewesen, stimmt ja auch, und ich müßte eine Weile wegfahren. Sie wissen, wo ich bin.« »Hat die Polizei die Mafia im Verdacht?« »Gesagt haben sie´s nicht. Paß auf, Tom, vielleicht ruf ich dich morgen noch mal an. Schreib mal meine Num mer auf, ja? Unser gemeinsamer Freund hat wirklich großartige Arbeit geleistet, auch wenn der zweite Kerl noch am Leben ist. Für jemand, der so blutarm ist –« Mit einem Lachen, das sich fast hysterisch anhörte, brach Reeves ab. »Hast du ihn jetzt voll bezahlt?« »Gestern geschehen«, gab Reeves zur Antwort. »Dann brauchst du ihn wohl jetzt nicht mehr, nehme ich an.« 191
»Nein. Die Polizei interessiert sich jetzt für die Lage hier. Ich meine in Hamburg natürlich. Das ist genau das, was wir wollten. Ich hab auch gehört, daß noch mehr Ma fia-Leute angekommen sind. Wir können –« Die Verbindung brach ab. Tom stand da, gereizt und mit einem Gefühl von plötzlicher Leere, als er den sum menden Hörer in der Hand hielt. Er legte auf und blieb sekundenlang stehen – Reeves rief vielleicht noch mal an, aber sehr wahrscheinlich war es nicht. Tom dachte über das eben Gehörte nach. Nach seiner Kenntnis der Mafia hielt er es für möglich, daß man es dabei belassen werde. Sie hatten Reeves´ Wohnung zerstört, auf sein Leben hatten sie es vielleicht nicht abgesehen. Nur: sie wußten ganz offensichtlich, daß Reeves bei dem Attentat im Zug seine Hand im Spiel gehabt hatte; der Plan, so zu tun, als sei es ein Unternehmen von rivalisierenden Mafi osi gewesen, war also mißlungen. Andererseits würde jetzt wohl die Hamburger Polizei alles Mögliche unter nehmen, um die Mafia dort in der Stadt und auch in den privaten Spielklubs loszuwerden. Die Lage war – wie al les, was Reeves unternahm oder versuchte – ganz un übersichtlich, dachte Tom. Als Fazit mußte man sagen: nicht ganz gelungen. Das einzig Positive war, daß Trevanny sein Geld hat te. Dienstag oder Mittwoch mußte er das wohl erfahren. Gute Nachricht aus der Schweiz! In den nächsten Tagen war alles ruhig – keine Anrufe, keine Briefe von Reeves Minot, nichts in der Zeitung über Filippo Turoli im Krankenhaus in Straßburg oder Mailand. Tom holte sich in Fontainebleau auch noch die Pariser Herald-Tribune und den Londoner Daily Telegraph, die beide nichts brachten.
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An einem Nachmittag pflanzte Tom seine Dahlien, was drei Stunden in Anspruch nahm; sie waren in den Jute säcken in kleine Päckchen sortiert und nach Farben eti kettiert, und er versuchte, sie im Garten so sorgfältig nach Farben einzusetzen, als hätte er ein Bild vor sich. Heloise verbrachte drei Tage und Nächte bei ihren Eltern in Chantilly, ihre Mutter mußte eine kleine Operation vor nehmen lassen, ein Tumor, der sich zum Glück als gutar tig herausstellte. Mme. Annette war der Ansicht, Tom sei einsam und wollte ihn mit amerikanischen Menüs trösten, die sie seinetwillen gelernt hatte: Querrippe mit Barbe cue-Sauce, Muschelsuppe und Brathähnchen. Ab und zu kam Tom der Gedanke, ob er selbst wohl ganz unge fährdet sei. Hier in der friedlichen Atmosphäre von Ville perce, dem kleinen adretten ruhigen Dörfchen, und hinter den hohen eisernen Gitterstäben, die das Haus – sein kleines Schloß – schützen sollten und die jeder überklet tern konnte: hier konnte ein Mörder auftauchen, einer von der Mafia; er brauchte nur zu klopfen oder die Glocke zu läuten, Mme. Annette zur Seite zu schieben, die Treppe hinaufzulaufen und Tom abzuknallen. Die Polizei in Mo ret brauchte bis zum Eintreffen mindestens fünfzehn Mi nuten, vorausgesetzt, daß Mme. Annette imstande war, sie sofort zu benachrichtigen. Wenn ein Nachbar Schüs se hörte, würde er annehmen, daß irgendwo jemand Eu len jagte, er würde sich gar nicht weiter darum kümmern. In den Tagen, als Heloise bei ihren Eltern war, beschloß Tom, ein Cembalo für sein Haus zu kaufen – natürlich auch für sich und vielleicht auch für Heloise. Er hatte sie mal irgendwo eine kleine Melodie auf einem Klavier spielen hören – wo? Wann? Sicher war sie wie üblich als Kind zum Klavier gedrillt worden; da Tom ihre Eltern kannte, konnte er sich vorstellen, daß sie ihr die Lust und Freude am Spiel gründlich ausgetrieben hatten. 193
Na ja, ein Cembalo kostete wahrscheinlich einen Haufen Geld (natürlich wäre es billiger, so ein Instrument in Lon don zu kaufen, nur kamen dann die 100% Zoll dazu, die die Franzosen für so etwas erhoben), aber andererseits gehörte es zweifellos in die Kategorie der Kulturgüter, also brauchte er deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben. Ein Cembalo war schließlich kein Swimming-pool. Tom rief einen Antiquitätenhändler in Paris an, den er ganz gut kannte; der Mann handelte zwar nur mit Mö beln, konnte aber Tom eine zuverlässige Firma in Paris nennen, bei der er ein Cembalo erstehen konnte. Tom fuhr nach Paris und verbrachte einen ganzen Tag bei dem Händler, der ihm unentwegt von Cembalos vor schwärmte; er besah sich verschiedene Instrumente, schlug behutsam ein paar Tasten an und entschied sich dann für ein Juwel von einem Cembalo in hellem Holz mit hier und da verstreuten Goldblättchen. Es kostete über zehntausend Franc und sollte Mittwoch, den 26. April geliefert werden, begleitet von einem Stimmer, der sich sofort an die Arbeit machen würde, denn das Instrument war sicher verstimmt nach dem Transport. Der Kauf stieg Tom zu Kopf, er fühlte sich geradezu beschwingt und unbesiegbar, als er zum Wagen zurück ging, unerreichbar für alle Blicke und auch für die Kugeln der Mafia. Und sein Haus stand noch da, unversehrt. Die kleinen Straßen in Villeperce, ungepflastert und baumbestanden, waren so ruhig wie eh und je. Keine Fremden trieben sich herum. Heloise kam am Freitag frohgelaunt zurück, und nun freute sich Tom auf die Überraschung, den gro ßen, behutsam transportierten Lattenverschlag mit dem Cembalo, der am Mittwoch ankommen sollte. Schöner als Weihnachten würde es werden.
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Auch zu Mme. Annette sagte Tom nichts von seinem Kauf, doch am Montag ging er zu ihr in die Küche und sagte: »Mme. Annette, ich habe eine Bitte. Mittwoch kommt ein Gast, ein besonderer Gast zum Lunch, viel leicht auch noch zum Dinner. Machen Sie irgendwas Schönes, ja?« Mme. Annettes blaue Augen strahlten. Es gab für sie nichts Schöneres als eine kleine Extra-Mühe, irgendein besonderer Aufwand auf kulinarischem Gebiet. »Un vrai gourmet?« fragte sie erwartungsvoll. »Ich glaube schon«, gab Tom zur Antwort. »Denken Sie sich was Schönes aus. Ich werde Ihnen nichts vor schreiben. Für meine Frau soll es auch eine Überra schung sein, wissen Sie.« Mme. Annette verzog das Gesicht zu wissendem Lä cheln. Man hätte meinen können, jemand habe auch ihr soeben ein Extra-Geschenk gemacht.
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Kein Spielzeug, das Jonathan jemals seinem Sohn ge schenkt hatte, erwies sich als ein so durchschlagender Erfolg wie der Kreiselkompaß aus München. Jedesmal, wenn Georges ihn aus der viereckigen Schachtel nahm, in der er auf Anordnung Jonathans aufbewahrt blieb, war der Zauber der gleiche. »Vorsicht – laß ihn nicht fallen!« sagte Jonathan, der bäuchlings im Wohnzimmer auf dem Fußboden lag. »Das verträgt er nicht.« Durch das neue Spiel lernte Georges noch ein paar neue englische Worte; sein Vater war so vertieft darin, daß er keine Lust hatte, die Erklärungen auf französisch abzugeben. Das phantastische Rad drehte sich auf Georges´ Fingerspitze oder lehnte sich seitwärts hoch oben auf einem Turm aus Plastik, den Georges aus der Tiefe seiner Spielkiste hervorgeholt und an die Stelle des Eiffelturms gesetzt hatte, der auf der rosa Beschreibung vorgeschrieben war. »Weißt du, Schiffe haben einen noch viel größeren Kreiselkompaß, damit sie nicht so stark rollen auf den Wellen«, sagte Jonathan. Seine Erklärungen waren nicht schlecht, fand er; und zur Illustration konnte man viel leicht das Instrument an einem Spielzeugboot befestigen, das Boot in eine wassergefüllte Wanne setzen und dann kräftige Wellen machen, damit der Sohn sah, was der Vater meinte. »Große Schiffe haben oft drei Stück, die alle gleichzeitig arbeiten.« »Jon – das Sofa.« Simone stand im Türrahmen. »Du hast noch gar nichts gesagt wegen der Farbe. Was meinst du – dunkelgrün?«
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Jonathan rollte sich herum und blieb liegen, die Ellbo gen aufgestützt, vor sich den noch immer rotierenden Kreisel, der sich drehte – drehte – und auf wunderbare Weise das Gleichgewicht hielt. Simone sprach von dem neuen Bezug für das Sofa. »Ach du, ich finde, wir sollten ein neues Sofa kaufen«, sagte er und stand auf. »Ich ha be heute eine Anzeige gesehen, da wurde ein schwarzes Chesterfield-Sofa für fünftausend Franc angeboten. Ich möchte wetten, daß ich so was auch für dreitausendfünf hundert kriege, wenn ich mich ein bißchen umsehe.« »Jon – dreitausendfünfhundert neue Franc?« Sie war entsetzt, das hatte er vorausgesehen. »Weißt du, du mußt das als Investition betrachten. Das können wir uns schon leisten.« Jonathan kannte einen Antiquitä tenhändler, der nur mit großen gut erhaltenen Möbelstü cken handelte. Er wohnte etwa fünf Kilometer weit weg. Bisher hatten sie nicht daran denken können, etwas bei ihm zu kaufen. »Ein Chesterfield – das wäre natürlich fabelhaft. Aber übernimm dich bloß nicht, Jon – du wirfst das Geld so raus!« Jonathan hatte heute davon gesprochen, auch einen Fernsehapparat zu kaufen. »Ich werf kein Geld raus«, sagte er ruhig. »So töricht bin ich nicht, Liebes.« Simone winkte ihn in den Flur, wo Georges sie nicht hören konnte. Jonathan schloß sie in die Arme, ihr Haar geriet in Unordnung, als sie den Kopf gegen die Mäntel an der Garderobe drückte und flüsterte: »Schon gut, Jon. Aber wann mußt du wieder nach Deutschland?« Simone gefielen diese Reisen gar nicht. Er hatte ihr erzählt, daß die Ärzte neue Mittel ausprobierten, die Per rier ihm verabfolgte, daß sein Zustand vielleicht gleich bleiben werde, sich aber möglicherweise auch verbes 197
sern konnte und jedenfalls nicht absinken werde. Aber da sie ihn angeblich für diese Tests bezahlten, war Simone überzeugt, daß er damit ein Risiko auf sich nahm. Jona than hatte ihr auch von dem großen Betrag nichts ge sagt, der bald auf der Schweizer Bank in Zürich eingehen mußte. Sie wußte nur, daß auf dem Konto bei der Socié té Générale in Fontainebleau jetzt etwa sechstausend Franc lagen; gewöhnlich waren es nur vier- oder sechs hundert, manchmal auch nur zweihundert, wenn sie ge rade eine Hypothekenrate bezahlt hatten. »Ein neues Sofa wäre schon wunderbar. Aber glaubst du wirklich, das sollte man jetzt kaufen? Zu dem Preis? Vergiß bloß die Hypothek nicht.« »Nein, wie könnte ich, mein Herz. Die verdammte Hy pothek.« Er lachte. Die Hypothek wollte er jetzt auf ein mal ablösen. »Schön, ich werde vorsichtig sein, ich versprech´s dir.« Jonathan wußte, er mußte sich etwas Besseres aus denken oder die bisher erzählte Geschichte noch weiter ausschmücken. Aber im Augenblick wollte er daran nicht denken, wollte sich nur dem Gedanken an sein neues Vermögen hingeben, das gar nicht ganz leicht aus zugeben war. Er konnte ja auch in den nächsten vier Wochen schon sterben. Die drei Dutzend Tabletten, die der Arzt in München ihm gegeben hatte und von denen er jetzt täglich zwei nahm, würden weder sein Leben ret ten noch den Zustand entscheidend verbessern. Ein Ge fühl der Sicherheit wäre doch nur Einbildung, aber selbst wenn: war es nicht, solange es anhielt, so real, so wirk lich wie alles andere? Was gab es denn sonst noch? War Glück nicht immer nur eine Gemütsverfassung? Eine Unbekannte allerdings gab es noch bei dieser Rechnung: die Tatsache, daß der Leibwächter Turoli am Leben war. 198
Am 29. April, einem Samstagabend, gingen Jonathan und Simone zu einem Schubert- und Mozart-Konzert, das ein Streichquartett im Theatersaal von Fontainebleau gab. Jonathan hatte die teuersten Karten gekauft und hätte auch Georges gern mitgenommen, der sich, wenn man ihn vorher warnte, durchaus betragen konnte, aber Simone war dagegen gewesen. Ihr war es viel peinlicher als ihrem Mann, wenn der Junge sich nicht musterhaft benahm. »Nächstes Jahr«, sagte sie. In der Pause gingen sie in das große Foyer, wo ge raucht werden durfte, und wo sie viele bekannte Gesich ter sahen, darunter auch Pierre Gauthier, der zu Jona thans Erstaunen mit steifem Kragen und schwarzer Kra watte gekommen war. »Sie sind ein Glanzlicht auf diesem Abend, Madame!« sagte er zu Simone und streifte ihr chinesenrotes Kleid mit bewunderndem Blick. Simone nahm das Kompliment liebenswürdig dankend entgegen. Sie sah tatsächlich heute besonders hübsch und strahlend glücklich aus, dachte Jonathan. Gauthier war allein, und es fiel Jona than plötzlich ein, daß seine Frau vor wenigen Jahren gestorben war, noch bevor Jonathan ihn richtig kennen gelernt hatte. »Ganz Fontainebleau ist heute abend hier«, sagte Gauthier mit lauter Stimme, um das Stimmengewirr zu übertönen. Das lebende Auge schweifte über die Men schenmenge in der Bogenhalle, und der kahle Schädel glänzte unter den grauschwarzen Haarsträhnen, die er sorgfältig darübergelegt hatte. »Trinken wir nachher noch einen Kaffee zusammen? Vielleicht in dem kleinen Café hier gegenüber?« fragte Gauthier. »Wenn ich Sie dazu einladen darf . . .« Simone und Jonathan wollten gerade zustimmen, als Gauthier sich ein wenig versteifte. Jonathan folgte sei 199
nem Blick und sah, nur wenige Meter entfernt, Tom Rip ley in einer Gruppe von vier oder fünf Leuten. Ripley fing seinen Blick auf und nickte, es sah aus, als wolle er nä her treten und sie begrüßen. Gauthier schob sich ein we nig zur Seite und war im Begriff zu gehen. Simone wand te den Kopf, um zu sehen, wen ihr Mann und Gauthier angesehen hatten. »Tout à l´heure, peut-être«, sagte Gauthier. Fragend blickte Simone Jonathan an; ihre Augenbrau en hoben sich. Ripleys Erscheinung fiel auf – nicht weil er mehr als mittelgroß war: eher weil er so unfranzösisch aussah mit seinem braunen Haar, das unter dem Kronleuchter gol den aufleuchtete. Er trug ein pflaumenblaues Abendja ckett aus Satin. Die helle Blondine neben ihm, die offen bar gar kein Make-up trug, mußte seine Frau sein. »Na –?« sagte Simone. »Wer ist das?« Jonathan wußte, wen sie meinte. Sein Herz schlug schneller. »Ich weiß nicht – ich habe ihn schon irgendwo gesehen, aber ich weiß nicht, wie er heißt.« »Er war mal bei uns – der Mann«, entgegnete Simone. »Das weiß ich noch, der war mal da. Mag Gauthier ihn nicht?« Eine Glocke ertönte, die Pause war zu Ende. »Weiß ich nicht. Warum?« »Weil er weg wollte«, sagte Simone, als sei das ganz offenkundig. Jonathans Freude an der Musik war verschwunden. Wo saß Tom Ripley – in einer der Logen? Jonathan blickte nicht hinauf. Vielleicht saß er auch auf der ande ren Parkettseite. Jonathan wußte, nicht Ripleys Anwe senheit hatte ihm den Abend verdorben, sondern Simo nes Reaktion, und die hatte er selber hervorgerufen, auch das war ihm klar, durch seine Unsicherheit in dem 200
Augenblick, als er Ripley erblickte. Er versuchte, alles beiseite zu schieben, sich zu entspannen, er verschränk te die Finger unter dem Kinn und wußte doch ganz ge nau, daß Simone sich nicht täuschen ließ. Sie hatte, wie viele andere, Gerüchte über Tom Ripley gehört (auch wenn sie im Augenblick nicht auf seinen Namen kam), und sie verband im Geiste Tom Ripley mit –? Mit was? Im Moment konnte Jonathan nicht sagen womit, aber er wußte und fürchtete, was nun kommen würde. Warum hatte er bloß seine Nervosität so offen, so naiv zur Schau getragen! Da saß er nun mitten drin im Dilemma. Es war eine verdammt riskante Situation, und er mußte unter allen Umständen die Nerven behalten, wenn das möglich war. Er mußte sich verstellen, schauspielern. Nicht ganz dasselbe wie damals, als er jünger war und auf der Büh ne vorankommen wollte. Dies hier war Wirklichkeit. Oder auch, wenn man so wollte, völlig falsch, verlogen, un wahr, und er hatte noch nie versucht, Simone gegenüber unwahr zu sein. »Komm, laß uns versuchen, Gauthier zu finden!« sag te er, als sie den Zwischengang hinauf schritten. Rings um hörte man noch immer lauten Applaus, der allmählich in das rhythmische Klatschen überging, mit dem das französische Publikum eine Zugabe zu erreichen hoffte. Aber sie fanden Gauthier nicht. Jonathan hatte auch nicht gehört, was Simone erwidert hatte; ihr schien nicht viel daran zu liegen, Gauthier zu finden. Zu Hause warte te der Babysitter – ein Mädchen, das in der Nähe wohn te. Es war fast elf Uhr. Jonathan suchte nicht nach Tom Ripley und sah ihn auch nicht. Am Sonntag waren sie zum Lunch in Nemours bei Si mones Eltern, zusammen mit ihrem Bruder Gérard und seiner Frau. Wie üblich wurde nach dem Essen das
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Fernsehen angestellt. Gérard und Jonathan schauten nicht zu. »Prima, daß die Boches dich als Versuchskarnickel bezahlen!« sagte Gérard lachend. Er lachte nicht oft. »Vorausgesetzt natürlich, daß es unschädlich ist.« Die Worte waren in hastigem Slang gesprochen; es war das erste, was Jonathan aus der Unterhaltung mit Bewußt sein aufnahm. Sie rauchten beide Zigarren, Jonathan hatte aus Ne mours ein Kistchen mitgebracht. »Ja. ´n ganzer Haufen Tabletten. Sie wollen eben gleichzeitig mit acht oder zehn Mitteln vorgehen. Sozusagen den Gegner in Verwir rung bringen, weißt du. Das erschwert es auch den geg nerischen Zellen, schnell immun zu werden, verstehst du.« Jonathan redete noch eine Weile weiter in dieser Tonart, halb überzeugt, daß das alles seine Erfindung war, halb aus dem Gedächtnis wiederholend, weil er sich an ein Mittel gegen Leukämie erinnerte, von dem er vor Monaten gelesen hatte.« Eine Garantie gibt´s da natür lich nicht, das ist klar. Es könnte Nebenwirkungen geben. Aber deshalb kriege ich ja das Geld, damit ich weiterma che.« »Was für Nebenwirkungen?« »Ach – zum Beispiel könnte der Gerinnungsspiegel des Blutes absinken.« Die sinnlosen Phrasen gelangen immer besser, offenbar inspirierte ihn der aufmerksame Zuhörer. »Oder Übelkeit – bisher habe ich aber nichts gemerkt. Sie kennen natürlich auch noch nicht alle Ne benwirkungen. Das riskieren sie eben. Und ich ebenso.« »Hm. Und wenn es gelingt? Wenn es für sie ein Erfolg wird, was ist damit dann gewonnen?« »Ein paar Jahre mehr«, erwiderte Jonathan heiter. Am Montag morgen fuhren Jonathan und Simone zu sammen mit Irène Pliesse – der Nachbarin, die nachmit 202
tags Georges hütete, bis Simone ihn abholte – zu dem Antiquitätenhändler etwas außerhalb von Fontainebleau, bei dem Jonathan ein Sofa zu finden glaubte. Irène Pliesse war eine kräftige und gutherzige Frau, sie kam Jonathan – vielleicht zu Unrecht – immer sehr männlich vor. Sie hatte zwei kleine Kinder und ihr Haus in Fontai nebleau war angefüllt mit Spitzendeckchen und Mullgar dinen. Und sie war stets großzügig, was ihre Zeit und ihren Wagen betraf; oft hatte sie sich erboten, die Tre vannys sonntags, wenn sie nach Nemours wollten, hinzu fahren, aber Simone war in solchen Dingen heikel und hatte das niemals angenommen, weil es sich bei Ne mours um eine reine Familienangelegenheit handelte. Deshalb hatte man heute das Anerbieten des Wagens ruhig annehmen können; und Irène war so interessiert an der Sache, als sei das Möbel für ihr eigenes Haus be stimmt. Der Händler hatte zwei Chesterfields auf Lager, bei beiden war das Holzgestell alt, und beide waren mit neu em schwarzem Leder bezogen. Das größere gefiel Jona than und Simone noch besser, und Jonathan erreichte es sogar, daß der Händler um fünfhundert Franc auf drei tausend herunterging. Jonathan wußte, es war ein guter Kauf, er hatte das gleiche Sofa abgebildet gesehen zu einem Preis von fünftausend. Jetzt kam ihm der enorme Betrag von dreitausend Franc – soviel ungefähr verdien ten sie beide zusammen im Monat – schon lächerlich vor. Erstaunlich, wie schnell man sich daran gewöhnte, Geld zu haben. Selbst Irène, deren Haus, verglichen mit dem der Tre vannys, geradezu großartig wirkte, war von dem Sofa beeindruckt. Und Jonathan merkte, daß Simone nicht gleich wußte, was sie sagen sollte, um weiteren Fragen der Nachbarin zuvorzukommen. 203
»Jon hat eine kleine Erbschaft gemacht – aus Eng land. Viel war es nicht, aber wir wollten uns irgendwas richtig Schönes dafür leisten.« Irène nickte. Alles in Ordnung, dachte Jonathan. Am nächsten Abend, bevor sie sich zum Essen setz ten, sagte Simone: »Ich habe heute bei Gauthier herein geschaut.« Bei dem Klang ihrer Stimme war Jonathan sofort auf der Hut. Er hatte einen Whisky mit Soda vor sich und be sah sich die Abendzeitung. »Ja –?« »Jon, sag mal – war es nicht dieser Mr. Ripley, der Gauthier erzählt hat, daß du – daß du nicht mehr lange zu leben hättest?« Simone sprach halblaut, obgleich Georges oben war, vermutlich in seinem Zimmer. Ob Gauthier es zugegeben hatte, als Simone ihn di rekt danach fragte? Jonathan wußte nicht, wie Gauthier auf eine direkte Frage reagieren würde; Simone verstand es, mit sanfter Hartnäckigkeit so lange zu fragen, bis sie Antwort erhielt. »Gauthier hat mir gesagt«, begann Jonathan, »daß jemand – na ja, das habe ich dir ja erzählt, er wollte nicht sagen, von wem er es gehört hatte. Ich weiß es also auch nicht.« Simone blickte ihn an. Sie saß auf dem schwarzen Chesterfield-Sofa, das seit gestern das Wohnzimmer verschönte. Und Ripley war es zu verdanken, daß sie dort saß, dachte Jonathan, aber der Gedanke war ihm keine Hilfe. »Hat Gauthier dir denn gesagt, daß es Ripley war?« fragte Jonathan mit gespieltem Erstaunen. »O nein, das wollte er nicht sagen. Aber ich habe ihn einfach gefragt: ›War es Mr. Ripley?‹ Ich habe Ripley beschrieben – den Mann, den wir im Konzert sahen. Gauthier wußte genau, wen ich meinte. Und du scheinst 204
ihn auch zu kennen – jedenfalls dem Namen nach.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Cinzano. Jonathan glaub te zu sehen, daß ihre Hand bebte. »Möglich ist es natürlich«, sagte Jonathan und zuckte die Achseln. »Vergiß nicht, Gauthier sagte, wer es ihm auch erzählt hätte –« Jonathan lachte kurz auf. »Ach, was soll das ganze Gerede! Er sagte jedenfalls, der Mann habe eingeräumt, daß er sich durchaus irren kön ne. Es wird so viel übertrieben. Wirklich, mein Herz, am besten denken wir nicht mehr daran. Es hat keinen Zweck, irgend jemand Unbekanntem die Schuld zu ge ben. Und überhaupt so viel daraus zu machen.« »Ja, aber –« Simone legte den Kopf zurück, ihre Lip pen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln, das Jona than erst ein- oder zweimal an ihr bemerkt hatte. »Das Komische ist ja gerade, daß es tatsächlich Ripley war. Das weiß ich. Nicht, daß Gauthier das gesagt hätte – das hat er nicht, nein. Aber ich hab´s gemerkt . . . Jon?« »Ja, mein Liebes?« »Es ist bloß, weil – weil dieser Ripley – er soll ein Gauner sein. Vielleicht ist er einer. Viele Gauner laufen ja frei rum, nicht wahr? Deshalb frage ich ja. Und ich frage dich. Bist du – Jon, all das Geld – kommt das vielleicht von diesem Ripley?« Jonathan zwang sich, Simone gerade anzusehen. Was er schon an Geld besaß, mußte er jetzt hüten, und es hing ja vielleicht nicht so eng mit Ripley zusammen, daß es gelogen war, wenn er die Frage verneinte. »Aber Liebes – wie sollte es? Wofür denn bloß?« »Weil er eben ein Gauner ist! Wer kann wissen wofür? Was hat er mit den deutschen Ärzten zu tun? Sind es auch wirklich Ärzte, die Leute, von denen du mir erzählt hast?« Ihre Stimme klang fast hysterisch. Das Blut stieg ihr ins Gesicht. 205
Jonathan runzelte die Stirn. »Aber Darling, Perrier hat doch die beiden Befunde in der Hand!« »Aber die Versuche sind gefährlich, Jon, sonst würden sie dir nicht soviel Geld dafür geben, stimmt das nicht? Ach, Jon, ich glaube, du sagst mir nicht die ganze Wahr heit.« Jonathan lachte kurz auf. »Tom Ripley, dieser Nichts tuer, was sollte der wohl – und überhaupt ist er Amerika ner. Was sollte der mit deutschen Ärzten zu tun haben?« »Die deutschen Ärzte hast du doch nur aufgesucht, weil du dachtest, du müßtest bald sterben. Und Ripley, da bin ich ziemlich sicher, hat die Geschichte in die Welt gesetzt, daß du bald sterben müßtest.« Von oben kam jetzt Georges die Treppe herunterge poltert und unterhielt sich dabei mit einem Spielzeug, das er hinter sich herzog. Georges in seiner Traumwelt – a ber er selber, der Sohn, war lebendig und gegenwärtig, nur ein paar Meter entfernt. Jonathan war verstört. Es war unglaublich, daß Simone so viel herausgefunden hatte. Er mußte es abstreiten, unter allen Umständen. Simone wartete auf seine Antwort. Er sagte: »Ich weiß wirklich nicht, wer es Gauthier gesagt hat.« Georges stand in der Tür und Jonathan atmete er leichtert auf, denn damit war die Unterhaltung beendet. Georges fragte etwas nach einem Baum, der vor seinem Fenster stand. Jonathan hörte nicht zu und ließ Simone darauf eingehen. Beim Essen hatte er das Gefühl, daß Simone ihm nicht ganz glaubte, daß sie ihm gern glauben wollte und nicht konnte. Trotzdem war sie – vielleicht wegen des Kindes – fast so wie sonst, weder kühl noch abweisend. Doch für Jonathan war die Atmosphäre unerfreulich. Und so würde es nun bleiben, bis er mit einer neuen Ge schichte herauskam, irgendeinem speziellen Anlaß für 206
größere Zahlungen der deutschen Krankenhäuser. Es war ihm tief verhaßt, weiter lügen und dabei die angebli che Gefahr für sich noch übertreiben zu müssen, um die Zahlungen glaubhaft zu machen. Ob es Simone am Ende auch einfallen mochte, Tom Ripley selber zur Rede zu stellen? Sie konnte ihn doch einfach anrufen –? Sich irgendwo mit ihm treffen? Aber Jonathan schob den Gedanken beiseite. Simone konnte Tom Ripley nicht leiden, sie würde bestimmt nicht den Wunsch haben, ihm irgendwie nahezukommen. Noch in der gleichen Woche erschien Tom Ripley ei nes Tages bei Jonathan im Laden. Sein Bild war schon seit Tagen fertig. Jonathan hatte gerade einen Kunden, und Ripley trat näher und betrachtete einige fertige Bil derrahmen, die an die Wand gelehnt waren. Er war of fenbar entschlossen zu warten. Endlich war der Kunde gegangen. »Morgen«, sagte Tom freundlich. »Ich konnte nieman den finden, der mein Bild abholen konnte, deshalb bin ich schnell selber gekommen.« »Schön. Ja, das Bild ist fertig«, gab Jonathan zur Ant wort und ging nach hinten, um das Bild zu holen. Es war in braunes Papier eingepackt, aber nicht verschnürt. Ein Etikett mit dem Namen RIPLEY war mit Klebstreifen am Papier befestigt. Jonathan trug es zum Ladentisch. »Wol len Sie es sehen?« Es gefiel Tom sehr gut. Er hielt es auf Armeslänge von sich und sagte erfreut. »Ja, ganz prima. Sehr hübsch, wirklich. Was schulde ich Ihnen?« »Neunzig Franc.« Tom zog die Brieftasche hervor. »Ist sonst alles in Ordnung?« Jonathan merkte, daß er erst Luft holen mußte, bevor er ihm antwortete. »Da Sie schon fragen –« Mit höflichem 207
Nicken nahm er den Hundert-Franc-Schein, zog die Geldschublade hervor und entnahm ihr das Wechselgeld. »Meine Frau –« Er blickte zur Tür hinüber, froh daß im Augenblick niemand kam. »Meine Frau war bei Gauthier. Er hat ihr nicht gesagt, daß die Geschichte von meinem Ableben von Ihnen kam. Aber meine Frau ist anschei nend von selber draufgekommen. Wie, das weiß ich nicht. Intuition vielleicht.« Tom hatte erwartet, daß es so kommen werde. Er wußte, welchen Ruf er genoß, daß ihm viele Leute nicht trauten und ihm aus dem Wege gingen. Im Grunde hätte er überhaupt längst erledigt sein müssen – jeder andere wäre längst erledigt gewesen; gerettet hatte ihn nur die Tatsache, daß die meisten Leute, wenn sie ihn kennen gelernt hatten, wenn sie ihn einmal in Belle Ombre be sucht und einen Abend bei ihm verbracht hatten, ihn und Heloise einfach gern hatten. Man mochte sie beide, und sie wurden wieder eingeladen. »Ja – und was haben Sie dann gesagt?« Jonathan versuchte schnell zu sprechen, sie hatten vielleicht nicht viel Zeit. »Genau das, was ich immer ge sagt habe. Daß Gauthier mir nie erzählt hat, von wem die Geschichte kam. Das ist ja auch wahr.« Ja, das wußte Tom – Gauthier war standhaft geblie ben und hatte den Namen nie preisgegeben. »Kopf hoch – Sie müssen die Nerven behalten. Wenn wir uns nicht mehr sehen – tut mir leid wegen neulich, im Konzert«, fügte er mit leichtem Lächeln hinzu. »Ja. Bloß – es ist alles schwierig. Das Schlimmste ist, sie versucht jetzt – sie bringt Sie in Verbindung mit dem Geld, das wir jetzt haben. Ich habe ihr noch gar nicht ge sagt, wieviel es ist.«
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Auch daran hatte Tom gedacht. Ja, es war unerfreu lich. »Ich werde Ihnen keine Bilder mehr bringen, zum Einrahmen.« Ein Mann, der eine große, aufgespannte Leinwand trug, versuchte vorsichtig durch die Tür zu kommen. »Bon, M´sieur!« sagte Tom leichthin und winkte mit der freien Hand. »Merci. Bonsoir.« Tom trat auf die Straße. Wenn Trevanny ernsthaft in Nöten war, würde er ihn schon anrufen. Das hatte Tom ihm mindestens einmal geraten. Es war natürlich Pech für Trevanny, wirklich sehr übel, daß nun seine Frau Tom Ripley für den Urheber der dummen Geschichte hielt. Andererseits war es nicht leicht, von dort eine Verbin dung festzustellen zu den Geldsummen aus den Ham burger und Münchener Krankenhäusern, und noch viel weniger zu dem Mord an den beiden Mafiosi. Am Sonntag morgen hängte Simone im Garten Wä sche auf, während Jonathan mit Georges eine Mauer baute, als die Türglocke läutete. Es war eine Nachbarin, eine Frau von etwa sechzig Jahren; den Namen wußte Jonathan nicht genau – De lattre? Delambre? Sie sah verstört aus. »Entschuldigen Sie, M. Trevanny.« »Bitte kommen Sie doch herein«, sagte Jonathan. »Es ist wegen M. Gauthier. Haben Sie schon gehört?« »Nein, was –« »Er ist gestern abend überfahren worden. Er ist tot.« »Tot? Hier in Fontainebleau?« »Er war auf dem Heimweg, gegen zwölf, er kam von einem Bekannten in der Rue de la Paroisse. Gauthier wohnt doch Rue de la République, gleich um die Ecke bei der Avenue Franklin Roosevelt. Da an der Kreuzung mit dem grünen Dreieck war es, wo die Ampel ist. Einer hat auch die Leute gesehen, die schuld waren, zwei jun 209
ge Leute im Wagen, sie haben nicht mal angehalten. Bei rotem Licht über die Kreuzung, dabei haben sie ihn über fahren und haben nicht mal angehalten!« »Mein Gott, wie entsetzlich. – Aber wollen sie nicht Platz nehmen, Madame –« Simone stand im Flur. »Bonjour, Mme. Delattre«, sag te sie freundlich. »Simone, Gauthier ist tot«, sagte Jonathan. »Überfah ren, und der Wagen fuhr einfach weiter.« »Zwei junge Männer!« sagte Mme. Delattre. »Sie ha ben nicht angehalten.« Simone schnappte nach Luft. »Wann war das?« »Gestern nacht. Er war schon tot, als er im Kranken haus eingeliefert wurde. Kurz vor zwölf war das.« »Bitte kommen Sie doch herein und nehmen Sie Platz«, bat Simone. »Nein, vielen Dank, wirklich nicht. Ich muß noch zu ei ner Bekannten, Mme. Mockers, ich weiß nicht, ob sie es schon gehört hat. Wir kannten ihn doch alle so gut.« Sie war den Tränen nahe und setzte einen Augenblick ihren Korb ab, um sich die Augen zu trocknen. Simone drückte ihr die Hand. »Danke, daß Sie uns Bescheid gesagt haben, Mme. Delattre. Das war sehr freundlich.« »Montag ist die Beerdigung«, sagte Mme. Delattre. »In St-Louis.« Dann war sie fort. Die Nachricht war in Jonathan irgendwie noch nicht eingedrungen. »Wie heißt sie?« »Mme. Delattre. Ihr Mann ist Klempner«, erwiderte Simone, als müsse Jonathan das wissen. Delattre war nicht der Klempner, den sie immer hatten. Und Gauthier war tot. Was wurde nun aus seinem Ge schäft, dachte Jonathan. Er stand da und starrte Simone an. Sie waren immer noch im Flur. 210
»Tot«, sagte Simone. Sie streckte die Hand aus und ergriff Jonathans Handgelenk, doch sie sah ihn dabei nicht an. »Wir müssen zu der Beerdigung, Jon.« »Ja, natürlich.« Eine katholische Beisetzung. Aber heute wurde französisch gebetet, nicht mehr lateinisch. Im Geist sah er alle Nachbarn vor sich, bekannte und unbekannte Gesichter, und die feierlich-kühle Kirche vol ler Kerzen. »Fahrerflucht«, sagte Simone. Mit steifen Schritten ging sie über den Flur und sah sich über die Schulter nach Jonathan um. »Wirklich entsetzlich.« Jonathan folgte ihr durch die Küche in den Garten. Es tat wohl, wieder draußen zu sein, in der Sonne. Simone war jetzt fertig mit dem Aufhängen der Wä sche. Sie schob einiges auf der Leine zurecht und nahm dann den leeren Korb an sich. »Fahrerflucht. Glaubst du das, Jon?« »Das hat sie doch gesagt.« Beide sprachen halblaut. Jonathan war immer noch etwas verstört. Er wußte, was Simone meinte. Sie kam einen Schritt näher mit ihrem Korb. Dann winkte sie ihn zu der kleinen Treppe, die auf die Veranda führte, als ob Nachbarn auf der anderen Seite der Gar tenmauer sie hören könnten. »Glaubst du, er wurde ab sichtlich umgebracht? Von einem, der dafür bezahlt wur de?« »Aber warum denn, Simone?« »Weil er vielleicht etwas wußte – darum. Das wäre doch möglich. Warum sollte ein harmloser Mensch so umkommen – durch einen Unfall?« »Weil so etwas eben passiert«, gab Jonathan zur Antwort. Simone schüttelte den Kopf. »Hältst du es nicht auch für möglich, daß M. Ripley was damit zu tun hat?« 211
Jonathan spürte die irrationale Empörung, die sie er füllte. »Nein – ganz bestimmt nicht. Das glaube ich nicht einen Moment.« Er hätte glatt um sein Leben gewettet, daß Tom Ripley hiermit nichts zu tun hatte, und war im Begriff, das auch zu sagen, aber die Worte kamen ihm etwas zu stark vor, und anders betrachtet wäre eine Wet te um sein Leben ja wohl geradezu komisch gewesen. Simone wollte ins Haus gehen und blieb einen Augen blick neben ihm stehen. »Ja, es stimmt, Jon – Gauthier hat mir nichts Bestimmtes gesagt. Aber gewußt hat er etwas, da bin ich ganz sicher. Und ich habe das Gefühl, daß ihn jemand absichtlich umgebracht hat.« Es war der Schock, dachte Jonathan. Sie war genau wie er selber tief betroffen und sprach Gedanken aus, die sie nicht zu Ende gedacht hatte. Er folgte ihr in die Kü che. »Wieso soll er etwas gewußt haben – wovon denn?« Simone war dabei, den Korb in den Eckschrank zu stellen. »Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht.«
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Der Trauergottesdienst für Pierre Gauthier fand am Mon tag um zehn Uhr in der Kirche von St-Louis statt, der Hauptkirche von Fontainebleau. Sie war voll von Men schen, auch draußen standen noch Leute, und vor der Kirche hielten trübselig wartend die beiden schwarzen Autos: ein schimmernder Leichenwagen und ein kasten artiger Bus für die Familienmitglieder und Freunde, die keine eigenen Wagen hatten. Gauthier war Witwer ge wesen, kinderlos; vielleicht war da noch ein Bruder oder eine Schwester mit ein paar Nichten und Neffen – hof fentlich, dachte Jonathan. Die Trauerfeier kam ihm so einsam vor, trotz all der Menschen. »Wußten Sie, daß er sein Glasauge auf der Straße verloren hat?« flüsterte der Mann neben Jonathan ihm in der Kirche zu. »Bei dem Anprall ist es ihm rausgefallen.« »Ach –?« Teilnehmend schüttelte Jonathan den Kopf. Der Mann neben ihm war ein Ladenbesitzer, Jonathan kannte ihn vom Sehen, aber er kam nicht drauf, welcher Laden ihm gehörte. Er sah im Geist Gauthiers Glasauge auf der Asphaltstraße liegen – vielleicht war es inzwi schen längst zerbrochen, von schweren Rädern überfah ren, aber vielleicht hatte auch ein neugieriges Kind es gefunden und aufbewahrt. Wie mochte ein Glasauge von hinten aussehen? Die Kerzen flimmerten gelblichweiß, sie reichten kaum aus, um die trübgrauen Wände der Kirche zu erhellen. Draußen hingen die Wolken tief. Der Priester intonierte jetzt die vorgeschriebenen Sätze; vor dem Altar stand der Sarg, kurz und gedrungen. Wenn Gauthier keine Familie hatte, an Freunden hatte es ihm nicht gefehlt. Mehrere Frauen und auch einige Männer wischten sich die Augen; 213
andere flüsterten leise miteinander, als fänden sie mehr Trost in den eigenen Worten als in den rituellen Formeln des Geistlichen. Ein zartes Läuten ertönte, fast wie ein Glockenspiel. Jonathan blickte nach rechts hinüber, zu den Stuhlrei hen auf der anderen Seite des Mittelgangs, und sein Blick fiel auf das Profil von Tom Ripley, der geradeaus nach vorn blickte, wo jetzt der Geistliche wieder sprach; er schien den Worten aufmerksam zu lauschen. Sein Gesicht, dachte Jonathan, unterschied sich deutlich von den vielen französischen Köpfen ringsum. Oder stimmte das gar nicht – fiel es nur ihm auf, weil er Tom Ripley kannte? Warum war Ripley überhaupt gekommen? Im nächsten Augenblick überlegte Jonathan, ob Ripley viel leicht demonstrativ gekommen war, um gesehen zu wer den, weil er, wie Simone annahm, tatsächlich etwas mit Gauthiers Tod zu tun hatte, ihn vielleicht sogar geplant und dafür bezahlt hatte? Als sich alle Leute erhoben, um langsam die Kirche zu verlassen, versuchte Jonathan, Tom Ripley nicht zu be gegnen; um das zu erreichen, war es sicher das beste, ihm nicht absichtlich aus dem Wege zu gehen und vor allem nicht wieder zu ihm hinüberzublicken. Aber auf den Stufen vor der Kirche stand Tom Ripley plötzlich neben Jonathan und Simone und begrüßte sie. »Guten Morgen!« sagte er auf Französisch. Er trug ei nen schwarzen Schal zu seinem dunkelblauen Regen mantel. »Bonjour Madame. Ich freue mich, Sie beide zu sehen – ich glaube, Sie waren Freunde von M. Gauthier, nicht wahr.« Alle schritten jetzt langsam die Stufen hinunter – sehr vorsichtig, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, denn die Menge war dicht gedrängt.
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»Oui«, erwiderte Jonathan. »Er hatte sein Geschäft bei uns in der Nähe. Wir mochten ihn sehr gern.« Tom nickte. »Ich hab heute morgen noch keine Zei tung gesehen. Ein Bekannter in Moret rief mich an, der hat es mir erzählt. Weiß die Polizei schon, wer es getan hat?« »Davon habe ich nichts gehört«, sagte Jonathan. »Zwei junge Leute, das war alles. Hast du noch etwas gehört, Simone?« Simone schüttelte den Kopf, der in einen dunklen Schal gehüllt war. »Nein, gar nichts.« Tom nickte. »Ich dachte, Sie hätten vielleicht etwas gehört, weil Sie näher wohnen als ich.« Seine Teilnahme schien tatsächlich echt, dachte Jona than. Das war nicht gespielt. »Ich werde mir eine Zeitung besorgen. – Gehen Sie mit zum Friedhof?« fragte Tom. »Nein«, erwiderte Jonathan. Tom nickte. Sie waren jetzt auf dem Gehweg ange langt. »Ich auch nicht. Ja, Gauthier wird mir fehlen. Scheußliche Sache. Auf Wiedersehen – hat mich gefreut, Sie zu sehen.« Er lächelte kurz und ging. Jonathan und Simone schritten um die Kirche herum und bogen in die Rue de la Paroisse ein, die nach Hause führte. Nachbarn nickten ihnen zu, lächelten ein wenig oder sagten: »Guten Morgen, Madame, M´sieur« – es klang ein bißchen anders als an anderen Tagen. Auto fahrer ließen ihre Wagen an, um dem Sarg auf den Friedhof zu folgen; es fiel Jonathan ein, daß der Friedhof gleich hinter dem Krankenhaus lag, wo er so viele Trans fusionen bekommen hatte. »Bonjour, M. Trevanny! Und Madame!« Lebhaft wie immer, und auch fast so strahlend wie immer stand Dr. Perrier vor ihnen. Er schüttelte Jonathan die Hand und 215
machte dabei eine kleine Verbeugung zu Simone hin. »Schrecklich, nicht wahr? Nein, nein, nein, die Leute hat man noch nicht gefunden. Irgend jemand sagte, es sei ein Pariser Wagen gewesen, ein schwarzer D. S. Mehr weiß man noch nicht . . . Und wie geht es Ihnen, M. Tre vanny?« Mit zuversichtlichem Lächeln sah er Jonathan an. »Immer dasselbe«, sagte Jonathan. »Kein Grund zur Klage.« Er war froh, daß Dr. Perrier sich gleich wieder zum Gehen wandte, denn Simone mußte annehmen, daß er den Arzt jetzt recht häufig aufsuchte, um sich Tab letten und Injektionen geben zu lassen; tatsächlich war er aber zuletzt vor zwei Wochen bei ihm gewesen, um ihm den Befund von Dr. Schroeder zu bringen, der bei ihm im Geschäft angekommen war. »Wir müssen eine Zeitung besorgen«, sagte Simone. »Ja, oben an der Ecke«, meinte Jonathan. Sie holten die Zeitung, und Jonathan blieb auf dem Gehweg stehen, während immer noch viele Teilnehmer des Trauergottesdienstes vorübergingen, und las von dem ›schändlichen Leichtsinn junger Banditen‹, der am späten Samstag abend in Fontainebleau zu dem Unfall geführt hatte. Simone blickte ihm über die Schulter und las mit. Die Wochenendzeitung hatte den Vorfall nicht mehr bringen können, deshalb war dies der erste Bericht, der ihnen vor die Augen kam. Es war die Rede von ei nem großen schwarzen Wagen mit mindestens zwei jun gen Männern; von einem Pariser Nummernschild war nichts erwähnt. Der Wagen war in Richtung Paris davon gejagt, und die Polizei hatte ihn nicht mehr einholen kön nen. »Es ist wirklich furchtbar«, sagte Simone nachdenk lich. »Weißt du, es kommt in Frankreich gar nicht so oft vor, daß der Fahrer einfach weiterfährt nach so was . . .« 216
Eine Spur von Chauvinismus war in ihrer Stimme zu hö ren. »Deshalb werde ich eben den Verdacht nicht los –« Sie hob die Schultern. »Ich kann mich natürlich irren. A ber zu diesem Typ Ripley würde es passen, daß er dann noch bei der Beerdigung erscheint.« »Er hat –« Jonathan hielt inne. Er hatte sagen wollen, daß Ripleys Teilnahme ihm ganz aufrichtig vorgekommen war und daß er außerdem ein Kunde von Gauthier ge wesen war und seine Farben bei ihm gekauft hatte, aber ihm fiel noch rechtzeitig ein, daß er das ja gar nicht wis sen durfte. »Was meinst du damit – es würde zu ihm passen?« Wieder zuckte Simone die Achseln, und Jonathan kannte diese Geste und wußte, sie konnte jeden Augen blick aufhören, überhaupt noch etwas zu dem Thema zu sagen. »Ich halte es für möglich, daß dieser Ripley von M. Gauthier erfahren hat, daß ich mit ihm gesprochen habe und daß ich ihn gefragt habe, woher diese Story über dich stammt. Ich sagte dir ja, ich glaube, daß es Ripley war, obgleich Gauthier das nicht zugeben wollte. Und nun dieser – dieser sehr mysteriöse Unfall.« Jonathan schwieg. Sie waren jetzt fast in ihrer Straße angekommen. »Aber diese Geschichte, Liebes«, sagte er dann, »für so was bringt man doch einen Menschen nicht um. Sei mal vernünftig, das ist doch ausgeschlossen.« Simone fiel es plötzlich ein, daß sie noch etwas zum Lunch brauchte. Sie trat in die Schlachterei; Jonathan blieb draußen und wartete. Und plötzlich wurde ihm se kundenlang klar – anders als bisher, es war, als sähe er mit Simones Augen – was er getan hatte, als er einen Mann erschoß und bei der Tötung des anderen mithalf. Bisher hatte er immer nur mit dem Verstand argumentiert und sich gesagt, die beiden Männer seien selber nur Kil ler und Mörder gewesen. Simone würde es selbstver 217
ständlich so nicht ansehen; für sie waren es einfach Men schen. Simone hatte sich schon aufgeregt bei dem Gedanken, daß Tom Ripley vielleicht – nur vielleicht – jemand angeheuert hatte, um Gauthier zu töten. Wenn sie ahnte, daß ihr eigener Mann jemanden erschossen hatte . . . Nicht auszudenken. Oder kamen ihm diese Ge danken jetzt nur, weil er gerade dem Trauergottesdienst beigewohnt hatte? Der Geistliche hatte immerhin von der Heiligkeit menschlichen Lebens gesprochen, wenn er auch hinzufügte, das Leben im Jenseits werde viel schö ner sein. Jonathan verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. Es war das Wort Heiligkeit – Simone kam aus der Schlachterei, beladen mit kleinen Päckchen, weil sie ihr Einkaufsnetz nicht bei sich hatte. Er nahm ihr einige ab, und sie gingen weiter. Heiligkeit. Jonathan hatte Reeves das Buch von der Mafia zurückgegeben. Wenn ihn jemals wirkliche Reue überkommen sollte wegen seiner Tat, so brauchte er nur an die brutalen Mörder zu denken, von denen er da gele sen hatte. Trotzdem war Jonathan die Angst nicht ganz los, als er hinter Simone die Stufen zur Haustür hinaufstieg. Es lag wohl daran, weil Simone jetzt Tom Ripley so feindse lig gegenüberstand. Simone hatte sich aus Gauthier gar nicht so viel gemacht, von seinem Tod konnte sie nicht so erregt sein. Ihre Haltung war bestimmt von einem sechsten Sinn, von konventioneller Moral und weiblichem Beschützerinstinkt. Sie war der Ansicht, daß Ripley das Gerücht von Jonathans baldigem Ableben ins Leben ge rufen habe, und von dieser Überzeugung würde sie sich jetzt nicht mehr abbringen lassen, denn kein anderer kam sonst für sie in Frage als Urheber der Story, vor allem jetzt, wo Gauthier tot war und Jonathan nicht mehr unter
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stützen konnte, falls er versuchte, einen anderen Urheber zu finden. Tom nahm im Wagen den schwarzen Schal ab und fuhr nach Süden in Richtung auf Moret und sein Zuhause. Sehr schade mit Simone – daß sie ihm so feindlich ge sinnt war und daß sie annahm, er habe bei Gauthiers Tod die Hand im Spiel gehabt. Tom nahm eine Zigarette und zündete sie an dem Feuerzeug im Armaturenbrett an. Er saß in dem roten Alfa-Romeo und wäre gern schneller gefahren, hielt sich jedoch zurück. Es war ein Unfall gewesen, Gauthiers Tod, ganz si cher. Ein scheußlicher Unfall, aber eben doch etwas Zu fälliges – wenn Gauthier nicht in Dinge verwickelt war, von denen Tom nichts ahnte. Eine große Elster schoß quer über die Straße, wun derbar anzusehen vor dem Hintergrund der blaßgrünen Trauerweiden. Jetzt war auch die Sonne herausgekom men. Tom überlegte, ob in Moret noch etwas zu besor gen war – eigentlich gab es immer irgendwas, das Mme. Annette gern haben wollte oder brauchte – aber heute fiel ihm nichts ein, und er hatte auch keine Lust anzuhal ten. Es war sein Rahmenmacher in Moret, der ihn ges tern angerufen und ihm von Gauthier berichtet hatte; Tom mußte ihm irgendwann mal erzählt haben, daß er seine Farben bei Gauthier in Fontainebleau kaufte. Er trat auf den Gashebel und überholte erst einen Lastwa gen, dann zwei schnelle Citroëns und war gleich darauf an der Abzweigung nach Villeperce. »Tome – da war ein Ferngespräch für dich«, sagte He loise, als er ins Wohnzimmer trat. »Ja –? Woher?« Aber er wußte Bescheid – es war si cher Reeves. 219
»Deutschland, glaube ich.« Heloise ging wieder an das Cembalo, das nahe der großen Glastür einen Ehren platz erhalten hatte. Tom erkannte eine Chaconne von Bach, deren Noten sie vor sich hatte. »Wollen sie noch mal anrufen?« fragte er. Heloise wandte den Kopf, das lange blonde Haar schwang zur Seite. »Keine Ahnung, chéri. Ich hab bloß mit dem Fernamt gesprochen, es war ein R-Gespräch für dich. Da ist es schon!« sagte sie, als das Telefon klingel te. Tom stürzte nach oben in sein Zimmer. Die Telefonis tin fragte, ob M. Ripley am Apparat sei, dann kam Ree ves´ Stimme: »Hallo, Tom. Kannst du da reden?« Er klang ruhiger als beim letztenmal. »Ja. Wo bist du – in Amsterdam?« »Ja, und ich hab dir was zu sagen, worüber du dich freuen wirst und was nicht in der Zeitung steht. Der Leib wächter ist tot. Du weißt doch – der, den sie nach Mai land gebracht haben.« »Wer hat das gesagt?« »Ich hab´s von einem Freund in Hamburg gehört. Zu verlässige Quelle.« Es war die Art Story, die man bei der Mafia ausgab, dachte Tom. Glauben würde er es erst, wenn er die Lei che sah. »Ja. Sonst noch was?« »Ich dachte, es wäre ganz erfreulich für unseren Freund, daß der Kerl tot ist. Du weißt schon.« »Ja, sicher. Ich verstehe schon. Und wie geht´s dir?« »Na, ich lebe noch.« Das Lachen klang gezwungen. »Ich will sehen, daß ich meinen Haushalt herkommen lasse, aus Hamburg. Mir gefällt´s hier in Amsterdam, und ich kann dir sagen, ich fühle mich sehr viel sicherer hier. 220
Ach ja, noch etwas – mein Freund Fritz. Er wohnt jetzt bei einem Vetter in einer Kleinstadt bei Hamburg. Aber sie haben ihn zusammengeschlagen, den armen Kerl. Paar Zähne hat er verloren. Die Schweine haben ver sucht, möglichst viel aus ihm rauszukriegen . . .« Das war riskant, dachte Tom. Armer, unbekannter Fritz – offenbar Reeves´ Fahrer oder Helfer. Einen Au genblick tat er Tom leid. »Fritz kannte unseren Freund immer nur als ›Paul‹«, fuhr Reeves fort. »Er hat ihnen auch eine ganz falsche Beschreibung gegeben, schwarzhaarig, klein und dick, aber ich fürchte, sie haben ihm das nicht abgenommen. Fritz hat sich gut gehalten, das muß man sagen – bei der Massage. Er sagt, er ist fest geblieben, ich meine bei der Beschreibung, wie unser Freund aussieht, und mehr weiß er ja auch nicht über ihn. Wer hier im Schlamassel sitzt, das bin ich.« Ja, damit hatte er sicher recht, dachte Tom, denn die Italiener wußten sehr gut, wie Reeves aussah. »Sehr in teressant, das alles. Aber ich glaube, wir sollten jetzt nicht allzulange reden. Was hast du jetzt für Sorgen, im Augenblick?« Reeves seufzte hörbar. »Meine Sachen. Aber ich habe Gaby Geld geschickt, und sie wird dafür sorgen, daß der Kram herkommt. Meiner Bank habe ich auch geschrie ben. Ich lasse mir sogar einen Bart wachsen! Und natür lich habe ich hier – bin ich hier unter anderem Namen.« Das hatte Tom sich gedacht – einen anderen Namen mit einem der falschen Pässe. »Wie ist der Name?« »Andrew Lucas – aus Virginia«, sagte Reeves und ließ ein »Hah!« folgen, was wohl Lachen bedeuten sollte. »Hast du übrigens unseren Freund mal wieder getrof fen?«
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»Nein – wozu? Also dann, Andy, gib mir Bescheid, wie alles weiterläuft.« Tom war überzeugt, daß Reeves ihn anrufen würde, sobald er in Schwierigkeiten geriet – falls er dann noch in der Lage war anzurufen – denn für Ree ves war Tom Ripley der Mann, der jeder Lage gewach sen war und ihn aus jedem Dilemma befreien konnte. Aber Tom lag vor allem wegen Trevanny daran, über Reeves´ Situation informiert zu bleiben. »Ja, das werd ich tun, gewiß. Ach, Tom, noch eins! In Hamburg haben sie einen von der Di-Stefano-Sippe um gelegt! Samstag abend. Vielleicht wirst du´s in der Zei tung finden, vielleicht aber auch nicht, ich weiß nicht. Das waren bestimmt die Genottis, weißt du. Genau das, was wir wollten . . .« Endlich legte Reeves auf. Wenn die Mafialeute Reeves in Amsterdam erwisch ten, dann kriegten sie mit Foltern einiges aus ihm heraus, dachte Tom. Er glaubte nicht, daß Reeves soviel aushal ten konnte, wie Fritz anscheinend ausgehalten hatte. Welche der Familien wohl Fritz auf die Spur gekommen war, die Di Stefanos oder die Genottis? Fritz war wahr scheinlich nur über die erste Sache im Bilde, die Er schießung in Hamburg, und das Opfer war bloß ein Handlanger gewesen, einer von den unteren Rängen. Bei den Genottis lag jetzt die Sache anders: die hatten einen Capo verloren und dazu nun noch einen Leibwäch ter, wie es hieß. Ob sich jetzt nicht beide Familien längst darüber klar waren, daß Reeves und die Boys in den Hamburger Kasinos die Urheber der Taten waren und daß es sich hier keineswegs um eine Familienfehde han delte? Waren sie jetzt fertig mit Reeves? Tom fühlte sich völlig außerstande, Reeves zu schützen, falls er Schutz brauchen sollte. Wenn man es nur mit einem Mann zu
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tun hätte, wäre die Sache kinderleicht. Aber die Mafia – das waren zu viele. Reeves hatte am Schluß des Gesprächs gesagt, er spreche von einem Postamt aus. Das war auf jeden Fall sicherer als vom Hotel. Der erste Anruf neulich – kam der nicht von einem Hotel aus, Hotel Zuyder Zee oder so ähnlich? Ja, das war es, Tom war fast sicher. Cembalotöne drangen von unten herauf – wie eine Botschaft aus einem fernen Jahrhundert. Tom ging hin unter. Heloise wollte sicher etwas über das Begräbnis von ihm erfahren, obgleich sie, als er sie fragte, ob sie mitkommen wolle, gesagt hatte, nein, sie fände Begräb nisse so deprimierend. Jonathan stand im Wohnzimmer am Fenster und blick te hinaus. Es war kurz nach zwölf Uhr. Er hatte den Transistor angestellt, um die Mittagsnachrichten zu hö ren, und nun kam nichts als Popmusik. Simone war mit Georges im Garten; der Kleine war allein zu Hause geblieben, als seine Eltern zu der Trauerfeier gingen. Im Radio sang ein Mann: »Running on along . . . running on along . . .« Auf der anderen Straßenseite sprang ein jun ger Hund, der aussah wie ein Schäferhund, hinter zwei kleinen Jungen her. Es war alles so – vergänglich, so vorübergehend, jede Art von Leben, nicht nur der Hund und die beiden Kinder, auch die Häuser weiter hinten; er fühlte, daß alles vergehen würde, abbröckeln, zusam menfallen, alle Formen des jetzt noch Lebenden waren am Ende zerstört und vergessen. Jonathan dachte an Gauthier in seinem Sarg, den sie vielleicht in diesem Au genblick in die Erde senkten; und dann dachte er nicht mehr an Gauthier, sondern an sich selbst. Er hatte nicht mal die Energie des Hundes, der da vorbeilief. Wenn er je einen Höhepunkt im Leben gehabt hatte, so war er überschritten. Jetzt war es zu spät, er war nicht mehr im 223
stande, das zu genießen, was von seinem Leben noch übrig war – gerade jetzt, wo er ein bißchen Geld hatte und es sich hätte leisten können. Er müßte eigentlich sein Geschäft schließen, entweder verkaufen oder ver schenken, darauf kam es nicht mehr an. Aber wiederum konnte er doch nicht einfach mit Simone zusammen das ganze Geld ausgeben, sonst hatten sie und Georges ja überhaupt nichts, wenn er starb. Vierzigtausend Pfund waren nicht alle Welt. In seinen Ohren brauste es, er machte ein paar tiefe ruhige Atemzüge, ganz langsam, und versuchte dann, das Fenster, an dem er stand, zu öffnen, aber seine Kräfte reichten nicht aus. Er wandte sich ins Zimmer um; die Beine waren schwer und wollten ihm nicht mehr gehorchen. Das Brausen in den Ohren wurde immer lauter, von der Musik hörte er nichts mehr. In kalten Schweiß gebadet kam er auf dem Fußboden wieder zu sich. Neben ihm kniete Simone und fuhr ihm mit einem feuchten Handtuch leicht über Stirn und Wan gen. »Lieber – ich bin gerade hereingekommen – wie fühlst du dich? Schon gut, Georges. Es geht Papa schon wie der gut!« Aber ihre Stimme klang erschreckt. Jonathan legte den Kopf auf den Teppich zurück. »Wasser?« Er trank einen Schluck von dem Glas, das sie ihm an die Lippen hielt. Wieder legte er den Kopf zurück. »Ich glaube, ich bleibe am besten hier liegen!« Seine Stimme kämpfte mit dem Brausen in den Ohren. »Komm, ich zieh das mal zurecht.« Simone zog an seiner Jacke, die sich unter ihm zerdrückt hatte. Etwas glitt aus seiner Jackentasche, das Simone auf hob und betrachtete. Dann blickte sie ihn besorgt an. Jo nathan hielt die Augen auf die Decke gerichtet; wenn er sie schloß, nahm das Brausen zu. Minuten vergingen so 224
– Minuten des Schweigens. Jonathan hatte keine Angst, er wußte, ihm blieb noch etwas Zeit, dies war noch nicht der Tod, nur eine Ohnmacht. Vielleicht verwandt mit dem Tode, aber wenn der Tod selber kam, so kam er anders; er zog einen fort, viel süßer und sehnender, wie eine Woge, die mit weichem Arm vom Strand in die See zu rückkehrte und sich an den Beinen des Schwimmers festhielt, der sich zu weit hinausgewagt hatte und nicht mehr die Kraft besaß, noch zu kämpfen. Simone ging hinaus und nahm Georges mit; nach kurzer Zeit kehrte sie mit einer Tasse Tee zurück. »Ich hab viel Zucker hineingetan, das wird dir guttun. Soll ich Dr. Perrier anrufen?« »O nein, Liebling. Danke.« Jonathan trank ein paar Schluck von dem Tee, dann erhob er sich schwerfällig und setzte sich auf das Sofa. »Jon, was ist das hier?« Simone hielt das kleine blaue Buch in die Höhe, das die Schweizer Bank ausgestellt hatte. »Ach das –« Jonathan schüttelte den Kopf von einer Seite zur andern, um seine Schläfrigkeit schnell los zu werden, wieder ganz wach zu werden. »Das ist doch ein Bankbuch. Oder nicht?« »Ja. Ja, das stimmt.« Der Betrag war eine sechsstelli ge Zahl, mehr als vierhunderttausend Franc, die durch ein F hinter der Zahl bezeichnet waren. Er wußte, Simo ne hatte sich das kleine Buch ganz arglos angesehen, sie hatte sicher angenommen, es sei der Beleg für eine häusliche Anschaffung, irgend etwas, das sie beide an ging. »Hier steht Franc. Französische Franc? Wo hast du es denn her? Was hat das zu bedeuten, Jon?«
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Die Summe war in französischen Franc angegeben. »Liebes, das ist eine Art – eine Art Vorschuß, von den deutschen Ärzten.« »Aber –« fing Simone ratlos an. »Es ist doch in fran zösischen Franc, nicht? Ich meine der Betrag da drin.« Sie lachte unsicher. Jonathan fühlte, wie ihm plötzlich warm wurde. »Ich sag dir ja, woher ich es habe, Simone. Ja, natürlich – ich weiß, es ist eine Menge Geld, klar. Ich wollte es dir nicht gleich sagen, ich –« Behutsam legte Simone das kleine blaue Buch oben auf die Brieftasche, die auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa lag. Dann zog sie sich den Stuhl vom Schreibtisch heran und setzte sich seitwärts darauf, wobei sie sich mit einer Hand an der Lehne festhielt. »Jon –« Plötzlich stand Georges in der Tür; Simone stand ent schlossen auf und schob ihn an der Schulter hinaus. »Chou-chou, Papa und ich haben etwas zu besprechen. Laß uns mal einen Augenblick allein, ja?« Sie kam zu rück und sagte ruhig: »Ich glaube dir nicht, Jon.« Jonathan hörte das Zittern in ihrer Stimme. Es war nicht nur die große Geldsumme, es war auch seine Heimlichtuerei in der letzten Zeit – die Reisen nach Deutschland vor allem. »Du mußt mir aber glauben«, sagte Jonathan. Die Kräfte waren zurückgekehrt; er stand auf. »Das ist ein Vorschuß, das Geld. Weil sie nicht annehmen, daß ich es noch verwenden kann. Mir bleibt nicht genug Zeit, meinen sie. Aber du kannst es dann jedenfalls.« Simone stimmte in sein Lachen nicht ein. »Es ist doch auf deinen Namen, Jon. Ich verstehe das nicht, wofür es ist, aber du sagst mir nicht die Wahrheit.« Und sie warte te sekundenlang, daß er ihr die Wahrheit sagte, aber er sprach nicht. 226
Simone ging hinaus. Das Mittagessen verlief stumm und pflichtgemäß. Sie sprachen fast gar nicht. Jonathan sah, daß Georges rat los war. Und er wußte, wie die nächsten Tage aussehen würden – vielleicht fragte ihn Simone nicht noch einmal, sondern wartete gelassen, daß er die Wahrheit sagte oder die Sache irgendwie erklärte. Lange Stunden des Schweigens im Haus, keine Zärtlichkeiten mehr, keine Zuneigung und kein Lachen. Er mußte sich etwas ande res, etwas Besseres ausdenken. Aber selbst wenn er sagte, die Behandlung der deutschen Ärzte sei mit Le bensgefahr verbunden: war es logisch, daß sie ihm so viel bezahlten? Wohl kaum. Jonathan sah jetzt, daß sein Leben nicht so viel wert war wie die Leben der beiden Mafiosi.
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Freitag war ein herrlicher Morgen. Alle halbe Stunde wechselte leichter Regen mit Sonnenschein – genau das richtige Wetter für den Garten, dachte Tom. Heloise war nach Paris gefahren, weil eine Boutique in Faubourg StHonoré Ausverkauf angezeigt hatte, und sie würde be stimmt außerdem noch mit einem Schal oder einem grö ßeren Stück von Hermès zurückkommen. Tom saß am Cembalo und mühte sich mit dem Thema der GoldbergVariationen ab, die Kopf und Finger noch nicht be herrschten. An dem Tag, da er das Cembalo in Paris er stand, hatte er auch ein paar Notenhefte gekauft. Er kannte die Variationen und wußte, wie sie klingen muß ten, denn er besaß die Schallplatte mit der Landowska. Beim dritten- oder viertenmal ging es schon besser. Da klingelte das Telefon. »Hallo?« sagte Tom. »´allo – äh – mit wem spreche ich, bitte?« sagte eine männliche Stimme auf Französisch. Tom antwortete nicht gleich, ihm war beklommen zu mute. »Mit wem möchten Sie sprechen?« fragte er eben so höflich. »Monsieur Anquetin?« »Nein, das ist hier nicht«, sagte Tom und legte den Hörer auf die Gabel zurück. Der Mann hatte tadelloses Französisch gesprochen. Oder doch nicht? Aber natürlich besorgten sich die Italie ner in so einem Fall einen Franzosen, der den Anruf aus führte, oder einen Italiener mit perfekter Aussprache. Vielleicht war er überängstlich? Mit gerunzelter Stirn stand Tom vor dem Cembalo nahe am Fenster und schob die Hände in die Taschen. Ob die Genotti-Familie 228
Reeves im Hotel aufgestöbert hatte und nun alle Tele fonnummern kontrollierte, die er anrief? Wenn das zutraf, so gab sich der Anrufer mit der Antwort, die er eben be kommen hatte, sicher nicht zufrieden. Normalerweise hätte der Angerufene gesagt: »Sie haben falsch gewählt, hier ist Soundso.« Langsam schob sich die Sonne durch die Fenster, wie eine Flüssigkeit, die sich zwischen den roten Vorhängen auf den Teppich ergoß. Das Sonnen licht glich einem Arpeggio, fast konnte Tom es hören – diesmal war es eher Chopin. Tom wußte, er hatte Angst, Reeves in Amsterdam anzurufen und zu fragen, was da vor sich ging. Der Anruf hatte nicht wie ein Ferngespräch geklungen, aber das konnte man nicht immer unterschei den. Es konnte auch Paris gewesen sein oder Amster dam oder Mailand. Toms Nummer stand nicht im Tele fonbuch. Das Amt würde seinen Namen und die Adresse nicht angeben, aber falls einer die Nummer hatte, konnte er aus der Vorwahl – 428 – ohne weiteres die Wohnge gend herausfinden. Sie gehörte zum Gebiet um Fontai nebleau. Tom wußte, es war für die Mafia keineswegs unmöglich festzustellen, daß Tom Ripley in dieser Ge gend wohnte, und zwar in Villeperce, denn die Sache mit Derwatt war ja durch die Zeitungen gegangen, das war knapp sechs Monate her. Viel hing natürlich von dem zweiten Leibwächter ab, der unversehrt geblieben war und den ganzen Zug nach seinem Kollegen und nach dem Capo abgesucht hatte. Er mochte sich sehr wohl aus dem Speisewagen an Toms Gesicht erinnern. Wieder war Tom bei den Goldberg-Variationen, als das Telefon zum zweitenmal klingelte. Seit dem ersten Anruf waren wohl ungefähr zehn Minuten vergangen. Diesmal wollte er sagen, hier sei das Haus von Robert Wilson. Seinen amerikanischen Akzent konnte er doch nicht verleugnen. 229
»Oui«, sagte er mit gelangweilter Stimme. »Hallo –« »Ah ja, hallo«, sagte Tom, als er Jonathan Trevannys Stimme erkannte. »Ich würde Sie gern mal sprechen, wenn Sie etwas Zeit haben«, sagte Jonathan. »Ja, natürlich, gern. Heute –?« »Wenn es geht, ja. Möglichst – wenn es Ihnen paßt, nicht um die Mittagszeit. Vielleicht etwas später?« »Ja – so um sieben?« »Besser noch halb sieben. Können Sie nach Fontai nebleau kommen?« Sie vereinbarten, sich in der Salamander-Bar zu tref fen. Tom konnte sich denken, worum es sich handelte: Jonathan konnte seiner Frau die Herkunft des Geldes nicht erklären. Jonathans Stimme hatte besorgt geklun gen, aber nicht verzweifelt. Um sechs, als Heloise mit dem Alfa noch nicht zurück war, nahm Tom den Renault. Heloise hatte angerufen und erklärt, sie werde zum Cocktail bei Noelle sein, viel leicht werde sie auch zum Dinner bleiben. Und sie hatte bei Hermès einen wunderbaren Koffer gekauft, denn auch Hermès hatte Ausverkauf. Heloise war der Über zeugung, daß, je mehr sie im Ausverkauf kaufte, desto mehr sparte sie, was sie sich geradezu als Tugend an rechnete. Jonathan war bereits da, als Tom in die SalamanderBar kam; er stand an der Theke und trank dunkles Bier – sicher das von Whitbread, wie immer, dachte Tom. Das Lokal war ungewöhnlich voll und laut heute abend, man konnte also an der Theke wohl reden. Tom grüßte lä chelnd und nickend und bestellte für sich das gleiche dunkle Bier.
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Jonathan berichtete, was passiert war. Simone hatte das Schweizer Bankbuch gesehen. Jonathan hatte er klärt, das Geld sei ein Vorschuß von den deutschen Ärz ten, die ihn mit Medikamenten versorgten; doch diese Mittel seien nicht ganz ungefährlich, daher also das Geld – als eine Art Bezahlung für sein Leben. »Sie glaubt mir aber nicht.« Jonathan verzog den Mund zu einem Lächeln. »Sie stellt ganz wilde Behaup tungen auf – ich wäre in Deutschland unter falschem Namen aufgetreten oder sowas, damit irgendeine Ver brecherbande zu einer Erbschaft kam, und dies sei nun mein Anteil. Oder daß ich irgendeine falsche Aussage gemacht und dafür Geld bekommen habe.« Er lachte auf. Er mußte sehr laut sprechen, um sich verständlich zu machen, aber in der näheren Umgebung hörte bestimmt kein Mensch zu oder verstand ein Wort. Hinter der Bar waren drei Männer vollauf damit beschäftigt, die Gläser mit Pernod und Rotwein und Lagerbier zu füllen. »Ja, das kann ich verstehen«, meinte Tom und warf einen Blick in das lärmende Gewirr ringsum. Seine Ge danken waren immer noch bei dem Anruf von heute morgen, der nicht wiederholt worden war. Als er um sechs Uhr fortfuhr, hatte er sich am Haus und im Dorf überall nach irgendwelchen Fremden umgesehen. Ei genartig, wie man jeden im Ort auch in der Entfernung schon am Gang und an der Figur erkannte; ein Fremder würde einem sofort auffallen. Er hatte sogar einen Au genblick Angst gehabt, als er den Motor des Wagens an ließ: Dynamit am Zündschloß zu befestigen war ein be liebter Trick der Mafia. »Wir müssen uns was einfallen lassen!« rief er Jonathan zu. Jonathan nickte und trank einen Schluck Bier. »Ko misch – sie ist auf alles Mögliche gekommen außer auf Mord.« 231
Tom stellte einen Fuß auf die Querleiste des Schankti sches und versuchte in dem Lärm nachzudenken. Sem Blick fiel auf eine Tasche von Jonathans alter Kordjacke, eine eingerissene Stelle war sauber ausgebessert, zwei fellos von Simone. In einer Aufwallung von Verzweiflung sagte Tom: »Und wenn Sie ihr nun die Wahrheit sagen? Es geht hier doch um Mafiosi, um ausgekochte –« Jonathan schüttelte den Kopf. »Daran habe ich auch schon gedacht, aber Simone – sie ist katholisch. Und das hier –« Daß sie regelmäßig die Pille nahm, war für Simo ne schon eine große Konzession. Das Einlenken ging bei Katholiken sehr langsam vor sich: niemand durfte sehen, daß der Boden aufgeweicht war, selbst wenn sie hier und da nachgaben. Das Kind wurde, wie es in diesem Lande selbstverständlich war, katholisch erzogen, doch Jona than versuchte ihm klarzumachen, daß es noch andere Religionen auf der Welt gab, daß Georges, wenn er älter war, selber die Entscheidung treffen konnte; und bisher hatte Simone ihren Mann dabei gelassen und keine Ein wendungen gemacht. »Für sie ist das was ganz ande res.« Er sprach sehr laut, er hatte sich an den Lärm ge wöhnt, und als Schutzwall war er ganz angenehm. »Es wäre ein enormer Schock für sie – das könnte sie nicht verzeihen, wissen Sie. Menschenleben – und so.« »Menschen – ha!« »Ja, aber hier geht es beinahe um meine ganze Ehe.« Jonathan war ernst geworden. »Ich meine, die steht hier auf dem Spiel.« Er sah Tom an, der ihm zu folgen ver suchte. »Herrgott, ist das hier ein Getöse, und dabei soll man was bereden!« Entschlossen fing er von neuem an. »Unsere Beziehung – unsere Ehe ist nicht mehr so wie sie war, milde gesagt. Und ich weiß einfach nicht, was ich da tun kann. Ich hatte gehofft, Sie hätten vielleicht eine Idee – was ich wohl machen könnte, oder was ich ihr sa 232
gen soll. Andererseits weiß ich natürlich auch nicht, wa rum Ihnen was einfallen sollte. Es ist schließlich mein Problem.« Tom überlegte, ob sie woanders hingehen sollten, wo es ruhiger war, oder sich einfach in seinen Wagen set zen. Aber ob ihm da etwas einfallen würde? »Ich werd mal nachdenken!« rief er. Wieso nahmen immer alle Leu te – selbst Jonathan – an, er könne sich was für sie ein fallen lassen? Er hatte doch häufig selber Mühe genug, sein Schiff auf geradem Kurs zu halten. Sein eigenes Leben erforderte oft Ideen und Eingebungen – manchmal kamen sie ihm unter der Dusche oder bei der Gartenar beit: göttliche Inspirationen, die ihm immer nur nach lan gem Grübeln zuteil wurden. Ein einzelner Kopf war gar nicht imstande, ebenso glänzende Lösungen für die Probleme anderer Leute zu finden. Dann wurde ihm klar, daß sein eigenes Schicksal ja mit Jonathans eng ver bunden war, und wenn Jonathan schlappmachte – aber Tom konnte sich nicht vorstellen, daß Jonathan jeman dem berichtete, Tom sei mit ihm im Zug gewesen und habe ihm geholfen. Dazu gab es keinerlei Veranlassung, und Jonathan würde das schon aus Prinzip niemals tun. Wie kommt man plötzlich zu fast hunderttausend Dollar? Das und nur das war das Problem. Das war die Frage, die Simone Jonathan stellte. »Wir müßten vielleicht irgendwie zweigleisig fahren«, sagte Tom nachdenklich. »Wie meinen Sie das?« »Es müßte noch was dazukommen – zu der Summe, die die Ärzte bezahlt haben. Ich – ja, eine Wette viel leicht? Zwei Ärzte in Deutschland haben eine Wette ab geschlossen, und das Geld haben sie bei Ihnen depo niert, treuhänderisch oder so – ich meine zu treuen Hän den, verstehen Sie. Damit ließen sich vielleicht fünfzig 233
tausend Dollar erklären, das wäre mehr als die Hälfte. Oder rechnen Sie in Franc? Mmm – mehr als zweihun dertfünfzigtausend Franc oder sowas.« Jonathan lächelte. Die Idee war ganz lustig, aber doch reichlich absurd. »Noch ein Bier?« »Klar«, sagte Tom und zündete sich eine Gauloise an. »Hören Sie zu – Sie könnten Ihrer Frau doch sagen, das Ganze sei Ihnen so leichtsinnig oder barbarisch oder sonstwas vorgekommen, deshalb hätten Sie ihr nichts davon sagen wollen, aber die Ärzte hätten auf Ihr Leben gewettet. Der eine sagt, Sie bleiben am Leben – normale Lebensdauer oder so. Dann bleiben Ihnen und Ihrer Frau mehr als zweihunderttausend Franc, und ich hoffe, Sie haben bereits angefangen, die auszugeben!« Tock, tock – eilig stellte der Barkellner ein frisches Glas und eine Flasche Bier vor Tom auf den Tisch. Jona than war schon beim zweiten Glas. »Ja – ein Sofa haben wir gekauft, das wir nötig brauchten«, sagte Jonathan. »Und einen Fernsehapparat könnten wir uns wohl auch noch anschaffen. Ihre Idee ist besser als nichts – vielen Dank.« Ein untersetzter Mann, etwa sechzig, begrüßte Jona than mit kurzem Händeschütteln und ging weiter nach hinten, ohne einen Blick auf Tom. Tom betrachtete zwei blonde Mädchen, an deren Tisch drei junge Leute mit weitschwingenden Hosen stehengeblieben waren. Ein kümmerlicher alter Hund mit stöckerigen Beinen sah trübselig zu Tom auf, während er an der Leine darauf wartete, daß sein Herr seinen petit rouge austrank. »Haben Sie was von Reeves gehört?« fragte Tom. »Letzthin nicht – das letztemal war vor etwa einem Monat.«
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Dann wußte Jonathan also nichts von der Zerstörung der Hamburger Wohnung. Tom fand es besser, ihm nichts zu erzählen – es würde ihm nur Angst machen. »Haben Sie was gehört? Ist alles in Ordnung?« fragte Jonathan. »Keine Ahnung«, sagte Tom leichthin, als sei es ganz normal, daß er weder schriftlich noch telefonisch etwas von Reeves hörte. Tom wurde plötzlich unsicher, als bli cke ihn jemand an. »Lassen Sie uns gehen, ja?« Er wink te dem Barkellner und gab ihm zwei Zehn-FrancScheine, obgleich auch Jonathan sein Geld herausgezo gen hatte. »Mein Wagen steht draußen, rechts.« Draußen auf der Straße fragte Jonathan unsicher: »Sie selber haben nicht das Gefühl, irgendwie gefährdet zu sein, nicht wahr? Ich meine, Sie machen sich keine Sorgen?« Sie standen vor dem Wagen. »Ach wissen Sie, ich se he eigentlich immer schwarz. Hätten Sie nicht gedacht, was? Ich rechne mit dem Schlimmsten, bevor es eintritt. Nicht ganz dasselbe wie ein Pessimist.« Tom lächelte. »Wollen Sie nach Hause? Ich nehme Sie mit.« Jonathan stieg ein. Sobald Tom am Steuer Platz ge nommen und die Tür geschlossen hatte, überkam ihn ein Gefühl von Geborgenheit, als wären sie in einem Zimmer seines Hauses. Und wie lange war sein Haus noch si cher? Die häßliche Vision der allgegenwärtigen Mafia tauchte vor ihm auf, wie ein Heer von schwarzen Kaker laken, die aus jeder Ritze krochen und überall herumwie selten. Wenn er aus dem Hause floh und Heloise und Mme. Annette mitnahm, begnügte sich die Mafia viel leicht damit, Belle Ombre in Brand zu stecken. Das Cem balo – in Flammen oder von einer Bombe zerstückelt . . . Tom wußte, er liebte sein Haus und Heim, wie es sonst nur Frauen taten. 235
»Wissen Sie, für mich ist die Lage noch prekärer als für Sie, wenn der Leibwächter – den zweiten meine ich, wenn der mich wiedererkennt. Von mir ist ein paarmal ein Bild in den Zeitungen gewesen«, sagte Tom. Das wußte Jonathan. »Ja. Bitte verzeihen Sie, daß ich Sie heute sprechen wollte. Der Gedanke an meine Frau ist mir einfach schrecklich, weil – wir beide – ich meine, unser Zusammenleben, das ist für mich das allerwichtigs te im Leben. Dies war das erstemal, daß ich versucht habe, ihr etwas vorzumachen, und es ist mir nicht mal gelungen, deshalb macht es mich so kaputt. Aber – aber geholfen haben Sie mir, und dafür danke ich Ihnen.« »Ja, bitte. Diesmal macht es nichts«, sagte Tom lie benswürdig; er meinte das Treffen heute abend. »Dabei fällt mir ein –« er öffnete das Handschuhfach und nahm die italienische Pistole heraus. »Hier – ich meine, das sollten Sie zur Hand haben. Vielleicht in Ihrem Ge schäft.« »Glauben Sie wirklich? Also offen gesagt – bei einer Schießerei wäre ich völlig unbrauchbar.« »Besser als nichts. Wenn einer zu Ihnen in den Laden kommt, der komisch aussieht – haben Sie keine Schub lade hinter dem Ladentisch?« Ein leises Prickeln fuhr Jonathan über den Rücken. Das war der Traum, den er vor ein paar Nächten ge träumt hatte: ein Mafia-Killer kam zu ihm in den Laden und schoß ihn ohne ein Wort ins Gesicht. »Warum glau ben Sie denn, daß ich das nötig habe? Dafür müssen Sie doch einen Grund haben.« Plötzlich gab Tom nach. Warum eigentlich sollte er es nicht sagen? Vielleicht würde Jonathan dann noch vor sichtiger sein. Aber Tom wußte, daß Vorsicht hier nicht viel nützte. Noch etwas fiel ihm ein: am besten ging Jo nathan mit seiner Frau und dem Kind eine Weile fort, auf 236
eine Reise. »Ja, Sie haben recht. Ich hatte heute einen Anruf, der mir gar nicht gefiel. Der Mann sprach wie ein Franzose, aber das will nicht viel sagen. Er fragte nach jemand mit französischem Namen. Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten, aber ganz sicher bin ich eben nicht, weil man mich, sobald ich den Mund aufmache, natürlich als Amerikaner erkennt, und vielleicht wollte er nur bestä tigt haben –« Toms Gedanken schweiften ab, und er kam zurück. »Ja, ich kann Ihnen noch etwas sagen. Reeves´ Wohnung in Hamburg wurde von einer Bombe zerstört, ich glaube Mitte April.« »Die Wohnung – mein Gott! Ist ihm was passiert?« »Nein, kein Mensch war in der Wohnung. Reeves ist dann sofort nach Amsterdam abgereist, und soviel ich weiß, ist er auch jetzt noch dort, unter anderem Namen.« Jonathan dachte an die Wohnung, die womöglich nach Namen und Adressen durchsucht worden war, wobei vielleicht sein und auch Tom Ripleys Name gefunden wurde. »Ja – und wieviel weiß nun die andere Seite?« »Oh, Reeves sagt, alle wichtigen Unterlagen seien in Sicherheit. Sie haben sich Fritz vorgenommen – Fritz kennen Sie sicher – und ihn zusammengeschlagen, aber er soll sich geradezu heroisch gehalten haben, sagt Ree ves. Er hat angeblich von Ihnen eine ganz falsche Be schreibung gegeben – von Ihnen als von dem Mann, der von Reeves oder sonst jemandem angeheuert worden war.« Tom seufzte. »Ich nehme an, die haben nur Ree ves und vielleicht ein paar Männer von den Kasinos im Verdacht.« Er warf einen Blick auf Jonathan, der ihn mit weit geöffneten Augen eher konsterniert als erschrocken ansah. »Herrgott!« flüsterte Jonathan. »Glauben Sie, die ha ben meine Adresse – unsere Adressen?«
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»Nein«, sagte Tom mit schmalem Lächeln. »Sonst wä ren sie längst hier gewesen, darauf können Sie sich ver lassen.« Tom wollte jetzt nach Hause. Er drehte den Zündschlüssel um und fädelte sich vorsichtig in den Ver kehrsstrom an der Rue Grande ein. »Aber – wenn der Mann, der heute bei Ihnen anrief, dazugehört, woher hat er dann Ihre Nummer?« »Ja, da kann man nur raten.« Endlich hatte Tom den Wagen in der richtigen Spur. Er lächelte immer noch vor sich hin. Ein gefährliches Spiel, das war es, und diesmal sprang für ihn kein Pfennig dabei heraus, nicht mal eine Sicherheit für sein eigenes Geld, wie es bei dem FastFiasko der Derwatt-Affäre der Fall gewesen war. »Kann sein, sie sind drauf gekommen, weil Reeves so töricht war, mich aus Amsterdam anzurufen. Ich denke an die Möglichkeit, daß die Mafia-Boys seine Spur bis nach Amsterdam verfolgt haben – er hat ja durch die Haushäl terin seine Sachen dorthin schicken lassen. Großer Un sinn – sowas nach so kurzer Zeit«, sagte Tom, als spre che er zu sich selber. »Wissen Sie, ich überlege mir – selbst wenn Reeves nicht vom Hotel aus telefoniert hat, ob die Bande nicht seine sämtlichen Gespräche regist riert. Dann können sie natürlich auch meine Nummer ha ben. Übrigens – Sie hat er doch nicht angerufen, seit er in Amsterdam war, nicht wahr?« »Der letzte Anruf kam aus Hamburg, das weiß ich.« Jonathan hörte im Geist Reeves´ zuversichtliche Stimme, die ihm erklärte, sein Geld – der ganze Betrag – werde umgehend auf die Schweizer Bank überwiesen. Jona than fühlte die Pistole in der Tasche; sie irritierte ihn. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser erstmal ins Geschäft, damit ich dies Ding hier loswerde. Bitte setzen Sie mich hier irgendwo ab.«
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Tom fuhr an den Bordstein und hielt. »Kopf hoch. Wenn Sie irgendwie – Angst kriegen, rufen Sie mich ja an. Ist mein Ernst.« Jonathan lächelte unsicher, ihm war nicht wohl zumu te. »Ja, und wenn ich irgendwie helfen kann – bitte rufen Sie mich auch an«, sagte er. Tom fuhr ab und Jonathan schlug den Weg zu seinem Laden ein, eine Hand in der Tasche hielt die Waffe, um das Gewicht zu verringern. Im Geschäft schob er sie in die Kassenschublade, die in die Platte des Ladentisches eingelassen war. Tom hatte wohl recht, dies war besser als gar nichts. Außerdem wußte Jonathan, er hatte noch einen weiteren Vorteil: er gab nicht viel um sein eigenes Leben. Nicht wie Tom Ripley, wenn er etwa erschossen oder sonstwie umgebracht wurde und sein Leben auf der Höhe des Daseins hergeben mußte, bei allerbester Ge sundheit und für nichts und wieder nichts, wie es Jona than schien. Wenn ein Mann zu ihm in den Laden trat mit der Ab sicht, ihn zu erschießen, und er das Glück hatte, den Mann zuerst zu treffen, dann war sowieso alles aus. Das brauchte ihm Tom Ripley nicht erst zu erzählen. Erst stürzten die Nachbarn herbei, dann die Polizei, der Tote wurde identifiziert, und dann kam die Frage: Warum hat ein Mafia-Mitglied Jonathan Trevanny umbringen wollen? Die Fahrt im Zug war der nächste Punkt, der ans Licht kam, denn die Polizei fragte dann natürlich nach allem, was er in den letzten Wochen unternommen hatte. Sein Paß mußte vorgelegt werden. Das war das Ende. Jonathan schloß die Ladentür ab und machte sich auf den Weg nach Hause. Er dachte an Reeves´ zerstörte Wohnung, die Bücher, die Schallplatten und Bilder. Er dachte an Fritz, der ihn zu dem Mann namens Salvatore 239
Bianca gebracht hatte. Fritz hatten sie zusammenge schlagen, und er hatte nichts gesagt. Es war fast halb acht; Simone war in der Küche. »Bonsoir«, sagte Jonathan lächelnd. »Bonsoir«, erwiderte Simone. Sie schaltete den Herd ab, richtete sich auf und nahm die Schürze ab. »Und was hast du heute abend mit M. Ripley zu tun gehabt?« Jonathan fühlte ein Prickeln im Gesicht. Wo hatte sie ihn mit Tom Ripley gesehen? Als er aus Toms Wagen stieg? »Er will etwas gerahmt haben«, sagte er. »Wir ha ben ein Glas Bier getrunken – es war beinahe La denschluß.« »Ja –?« Simone sah Jonathan an, regungslos. »Aha.« Jonathan hängte seine Jacke an der Garderobe auf. Georges kam die Treppe herab, um ihn zu begrüßen und erzählte etwas von seinem Fährschiff; er versuchte ein Modell nachzubauen, das Jonathan ihm gekauft hatte und das etwas zu schwierig für ihn war. Jonathan schwang ihn hoch und setzte ihn auf seine Schulter. »Nach dem Essen schauen wir´s uns mal an, ja?« Die Stimmung besserte sich nicht. Es gab köstliches Gemüsepüree; Simone hatte es mit einem Sechshun dert-Franc-Mixer hergestellt, den Jonathan vor kurzem gekauft hatte und mit dem man sowohl Saft gewinnen wie Gemüse und Obst und sogar Hühnerknochen zu Brei zerstampfen konnte. Erfolglos versuchte er jetzt, ein Ge spräch in Gang zu bringen. Simone ging auf nichts ein. Es war schließlich nicht unmöglich, dachte er, daß Tom Ripley ein paar Sachen von ihm gerahmt haben wollte, er hatte ja erzählt, daß er male. Jonathan sagte: »Ripley will ein paar Bilder rahmen lassen. Kann sein, daß ich mal zu ihm hin muß, um sie mir anzusehen.« »Ach –?« Das kam im gleichen Ton. Dann wandte sie sich mit einem freundlichen Wort an das Kind. 240
Jonathan konnte Simone nicht ausstehen, wenn sie so war, und er machte sich gleichzeitig bittere Vorwürfe dar um. Er hatte vorgehabt, ihr eine ausführliche Erklärung – und zwar mit der Wettgeschichte – zu geben, wie das Geld auf die Schweizer Bank gekommen war. Aber heute abend war er dazu einfach nicht imstande.
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Als er Jonathan abgesetzt hatte, gab Tom einem plötzli chen Impuls nach: er hielt an einem Café und rief zu Hause an. Er wollte wissen, ob alles in Ordnung und He loise schon zu Hause war. Zu seiner Erleichterung war sie selbst am Telefon. »Oui, Chéri, ich bin grade gekommen. Wo bist du denn? Nein, ich bin nur noch zu einem Drink bei Noelle geblieben.« »Süße – laß uns heute abend irgendwas Nettes ma chen. Vielleicht sind die Berthelins frei, oder die Grais . . . ja, ich weiß, es ist zu spät, jemand zum Essen zu bitten, aber nach dem Essen, das geht. Vielleicht die Cleggs . . . Ja, ich hab Lust auf Gesellschaft heute abend.« In fünf zehn Minuten sei er zu Hause, sagte Tom noch. Er fuhr schnell aber vorsichtig, erfüllt von einer flat ternden Unsicherheit. Vielleicht waren bei Mme. Annette noch mehr Anrufe gekommen, seit er das Haus verlassen hatte. Heloise oder Mme. Annette hatten vorn am Haus das Außenlicht angezündet, obgleich es noch nicht dämmerig war. Ein großer Citroën fuhr langsam vorbei, eben bevor Tom in die Einfahrt einbog. Er sah ihm nach: dunkelblau rollte der Wagen auf dem unebenen Pflaster vorüber, die Nummer endete auf 75, es war also ein Pariser Wagen. Mindestens zwei Leute hatten daringesessen. Was machten sie – ob sie Belle Ombre belauerten? Ach was, er war sicher überängstlich. »Hallo, Tome! Hör zu, die Cleggs kommen auf einen Drink, und die Grais kommen zum Dinner, weil Antoine heute nicht nach Paris zu fahren brauchte. Zufrieden?« Heloise küßte ihn auf die Wange. »Wo bist du gewesen? 242
Schau mal den Koffer! Ja – sehr groß ist er natürlich nicht, das geb ich ja zu –« Tom betrachtete den dunkelroten Koffer mit dem helle ren Leinenriemen rundherum. Beschläge und Schloß wa ren anscheinend aus Messing. Das Material sah aus wie Glacéleder und war es wohl auch. »Ja, du. Wunder hübsch.« Er war wirklich hübsch, gerade wie das Cemba lo und wie seine Schiffskommode oben. »Und schau mal von innen.« Heloise öffnete den Kof fer. »Sehr stark«, sagte sie auf Englisch. Tom beugte sich zu ihr und küßte sie aufs Haar. »Sehr schön, meine Süße. Wir können den Koffer feiern heute abend, und das Cembalo auch. Die andern haben doch das Cembalo noch nicht gesehen, nicht wahr? Nein . . . Wie geht´s Noelle?« »Tome . . . irgendwas liegt dir auf der Seele«, sagte Heloise halblaut, damit Mme. Annette sie nicht hörte. »Nein«, wehrte Tom ab. »Ich wollte bloß ein paar Leu te hier haben heute abend. Es war den ganzen Tag so still. Ah, Mme. Annette, bonsoir. Heute haben wir Gäste – zwei kommen zum Essen. Geht das auch?« Mme. Annette war gerade mit dem Barwagen einge treten. »Mais oui, M. Tome. Es wird ein bißchend à la fortune du pot sein, aber ich werde mal ein Ragoût aus probieren – das Rezept aus der Normandie, wenn Sie sich erinnern . . .« Tom hörte der Beschreibung nicht weiter zu; Rind- und Kalbfleisch sowie Nieren waren vorhanden, denn sie hat te Zeit gehabt, heute abend noch schnell zum Schlachter zu gehen, und von gut Glück konnte gar keine Rede sein, davon war er überzeugt. Aber er mußte warten, bis sie ausgeredet hatte. Dann sagte er: »Noch etwas, Mme. Annette, hat irgend jemand angerufen, seit ich um sechs wegfuhr?« 243
»Nein, M. Tome.« Geschickt entkorkte sie die kleine Champagnerflasche. »Kein Anruf? Auch keine falsche Verbindung?« »Non, M. Tome.« Vorsichtig füllte Mme. Annette eine Sektschale für Heloise. Tom sah, daß Heloise ihn beobachtete, aber er wollte der Sache auf den Grund gehen und hatte auch keine Lust, draußen in der Küche mit Mme. Annette zu reden. Oder ob das doch besser war? Ja, und vielleicht war es das einfachste. Als Mme. Annette hinausging, sagte er zu Heloise: »Ich hol mir mal ein Bier.« Mme. Annette hat te ihm keinen Drink zurechtgemacht, weil sie wußte, es war ihm lieber so. In der Küche waren die Vorbereitungen zum Dinner in vollem Gange: die Gemüse fertig geputzt und auf dem Herd ein leise brodelnder Topf. »Madame«, begann Tom, »dies ist heute wichtig für mich. Sind Sie ganz sicher, daß kein Mensch angerufen hat? Niemand – auch kein irrtümlicher Anruf oder so?« Zu seiner Bestürzung fiel ihr jetzt offensichtlich etwas ein. »Ah oui – um halb sieben ungefähr hat es mal ge klingelt. Ein Mann war das, er wollte – er fragte nach je mand anderem. Ich weiß den Namen nicht mehr, M. To me. Dann hat er eingehängt.« »Was haben Sie gesagt?« »Ich hab gesagt, dies war nicht der Name, den er woll te.« »Haben Sie gesagt, hier sei Ripley?« »Nein, nein, M. Tome, ich hab bloß gesagt, es sei nicht der richtige Name. Ich dachte, das wäre recht so.« Tom strahlte sie an. Ja, so war es recht gewesen. Er hatte sich Vorwürfe gemacht, weil er heute um sechs weggefahren war, ohne Mme. Annette einzuschärfen, sie solle unter keinen Umständen seinen Namen nennen, 244
und nun hatte sie alles aus eigener Initiative vollkommen richtig gemacht. »Glänzend. Das ist immer recht so«, sagte er voll Bewunderung. »Deshalb stehe ich ja auch nicht im Telefonbuch – um nicht für jeden erreichbar zu sein, n´est-ce-pas?« »Bien sûr«, meinte Mme. Annette, als sei das die na türlichste Sache von der Welt. Tom kehrte ins Wohnzimmer zurück; sein Bier hatte er vergessen. Er schenkte sich einen Whisky ein. Im Grun de war er wenig beruhigt. Wenn einer von der Mafia nach ihm suchte, war es jetzt natürlich doppelt verdächtig, daß zwei Leute hier im Haus den Namen des Hausbesitzers nicht genannt hatten. Vielleicht waren sie dabei, in Mai land oder Amsterdam oder auch in Hamburg ein paar Untersuchungen anzustellen. Dieser Tom Ripley – wohn te der nicht in Villeperce? Die Vorwahl 428 – konnte die nicht für Villeperce zutreffen? Ja, tatsächlich. Die Tele fonnummern in und um Fontainebleau begannen mit 428, dazu gehört auch Villeperce. »Woran denkst du, Tome?« fragte Heloise. »Ach, nichts, Liebling. Wie sieht es denn aus mit der Kreuzfahrt, sag mal? Hast du was Passendes gefun den?« »Ja, du! Und gar nicht irgendwie großartig, die eine – richtig einfach und hübsch, eine Kreuzfahrt von Venedig durchs Mittelmeer bis zur Türkei. Fünfzehn Tage, und keine Abendkleidung zum Dinner. Hört sich das nicht gut an? Im Mai und Juni fährt das Schiff alle drei Wochen.« »Ich bin augenblicklich nicht recht in Stimmung, mein Herz. Frag doch mal Noelle, ob sie mitkommt. Täte dir sicher gut.« Tom ging hinauf in sein Zimmer und öffnete die unters te Schublade seiner großen Kommode. Obenauf lag He loises grüner Janker aus Salzburg, und weiter hinten, 245
ganz unten, lag die Luger-Pistole, die er erst vor drei Wochen, ausgerechnet von Reeves bekommen hatte; nicht direkt von ihm, sondern von einem Mann, den Tom damals in Paris treffen mußte, um etwas in Empfang zu nehmen, das der Mann ihm brachte und das er dann ei nen Monat lang bei sich behalten mußte, bevor es wei tergeschickt wurde. Als Gegenleistung, oder als Entgelt, hatte Tom um eine Luger gebeten und hatte sie auch erhalten: eine 7.65 mm Luger mit zwei kleinen Schach teln Munition. Er überzeugte sich jetzt, daß die Waffe ge laden war, und trat dann an seinen Schrank, wo das Jagdgewehr französischer Machart hing. Auch das war geladen und gesichert. Die Luger würde er brauchen, wenn es losging, dachte er – vielleicht heute oder mor gen oder übermorgen abend, wer weiß. Er blickte aus den beiden Fenstern seines Zimmers, die nach zwei ver schiedenen Richtungen gingen. Er spähte nach langsam fahrenden Wagen mit abgeblendeten Scheinwerfern aus, doch er sah keine. Es war schon dunkel. Jetzt kam von links in schneller Fahrt ein Wagen nä her: das waren die guten harmlosen Cleggs. Sie fuhren durch die Toreinfahrt, und Tom ging hinunter, um sie zu begrüßen. Die beiden Cleggs – Howard war Engländer, etwa fünfzig, und seine Frau Rosemary, ebenfalls Engländerin – nahmen sich Zeit für zwei Drinks. Das Ehepaar Grais kam hinzu. Clegg war Rechtsanwalt, er hatte wegen ei nes Herzleidens seine Praxis aufgegeben, trotzdem war er von allen der lebhafteste. Mit dem grauen kurzge schnittenen Haar, dem etwas abgetragenen Tweedja ckett und den grauen Flanellhosen war er das Urbild so lider Zuverlässigkeit, das Tom so nötig brauchte; er stand mit dem Rücken zum gardinenverhangenen Fenster und erzählte irgendeine witzige Story. Wenn nun heute abend 246
noch etwas passierte, das diese ländlich-harmonische Atmosphäre zerstörte? Tom hatte in seinem Zimmer das Licht brennen lassen, auch in Heloises Zimmer hatte er die Nachttischlampe angemacht. Die beiden Wagen der Gäste waren irgendwo auf dem Kiesweg geparkt. Alles sollte möglichst so aussehen, als sei im Hause eine Party im Gange, und zwar eine größere als es tatsächlich der Fall war. Doch er wußte, das würde die Mafia-Leute nicht daran hindern, eine Bombe zu werfen, wenn sie es vor hatten, und deshalb setzte er vielleicht seine Freunde einer gewissen Gefahr aus, das war möglich. Aber er hatte das Gefühl, die Mafia würde ihn lieber ohne großes Getöse umbringen, am besten wenn er mal allein war, dann erwischten sie ihn, plötzlich, ohne Warnung, viel leicht auch ohne Schießerei, schlugen ihn so gründlich zusammen, daß er nicht mehr aufstand. Das war hier in Villeperce durchaus möglich; bevor die Nachbarn über haupt wußten, was passiert war, waren die Täter schon über alle Berge. Rosemary Clegg, schlank und wunderhübsch, obwohl nicht mehr jung, versprach Heloise eine Pflanze, die sie und Howard gerade aus England mitgebracht hatten. »Hast du vor, diesen Sommer irgendwo Feuer zu le gen?« fragte Antoine Grais. »Nö – nicht mein Bier«, sagte Tom mit liebenswürdi gem Lächeln. »Komm mal mit und sieh dir das künftige Treibhaus an.« Tom und Antoine traten aus der Glastür und gingen die Stufen hinunter zum Rasen. Tom hatte eine Taschen lampe bei sich. Der Zementboden war gelegt, daneben im Gras lagen die Stangen für den Stahlrahmen aufge schichtet, was für den Rasen nicht gerade gut war, und die Arbeiter waren jetzt eine Woche lang gar nicht er schienen. Einer der Nachbarn hatte Tom gewarnt vor 247
diesem Team: sie hatten im Sommer so viel Arbeit, daß sie von einem Auftraggeber zum andern hasteten, um es allen recht zu machen und keinen zu verlieren. »Ja, das sieht nicht schlecht aus«, sagte Antoine end lich. Tom hatte sich von Antoine beraten lassen bei der Planung für das Treibhaus und hatte ihn auch bezahlt für die Beratung. Antoine hatte ihm das Material zu ermäßig ten Preisen beschafft, billiger als der Maurer es berech net hätte. Tom merkte, daß er immer wieder auf den Weg blickte, der hinter Antoine durch den Wald führte und jetzt im Dunkeln lag. Kein Licht war dort zu sehen und erst recht keine Wagenlampen. Doch als sie gegen elf nach dem Dinner zu viert bei Kaffee und Benediktiner zusammensaßen, hatte Tom seinen Entschluß gefaßt. Heloise und Mme. Annette mußten morgen aus dem Haus. Mit Heloise würde es nicht schwierig sein – er konnte sie überreden, ein paar Tage zu Noelle zu gehen – Noelle und ihr Mann hatten eine große Wohnung in Neuilly, oder zu ihren Eltern. Mme. Annette hatte eine Schwester in Lyon, die zum Glück Telefon hatte, da konnte man also schnell eine Vereinbarung treffen. Und was sollte er sagen? Den Schrulligen zu spielen und zu behaupten: »Ich muß mal ein paar Tage allein sein« – die Idee paßte ihm nicht; aber wenn er erklärte, es könne gefährlich werden, dann würde das die beiden Frauen ängstigen und sie würden die Polizei holen wollen. Noch am Abend, als sie ins Bett gingen, sprach Tom mit Heloise: »Hör zu, Liebling«, sagte er auf englisch, »ich habe das Gefühl, daß etwas Schlimmes passieren könnte, und ich will nicht, daß du dann hier bist. Einfach aus Sicherheitsgründen. Außerdem möchte ich, daß Mme. Annette für ein paar Tage das Haus verläßt. Bitte 248
hilf mir, sie zu überreden, daß sie zu ihrer Schwester geht, ja?« Heloise saß in die blaßblauen Kissen gelehnt. Sie sah ihn an und runzelte ein wenig die Stirn, dann setzte sie das Glas Joghurt ab, das sie gerade auslöffelte, und frag te: »Was heißt das: etwas Schlimmes? Du mußt mir sa gen, was los ist, Tome.« »Nein.« Tom schüttelte den Kopf und lachte. »Viel leicht bin ich auch bloß unnötig bange. Vielleicht ganz grundlos, das kann sein. Aber Vorsicht ist immer besser, nicht wahr?« »Drumrumreden hat keinen Zweck, Tome. Was ist los? Ist es was mit Reeves? Ja, das ist es, nicht wahr?« »Na ja, gewissermaßen schon.« Alles besser, als die Mafia zu nennen. »Wo ist er?« »Reeves? Ich glaube, er ist in Amsterdam.« »Wohnt er nicht in Deutschland?« »Ja, aber er hat in Amsterdam zu tun.« »Und wer ist da sonst noch drin? Warum bist du so beunruhigt, was hast du getan?« »Wieso – gar nichts, Liebling.« Das war in solchen Fällen seine übliche Antwort, die ihm nicht weiter schwer fiel. »Du willst also nur Reeves schützen?« »Gott, er hat mir ein paarmal einen Gefallen getan. Beschützen will ich dich – dich und uns und unser Haus. Nicht Reeves. Bitte, laß mich also, ja?« »Unser Haus – hier?« Tom lächelte und sagte gelassen: »Ich möchte nicht, daß hier was passiert. Daß was kaputtgeht – Fenster scheiben oder sonst was. Du mußt dich auf mich verlas
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sen, Liebes. Ich tue alles, damit es nicht gefährlich wird oder irgendwie zum Krach kommt.« Heloise blinzelte und sagte dann kurz: »Na schön.« Er wußte, sie würde keine Fragen mehr stellen, wenn nicht gerade die Polizei plötzlich auftauchte und eine Ma fia-Leiche irgendwo herumlag. Gleich darauf war die klei ne Verstimmung überwunden, und in dieser Nacht blieb Tom bei ihr. Wie viel schlimmer mußte die Lage für Jona than Trevanny sein, dachte er. Simone war gewiß nicht besonders schwierig, weder neurotisch noch argwöh nisch, aber Jonathan hatte eben bisher nie etwas Außer gewöhnliches getan – nicht mal harmlose kleine Lügen erzählt. Für ihn schwankte der Boden unter den Füßen, wenn seine Frau ihm jetzt zu mißtrauen begann. Und wegen des Geldes war es im Grunde ganz natürlich, daß Simone an ein Verbrechen dachte oder jedenfalls an et was Schreckliches, das Jonathan nicht zugeben konnte. Am anderen Morgen sprachen Tom und Heloise mit Mme. Annette. Heloise hatte ihren Tee oben getrunken, und Tom trank jetzt eine zweite Tasse Kaffee im Wohn zimmer. »M. Tome möchte gern ein paar Tage allein sein und malen und nachdenken«, sagte Heloise. Auf diese Aus rede hatten sie sich schließlich doch geeinigt. »Und ein paar Tage Ferien können ja auch nicht schaden, nicht wahr, Mme. Annette. Kleine Ferien vor den großen im August«, fügte Tom hinzu, obwohl die Haushälterin, freundlich und munter wie immer, keineswegs urlaubsreif aussah. »Wie Sie wünschen, Madame et Monsieur, selbstver ständlich.« Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, die blauen Augen blickten bereitwillig offen, sie war mit allem einver standen und wollte auch gleich ihre Schwester MarieOdile in Lyon anrufen. 250
Um halb zehn kam die Post; darunter war ein quadra tischer weißer Umschlag mit Schweizer Marke, die Ad resse in Druckbuchstaben – in Reeves´ Handschrift, dachte Tom – und ohne Absender. Tom wollte ihn im Wohnzimmer öffnen, aber Heloise erörterte mit Mme. Annette die Möglichkeit, sie nach Paris zum Zug nach Lyon zu bringen; er ging also nach oben in sein Zimmer und riß den Umschlag auf. Der Brief lautete: 11. Mai 19.. Lieber Tom, Ich bin in Ascona. In Amsterdam wäre es mir beinahe im Hotel an den Kragen gegangen, deshalb mußte ich fort, aber meine Sachen habe ich noch einlagern können. Ich kann Dir sagen, ich wollte, sie hörten jetzt endlich auf. Hier ist es hübsch, die Stadt ist reizend, ich wohne unter dem Namen Ralph Platt in einem Gasthaus oben am Berg. Es heißt Die drei Bären, klingt doch gemütlich, was? Jedenfalls liegt es etwas abseits, eine Art Famili enpension. Alles Gute für Dich und Heloise. Dein R. Tom zerknüllte den Brief und riß ihn dann in kleine Fetzen, die er in den Papierkorb warf. Es war also tat sächlich so schlimm gekommen, wie er erwartet hatte: die Mafia hatte Reeves´ Spur nach Amsterdam verfolgt und alle Telefonnummern registriert, die er dort angeru fen hatte, und so hatten sie auch Toms Nummer in die Hand bekommen. Was Reeves wohl meinte mit »an den Kragen gegangen«? Tom schwor sich – nicht zum ers tenmal –, daß er nie wieder etwas mit Reeves zu tun ha ben wollte. In diesem Fall hatte er nichts getan, als ihm eine Idee geliefert. Das hatte harmlos genug ausgese hen, und es war auch harmlos gewesen. Sein Fehler war nur, daß er Jonathan Trevanny hatte helfen wollen. Da von wußte aber Reeves natürlich nichts, sonst wäre er 251
wohl nicht so blöd gewesen, ihn hier im Hause anzuru fen. Jonathan mußte nach Belle Ombre kommen, heute noch, am besten heute nachmittag, auch wenn er sams tags arbeitete. Wenn irgend etwas passierte, war es bes ser, wenn zwei Leute im Hause waren, zum Beispiel ei ner vorn und einer hinten – einer konnte schließlich nicht überall gleichzeitig sein. An wen außer Jonathan konnte er sich schon wenden? Jonathan war sicher kein großer Kämpfer, aber in einer kritischen Situation mochte er sich behaupten, genau wie bei der Sache im Zug. Da hatte er sich gut gehalten, er hatte sogar Tom zurückgerissen, als er beinahe aus dem Zug gestürzt war. Jonathan mußte kommen und über Nacht bleiben; er mußte ihn abholen, einen Bus gab es nicht und ein Taxi durfte er nicht neh men: denn wenn etwas Schlimmes passierte, erinnerte sich womöglich ein Taxifahrer daran, daß er einen Fahr gast von Fontainebleau nach Villeperce gefahren hatte, das war eine ziemlich lange Strecke. »Du rufst mich doch heute abend an, Tome?« fragte Heloise. Sie war in ihrem Zimmer und packte den großen Koffer; sie wollte zuerst zu ihren Eltern fahren. »Ja, mein Liebes. So um halb acht?« Er wußte, im Hause der Eltern wurde um Punkt acht Uhr gegessen. »Ich werd dann wohl sagen: ›alles in Ordnung‹, nehme ich an.« »Bist du nur wegen heute abend in Sorge?« Nein, so war es nicht, aber das wollte Tom nicht sa gen. »Ja, ich denke schon.« Als gegen elf Heloise und Mme. Annette zur Abfahrt bereit waren, gelang es Tom, zuerst in die Garage zu kommen, noch bevor er den beiden mit ihrem Gepäck half. Mme. Annette hatte immer noch die konventionelle französische Idee, daß sie das ganze Gepäck Stück für 252
Stück zu tragen hätte, einfach weil sie die Bedienstete war. Tom blickte prüfend unter die Motorhaube des Alfa: alles sah wie immer aus, viel Metall und Drähte. Er ließ den Motor an. Keine Explosion. Gestern abend vor dem Dinner war er hinausgegangen und hatte ein Vorhän geschloß an die Garagentür gehängt, aber bei der Mafia, dachte Tom, müßte man auf alles gefaßt sein. Die konn ten ein Vorhängeschloß bestimmt einfach öffnen und wieder zuschnappen lassen. »Sie hören von uns, Mme. Annette!« sagte Tom und küßte sie auf die Wange. »Recht schöne Tage!« »Bye-bye, Tome, ruf mich heute abend an! Und sei ja vorsichtig!« rief Heloise. Tom lachte vor sich hin, als er zum Abschied winkte. Heloise war nicht sehr beunruhigt, das merkte er. Um so besser. Eilig ging er ins Haus, um Jonathan anzurufen.
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Für Jonathan war es ein böser Morgen gewesen. Simone hatte, als sie Georges beim Anziehen seines Rollkragen pullovers half, ruhig gesagt: »Ich weiß nicht, wie diese Heimlichtuerei immer wei tergehen soll, Jon. Weißt du es?« Sie war im Begriff, das Kind in die Vorschule zu brin gen; es war fast Viertel nach acht. »Nein, ich auch nicht. Und mit diesem Geld in der Schweiz –« Jonathan entschloß sich, jetzt weiterzureden; er sprach eilig, damit Georges nicht alles verstand. »Also wenn du es wissen mußt: die haben gewettet, und die Wettsumme habe ich zur Aufbewahrung bekommen, von beiden. Deshalb –« »Wer hat gewettet?« Argwohn und Nichtverstehen sprachen noch immer aus Simones Stimme. »Die Ärzte. Sie probieren ein neues Verfahren aus – ich meine der eine, und der andere, der wettet dagegen. Ein Arzt. Ich wußte, du würdest es makaber finden, das Ganze, deshalb wollte ich dir nichts davon sagen. Des halb gehören mir nur ungefähr zweihunderttausend von der Summe – nein, jetzt noch weniger. Das bezahlen mir die Ärzte in Hamburg dafür, daß ich ihre Medikamente ausprobiere.« Jonathan sah ihr an, daß sie zu verstehen suchte und daß es ihr nicht gelang. »Das ist doch Unsinn!« sagte sie. »So viel Geld – und alles für eine Wette, Jon?« Georges blickte zu ihr auf. Jonathan schaute auf sei nen Sohn und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Weißt du, was ich glaube? Ist mir ganz egal, wenn das Kind es hört! Ich glaube, daß das unehrliches Geld ist und daß es von diesem Gauner Tom Ripley stammt – 254
der hat es bei dir versteckt, das glaube ich! Natürlich be zahlt er dich dafür, er gibt dir was ab, weil du ihm ja den Gefallen tust!« Jonathan merkte, daß er zitterte, und stellte seine Tasse mit dem Café au lait auf den Küchentisch. Sie standen beide. »Glaubst du, Ripley könnte sein Geld nicht selber in der Schweiz versteckt halten?« Er wäre gern zu ihr getreten, hätte sie an den Schultern gefaßt und gesagt, sie müsse ihm einfach glauben. Aber er wußte, sie hätte ihn zurückgestoßen. Deshalb reckte er sich ein wenig und sagte: »Ich kann´s nicht ändern, wenn du mir nicht glaubst. So ist es nun mal.« Am letzten Mon tag nachmittag – dem Tag, als er ohnmächtig geworden war – hatte er eine Bluttransfusion bekommen; Simone war mit ihm ins Krankenhaus gefahren, und danach war er allein zu Dr. Perrier gegangen, den er vorher wegen der Transfusion hatte anrufen müssen. Perrier hatte ihn routinemäßig sehen wollen, aber zu Simone hatte Jona than gesagt, der Arzt habe ihm weitere Medikamente ge geben, die von dem Hamburger Arzt gekommen waren. Wentzel, der Hamburger Arzt, hatte gar nichts geschickt, aber die Pillen, die er damals empfohlen hatte, gab es auch in Frankreich, und Jonathan hatte jetzt einen Vorrat davon zu Hause. Der Hamburger Arzt, so hatte er be schlossen, war derjenige, der für ihn gewettet hatte, ge gen den Münchener Kollegen. Aber so weit war er mit Simone noch gar nicht gekommen. »Und ich glaube dir doch nicht«, sagte Simone. Ihre Stimme klang sanft und drohend. »Komm, Georges, wir müssen gehen.« Jonathan blinzelte und blickte den beiden nach, die über den Flur zur Haustür gingen. Georges hob seine Büchertasche auf und vergaß, vielleicht verwirrt von der
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erregten Unterhaltung, seinem Vater Lebwohl zu sagen. Auch Jonathan sagte nichts. Es war Samstag, und Jonathan hatte im Geschäft viel zu tun. Ein paarmal ging auch das Telefon, und als es um elf wieder klingelte, meldete sich Tom Ripleys Stim me. »Ich möchte Sie gern heute treffen – es ist wichtig«, sagte Tom. »Können Sie da sprechen?« »Nein, nicht gut.« Am Ladentisch stand ein Kunde, der im Begriff war, Jonathan ein Bild zu bezahlen, das einge packt zwischen ihnen lag. »Tut mir leid, Sie am Samstag zu stören, aber – wann könnten Sie wohl zu mir kommen und zum Abend blei ben?« Einen Augenblick erschrak Jonathan. Den Laden schließen. Simone Bescheid sagen. Aber was –? »Ja, natürlich komme ich. Ja.« »Wie bald? Ich hole Sie ab – sagen wir um zwölf? O der ist das zu früh?« »Nein, das kann ich einrichten.« »Ich hole Sie von Ihrem Geschäft ab, oder ich warte draußen auf der Straße. Noch eins: bringen Sie die Pisto le mit.« Tom legte auf. Jonathan fertigte seine Kunden ab, und bevor der letz te den Laden verlassen hatte, hängte er das Schild mit der Aufschrift Fermé an die Tür. Was konnte seit gestern bei Ripley passiert sein? Simone war heute morgen zu Hause, aber Samstags morgens machte sie immer noch Besorgungen, holte ein oder brachte etwas in die Reini gung. Er beschloß, ihr einen Zettel zu schreiben und ihn durch den Briefschlitz in der Haustür zu werfen. Um elf Uhr vierzig hatte er den Zettel geschrieben und machte sich auf den Weg; er ging die Rue de la Paroisse hinauf, das war der kürzeste Weg und die Chance, daß er Simo 256
ne unterwegs traf, war fifty-fifty, aber er traf sie nicht. Er schob den Zettel durch den Schlitz mit der Aufschrift LETTRES und kehrte eilig um. Der Zettel lautete: Liebling, ich komme nicht zum Lunch und auch heute abend nicht zum Dinner. Den Laden habe ich geschlos sen. Größerer Auftrag in Aussicht, aber der Kunde wohnt weiter weg, holt mich mit dem Wagen ab. J. Es war unverständlich und sah ihm absolut nicht ähn lich, aber schlimmer als heute morgen konnte die Lage kaum werden. Jonathan ging ins Geschäft zurück, holte den alten Regenmantel und steckte die Pistole in die Manteltasche. Als er wieder nach draußen trat, fuhr gerade Toms grü ner Renault vor. Tom hielt nur knapp an, öffnete die Tür, und Jonathan stieg ein. »Morgen!« sagte Tom. »Wie geht´s?« »Bei mir zu Hause?« Fast gegen seinen Willen blickte sich Jonathan auch hier nach Simone um, es war durch aus möglich, daß sie hier irgendwo auftauchte. »Ach, nicht besonders.« Das konnte Tom sich vorstellen. »Aber Sie selber – Ihnen geht´s doch nicht schlecht, nein?« »Nein, nein, alles in Ordnung, danke.« Am Warenhaus Prisunic bog Tom nach rechts in die Rue Grande ein. »Ich bekam wieder einen Anruf«, sagte er. »Meine Haushälterin war am Telefon. Genau wie das erstemal, falsch verbunden, sie hat auch nicht gesagt, wessen Haus es ist, aber es macht mich etwas nervös. Ich habe übrigens meine Haushälterin und meine Frau fortgeschickt. Ich hab so eine Ahnung, daß etwas passie ren könnte, deshalb habe ich Sie angerufen, damit Sie die Stellung mit mir halten. Jemand anderen kann ich nicht bitten. Und die Polizei um Schutz bitten, das möch 257
te ich auch nicht. Wenn die einen oder zwei von den Ma fiamännern bei mir in der Nähe finden, dann kommen sie natürlich mit allerhand unangenehmen Fragen, was die da wohl wollten.« Das wußte Jonathan. »Wir sind noch nicht da«, fuhr Tom fort. Er fuhr am Denkmal vorbei und bog in die Straße ein, die nach Ville perce führte. »Sie können sich also noch umbesinnen. Ich fahre Sie gern wieder zurück, und Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, wenn Sie lieber nicht mitkommen wollen. Wie gesagt, es kann gefährlich werden, muß aber nicht. Aber es ist leichter, wenn zwei aufpassen, nicht nur einer, nicht wahr.« »Ja.« Jonathan kam sich merkwürdig gelähmt vor. »Es geht mir um das Haus – ich will es nicht allein las sen.« Tom fuhr jetzt schnell. »Ich will nicht, daß es in Flammen aufgeht, oder zerbombt wird, wie bei Reeves. Er ist übrigens jetzt in Ascona. Sie sind ihm nach Ams terdam gefolgt, da mußte er weg.« »Ach –?« Sekundenlang wurde Jonathan von Panik ergriffen. Ihm wurde übel – er hatte das Gefühl, daß alles um ihn herum zusammenbreche. »Und wenn sie – ist Ihnen irgendwas an Ihrem Hause aufgefallen, was an ders war als sonst?« »Nö – eigentlich nicht.« Toms Stimme war kühl, die Zigarette hing nonchalant zwischen den Lippen. Noch konnte er raus, dachte Jonathan. Jetzt, sofort. Er brauchte bloß zu sagen, er traue es sich nicht zu, er kön ne ohnmächtig werden, wenn es hart auf hart kam. Er konnte umkehren, nach Hause, in die Sicherheit. Er holte tief Luft und ließ das Fenster ein wenig herunter. Ein Feigling wäre er, wenn er das täte – ein Feigling und ein Schwein. Er konnte es doch wenigstens versuchen, das war er Tom Ripley schuldig. Warum machte er sich über 258
haupt so viel Gedanken um die eigene Sicherheit? Wieso jetzt auf einmal? Er lächelte leise; ihm war besser zumu te. »Ich hab Simone das mit der Wette erzählt. Geglaubt hat sie´s nicht.« »Was hat sie gesagt?« »Dasselbe. Sie glaubt mir nicht. Und dann hat sie mich auch noch mit Ihnen zusammen gesehen, gestern ir gendwo. Jetzt glaubt sie, das Geld gehört Ihnen und ich bewahre es bloß für Sie auf, weil es unehrliches Geld ist.« »Aha. Ja.« Tom hatte verstanden, nur erschien ihm das alles nicht so wichtig im Vergleich mit dem, was mit seinem Haus geschehen konnte, oder auch mit ihm und Jonathan. »Ich bin gar kein Held, wissen Sie«, sagte er ohne Übergang. »Wenn mich die Mafia in die Finger kriegt und mich zusammenschlägt, um was zu erfahren, dann weiß ich nicht, ob ich mich so gut halten würde wie Fritz.« Jonathan sagte nichts. Er spürte, Tom Ripley war ge nauso beklommen wie er selber noch vor wenigen Se kunden. Es war ein besonders schöner Tag mit warmer Som merluft und strahlendem Sonnenschein. Ein Jammer, an so einem Tag arbeiten zu müssen, im Hause sein zu müssen wie Simone in ihrem Laden heute nachmittag. Natürlich war es gar nicht mehr nötig, daß sie noch hin ging. Er hatte ihr das schon seit Wochen sagen wollen. Jetzt kamen sie nach Villeperce. Es war ein kleines Dorf, in dem es vermutlich nur einen Schlachter und ei nen Bäcker gab. »Das ist Belle Ombre«, sagte Tom und machte eine Kopfbewegung zu einem Türmchen, das zwischen Pap peln sichtbar wurde.
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Sie waren etwa einen halben Kilometer über das Dorf hinausgefahren. Die Häuser an der Straße waren meist groß und weit voneinander entfernt. Belle Ombre sah aus wie ein kleines Schloß mit klassisch strengen Linien, ge mildert von vier abgerundeten Ecktürmen, die bis auf den grasbewachsenen Boden reichten. Zum Öffnen des schmiedeeisernen Gartentores mußte Tom aussteigen, nachdem er den mächtigen Schlüssel aus dem Hand schuhfach genommen hatte. Dann fuhr der Wagen auf dem Kiesweg bis zur Garage. »Ein wunderbares Haus!« sagte Jonathan. Tom nickte und lächelte. »Ja. Ein Hochzeitsgeschenk von meinen Schwiegereltern – zum größten Teil. Und jedesmal, wenn ich jetzt komme, freue ich mich, daß es noch steht. Bitte kommen Sie herein!« Auch für die Haustür hatte er einen Schlüssel. »Ich bin gar nicht daran gewöhnt, hier abzuschließen«, sagte er. »Sonst ist immer unsere Haushälterin da.« Jonathan trat in die große Diele mit dem weißen Mar morfußboden und dann in das geräumige Wohnzimmer. Zwei Teppiche, ein breiter Kamin und ein bequemes, mit gelbem Satin bezogenes Sofa. An der Fensterseite stand ein Cembalo. Es war ein schöner Raum mit guten und sehr gepflegten Möbeln, das sah Jonathan. »Ziehen Sie doch Ihren Mantel aus«, sagte Tom. Er war erleichtert, jedenfalls für den Augenblick; alles war ruhig hier, und auch im Dorf hatte er nichts Ungewöhnli ches gesehen. Er ging in die Diele und nahm die Luger aus der Schublade des Tischchens. Jonathan beobach tete ihn, und Tom mußte lächeln. »Ja, ich werde dies jetzt bei mir behalten, deshalb habe ich die alte Hose an gezogen. Große Taschen. Ich verstehe jetzt, warum manche Leute Schulterhalfter lieber mögen.« Er schob
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die Pistole in eine Hosentasche. »Bitte machen Sie´s doch auch so, ja?« Jonathan tat es. Tom fiel jetzt das Gewehr ein, das er oben hatte. Dumm, daß er gleich davon anfangen mußte, aber es war wohl am besten, keine Zeit zu verlieren. »Kommen Sie – ich will Ihnen oben noch was zeigen.« Sie stiegen die Treppe hinauf in Toms Zimmer, wo Jo nathan sofort die commode de bateau auffiel. Er trat nä her, um sie zu betrachten. »Das hat mir meine Frau neulich geschenkt. Hier, se hen Sie –« Tom hielt das Gewehr in der Hand. »Das ist für größere Entfernungen. Ziemlich genau, aber natürlich nicht wie ein Armeegewehr. Bitte schauen Sie hier mal aus dem Fenster.« Jonathan blickte hinaus. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stand ein altes dreistöckiges Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert mit großem Vorgarten, dessen Bäume die Sicht versperrten. Auch auf beiden Straßenseiten standen Bäume in unregelmäßigen Ab ständen. Jonathan stellte sich vor, daß ein Wagen auf der Straße vor dem Gartentor anhielt, und das war es offenbar auch, was Tom meinte: hier würde das Gewehr besser treffen als eine Pistole. »Kommt natürlich drauf an, was sie vorhaben«, sagte Tom. »Wenn sie zum Beispiel eine Brandbombe rein schmeißen wollen, dann war das Gewehr natürlich viel besser. Hinten sind auch noch Fenster, und an der Seite auch. Kommen Sie mit.« Tom führte ihn in Heloises Zimmer, dort ging ein Fens ter auf den Rasen hinter dem Haus. Jenseits des Rasens wurden die Bäume dichter, und rechts standen Pappeln entlang der Grasfläche.
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»Durch den Wald da führt ein schmaler Weg – links können Sie ihn gerade noch sehen. Und drüben in mei nem Atelier –« Tom ging auf den Flur und öffnete links eine Tür. Die Fenster in diesem Raum gingen auf den Rasen und in Richtung auf das Dorf Villeperce, von dem aber nur Zypressen und Pappeln und die Dachziegel ei nes kleinen Hauses zu sehen waren. »Wir könnten viel leicht auf beiden Seiten Wache halten – ich meine, wir brauchen natürlich nicht immer am Fenster zu kleben, aber – ja, noch etwas Wichtiges: ich möchte gern, daß die denken, ich bin allein hier. Wenn Sie –« Das Telefon klingelte. Einen Augenblick überlegte Tom: gar nicht ab nehmen? Aber vielleicht erfuhr er etwas, wenn er antwor tete. Er nahm den Hörer in seinem Zimmer ab. »Oui –?« »M. Ripley?« sagte eine französische Stimme. »Hier ist Mme. Trevanny. Ist vielleicht mein Mann bei Ihnen?« Sie klang deutlich angespannt. »Ihr Mann? Mais non, Madame!« entgegnete Tom sehr erstaunt. »Merci, M´sieur. Excusez-moi.« Sie legte auf. Tom seufzte tief. Jonathan steckte wirklich tief drin. Jonathan stand in der Tür. »Meine Frau.« »Ja. Tut mir leid. Ich hab gesagt, Sie seien nicht hier. Sie können ein Telegramm schicken, wenn Sie wollen. Oder anrufen. Vielleicht ist sie in Ihrem Geschäft.« »Nein, das glaube ich nicht.« Aber möglich war es, sie hatte einen Schlüssel. Es war erst Viertel nach eins. Wie sollte sie sonst die Nummer erfahren haben, wenn nicht von dem Notizblock im Geschäft? »Wenn Sie wollen, fahre ich Sie zurück nach Fontai nebleau, jetzt gleich. Das müssen Sie entscheiden, Jona than.« »Nein«, sagte Jonathan. »Nein, danke.« Ich verzichte, dachte er. Simone wußte, daß Tom sie belogen hatte. 262
»Entschuldigen Sie, daß ich eben gelogen habe. Sie können das ja immer auf mich schieben, wissen Sie. Au ßerdem kann ich in den Augen Ihrer Frau sicher gar nicht mehr tiefer sinken.« Tom war das alles in diesem Mo ment vollkommen egal, er hatte weder Zeit noch Lust, sich jetzt mit Simone zu befassen. Und Jonathan sagte gar nichts. »Kommen Sie, wir wollen runtergehen und mal sehen, was die Küche zu bieten hat.« Tom zog in seinem Zimmer die Vorhänge fast zu, er ließ nur so viel offen, daß man hinaussehen konnte, ohne sie zu bewegen. Ebenso machte er es in Heloises Zim mer und unten im Wohnzimmer. Mme. Annettes Räume ließ er unberührt; die Fenster gingen nach hinten hinaus. Es war noch viel da von Mme. Annettes köstlichem Ragoût von gestern abend. Das Fenster über dem Spül stein in der Küche hatte keine Gardinen, und Tom bat Jonathan deshalb, sich mit einem Whisky an den Kü chentisch zu setzen, wo man ihn von draußen nicht se hen konnte. »Ein Jammer, daß wir nicht im Garten rummurksen können heute«, sagte Tom, während er den Salat am Spülstein wusch. Er konnte es nicht lassen, jedesmal aus dem Fenster zu sehen, wenn ein Wagen vorbeifuhr. In den letzten zehn Minuten waren es nur zwei gewesen. Jonathan hatte bemerkt, daß die beiden Garagentore weit offen standen. Toms Wagen stand auf dem Kiesweg vor dem Haus. Es war so still, daß man auf dem Kies bestimmt jeden Schritt hören würde. »Und wir können nicht mal Musik machen, sonst über hören wir vielleicht andere Geräusche. Zu dumm«, sagte Tom. Beide aßen nicht viel, aber sie blieben lange in der vom Wohnzimmer abgeteilten Eßnische sitzen. Tom 263
machte Kaffee. Da für den Abend nicht mehr viel im Hause war, rief er etwas später den Schlachter an und bestellte zwei anständige Steaks. »Ja, Mme. Annette macht ein paar Tage Ferien«, sag te er auf die Frage des Schlachters. Und da die Ripleys so gute Kunden waren, hatte Tom auch keine Bedenken, den Schlachter zu bitten, daß er vom Krämer nebenan noch etwas Gemüse und Salat mitschickte. Das sehr deutliche Knirschen der Autoreifen auf dem Kies kündigte eine halbe Stunde später den Lieferwagen des Schlachters an. Tom war aufgesprungen; er ging nach draußen und bezahlte den eifrigen Schlachterjun gen mit der blutbefleckten Schürze, der strahlend sein Trinkgeld entgegennahm. Jonathan besah sich einige Bücher über Möbel und Einrichtungsgegenstände, er schien ganz zufrieden. Tom ging daher nach oben, um sein Atelier etwas aufzuräumen, das von Mme. Annette nie angerührt wurde. Kurz vor fünf gellte das Telefon wie ein Schrei durch die Stille. Für Tom war es ein gedämpfter Schrei, denn er hatte es gewagt, in den Garten zu gehen und mit der großen Schere herumzuschnipseln. Er stürzte ins Haus, obgleich er wußte, Jonathan werde das Telefon nicht an fassen. Er saß immer noch auf dem Sofa, umgeben von Büchern. Es war Heloise, und sie war sehr fröhlich. Sie hatte Noelle angerufen, und ein Freund von Noelle, ein Innen architekt, hatte ein Chalet in der Schweiz gekauft und hatte sie beide eingeladen, mit ihm hinzufahren und ihm eine Woche Gesellschaft zu leisten, während er das Haus in Ordnung brachte. »Die Landschaft ist da so herrlich«, sagte Heloise. »Und wir können ihm auch helfen, weißt du . . .«
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Tom hätte zu sowas niemals Lust gehabt, aber Heloi se war anscheinend begeistert, und das war die Haupt sache. Er hatte gewußt, daß sie die Mittelmeerkreuzfahrt nicht machen würde. Viel zu touristisch. »Geht´s dir gut, Lieber? Was machst du?« »Oh – ich war gerade im Garten . . . Ja, ja, alles ist ganz ruhig.«
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Abends gegen halb acht stand Tom am Straßenfenster des Wohnzimmers, als er den dunkelblauen Citroën – sicher denselben wie heute morgen – vorüberfahren sah, diesmal etwas schneller, aber immer noch nicht so schnell wie ein Wagen, der mit bestimmtem Ziel irgendwo hinfuhr. War es auch derselbe? Die Farbe konnte täu schen, jetzt in der Dämmerung sah blau fast wie grün aus. Aber der Wagen hatte ein Schiebedach gehabt mit schmutzigweißem Rand oben, genau wie der heute mor gen. Tom warf einen Blick auf das Gartentor; er hatte es angelehnt gelassen, aber der Schlachterjunge hatte es zugemacht. Tom beschloß, es so zu lassen: geschlos sen, aber nicht verschlossen. Es quietschte ein wenig beim Öffnen. »Was ist los?« fragte Jonathan. Er trank gerade Kaf fee; Tee hatte er nicht gewollt. Toms Nervosität machte ihn unruhig, und soviel er bis jetzt sah, lag eigentlich, kein Grund zur Angst vor. »Ach – ich glaube, da fuhr gerade ein Wagen vorüber, den ich heute morgen schon gesehen habe, ein dunkel blauer Citroën. Der von heute morgen hatte ein Pariser Nummernschild. Die meisten Wagen aus der Umgebung kenne ich – Pariser gibt´s hier nicht viele.« »Haben Sie denn das Schild jetzt eben erkennen kön nen?« Jonathan kam es reichlich dunkel vor; er hatte die Lampe neben sich angemacht. »Nein. Ich werd mal das Gewehr holen.« Tom flitzte nach oben und kam sofort mit dem Gewehr zurück. Er hatte das Licht oben wieder ausgemacht. Zu Jonathan sagte er: »Ich will keine Pistole benutzen, wenn ich´s ir gend vermeiden kann. Zu laut. Jetzt ist keine Jagdzeit – 266
dann kommen womöglich die Nachbarn oder sonst ir gend jemand, der nachsehen will, was hier los ist. Jona than –« »Ja?« Jonathan war aufgestanden. »Es kann sein, daß Sie das hier zum Zuschlagen nehmen müssen – wie einen Knüppel.« Tom hatte das Gewehr gepackt und zeigte ihm, wie es zu halten war, damit der schwere Griff die stärkste Wirkung tat. »Hier – so funktioniert es, falls Sie schießen müssen. Es ist jetzt gesichert.« Er zeigte es ihm. Aber sie sind doch gar nicht da, dachte Jonathan; doch gleichzeitig hatte er ein seltsames und unwirkliches Gefühl, genau wie in Hamburg und in München, als er erkannt hatte, daß seine Ziele wirklich existierten und auch sichtbar in Erscheinung treten würden. Tom überlegte, wie lange der Citroën wohl für die Rundfahrt auf der Landstraße brauchte, die ins Dorf zu rück führte. Sie konnten natürlich auch irgendwo abbie gen und gleich zurückkommen. »Ich habe das Gefühl«, sagte er, »wenn jetzt einer an die Tür kommt und ich ma che auf, dann verpassen die mir eine Ladung. Das war für sie das einfachste. Dann braucht der Kerl mit der Ka none bloß wieder in den Wagen zu springen, und schon sind sie weg.« Tom war sicher ein bißchen überdreht, dachte Jona than, doch er hörte aufmerksam zu. »Sie könnten natürlich auch eine Bombe durch das Fenster schmeißen.« Tom zeigte auf das Fenster zur Straßenseite. »So wie bei Reeves. Vielleicht könnten Sie – ich meine, wenn – Entschuldigung. Ich rede sonst nicht soviel, wissen Sie – ich mach´s gewöhnlich allein ab. A ber würde es Ihnen was ausmachen, sich in dem Ge büsch rechts von der Tür zu verstecken – rechts ist es dichter, deshalb. Und wenn dann einer den Weg rauf 267
kommt und an der Tür klingelt, schlagen Sie kräftig zu. Vielleicht klingeln sie auch gar nicht, aber ich stell mich mit der Luger hin und paß auf, ob sie ´ne Bombe schmeißen. Sie müssen nur schnell sein, wenn einer an der Tür steht, weil er – er wird auch keine Zeit verlieren, wissen Sie. Er hat ´ne Pistole in der Tasche und wird so fort schießen – er braucht mich nur deutlich vor sich zu sehen.« Tom trat an den Kamin. Er hatte ihn anzünden wollen, dann aber vergessen; er nahm jetzt eins der ge drittelten Holzscheite aus dem Korb und legte es rechts von der Haustür auf den Boden. Es war nicht so schwer wie die Vase auf der kleinen Kommode, aber viel leichter zu handhaben. »Und wenn ich nun die Tür aufmache?« fragte Jona than. »Sie sagen doch, die kennen Sie, und wenn sie dann sehen, daß Sie es nicht sind –« »Nein.« Das mutige Anerbieten erstaunte Tom. »Ers tens werden sie vielleicht gar nicht warten, sondern sofort losballern. Und wenn sie Sie doch fragen und Sie sagen dann, daß ich hier nicht wohne oder nicht zu Hause bin, dann schieben die Sie einfach beiseite und –« Tom hielt lachend inne bei der Vorstellung, wie die Mafialeute Jo nathan einen Schuß in den Bauch knallten und ihn gleichzeitig ins Haus zurückdrängten. »Ich glaube, wenn´s Ihnen recht ist, sollten Sie jetzt draußen Ihren Posten einnehmen. Keine Ahnung, wie lange Sie da sit zen müssen, aber ich kann Ihnen ja immer irgendwas zu trinken bringen oder so.« »Schön.« Jonathan nahm Tom das Gewehr ab und ging hinaus. Auf der Straße vor dem Haus war alles still. Jonathan stand im Schatten und schwang das Gewehr einmal probeweise durch die Luft, hoch und knapp, als ob ein Mann auf den Eingangsstufen stände, den er am Kopf treffen wollte. 268
»Gut so«, sagte Tom. »Wollen Sie schnell noch einen Whisky? Das Glas können Sie draußen stehenlassen – macht nichts, wenn´s kaputtgeht.« Jonathan mußte lächeln. »Nein, danke.« Er kroch zwi schen die Sträucher – es waren zypressenartige Büsche von vier Fuß Höhe und auch etwas Lorbeergesträuch. Es war ganz dunkel, und er fühlte sich völlig versteckt. Tom hatte jetzt die Haustür geschlossen. Jonathan saß auf dem Erdboden, das Kinn auf die Knie gestützt. Das Gewehr lag rechts neben ihm. Wie lange konnte das hier dauern – eine Stunde? Vielleicht noch länger. Oder ob das Ganze bloß ein Spiel war, das Tom sich leistete? Nein, das wohl doch nicht, er war ja nicht von Sinnen; er glaubte wirklich, es könne heute a bend etwas passieren, und wegen dieser Möglichkeit fand er es ratsam, einige Vorsichtsmaßregeln zu ergrei fen. Jetzt kam ein Wagen, und der Schreck fuhr Jona than so stark in die Glieder, daß er am liebsten ins Haus gerannt wäre. Der Wagen fuhr eilig vorbei; aber Busch werk und Gartentor verwehrten jeden Blick. Jonathan lehnte die Schulter an einen dünnen Stamm, er wurde langsam müde. Fünf Minuten später lag er ausgestreckt auf dem Rücken, doch immer noch wach, denn die Kälte begann aus dem Boden in die Schulterblätter zu krie chen. Wenn das Telefon noch mal klingelte, konnte es auch Simone sein. Ob sie es fertigbrachte, in einem An fall von Wut, einfach ein Taxi zu nehmen und herzukom men? Vielleicht rief sie auch ihren Bruder Gérard in Ne mours an und bat ihn, sie herzufahren? Ja, das war ei gentlich wahrscheinlicher. Jonathan zwang sich, diese Idee nicht weiter auszuspinnen, sie war zu gräßlich. Irr sinnig. Unvorstellbar. Wie sollte er ihr jemals erklären, warum er hier draußen unter den Büschen lag, selbst wenn er das Gewehr noch vor ihr verstecken konnte? 269
Jetzt hörte er, wie die Haustür geöffnet wurde; er war wohl doch fast eingeschlafen. »Hier – nehmen Sie die Decke!« flüsterte Tom. Die Straße war ganz ruhig und leer; Tom war mit einem Plaid herausgekommen, das er Jonathan gab. »Setzen Sie sich drauf – der Boden muß scheußlich sein.« Bei seinen leisen Worten wurde es Tom klar, daß die Mafia-Boys sich auch zu Fuß heranschleichen konnten; auf diese Idee war er bisher nicht gekommen. Ohne ein weiteres Wort ging Tom ins Haus zurück. Drinnen stieg er die Treppe hinauf und sah sich im Dunkeln die Lage vom vorderen und vom rückwärtigen Fenster aus an. Überall war es ruhig. Etwa hundert Meter weiter links an der Straße, die zum Dorf führte, brannte eine Straßenlampe, doch das Licht reichte nicht sehr weit, jedenfalls nicht bis zum Eingang seines Hauses, das wußte Tom. Kein Laut war zu hören, aber das war ganz normal. In der Stille hätte man Schritte auf der Straße auch durch die geschlossenen Fenster gehört, dachte Tom. Wenn er doch eine Platte auflegen könn te . . . Gerade wollte er wegtreten vom Fenster, als er das schwache Knirschen von Schritten auf dem Sandweg hörte, und jetzt sah er auch den nicht sehr starken Strahl einer Taschenlampe, die von rechts auf das Haus zu kam. Das war bestimmt nicht jemand, der ins Haus woll te; die Gestalt ging vorbei und war, bevor sie das Later nenlicht erreichte, nicht mehr zu sehen. Tom wußte nicht, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen war. Vielleicht hatte Jonathan Hunger. Das war nun nicht zu ändern. Tom war selber auch hungrig. Doch – natür lich war das zu ändern. Er ging – immer noch im Dunkeln – die Treppe hinunter, die Fingerspitzen auf dem Gelän der, und trat in die Küche. Hier und im Wohnzimmer brannte Licht. Er machte ein paar Kaviarschnittchen; der 270
Kaviar war gestern abend übriggeblieben, das Glas stand im Kühlschrank, das ging also schnell. Er nahm den Tel ler und war im Begriff, ihn Jonathan zu bringen, als er das weiche Surren eines Wagens hörte. Der Wagen kam von links, fuhr am Haus vorbei und hielt. Man hörte das Klicken der Wagentür: es war das Geräusch einer Tür, die nicht fest zugefallen war. Tom stellte den Teller auf die kleine Kommode neben der Haustür und zog die Pis tole aus der Tasche. Feste Schritte näherten sich in normalem Tempo, erst auf der Straße, dann auf dem Kiesweg. Nach einem Bombenwerfer klang das nicht, dachte Tom. Die Türglo cke ertönte. Tom wartete sekundenlang und fragte dann auf Französisch: »Wer ist da?« »Ich möchte gern nach einem Weg fragen«, gab der Mann in tadellosem Französisch zurück. Jonathan war, sobald er die Schritte hörte, mit dem Gewehr nähergekrochen und sprang jetzt hervor, als Tom den Riegel zurückschob. Der Mann stand zwei Stu fen höher, doch Jonathan war trotzdem fast gleich groß; er schwang den Gewehrgriff mit aller Kraft dem Mann an den Kopf, der sich ihm leicht zuwandte, denn der Mann mußte ihn gehört haben. Der Schlag landete hinter dem linken Ohr, genau unter dem Hutrand. Der Mann schwankte, stieß links an den Türrahmen und fiel zu Bo den. Tom öffnete die Tür und zog ihn an den Füßen ins Haus; Jonathan faßte ihn an den Schultern und half Tom. Dann holte er das Gewehr von draußen und trat in die Tür, die Tom leise zumachte. Tom nahm das Holzscheit und ließ es krachend auf den dunkelblonden Kopf nie dersausen. Der Hut des Fremden war heruntergefallen und lag umgekehrt auf dem Marmorboden. Tom streckte die Hand nach dem Gewehr aus, und Jonathan reichte 271
es ihm. Tom holte aus und schlug dem Mann mit dem stählernen Griff gegen die Schläfe. Jonathan wollte seinen Augen nicht trauen, Blut floß auf den weißen Fußboden. Da lag der Leibwächter – der untersetzte junge Mann mit dem krausen Blondhaar, der im Zug neulich so aufgeregt gewesen war. »Den Mistkerl haben wir!« flüsterte Tom befriedigt. »Das ist der Leibwächter von neulich. Da, schauen Sie – seine Pistole!« Aus der rechten Jackentasche des Mannes war eine Pistole halb herausgefallen. »Los – weiter ins Wohnzimmer!« sagte Tom, und sie schoben und schleppten den Mann weiter über den Fuß boden. »Vorsicht mit dem Blut auf dem Teppich da!« Tom stieß den Teppich mit dem Fuß beiseite. »Gleich wird der nächste kommen. Es sind bestimmt zwei, viel leicht auch drei.« Tom zog ein Taschentuch – es war blaßblau und trug ein Monogramm – aus der Brusttasche des Mannes und wischte damit einen Blutfleck neben der Tür auf. Mit ei nem Fußtritt schleuderte er den Hut über den Körper des Mannes hinweg, er fiel neben der Tür, die zur Küche führte, auf den Boden. Dann schob er an der Haustür den Riegel vor, wobei er die linke Hand über den Riegel hielt, damit er kein Geräusch machte. »Der nächste ist vielleicht nicht so einfach«, flüsterte er. Schritte auf dem Kiesweg. Die Glocke ertönte – zwei mal, es klang nervös. Tom lachte ohne einen Laut und zog die Luger aus der Tasche. Er gab Jonathan einen Wink, ebenfalls seine Waffe in die Hand zu nehmen. Tom hatte plötzlich einen Lachanfall, er krümmte sich, um das Lachen zu unterdrü cken, dann richtete er sich auf und wischte sich grinsend die Tränen aus den Augen. Jonathan lächelte nicht. 272
Wieder ertönte die Glocke, diesmal lang und fest. Jonathan sah, wie sich Toms Gesicht im Bruchteil ei ner Sekunde veränderte. Tom runzelte die Stirn und ver zog das Gesicht, als wisse er nicht, was er tun sollte. »Nicht schießen, wenn´s nicht sein muß!« wisperte Tom. Die linke Hand griff zur Tür. Jonathan dachte: Er will die Tür aufmachen und schießen. Oder den Mann mit der Waffe in Schach hal ten. Wieder knirschten die Schritte. Der Mann ging auf das Fenster zu, das hinter Jonathan lag; die Gardinen waren zugezogen. Jonathan schob sie etwas zur Seite. »Angy? – Angy!« flüsterte die Stimme draußen. »Gehen Sie an die Tür und fragen Sie ihn, was er will«, sagte Tom leise. »Auf englisch – als ob Sie der But ler wären. Lassen Sie ihn rein – ich halte ihn in Schach. Können Sie?« Jonathan überlegte nicht weiter, ob er konnte. Es klopfte an der Tür, dann klingelte es erneut. »Wer ist da?« rief Jonathan vor der Tür. »Je – je – voudrais demander mon chemin, s´il vous plaît.« Die Aussprache war weniger gut. Tom grinste. »Wen möchten Sie sprechen, Sir?« fragte Jonathan. »Une direction, s´il vous plaît!« schrie die Stimme, aus der jetzt Verzweiflung klang. Tom und Jonathan wechselten einen Blick, und Tom bedeutete Jonathan mit einer Handbewegung, die Haus tür zu öffnen. Tom stand hart links von der Tür, war aber nicht zu sehen, wenn die Tür geöffnet wurde. Jonathan schob den Riegel zurück, drehte den Knauf des automatischen Schlosses und öffnete die Tür halb. Er war auf eine Kugel in den Magen gefaßt, blieb aber hoch aufgereckt stehen, die rechte Hand in der Jacken tasche lag auf der Pistole. 273
Der Italiener – er war etwas kleiner und trug einen Hut wie sein Gefährte – hielt ebenfalls die Hand in der Ta sche und war offensichtlich überrascht, als er einen gro ßen Mann in gewöhnlicher Kleidung vor sich sah. »Sir?« fragte Jonathan höflich. Er sah, daß der linke Rockärmel des Mannes leer war. Als der Mann einen Schritt ins Haus tat, stieß ihn Tom mit der Luger in die Seite. »Die Kanone her!« sagte Tom auf Italienisch. Auch Jonathans Pistole war jetzt auf ihn gerichtet. Der Mann hob die Hand in der Rocktasche, als sei er im Beg riff zu schießen, und Tom schlug ihn mit der linken Hand ins Gesicht. Der Mann schoß nicht. Er war erstarrt, als er so plötzlich Tom Ripley vor sich sah. »Reepley!« sagte er verblüfft. Aus der Stimme klangen Schreck, Überra schung und eine Ahnung von Triumph. »Geschenkt«, sagte Tom auf Englisch. »Her mit der Kanone!« Er stieß den Mann noch einmal in die Rippen und gab der Tür mit dem Fuß einen Stoß, daß sie zufiel. Der Italiener begriff. Als Tom ihm bedeutete, er solle die Pistole auf den Boden fallen lassen, ließ er sie fallen. Dann erst erblickte er den andern, der ein paar Meter entfernt auf dem Fußboden lag. Mit schreckgeweiteten Augen fuhr er zusammen. »Riegel vorschieben!« sagte Tom zu Jonathan, dann wandte er sich an den Italiener. »Seid ihr noch mehr?« Der Italiener schüttelte heftig den Kopf, was gar nichts bedeutete, dachte Tom. Er sah, daß der Mann den linken Arm in einer Schlinge unter dem Jackett trug. Nichts konnte man auf Zeitungsmeldungen geben. »Halten Sie ihn in Schach, ich werd ihn –« sagte Tom und machte sich daran, den Mann zu durchsuchen. »Los, die Jacke aus!« Er nahm ihm den Hut ab und warf ihn zu Angy hinüber. 274
Der Italiener ließ das Jackett heruntergleiten und zu Boden fallen. Der Schulterhalfter war leer, auch in den Taschen steckten keine Waffen. »Angy –«, sagte der Mann halblaut. »Angy è´morto«, gab Tom zurück. »Und dir wird´s e benso gehen, wenn du nicht tust, was wir sagen. Dann kannst du auch sterben, wenn du willst. Wie heißt du? – Wie du heißt?!« »Lippo. Filippo.« »Lippo, schön. Hände hoch und nicht gerührt. Hand hoch. Stell dich da drüben hin.« Er wies mit der Hand auf den Toten. Lippo hob den gesunden Arm. »Jon – zielen Sie auf ihn, ich will mir draußen mal den Wagen anse hen.« Die Luger schußbereit in der Hand, ging Tom hinaus und wandte sich auf der Straße nach rechts. Vorsichtig näherte er sich dem Wagen. Er hörte den Motor laufen. Der Wagen stand rechts auf der Fahrstraße, das Park licht brannte. Tom blieb stehen und schloß sekundenlang die Augen, dann öffnete er sie weit und versuchte festzu stellen, ob sich neben oder hinter dem Wagen etwas be wegte. Er trat langsam und mit festen Schritten näher. Vielleicht war jemand im Wagen, der jetzt gleich schoß – sie konnten doch nicht bloß zwei Mann geschickt haben? Zu dumm, in seiner Nervosität hatte er nicht an eine Ta schenlampe gedacht. Die Pistole auf den Vordersitz ge richtet, wo vielleicht einer kauerte, öffnete Tom die linke Wagentür. Das Licht ging an. Der Wagen war leer. Tom machte die Tür so weit zu, daß das Licht ausging, bückte sich und horchte. Nichts war zu hören. Er trabte zum Haus zurück und öffnete die Gartentorflügel, dann holte er den Wagen und stellte ihn im Garten auf den Kiesweg. Jetzt fuhr auf der Straße ein Wagen vorbei, der aus der Richtung des Dorfes kam. Tom stellte die Zündung ab 275
und löschte das Parklicht. Dann klopfte er und rief Jona than zu, daß er es sei. »Mehr sind anscheinend nicht da«, sagte er beim Ein treten. Jonathan stand noch an derselben Stelle, die Pistole auf den Italiener gerichtet. Lippos gesunder Arm hing jetzt herunter, seitwärts und ein wenig nach außen. Tom lächelte Jonathan und dann auch Lippo zu. »Na, Lippo – wir sind also allein? Wenn du mich jetzt anlügst, wird kurzer Prozeß gemacht, verstanden?« Lippo schien seinen Mafiastolz wiedergefunden zu ha ben. Er sah Tom mit halbgeschlossenen Augen an, ohne ein Wort. »Risponde, du . . .!« »Si!« sagte Lippo eilig, von Zorn und Angst erfüllt. »Müde, Jon? Setzen Sie sich doch.« Tom zog einen der gelbgepolsterten Sessel für ihn heran. »Und du kannst dich auch setzen, wenn du willst«, sagte er zu Lippo. »Da – bei deinem Freund kannst du sitzen.« Tom sprach jetzt Italienisch; allmählich fand er auch den Slang wieder. Aber Lippo blieb stehen. Er mochte Anfang dreißig sein, etwa einen Meter sechzig groß, mit kräftigen runden Schultern und einem Ansatz zum Bauch. Hoffnungslos primitiv – aus dem war nie ein Capo zu machen. Er hatte glattes schwarzes Haar und ein blasses olivenfarbenes Gesicht, das jetzt leicht grünlich aussah. »Kennst mich doch noch aus dem Zug, was? Weißt du noch?« fragte Tom mit leichtem Spott. Er warf einen Blick auf den Blonden, der auf dem Boden lag. »Wenn du tust, was ich sage, Lippo, dann geht´s dir nicht so wie Angy. Kapiert?« Tom legte die Hände auf die Hüften und lä chelte Jonathan zu. »Wie wär´s denn jetzt mit einem GinTonic zur Stärkung? Geht´s Ihnen wieder gut, Jon?« Die 276
Farbe war in Jonathans Gesicht zurückgekehrt, das sah Tom. Mit verzerrtem Gesicht nickte Jonathan. »Ja.« Tom ging in die Küche. Als er die Eiswürfel aus dem Kühlschrank holte, klingelte das Telefon. »Nicht hinge hen, Jonathan!« »Schön.« Jonathan war überzeugt, daß es wieder Si mone war. Es war jetzt Viertel vor zehn. Tom überlegte, wie er Lippo dazu zwingen konnte, seine Kumpane von Tom Ripleys Spur abzulenken. Das Telefon klingelte achtmal und schwieg dann still; unbe wußt hatte Tom mitgezählt. Er ging mit einem Tablett, auf dem zwei Gläser, Eiswürfel und eine offene Flasche mit Tonic standen, ins Wohnzimmer zurück. Der Gin stand auf dem Barwagen am Eßtisch. Er reichte Jonathan sein Glas und sagte: »Cheers!« Dann wandte er sich an den Italiener. »Wo ist euer Hauptquartier, Lippo? In Mai land?« Lippo zog es vor, vielsagend zu schweigen. Unver schämt. Und ärgerlich, denn nun mußte man ihn etwas weich machen. Mit Widerwillen blickte Tom auf den Fleck aus getrocknetem Blut unter Angys Kopf; er stellte sein Glas auf die kleine Kommode neben der Tür und ging in die Küche, wo er ein Wischtuch – torchon nannte Mme. Annette so etwas – anfeuchtete und damit das Blut von dem schöngewachsten Parkett aufnahm. Er stieß Angys Kopf mit dem Fuß zur Seite und legte das Tuch darunter. Jetzt kam sicher kein Blut mehr. Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er nahm sich die Taschen des Toten gründlicher vor, auch die in der Hose und im Jackett. Zigaretten ka men zutage, ein Anzünder, etwas Kleingeld, und im Ja ckett eine Brieftasche, die er steckenließ. In einer Hosen tasche fand er ein zusammengeballtes Taschentuch, und als er es auseinandernahm, kam eine Schlinge zum Vor 277
schein. »Sieh mal an!« sagte er zu Jonathan. »Genau das, was ich brauche.« Er hielt die Schlinge hoch und lachte vergnügt. »Hier – für dich, Lippo, wenn du nicht brav bist!« sagte er auf italienisch. »Schießeisen machen so viel Lärm, das haben wir nicht so gern, was?« Jonathan blickte zu Boden, als Tom jetzt langsam auf Lippo zutrat und dabei die Schlinge um den Finger wir beln ließ. »Du gehörst doch zu der großen Genotti-Familie, was, Lippo? Non è vero?« Ganz kurzes Zögern bei Lippo, als sei es ihm nur flüchtig durch den Kopf gegangen zu leugnen. »Si«, sag te er fest, eine Spur von Trotz in der Stimme. Tom war belustigt. So waren diese Familien: ihre Stär ke lag in der Vielzahl, in der Gemeinsamkeit. Stand einer allein, wie dieser da, dann fiel er bald um. Das mit dem Arm tat Tom leid, aber er folterte ihn ja noch nicht, und er kannte die Foltern, die die Mafia ihren Opfern zuteil wer den ließ, wenn sie nicht taten, was verlangt wurde: Geld herausrückten oder Dienste leisteten. Ausgerissene Fußnägel und Zähne, Brandmale mit Zigaretten. »Wie viele hast du schon umgebracht, Lippo?« »Nessuno!« rief Lippo schrill. »Gar keinen«, sagte Tom zu Jonathan. »Ha ha.« Er ging in die kleine Toilette, die der Haustür gegenüberlag und spülte sich die Hände ab. Dann leerte er sein Glas, nahm das Holzscheit, das neben der Tür lag und trat damit zu Lippo. »Hör zu, Lippo. Du wirst heute abend deinen Boss anrufen. Vielleicht deinen neuen Capo, eh? Wo ist er jetzt? In Mailand? Monaco di Bavaria?« Er schlug den Italiener mit dem Holz an den Kopf, eigentlich nur, um ihm zu zeigen, daß er nicht scherzte, aber der Schlag war nicht ganz leicht, weil Tom nervös war.
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»Aufhören!« schrie Lippo laut. Er wäre fast umgefal len, die eine Hand war mitleidheischend an den Kopf gepreßt. »Wo ich bloß einen Arm habe?« heulte er jetzt in der eigenen Sprache, dem Straßenjargon von Neapel, dachte Tom; es konnte auch Mailand sein. Tom war da kein Fachmann. »Si si! Und dann noch zwei gegen einen!« gab Tom zurück. »Kein bißchen fair, was? Gefällt dir gar nicht, was?« Ein Schimpfwort folgte, dann wandte sich Tom auf dem Absatz, um eine Zigarette zu nehmen. »Warum be test du nicht zur Jungfrau Maria?« sagte er über die Schulter. »Und noch etwas«, fuhr er dann auf Englisch fort, »wenn du noch einmal so schreist, kriegst du dies hier an den Kopf, aber sofort!« Huiischsch – die Hand mit dem Holzscheit sauste durch die Luft. »So ist´s Angy auch ergangen.« Lippo blinzelte. Der Mund war leicht geöffnet, er atme te hörbar und flach. Jonathan hatte sein Glas geleert. Er zielte noch immer mit der Pistole auf Lippo; sie war schwer geworden, und er hielt sie in beiden Händen. Er war keineswegs sicher, daß er Lippo treffen würde, wenn er feuern mußte, au ßerdem stand Tom immer wieder zwischen ihm und Lip po. Jetzt hatte er den Italiener am Gürtel gepackt und schüttelte ihn. Jonathan verstand nicht alles, was Tom da sagte, einiges war in kurzen italienischen Brocken, der Rest Französisch und Englisch. Meist sprach er ge dämpft, doch jetzt wurde die Stimme laut und zornig. Er stieß den andern von sich und wandte sich um. Der Ita liener hatte kaum etwas gesagt. Tom trat an den Radioapparat und drückte auf einige Knöpfe. Ein Cellokonzert. Er stellte es auf mittlere Stärke. Dann ging er ans vordere Fenster und vergewisserte sich, daß die Gardinen fest geschlossen waren. »Zu 279
dumm!« sagte er entschuldigend zu Jonathan. »Gräßlich – er will mir nicht sagen, wo sein Boss ist, ich muß ihn ´n bißchen zusammenschlagen. Klar – vor seinem Boss hat er genausoviel Angst wie vor mir.« Er lächelte Jonathan kurz zu, trat wieder an den Apparat und drehte an der Skala, bis er Popmusik fand. Dann nahm er entschlossen das Holzscheit in die Hand. Den ersten Schlag konnte Lippo abwehren, aber mit der Rückhand krachte ihm Tom das Holz an die Stirn, daß er aufheulte. Jetzt schrie er: »No! Lasciame!« »Die Nummer von deinem Boss!« schrie Tom. Krach – der Schlag traf Lippo in den Magen, auf die Hand, die er schützend davorgehalten hatte. Glasscher ben fielen auf den Boden. Lippo trug die Uhr am rechten Handgelenk, das Uhrglas war zerbrochen, und Lippo hielt die Hand gegen den Magen gepreßt, während er starr auf die Scherben blickte. Er rang nach Luft. Tom wartete, das Holzscheit in der erhobenen Hand. »Mailand«, sagte Lippo. »Gut. Du wirst jetzt –« Den Rest verstand Jonathan nicht. Tom zeigte auf das Telefon, dann trat er zu dem Tischchen am Fenster, auf dem der Apparat stand, und nahm Notizblock und Blei stift zur Hand. Er fragte den Italiener nach der Mailänder Nummer. Lippo nannte ihm die Nummer, und Tom schrieb sie auf. Jetzt sprach Tom eine Weile zu Lippo, dann wandte er sich zu Jonathan und sagte: »Ich hab ihm gesagt, er wird kaltgemacht, wenn er sich weigert, seinen Boss anzuru fen und ihm zu sagen, was er sagen soll.« Tom zog die Schlinge zurecht. Als er sich zu Lippo wandte, hörte man draußen das Geräusch eines ankommenden Wagens. Der Wagen hielt am Gartentor.
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Jonathan stand auf. Das war entweder Verstärkung für die beiden Italiener, oder Simone in Gérards Wagen. Er wußte nicht, was schlimmer war. Beides kam in diesem Augenblick einem Todesurteil gleich. Jetzt durch die Gardinen nach draußen lugen wollte Tom nicht. Der Motor purrte sacht weiter. Lippos Gesicht hatte sich nicht verändert, Tom merkte ihm weder Er leichterung noch sonst etwas an. Der Wagen setzte sich in Bewegung und fuhr rechts die Straße hinunter. Tom schob die Gardinen einen Spalt auseinander und spähte hinaus. Der Wagen war in Fahrt und fuhr weiter – es war also alles in Ordnung, außer wenn da etwa ein paar Männer ausgestiegen waren, die sich jetzt im Gebüsch versteckt hatten, weil sie gleich durch die Fenster schießen wollten. Tom horchte noch ein paar Sekunden. Vielleicht waren es auch die beiden Grais gewesen; möglich, daß die vor ein paar Minuten angerufen hatten und dann hergekommen waren, und als sie den fremden Wagen auf dem Kiesweg stehen sahen, hatten sie angenommen, daß Ripleys Gäste hatten. »Hör zu, Lippo«, sagte Tom ruhig. »Du wirst jetzt dei nen Boss anrufen, und ich werde hier mit diesem kleinen Spielzeug mithören.« Er nahm die Hörmuschel, die hin ten an seinem Apparat hing und die in Frankreich zur Tonverstärkung benutzt wird, und zeigte sie dem Italie ner. Dann fuhr er auf französisch fort, das der Italiener offensichtlich verstand. »Und wenn mir irgend etwas nicht ganz astrein vorkommt, dann ziehe ich dies hier ganz schnell zu, siehst du?« Er begleitete seine Worte mit einer Bewegung des Handgelenks, dann ging er auf Lippo zu und warf ihm die Schlinge über den Kopf. Lippos Kopf fuhr überrascht ein wenig zurück, dann führte ihn Tom wie einen Hund an der Leine hinüber zum
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Telefon, wo er ihn in den kleinen Sessel drückte, damit er die Schlinge leichter anziehen konnte. »So – ich werde jetzt die Nummer anrufen lassen – mit R-Gespräch, tut mir aufrichtig leid. Dann sagst du, daß du in Frankreich bist, mit Angy, und daß ihr glaubt, man beschattet euch. Du sagst, du hast Tom Ripley gesehen, und Angy sagt, das ist nicht der Mann, den ihr sucht. O kay? Verstanden? Und beim ersten Geheimwort oder Codewort oder so was weißt du ja, was dir –« Tom zog die Schlinge fester, aber nicht so fest, daß sie in Lippos Hals verschwand. »Si-ssi!« sagte Lippo eilig und starrte mit schreckge weiteten Augen von Tom zum Telefon. Tom wählte die Nummer des Fernamts und verlangte ein Ferngespräch nach Mailand, Italien. Die Telefonistin fragte wie üblich nach seiner Nummer, die ihr Tom an gab. »Wer ist der Anmelder?« fragte die Telefonistin. »Lippo. Einfach Lippo«, erwiderte Tom. Er nannte die Nummer, und die Telefonistin sagte, sie werde zurückru fen. Tom wandte sich an Lippo und sagte: »Wenn das hier eine Freundin von dir ist, oder irgendein Krämerla den, wirst du trotzdem erwürgt. Capish?« Lippo wand sich. Er schien verzweifelt zu überlegen, ob es keinen Weg zum Entrinnen gab, aber zunächst fiel ihm offenbar nichts ein. Das Telefon klingelte. Tom bedeutete Lippo durch eine Handbewegung, den Hörer aufzunehmen; er selbst nahm die Hörmuschel und horchte. Die Telefonistin erklärte, der Anruf werde ange nommen. »Pronto?« fragte eine Männerstimme am anderen En de der Leitung.
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Lippo preßte den Hörer mit der rechten Hand an das linke Ohr. »Pronto. Hier ist Lippo. Luigi!« »Si«, sagte die andere Stimme. »Hör zu, Luigi, ich –« Lippos schweißnasses Hemd klebte ihm am Rücken. »Wir haben den –« Tom zog leicht an der Schlinge, um Lippo zum Weiter reden zu bringen. »Ihr seid doch in Frankreich, du und Angy?« sagte die andere Stimme ungeduldig. »Allora – was ist denn los?« »Nichts. Wir haben – wir haben ihn gesehen, den Mann. Angy sagt, das ist er nicht – das ist nicht der, den wir –« »Und du glaubst, daß ihr beschattet werdet!« flüsterte Tom ihm zu. Die Verbindung war schlecht, er brauchte nicht zu fürchten, daß der Teilnehmer in Mailand ihn hör te. »Und wir glauben, wir werden – wir werden beschat tet.« »Wieso – von wem?« fragte die Stimme scharf. »Weiß ich nicht. Was zum – Henker sollen wir ma chen?« fragte Lippo. Das Wort aus dem Straßenjargon kannte Tom nicht. Lippos Stimme klang jetzt echt ver stört. Tom bebte vor unterdrücktem Lachen; er blickte zu Jonathan hinüber, der immer noch gehorsam die Pistole auf den Italiener gerichtet hielt. Tom verstand nicht alles, was Lippo jetzt am Telefon mit dem anderen redete, aber der Italiener schien keine krummen Touren im Sinn zu haben. »Zurück –?« fragte er jetzt. »Si!« sagte Luigi. »Ihr laßt den Wagen stehen und nehmt ein Taxi zum nächsten Flughafen. Wo seid ihr jetzt?«
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»Sag, du mußt auflegen!« flüsterte Tom mit einer Handbewegung. »Ich muß auflegen. Rivederch, Luigi«, sagte Lippo und legte den Hörer auf die Gabel. Mit den Augen eines ge prügelten Hundes blickte er zu Tom auf. Lippo war erledigt und wußte es auch, das erkannte Tom. Ausnahmsweise war Tom heute stolz auf seinen Ruf. Er hatte nicht die Absicht, dem Italiener das Leben zu schenken. Lippos Mafia-Familie hätte unter den glei chen Umständen keinen verschont. »Steh auf, Lippo«, sagte er lächelnd. »Mal sehen, was du alles in den Taschen hast.« Als Tom ihn zu durchsuchen begann, zuckte Lippos gesunder Arm zurück, als wolle er zuschlagen, aber Tom kümmerte sich nicht darum. Nichts als Nerven, dachte er. In einer Tasche fühlte er Münzen und einen zerknüllten Papierfetzen, der sich als italienische Straßenbahnfahr karte herausstellte. Dann zog er aus der Hüfttasche eine Schlinge, diesmal geradezu sportlich und rotweiß ge streift wie die Ladenstangen beim Friseur, und aus ganz dünnem Material, sicher Katzendarm. »Sieh mal an – noch eine!« sagte Tom zu Jonathan und hielt die Schlinge hoch, als wäre sie ein hübscher Stein, den er am Strand gefunden hatte. Jonathan warf nur einen kurzen Blick auf die bau melnde Schnur. Die erste Schlinge lag noch um Lippos Hals. Jonathan blickte auch nicht zu dem Toten hinüber, der kaum zwei Meter entfernt vor ihm lag, der eine Schuh war unnatürlich nach innen gekehrt auf dem blankge wachsten Fußboden, doch er konnte die leblose Gestalt nicht ganz aus seinem Blickfeld verdrängen. »Liebe Güte«, sagte Tom nach einem Blick auf seine Uhr. Er hatte nicht gewußt, daß es so spät war, nach zehn Uhr. Es mußte jetzt geschehen, denn er und Jona 284
than mußten noch stundenweit fahren und vor Sonnen aufgang zurück sein, wenn das möglich war. Sie mußten die Leichen in einiger Entfernung von Villeperce loswer den. Weiter südlich natürlich, in Richtung auf Italien. Viel leicht nach Südosten. Das war nicht so wichtig, aber Südosten war ihm lieber. Er holte tief Atem, um jetzt zur Tat zu schreiten, doch Jonathans Anwesenheit hemmte ihn. Aber schließlich hatte Jonathan ja schon erlebt, wie man mit Leichen fertig wurde, und es war jetzt hohe Zeit. Tom bückte sich und nahm das Holzscheit vom Boden auf. Lippo wich aus und warf sich zu Boden, vielleicht war er auch gestolpert und gefallen, und Tom schlug ihm kra chend das Holz an den Kopf, einmal und dann ein zwei tesmal. Doch er hatte nicht mit voller Kraft zugeschlagen – im Unterbewußtsein saß der Gedanke an Mme. Annet te und die Blutflecken auf dem Fußboden. »Er ist bloß bewußtlos«, sagte Tom zu Jonathan. »Ich muß ihn fertigmachen, Jon. Wenn Sie´s lieber nicht se hen wollen, gehen Sie vielleicht in die Küche.« Jonathan war aufgestanden. Er wollte es ganz be stimmt lieber nicht sehen. »Können Sie eigentlich fahren?« fragte Tom. »Ich meine meinen Wagen. Den Renault.« »Ja«, sagte Jonathan. Sein Führerschein stammte noch aus der ersten Zeit in Frankreich, als er mit Roy zusammen gewesen war, dem Freund aus England. Der Führerschein war zu Hause. »Wir müssen heute nacht fahren. Gehen Sie jetzt in die Küche«, sagte Tom mit einer Handbewegung. Dann machte er sich daran, die Schlinge zuzuziehen. Keine angenehme Aufgabe – der banale Satz fuhr ihm durch den Kopf, als er die Schnur fester faßte. Aber wer half den Menschen, denen nicht – wie Lippo – eine gnädige 285
Bewußtlosigkeit das Ende erleichterte? Er hielt die Schnur fest gepackt, die Schlinge war ganz im Hals ver schwunden, und Tom half sich mit dem Gedanken an Vito Marcangelo, der im Mozart-Expreß auf die gleiche Weise umgekommen war. Das hatte Tom geschafft, und er schaffte es auch diesmal. Er hörte den Wagen – erst weiter weg, dann fuhr er heran, bremste und hielt vor dem Haus. Tom hielt die Schlinge so fest wie zuvor. Wieviel Se kunden mochten vergangen sein – fünfundvierzig? Wohl kaum mehr als eine Minute. »Was kann das sein?« flüsterte Jonathan, der von der Küche hereingekommen war. Draußen lief immer noch der Motor. Tom schüttelte den Kopf. Jetzt hörten sie leichte Schritte auf dem Kiesweg, und dann klopfte es an der Haustür. Jonathan wurde schwach, seine Knie drohten nachzugeben. »Ich glaube, das ist Simone«, sagte er. Wenn Lippo bloß tot war, dachte Tom verzweifelt. Lip pos Gesicht war dunkelrot. O verdammt, verdammt! Wieder klopfte es. »M. Ripley? – Jon!« »Fragen Sie, wen sie bei sich hat«, sagte Tom dring lich. »Wenn jemand bei ihr ist, können wir nicht aufma chen. Sagen Sie, wir hätten zu tun.« »Wen hast du bei dir, Simone?« fragte Jonathan durch die geschlossene Tür. »Niemand! Ich habe dem Taxi gesagt, er soll warten. Was ist denn bloß los, Jon?« Jonathan sah, daß Tom verstanden hatte, was sie sagte. »Sagen Sie, sie soll das Taxi wegschicken«, sagte er. »Bezahl den Fahrer, Simone«, sagte Jonathan laut. »Er ist doch bezahlt!« 286
»Dann sag ihm, er soll wegfahren.« Simone ging zurück auf die Straße, und sie hörten, wie das Taxi abfuhr. Sie kam zurück und stieg die Stufen zur Haustür hinauf. Jetzt klopfte sie nicht, sie wartete. Tom richtete sich auf, die Schlinge blieb fest angezo gen um Lippos Hals. Fieberhaft überlegte Tom, ob Jona than wohl hinausgehen und seiner Frau klarmachen konnte, daß es nicht möglich war, sie hereinzulassen? Weil andere Gäste da waren? Und man werde sofort ein zweites Taxi für sie kommen lassen? Was mochte der erste Fahrer gedacht haben – es war sicher richtig, daß sie ihn weggeschickt hatten, bevor er gewahr wurde, daß Simone keinen Einlaß fand in einem Haus, in dem Licht brannte und wo sich mindestens eine Person aufhielt. »Jon!« rief Simone. »Mach doch auf – ich möchte dir was sagen!« Halblaut sagte Tom: »Können Sie draußen mit ihr war ten, bis ich ein neues Taxi bestellt habe? Sagen Sie ihr, wir hätten geschäftliche Sachen zu besprechen und es wären noch andere Leute hier. Geht das?« Jonathan nickte, wartete einen Augenblick und schob dann den Riegel zurück. Er öffnete die Tür nur halb und war im Begriff, selber hinauszuschlüpfen, aber Simone drückte ihm plötzlich die Tür entgegen. Sie stand in der Diele. »Jon! Entschuldige, ich –« Atemlos blickte sie sich nach Tom Ripley, dem Hausherrn um, dann hatte sie ihn erblickt und gleichzeitig die beiden Männer, die auf dem Boden lagen. Sie schrie auf und ließ die Handtasche fal len, die mit weichem plop auf dem Boden landete. »Mon dieu! Was geht hier vor?« Jonathan packte sie fest an einer Hand. »Sieh nicht hin, das sind –« Simone blieb erstarrt stehen. 287
Tom kam auf sie zu. »Guten Abend, Madame. Bitte haben Sie keine Angst. Die beiden sind ins Haus ein gebrochen. Sie sind bewußtlos, weil – wir mußten da et was – Jonathan, bringen Sie doch Ihre Frau in die Kü che.« Simone tat keinen Schritt. Sie schwankte und lehnte sich einen Augenblick gegen Jonathan, dann hob sie den Kopf und sah Tom fast hysterisch an. »Tot sind sie! Mör der – c´est épouvantable! Jonathan – ich kann noch im mer nicht glauben, daß du das bist – hier!« Tom trat an den Barwagen. »Meinen Sie, daß Simone einen Brandy trinken kann?« rief er zu Jonathan hinüber. »Ja. Komm, wir gehen in die Küche, Simone.« Er woll te mit ihr gehen, zwischen ihr und den beiden Leichen, aber sie rührte sich nicht. Die Brandyflasche war nicht so leicht zu öffnen wie der Whisky, deshalb füllte Tom eins der Gläser, die auf dem Wagen standen, mit Whisky und brachte es Simone, pur, ohne Wasser. »Madame, bitte – ich weiß, wie schrecklich dies alles ist. Die beiden Männer gehören zur Mafia – es sind Italiener. Sie wollten uns hier überfallen – oder je denfalls mich.« Erleichtert sah er, daß sie das Glas nahm und ein paar Schluck von dem Whisky trank – als ob sie eine Medizin vor sich hätte, die ihr guttat; sie verzog kaum das Gesicht. »Jonathan hat mir geholfen, und dafür bin ich ihm sehr dankbar. Ohne ihn hätte ich –« Tom hielt inne. Er sah, wie erneut der Zorn in Simone hochstieg. »Ohne ihn? Was hat er hier zu suchen?« Tom richtete sich auf und ging dann voran in die Kü che, vermutlich war das die einzige Möglichkeit, sie zum Verlassen des Wohnzimmers zu bewegen. Sie folgte ihm mit Jonathan. »Das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären, Mme. Trevanny. Heute abend nicht. Wir müssen jetzt fort – und die Männer müssen wir mitnehmen. Möchten Sie 288
vielleicht –« Hatten sie Zeit, dachte er, sie nach Fontai nebleau zu bringen und dann zurückzukommen, um bei de zusammen die Leichen wegzubringen? Nein, ausge schlossen. Das kostete mindestens vierzig Minuten, und Tom war entschlossen, jetzt nicht soviel Zeit zu ver schwenden. »Madame – kann ich ein Taxi bestellen, das Sie nach Hause bringt?« »Ich gehe nicht ohne meinen Mann. Ich will wissen, was mein Mann hier zu tun hat – mit so einem Kerl wie Sie!« Ihr ganzer Zorn war gegen ihn gerichtet. Wenn er doch jetzt herauskäme, meinetwegen mit großem Knall, die ganze Empörung auf einmal . . . Tom hatte es nie ver standen, mit aufgebrachten Frauen fertigzuwerden; und viel Gelegenheit hatte er auch nicht gehabt. Ihm kam es immer vor wie kleine wütende Kreise, ein Ring kleiner Brandstellen: wenn er gerade ein Feuer gelöscht hatte, sprangen die Gedanken der Frau schon weiter zum nächsten Brand. Er sagte zu Jonathan: »Wenn sie bloß mit einem Taxi nach Hause fahren wollte –« »Ich weiß, ich weiß. Simone, bitte! Es ist ganz be stimmt das beste, wenn du jetzt nach Hause fährst.« »Kommst du mit?« fragte sie. »Ich – das kann ich nicht«, gab Jonathan verzweifelt zurück. »Du willst also nicht. Du bist auf seiner Seite.« »Darling – laß uns darüber später reden –« Er sprach weiter. Vielleicht, dachte Tom, hatte Jona than seinen Entschluß geändert und wollte ihm gar nicht mehr helfen. Mit Simone kam er jedenfalls nicht weiter. Tom unterbrach ihn und sagte: »Jonathan, können Sie einen Augenblick –« Er winkte ihm. »Entschuldigen Sie uns einen Moment, Madame.« Im Wohnzimmer fuhr er flüsternd fort: »Wir haben sechs Stunden Arbeit vor uns – 289
ich jedenfalls. Ich muß die beiden wegbringen und sie irgendwo loswerden – und ich möchte vor morgen früh zurück sein. Wie ist das: kommen Sie mit? Wollen Sie wirklich helfen?« Jonathan kam sich so verloren vor wie inmitten einer Schlacht, die er niemals gewinnen konnte. Mit Simone war die Lage schon jetzt ganz hoffnungslos. Was hier vorging, konnte er ihr niemals verständlich machen, und wenn er jetzt mit ihr nach Hause fuhr, so war für ihn da mit nichts gewonnen. Er hatte Simone verloren – was blieb ihm noch? Diese Gedanken fuhren ihm durch den Kopf wie ein einziges Bild. »Ja, ich will helfen.« »Gut. Danke.« Toms Lächeln war gezwungen. »Hier wird ja Ihre Frau sicher nicht bleiben wollen. Sie könnte natürlich rauf gehen, in das Zimmer meiner Frau. Ich ha be sicher noch irgendwo ein Beruhigungsmittel. Aber mit uns kann sie keinesfalls kommen.« »Nein.« Jonathan war sich klar, daß er für Simone verantwortlich war, nur fühlte er sich außerstande, sie zu überreden oder ihr Anweisungen zu geben. »Sie hört niemals auf mich, wenn ich –« »Es ist auch nicht ungefährlich«, unterbrach ihn Tom und hielt dann inne. Sie durften keine Zeit mehr mit Re den vergeuden. Er ging ins Wohnzimmer zurück und blickte wie unter einem Zwang auf Lippo, dessen Gesicht ihm bläulich vorkam. Jedenfalls hatte die ungeschlachte Gestalt jetzt das wesenlose Aussehen eines Toten – nicht wie im Traum oder Schlaf, sondern einfach leer, als seien Gedanken und Bewußtsein für immer entschwun den. Simone kam jetzt aus der Küche, wohin er gerade zurückgehen wollte, und er sah, daß ihr Glas leer war. Er ging zu dem Barwagen, holte die Flasche und füllte ihr Glas, das sie in der Hand hielt, obgleich sie eine ableh nende Bewegung machte. »Sie brauchen es nicht zu 290
trinken, Madame«, sagte Tom. »Wir müssen fort, und ich muß Ihnen sagen, daß es nicht ganz ungefährlich ist, wenn Sie hier im Hause bleiben. Ich weiß nicht, ob da nicht noch mehr von diesen Gangstern auftauchen.« »Dann komme ich mit. Ich bleibe bei meinem Mann.« »Das ist ausgeschlossen«, sagte Tom mit fester Stimme. »Was haben Sie vor?« »Das weiß ich noch nicht, aber wir müssen diese – diese Leute hier loswerden«, sagte Tom mit einer Hand bewegung. »Simone, du mußt jetzt ein Taxi nehmen und nach Hause fahren!« »Non!« Jonathan packte sie am Handgelenk und nahm mit der anderen Hand ihr Glas, damit es nicht umfiel. »Du mußt mir jetzt folgen – es geht um dein und mein Leben. Wir können nicht immer weiter reden!« Tom stürzte die Treppe hinauf. Er mußte fast eine Mi nute suchen, dann hatte er Heloises Fläschchen mit Phenobarbitol-Tabletten zu je ein Viertel Gran gefunden, sie lagen ganz hinten in ihrem Medizinschränkchen, weil sie sie nur selten brauchte. Zwei davon nahm er mit nach unten und ließ sie in Simones Glas fallen, das er Jona than abgenommen hatte, dann füllte er das Glas mit ei nem Schuß Sodawasser auf. Simone nahm das Glas und trank. Sie saß auf dem gelben Sofa und schien jetzt ruhiger, obgleich die Tablet ten noch nicht gewirkt haben konnten. Jonathan stand am Telefon und war wohl dabei, ein Taxi zu bestellen; das dünne Telefonbuch für den Bezirk Seine-et-Marne lag aufgeschlagen auf dem Tischchen. Tom war etwas benommen zumute – etwa so, wie Simone aussah. Aber bei ihr lag es an dem Schock, der sie so verstört hatte. 291
»Ja – einfach Belle Ombre in Villeperce, das genügt«, sagte Tom, als Jonathan zu ihm herüberblickte. In quälendem Schweigen standen Jonathan und Si mone an der Haustür und warteten auf das Taxi. Tom war inzwischen durch die Glastür hinaus in den Garten gegangen und hatte aus dem Geräteschuppen den Ben zinkanister geholt, der leider nicht voll war, aber dreivier tel voll schien er immerhin zu sein. Tom hatte die Ta schenlampe bei sich. Als er vorn um die Hausecke bog, hörte er einen Wagen langsam näher kommen. Anstatt den Kanister in den Renault zu setzen, stellte er ihn unter dem Lorbeerbusch ab, wo man ihn nicht sah. Dann klopf te er an der Haustür und trat, als Jonathan öffnete, ins Haus. »Ich glaube, der Wagen ist da«, sagte Tom. Er verabschiedete sich von Simone und überließ es Jonathan, sie zum Taxi zu begleiten, das draußen auf der Straße wartete. Der Wagen fuhr ab, und Jonathan kam herein. Tom war dabei, die Glastür wieder zu verschließen. »Herrgott«, sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel und er ungeheuer erleichtert war, daß Simone das Haus ver lassen hatte und er wieder allein war mit Jonathan. »Ich hoffe, sie ist nicht allzu geladen. Aber ich könnt´s ihr nicht mal übelnehmen.« Jonathan zog benommen die Schultern hoch. Er wollte etwas sagen und konnte nicht. Tom sah, wie ihm zumute war. Zuversichtlich wie ein Kapitän, der zu seiner verstörten Mannschaft spricht, sagte er: »Jonathan, sie wird sich schon fangen.« Und die Polizei wird sie auch nicht anrufen, dachte er, sonst müßte sie ihren Mann mitbelasten. Tom fühlte, wie er langsam Mut und Tatkraft zurückgewann. Er tätschelte im
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Vorbeigehen Jonathans Arm und sagte: »Ich bin sofort zurück.« Tom holte den Kanister aus dem Gebüsch und stellte ihn nach hinten in den Renault. Dann öffnete er den Cit roën der Italiener, das Innenlicht ging an, und er sah an der Benzinuhr, daß der Tank gut halbvoll war. Das moch te reichen: er wollte mehr als zwei Stunden fahren. In dem Renault, das wußte er, war der Tank nur etwas über halbvoll, und da sollten die beiden Leichen hinein. Er und Jonathan hatten abends überhaupt noch nichts geges sen, das war unklug. Er ging ins Haus zurück und sagte: »Wir sollten was essen, bevor wir losfahren.« Jonathan folgte ihm in die Küche; er war froh, eine Weile von den Leichen im Wohnzimmer wegzukommen. Am Ausguß wusch er sich Gesicht und Hände. Tom lä chelte ihm zu. Essen – das war es, was sie im Augen blick nötig hatten. Er nahm das Steak und legte es unter die rotglühenden Stangen. Ein Teller wurde auf den Tisch gestellt, zwei Steakmesser und Gabeln dazugelegt. Schließlich saßen beide am Tisch; sie aßen vom gleichen Teller und tunkten ihre Fleischbrocken in eine Untertasse mit Salz und eine andere mit Pfeffer. Das Steak war her vorragend. Tom hatte sogar auf dem Küchenbord eine halbe Flasche Claret aufgestöbert. Er hatte weiß Gott schon schlechter gegessen. »Das wird Ihnen guttun«, sagte er und ließ Messer und Gabel auf den Teller fallen. Ping! schlug die Uhr im Wohnzimmer, und Tom wußte, es war halb zwölf. »Kaffee?« fragte Tom. »Nescafé ist da.« »Nein, danke.« Keiner hatte ein Wort gesagt, während sie eilig das Steak verzehrten. Jetzt fragte Jonathan: »Wie wollen wir es machen?«
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»Irgendwo verbrennen. In ihrem Wagen«, gab Tom zur Antwort. »Verbrennen wär gar nicht nötig, aber es sieht dann eher nach Mafia aus.« Jonathan schaute zu, wie Tom am Ausguß die Ther mosflasche ausspülte; daß er vor dem offenen Fenster stand, machte ihm jetzt nichts aus. Er ließ das heiße Wasser laufen, schüttete etwas Nescafé aus dem Glas in die Thermosflasche und füllte sie mit heißem Wasser. »Wie ist es – nehmen Sie Zucker?« fragte er. »Wir werden ihn nötig haben.« Dann half ihm Jonathan beim Hinaustragen des blon den Mannes, bei dem jetzt die Todesstarre einsetzte. Tom redete irgendwas, er machte einen Scherz und sag te dann, er habe es sich anders überlegt: die beiden soll ten doch in den Citroën. ». . . auch wenn der Renault größer ist«, sagte er keuchend. Vor dem Hause war es jetzt ganz dunkel, die nächste Straßenlampe war zu weit entfernt, ihr Schein reichte nicht bis zur Einfahrt. Sie warfen den Mann auf den Rücksitz des Citroën, der zweite folgte obendrauf, und Tom lächelte, weil Lippos Gesicht fast in Angys Hals ver sank, aber er sagte nichts. Auf dem Boden des Wagens fand er ein paar alte Zeitungen, die breitete er über die beiden Toten und schob sie fest, soweit das ging. Dann vergewisserte er sich, daß Jonathan mit dem Renault Bescheid wußte, er zeigte ihm den Winker und erklärte, wie Scheinwerfer und Fernlicht funktionierten. »Okay, Sie können fahren. Ich mach drinnen alles zu.« Tom ging ins Haus, ließ im Wohnzimmer eine Lampe brennen, kam heraus und machte die Haustür zu, die er zweimal umschloß. Er hatte Jonathan erklärt, daß sie zunächst nach Sens fahren wollten und dann nach Troyes; von Troyes aus ging es dann weiter in östlicher Richtung. Tom hatte eine 294
Karte im Wagen. Das erstemal wollten sie sich in Sens treffen, am Bahnhof. Tom stellte die Thermosflasche in Jonathans Wagen. »Alles in Ordnung?« fragte Tom. »Halten Sie ja an und trinken Sie einen Schluck Kaffee, wenn Ihnen danach ist.« Fröhlich winkte er Jonathan zu. »So – Sie fahren zuerst raus. Ich mach das Tor zu und überhole Sie dann.« Jonathan fuhr hinaus, Tom machte das Gartentor zu, schloß es ab und hatte den anderen Wagen schnell ü berholt auf dem Weg nach Sens, das nur dreißig Minuten entfernt war. Mit Jonathan und dem Renault schien alles in Ordnung zu sein. In Sens trafen sie sich und sprachen kurz miteinander. In Troyes wollten sie sich ebenfalls am Bahnhof treffen. Tom kannte die Stadt nicht, und auf der Landstraße war es immerhin möglich, daß sie einander aus dem Auge verloren, aber der Weg zum Bahnhof war in jeder Stadt gut gekennzeichnet. Es war fast ein Uhr, als Tom in Troyes ankam, und er hatte Jonathan seit mehr als einer halben Stunde nicht mehr hinter sich gesehen. Er ging in die Bahnhofswirt schaft und trank einen Kaffee und dann noch einen, wäh rend er durch die Glastür nach draußen blickte und auf das Erscheinen des Renault wartete, der vermutlich auf den Parkplatz vor dem Bahnhof einfahren würde. Schließlich zahlte er und ging hinaus, und als er zu sei nem Wagen ging, sah er seinen Renault den abschüssi gen Weg zum Bahnhof herunterkommen. Er winkte, und Jonathan sah ihn. »Wie geht´s – alles okay?« fragte Tom und sah Jona than an. Er schien in Ordnung. »Wenn Sie hier einen Kaffee trinken wollen, oder aufs Klo müssen, gehen Sie lieber allein rein.«
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Beides wollte Jonathan nicht. Tom überredete ihn da zu, aus der Thermosflasche etwas Kaffee zu trinken. Kein Mensch kümmerte sich um sie, das sah Tom. Eben war ein Zug eingelaufen, zehn oder fünfzehn Leute gin gen zu ihren geparkten Wagen oder zu den Wagen von Leuten, die sie abgeholt hatten. »Von hier nehmen wir die Nationalstraße neunzehn«, erklärte Tom. »Unser nächstes Ziel ist Bar – Bar-surAube –, da treffen wir uns wieder am Bahnhof. Alles klar?« Tom fuhr los. Breit lag die Straße vor ihm, es gab nur wenig Verkehr bis auf zwei oder drei mächtige Lastwa gen, die rechteckigen Ladeteile von roten oder hellen Lämpchen erleuchtet. Kolosse, die nichts sahen und hör ten, dachte Tom; jedenfalls nichts von den beiden Lei chen unter dem Zeitungspapier – eine verschwindend kleine Ladung, verglichen mit dem, was die Laster auf gepackt hatten. Tom fuhr jetzt nicht sehr schnell, nicht mehr als etwa neunzig Kilometer per Stunde. Am Bahn hof in Bar traf er Jonathan, und sie sprachen kurz mitein ander durch die geöffneten Wagenfenster. »Mein Benzin geht zu Ende«, sagte Tom. »Ich will noch über Chaumont hinaus – bei der nächsten Tankstel le halte ich an. Und Sie wohl besser auch, ja?« »In Ordnung«, sagte Jonathan. Es war jetzt Viertel nach zwei. »Wir bleiben auf der Neunzehn. Nächster Treff ist am Bahnhof in Chaumont.« Am Ortsausgang von Bar hielt Tom an der TotalTankstelle und ließ den Wagen auftanken. Er war dabei, den Tankwart zu bezahlen, als Jonathan hinter ihm ein fuhr und hielt. Tom zündete sich eine Zigarette an, ohne Jonathan anzusehen, und machte noch ein paar Schritte, um sich die Beine zu vertreten. Dann fuhr er den Wagen
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etwas zur Seite und ging zur Toilette. Bis Chaumont wa ren es jetzt nur noch zweiundvierzig Kilometer. Und dort kam er um fünf Minuten vor drei an. Vor dem Bahnhof stand nicht mal ein Taxi, nur ein paar leere ge parkte Wagen. Züge gab es heute nacht nicht mehr, und die Wirtschaft im Bahnhof war geschlossen. Als Jonathan ankam, ging Tom zu Fuß auf den Renault zu und sagte: »Fahren Sie mir nach. Ich suche eine abgelegene Stel le.« Jonathan war müde, aber es war nicht die normale Schlafmüdigkeit; er hatte das Gefühl, er hätte noch stun denlang fahren können. Der Renault reagierte sicher und schnell, man brauchte sich kaum anzustrengen. Jona than kannte das Land ringsum überhaupt nicht, aber das machte nichts, hier war es leicht zu fahren, er brauchte nur das rote Schlußlicht des Citroën im Auge zu behal ten. Tom fuhr jetzt langsamer, zweimal hielt er an einer Seitenstraße und fuhr dann weiter. Die Nacht war schwarz und die Sterne nicht sichtbar, jedenfalls nicht im Scheinwerferlicht des Wagens. Zwei Wagen kamen ihm entgegen und fuhren vorbei, und ein Lastwagen überhol te Jonathan. Dann sah er, wie Toms Winker schwankend rechts ausfuhr, und Tom verschwand nach rechts. Jona than folgte und konnte kaum die schwarze Schlucht oder Abzweigung erkennen, als er abbog. Es war ein Sand weg, der gleich in einen Wald führte: eine schmale Spur, auf der sich zwei Wagen nicht begegnen konnten, ein Weg, wie man ihn in Frankreich auf dem Lande häufig findet, hauptsächlich benutzt von Bauern oder Holz sammlern. Buschwerk fuhr leise kratzend über die Stoß dämpfer. Immer wieder gab es Schlaglöcher. Tom hielt an. Sie waren in einer weiten Kurve etwa zweihundert Meter von der Landstraße abgebogen. Tom hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet, aber das Wagen innere wurde hell, als er jetzt die Tür öffnete. Die Tür 297
blieb offen, er ging auf Jonathan zu und winkte fröhlich mit den Armen. Jonathan war gerade dabei, seinen Mo tor abzustellen und auch das Licht auszuschalten. Einen Augenblick stand die Gestalt in der zerdrückten Hose und der grünen Wildlederjacke vor ihm, wie aus Licht gemacht. Jonathan blinzelte. Jetzt stand Tom neben Jonathans Wagenfenster. »Dauert nur ein paar Minuten. Fahren Sie mal fünf Meter zurück – Sie kennen doch den Rückwärtsgang?« Jonathan ließ den Wagen an, die Rücklichter brann ten. Als er hielt, öffnete Tom die zweite Tür des Renault und nahm den Kanister heraus. Er hatte seine Taschen lampe bei sich. Tom goß das Benzin auf die Zeitungen, über die bei den Leichen und ihre Kleidung, dann etwas auf das Wa gendach und die Polsterung – leider kein Stoff, sondern Plastik – und über den Vordersitz. Er blickte auf, nach oben, wo die Zweige der Bäume sich über dem schmalen Weg fast zusammenschlossen; das Laub war noch jung, es hatte noch nicht die Fülle des Sommers. Einige wür den versengt werden – aber immerhin für eine gute Sa che. Tom schüttelte die letzten Tropfen aus dem Kanister auf den Boden des Wagens, wo der Rest von einem But terbrot lag, und daneben eine alte Straßenkarte. Jonathan kam mit langsamen Schritten auf ihn zu. »Also denn«, sagte Tom halblaut und strich ein Streichholz an. Die Vordertür des Wagens hatte er offen gelassen. Jetzt warf er das Streichholz auf den Rücksitz, wo die Zeitungen sofort gelb aufflammten. Tom trat zurück und griff nach Jonathans Hand, als sein Fuß an der Wegkante in einer Vertiefung einsank. »In den Wagen«, flüsterte er und ging auf den Renault zu, wo er lächelnd hinter dem Steuer Platz nahm. Der Citroën brannte kräftig, in der Dachmitte war eine hohe 298
gelbe Flamme emporgeschossen, die aussah wie eine dünne Kerze. Jonathan stieg an der anderen Seite ein. Tom startete; sein Atem kam in kleinen Stößen und ging dann in La chen über. »Ich finde das prima. Sie nicht? Ich find´s ganz phantastisch!« An dem Renault flammten die Scheinwerfer auf, für ei nen Augenblick wurde das lodernde Feuermeer vor ihnen kleiner. Tom fuhr im Rückwärtsgang und ziemlich schnell, er bog sich zurück, um durch das Rückfenster sehen zu können. Jonathan starrte immer noch auf den brennenden Wa gen; er verschwand, als sie weiterhin rückwärts auf dem kurvenreichen Weg der Landstraße entgegenfuhren. Tom reckte sich. Sie waren wieder auf der Hauptstra ße. Der Wagen schoß vorwärts. »Können Sie es von hier sehen?« fragte Tom. Durch die Bäume sah Jonathan ein Licht wie das ei nes Glühwürmchens, das gleich verschwand. Hatte er es sich nur eingebildet? »Nein. Gar nichts.« Einen Augen blick erschrak Jonathan – als sei das Ganze irgendwie mißlungen und das Feuer ausgegangen. Aber er wußte, so war es nicht. Der Wald hatte das Feuer einfach ver schlungen und versteckt. Aber irgendwann mußte je mand es finden. Bloß: wann? Und was war dann noch übrig? Tom lachte. »Na, jedenfalls brennt es. Die verbrennen. Und wir haben´s hinter uns!« Jonathan sah, wie Tom einen Blick auf den Tacho warf, der auf hundertdreißig kletterte. Dann nahm Tom etwas zurück und ging auf hundert herunter. Er pfiff ein kleines neapolitanisches Lied vor sich hin. Müde war er überhaupt nicht, er fühlte sich ausgezeichnet und hatte
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nicht mal Lust auf eine Zigarette. Wenige Dinge im Leben waren erfreulicher als die Beseitigung von Mafiosi. Bloß – »Ja, bloß –« sagte Tom fröhlich. »Bloß was?« »Ach – zwei zu erledigen, das macht so wenig aus. Als ob man zwei Kakerlaken zertritt, wenn das ganze Haus voll davon ist. Aber ich meine doch, man muß et was tun. Und vor allem ist es gut, die Mafia ab und zu wissen zu lassen, daß man imstande ist, ihnen was anzu tun. Nur werden sie in diesem Fall leider annehmen, daß Lippo und Angy von einer Rivalenfamilie umgelegt wor den sind. Jedenfalls hoffe ich, daß sie das annehmen.« Jonathan war jetzt todmüde. Er kämpfte gegen den Schlaf, zwang sich aufrecht zu sitzen und grub die Nägel in die Handfläche. O Gott, dachte er, es würde noch Stunden dauern, bis sie wieder zu Haus waren – in Toms oder in seinem eigenen Haus. Tom war offenbar hell wach und munter, er sang jetzt das kleine italienische Liedchen, das er vorher gepfiffen hatte. ». . . papa ne meno Como faremo fare l´amor . . .« Dann plauderte er wieder, erzählte von seiner Frau, die Freunde besuchen wollte, in einem Schweizer Chalet. Jonathan fuhr leicht auf, als Tom sagte: »Legen Sie doch den Kopf zurück, Jonathan. Sie brauchen nicht wach zu bleiben. Sie fühlen sich doch nicht schlecht, nein?« Jonathan wußte nicht recht, wie er sich fühlte. Schwach, aber das war er ja oft. Er schrak zurück vor dem Gedanken an das, was eben geschehen war, was noch geschah, an das Fleisch und die Knochen, die da verbrannten und noch stundenlang qualmen würden. Trauer überfiel ihn plötzlich wie ein schwerer Schatten. Wenn er doch die letzten Stunden ausradieren, aus sei 300
nem Gedächtnis tilgen könnte! Aber er war dabeigewe sen, er hatte gehandelt und geholfen. Jonathan legte den Kopf zurück und glitt in einen leichten Schlaf. Tom redete weiter, heiter und unbeschwert, als unterhielte er sich mit jemandem, der ab und zu antwortete. Noch nie hatte Jo nathan ihn so gut gelaunt gesehen. Simone – was sollte er zu Simone sagen? Schon der Gedanke daran er schöpfte ihn. »Wenn die Messe auf englisch gesungen wird, das find ich beinahe peinlich«, sagte Tom. »Bei englisch sprechenden Leuten nimmt man doch eigentlich immer an, daß sie glauben, was sie sagen, und dann eine engli sche Messe . . . man denkt immer, entweder muß der Chor verrückt sein, oder es sind alles Lügner. Das Gefühl hat man doch, finden Sie nicht? Sir John Stainer hat mal . . .« Jonathan erwachte, als der Wagen hielt. Tom war an die Straßenseite gefahren und trank einen Becher Kaffee aus der Thermosflasche. Er bot ihn Jonathan an, und auch Jonathan trank ein paar Schluck. Dann fuhren sie weiter. Die Sonne ging über einem Dorf auf, das Jonathan nie gesehen hatte. Er war von dem Licht aufgewacht. »In zwanzig Minuten sind wir zu Hause!« sagte Tom vergnügt. Jonathan murmelte etwas und schloß wieder halb die Augen. Tom erzählte jetzt von dem Cembalo – seinem Cembalo. »Wissen Sie, Bach vergeistigt – sofort. Ein einziger Akkord . . .«
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Jonathan öffnete die Augen. War das ein Cembalo, das er gehört hatte? Ja, es war kein Traum. Er hatte auch gar nicht richtig geschlafen. Die Musik kam von unten, setzte aus und fing von neuem an. Eine Sarabande –? Müde hob Jonathan den Arm und blickte auf seine Armband uhr: es war acht Uhr und achtunddreißig morgens. Was mochte Simone jetzt tun? Und was mochte sie nur den ken? Erschöpfung lahmte seine Willenskraft; er ließ sich fal len und sank tiefer in die Kissen. Er hatte warm geduscht und auf Toms Drängen einen Pyjama seines Gastgebers angezogen. Tom hatte ihm auch eine neue Zahnbürste gegeben und dann gesagt: »Nun schlafen Sie erst mal ein paar Stunden, es ist ja noch wahnsinnig früh.« Das war kurz vor sieben gewesen. Er mußte jetzt aufstehen, mit Simone mußte etwas geschehen, er mußte unbedingt mit ihr sprechen. Aber er blieb einfach liegen, schlaff und willenlos, und horchte auf die einzelnen Töne des Cem balos, die herauf drangen. Tom war jetzt bei den Bässen angelangt; es hörte sich ganz richtig an – die tiefsten Tö ne, die ein Cembalo hergeben konnte. ». . . vergeistigt«, hatte Tom gesagt. Jonathan zwang sich aufzustehen aus den blaßblauen Laken und der dunkelblauen Decke. Er schwankte, als er auf den Füßen stand, und es kostete ihn Mühe, die Tür zu erreichen. Barfuß ging er die Trep pe hinunter. Tom saß am Cembalo und las die Noten von der Parti tur ab, die er vor sich aufgestellt hatte. Jetzt kam der Sopran, und vom Fenster her drang ein Sonnenstrahl durch die leicht geöffneten Gardinen bis auf Toms linke
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Schulter und ließ das Goldmuster in dem schwarzen Hausmantel aufblitzen. »Tom?« Tom wandte sich schnell um und stand auf. »Ja –?« Jonathan fühlte, wie ihn Schwindel ergriff, als er das erschreckte Gesicht sah. Er kam wieder zu sich, als er auf dem gelben Sofa lag und Tom ihm mit einem nassen Küchenhandtuch das Gesicht kühlte. »Tee? Oder einen Brandy? . . . Haben Sie irgendwas bei sich – ein Medikament, das Sie nehmen müssen?« Jonathan fühlte sich hundeelend. Er kannte diesen Zustand: das einzige, was ihm jetzt half, war eine Blut transfusion. Die letzte war noch nicht sehr lange her. Das Schlimme war nur, daß er sich viel schlechter fühlte als sonst. Ob das nur von der schlaflosen Nacht her kam? »Was –?« fragte Tom. »Ich glaube, ich muß ins Krankenhaus.« »Gut, dann fahren wir«, sagte Tom ruhig. Er ging hin aus und kam gleich darauf mit einem Stielglas zurück. »Hier – das ist Brandy und Wasser, wenn Sie mögen. Bleiben Sie liegen, ich bin gleich fertig.« Jonathan schloß die Augen. Das nasse Tuch lag auf seiner Stirn und einer Gesichtshälfte, er fröstelte und war müde und mochte sich nicht bewegen. Nach kaum einer Minute, so schien es ihm, war Tom wieder da. Er war angezogen und hatte auch Jonathans Sachen mitge bracht. »Wenn Sie die Schuhe anziehen und meinen Mantel, dann brauchen Sie sich gar nicht richtig anzuziehen«, sagte Tom. Jonathan folgte seinem Rat. Und dann saßen sie wie der im Wagen und fuhren nach Fontainebleau. Jona thans Sachen lagen ordentlich zusammengefaltet zwi schen ihnen. Tom fragte, ob Jonathan genau wisse, wel 303
chen Trakt des Krankenhauses er aufsuchen müsse, wenn sie da wären, und ob er die Transfusion sofort be kommen werde. »Ich muß mit Simone sprechen«, sagte Jonathan. »Ja, natürlich werden wir das, oder Sie werden das. Darum machen Sie sich nur jetzt keine Gedanken.« »Können Sie sie holen?« fragte Jonathan. »Ja«, gab Tom fest zur Antwort. Bis zu diesem Au genblick hatte er sich keine wirklichen Sorgen um Jona than gemacht. Simone konnte zwar Tom Ripley nicht ausstehen, aber zu ihrem Mann würde sie natürlich kommen, sofort, entweder mit Tom oder allein. »Haben Sie immer noch kein Telefon zu Hause?« fragte er. »Nein.« Im Krankenhaus sprach Tom mit der Empfangs schwester, die Jonathan wie einen alten Bekannten be grüßte. Tom hielt Jonathans Arm fest und stützte ihn, und als er ihn dem richtigen Arzt übergeben hatte, sagte er: »Ich sorg dafür, daß Simone kommt, Jonathan, seien Sie ganz unbesorgt.« Zu der Empfangsschwester sagte er: »Meinen Sie, daß eine Transfusion ihm hilft?« Sie nickte freundlich, und Tom fragte nicht weiter, ob gleich er nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Er hätte den Arzt fragen sollen. Schade. Er stieg in seinen Wagen und fuhr in die Rue St-Merry, wo er ein paar Meter vom Haus entfernt noch einen Parkplatz fand; er stieg aus und ging auf die Steintreppe mit dem schwarzen Geländer zu. Geschlafen hatte er nicht, unra siert war er auch, aber jedenfalls brachte er eine Nach richt, die Mme. Trevanny interessieren würde. Er klingel te. Niemand kam. Er klingelte noch einmal und sah sich auf der Straße nach Simone um. Heute war Sonntag, da war kein Markt in Fontainebleau, aber sie konnte natür 304
lich jetzt, kurz vor zehn, noch irgendwo etwas einkaufen. Vielleicht war sie auch mit Georges in der Kirche. Langsam stieg er die Stufen hinab, und als er den Gehweg erreichte, sah er Simone mit Georges kommen. Sie trug einen Korb am Arm. »Bonjour, Madame«, sagte Tom höflich und sah sie an – das Gesicht, das seine Feindseligkeit nicht verbarg. »Ich wollte Ihnen bloß eine Nachricht von Ihrem Mann bringen. Bonjour, Georges.« »Ich will gar nichts von Ihnen«, gab Simone zurück, »ich will nur wissen, wo mein Mann ist.« Georges starrte Tom aufmerksam und unbewegt an. Stirn und Augen glichen denen seines Vaters. »Ich denke, es geht ihm gut, Madame, aber er –« Es war Tom verhaßt, ihr auf der Straße zu berichten. »Im Augenblick ist er im Krankenhaus. Zu einer Bluttransfusi on, glaube ich.« Simone sah verbittert und zornig aus – als ob sie Tom die Schuld gäbe an allem, was geschehen war. »Darf ich vielleicht mit Ihnen ins Haus kommen, Ma dame, es spricht sich viel leichter drinnen.« Nach einer Sekunde des Zögerns gab Simone nach – aus Neugier, dachte Tom. Sie nahm den Hausschlüssel aus der Manteltasche und schloß die Tür auf. Der Mantel war nicht neu, das sah Tom. »Was ist mit ihm passiert?« fragte sie, als sie in der kleinen Diele standen. Tom holte tief Luft und sprach sehr ruhig. »Wir mußten fast die ganze Nacht fahren. Ich glaube, er ist einfach müde, aber – ich nahm natürlich an, daß Sie es wissen wollten. Ich habe ihn gerade ins Krankenhaus gebracht. Er kann aber gehen. Ich glaube nicht, daß es gefährlich ist.« »Papa! Ich will zu Papa!« sagte Georges weinerlich, als habe er seit langem nach seinem Papa gefragt. 305
Simone hatte den Korb auf den Boden gestellt. »Was haben Sie mit meinem Mann gemacht? Sagen Sie mir das! Er ist nicht mehr derselbe, seit er – seit er Sie ken nengelernt hat, M´sieur! Wenn Sie noch einmal mit ihm zusammenkommen, werde ich – werde ich –« Es schien, als hindere nur das Kind sie daran, das auszusprechen, was sie sagen wollte: daß sie ihn um bringen werde. Mit mühsamer Selbstüberwindung fragte sie bitter: »Wie ist es bloß möglich, daß er in Ihrer Macht ist?« »Er ist nicht in meiner Macht und ist es auch nie ge wesen. Außerdem ist die Sache, soweit ich sehe, jetzt erledigt«, gab Tom zur Antwort. »Aber ich kann Ihnen unmöglich jetzt alles erklären.« »Was ist erledigt?« fragte Simone. Und bevor Tom den Mund aufmachen konnte, fuhr sie fort: »Sie sind ein Schwindler, M´sieur, und Sie verleiten auch noch andere Leute. Was ist das für eine Erpressung, die mein Mann auszustehen hat? Und was ist der Grund?« Erpressung – das französische Wort chantage – war so weit von der Wahrheit entfernt, daß Tom anfing zu stottern, als er ihr antwortete. »Madame, so ist es über haupt nicht. Kein Mensch nimmt Geld von Jonathan – weder Geld noch irgendwas anderes. Im Gegenteil. Und er hat auch gar nichts getan, was anderen Leuten Macht über ihn geben könnte.« Echte Überzeugung sprach aus Toms Worten und Stimme – er hatte sie nötig, denn Si mone stand da wie das Urbild einer rechtschaffenen Ehe frau, die Augen schossen Blitze, flammende Empörung sprach aus dem Gesicht, sie sah aus wie die zürnende Nike von Samothrake. »Wir haben heute nacht noch al les in Ordnung gebracht.« Er kam sich selber schäbig vor, als er das sagte, aber er fand auf einmal im Franzö
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sischen keine besseren Worte. Diesem Ausbund von Tu gend war er sowieso nicht gewachsen. »Was in Ordnung gebracht?« Sie bückte sich und nahm den Korb auf. »Verlassen Sie bitte das Haus, M´sieur. Ich danke Ihnen, daß Sie mich benachrichtigt haben, wo mein Mann ist.« Tom nickte. »Ich würde Sie und das Kind gern eben ins Krankenhaus bringen, wenn Sie wollen. Mein Wagen steht vor der Tür.« »Merci, non.« Sie stand mitten in der Diele und blickte zurück; sie wartete, daß er ging. »Komm, Georges.« Tom ging hinaus. Er stieg in den Wagen und dachte einen Augenblick daran, ins Krankenhaus zu fahren und sich nach Jonathan zu erkundigen; bis Simone hinkam – zu Fuß oder per Taxi –, würden mindestens zehn Minu ten vergehen. Aber er konnte ja auch von zu Hause aus telefonieren. Er fuhr heim, und als er da war, beschloß er, nicht zu telefonieren. Jetzt war Simone vielleicht schon dort. Hatte Jonathan nicht erzählt, eine Bluttrans fusion dauere mehrere Stunden? Hoffentlich war dies jetzt keine Krise, nicht etwa der Anfang vom Ende. Er stellte das Radio auf France Musique ein, um sich nicht einsam zu fühlen, öffnete die Gardinen noch etwas weiter, damit die Sonne hereinkam, und räumte in der Küche auf. Dann füllte er ein Glas mit Milch, ging nach oben, zog den Pyjama an und kroch ins Bett. Rasieren konnte er sich, wenn er aufwachte. Hoffentlich gelang es Jonathan, die Sache mit Simone in Ordnung zu bringen. Bloß: die Frage war immer noch die gleiche: Was hatte die Mafia mit zwei deutschen Ärz ten zu tun? Wie sollte er das glaubhaft machen? Das unlösbare Problem machte Tom müde. Ja – und dann noch Reeves – wie mochte es ihm in Ascona ge hen? Leicht verrückt war Reeves von jeher gewesen. 307
Tom hatte noch immer eine fast widerwillige Zuneigung für ihn. Zugegeben, Reeves hatte manchmal nicht alle fünf Sinne beisammen, aber das verrückte Herz hatte er auf dem rechten Fleck. Simone saß neben dem flachen Bett – es war eher ein Brett auf Rädern –, auf dem Jonathan ausgestreckt lag. Durch eine Kanüle floß Blut in seinen Arm, und wie im mer vermied er es, das Gefäß mit dem Blut anzusehen. Sie war erbittert und zornerfüllt, das merkte er. Mit der Schwester hatte sie allein gesprochen, aber wenn sie etwas erfahren hatte, so war es wohl nichts Schlimmes, und sein Zustand war also vermutlich nicht alarmierend, sonst wäre sie jetzt besorgter und liebevoller zu ihm. Er lag in ein Kissen gelehnt und war mit einer weißen Decke bis zur Taille warm zugedeckt. »Und dann ziehst du auch noch den Pyjama von dem Mann an«, sagte Simone. »Darling – irgendwas mußte ich zum Schlafen anzie hen. Es war sicher sechs Uhr früh, als wir zurückkamen.« Er brach ab, das Reden machte ihn müde, und es war alles so hoffnungslos. Simone hatte ihm berichtet, Tom sei bei ihr gewesen, um zu erzählen, wo ihr Mann sei. Sie hatte mit Empörung reagiert. Noch nie hatte Jona than sie so böse gesehen. Sie haßte Tom, als sei er Landru oder Svengali. »Wo ist Georges?« fragte er jetzt. »Ich habe Gérard angerufen, er kommt um halb elf mit Yvonne zu uns. Georges läßt sie herein.« Dann warteten sie auf Simone, dachte Jonathan, und fuhren alle gemeinsam zum Sonntagsessen nach Ne mours. »Ich muß mindestens bis drei hierblieben, das weiß ich«, sagte er. »Die Tests und so.« Er wußte, sie kannte das: man nahm wahrscheinlich noch mal eine Probe vom Knochenmark, das dauerte bloß zehn oder 308
fünfzehn Minuten, aber dann kamen immer noch andere Tests, die Urinprobe und die Untersuchung der Milz. Er fühlte sich immer noch nicht wohl und wußte nicht, was noch kam. Und Simones abweisende Härte machte ihm außerdem zu schaffen. »Ich verstehe es nicht, ich verstehe es einfach nicht«, sagte sie. »Was hast du überhaupt zu suchen bei diesem Monstrum?« So ein Monstrum war Tom gar nicht – aber wie sollte er ihr das erklären? Er nahm einen neuen Anlauf. »Ist dir gar nicht klar, daß die beiden Männer gestern abend – daß das Killer waren? Sie hatten Pistolen und Schlingen zum Erdrosseln bei sich – tu comprends, garottes. Sie sind in Toms Haus eingedrungen.« »Und was hattest du da zu tun?« Aus war es mit dem Vorwand, daß Tom Bilder ge rahmt haben wollte. Man half ihm nicht Leute umbringen oder Leichen beseitigen, weil er einem Bilder zum Rah men brachte. Welchen Gefallen hatte Tom Ripley ihm eigentlich dafür getan, daß er ihm dann so weitgehend half? Jonathan schloß die Augen, er mußte Kraft sam meln zum Nachdenken. »Madame –« kam die Stimme der Schwester. Jonathan hörte, wie sie zu Simone sagte, sie dürfe ih ren Mann nicht ermüden. »Ich werde es erklären, das verspreche ich dir, Simone.« Simone war aufgestanden. »Ich glaube, du kannst es gar nicht erklären. Du hast nämlich Angst. Der Kerl hat dich in der Hand, und zwar wegen Geld. Er gibt dir Geld, aber wofür? Soll ich vielleicht annehmen, daß du auch ein Verbrecher bist? So wie dieses Scheusal?« Die Schwester war wieder draußen, sie hatte nichts gehört. Mit halbgeschlossenen Augen sah Jonathan sei ne Frau an, wortlos und verzweifelt. Im Augenblick war er 309
geschlagen. Ob es ihm jemals gelang, sie zu überzeu gen, daß nicht alles so rabenschwarz und schneeweiß war, wie sie annahm? Ein leiser Schauer der Angst über fiel ihn; es war wie eine Vorahnung von Schwermut, ein Hauch vom Tode. Und jetzt verließ ihn Simone, als sei das letzte Wort gesprochen – ihr Wort aus ihrer Haltung. An der Tür warf sie ihm eine Kußhand zu, aber ganz gleichgültig, wie ein Mensch, der in der Kirche knapp und automatisch knickst, weil er an irgendeinem Gegenstand vorbeigeht. Sie war draußen, und der Tag lag vor ihm wie ein böser Traum. Vielleicht behielten sie ihn noch über Nacht hier. Er schloß die Augen und bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen. Um ein Uhr waren sie mit den Tests beinahe fertig. »Nicht wahr, Sie haben sich irgendwo ein bißchen ü beranstrengt?« fragte ein junger Arzt. »Irgendwas Au ßergewöhnliches?« Er lachte auf einmal. »Ein Umzug vielleicht? Oder zuviel Gartenarbeit?« Jonathan lächelte höflich. Er fühlte sich jetzt besser, und nun mußte er auch lachen, aber nicht über die Worte des Arztes. Wenn es nun wirklich der Anfang vom Ende gewesen war, der Kollaps heute morgen? Er war sehr befriedigt, daß er ihn überwunden hatte, ohne den Kopf zu verlieren. Vielleicht gelang ihm das eines Tages auch, wenn es Ernst wurde. Sie ließen ihn jetzt zu Fuß den Korridor hinuntergehen zu dem Raum, wo die Milz abge tastet wurde. »M. Trevanny? Hier ist ein Anruf für Sie«, sagte eine Schwester. »Wo Sie gerade hier sind –« Sie zeigte auf den Schreibtisch mit dem Telefon; der Hörer lag neben dem Apparat. Das war bestimmt Tom Ripley. »Hallo –?«
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»Hallo, Jonathan. Hier ist Tom. Wie geht´s Ihnen? Sehr schlimm kann es nicht sein, Sie laufen ja schon wieder rum . . . Prima.« Tom schien wirklich erfreut. »Ja, danke. Simone war hier«, sagte Jonathan. »Aber sie kann –« Sie sprachen Englisch, und trotzdem fand Jonathan nicht die richtigen Worte. »Ja, ich verstehe. War sicher scheußlich für Sie.« Al les Banalitäten, und dabei hörte Tom deutlich die Sorge in Jonathans Stimme. »Ich hab getan, was ich konnte, heute morgen, aber möchten Sie – soll ich noch einmal mit ihr sprechen?« Jonathan fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich weiß nicht. Sie hat natürlich nicht –« mit ir gendwas gedroht, wollte er sagen; etwa fortzugehen und Georges mitzunehmen. »Ich weiß eben nicht, ob Sie ü berhaupt etwas tun können. Sie ist so – so –« Tom begriff. »Soll ich´s versuchen? Ja, das werde ich tun. Kopf hoch, Jonathan! Kommen Sie heute nach Hau se?« »Ich weiß nicht. Ich glaube ja. Ach, übrigens: Simone ist heute bei ihren Eltern in Nemours zum Lunch.« Tom erwiderte, dann werde er bis fünf Uhr warten und es dann versuchen. Wenn Jonathan dann schon zu Hau se war, um so besser. Daß Simone kein Telefon hatte, machte die Sache et was schwierig für Tom; andererseits hätte sie eins ge habt, so hätte sie vermutlich stur »Nein!« gesagt auf sei ne Frage, ob er sie noch mal sprechen dürfe. Er besorgte Blumen – gelbe Treibhaus-Dahlien – bei einem Händler in der Nähe des Schlosses in Fontainebleau; sein eige ner Garten hatte noch nichts Rechtes aufzuweisen. Um zwanzig Minuten nach fünf stand er vor der Haustür und klingelte.
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Man hörte Schritte, dann kam Simones Stimme: »Qui est-ce?« »Tom Ripley.« Pause. Dann öffnete sie mit steinernem Gesicht. »Guten Tag – bonjour encore«, sagte Tom. »Haben Sie wohl ein paar Minuten Zeit, Madame? Ist Jonathan schon wieder da?« »Er kommt um sieben. Sie haben ihm noch eine Transfusion gegeben«, sagte Simone. »Ach –?« Kühn trat Tom einen Schritt ins Haus. Ob sie gleich wieder aufbrauste? »Ich habe Ihnen diese Blumen mitgebracht, Madame.« Mit einem Lächeln reichte er ihr die Blumen. »Hallo, Georges. Bonjour, Georges.« Tom streckte die Hand aus, und der Junge nahm sie und lä chelte ihn an. Tom hatte daran gedacht, ihm irgendwas Süßes mitzubringen, aber es war wohl besser, hier nicht zu übertreiben. Ein kühles »Merci« kam von Simone für die Blumen. »Was wünschen Sie?« fragte sie dann. »Ich muß Ihnen eine Erklärung abgeben, unbedingt. Wegen gestern abend, meine ich. Deshalb bin ich ge kommen, Madame.« »Wollen Sie sagen, daß Sie es erklären können?« Tom erwiderte ihr zynisches Lächeln mit strahlender Offenheit. »Soweit man die Mafia erklären kann, ja. Ja – natürlich! Mir fällt eben ein, ich hätte mich vielleicht frei kaufen können. Alles, was die wollen, ist ja Geld. Aber ich bin doch nicht ganz sicher, diesmal. Sie hatten näm lich noch einen ganz speziellen Groll auf mich.« Das interessierte Simone, aber ihre Aversion gegen Tom wurde dadurch nicht gemindert. Sie war einen Schritt zurückgetreten. »Darf ich nicht vielleicht näher treten?«
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Sie ging ihm voran ins Wohnzimmer. Georges folgte, die Augen starr auf Tom gerichtet. Mit einer Handbewe gung wies Simone auf das Sofa. Tom nahm auf dem Chesterfield Platz und strich sanft über das schwarze Leder. Er wollte Simone ein Kompliment machen, unter ließ es aber. »Ja, sie hatten noch ein Hühnchen mit mir zu rupfen«, nahm Tom das Gespräch wieder auf. »Ich war nämlich neulich zufällig in demselben Zug wie Ihr Mann, als er aus München kam. Sie werden sich erinnern.« »Ja.« »München!« sagte Georges, und das kleine Gesicht strahlte, als habe man ihm eine Geschichte versprochen. Tom lächelte ihm zu. »München, ja. Alors, in dem Zug – ich hatte da meine Gründe – ich will ganz offen sein, Madame: manchmal mache ich es genau wie die Mafia und nehme das Gesetz in die eigenen Hände. Der Unter schied ist nur, ich erpresse niemanden, ich treibe auch kein sogenanntes Schutzgeld ein von Leuten, die gar keinen Schutz brauchten, wenn ich sie nicht bedrohte.« Es war alles so abstrakt, Georges konnte da gewiß nicht folgen, obgleich er den Besucher nicht aus den Augen ließ. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« fragte Simone. »Auf die Tatsache, daß ich den einen dieser beiden Schakale in dem Zug umgebracht habe und den andern auch beinahe – ich habe ihn aus dem Zug gestoßen, und Jonathan war da und hat es gesehen.« Der Schreck in Simones Gesicht dämpfte Toms Eifer, aber nur einen Augenblick, als sie einen besorgten Blick auf Georges warf, der begierig zuhörte und vielleicht glaubte, Schaka le seien hier wirklich wilde Tiere oder Tom denke sich die ganze Geschichte einfach aus. »Wissen Sie, ich hatte gerade noch Zeit, es Jonathan zu erklären, wir standen 313
am Ende des Wagens im fahrenden Zug. Jonathan hat aufgepaßt, daß niemand kam, mehr nicht. Aber ich bin ihm sehr dankbar, er hat mir geholfen. Und ich hoffe, Sie sehen es ein, daß es für eine gute Sache war. Denken Sie bloß daran, welchen Kampf die Behörden in Marseille mit der Mafia ausfechten, weil die mit Rauschgift han deln. Jeder bekämpft sie oder versucht es. Aber natürlich muß man mit riskanten Repressalien rechnen, das wis sen Sie. Und das war´s, was gestern abend bei mir pas siert ist, in meinem Haus. Ich –« ob er es wagte, zu be haupten, er habe Jonathan um Hilfe gebeten? Ja. »Es war einzig und allein meine Schuld, daß Jonathan bei mir war – ich hatte ihn gefragt, ob er mir noch einmal helfen wollte.« Simone blickte ihn verwirrt und voller Mißtrauen an. »Für Geld natürlich.« Das hatte Tom erwartet, er blieb ganz ruhig. »Nein. Nein, Madame, nicht für Geld.« Hier war es Ehrensache, wollte er sagen, aber das paßte nicht, das merkte er. Aus Freundschaft, aber das würde ihr auch nicht gefallen. »Es war reine Freundlichkeit von Jonathan. Freundlich keit und viel Courage. Sie sollten ihm keine Vorwürfe machen.« Ungläubig schüttelte Simone langsam den Kopf. »Mein Mann ist kein Polizist, M´sieur. Warum sagen Sie mir nicht die Wahrheit?« »Das habe ich getan«, sagte Tom schlicht und hob die geöffneten Hände. Simone saß steif im Sessel und verschränkte die Fin ger. »Mein Mann«, sagte sie langsam, »hat kürzlich eine ganze Menge Geld erhalten. Wollen Sie behaupten, daß das nichts mit Ihnen zu tun hat?« Tom lehnte sich auf dem Sofa zurück und kreuzte die Füße, die in seinen ältesten, fast aufgetragenen Wildle 314
derstiefeln steckten. »O ja, davon hat er mir erzählt«, sagte er mit offenem Lächeln. »Die deutschen Ärzte ha ben eine Wette abgeschlossen, und die Wettsumme ha ben sie Jonathan gegeben. Das stimmt doch? Ich dach te, er hätte es Ihnen erzählt.« Unbewegt saß Simone da und wartete. »Außerdem haben sie ihm glaube ich einen Bonus ausgezahlt – eine Art Prämie, weil sie ja mit ihm experi mentieren.« »Zu mir hat er gesagt, die Mittel seien ungefährlich. Warum sollten sie ihm dann etwas bezahlen?« Sie schüt telte den Kopf und lachte kurz auf. »Nein, M´sieur.« Tom schwieg. Auf seinem Gesicht zeigte sich Enttäu schung, und das wollte er auch. »Es gibt viel seltsamere Dinge, Madame. Ich erzähle Ihnen nur, was Jonathan mir gesagt hat, und ich habe keinen Grund, anzunehmen, daß es nicht stimmt.« Ende. Simone bewegte sich unruhig auf ihrem Sessel und stand dann auf. Sie hatte ein reizendes Gesicht mit großen, klaren Augen, eine offene Stirn und einen intelli genten Mund, der weich oder hart sein konnte. Jetzt war er hart. Mit höflichem Lächeln fragte sie: »Und was wissen Sie über den Tod von M. Gauthier? Wissen Sie etwas? Sie haben doch oft bei ihm gekauft, nicht wahr?« Tom hatte sich ebenfalls erhoben. Diesmal jedenfalls war sein Gewissen rein. »Ich weiß, daß er überfahren wurde, Madame. Und daß der Fahrer entkommen ist.« »Mehr wissen Sie nicht?« Simones Stimme klang jetzt etwas höher und zitterte leicht. »Ich weiß, daß es ein Unfall war.« Wenn er bloß nicht französisch sprechen müßte, dachte Tom; er hatte das Gefühl, viel zu grobe Worte zu benutzen. »Ein ganz sinn loser Unfall war es. Wenn Sie annehmen, daß ich damit 315
irgend etwas zu tun hatte, Madame, dann sagen Sie mir vielleicht auch wieso und zu welchem Zweck. Madame, ich –« Er sah Georges an, der jetzt nach einem Spiel zeug langte, das auf dem Boden lag. Gauthiers Tod, das war wie ein Teil aus einer griechischen Tragödie. Nein, in griechischen Tragödien gab es für alles einen Grund. Ihr Mund zuckte leicht. Bitter fragte sie: »Sie werden doch meinen Mann jetzt nicht mehr brauchen?« »Ich werde mich jedenfalls nicht wieder an ihn wen den«, gab Tom freundlich zur Antwort. »Wie hat er –« Sie unterbrach ihn. »Mir scheint, die richtige Stelle wä re doch wohl die Polizei. Meinen Sie nicht? Vielleicht ge hören Sie schon zur Geheimpolizei? In Amerika viel leicht?« Ihr Sarkasmus war tief verwurzelt, das merkte Tom. Er würde nie weiterkommen mit ihr. Er lächelte leicht, ob gleich es ihn ein wenig kränkte. Er hatte schon schlimme re Wortgefechte erlebt, aber hier war es bedauerlich, denn er hätte Simone so gern überzeugt. »Nein, zur Poli zei gehöre ich nicht. Ich gerate nur manchmal in ein Schlamassel, das haben Sie wahrscheinlich gehört.« »Ja, das habe ich.« »Schlamassel – was ist das, Schlamassel?« piepste Georges dazwischen und wandte den blonden Kopf zu seiner Mutter. Er stand neben ihr. Tom hatte das Wort pétrin benutzt, das ihm nicht gleich einfallen wollte. »Sch-sch, Georges«, sagte Simone beschwichtigend. »Aber in diesem Fall müssen Sie zugeben, daß es keine schlechte Sache war, Madame. Gegen die Mafia, meine ich.« Auf welcher Seite stehen Sie denn, wollte er fragen, aber er wollte nicht zu stark auftragen. »M. Ripley – Sie sind für mich ein sehr unheimlicher Mensch. Das ist alles, was ich weiß. Und ich wäre Ihnen 316
dankbar, wenn Sie meinen Mann und mich in Ruhe lie ßen.« Toms Blumen lagen auf dem Tischchen in der Diele, ohne Wasser. »Wie geht es Jonathan?« fragte Tom, als sie in der Diele standen. »Ich hoffe, es ist jetzt besser.« Er hatte nicht mehr zu sagen gewagt, er hoffe, daß Jonathan heu te abend nach Hause kommen werde. Simone hätte viel leicht angenommen, er wolle ihn noch einmal für irgend etwas einspannen. »Ich glaube, es geht ihm ganz gut. Besser. Guten A bend, M. Ripley.« »Guten Abend, Madame, und vielen Dank. Au revoir, Georges.« Er tätschelte den blonden Kopf, und Georges lächelte. Tom ging zu seinem Wagen. Gauthier! Ein Nachbar, ein vertrautes Gesicht, war für immer fort. Der Gedanke, daß Simone annahm, er habe etwas damit zu tun, habe es sogar herbeigeführt, saß wie ein Stachel in ihm, ob gleich ihm Jonathan das schon vor Tagen erzählt hatte. Herrgott, der alte Makel! Der Makel des Verdächtigen, mit dem mußte er leben, da half ihm nichts. Die Wahrheit war noch viel schlimmer, er hatte Menschen umgebracht. Di ckie Greenleaf – das war es, das wirkliche Verbrechen. Ein junger Heißsporn war er gewesen. Ach, Unsinn: Neid, Gier und Eifersucht auf Dickie hatten ihn angetrie ben. Und Dickies Tod – oder vielmehr der Mord – hatte dann dazu geführt, daß Tom diesen Amerikaner, Freddie Miles hieß er, auch noch umbrachte. Alles lange her. A ber getan hatte er es. Und die Polizei hatte ihn ja auch verdächtigt, nur beweisen konnten sie es nicht. Die Ge schichte war durchgesickert in die Öffentlichkeit wie Tinte in ein Löschblatt. Ganz gräßlich. Tom schämte sich – es war ein schlimmer und törichter Fehler gewesen. Ein töd 317
licher Fehler, sollte man annehmen, nur hatte er eben nachher unglaubliches Glück gehabt. Physisch jedenfalls hatte er es überlebt. Und was seitdem geschehen war, der – Mord an Murchison zum Beispiel, das war gewiß ebenso zum Schutz für andere geschehen wie für ihn selber. Simone war furchtbar erschrocken – welche Frau wäre das nicht –, als sie gestern abend in seinem Haus die beiden Leichen auf dem Boden liegen sah. Aber hatte er nicht ihren Mann genauso wie sich selber beschützt? Wenn die Mafia Tom Ripley erwischt und gefoltert hätte, hätte er nicht Namen und Adresse von Jonathan Trevan ny preisgegeben? Das brachte Tom auf Reeves Minot. Wie mochte es ihm gehen? Er müßte ihn wohl mal anrufen. Jetzt stand Tom vor seinem Wagen und starrte stirnrunzelnd auf den Türgriff. Die Tür war nicht mal abgeschlossen, und wie immer hatte er die Schlüssel am Armaturenbrett hängen lassen.
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Der Knochenmarktest, den der Arzt am Sonntag nachmit tag vornahm, war nicht gut ausgefallen. Das war der Grund, warum sie Jonathan noch über Nacht im Kran kenhaus behielten; man wollte noch einmal ein Verfahren anwenden, das Jonathan schon kannte und das in einem Austausch der gesamten Blutmenge bestand. Kurz nach sieben kam Simone ins Krankenhaus. Jo nathan wußte, daß sie vorher angerufen hatte; aber sie hatte offenbar nicht erfahren, daß er über Nacht dort bleiben mußte; sie war erstaunt. »Ach – morgen also«, meinte sie. Anscheinend wußte sie weiter nichts zu sagen. Jonathan lag flach ausgestreckt, nur der Kopf war durch Kissen gestützt. Er trug nicht mehr Toms Pyjama, sondern einen losen Kittel, und beide Arme waren an eine Kanüle angeschlossen. Er hatte das Gefühl, mei lenweit von Simone entfernt zu sein. Oder bildete er sich das nur ein? »Ja, wahrscheinlich morgen früh. Du brauchst nicht herzukommen, Liebes, ich nehme ein Ta xi. Wie war es heute nachmittag? Was macht die Fami lie?« Simone ließ die Frage unbeantwortet. »Dein Freund Ripley hat mir heute nachmittag einen Besuch gemacht.« »Ja –?« »Er ist – er steckt so voller Lügen, daß man nicht weiß, ob man ihm irgendwas glauben kann. Vielleicht gar nichts.« Simone blickte hinter sich, aber da war niemand. Jo nathan lag in einem Raum mit vielen Betten; nicht alle waren belegt, doch in seinen beiden Nachbarbetten lag
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jemand, und der eine Mann hatte Besuch. Eine Unterhal tung war nicht einfach. »Georges wird enttäuscht sein, daß du heute abend nicht kommst«, sagte sie. Dann verabschiedete sie sich und ging. Am nächsten Morgen gegen zehn kam Jonathan nach Hause. Simone war in der Küche und bügelte ein paar Kindersachen. »Wie fühlst du dich . . . hast du schon gefrühstückt? Willst du eine Tasse Kaffee . . . oder Tee?« Es ging ihm viel besser, aber das kannte er schon: man fühlte sich immer viel besser nach so einer Total transfusion, bis die Krankheit dann wieder die Überhand bekam und auch das neue Blut zerstörte. Jetzt wollte er nichts als ein Bad. Als er gebadet hatte, zog er sich um: eine alte beige Kordhose und zwei Pullover – es war kühl heute morgen, oder vielleicht war er heute besonders empfindlich. Simone hatte ein kurzärmeliges Wollkleid an. Die Morgenzeitung, Le Figaro, lag auf dem Küchen tisch, wie immer mit der Titelseite nach oben, aber sie war nur lose zusammengelegt. Simone hatte sie offen sichtlich schon angesehen. Jonathan nahm die Zeitung, und da Simone ohne auf zublicken weiterbügelte, ging er ins Wohnzimmer. Unten auf der zweiten Seite fand er eine zweispaltige Meldung mit der Datumszeile vom 14. Mai in Chaumont und der Überschrift: ZWEI LEICHEN IM AUTO VERBRANNT. Ein Bauer, so hieß es, namens René Gault, 55, habe am Sonntag früh den noch qualmenden Citroën gefun den und sofort die Polizei benachrichtigt. Nach den un verbrannten Papieren in den Brieftaschen wurden die beiden Männer identifiziert als Angelo Lippari, 33, Makler, und Filippo Turoli, 31, Verkäufer. Lippari war durch 320
Schädelbruch umgekommen, bei Turoli war die Todesur sache unbekannt; man nahm jedoch an, daß er bewußt los oder tot war, als der Wagen in Brand gesetzt wurde. Weitere Spuren hatte man bis zur Stunde noch nicht; die Ermittlungen wurden fortgesetzt. Die Halsschlinge war also wohl vollständig verbrannt, dachte Jonathan; und Lippo war offenbar so weit ver kohlt, daß man keine Spuren der Erdrosselung mehr hat te feststellen können. Simone kam herein, ein paar zusammengelegte Klei dungsstücke in den Händen. »So –? Ich hab´s auch ge lesen. Die beiden Italiener.« »Ja.« »Und du hast Ripley dabei geholfen. Das nennt ihr in Ordnung bringen.« Jonathan sagte nichts darauf. Er seufzte und setzte sich auf das Chesterfield-Sofa, das immer noch so herr lich knarrte, aber er lehnte sich nicht an, damit Simone nicht dachte, er fühle sich schwach. »Irgendwas mußte doch mit ihnen geschehen.« »Und dabei mußtest du helfen«, sagte sie. »Jon, das Kind ist nicht hier. Ich finde, wir müssen einmal darüber sprechen.« Sie legte die Sachen oben auf das halbhohe Bücherregal an der Tür und setzte sich auf den Rand des Sessels. »Du sagst mir nicht die Wahrheit, und Ripley auch nicht. Ich weiß nicht, was du noch weiter für ihn wirst tun müssen.« Bei den letzten Worten steigerte sich ihre Stimme zur Hysterie. »Gar nichts.« Davon war Jonathan jetzt überzeugt. Wenn Tom ihn noch mal um etwas bat, konnte er einfach ablehnen. Im Augenblick kam ihm das ganz leicht vor. Simone mußte er unter allen Umständen festhalten. Sie war mehr wert als Tom Ripley, mehr als alles, was Tom ihm bieten konnte. 321
»Ich begreife es nicht. Du hast doch gewußt, was du tatest, gestern abend. Du hast mitgeholfen, die beiden umzubringen, stimmt das nicht?« Zitternd brach die Stimme ab. »Wir mußten uns wehren. Es war etwas vorangegan gen.« »Ach ja, das hat er mir auch erklärt. Ganz zufällig warst du mit ihm im gleichen Zug, von München, nicht wahr? Und da hast du ihm geholfen – du hast ihm gehol fen, zwei Menschen umzubringen?« »Mafia«, gab Jonathan zur Antwort. Was hatte Tom ihr bloß erzählt? »Und du, ein ganz harmloser Reisender, du willst ei nem Mörder geholfen haben? Und das soll ich glauben, Jon?« Jonathan schwieg, verzweifelt suchte er nach Worten. Die Antwort auf ihre Frage war Nein. Du machst dir gar nicht klar, daß die von der Mafia waren, wollte er immer wiederholen. Sie sind über Tom Ripley hergefallen. Auch gelogen, jedenfalls soweit es die Ereignisse im Zug be traf. Jonathan preßte die Lippen zusammen und lehnte sich nun doch zurück in dem bequemen Sofa. »Ich er warte nicht, daß du es glaubst, Simone. Ich habe nur noch zwei Sachen zu sagen. Erstens ist jetzt Schluß da mit, und zweitens waren die Männer selbst Verbrecher und Mörder. Das mußt du zugeben.« »Und du bist wohl ein Polizeispitzel in deiner Freizeit? Warum bekommst du Geld dafür, Jon? Du – und ein Kil ler!« Mit geballten Fäusten stand sie auf. »Du bist für mich ein fremder Mensch geworden. Ich habe dich nie mals richtig gekannt.« »O Simone«, sagte Jonathan und stand ebenfalls auf. »Ich kann dich – ich kann dich nicht mehr liebhaben, Jon.« 322
Jonathan blinzelte. Sie hatte den letzten Satz auf eng lisch gesagt. Jetzt fuhr sie in ihrer Sprache fort: »Ich weiß, daß du mir nicht alles gesagt hast. Du hast mir was verschwiegen, und ich will gar nicht wissen, was das ist. Verstehst du mich? Es ist irgendeine schreckliche Ver bindung mit Ripley, mit diesem Widerling – ich möchte bloß wissen, worin sie besteht«, setzte sie mit bitterem Sarkasmus hinzu. »Offenbar etwas so Gräßliches, daß du es mir nicht sagen kannst. Wahrscheinlich hast du ihm irgendwo mal geholfen, bei einem anderen Verbrechen, da hast du ihn wahrscheinlich gedeckt, und dafür bezahlt er dich, deshalb bist du in seiner Hand. Na schön, ich will keine –« »Ich bin überhaupt nicht in seiner Hand, das wirst du ja sehen.« »Ich habe schon genug gesehen.« Sie verließ mit den Kindersachen das Zimmer und stieg die Treppe hinauf. Als es Zeit wurde zum Essen, sagte Simone, sie habe keinen Hunger. Jonathan kochte sich ein Ei und ging dann fort, ins Geschäft. Da montags offiziell geschlossen war, ließ er das Schild mit der Aufschrift Fermé an der Tür. Alles war noch so wie Samstag mittag; er sah, daß Simone nicht dagewesen war. Ihm fiel plötzlich die italie nische Pistole ein, die sonst in der Schublade gelegen hatte und jetzt in Ripleys Haus war. Er nahm einen Rah men und schnitt ihn und auch das Glas dafür zurecht, aber als er die Nägel in der Hand hielt, verließ ihn die Lust. Was sollte er nur mit Simone anfangen? Ob er ihr einfach die ganze Geschichte erzählte, so wie sie sich zugetragen hatte? Aber er wußte, hier hatte er es mit ei ner Katholikin zu tun und mit dem Gebot: Du sollst nicht töten. Überdies wußte er schon jetzt, daß Simone den Vorschlag, den ihm Reeves ganz am Anfang gemacht hatte, unglaublich finden würde. »Empörend!« würde sie 323
sagen. Merkwürdig: die Mafia war zu hundert Prozent katholisch und war durchaus bereit, Menschen umzu bringen. Doch mit ihm, Simones Ehemann, lag die Sache anders. Er durfte das nicht. Und wenn er ihr sagte, er habe sich ›geirrt‹ und es tue ihm leid – nein, ausge schlossen. Er war auch gar nicht so sicher, daß er sich geirrt hatte, warum also noch mal lügen? Entschlossen ging er zurück an den Arbeitstisch, nagelte und klebte den Rahmen zusammen und deckte die Rückseite sauber mit braunem Papier ab. Am Aufhänger wurde der Name des Eigentümers festgeheftet. Dann sah er im Auftragsbuch nach, welche Bestellungen aus zuführen waren, und nahm sich noch ein Bild vor, das ebenfalls kein Passepartout erhielt. Er arbeitete weiter, bis es sechs Uhr war; dann ging er aus und kaufte Brot und Wein und in der Schlachterei ein paar Scheiben Schinken – genug für alle drei, falls Simone nichts einge kauft hatte. Zu Hause sagte Simone: »Ich bin dauernd in Angst, daß die Polizei jeden Augenblick anklopfen könnte und dich sprechen will.« Jonathan war dabei, den Tisch zu decken; sekunden lang sagte er nichts. »Das werden sie nicht. Warum denn?« »Gar keine Spuren, das gibt es gar nicht. Sie werden Ripley finden, und der wird dich dann nennen.« Sie hatte sicher den ganzen Tag nichts gegessen. Jo nathan ging in die Küche und fand einen Rest Kartoffel brei im Kühlschrank. Er machte sich daran, das Essen zu bereiten. Georges kam aus seinem Zimmer herunter. »Papa, was haben sie im Krankenhaus mit dir ge macht?«
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»Ich habe jetzt ganz neues Blut«, sagte Jonathan lä chelnd und machte ein paar Armbeugen. »Denk mal, lau ter neues Blut – mindestens sechs Liter.« »Wieviel ist das?« Auch Georges streckte die Arme in die Höhe. »Sechsmal soviel wie diese Flasche hier. Deshalb hat es die ganze Nacht gedauert, weißt du.« Jonathan gab sich alle Mühe, aber es gelang ihm nicht, Simones stummen Trübsinn zu überwinden. Sie stocherte auf ihrem Teller herum und sagte nichts. Georges saß ratlos dabei, er konnte auch mit seines Va ters angestrengten Versuchen nichts anfangen, und beim Kaffee sprach niemand mehr. Jonathan überlegte, ob Simone wohl ihrem Bruder Gé rard etwas gesagt hatte? Er steuerte Georges ins Wohn zimmer vor den Fernsehapparat – die Neuerwerbung, zwei Tage alt. Es gab nur zwei Kanäle, und um diese Zeit war keine Kindersendung dran, aber vielleicht ließ sich der Junge doch eine Weile dort festhalten. »Hast du mit Gérard darüber gesprochen?« Er konnte die Frage nicht unterdrücken. »Nein, natürlich nicht. Meinst du, ich könnte ihm das – das sagen?« Sie hatte sich eine Zigarette angezündet – bei ihr eine Seltenheit. Sie blickte auf die Tür zum Flur, um sich zu vergewissern, daß Georges nicht zurückkam. »Jon – ich glaube, wir müssen darüber reden, was – wie wir uns trennen, irgendwie.« Auf dem Bildschirm im Wohnzimmer redete jetzt ein Politiker über Syndikate und Gewerkschaften. Jonathan setzte sich wieder. »Darling, ich weiß doch – für dich ist es ein schwerer Schock. Könntest du noch ein paar Tage abwarten? Ich weiß, ich bin ganz sicher, ich kann es dir verständlich machen. Ganz bestimmt.« Er sprach mit eindringlicher Überzeugung und wußte doch, 325
daß er selbst nicht überzeugt war, nicht im mindesten. Dieses Festhalten an Simone war wie ein instinktives Festhalten am Leben selbst. »Ja, natürlich glaubst du das, aber ich kenne mich. Ich bin kein gefühlvolles Mädchen mehr.« Sie blickte ihn ge rade und offen an, und in ihren Augen war kaum noch Zorn, nur feste Entschlossenheit. Sie war weit fort von ihm. »Dein Geld interessiert mich nicht, Jon, ich will nichts davon haben. Ich bringe mich schon selber durch – und Georges auch.« »Oh, Georges – Herrgott, Simone, ich will doch für Georges sorgen!« War es denn wirklich möglich, daß sie beide solche Worte sagten? Er stand auf und zog Simo ne heftig von ihrem Stuhl hoch, ein wenig Kaffee schwappte aus ihrer Tasse in die Untertasse; er nahm sie in die Arme und wollte sie küssen, aber sie bog den Kopf zur Seite. »Non!« Sie drückte die Zigarette aus und begann, den Tisch abzudecken. »Es tut mir leid, aber ich will auch nicht mehr mit dir in einem Bett schlafen.« »Ja, das habe ich mir gedacht.« Und morgen früh gehst du zur Kirche und betest für meine Seele, dachte er. »Simone, ich bitte dich, du mußt etwas warten. Sag nicht jetzt Dinge, die du gar nicht meinst.« »Ich werde mich nicht ändern. Frag Ripley, ich glaube, er weiß das.« Georges kam zurück, das Fernsehen war vergessen. Ratlos blickte er von einem zum andern. Einen Augenblick legte Jonathan im Hinausgehen dem Jungen die Fingerspitzen auf den blonden Kopf. Er hatte hinaufgehen wollen, ins Schlafzimmer – aber es war ja nicht mehr ihrer beider Schlafzimmer, und was sollte er auch dort? Der Redner auf dem Bildschirm war immer noch zu hören. Jonathan drehte sich auf dem Flur um, 326
nahm dann seinen Regenmantel und Schal und verließ das Haus. Er ging bis zur Rue de France, bog nach links ab und trat am Ende der Straße in das Lokal an der E cke. Er wollte Tom Ripley anrufen, die Nummer wußte er noch. »Hallo?« sagte Tom. »Jonathan.« »Wie geht´s? . . . Ich hatte im Krankenhaus angerufen, die sagten, Sie müßten noch über Nacht bleiben. Sind Sie jetzt draußen?« »Ja, ja, heute morgen schon. Ich –« Jonathan atmete mühsam. »Was ist denn los?« »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen? Wenn Sie glauben, daß es ungefährlich ist. Ich bin – ich könnte hier wohl ein Taxi kriegen. Ja, bestimmt.« »Wo sind Sie denn?« »In der Eckwirtschaft – die neue, nahe beim Aigle Noir.« »Ich kann Sie abholen, soll ich?« Tom nahm an, daß Jonathan eine Auseinandersetzung mit Simone gehabt hatte. »Ich gehe bis zum Denkmal. Ich möchte etwas zu Fuß gehen. Wir treffen uns dort.« Jonathan legte den Hörer auf und fühlte sich sofort besser. Das war natürlich eine Täuschung, die Sache mit Simone war ja nur aufgeschoben, aber im Augenblick war das egal. Ihm war zumute wie einem Gefolterten, bei dem man die Folter für einen Augenblick ausgesetzt hat te, und er war froh über die paar Minuten Erleichterung. Er zündete sich eine Zigarette an und schritt langsam die Straße hinunter. Tom brauchte sicher fast fünfzehn Minu ten, bis er kam. Jonathan trat in die Bar des Sports gleich hinter dem Hôtel de l´Aigle Noir und bestellte ein Bier. Er 327
versuchte, an nichts zu denken. Und ganz von selber stieg ein Gedanke in ihm hoch: Simone würde nachge ben. Sobald er ihn bewußt weiterverfolgte, kam die Angst, daß sie festbleiben, nicht einlenken werde. Er war nun allein. Er wußte, daß er allein war, daß sogar Georges mehr als zur Hälfte von ihm getrennt war, denn bestimmt würde Simone das Kind behalten, aber Jona than merkte, daß er das noch nicht ganz realisierte. Das würde noch Tage dauern. Gefühle waren langsamer als Gedanken – manchmal. Jetzt kam Toms dunkler Renault in einem schmalen Strom anderer Wagen, die aus dem Waldschatten ins Licht am Obelisken-Denkmal einbogen. Es war etwas nach acht. Jonathan stand an der Ecke, auf der linken Straßenseite und rechts von Tom. Für die Rückfahrt mußte Tom noch einmal um den ganzen Ring herumfah ren, um wieder auf die Straße nach Villeperce zu kom men. Wenn sie überhaupt zu Tom nach Hause fuhren, was Jonathan lieber war als ein Lokal. Tom hielt an und machte die Tür auf. »´n Abend«, sagte Tom. »´n Abend!« antwortete Jonathan und zog die Tür hin ter sich zu. Tom fuhr sofort an. »Können wir zu Ihnen nach Hause fahren? Ich möchte jetzt nicht in ein volles Lokal.« »Natürlich.« »Ich hatte einen scheußlichen Abend. Und ebensol chen Tag.« »Habe ich mir gedacht. Simone?« »Ja. Sie hat Schluß gemacht. Ist ja auch verständ lich.« Jonathan war verstört. Er wollte sich eine Zigarette anzünden, aber er wußte nicht recht warum und unterließ es.
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»Ich hab getan, was ich konnte«, sagte Tom. Konzent riert blickte er auf die Straße vor sich; er wollte so schnell wie möglich fahren, ohne einem der motorisierten Ver kehrspolizisten aufzufallen, die hier oft am Waldrand lau erten. »Es ist wegen des Geldes. Ach, Herrgott, es waren natürlich die beiden Leichen! Mit dem Geld, da habe ich gesagt, die deutschen Ärzte hätten mir den Wettpreis übergeben.« Es kam Jonathan auf einmal völlig irrsinnig vor, das Geld und auch die Wette. Dabei war das Geld so konkret vorhanden, so greifbar und nützlich, und trotzdem nicht annähernd so greifbar oder bedeutungs voll wie die beiden Toten, die Simone gesehen hatte. Tom fuhr sehr schnell. Es war Jonathan ganz egal, ob sie gegen einen Baum fuhren oder in einen Graben stürzten. »Es sind einfach die zwei Toten, das ist alles. Daß ich das getan habe oder doch dabei mitgeholfen habe. Ich glaube nicht, daß sie sich darin ändern wird.« Was hülfe es einem Menschen – Jonathan hätte lachen können. Er hatte weder die ganze Welt gewonnen noch hatte er Schaden genommen an seiner Seele. Er glaubte gar nicht an eine Seele. Selbstachtung – das war es eher. Er hatte nicht seine Selbstachtung verloren, er hatte Simone verloren. Aber Simone war Stärke, Rückgrat – war das nicht dasselbe wie Selbstachtung? Tom glaubte im stillen auch nicht daran, daß sich Si mones Haltung ändern werde, doch er sagte nichts. Lie ber zu Hause reden – und was konnte er schon sagen? Konnte er von Trost, Hoffnung, Versöhnung sprechen, wenn er gar nicht daran glaubte? Aber wer kannte schon Frauen? Manchmal sah es so aus, als seien sie in ethi schen Fragen den Männern weit überlegen, und manch mal, wenn es um politische Gaunereien und um die Schwindler ging, die sie zuweilen heirateten – schien es 329
Tom, als seien Frauen viel wendiger und viel eher bereit zu doppelter Moral als Männer. Nur Simone war leider die starre Rechtschaffenheit in Person. Hatte Jonathan nicht erzählt, daß sie auch noch zur Kirche ging? Jetzt waren Toms Gedanken bei Reeves Minot angelangt. Reeves war rastlos und unruhig, und Tom sah eigentlich im Augenblick keinen Grund. So – da war die Abzwei gung nach Villeperce. Behutsam steuerte er den Wagen durch die vertrauten stillen Straßen. Da lag Belle Ombre hinter den hohen Pappeln, heil und unversehrt, und über der Haustür brannte das Licht. Tom hatte vorhin gerade Kaffee gemacht, und Jona than sagte, er wolle ihm bei einer Tasse Gesellschaft leisten. Tom machte den Kaffee heiß und brachte ihn mit der Kognakflasche ins Wohnzimmer. »Noch andere Probleme«, sagte Tom. »Reeves will nach Frankreich kommen. Ich habe ihn heute von Sens aus angerufen. Er ist in Ascona, in einem Hotel Zu den drei Bären.« »Ja, ich weiß«, sagte Jonathan. »Er glaubt, daß man ihm nachspioniert – irgendwelche Leute auf der Straße. Ich habe versucht, ihm klarzuma chen, daß sich unsere Gegner mit so was nicht aufhal ten, das sollte er wissen. Ich hab versucht, ihn davon ab zubringen, daß er auch nur nach Paris kommt, und schon gar nicht hierher, in mein Haus. Das ist im Augenblick bestimmt nicht der sicherste Ort der Welt, nicht wahr? Ich konnte ihm natürlich am Telefon kein Wort von Samstag abend sagen. Vielleicht hätte ihn das beruhigt. Ich meine, wir sind nun wenigstens die beiden los, die uns im Zug gesehen haben. Aber wie lange wir jetzt Ruhe haben, das weiß ich natürlich auch nicht.« Tom beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und blickte zu den ru higen Fenstern hinüber. »Er hat keine Ahnung von 330
Samstag abend, oder jedenfalls hat er nichts gesagt. Vielleicht bringt er´s gar nicht mit uns in Verbindung, wenn er´s in der Zeitung liest. Haben Sie es gelesen, heute?« »Ja.« »Die haben keine Anhaltspunkte. Im Radio war heute abend auch nichts, aber im Fernsehen kam was, ganz kurz. Keinerlei Spuren.« Tom verzog den Mund zu einem Lächeln und langte nach einer der kleinen Zigarren. Er bot sie auch Jonathan an, der aber den Kopf schüttelte. »Ach ja, noch was Gutes: hier im Ort hat keiner irgendwas gefragt. Ich bin eigens ausgegangen und habe Brot gekauft, ich war auch beim Schlachter, alles zu Fuß, ich hab mir Zeit genommen, um mal zu hören. Nichts. Und vorhin gegen halb acht kam ein Freund von mir, Howard Clegg, der brachte mir einen großen Sack mit Pferdemist von einem Bauern, wo er manchmal Karnickel kauft.« Tom lehnte sich lachend zurück und blies den Rauch aus. »Das war der, der Samstag abend kam und drau ßen anhielt, wissen Sie noch? Er dachte, Heloise und ich hätten Besuch und das wäre vielleicht nicht ganz die rich tige Zeit für den Pferdemist.« Tom redete immer weiter, um Jonathan Zeit zu geben, sich etwas zu beruhigen. »Ich hab ihm gesagt, daß Heloise ein paar Tage verreist ist, und ich hätte gerade ein paar Freunde aus Paris bei mir gehabt, daher der Pariser Wagen draußen. Hat er mir auch alles abgenommen.« Mit feinem Ping-Ping schlug die Uhr auf dem Kamin sims neunmal. »Ja, aber zurück zu Reeves«, fuhr Tom fort. »Ich woll te ihm erst schreiben, ich hätte Grund zu der Annahme, daß die Lage sich gebessert habe, aber dann habe ich es aus zwei Gründen doch nicht getan. Erstens, er kann jetzt jeden Augenblick aus Ascona abreisen, und zwei 331
tens, für ihn hat sich die Lage gar nicht gebessert, wenn die Italianos immer noch hinter ihm her sind. Er benutzt jetzt den Namen Ralph Platt, aber die kennen ja seinen richtigen Namen und wissen auch, wie er aussieht. Ihm bleibt nur Brasilien, wenn sie wirklich noch hinter ihm her sind. Und auch in Brasilien –« Tom lächelte; es war kein frohes Lächeln. »Aber ist er daran nicht gewöhnt?« fragte Jonathan. »So wie jetzt? Nein. Ich glaube, es gibt sehr wenig Leute, die sich an die Mafia gewöhnen und dann noch am Leben bleiben und darüber reden können. Vielleicht bleiben sie am Leben, aber es ist kein schönes Leben mehr.« Aber Reeves war doch selber schuld daran, dachte Jonathan. Und ihn hatte er auch noch hineingezogen. Nein, das stimmte nicht, er war freiwillig dazu gekommen, hatte sich überreden lassen – für Geld. Und es war Tom Ripley, der – nun, er hatte wenigstens versucht, ihm beim Eintreiben des Geldes behilflich zu sein, auch wenn es im Grunde von Anfang an seine Idee gewesen war, die ses tödliche Spiel. Jonathans Gedanken wirbelten zurück zu den Minuten im Zug zwischen München und Straß burg. »Es tut mir wirklich sehr leid mit Simone«, sagte Tom. Die lange Gestalt neben ihm hockte zusammengekauert über der Kaffeetasse: ein Bild des Jammers, das personi fizierte Versagen. »Was hat sie denn vor?« Jonathan zuckte die Achseln. »Oh – sie spricht von ei ner Trennung. Dann nimmt sie natürlich Georges mit. In Nemours wohnt ihr Bruder Gérard, ich habe keine Ah nung, was sie ihm sagen will, oder ihren Eltern, die woh nen auch dort. Sie steht noch völlig unter dem Schock, wissen Sie. Und sie schämt sich so.«
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»Ja, ich verstehe.« Heloise schämt sich auch, dachte Tom, aber sie ist viel eher imstande, auf doppelte Moral auszuweichen. Heloise wußte, daß er jemanden umge bracht, Verbrechen begangen hatte – war es überhaupt ein Verbrechen? Die letzte Sache mit Derwatt, und jetzt die verdammte Mafia? Für den Augenblick schob er die moralische Frage beiseite. Ein Ascheflöckchen lag auf seinem Knie, und er schnippte es weg. Was sollte Jona than tun? Ohne Simone hatte er überhaupt kein Rückgrat mehr. Tom überlegte, ob er selber noch einmal mit Simo ne reden sollte, aber die Erinnerung an die gestrige Un terhaltung war nicht gerade ermutigend. Viel Lust hatte er nicht. »Ich bin am Ende«, sagte Jonathan. Tom wollte antworten, aber Jonathan unterbrach ihn. »Ich bin am Ende mit Simone, oder sie mit mir, das wissen Sie. Und dann kommt noch das andere dazu – wie lange ich überhaupt noch zu leben habe. Hinauszö gern hat nun wirklich keinen Sinn mehr.« Er stand auf. »Wenn ich Ihnen also irgendwie helfen kann, stehe ich zur Verfügung. Bis zum Selbstmord.« Tom lächelte. »Kognak?« »Ja, etwas. Danke.« Tom schenkte ein. »Ich habe Ihnen jetzt fünf Minuten lang erklärt, warum ich glaube – ich glaube, wir haben das Schlimmste hinter uns. Mit den Italienern jedenfalls. Natürlich sind wir nicht durch, wenn sie Reeves zu fassen kriegen – und ihn foltern. Wer weiß, dann redet er viel leicht über uns beide.« Daran hatte Jonathan auch schon gedacht. Es machte ihm nicht viel aus, aber natürlich war es für Tom keines wegs unwichtig. Tom wollte am Leben bleiben. »Kann ich irgend etwas tun? Vielleicht könnte ich als Köder dienen? Mich aufopfern?« Jonathan lachte. 333
»Ich will keine Köder«, sagte Tom. »Haben Sie nicht mal gesagt, daß die Mafia eine be stimmte Menge Blut als Sühne haben will?« Gedacht hatte Tom daran gewiß schon, aber er war nicht sicher, ob er es ausgesprochen hatte. »Wenn wir gar nichts tun, dann kriegen sie vielleicht Reeves und legen ihn um«, sagte Tom. »Das nennen sie dann: der Natur ihren Lauf lassen. Ich hab diese Idee, die Mafiosi umzubringen, Reeves nicht in den Kopf gesetzt, und Sie auch nicht.« Toms kühle Gelassenheit nahm Jonathan etwas Wind aus den Segeln. Er setzte sich. »Was ist eigentlich mit Fritz, haben Sie da was gehört? Ich weiß noch gut, wie er aussah.« Jonathan lächelte, als entsinne er sich an seli ge Zeiten, wie Fritz in Reeves´ Wohnung in Hamburg ankam, die Mütze in der Hand, mit freundlichem Lächeln und der todsicheren kleinen Pistole. Tom mußte einen Augenblick nachdenken, wer Fritz war: ach ja, das Faktotum, der Fahrer und Bote in Ham burg. »Nein, gehört habe ich nichts. Hoffentlich ist Fritz wieder bei seinen Leuten auf dem Lande, wie Reeves sagte. Und hoffentlich bleibt er da. Vielleicht sind sie längst mit ihm fertig.« Tom erhob sich. »Jonathan, es hilft nichts, Sie müssen heute abend nach Hause und die Sa che ausbaden.« »Ja, ich weiß.« Aber es hatte ihm doch geholfen, das Gespräch mit Tom. Tom war so realistisch, selbst wo es Simone betraf. »Komisch, für mich ist gar nicht mehr die Mafia das Problem, sondern nur Simone.« Das wußte Tom. »Ich komme mit, wenn Sie wollen. Ich kann ja versuchen, noch mal mit ihr zu reden.« Wieder zuckte Jonathan die Achseln. Er war aufge standen, unruhig und rastlos, und besah sich das Bild, von dem Tom gesagt hatte, es sei ein Derwatt. ›Mann im 334
Sessel‹ hieß es, und es erinnerte ihn an Reeves´ Woh nung, wo auch ein Derwatt über dem Kamin hing – viel leicht war er jetzt verbrannt. »Ich denke, ich werde heute nacht auf dem Sofa schlafen – was auch passiert«, sagte Jonathan. Tom wollte die Nachrichten anstellen, aber es war nicht die richtige Zeit, auch nicht für Italien. »Was meinen Sie? Simone kann mir natürlich das Haus verbieten. Wenn Sie nicht glauben, daß ich die Sache verschlimme re, dann komme ich mit.« »Schlimmer könnte es gar nicht sein. Schön, ja, es wäre mir lieb, wenn Sie mitkämen. Aber was wollen wir sagen?« Tom schob die Hände in die Taschen seiner alten Fla nellhose. In der rechten Tasche steckte die kleine italie nische Pistole, die Jonathan im Zug bei sich gehabt hat te. Seit Samstag hatte Tom mit der Pistole unterm Kopf kissen geschlafen. Ja, was sollten sie sagen? Gewöhn lich verließ sich Tom auf den Einfall des Augenblicks, aber hatte er nicht sein Pulver mit Simone schon ver schossen? Er brauchte irgendeine Erleuchtung, eine neue Idee, um sie zu blenden und dazu zu bringen, daß sie das Problem in seinem Licht sah. »Wir können nur eins tun«, sagte er nachdenklich, »wir müssen sie überzeugen, daß die Gefahr vorüber ist, daß alles jetzt ganz sicher ist. Natürlich wird das schwer sein, weil da ja die beiden Leichen waren. Aber was sie verstört, ist zum großen Teil Angst, nicht wahr?« »Ja, aber ist denn die Gefahr vorüber?« fragte Jona than. »Das wissen wir doch noch gar nicht, oder? Da ist ja immerhin noch Reeves, meine ich.« Um zehn waren sie in Fontainebleau. Jonathan ging vor an, stieg die Stufen zur Haustür hinauf, klopfte und steck 335
te seinen Hausschlüssel ins Schloß, aber die Tür war innen verriegelt. »Wer ist da?« rief Simone. »Ich bin´s, Jon.« Sie schob den Riegel zurück. »O Jon – ich hab mir solche Sorgen gemacht!« Das klang ganz vielversprechend, dachte Tom. Im nächsten Augenblick hatte Simone Tom erblickt. Sofort veränderte sich ihr Ausdruck. »Ja – ich habe Tom mitgebracht. Können wir herein kommen?« Sie sah aus, als wolle sie Nein sagen. Steif trat sie ei nen Schritt zurück, und Jonathan und Tom traten ein. »Guten Abend, Madame«, sagte Tom höflich. Im Wohnzimmer war das Fernsehen angeschaltet, ei ne Näharbeit – es sah aus wie die Ausbesserung eines Mantelfutters – lag auf dem schwarzen Ledersofa, und Georges spielte auf dem Fußboden mit einem kleinen Lastwagen. Ein Bild häuslichen Friedens, dachte Tom. Er begrüßte Georges. »Setzen Sie sich doch, Tom«, sagte Jonathan. Aber Tom blieb stehen, weil auch Simone sich nicht hinsetzte. »Und was ist der Grund für diesen Besuch?« fragte sie Tom. »Madame, ich wollte –« Tom geriet ins Stottern. »Ich möchte Ihnen sagen, daß ich schuld bin an der ganzen Sache, und ich wollte Sie bitten, wieder gut zu Ihrem Mann – es Ihrem Mann nicht ganz so nachzutragen.« »Sie wollen mir erzählen, daß mein Mann –« Ihr kam plötzlich zum Bewußtsein, daß das Kind im Zimmer war, und mit der Miene nervöser Ungeduld nahm sie es bei der Hand. »Georges, du mußt jetzt raufgehen, hörst du? Geh schnell rauf, Liebling.«
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Georges ging zur Tür, sah sich noch einmal um, ging dann über den Flur und stieg zögernd die Treppe hinauf. »Dépêche-toi!« rief Simone schrill und schloß die Wohnzimmertür. Dann wandte sie sich an Tom. »Sie wol len mir also erzählen, daß mein Mann keine Ahnung hat te von – von dem, was passiert ist? Er kam ganz zufällig dazu, ja? Und das ganze dreckige Geld stammt von einer Wette zwischen den Ärzten!« Tom holte tief Atem. »Das alles ist meine Schuld, Ma dame. Jon war – er hat vielleicht einen Fehler gemacht, als er mir half, aber ist das so unverzeihlich? Er ist doch Ihr Mann –« »Er ist zum Verbrecher geworden – vielleicht durch Ih ren freundlichen Einfluß, aber die Tatsache bleibt beste hen, nicht wahr?« Jonathan setzte sich in den Sessel. Auch Tom entschloß sich, auf dem einen Sofaende Platz zu neh men; vielleicht warf ihn Simone gleich hinaus. Mutig be gann er noch einmal. »Jon ist heute abend zu mir ge kommen, um mit mir darüber zu reden. Es belastet ihn sehr, Madame. Eine Ehe, das ist etwas Heiliges, das wissen Sie auch. Wenn er Ihre Zuneigung verlöre, hätte er keinen Mut mehr zum Leben. Das ist Ihnen doch klar, nicht wahr? Sie müssen auch an Ihren Sohn denken – er braucht seinen Vater.« Simone hatte sich seinen Worten nicht ganz ver schließen können. Sie sagte: »Ja, er braucht seinen Va ter. Einen richtigen Vater, zu dem er aufsehen kann. Da haben Sie recht.« Auf den Stufen vor der Haustür waren Schritte zu hö ren. Tom sah Jonathan schnell an. »Erwartest du jemand?« fragte Jonathan. Wahrschein lich hatte sie Gérard angerufen. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« 337
Tom und Jonathan sprangen auf. »Riegeln Sie ab!« flüsterte Tom auf englisch. »Fragen Sie, wer da ist.« Ein Nachbar, dachte Jonathan, als er zur Tür ging und ruhig den Riegel vorschob. »Qui est-ce, s´il vous plaît?« »M. Trevanny?« Die Stimme kannte er nicht. Er blickte sich nach Tom um, der im Flur stand. Sicher mehr als einer, dachte Tom. Er legte den Fin ger auf den Mund und ging, ohne sich um Simone zu kümmern, den Flur hinunter in die Küche, wo das Licht brannte. Simone folgte ihm. Er sah sich nach irgendei nem schweren Gegenstand um. Die eine Schlinge hatte er noch in der Tasche, und wenn der Besuch sich als ein Nachbar herausstellte, brauchte er sie natürlich nicht. »Was machen Sie da?« fragte Simone. Tom hatte in der Küchenecke eine schmale gelbe Tür geöffnet, die zum Besenschrank gehörte, und hier fand er, was er vielleicht brauchte: einen Hammer, außerdem einen Meißel, und dann waren noch mehrere harmlose Besen und Schrubber da. »Ich bin hier vielleicht eher nö tig«, sagte er und nahm den Hammer in die Hand. Er rechnete mit einem Schuß durch die Haustür, oder auch mit dem Krachen der einbrechenden Tür, wenn sich von außen eine Schulter dagegenstemmte. Dann hörte er ein schwaches Klick – der Riegel wurde zurückgeschoben. Hatte denn Jonathan den Verstand verloren? Simone trat unbekümmert in den Flur, und Tom hörte, wie sie nach Luft japste. Scharren im Flur folgte, dann schlug die Haustür zu. »Mme. Trevanny?« sagte eine Männerstimme. Ihr Schrei erstickte, bevor er laut wurde. Das unruhige Scharren kam den Flur entlang zur Küche. Simone wurde in der Tür sichtbar, ein untersetzter Mann in dunklem An zug hatte sie gepackt und hielt ihr mit einer Hand den 338
Mund zu, ihre Füße schleiften über den Boden. Tom stand links, als der Mann jetzt in der Tür erschien; er trat einen Schritt vor und keilte ihm den Hammer in den Na cken, gerade unter dem Hutrand. Der Mann war keines wegs bewußtlos, aber er ließ Simone los und richtete sich etwas auf, so daß ihm Tom einen Schwinger auf das Nasenbein versetzen konnte und der Hut auf den Boden rollte. Kurz und eisenhart, als habe er einen Ochsen im Schlachthaus vor sich, ließ Tom den Hammer auf die Stirn des andern niederkrachen. Die Beine des Mannes gaben nach, er sank zu Boden. Mühsam erhob sich Simone. Tom zog sie schnell in die Ecke zum Besenschrank, der vom Flur aus nicht zu sehen war. Soviel er wußte, war nur noch ein anderer Mann im Hause, aber es war so still . . . Die Schlinge –? Mit dem Hammer in der Hand ging Tom, so leise er konn te, den Flur entlang zur Haustür, doch der Italiener im Wohnzimmer, der Jonathan auf dem Fußboden gepackt hielt, hatte ihn doch gehört. Ja – die Schlinge war wieder am Werk. Tom tat einen Satz ins Zimmer und schwang den Hammer. Der rundliche Italiener in grauem Anzug und Hut ließ die Schnur los und wollte die Pistole aus dem Schulterhalfter ziehen, als der Hammer auf seinem Backenknochen landete. Viel zielsicherer als ein Tennis schläger war so ein Hammer! Der Mann, der noch nicht hochgekommen war, taumelte vorwärts; Tom stieß ihm mit der linken Hand den Hut vom Kopf und schlug ihm mit der Rechten den Hammer noch einmal auf den Schädel. Krrack! Die dunklen Augen des kleinen Satans schlossen sich, der hellrote Mund blieb leicht geöffnet, und er sack te um. Tom kniete sich neben Jonathan. Die Nylonschnur war ihm schon tief ins Fleisch gedrungen. Tom versuchte, ihm den Hals hin- und herzudrehen, um die Schlinge zu 339
lockern. Jonathans Zähne waren entblößt, mit schwa chen Fingern versuchte er, die Schnur zu lockern. Simone war plötzlich neben ihnen und hielt etwas in der Hand, das wie ein Brieföffner aussah. Sie schob die Spitze unter die Schnur; die Schlinge lockerte sich. Tom hatte auf den Fersen gekauert und verlor jetzt das Gleichgewicht; er saß auf dem Boden und sprang sofort wieder auf, um schnell die Gardinen am vorderen Fenster zuzuziehen, die fast einen Viertelmeter weit offen standen. Seit die Italiener das Haus betreten hatten, wa ren, so schätzte er, etwa anderthalb Minuten vergangen. Er hob den Hammer vom Boden auf, ging an die Haustür und schob den Riegel wieder vor. Von draußen war kein Laut zu hören, nur das normale Geräusch von Schritten, wenn jemand vorüberging, und das Summen vorbeifah render Autos. »Jon«, sagte Simone. Jonathan hustete und rieb sich den Hals. Er versuchte, sich aufzusetzen. Der kleine Fettwanst in Grau rührte sich nicht, der Kopf war gegen ein Bein des Sessels gelehnt. Tom faßte den Hammer fester, um dem Mann noch einen Schlag zu versetzen, doch er zögerte, denn der Teppich hatte be reits Blutflecken. Aber der Kerl lebte doch noch – »Schwein«, sagte Tom leise. Er packte den andern vorn am Hemd und an der grellbunten Krawatte und krachte ihm den Hammer in die linke Schläfe. Georges stand mit großen Augen in der Tür. Simone hatte ein Glas Wasser für Jonathan geholt und kniete sich neben ihn. »Geh raus, Georges«, sagte sie. »Papa ist ganz in Ordnung. Nun geh schon, Georges. Los, geh nach oben!« Aber Georges blieb stehen, wo er stand, fasziniert von einem Schauspiel, das jede Fernsehsendung in den 340
Schatten stellte. Es war für ihn offenbar die gleiche Kate gorie: er nahm es nicht ganz ernst. Die Kinderaugen wa ren weit geöffnet und nahmen alles auf, aber es schreck te ihn nicht. Tom und Simone halfen Jonathan auf das Sofa; er setzte sich, und Simone hielt ein nasses Tuch für den Kopf bereit. »Es geht schon wieder, wirklich«, murmelte er. Tom horchte immer noch auf Schritte, vorn oder hinter dem Haus. Ausgerechnet jetzt mußte das passieren, wo ihm soviel daran lag, Simone zum Abschluß ein friedli ches Bild vorzugaukeln! »Madame, ist die Pforte zum Garten abgeschlossen?« »Ja«, sagte Simone. Die Pforte hatte oben eiserne Gitterspitzen, das fiel Tom jetzt ein. Er wandte sich an Jonathan und sagte auf englisch: »Wahrscheinlich ist mindestens noch einer draußen im Wagen.« Vermutlich hatte Simone das auch verstanden; von ihrem Gesicht war nichts abzulesen. Sie sah Jonathan an, er schien jetzt außer Gefahr; dann ging sie zu Georges, der immer noch an der Tür stand. »Georges, willst du jetzt sofort –« Sie drängte ihn nach oben, trug ihn halb die Treppe hinauf und gab ihm einen leichten Klaps auf das kleine Hinterteil. »Geh in dein Zimmer und mach die Tür zu!« Simone hatte wirklich Haltung, dachte Tom. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis ein weiterer Mann – genau wie zu Hause in Villeperce – an die Tür kam. Tom versuchte, sich die Gedanken des Mannes – oder der Männer – draußen im Wagen vorzustellen. Da nichts zu hören war, weder Lärm noch Schreie, noch Schüsse, nahmen sie draußen sicher an, daß alles nach Plan verlaufen war: die beiden Kumpel mußten jeden Augenblick an der Haustür erscheinen, der Auftrag war 341
ausgeführt, die Trevannys erdrosselt oder totgeschlagen. Reeves mußte umgefallen sein, dachte Tom, er mußte ihnen Jonathans Namen und Adresse verraten haben. Eine verrückte Idee fuhr Tom durch den Kopf: er und Jo nathan setzten die Hüte der beiden Italiener auf, stürzten aus der Tür zu dem Wagen (wenn einer da war) und ü berwältigten die Leute im Überraschungsangriff – und das alles mit der einen kleinen Pistole. Aber das konnte er von Jonathan nicht verlangen. »Hören Sie, Jonathan – ich geh jetzt besser hinaus, bevor es zu spät ist«, sagte er. »Zu spät – wieso?« Jonathan hatte sich das Gesicht mit dem nassen Tuch abgewischt, über der Stirn stand eine blonde Strähne in die Luft. »Ja, weil sie sonst an die Haustür kommen. Sie wer den doch Verdacht schöpfen, wenn ihre Kumpel nicht rauskommen.« Wenn es den Italienern gelang, die Lage hier zu erfassen, dann würden sie die drei im Haus mit Kugeln durchlöchern und sich im Wagen davonmachen. Er trat ans Fenster, bückte sich und blickte in Höhe der Fensterbank nach draußen. Er horchte auf einen laufen den Motor, spähte nach einem Wagen, der irgendwo ge parkt war und dessen Parklicht brannte. Auf der anderen Straßenseite war heute Parken erlaubt, und Tom sah den Wagen – wenn er das war – diagonal links stehen, etwa zwölf Meter entfernt. Es war ein großer Wagen, und das Parklicht brannte. Ob auch der Motor lief, konnte er we gen der anderen Straßengeräusche nicht hören. Jonathan war aufgestanden und trat neben Tom. »Ich glaube, ich kann sie sehen«, sagte Tom. »Was wollen wir tun?« Tom dachte daran, was er täte, wenn er allein hier wä re: er würde im Hause bleiben und jeden zu erschießen versuchen, der die Tür einbrach. »Wir können uns hier 342
nicht auf einen Kampf einlassen – wegen Simone und Georges. Ich glaube, wir müssen sie überraschen – draußen. Sonst überfallen sie uns hier, und wenn sie die Tür einschlagen, gibt´s ´ne Schießerei im Haus. – Ich mach das, Jon.« Jonathan wurde von plötzlicher Wut gepackt, von dem stürmischen Verlangen, Haus und Heim zu schützen. »Gut – dann gehen wir zusammen.« »Was willst du tun, Jon?« fragte Simone. »Wir glauben, daß draußen noch welche sind, die e ventuell reinkommen wollen«, erwiderte er auf franzö sisch. Tom ging in die Küche. Er nahm den Hut, der neben dem Toten auf dem Boden lag, setzte ihn auf und stellte fest, daß er ihm über die Ohren rutschte. Dann fiel ihm plötzlich ein, daß die beiden Italiener Pistolen in den Schulterhalftern trugen; er bückte sich und nahm dem Toten die Waffe ab. Darauf ging er zurück ins Wohnzim mer, bückte sich über den andern Italiener und sagte: »Schießeisen.« Der Mann hatte die Waffe noch heraus gezogen, sie lag unter seiner Jacke. Tom nahm den Hut des Mannes, der ihm besser paßte, und gab Jonathan den andern. »Setzen Sie ihn auf. Wir müssen versuchen, möglichst so wie die beiden hier auszusehen, bis wir ü ber die Straße sind – vielleicht hilft das. Aber kommen Sie nicht mit, Jon. Wenn einer rausgeht, das genügt. Ich will ja bloß, daß sie abschieben.« »Dann werde ich gehen«, sagte Jonathan. Er wußte, was er tun mußte: die Männer erschrecken und vielleicht, wenn er konnte, einen erschießen, bevor er selber getö tet wurde. Tom reichte Simone ebenfalls eine Pistole – es war die kleine italienische. »Vielleicht werden Sie´s brauchen, Madame.« Aber sie mochte sie nicht in die Hand neh 343
men, und Tom legte sie auf das Sofa. Sie war nicht gesi chert. Jonathan löste die Sicherung an seiner Pistole. »Ha ben Sie gesehen, wie viele im Wagen sitzen?« »Nee, ich konnte drinnen gar nichts sehen.« Bei den letzten Worten hörte Tom, wie jemand die Stufen zur Haustür heraufkam – vorsichtig und deutlich bemüht, nicht gehört zu werden. Er machte eine Kopfbewegung zu Jonathan und flüsterte Simone zu: »Riegeln Sie ab hinter uns, Madame.« Tom und Jonathan, beide mit einem Hut auf dem Kopf, gingen über den Flur zur Haustür, und Tom schob den Riegel zurück und riß die Tür auf. Ein Mann stand davor. Tom stieß ihn heftig an, packte ihn beim Arm und drehte ihn um, zur Treppe hin. Jonathan hatte den andern Arm gepackt. Auf den ersten Blick konnte der Mann, da es fast dunkel war, die beiden vielleicht für seine zwei Kum pane halten, aber Tom wußte, die Täuschung würde nur wenige Sekunden dauern. »Links runter!« sagte Tom zu Jonathan. Der Mann strampelte wild, aber er schrie nicht, und Tom hatte Mü he, sich auf den Beinen zu halten. Jonathan hatte den Wagen mit dem Parklicht gese hen. Jetzt wurden die Scheinwerfer voll eingeschaltet, und der Motor brummte auf. Der Wagen setzte etwas zurück. »Schmeiß ihn hin!« sagte Tom, und als hätten sie es eingeübt, schleuderten er und Jonathan den Italiener vorwärts. Der Kopf stieß seitlich an den langsam fahren den Wagen, und Tom hörte, wie dem Mann die Pistole aus der Tasche fiel und auf die Straße schepperte. Der Wagen hielt, und die Tür vor Tom wurde geöffnet: die Boys von der Mafia wollten ihren Kollegen zurückhaben. Tom zog die Pistole aus der Hosentasche, zielte auf den 344
Fahrer und schoß. Der Fahrer bemühte sich mit Hilfe ei nes Mannes, der hinten saß, den betäubten Italiener nach vorn in den Wagen zu ziehen. Tom wollte nicht noch einmal schießen, es kamen schon Leute aus der Rue de France gelaufen, und in einem der Häuser wurde ein Fenster geöffnet. Tom sah – oder glaubte zu sehen – wie die andere Wagentür aufging und jemand auf die Straße gestoßen wurde. Hinten aus dem Wagen kam ein Schuß. Jonathan stand genau vor Tom und tat noch einen Schritt vorwärts, als der zweite Schuß fiel und der Wagen abfuhr. Tom sah, wie Jonathan nach vorn sackte, und bevor er ihn halten konnte, fiel er um und lag an der Stelle, wo eben der Wagen gestanden hatte. Verflucht, dachte Tom. Ver flucht noch mal – er hatte offenbar den Fahrer nur in den Arm getroffen. Der Wagen war verschwunden. Ein junger Mann kam näher, dann erschienen ein Mann und eine Frau. »Was ist los?« »Ist er getroffen?« »Polizei!« Der Schrei kam von einer jungen Frau. »Jon!« Tom dachte, Jonathan sei nur gestolpert, aber er stand nicht auf und bewegte sich kaum. Einer der jun gen Männer half Tom, ihn an den Straßenrand zu tragen. Er war ganz schlaff. Ich bin in die Brust getroffen, dachte Jonathan. Es war eigentlich nur eine Art taubes Gefühl, als der Schlag vor bei war. Jetzt würde er wohl bald ohnmächtig werden; vielleicht war es auch mehr als eine Ohnmacht. Ringsum waren viele Leute, sie riefen so laut – Jetzt erst erkannte Tom den Mann, der am Bordstein hockte: es war Reeves! Er saß zusammengekauert und schweratmend da und versuchte offenbar Luft zu schöp fen. 345
». . . Krankenwagen!« rief eine Frau. »Ruft doch mal einen Krankenwagen!« »Ich hab meinen Wagen da!« gab ein Mann zurück. Tom warf einen Blick auf die Fenster in Jonathans Haus und sah den Schatten von Simones Kopf, als sie durch die Gardinen spähte, Er konnte sie nicht allein hier lassen, und als erstes mußte er Jonathan ins Kranken haus bringen, sein Wagen war schneller als jeder Kran kenwagen. »Reeves – bleib hier, ich bin sofort zurück. – Oui, Madame«, sagte er zu einer Frau (vier oder fünf Leute hatten sich inzwischen eingefunden): »Ich bringe ihn sofort ins Krankenhaus, mit meinem Wagen.« Er rannte über die Straße und schlug mit der Faust an die Haustür. »Simone, ich bin´s, Tom!« Simone öffnete, und Tom sagte eilig: »Jonathan ist verwundet, wir müssen sofort ins Kran kenhaus. Holen Sie schnell Ihren Mantel und kommen Sie. Und nehmen Sie auch den Jungen mit!« Georges stand im Flur. Simone ließ ihren Mantel an der Garderobe hängen, sie nahm nur die Schlüssel aus der Manteltasche und kam hastig zurück zu Tom. »Ver wundet – ist er angeschossen?« »Ich fürchte ja. Mein Wagen steht links drüben – der grüne.« Sein Wagen stand sechs Meter hinter der Stelle, wo die Italiener gehalten hatten. Simone wollte zu Jonathan, aber Tom drängte, es sei wichtiger, daß sie jetzt die Tü ren seines Wagens offenhalte, der nicht abgeschlossen war. Es waren noch mehr Leute hinzugekommen, aber kein Polizist; ein kleiner wichtigtuerischer Mann fragte Tom, wer er eigentlich sei und wieso er hier Anordnun gen erteile. »Hau doch ab«, sagte Tom auf englisch. Zusammen mit Reeves bemühte er sich, Jonathan so behutsam wie 346
möglich in den Wagen zu heben. Er hätte den Wagen näher heranfahren sollen, aber da sie Jonathan nun hochgehoben hatten, wollten sie ihn nicht wieder hinle gen, und als noch zwei andere mithalfen, ging es dann. Sie hoben ihn auf den Rücksitz und lehnten ihn in eine Ecke. Toms Mund war ausgetrocknet, als er sich ans Steuer setzte. Zu Reeves sagte er: »Dies ist Mme. Trevanny. Reeves Minot.« »Guten Abend«, sagte Reeves mit seinem amerikani schen Akzent. Simone setzte sich auf den Rücksitz zu Jonathan. Reeves nahm Georges neben sich, und Tom fuhr an und nahm den Weg zum Krankenhaus in Fontainebleau. »Ist Papa ohnmächtig?« fragte das Kind. »Oui, Georges.« Simone begann zu weinen. Jonathan hörte die Stimmen, aber sprechen konnte er nicht. Er konnte keinen Finger rühren. Vor seinen Augen stand die graue Vision einer Meeresküste, irgendwo in England, und das Wasser ging immer weiter zurück, es sank ein und fiel – fiel – Er war schon weit fort von Simo ne, obgleich er noch an ihrer Brust lehnte, oder vielleicht glaubte er das nur – Aber Tom war am Leben. Tom saß am Steuer, wie ein junger Gott. Ein Schuß war gefallen, ja, aber das spielte alles keine Rolle mehr. Nun kam der Tod, dem er sich schon öfter hatte stellen wollen, aber nie gestellt hatte, auf den er sich hatte vorbereiten wollen und niemals vorbereitet hatte. Man konnte sich gar nicht auf ihn vorbereiten – man gab sich einfach in seine Hand und überließ sich ihm. Und alles, was man im Leben ge tan, unterlassen, erstrebt, erreicht hatte – es war nun oh ne Sinn. Ein Krankenwagen kam Tom entgegen, laut hupend. Er fuhr vorsichtig, die Fahrt dauerte nur vier oder fünf 347
Minuten. Die Stille im Wagen wurde ihm unheimlich. Es war, als ob sie alle – er und Reeves, Georges, Simone und Jonathan, wenn er noch etwas spürte – in einer Se kunde zu Stein erstarrt seien, und die Sekunde nahm kein Ende . . . »Der Mann ist ja tot!« sagte der Aufnahmearzt er staunt. »Aber –« Tom konnte es nicht glauben. Er brachte kein Wort heraus. Nur Simone stieß einen leisen Schrei aus. Sie standen an der asphaltierten Einfahrt zum Kran kenhaus. Man hatte Jonathan auf eine Tragbahre gelegt; zwei Träger hielten sie und waren stehengeblieben, als wüßten sie nicht, was sie jetzt tun sollten. »Simone, wollen Sie –« Aber Tom wußte schon nicht mehr, was er sie hatte fragen wollen. Und Simone lief nun auf Jonathan zu, den man gerade hineintrug. Georges folgte ihr, und Tom lief hinterher; er wollte sie um die Hausschlüssel bitten, um die beiden Leichen aus dem Hause zu schaffen, irgendwie und irgendwohin, doch abrupt blieb er stehen, seine Schuhe rutschten auf dem Asphalt aus. Trevannys Haus: die Polizei mußte ja längst da sein, bevor er hinkam. Wahrscheinlich brachen sie jetzt schon die Tür auf, denn die Leute auf der Straße hatten ihnen sicher berichtet, daß der Aufruhr von dem grauen Hause ausgegangen war, daß nach der Schieße rei ein Mann (Tom) ins Haus zurückgelaufen war und etwas später mit einer Frau und einem kleinen Jungen herausgekommen und in einen Wagen gestiegen war. Simone verschwand jetzt um die Hausecke, sie war den Trägern mit der Bahre gefolgt. Tom war zumute, als sehe er sie schon jetzt im Gefolge eines Leichenwagens. Er wandte sich um und ging zurück zu Reeves.
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»Laß uns abfahren, solange wir noch können«, sagte er. Er wollte verschwinden, bevor ihm Fragen gestellt wurden oder jemand seine Wagennummer notiert hatte. Er stieg mit Reeves in den Wagen und fuhr los, nach Hause. »Ist Jonathan wirklich tot – was meinst du?« fragte Reeves. »Ja. Du hast doch gehört, was der Arzt sagte.« Reeves sank tiefer in den Sitz und rieb sich die Augen. Richtig begreifen konnten sie es beide noch nicht, dachte Tom. Er war in Sorge, ob ihnen ein Wagen vom Krankenhaus her folgte, vielleicht sogar ein Streifenwa gen der Polizei. Man konnte nicht einfach einen Toten abliefern und dann wieder wegfahren, ohne daß Fragen gestellt wurden. Was würde Simone aussagen? Heute abend hatten sie dort sicher Verständnis, wenn sie nichts sagen konnte, aber morgen? »Und du, mein Lieber, wie ist es mit dir?« sagte er heiser zu Reeves. »Nichts gebro chen, keine Zähne ausgeschlagen?« Der hatte nicht stillgeschwiegen, dachte Tom. Er hatte geredet, und vielleicht sofort. »Bloß Brandstellen – von Zigaretten«, sagte Reeves unterwürfig, als seien Brandstellen gar nichts im Ver gleich zu Schießwunden. Reeves trug einen Bart, rötlich und drei Zentimeter lang. »Ich nehme an, du weißt, was bei Trevannys los ist. Zwei tote Männer im Haus.« »Ah ja. Gut. Ja, das weiß ich natürlich. Sie sind ja nicht zurückgekommen.« »Ich wäre jetzt noch hingefahren, um irgendwas zu un ternehmen, oder es jedenfalls zu versuchen, aber die Polizei muß längst da sein.« Hinter Tom ertönte eine Si rene, er fuhr zusammen und packte das Steuer fester, aber es war dann nur ein weißer Krankenwagen mit 349
Blaulicht, der Tom beim Denkmal überholte und eilig nach rechts abbog, in Richtung auf Paris. Wenn es doch Jonathan wäre, auf dem Weg in ein Pariser Kranken haus, wo es vielleicht bessere Ärzte gab . . . Es war Ab sicht gewesen von Jonathan, ganz sicher, daß er sich zwischen Tom und den aus dem Wagen schießenden Mann gestellt hatte. Oder doch nicht? Kein Wagen über holte ihn mehr oder gab ihm Zeichen zum Anhalten, bis sie in Villeperce ankamen. Reeves war gegen die Tür gelehnt eingeschlafen; er wachte auf, als der Wagen hielt. »O süße Heimat«, sagte Tom. Sie stiegen in der Garage aus, Tom verschloß die Tür und öffnete die Haustür mit seinem Schlüssel. Alles war wie immer, heiter und ruhig. Unglaublich. »Willst du dich aufs Sofa legen? Ich mache erst mal Tee«, sagte Tom. »Wir können ihn brauchen.« Sie tranken Tee mit Whisky – mehr Tee als Whisky. Reeves, unsicher-zaudernd wie immer, fragte Tom, ob er eine Salbe gegen Verbrennungen im Hause habe, und Tom holte eine Tube aus dem Medizinschränkchen in der unteren Toilette. Dorthin zog sich Reeves jetzt zurück, um die Brandwunden zu versorgen; sie waren, wie er sagte, alle in der Bauch- und Magengegend. Tom zünde te sich eine Zigarre an, weniger weil er Lust darauf hatte, als weil ihm eine Zigarre immer ein Gefühl von Stabilität, von Sicherheit gab, das vielleicht illusorisch war, aber es war die Illusion, die Haltung bei der Konfrontation mit Problemen, auf die es ankam. Es half nichts: Man mußte so tun, als sei alles in Ordnung. Als Reeves ins Wohnzimmer zurückkam, sah er das Cembalo. »Ja – eine Neuerwerbung«, sagte Tom. »Ich will auch Unterricht nehmen, in Fontainebleau oder sonstwo. He 350
loise vielleicht auch. Wir können nicht wie die Affen dar auf herumklimpern.« Tom spürte, wie eine merkwürdige Gereiztheit in ihm aufstieg, weder gegen Reeves noch überhaupt gegen etwas Bestimmtes. »Erzähl mir, was in Ascona passiert ist.« Reeves trank seinen Tee mit Whisky und schwieg ei nige Sekunden, wie ein Mann, der langsam, Zoll für Zoll, aus einer anderen Welt wieder ans Tageslicht kommt. »Ich denke an Jonathan. Tot. Das habe ich wirklich nicht gewollt.« Tom schlug die Beine übereinander. Auch seine Ge danken waren bei Jonathan. »Ascona. Was ist da pas siert?« »Na ja – ich sagte dir ja, ich wußte, sie hatten mich ge funden. Vor ein paar Tagen, abends, da hat mich einer auf der Straße angeredet. Junger Kerl in Sportkleidung, sah aus wie ein italienischer Tourist. Sprach Englisch. Er sagte: ›Packen Sie Ihren Koffer und bezahlen Sie Ihre Rechnung. Wir warten hier.‹ Mensch, ich – ich hatte kei ne Wahl. Ich meine, ich wußte, was sie gemacht hätten, wenn ich meinen Koffer genommen hätte und einfach abgehauen wäre. Das war gegen sieben, Sonntag a bend. Gestern –?« »Gestern war Sonntag. Ja.« Reeves starrte auf den Couch tisch, aber er blieb auf recht sitzen, eine Hand vorsichtig über das Zwerchfell gelegt, wo vielleicht die Brandwunden waren. »Ja – den Koffer habe ich dagelassen, der steht noch in der Hotel halle. Sie haben mir bloß kurz gewinkt und gesagt: ›Ste henlassen.‹« »Du kannst ja im Hotel anrufen, vielleicht von Fontai nebleau aus.« »Ja. Na ja, und dann kamen die Fragen. Sie wollen wissen, wer der geniale Kopf war, der dahintersteckte. 351
Ich hab gesagt, keiner. Ich konnt´s ja nicht sein, der ge niale Kopf, nicht wahr!« Reeves lachte unsicher. »Dich wollte ich nicht angeben, Tom. Du warst es ja auch nicht, der die Mafia aus Hamburg raushaben wollte. Ja, dann – dann fingen sie an mit den Zigaretten. Sie wollten wis sen, wer damals im Zug gewesen war. Ich habe mich nicht so gut gehalten wie Fritz. Fritz, der Gute –« »Er ist doch nicht tot, oder?« fragte Tom. »Nein. Soviel ich weiß jedenfalls nicht. Also um diese scheußliche Sache kurz zu machen: ich hab ihnen Jona thans Namen genannt – und seine Adresse, wo er wohnt. Ich hab´s gesagt, weil sie – weil sie mich irgendwo im Wald im Wagen festhielten und mir die Zigaretten ins Fleisch drückten. Ich weiß noch, daß ich dachte, wenn ich jetzt ganz laut schreie, hört mich kein Mensch. Dann haben sie mir die Nase zugehalten, so als ob sie mich ersticken wollten.« Reeves wand sich auf dem Sofa. Tom verstand das. »Meinen Namen haben sie nicht erwähnt?« »Nein.« Tom überlegte. Durfte er wirklich hoffen, daß das ge meinsam mit Jonathan durchgeführte Unternehmen ge glückt war? Vielleicht waren die Genottis wirklich der An sicht, Tom Ripley sei die falsche Spur gewesen? »Diese gehörten doch zu den Genottis, nicht?« »Ja, das müssen sie wohl.« »Aber du weißt es nicht?« »Mein Gott, Tom, sie geben doch die Familie nicht an!« Ja, das stimmte. »Und du hast kein Wort von Angy oder Lippo gehört? Oder von dem Capo Luigi?« Reeves dachte nach. »Luigi – mir ist so, als hätte ich den Namen gehört. Aber ich war in einer solchen Angst, Tom –« 352
Tom seufzte. »Angy und Lippo sind die beiden, die wir am Samstag umgelegt haben, Jonathan und ich.« Er sprach leise, als könne irgendwo jemand lauschen. »Die waren von den Genottis. Sie sind hier ins Haus gekom men, da haben wir – nachher haben wir sie in ihrem Wa gen verbrannt, ziemlich weit weg von hier. Jonathan war dabei, hat sich fabelhaft gehalten. Du mußt die Zeitungs berichte lesen!« fügte Tom leise lachend hinzu. »Hier – wir haben Lippo gezwungen, seinen Boss Luigi anzuru fen und ihm zu sagen, daß ich nicht der Gesuchte sei. Deshalb fragte ich dich nach den Genottis. Ich wüßte zu gern, ob sie das geglaubt haben.« Reeves versuchte immer noch nachzudenken. »Dei nen Namen haben sie nicht erwähnt, das weiß ich. Zwei habt ihr hier umgelegt, im Haus! Fabelhaft, Tom.« Mit sanftem Lächeln ließ sich Reeves in die Sofalehne zu rücksinken, als sei dies seit Tagen das erstemal, daß er ausspannen konnte. Vielleicht war es das ja auch. »Ja, aber sie kennen meinen Namen«, überlegte Tom. »Ob die beiden im Wagen heute abend mich erkannt ha ben, das weiß ich nicht. Das steht in den Sternen.« Er war selbst erstaunt über die Worte, die ihm da über die Lippen gekommen waren. Er meinte, die Chance sei halb und halb oder so. Etwas entschlossener fuhr er fort: »Ich weiß eben nicht, ob ihr Appetit jetzt gestillt ist – weil sie Jonathan heute abend erwischt haben.« Er stand auf und wandte sich ab. Jonathan war tot, und dabei hätte er gar nicht mit hinauszugehen brau chen, auf die Straße. Und war er nicht absichtlich zwi schen Tom und den Pistolenschützen im Wagen getre ten? Aber Tom war nicht ganz sicher, daß er jemand mit einer Pistole hatte zielen sehen. Es ging alles so wahnsinnig schnell. Jonathan hatte sich nicht mehr mit Simone versöhnen können, hatte kein verzeihendes Wort 353
mehr von ihr erhalten – nichts als das bißchen Besorgnis, nachdem er fast erdrosselt worden war. »Reeves, willst du nicht lieber jetzt schlafen gehen? Oder vielleicht möchtest du noch was essen – hast du Hunger?« »Ich bin viel zu kaputt zum Essen, vielen Dank. Ja, ich würde gern zu Bett gehen. Danke. Ich wußte nicht, ob du mich unterbringen konntest.« Tom lachte. »Ich auch nicht.« Er brachte Reeves nach oben ins Gästezimmer, entschuldigte sich, weil Jonathan ein paar Stunden in dem Bett geschlafen hatte, und erbot sich, die Bettwäsche zu erneuern, aber Reeves beteuer te, das mache gar nichts. »Paradiesisch, das Bett«, sagte Reeves. Er schwankte vor Erschöpfung, als er begann, sich auszuziehen. Tom ging nach unten. Falls die Kerls von der Mafia heute abend noch mal einen Versuch wagen sollten, hat te er die größere italienische Pistole plus sein Gewehr und dann noch die Luger und an Stelle von Jonathan den erschöpften Reeves. Aber sie würden wohl heute nicht mehr kommen, im Gegenteil: sie versuchten wahrschein lich so weit wie möglich von Fontainebleau wegzukom men. Hoffentlich hatte er wenigstens den Fahrer getrof fen – und schwer getroffen. Am nächsten Morgen ließ er Reeves lange schlafen. Tom saß mit seinem Kaffee im Wohnzimmer, das Radio war auf einen beliebten französischen Sender eingestellt, der jede Stunde Nachrichten durchgab. Leider war es kurz nach neun. Was wohl Simone vor der Polizei aus sagte – und was mochte sie gestern abend gesagt ha ben? Ihn, Tom, würde sie vermutlich nicht erwähnen, denn dann müßte sie auch angeben, welche Rolle ihr Mann bei den Morden gespielt hatte. Halt – stimmte das auch? Konnte sie nicht sagen, Tom Ripley habe ihren 354
Mann gezwungen – aber wie denn? Durch welchen Druck? Nein, wahrscheinlich sagte sie ungefähr so aus: »Ich habe keine Ahnung, warum die Mafiosi (oder die Italiener) zu uns gekommen sind.« »Aber wer war denn der andere Mann, der mit Ihrem Mann zusammen war? Die Zeugen sagen, es war ein zweiter Mann dort – einer mit amerikanischem Akzent.« Hoffentlich, dachte Tom, hatte keiner der Umstehenden seinen Akzent erwähnt, aber wahrscheinlich hatte es doch einer getan. »Ich weiß es nicht«, mochte Simone darauf antworten. »Es war ir gend jemand, den mein Mann kannte, ich weiß nicht mehr, wie er hieß . . .« Im Augenblick war alles noch etwas unsicher. Kurz vor zehn kam Reeves herunter. Tom machte fri schen Kaffee und Rühreier. »Ich muß weg – deinetwegen«, sagte Reeves. »Kannst du mich hinbringen – ich dachte an Orly, aber ich will auch noch nach Ascona telefonieren, wegen mei nes Koffers, bloß nicht von deinem Haus. Kannst du mich nach Fontainebleau bringen?« »Ich kann dich nach Fontainebleau und nach Orly bringen. Wo willst du hin?« »Ich dachte nach Zürich. Von da kann ich schnell mal nach Ascona rüber und meinen Koffer holen. Oder wenn ich im Hotel anrufe, schicken sie mir den Koffer nach Zü rich, zur American Express Company. Ich sage einfach, ich hab ihn vergessen!« Reeves´ Lachen sollte sorglos jungenhaft klingen, aber es war gezwungen. Auch die Geldfrage war noch zu regeln. Tom hatte et wa dreizehnhundert Franc in bar im Hause und sagte, er könne Reeves genügend mitgeben, so daß er das Flugti ckett bezahlen und in Zürich etwas in Schweizer Franken umwechseln konnte. Reeves´ Reiseschecks steckten in seinem Koffer. 355
»Und dein Paß?« fragte Tom. »Hier.« Reeves klopfte auf seine Brusttasche. »Sogar beide: Ralph Platt mit Bart und ich ohne. Ein Freund in Hamburg hat das Foto gemacht, da habe ich einen fal schen Bart. Ist es nicht unglaublich, daß die Kerls mir den Paß nicht abgenommen haben? Glück muß man haben, was?« Ja, Glück mußte man haben, und Reeves hatte Glück. Er war nicht umzubringen, dachte Tom; er war wie eine geschmeidige Eidechse, die über die Steine flitzte. Man hatte Reeves entführt, gebrannt, Gott weiß wie bedroht und aus dem Wagen gestoßen, und jetzt saß er hier, mit heilen Augen, nicht mal die Nase gebrochen, und aß sei ne Rühreier. »Ich reise auf meinen eigenen Paß, weißt du. Ich wer de mir jetzt den Bart abrasieren und auch ein Bad neh men, wenn du erlaubst. Ich bin nur schnell herunterge kommen, weil ich dachte, es sei schon spät.« Während Reeves badete, telefonierte Tom mit dem Reisebüro und erkundigte sich nach den Flugzeiten. Nach Zürich gab es heute noch drei Flüge, der erste ging um 13.20 Uhr, und das Mädchen am Telefon sagte, es gebe sicher noch einen Platz. Kurz nach zwölf Uhr mittags war Tom mit Reeves am Flughafen Orly und stellte den Wagen ab. Reeves rief das Hotel Drei Bären in Ascona wegen seines Koffers an, und man sagte ihm zu, den Koffer nach Zürich zu schi cken. Reeves war nicht weiter besorgt um seine Sachen – bei weitem nicht so besorgt wie Tom es gewesen wäre, wenn er einen unverschlossenen Koffer zurückgelassen hätte, der noch dazu ein recht aufschlußreiches Adreß buch enthielt. Reeves würde seinen Koffer wahrschein lich morgen unversehrt in Zürich vorfinden. Tom hatte aber darauf bestanden, ihm einen seiner kleinen Koffer 356
mitzugeben, in den er einen Pullover, Schlafanzug, ein zusätzliches Oberhemd und Wäsche hineinlegte, dazu Toms eigene Zahnbürste und Zahnpasta, weil er fand, nur so sehe ein Koffer normal aus. Er hatte es nicht über sich gebracht, Reeves die neue Zahnbürste mitzugeben, die Jonathan nur einmal benutzt hatte. Auch einen Regenmantel drängte er Reeves auf. Ohne den Bart wirkte Reeves viel blasser. »Tom – du brauchst nicht hierzubleiben, bis wir starten. Ich werd jetzt schon allein fertig. Ich dank dir tausendmal. Du hast mir das Leben gerettet.« Das stimmte nicht ganz, denn Tom nahm nicht an, daß die Italiener beabsichtigt hatten, Reeves noch auf der Straße eine Kugel in den Kopf zu jagen. »Wenn ich nichts von dir höre«, sagte er lächelnd, »dann rechne ich damit, daß alles in Ordnung ist bei dir.« »Okay, Tom!« Ein letztes Winken, und Reeves ver schwand durch die Glastür. Tom setzte sich in seinen Wagen und fuhr in trüber Stimmung nach Hause, wo seine Melancholie noch zu nahm. Er hatte keine Lust, sich von Freunden aufmun tern zu lassen; heute abend wollte er weder die Grais noch die beiden Cleggs sehen. Auch das Kino in Paris lockte ihn nicht. Um sieben wollte er Heloise anrufen und feststellen, ob sie ihren Schweizer Plan ausgeführt hatte. Wenn sie abgereist war, wußten ihre Eltern sicher ihre Telefonnummer in dem Schweizer Chalet oder wo sie sonst zu erreichen war. An so etwas dachte Heloise im mer; sie hinterließ stets eine Adresse oder Telefonnum mer, damit man sie erreichen konnte. Natürlich war es auch durchaus denkbar, daß die Poli zei ihn aufsuchte, und dann brauchte er sich nicht mehr zu bemühen, sein Gleichmaß zurückzugewinnen. Was sollte er sagen, wenn sie ihn nach gestern abend fragten: 357
daß er den ganzen Abend zu Hause gewesen war? Tom lachte – es war ein befreiendes Lachen. Zunächst mal müßte er wohl feststellen, was Simone ausgesagt hatte, wenn das möglich war. Aber die Polizei erschien nicht, und Tom unternahm auch nichts, um Simone zu fragen. Er rechnete wie im mer in einiger Sorge damit, daß die Polizei sich Zeit nahm, um Beweise und Zeugenaussagen zu sammeln, mit denen er dann konfrontiert werden würde. Zum Din ner besorgte er ein paar Lebensmittel, saß eine Weile vor dem Cembalo und machte Fingerübungen und schrieb einen freundlichen kleinen Brief an Mme. Annette in Ly on: Liebe Mme. Annette, dies ist nur ein kleiner Gruß, da mit Sie wissen, daß Sie unserem Hause sehr fehlen. A ber ich hoffe, Sie ruhen sich ein bißchen aus und genie ßen die schönen Frühsommertage. Hier ist alles in Ord nung. Ich rufe Sie bald mal abends an, damit ich höre, wie es Ihnen geht. Mit allen guten Wünschen Ihr Tom Ripley Das Radio brachte eine Meldung von einer Schießerei in Fontainebleau, bei der drei Männer getötet worden waren. Namen wurden nicht genannt. Die DienstagZeitung (Tom kaufte in Villeperce immer den France-Soir) hatte einen etwas ausführlicheren Einspalter: Jonathan Trevanny aus Fontainebleau war erschossen worden, ebenso zwei Italiener in seinem Hause. Toms Blick glitt über ihre Namen, als habe er nicht die Absicht, sie zu behalten, obwohl er wußte, er würde sie nicht so leicht vergessen: Alfiori und Ponti. Mme. Simone Trevanny hat te ausgesagt, sie kenne den Grund für den Überfall nicht; die beiden Italiener hätten geklingelt und sich dann ge waltsam Einlaß verschafft. Ein Freund ihres Mannes, den 358
sie nicht namentlich nannte, sei bei ihnen im Haus gewe sen und sei ihrem Mann zu Hilfe gekommen, er habe sie und ihren Jungen auch später ins Krankenhaus in Fon tainebleau gefahren; dort hätten sie festgestellt, daß ihr Mann bei seiner Ankunft bereits tot gewesen sei. Zu Hilfe gekommen, dachte Tom amüsiert, und dann lagen da zwei tote Mafiosi mit eingeschlagenen Schädeln im Haus. Mit dem Hammer konnte er offenbar umgehen, der Freund von Trevannys, vielleicht auch Jonathan Tre vanny selber, denn schließlich hatten sie im ganzen vier Killer mit Schußwaffen gegen sich gehabt. Tom atmete tief und begann zu lachen – das Lachen war nicht ganz frei von Hysterie, aber das war wohl verständlich. Er wußte, die Zeitungen würden noch mehr Einzelheiten bringen; und wenn nicht die Zeitungen, dann würde die Polizei selber sie vorlegen, und zwar Simone und sicher auch ihm. Aber Simone, da war er ziemlich sicher, würde alles tun, um die Ehre ihres Mannes und ihren Notgro schen auf der Schweizer Bank zu schützen, sonst hätte sie schon jetzt etwas mehr ausgesagt. Sie hätte ja ohne weiteres Tom Ripley und ihren ganzen Argwohn erwäh nen können. Die Zeitung hätte auch berichten können, Simone Trevanny habe für später eine eingehendere Aussage zugesagt. Aber sie hatte offenbar nichts der gleichen getan. Jonathan Trevannys Beisetzung war für Mittwoch, 17. Mai, 15 Uhr, in der Kirche St-Louis angesetzt. Noch am Mittwoch morgen hatte Tom die Absicht gehabt, hinzu gehen; aber er wußte, Simone hätte das bestimmt nicht gewünscht, und schließlich waren Beerdigungen eine Sache für die Lebenden, nicht für die Toten. So blieb er also ruhig zu Hause und arbeitete im Garten (die ver dammten Arbeiter kamen nicht weiter mit dem kleinen Gewächshaus, er mußte mal Dampf dahinter machen). 359
Immer wieder stand ihm die nächtliche Szene auf der Straße vor Augen. Er war jetzt fest überzeugt, daß Jona than sich absichtlich zwischen ihn und den Wagen ge stellt hatte, um ihn zu schützen. Ganz sicher kam die Polizei in den nächsten Tagen noch mal zu Simone, um den Namen des Freundes zu erfahren, der ihrem Manne zur Hilfe gekommen war. Hat ten es die beiden Italiener, die vielleicht jetzt schon als Mafiosi entlarvt waren, nicht überhaupt auf den Freund abgesehen und gar nicht auf Jonathan Trevanny? Die Polizei würde Simone ein paar Tage Ruhe gönnen, und dann vernahm man sie von neuem. Tom kam bei seinen Überlegungen zu dem Schluß, daß Simone sich vermut lich immer mehr auf die Richtung versteifen würde, die sie einmal eingeschlagen hatte: der Freund, der an dem Abend dagewesen war, wollte seinen Namen nicht ge nannt wissen, es war kein naher Freund, er hatte in Not wehr gehandelt, genau wie ihr Mann, und sie wollte jetzt den ganzen Alptraum vergessen und nichts mehr davon hören. Vier Wochen später, im Juni, als Heloise längst aus der Schweiz zurück war und Toms Hypothesen sich be wahrheitet hatten, denn die Zeitungen hatten keine weite ren Aussagen von Simone Trevanny gebracht, ging Tom eines Tages in Fontainebleau die Rue de France hinun ter und erblickte Simone, die ihm entgegenkam. Tom schleppte ein schweres Gefäß, eine Art Urne, die er eben für den Garten gekauft hatte. Er war höchst überrascht, als er Simone sah, denn angeblich hatte sie in Toulouse ein Haus gekauft und war bereits mit dem Kind dorthin umgezogen. Das alles hatte Tom von dem redseligen Besitzer des neuen teuren Delikatessenladens gehört, der den Platz von Gauthiers Kunstartikelgeschäft einge nommen hatte. Tom blinzelte, die Arme schmerzten unter 360
der Last, die er eigentlich dem Angestellten im Blumen geschäft hatte überlassen wollen; im Kopf hatte er noch die unangenehme Erinnerung an céleri rémoulade und Hering in Sahne anstatt der geruchlosen Farbtuben, Pin sel und Kartons, die er früher bei Gauthier zu sehen ge wohnt war, dazu kam die Annahme, daß Simone doch längst Hunderte von Meilen weit weg war: er hatte einen Augenblick das Gefühl, einen Geist vor sich zu sehen, eine plötzliche Vision. Er war in Hemdsärmeln, die nicht mehr ganz frisch waren; hätte er jetzt nicht Simone auf sich zukommen sehen, so hätte er den Gartenkübel ei nen Augenblick abgesetzt und sich ausgeruht. Sein Wa gen stand an der nächsten Ecke. Simone sah ihn, und sofort sprühten ihre Augen Feuer. Sie blieb kurz stehen, und als Tom ebenfalls anhalten wollte, um wenigstens kurz »Bonjour, Madame« zu sagen, spuckte sie ihn an. Sie verfehlte sein Gesicht – sie traf ihn überhaupt nicht und setzte ohne ein Wort ihren Weg fort. Für sie war dies vielleicht ein Racheakt, der dem der Mafia entsprach. Hoffentlich kam nun weiter nichts mehr, weder von der Mafia noch von Simone. Ja, eigentlich war das Spucken – unangenehm natürlich, ob es traf oder nicht – ein Indiz dafür, daß nichts mehr kam. Wenn Si mone nicht längst beschlossen hätte, das Schweizer Geld zu behalten, dann hätte sie sich mit Spucken gar nicht aufgehalten, und er selber, Tom Ripley, säße jetzt im Gefängnis. Aber Simone schämte sich – doch, ja, ein wenig schämte sie sich, wie beinahe jeder in ihrer Lage es getan hätte. Immerhin: ihr Gewissen ließ sich offenbar leichter beschwichtigen als das ihres Mannes, wenn er noch am Leben wäre.
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