Western-Bestseller Neuauflage der großen Romane des berühmten Autors
G. F. Unger � Ringo Kid Als Ringo Kid vor das Haus...
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Western-Bestseller Neuauflage der großen Romane des berühmten Autors
G. F. Unger � Ringo Kid Als Ringo Kid vor das Haus der Gatewoods geritten kommt, ist nur Nell zu sehen. Sie sitzt auf der schattigen Veranda und stickt an einem Stück türkisgrüner Seide, die die gleiche Farbe wie ihre Augen hat. Nell Gatewood ist genau das, was nicht nur ihre drei Brüder als »Honey« bezeichnen. Eigentlich gibt es auf fünfzig Meilen in der Runde keinen Burschen, der noch nicht hinter ihr her war. Beim letzten Ball anlässlich des Unabhängigkeitstages gab es ihretwegen eine gewaltige Prügelei. Als Ringo Kid neben der Veranda seinen verrückt gefleckten Pinto verhält und seinen alten Hut schwingt, als wäre dieser die kostbare, mit Federn geschmückte Kopfbedeckung eines Hidalgos, kommt in Nells grüne Katzenaugen ein merkwürdiges Funkeln. »Na, du Strolch«, sagt sie schnurrend. »Was für eine Entschuldigung hast du dafür, dass ich nicht mir dir, sondern mit Billy Moorland zum Ball im Schulhaus gehen musste? Heraus damit, du Pferdedieb!« Das Funkeln in ihren Augen wird immer stärker und ihre Stimme hat einen honigsüßen Beiklang. Sie ist ein Mädel, das freundlich lächeln und einem im selben Moment mit aller Kraft gegen das Schienbein treten kann…
»Du wirst es nicht glauben, Grünauge«, murmelt Ringo Kid, »und deshalb sollte ich gar nicht erst versuchen, es dir zu erklären. Außerdem ist es sehr beschämend für mich. Ich bin nur hergekommen, um dich um Verzeihung zu bitten und dir Lebewohl zu sagen.« Sie zieht ihre Augenbrauen hoch. Es sind wundervoll geschwungene Augenbrauen. Dann bläst sie sich eine Locke ihres haselnussbraunen Haares aus der Stirn. Ihre kleine Nase hat einen lustigen Schwung nach oben, und ihre Lippen sind voll und rot. Aber bei aller Lebendigkeit und Lebensfreude ist sie energisch und zielbewusst. »Lebewohl? Habe ich richtig gehört, Ringo? Lebewohl willst du mir sagen? Du? Warum? Wohin willst du?« »Ach, ich habe mir in letzter Zeit in diesem Land nur Feinde gemacht«, antwortet er. »Meine Geschäfte gingen schlecht. Ich habe nicht mal eine richtige Hose. Deshalb konnte ich gestern auch nicht mit dir zum Ball gehen. Oder hätte dir ein grüner Flicken auf meiner braunen Hose nichts ausgemacht?« Ihre Augen werden schmal. »Steig ab!«, sagt sie. »Das will ich sehen.« In ihrer Stimme ist wieder das katzenhafte Schnurren. Und weil Ringo Kid sie gestern versetzt hat, ist er ihr auch eine einwandfreie Erklärung schuldig. Deshalb steigt er ab, kommt auf die Veranda und dreht Nell den Rücken zu. Jetzt kann sie den Flicken sehen. Ihre Augen sind schmal, als sie fragt: »Hat dich ein Hund in den Hosenboden gebissen? Konntest du nicht versuchen, den Fetzen von dem Köter wiederzubekommen? Du lieber Himmel, warum hast du das Loch mit einem giftgrünen Lappen geflickt?« »Ich hatte keinen anderen«, sagt er ernst. »Und du siehst doch wohl ein, dass ich so nicht mit dir zum Ball gehen konnte.
Alle hätten über uns gelacht. Und weil ich dann zugeschlagen hätte, wäre es wieder eine Keilerei wie im vergangenen Jahr geworden. Du bist mir nicht böse, Honey Nell?« Nun sind ihre Augen noch schmaler. Aber vielleicht liegt das an ihrem Lächeln. In ihrer Stimme ist das Schnurren kaum noch zu hören, als sie sagt: »Ich mag dich auch mit einem grünen Flicken auf dem Hosenboden. Warum hast du mich eigentlich noch immer nicht geküsst?« Er grinst, und das lässt ihn noch jünger, jungenhafter aussehen. Auf eine verwegene und etwas leichtsinnig wirkende Art ist er hübsch. Als kleiner Junge wurde er wegen seiner blonden Locken stets für ein Mädchen gehalten. Einmal musste er sogar, als Mädchen verkleidet, in einem Ringelspiel auftreten. Seitdem heißt er Ringo Kid. Aber jetzt ist er ein ziemlich harter Bursche. »Ich würde dich gerne küssen, Honey Nell«, murmelt er. »Doch hier – am hellen Tag auf der Veranda? Wenn deine Brüder das sähen…« »Sie sind fort – alle drei«, unterbricht sie ihn. »Sie wollten nach El Paso und sagten, dass ich heute für sie kein Abendbrot zu machen brauche. Gewiss veranstalten sie eine Art Nachfeier, weil es gestern so schön war.« Nun kommt sie zu Ringo, und sie schafft es tatsächlich, dass er sie auf der Veranda in seine Arme nimmt und lange küsst. Als sie sich voneinander lösen, atmet sie mühsam und keucht: »Warum lasse ich mich eigentlich von dir küssen, du Strolch? Warum kann ich dir nicht böse sein, du Pferdedieb?« Sie deutet auf die offene Tür. »Drinnen habe ich noch den Kuchen, den ich für uns zum Ball mitnehmen wollte. Den musst du jetzt zur Strafe aufessen. Ich koche dir Kaffee. Und dann wirst du mir deine Hose geben. Ich glaube, dass ich noch ein Stück Cordstoff habe, das zu deiner Hose passt. Ich werde…« Er protestiert. Doch sie drängt ihn mit beiden Händen ins
Haus. Vielleicht hätte er sich das sonst nicht gefallen lassen, auch nicht von einem so reizvollen und lebensfrohen Mädchen wie Nell. Doch er fühlt sich sehr schuldbewusst. In den letzten Tagen hat er das Gefühl für Zeit völlig verloren, denn die vergangenen drei Tage und Nächte hat er gepokert. Bei der Santa-Cruz-Poststation geriet er in ein Pokerspiel. Zeitweilig war er reich, doch zum Schluss war er ärmer als zuvor. Er war unter einem Tisch aufgewacht und hatte sich daran erinnert, dass er in der Nacht eigentlich mit Nell Gatewood zum Ball wollte. Er war am späten Mittag losgeritten und hier am späten Nachmittag eingetroffen. Unterwegs hielt er eine Weile an, um sich den Flicken auf die Hose zu nähen. Irgendeiner von den Spaßvögeln in der Kneipe der Poststation hatte ihm – nachdem er als letzter Mann der Pokerrunde unter den Tisch gefallen war – ein Stück aus dem Hosenboden geschnitten. Er bekam vom Posthalter zwar heraus, wer es war, doch das nützte ihm wenig. Nun lässt er sich von Nell also schuldbewusst ins Haus und in die Küche drängen. Er findet, dass er einen starken Kaffee gut gebrauchen könnte, denn er ist immer noch sehr müde. Die paar Stunden, die er nach der länger als siebzig Stunden dauernden Pokerpartie unter dem Tisch geschlafen hat, waren gar nichts. Der Zwanzigmeilenritt von der Santa-Cruz-Station nach hier hat ihn zwar nüchtern, doch auch wieder müde gemacht. Er hockt sich an den Küchentisch, wartet auf den Kaffee und lauscht auf den Wasserfall von Worten, mit dem Nell ihn fortwährend überschüttet. Sie will mich betrunken reden, denkt er. Und mir wäre ein anständiges Steak lieber als ihr Kuchen. Doch ich will sie nicht
wütend machen. Sie kratzt mir sonst die Augen aus. Der Kaffee, den Nell dann bringt, ist stark und gut. Sie ist schon eine prächtige Frau, denkt er. Aber sie würde einen Mann wohl nur selten zu Wort kommen lassen. Sie würde ihn beherrschen und ihn jeden Tag mit Haut und Haaren fressen wollen wie eine Katze die Maus. Er seufzt bitter, und plötzlich schmeckt ihm der Kuchen nicht mehr. Er erhebt sich langsam und murmelt: »Vielen Dank für Speise und Trank! Aber jetzt verschwinde ich lieber. Nell, es hat keinen Sinn mit uns. Ich bin ein Satteltramp, der es im Leben wahrscheinlich nie zu etwas bringen wird und…« »… weil dich immer wieder der Teufel reitet«, sagt sie. »Weil du keinem Kartenspiel, keiner Wette und keinem wilden Spaß aus dem Weg gehen kannst, weil du gerne faul in der Sonne sitzt und die Daumen drehst. Und jetzt zieh endlich deine Hose aus, damit ich sie in Ordnung bringen kann. Geh ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa liegt eine Decke. Die kannst du dir umwickeln. Vorwärts, du gelbhaariger Indianer!« Er weiß nicht, ob sie wirklich zornig ist oder nur so tut. Aber in ihren Augen erkennt er ein Funkeln, wie er es noch niemals sah. Sie hat Haare auf den Zähnen und wird in dreißig Jahren ein Feuer speiender Drache sein, denkt er und nimmt sich vor, sie nie wieder zu küssen. Oha, er wittert plötzlich Gefahr. Sie könnte hundert Burschen haben – unter hundert Männern in diesem Land könnte sie wählen, denkt er. Aber ausgerechnet mich will sie. Meinen Skalp will sie! Wenn es nicht so reizvoll wäre, sie anzusehen und auch anzufassen… Er beschließt, noch einmal zu gehorchen, denn er ist völlig blank und besitzt keine andere Hose mehr. Es wäre wirklich gut, wenn er nicht länger mit dem grünen Flicken herumlaufen müsste. Er geht ins Wohnzimmer hinüber und entledigt sich der
Hose. Dabei muss er seine Stiefel ausziehen, weil er die Hose sonst nicht von den Beinen bekäme. Schnell wickelt er sich in die Decke. Und da kommt auch schon Nell. Sie nimmt die Hose mit zwei spitzen Fingern. »Leg dich ruhig hin«, sagt sie und hat einen ganz unschuldigen, harmlosen Ausdruck in den Augen. »Ruh dich aus, Ringo! Ich habe schon gehört, dass du in Santa Cruz drei Tage und drei Nächte gepokert hast und so sehr bei der Sache warst, dass du mich vergessen konntest. Ich habe es heute Vormittag schon gehört. Charly kam mit der Mexiko-Post hier vorbei. Du musst trotz des starken Kaffees sehr müde sein.« Nach diesen Worten verschwindet sie. Ringo Kid sitzt einige Minuten lang still auf dem Sofa und denkt nach. Ein Verdacht will in ihm aufsteigen. Doch er wischt ihn zur Seite, wie er es oft mit unliebsamen Gedanken tut. Er legt sich tatsächlich hin und schläft schon bald ein. Als er erwacht, ist es draußen dunkel. Die Lampe brennt. Nell rüttelt ihn an der Schulter und ruft ihm ins Ohr: »Aufwachen, Ringo! Aufwachen! Meine Brüder sind da. Sie stellen ihre Pferde in den Corral. Gleich sind sie hier! Lauf hinauf auf mein Zimmer! Hinauf mit dir, Ringo!« In ihrer Stimme ist das bittende Drängen eines verzweifelten Mädchens. Ringo Kid gehorcht. Während draußen vor der Tür die Stimmen der Gatewood-Brüder nach Nell rufen, geht er in seiner Unterhose und in Socken die schmale Treppe hinauf. Als er in Nells dunkles Zimmer gleitet, ist er plötzlich hellwach und begreift, dass er in der Falle sitzt. Er erstarrt vor Schreck. Das Biest, denkt er. Jetzt hat sie mich. Wenn ihre Brüder erst herausbekommen, dass ich in Unterhosen in ihrem Zimmer versteckt bin, dann werden sie mich entweder zu Brei klopfen oder als Schwager in diesem Haus willkommen heißen. Sie hat mich reingelegt, dieses grünäugige Biest. Seine bitteren Gedanken werden von den Ereignissen
unterbrochen. Er hört unten einen der Gatewood-Brüder hereinkommen und mit tiefer Bassstimme fragen: »Nell, ist das Ringo Kids Pferd dort draußen hinter dem Haus?« Sie gibt nicht sogleich eine Antwort. Ringo Kid kann sich gut vorstellen, wie sie jetzt die Verlegene und Überraschte spielt. Und er denkt: Warum hat sie mein Pferd hinter das Haus gebracht? Das muss doch so aussehen, als hätte ich mich zu ihr geschlichen und… »Ja, es ist Ringo Kid«, hört er Nell sagen. »Ich liebe ihn, Bill, ich habe ihn sehr gern. Ihr werdet ihm doch nichts tun, nicht wahr? Er hat versprochen mich zu heiraten. Was ist denn falsch daran, dass er in meinem Zimmer ist und ich jetzt seine Hose flicke? Was ist falsch daran, Bruder Bill?« Sie fragt es ganz unschuldig. Aber in ihrer Stimme ist wieder das Schnurren einer Katze. Ringo Kid, der die Gatewood-Brüder gründlich kennt, kann sich vorstellen, wie Bill dort unten am Fuß der Treppe verharrt. Er hat die drei Gatewood-Brüder einmal mit einem Grizzly, einem Kampfstier und einem Wildhengst verglichen. Und Bill ist der Grizzly. Er brummt böse und grollt: »Was höre ich da? Dieser windige Satteltramp ist oben in deiner Kammer? Und die Ehe hat er dir versprochen? Oho, Schwester, konntest du dein Herz nicht an einen Burschen verlieren, der zu uns gepasst hätte? Ringo Kid ist ein Rinderdieb, ein Revolverheld, ein Spieler – überall verdreht er den Frauen die Köpfe, und nicht nur den unverheirateten. Ausgerechnet diese Strolch lachst du dir an, Honey Nell? Na, da will ich mal zu ihm gehen und mich mit ihm unterhalten, während du seine Hose flickst. Ich werde ihm klar machen, dass er von nun an so zu leben hat, als wäre er der vierte männliche Gatewood. Oho, wir werden ihn schon so hinbekommen, diesen Windhund, dass er uns Freude macht! Nell, wie gut, dass du drei große Brüder hast! Wie gut!« Die Treppe beginnt unter seinen zweihundertzwanzig Pfund
zu ächzen, und es sind zweihundertzwanzig Pfund Knochen und Muskeln, nicht ein einziges Gramm überflüssiges Fett. Dieser Bär Bill Gatewood ist knochentrocken wie ein erstklassiger Preiskämpfer. Für Ringo Kid ist klar, was kommen würde, wenn er in dieser Falle bliebe. Die drei Gatewoods lieben ihre Schwester über alles. Sie würden ihn einbrechen, zerfetzen und neu zusammensetzen und wer weiß was tun, bis er ihren Vorstellungen entspräche und ihrer Nell aus der Hand fräße. Und Nell weiß es. Ringo Kid zieht eine feige und seinen Stolz empfindlich treffende Flucht vor. Das Fenster in Nells Kammer ist nicht sehr groß. Ringo Kid hat einige Mühe, seine geschmeidige Gestalt hindurchzuwinden. Er schafft es im allerletzten Moment, Bill Gatewoods Zugriff zu entkommen. Dann landet er unten weich wie ein Wildkater. Über ihm brüllt Bill Gatewood durch das Fenster in die schwarze Nacht: »Er will fort! Haltet ihn auf, Brüder! Verlegt ihm den Weg zum Pferd. Bei der Ehre unserer Schwester, haltet ihn auf!« Sein Gebrüll ist so laut, dass man es überall auf der Ranch hören kann. Aber Ringo Kid hat jetzt ein wenig Glück. Jim Gatewood ist inzwischen ebenfalls schon ins Haus getreten. Nur Buster befindet sich noch draußen im Hof. Buster schafft es noch, rechtzeitig bei Ringo Kids Pferd anzukommen. Er steht groß und knochig vor dem Pinto und sagt kehlig, wobei seine großen Pferdezähne im Sternenlicht blinken: »Du wirst uns doch wohl nicht so unhöflich verlassen wollen, Amigo? Bleib nur, bis Bill gegen dein Verschwinden nichts mehr einzuwenden hat.« »Das geht nicht«, erwidert Ringo Kid und tritt dicht an ihn heran. Buster begreift, warum Ringo ihm so nahe auf den Pelz
rückt, und er will ihm zuvorkommen. Doch Ringo duckt sich vor Busters Rechter, die ihm gewiss den Kopf von den Schultern gestoßen hätte, mit einer blitzschnellen Bewegung ab, blockt mit der Rechten Busters linken Arm und trifft mit der Linken auf die Leber. Ringo Kid wiegt etwa hundertsiebzig Pfund, und er ist unheimlich schnell. Der große, knochige, harte und zähe Buster seufzt schmerzvoll und fällt auf die Knie. Er kann nicht anders, denn er hat das Gefühl, von einem Maultier unter die Rippen getreten worden zu sein. Den Schlag eines Durchschnittsmannes hätte er ausgehalten. Ringo Kid mag zwar ein Herumtreiber sein, gegen einen harten Burschen konnte er aber schon immer bestehen. Er gleitet um Buster herum und wirft sich auf sein Pferd, nachdem er die Zügel mit einem einzigen Griff gelöst hat. Er entkommt in der Nacht – ein Mann in Socken, Unterhosen, ohne Colt und Hut, ein Mann, in dem das Feuer der Scham frisst und der genau weiß, wie hartnäckig die Gatewood-Brüder nun hinter ihm her sein werden. Ihrer Meinung nach müssen sie die Ehre der Schwester wiederherstellen. »Das Biest! Dieses gemeine Biest! Sie ist schön wie ein Engel und so falsch wie eine Schlange! Sie hat mich von Anfang an reinlegen wollen, weil ich sie zum Ball versetzt habe und sie merkte, dass sie mich nicht so einfach kriegen konnte. Sie will alles haben, was sie nicht so leicht bekommen kann!« Ringo Kid brüllt diese Worte wütend in die Nacht. Aber während er reitet, verraucht sein Zorn. Plötzlich beginnt er schallend zu lachen. Dieses Gelächter übertönt den trommelnden Hufschlag seines Pferdes, das sich noch mehr streckt, weil es weiß, dass Ringo Kid lachend noch sehr viel wilder ist als sonst.
Ringo Kids Lachen ist irgendwie eine Anerkennung für Nell Gatewoods Racheversuch. Er begreift, wie sehr sie sich beleidigt und getroffen fühlte, als sie erfuhr, dass er wegen einer Pokerpartie vergaß, sie zum Ball zu führen. Ringo Kid ist wahrscheinlich im Umkreis von fünfzig Meilen der einzige Mann, mit dem ihr so etwas passieren konnte. In ihrem Zorn wusste sie sich wohl nicht anders zu helfen. Ihre Brüder hätten ihn klein gemacht, zerbrochen und in einen Zustand versetzt, in dem er sogar um ein Meerschweinchen angehalten hätte. Aber er konnte entkommen. Er ist frei! Deshalb lacht er noch einmal wild und unverkennbar erleichtert. Er hat seit langer Zeit nicht in einer so ausweglosen Falle gesteckt. Aber dann wird er ernst. Er glaubt, dass die drei Gatewoods so schnell nicht aufgeben. Sie sind – wenn es um die Verfolgung eines Mannes geht – nicht weniger gefährlich als Apachen. Wie soll er ihnen entkommen? Und wo bekommt er eine Hose, ein Paar Stiefel und einen Colt her? Ringo Kid beschließt, nach El Paso zu reiten. Das ist ein weiter Weg, den er jedoch noch vor Anbruch des Tages hinter sich bringen kann. Auf diesem Ritt kann er gewiss auch die Gatewoods abschütteln, denn auf eine lange Distanz sind diese schwergewichtigen Burschen ihm und seinem schnellen, zähen Pinto unterlegen. *** Er schafft es bis etwa zwei Stunden nach Mitternacht, und das ist eine prächtige Leistung für einen Mann ohne Hosen und Stiefel. Als er vor dem Silberpeso-Saloon die lange Reihe der angebundenen Sattelpferde betrachtet, in der Hoffnung, das
Pferd eines Freundes oder guten Bekannten zu entdecken, kommt schräg hinter ihm ein Mann über die Fahrbahn, ein geschmeidig durch den Staub schreitender Mann, der in seiner Rechten eine Schrotflinte mit verkürzten Läufen trägt. Dieser Mann sah Ringo Kid, während er selbst in einer dunklen Hausnische verharrte, durch den Lichtschein des Las Palomas Hotels reiten, und er erkannte scharfäugig, dass Ringo nur spärlich bekleidet war. Er fragt nun, hinter Ringo verhaltend: »Hast du bei der Pokerpartie in der Santa-Cruz-Station auch die Hose verloren? Oder hat ein gehörnter Ehemann dich aus seinem Bett gejagt?« Ringo wendet sich um und lehnt sich an sein schweißnasses Pferd. »In diesem verdammten Land spricht sich alles schnell herum«, knurrt er. »Und so wirst du bestimmt bald erfahren, dass die Gatewoods hinter mir her sind. Aber ich schwöre dir, Marshal, dass ich – ach, was geht es dich an?« »Nichts«, sagt der Marshal. »Was außerhalb der Stadtgrenze passiert, geht mich nichts an, denn ich bin ja nur ein Stadtmarshal, kein Sheriff und kein Marshal der Bundesregierung. Trotzdem werde ich nicht dulden, dass du hier in El Paso eine neue Mode einführst.« »Dann gib mir eine Hose«, sagt Ringo Kid. »Du könntest aber auch für mich in den Saloon gehen und Harry Carmikel herausholen. Sein Pferd steht dort. Er ist mir noch etwas Geld schuldig und…« »Carmikel habe ich bei mir in der Zelle«, unterbricht ihn der Marshal. »Als sie ihm ohne Geld im Saloon nichts mehr geben wollten, begann er Streit mit den Rauswerfern. Aber er war schon zu betrunken, um es richtig mit ihnen aufzunehmen. Von ihm bekommst du bestimmt keine Hose.« Der Marshal grinst so, dass seine Zähne im Lampenlicht blitzen. Er ist ein klotziger Mann, zuverlässig und beharrlich. »Suchst du einen Job?«, fragt er plötzlich. »Mir fällt gerade
ein, wie du zu einer Hose kommen könntest.« »Was muss ich tun?«, brummt Ringo Kid misstrauisch. »Du zählst nicht gerade zu meinen Freunden, Kern Dillon. Wenn du mir einen Job anbietest, dann ist das ein Job, den sonst niemand haben will.« »Richtig«, grinst der Marshal. »Doch wenn jemand keine Hose mehr auf dem Hintern hat und überdies noch von den drei Gatewoodriesen verfolgt wird, dann hat er ja wohl auch keine große Auswahl mehr – oder?« Er winkt mit dem Zeigefinger und sagt: »Komm mit, Ringo! Ich mache dich mit einem Gentleman bekannt, der dir – wenn du ihm trotz der jämmerlichen Unterhosen gefällst – vielleicht einen Job und einen Vorschuss geben wird.« Er wendet sich ab und geht voraus. Ringo Kid folgt ihm und zieht sein müdes Pferd hinter sich her. Der knöcheltiefe Straßenstaub lässt ihn daran denken, dass alte, löchrige Socken doch nicht die richtige Fußbekleidung für einen Gentleman sind. Sie halten vor dem Stadtgefängnis. Ringo bindet sein Pferd beim Tränketrog an. Dann folgt er dem Marshal ins Office. In der Ecke – dicht neben dem Durchgang zum Zellenraum – schläft ein Fremder. »Wayne Adams, wachen Sie auf und sehen Sie sich den Hombre mal an«, sagt Kern Dillon halblaut. »Der wäre vielleicht richtig für Sie.« Der Mann hört auf zu schnarchen, richtet sich auf und hockt dann müde auf der Bettkante. Es ist Wayne Adams, der für diesen Teil des Territoriums zuständige US Deputy Marshal. Er ist älter als Ringo, hager, fast weißblond, mit hellen Augen. Von ihm geht jene kühle Ruhe aus, die man bei Männern findet, die sich jeder Situation gewachsen fühlen. Er betrachtet Ringo Kid und murmelt: »Er hat einen etwas eigenartigen Stil, sich zu kleiden. Weiß er eigentlich, wofür ich
ihn brauche? Und können Sie ihn wirklich mit gutem Gewissen empfehlen?« Kern Dillon grinst. »Ihm steht das Wasser bis unter die Nasenlöcher«, brummt er. »Dieser Sattelzigeuner nimmt jeden Job an, der ihm zu einer Hose verhilft. Nein, er weiß noch nicht, dass er helfen soll, Kilroy Malacko nach Santa Fe zu bringen. Aber jetzt weiß er es, und empfehlen kann ich ihn, so weit man einen Mann überhaupt empfehlen kann. Wissen Sie, Wayne, er verliert lieber seine Hose, als dass er beim Poker betrügt – womit ich nicht gesagt haben möchte, dass er auch diesmal seine Hose beim Poker verlor. Aber jetzt ganz im Ernst, Wayne Adams. Sie brauchen einen Mann, der die verborgenen Pfade kennt. Und dieser Rinder- und Pferdedieb…« »Meinst du mich, Kern Dillon?«, fragt Ringo Kid gefährlich sanft. Dann aber vergisst er seine Frage, denn ihm fällt ein, dass er eben den Namen Kilroy Malacko hörte. »Was ist das?«, fragt er schärfer. »Habe ich Kilroy Malacko verstanden, und ist damit jener Malacko gemeint, auf den die Bank von Santa Fe fünftausend Dollar Belohnung ausgesetzt hat, weil er vor zwei Wochen den Geldtransport überfiel und mehr als hunderttausend Dollar…?« »Der ist es«, unterbricht ihn der Town Marshal. »Wie heißt er?«, fragt nun Adams. »Ringo Kid nennt man ihn«, erwidert Dillon. »Aber ich glaube, er hat auch einen richtigen Namen. Wie war der nur…? « »Sheldon«, sagt Ringo, »ich heiße Columbus Sheldon.« Da grinsen sie ihn an. »Das ist fast so gut wie sein Anblick in den Unterhosen«, brummt Wayne Adams. »Wenn Sie über meinen Namen lachen, dann gebe ich Ihnen was aufs Maul, und wenn Sie der Boss aller US Marshals
sind«, sagt Ringo trocken. Da wird Wayne Adams ernst. Auch Kern Dillon grinst nicht mehr. Sie betrachten Ringo Kid Columbus Sheldon kritisch und prüfend. »Wie war das?«, fragt der Marshal. »Er verliert beim Poker lieber seine Hose, als dass er betrügt?« »So ist es«, sagt Kern Dillon der Town Marshal. »Man kann diesem Sattelzigeuner eine Menge nachsagen, doch nicht, dass er einen Sattelgefährten im Stich ließ oder seine Zusage nicht hielt. In dieser Beziehung ist er astrein. Dass er keinem Kampf aus dem Weg geht, kann ja für euer Vorhaben nur von Nutzen sein – oder?« »Ja.« Der US Deputy nickt. »Ich glaube, dass ich ihn nehme. Ich will es riskieren, mich auf ihn zu verlassen. Vielleicht ist es gar kein Risiko – oder?« Beim letzten Wort blickt er Ringo Kid an. Dieser grinst und macht eine unmissverständliche Handbewegung zum Kopf. Er tippt mit seinem Zeigefinger gegen seine Stirn und antwortet: »Da drinnen piept nichts, tickt nichts und hämmert auch kein Specht. Da drinnen ist alles vollkommen in Ordnung. Wieso kommt ihr eigentlich auf die Idee, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe?« Dann schüttelt er mitleidig den Kopf. »Bin ich denn verrückt? Es dreht sich um Kilroy Malacko – nicht um irgendeinen Malacko, sondern um Kilroy Malacko. Er soll hunderttausend Dollar erbeutet haben. Wenn es sich herumspricht, dass man ihn eingefangen hat und mit ihm unterwegs nach Santa Fe ist, dann werden sich nicht nur seine Freunde um seine Befreiung bemühen, sondern auch noch viele Hunderttausend-Dollar-Interessenten. Oder hatte er seine Beute noch bei sich, als Sie ihn fingen, Marshal? Wie konnten Sie ihn überhaupt in Ihre Hände bekommen? Malacko ist kein Karnickel.«
»Gewiss nicht, ganz und gar nicht«, erwidert US Deputy Wayne Adams. »Der ist kein Kaninchen, sondern ein schwarzer, narbiger Wolf. Er raubte auch bedeutend mehr als hunderttausend Dollar. Diese Summe hatte die Bank von Santa Fe auf die Reise geschickt. Aber auch die US-Regierung hatte siebenundzwanzigtausend Dollar in der Postkutsche. Sie waren für den Indianeragenten in Taos bestimmt. Kilroy Malacko erbeutete einhundertsiebenundzwanzigtausend Dollar. Er schoss den bewaffneten Begleitmann vom Bock und verwundete den Fahrer und einen Fahrgast. Als wir ihn vor drei Tagen endlich stellten, war noch ein Kollege von mir dabei. Jetzt ist er tot. Ich aber brauche einen zweiten Mann, der für mich wacht, wenn ich schlafe, und der mir den Rücken freihält oder auf den Gefangenen achtet, wenn ich kämpfen muss. Ich werde in Santa Fe zweihundert Dollar, zuzüglich zehn Dollar für jeden Tag, den wir unterwegs sind, zahlen. Wollen Sie?« »He«, sagt Ringo Kid, »die Bank soll fünftausend Dollar Belohnung ausgesetzt haben, nicht wahr? Da machen Sie aber ein ganz schönes Geschäft, Marshal.« Wayne Adams schüttelt grimmig den Kopf. »Mein getöteter Kollege hinterlässt Frau und Kind«, sagt er gepresst, so, als müsste er sich dazu zwingen. »Ich will von der Belohnung keinen Cent.« Ringo Kid sagt eine Weile nichts, sondern blickt den US Deputy nur an. »Und wo ist die Beute?«, fragt er seltsam sanft. »Irgendwo in der Nähe des Ortes, wo der Geldtransport überfallen wurde – auf keinen Fall jedoch weiter als einen Tagesritt von dieser Stelle entfernt«, erwidert US Deputy Wayne Adams. »Es sind zwei Säcke mit Hartgeld und eine Kiste mit Banknoten. Malacko konnte das nicht mitnehmen. Es hätte ihn auf der Flucht zu sehr behindert. Er bekam sehr schnell heraus, dass er verfolgt wurde, denn er konnte von einigen Stellen aus das Rio Grande Valley meilenweit
überblicken und hatte reichlich Zeit, die Beute zu verstecken. Nun, wie ist es, Ringo? Oder soll ich Columbus oder Mr Sheldon sagen?« »Ach, an Ringo bin ich seit meiner Kindheit gewöhnt«, murmelt Ringo Kid und reibt sich mit dem Zeigefinger die Nase. »Du kämst schnell zu einer Hose, zu einem Paar Stiefel und einem Colt«, sagt Kern Dillon. »Wayne Adams wird dir einen Vorschuss geben.« Ringo blickt ihn an. »Du kommst mir vor wie meine Tante Rosa«, sagt er zu ihm. »Die lockte mich auch immer mit solch süßen Worten, um mir dann eine bittere Medizin zu geben.« Er wendet sich an Wayne Adams. »Werde ich vereidigt, und stehe ich dann in den Diensten der Bundesregierung?« »Das können wir ganz nach Belieben machen«, erwidert der US Marshal. »Ich bin berechtigt, Hilfskräfte anzuwerben. Es bleibt mir aber auch überlassen, auf eigene Rechnung von Privatleuten Hilfeleistungen in Anspruch zu nehmen. Wie wollen Sie es haben, Ringo?« »Oh, da hätte ich etwas für ihn«, sagt der Town Marshal. »Ich kann den Colt für zwanzig Dollar abgeben. Denn so viel ist oder vielmehr war sein letzter Besitzer dieser Stadt schuldig. Es ist Bronco Jeffreys Kanone. Willst du sie?« »Ja«, sagt Ringo. »Und dann musst du mir eine Hose und ein Paar Stiefel kaufen, Kern. Dir macht der Storehalter in der dritten Morgenstunde gewiss auf – mir nicht. Oder?« Als der Town Marshal wenig später aus seinem Office tritt, warten draußen die Gatewood-Brüder – drei knurrende, böse und drohend wirkende Riesen, die eben auf ihren erschöpften Pferden die Stadt erreichten und Ringo Kids Pinto vor dem Marshal‹s Office sahen. »Kern, ist dieser windige Honigsauger bei dir drinnen? Hat
er sich bei dir in Sicherheit gebracht, sich in deinen Schutz begeben?«, fragt Bill Gatewood mit grollendem Bass. Kern Dillon hält inne und schiebt seine Hände flach hinter den Hosenbund. »Ihr habt Pech«, sagt er. »Ringo Kid ist soeben von US Deputy Wayne zum Gehilfen vereidigt worden. Er befindet sich ab sofort im Dienst und ist dabei, einen wichtigen Auftrag der Bundesregierung zu erfüllen. Wer ihm jetzt irgendwelche Schwierigkeiten bereitet, die ihn zum Schaden der Bundesregierung von der Erfüllung seines Auftrages abhalten könnten, macht sich strafbar. Jungs, er ist euch glatt entwischt wie ein Katzenfisch. Oder könnt ihr ihn wegen eines Vergehens gegen das Gesetz anklagen?« »Neineinein, gegen das Gesetz ninicht«, stottert Bill Gatewood. »Er hahahat nunur unsere Schwe…« »Halt dein Maul, Bill!«, mischt sich Jim Gatewood ein, dessen Verstand schneller arbeitet. »Es geht niemanden etwas an, was dieser Windbeutel getan hat. Wir wollen das lieber nicht an die große Glocke hängen.« »Sicher, es könnte dem Ruf eurer Schwester schaden«, sagt Kern Dillon, und die Gatewood-Brüder stöhnen, als hätte er ihnen mit aller Kraft auf die Zehen getreten. »Lasst Ringo zufrieden!«, warnt er sie noch einmal. Dann geht er, um für Ringo Kid einzukaufen. Als er nach einer Weile vom Store zurückkommt, sind die drei Gatewoods immer noch da. Sie sind auch etwas später noch da, als der Town Marshal noch einmal fortgeht, um aus dem Mietstall die beiden Pferde zu holen. Eines gehört Wayne Adams. Das andere ist Kilroy Malackos Eigentum. Die drei Gatewoods sehen schweigend zu, wie der Town Marshal die Pferde neben Ringo Kids Schecken anbindet. Es ist in der vierten Morgenstunde, als sie Ringo Kid heraustreten sehen – in einer neuen Hose und neuen Stiefeln,
mit einem Colt an der Seite und einem alten Hut, den er von Kern Dillon geschenkt bekam. Auf Ringo Kids Hemdtasche blinkt ein Stern. »Jungs«, sagt er, »ich bin im Dienst der Bundesregierung. Wenn ihr mich angreift, dann ist es nicht anders, als wenn ihr den Präsidenten unserer Nation angreift. Vergesst das nicht. Und jetzt macht euch fort! Dort hinüber auf die andere Straßenseite. Wir bringen einen Gefangenen heraus. Verschwindet!« Sie stehen wie versteinert da – böse und drohend. »Er ist wie ein glitschiger Aal«, sagt Buster Gatewood schwer. »Er turnt auf allen rettenden Bäumen herum wie ein Affe«, grollt Jim. »Aber irgendwann bricht er sich das Genick«, brummt Bill mit seinem Bass. »Vielleicht sollten wir auf seinen Blechstern pfeifen und ihn…« Er verstummt, denn nun kommt auch der Town Marshal heraus. »Also los, Gatewoods!«, befiehlt Kern Dillon. »Geht weg hier!« Sie gehorchen und weichen langsam bis zur Mitte der staubigen Fahrbahn zurück. Für einen Moment vergessen sie ihren Zorn auf Ringo Kid. Sie werden neugierig. Lange brauchen sie nicht zu warten. Wayne Adams bringt seinen mit Handschellen gefesselten Gefangenen heraus. Die drei Gatewoods kennen den US Deputy Marshal. Er ist einer der wenigen Männer auf dieser Erde, die sie respektieren. Dann erkennt Buster Gatewood den Gefangenen, »Brüder, das ist Kilroy Malacko«, flüstert er. »Versteht ihr? Malacko, von dem erzählt wird, dass er sich hunderttausend Dollar…« Sein Flüstern wird noch leiser.
Inzwischen helfen Wayne Adams und Ringo Kid dem Gefangenen in den Sattel. Sie heben ihn hinauf und binden ihm die Beine unter dem Pferdebauch so zusammen, dass er sich nicht vom Pferd fallen lassen kann. Als Ringo Kid sich aufrichtet und hochblickt, ist es so hell geworden, dass er in Kilroy Malackos graue Augen sehen kann. Ringo erkennt ein Funkeln in den Augen des Banditen und einen fast amüsierten Ausdruck in dem verwegenen Gesicht mit den dunklen, tiefen Linien. Kilroy Malacko lacht leise und sagt: »Wetten, dass ihr es nicht schafft, mich bis nach Santa Fe zu bringen? Wetten wir?« »Warum nicht?« Ringo nickt. »Ich habe mich noch nie im Leben vor einer Wette gedrückt. Ich setze mein Leben gegen einen deiner Hosenknöpfe, dass zumindest ich dich nach Santa Fe bringe. Zufrieden mit dieser Wette, Mister?« Malacko erwidert nichts. Er sitzt – obwohl gefesselt – lässig auf dem Pferd und grinst. Dabei wird das Funkeln in seinen grauen Augen stärker, und mit einem Mal wirken diese Augen gelblich. Wayne Adams und Ringo sitzen ebenfalls auf. »Nimm die Zügel seines Pferdes«, sagt Wayne Adams. »Ihr reitet voraus. Ich folge euch mit etwas Abstand. Ringo, du kennst doch sicher viele verborgene Pfade abseits der Poststraße?« »Ja«, sagt Ringo Kid und nimmt die Zügelenden von Malackos Pferd in seine Rechte. Dann reitet er an und nickt den drei schweigsamen Gatewoods zu. »Grüßt Nell von mir!«, ruft er. »Sie ist auf allen Gebieten ein sehr tüchtiges Mädchen. Passt nur gut auf euer Kleinod auf, Jungs!« Es sieht so aus, als wollten sie sich auf ihn stürzen und ihn vom Pferd zerren. Doch sie beherrschen sich.
Nachdenklich blicken sie den drei Reitern nach, und der Town Marshal Kern Dillon beobachtet sie. Bill Gatewood wendet sich an ihn. »Dieser Kilroy Malacko soll hunderttausend Dollar erbeutet haben«, murmelt er. »Wo hat er sie versteckt?« Kern Dillon grinst nur auf diese Frage. Erst nach einer Weile sagt er gedehnt: »Ich fürchte, dass Malacko dieses Versteck selbst unter dem Galgen nicht verraten würde.« Dann geht er ins Office zurück. Die drei Gatewoods stehen noch eine Weile herum. »Hunderttausend Dollar…«, sagt Buster langsam und schwer. *** Sie müssen nach Norden reiten, immer durch das Rio Grande Valley nach Norden. Ringo Kid, der all die vielen Seitenwege und verborgenen Pfade durch die Hügel kennt, bleibt nicht auf der Poststraße. So reiten sie Meile um Meile dahin. Stunde um Stunde, die Sonne zur Rechten, dann über sich und später zur Linken. Marshal Wayne Adams hält sich stets ein Stück hinter den beiden anderen Reitern, um nicht mit ihnen zusammen in einen Hinterhalt zu geraten. Er behält so auch stets einen guten Überblick. Ringo Kid und Kilroy Malacko können sich unterhalten, ohne von Wayne Adams gehört zu werden, denn der Deputy kommt nie näher als bis auf dreißig Yards an sie heran. Aber es vergehen einige Stunden, ehe Kilroy Malacko mit seiner etwas heiseren Stimme fragt: »Warum reitest du für das Gesetz? Du bist doch Ringo Kid, nicht wahr? Ich hörte schon von dir. Du hast damals den Wettritt von Socorro nach Albuquerque gegen die besten Reiter des ganzen Südwestens gewonnen, nicht wahr, Amigo? Und in Carrizozo bekamst du
Verdruss mit den Rosswell-Brüdern. Du musstest sie erschießen, weil sie dich eingekeilt hatten und schon mit den Revolvern auf dich zielten. Du hast auch noch einige andere Dinge vollbracht, die nur ein tollkühner Bursche vollbringen konnte. Doch nie warst du ein Knecht des Gesetzes. Im Gegenteil, es gab mal einige Rancher im Lincoln County, die beschuldigten dich des Rinderdiebstahls. Warum reitest du also jetzt für das Gesetz?« Er sieht ihn bei dieser Frage scharfäugig an. Ringo Kid grinst. »Ich brauchte dringend eine Hose«, sagt er. »Ich brauchte sie so dringend, dass ich das erste Angebot annehmen musste. Außerdem waren die drei Gatewoods wegen ihrer Schwester hinter mir her. Ich hätte mit ihnen kämpfen müssen. Aber dieser Stern bewahrte mich davor.« Er tippt bei seinen Worten mit dem Daumen gegen den Blechstern an seiner Brust. »Ich bekam eine neue Hose und schaffte mir zugleich die Gatewoods vom Hals. Deshalb also.« Und nach einer Weile fügt er hinzu: »Malacko, ich habe nichts gegen dich persönlich.« »Na schön«, erwidert Malacko und grinst hart und kalt. »Jetzt hast du doch eine Hose. Und den drei Gatewoods bist du anscheinend auch entkommen. Was willst du also noch mit dem Stern? Wirf ihn fort und hilf mir. Das wird das große Geschäft für dich. Halt, du sollst dich nicht sofort entscheiden. Ich will, dass du lange und gründlich nachdenkst. Wir sind ja noch einige Tage unterwegs. Der Weg nach Santa Fe ist weit, sehr weit. Der Marshal traut sich nicht, mich mit der Überlandpost zu befördern. Er ahnt vielleicht, dass ihn auf jeder Pferdewechselstation eine Überraschung erwarten könnte.« Er macht eine kleine Pause und leckt sich über die trockenen Lippen.
»Ich habe eine Menge Freunde im Land«, fährt er dann fort. »Wir sollen auf Schleichwegen reiten. Aber es ist ein verdammt weiter Weg, Amigo. Mesilla, Las Cruces, Las Palomas – und dann immer weiter durch das Rio Grande Valley oder durch die Berge nach Socorro. Wie weit es von Socorro nach Albuquerque ist, weißt du ja selbst. Und dann kommt der lange Weg von Albuquerque zu dem alten Pueblo Santa Fe. Mann, das schafft ihr nie mit mir – nie! Im ganzen Land wird schon bekannt sein, dass ich die Beute nicht bei mir, sondern irgendwo versteckt habe. All die wilden Jungs werden sich darum reißen, mir zu helfen, um dann von mir reich belohnt zu werden. Aber du bist allen voraus! Du hast die allererste Chance. Ich gebe dir zehntausend Dollar! Heute Abend im Camp werde ich dich noch einmal fragen. Bis dahin musst du dich entschieden haben, Hombre.« Ringo Kid sagt nichts. Die Stunden vergehen. Am frühen Mittag erreichen sie endlich die Yaqui Springs, lassen die Tiere saufen, erfrischen sich und reiten noch eine halbe Meile weiter, denn es ist in diesem Land gefährlich, an einer Quelle zu rasten. Von Mexiko kommen oftmals Apachenbanden herüber. Auch brechen fortwährend Apachen aus den Reservaten aus, die sich besonders solche Wasserstellen für Überfälle aussuchen und dort Hinterhalte legen. Außerdem muss damit gerechnet werden, dass sich Kilroy Malackos Freunde und alle anderen, die hinter der Beute her sind, für die Wasserstellen interessieren, zu denen der Marshal mit seinem Gefangenen kommen muss. Zwischen Felsen, die wie eine versteinerte Elefantenherde anmuten, beziehen die drei Reiter ein Camp, denn die Pferde sind erschöpft. Die Männer versorgen ihre Tiere. Der Town Marshal Kern Dillon hatte dafür gesorgt, dass man ihnen einen Sack Hafer
und Mais mitgab. Später stärken sich die Männer mit kaltem Proviant. Sie sprechen nicht viel. Ringo Kid, der in der vergangenen Nacht keinen Schlaf bekommen hat, legt sich zuerst für zwei Stunden hin. Auch Kilroy Malacko schläft. Er schläft auch noch, als Ringo die Wache übernimmt. Doch nach einer weiteren Stunde erwacht er, gähnt herzhaft – und es sieht aus, als zeige ein Schwarzwolf seinen blitzenden Fang. Dann streckt er seine mit Handschellen gefesselten Arme über den Kopf, um sich zu recken und zu dehnen. Dabei sieht er Ringo Kid schweigsam an. Ringo weiß, dass Malacko jetzt die Antwort haben möchte. »Zehntausend Dollar«, sagt Ringo, »sind nicht genug, wenn man so in der Klemme sitzt wie du, Malacko, und irgendwo fast hundertdreißigtausend von diesen Böcken versteckt hat. Zehntausend Dollar sind kein Preis für die Ehre eines Gentleman. Weißt du, Amigo, ich habe einen Eid auf das Gesetz geschworen. Glaubst du, dass ich für zehntausend Dollar einen Eid breche?« Malacko sieht ihn schmaläugig an. Sein dunkles, narbiges Gesicht ist ausdruckslos. Schließlich nickt er leicht und sagt: »Nun, wie hoch ist denn dein Preis, Ringo Kid – wie hoch?« »Das hat noch Zeit«, erwidert Ringo. »Oder irre ich mich, wenn ich annehme, dass wir uns mit jeder Meile, die wir nach Norden reiten, dem Versteck deiner Beute nähern? Du brauchst mir nur zu sagen, wann wir diesem Versteck ganz nahe sind. Dann werde ich dir meinen Preis nennen, und du kannst annehmen oder ablehnen.« Kilroy Malackos Augen werden noch schmaler. »Du bist ja noch viel gerissener, als ich glaubte«, murmelt er fast tonlos. »Du willst mich weich bekommen, zermürben. Ich soll mir Sorgen machen und Angst haben. Umso höher würde dann mein Angebot sein, denkst du.«
»Dein Angebot…«, grinst Ringo Kid. »Hey, das Angebot wird von mir allein kommen. Du kannst es nur annehmen oder ablehnen. Hast du immer noch nicht begriffen, dass du verdammt froh sein musst, wenn du ohne einen einzigen Dollar deinen Hals retten kannst? Schlag dir endlich aus dem Kopf, mich für einige Tausender kaufen zu können.« Da grinst Kilroy Malacko. »Aha, so einer bist du also«, sagt er. »Du möchtest alles oder nichts! Dieses Spiel kenne ich. Pass auf, Ringo Kid, du wirst nichts bekommen. Ich werde dich nie wieder darum bitten. Ich verlasse mich jetzt auf meine Freunde und die vielen anderen Jungs, die hinter dem Geld her sind.« Ringo blickt ihn an und nickt. »Na schön«, sagt er. »Dann wollen wir mal abwarten. Aber verlass dich darauf, dass ich es immer und zu jeder Zeit schaffen werde, dich in Santa Fe abzuliefern.« Nach diesen Worten schweigen sie, denn es gibt nichts mehr zu sagen. Am frühen Abend reiten sie nach einer nochmaligen Stärkung weiter. *** Sie reiten die ganze Nacht. Gegen Morgen führt Ringo Kid sie auf einen weit ins Rio Grande Valley vorspringenden, flachen Hügel, von dem aus sie einen weiten Blick flussaufwärts nach Norden, flussabwärts nach Süden und quer über den Strom nach Westen haben. Auf diesem Hügel hier gibt es kein Wasser. Männer und Pferde müssen sich auf das wenige beschränken, das die Männer in den Flaschen mit sich führen. Kilroy grinst beim Frühstück. »Ihr habt wohl schon Angst, euch einer Wasserstelle zu nähern? Aber lange könnt ihr das nicht aushalten. Und hinunter
zum Fluss wagt ihr euch auch nicht. Dort unten kann man euch meilenweit sehen.« Ringo Kid nickt. »Bis zum Fluss hinunter sind es fast vier Meilen«, sagt er. »Wir müssten also acht Meilen ohne Deckung reiten. Da dursten wir lieber etwas. In der Nacht werden wir irgendwo auf Wasser stoßen. Vor uns gibt es ein paar kleine Creeks. Alle werden sie ja nicht ausgetrocknet sein. Wolltest du ein Bad nehmen, Malacko?« »Das wäre nicht schlecht«, erwidert der Bandit. »Ich glaube, dass ich im Gefängnis von El Paso ein paar Flöhe an den Balg bekommen habe. Vielleicht würden sie – wenn ich erst gebadet hätte – zu euch überspringen. Und ich wünsche euch eine Million Flöhe und zu kurze Arme.« Nach dem Frühstück übernimmt Ringo wieder die erste Wache. Er sucht sich auf einer vorspringenden Felsnase einen geschützten Platz. Im Schatten sitzend, hat er einen weiten Rundblick. Aber Wayne Adams legt sich noch nicht zur Ruhe. Er kommt erst zu Ringo, hockt sich zu ihm und dreht sich eine Zigarette. Dann bietet er Ringo den Tabaksbeutel an – es ist eine Geste der Kameradschaft. Ringo bedient sich, und als er über das Blättchen leckt, sieht er geradewegs in den festen Blick des Marshals hinein. Er hält diesem Blick stand, obwohl er dabei am Daumennagel ein Zündholz anschnippt und die Zigarette anzündet. »Was möchtest du herausbekommen, Wayne Adams?«, fragt er schließlich. Der US Deputy zuckt leicht mit den Schultern. »Er hat dir gewiss ein Angebot gemacht«, sagte er dann. »Und wenn du es annimmst, müsstest du mich hinterrücks erschießen, Ringo. Ich wollte dir einmal gegenübersitzen und dir in die Augen sehen. Du weißt, was ich meine, Ringo, nicht
wahr?« Ringo nickt. »Und nun? Was sagt dir dein Gefühl, Wayne Adams?« »Ich brauche schlafend, oder wenn ich dir den Rücken kehre, keine Angst vor dir zu haben – auch nicht, wenn es um hundertsiebenundzwanzigtausend Dollar geht«, sagt er ruhig und macht eine Bewegung, als wollte er sich erheben und gehen. Aber dann verharrt er noch und fragt: »Ringo, warum bist du ein Satteltramp?« Ringo grinst. »Ach«, sagt er, »ich besitze irgendwo bei El Paso eine kleine Ranch. Ich habe eine Mexikanerfamilie dort. Der Ertrag reicht gerade für diese Familie. Warum sollte ich da nicht herumreiten? Es ist schön, frei zu sein. Ich bin zum Widerspruch geboren. Ich bin einer von den Burschen, die sich statt Zucker Salz in den Kaffee tun, nur weil es Spaß macht, anders zu sein und nicht im Chor mitzuheulen. Es ist schön, den Wind und die Sonne zu spüren, an einem Feuer zu sitzen und die Sterne zu zählen. Es ist schön, an einem Spiel teilzunehmen, die Gegner zu bluffen und – oha, alles ist schön und ein ständiges Abenteuer: der Klang einer Frauenstimme zur Gitarre, der Fluch eines Mannes in dunkler Nacht, der Geruch von Erde, von Pferdeschweiß und – ach, es sind all die tausend kleinen und scheinbar unwichtigen Dinge, die zusammen die Summe ergeben, die das ausmacht, was Leben heißt und ist. Wayne Adams, kannst du das verstehen?« Der US Deputy nickt. »Das alles dachte ich auch mal«, murmelt er. »Aber ich fand heraus, dass jeder Mann zu einem bestimmten Zweck in die Welt gestellt wurde. Auch du wirst das herausfinden. Ringo, ich kenne dich jetzt besser.« Er tritt seinen Zigarettenrest mit dem Absatz aus, erhebt sich und geht.
Ringo denkt noch eine Weile über seine Worte nach. Mein Lebenszweck? Was ist mein Lebenszweck?, fragt er sich. *** Sie reiten am späten Abend weiter, und ihre Wasserflaschen sind leer. Zweimal im Laufe des Tages sahen sie unter sich im Rio Grande Valley Postkutschen und dreimal Reiter. Einmal war es eine ganze Mannschaft. Am späten Nachmittag kam von Norden her ein langer Frachtwagentreck herangerumpelt. Verdächtig erschien nichts. Nachdem sie etwa zehn Meilen auf den Kämmen der Hügelketten geritten sind, führt Ringo sie in einen langen Canyon hinunter. Sie stoßen hier auf einen kleinen Creek, in dem sich ein dünnes Wasserrinnsal befindet. Wenig später reiten sie erfrischt und mit vollen Wasserflaschen weiter. Sie kommen in dieser Nacht ein großes Stück vorwärts. Und als der Himmel im Osten über den San-AndreasBergen heller zu werden beginnt, erblicken sie die Lichter der Silverway Station in der sterbenden Nacht. Von dieser Station führt eine Frachtlinie nach Silver City hinüber. »Wir müssen hin«, sagt der Marshal. »Mein Pferd hat vor einer Stunde ein Eisen verloren. Ringo, es hilft nichts, wir müssen hin. Der Gaul beginnt schon zu lahmen.« Ringo sagt eine Weile nichts. Er denkt nach. Er hat kein gutes Gefühl. Es gibt sicher genug harte Burschen, die an dem Gefangenen und den mehr als hunderttausend Dollar interessiert sind. »So geht es nicht, Wayne«, sagt er. »Sie müssen mit dem Gefangenen hier in einem Versteck warten. Ich werde auf Ihrem Pferd zur Station reiten und es beschlagen lassen.
Vielleicht sollte ich – bevor es Tag wird und man mich erkennen kann – einfach ein Pferd stehlen…« »Nein!«, unterbricht ihn der Marshal hart. »Es fällt mir schwer genug, wie ein Verbrecher durch das Land zu schleichen. Ich bin schließlich der Vertreter des Bundesgesetzes. Wir reiten hin! Bevor es Tag ist, können wir schon wieder fort sein und auf Nebenwegen untertauchen. Komm, Ringo!« Dagegen gibt es für Ringo nichts mehr zu sagen. *** Sie nähern sich der Station im Schritt. Die Lichter deuten darauf hin, dass man zu dieser Stunde zwischen Nacht und Morgen eine Überlandkutsche erwartet, die auf der Station das Gespann wechselt. Die Fahrgäste können sich für einige Minuten die Beine vertreten und auch einen Imbiss und heißen, starken Kaffee bekommen. Zu der Station gehört ein Gasthaus. Auch einen Store gibt es dort. Die Silverway Station ist schon fast eine Siedlung. Natürlich ist bei den Corrals und dem FrachtwagenAbstellplatz eine Schmiede. Ringo führt sie halb um die Station herum, sodass sie von der Seite her bis zur Schmiede kommen und in Deckung dieses halb offenen Baues absitzen. Noch bekamen sie keinen Menschen zu sehen. Doch sie müssen damit rechnen, dass der Hufschlag ihrer Pferde gehört wurde. Der Marshal holt ein zweites Paar Handschellen aus der Satteltasche und lässt Kilroy aus dem Sattel steigen. Er schließt den schon mit Handschellen gefesselten Gefangenen mit Hilfe des zweiten Paares an einen in der Wand eingelassenen Eisenring, an dem sonst Pferde angebunden werden. Kilroy Malacko grinst nur. »Ich beschlage mein Pferd selbst und werde allein damit
fertig«, murmelt der Marshal. »Sieh dich auf der Station um, Ringo, und deck mir den Rücken, solange ich arbeite. Ich muss mich auf dich verlassen. Und ich werde schnell arbeiten.« Im grauen Morgenlicht tritt er in die Schmiede und macht sich an die Arbeit. Sein Pferd folgt ihm wie ein Hund. Das Tier weiß genau, dass es hier ein neues Eisen bekommt und dann wieder besser laufen kann. Es ist ein gutes, williges und seinem Herrn treu ergebenes Pferd. Er wird es ohne fremde Hilfe beschlagen können. Es wird geduldig stillstehen. Ringo Kid macht sich auf den Weg. Er geht an den Corrals entlang zur Station. Es sind nur zwanzig Schritte. An der Ecke trifft er auf den Stationsmann Archi Wells. »He«, sagt Archi überrascht, bleibt stehen und starrt Ringo an. »Du bist das, Ringo Kid«, murmelt er. »Und wo ist der Marshal mit seinem kostbaren Gefangenen?« »Er beschlägt in der Schmiede sein Pferd«, antwortet Ringo, und er denkt dabei: Es ist also hier schon bekannt, dass ich mit dem Marshal und seinem Gefangenen reite. Die Postkutschen von El Paso brachten die Nachricht schon vorgestern mit, und so wird die Neuigkeit gewiss bis in die verbogenen Camps gedrungen sein. »Wer ist hier?«, fragt Ringo Archi Wells knapp. Der Stationsmann kratzt sich hinter dem Ohr. »Hier herrscht immer ein Kommen und Gehen, denn die Station ist der einzige Versorgungspunkt auf vierzig Meilen in der Runde. Ein paar Jungs, die ich nur vom Sehen kenne, sind noch hier. Sie schlafen entweder in der Scheune oder in der Gaststube ihre Räusche aus. Warum reitet ihr denn den langen Weg? Warum habt ihr euch mit dem Gefangenen nicht in eine unserer schnellen Überlandkutschen gesetzt? Ihr könntet schon fast in Albuquerque sein…« »… oder in der Hölle«, unterbricht ihn Ringo Kid. Dann hören sie die Postkutsche kommen, die von El Paso
nach Santa Fe fährt. Auch Ringo tritt hinter der Hausecke hervor und betrachtet das Sechsergespann, das von dem Gehilfen des Stationsmannes bereitgehalten wird. Es ist ein Gespann von sechs zähen, ungeduldigen Tieren, die notfalls auch zwanzig Meilen galoppieren können. Ringo wendet sich nach rechts, geht an der Hauswand entlang und erreicht den Eingang. Er kennt die Station und weiß, dass man durch den Eingang in die Gaststube und in den Store gelangen kann. Er betritt die Gaststube. Die Frau des Stationsmannes deckt den Tisch. Es gibt Brote und duftenden Kaffee. Auf einem Teller sind Rauchfleisch, kalte Bratenscheiben, gekochte Eier, Tomaten und andere Dinge. Bald werden die Fahrgäste hereinkommen, sich schnell etwas in den Mund stopfen, heißen Kaffee hinunterschütten und wieder in die Kutsche klettern. Im Hintergrund des Raumes liegen zwei Schläfer auf den Bänken. Sie haben sich die Hüte auf die Gesichter gelegt und atmen tief, als schliefen sie fest. Sie tragen die Kleidung von Reitern, und man kann ihnen unschwer ansehen, dass sie zu jener Sorte gehören, die viel unter freiem Himmel campiert. Draußen hält die Überlandpost mit kreischenden Bremsen. Die Pferde schnauben und wiehern. Die Ledergehänge der Kutsche knarren. Eine Stimme ruft: »Silverway Station! Wer nach Silver City will, muss hier auf Anschluss warten. Die Post nach Santa Fe geht in sechs Minuten weiter! Zeit genug für einen Imbiss und einen Schluck Kaffee. Es gibt erst wieder in Socorro was – und das sind noch hundertzwanzig Meilen!« Ringo blickt immer noch auf die Schläfer. Die bewegen sich nicht, und das ist verdächtig. Bei dem Lärm hätten sie aufwachen müssen.
Oder sind sie zu sehr betrunken? Er will hinaus, um sich draußen umzusehen. Sein Instinkt warnt ihn immer stärker vor einer Gefahr. Wenn die beiden Schläfer keine harmlosen Betrunkenen sind, dann warten sie wahrscheinlich auf ein Signal, und das muss von draußen kommen. Vielleicht lauern sie nur darauf, dass der Marshal mit seinem Gefangenen in den Gastraum kommt, um einen Imbiss zu nehmen. Aber Ringo kann nicht gleich hinaus ins Freie treten. Eine junge Frau, die wahrscheinlich zuerst die Kutsche verließ, will herein. Er versperrt ihr sekundenlang den Weg. Im Schein der Lampe, die über dem Eingang hängt, betrachten sie sich. Er kennt sie nicht. Doch er spürt sofort, zu welcher Sorte sie gehört. Ihr Blick ist gerade und fest. Sie ist ein Mädel, das sich auf Männer versteht und gelernt hat, sich unter ihnen zu behaupten. Auf eine eigenwillige Art ist sie hübsch. Daran ändern auch die feinen Linien um ihre Mundwinkel nichts. Sie hat rotes Haar und ein paar Sommersprossen auf der kurzen Nase. Ringo lächelt entschuldigend und macht den Eingang frei. Sie dankt ihm mit einem leichten Kopfnicken. Nach ihr wollen männliche Fahrgäste herein. Doch Ringo tritt ihnen entgegen, sodass er den Eingang versperrt. Diesmal tritt er nicht zur Seite, sondern sorgt unmissverständlich dafür, dass sie ihm Platz machen. Er betrachtet sie Mann für Mann, und er weiß, dass keiner von ihnen zu der Sorte gehört, die es auf Kilroy Malacko abgesehen haben könnte. Bei der Postkutsche wird das Gespann gewechselt. Ringo geht um das Haus herum, gelangt auf den Hof und nähert sich der Scheune, die an den langen Stall angebaut ist. Er fragt sich, ob die Schläfer, von denen der Stationsmann
sprach, noch in der Scheune sind. Von der Schmiede leuchtet der Feuerschein durch den grauen Morgen. Der Marshal hat also inzwischen das Schmiedefeuer in Gang gebracht, betätigt den Blasebalg und macht wahrscheinlich schon einen der Hufeisenrohlinge warm, um ihn passend zu schmieden. Ringo bewegt sich weiter an der Vorderseite der Scheune entlang. Er bleibt vor der kleinen Pforte in dem großen Torflügel stehen und legt schon die Linke auf den Türdrücker, als eine ruhige Stimme hinter ihm sagt: »Komm, Ringo! Komm langsam rückwärts bis zu mir! Komm, mein Junge.« Ringo steht still. Er wendet nur den Kopf und blickt über die Schulter auf den Mann in der Scheunenecke. Oh, er kennt ihn. Phil Slater gehört zu den Burschen, mit denen er einmal Mavericks jagte. Er geht rückwärts und sagt dabei: »Phil, alter Junge, was hast du eigentlich gegen mich? Warum zielst du mit einem Revolver auf meinen Rücken? Hast du die alten Zeiten vergessen?« »Vielleicht«, sagt Phil und stößt ihm die Revolvermündung in den Rücken. »Denn du bist nicht mehr der Hombre von früher. Wie wir hörten, hast du dich von einem Marshal anwerben lassen und…« »Ach, du liebe Zeit!«, unterbricht ihn Ringo Kid und wendet sich langsam um, ohne auf den drohenden Colt zu achten. »Wie sollte ich denn an Kilroy Malacko besser herankommen können? Kannst du mir das verraten?« Der Bluff zieht, das kann Ringo dem Viehdieb und Langreiter ansehen. Er weiß, dass er Phil Slater keine Zeit lassen darf. Dessen Verstand muss ständig nachhinken. Deshalb spricht er weiter: »Ah, ich freue mich, dass ich endlich einen von euch Jungs treffe. Ich wusste, dass ihr irgendwie von dieser großen Chance erfahren und auftauchen würdet. Malacko hat mir bereits ein gutes Angebot gemacht. Er
will mit mir teilen, wenn ich ihm zur Freiheit verhelfe und den Marshal umlege. Aber die Hälfte ist wohl nicht genug, denke ich. Phil, wer ist denn noch bei dir? Ich möchte das, was ich zu sagen habe, nicht zwei- oder dreimal erzählen. Mensch, Phil, ich brauche wenigstens zwei zuverlässige Partner. Sonst…« Ringo kann sehen, dass Phil Slaters Wachsamkeit nachlässt und dass er sich anstrengt, sich auf die scheinbar so veränderte Situation einzustellen. Und nun wagt er es. Seine Rechte schlägt Phil Slaters Revolver zur Seite, die Linke knallt ihm einen Haken auf die Leberpartie, wie ihn damals schon Buster Gatewood bekam und nicht verdauen konnte. Phil Slaters Konstitution ist weniger stabil als die von Buster Gatewood. Aber er bringt es immerhin noch fertig, den zur Seite geschlagenen Colt abzudrücken. Dann geht er in die Knie, und Ringo gibt ihm einen Stoß, dass Phil Slater auf den Rücken fällt und die Beine hochwirft. Ein zweiter Mann taucht hinter der Scheunenecke auf. Er hält einen Colt in der Hand und gibt den ersten Schuss auf Ringo ab. Doch er trifft nicht. Ringo bewegt sich so schnell, dass es gar nicht so einfach ist, ihm einen Schnappschuss zu verpassen. Einen zweiten Schuss kann der andere nicht mehr abfeuern. Ringo Kid kommt ihm zuvor und trifft ihn richtig. Ringo wirbelt herum. Aus der Hintertür des Gasthauses kommen noch zwei Männer. Sie halten ihre Colts in den Händen. Ringo weiß, dass es sich um die beiden scheinbar so fest schlafenden Burschen handelt. Langsam tritt er ihnen entgegen. »Lasst es lieber sein, Jungs!«, sagt er scharf. »Es war dumm von euch! Ihr seid eben nur zweitklassige Buschräuber. Haut ab! Habt ihr gehört? Ihr sollt abhauen! Lasst euch nicht mehr blicken, solange wir hier zu tun haben! Oder wollt ihr mit mir kämpfen?«
Sie überlegen es sich immer noch. Sie kennen ihn. In diesem Land kennen alle Burschen ihrer Sorte Ringo Kid. Deshalb wissen sie auch, dass er noch einen von ihnen mitnehmen würde – vielleicht sogar beide, denn Ringo Kid ist schnell wie ein Wildkater und auch so zäh, wenn es ums Sterben gehen sollte. Dass ihre zwei Partner ausgeschaltet sind, beeindruckt sie sehr. Sie müssen schlucken. Dann sagt der eine: »Das hätten wir niemals von dir gedacht, Ringo. Du warst früher doch mal einer von uns. Und noch vor drei Wochen kamst du zu mir ans Feuer. Ich gab dir was von meinem guten Kaffee und drei Pfannkuchen. Erinnerst du dich?« »Ich danke dir noch einmal dafür, Kalispel!«, erwidert Ringo. »Doch es ist mir nicht möglich, mit euch ein Geschäft zu machen. Haut ab und nehmt eure Partner mit. Sie leben beide noch.« Da senken sie ihre Colts, sehen sich an und stecken schließlich die Waffen weg. Auch Ringo lässt die Waffe ins Holster gleiten, aber sie wissen, dass er sie im Ziehen schlagen könnte. »Haut nur ab! Dieser Brocken ist zu groß für kleine Pinscher«, sagt er halb mitleidig. Dann will er zur Schmiede hinüber. Der Marshal hat sich nicht stören lassen. Er bearbeitet das glühende Eisen mit den geschickten Schlägen eines gelernten Schmiedes. Ringo hält noch einmal inne. Menschen kommen aus der Hintertür. An der Hausecke taucht der Stationsmann auf. Von vorn tönt nun die Stimme des Fahrers: »Hoi, es geht weiter! Einsteigen, wer mit will! Und wenn die Hölle losbricht, die Post geht immer pünktlich ab!« Die Leute verschwinden. Nur die junge Frau bleibt. Sie kommt mit schnellen
Schritten über den Hof. Es ist eine Augenweide, sie so gehen zu sehen. Sie ist geschmeidig wie eine Indianerin. Als sie an Ringo vorbeigeht, schenkt sie ihm nicht einen einzigen Blick. Sie späht zur Schmiede hinüber, neben der Kilroy Malacko an dem eisernen Wandring angeschlossen ist. »Madam, die Kutsche fährt gleich ohne Sie ab«, sagt Ringo. Doch sie sieht sich nicht nach ihm um, macht nur eine Handbewegung, die deutlich ausdrückt, wie wenig ihr das ausmachen würde. Ringo folgt ihr. Und der Marshal, der aus der Schmiede tritt, um das fertige Eisen noch einmal prüfend an den Huf des Pferdes zu halten, geht nicht sofort an die Esse zurück, sondern verharrt. Ringo und der Marshal können hören, wie die Frau zu Kilroy Malacko sagt: »Geht es dir gut, Roy?« »Den Umständen entsprechend«, erwidert er. »War es schwer, mich zu finden, Lily?« Sie schüttelt den Kopf. »Nicht sehr! Nachdem ich erfuhr, dass zwei US Deputys hinter dir her waren, wusste ich, wohin du flüchten würdest. Aber du schafftest es wohl nicht, vor ihnen über die Grenze zu kommen. Als ich mit der Postkutsche nach El Paso kam, warst du schon fortgebracht worden. Ich fuhr deshalb zurück, denn ich wusste ja, dass wir uns spätestens in Santa Fe Wiedersehen mussten. Es war Zufall, dass ich dich hier entdeckte.« »Gewiss«, sagt er grinsend! »Das Leben ist voller Zufälle. Das Pferd des Marshals verlor ein Eisen. Ein paar Buschräuber wollten mich in ihre Hand bekommen. Und Ringo Kid wurde mit ihnen fertig wie ein Wolf mit Coyoten. Überdies kamst du zur gleichen Zeit. Ja, das Leben ist voller Zufälle. Lily, liebst du mich noch?« Sie erwidert nichts. Doch sie nickt. Dann wendet sie sich um, eilt über den Hof zurück und verschwindet durch die Hintertür.
Der Marshal sieht Ringo an und nickt ihm zu. »Gut gemacht«, sagt er. »Ich wusste, dass du eine schnelle, harte Nummer bist, die mit ein paar zweit- oder drittklassigen Strolchen zurechtkommen kann. Pass nur weiter gut auf, Partner. Ich bin gleich fertig, und dann reiten wir.« Er geht zum Schmiedefeuer zurück, legt das Eisen in die Glut und beginnt am Blasebalg zu ziehen. Ringo tritt zu Malacko an die Wand. »Es ging schon los«, sagt Malacko. »Alle kleinen und großen Wölfe haben längst Witterung von der großen Chance bekommen. Sie alle wollen mir aus der Klemme helfen, um einen Anteil von meiner Beute zu ergattern. Ich werde für dich und den Marshal bald ein stummes Gebet sprechen können, das ich euch in die Ewigkeit nachsende.« Ringo nickt. »Ja, so kann es kommen. Aber da ist noch etwas.« »Was?«, fragt Kilroy Malacko spöttisch. »Unsere Wette«, erinnert ihn Ringo Kid. »Wenn ich die Wette gewinnen will, muss ich dich nach Santa Fe bringen – mit oder ohne Marshal. Wer war denn die Schöne? Wolltest du mit ihr und deiner großen Beute nach Mexiko gehen und dort wie ein Fürst leben?« »Das war doch keine schlechte Idee«, antwortet Kilroy Malacko. »Sie ist eine Frau, mit der ein reicher Mann die Welt doppelt schön finden kann. Oder nicht? Und es ist ja alles nur aufgeschoben.« Ringo Kid schüttelt den Kopf. »Es gibt für dich nur zwei Möglichkeiten«, sagt er. »Entweder hängen sie dich in Santa Fe, oder ich lasse dich für deine gesamte Beute laufen. Und ohne Reichtum bist du für dieses rothaarige Mädel nichts mehr wert. Wie es auch kommen mag, auf sie musst du verzichten. Schlag sie dir gleich aus dem Kopf!« Kilroy Malacko bekommt schmale Augen.
»Und du sagtest, dass du nichts gegen mich persönlich hättest«, murmelt er bitter. »Mir kommt es eher so vor, als hasstest du mich aus irgendeinem Grund.« Ringo schüttelt den Kopf. »Es liegt nur daran, dass der Marshal und ich ein schweres Stück Arbeit leisten müssen. Das verbindet und vereint. Ich fühle mich von dir und allen wilden Jungs, die dir helfen wollen, herausgefordert. Das ist es! Ich kann keiner Herausforderung aus dem Wege gehen.« Sie schweigen, hören den Marshal arbeiten und die Postkutsche abfahren. »Das Mädel – diese Lily –, was wird sie unternehmen?«, fragt Ringo etwas verwirrt. Malacko lacht. Er gibt keine Antwort. Inzwischen ist der Marshal mit seinem Pferd fertig. Der Stationsmann und dessen Gehilfe haben das müde Sechsergespann in einen der Corrals gebracht. Der Stationsmann kommt zur Schmiede herüber. »Einen Dollar bekomme ich«, sagt er zum Marshal, »Oder waren es zwei Eisen?« »Eins«, erwidert Wayne Adams und gibt ihm den Dollar. Dann sehen sie die Frau aus der Hintertür treten. Sie muss sich in der Station umgezogen haben. Nun trägt sie einen ledernen Reitrock, Stiefel, eine Hemdbluse und darüber eine Jacke. Unter einem Arm hat sie ein Bündel, wie man es hinter einem Sattel festschnallt, wenn man in diesem Land länger unterwegs ist. Sie winkt dem Stationsmann zu und ruft: »Schnell, Mister, ich will ein gutes Pferd und einen Sattel kaufen! Schnell! Ich werde jeden Preis zahlen!« »Sie werden ihr nichts verkaufen«, knurrt Wayne Adams. Doch der Stationsmann sagt trocken: »Natürlich werde ich ihr alles verkaufen, was ich kann. Davon lebe ich nämlich – nicht nur von der Postlinie, für die ich Pferde bereithalte.
Warum sollte ich ihr nichts verkaufen, Marshal?« Wayne Adams sagt nichts mehr. Er macht den Gefangenen los, bringt ihn mit Ringos Hilfe in den Sattel und fesselt ihm auch wieder die Beine unter dem Bauch des Pferdes. Dann sitzen sie beide auf und reiten mit ihrem Gefangenen davon. Kilroy Malacko lacht leise. Als sie eine halbe Meile geritten sind, lacht er nochmals und sagt: »Gebt euch keine Mühe, ihr entkommen zu wollen. Sie kann einer Fährte folgen wie ein Apache und reiten wie ein Cowboy. Spätestens im nächsten Camp stößt sie zu uns. Ihr könnt gar nichts dagegen tun.« Sie schweigen zu seinen Worten. Der Marshal bleibt wieder etwas zurück. Ihre Pferde sind müde von dem langen Ritt durch die Nacht. Doch Ringo Kid reitet noch einige Meilen, biegt in ein unübersichtliches Gebiet ein und gibt sich Mühe, ihre Fährte möglichst unsichtbar zu machen. Es ist nicht einfach, durch dieses raue Land zwischen Hügeln und Stromtal zu reiten. Arroyos, Senken, Felsengruppen und Gestrüpp machen das Vorankommen schwer. Doch allein auf diese Art können sie dafür sorgen, dass niemand ihren Weg vorausberechnen und ihnen einen Hinterhalt legen kann. Es ist sehr schwierig, ihnen zu folgen. Ringo Kid kann kaum glauben, dass es diese Lily kann, denn selbst ein Indianer hätte gewiss Mühe. In einer Mulde hält er schließlich an. Sie ist so tief, dass sie ihnen auch dann Deckung gibt, wenn sie im Sattel sitzen. Und sie ist klein genug, dass man sie nicht entdeckt, sondern darüber hinwegsieht, wenn man sich nicht dicht an ihrem mit Felsen besetzten Rand befindet. Die Pferde schnauben dankbar, als die Männer ihnen endlich die Sättel abnehmen und sie abzureiben beginnen. Kilroy Malacko hockt – mit Handschellen gefesselt – in der Nähe und sieht zu. Immer wieder bekommt sein Gesicht einen
grinsenden Ausdruck. Er wirkt nun wie ein Spieler, der weiß, dass er noch einige Trümpfe im Ärmel stecken hat. Aber die beiden anderen Männer lassen sich dadurch nicht irritieren. Nur einmal murmelt Wayne Adams: »Ich weiß nicht – vielleicht hätten wir doch eine der schnellen Überlandkutschen nehmen sollen. Oder ich hätte ein ganzes Aufgebot zusammenstellen und…« »In diesem Land hättest du kein zuverlässiges Aufgebot zusammenbekommen, wenn es um fast hundertdreißigtausend Dollar geht«, unterbricht ihn Ringo Kid. »Wir machen es schon richtig, wenn wir uns auf Schleichwegen durchschlagen. Hoffentlich findet dieses rothaarige Mädel nicht den Weg zu uns!« »Ach, das schafft sie nicht«, sagt Wayne Adams überzeugt. Aber etwas später, als sie die Pferde versorgt haben und der Marshal die erste Wache übernimmt, hört Ringo Kid ihn mit leiser Stimme fluchen. Kilroy Malacko lacht und stößt plötzlich einen schrillen Pfiff aus. Ringo eilt zu Wayne Adams. Beide sehen sie die Reiterin kommen – genau auf ihrer kaum erkennbaren Fährte, auf die die Reiterin jedoch nicht mehr achtet, weil sie den Pfiff gehört hat und mit Sicherheit weiß, dass sich das gesuchte Camp vor ihr befindet. Sie hält am Rand der Senke an und blickt auf die beiden Männer nieder. »Versuchen Sie erst gar nicht, mich davon abzuhalten, mit Ihnen zu reiten!«, ruft sie. »Versuchen Sie auch nicht, mich fortzuschicken, denn als freie Amerikanerin kann ich reiten wie, wann und wohin ich will. Sonst folge ich Ihnen in drei Yards Abstand und raste auch in diesem Abstand von Ihnen. Wie wollen Sie es haben?« Sie kommt heran und betrachtet Wayne Adams.
Das Gesicht des Marshal ist ausdruckslos, und auch in seinen Augen ist nichts zu erkennen. Schließlich fragt er: »Wie ist Ihr Name? Sind Sie mit Kilroy Malacko irgendwie verwandt? Oder sind Sie nur seine Geliebte?« Sie lächelt. Ihre grauen Augen funkeln. »Ich bin Lily Callaghan«, antwortet sie. »In den Gold- und Silbercamps kennt man mich als Red Lily. Und was mein Verhältnis zu Kilroy Malacko betrifft, so bin ich nicht mit ihm verwandt. Vielleicht bin ich seine Geliebte – vielleicht aber auch nicht. Dreimal dürfen Sie raten. Nehmen Sie an, dass ich sein Rechtsbeistand bin. Er hat als Festgenommener einen Anspruch darauf, nicht wahr? Ich reite mit, um zu sehen, ob auch alles mit rechten Dingen zugeht.« Wayne Adams lächelt kühl. Die aparte Schönheit Lily Callaghans scheint keinen besonderen Eindruck auf ihn zu machen. »Ich hörte schon von Ihnen, Red Lily«, murmelt er. »Ich weiß genau, warum Sie hier sind. Kilroy Malacko soll Ihnen das Versteck seiner Beute verraten. Das geht nicht mit drei Worten. Dazu ist eine längere Erklärung notwendig. Deshalb müssen Sie mit Kilroy Malacko wenigstens eine ganze Minute reden können. Miss Callaghan, ich gestatte Ihnen nicht, allein in Hörweite des Gefangenen zu kommen. Sobald Sie das tun, muss ich annehmen, dass er Ihnen etwas zuflüstert, und ich muss Sie wegen Verdachtes der Mitwisserschaft in vorläufigen Gewahrsam nehmen. Es würde mir dann nicht schwer fallen, auch Ihnen Handschellen anzulegen. Ich warne Sie nur dieses eine Mal, Miss Callaghan!« Für den Marshal scheint damit die Sache erledigt zu sein. Er beachtet Lily Callaghan nicht mehr, sondern späht aufmerksam in die Runde. Ringo Kid kümmert sich scheinbar nicht um Lily Callaghan. Doch er beobachtet sie unauffällig. Nur einmal bemerkt er, wie sie Kilroy Malacko leicht zunickt. Sie hält sich auch fern von
ihm. Ringo beginnt starke Zweige zu sammeln und ein Feuer zu machen. Lily Callaghan kommt zu ihm und sagt: »Darf ich das Frühstück bereiten? Wissen Sie, ich bin in einem Planwagen geboren, als rings um unsere Wagenburg die Indianer heulten. Ich habe später als Kind oft in primitiven Camps unter freiem Himmel leben müssen. Es liegt mir irgendwie im Blut, an einem offenen Feuer zu kochen.« Ringo Kid betrachtet sie. Sie sind sich jetzt sehr nahe. Sie ist gewiss nicht viel jünger als er, höchstens drei Jahre. Er kann die herben Linien um ihren Mund und in den Augenwinkeln erkennen. Er begreift, dass jede dieser Linien etwas von Enttäuschung, von Not und Bitterkeit erzählen könnte. »Schwester, lieben Sie Malacko, oder wollen Sie nur hundertsiebenundzwanzigtausend Dollar erwischen?«, fragt Ringo ruhig. »Bevor Sie zu kochen beginnen, könnten Sie mir diese Frage beantworten.« »Was wollen Sie denn, Ringo?«, erwidert sie spröde. »Warum reitet ein Bursche wie Sie als Gehilfe eines US Deputys?« Da grinst er. »Honey«, sagt er, »ich glaube, dass es für Sie noch einiges über Männer zu lernen gibt. Na, schön, ich will nicht mehr mit Fragen auf Sie eindringen. Zeigen Sie uns Ihre Kochkünste. Und kommen Sie Malacko nicht näher als zehn Yards!« Er zieht sich zu zwei Felsen zurück, zwischen denen er sich niederlegt. Aber er legt sich so, dass er Lily und den Gefangenen beobachten kann. Er bedeckt sein Gesicht so mit seinem Hut, dass er darunter hinwegsehen kann. Für Lily und den Gefangenen ist jedoch nicht erkennbar, ob er schläft oder die Augen offen hat. Lily Callaghan blickt im Laufe der Zeit, die sie beim
Kochen am Feuer verbringt, mehrmals zu Kilroy Malacko hin. Doch dieser scheint zu schlafen. Er ist gewiss nicht weniger müde als die beiden anderen Männer, und er weiß, dass er sich vielleicht Vorteile verschaffen kann, wenn er in einem ganz bestimmten Moment ausgeruhter und deshalb reaktionsschneller ist als sie. Er muss deshalb mehr schlafen als seine Bewacher, und das tut er wirklich. Erst als Lily ruft: »Ich habe das Essen fertig! Kaffee, Pfannkuchen mit Speck und frisches Brot von der Station! Wer will etwas?«, regen sich Ringo Kid und Malacko. Sie kommen beide zum Feuer. Lily füllt einen Blechteller und einen Becher und begibt sich damit zu Wayne Adams. »Ich hoffe, dass es Ihnen schmeckt, Marshal«, sagt sie und stellt alles auf einen flachen Stein in seiner Reichweite. »Was versprechen Sie sich davon, Lily?«, fragt er ernst. »Wovon? Dass ich für euch alle gekocht habe?« »Sie wissen genau, was ich meine«, murmelt er und langt zu. Kauend betrachtet er sie. »Hat eine Frau wie Sie es nötig, sich mit einem Banditen und Mörder wie Malacko abzugeben?« Sie zögert etwas, ehe sie antwortet. »Vor zwei Jahren«, sagt sie dann, »lebte ich in der Nähe von Denver. Ich besaß dort in einem Goldgräbercamp einen Saloon. Dann erkrankte ich an Typhus. Die Meute brannte meinen Saloon nieder, weil sie glaubte, von ihm ginge die Seuche aus. Und sie jagten mich aus der Goldgräberstadt. Ich verkroch mich irgendwo in einer verlassenen Hütte, und ich glaubte, dass ich sterben müsste. Ich war hässlich geworden. Die Haare fielen mir aus. Man hatte mich zum Teufel gejagt, denn ich war die erste Typhuskranke in diesem Camp. Vielleicht wäre ich in jener Hütte gestorben. Aber dann kam Kilroy Malacko. Er half mir. Nein, ich liebe ihn nicht. Aber…«
Sie spricht nicht weiter. Ihr wird bewusst, dass sie das alles gar nicht erzählen wollte. Es war ungewollt aus ihr herausgebrochen. Rasch wendet sie sich ab und geht davon. *** Gegen Mitternacht nähern sie sich der Sacramentoschlucht. Sie kommt von Westen her ins Rio Grande Valley nieder und durchbricht dieses bis fast hinunter zum Fluss. Es ist ein ziemlich schmaler, aber tiefer und im Zickzack verlaufender Felsriss. Ringo Kid weiß auch hier gut Bescheid. Zum ersten Mal während ihres Rittes kommen sie an eine wirklich gefährliche Stelle, die sie passieren müssen. Über die Schlucht führt eine starke Bohlenbrücke, die von den Postkutschen und Wagenzügen benutzt wird. Will man nicht über die Brücke, so muss man bis dicht an den Fluss hinunter. Aber das Gelände ist von Felsen übersät, voller Spalten und Risse. Es gibt dort mehr Klapperschlangen als sonst wo in diesem Land. Ringo Kid hat nun die Wahl: über die Brücke oder den beschwerlichen Umweg zum Fluss. Er entschließt sich für die Brücke, hält an, wartet, bis Wayne Adams aufgeschlossen hat, und sagt es ihm. »Wenn es so ist, dann reite ich voraus«, entscheidet der Marshal sofort. »Miss Callaghan, wenn Sie jetzt immer noch mit uns reiten, dann geschieht das auf eigene Gefahr. Es kann sein, dass wir in einen Hinterhalt geraten.« Sie reiten weiter. Nach zwei Meilen führt Ringo sie auf einem schmalen Pfad abwärts auf die Poststraße. Vor ihnen liegt die Brücke. Die Schlucht ist keine zwanzig Yards breit. Deshalb war es einfach, eine feste Bohlenbrücke
darüber zu bauen. Zu beiden Seiten sind Felsen, Büsche und ein paar Saguaros. »Wir müssen hinüber«, sagt der Marshal. Das helle Mondlicht lässt die ganze Umgebung deutlich erkennen. Er nimmt das Lasso vom Sattelhorn und wirft es Kilroy Malacko über den Kopf. »Bleib immer schön bei mir, Malacko!«, sagt er. Dann reitet er an. Ringo Kid blickt sich nach Lily Callaghan um. Als er sieht, dass sie den beiden Reitern folgen will, sagt er trocken: »Sie nicht, Lily! Sie warten, bis auch ich drüben bin. Wenn es dann immer noch keinen Verdruss gegeben hat, dürfen Sie folgen.« »Wenn der Marshal das Lasso zuzieht, wird Kilroy in der Schlinge ersticken«, sagt sie. »Ihr seid grausam.« »Vielleicht«, erwidert er. »Doch der Marshal verlor auf dieser Jagd einen Kollegen, der Frau und Kind hatte. Vielleicht ist er grausam. Wer wäre es an seiner Stelle nicht? Nur ein Heiliger! Und wer ist schon ein Heiliger auf dieser Welt?« Der Abstand zum Marshal und Malacko erscheint ihm nun groß genug. Er reitet ebenfalls an. Einen Moment befürchtet er, dass Lily ihm folgt. Doch sie hält sich an seinen Befehl. Sie wartet wirklich. Die Hufe von den Pferden der beiden vorderen Reiter poltern über die Brückenbohlen. Der Marshal reitet wachsam. Er hat das Lasso, in dessen Schlinge Malackos Kopf steckt, um das Sattelhorn geschlungen, hält mit der Linken die Zügel und hat seinen großen Colt schussbereit in der Rechten. Sie kommen über die Brücke und gelangen zwischen die Felsen, Büsche und Bäume, die drüben den Wagenweg säumen. Sollte es wirklich hier keinen Hinterhalt geben? Adams vermag nicht daran zu glauben. Er bleibt wachsam.
Auch Ringo Kid kann es nicht glauben. Er verlässt die Brücke, blickt kurz zurück und sieht Lily Callaghan anreiten. Er beeilt sich, um den Marshal und den Gefangenen einzuholen. Sollte es wirklich so sein, dass er hier nicht zu kämpfen braucht, um dem Marshal und dem Gefangenen den Durchbruch zu ermöglichen? Es scheint so – und es wird mehr und mehr Wirklichkeit, Gewissheit. Es passiert nichts. Auch Lily bringt die Brücke hinter sich und holt jetzt schnell auf. Bald sind sie wieder beisammen. Ringo nimmt mit dem Gefangenen die Spitze. Der Marshal folgt als Nachhut, bereit zum Eingreifen, wenn es vorne irgendwelche Schwierigkeiten gibt – und zugleich nach hinten sichernd. Kilroy Malacko beginnt plötzlich schallend zu lachen. Es ist ein wildes, böses Lachen, das die Pferde unruhig macht. Der Marshal kommt ein Stück nach vorn und sagt laut durch das Geklapper der Hufe: »Ringo, stopf ihm das Maul, wenn er noch einmal so einen Lärm macht! Wir bleiben auf der Wagenstrecke! Ringo, keine versteckten Pfade mehr. Ich will auf der Wagenstrecke weiterreiten!« Ringo ist versucht, Einwände zu machen. Sein Instinkt sagt ihm, dass sie sich jetzt wieder seitwärts in die Büsche schlagen sollten. Doch er ist etwas unsicher. Sein Instinkt hat ihm auch vor, auf und hinter der Brücke Warnsignale gegeben. Und nichts ist geschehen. Sie reiten und reiten. Ihre Pferde werden müder und müder. Als der Himmel im Osten heller zu werden beginnt, erreichen sie einen Creek, der aus den Bergen ins Valley fließt. Sie folgen ihm bis zu einem kleinen See, in dessen Becken sich das Wasser sammelt. Es gibt hier Gras, Büsche und einige
Dutzend Bäume, zwischen denen rote Felsen leuchten und einen prächtigen Kontrast bilden, wenn später die Sonne aufgeht. »Hier wollen wir bleiben«, sagt Ringo. Plötzlich kracht zwischen den Felsen ein Schuss, dem zwei weitere folgen. Die erste Kugel trifft den Marshal. Sie stößt ihn wie eine unsichtbare Faust aus dem Sattel. Eine andere Kugel zupft an Ringo Kids Kleidung. Ringo Kid lässt sich fallen wie ein Indianer, rollt sich in Deckung – und während er das tut, bricht Kilroy Malackos Pferd getroffen zusammen. Malacko, der auf dem Tier festgebunden ist, wird am Boden eingeklemmt. Er hat Glück, dass das Pferd sofort tot ist und sich nicht wälzt. Sonst hätte es ihm sämtliche Knochen gebrochen. Auch Lily ließ sich vom Pferd fallen, obwohl niemand auf sie schoss. Sie ist in dieser hellen, in den Morgen übergehenden Nacht auch deutlich als Frau zu erkennen. Ringo Kid kriecht wie ein Apache zwischen kniehohe Felsen und hüfthohe Dornenbüsche. Dort wartet er. Er braucht nicht lange zu warten. Die Stimme, die nun spricht, ist ihm gut bekannt. Er hört Bill Gatewoods Bass sagen: »Nun, Ringo Kid, willst du jetzt nicht lieber aufhören und dich auf unsere Seite schlagen? Dann könnten wir unseren Familienstreit vergessen.« Ringo gibt keine Antwort. Er rührt sich nicht, sondern stellt sich tot. Das ist es also, denkt er. Die Gatewoods sind bei dem Gedanken an mehr als hunderttausend Dollar verrückt geworden. Dass sie um die Ehre ihrer Schwester so besorgt sind, bedeutet nicht, dass man sie für ehrenwerte, redliche Burschen halten kann. Bill Gatewood ruft nochmals herüber: »He, Ringo! Das ist ein faires Angebot! Antworte! Entscheide dich! Oder wir holen
dich gleich! Wie willst du es haben?« Wieder schweigt Ringo Kid und bewegt sich nicht. Eine Weile bleibt es still. Dann hört er Buster Gatewood sagen: »Ach was, ich habe ihn vorhin erwischt! Er kann nicht antworten, weil ich ihn erwischt habe. Als er vom Pferd fiel, hatte er schon meine Kugel im Balg. Ich werde jetzt nach ihm sehen.« »Aber wenn du ihn nicht richtig getroffen hast…«, warnt eine andere Stimme. Sie gehört Jim. Ringo kennt sie genau. »Ich habe ihn richtig getroffen«, behauptet Buster. »Ihr wisst ja, wie gut ich mit dem Gewehr bin. Macht euch nur keine Sorgen. Einer sollte sich lieber um das Mädel kümmern. He, Schwester, mach nur keine Dummheiten!« Dann kommt Buster Gatewood zum Vorschein. Er tritt zwischen Felsen und Büschen hervor, hält ein Gewehr im Hüftanschlag und nähert sich der Stelle, in deren Umgebung er Ringo Kid vermutet. Als er Ringo Kid endlich halb verborgen zwischen dem Gestrüpp erkennen kann, ist es schon zu spät für ihn. Ringo hält den Revolver in der Hand und drückt etwas früher ab als Buster Gatewood das schussbereite Gewehr. Gatewood schießt vor sich in den Boden, fällt auf das Gesicht und rührt sich nicht mehr. Ringo verändert blitzschnell seine Position nach rechts und gelangt so in bessere Deckung. Dann erklingt Bill Gatewoods heisere Bassstimme: »Buster! He, Buster, was ist?« Doch Buster regt sich nicht mehr. »Er hat Buster erwischt! Bill, er hat Buster erschossen!«, heult Jim Gatewood wild. Er beginnt zu schießen. Es ist ein Wutausbruch, denn er kann Ringo bestimmt nicht sehen, höchstens vermuten, wo dieser sich verborgen hält. Dennoch leert er seinen Colt. Eine der Kugeln prallt dicht neben Ringo an einen Felsen.
Dann ist es wieder still. Man hört, wie Jim Gatewood keuchend bemüht ist, seinen Colt aufzuladen. Bill Gatewoods Stimme tönt nun fast feierlich, als er sagt: »Jim, wir erwischen ihn! Wir rächen Buster. Wir werden diesen Hundesohn Ringo Kid zur Hölle schicken!« Als Ringo das hört, weiß er, dass es nun erst richtig gefährlich für ihn wird. Jetzt werden sie vorerst auf dieser Welt nichts anderes wollen als seinen Skalp. Von Kilroy Malacko ist nichts zu hören. Wenn er nicht bewusstlos unter seinem Pferd am Boden liegt, stellt er sich so, um vielleicht auf diese Art eine Chance zu bekommen. Auch Lily Callaghan rührte sich bisher nicht. Doch nun erklingt eine Stimme: »Gentlemen, lasst mich aus eurem Spiel! Ich bin eine unbewaffnete Frau. Ich möchte hervorkommen und zu Malacko gehen. Darf ich das?« »Aber gewiss, Madam«, erwidert Bill Gatewood grimmig. »Kümmern Sie sich um Malacko. Dieser ist auch für uns sehr kostbar. Aber versuchen Sie nur nicht, sich die Waffe des Marshals zu verschaffen. Wenn wir später eine Waffe bei Ihnen finden, dann setzt es was!« Ringo zieht sich etwas weiter zurück. Als er zu einem großen Felsen kommt, klettert er hinauf. Oben befinden sich Moos, Gräser und Gestrüpp. Ringo legt sich der Länge nach hin und wartet. Noch ist alles grau und farblos. Da und dort steigen Nebel auf. Aber bald schon wird im Osten das erste Licht über die Berge blitzen. Und dann… *** Während Ringo wartet und die beiden Gatewoods in den �
grauen Morgennebeln herumschleichen, um ihn zu finden, hockt Lily Callaghan bei Kilroy Malacko und legt ihm die Hand gegen die Schläfe. »Roy!«, sagt sie leise. Er öffnet sofort die Augen. »Der Marshal hat den Schlüssel zu meinen Handschellen in seiner Westentasche an der Uhrkette«, sagt er. »Geh hin und hol den Schlüssel! Versuch es, Lily! Wir haben nur diese eine Chance. Und bring mir die Waffe des Marshals mit. Sie muss in seiner Nähe am Boden liegen. Los, Mädel! Beeil dich und hilf dem guten alten Roy aus der Klemme!« »Deshalb bin ich ja hier«, flüstert sie. »Aber was ist mit deinem Bein? Das tote Pferd liegt auf deinem Bein.« »Das macht nichts«, knurrt er. »Der Untergrund ist weich. Es ist nichts gebrochen. Geh schon, Lily!« Sie gehorcht, bewegt sich geduckt von ihm fort und erreicht bald darauf den Marshal. Er liegt auf dem Rücken. Er ist nicht tot. Gewiss ist er schwer getroffen, denn auf seiner Brust ist sein Hemd unter der offenen Weste dunkel von Blut. Er atmet mühsam. In einer Hand hält er seinen Colt dicht neben sich, halb im Gras verborgen. Seine andere Hand hat er zu einer Faust geballt und auf dem dunklen Blutfleck liegen, unter dem sich die Wunde befindet. Aus dieser Faust hängt ein Stück der Uhrkette hervor. Lily Callaghan begreift, dass der Marshal seine billige Nickeluhr mitsamt dem Handschellenschlüssel in der Faust hält. Und sie weiß auch, dass sie diese große, starke Faust nicht öffnen kann, solange noch etwas Leben in diesem Mann ist. Sie hockt sich dicht bei ihm nieder und flüstert scharf: »Marshal, geben Sie mir den Schlüssel! Ich bitte Sie inständig! Helfen Sie mir, Roy vor diesen Banditen zu retten. Er darf ihnen nicht schutzlos ausgeliefert sein! Ich muss ihn…«
»Er ist nicht schutzlos«, keucht der Marshal mühsam. »Ringo hat einen der Kerle erwischt, und er wird sich auch gegen die beiden anderen behaupten können. Ich vertraue auf Ringo. Ich habe ihn unterschätzt. Ringo Kid ist ein Name, der überhaupt nicht zu ihm passt. Da könnte man Dynamit auch Himbeerpudding nennen.« Lily Callaghan verliert die Beherrschung und gerät in Panik. Sie greift mit beiden Händen nach seiner Faust, versucht diese zu öffnen und den Schlüssel zu bekommen. Aber sie schafft es nicht. Er ist noch zu kräftig. »Da müssen Sie noch eine Weile warten – bis ich tot bin«, sagt er. »Haben Sie noch ein Weilchen Geduld. Ich weiß nicht, wie viel Blut ein Mann hat. Aber meins muss bald ausgelaufen sein. Sie brauchen nur wie ein Aasgeier auf meinen Tod zu warten.« Seine bitteren Worte bringen ihr zu Bewusstsein, dass er ein schwer verwundeter Mann ist, der ohne Hilfe binnen weniger Minuten sterben muss. Und mit einem Mal wird ihr klar, dass es vielleicht an ihr allein liegt, ob er gerettet werden kann. Lässt sie ihn hier verbluten, um den Schlüssel zu bekommen, wird sie sich wie eine Mörderin fühlen. »Geben Sie mir den Schlüssel«, bittet sie. »Ich schwöre, dass ich Ihnen dann helfen werde.« »Nein!«, sagt er. »Den Schlüssel bekommen Sie nicht. Ich will nicht, dass Ringo sich auch noch mit dem gefährlichen Malacko herumschießen muss. Ich habe schon einen Kollegen und Partner durch Malacko verloren. Nein, Red Lily.« Nun muss sie sich entscheiden. Sie spürt plötzlich, dass sie weint – lautlos und ohne jede Heftigkeit. Doch es sind Tränen, die über ihre Wangen rinnen. Sie hätte nie gedacht, dass sie noch weinen kann. Sie weint, weil sie Kilroy Malacko – den einzigen Menschen, der damals in der tiefsten Not zu ihr hielt – im Stich
lassen muss. Sie kann ihm den Schlüssel nicht bringen, denn sie kann den Marshal nicht verbluten lassen. Ihr Pferd steht in der Nähe. Als sie zu ihm geht, um aus ihrem Bündel ihre Reservewäsche und die beiden Handtücher zu holen, bellt von irgendwo Bill Gatewoods Stimme: »He, Mädel, was hast du vor? Ich habe dir doch gesagt, dass…« »Zur Hölle mit euch! Glaubt ihr, ich lasse einen Menschen verbluten? Schießt doch auf mich! Ich kann nicht zusehen, wie ein hilfloser Mann stirbt!« Gatewood flucht. Doch er traut sich nicht aus dem Gewirr von Felsen und Büschen hervor. Lily kehrt mit einem Beutel zu Wayne Adams zurück. Während sie ihre Wäsche zerreißt, denkt sie: Roy wird mir verzeihen, wenn ich zuerst den Marshal vor dem Verbluten rette. Ich werde den Schlüssel gewiss bekommen, ganz gewiss. Ich muss zuerst das Ausschussloch zustopfen, denn das ist immer größer als der Einschuss. Ich muss… Bald vergisst sie alles und konzentriert sich nur noch darauf, den Marshal zu retten. *** Als der erste Sonnenstrahl aufblitzt und die Nebel golden zu färben versucht, entdeckt Ringo Kid einen der Gatewoods unter sich. Es ist Jim, der da mit schussbereitem Colt herumschleicht, lauernd und angespannt. »Hier!«, sagt Ringo Kid ruhig. Dann wartet er, bis Jim Gatewood herumgewirbelt ist und den Revolver hochschwingt. Ringo schießt ihn von den Beinen und springt von dem hohen Felsen nieder. Mitten im Sprung erwischt ihn Bill Gatewood. Die Kugel trifft Ringo Kid in die Seite wie ein Huftritt. Er fällt schwer, rollt sich jedoch weiter und bleibt an einen Felsen geschmiegt
still liegen. Der Schmerz in seiner Seite nimmt ihm die Luft und scheint ihn zu lähmen. Aber dann wird es allmählich besser. Er begreift, dass die Kugel von einer seiner Rippen abgeprallt sein muss. Blut rinnt aus der Wunde. Ringo Kid stützt sich auf Hände und Knie und richtet sich auf. Er tut es im richtigen Moment. Denn Bill Gatewood kommt um den Felsen. Sie schießen gleichzeitig. Für Gatewood ist es zu schnell. Er hätte besser noch einen Sekundenbruchteil zielen sollen. Ringos Kugel trifft ihn und stößt ihn halb herum. Er schwankt gegen den Felsen, dreht sich daran um die Längsachse – und ist im nächsten Moment verschwunden. Ringo möchte ihm folgen. Doch das geht nicht so schnell. Der dumpfe, böse pochende Schmerz in seiner Seite lähmt sein Bein bis hinunter zum Fuß. Als er sich endlich bewegt, ist es zuerst nur ein mühsames Hinken. Vorsichtig schiebt er sich um den Felsen. Und da hört er Hufschlag. Hufschlag von einem Pferd, das geritten wird. Bill Gatewoods Bassstimme klingt jetzt fast schrill. Er muss ziemlich schmerzhaft verwundet und in Panik geraten sein. Deshalb ist er zu seinem Pferd geflüchtet und hat es fertig gebracht, sich in den Sattel zu ziehen. Zwei der Gatewoods verloren den Kampf bereits für immer. Ja, selbst ein so harter Bursche wie Bill musste für einen Moment den Kopf verlieren. Aber nun brüllt er: »Ringo! Ringo, du bekommst es noch! Und wenn ich hundert Mann zusammenholen muss!« Dann verklingt seine heisere Stimme. Zum Teufel, denkt Ringo, warum bin ich damals zu Nell Gatewood geritten, zu diesem Biest? Warum habe ich ihr
meine zerrissene Hose gegeben? Denn nur weil ich eine Hose brauchte und die Gatewoods nicht erschießen wollte, konnte mich Wayne Adams für diesen Höllenjob anheuern. Und nun habe ich noch zwei von ihnen… Jetzt fällt ihm endlich wieder ein, dass er noch eine ganze Menge zu tun hat. Nach dem Marshal muss er sehen. Und wenn das Mädel inzwischen…? Er staunt, sie beim Marshal knien und dessen Wunde behandeln zu sehen. Wayne Adams ist immer noch bei Bewusstsein. »Nimm den Schlüssel von Malackos Handschellen«, murmelt er. »Ringo, hat er dich schlimm erwischt?« »Nicht so schlimm, dass ich aufgeben müsste«, erwidert Ringo und bückt sich, um den Handschellenschlüssel von der Uhrkette zu lösen. Als er sich wieder aufrichtet, bohrt der Schmerz noch stärker. Ringo Kid bemüht sich, auf den Beinen zu bleiben – und er schafft es. Lily blickt zu ihm empor. »Sie sind schlimmer getroffen, als Sie zugeben wollen«, sagt sie. »Ich werde gleich nach Ihnen sehen.« Er nickt grinsend. Doch es ist keine Freundlichkeit in seinem Zähnezeigen, eher Trotz gegen das Schicksal – und Herausforderung. Ringo Kid ist ein Kämpfer, der nicht aufgeben kann und sich in eine scheinbar verlorene Sache noch fester verbeißen muss. Er nimmt sein Halstuch ab, öffnet sein Hemd und legt das zusammengefaltete Halstuch auf seine Wunde. Dabei stellt er fest, dass ihm die Kugel eine Rippe anknickte, abprallte und eine breite Furche durch das Fleisch riss. Allmählich fühlt er sich etwas sicherer auf den Füßen und bewegt sich zu Kilroy Malacko hinüber.
Dieser liegt geduldig da, hat das linke Bein unter dem Pferd und das rechte noch halb über dem Sattel. Seine Fußgelenke sind auch immer noch mit einem Strick unter dem Pferdebauch hindurch gefesselt. »Ihr Bastarde!«, sagt der Bandit. »Da siehst du nun, was passieren kann, wenn ihr mich auf dem Pferd festbindet. Wenn es sich gewälzt hätte, wäre aus meinem Bein Knochensalat geworden.« Ringo löst schweigend den Strick, und nun erweist es sich, dass Malackos Bein in einer Bodenrinne liegt. Er kann es mit einiger Anstrengung unter dem Pferd hervorziehen. Nicht mal den Stiefel verliert er dabei. Kilroy Malacko taumelt auf die Füße. Aber dann wirbelt er herum. Die zu einer großen Faust verschränkten Hände und seine langen Arme sind wie eine Keule. Er schwingt sie, während er herumwirbelt. Und er trifft Ringo damit gegen die verwundete Seite. Ringo geht zu Boden. Er überschlägt sich und rollt weiter. Malacko folgt ihm und versucht, ihn mit einem Tritt völlig auszuschalten. Der Bandit wagt jetzt verzweifelt alles. Aber da kracht ein Schuss. Die Kugel pfeift dicht an seinem Kopf vorbei. Das bringt Malacko zur Vernunft und holt ihn aus seiner Raserei zurück. Er wendet sich dem Marshal zu, denn dieser war es, der Ringo aus der Not half. Seine Kraft reicht immer noch aus, um den Colt abzufeuern. Kilroy Malacko starrt auf den Marshal. Er hebt die gefesselten Hände und wischt mit den Unterarmen über sein schweißnasses Gesicht. Dann blickt er auf Lily und sagt schwerfällig: »Na schön, Lily, ich mache dir keinen Vorwurf. Du hast ja damals selbst erlebt, dass man in der Not allein ist. Nun geht es mir so. Aber ich werde mir schon helfen. Ich brauche dich nicht. Du hättest
mir helfen können, aber du warst nicht hart genug. Na schön!« Er wendet ihr den Rücken zu und blickt auf Ringo Kid, der sich nach Luft keuchend erhebt und langsam näher kommt. Ringo sagt nichts, droht nicht. Aber er sieht Malacko auf eine Art an, dass dieser unwillkürlich schlucken muss, als hätte er einen Stein im Hals. Lily Callaghans Stimme dringt schrill durch die Stille: »Roy, ich konnte den Schlüssel nicht aus seiner Faust bekommen! Ich konnte auch nicht warten, bis er verblutet war und starb. Roy, du musst das doch verstehen…« »Sicher«, sagt er über die Schulter, »sicher verstehe ich dich.« Er will sich in Bewegung setzen. Doch Ringo sagt heiser: »Bleib stehen! Rühr dich nicht! Bleib stehen oder hock dich nieder!« Malacko gehorcht. In Ringos Stimme ist eine tödliche Drohung. Ringo geht eine Weile umher, bis er die beiden Gatewoods gefunden hat. Sie sind tot. Er nimmt ihre Waffen und wirft sie in eine Felsspalte, damit er sicher ist, dass Malacko sie nicht bekommt. Als er zu Wayne Adams tritt, sagt Lily: »Ich möchte nach Ihrer Wunde sehen. Können Sie Ihren Oberkörper freimachen?« Er tut es schweigend. Sie wäscht die Wunde aus, zerreißt einen ihrer Leinenunterröcke und legt ihm einen festen Verband an, der die Wundränder zusammenpresst und zugleich seine angebrochene Rippe wie ein Korsett stützt. Mehr kann sie nicht tun. Ringo spürt ihre Nähe und fühlt, wie erregt sie ist. Er möchte ihr etwas sagen, doch er weiß, dass er nicht die richtigen Worte finden würde. Lily Callaghan hat ein schlimmes Erlebnis hinter sich. Sie
ließ Malacko im Stich, um anderen zu helfen. Aber sie half nicht nur einem Menschen in Not, sondern gleichzeitig Malackos Feind. Damit entschied sie sich gegen Malacko. Der Tag vergeht langsam. Ringo fragt sich, wann sie wohl von hier fort können. Viel Zeit zum Ausruhen haben sie nicht. Bill Gatewood wird vielleicht nur zwei Tage benötigen, um eine ganze Bande zusammenzuholen. Und dann wird er eine neue Falle aufstellen – irgendwo. Ringo Kid wagt nicht zu hoffen, dass Bill Gatewood so schwer verwundet ist, dass er aufgeben muss. Bill Gatewood ist jetzt voller Hass und Rachsucht. Er wird eine Menge Unheil stiften. Der Tag vergeht besonders deshalb so langsam, weil Ringo Kid nach der langen Nacht – und verwundet, wie er ist – nicht schlafen darf. Wayne Adams schläft fest. Gegen Mittag bekommt er Fieber und wälzt sich unruhig herum. Lily Callaghan kümmert sich um ihn, so gut sie kann. Sie hält ihn auf dem Lager fest, kühlt seine Stirn und wäscht ihm das Gesicht. Dann und wann befeuchtet sie seine Lippen. Ringo hat dem Gefangenen auch die Füße zusammengebunden, sodass er sicher sein kann, nicht so schnell überrascht zu werden. Er überlegt, was zu tun ist. Doch was er sich auch ausdenkt, er kommt immer wieder zu der Erkenntnis, dass er Wayne Adams noch einige Stunden Ruhe lassen muss. Er soll nicht sterben, weil man ihn zu früh transportiert. Am späten Nachmittag nickt Ringo, der im Schatten eines großen Busches hockt und sich gegen den Sattel lehnt, für wenige Minuten ein. Als er erwacht, ist Lily Callaghan bei ihm und will den Handschellenschlüssel aus der Brusttasche seines Hemdes holen.
Als er die Augen öffnet, gibt sie es auf, erhebt sich und tritt zwei Schritte zurück. Er bewegt sich nicht, blickt sie nur an. Nach einer Weile sagt er heiser: »Lily, Sie müssen sich über eines klar sein. Wenn es Malacko gelingen sollte, sich mit Ihrer Hilfe zu befreien und eine Waffe in die Hand zu bekommen, dann bringt er den Marshal und mich um. Dann machen Sie sich an zwei weiteren Morden mitschuldig. Warum wollen Sie ihm helfen? Wegen der Beute, die er irgendwo verborgen hat? Oder aus Liebe? Kann eine Frau wie Sie überhaupt noch einen Mann so lieben, dass sie seine Schuld mit zu tragen gewillt ist – die Schuld eines Mörders und Banditen?« Er kann erkennen, wie sie bei seinen letzten Worten zusammenzuckt. Doch dann hebt sie stolz das Kinn und sagt: »Was ist schon Recht oder Unrecht? Und was ist Schuld? Die Gemeinschaft der Redlichen und so genannten Guten kann erbarmungsloser sein, als die Bösen es manchmal sind. Ringo, ich habe es schon dem Marshal zu erklären versucht, und ich weiß nicht, warum ich mir die Mühe mache, es auch Ihnen zu sagen. Ich besaß einmal in einer Goldgräberstadt einen Saloon. Ich war die Königin der Stadt. Und dann wurde ich krank. Der Doc stellte bei mir Typhus fest.« Lily erzählt nochmals, wie Malacko ihr half. Ringo nickt. »Ja, das ist eine böse Geschichte, die Sie erlebt haben. Ich gebe zu, dass Sie Malacko etwas schuldig sind. Aber ich sage Ihnen, dass er Wayne Adams und mich umbringt, sobald sich ihm eine Gelegenheit dazu bietet. Ich kann Ihnen nicht helfen, Lily. Aber ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihre Geschichte erzählten. Nun kann ich Sie verstehen. Es lag mir viel daran, Sie verstehen zu können.« Sie blickt ihn etwas starr und misstrauisch an. Dann murmelt sie: »Und Sie sagen nicht, dass es Ihnen Leid tut?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich würde Ihnen gern irgendwie aus der Klemme helfen, denn ich nehme mehr Anteil an Ihrem Problem, als Sie vielleicht glauben. Doch was hilft Ihnen mein Mitleid?« Sie wendet sich ab, geht zu Wayne Adams zurück und hockt sich bei diesem nieder. Kilroy Malacko beginnt zu lachen. Sein Lachen klingt wild, böse und verächtlich zugleich. Er sagt zu Lily: »Honey, du bist zu feige. Du hättest nicht zuerst nach dem Schlüssel suchen dürfen. Zuerst hättest du eine Waffe in deine Hand bringen müssen. Dann hätte er auf deinen Befehl meine Fesseln gelöst. Lily, du kommst mir wie ein Wesen vor, das die Wahl hat, ein Mäuschen oder eine Katze zu sein, aber nicht den Mut findet, sich für die Katze zu entscheiden. Als harmloses Mäuschen kannst du mir nicht helfen. Nie!« Er legt den Kopf zurück und zieht sich mit den gefesselten Händen den Hut übers Gesicht. Vorerst kann er nichts anderes tun als warten. *** Am Sattel von Wayne Adams‹ Pferd sind zwei lange Stangen befestigt, die hinter dem Tier über den Boden schleifen. Zwischen den Stangen ist eine Segeltuchplane angebracht. Darauf liegt der Marshal. Sie erreichen die Poststraße kurz vor Sonnenuntergang. Ringo hat schon versucht auszurechnen, wie hier die Postkutschen verkehren. Die nächste Pferdewechselstation ist etwa acht Meilen weiter nördlich. Ringo beschließt, langsam auf der Straße nach Norden zu ziehen. Entweder werden sie von einer Postkutsche eingeholt oder erreichen nach acht Meilen die Station. Diesen Transport wird der Marshal vielleicht noch
aushalten. Lily führt vom Sattel aus Wayne Adams‹ Pferd. Hinter ihr folgt Ringo mit dem Gefangenen, der auf einem Pferd der Gatewoods sitzt. Sie haben Glück. Drei Meilen weiter hören sie die Postkutsche kommen. Ringo holt einen trockenen Sagebusch vom Straßenrand und zündet ihn mitten auf der Straße an. Die Nacht ist nicht sehr hell. Doch die Kutsche verlangsamt ihr Tempo und wird von dem schnaubenden Sechsergespann im Schritt näher gebracht. Außerhalb des Feuerscheins halten die beiden Führungspferde an. Die Stimme des Fahrers sagt bitter: »Was soll das? Wir haben ohnehin Verspätung!« »Hier ist US Deputy Wayne Adams – und ich, ich bin sein Gehilfe«, sagt Ringo heiser. »Ihr müsst ihn bis zum nächsten Doc mitnehmen. Bist du das, Paul Henderson?« »Ich bin es«, erwidert der Fahrer. »Und du bist Ringo Kid, nicht wahr? Wir kennen uns ja einigermaßen. Oho, zwischen El Paso und Santa Fe wurden in den vergangenen Tagen viele Wetten abgeschlossen, ob ihr es schaffen werdet oder nicht. Ich habe fünf Dollar auf euch gesetzt, Ringo. Und wenn du gewinnst, habe ich fünfundzwanzig Dollar gewonnen. Die Wetten stehen fünf zu eins gegen euch.« Er kommt mit dem Gespann näher. Außer Henderson und seinem Begleitmann sind noch drei Fahrgäste mit der Kutsche unterwegs. Der bewusstlose Wayne Adams bekommt eine Bank für sich. Die drei Passagiere sind ungefährlich. Es handelt sich um einen Siedler mit Frau und einen Reisenden in Uhren und Brillen. Die ledigen Sattelpferde werden hinten an der Kutsche festgebunden. »Fahr vorsichtig, Paul!«, ruft Ringo dem Fahrer zu.
Dieser flucht und knurrt: »Ich fahre immer vorsichtig, immer! Wir werden Verspätung haben, dass es nur so brummt und mir vor Scham die Augen tränen. Aber ich fahre vorsichtig. Jawohl!« Er fährt auch wirklich langsamer als sonst. *** Die nächste Station heißt Camp Juan. Es ist schon länger als ein Jahr her, dass Ringo hier war. Deshalb ist er erstaunt darüber, wie sehr sich die Station vergrößert hat. Es ist eine kleine Stadt geworden. Irgendwo in dieser Gegend muss es neue Minen geben, in denen Silber, Kupfer und Blei gewonnen werden. Und da diese Minen von der einstigen Poststation versorgt werden, wuchs diese schnell zu einer Stadt. Es ist eine Stunde vor Mitternacht, als sie die Station erreichen. Schon Ringos erste Frage nach einem Doc wird bejaht. Der Postagent sorgt dafür, dass sie im Hotel ein großes Zimmer bekommen und Lily eine Kammer. Auf die Frage, ob es hier einen Gesetzesvertreter und ein Gefängnis gibt, antwortet er: »Ich bin der ehrenamtliche Marshal von Camp Juan. Ein Gefängnis haben wir nicht. Ich lasse den Doc holen und auch eure Pferde versorgen. Was kann ich sonst noch tun?« »Was für Fremde sind im Ort?« Ringo stellt diese Frage ruhig, doch man hört einen metallischen Klang in seiner Stimme. »Alle Sorten«, erwidert der Postagent. »In diesem Land gibt es alle Sorten von Männern, und so kommen auch alle Sorten in die Stadt. Oh, ich habe natürlich von euren Problemen gehört. Vielleicht sind einige Banditen und Hartgesottene darunter, Freunde von Malacko oder Burschen, die seine Beute haben möchten. Ich kann euch wenig helfen. Ich muss froh
sein, wenn ich jede Woche die Silberladung ohne Verluste nach Socorro durchbekomme. Von Socorro aus trägt ein anderer Postmeister die Verantwortung.« Er geht hinaus. Ringo schließt den Gefangenen mit Handschellen an das eiserne Bettgestell. Ringo geht dabei kein Risiko ein. Da er Kilroy Malackos Handschellen lösen muss, hält er in der Linken den schussbereiten Colt, drückt die Mündung fest in Malackos Seite und hantiert nur mit der Rechten. Malackos Respekt vor Ringo ist nach dessen Kampf gegen die Gatewoods sehr gestiegen. Malacko weiß, dass er gegen diesen angeschossenen Mann nichts mehr riskieren darf. Ringo ist übermüdet und gereizt. Er würde abdrücken. Als Ringo erwacht, ist es draußen Tag. Er liegt auf einem der drei Betten und hält seinen Colt in der Linken. Er hat wenigstens sechs Stunden geschlafen. Langsam wendet er den Kopf und blickt zu Kilroy Malacko hinüber. Dieser ist wach. Er muss in der Nacht verzweifelt versucht haben, sich zu befreien. Die Metallstange am Kopfende des Bettes ist verbogen. Das Gesicht des Banditen verzerrt sich, als er heiser sagt: »Ringo, ich bringe dich um – ganz bestimmt schaffe ich das! Wir haben erst die Hälfte des Weges nach Santa Fe hinter uns. In dem Land zwischen Socorro und Albuquerque habe ich viele Freunde. Ringo Kid, gib es endlich auf! Du bist jetzt allein. Der Marshal fällt aus.« Ringo antwortet nicht. Er erhebt sich und steht eine Minute still neben dem Bett. Seine Wunde in der Seite schmerzt nicht mehr so schlimm. Der Doc hat ihm ein breites Pflaster aufgeklebt, das die Wundränder zusammenhält und die Rippe stützt. Der Schlaf hat Wunder gewirkt. Ringo hat Hunger und glaubt, wieder reiten zu können. Malacko beobachtet ihn forschend. Aber auch er kann nur
erkennen, dass Ringo das Schlimmste überstanden hat. Ringo tritt an das Bett des Marshals, fühlt nach dessen Stirn und prüft den Puls. Der Doc hat dem Marshal ein Beruhigungsmittel eingeflößt. Es drückte das Fieber und sorgte für einen ruhigen Schlaf. Der Marshal wird wahrscheinlich alles überstehen, das kann sogar ein Laie wie Ringo erkennen. Doch Ringo wird Wayne Adams hier zurücklassen müssen. Einen Moment ist er versucht, aufzugeben. Er könnte mit der nächsten Postkutsche eine Meldung an den US Marshal in Santa Fe schicken und hier auf Hilfe warten. Doch er würde die Hilfe zu spät bekommen. Zumindest Bill Gatewood, der inzwischen gewiss eine Bande zusammen hat, würde ihn aus dem Hotel holen, töten und den Gefangenen übernehmen. Nein, es ist alles wie vorher – nur mit dem Unterschied, dass er jetzt allein ist. Diese Erkenntnis ist nichts anderes als eine Herausforderung für ihn. Er tritt in die Ecke zum Waschtisch, und zehn Minuten später ist er rasiert und gewaschen. Man hat ihm ein neues Hemd und Unterwäsche gebracht. Er glaubt, dass Lily dafür gesorgt hat. Überhaupt Lily – sie ist auch eines der vielen Probleme. Unterwegs hat sie sich als recht nützlich erwiesen. Ohne ihre Hilfe wäre er gewiss schlecht zurechtgekommen. Vielleicht wäre der Marshal sogar verblutet. Aber dennoch steht sie immer noch auf Kilroy Malackos Seite. Sie fühlt sich dem Banditen verpflichtet und in seiner Schuld. »Ich möchte mich auch waschen und rasieren«, sagt Malacko. »Muss ich mein Äußeres vernachlässigen, nur weil du dich fürchtest, mir die Handschellen abzunehmen?« Ringo grinst wortlos.
Er nimmt seinen Colt und drückt ihn in Malackos Seite. »Sei schön vorsichtig, Malacko«, murmelt er. »Noch einmal schlägst du mir nicht in meine verletzte Seite. Mein Problem wäre schnell gelöst, wenn du mir einen Grund lieferst, dich umzulegen.« »Du würdest mich also töten«, sagt Malacko, während er sich einseift. »Du würdest mich töten, obwohl ich dann das Geheimnis, wo ich meine Beute versteckt habe, mit in mein Grab nehmen müsste?« »Ja«, erwidert Ringo. »Mir ist es gleich, was mit dem geraubten Geld geschieht, ob es für immer verloren ist oder gefunden wird. Mir ist es völlig egal. Nur eines steht fest, Malacko: Ich bringe dich tot oder lebendig nach Santa Fe.« Kilroy Malacko steht still vor dem Spiegel und betrachtet Ringo darin. Er sagt nichts mehr – gar nichts. Sie achteten beide nicht auf den Marshal. Dieser ist inzwischen erwacht. Mühsam sagt er vom Bett herüber: »So ist es richtig, Ringo! Bring ihn nach Santa Fe, ganz gleich, wie. Und wenn ich dir einen Rat geben darf, dann nimm ihm nie wieder die Handschellen ab – nie wieder!« Ringo wartet schweigend, bis Malacko fertig ist, und legt diesem dann wieder die Handschellen an. Auch diesmal drückt er dem Banditen die Coltmündung fest in die Seite. Sie stehen einige Sekunden dicht beieinander und sehen sich an. »Ich werde dich töten!«, murmelt Malacko. »Irgendwie werde ich das schaffen. Meine Freunde werden mir aus der Klemme helfen. Und dann ziehe ich dir die Haut ab wie einem Karnickel. Ich gebe es dir noch, Ringo Kid!« Ringo legt ihm die flache Hand gegen die Brust und stößt ihn so fest von sich, dass er drei Schritte rückwärts macht, mit den Kniekehlen gegen die Bettkante stößt und sich unfreiwillig auf das Bett setzen muss.
»Kannst du ein wenig auf ihn achten, Wayne?«, fragt Ringo den Marshal. »Aber sicher«, sagt dieser. »Ich bin noch kräftig genug, um einen Colt abzufeuern. Ich kann diesen Hombre immer noch von den Beinen schießen. Gib mir nur meine Waffe!« Der Waffengurt des Marshals hängt am Bettpfosten. Ringo zieht den Colt aus dem Holster, überzeugt sich, dass er geladen ist, und gibt ihn Wayne Adams. Er bettet den Marshal etwas höher. Dieser ist in der Lage, von seinem Bett in der Zimmerecke das ganze Zimmer zu übersehen. »Geh nur, Ringo«, sagt er. »Ich habe gut geschlafen und fühle mich gar nicht so übel.« Ringo geht hinunter. Der Postmeister kommt aus dem Büro. »Das Pferd, auf dem gestern der Gefangene saß, gehörte mir. Ich habe es vorgestern mit zwei anderen Tieren an…« »… die Gatewood-Brüder verkauft, die mit einer Postkutsche kamen«, unterbricht ihn Ringo. »Ich möchte dieses und mein eigenes Pferd gesattelt haben.« Der Postmeister bekommt schmale Augen. Er deutet zum Stall und murmelt: »Dort drinnen sind die Tiere. Sie müssen sich schon selbst bedienen. Ich muss noch Post nach El Paso fertig machen. Die Post von Socorro kommt bald hier an. Mein Gehilfe schläft noch.« Ringo geht über den Hof und betritt den Stall. Die Sättel erblickt er sofort im Vorraum auf der Stange neben der Futterkiste. Doch die Pferde stehen offenbar in den hinteren Boxen. Man benötigt die vorderen Boxen wahrscheinlich für die ausgeschirrten Sechsergespanne. Ringo geht langsam den Stallgang entlang. In den letzten Boxen entdeckt er die Tiere von Wayne Adams und Kilroy Malacko. Auch sein eigenes Tier sieht er. Lily Callaghans Pferd fehlt, und Ringo weiß sofort, dass sie es gewiss hinter dem Hotel gesattelt in Bereitschaft hält, damit
er ihr mit Malacko nicht entkommen kann. Für einen Moment lässt seine Aufmerksamkeit nach, als er über Lily nachdenkt. Und dann ist es auch schon zu spät. Man hat hier im Stall auf ihn gewartet. Der Postmeister wusste es und schützte deshalb Arbeit vor, um in seinem Büro verschwinden zu können. Ringo will sich zur Seite werfen, als vor ihm ein Mann aus der Box tritt. Der Bursche hat im Halbdunkel in der Deckung der Pferde gewartet. Doch hinter Ringo ist noch ein zweiter Mann leise wie ein Schatten in den Stallgang getreten und sagt: »Ruhig bleiben, Ringo!« Die Stimme kommt Ringo sofort bekannt vor. Er blickt über die Schulter und erkennt Hills Boro Charley. Charley grinst scharf. Seine weißen Zähne blitzen in dem dunkelbraunen, pockennarbigen Gesicht. »Wir kennen uns ja, Ringo, nicht wahr?«, fragt er in seinem gedehnten Texanerenglisch. »Ja, wir jagten Mavericks und holten Pferde aus Mexiko«, antwortet Ringo. »Wir sind alte Bekannte. Es gibt nur einen Unterschied: Auf deinem Kopf sind inzwischen Belohnungen ausgesetzt, auf meinem nicht. Denn ich konnte rechtzeitig aufhören, du aber musstest weitermachen und wirst es wahrscheinlich so lange tun, bis du in der Hölle bist.« »Du hättest Prediger werden sollen«, sagt Hills Boro Charley. »Wir wollen hier keine großen Reden schwingen. Gib meinem Partner deinen Colt – mit dem Kolben zuerst, das versteht sich! Er wird die Patronen herausnehmen und dir die Waffe zurückgeben. Dann bist du zwar unser Gefangener, doch niemand wird es merken. Du wirst uns als deine Gehilfen mitnehmen. Ist alles klar?« Für Ringo ist alles klar. Es ist ja so einfach. Zwei Banditen wollen ihn und Kilroy
Malacko einfach kassieren, und bis jetzt haben sich ihre Erwartungen auch erfüllt. In Ringo ist ein bitterer Zorn. Er sieht den anderen Mann an, der ihm grinsend die Hand entgegenstreckt. Sie fühlen sich sehr sicher, die beiden Banditen. »Nun gib schon!«, sagt der Bursche. Er ist blond, rotgesichtig und seit zwei oder drei Tagen nicht rasiert. Ringo nimmt langsam mit spitzen Fingern den Colt heraus und packt ihn dann über Kammer und Trommel, sodass er ihn mit dem Kolben zuerst dem grinsenden Banditen reichen kann. Dieser blickt nicht so sehr auf die Waffe als in Ringos Gesicht. Dabei grinst er hämisch und schadenfroh. Ringo macht mit der Hand eine kaum merkliche Bewegung. Der Colt dreht sich auf wunderbare Weise blitzschnell und liegt mit dem Kolben in Ringos Hand. Der Bandit greift den Lauf statt des Kolbens, und er fährt zusammen. »Jetzt steht es unentschieden«, sagt Ringo. »Charley, wenn du mir in den Rücken schießt, dann bekommt es dein Partner. Außerdem wird der Marshal durch die Schüsse gewarnt. Er liegt zwar im Bett, doch er hält den Colt in der Hand und achtet auf den Gefangenen. Ihr habt verloren, Hombres.« Es vergeht eine halbe Minute, denn Hills Boro Charley muss nachdenken. Während die Sekunden verrinnen, durchlebt sein Kumpan eine Ewigkeit der Angst. Was, wenn Hills Boro Charley kein guter Partner ist? Aber er ist es. Charleys Stimme sagt spröde: »Gehen wir, Frankie! Wir haben verloren! Der Marshal könnte tatsächlich mit einem Revolver im Bett sitzen und auf den Gefangenen aufpassen. Gehen wir!« Und sie gehen. Ringo wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Dann holt er die Pferde aus den Boxen, sattelt sie und sitzt auf. Während er auf seinem Pferd zum Hotel reitet und das andere Tier an den Zügeln mitführt, achtet er auf die Schmerzen in seiner Seite. Sie sind nicht schlimm, und Ringo glaubt, dass er einen längeren Ritt aushält. Auf der Hotelveranda lümmeln sich einige Burschen herum. Doch sie sagen nichts. Sie beobachten nur stumm, wie er die beiden Pferde anbindet und hineingeht. Im Gastraum sitzt Lily Callaghan beim Frühstück. Sie sieht ihn ruhig an. Aber sie sprechen nicht miteinander. Die Wirtin bringt ein Tablett aus der Küche. In den Pfannen und Schüsseln ist ein kräftiges Frühstück. Ringo spürt jetzt seinen Hunger noch mehr. Seine Knie werden weich, als er mit dem schweren Tablett die Treppe hinaufgeht. Mit der Fußspitze stößt er dreimal gegen die Tür und nennt seinen Namen. Dann tritt er ein. Wayne Adams grinst ihn hohlwangig an und sagt: »Es ist gut, dass du erst geklopft hast. Vorhin wollte jemand herein, der sich einbildete, sich hereinschleichen zu können. Ich hätte diesen Narren fast erschossen.« Auch Ringo grinst. »Ja«, sagt er, »der ganze Ort ist voller Pilger, die sich für Kilroy Malacko interessieren. Sie hocken herum wie die Raben um ein Karnickel in der Schlinge. Wayne, hast du keinen Hunger?« »Nicht sehr«, murmelt der Marshal, und Ringo kann erkennen, dass Wayne Adams‹ Kraft verbraucht ist. Er wird gleich einschlafen. Die wenigen Minuten haben ihn restlos erschöpft. Erst muss er wieder einige Stunden schlafen. Ringo lässt ihn ein paar Schlucke warme Milch trinken. Danach sinkt der Marshal erschöpft zurück und sagt heiser:
»Sieh in meiner Brieftasche nach, Ringo. Dort ist Geld. Nimm dir so viel, wie du brauchst, um den Auftrag auszuführen. Bring Malacko nach Santa Fe. Die Belohnung soll dann Emmy Lowry, die Witwe meines von Malacko getöteten Kollegen, bekommen. Ringo, ich kann mich doch auf dich verlassen?« »Das schwöre ich«, antwortet Ringo. Jetzt gibt es Wayne Adams endlich auf, sich mit letzter Energie wach zu halten. Er schläft ein und versinkt in bodenlose Tiefen. *** »Ich will endlich etwas zu essen haben«, knurrt Kilroy Malacko böse. »Du Hundesohn willst mich wahrscheinlich hungern lassen, damit ich zu schwach bin, um dir gefährlich zu werden.« Ringo füllt schweigend einen Teller für Malacko und gießt auch Kaffee für ihn ein. »Soll ich mit gefesselten Händen essen?«, fragt Malacko wütend. Ringo nickt. »Versuch es oder lass es bleiben«, sagt er und macht sich dann selbst über das Frühstück her. Dabei denkt er darüber nach, wie er mit Kilroy Malacko fortkommen und alle Verfolger abschütteln kann. Denn Verfolger wird er haben. Auch mit Bill Gatewood muss er rechnen. Selbst ein Mann wie Hills Boro Charley hat wohl längst noch nicht aufgegeben. *** Als er Kilroy Malacko die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße bringt, ist Lily Callaghan nicht mehr zu sehen.
Er ahnt, dass sie schon unterwegs zu ihrem Pferd ist, und er verspürt Bitterkeit und eine gewisse Hilflosigkeit ihr gegenüber. Wie soll er sie abschütteln? Draußen auf der Hotelveranda warten all die Burschen. Einer fragt etwas heiser und spröde: »Sie brauchen keine Hilfe?« »Nein«, sagt Ringo. »Und wer von euch mir unterwegs zu dicht auf die Pelle kommt, den sehe ich als meinen Feind an.« Sie schweigen und sehen zu, wie er Malacko in den Sattel bringt. Malacko wirkt sehr ruhig und beherrscht. Aber als Ringo aufsitzt, sagt er laut: »Irgendwo habe ich eine Menge Geld versteckt. Fast hundertdreißigtausend Dollar. Ich würde einem Freund, der mir aus der Klemme hilft, etwas davon abgeben.« Nach diesen Worten lacht er laut. Ringo nimmt die Zügel von Malackos Pferd. Der Bandit lacht immer noch, als sie aus dem Ort reiten. Ringo lässt die Pferde traben. Er schlägt sofort den Weg zum Fluss ein. Als Ringo die Fähre erreicht, befindet sich bereits ein Reiter darauf. Ringo sieht zuerst nur das Pferd. Er erkennt das Tier und weiß, dass dort Lily Callaghan wartet. Sie hat also vorausgesehen, dass er hier über den Fluss gehen würde. Er spürt einen leichten Ärger und ist einen Moment versucht, sie von der Fähre zu weisen. Aber sie sieht ihn so seltsam an, als erwartete sie das von ihm. Deshalb lässt er es bleiben. Er nickt dem Fährmann und dessen Gehilfen zu. »Also los! Hinüber!« »Dort kommen noch Reiter«, sagt der Fährmann. »Senor, die Fähre ist groß genug für ein Dutzend Pferde…« »Legen Sie ab, Senor«, erwidert Ringo höflich, doch mit
einem harten Klang in der Stimme. Der Fährmann zögert. Doch er nickt seinem Gehilfen zu. Sie legen ab und betätigen dann die mächtigen Ruder. Es ist eine schwere Arbeit. Obwohl die Strömung hier nicht stark ist, müssen sie erst am Ufer ein Stück stromauf, bevor sie zur Flussmitte einschwenken. Als sie am anderen Ufer anlegen, schickt Ringo Lily und Malacko mit einer Handbewegung von der Fähre. Er selbst führt sein Tier zu Fuß an Land und bindet es fest. Dann kehrt er zur Fähre zurück und gibt dem grauköpfigen Fährmann ein Zehndollarstück. Ein zweites behält er in der Hand. »Ich könnte ein Beil aus deiner Hütte holen und ein Leck in die Fähre schlagen«, sagt er. »Aber vielleicht gibst du mir dein Wort, vor Ablauf von vier Stunden nicht hinüberzufahren. Ich würde dir den Verdienstausfall reichlich ersetzen.« Er zeigt auf das zweite Geldstück. Der Fährmann kratzt sich hinter dem Ohr. Er blickt Ringo an, wirft dann einen scharfen Blick auf den Gefangenen und späht schließlich zum anderen Ufer hinüber, wo nun schon mehr als ein halbes Dutzend Reiter wartet. »Ich weiß ziemlich gut Bescheid, Señor«, murmelt er. »Solche Nachrichten verbreiten sich schnell. Ihr Gefangener ist kostbar. Viele wollen ihm helfen oder möchten ihn haben. Ich verstehe. Aber die Reiter dort drüben werden uns die Haut abziehen, wenn wir sie länger warten lassen als notwendig. Es wäre uns schon lieber, Senor, wenn Sie das Beil nähmen und…« Ringo versteht. Er wirft ihm das zweite Geldstück zu. Dann holt er das Beil, das drüben an der Hütte lehnt. Mit einem Dutzend Schlägen macht er eine der Planken los, sodass Wasser eindringen muss, sobald die Fähre beladen wird. Wenn die beiden Fährleute sich nicht allzu sehr beeilen, werden sie einige Stunden brauchen, bis sie den Schaden behoben haben.
Drüben auf der anderen Flussseite drohen die Reiter. Ihre Flüche und Beschimpfungen sind jedoch nicht zu verstehen. Der Strom ist viel zu breit. Ringo geht zu seinem Pferd, bindet es los und sitzt auf. Er reitet zu Lily Callaghan und Kilroy Malacko, sieht Lily an und sagt: »Steigen Sie ab, Lily!« Sie bewegt sich nicht. Da zieht er den Colt und zielt auf ihr Pferd. »Ich bin nicht an der Lage, lange herumzutändeln«, sagt er. »Wenn Sie nicht wollen, dass ich Ihr Pferd erschieße, dann steigen Sie ab. Sie reiten nicht mit uns. Ich sage es Ihnen nicht noch einmal, Lily.« Sie blickt ihn drei Sekunden an, und sie begreift, dass er nicht blufft. Er gleicht einem in die Enge getriebenen Wolf, der weiß, dass seine Chancen gering sind. Als er mit dem Daumen den Hammer seiner Waffe zurücknimmt, ist sie sicher, dass er abdrücken wird. Deshalb gehorcht sie. Sie sitzt ab und schnallt ihr Bündel und die Satteltaschen, in denen ihre Habe ist, vom Pferd. Ringo reitet heran und nimmt auch dieses Tier an die Zügel. »Es tut mir Leid«, sagt er. »Doch wir stehen auf zwei verschiedenen Seiten, nicht wahr? Ich kann es mir nicht leisten, Sie bei mir zu behalten. Sie würden immer wieder versuchen, Malacko zu befreien.« Er wendet sein Pferd, zieht ihr Tier mit und nickt Malacko zu. »Reite vor mir her!«, sagt er. »Das Pferd lasse ich später frei.« Sie reiten davon. Lilys Pferd wird gewiss zum Fluss zurückkommen. Lily sieht ihnen nach. Dann wendet sie sich an die Fährleute. »Wie bekomme ich schnell ein Pferd?«, fragt sie und holt
ein Goldstück aus ihrer Tasche. Der grauköpfige Fährmann zögert. Er starrt auf das Geld. »Sie haben Glück, Señorita«, sagt er. »Dort gleich hinter den Hügeln ist ein kleiner Rancho. Mein Bruder Pablo besitzt drei Pferde. Er liebt sie wie seine Kinder. Vielleicht fängt er Ihr Pferd, das der Marshal laufen lassen will. Aber da gibt es noch eine andere Möglichkeit…« *** Sie reiten das Flusstal hinauf, bis sie zum Post- und Wagenweg gelangen, der sich am Fuß der mächtigen San-Andreas-Kette nach Socorro zieht. Als sie die Poststation erreichen, ist es später Nachmittag. Ringo wagt es, mit dem Gefangenen hinzureiten. Er verlässt sich darauf, dass man ihn und Malacko noch nicht auf der Ostseite des Flusses vermutet. Morgen wird das schon anders sein. Der Stationsmann sagt ihm, dass die nächste Post in etwa einer Stunde durchkommen müsste. Ringo übergibt ihm die beiden Pferde und bekommt dafür einen Gutschein, für den er von irgendeiner Station der Post- und Frachtgesellschaft zwei etwa gleichwertige Tiere erhält. Der Stationsmann sieht Malacko an, der am Brunnen steht und mit seinen gefesselten Händen die hölzerne Schöpfkelle an die Lippen führt. »Das ist Kilroy Malacko«, sagt er. »Ob Sie mit ihm durchkommen, Marshal? Ich möchte es bezweifeln. Die Postgesellschaft jedenfalls wird Ihnen helfen, so gut sie kann. Heute mit der Mittagspost kam Anweisung aus Santa Fe. In der Kutsche bekommen Sie Freiplätze, selbst dann, wenn Fahrgäste herausgeholt werden müssen, um Platz zu schaffen.« Ringo ist zufrieden, als er das hört. Er hat es sich auf der Bank vor der Station bequem gemacht. Es tut gut, mit
ausgestreckten Beinen still dazusitzen. Der bohrende, dumpfe und nie nachlassende Schmerz in der Seite scheint etwas erträglicher zu werden. Einen Moment will er resignieren. Er möchte aufgeben. Das wäre leicht. Dann gäbe es keine Sorgen mehr für ihn. Er könnte sich irgendwo in ein verborgenes Camp zurückziehen und seine Wunden pflegen. Aber der Moment der Resignation ist bald vorüber. Ringo ist ein Kämpfer und fühlt sich von den Widerständen zu sehr herausgefordert, als dass er aufgeben könnte. Nein, Malacko soll nicht gewinnen – niemals! Malacko, der getrunken hat, kommt langsam herüber. Er hält vor Ringo inne und blickt ihn an. Ringo bewegt sich nicht, und der Bandit sagt höhnisch: »Deine Seite ist taub – ein einziger Schmerz, nicht wahr? Nun, du wirst bei dieser Sache zum Teufel gehen!« Er macht eine müde Bewegung, als wolle auch er sich auf die Bank setzen. Vorher hat er sich mit einem schnellen Blick umgesehen und festgestellt, dass der Stationsmann zu den Corrals hinter dem Haus gegangen ist, um das frische Gespann für die Kutsche zusammenzustellen. Malackos müde Bewegung ist nur eine Täuschung. Ganz plötzlich wendet er sich gegen Ringo, springt auf ihn zu und versucht, ihm in die verwundete Seite zu treten. Diesem Tritt entgeht Ringo nur mit Mühe. Er packt Malackos Fuß und dreht ihn mit einem Ruck herum. Malacko brüllt vor Schmerz und wälzt sich am Boden. Ringo hält den Fuß immer noch verdreht, und er knirscht dabei: »Du verdammter Bastard von einem Killer! Ich hätte große Lust, dir den Fuß abzudrehen. Das war schon der zweite heimtückische Angriff auf mich. Beim dritten werde ich dich töten.« Er lässt Malacko los, stolpert zum Brunnen und trinkt aus der hölzernen Schöpfkelle.
Die rasche Bewegung und dann die Anstrengung, als Malackos Fuß in seinen Händen zappelte, haben in seiner Seite die Schmerzen wieder so schlimm werden lassen, dass er glaubt, umkippen zu müssen. Das Wasser hilft ihm etwas. Er trinkt langsam. Der böse Schmerz wandelt sich in eine dumpfe Lähmung. Malacko kommt herangehinkt. Sein Gesicht ist verzerrt. Er zeigt seine gefesselten Handgelenke. »Ohne diese Handschellen«, sagt er, »würde ich dich mit meinen bloßen Fäusten totschlagen. Du bekommst mich nie nach Santa Fe: Vorher töte ich dich! Nicht du mich, sondern ich dich!« Ringo wendet sich zur Seite, denn es ist ihm, als hörte er schon die Postkutsche kommen. Bald darauf weiß er, dass er sich nicht getäuscht hat. Der Stationsmann bringt das frische Sechsergespann aus dem Corral. Dann rasselt auch schon die staubige Kutsche heran. Ringo sorgt dafür, dass ihre Sättel und das Gepäck auf das Dach kommen. Der Begleitmann hilft ihm dabei, nachdem er und auch der Fahrer den Gefangenen betrachtet haben. Als Ringo die Kutsche öffnet, erblickt er Lily Callaghan auf einem der Sitze. Sie lächelt ihm etwas spöttisch zu. Aber dann sagt sie: »Nur herein, Gentlemen! Es sind noch genügend Plätze frei. Oder muss ich jetzt aussteigen, Mr Columbus Sheldon?« Sie spricht seinen Vornamen mit einer Betonung, die auch die anderen Fahrgäste aufmerksam macht. Während Ringo mit seinem Gefangenen in die Kutsche klettert, sagt einer der Reisenden: »Columbus ist ein glorreicher Name. Sind Sie am Ende sogar mit dem Entdecker selbst verwandt, mit Christoph Columbus?« Ringo grinst hart. Er hält den Sprecher für angetrunken. »Bin ich«, sagt er. »Doch sprechen Sie nicht darüber. Ich
möchte nicht, dass man mich als einen Urur- oder was weiß ich was -enkel feiert. Erzählen Sie bitte nicht weiter, dass – na, Sie wissen schon!« Er setzt sich in eine Ecke und zieht sich den Hut über die Augen. »Wenn noch jemand einen Witz auf Lager hat«, murmelt er, »dann wird mein Gefangener für mich lachen. Nicht wahr, Malacko?« Malacko sagt nichts. Er betrachtet die anderen Fahrgäste aufmerksam. Doch er sieht nur zwei Farmer, eine dicke Frau, einen Handelsreisenden, der stark nach Whisky riecht, und Lily. Bei der nächsten Station steigen die beiden Farmer und die dicke Frau aus. Der Handelsreisende hat unterwegs noch mehrmals einen Zug aus einer Flasche genommen, eine immer rötere Nase bekommen und schnarcht in der linken Ecke der vorderen Sitzbank. Er spürt nicht, dass es weitergeht. In der rechten Ecke hockt Malacko. Auf der hinteren Bank sitzt Ringo ihm gegenüber. Dem Handelsreisenden sitzt Lily gegenüber. Es handelt sich um eine kleine Kutsche mit sechs Plätzen. So geht es im stetigen Trab dahin. Niemand spricht. Die nächste Station ist Socorro. Sie werden erst in der Nacht dort ankommen. Und dann? Als die Sonne tief im Westen steht und rotes Licht durch das linke Kutschenfenster fallen lässt, richtet sich Lily Callaghan auf. Aus der Tasche ihres ledernen Reitrockes holt sie mit einer ruhigen Bewegung einen kleinen Derringer und richtet die Doppelmündung auf Ringo. Kilroy Malacko, der alles aus schmalen Augen beobachtet, stößt Ringos Schienbein mit der Stiefelspitze an und sagt: »Jetzt hat sie dich, Freund Ringo! Sieh mal!« Ringo schiebt sich den Hut aus dem Gesicht und blickt nach
der Seite auf Lily. Er sagt nichts, sondern sieht sie nur an, als sie spricht. »Ringo, Sie werden jetzt Roys Handschellen losmachen. Er wird sich dann Ihren Colt nehmen…« »Und dann?«, fragt Ringo mit bitterem Hohn. »Dann können Sie aussteigen«, antwortet sie. »Da Sie nach Socorro laufen müssen, wird unser Vorsprung groß genug sein. Nicht wahr, Roy Malacko, ich habe dein Wort, dass du ihn aus der Kutsche springen lässt?« »Aber sicher – sicher! Ich lasse ihn aus der Kutsche hüpfen wie einen Hasen«, sagt Kilroy Malacko. »Ich will ja nichts anderes als meine Freiheit, Lily! Und dann gehen wir zusammen zum Versteck meiner Beute, holen die Bucks und ergreifen noch einmal die Flucht. Aber diesmal werden sie nicht so dicht auf meinen Fersen sein. Diesmal ist der Vorsprung größer – nicht nur wenige Meilen. Los, Ringo! Sonst erschießt sie dich. Und dann bekommen wir den Handschellenschlüssel auf diese Art. Ich bin dann frei und habe deinen Colt, bevor die Postkutsche hält und die beiden Hombres vom Bock herunter sind. Los, Ringo! Oder willst du erschossen werden?« »Du redest zu viel, Malacko«, brummt Ringo. »Deine Worte plätschern aus deinem Mund wie ein Wasserfall.« Er wendet sich an Lily. »Töten Sie mich, wenn Sie das fertig bringen! Werden Sie für einen Mörder zur Mörderin! Es ist ganz einfach.« »Schieß endlich, Lily!«, faucht Malacko. »Er wird dir den Schlüssel nicht freiwillig geben. Er hält dich für zu weich, aber du bist nicht zu weich, Lily! Du bist eine echte Gefährtin. Wir sind wie Wolf und Wölfin. Wir sind ein Paar, Lily. Weißt du noch, wie schön es damals in der einsamen Hütte war, nachdem du gesund geworden warst? Damals wurde das Leben wieder schön für dich. Und ich zeigte dir, wie leicht es ist, die menschliche Gesellschaft zu verachten und sich über sie zu
stellen. Los, Lily!« Aber sie zögert. Sie blickt in Ringo Kids Augen. Im letzten Licht der Abendsonne erkennt sie in Ringos Augen den bitteren Ernst – aber auch eine Spur Verständnis und Mitleid. Sie begreift, dass er sie trotz allem versteht und ihr wünscht, dass sie sich von ihrer Schuld Kilroy Malacko gegenüber freimachen kann. Sie erkennt aber auch, dass er entschlossen ist, alles auf eine Karte zu setzen. Sie wird ihn töten oder wenigstens schwer verwunden müssen, um Kilroy Malacko freizubekommen. Plötzlich sehen die beiden Männer, dass Tränen über ihre Wangen rinnen. Sie weint lautlos – so wie damals –, lässt die Waffe sinken und verbirgt sie wieder in der Rocktasche. »Verzeih mir, Roy«, flüstert sie, »verzeih mir, Roy, wenn du kannst. Ich stehe tief in deiner Schuld. Und ich habe mich auf den Weg gemacht, um dir zu helfen. Aber ich kann deinetwegen nicht töten. Ich kann es einfach nicht.« »Das sehe ich«, höhnt er. »Du kannst ihn nicht töten. Aber du kannst zusehen, wie sie mich hängen. Den einzigen Menschen auf dieser Welt, der in der Not zu dir hielt, den wirst du hängen sehen, obwohl du es nun schon zum zweiten Mal in deiner Hand hattest, ihm zu helfen. Oha, Lily, du kannst zur Hölle gehen! Und dabei wollte ich dir die ganze Welt zeigen! Mit dir wollte ich neu anfangen, und beide zusammen hätten wir alles, was hinter uns lag, eines Tages vergessen wie einen bösen Traum. Du dämliche, blöde, wankelmütige Gans! Begreifst du denn eigentlich richtig, was du jetzt eben alles aufgegeben hast, als es darum ging, den Finger zu krümmen?« Sie erwidert nichts. Ringo aber sagt ruhig: »Malacko, wenn du sie noch einmal beschimpfst, dann stoße ich dir deine Zähne in den Hals. Wenn du so viel für sie übrig hast, wie du vorgibst, wie kannst du dann von ihr verlangen, dass sie für dich tötet?«
»An meiner Stelle würdest auch du das von ihr verlangen«, sagt Malacko böse. »So eine Gelegenheit wie jetzt, die kommt so schnell nicht mehr. Sie hat schon wieder die große Chance verpasst.« Nach diesen Worten schweigen sie, denn es gibt nichts mehr zu sagen. *** Es wird Nacht, und die Postkutsche rollt immer weiter. Es könnte eine glatte, für die Verhältnisse in diesem Land auch schnelle Reise nach Santa Fe werden, gäbe es nicht eine Menge Männer, die an Kilroy Malacko interessiert sind. Ringo beugt sich aus dem Kutschenfenster und achtet nicht auf die Schmerzen in seiner Seite. »He!«, ruft er zum Fahrer hinauf. »Was ist?«, dringt es heiser durch das Räderrollen und durch den Hufschlag. »Wie lange habt ihr in Socorro Aufenthalt?« »Etwa eine halbe Stunde. Die nächste längere Pause wird erst wieder in Albuquerque eingelegt.« Ringo entscheidet sich binnen einer Sekunde. »Ich steige mit meinem Gefangenen eine Viertelmeile vor Socorro aus und eine Viertelmeile hinter Socorro wieder ein. Kann ich mich auf euch verlassen?«, ruft er. »Sicher! Schließlich arbeiten wir für die Postlinie, aus deren Kutsche Kilroy Malacko das viele Geld holte!«, klingt es grimmig zurück. Dann wird die Kutsche wieder schneller. Ringo wendet sich an Malacko. »Wir werden einen Bogen um Socorro machen, und du wirst dir bei dieser Gelegenheit etwas die Beine vertreten können.« Er wendet sich an Lily. »An Ihrer Stelle, Lily«, sagt er, »würde ich in Socorro
aussteigen. Sie können Malacko nicht helfen. Höchstens einen guten Anwalt können Sie ihm besorgen. Aber den braucht er erst zur Verhandlung.« Sie gibt ihm keine Antwort. Sie nähern sich Socorro. Zwischen einigen Felsen, die rechts und links die Straße flankieren, hält die Kutsche einen Moment an. Ringo hat seinen Colt schussbereit in der Hand, als er aus der Kutsche klettert und Kilroy Malacko nachkommen lässt. Die Kutsche fährt weiter. Lily Callaghan sprach kein Wort. Die beiden Männer stehen einige Sekunden lang schweigend mitten auf der staubigen Poststraße. Dann sagt Ringo: »Lauf wie ein Wolf, Malacko! Und versuch ruhig wieder eine neue Überrumplung! Vergiss nur nicht, dass ich dich beim dritten Mal töte! Denk daran!« Malacko schweigt, doch als Ringo ihn mit dem Coltlauf anstößt, beginnt er zu traben. *** Bill Gatewood sieht die Postkutsche kommen. Er kennt die Ankunftszeiten genau, deshalb war er schon vor einer halben Stunde über den Fluss gekommen, zwei hartgesottene Burschen hinter sich. Den betrunkenen Handelsreisenden, den der Begleitmann aus der Kutsche holt, betrachtet Bill Gatewood nur kurz. Viel interessanter findet er die Frau. Sein Blick saugt sich an Lily Callaghan fest, und sie begeht auch – ohne es zu wissen – einen großen Fehler. Sie verhält vor der Tür der Posthalterei und blickt sich um. Und so, vom bleichen Mondlicht angeleuchtet, hat Bill Gatewood sie in Erinnerung. So sah er Lily, als sie zu dem schwer verwundeten Marshal
ging, der am Boden lag. Aus seiner Deckung hervor hatte Bill Gatewood sie betrachten können. Aber sonst kommt niemand mehr aus der Kutsche. Da weiß Bill Gatewood ganz plötzlich Bescheid. *** In immer kürzeren Abständen muss Ringo Kid anhalten und ausruhen. Seine Seite ist ein einziger böser Schmerz, und immer dann, wenn er Luft holen muss, wird dieser Schmerz noch schlimmer. Jedes Mal, wenn sie verhalten oder im Schritt weitergehen, grinst Kilroy Malacko wie ein Wolf. Seine Zahnreihen blinken im Mondschein. Aber er sagt nichts. Er wartet nur darauf, dass Ringo von einer Schwäche übermannt wird. Einige Male ist das fast der Fall. Mehrmals wird es Ringo schwarz vor den Augen. Er kann seinen Gefangenen dann gar nicht sehen. Einmal stolpert er über einen Stein. Zum Glück fällt er gegen einen Felsen und nicht zu Boden. Mehrmals setzt Kilroy Malacko schon zum Sprung an, und sein Ziel ist Ringos wunde Seite. Er will sie mit einem Schlag seiner verschränkten Fäuste oder mit einem Fußtritt treffen, denn er ist sicher, dass er dann frei sein wird. Aber Ringo wird immer vorsichtiger. Er riskiert es lieber, die Postkutsche zu verpassen, als sich zu sehr anzustrengen. Endlich haben sie die Stadt umrundet. Gleich müssen sie wieder auf die Poststraße stoßen. Vor ihnen sind Felsen und Büsche. Ringo kann sich daran erinnern. »Jetzt langsam, Malacko!«, sagt er, tritt dicht hinter den Banditen und drückt ihm die Revolvermündung in den Rücken. »Versuch nur keinen Trick«, murmelt er. Sie kommen jedoch nicht weit. Bei den Felsen tritt ein Mann aus einer Lücke. Der Mann ist groß und
schwergewichtig wie ein Grizzly. Er hält seinen Colt schussbereit in der Hand. »Jetzt habe ich dich, Ringo!«, sagt er. »Und dazu habe ich auch noch den prächtigen Kilroy Malacko! Komm her, Malacko! Lass Onkel Ringo allein! Ringo, ich habe dich in der Klemme. Ein halbes Dutzend Gewehre sind auf dich gerichtet. Meine Jungs putzen dich so sauber von Malacko weg, dass nur er übrig bleibt. Oder willst du ihn mit zur Hölle nehmen? Das wäre aber nicht ehrenwert, Freund Ringo. Denn was kann Malacko dafür, dass wir Gatewoods zuerst wegen unserer Schwester hinter dir her waren? Ringo, willst du nicht lieber wie ein Mann sterben? Ich will dich meinen beiden Brüdern nachschicken. Also mach schon! Gib Malacko frei und nimm es hin wie ein Mann!« In Bill Gatewoods Bassstimme ist die ganze Mitleidlosigkeit eines Burschen, der sich am Ziel seiner gewalttätigen Wünsche sieht. Ringo blickt nach rechts und links über die Schultern. Er kann zwar keine sechs Gewehre sehen, doch zumindest zwei über den brusthohen Felsen. Die dahinter stehenden Männer zielen auf ihn. Ja, er hat verloren. Er ist erledigt. Es gibt keinen Ausweg. Das begreift er sofort. Deshalb flüstert er Kilroy Malacko zu: »Also geh! Es hat keinen Sinn, dass du hier bei mir stehen bleibst. Sie werden dich zwar auch töten, doch gewiss erst später, wenn du sie zum Versteck deiner Beute geführt hast. Glaub nur nicht, dass dieser Bill Gatewood mit dir teilt. Also geh! Zum Abschied könntest du mir jedoch verraten, wo dein Schatz zu finden ist. Oder ist das zu viel verlangt?« »Nein«, murmelt Malacko. »Ich komme vom Regen in die Traufe. Gegen drei Mann habe ich keine Chance – und vielleicht sind es noch mehr. Wo ich meine Beute verborgen habe? Oha, soll ich es dir sagen? Aber du bist ja gleich tot. Und
den Burschen wirst du es nicht verraten. Also gut, die Beute liegt in Rositas Brunnen. Rosita mochte mich schon immer. Sie hätte für mich auch getötet. Sie ist zwar dumm, doch…« »He, kommst du jetzt endlich – oder lässt er dich nicht gehen?«, brüllt Bill Gatewood scharf. Von der Stadt her hört man jetzt das Rollen der Postkutsche, das Peitschenknallen und die scharfen Rufe des Kutschers. Die Nacht ist still. Alle Geräusche klingen weit. Malacko geht plötzlich geradeaus zu Gatewood hinüber. Er versperrt ihm das Schussfeld. Gatewood tritt deshalb etwas zur Seite. Und Ringo Kid wagt es. Er muss jetzt mit letzter Verzweiflung um sein Leben kämpfen. Er hechtet nach vorn, als wollte er Malackos Fersen ergreifen. Er lässt sich auf seine gesunde Seite fallen und rollt sich um die Längsachse. Kugeln suchen nach ihm, fetzen durch seine Kleidung, brennen über seine Haut und schrammen durch sein Fleisch. Aber es ist nicht so einfach, mit einem Gewehr auf ein sich schnell bewegendes Ziel zu schießen. Die beiden Kerle haben keine Schrotflinten, sondern normale Winchester. Vielleicht hätten sie ihn mit Colts besser getroffen. Ringo prallt gegen einen Felsen, richtet den Oberkörper ein wenig auf und schießt mit dem Colt, den er nicht aus der Hand gelassen hat. Seine Kugel zwingt den einen Gewehrschützen in Deckung, und der andere hat kein Schussfeld mehr auf ihn, weil Ringo sich zur Seite gerollt hat. Aber da ist Gatewood mit seinem Colt, dem Malacko nun nicht mehr das Schussfeld versperrt. Ringo glaubt plötzlich, dass sein Kopf zerspringt. Und dann weiß er nichts mehr.
* * * � Wenig später hält die Postkutsche. � Diesmal sind drei männliche Fahrgäste darin. Sie und der Begleitmann laufen von der Straße zwischen die Felsen. Auch Lily hält es nicht länger in der Kutsche. Sie kommt noch dazu, als sie Ringo Kid finden. Einer der Fahrgäste ist offenbar Arzt. Er untersucht Ringo sorgfältig, lässt sich Wasser bringen und spült das Blut aus Ringos Haar. »Der hat aber Glück gehabt«, sagt er dann. »Nur harmlose Streifwunden und die Schramme am Kopf. Dem hat der liebe Gott persönlich beigestanden. Aber er muss ins Bett.« Lily Callaghan hat, wie alle anderen Leute, die Reiter davongaloppieren gehört. Sie begreift, dass man Ringo Kid niedergeschossen hat, um Kilroy Malacko zu bekommen. Sie ist froh darüber. Irgendwie fühlt sie sich nun von einer Schuld erlöst. Denn noch glaubt sie, dass Malacko von Freunden befreit worden ist. Und was nun? Sie überlegt fieberhaft, was sie tun soll. Mit einem Mal weiß sie es. »Bitte, Gentlemen, tragt ihn in die Kutsche!«, sagt sie. »Selbst wenn die Kutsche noch einmal umkehrt, kann sie die verlorene Zeit bis Albuquerque aufholen. Es ist eine sehr helle Nacht, sodass man wie am Tage fahren kann. Bitte helfen Sie mir, Gentlemen, den Verwundeten in die Stadt zu schaffen!« *** Es ist schon wieder Tag, als Ringo endlich erwacht. Sein Kopf dröhnt und pocht im Rhythmus des Pulsschlages. Er sieht Lily Callaghan neben seinem Bett. Eine Weile betrachtet er sie. Dann erst setzt die Erinnerung mit allen Einzelheiten ein.
Er versucht ein Lächeln, aber es wirkt bitter und verzerrt. Nach zwei vergeblichen Versuchen gelingt es ihm, einigermaßen verständlich zu sprechen. »Lily, warum bist du bei mir?«, fragt er. Sie hebt ihre Augenbrauen, als staunte sie über seine Frage. »Wo sollte ich sonst sein?«, fragt sie, und es ist, als lauschte sie tief in sich hinein, um selbst eine Antwort zu finden. »Wo sollte ich sonst sein?«, wiederholt sie und findet dann endlich die Antwort. »Roy Malacko wurde befreit«, sagt sie, »gewiss von seinen Freunden. Ich war zu euch gestoßen, weil ich Malacko helfen wollte und ihm meine Schuld bezahlen musste. Aber ich war ihm keine Hilfe. Ich versagte, deshalb muss ich für immer in seiner Schuld bleiben. Doch ich glaube, dass er mich nicht mehr braucht. Darüber bin ich froh. Du brauchst mich jetzt, Columbus.« Sie spricht seinen Namen sehr ernst, und sie nennt ihn nicht Ringo – wie alle Welt. Er erinnert sich daran, dass seine Mutter ihn als einziger Mensch nicht Ringo, sondern Cole nannte, manchmal auch Columbus. Er denkt jetzt auch daran, wie gut es damals daheim war und wie sehr er seine Mutter liebte. Auf seinen Vater war er stolz. Er grinst und sieht Lily an. »Meine Mutter nannte mich Cole«, sagt er. »Und dieser Name gefällt mir besser als Ringo Kid. Lily, ich mag dich sehr. Ich mochte dich vom ersten Moment an. Und ich wusste nicht, wie ich dir helfen konnte. Zuerst glaubte ich, dass du Kilroy Malacko mehr liebst als dein Leben. Ich war dann sehr froh, als ich erkannte, dass du dich ihm gegenüber aber nur verpflichtet fühltest. Lily, könnte es sein, dass wir uns ineinander verliebt haben?« Ihre Augen weiten sich, aber nicht vor Schreck, sondern wie bei einer überraschenden Erkenntnis.
»Ja«, sagt sie, »das könnte sein. Oh, Cole, ich glaube, es ist so!« Da vergisst Ringo Kid Columbus Sheldon sogar seine bösen Kopfschmerzen und versucht noch einmal ein Lächeln. Diesmal gelingt es ihm besser. Es ist nicht mehr so verzerrt. Lily Callaghan beugt sich über ihn und küsst ihn. »Ja, Cole, es ist so«, sagt sie danach. »Wir sind unter ganz besonderen Umständen ein Stück des Weges gemeinsam geritten und haben uns ineinander verliebt. Und ich bin glücklich darüber. Es ist auch gar nicht so ungewöhnlich. Warum sollen sich ein Mann und ein Mädchen nicht ineinander verlieben? Du wirst gesund werden und…« Er unterbricht sie leise: »Es ist noch nichts beendet, Lily, und es kann deshalb für uns noch keinen Anfang geben. Roy Malacko wurde nicht von seinen Freunden entführt. Aber selbst wenn das der Fall wäre, müsste ich ihn verfolgen. Lily, er wurde von Bill Gatewood entführt. Gatewood hat eine Bande bei sich. Sie werden Roy Malacko irgendwie dazu bringen, dass er ihnen das Versteck seiner Beute verrät. Oh, ich weiß, Malacko ist hart und zäh! Sie werden wahrscheinlich Tage brauchen und gewiss auch indianische Methoden anwenden, um ihm sein Geheimnis zu entreißen.« Er macht eine Pause. Das Sprechen strengt ihn zu sehr an. Lily Callaghan aber sitzt kerzengerade da – erstarrt und erschrocken. Nach einer Weile sagt er: »Kilroy Malacko kam vom Regen in die Traufe. Wenn sie seine Beute gefunden haben, werden sie ihn töten. Aber er hat Anspruch auf eine Gerichtsverhandlung. Sie haben ihn mir fortgenommen, und es ist meine Pflicht, ihn ihnen wieder abzunehmen und ihm zu einer fairen Gerichtsverhandlung zu verhelfen, auf die er als Mensch ein Recht hat. Ich muss auch verhindern, dass die Bande die Beute erwischt. Willst du mir helfen, Lily? Du hilfst damit Kilroy Malacko wenigstens in dem Sinn, dass er nicht
ermordet werden kann, sondern eine faire Verhandlung bekommt, wie das Gesetz es vorschreibt. Hilf mir, Lily! Ich muss hier raus! Ich muss möglichst bald in einer Extrapost nach Norden fahren. Der Vorsprung der Bande darf nicht zu groß werden.« Er spricht die Worte mit letzter Kraft. Dann kann er nicht mehr. Er wird von einem Atemzug zum anderen bewusstlos. *** Als er am Abend erwacht, geht es ihm besser. Sein Kopf schmerzt nicht mehr so schlimm. Hatte er am Morgen nicht das geringste Hungergefühl gehabt, so ist das nun anders geworden. Lily ist immer noch – oder schon wieder – bei ihm. Sein Blick ist fragend. »Ich habe mit dem Postagenten gesprochen«, sagt sie. »Sobald du reisen kannst, bekommst du eine Extrapost. Er sagt, dass er von der Postgesellschaft Anweisung bekam, alles zu tun, was zur Rückführung des Banditen Kilroy Malacko erforderlich ist. Aber kannst du dich schon in eine schwankende, rüttelnde Postkutsche setzen?« »Bitte verschaff mir ein gutes Abendbrot«, murmelt er. »Dann werden wir es mal ausprobieren.« Sie verharrt einige Sekunden vor seinem Bett und blickt auf ihn nieder. Dann nickt sie. »Ja, Cole, ich will dir helfen.« Er lächelt ernst. »Da du mich Cole und nicht Ringo nennst, darf ich wohl annehmen, dass deine Gefühle immer noch die gleichen sind, nicht wahr?« Da kommt sie zu ihm und küsst ihn sanft. »Ich will dir helfen, dass Roy Malacko nicht von Banditen ermordet wird«, murmelt sie. »Ich begreife, dass ich nicht mehr
für ihn tun kann. Aber das will ich! Vielleicht gibt es später ein paar Dinge, die für ihn sprechen, die…« Als sie gegangen ist, erhebt er sich. Er hat sie mit Absicht fortgeschickt, denn er will allein ausprobieren, ob er sich schon wieder auf den Beinen halten kann. Es geht besser, als er dachte. Lily kommt mit dem Tablett herein, und sie staunt, ihn schon fast reisefertig zu sehen. »Es geht mir gut«, sagt er. »Wir können fahren, Lily. Willst du mir noch einen großen Gefallen tun und zum Postagenten gehen, während ich esse? Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wann hast du gegessen?« »Vor einer Stunde habe ich mir etwas heraufbringen lassen«, murmelt sie und geht zur Tür. Dort blickt sie noch einmal über die Schulter auf ihn zurück. Ringo erwidert ihren Blick. »Hast du eine Idee, Cole, wo du Roy Malacko aus den Händen der Bande befreien kannst?«, fragt sie plötzlich. Ringo Kid nickt langsam. »Ich weiß von Marshal Wayne Adams, wo Malacko die Postkutsche ausraubte. Es war auf halbem Weg zwischen Santa Fe und Taos. Es muss dort in den Bergen ein Mädchen oder eine Frau geben, die Rosita heißt. Als Malacko herausfand, dass man ihn so früh verfolgte, und begriff, dass die Säcke mit den Goldstücken seine Flucht zu sehr behindern würden, ließ er sie bei dieser Rosita zurück. Ich muss herausfinden, wer Rosita ist und wo sie lebt. Ich muss das herausfinden, bevor es die Bande aus Malacko herauspresst. Nur dann kann ich vor ihnen dort sein und sie erwarten. Weißt du etwas von einer Rosita, Lily? Hat er zu dir einmal davon gesprochen, dass es in seinem Leben eine Rosita gibt oder gegeben hat?« Er kann im Lampenschein erkennen, wie sie nachdenkt. Dann schüttelt sie den Kopf. »Er und ich«, murmelt sie, »hatten beide unsere
Vergangenheit, über die wir nicht sprachen. Nein, ich weiß nichts von einer Rosita.« Sie sieht ihm ruhig in die Augen, bevor sie geht. Ringo Kid isst mit Appetit. Als er fertig ist, erhebt er sich und tritt zum Fenster. Er sieht die Kutsche aus dem Hof der Poststation kommen und erwartet, sie vor dem Hotel anhalten zu sehen. Er wendet sich um und will Lilys und seine wenigen Sachen zusammensuchen. Aber mitten in der Bewegung hält er inne, lauscht ungläubig und eilt wieder zum Fenster. Er beugt sich weit hinaus und sieht die Postkutsche aus dem Ort rollen. Die Pferde galoppieren. Er flucht bitter. Jetzt ist ihm klar, dass Lily ihn angelogen hat. Etwa fünfzehn Minuten später ist er dennoch in einer Kutsche unterwegs. Aber diese Extrapost ist alt und wurde vor einer Woche außer Dienst gestellt. Jetzt soll sie noch einmal den rauen Weg hinauf nach Santa Fe fahren. Das Gespann ist auch nichts besonders gut. Die vier Pferde können Lily nur dann einholen, wenn an ihrer Kutsche ein Rad brechen sollte. Ringo Kid hat sich auf die hintere Bank gesetzt, die Beine ausgestreckt und seinen Kopf in die Ecke gedrückt. Er kann ihr nicht böse sein. Er ist auch nicht allzu sehr enttäuscht. Lily ist eine Frau, die ihre Schulden bezahlen will. *** Lily Callaghans Kutsche ist eine Extra- oder Expresspost im wahrsten Sinne. Sie ist schnell und bekommt auf allen Relaisstationen ein frisches Vierergespann. Da es sich um eine
kleine Kutsche handelt, die nur einen einzigen Passagier befördert, ist das sonst in diesem Land übliche Sechsergespann nicht notwendig. Lily Callaghan hat nirgendwo Schwierigkeiten. Einige Worte ihres Fahrers genügen. Es kommt dann oder wann vor, dass die Postgesellschaft für viel Geld solche Expresskutschen verkehren lässt. Deshalb ist ihre Kutsche nicht ungewöhnlich. Lily Callaghan denkt unterwegs oft an Ringo. Es war nicht einfach für sie, ihn zu verlassen. Dass sie ihm diese Enttäuschung zufügen musste, bereitet ihr echten Schmerz. Dennoch glaubt sie, dass er sie irgendwie verstehen kann. In Santa Fe verlässt Lily Callaghan die Kutsche, und da die Aufgabe des Fahrers hiermit erledigt ist, kümmert er sich nicht darum, wohin sie geht. Im Hauptbüro der Postgesellschaft, in dem sich der Fahrer etwas später meldet, um seinen Fahrauftrag abzugeben, ist man davon überzeugt, dass der weibliche Fahrgast zum US Marshal gegangen ist. Durch den Fahrer wird nun auch endlich in Santa Fe bekannt, was alles passiert ist: dass US Deputy Wayne Adams ausfiel und dass es auch dessen Gehilfen nicht gelang, den Gefangenen zu behalten. Ja, es wird auch bekannt, dass Kilroy Malacko entweder in Freiheit ist oder der Gefangene einer Bande wurde, die ihm seine Beute abnehmen will. Das alles lässt Lily Callaghan in einem schnellen Zweiräder, der gut gefedert ist, hinter sich. Sie hat den leichten Buggy in einem Mietstall am Ende der Pueblo Stadt gemietet. Unterwegs hat sie in einem Store ein paar Kleinigkeiten gekauft. Und nun lässt sie den Rappen traben. Die Wagenstraße führt in die Berge hinauf nach Taos. Ist Santa Fe die Zweitälteste Stadt der Vereinigten Staaten überhaupt, so ist Taos der bekannteste der achtzehn großen Indianerpueblos von New Mexico. Um ihn herum entstand die Stadt.
Lily Callaghan weiß, dass sie etwa dreißig Meilen in Richtung Taos fahren muss, bis sie zu der Abzweigung gelangt, die zu der westlich gelegenen Rosita-Mine führt. Als aber die Nacht kommt, muss Lily bald erkennen, dass es in den Schluchten und Canyons zu dunkel wird, um den Weg fortzusetzen. Lily Callaghan lenkt das leichte Gefährt von der Straße. Das Pferd schirrt sie nicht aus, bindet es jedoch an. Sie bleibt im Wagen sitzen und hüllt sich in eine Decke. Bald ist sie eingeschlafen. Es tut gut, einmal nicht gerüttelt und geschüttelt zu werden. Als sie erwacht, übergießt bleiches Mondlicht die Wagenstraße. Lily bindet das Pferd los, nimmt die Zügel und klettert in den Wagen. Vorsichtig fährt sie aus der Felsengruppe heraus auf die Straße. Und dann lässt sie das Tier schnell traben. Sie hat in dieser Nacht Glück und erreicht ohne Schwierigkeiten die Abzweigung des Weges. Nur ab und zu sah sie rechts oder links der Straße Lichter in der Nacht. Einmal kam sie durch eine schlafende Ortschaft. Nun, als es Tag wird, hält sie bei der Abzweigung an und liest auf einem Wegweiser: Rosita Mine 3 Miles Lily fährt wieder an. Sie ist auf Rosita neugierig, nach der die Mine benannt wurde. Es ist eine kleine Mine, und sie scheint auch nicht mehr in Betrieb zu sein. Der Weg führt daran vorbei weiter in das Hochland hinein. In der Ferne ragen hohe Mesas in das Licht des jungen Tages. Die Mine liegt im Schutz einer mächtigen Felsbarriere, die sich viele Meilen weit von Ost nach West zieht. Außer einigen Steinhalden, die darauf schließen lassen, dass man hier nach Silber suchte, gibt es ein paar Gebäude und
Schuppen, dazu einen Corral und ein kleines Stampfwerk, das mit der Kraft eines Wasserfalls betrieben wird. Es ist wirklich nicht viel, was da zu sehen ist. Ein Stollen führt in die Felsbarriere hinein. Lily Callaghan fährt vor das Wohnhaus und hält dicht bei einem Brunnen an. Neben und hinter dem Wohnhaus gibt es einen kleinen Garten. Und dort kommt nun eine Frau zum Vorschein. Sie nähert sich langsam. Es ist eine Mexikanerin, etwas älter als Lily und schon von jener Fülle, die dem Fettwerden vorangeht. »Sind Sie Rosita?«, fragt Lily. Die Mexikanerin nickt. Sie betrachtet Lily aufmerksam. »Wollen Sie zu mir?«, fragt sie, und in ihrer kehligen Stimme ist eine Spur von Misstrauen. In ihren schwarzen Augen aber funkelt Neugier und jene Erregung, die einsame Menschen beim Anblick von Besuchern verspüren. »Ja, ich wollte zu Ihnen«, antwortet Lily und sieht sich um. »Ich bin Lily Callaghan. Leben Sie ganz allein hier?« Rosita Gutierrez antwortet nicht sofort. Forschend betrachtet sie Lily erst eine Weile. »Zurzeit«, sagt sie, »lebe ich allein hier. Meine Brüder und ich, wir glauben an diese Mine. Irgendwo im Berg ist eine dicke Silberader. Aber man braucht Betriebskapital. Werkzeuge, Lebensmittel, Sprengstoff – alles ist teuer. Meine Brüder sind für einige Wochen nach Santa Fe gegangen.« Rosita Gutierrez lächelt. »Einer von uns Gutierrez lebt immer hier«, antwortet sie. »Diese Mine und dieses Land schenkte der spanische König einem unserer Vorfahren für große Verdienste. Die Schenkung gilt, solange ein Gutierrez oder Angehöriger seiner Familie darauf leben. Auf diese Art wollte die spanische Krone dieses Land besiedeln. Sie sorgte dafür, dass sich stets jemand auf
dem jeweiligen Besitz befinden musste. Vielleicht war es auch nur eine verrückte Laune des Gouverneurs, dem wir diese Klausel in der Schenkungsurkunde verdanken. Vielleicht wollte man unsere Vorfahren damit in eine Verbannung schicken. Doch die Urkunde gilt immer noch. Man kann uns das Land und damit auch die Mine nehmen, sobald es länger als einen Tag von allen Mitgliedern der Familie verlassen wird. Deshalb bleibe ich hier, bis meine Brüder genügend Geld verdient haben, um weiter nach der großen Silberader zu suchen. Sie muss verschüttet worden sein. Aber ich rede wie ein Wasserfall und weiß immer noch nicht, was Sie hergeführt hat.« »Die Einsamkeit macht Sie so redselig.« Lily lächelt ernst. »Ich kenne das. Einst lebte ich auch viele Wochen einsam in einer verborgenen Hütte. Ich konnte mich nur mit mir selbst unterhalten. Dann besuchte mich Kilroy Malacko, und obwohl ich krank war, redete ich auch so viel. Ich komme wegen Kilroy Malacko, Rosita Gutierrez.« Nun wirkt Rosita mit einem Male sehr starr. Doch nach einer Weile murmelt sie: »Ja, er war einmal eine lange Zeit nicht bei mir. Ich schickte ihm manchmal Briefe nach Golden Creek bei Denver – in Lilys Saloon. Jetzt weiß ich, wer Sie sind, Lily Callaghan.« »Ich verdanke ihm mein Leben«, sagt Lily. »Ich bin gekommen, um ihm zu helfen. Darf ich bleiben? Wir müssen…« *** Ringo Kid kommt einige Stunden später als Lily nach Santa Fe. Er ist ein kranker, von hohem Fieber geschüttelter Mann, als er die Kutsche verlässt und das Office des US Marshals aufsucht. Mit letzter Kraft erstattet er Bericht.
Der Marshal hört ihm zu und sagt dann: »Ich habe nicht genug Deputys – einfach nicht genug. Denn wer nimmt es schon für ein paar Dollars im Monat auf sich, Deputy zu werden und sich mit all den kleinen Schwierigkeiten herumzuschlagen? Der ganze Südwesten ist voller Halsabschneider und Banditen. Alle Verbrecher suchen hier Zuflucht – und finden sie. Ich habe etwa zwei Dutzend Deputys unterwegs. Vielleicht geht es ihnen wie Wayne Adams und dessen Kollegen. Vielleicht werden auch sie getötet oder angeschossen. Junger Mann, Wayne Adams muss eine Menge von Ihnen halten. Wollen Sie zum Deputy Marshal aufsteigen? Als US Deputy stehen Sie im Rang eines Captains…« »… und verdiene eine Handvoll Dollars im Monat.« Ringo Kid grinst müde. Er erhebt sich. »Ich kann nicht mehr«, schließt er. »Ich muss mich erst mal ein paar Stunden langlegen und dann gut essen. Haben Sie einen Platz in einer Zelle frei? Dort schläft man doch wohl ungestört – oder? Und nachher werde ich Kilroy Malacko holen. Das verspreche ich. Die Witwe des getöteten Deputys bekommt die fünftausend Dollar Belohnung, wie Wayne Adams es haben wollte. Ich habe ihm das versprochen.« Der Marshal nickt zufrieden. Er bringt Ringo zum Zellenraum und deutet auf eine offene Tür. »Dort drin schlafe auch ich manchmal, wenn ich meine Ruhe haben will und mir der Weg zum Hotel zu weit ist«, sagt er. »Ich werde einen Arzt kommen lassen, der Ihre Verbände und Pflaster nachsieht. Vielleicht kann er Ihnen etwas eingeben, mein Junge, was Ihr Fieber drückt. Aber eines möchte ich noch wissen, bevor Sie zu schnarchen beginnen: Wo, glauben Sie, können Sie Kilroy Malacko einfangen?« Aber er bekommt keine Antwort mehr. Ringo Kid hat sich inzwischen auf die Pritsche fallen lassen und ist sofort weg. Für einen verwundeten Mann war die Fahrt
in der alten Kutsche einfach zu viel. Der alte US Marshal ist allerdings nicht so ganz sicher, ob dieser Ringo Kid nicht vielleicht doch noch seine Frage hätte beantworten können, wenn er das gewollt hätte. Er kaut grimmig und missmutig an seinem Bart. »Diese Jungen«, brummt er, »sind manchmal ehrgeizig und machen Dinge wie diese zu ihrer ganz persönlichen Sache. Aber wenn es solche Burschen nicht gäbe! Oha, wie sähe es dann hier im Westen aus? Zum Teufel! Wenn ich nicht in meinem Hauptquartier hocken müsste, weil es meine Aufgabe ist, alle Fäden in der Hand zu halten und meine Jungs zu dirigieren, dann würde ich selbst noch einmal losziehen und die raue Arbeit da draußen erledigen.« Er kehrt brummend in sein Office zurück und tritt dann vor die Tür auf den Plankengehsteig. Ein Junge hockt an der Hauswand auf einer Bank. »Lauf, Jerry!«, sagt der Marshal. »Hol mir den Doc und sag ihm, er soll seinen Pflasterkasten mitbringen. Und dann holst du aus dem Hotel einen Eimer höllisch heißes Wasser und saubere Handtücher. Rasch, Jerry!« Der Junge läuft los, denn es ist sein größter Wunsch, einmal ein US Marshal zu werden. *** Ringo Kid schläft wie ein Toter. Er merkt nicht, dass sich der Doc mit Hilfe des Marshals um ihn bemüht. Sie entkleiden ihn, versorgen seine Wunden und erneuern Pflaster und Verbände. »Er ist ohnmächtig«, brummt der Doc. »Irgendwann wird diese Ohnmacht in einen tiefen Schlaf übergehen. Ich glaube, dieser Bursche ist so zäh wie ein Wüstenwolf. Nach zehn Stunden kennt man ihn gewiss nicht wieder. Sorgen Sie nur für einen gebratenen Büffel und einige andere gute Sachen. Vielleicht will er als Vorspeise einen Walfisch essen. Dieser
Hombre wird das nach dem Erwachen nötig haben.« »Und wenn wir eine ganze Herde für ihn schlachten müssen«, knurrt der Marshal, »er wird sie bekommen.« Nach genau acht Stunden erwacht Ringo Kid. Zuerst fühlt er sich wohl. Kein Fieber mehr, keine Schmerzen, keine Schwäche – nichts. Aber dann spürt er seinen Hunger. Als er sich aufsetzt, knarrt nicht nur die Pritsche, sondern auch sein Magen knurrt wie ein Wolf. Der Marshal erscheint in der Tür, wirft einen Blick auf Ringo und ruft dann über die Schulter ins Office: »Lauf los, Jerry, und hol‹s herüber! Hol es schnell, Jerry! Er sieht mich so hungrig an, dass es kein Wunder wäre, wenn er versuchen würde, mich zu fressen.« Ringo sieht den Marshal grimmig an. »Sie haben es nötig, über mich Witze zu reißen!«, sagt er und stellt jetzt erst fest, dass er entkleidet ist und dass man sich um seine Wunden gekümmert hat. Seine Kleidung liegt gewaschen, geflickt und gebügelt auf dem Hocker neben der Schlafpritsche. Ein neues Hemd ist dabei. Er erhebt sich und er ist kaum gewaschen und angekleidet, als im Office die Teller klappern und Essensduft in den Zellenraum zieht. Eine halbe Minute später kaut Ringo Kid mit vollen Backen. Doch er kaut gründlich und schlingt nicht. Der Marshal sieht ihm zu. Als Ringo halbwegs gesättigt scheint, fragt der Marshal: »Und wie soll es nun weitergehen, mein Junge?« Ringo betrachtet ihn nachdenklich. »Sie werden doch wohl nicht versuchen, mir die Sache aus der Hand zu nehmen?«, fragt er trocken und hat ein Funkeln in den Augen. Der Marshal wiegt den grauen Kopf.
»Ein Aufgebot wäre gewiss nicht schlecht«, erwidert er. »Doch wir wüssten ja nicht mal, wohin wir reiten müssten, nicht wahr? Oder irre ich mich da?« Ringo schüttelt den Kopf. »Ein Aufgebot ist zu leicht zu entdecken und zu laut. Marshal, ich habe Ihnen etwas verschwiegen. Ich weiß noch eine Kleinigkeit. Kilroy Malacko, der glaubte, dass ich nicht mehr lange leben würde, gab mir noch den Tipp, als ich ihn fragte, wo er seine Beute versteckt hat. Aber wenn ich Ihnen davon erzähle und Sie dann mit einem Aufgebot herumtrampeln, ist alles umsonst.« »Hab Vertrauen zu mir, mein Junge«, murmelt der Marshal. »Ich bin kein Narr und habe längst begriffen, dass du eine ganze Menge auf dem Kasten hast. Ich werde dir jede Chance geben. Erzähl mir endlich alles!« Und das tut Ringo. Nur die Sache mit Lily verschweigt er. Er endet mit den Worten: »Malacko nannte mir also den Namen der Frau. Irgendwo zwischen Taos und Santa Fe muss es eine Frau geben, die Rosita heißt. Bei ihr kam er auf der Flucht vorbei, und bei ihr liegt seine Beute verborgen. Allerdings ist noch unklar, ob diese Rosita das weiß oder nicht. Malacko kann seine Beute ohne ihr Wissen versteckt haben. Marshal, kennen Sie eine Rosita zwischen Taos und hier?« Ringo verschweigt, dass die Beute im Brunnen liegen soll, wahrscheinlich deshalb, weil er dem alten Marshal immer noch nicht traut und fürchtet, dass dieser mit einem Aufgebot aufbrechen wird, um Kilroy Malacko und dessen Entführer abzufangen oder ihnen eine Falle zu stellen. Und in eine Falle werden sie gewiss nicht hineinrennen. Nie! Der Marshal grinst ihn spöttisch an. Seine Falkenaugen funkeln. »Rosita? Oho, es gibt zwischen Taos und Santa Fe gewiss hundert Rositas. Aber unter all diesen Rositas gibt es zwei
bemerkenswerte, die sehr verschieden sind und dennoch in einem engen Zusammenhang stehen. Da gibt es die alte Silbermine Rosita aus der Spanierzeit. Sie gehört den Gutierrez, die ihre Töchter stets Rosita taufen. Rosita lebt jetzt einsam auf der Mine, denn ihre Brüder sind schon seit Wochen in der Stadt. Sie arbeiten hier in Santa Fe, um Geld zu verdienen. Die Rosita-Mine wirft nämlich schon viele Jahre keinen Gewinn mehr ab. Aber die Gutierrez glauben an eine reiche Silberader, die irgendwann einmal verschüttet worden ist. Deshalb verdienen sie sich immer wieder Geld, um für eine Weile in ihrer Mine arbeiten zu können. Ob Kilroy Malacko diese Rosita gemeint hat? Ist das möglich? Könnte es nicht sein, dass er eine von den vielen anderen Rositas meinte, die es in unserem Land zwischen Taos und Santa Fe gibt?« »Vielleicht«, murmelt Ringo Kid, »vielleicht aber auch nicht. Ich muss hin, und wenn ich dort bin, kann ich das sehr schnell herausfinden. Marshal, es ist Nacht geworden. Ich muss jetzt gleich losreiten. Aber ich will mich durch die Hintertür schleichen. Geht das?« »Sicher«, sagt der Marshal. »Ich beschaffe dir ein gutes Pferd und auch genügend Proviant. Natürlich werde ich dir den Weg zur Mine genau beschreiben. Aber mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Ich gebe dir drei Tage Zeit, Ringo. Dann komme ich mit einigen Reitern. Bis dahin sind auch zwei meiner Deputys zurück. Drei Tage Zeit hast du, mein Junge, keine Stunde mehr.« »Mehr brauche ich nicht. Denn selbst wenn dieser Bill Gatewood mit seinem Gefangenen auf verborgenen Pfaden viele Umwege reiten muss, wird er spätestens in zwei Tagen am Ziel eintreffen. Marshal, ich habe das feste Gefühl, dass Kilroy Malacko die Rosita-Mine meinte, bei der ein Mädchen mit dem gleichen Namen zu finden ist.« ***
In dieser Nacht bringt Ringo Kid den Ritt zur Rosita-Mine hinter sich, und es ist noch nicht Tag, als er sich in einer tiefen Felsspalte ein Versteck sucht, um auszuruhen, zu essen, zu schlafen und immer wieder zu beobachten. Leider kann er die Mine nur von der Seite her einsehen, aber er glaubt, dass Bill Gatewood mit seinen Männern und dem Gefangenen auf dem gleichen Weg kommen wird wie er selbst. Zweimal an diesem Tage sieht Ringo die beiden Frauen. Und weil Lily hier ist, weiß er mit Sicherheit, dass er am rechten Ort ist. Aber wie soll es weitergehen? Stündlich können jetzt Bill Gatewood und die anderen Reiter eintreffen. Wahrscheinlich werden sie Kilroy Malacko in den Brunnen schicken, damit er die dort verborgene Beute ans Tageslicht holt. Immer wieder im Verlauf des Tages muss Ringo an den Brunnen denken. Warum hat Kilroy Malacko die Beute ausgerechnet in diesen Brunnen geworfen? Geschah es in höchster Not oder letzter Minute? Oder weil er Rosita auf seiner Seite wusste, sie einweihte, weil er erwartete, dass sie auf seinen Schatz achten würde? Vielleicht sollte sie das Geld sogar herausholen und in der Mine verbergen? Ringo denkt lange nach, und er gelangt zu der festen Überzeugung, dass es mit dem Brunnen eine besondere Bewandtnis haben muss. Verstecke wie diesen Brunnen hätte Malacko auch anderswo auf seinem Fluchtweg finden können. Es sieht jedoch so aus, als hätte er sogar einen kleinen Umweg über die RositaMine gemacht, um hier seine Beute loszuwerden. Als es Abend wird, macht Ringo sich auf den Weg. Von der Schmiede aus beobachtet er das Wohnhaus. Lichtschein fällt aus den Fenstern.
Die beiden Frauen hatten am Abend noch einmal die Pferde im Corral versorgt und waren dann ins Haus gegangen. Der Kamin begann zu rauchen. Der aus den Fenstern fallende Lichtschein reicht bis zum Brunnen. Ringo kann es noch nicht wagen, sich zum Brunnen zu schleichen. Es wäre zu gefährlich. Später, als er glaubt, dass die Frauen gegessen haben, erlebt er eine Überraschung. Das Licht verlischt, und bald darauf kommen sie beide heraus und begeben sich zum Corral. Ringo gleitet aus der Schmiede, läuft um diese herum bis zu einer der hinteren Ecken. Hier schmiegt er sich an die Wand, und er kann die Stimmen der Frauen vernehmen. Er hört, dass die Mexikanerin sagt: »Wir nehmen den Schecken. Der ist in den Bergen kaum zu schlagen. Du siehst, Lily, dass es gut war, ihn nicht zu früh in den Stollen zu schaffen. So konnte er noch bis zu dieser Nacht in der frischen Luft sein. Er ist voll Energie und zäher Kraft. Auf ihm kann Roy gewiss entkommen. Ich glaube, wir werden dein Tier als Packpferd auswählen, nicht wahr?« Lily antwortet zustimmend. Dann führen sie die Pferde aus dem Corral quer über den Minenhof in das dunkle Maul des Stollens. Für einen Moment schimmert Licht aus dem Loch. Wahrscheinlich haben sie eine Laterne angezündet, die ihnen und den Pferden den Weg beleuchtet. Doch ganz plötzlich ist der Lichtschein weg. Ringo weiß, was das zu bedeuten hat. Sie haben die Laterne bestimmt nicht jäh ausgelöscht. Eher ist es wohl so, dass sie vom Hauptstollen in einen Querschlag abgebogen sind, der gewiss parallel zum Felssattel verläuft. Ringo nimmt sich jetzt nicht die Zeit, genau herauszufinden, was Kilroy Malacko dort im Stollen mit den beiden Pferden anfangen soll. Er ahnt es mit ziemlicher Sicherheit.
Ringo setzt sich in Bewegung, und er beeilt sich mächtig, denn er weiß, dass er so schnell keine bessere Gelegenheit finden wird, in den Brunnen zu gelangen. Er läuft schnell über den Hof, erreicht den gemauerten Brunnenrand und beugt sich darüber. Im schwachen Sternenlicht kann er nicht viel sehen. Deshalb wagt er es, ein Zündholz anzureißen und es in den Brunnen zu werfen. Im Schein des schwachen und nur für eine Sekunde brennenden Flämmchens erkennt er die Steigeisen in der gemauerten Brunnenwand. Er verzichtet darauf, sich am Seil hinunterzulassen, sondern wagt es, die Eisen zu benutzen. Das ist ein Risiko, denn schon das erste Eisen erweist sich als ziemlich locker. Das dritte Eisen fällt unter seinem tastenden Fuß heraus und klatscht ins Wasser. Aber dann werden die Eisen fester. Als er einmal verhält, um zu lauschen, verspürt er einen Luftzug. Ein Gang! Dieser Gedanke zuckt durch sein Hirn. Und zugleich wird seine Ahnung schon fast bestätigt. Er weiß plötzlich, wie die Sache liegt. Kilroy Malacko warf seine Beute in diesen Brunnen, weil es hier immer noch eine schwache Chance gibt, sich aus einer schlimmen Lage zu befreien. Wer ihn fangen konnte, wird von ihm das Versteck der Beute zu erfahren versuchen. Malacko wird dann scheinbar nachgeben, die Leute zu diesem Brunnen führen und sich anbieten, die Beute herauszuholen. Aber er wird damit verschwinden, wenn er es nur so einrichten kann, dass er in der Nacht hineinklettert. Ringo wagt es wieder, ein Zündholz anzureißen. Und da sieht er das Loch. Es befindet sich etwa einen Yard über dem Wasserspiegel des Brunnens. Ringo beugt sich auf dem Steigeisen zur Seite und wirft einen Blick in den niedrigen
Gang. Einen Moment zögert und überlegt er. Es juckt ihn, in das Wasser zu steigen und den Schatz zu heben. Er reißt ein Zündholz an und blickt auf den Wasserspiegel. Das Wasser ist völlig klar. Unten auf dem Grund liegt heller Kies. Ein paar dunkle Flecken sind darauf zu sehen. Es können große Steine, aber auch mit Goldstücken gefüllte Säcke und eine Eisenkiste sein. Ringo ist seiner Sache sicher. Nun ist er beruhigt. Jetzt kommt es nur noch darauf an, Kilroy Malacko und die drei Banditen zu erwischen. Und das ist selbst für einen verwegenen Burschen wie Ringo Kid Columbus Sheldon eine schwere Arbeit. Er klettert in den Gang. Dieser ist eine enge Röhre, durch die man sich nur kriechend bewegen kann. Wahrscheinlich wurde dieser Tunnel schon von den Spaniern als Notausgang angelegt. Ringo kommt zu der Ansicht, dass Kilroy Malacko es gar nicht erst versuchen wird, die beiden Geldsäcke und die Eisenkiste durch diesen Gang zu transportieren. Das wäre viel zu mühsam und würde zu viel Zeit kosten. Und Malacko muss schnell sein, höllisch schnell. Irgendwann nach einer mühsamen Kriecherei erreicht Ringo den Querschlag des Hauptstollens. Bald darauf gelangt er in eine große Nische. Hier brennt eine Lampe, und hier stehen auch die beiden Pferde. Am Sattelhorn des Schecken hängt ein Waffengurt mit zwei Revolvern. Im Sattelfutteral steckt ein Gewehr. Die Lampe brennt, weil die Pferde in der Dunkelheit im Berg sonst zu unruhig würden. Wieder überlegt Ringo. Es kann nicht anders sein, denkt er. Es muss durch den Hauptstollen noch einen zweiten Ausgang geben. Kilroy Malacko soll – wenn es nach dem Plan der beiden Frauen geht
– mitsamt seiner Beute auf diesem Pferden durch den Stollen entweichen können, nicht anders wie ein Fuchs durch einen Notausgang. Aber sie haben sich verrechnet. Malacko kann seine Beute nicht durch diesen engen, an ein paar Stellen schon arg zusammengefallenen Gang schaffen. Dazu würde er fast eine Stunde brauchen. Und so viel Zeit hat er nicht. Er wird sich hier bewaffnen, aus der Mine kommen und kämpfen. Ja, er wird mit Bill Gatewood und dessen Komplizen um seine Beute kämpfen. Als Ringo mit seinen Gedanken so weit ist, verlässt er die Mine auf dem Weg durch den Hauptstollen. Natürlich ist es nicht einfach für ihn, sich nur mit Hilfe der paar Zündhölzer durch die Dunkelheit zu tasten. Doch er lässt die Lampe bei den Pferden, denn er hat Zeit, viel Zeit – so glaubt er. Als er den Stollen verlässt, geht er nicht wieder zur Schmiede hinüber, sondern sucht sich eine ihm günstiger erscheinende Position in einem der leeren Gebäude. Es war gewiss einmal ein Magazin für Werkzeuge. Er findet in der Dunkelheit eine Kiste, lässt sich darauf nieder und spürt erst jetzt, wie sehr ihn das alles angestrengt hat. Er ist erschöpft, lehnt sich gegen die Wand und schließt die Augen. Seine Gedanken jagen sich immer noch. Erst allmählich kommt er zur Ruhe. Oh, er weiß nicht, wie die Sache laufen wird. Vieles ist unsicher und kommt vielleicht ganz anders, als Kilroy Malacko es plant und Ringo vermutet. Aber wie sich auch alles hier abspielt – zuletzt wird es endgültig sein und auf irgendeine Art ausgekämpft werden. Ringo wird ganz ruhig. Er denkt nur noch an Lily, die drüben bei Rosita im Wohnhaus ist.
Offenbar haben sich die beiden Frauen sofort gut verstanden. Durch Lily wurde Rosita gewarnt, sodass sie für Kilroy Malacko gewisse Vorbereitungen treffen konnte. Nur allein deshalb stehen für ihn im Minenstollen zwei Pferde bereit. Er hat Waffen und Proviant zur Verfügung, wenn er durch den geheimen zweiten Ausgang der Mine entkommen kann. Ja, Lily konnte ihm den Fluchtweg erleichtern oder seine Flucht vorbereiten. Nur in einer Sache irrten die beiden Frauen: Malacko kann seine Beute nicht schnell genug aus dem Wasser des Brunnens holen und durch den Kriechgang in den Stollenquerschlag schaffen. Der Gang ist zu eng. Die Säcke mit den vielen Goldstücken sind zu schwer – und dazu noch die Eisenkiste mit dem Papiergeld, das vom Wasser aufgeweicht und schwer geworden ist. Er kann es nicht aus der Kiste nehmen und in einen Beutel stopfen. Kilroy Malacko wird also nicht die Flucht ergreifen, weil das die Aufgabe seiner Beute bedeuten würde. Er wird kämpfen. Ringo verspürt Mitleid mit Lily. Sie glaubt, dass sie ihre Schuld bezahlt hat. Aber ihre Hilfe war nutzlos. Ringo fragt sich, ob er Malacko zuerst allein mit Bill Gatewood und dessen Komplizen kämpfen lassen soll. Er kann sich keine Antwort auf seine Frage geben. Ringo schläft auf der Kiste, gegen die Wand des alten Werkzeugschuppens gelehnt, ein. Aber er kann nicht lange schlafen. Er kann sich jedoch einigermaßen erholen, sodass er nicht mehr ganz so ausgebrannt und müde ist. Es ist kaum Mitternacht vorbei, als es losgeht. ***
Plötzlich sind Reiter da. Sie kommen aus einem schützenden Arroyo, in dessen Deckung sie sich näherten. Dann biegen sie um die Ecke der alten Unterkunft der einstigen Minenbelegschaft, die zeitweilig an die fünfzig Mann stark gewesen sein muss, als die Mine noch einigermaßen rentabel arbeitete. Einer der Reiter bringt Kilroy Malacko zum Brunnen. Die anderen verteilen sich. Bald schon läuft Bill Gatewood, der im bleichen Mondlicht gut zu sehen ist, auf das Wohnhaus zu. Mit einem einzigen Anprall seiner zweihundertdreißig Pfund bricht er die morsche Tür auf. Drinnen tönen die Stimmen von Lily und Rosita. Dann schimmert Licht. Ringo nimmt an, dass Bill Gatewood die Räume nach Waffen durchsucht und dann die beiden Frauen in eine Kammer sperrt. Er glaubt, das durch die erleuchteten Fenster erkennen zu können. Und dann kommt Bill Gatewood wirklich allein heraus. Er lacht mit seinem kehligen Bass und ruft zufrieden: »Nun, Malacko, da war doch wieder das Flittchen, das mir schon zweimal im Zusammenhang mit dir in den Weg geriet. Oha, ich habe sie mit der Mexikanerin in eine Kammer gesperrt. Jetzt kommen wir zur Sache, Malacko! Jetzt wird es ernst, Bruderherz, verdammt ernst!« Kilroy Malacko sitzt langsam ab. Er weiß sofort, wen Bill Gatewood mit »Flittchen« meint. Es kann sich nur um Lily handeln. Gatewood hat ihm unterwegs erzählt, dass er Lily Callaghan in Socorro aus der Postkutsche klettern sah und sie sofort wiedererkannte. Wie kommt Lily auf die Rosita-Mine?, fragt er sich. Er hat doch nur Ringo Kid etwas von Rosita und dem Brunnen erzählt. Die Bande hat Ringo Kid dann zusammengeschossen. Das hat Malacko doch noch miterlebt.
Sollte Ringo nicht sofort tot gewesen sein? Sollte er Lily und den anderen Leuten, die mit der Postkutsche kamen, noch etwas verraten haben? Kilroy Malackos Gedanken jagen sich. Sein Verstand arbeitet und sucht Antworten auf viele Fragen. Aber wie er es auch wenden mag, es bleibt ihm nur eines übrig: Will er sich retten, muss er in diesen Brunnen und versuchen, durch den Gang zu entkommen. Er war noch nie in diesem Kriechgang, aber er weiß, dass er existiert, weil Rosita ihm einmal die Geschichte der Mine erzählt hat. In dieser Geschichte spielte der Gang eine besondere Rolle. Kilroy Malacko setzt seine ganzen Chips auf diesen Tunnel. Eine schwache Hoffnung ist in ihm, dass Lily vielleicht doch von dem sterbenden Ringo Kid etwas erfahren hat und deshalb hergekommen ist. Wenn das zutrifft, dann kann er damit rechnen, drinnen in der Mine, die er durch den Gang erreichen muss, Waffen zu finden. Und dann – oha, er spürt ein grimmiges Frohlocken. Wenn er erst bewaffnet ist, wird er es diesen drei Geiern zeigen. In ihm ist keine Furcht. Selbst mit drei leibhaftigen Teufeln würde er um seine Beute kämpfen. Er wendet sich an Bill Gatewood. »Gib mir ein Viertel von meiner Beute«, sagt er. »Ich steige auch in den Brunnen und binde euch die zwei Säcke und die Eisenkiste an ein Lasso. Ich tue es, wenn ihr fair seid und mir wenigstens ein Viertel von meiner Beute lasst.« Sie grinsen ihn an. Einer der beiden Begleiter von Bill Gatewood sagt: »Oho, ist der aber winzig geworden. Malacko, du bist plötzlich so klein wie ein Mäuschen. Ja, gibt es denn so was?« »Das gibt es«, grinst sein Partner. »Das habe ich schon einige Male erlebt. Selbst die stolzesten, großmäuligsten
Burschen werden in gewissen Situationen klein und bescheiden.« Bill Gatewood macht der höhnenden Unterhaltung ein Ende. Er sagt hart: »Wir reden zu viel! Ich will mich hier nicht verheiraten! Also los, Malacko! Hier ist eine Laterne. Wenn du unten bist, lassen wir Lassos hinunter. Oder müssen wir dich an einem Seil runterlassen – am Eimerseil?« »Nein, es sind Steigeisen da«, sagt Malacko. Er holt noch einmal tief Luft und klettert dann auf den Brunnenrand. »Hängt die Laterne an das Lasso«, sagt er. »Ich brauche meine Hände zum Klettern.« Malacko wartet, bis die anderen die Laterne hinunterlassen. Er klettert ihr nach, und unterwegs stellt er fest, dass eines der Steigeisen fehlt. Es muss vor nicht langer Zeit herausgefallen oder herausgebrochen worden sein. Aber wer war in dem Brunnen? Rosita oder Lily? Nein! Nie! Vielleicht einer von Rositas Brüdern? Ja, das wird es sein! Bei diesen Gedanken wächst Malackos Hoffnung. Er ist in seiner Not bereit, alles zu glauben oder zu erhoffen, was ihm zu einer Chance verhelfen könnte. Als er die Wasseroberfläche erreicht hat, zögert er nur unmerklich. Bevor er in das Wasser steigt, sieht er in die Öffnung des Kriechganges. Er könnte sich jetzt schon hineinschwingen und verschwinden. Er triumphiert, denn nun glaubt er fest, dass ihm alles gelingt. Aber er muss sein Spiel schlau anfangen und jeden Zug genau kalkulieren. Er kann nicht einfach verschwinden, während die drei gefährlichen Kerle oben warten. Sie würden schnell Verdacht
schöpfen und gewiss vermuten, dass er durch einen geheimen Gang nur in die Mine geflüchtet sein kann. Malacko muss Zeit gewinnen. Und die bekommt er, wenn er den drei hartgesottenen Kerlen eine Beschäftigung verschafft. Deshalb steigt er ins Wasser. Es ist kalt und reicht ihm bis zur Brust. Er taucht unter und findet mit seinen tastenden Händen schon bald den ersten Sack. Als er damit auftaucht, baumelt neben der an einem Lasso hängenden Laterne ein zweites Lasso. Er bindet den Sack an das Ende und ruft hinauf: »Wartet, ich binde das andere Zeug auch noch dran! Wartet, damit ihr alles auf einmal hochziehen könnt!« Von oben kommt eine zustimmende Antwort. Er taucht abermals unter, holt den zweiten Segeltuchsack vom Grund empor und bindet ihn ebenfalls an das Lasso, das man ein Stück weiter heruntererlässt, damit er eine zweite Schlinge machen kann, in die er den Sack klemmt. Auch mit der Eisenkiste geschieht es ähnlich. »Zieht hoch!«, ruft er, klettert aus dem Wasser, fasst die Laterne und schleudert sie – scheinbar ausrutschend und nach einem Halt suchend – gegen die Brunnenwand. Sie erlischt. Er befindet sich im Dunkeln. Von oben kann man ihn nicht mehr sehen. Deshalb bemerkt man nicht, wie er in das Loch kriecht und verschwindet. Man kümmert sich auch nicht darum. Die drei gierigen Banditen haben Kilroy Malacko für eine Weile völlig vergessen. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt jetzt den Dingen, die sie am Lasso hochziehen. Zuerst kommt die Kiste und dann hintereinander – jeweils in eine Schlinge geklemmt – die beiden Säcke. Sie öffnen die Schlingen und starren auf die Beute.
»Wir müssen nachsehen«, sagt einer der Burschen. »Nicht wahr, Gatewood, wir müssen nachsehen? Es könnte ja sein, dass die Bucks gar nicht in den Säcken und der Kiste enthalten sind und…« »Ja, seht nach!«, unterbricht ihn Gatewood. »Wir benutzen sein Pferd als Packpferd und verschwinden erst einmal in die Berge, bevor wir teilen.« Sogar Bill Gatewood denkt jetzt eine Weile nicht an Kilroy Malacko, sondern ist nur am Inhalt der Säcke und der Kiste interessiert. Seiner Meinung nach wird Kilroy Malacko gleich aus dem Brunnen klettern. Das erscheint ihm ganz selbstverständlich. Er nimmt sich die Eisenkiste vor, während seine beiden Partner die Säcke öffnen. *** Es ist keine leichte Sache für Kilroy Malacko. Er kriecht blindlings in die Dunkelheit. Er hat keine Zündhölzer zur Verfügung wie Ringo Kid, denn er ist vollkommen nass. Außerdem muss er sich mächtig beeilen. Er kann nicht bedächtig und vorsichtig herumtasten. Oh, was gäbe er dafür, wenn er nur eine einzige Sekunde lang im schwachen Licht eines winzigen Flämmchens den Weg sehen könnte, den er kriechen muss! Er arbeitet sich vorwärts wie ein Maulwurf. Immer wieder stößt er sich an Vorsprüngen. Und einige Male rieseln kleine Steine und Staub auf ihn nieder. Aber irgendwie schafft er es binnen weniger Minuten, den wohl an die fünfzig Yards langen Kriechgang hinter sich zu bringen. Dann befindet er sich in einem Querstollen, spürt einen Luftzug von rechts und tastet sich blind weiter. Plötzlich sieht er einen schwachen Lichtschein vor sich. Er
wendet sich nach links und riecht die Pferde. Bald darauf sieht er im Lampenschein die Tiere, erblickt die Waffen und greift sich den Waffengürtel vom Sattelhorn. Als er ihn umgelegt hat, fühlt er sich wieder frei. Er hat nur noch den einen Wunsch, die Sache hinter sich zu bringen. Inzwischen wird man ihn längst vermisst haben. Vielleicht hat man schon die Laterne heraufgezogen, neu angezündet und in den Brunnen gelassen. Er setzt sich in Bewegung. Nicht einen einzigen Gedanken verschwendet er daran, die Pferde in den Hauptstollen zu führen und durch eine Höhle, die schräg auf das Hochplateau führen muss, nach Westen zu entkommen. Nein, Kilroy Malacko macht sich auf den Weg, um mit Bill Gatewood und dessen beiden Kumpanen zu kämpfen. Unterwegs hat er Gelegenheit gehabt, alle drei Männer genau zu beobachten und einzuschätzen. Bill Gatewood ist ein Bär von einem Mann, doch dabei scharfsinnig und erfahren. Er ist ein Bursche von jener Sorte, die in jedem rauen Rudel stets der Anführer ist. Und er hat sich die richtigen Partner ausgesucht. Henry Latimer ist ein zäher, dunkler Revolvermann aus Nebraska. Und Curly Prince Scott kam von Texas aus dem BrazosLand herüber. Beide waren bisher einsame Wölfe, und sie haben auch vor, sich wieder zu trennen. Sie sind für Bill Gatewood irgendwie ein Ersatz für die verlorenen Brüder. Kilroy Malacko weiß also, auf wen er nun losgeht. Dennoch zögert er nicht. Als er aus dem Stollen kommt, sind sie noch drüben beim Brunnen. Doch sie haben sich bereits dem Mineneingang zugewandt. Wahrscheinlich hat schon einer von ihnen die Vermutung geäußert, dass es von dem Brunnenschacht einen Gang zur
Mine geben könnte. Die Entfernung beträgt weniger als dreißig Schritte. Im Mond- und Sternenlicht ist alles gut zu erkennen. Es ist fast taghell. Malacko bleibt noch innerhalb der Schattengrenze der Felswand und des Stollens. Mit beiden Revolvern beginnt er zu schießen. Aber er trifft mit den ersten Schüssen nicht. Das Mondlicht ist trügerischer als das Tageslicht. Sie entdecken ihn wahrscheinlich auch schon einen Sekundenbruchteil früher, als er erhoffte. Deshalb währt ihre Überraschung nicht lange. Sie ziehen schnell, erwidern seine Schüsse und gehen hinter dem Brunnen in Deckung. Aber nun erweist es sich, dass Malacko nicht allein ist. Ringo Kid erscheint im Eingang des alten Werkzeugschuppens. »Hoi! Hoi, Gatewood!« Sein Ruf klingt scharf. Gatewood wirft sich herum und sieht Ringo Kid. Schon an der Stimme hat er ihn erkannt. Er brüllt wild auf. Alles ist vergessen, was mit Kilroy Malacko und der Beute zu tun hat. Schießend läuft er auf Ringo Kid zu. Er verfehlt ihn zweimal, denn die Entfernung ist noch zu groß für einen sicheren Coltschuss, und überdies bleibt er nicht stehen, sondern läuft beim Zielen und Abdrücken. Einen dritten Schuss kann er nicht mehr abgeben. Ringo Kid, der darauf hoffte, dass sich die drei Burschen ergeben würden, weil sie von zwei Seiten eingekeilt sind und der Brunnen ihnen keine Deckung mehr geben kann, hat inzwischen begriffen, dass Bill Gatewood sich nicht auf Diskussionen einlässt, sondern töten will.
Ringo drückt nun selbst ab, und er zielt so gut, dass er nur diesen einen Schuss abfeuern muss. Bill Gatewoods Amoklauf wird wie von einer unsichtbaren Wand gestoppt. Er taumelt zwei Schritte rückwärts, dann kippt er nach vorn. Als einer der beiden anderen Revolvermänner Gatewood fallen sieht, wendet er sich gegen Ringo. Aber Ringo trifft ihn mit dem nächsten Schuss ebenso sicher. Der dritte Bandit neben dem Brunnen fällt langsam auf die Seite. Zumindest er kommt auf Kilroy Malackos Konto. Malacko lehnt neben der Stollenöffnung an der Felswand. Seine Colts hält er mit den Mündungen nach unten. Es sieht aus, als wären ihm die Waffen zu schwer geworden. Langsam geht Ringo Kid hinüber. »Du warst ja verrückt, Malacko«, sagt er laut. »Allein konntest du diesen Kampf gar nicht gewinnen. Einzeln hättest du sie vielleicht schlagen können. Aber sie waren drei harte Kerle. Du warst verrückt, es zu versuchen.« Kilroy Malacko nickt. »Das weiß ich jetzt auch«, sagt er. »Aber ich hoffte auf Rositas Brüder. Ich dachte, dass sie irgendwo in den Gebäuden verborgen auf mein Signal warteten. Wie kommt es, dass du noch lebst? Ich glaube, allein hättest du die drei Bullen auch nicht geschafft. Wie kommt es, dass du am Leben bist, während ich sterbe?« Ringo Kid ist Malacko nun nahe genug, um seine Verwundung zu erkennen. Kilroy Malacko sieht jämmerlich aus, nass, verdreckt, verschmiert und aus drei Wunden blutend. Ja, er ist am Ende. Einen Moment sieht es so aus, als könnte er einen seiner Colts noch einmal hochbekommen und auf Ringo richten. Aber er schafft es nur halb. Dann fallen ihm die Waffen aus den Händen. Er murmelt
einen bitteren Fluch und rutscht mit dem Rücken an der Felswand entlang. Ringo Kid tritt zu ihm und richtet ihn auf. Kilroy Malacko ist tot. Ringo Kid erhebt sich und sieht sich um. Alles ist still. Selbst die Pferde verhalten sich ruhig. Aus dem Wohnhaus dringen Stimmen. Langsam geht er hinüber. Er findet Rosita und Lily in der Vorratskammer eingesperrt, deren Fenster zu klein ist, um daraus zu entweichen. Rosita hält ihn für einen Banditen. Sie will sich wie eine Furie auf ihn stürzen. Aber er schlägt seine Weste auf, sodass sie auf seiner Hemdtasche das Abzeichen eines US Deputy Marshals erkennen kann. Da weicht sie zurück. »Roy Malacko hatte Pech«, sagt er und sieht dabei Lily an. »Wir kämpften zusammen gegen Bill Gatewood und dessen Kumpane. Nun sind sie tot – alle! Roy Malacko hatte wahrhaftig Pech. Und ich war ein schlechter Vertreter des Gesetzes. Ich konnte ihn nicht heil nach Santa Fe bringen. Sie nahmen ihn mir unterwegs ab. Sie waren gefährlicher, als wir glaubten.« Er sieht Lily immer noch an. »Sogar meine Wette mit Malacko habe ich verloren«, murmelt er. »Ich wettete mein Leben gegen einen seiner Hosenknöpfe, dass ich ihn nach Santa Fe schaffen würde.« »Das wirst du ja auch«, murmelt Lily bitter. »Nur bringst du einen Toten hin. Aber was ist an so einer Wette schon wichtig.« Rosita lehnt kraftlos und erschöpft an der Wand. Sie weint. Nach einigen Versuchen fragt sie zitternd: »Was – was – sagte er, bevor er starb? Oder konnte er nicht mehr sprechen? War er gleich…«
Ringo Kid zögert. Er betrachtet die Mexikanerin und erkennt ihren tiefen Schmerz. Komisch, denkt er, da sind zwei Mädchen, denen Kilroy Malacko etwas bedeutete, obwohl er ein Bandit und Mörder war. Er sieht in Rositas Augen und sagt: »Er sprach einen Namen. Er sagte den Namen ›Rosita‹, bevor er starb.« Er kann sehen, wie seine Worte der Mexikanerin etwas Linderung verschaffen. »Ja, er liebte mich – nur mich!«, ruft Rosita stolz und läuft plötzlich hinaus. Sie will zu Kilroy Malacko. Ringo Kid sieht Lily an und murmelt: »Vielleicht war er gut zu Frauen. Vielleicht war das die gute Seite an ihm. Jeder Mensch hat eine gute Seite – auch der schlechteste. Lily, du konntest ihn nicht retten. Das tut mir Leid für dich.« »Aber du hast ihn nicht töten müssen«, flüstert sie. »Ich habe mir zuletzt keine Illusionen mehr gemacht. Als die Schüsse krachten, da wusste ich, dass er nicht geflohen war. Cole, weißt du, warum ich dir weggelaufen bin, als ich erkannte, wohin Kilroy Malacko die Banditen führen würde?« Er sieht sie an und nickt. »Du wusstest, wo Rosita zu finden war«, antwortet er. »Du konntest sie informieren. Ihr habt dann hier alles für Malackos Flucht vorbereitet. Doch ihr habt euch verrechnet. Er wollte nicht nur sein nacktes Leben retten. Er musste kämpfen. Ich glaube aber auch, dass du nicht nur fortgelaufen bist, um mit Rosita für eine Fluchtmöglichkeit zu sorgen. Du wolltest auch verhindern, dass ich ihn töten muss – oder dass er mich tötet.« »Ja«, sagt sie. »Denn ich liebe dich, Cole. Ihm war ich dankbar, aber dich liebe ich! Glaubst du mir das?« Ringo nickt.
ENDE �