Seewölfe 174 1
Kelly Kevin 1.
Gischtkämme krönten die grauen Wogen der Nordsee. Von Süden herauf orgelte der Wind, pfi...
10 downloads
435 Views
319KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Seewölfe 174 1
Kelly Kevin 1.
Gischtkämme krönten die grauen Wogen der Nordsee. Von Süden herauf orgelte der Wind, pfiff in den Luvwanten und ließ die drei zerrauften Zweimaster wie betrunkene Enten torkeln. Die Schiffe lagen beigedreht auf der Höhe von Kinnaird-Head im Nordosten von Schottland. Spanische Schiffe. Zu dem stolzen Geschwader des Don Antonio Hurtado de Mendoza hatten sie gehört. Genau genommen gehörten sie immer noch dazu - nur daß das Geschwader allenfalls noch in Don Antonios Phantasie existierte. An Bord der „Gaviota“ mühten sich fluchende, frierende und ausgehungerte Männer, eine Jolle abzufieren. Die Rudergasten von der „Viktoria“ legten sich bereits in die Riemen. Capitan Juan Lopes Spitzbart flatterte im Wind. Grimmig reckte er das Kinn und starrte dem Führerschiff der Dreiergruppe entgegen, als wolle er der „Candia“ mit den Blicken ein Loch in die Bordwand brennen. Deren Capitan trug allerdings keine Schuld an der Misere. Basil da Conta hieß er. Und wütend war er ebenfalls. Wütend, ratlos, entnervt - genau in der Stimmung, jemandem eigenhändig den Hals umzudrehen. Capitan Nummer drei ging es nicht anders. Alonso de Madre-Castillo war der letzte, der über die Jakobsleiter der „Candia“ aufenterte und seine lange, hagere Gestalt reckte. Mit einem Blick maßloser Erbitterung betrachtete er das, was einmal ein ganz passables, ordentliches Rigg gewesen war. Sein Gesicht verzog sich schmerzlich beim Geräusch der Pumpe, deren monotones Quietschen bewies, daß die „Candia“ Wasser nahm. Dafür hatte es der „Gaviota“ die Blinde wegrasiert. Und was der Zweimaster als Notbesegelung führte, sah so aus, daß man genauso gut auch gleich Bettsäcke hätte setzen können. Capitan Alonso de Madre-Castillo sagte ein wenig vornehmes Wort.
Riffpiraten
Aber er war auch kein besonders vornehmer Mann, obschon er altem Adel entstammte. Sehr altem, aber leider sehr verarmten Adel! Alonso de Madre-Castillo hatte früh erkannt, daß er sich für die vornehme Abstammung nichts kaufen konnte. Unvornehm, ruppig und raffgierig ging es wesentlich besser. Auf die feine Art kriegte man nicht so leicht ein Schiff wie die „Gaviota“. Alonso de Madre-Castillo war damit zufrieden gewesen, ein unfeiner, aber wohlhabender Sklavenhändler und Handelsfahrer zu sein, und er hatte nicht den geringsten Ehrgeiz gehabt, ein patriotischer Held zu werden. Was die vornehmen Herren, die seine „Gaviota“ genau wie die „Viktoria“ und die „Candia“ für den Kriegszug der Armada requirierten, leider überhaupt nicht interessierte. Die beiden anderen Kapitäne waren auch nicht gerade zu Helden geboren. Sie verpflichtete nicht einmal alter Adel, und auf welche Weise Engländer oder Holländer zu ihrem Herrgott beteten, interessierte sie schon gar nicht. Aber die spanische Krone war nun einmal anderer Meinung: also blieb den drei unvornehmen Herren nichts anderes übrig, als mit der Armada zu segeln und zu versuchen, das Schlamassel so gut wie möglich zu überstehen. Im Geschwader des Don Antonio Hurtado de Mendoza waren sie für Kurier- und Depeschen-Dienste eingesetzt worden. Ehrenvolle Aufgaben! Mit allen Aussichten, zu Helden zu werden. Aber leider hatte von Anfang an die Wahrscheinlichkeit dafür gesprochen, daß sie tote Helden wurden -und davon hatten sie jetzt endgültig die Nase voll. In der Kapitänskammer der „Candia“ fanden sie sich zusammen, um die Lage zu besprechen. „Die Order lautet, um die Orkney-Inseln herum westwärts in den Atlantik und dann südwärts an Irland vorbei nach Spanien zu segeln“, stellte der breite, ruppige Basil da Conta fest.
Kelly Kevin
Seewölfe 174 2
„Ja“, sagte Juan Lope gallig. „Mit acht Unzen Zwieback, einem halben Liter Wasser und einem Viertelliter Wein pro Mann und Tag!“ „Hirnrissig“, knurrte Alonso de MadreCastillo. Sie waren unter sich. Also brauchten sie nicht so zu tun, als ob sie den sehr ehrenwerten Herzog Medina Sidonia für eine Leuchte der christlichen Seefahrt hielten was der unglückliche Generalkapitän im übrigen auch nie von sich behauptet hatte. „Selbstmord!“ bekräftigte Juan Lope. „Ohne Wasser, Proviant und Ausrüstung sind wir im Eimer. Und im dreimal verdammten Rest dieser glorreichen Flotte geht es genauso. Die werden unterwegs jede Bohnenstange requirieren, um sie als Rah zu riggen, jeden Brotkanten, jedes verirrte Schaf ...“ „Das heißt, daß wir das Nachsehen haben, solange wir treu und brav hinter dem Flaggschiff hersegeln“, faßte Alonso de Madre-Castillo zusammen. „Eben“, sagte Basil da Conta. „Genau”, stimmte Juan Lope zu. Danach herrschte eine kurze Stille, während der sich die wenig ehrenwerten Herren überlegten, ob man es riskieren könne, sich seitwärts in die Büsche beziehungsweise westwärts in den Pentland Firth zu schlagen, der die Orkney-Inseln von der Nordspitze Schottlands trennt. Zehn Minuten später hatte man sich darauf geeinigt, die Sache nicht als Fahnenflucht, sondern als kleine Abkürzung zu betrachten. Alles Weitere würde sich finden. Hauptsache, man setzte sich erst mal von der zerschlagenen Flotte ab. Dann brauchte man nämlich die Beute nicht zu teilen, die da kommen würde, und die Gefahr, zu toten Helden zu werden, verringerte sich auch auf ein erträgliches Maß. Alonso de Madre-Castillo und Juan Lope betrachteten die Lage wieder etwas optimistischer, als sie sich zu ihren Schiffen zurückpullen ließen.
Riffpiraten
Eine Viertelstunde später setzten die drei Zweimaster die Fetzen, die ihnen als Besegelung geblieben waren, und gingen auf Nord-Nordwest-Kurs, um den Pentland Firth zu erreichen. * „Schiff ho! Backbord voraus!“ Bills Stimme schmetterte wie ein Trompetensignal über die Decks der „Isabella VIII.“ Der Moses hatte Wache im Großmars und beobachtete aufmerksam die Kimm. Querab Steuerbord lag Jean Ribaults „Le Vengeur“ vor dem Wind. Ringsum dehnte sich grau die Nordsee, aufgepeitscht und wild, als warte sie nur darauf, sich mit dem nächsten Sturm von neuem in ein brüllendes Untier zu verwandeln und die Menschen auf ihren lächerlichen Schifflein das Fürchten zu lehren. Die Seewölfe waren es gewohnt, den tobenden Elementen die Zähne zu zeigen. Und Jean Ribault, Karl von Hutten und ihre verwegenen Kerle hatten dem Teufel auch schon mehr als einmal die Ohren abgesegelt. Aber die zerschossenen, abgetakelten, vom Schicksal geschlagenen Reste, die von der stolzen Armada übriggeblieben waren — von denen würden nur noch wenige einem Sturm standhalten können oder ein Gefecht mit dem räuberischen Gesindel bestehen, das überall lauerte, wo leichte Beute und ein schneller Sieg über fast wehrlose Gegner winkten. Deshalb segelten die „Isabella“ und die „Le Vengeur“ nach Norden. Und deshalb wurde Philipp Hasard Killigrews Gesicht steinern, als er jetzt durch das Spektiv blickte. Für ihn hörte der Krieg auf, wenn der Gegner geschlagen war. Die Seewölfe wußten, wo der Kampf endete und der gemeine Mord anfing: genau an dem Punkt, wo sich der Gegner ergab oder nicht mehr wehren konnte. Und Schiffbrüchige waren überhaupt keine Gegner, sondern Menschen, die ein Anrecht auf Hilfe hatten. So dachte die
Kelly Kevin
Seewölfe 174 3
Crew der „Isabella“, und so dachten auch Jean Ribault und seine Mannen. Aber es gab mehr als genug Leute, die anders dachten. Sir Francis Drake zum Beispiel. Der sehr ehrenwerte Admiral war wie ein beutehungriger Fuchs hinter der geschlagenen Armada hergestrichen, bis seine „Revenge“ von der „Isabella“ und der „Le Vengeur“ schlichtweg ausmanövriert wurde. Ein Teil der englischen Flotte hatte ähnlich gehandelt, und sich genauso gnadenlos auf die Besiegten gestürzt. Inzwischen war die Verfolgungsjagd abgebrochen worden, aber auf die Trümmer-Armada, die ohne Munition und Proviant durch fremde Gewässer segeln mußte, lauerten immer noch mannigfache Gefahren. Sturm und Unwetter, Riffe und Untiefen, Hunger und Durst, für viele der Verwundeten das hilflose Warten auf den Tod. Und Feinde! Gegner, die auf die Schwachen lauerten, die 'aus dem Hinterhalt auftauchten. Gegner wie die schnelle Karavelle mit den schwarzen Segeln, die sich da Backbord voraus von Kinnaird-Head her an die schwer angeschlagene spanische Galeone heranpirschte. „Piraten“, sagte Ben Brighton, der neben dem Seewolf auf dem Achterkastell stand. Hasard hob die Schultern. Piraten oder nicht- üble Halunken waren es auf jeden Fall. Man mußte einfach ein übler Halunke sein, wenn man sich auf eine Galeone stürzte, der Bugspriet und Besanmast fehlten, die einen lächerlichen Fetzen als Fock führte und bei jedem Krängen durch die mühsam vernagelten Lecks an der Backbordseite Wasser nahm. Verschossen hatte sie sich auch: die Spanier machten nicht einmal Anstalten, die Kanonen auszurennen. Durch das Spektiv konnte Hasard die Männer an Deck sehen. Sie wirkten aufgescheucht, verzweifelt - denn die Besatzung der Galeone hätte blind sein müssen, um nicht zu erkennen, daß ihr gegen die gut
Riffpiraten
bestückte, wendige Karavelle nicht der Schimmer einer Chance blieb. „Na also“, brummte Ben Brighton, als wenig später am Flaggenstag die spanische Fahne niederging. „Die Dons ergeben sich!“ meldete Bill überflüssigerweise aus dem Großmars. „Die Karavelle fällt ab! Scheint so, als wollten sie längsseits gehen und entern!“ Da hatte er recht. „Feige Kanalratten“, dröhnte Ed Carberrys Stimme von der Kuhl. „Leichenfledderer sind das! Denen sollte man die Haut in Streifen ...“ Er verstummte abrupt. Vor ihnen, einen Viertelstrich nach Backbord versetzt, hatte sich die Karavelle neben die zerschossene, wehrlose Galeone geschoben. Enterhaken flogen, wie Katzen turnten Männer auf das spanische Schiff hinüber - und deutlich und unüberhörbar peitschten die Schüsse von Musketen, Arkebusen und Pistolen. Für ein paar Sekunden wurde es sehr still auf den Decks der „Isabella.“ Ed Carberry, der eiserne Profos, holte so tief Luft, daß sein mächtiger Brustkorb fast die Hemdknöpfe sprengte. Ben Brighton biß die Zähne zusammen. Hasard starrte immer noch durch das Spektiv, und sein Gesicht schien zu versteinern. „Diese Dreckskerle!“ schrie Bill im Großmars empört. „Die kümmern sich den Teufel darum, daß der Don die Flagge gestrichen hat, die ...“ „Halt die Klappe da oben, du Wanze!“ brüllte Ed Carberry mit Stentorstimme. Und zum Achterkastell: „Willst du dir das mit ansehen, Sir? Oder wollen wir diese Kanalratten vierkant auf ihren verrotteten Kahn zurückschmeißen?“ „Was hast du denn gedacht?“ knurrte Hasard durch die Zähne. Sein Blick wanderte nach Steuerbord, wo die „Le Vengeur“ auf Rufweite herangedreht war. Jean Ribault stand hoch aufgerichtet an der Schmuckbalustrade des Achterkastells, die Rechte am Griff des Degens. Das kampflustige Funkeln in seinen dunklen Augen verriet deutlich, was er dachte.
Seewölfe 174 4
Kelly Kevin
„Was ist?“ rief er. „Zeigen wir den Kerlen, wie der Wind in die Hölle weht?“ Aber da auf der „Le Vengeur“ und der „Isabella“ bereits Klarschiff zum Gefecht gemacht wurde, erübrigte sich eine Antwort. * Um dieselbe Zeit ließen auch die drei spanischen Kapitäne gefechtsklar machen, die darauf gepfiffen hatten, dem Generalkapitän um die Orkney-Inseln herum in ein ungewisses Schicksal zu folgen. Vor ihnen erhob sich die wild zerklüftete Küste der Insel Swona im grauen Dunst. Die Spanier kannten den Namen der Insel natürlich nicht. Sie interessierten sich nur dafür, ob es vielleicht Klippen und gefährliche Untiefen in der Nähe gab. Und noch mehr interessierten sie sich für den Pulk schottischer Fischerboote, den sie an der Nordseite des Eilands gesichtet hatten. Fischerboote bedeuteten Wasser und Proviant. Wasser und Proviant, das die drei spanischen Zweimaster dringend brauchten. Was die Fischer dazu meinten, kümmerte die wenig vornehmen Herren Kapitäne einen feuchten Kehricht. Basil da Conta stand auf dem Achterkastell seiner „Candia“, spähte durch das Spektiv westwärts und grinste breit, als er bemerkte, daß die Männer auf den Booten höchstens ein paar Handfeuerwaffen bei sich führten. „Klar bei Drehbasse!“ schrie er auf spanisch. „Ein anständiges Loch in die nächstbeste Bordwand - das wird den Burschen zeigen, daß sie besser die Köpfe einziehen!“ Der Geschützführer peilte über das lange Rohr in seiner drehbaren Lafette den vordersten Logger an. Die Fischer hatten in ihrer Arbeit innegehalten und starrten verblüfft herüber. Bis zu den Orkney-Inseln war die Kunde vom Kampf der englischen Flotte gegen die Armada noch nicht gedrungen. Spanische Schiffe in dieser Gegend - damit hätten die Schotten .nicht einmal im Traum
Riffpiraten
gerechnet, und deshalb waren sie auch nicht darauf eingerichtet, sich zu verteidigen. Ehe sie überhaupt begriffen, wie ihnen geschah, krachte auf der „Candia“ bereits die Bugdrehbasse. Pulverrauch wölkte auf, die schwere Eisenkugel heulte über das Wasser und schlug in die Bordwand des Loggers. Das Boot erzitterte. „Warschau“, brüllte jemand. Berstend und splitternd neigte sich der Mast, der unter Deck in seinen Verbänden getroffen worden war, und begrub das Vorschiff unter dem großen Segel. Ein vielstimmiger Schrei brandete auf. Die Fischer konnten nicht ahnen, daß die „Candia“, ihre vorletzte Kugel verschossen hatte. In hilfloser Wut sahen sie das Verhängnis auf sich zugleiten. Wie Habichte in den Hühnerhof stießen die drei spanischen Schiffe in den Pulk der Fischerboote. Enterhaken flogen, Musketen und Pistolen richteten sich auf die überrumpelten Schotten, und nur wenigen verblieb noch die Zeit, sich Messer oder Spaken zu greifen. Auf dem Boot mit dem gebrochenen Mast befreite sich ein großer rothaariger Bursche aus einem Gewirr von Segeltuch, Wanten und Pardunen. Mit einem einzigen Blick erfaßte er das Bild der Verwüstung. Heillose Wut verzerrte seine Züge. Er sah einen seiner Männer mit gebrochenem Genick auf den Planken liegen, er sah die ausgehungerten, halb verdursteten Spanier an Bord springen, und er kümmerte sich nicht darum, daß er es mit einer schwerbewaffnet Übermacht zu tun hatte. Ein wilder Schrei brach über seine Lippen, als er die Axt hochriß. Die Spanier prallten zurück, der Hieb ging ins Leere. Eine Radschloß -Pistole peitschte auf. Noch ehe der Rothaarige zum zweitenmal ausholen konnte, schien ihn eine unsichtbare Faust zu treffen und warf ihn zurück. Blut rann von seiner Schulter her über die Brust. Wie vom Blitz gefällt brach er zusammen, und die Spanier
Kelly Kevin
Seewölfe 174 5
brauchten nur noch wenige Minuten, um jeden Widerstand zu brechen. Ein paar von den Schotten, die sich schon ergeben hatten, stürzten sich beim Anblick des verletzten Rothaarigen in besinnungsloser Wut auf ihre Bezwinger, doch es nutzte nicht viel. Ein paarmal klatschte es, als die Spanier ihre Opfer kurzerhand außenbords beförderten. Jeder weitere Widerstand wäre selbstmörderisch gewesen. Die Fischer wußten es. Sie gaben auf, ließen zähneknirschend geschehen, daß sie wie eine Herde Schafe zusammengetrieben wurden, und mußten hilflos mit ansehen, wie die Spanier darangingen, die Boote auszuplündern. „Wasser!“ Ein Schrei der Erleichterung ging von Mund zu Mund, als die ersten Fäßchen entdeckt wurden. Hastig stürzten sich die halb verdursteten Männer auf das kühle Naß, drängten und schoben und schienen für eine Weile alles andere zu vergessen. Zwei von den Fischern nutzten die Gelegenheit, ihren rothaarigen Kameraden vorsichtig ans Schanzkleid zu ziehen und nach der Wunde zu sehen. Von der „Candia“ rief Capitan da Conta ein paar scharfe Befehle. Die Waffen zielten wieder schußbereit auf die Schotten, und die Männer, die den schlimmsten Durst gestillt hatten, begannen systematisch, Fäßchen, ein paar Weinkrüge, Brotbeutel und Werkzeugkisten auf die drei Zweimaster hinüberzumannen. Die Fischer erstickten fast an ihrer Wut, aber sie konnten sich nicht wehren. Eine halbe Stunde später besaßen sie keinen rostigen Nagel mehr. Nicht einmal vor Rahen und Spieren machten die Plünderer halt: sie brauchten eine Menge Material, um ihre eigenen schwer angeschlagenen Schiffe zu reparieren. Stumm sahen die Schotten zu, wie ihre Boote regelrecht gerupft wurden. Äxte und Messer ließen die Spanier natürlich auch nicht zurück. Der verletzte Rotschopf war wieder bei Bewußtsein. Stöhnend vor Schmerz und Haß stemmte er sich hoch, und er wäre
Riffpiraten
trotz der Wunde in der Schulter dem nächstbesten Spanier an die Kehle gefahren, wenn seine Kameraden ihn nicht festgehalten hätten. Capitan da Contas Stimme klang sehr zufrieden, als er den Rückzug befahl. Die Spanier setzten wieder auf ihre Zweimaster über. Männer eilten auf ihre Plätze an Brassen und Fallen, die kümmerlichen Reste der Besegelung wurden geheißt. Während sich die drei Schiffe wieder in Bewegung setzten, ragten aus den Stückpforten immer noch drohend die langen Läufe der Geschütze. Die Fischer brüllten Flüche und schüttelten die Fäuste. Die Spanier störte das nicht. Sie hatten sich reichlich mit allem eingedeckt, was sie benötigten — und jetzt brauchten sie nur noch aufzupassen, daß sie nicht ihren Landsleuten in den Weg segelten, die vielleicht von ihnen verlangt hätten, die Beute zu teilen. Der kleine Verband steuerte westwärts durch den Pentland Firth. Die drei unfeinen Kapitäne konnten nicht ahnen, daß sie mit dem feigen Überfall einen Rachefeldzug heraufbeschworen, der sich gegen einen Unschuldigen richten würde. Und wenn sie es gewußt hätten, wäre es ihnen wohl ziemlich gleichgültig gewesen. 2. Viel zu spät entdeckte der Ausguck der räuberischen Karavelle die beiden Galeonen, die von Süden her wie zornige Schwäne heranrauschten. Ein schriller Alarmschrei ließ das Enterkommando auf der Kuhl des wracken Spaniers innehalten. Tote lagen in ihrem Blut, die Überlebenden wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung, nachdem ihnen klargeworden war, daß sie von diesem Piratengesindel keine Schonung zu erwarten hatten. Auf der Karavelle eilten Männer an die Geschütze. Der stämmige schwarzbärtige Kapitän brüllte Befehle, aber er ahnte, daß er gegen die Angreifer nicht den Schimmer einer Chance hatte.
Kelly Kevin
Seewölfe 174 6
„Anluven!“ peitschte Jean Ribaults Stimme. „Bugdrehbasse Feuer!“ „Feuer!“ gab Hasard auf der „Isabella“ den gleichen Befehl — und dann krachte es schneller, als die Schnapphähne auf ihrer Karavelle denken konnten. Im Bug der „Le Vengeur“ peilte Karl von Hutten über das schwere Eisenrohr. Auf der „Isabella“ drückte Al Conroy die glimmende Lunte auf die Pulverpfanne. Donnernd entluden sich die beiden Geschütze. Ein ausgezacktes Loch klaffte plötzlich knapp über der Wasserlinie der Karavelle. Al Conroy hatte den Fockmast getroffen, dessen obere Hälfte wie ein gebrochener Arm an Deck hing. Jetzt waren die Piraten am Zug. Sie konnten angesichts der Übermacht die Flagge streichen — aber sie fürchteten wohl, dann das gleiche Schicksal zu erleiden, das sie den wehrlosen Spaniern zugedacht hatten: massakriert zu werden. Die Breitseite der Karavelle krachte. Eisenkugeln klatschten wirkungslos ins Wasser, denn die „Le Vengeur“ hatte längst angeluvt, während die „Isabella“ abfiel. Die Piraten setzten fieberhaft Segel, um manövrieren zu können. Auf der spanischen Galeone ging der Kampf weiter, nachdem Schrecken und Überraschung für eine kurze Pause gesorgt hatten. Die Männer des schottischen Enterkommandos sahen ihr Schiff entschwinden und reagierten mit Panik und Wut. Die Spanier setzten sich doppelt verbissen zur Wehr, nachdem sie erst einmal begriffen hatten, daß ihre Gegner durchaus keine Verstärkung erhielten. Möglich, daß die Galeone und die Karacke der Karavelle lediglich die Beute wegschnappen wollten. Wahrscheinlich sogar, mußten sich die Spanier sagen. Aber es konnte ja immerhin sein, daß an Bord der beiden fremden Schiffe Männer waren, die Gegner, die sich ergaben, nicht einfach abschlachteten. Die Karavelle mit den schwarzen Segeln ging über Stag, um die „Le Vengeur“ mit ihren Backbordgeschützen anzugreifen. Die Karacke wich elegant aus, wieder klatschte der eiserne Segen ins Wasser. Die
Riffpiraten
„Isabella“ schob sich im selben Augenblick dicht ans SteuerbordSchanzkleid der spanischen Galeone. Hasard wußte, daß die „Le Vengeur“ mit Leichtigkeit mit der Karavelle fertig werden würde. Das Gesicht des Seewolfs wirkte steinern. Die räubernden Engländer waren seine Landsleute. Er hatte sogar Verständnis dafür, daß sie nichts dabei fanden, die geschlagene Armada ein bißchen zu rupfen, auch wenn dieses Vorgehen tatsächlich an Leichenfledderei grenzte. Aber Wehrlose niederzumetzeln, über Männer herzufallen, die die Waffen streckten - da hörte alles Verständnis auf. Hasard war der erste, der an der Spitze des Enterkommandos auf die Kuhl der spanischen Galeone sprang. Ein vielstimmiger Wutschrei empfing sie. Die schottischen Seeräuber ließen von den Spaniern ab, wandten sich den neuen Gegnern zu - und begriffen in den nächsten Sekunden. daß sie genauso gut hätten versuchen können, die Hölle zu stürmen, um den Teufel am Schwanz zu ziehen. Zwölf Mann von der Karavelle hatten die Galeone geentert. Ed Carberry langte einmal kurz hin, da waren es nur noch zehn. Hasard packte sich den Kerl, von dem vorhin ein Spanier niedergeschossen worden war, der mit erhobenen Armen am Schanzkleid gestanden hatte. Der Pirat war ein rauher Kerl, breitschultrig und muskulös. Er grunzte nur, holte mit einer Spake aus, aber er gelangte nicht mehr dazu, sie niedersausen zu lassen. Hasards Fausthieb lüftete ihn an und beförderte ihn im Überschlag rückwärts außenbords Wasser spritzte, es klatschte laut. Dreimal hintereinander - denn inzwischen hatten auch Blacky und Matt Davies ihren Gegnern zu unfreiwilligen Luftreisen und einem kühlen Bad verholfen. Das alles geschah so schnell, daß es die erschöpften, von Hunger und Durst geschwächten Spanier kaum richtig begriffen. Sie waren ans Backbord-Schanzkleid zurückgewichen. Erst als ihnen einer der
Kelly Kevin
Seewölfe 174 7
Piraten, von einem Kinnhaken in Bewegung gebracht, genau vor die Füße rollte, brach der Bann. Der Schotte rappelte sich auf, wurde aber im nächsten Moment von einem Dutzend Fäusten gepackt. Im hohen Bogen flog er über Bord, und jetzt stürzten sich auch die Spanier in den Kampf, obwohl nur noch wenige Gegner übrig waren. Als die letzten Piraten im Wasser landeten, legte sich die Karavelle platt vor den Wind. Ihr Achterkastell war nur noch ein Trümmerhaufen, viel Fahrt konnte sie mit dem halbierten Fockmast auch nicht mehr laufen. Ein Blick zeigte Hasard, daß die „Le Vengeur“ die Verfolgung aufnahm. Aber der Seewolf ahnte, daß Ribault und Hutten das nicht taten, um dem angeschlagenen Gegner den Fangschuß zu geben. Die Karavelle drehte bei und strich die Flagge, als eine Kugel unmittelbar vor ihrem Bug ins Wasser klatschte. Was Ribault dem schwarzbärtigen Oberhalunken zurief, konnte Hasard nicht verstehen, doch er sah die Auswirkung. Auf der Karavelle wurde das Beiboot abgefiert. Die im Wasser paddelnden Männer des schottischen Enterkommandos schwammen wie vom Teufel gejagt darauf zu, und wie vom Teufel gejagt segelte die Karavelle nach Nordwesten davon, kaum daß sie ihre Leute wieder an Bord genommen hatte. Auf der Kuhl der Galeone stand ein gutes Dutzend Spanier ziemlich ratlos herum, wechselte Blicke und wußte offenbar nicht, was von der Sache zu halten war. Diese Engländer, die die besiegte Karavelle nicht nur geschont, sondern auch noch gezwungen hatte, die eigenen Leute wieder aufzufischen, mußten von besonderem Kaliber sein. Waren sie wirklich auf das halbe Wrack scharf, das sie den schottischen Piraten entrissen hatten? Die Spanier starrten den großen schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen an, die rauhen Kerle, die mit dem Enterkommando der Karavelle regelrecht
Riffpiraten
Ball gespielt hatten, und ließen dann ihre Blicke zum Achterkastell hinüberwandern. Der spanische Capitan hatte nicht mitgekämpft. Aus gutem Grund: er trug einen blutdurchtränkten Verband an der Schulter und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten, als er jetzt den Niedergang hinunterwankte. Sein Gesicht war bleich und eingefallen, die Augen brannten fiebrig. „Wir sind in Ihrer Hand, Senor“, stellte er fest. „Trotzdem schulden wir Ihnen Dank. Ihre Landsleute von der Karavelle hätten niemanden am Leben gelassen.“ Hasard lächelte matt. „In jedem Land gibt es Verbrecher und Mörder. Für uns ist der Kampf gegen die Armada zu Ende. Sie haben den Anschluß an Ihren Verband verloren?“ „Wir sind nicht viel mehr als ein Wrack“, sagte der Capitan bitter, „Vielleicht hätten wir es noch bis nach Norwegen geschafft, um wenigstens das nackte Leben zu retten. Aber jetzt ...“ Er schwieg und preßte die Lippen zusammen. Hasard wußte, was in dem Mann vorging. Der Kampf mit den Halsabschneidern von der Karavelle hatte weitere Tote und Verwundete gekostet. Die Spanier hatten keine Chance, die norwegische Küste zu erreichen. Nicht ohne Wasser und Proviant. Und nicht ohne Munition, um sich im Notfall verteidigen zu können. Sie brauchten Hilfe. Und für die Männer der „Isabella“ Und der „Le Vengeur“ war es keine Frage, was sie in diesem Fall zu tun hatten. * In dem kleinen Hafen Widewall an der Westküste von South Ronaldshay, der südöstlichen der Orkney-Inseln, war der Teufel los. Die Rückkehr der ausgeraubten, teils lecken, teils entmasteten Boote hatte fast die gesamte Bevölkerung an den Piers zusammenlaufen lassen. Stumm starrten die Menschen den Heimkehrern entgegen. Niemand konnte sich erklären, was da
Kelly Kevin
Seewölfe 174 8
geschehen war — allenfalls gewisse Ahnungen gab es, die man sich zuflüsterte. Hatten nicht Bewohner der Ostküste behauptet, in den letzten Tagen immer wieder ziemlich abgetakelte Schiffe gesehen zu haben, die sich nordwärts quälten? Außerdem wußte man ja, daß sich Spanien und England seit langem nicht grün waren, und daraus konnte man folgern, daß es irgendwo unten im Süden ganz gehörig gerappelt hatte und daß es nicht die Engländer gewesen waren, die dabei gerupft wurden. Bis zu diesem Punkt waren die geflüsterten Mutmaßungen gediehen, als die ersten Boote in die schmale Hafeneinfahrt liefen und an der Pier längsseits gingen. Bewegung kam in die Wartenden. Besorgte Frauen drängten näher zum Wasser, wütende Männer, erschrockene Kinder. Dann öffnete sich eine Gasse in der Menge, um einen Mann durchzulassen, der alle anderen um Haupteslänge überragte und dessen Hünengestalt selbst unter den rauhen, urwüchsigen Bewohnern der Orkney-Inseln auffiel. Arne Aasen konnte das Wikingerblut nicht verleugnen, das in seinen Adern floß. Sein Großvater hatte noch drüben in Norwegen am Stavanger-Fjord in einem der uralten Langhäuser gelebt und war nach einem Schiffbruch auf den OrkneyInseln hängengeblieben. Wer hier leben wollte, der mußte schon rauh und zäh sein noch rauer als die karge, menschenfeindliche Landschaft. Der alte Thorbjörn Aasen war so ein Kerl gewesen. Sieben Söhne hatte er in die Welt gesetzt. Deren Nachkommen waren alle aus dem gleichen harten Wikinger-Holz, und Arne Aasen, der Anführer und härteste Brocken dieser Sippe, - war der unumschränkte Herrscher auf South Ronaldshay. Jetzt stand er breitbeinig am Pier, die mächtigen Fäuste in die Hüften gestemmt, und starrte unter buschigen, grimmig zusammengezogenen Brauen auf das Boot, dem offensichtlich eine schwere Eisenkugel die Bordwand durchschlagen und den Mast zerschmettert hatte.
Riffpiraten
Vorsichtig hoben ein paar Männer die schlaffe Gestalt eines Verletzten von Bord. Ein erstickter Schrei erklang, aus der Menge löste sich eine große blonde Frau und stürzte auf den Rand der Pier zu. Stumm sank sie neben dem Verwundeten auf die Knie. Aber ihre Augen blieben trocken. Auf den wilden Orkney-Inseln waren nicht nur die Männer aus hartem Holz. Das sah man schon den mageren, flachshaarigen 'Kindern an, die sich erschrocken hinter ihrer Mutter drängten. Arne Aasens knorrige Gestalt ragte wie ein Baum auf. Sein struppiger blonder Bart flatterte im Wind, ein tiefer, grollender Atemzug wölbte den breiten Brustkasten. Mit einem langen Blick aus meergrauen Augen erfaßte er die anderen Boote, die Männer, die fast alle irgendwelche Blessuren davongetragen hatten, dann starrte er wieder in das bleiche, eingefallene Gesicht des Schwerverletzten. Duncan Finn war sein Schwager: ein zäher rothaariger Schotte, kein Riese wie Arne Aasen, aber ein Kerl aus Granit und Eisen, den so leicht nichts umwarf. Jetzt hatte es ihn schwer erwischt. Der notdürftige Verband um Brust und Schulter war blutdurchtränkt, sein Atem ging flach, und ab und zu stöhnte er dumpf, als fühle er selbst in der Tiefe der Ohnmacht den Schmerz von der Wunde. „Bringt ihn ins Haus!“ Aasens Stimme klang rauh, seine Kiefermuskeln spielten. „Und holt Morrag her - die alte Hexe soll endlich mal zeigen, daß sie wirklich etwas von ihren verdammten Kräutern versteht. Komm, Ragnhild.“ Die letzten Worte waren an die Frau gerichtet. Der bärtige Hüne umfaßte ihre Schultern und zog sie hoch. Ragnhild Finn straffte sich und hob das Kinn, während sie zusah, wie die Männer den Verletzten vorsichtig zu einer der niedrigen steinernen Fischerkaten trugen. Ein paar Halbwüchsige waren bereits losgelaufen, um Morrag, die alte Kräuterfrau zu holen. Ein erregter, bedrückter Zug setzte sich in Bewegung. Die Fischer berichteten, was
Kelly Kevin
Seewölfe 174 9
sich draußen im Pentland Firth ereignet hatte, aber sie berichteten im Flüsterton, als spürten sie die schweigen gebietende Anwesenheit des Todes in ihrer Mitte. Arne Aasen stapfte in steinerner Ruhe voran: Er mußte den Kopf einziehen, als er die einfache Hütte betrat, und er blieb breitbeinig neben dem flackernden Feuer auf dem Herdstein stehen, während der Verletzte auf das einfache Lager gebettet wurde. Die blonde Frau, ihre Tochter und zwei Nachbarinnen entfalteten sofort eine stille, zielstrebige Aktivität, die verriet, daß sie sich nicht zum erstenmal um einen Verwundeten zu kümmern hatten. Das Feuer wurde angefacht, der Wasserkessel ans Dreibein über dem Herdstein gehängt, saubere Leinentücher bereitgelegt, lange Verbandstreifen und Beutel mit Kräutern. Währenddessen standen die Männer an dem grobgezimmerten Holztisch zusammen, wo Arne Aasen Becher mit dem herben, berauschenden Getränk füllte, das aus Mullbeeren gebrannt wurde. „Spanier?“ wiederholte der bärtige Hüne zweifelnd. „Tatsächlich Spanier? Mitten im Pentland Firth?“ „Der Teufel soll mich holen, wenn ich meine Haut darauf verwetten würde“, brummte einer der Fischer. „Von hier stammen die Kerle jedenfalls nicht. Und David sagt, es waren Spanier.“ Der Angesprochene nickte. David Black war ein drahtiger schwarzhaariger Mann, ein düsterer Typ, in dessen Adern nicht das wilde Wikingerblut rumorte, sondern das uralte Erbe der Kelten. Was ihm an roher Kraft fehlte, glich er durch einen wachen Verstand aus, durch Phantasie, die der rauhen Aasen-Sippe abging, durch eine Begabung für die Kriegslist, den schlauen Winkelzug, die überraschende Aktion, mit der kein Gegner rechnete. Da sich Arne Aasen durchaus nicht auf sein Handwerk beschränkte, sondern ein lohnendes Geschäft daraus gemacht hatte, irische und englische Fischer bei den NeufundlandBänken auszunehmen, brauchte er einen
Riffpiraten
Burschen wie David Black und hatte ihn zu seinem Unterführer ernannt. „Es waren Spanier“, bestätigte der Schwarzhaarige jetzt. „Ihre Schiffe führten Holzkreuze unter dem Bugspriet. Drei Zweimaster! Jämmerliche Wracks, genaugenommen. Verwundete an Bord, die Mannschaften ausgehungert und halb verdurstet.“ „Aber ihr habt euch übertölpeln lassen wie eine Bande vollgefressener Betbrüder“, knirschte Arne Aasen. „Konnten wir so etwas ahnen?“ fragte Black gereizt. „Wir hatten keine einzige verdammte Schußwaffe an Bord! Duncan stürzte sich mit. der Axt auf die Kerle, als sie ihm den Mast umgelegt hatten, und was daraus geworden ist, siehst du! Sie hatten schweres Geschütz, Arne! Dazu Musketen, Pistolen, Arkebusen ...“ „Schon gut, verdammt! Und sie sind nach Westen durch den Pentland Firth auf und davon, sagst du?“ „So schnell sie konnten, diese Bastarde! Wahrscheinlich wollen sie an Irland vorbei nach Spanien zurücksegeln und ...“ David Black verstummte, weil von neuem die dicke Bohlentür aufschwang. Diesmal war es Morrag, die alte Kräuterfrau, die gebückt hereinhinkte. Der Widerschein des Feuers fiel auf ihr braunes, verrunzeltes Gesicht, das strähnige weiße Haar, den beängstigend dürren Körper. Niemand wußte genau, wie alt sie / war. Fast hundert, behauptete sie selbst. Und so sah sie auch aus, jedenfalls solange man keinen Blick aus den runden, funkelnden Knopfaugen auffing, denen nichts entging und in denen Streitsucht und Spottlust manchmal wie Funken sprühten. Jetzt blitzten diese Augen den riesigen Arne Aasen an. „Na, Söhnchen?“ krächzte die dünne Greisinnen-Stimme. „Brauchst du die alte Morrag doch einmal? Die alte Hexe, die nichts versteht außer den Leuten die Köpfe zu verwirren? Das hast du doch von der alten Morrag gesagt, du dummer Klotz von einem Mannsbild, oder?“ Arne Aasen brummte etwas in seinen Bart, das niemand verstehen konnte.
Kelly Kevin
Seewölfe 174 10
Die Alte kicherte. Rasch hinkte sie zu dem einfachen Lager, warf einen Blick auf den Verletzten, und dann scheuchte sie die Männer einfach mit ein paar wedelnden Bewegungen ihrer dürren Klauenhände hinaus. Sie räumten tatsächlich das Feld. Was blieb ihnen auch übrig? Sie wären nicht die ersten gewesen, auf die dieses verhutzelte Weiblein mit ihrem Krückstock losging, und gegen eine alte Frau konnte man sich nicht gut wehren. Außerdem gab es – David Blick vielleicht ausgenommen –kaum jemanden, der darauf geschworen hätte, daß sie sich nicht wohl doch auf gewisse dunkle Hexenkünste verstand. Deshalb konnte sich Morrag McDougal, die Kräuterfrau, selbst einem Arne Aasen gegenüber eine Menge herausnehmen. Seine Stimmung hatte die Begegnung mit der Alten noch mehr verschlechtert. Wut brodelte in ihm. Eine mörderische Wut, die umso gefährlicher wurde, je eiserner er sie nach außen beherrschte. Arne Aasen brauste schnell auf, konnte wie ein Berserker rasen, doch in solchen Fällen beruhigte er sich genau- so schnell wieder. Aber wer ihn so sah wie jetzt, finster vor sich hinbrütend, das kantige, wettergegerbte Gesicht wie aus Stein gehauen, der wußte, daß er ein 'Ventil brauchte, daß er zu Taten entschlossen war und es irgend jemandem sehr schlecht ergehen würde. Die drei spanischen Schiffe hatten sich längst mit ihrer Beute durch den Pentland Firth verdrückt. Sie konnte Arne Aasens Zorn nicht mehr treffen, sie waren uneinholbar für die einmastigen Schaluppen und Pinassen der Fischer. Aber da gab es die Gerüchte über die zerrauften, schwer angeschlagenen spanischen Schiffe, die sich in Gruppen an der Ostküste der Orkney-Inseln vorbei nach Norden geschleppt hatten. Irgendwo im Süden mußten sich Spanien und England einen Schlagabtausch zur See geliefert haben. Einen Schlagabtausch, der mehr gewesen war als ein Scharmützel. Das hieß, daß wahrscheinlich noch einige
Riffpiraten
Nachzügler auftauchen würden, die es besonders schwer erwischt hatte. Spanier sind Spanier, dachte Arne Aasen. Das entbehrte zwar der Logik, aber es eröffnete ihm eine Möglichkeit, seinen wilden Grimm abzureagieren. Außerdem mochte es leicht sein, daß da ganz nebenbei eine schöne fette Beute abfiel. Das Risiko schien gering, warum also sollte man nicht dem einen oder anderen dieser abgetakelten Spanier das Fell über die Ohren ziehen? Arne Aasens Blick wanderte zu der niedrigen Fischerkate, aus der er jetzt das Stöhnen seines Schwagers hören konnte. Von neuem verdunkelte Wut seine grauen Augen. Als er sich den anderen zuwandte, traten seine Kiefermuskeln wie Stränge hervor. „Die Kerle werden wir lehren, sich an ehrlichen Fischern zu vergreifen“, knirschte er, wobei er großzügig überging, daß zumindest die Aasen-Sippe eher der Gilde der Piraten zuzurechnen war, denn den ehrlichen Fischern. „Was meinst du, Dave? Sollten wir es nicht schaffen, eins von diesen spanischen Wracks in eine Falle zu locken?“ David Black zuckte mit den Schultern. „Klar, wenn sie alle so gerupft sind wie die drei, die über uns herfielen. Und wenn nicht, müssen wir uns eben etwas einfallen lassen, um sie auszumanövrieren. Sie segeln durch unbekanntes Fahrwasser. Wir dagegen kennen hier jede Untiefe und jede Klippe. Hört zu! Ich weiß schon, wie wir es anstellen.“ Mit funkelnden Augen erläuterte er den Plan, der soeben in seinem Kopf entstanden war. Einen guten Plan, wie die anderen neidlos anerkennen mußten David Black konnte zwar nicht wie Arne Aasen eine Eisenstange mit bloßen Fäusten verbiegen, aber er hatte mehr Verstand als die meisten. Die Männer beratschlagten, debattierten, prüften Punkt für Punkt, doch sie konnten keinen Fehler an dem Vorschlag entdecken. Arne Aasen holte tief Luft und reckte die mächtigen Schultern.
Seewölfe 174 11
Kelly Kevin
„Wir brechen sofort auf“, bestimmte er. „Jack, du suchst zwanzig Mann aus, die besten Kämpfer. Leif kümmert sich darum, die Schaluppe und 'zwei Pinassen auszurüsten. Und dann wird der nächste verdammte Spanier, der sich zeigt, sein blaues Wunder erleben.“ 3. Die „San Esteban“ schleppte sich durch die finstere, diesige Nacht wie ein Krüppel. Ein blinder Krüppel, denn auch der Lotse kannte sich nicht aus in den gefährlichen Gewässern um die Orkney-Inseln. Er hieß Miguel Roja und hatte bei den Kämpfen im Kanal eine Musketenkugel ins Bein abbekommen. Das Wundfieber wütete in seinem Körper, es gab keinen Feldscher mehr, der ihn hätte fachgerecht behandeln können. Miguel Roja hatte mit seinem Leben abgeschlossen und dachte nur noch daran, das Schiff sicher zurück in die Heimat zu bringen. Soweit das möglich war bei einem Wrack wie der „San Esteban“! Ja, jetzt war sie ein Wrack, zerschossen und zerschlagen, gerade noch in der Lage, platt vor dem beständigen Südwind etwas Fahrt zu laufen. Bei dem Kampf im Kanal hatte sie sich tapfer geschlagen: einer der großen Kauffahrtei-Segler aus dem Guipuzcoa -Geschwader des Miguel de Oquendo, der inzwischen weit voraus mit seinem Flaggschiff „Santa Ana“ bei der Gruppe des Generalkapitäns segelte und im übrigen selbst schwer verwundet war. Er wußte, daß er sterben würde. Und auch er wollte wenigstens seine Männer retten, sofern sie eine Chance hatten, wollte sein Schiff in die Heimat zurückbringen und wußte, daß er mit dem allgegenwärtigen Tod um die Wette fuhr. Ob es die „San Esteban“ jemals bis nach Spanien schaffen würde, stand noch in den Sternen. Verschossen war sie sowieso wie die meisten spanischen Schiffe, die da nach Norden hinkten. Ihr Bugspriet fehlte, Fockund Besanmast waren weggeschossen, der Großmast existierte nur noch zur Hälfte
Riffpiraten
und trug ein Notrigg. Außerdem war Wasser im Schiff, es mußte ständig gepumpt werden. Die Männer an Bord kämpften verzweifelt gegen das Absaufen, ganz davon abgesehen, daß mehr als die Hälfte verwundet worden war, von Hunger und Durst gar nicht zu reden. Aber die „San Esteban“ wurde von einem Capitan geführt, der selbst ein Kämpfer war, und das spielte in dieser Situation eine entscheidende Rolle. Antonio de Araniva wirkte nur auf den ersten Blick wie ein dicker, gemütlicher Typ, mit dem man alles tun konnte. Er war es nicht. Im Gegenteil: er platzte vor Vitalität und Tatkraft. Und er war kein Leuteschinder. Er wußte, daß seine Männer ihr Bestes gaben, daß man sie nicht anzutreiben brauchte, da ihnen allen klar war, wie jämmerlich ihre Lage aussah. Auf anderen Schiffen waren die Leute in dumpfe Lethargie verfallen. Oder die Mannschaften hatten sich in undisziplinierte Haufen verwandelt, bei denen jeder nur noch an sich selbst dachte und dem Kameraden den letzten Krümel stahl. Doch der Capitan der „San Esteban“ gab nicht auf. Er war fast ständig- auf den Beinen, er beanspruchte kein Gramm Zwieback und keinen Schluck Wasser mehr als die anderen. und wenn er den Männern auch nur wenig Hoffnung vermitteln konnte: sein Mut und die Entschlossenheit, mit der er sich dem Geschick entgegenstemmte, übertrugen sich auf die anderen und verhinderten, daß sie sich gehenließen. Jetzt stand Antonio de Araniva an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und starrte nach Norden. Der verletzte Lotse lehnte neben ihm, das Gesicht bleich im Mondlicht, die Augen fiebrig glänzend. Irgendwo Backbord voraus vermutete er die Insel Mainland. Die „San Esteban“ mußte die Küste anlaufen, eine geschützte Bucht nach Möglichkeit, mußte zumindest Wasser finden, wenn sie nicht alle elend verdursten wollten. Aber über die Gefahren, die da zumal bei Dunkelheit auf sie lauerten,
Kelly Kevin
Seewölfe 174 12
brauchten die Männer kein Wort zu wechseln. Riffe, unbekanntes Fahrwasser voller tückischer Strudel, feindliche Küstenbewohner—das alles war übel genug. Genau genommen war es Wahnsinn, abseits von den Häfen auch nur dicht unter Land zu segeln. De Araniva preßte die Lippen zusammen und rechnete noch einmal durch, was ihnen an Vorräten geblieben war. So gut wie nichts! Selbst 'wenn sie die Rationen halbierten, die der Generalkapitän befohlen hatte, würden sie es nicht bis nach Irland schaffen, dem einzigen Platz, wo sie unterwegs vielleicht Hilfe finden würden, da Spanien seinerzeit den Aufstand der Iren gegen die englischen Machtansprüche unterstützt hatte. Aussichtslos, dachte der Capitan. Sie hatten überhaupt keine 'Wahl, sie mußten an Land und ... „Feuer Backbord voraus!“ unterbrach ihn die Stimme des Ausgucks, der im Großmars nichts mehr über sich hatte außer einem knapp yardlangen, zersplitterten Maststumpf. De Araniva straffte sich. Rasch zog er das Spektiv auseinander. Tatsächlich: Backbord voraus war ein heller, glimmender Punkt in der Dunkelheit der Nacht zu sehen. Schweigend reichte der Capitan das Spektiv an den Lotsen weiter. Der Verletzte ergriff es mit der Linken, während er sich mit der Rechten schwer auf die Schmuckbalustrade stützte. Als er das Fernrohr absetzte, stand eine steile Falte zwischen seinen Brauen. „Deerness“, sagte er langsam. „Das muß der Hafen Deerness an der Ostküste von Mainland sein.“ Antonio de Araniva runzelte die Stirn. Deerness? Einen Hafen konnte man natürlich anlaufen, ohne zu riskieren, irgendwo aufzubrummen oder gegen ein Riff geworfen zu werden. Und dann? Spanien hatte England angegriffen. Wenn die Kunde davon bis zu den Orkney-Inseln gedrungen war, mußte man damit rechnen, gefangengenommen zu werden. Selbst
Riffpiraten
wenn nicht — die Bewohner solcher abgelegenen Küstenstriche pflegten rauhe Gesellen zu sein, denen Strandräuberei so selbstverständlich wie das tägliche Brot war, und an kriegerischen Talenten mangelte es ihnen sicher auch nicht. Einen Kampf konnten die ausgehungerten, halb verdursteten Männer der „San Esteban“ nicht mehr bestehen. Aber Hunger und Durst würden sie ohnehin umbringen, wenn sie nichts unternahmen. Und falls sie versuchten, irgendeine versteckte Bucht anzulaufen, sprach alles dafür, daß auch dieses Unternehmen tödlich enden würde. „Wir sollten Deerness anlaufen“, meinte der Lotse zögernd. „Vielleicht wird man uns dort human behandeln.“ „Glaubst du? Spanien pflegt schiffbrüchige Engländer nicht besonders human zu behandeln, Miguel. Nur ein Narr könnte erwarten, daß uns die Leute irgendwelche Sympathien entgegenbringen.“ „Was für eine Wahl haben wir sonst?“ De Araniva nickte düster. Er ahnte nichts Gutes. Aber sie hatten tatsächlich nur die Wahl zwischen verschiedenen Übeln. Davon war die Begegnung mit den Leuten von Deerness vermutlich das geringste. Wenn sie Pech hatten, würde ihre Reise in dem kleinen schottischen Hafen zu Ende sein. Wenn sie auf Menschen trafen, die in der wracken Galeone nicht nur eine leichte Beute und in den erschöpften Männern keine willkommenen Opfer sahen, konnten sie Wasser und Vorräte ergänzen und vielleicht sogar die gröbsten Reparaturen ausführen. Capitan de Araniva war skeptisch, mißtrauisch und hatte alles andere als ein gutes Gefühl bei der Sache, doch er gelangte zu dem Ergebnis, daß sie es riskieren mußten. Mit einem tiefen Atemzug straffte er die Schultern. „Also gut, Miguel“, sagte er. „Versuchen wir, Deerness anzulaufen. Wir halten auf das Feuer zu.“ *
Kelly Kevin
Seewölfe 174 13
Die Männer der „San Esteban“ konnten nicht ahnen, daß sie nicht auf den Hafen Deerness zuliefen, sondern auf ein Feuer, das Arne Aasen an der Südspitze der Insel Copinshay hatte entfachen lassen. Deerness lag fast nördlich hinter der Insel, kaum fünf Meilen entfernt. Jeder, der sich in den Gewässern um die Orkneys nicht sehr genau auskannte, würde einem verhängnisvollen Irrtum anheimfallen, wenn er das Feuer sichtete. Die Spanier, die von Süden heraufsegelten, kannten sich in diesen Gewässern überhaupt nicht aus — und genau darauf baute Arne Aasen seinen teuflischen Plan. Mit verschränkten Armen lehnte der blonde, bärtige Riese an einem Felsen und starrte dorthin, wo ein paar fast unsichtbare Schaumstreifen die Lage der Riffe verrieten, die sich im Halbrund um die Südspitze der Insel herumzogen. Bei Flut verschwanden ihre Spitzen unter Wasser. Und jetzt herrschte Flut. Außerdem war die Nacht diesig, der Mond tauchte nur selten hinter den treibenden Wolken auf, also bestand nur geringe Wahrscheinlichkeit, daß ein fremdes Schiff die Riffe rechtzeitig sichten würde. Vor allem, wenn sich der Kapitän dieses fremden Schiffs einbildete, auf das Feuer eines Hafens zuzuhalten, und sich folglich in sicherem Fahrwasser wähnte. Arne Aasen lächelte triumphierend. Sein Blick glitt über die Schaluppe und die beiden Pinassen, die im Sichtschutz schroffer Klippen ankerten. Die Männer, die das Feuer angezündet hatten, standen genau wie ihr Anführer auf der Landspitze. David Black war unterdessen auf eine der höchsten, wie Finger aufragenden Klippen geentert und suchte mit dem Spektiv die südliche Kimm ab. Er brauchte nicht lange zu warten. „Mastspitze!“ schrie er nach einer Weile. „Genau südöstlich.“ „Eine?“ rief Arne Aasen ungläubig zurück. „Aye, aye! Das heißt ...“ David Black unterbrach sich und spähte angestrengt durch das Fernrohr. -
Riffpiraten
Er sah eine Mastspitze. ja. Aber zugleich glaubte er, in der Schwärze der Nacht den noch dunkleren Schatten des Schiffsrumpfs wahrzunehmen, den er nach Fug und Recht jetzt überhaupt noch nicht hätte sehen dürfen. Vor allem nicht, wenn es nur ein mickriger Einmaster war, der da heransegelte. David Black runzelte die Stirn und überlegte, dann hatte er es. „Das muß ein ziemlich großer Kasten sein, dem sie ein paar Masten rasiert haben“, meldete er. „Was ich sehe, ist der Großmast, aber von dem scheint auch nur noch die Hälfte zu stehen.“ „Also ein Wrack“, stellte Arne Aasen zufrieden fest. „Behalte ihn im Auge und sag Bescheid, sobald du Einzelheiten erkennen kannst.“ David Black zeigte klar. Die Männer warteten. Daß es sich bei dem unbekannten Schiff um ein halbes Wrack handeln mußte, ließ sich schon aus der Zeit schließen, die es brauchte, um sich der Südspitze von Copinshay zu nähern. Es dauerte endlos, bis sich David Black wieder von seinem Beobachtungsposten meldete. „Eine Dreimast-Galeone!“ rief er nach unten. „Nicht mal Bugspriet und Blinde hat der Kahn noch. Nur ein Notrigg an einem halbierten Großmast. Ich möchte wissen, wie die überhaupt manövrieren.“ Das hätte Arne Aasen auch gern gewußt. Fest stand, daß der wracke, abgetakelte Kahn auf das Feuer zuhielt. Das bewies schon mal eins: daß der spanische Capitan - falls es sich um einen Spanier handelte ein ausgezeichneter Seemann war. Und es mußte sich um einen Spanier handeln, überlegte Arne Aasen. Hier oben trieben sich im allgemeinen nur Fischerboote herum. Jedes englische Schiff, das bei den Seegefechten im Süden dermaßen beschädigt worden wäre, hätte den nächstbesten Hafen angesteuert, aber bestimmt nicht Deerness im hohen Norden. Arne Aasens Augen funkelten im Widerschein des Feuers. Er dachte an seinen Schwager, der drüben in Widewall immer noch zwischen Tod
Seewölfe 174 14
Kelly Kevin
und Leben schwebte; an die anderen Verletzten, an die ramponierten Boote. Jetzt war die Stunde der Rache nah. Jetzt würden die spanischen Bastarde sehen, daß sie mit einem Nachfahren der Wikinger so nicht umspringen konnten. Auf die Tatsache, daß seine Rache völlig Unbeteiligte treffen würde, verschwendete Arne Aasen keinen Gedanken. * Das Feuer glomm durch die Dunkelheit wie ein rotes Auge. Sonst waren keine Lichter zu sehen. In Deerness schien alles zu schlafen. Antonio de Araniva spähte durch das Spektiv, doch außer der schwarzen, unregelmäßigen Küstenlinie konnte er nichts erkennen. Dem Ausguck im Mars ging es nicht anders. Wahrscheinlich, überlegte De Araniva, lag der Hafen in einer Bucht hinter Klippen verborgen, die ihn gegen die rauhen Südund Westwinde schützten. Der Capitan blickte zu den Männern auf der Kuhl hinunter, die alle Hände voll zu tun hatten, das fast manövrierunfähige Schiff vorwärtszubringen. Fast jeder hatte irgendwelche Blessuren davongetragen. Kratzer, Streifschüsse, Beulen von herabstürzenden Trümmern - so wie die Platzwunde an De Aranivas Kopf, die er längst vergessen hatte. Schlimmer als alles andere war die Erschöpfung: die Männer mußten die Arbeit ihrer schwerverletzten Kameraden mittun, seit Tagen gab es keine Pausen, sie alle brauchten dringend Ruhe. Der Capitan preßte die Lippen zusammen. Ihr Schicksal hing von den Leuten ab, auf die sie in Deerness treffen würden - falls sie es schafften, in den Hafen einzulaufen. De Aranivas Blick hing an dem Feuer genau voraus. Einem Feuer, das ihm von Minute zu Minute merkwürdiger erschien. Oder vielleicht war es auch nur ein Instinkt, der ihm sagte, daß da etwas nicht stimmte. „Schaumstreifen voraus!“ Wie eine Klinge zerschnitt die Stimme des Ausgucks die Stille. Eine schrille,
Riffpiraten
hysterische Stimme - und der Capitan begriff die Gefahr im Bruchteil einer Sekunde. „Backbrassen!“ brüllte er. „Klar bei Bugund Heckanker! Ruder hart ...“ Weiter gelangte er nicht. Ein jähes, nervenzerfetzendes Krachen und Knirschen übertönte seine Stimme. Wie von einer brutalen Gigantenfaust wurde die Galeone gestoppt. Das ganze Schiff erzitterte, und sekundenlang hielten die Männer den Atem an. Antonio de Araniva faßte sich als erster. „Fier weg die Segel!“ brüllte er. „Loswerfen das Fall, bevor wir uns den Kiel aufreißen. Himmelkreuzdonnerwetter ...“ De Araniva fluchte auf eine Art, die Seine Allerkatholischste Majestät, der König von Spanien, auf einem seiner Schiffe bestimmt nicht für möglich gehalten hätte. Immer noch knirschte Holz über Stein, eine Serie kurzer, harter Stöße erschütterte den Schiffsrumpf. Während die Männer in fieberhafter Eile die Segel aus dem Wind rissen, neigte sich die „San Esteban“ um eine Winzigkeit nach vorn. Die nächste Welle hob sie an, ebenfalls nur um eine Winzigkeit. De Araniva schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Einen Herzschlag lang klammerte er sich an die Hoffnung, daß sie mit dem Schrecken und einem angeschrammten Kiel davonkommen würden. Dann krachte es noch einmal, die „San Esteban“ ächzte, stöhnte - und saß so fest wie ein Holzkeil, den ein Hammerschlag in einen Felsspalt getrieben hat. „Hölle und Verdammnis“, murmelte der Loste inbrünstig. „Feuer genau voraus ist erloschen“, meldete der Ausguck im Großmars schrill. „Das kann doch nicht ...“ De Araniva verstummte. Das kann nicht wahr sein, hatte er sagen wollen. Aber es gab keinen Zweifel daran, daß sich der Ausguck nicht geirrt hatte. Das Feuer brannte nicht mehr. Um die „San Esteban“ war die Nacht schwarz und
Seewölfe 174 15
Kelly Kevin
undurchdringlich, und der Capitan begriff, daß er in eine Falle gegangen war. 4. Zwischen den Klippen an der Südspitze von Copinshay herrschte für ein paar Sekunden andächtige Stille. Leif Thorstein, nächst Arne Aasen der wildeste und kampfstärkste unter den zwanzig rauhen Kerlen, knallte begeistert die Faust in die Handfläche. Die anderen grinsten breit. Ihre Blicke hingen an der Galeone, die ihnen den zersplitterten Stumpf des Bugspriets zuwandte. Das Schiff war vierkant zwischen die beiden Riffe gebrummt. Dort hing es fest, und dort würde es auch bleiben. Denn die Flut hatte ihren höchsten Stand erreicht, in wenigen Minuten würde der Gezeitenstrom kippen und die Ebbe einsetzen, also konnten die Spanier auch die Hoffnung vergessen, daß der Tidenhub sie wieder aus ihrer hilflosen Lage befreien würde. Immerhin, dachte Arne Aasen, hatten die Kerle noch in letzter Sekunde die Gefahr erkannt und recht schnell reagiert. Verdammt schnell sogar, wenn man ehrlich war. Der blonde, bärtige Wikinger runzelte die Brauen. Trotzdem waren die Spanier keine gleichwertigen Gegner, entschied er. Ein verlorener Haufen auf einem Wrack! Die Männer von Widewall würden sie hinwegfegen. Er wandte sich um, als er den Schatten David Blacks bemerkte, der von der Klippe abgeentert war. Auch der schwarzhaarige Unterführer grinste triumphierend. Seine Zähne blitzten im braunen, verwegenen Gesicht. „Der Braten ist uns sicher“, stellte er fest. „Freikommen werden sie in hundert Jahren nicht. Jetzt brauchen wir sie nur noch auszuhungern.“ „Aushungern?“ knurrte Arne Aasen. „Willst du mit den Kerlen vielleicht noch Zeit verlieren?“ Black zuckte mit den Schultern. „Vielleicht streichen sie auch freiwillig die Flagge, wenn sie sehen, daß sie keine Chance mehr haben. Warum, zum Teufel,
Riffpiraten
sollen wir etwas riskieren, wenn wir es auch einfacher haben können?“ Arne Aasen stemmte die Fäuste in die Hüften. Sein Blick wanderte zu der festsitzenden Galeone, dann wieder zu seinem Unterführer, und das breite, kantige Gesicht verfärbte sich zu einem zornigen Rot, das selbst in der Dunkelheit zu sehen war. „Bist du vielleicht zu feige, diesen lumpigen Spanier zu entern?“ fauchte er. „Hast du vergessen, was mit Duncan und den anderen passiert ist?“ „Das spielt überhaupt keine Rolle“, sagte David Black nüchtern. „Außerdem hat sich Duncan die Kugel schließlich nicht von diesen Spanier eingehandelt. Ich meine bloß ...“ „Spar dir deine Meinung auf, bis ich dich danach frage, verdammt noch mal! Ich sage dir, der wracke Kahn wird geentert! Sonst noch jemand, der das Maul aufreißen will?“ Schweigen. Wenn Arne Aasen so richtig wild wurde, war nicht mit ihm zu reden. Das wußte auch David Black, und deshalb zuckte er gleichmütig mit den Schultern. „Also schön“, meinte er. „Entern wir eben. Jetzt sofort oder wann?“ „Morgen früh“ knurrte Arne Aasen. „In der Dämmerung, wenn sie am wenigstens damit rechnen. Und bis dahin lassen wir Sie im eigenen Saft schmoren.“ * „Wrackteile Steuerbord voraus!“ Es war Bills Stimme, die aus dem Großmars klang und die Männer auf der Kuhl die Köpfe heben ließ. Edwin Carberry stemmte die mächtigen Fäuste in die Hüften. „Kannst du Läuseknacker keine präzise Meldung erstatten?“ brüllte er. „Was heißt hier Wrackteile, du grüner Hering? Willst du wohl die Klüsen richtig aufmachen?“ „Planken“, meldete Bill unerschüttert. „Ein Schott und eine halbe Gräting, ein Stück
Kelly Kevin
Seewölfe 174 16
von einer Ruderbank — und noch mehr Planken.“ Carberry schnaufte. Auf dem Achterkastell setzte Hasard das Spektiv an die Augen. Die „Isabella“ segelte immer noch vor dem Wind nach Norden, jetzt bereits auf der Höhe von Duncansby Head. Hasard konnte sich nicht vorstellen, daß die Spanier wahnsinnig genug —oder verzweifelt genug — gewesen waren, um mit ihrer TrümmerArmada durch den Pentland Firth zu segeln. Aber selbst wenn sie versuchten, die Orkney-Inseln im weiten Bogen zu runden — die Gewässer hier waren so tückisch, daß sie ganz sicher mehr als einem spanischen Schiff zum Verhängnis werden würden. Oder schon geworden waren, wie sich Hasard in Gedanken verbesserte. In unmittelbarer Nähe mußte sich irgendwann im Laufe des vergangenen Tages eine Katastrophe zugetragen haben. Hasard vermutete, daß eins der spanischen Schiffe zu dicht unter Land gefahren und an einer Klippe zerschellt war. Nur noch wenige Trümmer schwammen auf dem Wasser. Die Überlebenden mochten sich an die Küste gerettet haben. „Boot genau voraus! Da klammert sich noch jemand am Kiel, glaube ich.“ „Du sollst nicht glauben, sondern melden, was du siehst, du Rübe!“ rief Ed Carberry prompt. „Du bist wohl wild darauf, von mir persönlich die Haut abgezogen zu kriegen, was, wie?“ Hasard grinste flüchtig. Mit dem Spektiv suchte er das Wasser ab, bis er das Boot entdeckte, das kieloben in der steilen Dünung trieb. Tatsächlich klammerte sich eine Gestalt an den Planken fest, aber die konnte Bill auch vom Großmars aus mit bloßem Auge allenfalls als ungewissen Schatten erkennen. „Beiboot klarmachen!“ befahl Hasard. „Etwas anluven, damit wir den Mann in Lee übernehmen können.“ Auf der Kuhl der „Isabella“ entfaltete sich fieberhafte Aktivität.
Riffpiraten
Der Profos tobte herum, lüftete die Männer an und bedrohte jeden „müden Hammel“, der seine „verdammten morschen Knochen“ nicht schnell genug bewegte, mit sämtlichen Höllenstrafen. Nur Minuten später klatschte das Beiboot aufs Wasser. Der Profos enterte als erster ab, und seine Stimme klang etwas dumpf, als er Blacky, Batuti und Stenmark anbrüllte, ob sie sich jetzt gefälligst in die Riemen legen wollten oder vielleicht glaubten, heute sei Weihnachten — was, wie? „Kutscher!“ rief Hasard. „Kutscher!“ schrie Ferris Tucker. „Wo steckst du dämlicher Kakerlaken-Jäger?“ „Du hast die Kakerlaken wohl im Hirn, du rothaariger Affe!“ fauchte der etwas schmalbrüstige Mann, der im Kombüsenschott auftauchte. Er brachte einen verlockenden Duft mit: offenbar hatte er heißen Tee für die Wachgänger gekocht, denen in diesen nördlichen Breiten ganz hübsch der Wind um die Ohren pfiff. Während Ferris Tucker und der Kutscher hingebungsvoll darin fortfuhren, sich gegenseitig mit den erlesensten Bezeichnungen aus der Tierwelt zu belegen, hatte das Beiboot den kieloben treibenden Kahn erreicht. Der Schiffbrüchige hob mit einer matten Bewegung den Kopf. Bei Bewußtsein war er noch, sonst hätte er sich wohl kaum so lange festklammern können. Das hieß: besonders lange schwamm er bestimmt noch nicht. Das Boot konnte erst vor kurzer Zeit gekentert sein, denn sonst wäre der Mann schon längst der Unterkühlung zum Opfer gefallen. Hasard beobachtete, wie sich Batuti über den Dollbord beugte. Der riesige Gambia-Neger hob den Spanier wie eine Puppe ins Boot, Der Schiffbrüchige sackte zusammen. Jetzt, da er sich nicht mehr anklammern mußte, schien ihn der letzte Funken von Kraft zu verlassen. Batuti blieb nichts anderes übrig, als sich die schlaffe Gestalt einfach unter den Arm zu klemmen, als er wenig später wieder an der Jakobsleiter aufenterte.
Seewölfe 174 17
Kelly Kevin
Ein kräftiger Schluck Rum brachte den Spanier wieder zu sich. Flatternd hoben sich seine Lider. Er sah den Kutscher an, der sich über ihn beugte: ein schmalbrüstiger, hagerer Mann mit dunkelblondem Haar und blauen Augen. Der Blick des Schiffbrüchigen wanderte weiter, streifte den riesigen rothaarigen Ferris Tucker, den blonden Stenmark, ein paar andere hellharrige Männer, und der Spanier schluckte krampfhaft. „Ingles?“ flüsterte er tonlos. Dabei sah man ihm an, daß es ihm als ziemlich schlimmes Geschick erschien, ausgerechnet Engländern in die Hände gefallen zu sein. Edwin Carberry furchte die Stirn und schob sein zernarbtes Rammkinn vor. „Jawohl, du Rübenschwein!“ knurrte er. „Wir sind Engländer. Und wir fressen keine Spanier zum Abendbrot, schon gar keine schiffbrüchigen Spanier. Hast du das jetzt kapiert, oder muß ich dir erst die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch abziehen und an die Kombüse nageln?“ Zum Glück verstand der Spanier kein Englisch, sonst wäre er wohl wieder über Bord gesprungen, noch bevor ihm Hasard erklären konnte, daß ihm an Bord der „Isabella“ kein Haar gekrümmt werden würde. * „Die Tide ist gekentert“, murmelte jemand auf der Kuhl der „San Esteban.“ Der spanische Profos fuhr herum. „Das sehe ich selbst, du Sohn einer kastilischen Wanderhure“, fauchte er. Ein Profos mußte fluchen können, das war nun mal so. Nur die Ausdrücke unterschieden sich von Schiff zu Schiff. Ed Carberry zum Beispiel hätte von einer „Plymouther Hafenhure“, gesprochen. Capitan Antonio de Araniva starrte mit steinernem Gesicht nach Norden. Die Stille wirkte unheimlich. Nichts war zu sehen außer ein paar Klippen und Landbuckeln, die aus dem schwarzen Wasser ragten. Auch das Spektiv nutzte in
Riffpiraten
der Dunkelheit nicht viel. Aber da sie offenbar hoffnungslos festsaßen, spielte es ohnehin keine so besonders große Rolle, wo genau sie sich befanden. Neben dem Capitan stützte sich der verletzte Lotse auf die Schmuckbalustrade. Er war blaß bis in die Lippen, denn er gab sich die Schuld an dem Unglück. „Das ist nicht Deerness“, murmelte er. „Natürlich ist es nicht Deerness“, knurrte De Araniva. „Es war ein verdammtes Lockfeuer, aber das konntest du so wenig ahnen wie ich, Miquel.“ Er biß die Zähne zusammen und holte tief Luft. „Klar zum Gefecht“, rief er halblaut. „Handwaffen austeilen! Und daß mir niemand nervös wird und auf Schatten schießt! Wir müssen Munition sparen!“ Munition sparen! Der Ausdruck war eine glatte Untertreibung, wie der Capitan wußte. Für die Kanonen hatten sie keine einzige Kugel mehrrund für Pistolen, Musketen und Arkebusen nicht mehr genug, um einen langen, hinhaltenden Kampf zu bestehen. Aber das brauchten ihre Gegner, wer immer sie waren, ja nicht unbedingt zu wissen. „Strandräuber!“ knirschte der Lotse. „Schottische und skandinavische Halsabschneider!“ „Vermutlich. Aber kampflos werden sie uns nicht kriegen.“ De Aranivas schwergewichtige Gestalt straffte sich, das runde, sonst eher freundlich wirkende Gesicht war hart wie Stein. „Geh hinunter ins Vorschiff, Miguel. Du brauchst Ruhe.“ Roja schüttelte den Kopf, obwohl es in der Falle, in der sie steckten, für einen Lotsen wirklich nichts mehr zu tun gab. „Wir werden bald sehr lange Zeit zum Schlafen haben“, sagte er ruhig. „Und vorher möchte ich noch ein paar von den Kerlen mitnehmen, die uns das hier eingebrockt haben.“ „Dann nimm dir eine Waffe. Aber ich fürchte, wir werden die Burschen gar nicht sehen. Sie können uns aushungern, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Das heißt, falls sie wissen, wie es hier aussieht.“
Kelly Kevin
Seewölfe 174 18
„Hoffentlich wissen sie's nicht“, murmelte der Lotse. Unten auf der Kuhl hockten die restlichen Männer mit Musketen und Arkebusen bewaffnet an den Schanzkleidern. In der Stille schien die Anspannung die Luft vibrieren zu lassen. Hände ballten sich, Kinnladen wurden vorgeschoben, Zähne bissen aufeinander. Die Spanier wußten, in welch aussichtsloser Lage sie steckten, aber jeder einzelne von ihnen war entschlossen, seine Haut so teuer wie irgend möglich zu verkaufen. Die Stille dehnte sich. Sekunden verrannen, wurden zu Minuten, einer Viertelstunde — und immer noch rührte sich nichts. Hatten die Kerle, die für das Lockfeuer verantwortlich waren, damit gerechnet, daß die „San Esteban“ zerschellen würde? Wagten sie sich nicht an ein Schiff, das sich noch wehren konnte? Oder warteten sie darauf, daß ihre Opfer die Flagge strichen oder mit den intakt gebliebenen Booten an Land pullten, wo man sie umso leichter abschlachten konnte? Da würden sie lange warten müssen, dachte Antonio de Araniva grimmig. Sein Blick glitt über das Wasser, er musterte die Schaumstreifen, die im Ebbstrom immer kräftiger wurden. Jetzt ragten bereits die ersten schwarzen, zackigen Spitzen auf, wenn sie in den Bereich eines Wellentals gerieten. Der Capitan marschierte von Backbord nach Steuerbord und wieder zurück und versuchte herauszufinden, wie die Falle beschaffen war, in der sie festsaßen, aber noch ließen sich keine Einzelheiten erkennen. Die nächsten Stunden verstrichen quälend langsam. Der unbekannte Gegner zeigte sich nicht. Die Nacht war gespenstisch ruhig. Erst nach Mitternacht, als die Ebbe die Riffe teilweise freigelegt hatte, konnten die Spanier auf ihrem Wrack das ganze Ausmaß der Bescherung erkennen. Die „San Esteban“ saß vierkant zwischen zwei Riffen fest.
Riffpiraten
Wie auf einem Trockendock, dachte De Araniva ingrimmig. Jetzt, bei Ebbe, hätten sie sogar bestens ihren Unterwasserrumpf reparieren können. Aber das nutzte nun auch nichts mehr, da sie das „Trockendock“ nicht verlassen konnten. Wie auch? Sie hätten versuchen können, bei Hochwasser mit dem Beiboot einen Anker auszubringen und die Galeone mit dem Bratspill freizuziehen. Aber so, wie sie festsaßen, war das ein aussichtsloses Unterfangen. De Araniva wußte entmutigend genau, daß sie beim höchsten Stand der Flut aufgebrummt waren und der Tidenhub nicht ausreichte. Er wußte außerdem, daß die Kerle, die sie in diese Falle gelockt hatten, ihnen keine Gelegenheit geben würden, irgendetwas zu unternehmen. Den Männern der „San Esteban“ blieb nur der Kampf - und wenn nicht ein Wunder geschah, würde es ihr letzter Kampf werden. Capitan de Araniva preßte die Lippen zusammen, wandte sich von der Schmuckbalustrade ab und stieg den Niedergang hinunter. . Die Blicke wandten sich ihm zu. Hoffnungsvolle Blicke, so absurd das auch erscheinen mochte. Der Capitan hatte es geschafft, sie jeder Wahrscheinlichkeit zum Trotz bis hierher zu bringen, vielleicht erhoffte sich jetzt der eine oder andere der Männer doch noch das Wunder. Aber De Araniva konnte ihnen keine Hoffnung zusprechen. Breitbeinig stand er da: eine schwere, fast plumpe Gestalt, obwohl auch ihm die zerfetzte Uniform in den letzten Tagen zu weit geworden war. Sein Gesicht wirkte bleich im ungewissen Licht. Bleich und entschlossen. „Hört zu, Männer“, sagte er hart. „Dies wird das unwiderruflich letzte Gefecht der ,San Esteban'. Da wir in ein paar Stunden vielleicht alle tot sind, will ich eure Meinung dazu hören. Ich weiß nicht, wer uns in diese verdammte Falle gelockt hat. Ich weiß auch nicht, was die Kerle mit uns vorhaben - vielleicht wollen sie uns nur zu einer netten Teestunde einladen. Ist einer von euch der Meinung, daß wir die
Kelly Kevin
Seewölfe 174 19
Einladung annehmen und die Flagge streichen?“ Schweigen. Die Blicke der Männer wanderten hinauf zu der spanischen Fahne, die ohnehin nur provisorisch an einem Stag flatterte, an das sie eigentlich nicht gehörte. Der Profos fuhr sich mit allen fünf Fingern durchs Haar. „Niemand ist dieser Meinung, Capitan“, sagte er sehr ruhig und sehr entschieden. „Ich habe nichts anderes erwartet.“ De Araniva lächelte. „Wir werden also kämpfen und die elenden Strandräuber noch einmal das Fürchten lehren, bevor wir uns vielleicht von dieser Welt verabschieden müssen. Ihr habt tapfer gekämpft. Spanien kann stolz auf euch sein. Ich danke euch, Männer. Profos?“ „Capitan?“ Der Profos mußte sich räuspern. „Wein, Wasser und Proviant für alle. Da wir morgen vermutlich keine Sorgen mehr haben werden, brauchen wir heute nicht geizig zu „Si, Capitan!“ Der Profos wandte sich um. „Lope! Beeil dich und such dir jemanden, der dir dabei hilft, die restlichen Vorräte auszugeben. Aber zieh die Rübe ein! Du sollst noch ein paar von den Strandräubern mit in die Hölle nehmen und dir nicht jetzt schon von ihnen den Kopf abschießen lassen.“ Der Koch beeilte sich. Durch die Reihen der Männer ging es wie ein Aufatmen, fast schien es, als seien sie plötzlich von einem schweren Druck befreit. Vielleicht empfanden viele von ihnen tatsächlich so. Die Ungewißheit war vorbei, die Entscheidung gefallen - jetzt brauchten sie sich nur noch darum zu kümmern, ihren letzten Kampf so gut wie möglich durchzufechten. Capitan de Araniva kehrte zu seinem Platz auf dem Achterkastell zurück. Sein Gesicht glich einer steinernen Maske. Schweigend lauschte er in die Nacht und starrte dorthin, wo er den unsichtbaren Gegner vermutete. Für die Männer der „San Esteban“ begann das Warten.
Riffpiraten 5.
Der diesigen Nacht folgte eine trübe Morgendämmerung, in der Nebelfetzen wie Geistergestalten über das graue Meer wehten. Im Schutz der Landzunge schwoiten die Schaluppe und die beiden Pinassen um ihre Ankertrossen. Feuchtigkeit hatte sich in glitzernden Perlen auf Wanten und Stagen niedergeschlagen, die Mastspitzen schienen die grotesken Nebelschlieren aufzuspießen. Die Beiboote waren abgefiert worden. Vorsichtig und leise holten die Männer die Riemen durch. 'Arne Aasen wollte im Schutz des Morgennebels so dicht wie möglich an die festsitzende Galeone heranpullen - und dann entern, ehe die Spanier überhaupt merkten, was gespielt wurde. So jedenfalls dachte er sich das. Mit verschränkten Armen hockte er im Bug des vordersten Bootes, zwei Pistolen im Gürtel, die Muskete griffbereit neben sich. Haar und Bart waren feucht geworden und zottelten in wirren Strähnen um sein Gesicht. Sie ließen ihn mehr denn je an einen der Wikinger erinnern, die seine Vorfahren gewesen waren. Seine grauen Augen funkelten im ungewissen Licht. Er glaubte, den Sieg bereits in der Tasche zu haben, und seine Männer waren daran gewohnt, sich blind auf ihn zu verlassen. Alle - außer David Black, der das zweite Boot führte. Der drahtige schwarzhaarige Mann kauerte geduckt im Bug und spähte nach Süden, wo sich die zwischen den Riffen gefangene Galeone als diffuser Schatten abhob. David Black war ganz und gar nicht davon überzeugt, daß die Sache so einfach sein würde, wie sich Arne Aasen das vorstellte. Die Spanier steckten in einer aussichtslosen Lage. Sie mußten verzweifelt sein - und verzweifelte Männer waren gefährlich. Der blonde, hünenhafte Leif Thorstein, der das dritte Boot führte, hielt sich nicht auf mit solchen Überlegungen. Ihm reichte die Aussicht, daß er den Spaniern da drüben
Kelly Kevin
Seewölfe 174 20
heimzahlen konnte, was andere Spanier ihm angetan hatten. Unbewaffnete Fischerboote zu überfallen, war ein Halunkenstück und der Überfall auf die wracke Galeone da drüben die einzig richtige Antwort darauf. Zahn um Zahn. hieß Leif Thorsteins Devise. Dabei durften dann ruhig die Fetzen fliegen, je kräftiger, desto besser. Und ob er dem richtigen Mann den Zahn zog, spielte für den - blonden Hünen auch keine übermäßig wichtige Rolle. Im grauen Dunst konnten sie die Galeone jetzt schon deutlicher er, kennen. Genau in die Falle gelaufen, stellte Leif Thorstein befriedigt fest. Aber die spanische Flagge flatterte immer noch im kräftigen Südwind. Die Spanier hatten sie sogar eigens an einem behelfsmäßigen Stag befestigt, damit nur ja niemand auf die Idee verfiel, sie seien nicht bereit, sich zu wehren. In Leif Thorstein regte sich so etwas wie widerwillige Anerkennung für den Mut seiner Gegner. David Blacks Gesicht wurde verkniffen vor hellwachem Mißtrauen. Nur Arne Aasen genoß immer noch mit funkelnden Augen das Vorgefühl des sicheren Triumphs - und diesmal wurde ihm seine Sturheit fast zum Verhängnis. An Bord der Galeone war es gespenstisch still gewesen, jetzt änderte sich das schlagartig. Wie Kastenteufel sprangen Männer hinter den Schanzkleidern auf. Ein spanischer Befehl gellte, in derselben Sekunde schien eine Reihe prachtvoller roter Feuerblumen aufzublühen. Krachend entluden sich Musketen und Arkebusen. Kugeln schwirrten, trafen Menschen, Planken, Dollborde - und selbst in ihrem jähen Schrecken begriffen die Angreifer noch, daß kaum eine dieser Kugeln wirkungslos ins Wasser klatschte. Ein drahtiger Schotte sackte mit einem Schrei auf der Ducht zusammen. David Black spürte plötzlich Wasser um seine Füße gurgeln. Mit einem Fauchen der Wut riß er die eigene Waffe hoch. Auf der „San Esteban“ krachten schon wieder Musketen und Arkebusen. Die Schotten
Riffpiraten
lagen bereits unter einem verheerenden Abwehrfeuer, noch bevor auf ihrer Seite der erste Schuß gefallen war. Es war David Black, der ihn abfeuerte. Allerdings konnte er sich nicht davon überzeugen, ob er getroffen hatte. Eine Kugel zischte so dicht über ihn weg. daß er den Kopf einziehen mußte. Vorn in Arne Aasens Boot brach der zweite Mann zusammen. Wieder erklang auf der Galeone ein spanischer Befehl, aber die Angreifer konnten nicht wissen, daß es der, Befehl war, wegen des akuten Munitionsmangels nur noch zu schießen, wenn mit Sicherheit ein Treffer angebracht werden konnte. Arne Aasen fluchte, brüllte, feuerte die Muskete und seine beiden Pistolen ab, doch er war zu wütend, um ruhig zu zielen und einen der Spanier zu treffen, die sich immer nur ganz kurz hinter den Schanzkleidern aufrichteten. Seine Augen schleuderten Blitze. Er keuchte vor Haß, er schüttelte die Fäuste und tobte, er wäre am liebsten außenbords gejumpt, um die Galeone im Alleingang zu entern. Erst das Gurgeln des Wassers, das durch die Löcher in den Planken auch in sein Boot drang, kühlte ihn etwas ab und ließ ihn begreifen, daß es mit dem Entern zumindest im Augenblick nichts mehr werden würde. Der Überraschungsschlag war gescheitert. Jetzt konnten sie sich nur noch blutige Köpfe holen - und einen nassen Hintern. Arne Aasen platzte fast vor Wut, aber er sah ein, daß ein weiterer Angriff sinnlos gewesen wäre. „Zurück!“ brüllte er. „Alles zurück! Wenden! Pullt, ihr lahmen Säcke! Pullt!“ Die Männer legten sich keuchend in die Riemen. Arne Aasen griff zähneknirschend nach einer Segeltuchpütz und begann, das eindringende Wasser außenbords zu schöpfen. Eine letzte Kugel durchschlug die Bordwand -der Schütze auf der Galeone hatte mit grimmiger Genugtuung gesehen, daß das Boot in einem Zustand war, in dem ein weiteres Loch ihm den Rest geben würde. Eine scharfe Stimme
Kelly Kevin
Seewölfe 174 21
rief etwas auf Spanisch. Es war der Profos der „San Esteban“, der den Schützen anpfiff, gefälligst nicht die Munition zu verschwenden, aber das konnten die Männer in den Booten nicht ahnen. Sie erwarteten jeden Augenblick einen neuen Feuerhagel und pullten, was das Zeug hielt. Arne Aasen brüllte sein „Hool weg!“ pützte Wasser und erkannte zähneknirschend, daß es immer noch stieg. David Black blickte zu dem Spanier zurück und fragte sich, warum der sein schweres Geschütz nicht benutzt hatte. Naja, für die Steuerbordund Backbordkanonen war der Schußwinkel zu steil gewesen. Aber die schwenkbaren Bugdrehbassen hätten feuern können! Verschossen, erkannte David Black messerscharf. Die Kerle hatten keine einzige lumpige Kugel mehr, und das hieß vermutlich, daß es auch mit der Munition für ihre Musketen und Arkebusen nicht zum besten stand. Einzelangriffe, Störfeuer, ständiges Geplänkel - das wäre in diesem Fall das einzig Richtige gewesen. Aber David Black ahnte schon jetzt, daß Arne Aasen wenig von einer Zermürbungs-Taktik und umso mehr von einem neuen, massiven Angriff halten würde. Im Augenblick allerdings hatte Aasen andere Sorgen. Das Boot lief voll. Kurz vor dem Felsufer der Insel Copinshay soff es den Männern unter dem Hintern weg. Fluchend, keuchend und prustend landeten sie im kalten Wasser der Nordsee, und da die anderen genug mit sich selbst zu tun hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als bis zur Spitze der Landzunge zu schwimmen. Wer es noch nicht gekonnt hatte, der lernte es jetzt. Zwei Verwundete, denen das nicht gelang, wurden von Leif Thorstein aufgenommen, dessen Kahn damit aber auch bedrohlich überfüllt war. Auf der Landspitze warteten die Männer auf die Schwimmer, die einer nach dem anderen aus dem Wasser krochen und sich zwischen die Felsen
Riffpiraten
fallen ließen. Arne Aasen hatte gerade noch Luft genug zum Fluchen, und das tat er denn auch ausgiebig, während er David Blacks Bemühungen beobachtete, sein volllaufendes Boot noch ans Ufer zu bringen. Er schaffte es, was auch nicht gerade zur Hebung von Arne Aasens Stimmung beitrug. Es fuchste ihn, daß Black mit seiner Warnung recht behalten hatte. Aber das bedeutete nicht, daß er jetzt auf den Rat seines Unterführers hören und die Spanier aushungern würde. Niederlagen waren etwas, das Arne Aasen nicht vertragen konnte. In solchen Fällen wurde er blindwütig, wollte mit dem Kopf durch die Wand, und es kümmerte ihn einen Dreck. oh seine Handlungsweise vernünftig war oder nicht. David Black wußte das, deshalb verzichtete er darauf, irgendeinen Kommentar abzugeben. Die restlichen Männer taten sich keinen Zwang an: sie fluchten, was das Zeug hielt. Drei von ihnen waren verletzt, davon zwei so schwer, daß sie Pflege brauchten und nach Hause gebracht werden mußten. Außerdem hatten sie ein Boot verloren, und das zweite mußte kalfatert werden. Selbst Arne Aasen sah ein, daß sie keinen weiteren Angriff auf die Galeone riskieren konnten. Jedenfalls nicht mit siebzehn Mann, und wenn diese siebzehn auch noch so wild waren. „Und jetzt?“ fragte der blonde Leif Thorstein sachlich. David Black hätte ein paar vernünftige Vorschläge gehabt, aber er verkniff sie sich. Arne Aasen biß die Zähne zusammen. Sein Kiefer mahlte, und in seinen grauen Augen brannte die Wut wie ein Feuer. „Wir holen Verstärkung“, entschied er. „Leif, du nimmst die Pinasse und segelst mit ein paar Mann nach Widewall. Dann werden wir ja sehen, ob wir es nicht schaffen, diese verdammten Spanier ins Meer zu werfen.“ *
Kelly Kevin
Seewölfe 174 22
Die Männer auf der „San Esteban“ atmeten auf, als die ersten Sonnenstrahlen die Nebelschwaden vertrieben. Ihre Lage war nicht besser als vorher, aber jetzt hatten sie wenigstens freie Sicht und konnten nicht mehr überrascht werden. Ein Ausdruck grimmiger Zufriedenheit zeichnete die Gesichter. Sie hatten die Angreifer zurückgeschlagen, die erste Runde gewonnen, sie kannten den Gegner jetzt und blickten wieder etwas optimistischer in die Zukunft. Selbst die Verwundeten im Vorschiff waren ein wenig aus ihrer Lethargie erwacht. Ein Teil von ihnen hatte sich an Deck geschleppt: wenn sie schon nicht kämpfen konnten, wollten sie wenigstens dabeisein, Waffen nachladen und so viel wie möglich helfen, wenn wieder angegriffen würde. Die meisten Männer hatten sich in Decken gehüllt und lehnten an den Schanzkleidern. Einige schliefen, viele dämmerten vor sich hin — nach der nervenzerfetzenden Anspannung der letzten Nacht brauchten sie Ruhe. Es gab keine Segelmanöver, die auszuführen waren, keinen Seegang, dem sie zu trotzen hatten. Es gab überhaupt nichts mehr, das sie tun mußten — außer auf den nächsten und vermutlich letzten Angriff ihrer Gegner zu warten. Capitan de Araniva strahlte unerschütterliche Ruhe aus. Dabei wußte er genau, wie schnell seine Verteidigungsmittel dahin schmelzen würden, ganz davon abgesehen, daß es ihnen nicht viel einbrachte, die Angriffe abzuschlagen. Er hatte das Tageslicht genutzt, um die Lage zu sondieren: vor sich in hundert bis zweihundert Yards Entfernung mehrere Inseln verschiedener Größe, hinter sich und an Steuerbord die Nordsee, an Backbord die Küste von Mainland, wo irgendwo der Hafen Deerness liegen mußte, den sie eigentlich hatten anlaufen wollen. Die schottischen Strandräuber ließen sich nicht sehen. Aber sie waren da, lauerten in der Nähe, das konnte De Araniva fast spüren. Vielleicht warteten sie auf
Riffpiraten
Verstärkung, vielleicht hatten sie sich entschlossen, ihre Opfer einfach auszuhungern. Auf jeden Fall würden sie zu verhindern wissen, daß die Spanier irgendwie entwischten. De Araniva blickte zu dem verletzten Lotsen hinüber, der damit beschäftigt war, eine schwere Steinschloß-Pistole zu, reinigen und aufzuladen. Der erste Offizier benutzte seine Muskete als Krücke. Er hatte mit grimmiger Entschlossenheit erklärt, daß seine Verwundung so gut wie geheilt sei, und sich nicht um die Proteste des Feldsehers gekümmert. Aber der Zustand der Wunde würde wohl bald ohnehin nicht mehr wichtig sein. Die Strandräuber hatten keinen Grund, verletzte Gegner zu schonen oder ihnen gar zu helfen. Sehr deutlich erinnerte sich der Capitan an die wilde Wut, die er auf den Gesichtern der Angreifer gesehen hatte. Er verstand diesen Haß nicht und konnte nicht wissen, daß die „San Esteban“, einem Rachefeldzug zum Opfer gefallen war, den drei brutale spanische Kapitäne heraufbeschworen hatten. Aber er wußte auf jeden Fall, daß dieser bärtige Wikinger und seine rauhen Kerle niemanden schonen würden. „Sie werden uns aushungern“, sagte der erste Offizier langsam. „Wenn sie auch nur im entferntesten ahnen, wie es mit unseren Vorräten aussieht, werden sie einfach zwischen ihren Felsen hocken bleiben und abwarten.“ „Dann brechen wir durch.“ De Araniva preßte die Lippen zusammen. „Mit dem einen Boot, das uns geblieben ist?“ Der Capitan zuckte mit den Schultern. Er starrte zu den einzelnen Klippen, die in der Nähe aus dem Wasser ragten. Nichts an ihm erinnerte jetzt mehr an den dicken, gutmütigen Mann, den jeder auf den ersten Blick für harmlos gehalten hatte. „Das Boot trägt zwölf Mann“, sagte er hart. „Die werden entweder durchkommen oder im Kampf mit den verdammten Strandräubern fallen. Wenn sie es schaffen, haben sie die Chance, Deerness zu
Seewölfe 174 23
Kelly Kevin
erreichen. Und wenn sie dort nicht niedergemetzelt oder gefangengenommen werden, können ein paar von ihnen mit dem Boot zurückkehren, um nachzusehen, ob auf der guten alten ,San Esteban` noch jemand am Leben ist.“ „Aber ...“ begann der Erste. Er brach ab, ohne den Einwand zu beenden. Einen überflüssigen Einwand, da der Capitan selbst wußte, wie verzweifelt sein Plan war. Aber ein verzweifelter Plan war besser als gar kein Plan, und alles war besser, als auf der „San Esteban“ tatenlos den Tod zu erwarten. „Wir warten die Dunkelheit ab“, entschied De Araniva. „Wenn sich bis dahin nichts tut, versuchen wir es. Die Männer sollen das Boot ausrüsten.“ Er stieg persönlich auf die Kuhl hinunter, um den Befehl weiterzugeben, da er sich nicht darauf verlassen wollte, daß sich keiner der Gegner in Rufweite befand. Stumm versammelten sich die erschöpften, ausgehungerten Gestalten am Schanzkleid. Der Capitan erläuterte ihnen mit ruhiger Stimme, um was es ging, und auf den eingefallenen Gesichtern erschien wieder Hoffnung. Fast erschrocken spürte De Araniva, wie sehr die Männer ihm vertrauten. „Es ist eine winzige Chance“, warnte er. „Aber ich denke, es ist den Versuch wert.“ „Und ob!“ knurrte der Profos. „Wir werden Sie sicher nach Deerness bringen, Capitan, das schwöre ich. Wir werden ...“ „Ich bleibe hier“, sagte De Araniva ruhig. Und jeder spürte, daß diese Entscheidung endgültig war und der Capitan entweder auf der „San Esteban“ sterben oder der letzte sein würde, der das Schiff verließ. * Sie brauchten nicht bis zur Dunkelheit zu warten. Am frühen Mittag erreichte die Verstärkung für Arne Aasen die Insel Copinshay: vier weitere Pinassen mit je fünf Männern. Im Laufe des Nachmittags würden noch mehr erscheinen: Fischer, die mit ihren Booten unterwegs gewesen
Riffpiraten
waren, als Leif Thorsteins Pinasse in Widewall eintraf. Bis zum Abend würde sich eine kleine Flotte versammelt haben, aber so lange gedachte Arne Aasen nicht zu warten. Er hatte die Zeit genutzt, um mit David Black die taktischen Möglichkeiten für den zweiten Angriff zu erkunden. Black war immer noch dafür, die Spanier mit einem ständigen Geplänkel zu zermürben, wenn man sie schon nicht aushungern wollte. Arne Aasen bestand darauf, massiv anzugreifen und zu entern. Aber dabei hatten sie sich bereits einmal blutige Köpfe geholt, und deshalb war er zumindest den anderen Vorschlägen seines Unterführers zugänglich. Wieder benutzten sie die Beiboote -einen ganzen Schwarm diesmal. Die Galeone saß genau südlich von Copinshay zwischen den Riffen fest, doch nordöstlich von dem Schiff gab es eine Anzahl einzeln aus dem Wasser ragender Klippen, die den Booten einigermaßen Deckung gaben. Die Männer hatten Zeit und pullten einen fast gemütlichen Rundschlag. Arne Aasen hatte die besten Musketenschützen ausgewählt - sieben Mann, zu denen auch David Black gehörte. Er kauerte gespannt wie eine Bogensehne im vordersten Boot und spähte zu einer der Klippen hinüber. Der Erfolg seines Plans hing davon I ab, daß es ihm - und den sechs anderen Scharfschützen - gelang, in diese Felsen zu klettern. Sie rückten jetzt rasch näher bedrohlich rasch. „Etwas nach Backbord halten!“ befahl Black halblaut, während seine Augen fieberhaft den glatten Stein abtasteten. Eine Kante! „Riemen ein!“ fauchte Black. Die rasche Reaktion seiner Rudergasten verhinderte gerade noch eine kräftige Wuhling, während das Boot mit der Steuerbordseite dicht an der Klippe vorbei schor. Der schwarzhaarige Unterführer setzte mit einem Sprung auf die schmale Gesteinsrampe über.
Kelly Kevin
Seewölfe 174 24
Ein zweiter Mann folgte ihm fluchend, weil ihn der lange Lauf der Muskete behinderte. Vier, fünf Yards entfernt umklammerte Leif Thorstein dicht an der zweiten Klippe einen Felszacken und verhinderte mit purer Muskelkraft, daß sein Boot von der Dünung gegen den Stein geschmettert wurde. Auch dort setzten zwei Männer über. David Black nickte zufrieden und ging daran, eine Möglichkeit für den Aufstieg zu finden. Mit den schweren, unhandlichen Musketen war die Kletterei schwierig, doch schließlich schafften sie es. Black duckte sich zwischen die Felsen, arbeitete sich an einen schmalen Grat heran und spähte zu der festsitzenden Galeone hinüber. Sie lag in Schußweite. Von den Klippen aus konnten die Männer die gesamte Steuerbordseite bestreichen und den Booten auf diese Weise Feuerschutz geben. Damit war das Enterunternehmen zwar nicht gefahrlos geworden, aber Arne Aasen hatte sich ja nun einmal entschlossen, es auf die rauhe Art zu versuchen. Black schob den Lauf der Muskete über eine Steinkante und sah sich nach seinem Kumpan um. Auch der zweite Mann hockte im Schutz der Felsen und zielte mit der Muskete in die Richtung der „San Esteban“. Unterhalb der Klippen pirschten sich die Boote weiter. Arne Aasen starrte fragend nach oben, und Black nickte ihm zu als Zeichen, daß das Unternehmen jetzt beginnen könne. Wie Pfeile schossen die Boote aus der Deckung der Klippen. Der Ausguck der Galeone hatte aufgepaßt, sein Warnschrei schnitt durch die Stille. Die „San Esteban“ war gefechtsbereit. Wie Kastenteufel schnellten die Männer hinter dem Steuerbord-Schanzkleid hoch, fertig geladene Waffen in den Fäusten. Doch diesmal schafften sie es nicht, die angreifenden Boote mit einem Hagel aus Feuer und Blei zurückzutreiben. Stattdessen wurden die Verteidiger von den Klippen aus unter gezieltes Musketenfeuer genommen.
Riffpiraten
David Black visierte und schoß. Einer der Spanier warf die Arme hoch und brach mit einem Schrei zusammen. Zwischen den Felsen fielen weitere Schüsse. Die Männer der „San Esteban“ zogen die Köpfe ein und gingen in Deckung, aber sie wußten nur zu genau, daß sie auf diese Weise den Angreifern Gelegenheit gaben, längsseits zu gehen und zu entern. David Black kniff die Augen zusammen und suchte ein Ziel auf dem Achterkastell. Vorsichtig richtete er sich zwischen den Felsen auf. Über den langen Musketenlauf weg visierte er den dicken Kerl in der zerfetzten Uniform an, den er für den Capitan hielt. Ringsum in den Klippen krachte es: die Fischer schossen gleichmäßiges Störfeuer. David Black richtete sich noch ein Stück weiter auf — und achtete nicht darauf, daß auf der Kuhl der Galeone jemand das gleiche tat. Der spanische Profos hatte die Gestalt auf der Klippe entdeckt und begriff, daß der Bursche drauf und dran war, Antonio de Araniva zu erschießen. Dreckskerl, dachte der Profos grimmig. Ungeachtet des ständigen Beschusses stemmte er sich hoch, zielte, feuerte — und der Mann auf der Klippe stieß einen schrillen Schrei aus. Im selben Sekundenbruchteil brach der Profos, von zwei Kugeln in die Brust getroffen, hinter dem Schanzkleid zusammen. Der Mann neben ihm fauchte vor Wut, schnellte hoch und feuerte ebenfalls. Der zweite Scharfschütze auf der Klippe hatte die Nase etwas zu weit vorgestreckt. Er schrie nicht einmal. Ein Ruck ging durch seine Gestalt, er verlor seine Waffe und stürzte wie eine Puppe mit schlenkernden Gliedern die Felsen hinunter. David Black krümmte sich zusammen und preßte fluchend eine Hand auf die verletzte Schulter. Das Krachen der Schüsse dröhnte in seinen Ohren. Die fünf restlichen Scharfschützen in den Klippen wurden vorsichtiger und blieben in ihren Deckungen, auch wenn sie auf diese Weise weniger genau zielen konnten. Auf jeden Fall störten sie die
Kelly Kevin
Seewölfe 174 25
Männer auf der Galeone, sorgten für Unruhe — und jetzt wurden auch zwei von den Booten gewendet, so daß die Rudergasten ihre Gegner mit konzentrierten Sperrfeuer belegen konnten. David Black griff nach der Muskete, die ihm entglitten war. Seine Schulter schmerzte, aber er kümmerte sich nicht darum. Mit funkelnden Augen schob er die Waffe wieder über die Felskante, Diesmal lief er nicht Gefahr, getroffen zu werden, da es die Spanier kaum riskieren konnten, ihre Köpfe zu heben. Black suchte den dicken Capitan auf dem Achterkastell - doch schon im nächsten Moment war es etwas anderes, das seine Aufmerksamkeit erregte. Mastspitzen über der Kimm! Genau im Süden! David Black fuhr zusammen, runzelte die Stirn, dann griff er hastig nach dem Spektiv an seinem Gürtel. Jetzt sah er es deutlicher: fünf feine Striche in der endlosen Weite, von denen drei und zwei jeweils enger zusammenstanden. Minuten später ließen sich schon Einzelheiten erkennen. Black sah eine dreimastige Galeone und eine zweimastige Karacke, und er bemerkte auch, daß beide Schiffe mit beachtlicher Geschwindigkeit heransegelten. Spanier? Wohl kaum, dachte Black. Nach allem, was an Gerüchten herumschwirrte, war keins der nach Norden fliehenden spanischen Schiffe mehr in der Lage, sich anders als langsam und mühevoll vorwärts zu schleppen. Also mußte es sich um Engländer handeln, vielleicht auch um Dänen oder Norweger, allenfalls noch Franzosen - und von denen würde sich niemand auch nur einen Deut um das Schicksal einer wracken spanischen Galeone scheren. Das glaubte jedenfalls David Black. Deshalb sah er keinerlei Grund zur Unruhe, als er seine Aufmerksamkeit wieder dem angeschlagenen Gegner zuwandte.
Riffpiraten 6.
Die „Isabella“ und die „Le Vengeur“ segelten unter Vollzeug von Süden heran. Sie hatten die Schüsse gehört. Nur Musketenund Arkebusen-Schüsse, obwohl Bill aus dem Großmars ein aufgelaufenes Schiff mit nur noch einem Mast meldete. Hasard vermutete sehr richtig, daß es sich um einen abgetakelten, völlig verschossenen Spanier handelte, einen der wracken Nachzügler, die bei der Flucht der geschlagenen Armada am schlimmsten dran waren. Dan O'Flynn war mit dem Spektiv ein Stück in die Besanwanten geentert. Jetzt sprang er wieder auf das Achterkastell. Der Wind zauste sein blondes Haar, die hellen Augen kniffen sich zusammen. „Eine spanische Galeone in einer verdammt belämmerten Lage“, berichtete er. „Sie sitzt zwischen zwei Riffen fest, hat nur noch den halben Großmast mit einem Notrigg und wird angegriffen. Mit Beibooten, soviel ich sehen konnte. Da die Kähne noch kein Treibholz sind, dürften die Spanier wohl keine Munition mehr für ihre Drehbassen haben.“ Hasard nickte nur. Gespannt blickte er nach Norden, wo sich das Krachen der Schüsse jetzt zu einem wütenden Geknatter steigerte. Wahrscheinlich versuchten die Mannschaften der angreifenden Boote, die Galeone zu entern, und die Spanier lieferten eine wilde Abwehrschlacht. Eine Schlacht, die sie am Ende verlieren würden. Ihre Munitionsvorräte reichten nicht ewig, und bei den Angreifern musste es sich um Bewohner der Orkney-Inseln handeln, die bestimmt keine NachschubProbleme hatten. Ein paar Minuten später zeigte das Spektiv, daß die spanische Galeone nicht nur von den Booten angegriffen, sondern auch aus ein paar Klippen beschossen wurde, die im Nordosten an ihrer Steuerbord-Seite aus dem Wasser ragten. Das hieß, daß die Spanier noch viel schlechter dran waren, als es zuerst den Anschein gehabt hatte.
Seewölfe 174 26
Kelly Kevin
Nicht nur, daß sie hoffnungslos festsaßen und mangels Munition kein schweres Geschütz einsetzen konnten – die Männer vermochten kaum noch die Köpfe zu heben. Trotzdem erwiderten sie mit Todesmut das Feuer. Alle Vernunft mußte ihnen sagen, daß sie keine Chance hatten, doch sie dachten nicht daran, kampflos die Flagge zu streichen. Sie würden sich auch noch wehren, wenn die Angreifer enterten. Über den Ausgang gab es sicher auch für die Spanier keinen Zweifel. Hasard preßte die Lippen zusammen. Seine blauen Augen funkelten wie .Gletschereis, Wut und Empörung ließen sein Gesicht kantig werden. Ihm war es völlig gleichgültig, daß die Spanier seine Feinde und die schottischen Angreifer seine Landsleute waren. Er sah nur, daß man hier wieder einmal über Schiffbrüchige herfiel, über Menschen, die Hilfe brauchten und stattdessen gnadenlos abgeschlachtet werden sollten. Diesmal war das Opfer sogar noch hilfloser und lieferte nur noch einen Todeskampf. Pausenlos lag die Galeone unter Beschuß, die heranpullenden Boote hatten sie fast erreicht, und Hasard knirschte mit den Zähnen, weil er fürchtete, zu spät einzugreifen, um das Verhängnis noch aufzuhalten. Er sah sich nach der „Le Vengeur“ um, die an Backbord etwas zurückhing. Jean Ribault winkte herüber. Karl von Huttens hellblondes Haar flatterte im Wind, er sprang gerade auf die Kuhl hinunter, um die vordere Drehbasse zu übernehmen. Die Karacke machte gefechtsklar, und damit stand fest, daß Ribault und von Hutten die gleiche Entscheidung getroffen hatten wie der Seewolf. Jetzt mußte sich nur noch zeigen, ob sie schneller waren als die Piraten in ihren Booten. Oder ob die Spanier an Bord der wracken Galeone noch Kraft genug hatten, um den ersten Ansturm des Enterkommandos zurückzuwerfen. *
Riffpiraten
Arne Aasen hatte die beiden Schiffe noch nicht bemerkt, die von Süden heransegelten. Zurufe waren im Krachen der Schüsse nicht zu hören. Da sich Aasen nicht umwandte, konnte ihm David Black auch kein Zeichen geben. Im vordersten Boot war ein Mann mit einer Kugel in der Brust über Bord gegangen, doch jetzt befanden sich die Angreifer fast im toten Winkel. Die Männer auf der Galeone hätten sich schon weit über das Schanzkleid beugen müssen, um noch einen Treffer anzubringen. Dabei riskierten sie, von den Klippen aus abgeschossen zu werden wie die Kaninchen. Sie blieben in Deckung. Aus Angst, wie Arne Aasen meinte. Triumph verzerrte sein wildes, bärtiges Gesicht, als das Boot an der Bordwand der Galeone längsseits ging. Enterhaken flogen und fanden Halt an dem breiten Wulst, der um den Schiffsrumpf herumlief. Arne Aasen war der erste, der aufenterte. Die anderen folgten ihm mit wildem Gebrüll, während sich bereits das zweite Boot an die Bordwand heranschob. Die Spanier kauerten hinter dem Schanzkleid. Auch der Capitan war auf die Kuhl hinuntergesprungen: um den Enterangriff abzuwehren, brauchten sie jeden gesunden Mann, und es gab genug Verwundete, die mit Schußwaffen auf Bugund Achterkastell lauerten. Noch knallten Musketen und Arkebusen von den Klippen herüber. Gleich würden die Kerle das Feuer einstellen müssen, denn sobald ihre Komplicen enterten, konnten sie nicht mehr abdrücken, ohne auch die eigenen Leute zu treffen. Eiskalt warteten die Spanier, bis sich die ersten Angreifer- über das Schanzkleid schwangen. Drei waren es. Arne Aasen, Leif Thorstein und noch einer von den blonden, hünenhaften Wikinger-Nachfahren. Die langen Entermesser hatten sie zwischen den Zähnen, die Pistolen im Gürtel. Doch
Kelly Kevin
Seewölfe 174 27
sie kamen nicht dazu, die Waffen zu benutzen. Die Spanier handelten urplötzlich. Es sah grotesk aus, wie der dicke Antonio de Araniva hochschnellte. Fast erinnerte er an einen hüpfenden Gummiball, aber sein Gegner fand das höchstens eine Viertelsekunde lang komisch. Der Bursche sah nur noch den Degen auf sich zuzucken, brüllte auf und klatschte rückwärts ins Wasser. Neben ihm hatte Arne Aasen bereits einen Fuß über das Schanzkleid geschwungen. Auch er sah nur einen Schatten, und dann hatte er das Gefühl, als explodiere sein Schädel unter dem Hieb mit der Handspake, die ihm einer der Spanier über den Kopf gezogen hatte. Der dritte Mann erreichte zwar die Kuhl, aber er prallte ausgerechnet mit einem der wenigen großgewachsenen, breitgebauten Spanier zusammen. Er hieß Manuel Cattris, und wo er hinhaute, pflegte nichts mehr zu wachsen. Der blonde Wikinger jedenfalls hatte das Gefühl, von einem Maultier getreten zu werden. Der Hieb lüftete ihn an, im Bogen flog er außenbords, und dabei riß er auch gleich noch zwei von seinen Kumpanen mit, die sich gerade über das Schanzkleid schwingen wollten. Unter dem Anprall dreier Körper schlug eins der Boote quer und kenterte. Jetzt schwamm schon fast ein Dutzend Männer im Wasser. Arne Aasen fluchte, spuckte, gurgelte, brüllte Befehle und versuchte, das Boot wieder aufzurichten. Zwischendurch starrte er zur Bordwand hoch, wo weitere Enterhaken Halt gefunden hatten und die zweite Angriffswelle versuchte, die gegnerischen Abwehrreihen zu überrollen. Auf den Klippen schossen David Blacks Leute Störfeuer, aber sie konnten nicht treffen, weil es die Spanier geschickt und verbissen so einrichteten, daß ihnen immer ein Gegner als Kugelfang diente. Meist schnellten sie aus der Hockstellung hoch, sobald sie einen Schatten über sich sahen, rammten den Angreifern die Köpfe in den Leib, und dabei war es ihnen gleichgültig,
Riffpiraten
daß Handspaken, Entermesser und Pistolenläufe auf sie niedersausten. Auch diesmal schafften es die Männer der „San Esteban“, jeden außenbords zu befördern, bevor er auch nur das Schanzkleid überwunden hatte. Arne Aasen tobte und schäumte vor Wut. „Feuerschutz!“ brüllte er dem nächsten Bootsführer zu. „Erik, Olaf - pullt um den Kasten herum und nehmt ihn von Backbord in die Zange! Entern, ihr lahmen Hammel! Entern, sage ich, oder wollt ihr euch wirklich von den verdammten Spaniern ...“ Der Rest seiner Worte ging im dumpfen Gurgeln unter. Einer seiner Leute hatte sich leichtsinnigerweise an einem Tau hochgehangelt, das Antonio de Araniva mit dem Degen erreichen und kappen konnte. Der Bursche, der dranhing, war Arne Aasen sozusagen auf dem Kopf gefallen und drückte ihn unter Wasser. Dem Capitan zog eine Kugel von David Black fast einen Scheitel, aber davon 'ließ sich De Araniva nicht groß erschüttern. Der kurze Blick hatte ihm gezeigt, daß auch die zweite Angriffswelle der Schotten abgeschlagen war. Jetzt wurde es kritisch. Die Kerle waren in der Überzahl. Wenn es ihnen tatsächlich gelang, über Steuerbord und Backbord gleichzeitig zu entern, konnten sie die Kuhl glatt überrennen. Nur zwei, drei Kugeln von (den Drehbassen, und von den Booten würde nur Treibholz übrigbleiben, dachte De Araniva bitter. Aber diese zwei, drei Kugeln hatten sie nicht, und deshalb konnten sie die Pläne ihrer Gegner höchstens für kurze Zeit vereiteln. „Musketenfeuer auf Boote vorn und achtern“, befahl der Capitan. „Auf die Heckenschützen in den Klippen achten! Versucht, die Kähne zu durchlöchern! Leute, die nasse Füße kriegen, sind nur noch halb so angriffslustig.“ Gelächter antwortete ihm. Sardonisches Gelächter, denn die paar Verwundeten, die mit Musketen und Arkebusen auf den Kastellen kauerten, konnten nicht viel ausrichten. Das Boot, das am Heck der „San Esteban“
Seewölfe 174 28
Kelly Kevin
vorbeischeren wollte, geriet in einen Bleihagel - doch es dauerte nicht lange, bis sich die Kerle in den Klippen auf die verletzten, kaum bewegungsfähigen Männer eingeschossen hatten. Der verwundete Lotse sank tödlich getroffen zusammen, die anderen mußten in Deckung gehen. Zwei der Boote hielten etwas von der Galeone ab und belegten das SteuerbordSchanzkleid mit Sperrfeuer. Unterdessen fand Arne Aasen Zeit, wieder etwas Ordnung in seinen wirren Haufen zu bringen. Diesmal wollte er in drei Keilen gestaffelt entern lassen, wobei es die Aufgabe der „Keilspitzen“ war, die Spanier aus ihren Deckungen zu locken. Die Methode hätte auch dem schlauen David Black gefallen, doch bevor das geschah, ertönte ein schriller Alarmschrei. Genau in diesem Augenblick nämlich waren die „Isabella“ und die „Le Vengeur“ herangesegelt und gingen daran, in das Kampfgeschehen einzugreifen. * Für ein paar Sekunden senkte sich jene eigentümliche Stille nieder, wie sie im Zentrum, im „Auge“ eines Wirbelsturms herrscht. Arne Aasen und seine rauhen Kerle starrten den beiden Schiffen entgegen. Engländer. Eine ranke Galeone mit; ungewöhnlich flachen Aufbauten und überlangen Masten, eine schnelle, wendige Zweimast-Karakke. Auf die Idee, daß diese Engländer den Spaniern helfen würden, wären die schottischen Fischer nicht einmal im Traum verfallen. Aber sie sahen offene Stückpforten und ausgerannte Kanonen, also hatten die Fremden. wohl vor, sich die sturmreif geschossene BeuteGaleone selbst unter den Nagel zu reißen. Arne Aasen, der naß wie eine Katze in dem wieder aufgerichteten Boot kauerte, platzte fast vor Wut. Hasard grinste trotz seines kalten Zorns auf die Halunken dort, da er dem bärtigen Wikinger-Typ seine Gefühle vom Gesicht ablesen konnte. Der blonde Hüne wußte,
Riffpiraten
daß er keine Chance hatte. Und das, nachdem seine Leute schon zweimal von den Spaniern mit Bravour zurückgeschlagen worden waren. „Al!“ rief der Seewolf scharf. „Sir?“ „Kleinholz, bitte! Eine Kugel auf das leere Boot.“ „Aye, aye, Sir!“ Al Conroy, dem Stückmeister, sagte man nach, daß er einer Fliege das Auge herausschießen könne. Das leere, treibende Boot hatte er schon vorher angepeilt, jetzt drückte er die Lunte in die Zündpfanne. Donnernd entlud sich die schwere Bugdrehbasse - und .dann gab es tatsächlich Kleinholz. Das Boot löste sich in Einzelteile auf, die nach allen Seiten auseinanderspritzten und auf die Köpfe von schwimmenden Männern herunterhagelten. Gleichzeitig spritzte Wasser: auf der „Le Vengeur“ hatte Karl von Hutten eine Kugel zwischen zwei von den Kähnen gesetzt. Die Luft dröhnte vom Krachen der Schüsse. Männer schrien erschrocken auf. Verletzt wurde niemand, aber die psychologische Wirkung war so, wie sie sein sollte. „Ed!“ sagte Hasard fast sanft. „Erkläre den begriffsstutzigen Herrschaften, wo es langgeht. Aber ein bißchen höflich, bitte!“ Womit er dem Profos der „Isabella“ eine ausgesprochen schwierige Aufgabe gestellt hatte. Ed Carberry holte tief Luft. „He, ihr da!“ brüllte er. Was wirklich sehr höflich war, da man es schließlich eindeutig mit Rübenschweinen zu tun hatte. „Verschwindet von hier! Und zwar ein bißchen plötzlich, sonst verarbeiten wir eure lächerlichen Kähne zu Kleinholz. Vielleicht fehlt dem einen oder anderen von euch hinterher auch noch ein Satz Ohren, verstanden?“ Sie hatten verstanden. Obwohl Ed Carberry nicht einmal damit drohte, die Haut in Streifen von gewissen edlen Körperteilen abzuziehen, und sich auch sonst zivilisierter ausgedrückt hatte, als es diese Affenärsche, Rübenschweine
Seewölfe 174 29
Kelly Kevin
und Nachkommen verlauster Hurenböcke verdienten. Etwas unzufrieden sah der Profos zu, wie die Männer, die noch im Wasser schwammen, eiligst auf die nächstbesten Boote zupaddelten. Arne Aasen war sprachlos. Sein eben noch vor Wut tomatenrotes Gesicht hatte die Farbe von schmutziger Milch angenommen. Wild sah er sich um, suchte nach irgendeiner Waffe, da die einzige Antwort auf diese Unverschämtheit ein Schuß war, doch außer der nassen und daher nutzlosen Pistole in seinem Gürtel hatte er nichts in greifbarer Nähe. „Setz ihm noch eine Kugel vor den Bug, Al!“ befahl der Seewolf gelassen. „Aye, aye, Sir“, tönte es zurück, und der Stückmeister bewies einmal mehr seine Fähigkeit, eine Kugel haargenau dorthin zu setzen, wo er sie hinhaben wollte. Arne Aasens Boot wurde etwas angelüftet und begann wild zu schaukeln. Eine Wasserfontäne spritzte auf und ließ den bärtigen Wikinger noch ein bißchen nasser werden. Er sah endgültig ein, daß er hier nichts mehr zu bestellen hatte. Mit vor Wut schriller Stimme befahl er Rückzug, doch das wäre gar nicht mehr nötig gewesen, da der allgemeine Rückzug bereits begonnen hatte. Der ganze Pulk ergriff die Flucht in Richtung Copinshay. Die Männer pullten wie besessen. David Black und seine Gruppe konnten von Glück sagen, daß man ihnen überhaupt noch Gelegenheit gab, von den Klippen wieder in die Boote überzuwechseln. 7. Aus, dachte Antonio de Araniva. Endgültig aus. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß er und seine Männer lediglich vom Regen in die Traufe geraten waren. Diese beiden scharfen Segler, die da von achtern in einem wahren Höllentempo herangerauscht waren, kannte er noch bestens von den Gefechten im Kanal her. Draufgänger waren es, noch dazu erstklassige Seeleute -
Riffpiraten
und wenn Männer von diesem Kaliber die „San Esteban“ enterten, dann blieb für De Aranivas zusammengeschrumpften Haufen keine Chance mehr. Der Capitan grub die Zähne in die Unterlippe. Sein Blick glitt zum Achterkastell der dreimastigen Galeone. Neben ihm starrte der erste Offizier in die gleiche Richtung und zuckte heftig zusammen. „Capitan!“ „ zischte er. „Das ist doch ...“ ,,Ja, das ist er“, sagte De Araniva resignierend. Mehr Worte waren nicht nötig. Denn an den schwarzhaarigen Riesen mit den eisblauen Augen, der offenbar die „Isabella“ kommandierte, konnten. sich die beiden Männer ebenfalls nur zu gut erinnern. Er war es gewesen, der sich im Kanal zusammen mit einem anderen wilden Kerl als angeblicher irischer Schiffbrüchiger von der „San Salvador“ hatte retten lassen. Später flog die „San Salvador“ dann in die Luft, aber es hätte sich schnell herumgesprochen, daß die beiden „Iren“ kurz vorher verschwunden waren. Die „San Esteban“ war ganz in der Nähe gewesen. De Araniva hatte schon damals gewußt, daß es sich bei diesen „Iren“, die sich da kaltblütig und tollkühn in die Höhle des Löwen gewagt hatten, um Teufelskerle von ganz besonderem Kaliber handeln mußte. Genau die Art von Teufelskerlen, die er, De Araniva, nach den Ereignissen im Kanal auf der „Isabella“ und der „Le Vengeur“ vermutete. Und jetzt würden diese Teufelskerle über die abgetakelte, leergeschossene „San Esteban“ herfallen und mit den erschöpften Spaniern nur so Ball spielen. Der Capitan wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sollte er endlich die Flagge streichen? Bei den Kerlen, die sie in die Riff-Falle gelockt hatten, war nicht zu erwarten gewesen,. daß sie sich damit aufhielten, Gefangene zu machen. Die Engländer dort drüben würden vielleicht anders handeln. De Araniva hatte einen Verzweiflungskampf geführt, weil ihm Mets anderes übrigblieb, aber er wollte
Kelly Kevin
Seewölfe 174 30
seine Männer nicht sinnlos in den sicheren Tod schicken, wenn sie vielleicht noch eine Chance hatten. Er überlegte noch, als er von der Galeone und der Karacke das Ausrauschen der Ankertrosse hörte. Wollten sie doch nicht entern? Oder glaubten sie, es gar nicht mehr nötig zu haben, da den Opfern ja doch keine Wahl blieb, als sich zu ergeben? De Araniva preßte die Lippen zusammen. Stumm starrte er in die eisblauen Augen dort drüben, wartete auf die Aufforderung, die „San Esteban“ zu übergeben — und im nächsten Moment glaubte er zu träumen. Keine Aufforderung, die Flagge zu streichen! Kein Ultimatum, keine Drohung — nichts! Ob er helfen könne, fragte dieser schwarzhaarige Teufel höflich und in akzentfreiem Spanisch herüber. Sekundenlang hielt De Araniva das für bösartige Ironie. Selbst als ihm klar wurde, daß kein höhnischer Blick und kein hämisches Grinsen die Worte Lügen strafte, begriff er sie noch nicht ganz. „H-helfen?“ stammelte er, obwohl er normalerweise durch nichts so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen war. Der schwarzhaarige Riese mit den eisblauen Augen lächelte. „Soviel ich weiß, ist es unter Seefahrern üblich, Schiffbrüchigen beizustehen“, sagte er ruhig. „Ich nehme an, Sie brauchen vor allem Proviant und Wasser. Ich lasse Ihnen das Nötigste sofort hinüberschicken.“ Ein knapper Wink brachte ein paar Männer auf der Kuhl in Bewegung. Mit ungläubigen Augen beobachteten die Spanier, wie auf der „Isabella“ Wasserfässer und Proviantsäcke in ein Beiboot gemannt wurden. Capitan de Araniva schluckte und umklammerte die Schmuckbalustrade mit den Händen. Seine Männer sahen sich an, bissen die Zähne zusammen und kämpften gegen die Erschütterung an, die sie zu überwältigen drohte. Sie hatten den Tod vor Augen gehabt. Sie waren erschöpft, abgekämpft, von Not und Entbehrungen gezeichnet, sie hatten sich bereits damit
Riffpiraten
abgefunden, unwiderruflich am Ende zu sein — und jetzt sah es so aus, als würde ihnen das Schicksal noch einmal eine Chance geben. Es war wie ein Wunder. Ein Wunder, das sie nicht fassen, an das sie nicht wirklich glauben konnten. Stumm standen sie da, sahen zu, wie sich der schwarzhaarige Kapitän der „Isabella“ in das Beiboot schwang — und immer noch vermochten sie kein Wort herauszubringen. Die schottischen Fischer, mit denen sie sich eben noch verzweifelt herumgeschlagen hatten, waren für den Moment völlig vergessen. * Arne Aasen dagegen dachte nicht daran, die schon sicher geglaubte Beute zu vergessen. Zum zweitenmal war er bei dem Versuch, dieses läppische spanische Wrack zu entern, vierkant im Wasser gelandet. Der neue Angriff hatte zwei Tote und vier Verletzte gekostet. Ein Boot war Treibholz, ein zweites von den Musketenkugeln der Spanier so durchlöchert, daß man es getrost abschreiben konnte. Trotzdem hätten sie es geschafft —und dann, kurz vor dem Erfolg, waren diese beiden schnellen, gut bestückten Segler erschienen, hatten nur so zur Warnung ein bißchen die Fetzen fliegen lassen und sie schlicht und einfach aufgefordert, zu verschwinden. Daß sich jetzt andere die Beute unter den Nagel reißen würden, konnte Arne Aasen, nach dem er selbst die Falle gestellt und schon soviel riskiert hatte, einfach nicht verwinden. Er befand sich in einem wahren Delirium der Wut, als sie Copinshay erreicht hatten. Die Männer vermieden es, ihn anzusprechen oder ins Blickfeld seiner wild rollenden Augen zu geraten. David Black war der einzige, der sich auch vor Aasens berüchtigten Jähzornsanfällen nicht fürchtete, aber der schwarzhaarige
Kelly Kevin
Seewölfe 174 31
Unterführer hatte im Augenblick noch genug mit seiner verletzten Schulter zu tun. Schweigend und eilig verteilten sich die Leute auf ihre Pinassen, schleppten die Verwundeten an Bord und hievten die Beiboote hoch. Allerdings zeigte niemand Anstalten, ankerauf zu gehen und nach Widewall zurückzusegeln. Nach der ersten fehlgeschlagenen Aktion hatte zumindest bei einigen die Angriffslust doch sehr gelitten. Jetzt sah man nur noch grimmige, entschlossene Gesichter. Zwei Männer lebten nicht mehr, und der Abgang war geradezu schmählich gewesen. Zwar verspürte niemand Lust, in der nächsten halben Stunde durch irgendeinen Zufall zum Blitzableiter für Arne Aasens Zorn zu werden, was für den Betreffenden auch höchst gefährlich gewesen wäre, aber die Köpfe einziehen und sich sang- und klanglos verdrücken, das wollten sie auch nicht. . Auf dem Ankergrund im Schutz der Landzunge warteten sie, bis Arne Aasen die erste Wut verdaut hatte, nach seinem Unterführer schickte und die wichtigsten Leute, nämlich die Anführer der jeweiligen Sippen, zusammenrief. David Black hatte sich die Fleischwunde an der Schulter verbinden lassen und sah nach einem kräftigen Schluck schottischen Whisky schon wieder ganz munter aus. Munter und erbittert! So sehr er sich sonst auf seinen gesunden Verstand verließ, der ihm in diesem Fall hätte sagen müssen, daß sie besser die Finger von der Sache lassen sollten, allmählich neigte auch er dazu, die Niederlage persönlich zu nehmen. Fast vierzig Mann waren sie gewesen. Rauhe Kerle, die ihr Seehandwerk verstanden, ausreichend bewaffnet, eindeutig im taktischen Vorteil. Nicht nur, daß sie es nicht geschafft hatten, die wracke Galeone zu entern, sie waren von den beiden fremden Schiffen davongejagt worden wie eine Bande vorwitziger Gassenjungen. Das war selbst dem nüchternen David Black zuviel. Das schrie nach Vergeltung, und diesmal konnte der schwarzhaarige Unterführer Arne Aasens Wut durchaus verstehen.
Riffpiraten
„Die Dreckskerle kochen auch nur mit Wasser“, knurrte Black verbissen. „Wir müssen sie festnageln. Und dann mit allem angreifen, was wir haben, mit jedem verdammten Mann, der auf South Ronaldshay fähig ist, eine Waffe zu halten.“ „Richtig.“ Arne Aasen nickte. Das war ein Vorschlag ganz nach seinem Herzen. Und er brauchte ihn nicht einmal weiter auszubauen: David Black hatte jetzt tatsächlich Feuer gefangen und ging mit funkelnden Augen in Einzelheiten. „Wenn wir die Verwundeten nach Widewall bringen, kriegen wir garantiert genug Männer auf die Beine, daß diese Kerle auf der Galeone und der Karacke glauben, die ganzen Orkney-Inseln hätten Krieg mit ihnen angefangen. Außerdem können wir wenigstens ein paar Pinassen und Schaluppen mit den Vierpfündern ausrüsten, die wir damals von dem Wrack der Karavelle abmontiert haben. Irgendwie schaffen wir es schon, die Biester zum Schießen zu bringen. Und dann werden wir durch unsere pure Überzahl gewinnen, das steht so fest wie die verdammten Riffe, auf die die Spanier gebrummt sind.“ „Stimmt“, knurrte Aasen. „Und die Beute wird sogar noch fetter sein, als wir gehofft haben - viel fetter.“ „Aber ...“ begann Leif Thorstein. Ihm war der Gedanke etwas unheimlich, zwei englische Schiffe zu kapern, die offensichtlich im Kampf mit den Spaniern standen. Aber Arne Aasen fiel ihm ins Wort und fegte alle Bedenken mit einer herrischen Handbewegung vom Tisch. „Sie haben uns angegriffen, also müssen sie sich die Folgen selbst zuschreiben“, erklärte er. „Wir segeln nach Widewall zurück und bereiten uns auf den entscheidenden Schlag vor. Dave, du bleibst mit deinen Leuten hier und beobachtest. Ein paar von uns legen sich im Norden auf die Lauer, um notfalls einzugreifen, wenn die Bastarde abhauen wollen, klar?“ „Klar“, erwiderte Leif Thorstein. „Klar“, sagte David Black gelassen.
Seewölfe 174 32
Kelly Kevin
Die anderen schlossen sich an, und Arne Aasens triumphierendes Grinsen verriet, daß er sein inneres Gleichgewicht einigermaßen wiedergefunden hatte. * Hasard lächelte, als er an der Jakobsleiter der „San Esteban“ aufenterte und sich unter den fassungslosen Blicken der Männer über das Schanzkleid schwang. Der Capitan empfing ihn auf der Kuhl: ein schwergewichtiger Mann, dessen rundes; gutmütig wirkendes Gesicht seine Härte und Tatkraft doch nicht völlig verbergen konnte. Jetzt allerdings war er genauso fassungslos wie seine Leute. Er sah auch genauso abgerissen, blutverschmiert und ausgehungert aus wie sie, was bewies, daß er sich bei den hinter ihnen liegenden Kämpfen durchaus nicht darauf beschränkt hatte, zuzuschauen und die Befehle zu geben. Auch in den Kanalgefechten hatte sich die „San Esteban“ gut geschlagen, daran erinnerte sich Hasard genau. Er verbeugte sich leicht, meldete sich in formvollendetem Spanisch an Bord und nannte seinen Namen. Eine Name, der die Männer ringsum aufhorchen ließ. Der Capitan schluckte und kniff die Augen zusammen. „Killigrew?'„ wiederholte er langsam. „Philip Hasard Killigrew - der Seewolf?“ „So nennt man mich“, sagte Hasard trocken. Und fast erstaunt bemerkte er, wie tief und erleichtert der dicke Capitan aufatmete. „Mein Name ist Antonio de Araniva“, sagte er. „Und ich danke dem Schicksal, daß Sie und Ihre Männer hierhergeführt hat, Senor Killigrew. So sehr man Sie in Spanien hassen mag - eins hat sich auch in meiner Heimat herumgesprochen: daß der Seewolf kein Schnapphahn, sondern ein Mann von Ehre sei.“ „Auf jeden Fall sind wir keine Aasgeier, die über Schiffbrüchige herfallen“, sagte Hasard ernst. „Die Armada ist .geschlagen. Auch England führt keinen Krieg gegen
Riffpiraten
Schiffbrüchige. Aber Halunken und Halsabschneider gibt es in jedem Land.“ „Ich weiß, Senor Killigrew. Und ich stelle mir lieber nicht die Frage, wie meine Landsleute mit Ihnen verfahren wären, wenn sie Sie in einer Situation wie der meinen angetroffen hätten. Wir sind auf ein Lockfeuer hereingefallen und zwischen die Riffe gelaufen.“ In knappen Worten berichtete der Capitan, was geschehen war. Hasard konnte nicht umhin, den Mut und die Entschlossenheit der Männer zu bewundern, die immer noch völlig fassungslos und benommen verharrten. Inzwischen waren auch Ferris Tucker und Big Old Shane aufgeentert: zwei wüste Riesen, rotköpfig der eine, der andere mit eisgrauem Haar und einem wilden Bartgestrüpp, beide auf den ersten Blick reichlich furchterregend. Aber ihre Mienen wirkten durchaus nicht unfreundlich, sie lächelten sogar ermunternd. Rasch gingen sie daran, Wasserfässer und Proviantsäcke hochzuhieven, was bei ihren mächtigen Muskelpaketen das reine Kinderspiel war, und dann enterten noch ein paar Männer auf die Kuhl der wracken Galeone. Der blonde Schwede Stenmark. Matt Davies, der an seiner Hakenprotheke eine große Korbflasche mit Wein trug. Und als letzter ein hagerer schwarzhaariger Bursche, den die Spanier sofort als ihren Landsmann erkannten. Er war der einzige Überlebende einer gesunkenen Karavelle aus dem Geschwader des Don Antonio Hurtado de Mendoza. Die Seewölfe hatten ihn halbtot aus dem Wasser gefischt, ihn nicht nur ins Leben zurückgeholt und versorgt, sondern ihm sogar versprochen, in Sicherheit zu bringen. Das alles sprudelte er in Sekundenschnelle hervor, und damit war der Bann vollends gebrochen. Die Männer der „San Esteban“ begriffen endgültig, daß sie gerettet waren. , Nicht wenige unter ihnen bekreuzigten sich verstohlen, um auf diese Weise dem gnädigen Geschick zu danken.
Seewölfe 174 33
Kelly Kevin 8.
Eine halbe Stunde später hatte sich das Bild auf der abgetakelten „San Esteban“ grundlegend geändert. Abgetakelt war sie zwar immer noch, aber während vorher nur der Mut der Verzweiflung die Männer aufrecht gehalten hatte, herrschte jetzt eine Atmosphäre von wiedererwachender Hoffnung und spürbarer, zielbewußter Tatkraft. Ein weiteres Boot war von der „Isabella“ herübergepullt worden. Auch von der „Le Vengeur“ erschien eine Gruppe von Männern unter Führung von Jean Ribault. Karl von Hutten allerdings war an Bord geblieben. Auch er teilte die Meinung der anderen, daß Schiffbrüchige, gleich welcher Nationalität, ein Recht auf Hilfe hatten. Aber seine Mutter war eine indianische Häuptlingstochter aus der Neuen Welt gewesen, eine Araukanerin, unter deren Volk die Spanier unvorstellbare Greueltaten angerichtet hatten. Karl von Hutten haßte Spanien wie die Pest. Wenn sein Haß auch nicht einzelnen Spaniern galt, vor allem nicht den abgekämpften, ausgehungerten, blessierten Gestalten dort drüben —er brachte es dennoch nicht über sich, die „San Esteban“ zu betreten. Auf der Kuhl der wracken Galeone war zunächst einmal Trinkwasser verteilt worden. Der Kutscher nahm sich der Verwundeten an — und das waren nicht wenige. Hasard mußte lächeln, als er seinen Koch und Feldscher in voller Aktion und ganz in seinem Element sah: brummelnd und kopfschüttelnd, was den Zustand der Verbände und blutdurchtränkten Lappen betraf, alle Augenblicke nach Tüchern, Salzwasser und Rum zur Desinfektion und bestimmten Salbentöpfen aus seinen Vorräten verlangend, ganz Herr der Lage. Aber er war ja nicht umsonst Kutscher bei Doc Freemont in Plymouth gewesen, bevor er der Preßgang von Francis Drakes „Marygold“ in die Hände fiel. Er hatte seinem früheren Brotherrn eine Menge abgeschaut, er verstand sich auf das
Riffpiraten
Feldscherhandwerk, und die Verwundeten schienen das genau zu spüren. Nur Eric Winlow, der glatzköpfige Koch der „Le Vengeur“, protestierte lautstark, als ihn der Kutscher anwies, gefälligst schon mal das Kombüsenfeuer anzufachen. Das ging denn doch zu weit, fand Winlow. Dieser sogenannte Kutscher bildete sich seiner Meinung nach sowieso zuviel ein und hätte besser daran getan, bei seinen Karrengäulen zu bleiben. Winlow schnaufte empört. Er setzte sich erst in Bewegung, als ihn Jean Ribault in seiner unnachahmlich höflichen, gefährlich sanften Art fragte, ob er, bitte sehr, sein Pökelfleisch demnächst im Kleinhirn kauen wolle — wohin ihm nämlich im Falle weiterer Querelen die Zähne geschlagen würden. Eric Winlow bevorzugte seine Zähne dort, wo sie waren. Widerwillig, aber tatkräftig ging er daran, ein mächtiges Feuer im Kombüsenherd zu entfachen. Diesem blöden Kutscher würde er es schon zeigen! Aber dann zeigte der Kutscher es ihm — nach einer halben Stunde mußte der Glatzkopf im stillen anerkennen, daß er selbst die handfeste warme Mahlzeit, die sein Zunftkollege auf die Backs der Spanier zauberte, weder so schnell noch so kräftig und schmackhaft hingekriegt hätte. Die ausgehungerten Männer hatten immer noch das Gefühl, ein Wunder zu erleben. Für eine Weile galt ihr ganzes Interesse dem Essen — dem ersten guten Essen seit langem. Der Capitan hatte Hasard und Jean Ribault in seine Kammer eingeladen, wo sie die Mahlzeit gemeinsam einnahmen. Und Antonio de Araniva genoß es. Er hatte sich rasiert und seine zerfetzte Uniform halbwegs in Ordnung gebracht, jetzt vergaß er für kurze Zeit seine Sorgen. Er war ein Mann, der kämpfen konnte, aber auch die angenehmen Seiten des Lebens zu schätzen wußte. Angenehme Seiten, die er im Geiste schon für immer abgeschrieben hatte und denen er sich jetzt eine Weile mit sichtlichem Vergnügen widmete.
Kelly Kevin
Seewölfe 174 34
Später verließen sie die Kammer und stiegen auf das Achterkastell hinauf. Auch die meisten anderen Männer hatten sich wieder auf der Kuhl versammelt. Sie beobachteten Ferris Tucker, diesen wüsten rothaarigen Riesen, der überall herumturnte und die Gefechtsschäden besichtigte. Schäden, deren Behebung nach Meinung der Spanier sogar in einer Werft mit Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre, aber da kannten sie eben den Schiffszimmermann der „Isabella“ schlecht. Schließlich kletterte Ferris Tucker sogar in die Riffe hinunter, die die Ebbe inzwischen wieder freigelegt hatte. Den Lecks, die die Spanier zu ständigem Pumpen gezwungen hatten, widmete der rothaarige Riese nur ein paar fachmännische Blicke. Die Riffe untersuchte er genau. Sehr genau sogar. Die Spanier sahen seinen Bemühungen ziemlich verständnislos zu. Die Seewölfe und die Crew der „Le Vengeur“ jedoch ahnten bereits, was folgen würde, denn sie wußten, daß Ferris Tucker nicht nur als Zimmermann allererste Klasse war, sondern auch bestens mit Sprengstoff umgehen konnte. Als der rothaarige Riese wieder an Bord enterte, wirkte er einigermaßen zufrieden. „Kleinigkeit“, brummelte er mit einem Blick zum Achterkastell hinauf. „Man braucht nur das Riff an der Steuerbordseite in die Luft zu sprengen, dann ist der Kahn wieder flott.“ „Waaas?“ Capitan de Araniva war völlig perplex. Hasard lächelte. „Wenn mein Schiffszimmermann das sagt, dann stimmt es auch. Sie können sich darauf verlassen, daß er Ihnen kein Loch in die Bordwand sprengen wird.“ „Man muß die Ladung natürlich so verdämmen, daß die Klamotten nach Steuerbord davonfliegen.“ Ferris sprach zu niemandem im besonderen, doch seine Stimme klang ein bißchen verständnislos ob der Tatsache, daß jemand solche Selbstverständlichkeiten nicht von selbst begriff. „Zuerst pusten wir die beiden
Riffpiraten
kleinen Felszacken unmittelbar an der Bordwand weg, damit Platz ist. Dann legen wir eine kleine Ladung in einen Felsspalt und knacken die Formation auf. Und dann verdämmen wir, damit der große Knall das Riff davonfliegen läßt.“ Er nickte zufrieden und fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das dichte rote Haar. „Vorher müssen wir natürlich die Lecks abdichten“, ergänzte er. „Aber das geht schon in Ordnung.“ Schweigen. Capitan de Aravina machte große Augen. Seine Männer waren sprachlos. Der Schiffszimmermann warf einen Blick in die Runde, als fragte er sich, wann man denn nun endlich damit anfangen wolle, die paar Kleinigkeiten zu erledigen. Man fing sofort an. Ferris Tucker übernahm das Kommando, was hieß, daß es mit der Gemütlichkeit vorbei war. Von der „Le Vengeur“ forderte er Tom Coogan an, der dort ebenfalls Zimmermannsarbeiten erledigte. Zur „Isabella“ brüllte er mit Donnerstimme hinüber, Batuti und Blacky möchten gefälligst mal voll in die „Ersatzkiste“ greifen. Und dann rasselte er eine lange Liste von Ersatzmasten, Rahen, Spieren und Werkzeug herunter, bei der den Spaniern Hören und Sehen verging. Nun ja: sie konnten ja auch nicht wissen, daß die Seewölfe bei ihrer fünf Jahre dauernden Weltumseglung gelernt hatten, wie wichtig es war, immer über ausreichende Bordmittel zum Beheben von Schäden zu verfügen. Blacky und Batuti mannten alles, was Tucker brauchte, in ein zweites Beiboot. Mit ihnen pullte Will Thorne herüber, der weißhaarige Segelmacher der „Isabella“, der ein besonderes Talent dazu hatte, zusammen mit dem Schiffszimmermann an technischen Problemen herumzutüfteln. Für die Spanier war der Anblick Batutis eine neue Überraschung. Schwarze kannten sie nur als Sklaven, als menschliche Ware. Daß der hünenhafte Gambia-Neger ein vollwertiges Mitglied der „Isabella“-Crew war und ganz offensichtlich Respekt und Zuneigung aller
Kelly Kevin
Seewölfe 174 35
genoß -diese Tatsache mußten sie erst einmal verdauen. Sie gewöhnten sich schnell daran. Bisher hatten sie noch mehr oder weniger geglaubt, daß der rothaarige Riese übertrieb, daß er den Mund zu voll nahm, da er schließlich auch nicht zaubern konnte. Jetzt sahen sie, daß sie - sich irrten. Dieser Schiffszimmermann entpuppte sich in ihren Augen tatsächlich als eine Art Zauberer. In Nullkommanichts hatte er Ordnung geschaffen, was erst einmal die Voraussetzung für erfolgreiche Arbeit war, und dann legten die Helfer los, als gelte es, eine neue Galeone zu bauen. Die Spanier begriffen, daß sie mit der Hilfe dieses unglaublichen Kerls tatsächlich eine Chance hatten, ihr Schiff flottzukriegen. Sie hatten wieder Hoffnung. Und deshalb spuckten sie in die Hände, krempelten die Ärmel auf und Wurden ebenfalls aktiv. So aktiv, wie es nicht einmal der Capitan, der seine Leute kannte, den Männern in ihrem augenblicklichen Zustand, zugetraut hätte. Nach zwei Stunden hatte die „San Esteban“ wieder einen Bugspriet mit einer Blindenrah. Will Thorne hantierte mit Segeltuch und Lieknadel, wies seine Helfer an und stöhnte lauthals darüber, daß die im Grunde nicht mal bei der Herstellung von Bettsäcken zu gebrauchen wären. Die Spanier staunten nur noch, als sie in unglaublich kurzer Zeit die neue Blinde anschlagen konnten. Sie staunten noch mehr, da Ferris Tucker inzwischen schon Vorbereitungen traf, einen kompletten neuen Besanmast zu riggen. „Unglaublich“, murmelte Antonio de Araniva immer wieder. „Wirklich unglaublich ...“ Hasard grinste sich eins. Es war tatsächlich ein Vergnügen, zuzusehen, wie das alles lief. Selbst der Himmel schien es plötzlich gut mit ihnen zu meinen die Wolkendecke riß auf, und die Sonne strahlte. Angetrieben von Ferris Tuckers herzerfrischenden Flüchen arbeiteten die Männer wie besessen, aber
Riffpiraten
ihren Gesichtern war anzusehen, daß ihnen die Arbeit Spaß bereitete. Gegen Abend meldete Dan O'Flynn von der „Isabella“, daß er an der Südspitze von Copinshay Bewegung gesichtet habe. Beobachter! Riff-Piraten, die zurückgeblieben waren und die Schiffe belauerten. Hasard runzelte die Stirn und überlegte. Deutlich erinnerte er sich an die wilde, verbissene Wut. mit der die Insel-Schotten die festsitzende Galeone angegriffen hatten. Ein Angriff, der schon beinahe wie ein Rachefeldzug wirkte, obwohl Capitan de Araniva sich nicht vorstellen konnte, wofür die Schotten sich rächen wollten. Allein um die Beute konnte es ihnen aber eigentlich auch nicht gegangen sein, dazu hatte die abgetakelte „San Esteban“ einfach nicht genug versprochen. Vielleicht ging es ganz allgemein gegen die Spanier. Der ruinöse Zustand der flüchtenden Armada ließ es durchaus denkbar erscheinen, daß ein paar von den Schiffen Fischerboote oder Küstendörfer überfallen hatten. Hasards Vermutungen in dieser Richtung gelangten der Wahrheit ziemlich nahe. Er einigte sich mit Jean Ribault darauf, für diese Nacht zumindest die Wachen zu verstärken. Unnötigerweise, wie sich herausstellte. Bis zum nächsten Morgen war nichts geschehen. Unter Ferris Tuckers Anleitung wurden die Männer mit dem neuen Besanmast fertig und gingen daran, auch den Großmast mittels angesetzter Spieren wieder halbwegs aufzuriggen. Wenn das getan war, würde die „San Esteban“ manövrieren und später Höhe laufen können, falls der Südwind anhielt. und sie zwang, auf ihrem Kurs an Irland vorbei am Wind zu segeln. Die Spanier hatten sich nach einer Nacht Schlaf wieder einigermaßen erholt. Selbst den meisten Verwundeten ging es unter der Behandlung des Kutschers besser. Die Stimmung an Bord wurde von Erleichterung und erwachendem Optimismus geprägt. Nur das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, wirkte irritierend.
Seewölfe 174 36
Kelly Kevin
An der Südspitze von Copinshay hatte sich eine Gruppe der Insel-Schotten eingenistet, soviel stand fest. Wie viele es waren und was sie vorhatten, ließ sich nicht genau sagen. Aber daß sie etwas planten, stand nach Meinung der Seewölfe außer Frage, auch wenn sich weder auf der „Isabella“ noch auf der „Le Vengeur“ jemand graue Haare darüber wachsen ließ. Dan O'Flynn, der Mann mit den schärfsten Augen, nahm wieder einmal den Platz im Großmars ein und beobachtete die Umgebung. Gegen Nachmittag meldete er Bewegung auf einer der Einzelklippen, die den Schotten schon einmal als Angriffsbasis gedient hatten. Ein, zwei Leute, schätzte Dan, bestimmt nicht mehr. Aber auch ein, zwei Mann, die sich mit einem kleinen Boot herangepirscht hatten, konnten mit ihren Musketen eine Menge Unheil anrichten. Zwar sah es so aus, als wollten sie lediglich beobachten, doch Hasard dachte nicht daran, ein Risiko einzugehen. Ed Carberry schlug vor, den „Rübenschweinen“ gehörig Feuer unter den Affenarsch zu machen. Der Seewolf stimmte insoweit zu, als er erst einmal ein Patrouillen-Unternehmen anordnete. Ben Brighton übernahm die Leitung und suchte sich den Profos, Dan O'Flynn, Bill, Batuti und Gary Andrews als Begleiter aus. Ein paar Minuten später löste sich das Beiboot von der Bordwand. Der spanische Capitan zeigte ein etwas bedenkliches Gesicht. Aber Hasard wußte, daß die sechs Männer in dem Boot gut ein Dutzend erfahrener Kämpfer aufwogen und sich bestimmt von niemandem aufs Kreuz legen lassen würden. * „Weg!“ zischte Mac Malcolm, der drahtige Schotte. „Wieso?“ beschwerte sich der bullige Skandianvier Ole Holgersen. „Das sind doch nur 'n paar. Die können wir doch wegputzen!“
Riffpiraten
„Ach nee! Dann schau mal zu dem verdammten Kahn da drüben!“ Ole Holgersen schaute. Was er sah, erschütterte auch seine Ruhe. Die Bugdrehbassen der „Isabella“ waren besetzt. Die langen Rohre zeigten auf die Klippen, offenbar bereit, den Männern im Beiboot Feuerschutz zu geben. Die beiden Beobachter wußten genau, daß ihnen ihre Deckungen unter diesen Umständen einen Dreck nutzen würden. Hastig enterten sie ab, schwangen sich in ihre winzige Nußschale und begannen zu pullen. Immerhin waren sie schon in beruhigender Entfernung, als das Beiboot der „Isabella“ zwischen den Klippen erschien. Zwar wurden sie entdeckt, doch ihren Gegnern schien es vorerst wichtiger zu sein, sich davon zu überzeugen, daß die aus dem Wasser ragenden Felsen nunmehr frei waren. Vorerst! Noch ehe Mac Malcolm und Ole Holgersen die Südspitze von Copinshay erreichten, bemerkten sie, daß sie verfolgt wurden. Oder daß sich ihre Gegner auch auf der kleinen Insel einen Eindruck von der Lage verschaffen wollten — je nachdem. Die beiden Männer beeilten sich, ihre Nußschale auf das felsige Ufer zu ziehen, und ein paar Minuten später trafen sie mit David Black und den anderen zusammen. Blacks Augen wurden schmal, als er hörte, was im Gange war. Er brauchte nicht einmal in die Klippen zu entern, das Beiboot ließ sich mit dem Spektiv jetzt schon sehr gut beobachten. Black zog die Unterlippe zwischen die Zähne und überlegte. „Am besten verschwinden wir mit der Pinasse auf die Nachbarinsel“, schlug Mac Malcolm vor, der ein vorsichtiger Mann war. David Black konnte man eigentlich auch keinen Mangel an Vorsicht vorwerfen. Aber was er sah, war nicht geeignet, ihm den Gedanken an schmähliche Flucht nahezulegen. Gut, der Riese mit dem rahsegelbreiten Kreuz und dem wüsten Narbengesicht da drüben gefiel ihm
Seewölfe 174 37
Kelly Kevin
überhaupt nicht. Der kräftige, untersetzte Mann mit dem dunkelblonden Haar, na ja. Aber dafür waren zwei ziemlich junge, alles andere als hünenhafte Burschen im Boot, ein geradezu lächerlich hagerer Typ mit hellem Flachshaar, und der „Nigger“ zählte nach David Blacks Meinung ohnehin nicht. Sechs Mann! Die Fischer waren zu zehnt. Da wäre es, meinte Black, ja wohl gelacht, wenn sie diesem Grüppchen nicht zeigen könnten, woher der Wind wehte/ Er zog die Lippen von den Zähnen und grinste. „Die schnappen wir uns!“ verkündete er. „Vielleicht können wir sie als Geiseln verwenden. Also keine Schußwaffen, klar? Ich will sie lebend in die Finger kriegen, und ich will mir nicht das ganze verdammte Schiff auf den Hals holen.“ * „Öde Gegend”, bemerkte Bill. „Du sollst nach Schotten Ausschau halten, nicht die Landschaft bewundern, du Wanze“, knurrte der Profos. „Ich bewundere sie gar nicht“, sagte Bill trocken. „Im Gegenteil, ich finde ...“ „Verdammt und zugenagelt! Dir juckt wohl das Fell, was, wie? Soll ich es dir in Streifen ...“ „Ruhe“, sagte Ben Brighton. „Dan, kannst du irgend etwas erkennen?“ „Jede Menge Felsen. Keine Spur von den Kerlen. Aber schließlich gibt es ja auch genug Verstecke.“ Da hatte er zweifellos recht. Die Südspitze der Insel Copinshay war so zerklüftet und unübersichtlich, daß sich zwischen Klippen und Geröll eine ganze Armee hätte verbergen können. Aber die Seewölfe rechneten nicht damit, auf mehr als ein paar Mann zu stoßen, und wenn sie sich irrten, sollte es ihnen auch recht sein. Sie hatten allesamt eine gewaltige Wut auf die Kerle, die über die fast wehrlose „San Esteban“ hergefallen waren - auf die „Aasgeier“ und „Leichenfledderer“, wie sie sie nannten. Die Burschen sollten nur
Riffpiraten
aufkreuzen. Da es auf der Landzunge so verdächtig ruhig war, sprach einiges dafür, daß sie das tatsächlich tun würden. Zwei Minuten später war die Vorleine des Beiboots an einem Felsen belegt, und die Männer sprangen ans Ufer. Da sie eventuellen Heckenschützen nicht die Arbeit erleichtern wollten, teilten sie sich: jeweils eine Gruppe ging vor, während die zweite sie deckte. Auf diese Weise wollten sie zumindest die Südspitze der kleinen Insel durchkämmen, aber soweit kam es gar nicht. Schon nach einem Dutzend Schritten wurde es ringsum schlagartig lebendig. Gestalten schnellten hinter Felsen hervor, sprangen von hochragenden Klippen, schienen von einer Sekunde zur anderen überall zu sein. Neun oder zehn Mann, die Knüppel, Äxte und Entermesser schwangen. Ihr Schlachtruf war nicht ganz genau zu verstehen, aber er hörte sich ziemlich bedrohlich an. Oder er hätte sich jedenfalls bedrohlich angehört für Männer, die weniger hartgesotten und kampflustig waren als die Seewölfe. Die verharrten nur einen Moment, um die Lage zu peilen. „Ach du liebe Zeit“, sagte Ben Brighton kopfschüttelnd. „Na, kommt schon her, ihr Rübenschweine!“ freute sich der Profos. „Hurtig, hurtig! Laßt euch vom alten Carberry ans Herz drücken, daß die Rippen krachen, ihr verlausten, triefäugigen Kanalratten, ihr …“ Er wurde unterbrochen, da einer der Angreifer auf ihn zustürzte, um ihn mit einem Knüppel niederzuschlagen. Das Pech des Burschen war es, daß er zu diesem Zweck weit ausholen mußte. Angesichts von Carberrys Hünengestalt tat er das mit beiden Armen. Das wiederum bewirkte, dass sein stoppeliges Kinn im entscheidenden Moment völlig ungedeckt war - und dieser Einladung konnte der Profos nicht widerstehen. Es krachte. Carberry wich seitlich aus, und sein Gegner, von dem Fausthieb angelüftet, aber noch in der Bewegung des
Kelly Kevin
Seewölfe 174 38
Zuschlagens begriffen, knallte sich den Knüppel auf die eigenen Zehen. Er brüllte. Dann kreischte er, weil er sich bei der harten Landung die Kehrseite an einer scharfen Kante beschädigte. Immerhin brachte ihn das dazu, wie ein angesengter Kastenteufel wieder hochzuschnellen, und der Profos nahm kopfschüttelnd zum zweitenmal Maß. Inzwischen waren die anderen nicht untätig geblieben. David Black, durch die Schulterverletzung leicht behindert, beging den Fehler, sich den hageren Gary Andrews als vermeintlich schwächsten Gegner auszusuchen. Ja, hager war dieser Mann, Haut und Knochen, hätte man meinen können. Aber außer Haut und Knochen waren da auch noch Muskeln und Sehnen, solche von der drahtigen, ganz besonders zähen Sorte - und das begriff David Black erst, als er nach einer beachtlichen Luftreise in einem dichten Dornengestrüpp landete. Das alles war ein Werk von wenigen Sekunden gewesen. Der stets etwas bedächtige Ben Brighton hatte die Zeit gebraucht, um sich den Kerl, der ihm mit dem Entermesser vor der Nase herumfuchtelte, erst einmal anzusehen. Die zweite Gruppe der Seewölfe war getreu der Taktik ein Stück zurückgeblieben. Dan, Bill und Batuti erfaßten die Lage, grinsten erfreut und holten alle gleichzeitig tief 'Atem. „Arwenack!“ dröhnte es dreistimmig. „.Ar-we-nack!“ fielen auch die anderen ein. , Und dann entwickelte sich das, was die Seewölfe für ein erfrischendes kleines Geplänkel hielten und die Schotten für einen Höllentanz, bei dem Beelzebub persönlich seine sämtlichen Unterteufel losgelassen haben mußte. Der „Nigger“, der nach David Blacks Meinung nicht zählte, rollte mit den Augen, fletschte die Zähne und feuerte einen Gegner nach dem anderen in das Dornengestrüpp, weil da schon so schön viel Betrieb herrschte.
Riffpiraten
Ed Carberry nutzte die Gelegenheit, mal wieder den legendären Kiligrew-Trick zu üben, der darin bestand, einen Mann bei den Stiefeln zu packen, sich mit ihm im Kreis zu drehen und alles umzusäbeln, was sich zu nah heranwagte. Der Seewolf hatte diese Übung vor der „Bloody Mary“ in Plymouth vorgeführt, als er von der Pressgang der „Marygold“, eingesackt werden sollte. Das Opfer war damals aus den Stiefeln gerutscht, Kopf voran durch ein Fenster geflogen und im Bett einer knackigen Witwe gelandet. Nun stand zwar auf der Insel Copinshay keine knackige Witwe zur Verfügung, aber der Kerl, den Carberry herumschwenkte, rutschte auch so aus den Stiefeln. „Ha!“ brüllte der Profos. „Ich hab's geschafft! Das war es!“ „Toll!“ schrie Bill begeistert, während er einem wüsten Hieb auswich und dem Knüppelschwinger blitzartig ein Bein stellte. Der Kerl, mit dem Carberry den Trick trainiert hatte, beendete seine unfreiwillige Luftreise erst im Wasser, was ein Glück für ihn war, da er sich sonst mindestens zwei bis drei Knochen gebrochen hätte. Einige Sekunden lang mäßigte sich das Kampfgetümmel, da die meisten Beteiligten staunend dem Mann ohne Stiefel nachblickten. Und in diesen wenigen Sekunden beging noch einer der Schotten einen verhängnisvollen Fehler. Er schlug nämlich hinterrücks Ben Brighton die Faust auf den Schädel. Mit Schwung, denn der Schotte war ein Riese, der den untersetzten Bootsmann um ein ganzes Stück überragte. Außerdem hatte er Fäuste wie Schmiedehämmer, und der Hieb hätte gut und gern einen Bullen fällen können. Nicht so den ersten Offizier der „Isabella“. Ben Brighton hatte einen harten Schädel. Er ging nur ein Stück in die Knie, schüttelte den Kopf, schnaufte und fuhr herum wie von einer Natter gebissen. Der hünenhafte Schotte grinste. Ben Brighton kniff die Augen zusammen. Er war ein ruhiger, besonnener Mann. Er war auch ein erstklassiger Kämpfer, aber er
Kelly Kevin
Seewölfe 174 39
brauchte immer erst einen gewissen Anlauf, um in Fahrt zu geraten. So richtig wild wurde er höchst selten, doch jetzt hatte der heimtückische Schlag von hinten das Faß zum Überlaufen gebracht. „Na warte, du Miststück“, knurrte Ben tief in der Kehle. Dabei marschierte er auf den Schotten zu und krempelte sich fast gemütlich die Jackenärmel hoch. Einen baumlangen Skandinavier, der sich ihm in den Weg stellen wollte, fegte er so lässig zur Seite, als verscheuche er ein lästiges Insekt. Der Bursche kippte um und überschlug sich am Boden. Der hünenhafte Schotte hörte auf zu grinsen und nahm die Fäuste zur Deckung hoch, aber er hätte besser daran getan, die Beine in die Hand zu nehmen. Ben Brightons Angriff ließ an eine jener schweren, nicht besonders schnellen Galeeren denken, deren mörderischen Rammspornen dennoch nichts standhalten kann. Mühelos duckte der Bootsmann ein paar wuchtige Schläge ab, zahlte zurück und zerhämmerte die Deckung des Gegners. Der Schotte marschierte rückwärts - ein Dutzend Schritte über das felsige Ufer, in den Schatten einer Klippe, dann durch die Lücke zwischen zwei Buschinseln. Er verschwand aus dem Blickfeld der anderen Kämpfenden, Ben Brighton ebenfalls - und die Seewölfe bedauerten nur, daß sie das seltene und erfahrungsgemäß sehr eindrucksvolle Schauspiel des wütenden Bootsmanns nicht mitkriegen. Als Ben Brighton seinen Gegner wenig später am Kragen zum Ufer zurückschleppte, war der Kampfplatz geräumt. Die Insel-Schotten hatten sich auf ihre Pinasse gerettet, die im Schutz einiger Klippen auf der Westseite der Landzunge versteckt lag. Sie segelten davon, einer der anderen kleinen Inseln zu. Zurückgeblieben war nur der strohblonde Hüne, mit dem der Bootsmann der „Isabella“ einen Rundgang über die gesamte Südspitze von Copinshay unternommen hatte.
Riffpiraten
Der Bursche ächzte, als er nach einer Weile wieder zu sich kam. Verschiedenes tat ihm weh, aber verletzt war er nicht. Nur etwas eingeschüchtert. Ben Brighton schien er für den Höllenfürsten persönlich zu halten, und die anderen starrte er an, als erwarte er, daß sie allenfalls noch darüber abstimmen würden, ob sie ihn roh oder gebraten verspeisen sollten. Der Profos, der ihn mit grollender Stimme vor die Wahl stellte. entweder zu reden oder die eigene Haut in Streifen als Kombüsenschmuck auf der „Isabella“ vorzufinden, setzte allem die Krone auf. Der schlotternde Schotte redete wie ein Wasserfall. Viel wußte er allerdings nicht, nur, daß Arne Aasen irgendetwas vorhatte. Er selbst und seine Kumpane sollten lediglich beobachten, beteuerte er. Zur Sicherheit ließ Carberry noch ein paar Drohungen vom Stapel, die den Teufel das Gruseln gelehrt hätten, und am Ende war er überzeugt, daß der Schotte alles gesagt hatte. Der arme Mann begriff nicht einmal sofort, daß er mit den blauen Flecken davonkommen würde, die er schon hatte. Er war darauf gefaßt, daß man ihn mitschleppen und umgehend mit dem Kielholen, Aufbaumeln, Vierteilen, Hautabziehen und Zu-HaferbreiVerarbeiten beginnen würde —in beliebiger Reihenfolge. Als ihm endlich klar wurde, daß man ihn laufenließ, sprang er hoch wie ein Stehaufmännchen, warf sich auf dem Absatz herum und rannte. Daß seine Stiefelsohlen nicht rauchten, war ein Wunder, stehenbleiben würde er bestimmt erst, wenn er die andere Seite der Insel erreicht hatte. „Dem ist die Angriffslust vergangen“, stellte Gary Andrews fest. Die anderen nickten dazu. Aber nach dem, was sie inzwischen wußten, würden noch genug angriffslustige Inselbewohner übrigbleiben. Auf deren nächste Aktion mußte man sich schleunigst vorbereiten. 9.
Kelly Kevin
Seewölfe 174 40
Nach dem Zwischenfall an der Südspitze von Copinshay wußte Arne Aasen, daß seine Gegner gewarnt waren. Es störte ihn nicht sonderlich. David Black riet zur Vorsicht — vergeblich. Was sich Arne Aasen einmal vorgenommen hatte, das führte er auch aus, und wenn er mit dem Kopf durch die Wand mußte. Bisher war sein Wikingerschädel noch jedesmal härter als die betreffende Wand gewesen. Er wollte das spanische Wrack und die beiden Segler ausplündern, und angesichts der Flotte, die er inzwischen zusammengebracht hatte, neigte am Ende sogar David Black zu der Ansicht, daß sie es schaffen würden. Beobachter gab es jetzt nicht mehr. Sie hätten auch nur melden können, daß die „San Esteban“ inzwischen wieder Bugspriet, Besanmast und einen behelfsmäßigen Großmast hatte und jetzt sämtliche Lecks abgedichtet wurden. Denn alle anderen Vorbereitungen gingen hübsch unauffällig vonstatten. Aber Arne Aasen wollte nicht riskieren, daß sich aus irgendwelchen Gründen die Lage änderte. Noch einmal rief er seine Unterführer zusammen, und einstimmig wurde beschlossen, sofort zu handeln. Was da in Pinassen, Schaluppen und kleineren Booten durch den Pentland Firth in Richtung Copinshay schwärmte, wirkte in der Tat sehr eindrucksvoll. Entsprechend stark fühlte sich Arne Aasen. Im roten Widerschein der sinkenden Sonne wirkte sein Gesicht noch wilder als sonst. Mit funkelnden Augen betrachtete er das Gewimmel der Boote. Sie hatten vor, östlich des Pentland Firth auszuschwärmen und die Beute zu umzingeln. Und dann, schwor sich Arne Aasen, würden 'diese arroganten Kerle, die ihn und die Seinen einfach davongejagt hatten, sehr klein werden. Der erste Teil des Plans klappte ganz gut. Die Boote schwärmten aus, und im Schutz der Dämmerung gelang es ihnen tatsächlich, ihre Beute einzukreisen. Ungesehen, wie Arne Aasen glaubte. Durch das Spektiv beobachtete er die festsitzende Galeone und die beiden
Riffpiraten
Segler, die an ihren Backbord- und Steuerbordseite ankerten. Aasen sah sehr wohl, daß die „Isabella“ und die „Le Vengeur“ dem dritten Schiff die Flanken deckten. Aber da er ja schon wußte, daß die Spanier nicht ausgeplündert, sondern im Gegenteil tatkräftig unterstützt wurden, erstaunte ihn das nicht mehr. Alles andere, was ihn hätte warnen können, entging ihm. Die Sonne war erst halb hinter den Inseln im Westen versunken, als der Angriff begann. Der Kreis zog sich zusammen. Von allen Seiten wimmelten Pinassen, Schaluppen und Beiboote auf die drei Segler zu. Aus Arne Aasens Sicht wirkte das wie eine tödliche Umklammerung, in der der Gegner direkt ersticken mußte, doch dieser Eindruck änderte sich in der nächsten Minute. Da nämlich rasselten an der Backbordseiteder Galeone und an Steuerbord der Karacke die Stückpforten herunter. Kanonen wurden ausgerannt. Schwere Siebzehnpfünder-Culverinen auf der „Isabella“, Zwölfpfünder auf der „Le Vengeur“. Mit ohrenbetäubendem Krachen entluden sich zwei Breitseiten gleichzeitig, und vorn und achtern traten im selben Moment die Drehbassen in Aktion. Mindestens zwei Dutzend Schaluppen und Pinassen luvten blitzartig an oder fielen ab, weil sie den eisernen Segen unmittelbar vor den Bug erhielten. Das war zunächst nur eine Warnung gewesen, wußte Arne Aasen. Er gehörte zu denjenigen, die Kurs gehalten hatten. Seine Zähne knirschten, und seine Augen glühten vor Haß. „Angriff!“ brüllte er mit Donnerstimme. „Feuer auf die Galeone und die Karacke! Schießt auf die Stückpforten, ihr müden Kerle! Schießt!“ Die Schotten gebärdeten sich durchaus nicht wie müde Kerle, sondern ordneten im Rekordtempo ihre Angriffsformation neu und schossen tatsächlich aus allen Rohren. Außer den Rohren von sechs Beutekanonen, leider nur vierpfündigen bronzenen Minions, gab es da allerdings nur Musketenläufe. Damit konnten sie ihre
Seewölfe 174 41
Kelly Kevin
Gegner zwar erreichen, da die Waffen recht weit trugen, aber die Männer auf den beiden Seglern hatten ebenfalls Musketen und Arkebusen und schossen ganz einfach besser. Trotzdem gaben die Schotten nicht auf. Sie waren in der Überzahl. Noch legten ihre Gegner eine regelrechte Feuersperre, doch die würden sie nicht endlos aufrecht erhalten können. Der Durchbruch würde vielleicht verlustreich werden, aber zweifellos gelingen. Das glaubte Arne Aasen, das entbehrte auch tatsächlich nicht einer gewissen Wahrscheinlichkeit, nur wußten die Männer auf den Seglern es auch und hatten sich darauf eingerichtet. Die ersten von Ferris Tuckers Höllenflaschen traten in Aktion. Der verheerenden Explosion, den Schreien, dem Bersten und Splittern von Holz folgte sekundenlang eine Art Lähmung unter den Angreifern. Zwei neue Breitseiten krachten. Spätestens jetzt hätten die Schotten besser daran getan, die Flucht zu ergreifen, aber sie waren zu wütend, zu fanatisch, zu wild und besessen. „Angriff!“ dröhnte Arne Aasens Stimme über das Wasser. „Wir brechen durch! Durchbrechen!“ „Das du nur denken, Insel-Wikinger, verrücktes“, murmelte Batuti auf der „Isabella“. Arne Aasen konnte es nicht hören. Dafür sah er plötzlich einen Pfeil fliegen, der eine Pinasse in seiner Nähe traf - und die neue Detonation bewies ihm, daß es ein Pulverpfeil gewesen war. Von da an ging es Schlag auf Schlag. Die Hölle brach los. Und mitten in dieser Hölle stand Arne Aasen immer noch hoch aufgerichtet im Bug seine Schaluppe wie der Oberteufel persönlich und brüllte sein sinnloses „Angriff! Angriff!“ in die Dämmerung. * „Fier weg den Kahn! Tempo!“ Philip Hasard Killigrew stand auf der Kuhl und hatte jenes Funkeln in den eisblauen Augen, von dem seine Leute behaupteten,
Riffpiraten
daß selbst der Sensenmann davor Reißaus nehmen würde. Der Seewolf war am Ende seines Geduldsfadens. Er hatte nicht die geringste Lust, sich bei diesem Kampf die Regeln von einem größenwahnsinnigen Strandräuber aufzwingen zu lassen. Deshalb stand er jetzt mit einer Gruppe seiner besten Männer auf der Kuhl, wartete schweigend, bis das Beiboot aufs Wasser klatschte, und schwang sich über das Schanzkleid. Das Steuerbord- Schanzkleid, versteht sich, denn die Schotten sollten nicht allzu früh bemerken, was er vorhatte. Immer noch krachten Schüsse. Hasard ließ das kleine Segel setzen. Sie gewannen sofort an Fahrt, da der Wind nach wie vor von Süden wehte und die beiden Galeonen das Boot nicht abdeckten. Wie ein Pfeil schoß es hinter dem Bug der „Isabella“ hervor. Das Hämmern der beiden Drehbassen dröhnte in den Ohren der Männer. Zwei Minuten später gab Hasard Al Conroy einen Wink, die Drehbassen verstummten, und das Boot stieß auf die Schaluppe des riesigen bärtigen Kerls zu, in dem der Seewolf den Anführer der Schotten erkannt hatte. Um diese Zeit war Arne Aasens Zuversicht bereits dahin. Er hatte begriffen, daß sie die mörderische Feuersperre nicht durchbrechen konnten. Höchsten ein halbes Dutzend Boote würde überhaupt an die Segler herankommen, und das reichte nicht für ein Enterunternehmen. Außerdem flogen immer noch diese mörderischen Flaschen, gegen die kein Kraut gewachsen war, Pulverpfeile hagelten, Brandpfeile setzten Segel und Bordwände in Brand - es war die Hölle. Jetzt wirkte Arne Aasen durchaus nicht mehr wie der Oberteufel. Er zuckte zusammen beim Anblick des Beiboots der „Isabella“, und als er den schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen entdeckte, hatte er das Gefühl, daß der Satan selber auf ihn zurückte. „Sperrfeuer auf die Schaluppe!“ übertönte Hasards Stimme den Kampflärm.
Seewölfe 174 42
Kelly Kevin
Sie wollten die Kerle um den schottischen Anführer in Deckung zwingen, längsseits gehen und entern. Dann würden die Fetzen fliegen, und der Bursche sich sehr schnell eines Besseren besinnen. Doch genau das befürchtete auch Arne Aasen. Seine Schaluppe war zwar mit einer der erbeuteten Bronze- Kanonen bestückt, aber dafür hatte er keine Munition mehr, ganz davon abgesehen, daß die ungeübten Fischer mit dem Ding nicht treffen konnten. Arne Aasen hatte ohnehin schon drei Verwundete an Bord. Er starrte zu dem Beiboot hinüber, sah die harten, verwegenen Gesichter über den Musketenläufen, das wilde Funkeln in den eisblauen Augen des Kapitäns - und von einer Sekunde zur anderen begriff er, daß er dieser Bande von Teufelskerlen nicht gewachsen war. Er fuhr herum. „Abfallen!“ brüllte er. „Kurs nach Westen! Schnell!“ Seine Leute gehorchten, als hätten sie nur auf den Befehl gelauert. Noch bevor auf dem Beiboot der „Isabella“ ein einziger Schuß gefallen war, rauschte Arne Aasens Schaluppe schon mit halbem Wind nach Westen. Zwei Pinassen, die in unmittelbarer Nähe lagen, folgten ihrem Beispiel: Der Anführer floh, das hieß, daß die Schlacht zu Ende war. Ein paar Boote wendeten und wurden westwärts gepullt. Weitere Pinassen und Schaluppen folgten, und binnen weniger Minuten war die allgemeine Flucht im Gange. Der ganze Schwarm der Angreifer verdrückte sich in den Pentland Firth. Die plötzliche Stille wirkte betäubend. Hasard blickte den Fliehenden nach und strich sich mit einem tiefen Atemzug das Haar aus der Stirn. „Hoffen wir, daß sie endgültig genug haben“, knurrte er. Aber er hatte in diesem Punkt seine Zweifel. 10.
Riffpiraten
Am nächsten Morgen sah die „San Esteban“ schon wieder ganz manierlich aus. Hasard und Jean Ribault hatten dem spanischen Capitan versprochen, ihn durch den Pentland Firth, an Nordschottland vorbei und tim die Hebriden herum zu lotsen. Irland war für die Spanier keine feindliche Küste mehr, und von dort aus würden sie es leicht bis in ihre Heimat schaffen. Vor allem, da die „Isabella“ und die „Le Vengeur“ nicht nur von ihren Trinkwasserund Proviantvorräten abgegeben hatten, sondern auch Kugeln und Pulver für die Geschütze. Antonio de Araniva war verlegen vor Dankbarkeit, doch die Helfer ließen ihn gar nicht erst dazu kommen, viele Worte zu machen. Noch stand der letzte und vielleicht schwierigste Teil der Rettungsaktion bevor: die Sprengung des Riffs. Beim niedrigsten Stand der Ebbe turnten Ferris Tucker und Al Conroy in die Felsen hinunter, bewaffnet mit Pulver und jeder Menge Zündschnüre. Sie führte es genauso aus, wie der Schiffszimmermann es vorher angekündigt hatte. Nach ein paar Minuten hatten sie zwei genau bemessene Ladungen an die beiden kleineren Felszacken direkt an der Bordwand gelegt. Capitan de Arniva bekreuzigte sich und sah schon ein mächtiges neues Loch im Schiffsrumpf. Tucker und Conroy enterten an Bord, nachdem sie die Zündschnüre in Brand gesteckt hatten. Es krachte zweimal, ein paar leichte Stöße erschütterten die Bordwand - und von den Felsenzacken existierten nur noch kleine Steinchen. Die zweite Ladung wurde in einen tiefen Spalt gelegt und war ebenfalls sorgfältig bemessen: sie sollte dem Riff den entscheidenen Knacks geben. Von außen sah man nicht viel davon. Aber Ferris Tucker brummelte zufrieden, als er wieder abenterte, und Al. Conroy war schon dabei, die letzte, entscheidende Sprengung vorzubereiten. „Wenn ihr Hampelmänner Brennholz aus dem Kahn macht, ziehe ich euch die Haut ab!“ brüllte Ed Carberry von der „Isabella“ herüber.
Kelly Kevin
Seewölfe 174 43
„Halt die Klappe, sonst erkälten sich die Kakerlaken in deinem Hirn“, konterte Ferris. „He, du rothaariger Affe! Du hast wohl ...“ „Nun halt doch die Luke“, knurrte A Conroy ungeduldig. „Hier, nimm mal die Zündschnur wahr, Ferris!“ Ein paar Minuten später waren sie fertig und kletterten wieder an Bord. Die Zündschnur brannte. Ein blauer sprühendes Flämmchen schien über den grauen Felsen zu tanzen. Jetzt näherte es sich der Stelle, wo die Sprengladung mit Steintrümmern, Werg und zusammengeschnürten Kettenkugeln verdämmt war, fraß sich noch etwas weiter — und diesmal gab es einen Krach, den man vermutlich noch drüben in Schottland hörte. Staub wirbelte auf: „Heilige Madonna“, murmelte Antonio de Araniva. „Meine Fresse!“ sagte drüben auf der „Isabella“ Ed Carberry ergriffen. Ein paar von den Spaniern schlossen schicksalsergeben die Augen, als die Planken unter ihren Füßen erzitterten. Steine polterten, klatschten ins Wasser, polterten von neuem, klatschten wieder. Aber in dem Lärminferno war nichts zu hören, das an das Brechen und Splittern von Holz erinnerte, also hatte die „San Esteban“, wohl wahrhaftig kein Leck davongetragen. Allmählich legte sich die Staubwolke. Gebannt starrten die Männer auf die Umrisse, die sich in dem gelblichen Dunst abzeichneten. Und dann klang ein vielstimmiger Triumphschrei über die Decks von „Isabella“, „Le Vengeur“ und „San Esteban“. Das Riff war auseinandergeflogen. Nach Steuerbord, ohne die Galeone auch nur im mindesten zu beschädigen. Noch hing die „San Esteban“ auf den Resten der Felsen fest, doch sobald die Flut einsetzte, würde sich das ändern. Das Warten begann. Hasard schritt auf dem Achterkastell der „Isabella“ hin und her. Im Großmars beobachtete Dan O'Flynn mit dem Kieker
Riffpiraten
die Kimm. Ein paarmal sichtete er Pinassen in einiger Entfernung, aber es ließ sich nicht feststellen, ob es sich um harmlose Fischerboote handelte oder um Beobachter, die der unbelehrbare Arne Aasen geschickt hatte. Wenig später kippte der Gezeitenstrom, die Flut setzte ein — und es dauerte nicht mehr lange, bis die ersten Wellen um den Kiel der „San Esteban“ gurgelten. Die Galeone begann aufzuschwimmen. Jetzt traten wieder die „Isabella“ und die „Le Vengeur“ in Aktion. An Warpankern zogen sie die Galeone über den Achtersteven von den Riffen nach Süden. Ein paarmal knirschte es bedenklich. Die Männer, im besonderen die Spanier, hielten vor Spannung den Atem an. Dann jubelten alle wieder, als die „San Esteban“ endgültig freikam. Am lautesten jubelten die Spanier. Auch Hasard atmete erleichtert auf. Doch in seine Erleichterung mischte sich nicht gerade Sorge, aber eine ganz bestimmte Ahnung. Noch hatten sie die Orkney -Inseln nicht hinter sich. * Die Pinasse segelte platt vor dem Wind an der Westküste von South Ronaldshay entlang auf Widewall zu. Im Hafen lagen die gerupften, mehr oder weniger schwer beschädigten Boote, die an dem Angriff auf die drei Segler teilgenommen hatten. Die Verwundeten waren ins Dorf gebracht worden, die Toten in der Kirche aufgebahrt. Die Pier war schwarz von Menschen. Weinende Frauen, verängstigte Kinder, wütende Männer. Vor allem wütende Männer. Sie alle waren rauhe Burschen und kochten vor Zorn über die Niederlage. Jedesmal, wenn ihr Blick auf ein besonders schwer verwüstetes Boot fiel, auf einen geknickten Mast oder eine durchlöcherte Bordwand, wurde ihr Haß von neuem angestachelt. Als die Pinasse in den Hafen glitt, senkte sich erwartungsvolle Stille über den Platz.
Kelly Kevin
Seewölfe 174 44
Die Männer, die von Bord sprangen, berichteten in wenigen Sätzen, was sie beobachtet hatten. Noch während sie zu der Kate marschierten, wo Arne Aasen mit seinen Unterführern Kriegsrat hielt, wurde die Information von Mund zu Mund weitergegeben. Die drei Segler planten offenbar, in den Pentland Firth zu laufen. Das war ein Gewässer, in dem die Fischer von Widewall jeden Strudel und jedes Riff kannten. Dort hatten sie vielleicht doch noch eine Chance, die Scharte wieder auszuwetzen. Als Arne Aasen wenig später mit langen Schritten zur Pier stürmte, brauchte er seinen Leuten gar nicht mehr gut zuzureden. Dafür schwangen sich ein paar von den Männern auf die wenigen im Ort vorhandenen Pferde und preschten in die Nachbardörfer, um auch noch die dort verstreuten Angehörigen der Widewaller Sippen zu alarmieren. Arne Aasen wußte, daß er auf diese Art mindestens drei Dutzend weiterer Männer gewinnen würde. Die Leute aus dem nächstgelegenen Hafen waren ohnehin schon zu ihnen gestoßen. Jetzt hatte es weitere Tote und Verletzte gegeben. Was einem der Ihren passierte, ging die ganze Sippe an, und hier oben im rauhen Norden war immer noch die traditionelle Verpflichtung lebendig, einen verwundeten oder getöteten Angehörigen unter allen Umständen zu rächen. Als die Flotte schließlich den Hafen verließ, schloß sich jedes auch nur halbwegs heilgebliebene Fahrzeug an, und jedes einzelne Boot war gut doppelt so stark bemannt wie gewöhnlich. Arne Aasens Schaluppe hatte die Spitze. Sie liefen die Insel Swona an — jenen Ort, an dem die Ereignisse ihren Anfang genommen hatten, als drei brutale spanische Kapitäne friedliche schottische Fischer überfielen und ausplünderten. Arne Aasens Augen funkelten, als er daran dachte. Soweit er es beurteilen konnte, würde seinen Gegnern keine andere Wahl bleiben, als zwischen den Inseln Swona und Stroma hindurchzusegeln, und dort
Riffpiraten
wollten sich die Riff-Piraten auf die Lauer legen. Wieder einmal war Arne Aasen überzeugt davon, daß nichts schiefgehen konnte. Er hätte jeden eigenhändig erwürgt, der ihm erzählt hätte, daß er zu den Leuten gehöre, die den gleichen Fehler stur wie Maulesel immer wieder begehen. * „Wahrschau! Mastspitzen recht voraus!“ Es war Bills helle Stimme, die über die Decks klang. Die „Isabella“ segelte an der Spitze der drei in Kiellinie gestaffelten Schiffe, die mit halbem Wind durch den Pentland Firth steuerten. Hasard, Dan O'Flynn. sein Vater Old O'Flynn, Ben Brighton und Big Old Shane standen auf dem Achterkastell. Der junge O'Flynn hatte den Kieker angesetzt und spähte nach Westen. Nach einer Weile ließ er das Spektiv mit einem Ruck sinken. „Ach du meine Güte“, sagte er und verdrehte die Augen. „Donegal Daniel!“ knurrte Old O'Flynn drohend. „Schon gut, Dad! Aber das sieht wirklich aus, als hätte jemand einen Damm aufgeschüttet, um Bohnen drauf zu pflanzen. Wegen der Bohnenstangen, meine ich. Das heißt ...“ „Du bist wohl etwas durcheinander, was?“ fragte Hasard, während er nach dem Fernrohr griff. „Aye, aye, Sir“, sagte Dan. Und im nächsten Moment verstand Hasard, warum dem jungen Mann die richtigen Worte gefehlt hatten, denn was er durch das Spektiv sah, erinnerte tatsächlich an einen Wald von Bohnenstangen. Mastspitzen! Dicht an dicht, über die gesamte Breite des Fahrwassers zwischen Swona und Stroma! Dutzende von Fischerbooten ankerten dort und bildeten eine Sperre. Selbst aus der Entfernung glaubte Hasard zu erkennen, daß jedes der Boote bis zum Rand mit Männern vollgestopft war. Arne Aasen holte zum letzten Schlag aus. Er schien die
Kelly Kevin
Seewölfe 174 45
Niederlage nicht schlucken zu können, und offensichtlich waren die rauhen InselSchotten in diesem Punkt völlig seiner Meinung. „Klar zum Aufgeien Blinde, Großsegel und Marssegel!“ rief Hasard. „Klar zum Aufgeien, ihr lahmen Stinte!“ tobte Carberry auf der Kuhl. „Hopp-hopp! Seid ihr Klosterschüler, was, wie? Ihr glaubt wohl ...“ „Gei auf!“ fiel ihm Hasard ins Wort. Die Männer waren nämlich auch ohne Carberrys Flüche längst auf ihren Manöverstationen. Die Geitaue wurden durchgeholt, die Segel zu den Rahen gezogen. Die „Isabella“ lief jetzt nur noch unter Fock und Besan und verlor rasch an Fahrt, als Hasard sie etwas höher an den Wind legte. Von achtern segelte die „Le Vengeur“ auf. Auch Jean Ribault ließ Segel wegnehmen, fiel etwas ab und schob sich auf Rufweite neben die „Isabella“. Auf der „San Esteban“ wurden die Rahen gegengebraßt, und die Galeone ging mit der letzten Fahrt in den Wind, ebenfalls in Rufweite der „Isabella.“ „Wir brechen unter Vollzeug in Dwarslinie durch“, dröhnte Hasards Stimme. :“Die ‚Isabella' übernimmt die Backbord-Flanke, die „Le Vengeur“ die Steuerbordflanke. Verstanden?“ Jean Ribault zeigte klar. „Verstanden!“ rief Capitan de Araniva, der sehr wohl wußte, daß er wieder einmal fürsorglich in die Mitte genommen wurde. Aber er sah selbst ein, daß das unter den gegebenen Umständen das vernünftigste war. Zwar sah die „San Esteban“ jetzt nicht mehr wie ein abgetakeltes Wrack aus, aber sie war unterbemannt, und mit der Munition konnte sie zumindest nicht übermäßig verschwenderisch umgehen. De Araniva ließ vorsorglich sämtliche Kanonen gefechtsklar machen, besetzte jedoch vorerst nur die Drehbassen und massierte seine Musketenschützen auf dem Bugkastell. Auch auf den beiden anderen Schiffen herrschte fieberhafte Tätigkeit. Fast gleichzeitig meldeten Ed Carberry auf der
Riffpiraten
„Isabella“ und der dänische Bootsmann Nils Larsen auf der Karacke „Klar zum Gefecht“. Die „San Esteban“ hatte wieder Fahrt aufgenommen. Als Hasard jetzt etwas anluven ließ und die „Le Vengeur“ abfiel, schob sich die spanische Galeone zwischen ihre beiden Beschützer. Wie das leibhaftige Verhängnis rauschten die drei Schiffe auf die Boote zu, die die Durchfahrt blockierten. Etwa in der Mitte der Sperre ankerte die Schaluppe Arne Aasens. „Feuer!“ brüllte er. „Feuer!“ nahmen andere Stimmen den Befehl auf, und über die ganze Breite der Bootskette entluden sich krachend Musketen und Arkebusen. „Bugdrehbassen Feuer!“ befahl Hasard auf der „Isabella“ gelassen. „Auf die Mitte halten!“ „Bugdrehbasse Feuer!“ tönte Jean Ribaults Stimme herüber, und auf der „San Esteban“ gab Antonio de Araniva den gleichen Befehl auf Spanisch. Krachend entluden sich die schweren Kanonen in ihren drehbaren Gabellafetten. Diesmal hielten sich die Männer nicht mit Warnungen auf, diesmal trafen sie gleich richtig. Alle fünf Kugeln fanden präzise ihr Ziel — und das Ziel war Arne Aasens Schaluppe. Das Boot soff so schnell ab, als habe es sich plötzlich in Luft aufgelöst. Männer paddelten schreiend' im Wasser und versuchten, sich auf die nächsten Pinassen zu retten. Aber die nächsten Pinassen waren auch die nächsten Ziele für die Drehbassen der drei Segler, und eine Minute später bestand der Mittelteil der Sperre nur noch aus treibenden Trümmern und den Köpfen der in Panik fliehenden Schwimmer. An Backbord und Steuerbord allerdings krachte es immer noch, leuchteten Mündungsblitze wie gespenstische Flammenblumen. Die Musketenschützen auf den Seglern erwiderten das Feuer. Drei, viermal antwortete ihnen lauteres, dumpferes Krachen. Die Fischer versuchten, ihre Beute-Minions zum Einsatz zu bringen. Aber da sie mit den Kanönchen nicht umgehen konnten,
Kelly Kevin
Seewölfe 174 46
setzten sie die Kugeln sämtlich ins Wasser und riskierten nur, daß ihnen die außer Rand und Band geratenden Geschütze über die Zehen rollten. Eine weitere Schaluppe und drei Pinassen gingen unter den Kugeln der Drehbassen in Trümmer. Wer im Wasser landete, schwamm um sein Leben. Denn die drei Segler rauschten unter Vollzeug mit dem Strom auf sie zu,
Riffpiraten
und es dauerte nur noch Sekunden, bis sie die Sperre erreichten. Feuer und Blei speiend brachen sie durch. Nichts und niemand konnte sie aufhalten. Schon gar nicht der tobende Arne Aasen, der zwischen den Wrackteilen trieb und immer wieder Wasser schluckte, weil er das Schwimmen vergaß, während er in ohnmächtiger Wut die Fäuste schüttelte...
ENDE