Arndt Ellmer
Rico
Atlan Roman
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DAS BUCH
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Arndt Ellmer
Rico
Atlan Roman
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DAS BUCH
November 3103 alter Terranischer Zeitrechnung: Die Milchstraße ist ein gefährlicher Ort. Verschiedene Gruppierungen kämpfen gegen das Solare Imperium der Menschheit. Sternenreiche entstehen neu, und überall ringen kleine Machtgruppen um mehr Einfluss. In dieser Zeit geht die United Stars Organisation – kurz USO genannt – gegen das organisierte Verbrechen vor. An ihrer Spitze steht Atlan, Perry Rhodans bester Freund. Der ca. 9000 Jahre v. Chr. geborene Arkonide ist dank eines Zellaktivators relativ unsterblich. Als junger Kristallprinz erkämpft er sich die rechtmäßige Nachfolge und besteigt Arkons Thron, bis er im Jahr 2115 abdankt und die Leitung der neu gegründeten USO übernimmt. Auf Terra existiert nach wie vor Atlans Unterwasserkuppel. Sein Geheimstützpunkt liegt südlich der größten Azoreninsel Sao Miguel am Meeresgrund im Schutz eines Energieschirmes verborgen. Plötzlich sendet die Bordpositronik der Tiefseekuppel Signale, die den Arkoniden in höchste Alarmbereitschaft versetzen. Rico, Atlans treuer Robotgefährte, der mehr über den Unsterblichen weiß als sonst jemand, schwebt in höchster Gefahr … DER AUTOR
Arndt Ellmer, Jahrgang 1954, lebt im Südschwarzwald. Seine schriftstellerische Tätigkeit begann 1980, als er seinen ersten Roman im Zauberkreis-Verlag publiziert hat. Rasch kamen weitere Romane auf den Markt. 1981 stieg der Autor in die ATLAN-Serie ein, der damaligen »Schwesterreihe« zu PERRY RHODAN. Seit 1983 schreibt Ellmer bei der PERRY RHODAN-Serie mit und betreut seit vielen Jahren Woche für Woche die Leserkontaktseite der größten ScienceFiction-Serie der Welt.
Hans Kneifel gewidmet, der mit seinen ATLAN-Zeitabenteuern die schönste und spannendste Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft geschaffen hat.
Kleines Who is Who Atlan – der Lordadmiral bangt um einen Freund und um den Frieden in der Milchstraße Bante Lerte – für den Carsual-Major heißt es – Ferrol sehen und sterben Decaree Farou – weil Atlan ihre Heimatstadt besucht, muss sie auf seinen Japanischen Garten warten Greg Benson – der Mann von DABRIFAUC findet den Maulwurf zu spät Gucky – dem Mausbiber missfallen verschmutze Strände Haydin Escobar – ein toter Taucher weiß zu viel Henderson – der Assistent des Professors erregt den Unmut der falschen Person Hendrik Voltham – der Mann mit den vielen Namen mag keine Müllschlucker Jean-Claude Monmartin – Atlans Doppelgänger oder umgekehrt? Lady Sister – in der dünnen Drei-Schwester steckt mehr als man denkt Leutnant Higgins – eine rechte Hand, die weiß, was die Linke tut Louise Vimteaux – die schöne Comtesse spielt ein Spiel auf Leben und Tod Madame Tristesse – auch eine zu gute Spürnase kann tödlich sein Mitchell – eigentlich sind alle mit ihm verwandt Nikos Themosthenes – der USO-Major findet ein neues Betätigungsfeld Paceto Caldras – der alte Inselvorsteher ist umgezogen Perry Rhodan – der Großadministrator weiß, wem er vertrauen darf Rico – auch robotischer Leichtsinn wird bestraft Saint-Phare – der Professor verliert erst die Hoffnung und dann das Gedächtnis Velaton – der Akone bekommt nicht, was er will, sondern was er nicht will Zerog Fantor – Carsuals bester Mann lernt merkwürdige Leute kennen
»Sie sind weit in der Überzahl!« In dem Klirren von Hunderten Schwertern drang Doraks Warnruf nur undeutlich zu mir durch. Ich wich einem der Hünen aus dem Sumpfland aus und stellte ihm ein Bein, sodass er stürzte. Gleichzeitig versuchte ich, Blickkontakt zu Dorak zu erhalten. Es gelang mir nicht. Um mich herum wimmelte es nur so von stark behaarten, kaum bekleideten Kriegern des Malikuschi Drag. »Wie viele?«, schrie ich. »Mindestens tausend …« Ein Teil seiner Worte ging im Zischen von Pechschleudern unter. Ich sah die kochende schwarze Substanz in der Luft, hundert bis zweihundert Meter entfernt. Die Sumpfkrieger versuchten uns damit den Weg abzuschneiden. »Zurück aufs Schiff!«, schrie ich, so laut ich konnte. Die Knäuel der Kämpfenden gerieten durcheinander, der Lärm der Schwerter und Keulen wurde erst lauter, dann leiser. In meiner Nähe rückten die Körper der namenlosen Sumpfkrieger auseinander, dazwischen tauchte der spitze Lederhelm eines Fremden auf. Sein Gesicht zog meine Blicke wie magisch an. Es war glattrasiert. Die Augen glühten. Das Gesicht selbst schien wie aus Stein gemeißelt. »Stirb«, zischte er in der Sprache der Nordküstenbewohner, die ich hier am allerwenigsten erwartet hätte. In seiner linken Hand hielt er eine Basaltaxt, in der rechten einen langen steinernen Dolch. Ich wich zurück. Nicht, weil ich vor diesem Mann Angst gehabt hätte, sondern weil ich erkannte, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. »Halt ein«, schrie ich hastig. »Ich bin Atlan aus Nokra. Wir sind Verbündete!« Der Fremde reagierte nicht. Stumm hieb er auf mich ein. Reflexartig wich ich dem Axthieb aus, ließ mich nach links fallen und fing mich mit den Händen ab. Gleichzeitig trat ich ihm mit dem linken Fuß den Dolch aus der Hand. Ein kurzes Nachschlagen gegen seine Waden, und er fiel wenig elegant in den Staub. Über mir tauchte in schneller Bewegung ein Sumpfkrieger auf. Zwei pelzige Hände legten sich um meine Gelenke.
»Dorak!« Zwischen den Beinen der Kämpfer hindurch sah ich ihn liegen, die Augen ausdruckslos starr noch oben gerichtet. Der Speer des Gegners steckte in seiner Brust. Ein Schleier legte sich über meine Augen, ich stöhnte. Silberne Lichter tanzten auf und ab. Der Fremde mit der Spitzmütze stach mit einer dünnen Nadel in meinen Arm, obwohl er mich ohne Weiteres hätte töten können. Ich spürte, wie Wärme meinen Körper durchflutete. Die silbernen Lichter wichen vor mir zurück, und ich entdeckte ein Gesicht über mir. »Entspanne dich, Gebieter. Es ist alles in Ordnung!« Das Gesicht gehörte Rico, meinem Roboter, das erkannte ich in den wenigen Augenblicken, in denen ich klar denken konnte. Dann übermannte mich die Erschöpfung. Ich wurde ohnmächtig.
Sie schlangen kalte, metallene Fesseln um meine Arme und Beine. Ich versuchte es zu verhindern, indem ich den Körper hin und her warf. Etwas Kaltes, Glitschiges legte sich auf mein Gesicht. Ich rang nach Luft. »Jetzt die Augen«, hörte ich eine emotionslose Stimme. Ich wollte den Kopf abwenden, aber er war durch Klammern fixiert. »Lasst den Unfug«, wollte ich rufen, aber es kam nur ein Krächzen aus meinem Mund. Nach einer Weile ließ der Druck auf den Kopf und die Gliedmaßen nach. »Entspanne dich, Erhabener«, vernahm ich erneut die Stimme. Ein halbes Dutzend Medoroboter schwebten über mir, kegelförmige Maschinen unterschiedlicher Größe. Unerbittlich folgten sie ihrem fest vorgegebenen Programm. Mit Lasern schufen sie winzige Öffnungen in meinem Körper, setzten Kanülen, legten Drainagen und zapften mir Blut ab. Als ich erneut aus einer Ohnmacht erwachte, sah ich die Schläuche, die zu einem Kasten führten, der schräg über mir in der Luft hing. »Etwas stimmt nicht!« stellte ich fest. »Das Erwachen dauert viel zu lange.« An die Schmerzen des Erweckungsprozesses hatte ich mich in den Jahrtausenden auf Larsaf III gewöhnt. Meist dauerte es Tage, bis ich
wieder im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte war. Ohne den Roboter mit seinem Bioplastgesicht hätte ich es in ein paar Fällen nicht überlebt. Die Unterwasserkuppel in den Tiefen des Atlantiks wäre mir zum Grab geworden. »Ihr Sternengötter!« murmelte ich. »Lasst mich nicht in der Fremde sterben.« Larsaf III als Friedhof für einen Kristallprinzen – es hätte die Familie der Gonozal für alle Zeiten der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn es denn jemand erfahren hätte. In meinem Brustkorb blähten sich die Lungenflügel auf. Stechender Schmerz raste bis zum Hals. Wieder rang ich nach Atem, aber gleichzeitig zischte die nächste Injektion, diesmal seitlich am Nacken. Ich wehrte mich nicht mehr gegen den Schmerz, sondern nur noch gegen das Vergessen. Ich kämpfte einen lautlosen und reglosen Kampf, um nicht erneut das Bewusstsein zu verlieren. »Ich bin Mascaren da Gonozal, rechtmäßiger Erbe des Throns von Arkon. Unglückliche Umstände haben mich zu einem Gestrandeten auf dem dritten Planeten von Larsafs Stern gemacht. Seither lebe ich von der Hoffnung, diese Barbarenwelt wieder verlassen zu können.« Wohlige Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Ich wurde müde, die Gedanken immer leiser, als entfernten sie sich von mir. Ich gab mir einen Ruck, versuchte mit letzter Willenskraft das Unvermeidliche zu verhindern. »Nein!« Etwas drückte gegen meinen Körper, versuchte ihn am Boden zu halten. Ich spürte, wie ich erneut den Kontakt zur Wirklichkeit verlor und Erinnerungsfetzen aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche stiegen. Der Kämpfer setzte mir die Spitze seines Steindolchs an die Kehle. »Verbündete?«, lachte er. »Kerbil braucht keine Verbündeten.« »Auch keine Löwenjäger?« Der Kerl zuckte leicht. Die Spitze seines Dolches ritzte meine Haut. Hastig nahm er die Waffe zur Seite. »Die Jäger des Goldenen Löwen?« »Auf dem Weg nach Kerbil.« Er trat einen Schritt zurück und reichte mir die Hand. »Steh auf, Atlan.«
Sein lauter Ruf ließ die Sumpfkrieger innehalten. Sie lösten sich von ihren Gegnern und steckten die Waffen ein. So schnell meine Beine mich trugen, rannte ich hinüber zu Dorak. Seine Hände umklammerten den Speer, der in seiner Brust steckte. Als er mich sah, verlor sein Blick jede Starrheit. Er grinste, zog die Spitze aus seinem dicken Wams und warf den Speer achtlos zur Seite. »Es geht nichts über ein paar flache Steine unterm Hemd«, knurrte er. »Der Kerl hat doch tatsächlich geglaubt, ich sei tot. Ich sage dir, Atlan, es war leicht, die Wucht der Waffe zu bremsen, aber schwer, den Speer senkrecht zu halten, als würde er tief im Körper stecken.« Der Sumpfkrieger trat herbei und hob die Waffe auf. Er gab etwas in einer Sprache von sich, die wir nicht verstanden. Aber sein Mienenspiel war vielsagend genug. »Das wird ihm kein zweites Mal passieren«, klärte ich Dorak auf. »Beim nächsten Mal prüft er nach, ob er auch wirklich getroffen hat.« »Ich bin müde. Weckst du mich, sobald wir aufbrechen?« »Ja.« Seltsamerweise überkam auch mich mit einem Mal eine bleierne Schwere. Statt zu dem Nordküstenbewohner zurückzukehren, streckte ich mich neben Dorak aus. Augenblicke später war ich eingeschlafen.
»Elektroschock«, sagte die Stimme. »Vorsichtig, der Zellaktivator darf keinen Schaden nehmen!« Noch immer war mein Körper schwer wie Blei. Mein Gesicht glühte, meine Zunge schien sich in einen aufgequollenen Klumpen verwandelt zu haben. »Rico«, murmelte ich, »lass mich endlich richtig aufwachen.« Der Roboter schlug auf mich ein, als wolle er alle meine Knochen brechen. Erst nach ein paar Hieben kam ich auf den Gedanken, dass es die Elektroschocks waren, die ich spürte. Was sie im Einzelnen bewirkten, konnte ich in diesen Augenblicken nicht sagen. Ich bekam wieder besser Luft, das Blut erhielt mehr Sauerstoff, und der Kreislauf stabilisierte sich.
Nach und nach kehrte mein Wahrnehmungsvermögen zurück. Ich blinzelte in das gedämpfte Licht der Schlafkammer, sah Schatten, die sich bewegten. Kegelförmige Schatten. Sie schwebten über und neben mir, durch Schläuche mit meinem Körper verbunden. Ich fröstelte leicht. »Was ist geschehen?«, ächzte ich. Aus dem Nichts hinter meinem Kopf tauchte der Roboter auf. »Eine Fehlfunktion der Kuppelpositronik ist die Ursache. Sie hat ohne ersichtlichen Grund den Erweckungsvorgang eingeleitet«, sagte Rico. »Die Prozedur wurde so schnell durchgeführt, dass du in Lebensgefahr geraten bist, Gebieter.« »Die Kuppelpositronik – der oberste positronische Koordinator meines unterseeischen Stützpunkts also.« Auf den Rechner war bisher immer Verlass gewesen, eine Fehlfunktion musste schwerwiegende Ursachen haben. Ich versuchte mich mit den Armen abzustützen und mich aufzurichten. Stechender Schmerz jagte vom Nacken in den Kopf und ließ mich halb bewusstlos werden. »Vielleicht ein Raumschiff …« Mein Atem ging rasselnd. Ich bekam einen Hustenanfall und spuckte Schleim. Mein Extrasinn meldete sich. »Narr! Langsam wird es bei dir zur fixen Idee.« »Die Fehlfunktion …« Ich klammerte mich an den Gedanken wie ein Ertrinkender, der sich an einem Strohhalm festzuhalten sucht. Der Logiksektor schwieg wie immer, wenn er mich für einen hoffnungslosen Fall hielt. Ähnlich fühlte ich mich auch. Ich starrte Rico an, dessen Gesicht von meiner Position aus auf dem Kopf stand, das Kinn oben, die Stirn unten. Mit einem Finger strich er mir eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wasser! Ich …« »Vorsicht!«, warnte einer der Medoroboter leise. »Der nächste Blutdruckabfall kündigt sich an.« Das kühle Getränk, das Rico mir gab, weckte die Lebensgeister meines Gaumens und Rachens. Aber gleichzeitig versickerten meine Gedanken, zog sich das Blut aus dem Kopf zurück wie die weichende Flut vom Ufer.
»Rico …« »Kämpfe weiter, Gebieter! Hilf uns dabei, den Tod zu besiegen! Deinen Tod!« Ich hätte es so gern getan, aber ich war zu schwach. Es hielt mich nicht mehr auf den Beinen. Ich klammerte mich an Dorak, den tapferen Jäger. Er konnte sich selbst kaum noch aufrecht bewegen, dennoch stützte er mich. Und dann stürzten wir gemeinsam auf den felsigen Untergrund, holten uns Abschürfungen und Prellungen. Wie lange wir dalagen, ich wusste es nicht. Jegliches Zeitgefühl war mir abhanden gekommen. Irgendwann erhielt ich einen Faustschlag in die Seite – eigentlich eher ein kraftloser Stoß, der mir dennoch die Luft aus der Lunge trieb. »Ich – rieche – Wasser«, stöhnte Dorak. Ich starrte auf das zerschundene Gesicht und das wirre Haar. Nichts war von der herrlichen Turmfrisur übrig, die er bei unserem Aufbruch mit Stolz getragen hatte. »Komm mit, Atlan!« »Wasser! Ah!« Er kroch vorwärts, Zentimeter um Zentimeter. Ich versuchte ihm zu folgen, so gut es ging. Bald war er mir um Meter voraus, und irgendwann sah ich ihn weit weg bei den Felsen. Fast mühelos räumte er sie zur Seite, während ich mit blutigen Fingern über den eiskalten Boden kroch. Mit letzter Kraft robbte ich voran. Als ich den Felsriss erreichte, war Dorak längst weitergegangen. Ich tauchte die Hände in das herrliche Quellwasser und schöpfte von dem erquickenden Nass. Zehnmal trank ich, dann spürte ich die erste Reaktion meines Körpers auf die unerwartete Erfrischung. Es gelang mir, mich ein wenig aufzurichten und mich an die Quelle zu knien. Ich hielt die Hände zusammen und schöpfte dadurch effektiver aus der Quelle. »Trinke nicht zuviel davon! In großen Mengen kann auch Wasser tödlich sein!« In diesen Augenblicken war es mir egal. Das Wasser aus der Quelle besaß auf geheimnisvolle Weise Heilkraft. Die Abschürfungen an den Händen verschwanden wie von Geisterhand. Frisch gestärkt machte ich mich auf den Weg und folgte Dorak, der eine deutliche Spur auf dem Untergrund hinterließ.
Ich sah ihn am Fuß des Felsmassivs liegen. Er hatte den Abgrund nicht bemerkt und war abgestürzt. »Dorak, nein!«, schrie ich, so laut ich konnte. »Du darfst ebenso wenig sterben wie ich!« »Rapider Blutdruckanstieg«, sagte eine Stimme über mir. »Den nächsten Anfall wird er nicht überleben. Da hilft auch sein Zellaktivator nichts mehr.« Ich spürte Schläuche in der Nase, die Medos führten mir zusätzlichen Sauerstoff zu. Nach ein paar Minuten ging es mir deutlich besser. Ich drehte den Kopf und hielt nach Rico Ausschau, aber er war nicht da.
»Die Nieren versagen, die Leber ist stark angeschwollen.« Die Worte schienen von überall her zu kommen. »Wir leiten die Entgiftung ein.« »Erste Transfusion startet.« Mein Bauch schmerzte. In der Mitte meines Rumpfes schien ein Stein zu sitzen. Ich versuchte die Augen zu öffnen, aber es gelang mir nicht. »Es kann so nicht ewig weitergehen!« Gleichzeitig war mir klar, dass ich keine Möglichkeit hatte, es zu beeinflussen. Ich konzentrierte mich, bemühte mich gleichmäßig und tief zu atmen. Nach kurzer Zeit aber verließ mich die Kraft. Ich schaffte es einfach nicht. Was hatte Rico gesagt? »Hilf uns dabei, den Tod zu besiegen! Deinen Tod!« Bei allen Göttern Arkons, wie viele Jahre war das schon her? Hundert? Tausend? Ich versuchte, nicht auf die Stimmen zu achten, die hin und wieder Bemerkungen von sich gaben. »Kontrolliere deinen Puls. Du kannst das. Dein Zellaktivator unterstützt dich dabei!« Das lebenspendende Ei auf meiner Brust diente vor allem der fortwährenden Zellerneuerung und damit der Lebensverlängerung. Wie lange der Aktivator seinen Dienst tun würde, wusste ich nicht. Es erschien mir daher angebracht, von relativer Unsterblichkeit zu sprechen.
Der Aktivator schützte auch nicht vor einem gewaltsamen Tod. Ich musste selbst auf mich aufpassen und mich Tag für Tag aufs Neue dieses Gerätes würdig erweisen. Jetzt! In diesen Stunden und Tagen oder Jahren. Ein Stich in der Herzgegend erinnerte mich an die Gefahr, in der ich schwebte. Ich richtete meine Sinne nach innen, versuchte die Vorgänge in meinem Körper zu erkennen. Dass meine Organe reihum versagten, konnte gar nicht sein. Eher stimmte die Steuerung durch das Gehirn nicht. Der zu schnelle Vorgang des Erwachens … Die Elektroden an meinem Kopf – die Roboter versuchten alles, um mir zu helfen. Aber ich musste mir auch selbst helfen. »Du hast die Kraft! Nutze sie!« Ich redete mir etwas ein, aber dann überwand ich meine inneren Vorbehalte gegen mich selbst. »Was esse ich am liebsten? Welchen Wein trinke ich gern?« Selbst das Denken fiel mir immer schwerer. Ich versuchte die Gedanken festzuhalten, doch sie entglitten mir. Ich vergaß die Fragen. Die Hitze in meinem Kopf zehrte sie auf. Alles in mir loderte wie Feuer. »Der vierte Anfall steht unmittelbar bevor.« Diesmal verstand ich die Worte deutlich und klar. Aber der Flammenfraß in meinem Innern blieb. Mühsam kletterte ich den Felshang hinab, bis ich Dorak erreichte. Er lebte noch. Wieder hatte sein gefüttertes Wams mit den eingearbeiteten Steinen ihn vor dem Schlimmsten bewahrt. »Komm, ich helfe dir auf«, sagte ich. Er wandte mühsam den Kopf in meine Richtung. Ich sah, dass Blut aus Mund und Nase lief. Hastig kniete ich bei ihm nieder. »Es wird alles gut!« »Ja«, ächzte er. »Aber einer muss gehen. Ich bin an der Reihe!« »Du wirst nicht sterben, hörst du?« »Wer will es mir verbieten?« »Komm, ich helfe dir auf!« Ich wollte ihn unter den Armen fassen, ihn an die Felswand setzen und ihm meinen Aktivator umhängen. Schon einmal hatte ich ihn damit vor dem sicheren Tod bewahrt.
Er wehrte sich, aber dann zog er doch die Beine an den Körper und unterstützte mich in meinem Bemühen. »Zu spät«, stöhnte er. Entgeistert starrte ich auf die Gestalt, die ich in meinen Händen hielt. Es war nicht Dorak, ich war es selbst. »Aber …!« Jemand zog einen Vorhang beiseite, den ich bisher nicht bemerkt hatte. Wieder sah ich silbernes Licht – und Roboter, in deren Tentakeln ich hing. »Exitus abgewehrt«, hörte ich wieder die robotische Stimme sagen. »Wir geben ihm erneut Sauerstoff!« Noch immer fassungslos ließ ich es über mich ergehen. Dieses Mal befestigten sie eine Atemmaske auf meinem Gesicht und legten mich zurück auf die dick gepolsterte Liege. Ich war noch immer in der Schlafkammer, die längst einer multifunktional ausgestatteten Medostation glich. »Ich bin müde.« »Dann schlafe, Erhabener!« Undeutlich sah ich das Bioplastgesicht des Roboters am Fußende des Bettes. Ich schloss die Augen und schlief ein paar Sekunden. Als ich sie wieder öffnete, spürte ich die Kraft, die in meinen Körper zurückströmte. Das Pochen des Aktivators war leiser, lange nicht mehr so heftig wie zuvor.
Rico war da. Er stand neben mir. »Es geht dir besser, Gebieter. Deine Körperwerte normalisieren sich.« »Ich bin gar nicht mehr müde …« »Kein Wunder, Erhabener. Du hast drei Tage und drei Nächte an einem Stück durchgeschlafen.« »Das kann nicht sein.« »Ein Narkoseeffekt«, sagte der Roboter zu mir. »Deshalb kommt es dir vor, als seien es nur Augenblicke gewesen.« Ich stemmte mich mit den Ellenbogen ein Stück hoch, es klappte sogar. »Wieso …« »Ich weiß es noch immer nicht«, gab Rico zur Antwort. »Die Kup-
pelpositronik ist wieder intakt, alle Systeme arbeiten normal. Die Fehlerquelle konnte bislang nicht lokalisiert werden. Sie wird noch gesucht. Hier, trink, Gebieter!« Er reichte mir einen vollen Krug mit rotem Wein. Im Augenblick war es mir gleichgültig, ob er synthetischen Ursprungs war oder nicht. Er schmeckte so köstlich wie der, den ich im Zweistromland genossen hatte. Ich trank ein paar Züge, dann rebellierte mein Gaumen, und ich verlangte nach Wasser. »Das überhastete Erwachen hätte mich das Leben kosten können«, sagte ich leise. »Sobald ich mich erholt habe, mache ich mich auf die Suche nach der Ursache des Programmfehlers.« »Überlass das getrost mir, Gebieter.« Ich drehte mich herum. »Hilf mir auf!« Er fasste mich unter den Armen und setzte mich an die Bettkante. »Wie viel Zeit ist seit meiner letzten Wachphase vergangen?« »Zweihundert Larsaf-Drei-Jahre.« »Und du bist dir ganz sicher, dass die Kuppelpositronik mich nicht geweckt hat, weil auf dieser Welt etwas Wichtiges vorgefallen ist?« »Ganz sicher.« Ich machte Anstalten aufzustehen. Rico reichte mir den Arm. Drei Anläufe brauchte ich, bis die Beine mich endlich trugen. Eine Weile gingen wir langsam in der Schlafkammer hin und her, immer unter den wachsamen Linsen und Scannern der Medoroboter. »Ich werde ein paar Tage trainieren und dann an die Oberfläche zurückkehren«, kündigte ich an. »Das empfehle ich nicht«, meinte der Roboter. »Da dein Körper wieder normal funktioniert, brauchst du den Heilschlaf dringender denn je.« »Du hast schon alles veranlasst?« »Ja. In drei Stunden ist es soweit. Zusätzliche Redundanzsysteme werden dafür sorgen, dass es kein zweites Mal zu einem solchen Vorfall kommt.« »Die Redundanz der Redundanz also.« Rico kannte mich längst in- und auswendig und hörte den Sarkasmus in meiner Stimme nur zu deutlich.
»Sei unbesorgt, Erhabener. Ich werde über dich wachen!«
Drei Stunden begleitete er mich durch die Kuppel, und in dieser Zeit beschäftigten sich meine Gedanken mehr mit dem Roboter als mit meiner neuerlichen Schlafphase. Rico war immer in meiner Nähe gewesen. Anfangs, vor etlichen tausend Jahren, mochte er noch ein simpler Roboter für mich gewesen sein. Inzwischen war er weit mehr; ein Begleiter und Wächter, ein Ratgeber. Und eine wichtige Stütze auf dieser Welt, wenn mich die Hoffnungslosigkeit umfing und ich alles verloren glaubte. Mit diesen Gedanken kehrte ich in die Schlafkammer zurück, wo die Roboter bereits alles für meine Ankunft vorbereitet hatten. Ich legte mich hin, sah ihnen zu, und nach einer Weile verschwammen die Kegelgestalten vor meinen Augen. Nur Ricos Gesicht blieb deutlich, weil direkt über mir. »Schlafe gut, Erhabener«, verabschiedete er sich. »Bis später, Freund!«, murmelte ich.
Kapitel 1 Ich erwachte und zuckte wie unter einem starken elektrischen Schlag zusammen. »Wo bin …« »Im Bett, wo sonst!« meldete sich der Extrasinn mit eindeutigem Unterton. Ich schwitzte stark, atmete hastig wie nach einer großen Anstrengung. Jahrtausende alte Erinnerungen hatten sich an die Oberfläche meines Bewusstseins gedrängt, aus irgendeinem Grund … Der Störfall der Kuppelpositronik und die meine Heilung fördernden Fragmente frühzeitlicher Abenteuer – erneut brach alles über mich herein. Mein Erinnerungsschatz besaß Dimensionen, die ein Terraner nicht einmal erahnen konnte. Die Erlebnisse und Erfahrungen von mehr als elftausend Jahren machten mich zu einem wandelnden Geschichtsbuch, zu einem Vergangenheitsspeicher ohnegleichen. Und mein fotografisches Gedächtnis sorgte dafür, dass nichts verlorenging, sondern für alle Zeiten aufbewahrt blieb. Nicht immer konnte ich bei diesen Erinnerungsschüben Gegenwart und Vergangenheit strikt trennen, ab und zu gab es Überschneidungen. Und manchmal brauchte ich Tage, bis sich mein aufgewühltes Inneres beruhigt hatte. Mit einem Zipfel meines Betttuchs trocknete ich den Oberkörper. Wie sehr mich der Traum mitgenommen hatte, zeigte das leichte Pochen des Aktivators an der Brust. Neben mir tauchte aus den Kissen ein Kopf mit kurzem, schwarzem Haar auf. Die Augen, die mich besorgt musterten, waren nicht grün wie beim Einschlafen, sondern leuchtend blau, zwei funkelnde Edelsteine im Halbdunkel des Schlafgemachs, Decaree Farous colorvariable Kontaktlinsen. »Was ist?«, fragte sie schlaftrunken. »Nichts, ich habe nur schlecht geträumt. Schlaf weiter!«
»Ach so. Gute Nacht!« »Gute Nacht!« Ich legte mich auf den Rücken und starrte die Decke an. Auch ich war müde nach dieser langen Liebesnacht, und nach dem Traum fühlte ich mich wie gerädert. Aber an Einschlafen war nicht mehr zu denken. Die Eindrücke waren zu realistisch gewesen, zu tief und zu alarmierend. Damals … Wann genau war es gewesen? »Nach der heutigen Zeitrechnung im Jahr 778 vor Christus«, informierte mich der Extrasinn. Eine simple Fehlfunktion der Kuppelpositronik, deren Ursache nicht gefunden worden war. Ich grub in meiner Erinnerung und fragte mich, warum ich bisher nichts davon gewusst hatte. Waren es tatsächlich echte Eindrücke aus der Vergangenheit gewesen, oder doch nur ein simpler Traum, in dem sich Erlebnisse mit Wunschdenken vermischt hatten? Vielleicht hing der Traum auch mit den vielen ungeklärten Dingen der nahen Vergangenheit zusammen. Das spurlose Verschwinden der Hohrugk-Kühe von Lepso und von ihrer Heimatwelt Hohrugkheim beschäftigte mich ebenso wie das Ausbleiben der ESHNAPUR mit dem Museumskurator Cleany Havedge, die viereinhalb Monate nach meiner Rückkehr nach Quinto Center immer noch vermisst wurde. Beunruhigend blieben ebenfalls die Erkenntnisse über die seltsamen Schwarmwesen namens Illochim. Und da war auch noch Trilith Okt, das Schemawesen, das mit einem Zellaktivator um den Hals herumlief und mit dem ich mich am 1. Juli des kommenden Jahres auf Ertrus treffen wollte. Eine dumpfe Ahnung stieg in mir hoch, dass alle diese Dinge irgendwie zusammengehörten wie Teile eines Puzzles. Aber wie? Und vor allem: Würden wir jemals die Querverbindungen finden? Bestimmt nicht heute oder morgen. Vielleicht im nächsten Jahr oder in hundert Jahren. Wer konnte schon sagen, was die Zukunft brachte. Für einen Mann mit meiner Vergangenheit bestand kein Anlass, übermäßig neugierig darauf zu sein.
»Schlechte Nachrichten von Terrancona, Lordadmiral!« Ich warf einen Blick auf das Namensschild des Leutnants. Ugo Manzani stand da zu lesen. Dem Namen nach war er ein Terraner aus Südeuropa. Zumindest seine Vorfahren mussten im Grenzgebiet der früheren Nationalstaaten Italien und Jugoslawien gelebt haben. »Legen Sie mir die Aufzeichnungen auf mein Terminal«, antwortete ich. Er nickte und ging hinüber zum Halbrund der Funk- und Ortungsabteilung. Terrancona, einziger Planet der gelben Sonne Terranco, einer terranischen Kolonialwelt nahe dem Herrschaftsbereich der ZGU, der Zentral-Galaktischen-Union. Wir hatten dort ein halbes Dutzend USO-Agenten im Einsatz. Das Funkgerät an meinem Terminal erwachte zum Leben. »Hedrando spricht«, hörte ich eine hektische Stimme. »Mehrere hochrangige Politiker des Planeten sind bestochen worden und bereiten einen Umsturz vor. Es steckt allerdings nicht die ZGU dahinter. Wir konnten Agenten des Imperiums Dabrifa identifizieren und ausschalten. Dabei haben wir drei unserer Leute verloren.« Dabrifa also! Der Kolonialterraner hatte sich ebenso wie die Triumvirn des Carsualschen Bundes einen der Zellaktivatoren der in der Second-Genesis-Krise verstorbenen terranischen Mutanten unter den Nagel gerissen und herrschte seither als relativ unsterblicher Diktator über sein expandierendes Reich. »Nachricht erhalten und verstanden«, diktierte ich der Steuerpositronik. »Halten Sie die Stellung, so lange es geht. Mehrere Schiffe mit angeblichen Touristen sind unterwegs. Diese sind psychologisch geschult und werden versuchen, ein Klima des Vertrauens unter der Bevölkerung zu schaffen. Ein Umsturz muss unter allen Umständen vermieden werden.« Die Antwort verließ Quinto Center. Über eine Relaiskette aus Korvetten und Leichten Kreuzern nahm sie ihren Weg durch die Westside der Milchstraße, überbrückte die rund 19.000 Lichtjahre bis ins Terranco-System, wo sie in wenigen Stunden in dem geheimen
USO-Stützpunkt eintreffen würde. Terrancona durfte auf keinen Fall in die Hände eines Diktators fallen. Dabrifa, Carsual und ZGU stellten die drei größten menschlichen Sternenreiche dar, die aus ehemaligen terranischen Kolonien hervorgegangen waren. Sie umfassten sowohl ehemalige Welten des Solaren Imperiums als auch freie Planeten, die sich einem kleineren Bündnis hatten anschließen wollen und einfach geschluckt worden waren. Wie viele die Loslösung vom Solaren Imperium letztlich bereut hatten, darüber existierte keine Statistik. Diktatoren wie Dabrifa oder die drei Potentaten des Carsualschen Bundes Nos Vigeland, Runeme Shilter und Terser Frascati duldeten in ihren Imperien keine Abweichler. Ähnliches galt für die ZGU, die seit Jahrhunderten von 21 nur scheinbar demokratisch gewählten Kalfaktoren regiert wurden. Für das Solare Imperium und seinen Regierungschef Perry Rhodan war die Lage über den Jahrtausendwechsel hinweg dadurch nicht einfacher geworden. Das größte von Menschen regierte Staatsgebilde der Milchstraße sah sich einer immer stärkeren Konkurrenz gegenüber. »Aber es gibt ja noch die USO, kleiner Barbar von Larsaf III«, dachte ich. »Sei also unbesorgt!« Wir verstanden uns als übergeordnete Polizeitruppe der Milchstraße, als Galaktische Feuerwehr. Überall arbeiteten USO-Agenten daran, Krisenherde zu entschärfen und stellare Kriege zu vermeiden. Damit versuchten sie Stabilität in der Westside der Milchstraße zu sichern. Und damit halfen sie auch dem Solaren Imperium bei seiner Existenzsicherung. Die Zeiten, in denen die anderen raumfahrenden Völker die Koordinaten Terras noch nicht gekannt hatten, waren längst vorbei. Da half kein Bluff mehr, um das Solsystem vor einer Flotte von Springern oder Akonen zu schützen. Terra besaß aus diesem Grund eine schlagkräftige Flotte. Am besten garantierten jedoch politisch und wirtschaftlich stabile Verhältnisse den interstellaren Frieden zwischen den einzelnen Völkern und Machtblöcken. Genau hier sah ich die Hauptaufgabe der USO. Und ganz nebenbei sicherte diese Stabilität meinem eigenen, durch
Degeneration geschwächten Volk die notwendige Zeit und Ruhe, um den zivilisatorischen Tiefpunkt zu überwinden. Eines Tages würde auch Arkon wieder erstarken. Ich hob den Kopf und musterte die riesige Panoramagalerie des Abschnitts XII in der Hauptzentrale des fliegenden Mondes. Auf über hundert Segmenten waren hier aktuelle Bilder und Lageberichte aus allen möglichen Sektoren der galaktischen Westside eingeblendet. USO-Agenten lieferten Filme oder auch nur Funksprüche über das Geschehen in ihrem Einsatzgebiet. Keine 2000 Lichtjahre von Quinto Center entfernt, hatten Schiffe einer Springer-Sippe einen Agrarplaneten überfallen und die im Orbit für den Export eingelagerten Vorräte gestohlen. Mit den Besatzungen der Verladestationen hatten die Piraten kurzen Prozess gemacht. Da diese Vorräte vor allem für Siedler auf Extremwelten bestimmt gewesen waren, die ohne den Nachschub nicht existieren konnten, gerieten durch den Überfall Millionen von Lebewesen in Gefahr. Generaladmiralin Adin Aneesa hatte sofort eine Flotte aus zweihundert kleineren und mittleren Kampfschiffen vom Stützpunkt Korona 88 in Marsch gesetzt. Ihr Auftrag lautete, die Walzen der Springer zu stoppen und dafür zu sorgen, dass die gestohlenen Vorräte umgehend an ihren Bestimmungsort gelangten. Für die Mehandor, wie sich die Springer selbst nannten, würde die Strafe ziemlich drastisch ausfallen. Sie mussten nicht nur das Diebesgut zurückgeben, sie verloren auch die Verantwortlichen ihres Familienclans einschließlich des Patriarchen, denen vor einem ordentlichen Gericht der Prozess gemacht werden würde. Darüber hinaus war zu erwarten, dass das Gericht die Hälfte ihrer Walzenraumer dem geschädigten Planeten als Wiedergutmachungsleistung zusprechen würde. Raub, Mord und Totschlag durften sich nicht lohnen in einer Sterneninsel, deren Zukunft ein friedliches Miteinander sein sollte. So zumindest schwebte es Perry Rhodan und seinen Terranern vor. Ich war mir nicht sicher, ob mein Freund und Weggefährte seit über tausend Jahren dieses hohe ethische und moralische Ziel jemals erreichen würde. Zu hundert Prozent bestimmt nicht. Bisher schaffte er es nicht einmal bei den Menschen des Solaren Imperiums und
den aus ihnen hervorgegangenen Kolonialvölkern. »Atlan, richte deine Aufmerksamkeit auf Bild achtundsechzig!« Das war Decarees Stimme. Fast gleichzeitig tauchte ihr Kopf auf meinem Monitor auf. Ihre Augen leuchteten rot wie die einer Arkonidin. »Da ist irgend etwas im Gange, seit Tagen schon.« Der Bildausschnitt zeigte einen einzigen Datensatz. Ich fing an zu lesen. Mehrere USO-Agenten hatten auf Lepso und anderen Welten über fragwürdige Kanäle Wind von einem Informationshandel bekommen – nichts Ungewöhnliches, denn der Handel mit Informationen zählte zum alltäglichen Geschäft in der Westside. In diesem Fall war die Meldung aber durchaus dazu angetan, mir vor Anspannung Tränen der Aufregung in die Augen zu treiben. Ungläubig wischte ich mit dem Handrücken das salzige Sekret weg, das sich in den Augenwinkeln gebildet hatte. Am 10. Dezember, also in gut zwei Wochen, sollte eine Auktion stattfinden, bei der eine Vielzahl von brisanten Informationen über die USO verkauft werden sollte. Genaueres ließ sich bisher nicht ermitteln. Wer immer diese Information an andere weitergab, achtete auf ein Höchstmaß an Verschleierung. »Versucht, die Meldung möglichst weit zurückzuverfolgen«, sagte ich zu Decaree Farou. »Um alles andere kümmere ich mich.« »Verstanden!« Der Kopf verschwand vom Monitor, ich sah wieder das Bereitschaftszeichen der Biopositronik. Ich gab meinen Vorrangkode in das Terminal ein und aktivierte den Stillen Alarm für den 62 Kilometer durchmessenden Trabanten, der im Zentrum eines geheimen Raumsektors stand, den wir die Koordinatenspinne nannten. Informationen über die USO – mit Kinkerlitzchen würden sich die potentiellen Käufer nicht zufrieden geben. Bei einer Auktion stand viel Geld auf dem Spiel. Da mussten die Informationen von entsprechender Qualität sein. Für die USO stellte sich die Frage, woher die Informationen stammten. Wenn es sich um hochbrisantes Material handelte, kam nur Quinto Center als Herkunft in Frage. Ein Verräter? Der Agent einer fremden Macht?
Ich verhängte ein absolutes Nachrichtenverbot auf unbestimmte Zeit. Ab sofort durfte kein einziger Funkspruch mehr den Mond verlassen. Allerdings hatte ich keine große Hoffnung, dass sich der Abtrünnige durch ein unerlaubtes Funksignal verraten würde. »Eigentlich ist es unmöglich«, überlegte ich. »Alle USO-Agenten und USO-Spezialisten in Quinto Center sind handverlesen und werden jedes Mal überprüft, wenn sie den Mond verlassen oder zurückfahren. Und Quinto Center selbst ist eine uneinnehmbare Festung. Niemand könnte ungesehen in ihr Inneres vorstoßen.« »Und doch ist es passiert, denkst du? Es gibt noch andere Möglichkeiten, an Informationen über die USO zu kommen«, wandte mein Extrasinn ein. »Terra zum Beispiel.« »Du meinst, ich sollte nach Terra fliegen?« »Nur für den Fall, dass dein kleiner Barbar sich nicht mehr deutlich genug an dein Gesicht erinnern kann.«
Der Zentralbunker bildete das Kernstück der Hauptleitzentrale und damit den geometrischen Mittelpunkt des ausgehöhlten Mondes. Mit 400 Metern Durchmesser war er halb so groß wie die Hauptleitzentrale. Kampfroboter mit schussbereiten Strahlern säumten den Korridor, der zu einer der Identifizierungsschleusen führte – eine unmittelbare Folge des von mir ausgelösten Stillen Alarms. »Lordadmiral Atlan, optische Identifizierung positiv«, schnarrte die vorderste Maschine. »Bitte treten Sie in die Schleuse und verhalten Sie sich ruhig.« »Verstanden!« Das erste von vier Schotts öffnete sich. Ich trat ein. Im Innern der Schleusenkammer brannte gedämpftes gelbes Licht. Ein einzelner Sessel stand an der linken Seite. »Setzen Sie sich und entspannen Sie sich«, ordnete eine mechanische Stimme an. »Nur dann ist der Scan zuverlässig.« Ich tat, wie geheißen, sank in die weichen Polster und schaute die gegenüberliegende Wand an. Ein leichtes Flimmern auf der Netzhaut, mehr bemerkte ich vom Iris-Scan nicht. »Ihre Fingerabdrücke sind in Ordnung, die Iris ebenfalls. Entspan-
nen Sie sich weiter. Es folgt die Überprüfung der Individualschwingungen.« Der Vorgang nahm gewöhnlich ein paar Sekunden in Anspruch. Dieses Mal dauerte er Minuten. Vermutlich wiederholte der Automat ihn mehrmals, oder ich war innerlich zu angespannt. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, erkundigte ich mich, als schätzungsweise fünf Minuten verstrichen waren. »Bitte gehen Sie jetzt in die nächste Kammer«, sagte der Automat, ohne auf meine Frage einzugehen. Dafür war er nicht programmiert. Ich erhob mich und betrat den nächsten Schleusenraum. In ihm erfolgte eine Art Bewusstseinssondierung. Spätestens hier trennte sich die Spreu vom Weizen. Individualschwingungen konnte man mit hohem Aufwand imitieren, solche Fälle hatte es schon gegeben. Der Bewusstseins-Scan hingegen ließ sich nicht fälschen, es sei denn, die Person verfügte über entsprechende Parakräfte. Aber die wären schon zuvor bemerkt worden. »Extrasinn identifiziert«, meldete die Stimme nach ein paar Augenblicken. »Fotografisches Gedächtnis vorhanden. Scan erfolgreich. Bitte gehen Sie weiter!« Das dritte Schott öffnete sich. Automatische Hochenergiestrahler ragten mir entgegen – schussbereit. Obwohl selbst für die Einrichtung dieser Sicherungssysteme verantwortlich, begann ich mich ein wenig unwohl zu fühlen. »Bitte geben Sie Ihre Überrangkodes ein, Lordadmiral!« Ich trat an die Konsole vor der rechten Wand und führte die Prozedur zu Ende. Ein gelbes Lämpchen fing zu blinken an. »Zutritt gestattet«, verkündete die Stimme. Die schussbereiten Strahler wurden abgeschaltet. Ich ging weiter. Durch das sich nun öffnende letzte Schott betrat ich den Zentralbunker und suchte sofort das verkleinerte Pendant zur Hauptzentrale auf. Alle Systeme waren vorhanden, aber ebenso wie die Positronik arbeiteten sie autark, konnten jedoch im Fall einer Gefahr an die Systeme des Mondes gekoppelt werden. Ich setzte mich in den Kommandantensessel. Das Terminal aktivierte sich automatisch. »Höchste Prioritätsstufe«, sagte ich. »In Quinto Center befindet
sich möglicherweise ein Verräter. Suche und finde ihn.« Es konnte sich nur um einen hohen USO-Offizier handeln, einen Geheimnisträger also. In den vergangenen Jahrzehnten war nie einer von ihnen auffällig geworden. Ein Schläfer womöglich? Schläfer jedoch erwachten nie von selbst, sie benötigten einen Katalysator, der sie aktivierte, ein Kodewort in einer Funkbotschaft oder etwas Ähnliches, das den meist hypnotisch verankerten Befehl auslöste. »Ihr Auftrag wird bearbeitet, Sir«, bestätigte die Positronik. Jetzt hieß es erst einmal warten. Es konnte Tage oder schlimmstenfalls Wochen dauern, bis die Zahl der in Frage kommenden Personen so deutlich eingegrenzt war, dass sich erste Verdachtsmomente erkennen ließen. Ich hatte nicht vor, so lange untätig herumzusitzen. Adin Aneesa? Unvorstellbar. Sie gehörte zu den ranghöchsten Offizieren und war über jeden Zweifel erhaben. Und Decaree Farou? Für sie galt dasselbe. Wie immer in solchen Fällen war mein Extrasinn anderer Meinung. »Frauen sind deine große Schwäche! Wenn sie dich nur nicht enttäuschen!« »Und selbst wenn«, gab ich zurück. »Auf meinen Instinkt und meine Erfahrung konnte ich mich immer verlassen.« Noch ehe ich den Gedanken zu Ende geführt hatte, erkannte ich, dass ich dieses Spiel verloren hatte. »Schach matt, Kristallprinz! Du weißt, warum?« »Mirona Thetin!« Bei der Tefroderin war ich blind vor Liebe gewesen bis zum bitteren Ende. Selbst als es längst klar gewesen war, dass nur sie Faktor I der Meister der Insel sein konnte, hatte ich die Augen davor verschlossen. »Melde dich, sobald du ein erstes Ergebnis vorliegen hast.« Ich verließ den Zentralbunker und kehrte in die Hauptzentrale zurück. Die Zahl der Bildausschnitte auf dem Panoramaschirm hatte sich verdoppelt, ein deutliches Zeichen, dass von überall her Meldungen und Nachrichten eintrafen. In meinem Briefkasten fand ich eine persönliche Nachricht von Decaree. »Was macht dein japanischer Garten?« »Er wartet nur darauf, dass du mit mir einen Tee dort trinkst.
Heute Abend?« Ihre zustimmende Antwort traf gleichzeitig mit einer verstümmelten Botschaft ein, die mich über eine der Relaisketten erreichte. Sie war an mich persönlich adressiert, deshalb lief sie nicht über die offiziellen Stellen von Quinto Center, sondern landete direkt in meinem Terminal. Die Positronik vermochte die einzelnen Worte der Botschaft nicht zu rekonstruieren und schloss daraus, dass der Sender fehlerhaft gearbeitet hatte oder der Funkspruch beim Absenden unter einen Störeinfluss geraten war. Lediglich einen einzigen Begriff hatte der Automat rekonstruieren können: Sami Gel. So sehr ich mein fotografisches Gedächtnis anstrengte, ich kannte keine Person und keinen Ort dieses Namens, auch keine Substanz, die so hieß. Also versuchte ich es mit Fuzzy-Logik und klapperte alle Begriffe ab, die Sami Gel in irgendeiner Weise ähnlich waren. Einen einzigen fand ich. Sami Gel konnte nur Sao Miguel sein. Das Kodewort »Sao Miguel«! Für einen Moment stand ich wie erstarrt. Dann versenkte ich mich in eine Dagor-Übung, die mir schon oft geholfen hatte, meine Fassung wiederzufinden. »Sao Miguel!« Die Botschaft war eindeutig. Ich musste sofort handeln. Meine Finger flogen nur so über das Eingabefeld des Terminals. »Decaree, Japanischer Garten muss warten!« Ich stellte eine Verbindung mit der Biopositronik her. »Decaree Farou kommandiert bis auf Widerruf Quinto Center. Ihre Stellvertreterin ist Adin Aneesa. Ich werde in einer dringenden Angelegenheit auf Terra erwartet.« Eine halbe Stunde später verließ mein fernflugtaugliches Kleinschiff, die GENUVIE, den Mond und begab sich auf die 28.444 Lichtjahre lange Strecke.
Galbay-Informationshandel 1
»Wer am meisten bietet, erhält den Zuschlag. Die Zeit läuft …« Kensington Bloom ließ unauffällig die kleine Schachtel mit den Metallplättchen fallen. Sie prallte auf die hellgraue Fliese. Vermutlich lösten die Plättchen dort irgendeinen Kontakt aus. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Bloom den Eindruck, als habe er am Rand seines Gesichtsfeldes einen kleinen Blitz gesehen. Lichtreflexion einer Linse? »Sie fotografieren«, murmelte er kaum hörbar, »das hatten wir nicht verabredet.« Der einen Meter siebzig große Mann mit dem kurzen braunen Haar und dem voluminösen Schnauzbart ging weiter. An der nächsten Säule aktivierte er das Info-Fon in seiner Gürtelschnalle. »Sie befinden sich auf der Südseite der Straße der Herrlichkeit«, verkündete eine angenehme weibliche Stimme. »Schauen Sie über die Straße, dann erkennen Sie auf der anderen Seite das Mausoleum der Dabrifas. Seine Erhabenheit, Imperator Shalmon Kirte Dabrifa, lässt darin alle seine verstorbenen Familienangehörigen beisetzen. Ein Stück weiter rechts erhebt sich ein Gebäude, das einem langgestreckten Ei ähnelt. Darin lagern die Insignien des Imperators.« Bloom tat, als sei er beeindruckt. Auf Nosmo musste man damit rechnen, an jeder Ecke beobachtet oder gefilmt wurde. Gemütlich ging er weiter, wählte einen der Tunnel, die auf die andere Straßenseite führten, und schlenderte eine belebte, unterirdische Einkaufspassage entlang. Von wegen Insignien des Imperators. In dem Ei befand sich derzeit das Hauptquartier der Schwarzen Garde, der Organisation der Agenten Seiner Erhabenheit im Außendienst. Seit dem schmählichen Verrat ihres Anführers Artemio Hoffins unterstand die Garde Dabrifa persönlich. Bloom hielt unauffällig nach Kontaktleuten Ausschau. Der alte Mann mit dem Schwebekorb vielleicht, oder der Junge ohne Schuhe … Nichts leichter, als jemandem im Gedränge einen Kristall, einen Chip oder einen schlichten Zettel mit Informationen zuzustecken. »Die historische Einkaufspassage der Hauptstadt Dabrifala stammt aus dem ersten Jahrzehnt der Besiedlung. Sie wurde damals
den Passagen terranischer Städte nachempf…« Es rauschte im Empfänger, Bloom kannte diese typischen Effekte eines schwachen Störsenders. »Gehen Sie bis zum Eingang der Mediana. Rechts daneben befindet sich eine schmale Gasse. Folgen Sie ihr. Sie erhalten dann weitere Anweisungen …« Wieder das Rauschen. »… ist die Passage eine der bestbesuchten der 615 Planeten unseres glorreichen Imperiums.« Mediana – Bloom bog ab, wobei er sich unauffällig umsah. Er konnte niemanden entdecken, der ihn beobachtete oder ihm folgte. Die Mitarbeiter des hiesigen Geheimdienstes hatten es nicht nötig. Sie waren hier zu Hause, kannten jedes Fassadensegment und fanden zweifellos Mittel und Wege, unsichtbar zu bleiben. Auch ohne Deflektorschirm. Die Gasse führte in den hinteren Teil eines Gebäudes. Hohe, durchsichtige Wandelemente ragten im Innern auf, grenzten Geschäfte von Restaurants und Cafés ab. Dazwischen sorgten Antigravlifte für einen reibungslosen Publikumsverkehr. Aus dem Nichts tauchte vor Bloom ein Hologramm auf. »Rechts abbiegen!« Er tat es und folgte dem Korridor bis zu der einzigen Tür am hinteren Ende. Sie öffnete sich automatisch. Er betrat einen Raum mit einem Stuhl und einem positronischen Terminal. Vorsichtshalber blieb er auf halbem Weg zwischen der Tür und dem Stuhl stehen. »Du willst also Informationen«, erklang eine verzerrte Stimme von der Decke. »Was für Informationen?« »Ich dachte, das sei klar. Ihr habt mich doch herbestellt, um mir ganz bestimmte Informationen zu geben.« »Beim Imperator, da muss ein Irrtum …« Kensington Bloom begriff blitzschnell, dass ihm die Kontrolle über die Situation vollends entglitten war. Er fuhr auf dem Absatz herum und stürmte zur Tür. Sie öffnete sich halb, dann blockierte sie. Er zwängte sich hindurch und rannte den Korridor zurück. Eine Falle? Ein Versehen? In den Kreisen, in denen er sich bewegte, gab es Letzteres nicht. Also eine Falle! Auf der linken Seite wurde die Wand durchsichtig. Ein Zugstrahl packte ihn und riss ihn durch die Projektion in den angrenzenden
Raum. Er fand sich auf einer Antigravscheibe wieder, die mit hohen Werten beschleunigte. Sie raste über eine Rampe abwärts in den Teil des Gebäudes, der unter der Oberfläche lag. Bloom klammerte sich am Haltegriff fest und spähte über die Schulter. Noch folgte ihm niemand, aber das konnte nur eine Frage der Zeit sein. Vor ihm entstand ein Hologramm aus dem Boden der Scheibe. Es zeigte einen Mann in einem nichtssagenden grauen Anzug. Der Kopf und das Gesicht waren digital verzerrt. »Tut mir leid«, erklärte die ebenfalls verzerrte Stimme. »Es gab Probleme. Ich konnte nicht schneller reagieren.« Bloom zählte zwei und zwei zusammen. Der Unbekannte hatte ihn in ein Gebäude bestellt, in dem sich offensichtlich Dabrifas Leute aufhielten. Folglich war er einer von ihnen. Gleichzeitig arbeitete er aber auch für Galbay. Kensington Bloom hatte es mit einem Doppelagenten zu tun. »Mir bleiben nur Sekunden, sonst fliegt meine Tarnung auf«, erklang die Stimme hastig. »Dein Kontaktmann ist Ebner Walsh in Densington.« Die Stimme verstummte, die Antigravscheibe beschleunigte und flog auf die Außenwand des Gebäudes zu. Sie durchdrang sie mühelos. Bloom sah eine Straße über sich, die Scheibe jedoch hielt auf eine Tiefgarage zu. Dicht an der Außengrenze kam sie zum Stehen. »Klettere hinüber«, empfahl der Steuerautomat. Bloom schwang sich über die Brüstung. Die Scheibe entfernte sich eilig und verschwand Augenblicke später hinter einem Deflektorfeld. Mit schnellem Blick entdeckte der Agent das Hinweisschild zum Transmitterraum. Zwei Minuten später war er schon in Densington.
Von der ersten Stunde an hatte Kensington Bloom das Gefühl, als würde er überall beobachtet. Er schlüpfte in ein öffentliches Kommunikationszentrum und setzte sich an eines der Terminals. Unauffällig und mit eher gelangweilter Miene ging er die Meldungen der letzten Stunden durch.
»Toter Agent über Nosmo!« Bloom hielt den Atem an. »Die Sicherheitskräfte des Imperiums teilen mit, dass erneut ein Zugriffsversuch aggressiver fremder Mächte auf unsere Zentralwelt abgewehrt werden konnte. Der Agent einer feindlichen Macht ist bei dem Versuch ums Leben gekommen, heimlich auf Nosmo zu landen. Er rettete sich aus seinem brennenden Flugboot und verglühte in der Atmosphäre des Planeten.« Nosmo als Drehscheibe – Bloom war nicht naiv, aber in vollem Umfang erkannte er erst jetzt, worauf er sich eingelassen hatte. Wenn alle Interessenten beziehungsweise deren Beauftragte über Nosmo geschleust wurden, gab es ein heilloses Durcheinander. Absicht? Er zog sich ebenso unauffällig aus dem Gebäude zurück, wie er gekommen war, suchte einen öffentlichen Hygieneraum auf und vergewisserte sich, dass es keine Überwachungseinrichtungen gab. Dann zog er sein Besteck hervor, heftete den kleinen Spiegel an die Wand und setzte das Skalpell an. Nach ein paar Schnitten in seinem Gesicht lösten sich die Bioplastteile fast wie von selbst. Anschließend schälte Bloom einen Teil der Kopfhaut mit dem Haar ab und entfernte den Schnurrbart. Zuletzt entfernte er die Mikrofolien mit den künstlichen Fingerabdrücken von den Kuppen und befestigte neue daran. Die entfernten Teile legte er zusammen mit der ausgedienten IDKarte in ein Waschbecken. Nachdem er aus einer kleinen Phiole eine farblose, leicht rauchende Flüssigkeit darauf gegossen hatte, wartete er, bis sich alles aufgelöst hatte. Ein Strahl klaren Wassers beseitigte alle offensichtlichen Spuren. Zuletzt kämmte er das plattgedrückte schwarze Lockenhaar auf, wendete das Innere seiner Kombination nach außen und packte seine Sachen zusammen. Kensington Bloom von Baalstram war jetzt Hendrik Voltham von Plophos. Ihn hatten sie bei Dabrifas Garden nicht im Visier. Noch nicht, zumindest. Der Agent besuchte ein Infozentrum ein paar Häuser weiter. Hier tat er so, als kenne er den Namen nicht genau, den er suchte, probierte ein paar Eingabevarianten, lehnte sich kurz zurück, blickte
sich um und versuchte es noch einmal. Damit verhielt er sich wie viele Touristen auf allen möglichen Planeten der Galaxis. Inzwischen hatten sie den Hygieneraum vermutlich untersucht, möglicherweise Spuren seines Tuns entdeckt. Aber sie fahndeten wohl noch immer nach Kensington Bloom, der spurlos verschwunden war. Voltham rechnete aus, wie lange sie brauchen würden, um die Videoaufzeichnungen aus der Umgebung die Toilettenanlage auszuwerten. Höchstens ein paar Minuten! Endlich tauchte Ebner Walshs Name auf dem Bildschirm auf. Hendrik Voltham prägte sich die Adresse und den Kode der Wohnung ein, während er weiterscrollte und mehrere andere Namen weiter unten aufrief. Danach verließ er das Informationszentrum durch einen Seitenausgang. Voltham benutzte eines der unterirdischen Gleitbänder, um an sein Ziel zu gelangen. Dreimal musste er umsteigen, dann wies eine Leuchtschrift darauf hin, dass er sein Ziel erreicht hatte. Der Antigrav trug ihn hinauf in den vierzigsten Stock. Ebner Walsh erwartete ihn schon, ihn oder jemanden anders. Voltham flüsterte dem unscheinbar aussehenden Mann den Kontaktkode zu, während er laut »Guten Tag!« sagte. Walsh ließ ihn ein und schloss die Tür. »Man sucht nach Ihnen. Soeben ist ein Bild in den Nachrichten erschienen. Es heißt, es ginge um eine dringende Erbschaftsangelegenheit.« »Das kann man wohl sagen.« Die beiden Männer grinsten. »Nehmen Sie den hinteren Antigrav. Vier Stockwerke tiefer wechseln Sie in den Notschacht. Viel Glück!« Walsh flüsterte ihm den Zielort ins Ohr, dann war Voltham schon wieder draußen im Korridor und machte sich mit gesenktem Kopf auf den Weg. Als er im 36. Stock in den Schacht für Notfälle stieg, warf er einen kurzen Blick auf die Öffnung des daneben verlaufenden Müllsammelrohrs. Er war dankbar, dass er nicht diesen Abstieg benutzen musste. Abgesehen vom Gestank war man in Abfallschächten niemals dagegen gefeit, am Ende auf ein tödliches Desintegratorfeld zu
stoßen oder gar auf einen Konverter. Voltham hatte keine Ahnung, auf welche Weise die Nosmoner mit ihrem Müllproblem umgingen. Falls der Notschacht überhaupt einen Antigravprojektor besaß, dann war der auf jeden Fall abgeschaltet. Mühsam hangelte sich Voltham die Behelfsleiter aus Stahlspangen hinab. Unterwegs verpasste er sich blondes, mittellanges Haar, eine etwas flachere Nase, schmale Lippen, Kontaktlinsen mit dunkelbrauner Iris und erneut neue Fingerabdrücke, passend zur nächsten ID-Karte. Unten im Schacht aktivierte er die Mimikryfunktion seiner Jacke. Innerhalb von zwei Minuten verwandelte sich das dezente Lindgrün in ein kräftiges mit gelben Linien durchwirktes Blau. Er griff nicht gern auf diesen Trick zurück, denn nach drei Anwendungen war die kostspielige M-Funktion erschöpft, aber in diesem Fall musste es sein. In der Deckung eines üppigen Pflanzenarrangements suchte er sich einen Weg ins Freie, diesmal unauffälliger als bei der Hygieneanlage. So schnell würden sie seine Spur nicht wiederfinden, da war er sicher. Mergener hatte Glück. Als das Verschwinden des »glücklichen Erben« gemeldet wurde, hatte der Passagierliner nach Zenda schon fast den Orbit erreicht. Eric Mergener hatte seine Spur so gründlich verwischt, dass kein Wesen der Milchstraße ihm mehr auf die Schliche kommen konnte. Drei Passagen später erreichte Mergener das Genua-System. Er war nun als Handlungsreisender unterwegs, was er in gewissem Sinn auch war. Er kaufte und verkaufte Informationen, kannte sich in diesem Geschäft aus wie kein anderer und wusste, wie man aus Lappalien Sensationen machte. Die Rechnung dabei war einfach: Wenn die Lappalie tausend Solar einbrachte, dann verdiente man mit einer Sensation eine Million Solar oder mehr. Angesichts der schnellen interstellaren Verbindungswege, der Hyperfunkbrücken zwischen den Handelswelten und der ständig zunehmenden Konkurrenz durch Medienkonzerne wie Interbay oder Virtutrade wurde das Geschäft mit neuen Informationen von Tag zu Tag schwieriger. Die freiberuflich tätigen Informationshändler blieben als erste auf der Strecke. Manche flüchteten sich unter die Fitti-
che wichtiger Wirtschaftsorganisationen oder politischer Interessenverbände, die meisten aber gaben einfach auf und gingen fortan anderen Gewerben nach. Auch er selbst konnte längst nicht mehr ohne Regierungsaufträge auskommen. Kensington Bloom alias Hendrik Voltham alias Eric Mergener kannte alle seine Kollegen, vom Erfolgreichsten bis zum Verlierer. Gesichter und Namen merkte er sich wie kaum ein anderer. Und er hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Für ihn stand außer Zweifel, dass man in seinem Metier mit Anstand und Ehrenhaftigkeit auf Dauer nicht weiterkam. Letztlich zählte immer nur, was auf dem Bankkonto war. Auf welchen Wegen das Geld dorthin kam, spielte für den Mann mit den vielen Namen nur eine untergeordnete Rolle. Das Schiff setzte zur Landung auf Dronderfuss, dem vierten Planeten, an. Von dort brachten ihn zwei kostspielige Transmittersprünge über die interplanetare Schnellverbindung zum zweiten Planeten des Systems, der Hauptwelt Gendola. Nachdem er die Einreiseformalitäten erledigt hatte, suchte Mergener ein Restaurant in der Hafenpassage auf, wo er zu Mittag aß. Das Essen war vorzüglich, aber trotzdem schmeckte es ihm nicht. Woran es lag, konnte er nicht sagen. Eine Weile trug er sich mit dem Gedanken abzureisen, aber nach dem Nachtisch hatte er sich wieder im Griff. Mit einem Gefühl der Hochstimmung nahm er die Röhrenbahn nach Nepoltan, einer der Nordküstenstädte des Hauptkontinents. Ebner Walshs Koordinatenangabe führte ihn in ein Industriegebiet, in dem sich namhafte Konzerne wie Whistler oder die CTC angesiedelt hatten. Zwei Stunden lang ließ sich der Agent von den Transportbändern durch das Viertel tragen. Er hielt Ausschau nach möglichen Verfolgern oder Beobachtern, aber entweder gab es sie nicht oder sie versteckten sich so gut, dass sie selbst einem erfahrenen Mann wie ihm nicht auffielen. Wieder zögerte er. »Die Sache ist zu groß«, flüsterte er. »Zu groß für uns und zu groß für mich selbst. Wieso haben sie nicht auf mich gehört?« Er erreichte den Ort, den Walsh ihm genannt hatte. Ein bekannter Hersteller von Vakuumlegierungen, die im Raumschiffbau verwen-
det wurden, hatte hier seinen Sitz. Mergener sprang vom Band und betrat das Foyer. Zwischen durchsichtigen Kunststoffwänden wartete ein Roboter auf Besucher. Eric Mergener trat auf die Maschine zu und nannte seinen Namen. »Ich bin mit Mister Kentazza verabredet.« »Stets zu Diensten. Signore Kentazza hat sein Büro in der sechzehnten Tiefetage, Raum achtundvierzig.« Mergener fand das Büro auf Anhieb. Als er sich näherte, glitt die weiß glänzende Tür zur Seite. Statt eines Büros erstreckte sich vor ihm eine etwa vierzig Meter durchmessende Halle mit Maschinenanlagen. »Treten Sie ruhig näher, Mister Mergener«, erklang eine Stimme mitten in der Luft. »Folgen Sie dem mittleren Gang bis ans Ende.« Er tat es und blieb vor der Wand stehen, die langsam nach rechts wich. »Bitte treten Sie vor!« Hinter der Wand ragte der Torbogen eines sendebereiten Transmitters auf. Mergener machte die zwei Schritte nach vorn in die Abstrahlzone. Ohne dass der Agent davon etwas mitbekam, wurde er in ein Transportfeld gehüllt und zur Empfangsstation abgestrahlt. Für Mergener vergingen lediglich Sekundenbruchteile. Er glaubte den Sog der Entmaterialisation zu spüren, und noch im selben Atemzug trat er aus dem Empfangsgerät, als sei er durch eine Tür gegangen. Eric Mergener blinzelte in das grelle Scheinwerferlicht einer Studiolandschaft. Sand und Dünen türmten sich auf, dahinter wogte als Projektion das Meer. Aus den Lautsprechern drang synchron das Plätschern des Wassers. »Willkommen, Mister Mergener.« Mitten im Sand entdeckte er den ockergelben Strandkorb und die Gestalt in einem ockergelben Anzug. »Signore Kentazza?« »Ja, der bin ich. Treten Sie doch näher.« Der Agent sah sich um. Auf Gendola existierten seines Wissens keine bedeutenden Holo- oder Trividstudios. Folglich befand er sich in einer geheimen Anlage oder nicht mehr auf dem Planeten. Auf
dem Mond Phorus …? Mergener ging auf den Strandkorb zu. Je näher er kam, desto undeutlicher wurde die Gestalt in dem Korb. »Sie kommen wegen der Versteigerung, nehme ich an«, sagte die Person hinter dem Verzerrerfeld. »Natürlich. Meine Regierung hegt großes Interesse an diesen Informationen, vorausgesetzt, sie werden nur einmal versteigert.« »Haben Sie Erfahrungen mit solchen Geschäften?« »Selbstverständlich.« »In diesem einen Fall gibt es eine Einschränkung in den Bestimmungen, die ich Ihnen nicht vorenthalten will. Wir akzeptieren nicht alle Bieter, ungeachtet der Höhe ihres ersten Gebots.« »Das ist gegen die Regeln. Sie können Bieter vor der Auktion ausschließen, nicht aber nach der Abgabe eines Gebots.« »Ihre Regierung hat also schon geboten.« »Deutlich über dem Mindestgebot.« »Nun, lassen Sie es mich so sagen, Mister Mergener. Wir machen in diesem Fall – Sie sind sich doch der ungewöhnlichen Brisanz der Ware bewusst – unsere eigenen Regeln. Ihre Regierung wird nicht weiterbieten. Wenn doch, werden wir alle Gebote löschen.« »Das ist illegal!« »Wollen Sie mich belehren? Wir sind uns natürlich des Risikos bewusst. Sehen Sie, wir möchten nicht, dass die Fracowitz-Systemstaaten ein Höchstgebot abgeben. Abgesehen davon, dass sie gar nicht in der Lage wären, bis zum Schluss mitzuhalten, besitzen wir unsere eigenen Vorstellungen davon, wer mit den zum Verkauf stehenden Informationen etwas anfangen kann. Es hat uns einiges gekostet, an diese Informationen zu gelangen. Es wäre doch schade, wenn sie in irgendeinem Datenspeicher verrotten würden, weil der neue Besitzer sie nicht entsprechend nutzen kann.« »Das ist kriminell. Sie könnten gleich an eine bestimmte Organisation verkaufen, wollen aber zuvor den Preis kräftig in die Höhe treiben.« »Diese Informationen sind sehr viel wert. Sie müssen uns verstehen« »Wer wäre Ihnen als Käufer denn genehm?«
»Sagen wir es einmal so: Unser Wunschkandidat hat sich noch nicht zu einer Entscheidung durchringen können.« Eric Mergener knirschte mit den Zähnen, aber er sah ein, dass er hier nur noch seine Zeit verschwendete. Sein Instinkt hatte ihn von Anfang an gewarnt, jetzt musste er zusehen, dass er wenigstens seine Haut retten konnte. Er zuckte mit den Schultern und stapfte zum Transmitter zurück. »Zu teuer«, sagte die Stimme hinter seinem Rücken ohne erkennbare Gefühlregung. »Nehmen Sie die Tür dort drüben!« Da ihm nichts anderes übrigblieb, tat Mergener wie geheißen. Hinter der Tür führte ein Gang zum nächsten Antigrav. Der Agent ließ sich nach oben tragen. Er gelangte in einen kleinen Hangar, in dem ein einzelner Gleiter stand. Mergener suchte nach einer Tür, fand aber keine. »Sie müssen wohl oder übel mit dem Gleiter Vorlieb nehmen«, hörte er Kentazza sagen. Da der Hangar auch keine Schalttafel zum Öffnen des Schotts besaß, fügte Mergener sich schließlich in das Unvermeidliche. Er bestieg das Fahrzeug, das ihn geradewegs ins All trug. Ein Blick durch die Panoramakuppel des Fahrzeugs bestätigte seine Vermutung. Der Transmitter hatte ihn nach Phorus befördert. Wenig später tauchte hinter dem Horizont des Mondes der Planet auf. Im reflektierten Sonnenlicht zeichnete sich davor nah und drohend groß der Rumpf eines Transporters ab. Als der Gleiter einschleuste, wusste Eric Mergener endgültig, dass er verloren hatte. Gegen die Leute, die hinter der Auktion steckten, kam keiner an, egal, welchem Staatsgebilde er angehörte. Er packte seinen Notsender aus, zog die Teleskop-Verstärker-Antenne lang und versuchte, einen Notruf an den Planeten zu richten. Dort unten arbeiteten Fracowitz-Agenten. Wenn sie ihn schon nicht zu retten vermochten, konnten sie wenigstens seine Botschaft weiterleiten. Aber auch da hatte die geheimnisvolle Macht im Hintergrund vorgesorgt. Gleiter und Transporter waren abgeschirmt. Eine kleine Leuchtdiode seines Funkgeräts signalisierte, dass die Sendung reflektiert wurde. Der Gleiter öffnete sich, also stieg er aus und ging zu der einzigen
Tür, die es im Hangar gab. Sie führte in eine Art Aufenthaltsraum. Zwei Männer und eine Frau saßen darin. Als er eintrat, verzogen sie nur ihre Gesichter. »Noch einer!«, sagte die Frau. »Ich bin hoffentlich nicht der Letzte«, entgegnete Mergener. »Die verbleibende Zeit sollten wir nutzen, um uns in diesem Schiff umzusehen.« »Keine Chance, wir haben schon alles versucht. Die Wände sind zu dick, um sie aufzubrechen. Decke und Boden ebenfalls. Der einzige Weg führt über den Hangar ins All, aber wir besitzen keine Druckanzüge.« Eric Mergener sank auf einen der freien Stühle. »Wenn der Gleiter nochmals zurückfliegt, sollten wir alle an Bord sein. Zu viert können wir auf Phorus mehr erreichen als einer allein.« »Gehen Sie hinaus. Der Gleiter ist bestimmt schon weg.« Mergener sah nach. »Er ist noch da. Aber der Transporter beschleunigt. Ich spüre das.« Gemeinsam untersuchten sie den Hangar. Es gab tatsächlich keine weiteren Türen, dieser Abschnitt des Transporters war ein Gefängnis, eigens für sie hergerichtet. Der Aufwand, den man mit ihnen trieb, fand Mergener, ließ Rückschlüsse auf die Brisanz der Informationen zu. Er kletterte in den Gleiter und versuchte ihn in Gang zu setzen. Es gelang ihm nicht. An die Antriebssysteme kam er auch nicht heran, sonst hätte er versuchen können, ein paar Kontrollelemente zu überbrücken. Irgendwann gaben sie es auf und kehrten in den Aufenthaltsraum zurück. Hilflos und eingesperrt nutzten sie die Zeit für persönliche Gespräche, stellten sich einander vor. Zum ersten Mal traf Eric Mergener Agenten der Crysalis-Freibeuter, der Tarey-Bruderschaft und zweier kleiner Sternenbünde. Alle hatte man sie nicht für finanzkräftig genug gehalten, um an der Auktion teilzunehmen. Oder man traute ihnen nicht zu, die Informationen optimal verwerten zu können. Was aber verstand der Unbekannte darunter? Oder die Unbekannten?
Sechs Stunden später wurde es in dem Aufenthaltsraum langsam warm. Nach einer weiteren halben Stunde war es so heiß, dass sie es nicht mehr aushielten. Der Transporter hatte die Sonne Genua erreicht. Die vier Menschen wechselten in den Hangar, dort blieb es eine Weile erträglich. Dann erlitt der Agent der Freibeuter einen Hitzschlag, und Mergener legte sich mit dem Gesicht nach unten auf den leidlich kühlen Hangarboden. Aber auch hier hielt er die Hitze irgendwann nicht mehr aus. Dass das Hangarschott platzte und eine Druckwelle den Gleiter gegen die hintere Wand schleuderte, nahm Eric Mergener nur noch am Rande wahr. Er verlor das Bewusstsein.
Kapitel 2 »Geht es nicht schneller?« »Tut mit leid, Lordadmiral! Die Sicherheitsvorschriften …« Zorn stieg in mir hoch, aber gleichzeitig gab ich der Positronik Recht. Der Kurs des kleinen Schiffes führte in einem halben Dutzend kurzer Linearetappen aus dem Sektor hinaus, in dem Quinto Center stand. Danach schlug das Programm einen Kurs Richtung Milchstraßenzentrum ein, um dann aus dem Hoheitsgebiet der ZGU heraus in mehreren Zickzackmanövern Sol anzusteuern. Das Ganze kostete viel Zeit, mehr als mir zur Verfügung stand, aber es war für die Sicherheit des USO-Hauptquartiers unerlässlich. Endlich passierten wir einen der vorgeschobenen Sicherheitsposten zehn Lichttage vor Sol. Ein Schwerer Kreuzer tauschte Daten mit meiner Positronik aus und übermittelte den Anflugkurs. Als Oberkommandierender der USO hätte ich Sol auch direkt anfliegen können, aber ich wollte so wenig Aufsehen wie möglich erregen und zog einen der üblichen Einflugkorridore für Handels- und Passagierschiffe vor. Während die GENUVIE erneut in den Linearraum wechselte, beschäftigten sich meine Gedanken wieder mit dem verstümmelten Funkspruch. Das Kodewort »Sao Miguel« bedeutete Gefahr für die Unterwasserkuppel nahe den Azoren, die mir 10.000 Jahre lang als Ruhestätte und Zufluchtsort gedient hatte. Von diesem Schlupfwinkel aus hatte ich behutsam die Geschicke der Menschheit mitbestimmt. Als ich im Jahr 2040 wieder einmal die Kuppel verlassen hatte, um die Oberfläche zu erkunden, war alles geändert gewesen. Ohne dass ich dies erfahren hatte, waren Arkoniden auf dem Erdmond gelandet und hatten Perry Rhodan geholfen, die Konflikte zwischen den Nationalstaaten beizulegen und die Menschheit zu einen. Ich war aus den Tiefen des Meeres aufgetaucht und hatte anstelle eines von Kriegen zerrissenen Planeten ein wehrhaftes kleines Sternenreich vorgefunden, das noch junge Solare Imperium.
Die Kuppel hat damit ausgedient. Ursprünglich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, sie zu zerstören, aber eine innere Stimme hatte mich davon abgehalten. Wer konnte schon sagen, was die Zukunft brachte. Das wichtigste Argument war jedoch Rico gewesen. Der Roboter hatte mich in all den Jahrtausenden in der Kuppel betreut, sie war sein Lebensraum, seine Heimat. Rico war längst kein simpler Roboter mehr. In den Jahrtausenden auf der Erde hatte er sich weiterentwickelt, hatte sein autarkes Lernprogramm Algorithmen und Speichersektoren erzeugt, die ihn geradezu menschlich agieren ließen. Er zeigte Verständnis, Sorge, Freude. Er vermochte diese Gefühle in den passenden Situationen einzusetzen, vermochte seine künstliche Stimme leicht zu modulieren. Selbst sein menschliches Bioplastgesicht schien zu Regungen fähig zu sein. In unseren gemeinsamen Einsätzen an der Planetenoberfläche hatte er die Menschen genau studiert und es offenbar verstanden, bestimmte Dinge exakt in positronische Datenmuster umzusetzen. Mir war nie wirklich klar geworden, ob er auf seine positronische Weise echte Gefühle empfinden konnte, aber ich hatte mir ernsthaft die Frage gestellt, ob es ihm auf Arkon überhaupt »gefallen« würde. Vielleicht wäre er aus eigenem Antrieb in »seine« Kuppel zurückgekehrt. Über diese positronisch-mentalen Entwicklungen hinaus hatte er kleine plastochirurgische Veränderungen an seiner Körperoberfläche vorgenommen. Die Menschen der Erde hatten in meinem Begleiter einen ihresgleichen gesehen. Und ich? Rico war – ein Freund, ein Vertrauter. Gerade weil wir uns so selten trafen, freute ich mich auf jede Begegnung mit ihm und war sicher, dass es ihm umgekehrt ebenso erging. Mit Rico sprach ich über Dinge, über die ich sonst mit keinem Lebewesen dieser Galaxis hätte sprechen wollen. Er gab mir Ratschläge, und ich versorgte ihn mit Informationen, die in der Unterwasserkuppel so sicher waren wie im Zentrum einer Sonne. Zumindest hatte das bis gestern gegolten, als der kodierte Notruf eingetroffen war. Automatisch dachte ich an die Kuppelpositronik,
die offensichtlich 778 vor Christus schon einmal eine Fehlfunktion aufgewiesen hatte. War jetzt erneut ein Fehler aufgetreten? »Rückkehr in den Normalraum in dreißig Sekunden«, meldete die Positronik. Meine Blicke fraßen sich an dem Bildschirm fest, auf dem kurz darauf der gelbe Normalstern mit seinen neun Planeten auftauchte. Die solare Raumüberwachung erfasste die GENUVIE und dirigierte sie zu einer Einflugschneise, auf der sie in zwei kurzen Linearmanövern bis hinter die Bahn des vierten Planeten gelangte. Von hier ging es aus Sicherheitsgründen mit halber Lichtgeschwindigkeit weiter. Die alten Gefährten, die Wanderer durch die Zeiten, würden Augen machen, wenn ich unerwartet aufkreuzte. Tiff würde mir in seinem nach tausend Jahren immer noch jugendlich wirkenden Ungestüm Löcher in den Bauch fragen, während Galbraith Deightons Blicke mich wohl eher sezieren würden. Wer hätte das besser verstehen können als der Lordadmiral der USO. Galbraith war immerhin Chef der Solaren Abwehr. In den letzten Jahren war ich selten im Solsystem gewesen. Zu erkennen, dass ich kein Imitat, kein Androide oder Roboter war, sondern ein Arkonide aus Fleisch und Blut, erleichterte nicht nur Galbraith jedes Mal. Wenigstens musste ich mich keinen körperlichen und psychischen Strapazen unterziehen, bis meine Identität zweifelsfrei feststand. Auf einer nur mir zugänglichen Privatfrequenz traf ein Kontaktsignal ein. Der Bildschirm erhellte sich und zeigte ein Pelzwesen mit großen Ohren und einem vorwitzigen Dolchzahn. »Hallo, Gucky«, sagte ich. »Überrascht?« »Nicht die Karotte, Alter! Ausnahmsweise kommt dein Besuch dieses Mal nicht überraschend. Aber bestimmt hast du es nicht weniger eilig als sonst.« Er ahnte nicht, welchen Gefallen er mir durch diese Argumentation tat. Ich musste so nicht extra begründen, warum ich unangemeldet auf Terra erschien. Es reichte, wenn ich angab, dass ich es eilig hatte. »Du hast mein Schiff erkannt?« »Ist ja nur rund fünfzig Jahre her, dass du schon einmal mit der GENUVIE hierher geflogen bist. Mein fotografisches Gedächtnis …«
Er zog den Mund bis zu den großen Ohren und kicherte. »Aber um ehrlich zu sein: Die terranische Raumkontrolle ist besser als ihr Ruf. Die haben deinen Kahn ganz alleine identifiziert und sofort Meldung gemacht. Richtig zackig … Übrigens, wenn du landest, geht über Terrania gerade die Sonne unter. Ein paar von uns treffen sich bei Perry zum Abendessen. Ich gebe dem Servo schon mal Bescheid, dass er für eine Person mehr kochen soll.« »Danke für die Einladung.« Ich grinste verhalten. »An meinem Geschmack in Sachen Rotwein hat sich nichts geändert.« »Ist gebongt. Bis nachher!« Von einer der Raumstationen außerhalb der Mondbahn traf ein Peilstrahl ein. Die Positronik folgte ihm bis in einen hohen Orbit über der Erde. Die Flugkontrolle des Terrania Space Ports übermittelte die Landeerlaubnis, diesmal ohne Leitstrahl. Vermutlich hatte Gucky das arrangiert. »Danke Kleiner«, sagte ich. Es erlaubte mir, den Kurs nach eigenem Gutdünken zu bestimmen. Ich konnte Amerika und Europa überfliegen und beim Überqueren des Atlantiks unauffällig ein paar Mikrosonden ausschleusen. Als ich zwei Stunden später auf dem Raumhafen der Hauptstadt landete, arbeiteten die Systeme des kleinen Schiffes bereits intensiv an der Auswertung aller Informationen der vergangenen Tage. Die Positronik zapfte untergeordnete Systeme NATHANS an und bediente sich dabei des Umwegs über öffentliche Info-Systeme. Gleichzeitig nutzte die GENUVIE auch offizielle Datensysteme der Regierung, die mir als Lordadmiral der USO selbstverständlich zur Verfügung standen. »Ich bin in zwei bis drei Stunden zurück«, informierte ich die Positronik, als ich das Schiffchen verließ und in den wartenden Gleiter stieg. Bis dahin würde der Automat die Auswertung abgeschlossen haben.
In lässiger Haltung stand er unter dem Eingang, in Brusthöhe umgeben von einem halben Dutzend kleiner, scheibenförmiger Kommu-
nikationsroboter. Während ich ausstieg und den Gartenweg entlang schritt, hörte ich, wie er ihnen halblaut Anweisungen gab. Schließlich stoben sie ohne Ausnahme davon und erinnerten dabei mehr an aufgescheuchte Insekten als an Maschinchen. Perry Rhodan kam mir entgegen. Seine Augen leuchteten, aber sein Gesicht blieb ernst. »Hallo, Arkonidenfürst«, begrüßte er mich. Wir reichten uns die Hand und drückten sie lange. Dabei sahen wir uns an. Jeder versuchte, im Gesicht des anderen zu lesen. »Hallo, kleiner Barbar« antwortete ich leise. »Schwierigkeiten?« »Jeden Tag neue, jeden Tag mehr«, erwiderte er. »Komm herein, wir freuen uns über deinen Besuch.« »Auch ich freue mich, wieder mal bei euch zu sein. Falls es dich interessiert, ich bin privat hier, nicht in offizieller Mission.« Irgendwie schien er erleichtert. Sein Körper entspannte sich sichtlich, während er vor mir her ins Haus ging. Als die Tür sich geschlossen hatte, wandte er sich zu mir um. »Verstanden! Aber dafür wirkst du ziemlich angespannt«, meinte er. Mir selbst war es bisher nicht aufgefallen. Ich seufzte wie ein waschechter Terraner. »Es gibt eben Dinge, die einen aufrütteln, Perry. Aber es ist wirklich rein persönlich.« »Du willst uns da raushalten, danke!« Natürlich wusste man auf Terra ebenso über die geplante Auktion Bescheid wie anderswo. »Dabrifa und die ZGU werden immer dreister«, sagte Perry, während wir durch den Bungalow und hinaus auf die Terrasse gingen. »Sie versuchen Mitgliedswelten des Solaren Imperiums abzuwerben. Selbst vor Plophos und Epsal machen sie nicht Halt. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs.« Ein verlockender Duft nach Gegrilltem stieg mir in die Nase und weckte Erinnerungen an frühere Zeiten, als ich über den Feuern von Ninive Schafe geröstet hatte. Über allem lag das schwache Schimmern des Prallschirms, der erwärmte Luft über dem Garten festhielt. Immerhin herrschten Ende November auch in Terrania nicht eben sommerliche Temperaturen.
Wir erreichten die Terrasse. Eine Treppe führte zwischen dunklen Büschen hinunter zu einem dezent gestalteten Gartentor. Dahinter lag der Sandstrand des Goshun-Sees. Eine leichte Brise kräuselte die Wasseroberfläche. Tifflor und Deighton standen in einer Laube und bedienten den Elektrogrill. Ich trat zu ihnen und begrüßte sie. Galbraith Deighton musterte mich aufmerksam, während Julian Tifflor mir eine Bratwurst entgegenstreckte. »Hunger, Atlan?« »Wie ein Wolf«, bestätigte ich. »Aber lassen Sie uns warten, bis das Mahl beginnt, Julian.« Irgendwie schien es in ihren Ohren sehr förmlich zu klingen, denn sie brachen in schallendes Gelächter aus. »Man wollte glauben, Ihr Weg hätte Sie von einem frühterranischen Königspalast direkt hierher geführt, Atlan«, meinte Galbraith Deighton. Er ahnte nicht, wie nahe er der Wahrheit kam. »Seine Freundin schätzt es vermutlich nicht, wenn er mit vollem Magen bei ihr aufkreuzt«, versuchte Tiff mich aus der Reserve zu locken. Ich schüttelte fast unmerklich den Kopf. Von mir würden sie nichts erfahren. Ich kam mir zwar schäbig dabei vor, meine Freunde hinters Licht zu führen, aber in dieser besonderen Situation blieb mir nichts anderes übrig. Mittlerweile war es vollständig dunkel geworden. Der Mond stieg über den Dächern von Terrania empor und schickte sein silbernes Licht herab. Hier in der Nähe hatte alles angefangen. Hier war Perry Rhodan nach seinem ersten Mondflug gelandet und hatte mit Hilfe arkonidischer Technik einen Schutzschirm errichtet und die Dritte Macht ins Leben gerufen. Aus ihr war später – nach der Auflösung der Machtblöcke und der politischen Einigung aller irdischen Völker unter einer Weltregierung – das Solare Imperium hervorgegangen, inzwischen der bedeutendste Machtfaktor in der Westside der Galaxis. Ich entdeckte eine Gestalt, die den Sandstrand entlang glitt. Als sie näher kam, sah ich, dass sie einen Zentimeter über dem Boden schwebte. Gucky war mal wieder zu bequem, zu Fuß zu gehen.
»Ihr glaubt ja nicht, wie schmutzig der Sand in diesem Abschnitt ist«, piepste er schon von weitem. »Perry, deine Roboter könnten ruhig mal den Dreck wegräumen.« Ich wandte mich um und sah den Freund vor einem fliegenden Terminal stehen. Auf dem Bildschirm zeichnete sich das Gesicht Reginald Bulls ab. »Nein, Bully«, hörte ich ihn sagen. »Mit Waffengewalt lösen wir das Problem nicht. Ich schicke einen Unterhändler.« »Sie werden ihn töten!«, rief Bully empört. »Das lasse ich nicht zu.« »Dann schicken wir ihnen eben einen Roboter! Den können sie von mir aus demontieren und einsalzen.« Ich hörte, wie Bully schnaubte. Dann unterbrach er die Verbindung. »Der Staatsmarschall ist ganz in seinem Element«, lächelte ich. »Lass mich raten, Bully hat für heute Abend abgesagt.« Perry nickte kaum merklich. »Er und einige andere.« Hörte ich da etwas wie Resignation heraus? »Jetzt sag aber nicht, in Imperium Alpha hängt der Haussegen schief!« »Doch, so könnte man es nennen. Servo, ich möchte für den Rest des Abends nicht gestört werden.« Seine Laune besserte sich von einem Augenblick auf den anderen. Wir setzten uns an den Tisch, und der Servoroboter trug allerlei Köstlichkeiten ins Freie und verteilte sie auf der Tischplatte. Tiff kam mit einer Platte Gegrilltem herüber, während Galbraith über sein Komarmband ein Gespräch führte. Augenblicke später stürmte er ins Innere des Bungalows, und kurz darauf stieg vom Parkplatz ein Gleiter auf. »So geht es in letzter Zeit häufig zu«, erklärte Gucky. »Manchmal wollte man glauben, alle Machtblöcke und Interessengruppen der Milchstraße hätten nichts anderes zu tun, als uns in Atem zu halten.« Ich nahm mir das speziell für mich aufgelegte Rehrückensteak und etwas Maronenmus. Der Servo kredenzte mir einen dreißig Jahre alten Mouton-Rothschild, der wie Öl durch meine Kehle rann. Zum Trinken war er fast zu schade, zum Anschauen aber auch. Nach dem Steak gönnte ich mir eine Auswahl aus dem reichhalti-
gen Früchtebüffet, das aus allen Regionen des Planeten zusammengetragen worden war. Immer wieder spürte ich Perrys Blick auf mir ruhen. »Bestimmt hast du einen Tauchurlaub gebucht«, sagte er nach einer Weile. »Und nicht zu knapp.« Er hatte sich denken können, dass ich nicht zum Vergnügen nach Terra gekommen war. Jetzt kannte er zumindest das Ziel meiner Reise. Natürlich wusste er von der Existenz der Unterwasserkuppel im Atlantik. Mehr als das. Ich hatte es ihm zu verdanken, dass ich nach wie vor ungestört über sie verfügen konnte. Schon nach gut einem halben Jahr, nachdem ich ihn 2040 verlassen und mich nach anfänglichen Auseinandersetzungen den Terranern angeschlossen hatte, war man nahe den Azoren auf meinen unterseeischen Stahldom gestoßen. Es hatte mich sogar gewundert, dass die findigen Männer von Allan D. Merchants Solarer Abwehr so lange gebraucht hatten. Doch dann hatte Perry Rhodan persönlich eingegriffen. Er hatte jede Manipulation an der Unterwasserdruckkuppel untersagt, hatte sogar dafür gesorgt, dass alle Hinweise auf ihre Position aus den offiziellen Unterlagen getilgt worden waren. Die an der Entdeckung beteiligten Agenten hatten er und Merchant zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Instinktiv hatte Perry gespürt, dass diese Kuppel für mich ein Stück Heimat war, ein Ort, auf den ich einen Anspruch hatte, ganz abgesehen davon, dass die Anlage juristisch ohnehin mein Eigentum war. Vor allem aber war Perry damals klar gewesen, dass ein Mann, der so lange wie ich allein gelebt hatte, ab und zu eine Zuflucht brauchte, in die ihm niemand folgen konnte. Nie in all den Jahrhunderten hatte er seither ein Wort darüber verloren, und weder von Bully noch einem anderen Unsterblichen war ich je auf das Schicksal der Druckkuppel angesprochen worden. Tief im Atlantischen Ozean war sie in Vergessenheit geraten. Mich selbst hatte es mehr als einmal gewundert, dass im Verlauf von tausend Jahren kein neugieriger Historiker auf die Idee gekommen war, auf eigene Faust in die Tiefe zu tauchen und nach meinem Refugium zu suchen. Immerhin war mein einstiges Wirken auf der
Erde kein Geheimnis, sondern fester Bestandteil terranischer Geschichtsbücher. Aber vielleicht hatte Perry auch hier heimlich an den Fäden gezogen und unerwünschte Nachforschungen auf sanfte Weise unterbinden lassen. Von den eigenen Schutzeinrichtungen der Kuppel ganz abgesehen. Perry räusperte sich und riss mich aus meinen Gedanken. »Die Fische beißen bei Vollmond besonders gut, habe ich mir sagen lassen.« »Es kommt auf die Höhe über dem Wasserspiegel an.« Ich grinste ihn an. »Die Höhe des Mondes, versteht sich, nicht die der Fische.« Gucky und Tifflor folgten unserer Unterhaltung, ohne ein Wort zu verstehen. »Ihr seid zwei alte Geheimniskrämer«, beschwerte sich Gucky. »Sollen Tiff und ich für immer dumm und unwissend bleiben?« »So ist es von der Schöpfung vorgesehen«, scherzte ich. »Seid mir bitte nicht böse, wenn ich diesen netten Abend vorzeitig beende, aber ich muss weiter. Es geht mir auch nicht anders als Bully und Galbraith. Richtet den beiden schöne Grüße von mir aus.« Perry brachte mich zur Tür. »Irgendwie habe ich das Gefühl, als würden wir uns bald wiedersehen«, verabschiedete er mich. Ich hob die Arme. »Es lässt sich nicht vorhersagen. Je nach dem, ob ich große oder kleine Fische vorfinde, werde ich Terra ziemlich schnell wieder den Rücken kehren.« Wir reichten uns die Hand. Der Händedruck dauerte nicht so lange wie bei unserer Begrüßung. Dennoch spürte ich Perrys Anspannung viel deutlicher als noch vor Stunden. »Kopf hoch«, versuchte ich ihn aufzumuntern. »Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« Es war eine Banalität, aber Perry Rhodan kannte mich gut genug, um zu verstehen, wie es in Wirklichkeit gemeint war. Wir hatten nie viele Worte zur Verständigung gebraucht. Als ich in den Gleiter stieg, stand der Terraner noch immer in der Haustür und schaute mir nach.
»Neue Informationen aus dem Zielgebiet?« Ich ließ mich in den Pilotensessel sinken. Vor mir auf dem Bildschirm wanderten Aufnah-
men der Azoren entlang, die von den Sonden übermittelt worden waren. Sie zeigten die Inselgruppe, von der die beiden westlichsten Inseln zur westatlantischen Kontinentalplatte gehörten, die übrigen zur ostatlantischen. »Nein, Lordadmiral«, antwortete die Positronik. »Die Kuppel hat sich nicht mehr gemeldet. Und die Sonden können nichts Ungewöhnliches feststellen.« »Was ist mit der Auswertung der terranischen Datenspeicher?« »Vor vier Wochen, am ersten November, gab es ein ungewöhnlich heftiges Seebeben. Das Epizentrum lag südlich von Sao Miguel. Größere Schäden sind nicht entstanden, weil sich die Inselbewohner durch Energieschirme vor der Flutwelle schützen konnten. Das ist alles.« »Es reicht völlig.« Ein Seebeben also. Nicht zum ersten Mal wurde der Sockel der Inselgruppe von Beben und tektonischen Verschiebungen heimgesucht. Im Gebiet der Azoren hatte einst Atlantis gelegen. Die neun Inseln bildeten die letzten sichtbaren Überreste des Kontinents. Arkonidische Siedler hatten etwa 8.000 Jahre vor Christi Geburt die Kuppel gebaut, die bis zu 10.000 Personen als Zuflucht hatte dienen sollen. Bei der Zerstörung von Atlantis war es nicht mehr gelungen, sie rechtzeitig dorthin zu evakuieren. »Die Sonden können die Kuppel nicht orten?«, vergewisserte ich mich. »Nein.« Ich atmete erst einmal auf. Solange der Ortungsschutz funktionierte, konnten die Schäden an dem Gebäude so groß nicht sein. Die Kuppelstation verfügte zudem über ausreichende Mechanismen, sich selbst zu reparieren. Dazu stand der Positronik ein kleines Heer von Robotern zu Verfügung. »Aber wieso dann der Notruf?« Quinto Center hatte ihn eindeutig bis nach Terra zurückverfolgt. Er war vor fünf Tagen abgeschickt worden. Als Absender kamen nur Rico oder die Kuppelpositronik in Frage. Wieder drängte sich mir der Gedanke an eine Fehlfunktion auf. Ich schob ihn zur Seite. Steuersysteme mit Langzeitdefekten hatten
nicht zur Produktpalette arkonidischer Techniker und Ingenieure jener Ära des Tai Ark'Tussan gehört, der ich entstammte. Perfektion war der Standard gewesen, der unser Reich vorangebracht hatte, und bereits bei geringem Versagen hatten Degradierung oder die Verbannung gedroht. »Du vergisst die Störungen, die vor 11.000 Jahren beim Untergang des Kontinents aufgetreten sind«, wandte der Extrasinn ein. »Sie reichten bis ins Hyperspektrum hinein. Theoretisch könnten sie die positronischen Systeme der Kuppel beschädigt haben.« »Theoretisch? Das heißt doch, dass du selbst nicht daran glaubst.« »Ich weise dich auf diese Möglichkeit hin, mehr nicht.« »Es bringt mich auch nicht weiter. Ich muss hin.« Ich brachte die GENUVIE auf eine Flughöhe von zwanzig Kilometern und führte sie zunächst nach Südwesten über den Indischen Ozean. Anschließend flog ich westwärts, überquerte die arabische Halbinsel und Nordafrika und hielt auf die Südwestspitze Europas zu. Während der kleine Diskus das Mittelmeer überquerte und tiefer ging, legte ich mir eine Strategie für mein Vorgehen zurecht. Meine Hazienda auf Sao Miguel lag seit langem verlassen, Roboter in Biokokons mimten, den Gesetzen des Zufallsgenerators unterworfen, Leben hinter den Natursteinmauern. »Es ist höchste Zeit, dass ich meine Spuren verwische«, sagte ich zu der Positronik und nannte ihr den Kode für das Programm, das ich vor dem Abflug in Quinto Center eilig eingespeist hatte. Die GENUVIE koppelte sich aus dem Flugleitsystem aus, die entsprechenden Überrangkodes dazu besaß ich. Die Leitstellen rund um das Mittelmeer wussten jetzt, dass sich in dem kleinen Schiff eine hochgestellte Persönlichkeit aufhielt, aber nicht, welche. Der Diskus hüllte sich in seinen Deflektorschirm und sank gemächlich nach unten. Vor der spanischen Atlantikküste erreichte er annähernd Meereshöhe. »Du wirst mich an der Hafenmole von Cadiz absetzen, danach tauchst du ab«, wies ich die Positronik an. »Die Koordinaten hast du. Den Funkbefehl für deine Rückkehr an die Oberfläche gebe ich jetzt ein.« Anschließend suchte ich meine Kabine auf, in der meine »Theater-
kiste«, ein kleiner Metallcontainer mit den Masken und der übrigen Ausrüstung, stand. Ich öffnete sie und blickte in das Gesicht eines spanischen Granden. Es grinste mich von dem schon leicht verschwommenen Holo an. »Estevan, dein Winterschlaf ist vorbei. Ich werde dich wieder zum Leben zu erwecken«, sagte ich.
Galbay-Informationshandel 2 »Wer am meisten bietet, erhält den Zuschlag. Die Zeit läuft …« »Er bewegt sich an Thenadas Peripherie entlang.« Benson zoomte die Aufnahme der Überwachungssonde. Sie sahen eine Gestalt auf dem Boulevard, die zügig, aber nicht hastig voranschritt. »Ein Einheimischer«, fuhr Benson nach einer eingehenden Analyse der Gestalt fest. »Das ist nicht gesagt«, korrigierte Raldie Helm den Koordinator. »Er trägt einheimische Kleidung.« Benson schluckte. »Natürlich, Sie haben recht, Mister Helm.« Er warf dem Chef des planetaren Geheimdienstes einen fast scheuen Blick zu. Helm lächelte väterlich. Einen besseren Chef hätten sie nicht bekommen können, besonnen und gleichzeitig messerscharf in seinen Schlüssen, meisterte Raldie Helm souverän alle Situationen. Bei einem Inlandsgeheimdienst wie DABRIFAUC, der zudem in Konkurrenz zu den Schwarzen Garden des Imperators stand, wollte das etwas heißen. Nach außen wirkte Helm völlig harmlos. Kein Außenstehender wäre auf die Idee gekommen, es könnte sich um den wichtigsten Mann gleich hinter Shalmon Kirte Dabrifa handeln, seit Artemio Hoffins, früherer Chef der Schwarzen Garde, wegen seines Verrats in Ungnade gefallen war. Benson wusste nichts Genaues, aber hinter vorgehaltener Hand munkelte man, Helm könnte sogar die Schwarze Garde mit übernehmen. Das hing allerdings von der Entscheidung des Imperators
ab, und der ließ sich bei solchen Dingen Zeit. Wenigstens lautete so die offizielle Version. Die inoffizielle klang weniger schmeichelhaft. Dabrifa wechselte seine Meinung schneller, als seinen Beratern und Untergebenen lieb sein konnte. Man hätte den Herrscher auch unberechenbar oder sprunghaft nennen können. Greg Benson hatte schon oft versucht, sich in die Lage eines Mannes wie Shalmon Kirte Dabrifa zu versetzen. Der Imperator trug einen Zellaktivator, soviel wussten die Agentenführer im Hauptquartier. Über die Herkunft des Aktivators wurde im Imperium nur gemunkelt. Zellaktivatoren waren äußerst selten in der Milchstraße, allerdings war vor rund zweihundert Jahren eine Gruppe terranischer Mutanten unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Sie hatten alle Zellaktivatoren besessen … Jedenfalls weckte ein solcher Aktivator Begehrlichkeiten, selbst bei den Lakaien des Palastes. Wer wollte nicht gern unsterblich sein. Und wo lag die Grenze zwischen der eigenen Gier und dem Tod des Opfers, das 62 Stunden nach dem Diebstahl des Aktivators zu Staub zerfiel? Wesen wie Dabrifa waren mehr als einsam, sie konnten nicht einmal mehr den Mitgliedern ihrer eigenen Familie trauen. Der Imperator hielt sich seine Familienangehörigen weitgehend vom Leib, zurzeit lebten sie in einem weitläufigen Palast auf der anderen Seite Nosmos. Sie durften ihn besuchen – einzeln. Wenn sie zu mehreren kamen, unterhielt sich der Imperator durch einen Schutzschirm mit ihnen. Benson erinnerte sich an die Geschichte um Dabrifas dritten Urenkel der siebten Generation. Der stolze Vater hatte dem Imperator den Säugling gereicht, und der Kleine hatte als erstes seine Händchen nach der Beule vor dessen Brust ausgestreckt. Dabrifa hatte das gründlich missverstanden. Als man ihn aufklärte, hatte er verlegen gelacht. Aber seither trug er bei solchen Angelegenheiten weite Hemden und Jacken, die das Ei des ewigen Lebens kaschierten. »Unsere Zielperson will in die Nähe des Raumhafens«, ließ sich Helm vernehmen. »Um den zahlreichen Überwachungskameras in den Transmitter- und Röhrenbahn-Stationen zu entgehen, nimmt sie
den beschwerlichen Fußweg auf sich. Benson, ziehen Sie sich um. Sie kümmern sich persönlich um den Mann.« Greg Benson machte sich auf den Weg. Ein Transmitter brachte ihn ins Zielgebiet. Über den Minilautsprecher im rechten Ohr stand er mit der Einsatzzentrale in Verbindung. »Sie sind einen halben Kilometer vor ihm«, hörte er Helm sagen. »Verstanden!« Die Zentrale gab ihm alle zwei Minuten die Position des Verdächtigen durch. Der Mann strebte seinem Zielort entgegen, ohne von seiner Route abzuweichen. »Ich glaube nicht, dass sein Ziel am Raumhafen liegt«, sagte er nach einiger Zeit. »Das wäre zu auffällig.« Wo aber dann? Am Raumhafen kreuzten sich alle wichtigen Verbindungen in die Stadt und ins Umland. Greg Benson wartete in einer Seitenstraße auf den Mann. Der Unbekannte war ihnen bei der Auswertung von Routineaufzeichnungen aufgefallen. Immer wieder tauchte er für kurze Zeit in der Hauptstadt auf, suchte aber nie dieselben Gebäude auf. Das konnte natürlich einen völlig harmlosen Hintergrund haben, doch die Frauen und Männer in der Auswertung führten ihn unter der Rubrik »Kuriere«. Woher er kam – sie hatten es nicht feststellen können. Bisher war es auch keinem Agenten gelungen, ihm auf den Fersen zu bleiben. Meist verschwand er noch im Einzugsbereich der Hauptstadt spurlos. Grund genug, den Unbekannten als sehr verdächtig einzustufen und ihn zu beschatten. Er kam. Benson sah, wie er zügig an der Einmündung vorbeiging, nicht nach rechts und nicht nach links sah. Nur einmal blieb er kurz stehen, als müsse er sich vergewissern, ob er nicht schon zu weit gegangen war. Benson wartete zwanzig Sekunden, dann folgte er dem Unbekannten. Einen flugfähigen Mikrospion einzusetzen, wollte er vermeiden. Er hatte das Gefühl, dass der Mann mit so etwas rechnete und sich durch Ortungsgeräte sicherte. Der Fremde betrat eines der öffentlichen Gebäude des Stadtteils
Thenada und hielt auf die Antigravs zu. In einer Gruppe von Besuchern gelang es Greg Benson, bis auf zehn Meter zu ihm aufzuschließen. Dicht vor den Schächten bog der Mann nach rechts ab und verschwand durch eine Tür. Benson lief daran vorbei und den Korridor entlang. Hinter der sich schließenden Tür hörte er eine gerade noch verständliche Stimme sagen: »Sie hätten nicht herkommen dürfen!« Er wollte weitergehen, aber etwas ließ ihn innehalten. Vielleicht war es der Unterton in der Stimme, der ihn alarmierte. Er machte auf dem Absatz kehrt und stürmte in das Zimmer. Das Flirren eines erlöschenden Transmitterbogens hing über dem hinteren Teil des Raumes. Davor lag am Boden der Unbekannte. Ein Schuss aus einer Strahlwaffe hatte sein Gesicht durchbohrt. Greg Benson sah sofort, dass nichts mehr zu machen war. Der Mörder hatte dafür gesorgt, dass sich niemand nachträglich Informationen aus dem Gehirn des Toten besorgen konnte. Benson schloss leise die Tür und kehrte ins Freie zurück. Er informierte die Zentrale. »Schickt ein Kommando her, das sich in dem Gebäude ein wenig umsieht. Aber Vorsicht! Der Transmitter vernichtet sich vermutlich selbst.«
»Ebner Walsh, ein Kaufmann aus Densington, das steht inzwischen fest.« Greg Benson legte einen Stapel Folien auf Helms Tisch. »In den vergangenen Tagen haben mindestens ein halbes Dutzend Leute seine Wohnung aufgesucht. Lange geblieben ist keiner. Im Gegenteil. Sie sind alle ziemlich schnell verschwunden. An einem waren wir dran, ein gewisser Kensington Bloom alias Hendrik Voltham. Wir haben ein paar Fingerabdrücke, aber die bringen uns nicht weiter. Und das Delikate, Mister Helm: Die Abdrücke von Bloom sind nicht mit denen von Voltham identisch.« Raldie Helms Kopf ruckte hoch. Das schüttere Haar wippte über der Stirn. Sein Blick schien durch Benson hindurch zu gehen. Der Agent kam sich vor, als würde der Chef sein Inneres scannen. »Unsere Leute recherchieren zuverlässig«, beeilte Greg sich zu sagen. »Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Bloom und Voltham sind ein
und dieselbe Person. Der Mann hat folglich künstliche Fingerabdrücke benutzt.« »Das riecht nach Terra, wenn Sie mich fragen.« »Wir observieren kontinuierlich einige terranische Agenten im Normon-System, Sir! Von denen hatte definitiv keiner Kontakt mit Bloom-Voltham. Wir wissen aber, dass solche Tricks nicht nur bei den Geheimdiensten großer Imperien verbreitet sind.« »Es gibt nur ein großes Imperium, und das ist Dabrifa«, betonte Helm. Greg glaubte so etwas wie einen ironischen Unterton herauszuhören. Helm starrte ihn noch immer an, aber sein Blick ging in weite Ferne. »Unsere Leute überwachen alle Raumhäfen und Kommunikationszentren«, fuhr Benson fort. »Wir rechnen fest damit, dass in den kommenden Tagen weitere Agenten auf Nosmo eintreffen.« »Wir brauchen Informationen. Konkrete Informationen. Es muss einen Grund geben, warum diese Agenten alle über Nosmo geschleust werden.« Raldie Helm vergrub seine Finger in den Jackentaschen. »Wenn es mit Galbay zu tun hat, sind wir am Zug. Noch halten wir unsere eigenen Staragenten zurück. Aber viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Der 10. Dezember ist nicht mehr weit.« Er beugte sich über den Schreibtisch. »Und der angeforderte Bericht der Schwarzen Garde ist immer noch nicht da.« »Dann handeln wir eben auf eigene Faust.« »Ich verlasse mich ganz auf Sie, Benson!« Greg machte sich an die Arbeit. Er holte das Observierungsraster für das gesamte Stadtgebiet auf den Bildschirm. Nacheinander zoomte er die einzelnen Felder, beobachtete die Passanten, die Reisegruppen, die Servicefahrzeuge und alles, was sich bewegte und verdächtig sein konnte. Natürlich war er nicht der einzige, der Dabrifala beobachtete. Ein paar Etagen höher existierten ganze Abteilungen mit Spezialisten, die jede Bewegung auswerteten und auffällige Vorgänge sofort überprüfen ließen. Greg Benson kümmerte sich lediglich um die Endauswertung, die manchmal bei der Suche half. Wie bei der Frau, die seit mehr als einer halben Stunde durch die Stadt lief, und immer wieder in ande-
ren Bildfeldern auftauchte. Sie bewegte sich wie alle Passanten, und doch verhielt sie sich ein wenig anders. Greg konnte anfangs nicht sagen, was es war. Er beobachtete sie eine Weile, sah sich dann die Aufzeichnung an, ließ diese zurücklaufen, musterte wieder die bewegten Bilder. Dabei achtete er nicht so sehr auf die Frau, sondern auf alle Passanten in der Straße. Sie hustete. Kurz darauf schniefte sie, und zweihundert Meter weiter strich sie sich über die linke Augenbraue. Greg Benson wetzte die Lippen. »Wenn das keine Auffälligkeiten sind … Aber wem will sie damit Zeichen geben?« Er musterte alle Personen durch, die sich in Sichtweite der Frau aufhielten, und ließ dabei einen positronischen Detektor mitlaufen. Eine Stunde brauchte er. Es war vergeudete Zeit, wie er nachträglich feststellte. Sie wollte niemanden auf sich aufmerksam machen. Sie wollte lediglich normal und unauffällig sein wie alle andern. Die schnieften zwar auch oder husteten, aber nicht alles nacheinander. Jetzt rieb sie sich die Nase. Sie musste verdammt nervös sein. Aber warum? Er aktivierte die Funkstrecke. »Wir haben eine Zielperson. Weiblich, einsachtzig groß, schlank, trägt eine graue Hose und schwarze Stiefel, eine weiße Bluse und eine blaue Weste darüber. Rotes Halstuch. Das blonde Haar ist zu einem Knoten geschlungen. Augenfarbe unbekannt, Nase leicht gebogen und schmal.« Nach einer Weile trafen die ersten Bestätigungen ein. »Noch nicht zugreifen«, bremste Greg. »Wir beobachten sie weiträumig und warten, was sie unternimmt. Ich schicke ein paar Roboter mit Paralysatoren in ihre Nähe.« Roboter fielen auf, wenn sie in der Nähe der Passanten agierten. Solange sie sich hoch oben im Schutz der Dachkanten bewegten, nahm keiner sie wahr, wenn er nicht in einem Gleiter an ihnen vorüberflog. Einer der Beobachter vom Raumhafen meldete sich. Zwei verdächtige Personen hatten soeben den Boden Nosmos betreten. Die eine kam von Zypriana, die andere von Epsal. »Ebner Walsh war bisher die Anlaufstation«, murmelte Greg Benson. »Alle, die jetzt nach Densington gehen, laufen ins Leere.«
Bestimmt war es unterhaltsam, ihre Suche und ihr Verhalten zu beobachten. Vielleicht beging der eine oder andere den Fehler und setzte sich mit seiner Leitstelle oder seinem Heimathafen in Verbindung, benutzte eine Hyperkomverbindung oberster Dringlichkeitsstufe. »Mister Helm«, sprach Greg in das Mikrofon des Internfunks, »wir brauchen Verstärkung, mindestens drei Dutzend weitere Agenten zur Überwachung der Verdächtigen.« Der DABRIFAUC-Chef war nicht in seinem Büro, aber er meldete sich eine halbe Stunde später. »Das angeforderte Personal ist unterwegs, Greg. Weisen Sie den Frauen und Männern ihre Standorte und Zielpersonen zu.« Erfahrenen Einsatzleitern wie Greg Benson fiel es leicht, Zielpersonen unter Hunderten oder Tausenden von Passanten zu identifizieren und zu analysieren. Agenten wussten in der Regel nichts voneinander, aber sie verhielten sich alle irgendwie ähnlich, die meisten allerdings abgebrühter als die Frau und längst nicht so nervös. Greg teilte seine Agenten ein. Anschließend setzte er sich mit der mikrotechnischen Abteilung in Verbindung, die den Transmitter untersuchte. »Neuigkeiten?«, fragte er, als Thomse Thomsen im Erfassungsbereich des Schirms auftauchte. »Nein. Keine Hinweise auf den Benutzer oder die Gegenstation.« »Energieverbrauch?« »Die Antwort von der Speicherstation liegt noch nicht vor.« »Ich erfahre es als Erster.« »Geht in Ordnung, Mister Benson!« Der Tod des Agenten ging Greg nicht aus dem Kopf. Nur knapp hatte er den Mörder verpasst, jedoch seine Stimme gehört. Lag es daran, dass er sich so brennend für diese Person interessierte? Leider war er zu spät gekommen. Walsh war tot und der Mörder verschwunden. Der Transmitter existierte noch, aber sein Steuergerät war zu einem hässlichen Klumpen geschmolzen. Daraus würde man nie mehr auch nur ein einziges Datenbit herauskitzeln. Der Mörder hatte seine Spur auf perfekte Weise verwischt. »Noch mal von vorn«, murmelte der Agentenführer. »Walsh war
Anlaufstelle und Auskunftsbüro. Er wurde getötet. Von wem?« Auf Walshs Funktion bezogen gab es zwei banale Antworten. Entweder hatte seine Organisation ihn liquidiert, oder die Gegner seiner Organisation. Im ersten Fall würde Gras darüber wachsen. Im zweiten Fall würde wahrscheinlich ein Mitglied der Organisation auftauchen und Walshs Unterkunft überprüfen. »Diese Person unterscheidet sich von den Agenten durch ein gezielteres Vorgehen. Sie kennt die Wohnung, alle Kontaktstellen, Tote Briefkästen und vieles mehr. Sie wird sich nicht länger als ein paar Stunden auf Nosmo aufhalten, dann weiß sie Bescheid. Um diese Person kümmere ich mich am besten selbst.« Möglicherweise hielt sie sich schon in Dabrifala auf. Greg machte sich eine Notiz in sein Log, dann fütterte er die Positroniken mit allen wichtigen Daten und Argumenten, die ihm bei der Suche nach einer Kontrollperson helfen konnten.
Wie aufgescheuchte Hühner! Die Assoziation zuckte durch Gregs Bewusstsein. Ein Dutzend Agenten bewegten sich mehr oder weniger ziellos durch Dabrifala. Sie alle waren per Transmitter oder Pneumobahn nach Densington gegangen, hatten dort aber niemanden angetroffen. Damit liefen sie ins Leere und wussten nicht wohin. Die eigentliche Tragik dieser Personen erkannte Greg Benson wenig später. Sie besaßen keine Anweisungen, wie sie sich in diesem Fall verhalten sollten. Niemand hatte damit gerechnet, dass der Kontakt nicht zustande kommen würde. »Amateure«, brummte Greg. Einer entschied sich, sofort abzureisen. Er saß im gelandeten Beiboot eines zalitischen Schiffes, ehe DABRIFAUC zugreifen konnte. Greg pfiff ein paar übereifrige Zollbeamte zurück. »Lasst ihn gehen. Unsere Leute verhören ihn, wenn er seinen Zielhafen erreicht hat.« Damit verriet der Einsatzleiter zum ersten Mal ein bisher gut gehütetes Geheimnis. Auch der Inlandsgeheimdienst DABRIFAUC agierte auf anderen Planeten und trat damit automatisch in Konkur-
renz zur Schwarzen Garde. Benson entschied sich, zunächst nicht gegen die Zielpersonen vorzugehen. »Sucht zufälligen Kontakt zu ihnen. Verwickelt sie in Gespräche. Wenn sie Probleme haben, dann seid die hilfsbereiten Einheimischen. Kümmert euch um ein Hotelzimmer oder um den nächsten Flug. Und sorgt dafür, dass dieser erst morgen stattfindet.« Seine Leute fragten nicht viel. Sie kannten solche Szenarien von der Ausbildung her. Und sie waren es gewohnt, dass er unkonventionelle Methoden bevorzugte. Greg schnallte sich den Einsatzgürtel mit Schirmfeld, Deflektor und Antigrav um. Den Sessel schwenkte er so, dass er den großen Wandschirm im Blick behielt. »Ich brauche ein permanentes Bewegungsdiagramm aller Personen, die das Gebäude in Thenada aufsuchen oder sich in seine Nähe begeben, Erkundigungen einziehen oder beobachten und dann wieder verschwinden. Ebenso will ich jedes Lebewesen auf den Schirm, das sich in Densington der Wohnung des Toten nähert und sich wieder Richtung Dabrifala entfernt. Sollte jemand versuchen in die Wohnung einzudringen, mag er das tun. Dass er nicht mehr herauskommt, dafür sorge ich persönlich.« Kein Agent wäre normalerweise so dumm, sich in die Höhle des Löwen zu wagen. Eher würde er eine fliegende Mikrokamera losschicken. Allerdings nicht, wenn es um die Versteigerung von Wissen über die USO ging. Der Profit auf der einen Seite und die zu erwartende Macht auf der anderen Seite zwangen Vorgesetzte zu Risiken und zu schnellem Handeln. Greg hätte sich auch nicht anders verhalten, aber Dabrifa zögerte noch mit dem Einsatzbefehl. Natürlich war der Imperator genauso brennend an diesem Wissen interessiert. Doch er wartete ab, beobachtete und ließ beobachten. Die Kantine im Hauptquartier der Schwarzen Garde war in diesen Tagen wie leergefegt, die Köche faulenzten in den Aufenthaltsräumen und verbrachten die Arbeitszeit mit Kaffeetrinken und Tortenessen. Gegen Mitternacht entschloss sich Greg Benson, im Sessel zu schlafen, bis man ihn weckte. Drei Stunden gönnte ihm die Positronik, dann sandte sie ein hochfrequentes Signal.
»Eine auffällige Person wurde in Thenada registriert.« Benson blinzelte, setzte sich eine Atemmaske auf und inhalierte Sauerstoff, damit er schneller wach wurde. Dabei ließ er den Bildschirm nicht aus den Augen. Die Person war ein Mann in legerer Kleidung. Er trug Turnschuhe mit extrem dicken Sohlen, was auf Luftpolsterung hinwies. Solche Schuhe trugen meist Jogger, aber in diesem Fall sollten sie eher dazu beitragen, dass die Zielperson im Ernstfall schnell von der Stelle kam, ohne energetische Hilfsmittel einsetzen zu müssen. Greg hatte erwartet, der Mann würde nach dem Besuch mehrerer Lokale hinaus nach Densington fahren. Stattdessen wandte er sich dem Stadtzentrum zu, wo er sich eine Weile in der Mediana herumtrieb. Der Einsatzleiter sprang auf. »Ich will Aufnahmen aus allen Gebäuden, in denen er sich gerade aufgehalten hat!« Fassungslos beobachtete er, wie der Fremde ein Gebäude betrat, in dem DABRIFAUC Büros unterhielt. Hastig ging Greg die Liste aller in dem Bau untergebrachten Firmen durch. Er fand nichts, was seinen Argwohn erregt hätte. »Die Zielperson besteigt einen Wagen der Pneumobahn nach Densington.« Mit fliegenden Fingern suchte der Einsatzleiter die Koordinaten aller geheimen Transmitter im Zielgebiet heraus. Er rannte zu der Abstrahlkammer in der Nähe der Einsatzzentrale. Kurz darauf erreichte er Densington. Das Gebäude mit dem Empfangstransmitter stand unmittelbar neben demjenigen, in dem Ebner Walsh gewohnt hatte. Greg ließ sich von einer Laufbahn durch die 24. Tiefetage dorthin tragen. Er nahm einen der kleinen Aufzüge bis ins zwölfte Stockwerk, wo er in den hinteren Antigravschacht umstieg. Vier Minuten brauchte er, um ohne große Hast in die 40. Etage und damit in die Nähe von Walshs Wohnung zu kommen. Selbstverständlich hatte ein Team von DABRIFAUC die Räumlichkeiten längst präpariert, dennoch verließ sich Greg Benson nie allein auf technische Hilfsmittel. An einem Appartement in der Nähe gab er seinen Kode ein. Die Tür glitt zur Seite, er trat ein. Drinnen warteten zwei Techniker sei-
ner Abteilung. »Einschalten«, ordnete er an Stelle einer Begrüßung an. »Wo befindet sich die Zielperson jetzt?« »Sie ist gerade ausgestiegen. Sie lässt sich Zeit.« Zwei Minuten später kamen die ersten Aufnahmen herein. Im Licht der Bahnhofskuppel hatte Greg zum ersten Mal Gelegenheit, den Mann genauer zu betrachten. Seine Kleidung wirkte sportlich, er selbst jedoch machte überhaupt keinen sportlichen Eindruck – schlaffe Bauchmuskulatur, krumme Beine, ein leichter Rundrücken im Schulterbereich. »Was ist denn das?«, entfuhr es einem der beiden Techniker. »Ein Büromensch. Wer immer hinter dieser Aktion auf Nosmo steckt, er scheint sich persönlich um das Schicksal des Verschwundenen zu kümmern.« Unter normalen Umständen hätte Greg das für unprofessionell gehalten, aber im Zusammenhang mit der Auktion galten andere Maßstäbe, das hatten die Geheimdienste aller Planeten inzwischen verinnerlicht. Und Nosmo als Durchgangslager! Was für eine Provokation. Oder zog jemand von der Hauptwelt des Imperiums aus die Fäden? Greg Benson schloss das aus. Es wäre zu offensichtlich und zu plump gewesen. »Er sitzt in einem Gleiter, der Kurs auf dieses Planquadrat hält«, sagte der zweite Techniker. »Er wird auf dem Dach landen.« »Der Fluchtweg nach oben ist kürzer als nach unten«, nickte Greg. Gespannt beobachtete er das Dachareal mit der Reling um den Landeplatz. Die Reling ließ sich unter Starkstrom setzen, ein gutes Hilfsmittel, um jemanden an der Flucht zu hindern. In diesem Fall würden sie es nicht brauchen. Der Fremde stieg ein wenig ungelenk aus dem Fahrzeug. Dafür, dass er erst angekommen war, bewegte er sich so selbstverständlich, als sei er in Densington oder zumindest auf Nosmo daheim. »Das ist ein Einheimischer«, meinte Greg nach einer Weile. »Ich wette meinen Hut darauf.« Der Mann kam jetzt herunter in die 40. Etage. Ohne zu zögern, schritt er in den Verteiler und wählte auf Anhieb den richtigen Kor-
ridor. Greg Benson sah ihm mit angehaltenem Atem zu. Er ging an Walshs Wohnung vorbei bis zum Ende des Korridors und kehrte wieder um. Er kratzte sich am Kopf, als habe er sich verlaufen. »Mist! Der Kerl legt uns rein. Zugriff!« Bensons Leute warteten am Antigrav und an der Nottreppe. Greg hastete zur Tür und riss sie zur Seite, den Strahler im Anschlag. Verdutzt starrte er den Korridor entlang. Von dem Unbekannten war weit und breit nichts zu sehen. Der Einsatzleiter reagierte instinktiv. Er schaltete den Deflektor ein und rannte im Zickzack durch den Korridor. Keine zehn Meter brauchte er, dann stieß sein Feld mit dem des anderen zusammen. Benson trat zu, erwischte den Fremden irgendwo an der Hüfte. Ein Schrei, mehr vor Schreck als vor Schmerz – Greg warf sich nach vorn, klammerte sich an das Bein, das er sah. Der andere konnte sich offensichtlich nicht mehr halten und stürzte. Endlich überschnitten sich die beiden Deflektorfelder und begannen miteinander zu verschmelzen. Zeitverzögert tauchte die am Boden liegende Gestalt aus dem Nichts auf. Aus weit aufgerissenen Augen starrte der Mann Greg an. Greg Benson hielt ihm den schussbereiten Strahler vor die Nase. »Im Namen des Imperators, ergeben Sie sich!« Der andere hob die Hände neben den Kopf, während Greg ihm an den Gürtel fasste und den Deflektor ausschaltete. Anschließend desaktivierte er sein eigenes Gerät. »Langsam auf den Bauch drehen und aufstehen!«, kommandierte er. Als der Fremde endlich stand, ging Benson einmal um ihn herum und tastete ihn mit der freien Hand ab. »Ich kenne Sie von irgendwo her.« »Wer sind Sie? Und wieso überfallen Sie mich?« »Was haben Sie hier zu suchen?« »Ich habe mich in der Etage geirrt. Und Sie?« »Ich vertrete die Regierung des Imperiums. DABRIFAUC!« Der Mann wurde leichenblass. »Geheimdienst?« »Damit haben Sie nicht gerechnet?«
»Nein.« Greg wehrte sich gegen den fürchterlichen Gedanken, der in ihm aufstieg. Aber es half nichts. »Sagen Sie die Wahrheit, Mann. Hat jemand Ihnen Geld gegeben, damit Sie bestimmte Örtlichkeiten aufsuchen?« »Ja!« »Mann? Frau? Wie sah die Person aus?« »Ich weiß es nicht. Sie benutzte Zerrfelder für Aussehen und Stimme. Graue Kleidung vermutlich. Das ist alles. Die Person gab mit tausend Solar.« »Das ist viel Geld für zwei Stunden Spazierengehen.« Nach fünf Minuten hatten sie es überprüft. Der Verhaftete hieß Neil Gorder und wohnte in der Trabantenstadt Canvas. Am Nachmittag hatte er tausend Solar in bar auf sein Konto eingezahlt. »Okay, Mister Gorder«, sagte Greg dann. »Sie dürfen nach Hause zu Ihrer Familie. Halten Sie sich aber zur Verfügung. Verlassen Sie Nosmo auf keinen Fall. Sollte der Unbekannte sich nochmals mit Ihnen in Verbindung setzen, geben Sie uns sofort Bescheid.« Benson gab ihm eine Folie mit allen wichtigen Notrufnummern, die von der DABRIFAUC mitgehört wurden. Neil Gorder bedankte sich erleichtert und machte, dass er wieder in den Gleiter kam. Greg verabschiedete sich von den Technikern und kehrte in die Einsatzzentrale zurück. »Irgendeine Schweinerei ist da im Gange«, diktierte er in sein Log. »Noch reichen die Indizien nicht aus, um es genau zu beschreiben. Aber es sieht fast nach einer galaktischen Verschwörung aus.«
Kapitel 3 In der Luft lag der Geruch von süßem, schwerem Wein, vermischt mit Bratenduft, der durch die Küchentür in die Taverne strömte. Um diese Tageszeit saßen ausschließlich alte Männer in dem Wirtshaus, die jüngeren arbeiteten auf den Feldern, während die Frauen sich um Haus und Hof kümmerten … Ich hielt in meinen Gedanken inne. Nur allzu gern ließ ich mich von meinen Erinnerungen leiten. Vor zweitausend Jahren war es hier genauso gewesen. Heute, im Jahr 3103 nach Christus, sah es kaum anders aus – die Taverne noch immer in mittelalterlichem Gepräge, allerdings mit modernen Mitteln nachgebaut. Die Alten saßen traditionell hier, was eine meiner auf Terra gewonnenen Erkenntnisse festigte. Gewohnheiten zählten bei den Menschen zu den Hauptträgern kultureller Eigenheiten, und das über Jahrtausende hinweg. Die Jungen arbeiteten. Nicht auf den Feldern, das erledigten längst Roboter. Sie gingen herkömmlichen Berufen nach als Positronikspezialisten, Gleiterpiloten, Raumfahrer und Ähnliches. Die Zahl der Gastwirte aus Fleisch und Blut hielt sich in Grenzen. Mein Eintreffen hatten die Männer und der Überwachungsautomat eher gelassen registriert. Der Gleiter aus Cadiz hatte mich draußen auf dem Platz abgesetzt und war sofort wieder gestartet. Da ich kein nennenswertes Gepäck bei mir führte, stuften mich die Einheimischen vermutlich als Einzelreisenden und Tagestouristen ein und widmeten mir kaum Aufmerksamkeit. Vor mir auf dem Tisch standen ein Literkrug mit schwerem Portwein und ein mittelalterlich anmutender Pokal, aus dem ich in kleinen Schlucken trank. Ab und zu warf der eine oder andere der Männer an den Tischen einen prüfenden Blick zu mir herüber. Ich tat, als würde ich es nicht bemerken. Meiner Kleidung sahen sie an, dass ich kein armer Mann war. Allerdings hielten sie die Hose und das Wams wohl eher für Leihgaben aus dem Touristikfundus. Es war Mode, sich beim Be-
such in historischen Kulissen so zu kleiden, wie es zu der entsprechenden Zeit üblich gewesen war. Und Teile von Sao Miguel hatten findige Touristik-Manager wieder so herrichten lassen, wie sie vor Jahrhunderten ausgesehen hatten. Die Urlauber liebten es, sich darin zu bewegen und auf diese Weise ihrer eigenen Zeit zu entfliehen – und Geschichtswissenschaftler und Denkmalschützer bestritten wie stets den Wert solcher Installationen. Manche Besucher pflegten in diesem Ambiente sogar die historische Sprache zu verwenden. Mir konnte es Recht sein, in meinen Jahrhunderten auf der Erde hatte ich genug terranische Sprachen erlernt. Nach einer guten halben Stunde entstand draußen Lärm. Die Tür flog auf, eine Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener stürmte herein und verteilte sich an den Tischen. »Pablo hat einen Wolf gesehen!«, berichteten sie atemlos. »Draußen auf den Feldern. Er nähert sich von der Klippe her!« »Wo steckt Pablo jetzt?«, brummte einer der Alten. »Er ist nach Hause gelaufen. Wir müssen die Arbeiter warnen.« Mehrere Männer der Taverne erhoben sich. Ich hielt es für das Beste einzugreifen. »Entschuldigen Sie, Senores, ich denke, ich kenne den Wolf. Er ist harmlos.« Jetzt richteten sich die Blicke aller Anwesenden auf mich. Der Alte, der zuerst aufgestanden war, trat vor. »Es ist noch keine Stunde her, dass Sie angekommen sind, mein Herr. Und jetzt reden Sie, als seien Sie hier zu Hause.« »Das könnte stimmen.« »Ich glaube Ihnen kein Wort, Senor!« »Halt den Mund, Carlito«, klang es aus der hintersten Ecke. Dort saßen die Dorfältesten. Ihre weißen Bärte leuchteten wie Schnee im dämmrigen Licht der Taverne. »Der Don sagt die Wahrheit!« Der mit »Karlchen« Angesprochene lief knallrot an. Sein Name lautete offensichtlich Carlo. Dass der andere ihn in der Koseform anredete, als sei er ein kleiner Junge, machte ihn sichtlich wütend. »Hüte deine Zunge!«, fauchte er den Ältesten an. »Wie kannst du es wagen …« »Beruhigen Sie sich, Senor«, versuchte ich zu vermitteln. »Der
Herr hat Recht.« »Ich wusste es.« Der Weißbärtige ließ sich von seinen beiden Altersgenossen aufhelfen. Auf einen Stock gestützt, den er wahrscheinlich in Wirklichkeit überhaupt nicht benötigte, humpelte er scheinbar mühsam heran. »Meine Augen sind nicht mehr die besten, aber dennoch habe ich Sie erkannt. Bitte verzeihen Sie, Don Estevan, dass die anderen alle mit Blindheit geschlagen sind.« »Don Estevan?« Der Name machte die Runde. »Der alte Don Estevan, unser Gönner und Freund?« »Sie sehen sehr rüstig aus«, fuhr der Weißbärtige fort, ohne auf das Geraune zu achten. »Ich erinnere mich an Ihren letzten Besuch. Damals waren wir ungefähr gleichaltrig.« Ich lächelte. »Hieß es früher nicht, auf Sao Miguel hüten die Ältesten das Geheimnis der Ewigen Jugend?« »Ja, ja, diese Sprüche für die Touristen. Aber es stimmt. Noch vor Jahrhunderten erzählten unsere Vorfahren es tatsächlich. Vielleicht ist es wirklich irgendwann in der Vergangenheit sogar wahr gewesen. Heute ist das Wissen leider verloren.« Ich hütete mich, darauf einzugehen. »Carlito« trat zu mir an den Tisch. »Verzeihen Sie uns, Don Estevan. Wir kennen Sie nur vom Hörensagen. Auf der Insel glaubten die meisten, Sie seien längst gestorben.« »Unkraut vergeht nicht, sagt man. Wie Sie sehen, Senores, bin ich zurückgekehrt und werde voraussichtlich ein paar Wochen in meinem Haus wohnen.« »Aber der Wolf …« »Ist ein zahmer Wolf. Er kommt, um mich abzuholen. Die Jungen sollen im Dorf Bescheid geben, damit niemand in Panik gerät.« Das Raunen in der Taverne wurde lauter. Ich bot dem Weißbärtigen einen Stuhl an und ließ ihm vom Wirt einen Pokal bringen, den ich füllte. »Kennt der Wolf Sie denn?«, staunte der Alte. Ich nickte. »Er wartet seit fünfzig Jahren auf mich.« Kein Wolf wurde so alt, das wussten auch die Bewohner der Habichtsinseln.
»Ein Roboter!« »Ein Roboter im Kostüm eines Wolfs«, bestätigte ich. »Passend zur Kulisse auf Sao Miguel. Eine kleine Spielerei der Whistler Europe Company!« Ich verschwieg, dass der Wolf nur aus der Unterwasserkuppel stammen konnte, Bauherr: Rico. Es handelte sich um ein äußerlich terranisches Tier mit arkonidischer Technik in seinem Innern. Die Positronikspezialisten von Sao Miguel hätten sich ziemlich gewundert. Zum Glück würden sie keine Gelegenheit erhalten, das robotische Tier zu zerlegen. »Wirt!« Nachdem die Jugendlichen die Taverne verlassen hatten, gab ich eine Runde des teuren Weines für die Männer aus. Natürlich wollten sie wissen, was ich in den fünfzig Jahren getrieben hatte. Ich beließ es bei ein paar nichtssagenden Erklärungen über den Weltenbummler Don Estevan de Corbedo y Cardegan, den es immer wieder für eine Weile in sein Haus auf der Azoren-Hauptinsel zog. »Wenn ich es richtig in meinem alten Kopf habe, feiert das Dorf demnächst seine Fiesta«, sagte ich nach dem letzten Zug aus dem Pokal. »Es wäre mir eine Ehre, daran teilnehmen zu dürfen.« »Selbstverständlich gern«, riefen die Männer durcheinander. »Die Ehre ist ganz auf unserer Seite. Ein Hoch auf Don Estevan! Salud!« Sie stießen auf mich an. Während sie tranken, öffnete sich wie von Geisterhand die Tür. Der Kopf eines Wolfs tauchte auf. »Es ist Alpha Eins beziehungsweise seine originale Nachbildung!«, raunte der Extrasinn. Bereits ein kurzer Blick hatte mich zum gleichen Ergebnis gebracht. Ich erhob mich und verabschiedete mich von den Männern. »Soll einer von uns Sie hinüber zur Hazienda fliegen?«, rief der Weißbärtige hinter mir her. »Danke nein! Diesen Weg gehe ich immer zu Fuß!« Ich näherte mich der Tür. Der Wolf wich zurück und ließ mich hinaus. Draußen hielt er sich an meiner linken Seite, durch die Gassen von Dolores nach Südwesten, dann zwischen den Feldern hindurch und an den Pinienhainen entlang, hinter denen die Klippe lag …
»Die Neugier der Dorfbewohner verfolgt dich bis hierher«, sagte der Wolf, als die letzten Häuser außer Sichtweite gerieten. Ich hielt verstohlen nach fliegenden Kamerasonden Ausschau, konnte aber nichts entdecken. »Wo?« »In den Baumwipfeln sitzen Jugendliche.« »Projiziere ein Abschirmfeld um uns herum!« Er tat es, und ich nutzte den Rest des Fußweges, ein paar wichtige Fragen zu stellen. »Wann hat sich Rico zum letzten Mal gemeldet?« »Kurz vor dem Seebeben. In der Kuppel war alles in Ordnung.« »Und danach?« »Nicht mehr. Die Orter im Haus registrierten lediglich die Ausstrahlung des Kodesignals vor fünf Tagen.« »Irgendwelche Vorkommnisse auf oder um die Insel?« »Ein toter Taucher während des Seebebens. Die Hazienda hat alle Schiffsbewegungen zu Wasser und zu Luft ausgewertet, die in den letzten drei Monaten stattfanden. Es gab nichts, was Verdacht erregt hätte.« »Wir werden trotzdem nach Spuren suchen«, sagte ich. »Der Notruf kann kein Versehen sein. Was ist mit den Schächten unterhalb des Hauses?« »Sie wurden vorsichtshalber geflutet.« Wir erreichten die einzige Gabelung auf der Strecke. Nach links führte der Weg direkt zum Abgrund, nach rechts ging es hinüber zur Hazienda, einem durchaus eindrucksvollen Gebäude. Architektonisch hatte ich es als Mischung aus geräumigem Bungalow und zinnenbewehrter Festung errichten lassen, wobei die drei Türme zum Wasser hin lagen. In ihrem Innern hatte ich vollwertige Abwehrforts gegen Angriffe aus der Luft installiert, in Kompaktbauweise, aber nicht minder wirkungsvoll als herkömmliche Anlagen. Noch heute waren die Spezialisten der USO stolz auf die damaligen Einsatzkommandos, die das alles bewerkstelligt hatten, ohne dass man auf Terra auch nur den Schimmer eines Verdachts gehegt hatte. Das breite Tor in der Umfriedung öffnete sich wie von Geisterhand. Wir schritten hindurch, überquerten den grasbewachsenen Vorplatz und betraten den Gebäudekomplex über die Veranda aus
Natursteinplatten. Warmer Wind blies ums Haus, von Automaten künstlich erzeugt, damit die tropischen und subtropischen Pflanzen die Kühle des beginnenden Winters unbeschadet überstanden. Drinnen war das Personal vollzählig zur Begrüßung angetreten. Ich zählte ein Dutzend Roboter, die Hälfte von humanoider Konstruktion. »Willkommen, Don Estevan«, begrüßten sie mich. »Ihr findet alles so vor, wie Ihr es verlassen habt.« »Ich danke euch. Bereitet mir ein opulentes Mahl. Meine Rückkehr muss gefeiert werden. Liegen wichtige Nachrichten für mich vor?« »Eine Einladung des Inselvorstehers Paceto Caldras zum Abendessen am 6. Juli 3074.« »Caldras – ich erinnere mich. Wo wohnt er heute?« »Avenida Buscot 6 in Pandoval.« »Gut. Ich werde ihn möglichst bald aufsuchen und mich entschuldigen, dass ich erst jetzt antworten kann.« Pandoval, das Dorf am Himmel, gehörte ebenso wie Dolores zum historischen Parcours gerissener Tourismusstrategen. Auf den Grundmauern eines alten Bergdorfes errichtet, simulierte es das Leben auf der Insel, wie es im Mittelalter gewesen war. Die ausgesprochen lebensechten Darsteller waren fast ohne Ausnahme Roboter. Sie integrierten die Touristen in das fremdartige Leben mit allen seinen Vorzügen und Nachteilen, ahndeten geringe Vergehen mit drakonischen Strafen, führten Auspeitschungen und Hinrichtungen vor, natürlich ausnahmslos an Robots, aber ausgesprochen lebensecht. Selbst für mich stellte es jedes Mal eine Herausforderung dar, unter den Maschinen die wenigen echten Menschen herauszufinden, die Programmierer des Spektakels und die Kontrolleure. Argwöhnisch beobachteten sie jede Massenveranstaltung und sorgten dafür, dass es keine Zwischenfälle gab. Schließlich sollten die Gäste ihren Aufenthalt auf Sao Miguel in guter Erinnerung behalten. »Und weiter?«, fragte ich. »Das ist alles.« Mein Robotpersonal zog sich zurück, ebenso der Wolf, und ich ging nach oben in meine Gemächer. Das Barett mit den Bussardfedern lag noch an derselben Stelle, war aber frisch abgestaubt wor-
den. Ein freundlicher Servo hatte mir zur Begrüßung eine Flasche Rotwein und ein Glas in das Vorzimmer gestellt. Alles war stilecht wie immer. Niemand auf dieser Insel oder überhaupt auf den Azoren wäre auf den Gedanken gekommen, es könnte sich bei Don Estevan nicht um einen etwas versponnenen spanischen Granden auf einer einsamen portugiesischen Insel, sondern um den Lordadmiral der USO handeln. Das hätte ich bei einem Blick in den Spiegel nicht einmal selbst vermutet. Dunkelbraune Augen und schwarzes, wallendes Haar mit einem wie lackiert glänzenden Schnurrbart und einer so genannten Fliege, ein sonnengebräuntes Gesicht, dazu die hochwertige Kleidung mit den hohen Schaftstiefeln – damit hätte ich sogar meine Freunde am Goshun-See an der Nase herumgeführt. Ich ging weiter. An das Vorzimmer schlossen sich ein Wohnzimmer und dahinter das Schlafgemach an. Der mittelalterliche Badebottich war natürlich nur Staffage. Die Hygieneeinrichtungen waren hochmodern. Auf meinen persönlichen Kode hin verwandelte sich der schwere alte Eichenschrank in einen Durchgang, hinter dem die kleine Steuerzentrale des Anwesens lag. Ich aktivierte die Systeme durch Zuruf und sah Augenblicke später die Insel schräg unter mir liegen. »Das Sotral-Projekt wurde aufgegeben«, stellte ich nach einer kurzen Musterung fest. Sotral hatte die kleine Stadt auf der Felsnase gehießen, die vor knapp neunzig Jahren durch ein unerwartetes Vertikalbeben abgebrochen und ins Meer gestürzt war. Damals waren über dreihundert Menschen ums Leben gekommen. Man hatte die Siedlung mit dem historischen Amphitheater nicht wieder aufgebaut. »Ich brauche eine Projektion des Bebens vor vier Wochen«, sagte ich, »und zwar von dem Zeitpunkt an, als die Geräte erste Anzeichen feststellten.« Die Positronik legte mir alles auf den Schirm. Das Epizentrum befand sich in der Tat nicht weit von der Insel entfernt an genau der Stelle, wo in der Tiefe die Druckkuppel lag. Sorge bereitete mir vor allem die Stärke der Erschütterung, die alle bisherigen um ein Mehrfaches überstieg. Ich hielt es für möglich, dass der Unterwasserge-
birgsstock schwere Schäden davongetragen hatte und mit ihm auch die Kuppel, deren zylinderförmiger Sockel mit Hilfe von ArkonitVerstrebungen tief in dem Gestein verankert war. Der verzögerte Hilferuf konnte damit zusammenhängen. Nur hatte das Beben vor vier Wochen stattgefunden, die bedrohliche Situation für die Kuppel war aber offenbar erst vor fünf Tagen entstanden. Inzwischen … Ich wagte nicht den Gedanken zu Ende zu denken. Die meisten tektonischen Bewegungen an der Schnittkante zwischen den beiden Kontinentalplatten vollzogen sich für die Bewohner des Festlands und der Inseln unbemerkt. In Einzelfällen jedoch waren sie so gewaltig, dass Tsunamis entstanden, deren verheerende Auswirkungen von Energieschirmen abgefangen werden mussten. Die Küstenregionen der Inseln und der Kontinente waren also sicher, aber das galt nicht für Stationen unter Wasser, die im Einzugsbereich der Plattenverschiebungen lagen. »Und vor allem Stationen, von deren Existenz niemand weiß«, fügte mein Extrasinn hinzu. »Ich muss so schnell wie möglich hinab!« »Du besitzt noch nicht genug Informationen über das, was sich dort unten abgespielt hat. Also bezähme deine Ungeduld!« Der Logiksektor wusste genau, dass es mir weniger um die Station ging als vielmehr um den Roboter, der mir in all den Jahrtausenden ans Herz gewachsen war. »Rico, ich komme!« »Ich brauche weitere Informationen«, teilte ich der Positronik mit. »Waren zum Zeitpunkt des Bebens Fischer auf dem Meer? Gibt es Zeugen, die sich vor fünf Tagen draußen aufgehalten haben, als der Notruf erfolgte?« Die empfindlichen Seismographen der Messstationen hätten selbst winzigste Verschiebungen am Meeresgrund angezeigt, sogar das Abrutschen oder Einbrechen einer unsichtbaren Station. Und wären durch die Katastrophe die tarnenden Schirmsysteme ausgefallen, hätten selbst die Satelliten im Erdorbit die Unterwasserkuppel entdeckt und sofort Alarm gegeben. Nichts dergleichen war geschehen. Der Notruf meiner Unterwasserkuppel blieb mysteriös.
Ein Signal aus der robotischen Fünf-Sterne-Küche rief mich zum Essen. Seit meinem Aufbruch vom Goshun-See waren inzwischen fast zehn Stunden vergangen. Mein Magen knurrte vernehmlich, und der Gedanke an eine warme Mahlzeit war durchaus dazu angetan, mich die aktuellen Probleme für eine Weile vergessen zu lassen. Dennoch wollte mir das exzellente Essen mit seinen fünf Gängen dieses Mal einfach nicht munden. Den Nachtisch ließ ich ebenso stehen wie die angebrochene Flasche Rotwein – eine Todsünde für jeden Weinkenner. »Danke«, sagte ich zu dem Servo, »es hat mir geschmeckt, aber ich bin nicht in der besten Stimmung für solche Köstlichkeiten.« In den langen Jahren der Einsamkeit hatte ich gelernt, auch mit Maschinen in höflicher Form zu sprechen. »Wenn Sie einen besonderen Wunsch für das Abendessen haben, lassen Sie es uns wissen.« Ich überlegte kurz. »Vermutlich bin ich heute Abend außer Haus und kehre erst spät in der Nacht zurück. Rechnet besser nicht mit mir.«
Ich lenkte den Gleiter über das offene Meer. Empfindliche HighTech-Sensoren im Bug tasteten die Wasseroberfläche nach Spuren ab. Ein Stück Plastik, ein Fetzen Schaumstoff – solche winzigen Gegenstände hätten mir womöglich sehr viel über das Schicksal der Unterwasserkuppel verraten. Aber ich fand nichts. Die hypersensiblen Geräte aus USO-Produktion empfingen auch keine Signale vom Meeresgrund. Dort, wo in einer Tiefe von 2852 Metern die Kuppel lag, war nichts. Ich ließ die Geräte 3-D-Scans durchführen, ohne Erfolg. Das Antiortungssystem funktionierte einwandfrei. Höherdimensionale Emissionen konnten nicht angemessen werden. Ich entdeckte auch keinen Riss und kein Loch, in dem die Kuppel versunken sein konnte. Der Meeresboden zeigte die Spuren des Bebens vor vier Wochen, das war alles. Mir blieb nichts anderes übrig, als selbst hinabzutauchen und nachzusehen. Ich lenkte den Gleiter zur Küste zurück. Ein Stück östlich der Klip-
pe lag Pescares, eine Ansammlung kleiner Holzhütten, die sich zwischen Steilküste und Ufer drängten. Stangengerüste zogen sich am Wasser entlang, an denen die Fischer ihre Netze aufhängten und reparierten. Fischfang nach alter Väter Sitte, nannte sich das in den Prospekten der Reiseveranstalter. Tatsächlich handelte es sich nicht nur um Dekoration. Einige Fischer betrieben ihr Handwerk aus Tradition noch immer so wie ihre Vorfahren vor tausend und zweitausend Jahren. An einem langen Steg schaukelten die Kutter auf dem Wasser. Ein Stück abseits lagen die Überreste von zerstörten Booten, von der Flut an den Strand gespült. Die Positronik meiner Hazienda hatte entsprechende Informationen eingeholt. Bei dem Seebeben waren ein paar Boote gekentert. Die Fischer aus Pescares hatten alle Hände voll zu tun gehabt, ihre Kollegen aus dem Meer zu fischen. Die Flutwelle war unter den Booten durchgerast, gegen den Schutzschirm vor der Küste geprallt und zurückgekehrt. Dank des Geschicks der Männer hatte es nur ein paar Leichtverletzte gegeben. Ich steuerte den Gleiter hinab zum Strand, setzte ihn zwischen den Hütten und dem Steg ab und stieg aus. Ein paar Männer hielten in ihrer Arbeit inne und sahen mir aufmerksam entgegen. »Das ist Don Estevan«, rief einer. »Willkommen, Senor! Wir haben schon von Ihrer Ankunft gehört!« Ich reichte ihnen nacheinander die Hand und setzte mich auf eine leere Kiste. »Der Schaden ist ziemlich groß«, merkte ich mit einem Blick auf die Trümmer an. Ein paar der Männer ließen die Köpfe hängen. »Die Versicherungsabteilung der Inselverwaltung behauptet, die genaue Ursache der Flutwelle sei nicht geklärt«, antwortete einer der Fischer. »Und überhaupt sollen wir erst einmal beweisen, dass wir nicht selbst schuld daran seien, dass die Boote zerstört wurden. Lucianos hat seinen Mund mal wieder nicht halten können, faselte irgendetwas von unerklärlichen Vorgängen, einem Gespenst und merkwürdigen Spuren. Die gibt es tatsächlich, und jetzt will die Versicherung nicht zahlen.«
In mir schrillten sämtliche Alarmglocken. »Merkwürdige Spuren? Am Meeresgrund etwa?« »Nein, hier am Steilhang. Wollen Sie sich das ansehen, Don Estevan?« »Ja.« Zwei der Männer stapften mir voraus über den Strand bis zu einer Felsbarriere hinter den Stangengerüsten. »Dort, sehen Sie?« Ich entdeckte Einkerbungen im Felsgestein an der fast senkrechten Wand. In regelmäßigen Abständen hatte da jemand Vertiefungen in den Fels gefräst, gleichmäßig und tief, wohl um möglichst guten Halt zu haben. Die Spuren reichten bis zur oberen Kante der Steilwand. Dort endeten sie in vier schrägen Rillen. »Jemand ist da hinaufgeklettert«, sagte ich nüchtern. »Lucianos sagt, es war ein Ungeheuer. Es stapfte nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Wasser und kletterte den Felsen empor. Es stieß gleichmäßige, zischende Geräusche aus.« »Ich muss mir die Spuren aus der Nähe ansehen!« So schnell meine vornehmen Stiefel es zuließen, kletterte ich über die Barriere bis zu der Stelle. Das Gestein in den Einkerbungen besaß einen glasartigen Überzug, ein typisches Anzeichen für den Einsatz eines Desintegrators. »Ein Überlebender des Seebebens?« Ich hielt nach irgendeinem Hinweis Ausschau, der Aufschluss über die Person gab, die hier nach oben geklettert war. Vergeblich. Nach vier Wochen war es ziemlich unwahrscheinlich, dass hier noch irgendetwas zu finden war. »Es soll bei dem Beben ein Taucher ums Leben gekommen sein«, warf ich ein. »Wisst ihr etwas darüber?« »Nicht viel, Don. Er hieß Haydin Escobar. Er taucht schon seit Jahren in diesen Gewässern, vermisst die Sockel der Inseln und die Veränderungen am Meeresboden. Das Unglück geschah westlich der Insel, wo es viele unterseeische Strudel und Strömungen gibt.« Ich kehrte zu den Fischern zurück. »Wo ist Lucianos gerade?« »In seiner Hütte. Vermutlich schläft er seinen Rausch aus. Seit er angeblich das Gespenst gesehen hat, nimmt sein Alkoholkonsum täglich zu.« »Zeigt mir die Hütte.«
Einer der Fischer begleitete mich bis zur Tür. Ich klopfte und trat ein. Ein säuerlicher Geruch schlug mir entgegen. »Lucianos?« »Ah, Don Estevan!« Der Fischer saß in einem Sessel und streckte alle viere von sich. Er schien mir einigermaßen nüchtern zu sein, aber das halbe Dutzend leerer Weinflaschen sprach eine deutliche Sprache. Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich dem Mann gegenüber. Die Geruchsrezeptoren meiner verwöhnten arkonidischen Nase versuchten sich tapfer gegen den säuerlichen Reiz zu wehren. »Sie haben ein Gespenst gesehen, Lucianos?« »Ja, Don! Es trug eine Rüstung, und es spuckte Feuer. Wie ein metallener Drachen kam es mir vor. Es grub sich in der Felswand aufwärts und verschwand oben. Mit unserem Funkgerät habe ich die Verwaltung informiert, aber dort hat man mir nicht geglaubt.« Eine Rüstung, ein metallener Drache – die Indizien ließen nur einen Schluss zu. »Es muss ein Roboter gewesen sein, Lucianos.« »Vermutlich haben Sie recht, Don! Aber ein Roboter, der nach einem Seebeben aus dem Meer steigt und eine Steilwand emporklettert, das ist doch unsinnig, oder? Warum sucht er sich keinen flachen Strandabschnitt aus? Also kann es nur ein Gespenst gewesen sein.« Die Überlegung hatte etwas für sich. Es musste einen Grund dafür geben, dass die Maschine sich für den direkten Weg entschieden hatte. Ein Defekt etwa oder Kenntnisse über die Örtlichkeit. Das Ziel des Roboters war meine Hazienda gewesen. »Ich kümmere mich darum, Lucianos. Niemand soll Sie für verrückt halten.« »Danke, Don!« Ich hatte es plötzlich sehr eilig, rannte zum Gleiter und startete durch. Während das Fahrzeug mit hoher Beschleunigung in die Höhe stieg, aktivierte ich den Metalldetektor. Die rätselhafte Maschine musste irgendwo dort oben in der Landschaft zu finden sein. Länger als eine Stunde kreiste ich über dem Gelände, suchte jeden Winkel und jeden Spalt ab, folgte den Einschnitten des Geländes und drehte sinnbildlich jeden Busch um.
Nichts, keine Spur. Aber sie musste da sein. »Es ist vier Wochen her!« Ich landete nahe der Steilkante und sah mir den Boden genauer an. Nach einer Weile entdeckte ich einen winzigen Öltropfen zwischen zwei Grasbüscheln. »Ein defekter Roboter würde manches erklären«, sagte ich mir. »Auch das Ausbleiben eines zweiten Notrufs.« Jetzt, wo ich wusste, wonach ich suchen musste, fiel es den Instrumenten des Gleiters nicht schwer, immer wieder einen Tropfen zu finden. Auf diese Weise benötigte ich nicht einmal eine halbe Stunde, um mir über den Weg des Roboters klar zu werden. Er hatte sich keineswegs zur Hazienda gewandt, sondern weiter hinauf in die Berge. Dort oben gab es mehrere Dörfer wie Pandoval, die einst als touristische Attraktionen errichtet worden waren. Mittelalter, Altertum, Atomzeitalter – unterschiedlichste Epochen hatte man hier auf engstem Raum simuliert. »Durch die Jahrtausende in einem Nachmittag!« So oder ähnlich hatte der Marketing-Slogan wohl gelautet. Die Spur des Roboters führte an den Siedlungen vorbei, eine Straße hinauf bis zu dem Dorf am Himmel. »Ich fliege nach Pandoval«, teilte ich der Positronik in der Hazienda mit. »Da will ich wegen der alten Einladung sowieso hin.« »Seien Sie vorsichtig, Don Estevan«, warnte der Automat. »In Pandoval werden Anzeichen für irreguläre Erscheinungen gemeldet.« »Du meinst, es geht nicht alles mit rechten Dingen zu in Pandoval? Ich weiß. Ein Gespenst in einer Rüstung. Einer meiner Roboter soll hinaus zum Hang gehen, einem der Tropfen eine Probe entnehmen und sie untersuchen. Ich will wissen, was für ein Öl es ist.«
Paco Tensedes war ein altes, mürrisches Männlein, das mir gerade bis zur Brust reichte. Ein dicker, borstiger Schnauzbart und weit nach vorn stehende Wangenknochen sowie die kleinen, stechenden Augen machten ihn nicht gerade zu dem, was man einen Frauenschwarm nannte. Ich achtete nicht so sehr auf sein Aussehen als auf seinen Gang. Er stolzierte mehr, als er ging. Es verriet viel von seinem Charakter, von seiner Eitelkeit und seinem Hang zur Auf-
schneiderei. Er verbeugte sich mit einer großspurigen Geste. »Willkommen im Dorf unter dem Himmel«, rief er laut und lenkte damit die Aufmerksamkeit all der Menschen auf sich, die sich in Hörweite aufhielten. »Welch eine Ehre, welch hoher Besuch! Treten Sie ein, Don Estevan, treten Sie ein!« »Vielen Dank, Senor, eigentlich bin ich nur gekommen, um dem Wegweiser zu folgen.« »Wegweiser?« Er geriet ins Schlingern. Während sich die erste Horde Touristen näherte und anfing, uns mit allen möglichen Gerätschaften abzulichten, hielt ich nach der Ölspur Ausschau. Ich entdeckte den nächsten Tropfen in einer Seitengasse. »Alle Wege sind hier zu Ende«, sagte Tensedes. »Haben Sie einen Auftritt im heutigen Programm, oder sind Sie als Zuschauer gekommen?« »Weder noch, Senor!« Es brachte ihn endgültig aus dem Konzept. »Aber, aber …« »Wann ist hier der letzte Roboter vorbeigekommen, Senor?« »Der letzte Robo … Ich weiß nicht wann.« »Sie haben also keinen gesehen.« »Nein, schon seit Jahren nicht.« Er flunkerte, denn die meisten Gestalten in Pandoval waren verkleidete Roboter. Aber das durften die Touristen nicht wissen. »Es soll hier ein Gespenst in einer Rüstung aufgetaucht sein. Wissen Sie nichts davon?« »N-nein. Doch ja. Warten Sie, ich erinnere mich undeutlich daran.« »Wahrscheinlich ist es schon zu lange her«, nickte ich. »Gar nicht, gar nicht. Heute Nacht soll es gesehen worden sein.« »Wo?« »Hier in Pandoval.« »Das ist mir zu ungenau.« »Ich weiß wirklich nicht …« Die Zuhörer filmten uns gebannt. Sie betrachteten den Dialog als touristische Attraktion und rechneten wohl damit, dass das Gespenst bei irgendeinem Stichwort auftauchen würde. Es tat ihnen den Gefallen nicht. »Wir sehen uns später, Senor!« Ich bog in die Gasse ab, entdeckte
nach einer Weile einen neuen Öltropfen in der übernächsten Querstraße. Die Abstände zwischen den Spuren wurden kleiner, die Maschine verlor mehr Flüssigkeit. Der Roboter hatte kein bestimmtes Ziel verfolgt, sondern war eine Weile in den Gassen umhergeirrt. Schließlich führten mich die Ölflecke unmittelbar ins Zentrum, wo die täglichen Aufführungen aus dem Mittelalter stattfanden. Den letzten fand ich an einem Gitterrost, durch den das Wasser aus den Brunnen abfloss. Der Schacht unter dem Gitter war für den Roboter zu eng, er konnte nicht hinabgeklettert sein. Da es außerhalb des Areals keine weiteren Tropfen gab, musste ich innerhalb des Geländes suchen. Entschlossen schwang ich mich über die Umzäunung. »Sie sind nicht befugt, das Gelände ohne gültige Eintrittskarte zu betreten«, schnarrte es aus dem Nichts. »Ein Ordnungsrobot holt Sie ab und bringt Sie zum nächsten Besucherterminal.« »Ich bin Don Estevan. Ich suche das Gespenst in der Rüstung. Es muss hier irgendwo sein.« »Don Estevan de Corbedo y Cardegan«, erklang eine menschliche Stimme. »Gehen Sie unbesorgt weiter. Sie dürfen sich ungehindert auf dem Gelände bewegen.« »Ich danke Ihnen, Senor. Meine Ankunft hat sich offensichtlich herumgesprochen.« »Wir wurden informiert. Ich soll Ihnen schöne Grüße von Senor Carlito ausrichten. Er hat hier oben eine ganze Menge programmiert.« »Danke!« Ich ging weiter. In dem weiten Rund der Zuschauertribünen saßen und standen mehrere Akteure und übten ihre Auftritte. Hoch oben auf schwankender Planke hockte ein einsamer Jüngling und intonierte einen Fado, einen wehmütigen historischen Gesang um Liebe und Tod. Auf der anderen Seite des mindestens dreihundert Meter durchmessenden Areals saß sein weiblicher Gegenpart, eine junge Frau von anmutiger Schönheit, die ihm in der Art eines Kanons antwortete. »O Marco, o Marco Miguel von Algir, mein Herz verzehrt sich in Sehnsucht nach dir …« Dann zerfloss die Schöne in Tränen, ihr Körper löste sich in Nano-
partikel auf und glitt mit den Tränen durch den Gitterrost zu ihren Füßen … Aus dem Schatten einer Säule trat der Regisseur und hustete in seine Mikrofonprojektion. »Das war schon ganz gut. Ich hätte aber gern in den korrespondierenden Bewegungen der beiden Figuren noch ein wenig mehr Harmonie. Das ganze Programm von vorn …« Ich richtete meinen Blick wieder auf den Boden und folgte unbeirrt den Öltropfen, die noch niemand bemerkt zu haben schien. Zumindest hatte kein Reinigungsroboter sie entfernt. »Oder der defekte Roboter ist erst vor kurzem hier vorbeigekommen!«, meldete sich der Extrasinn. Die Tropfen führten zu einem Abgang in die Katakomben unter dem Gelände. Ein wenig erinnerten die Rundgänge an das Kolosseum in Rom, an das ich nicht nur angenehme Erinnerungen hatte. Die Tropfen reichten bis zum ersten Quergang, der den Außenbezirk mit dem Zentrum und den übrigen Rundgängen verband. Schriftplaketten an der Wand zeigten an, in welche Bezirke und Garderobenzonen er führte. Inzwischen lag alle fünf Meter ein Tropfen auf den Boden. Die Spur war nicht mehr zu verfehlen. Ich ging schneller, als könnte ich durch meine Eile auf den letzten Metern Schlimmes verhüten. »Gleich!«, sagte ich mir, »gleich weißt du, was geschehen ist!« Vor einer Tür im vorletzten Rundgang endete die Spur. Der Roboter befand sich irgendwo hinter dieser Tür. Verstohlen sah ich mich um. Ich konnte keine Kamerasysteme und auch keine Hinweise auf Mikrosonden entdecken. Ich nestelte unter meinem Wams, aktivierte den Miniaturorter und sammelte ein paar Sekunden lang Eindrücke aus der Umgebung. Mit einem kaum wahrnehmbaren Summen gab das Gerät Entwarnung. Als ich meine Hand auf den Öffnungskontakt legte, glitt die Tür mit einem leisen Zischen zur Seite. Vor mir lag ein Raum mit lauter Gestellen, an denen Kostüme hingen, Hunderte aus verschiedenen Epochen des terranischen Mittelalters. Ich hatte den Fundus Pandovals vor mir. »Ist hier jemand?«, fragte ich.
Es blieb still. Ich trat ein, ging an den Gestellen entlang zum hinteren Ende des Raumes. Zwischen ein paar Kisten sah ich etwas glänzen. Es sah aus wie polierte Schuhe, aber bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es Füße waren. Metallene Füße. Ich stürmte vorwärts …
Galbay-Informationshandel 3 »Wer am meisten bietet, erhält den Zuschlag. Noch läuft die Zeit …« »Das Triumvirat verhängt die Todesstrafe. Die Exekution ist umgehend durchzuführen.« »Zu Befehl, Carsual-Oberst!« Bante Leite salutierte. »Ich schicke sofort ein Kommando aus, das den Befehl vollstreckt. Lang lebe das Triumvirat!« Der Bildschirm wurde dunkel, in der Scheibe spiegelte sich übergangslos sein eigenes Gesicht. Auf dem Kopf thronte ein messerscharf rasierter Sichelkamm in Grün und Rot, der seinem Spitznamen »Vatermörder« alle Ehre machte. Bante hatte ihn als Nagelbrett eingesetzt, um den Verräter zu töten, der sein eigener Vater gewesen war. Den Stoß gegen die Brust hatte der Alte nicht überlebt. Carsual duldete keinen Abweichler, wie Konde Lerte einer gewesen war. Bante wandte sich um und blickte die untergeordneten Offiziere finster an. »Ihr habt es gehört«, knurrte er. »Ist das Kommando schon unterwegs?« »Mit allem Respekt, Carsual-Major. Agent Zerog Fantor hat Ertrus vor nicht ganz zwanzig Stunden verlassen. Er wird in Kürze seinen Einsatzort erreichen.« Bante Lerte warf einen schrägen Blick auf den Wandschirm. Sie zeigte sechs Dutzend fahnenförmige Symbole in flammendem Rot. Jedes symbolisierte einen Agenten des Carsualschen Bundes. Und alle arbeiteten sie an einem einzigen Auftrag, dem wichtigsten seit
der Gründung des Sternenbundes überhaupt. Das Triumvirat war fest entschlossen, als Sieger aus dem Wettbieten hervorzugehen. Mit einem Faustschlag aktivierte Bante sein Terminal und schrieb eine Mitteilung an Oberst Tark Tarak. »Delinquent zur Zeit in wichtiger Mission außerhalb der Heimatwelt. Die Exekution wird aufgeschoben.« Der Carsual-Oberst erwiderte sofort. »Delinquent ist umgehend zu verfolgen und nach der Festnahme zu exekutieren.« Diesmal schrieb Carsual-Major Bante Lerte die Antwort mit genüsslichem Grinsen. »Dadurch sinken unsere Chancen in der Galbay-Sache auf Null. Ich empfehle daher eine Änderung des Namens des Delinquenten.« In Gedanken stellte er sich das wutverzerrte Gesicht des Obristen vor. Dabei konnte der ihm noch dankbar sein, denn Bante rettete ihm mit dem Hinweis gewissermaßen sein eigenes, nutzloses Leben. Tarak meldete sich nicht mehr, und in der Agentenzentrale von Baretus kehrte so etwas wie Alltag ein. Bante studierte die aktuellen Berichte, die fast halbstündlich eintrafen. Jedem Agenten folgte – als eine Art unsichtbarer Schatten – ein zweiter, der gewissermaßen als Protokollant fungierte. Er meldete alles nach Ertrus, was der Agent auf vorgeschobenem Posten unternahm. Für die schnelle Nachrichtenübermittlung hatte Carsual ein Netz aus Schiffen aufgebaut, dessen Unterhalt Unsummen verschlang. »Neueste Information: Agent Fantor hat Boscyks Stern erreicht und ist auf dem Planeten Olymp gelandet«, meldete Adjutant Stejno Bekus. »Zerog Fantor genießt ab sofort oberste Priorität«, antwortete Bante Lerte. Er sparte sich die Mühe, die Entscheidung zunächst mit Tark Tarak abzustimmen. Der Carsual-Oberst war von der kämpfenden Truppe zum Geheimdienst versetzt worden. Über die Gründe konnten sie alle nur spekulieren. Geheimdienste folgten eigenen Gesetzen. Tarak schien damit seine Schwierigkeiten zu haben. Spitzenleute wie Fantor liquidierte man nicht. »Stejno, welches Vergehens hat Fantor sich überhaupt schuldig gemacht?« »Er hat im Suff mit einer gefrorenen Rinderhälfte einen Kadetten
erschlagen. Der war dummerweise ein Verwandter Taraks.« Nichts Schwerwiegendes also und schon gar nichts, was in irgendeiner Weise gegen den Staat oder das Triumvirat gerichtet war. Bante Lerte war zufrieden und widmete sich den anderen Fahnensymbolen. Die Fahne, die Nosmo markierte, war durch einen gelben Punkt hervorgehoben. Die Agenten im Machtzentrum Dabrifas kämpften gegen rein genetisch bedingte Schwierigkeiten. Sie fielen überall durch ihre Körpergröße auf. Da nützte auch die Tarnung als Vertreter der ertrusischen Wirtschaft, als Bergwerksingenieure oder als Gleiterpiloten nichts. Dabrifa ließ sie genau so gründlich überwachen wie das Personal der Carsualschen Botschaft. Daher bedienten sich die Ertruser hier unauffälliger Normalterraner aus den Kolonien, die in den vergangenen Jahrzehnten zum Carsualschen Bund gestoßen waren. Sie waren tüchtig und intelligent, aber auf Ertrus galten sie lediglich als Mittel zum Zweck. Als Kanonenfutter, um es in der Sprache der Schlachtpläne Oberst Taraks auszudrücken. »Agent Null-Zwo-Acht wurde von Epsal mit unbekanntem Ziel abgestrahlt. Der Protokollant hat Alarm ausgelöst.« Eines der Schiffe in stellarer Nähe kümmerte sich darum. In erster Linie galt es, die Gegenstation des Transmitters zu finden und sicherzustellen, ob der Agent dort angekommen war. Der Blick des Carsual-Majors wanderte an den Fähnchen der interstellaren Wandkarte entlang. Zwei Brennpunkte gab es derzeit, also Orte, an denen sich Agenten aller möglichen Machtblöcke und Regierungen gegenseitig auf die Zehen traten. Gendola im Genua-System und Nosmo im Normon-System. »Dabrifa wird nicht so verrückt sein, selbst als Drahtzieher hinter Galbay zu stecken«, überlegte Bante Lerte halblaut. »Die USO würde kurzen Prozess mit ihm machen.« Wenn die United Stars Organisation eingriff, und an ihrer Seite das Solare Imperium, blieben dem Diktator höchstens ein paar Stunden zur Flucht. Die Flotten seines Imperiums hätten keine Chance, und ein Großteil der von Dabrifa annektierten Planeten würde mit wehenden Fahnen überlaufen. Andererseits, wenn fremde Geheimdienste seine Hauptwelt als
Treffpunkt für ihre Jahreshauptversammlung benutzten, sollte Dabrifa das nicht einfach hinnehmen, sondern aufräumen. Kein Despot konnte es sich leisten, einfach zu dulden, dass man ihm auf der Nase herumtanzte. Dabrifa musste reagieren. Bante Lerte legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke. Ein bedeutendes Puzzleteil fehlte ihnen, um die Situation auf Nosmo genau beurteilen zu können. Entweder versuchte jemand den Imperator aus der Reserve zu locken, oder der wollte seinerseits die Gegenseite zu einem Fehler verleiten, wer auch immer die Gegenseite war. »Agent Null-Zwo-Acht wurde liquidiert«, traf zwei Stunden später eine Meldung ein. »Sein Körper trieb leblos im Raum.« »Positronikauswertung!«, befahl Bante. »Wer kommt dafür in Frage?« Sekunden später nahm er verwundert zur Kenntnis, dass kein anderer Geheimdienst seine Finger im Spiel hatte. Es musste unmittelbar an dem geheimen Treffpunkt passiert sein, den Null-Zwo-Acht besucht hatte. Das Schiff, zu dem der Agent vermutlich abgestrahlt worden war, hatte das Vono-System mit unbekanntem Ziel verlassen. »Die Ankerdrohne seines Anzugs«, überlegte der Carsual-Major. »Vielleicht war sie erfolgreich.« Es konnte Tage oder Wochen dauern, bis sie es erfuhren. »Halten wir fest, Null-Zwo-Acht suchte einen geheimen Galbay-Treffpunkt auf. Von dort beförderte ein Transmitter ihn in ein Raumschiff unbekannter Nationalität, das er als Leiche verließ. Wenn das Schule macht …« Einen halben Tag später wussten sie in Baretus, dass es kein Einzelfall gewesen war. Auf Genua waren insgesamt vier Agenten unterschiedlicher Geheimdienste spurlos verschwunden. Der geheime Treffpunkt, den sie aufgesucht hatten, existierte nicht mehr. Handelskapitäne hatten zum fraglichen Zeitpunkt einen vermutlich steuerlosen Raumtransporter beobachtet, der in die Sonne Genua gestürzt war. Da hatte sich jemand auf elegante Weise einer Reihe unwillkommener Agenten entledigt.
»Beim Vulkanland, was soll das?«, entfuhr es Bante. »Dient der ganze Rummel um die angeblichen Informationen der galaxisweiten Dezimierung aller Geheimdienste?« Am liebsten hätte er sich sofort in das nächstbeste Raumschiff gesetzt, um die Antwort darauf zu finden. Die Positronik brachte ihn auf andere Gedanken. »Auf Nosmo wurde ein Kaufmann namens Ebner Walsh ermordet. Dabrifa hat die Meldung durchsickern lassen. Ich blende das Holo ein.« Der Carsual-Major starrte in ein typisches Menschengesicht, wie es sie in der Westside zu Milliarden gab. »Mir unbekannt!« »Die Person Ebner Walsh wurde auf Terrancona identifiziert. Sie traf dort vor über einer Woche mit Agent Null-Eins-Vier zusammen und übergab ihm eine Botschaft von Galbay.« Bante Leite riss es aus seinem Sessel. »Alarm für Null-Eins-Vier! Er schwebt in Lebensgefahr!« Sie kamen zu spät.
Ferrol? Der Carsual-Major blinzelte ungläubig. Er prüfte die LogDaten und fand keinen Übertragungsfehler. Ferrol im System der weißen Riesensonne Wega, unmittelbar unter den Augen der Terraner! Das Solsystem lag gerade mal 27 Lichtjahre von Wega entfernt. Und ausgerechnet hier sollte Eins-Drei-Sechs den Kontaktmann treffen. Aus der Sicht der Terraner war das eine gezielte Provokation, auch wenn die Ferronen politisch eigenständig waren. Bante Lerte war überzeugt, dass die SolAb ihre Leute auch im Wega-System hatte, und bestimmt nicht wenige. Allerdings traf man auf Ferrol kaum Terraner. Dafür gab es Unmengen ferronischer Dienstleister, die hinter jeder Ecke lauerten und Besucher hartnäckig verfolgten. Unter solchen Bedingungen arbeiteten Agenten relativ ungeschoren, denn sie konnten sich immer mit ihrem Job herausreden. »Agent Valzeff wurde liquidiert«, meldete die Positronik. Valzeff von Ambora. Bante rief die Daten und Holos des Kolonis-
ten auf. »Ein guter Mann, Leute. Die Amboraner eignen sich hervorragend für solche Jobs. Das sind Menschen mit hohem Einfühlungsvermögen. Versucht herauszufinden, was ihm zum Verhängnis wurde.« Solche Nachforschungen liefen meist über sekundäre Kanäle, in diesem Fall über eine Reihe von Reinigungsfirmen, die Filialen auf fast allen Welten im Wega-System unterhielten. Bei den Mitarbeitern handelte es sich ohne Ausnahme um Einheimische, die man für Auskünfte solcher Art reichlich entlohnte. Mit wenig Aufwand viel Geld zu verdienen galt auch bei den Ferronen nicht als unanständig. »Der Protokollant hat den Kontakt zu Agent Eins-Drei-Sechs verloren«, lautete die nächste Meldung von Ferrol. Bante Lerte geriet ins Grübeln. Andere Geheimdienste bekamen es möglicherweise gar nicht mit, was sich da entwickelte. Carsual aber hatte mehrere »Agentenflotten« im Einsatz und arbeitete an allen erkennbaren Fronten. Wer immer hinter der Auktion steckte, überzog die Westside mit einem Spinnennetz an Kontaktadressen und Ansprechpartnern. Auf Baretus waren derzeit sechs Kontaktleute von Galbay bekannt. Bante fragte sich, wozu das alles gut sein sollte. Eine ganz normale Versteigerung hätte es doch eigentlich auch getan. Für den Carsual-Major gab es nur eine Erklärung. Wer immer die brisanten Informationen versteigerte, legte Wert darauf, dass sie in die richtigen Hände gelangten. Der zukünftige Besitzer schien schon festzustehen. Die Versteigerung diente lediglich dem Zweck, den Preis nach oben zu treiben. Clever gemacht, aber vielleicht nicht clever genug. Die Hintermänner der Auktion rechneten nicht mit Carsual. Nachdem sie den Kontaktmann ausgeschaltet hatten, glaubten sie wohl, Carsual aus dem Rennen geworfen zu haben. »Wir werden die Agenten unserer Kolonialvölker stärker in den Vordergrund rücken«, entschied Bante mit einem kurzen Blick zu den Offizieren. »Dann sieht es nach außen hin so aus, als sei Carsual nicht mehr an den Informationen über die USO interessiert.« Der Carsual-Major legte eine Ruhepause ein. Drei Liter Rotwein von den Weinbergen des Vulkanlands sowie ein Rinderviertelchen
stählten seinen Körper und vertrieben die Müdigkeit. Als er in die Zentrale zurückkehrte, prangte die nächste schlechte Nachricht auf seinem Bildschirm. Ein weiterer Spitzenagent war auf Ferrol liquidiert worden, diesmal ein Ferrone. Der Täter, ebenfalls ein Ferrone, hatte nicht lange gefackelt und ihn auf offener Straße erschossen. Es existierten Aufzeichnungen einer Überwachungskamera. Bante ließ den Holofilm dreimal durchlaufen. Es sah nach einer persönlichen Angelegenheit aus, einem Racheakt etwa. Und gerade das machte den Vorgang so dramatisch. Entweder wollte die Gegenseite ihnen zeigen, wie überlegen sie agierte, oder sie wurde langsam nervös und schoss auf Verdacht. »Noch immer kein Kontakt zu Eins-Drei-Sechs?« »Nein!«, antwortete die Positronik. Da die Situation in den folgenden Stunden stagnierte, orderte Bante ein Expressschiff des Geheimdienstes. Augenblicklich meldete sich Tark Tarak. »Jemand trickst unsere Agenten aus! Sehen Sie nach, was da los ist. Fliegen Sie nach Nosmo und stellen Sie diesen Dabrifa zur Rede!« »Nosmo?« »Nosmo ist der Dreh- und Angelpunkt, Carsual-Major!« »Nosmo war der Dreh- und Angelpunkt, Carsual-Oberst!« Tark Tarak starrte ihn mit offenem Mund an, bis Bante die Verbindung abschaltete. »Ihr Flug steht in einer Stunde bereit«, teilte die Positronik mit. Bante Lerte schärfte den untergeordneten Offizieren ein, wie sie sich während seiner Abwesenheit zu verhalten hatten. Sicherheitshalber aktivierte er alle seine persönlichen Kodes, um auch aus der Ferne Zugriff auf die Systeme der Zentrale zu haben. Dann machte er sich auf den Weg zum Raumhafen. Kurz darauf raste die Kugel mit ihm hinaus ins All und ging auf die über 6000 Lichtjahre weite Reise zur Wega. Unterwegs verwandelte sich das Geheimdienstschiff in einen unbewaffneten Handelsraumer, die Laderäume mit Rohstoffen und Agrarprodukten gefüllt. Die Geschützpositroniken nahmen das Aussehen von Produktrechnern an, und die Besatzung ließ ihre Uni-
formen in Geheimschränken verschwinden und bezog die Unterkünfte für Ladearbeiter. Positronikspezialisten checkten die Verladeroboter durch. »Wenn nicht wir uns mit Terra messen können, wer dann?«, murmelte Bante Lerte vor sich hin. Für ihn gab es keinen Job in der technischen Crew, also verwandelte er sich in einen Küchenjungen und zählte Rinderviertelchen und Hektoliter Suppe, die es nach der Arbeit auf Ferrol geben sollte. Kurz vor dem Ende der letzten Linearetappe suchte der CarsualMajor die Zentrale auf und besprach sich mit dem Kommandanten. »Die Lage auf Ferrol ist nicht zu überblicken«, sagte er. »Unsere Agenten werden erst im letzten Augenblick darüber in Kenntnis gesetzt, welches Schiff sie aufnimmt. Einer unserer Top-Leute ist verschwunden, wir werden unauffällig nach ihm suchen. Sollten sich Agenten anderer Geheimdienste blicken lassen, können Sie sie gern ins Schiff lassen, aber nicht wieder hinaus.« Er ging zur Tür. »Noch etwas. Wir nehmen keine Ladung auf, ohne dass ich es genehmige. Zu viele Leute hätten ein Interesse daran, uns eine Bombe ins Schiff zu schmuggeln.« Er ging in seine Küche und aktivierte die Kartoffelschälautomatik. Vom Anflug auf das fantastische Wega-System mit seinen 42 Planeten bekam er nichts mit. Die Landung auf dem Haupthafen von Ferrol kündigte ein Gong an. Für Bante Lerte war es das Zeichen, langsam auf seinen Posten hoch über den Bodenschleuse zu gehen, wo er den Antigravschacht und die Laderäume gleichzeitig im Auge behalten konnte. Die Warenabfertigung erfolgte auf einem hochtechnisierten Planeten wie Ferrol automatisch. Die Positroniken tauschten ihre Daten aus, dann kamen die robotgesteuerten Transportgleiter, übernahmen die Waren der Ertruser oder löschten ihre eigene Ladung direkt in die Frachträume des Kugelraumers. Bante kontrollierte die Daten und stieß auf Position 136. Siebzehn Tonnen frisches rofusisches Kaiokifleisch für Baretus. Als Ergänzung hatte der Absender Riesenkarpfen-Futter notiert. Oder nach anderer Lesart Rikar Fenfut. Nur Bante Lerte und zwei weitere Mitarbeiter der Geheimdienst-
zentrale konnten mit diesem Namen etwas anfangen. Seine Finger huschten über die Dateneingabe der Positronik und gaben die Koordinaten des Kühlraums ein, in dem der Automat die Ware einlagern sollte. »Das dürfte es gewesen sein«, überlegte er. Der Protokollant kam ganz offiziell als Reisender und bezog eine der Passagierkabinen. Weitere Kontaktversuche erfolgten nicht, Bante nahm es als Zeichen, dass die übrigen Agenten und Helfer allesamt nicht mehr am Leben waren. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Entladezone und achtete darauf, dass niemand etwa im Schutz eines Deflektorfelds versuchte an Bord zu gelangen. Die Uhr lief. Drei Stunden dauerte das Be- und Entladen, dann zogen sich die letzten Gleiter von den Laderäumen zurück. Die Proben ergaben keine Preisminderung, die Automaten der Hafenverwaltung berechneten die entsprechenden Beträge, zogen Gebühren ab und schrieben dem Schiff die Differenz gut. Das übliche Procedere. Das Handelsschiff KAP NEGRET erhielt Starterlaubnis und machte sich auf den Heimweg. Bante Lerte kehrte in die Zentrale zurück. Er konnte es kaum erwarten. Als das Schiff im Linearraum verschwand, legte er seine Uniform wieder an und machte sich auf den Weg zum Kühlraum. Drei Soldaten mit schussbereiten Strahlern begleiteten ihn. Sie öffneten die Verpackung und anschließend die Kiste. Heraus stieg Rikar Fenfut alias Agent Eins-Drei-Sechs. Neben ihm in der Kiste lag eine reglose Gestalt, die der Ertruser wenig sanft packte und hochzerrte. »Das ist der Kerl«, knurrte er und warf ihn Bante herüber. »Ein Terraner. Galbay-Mitarbeiter. Ich habe ihm ein Narkotikum verabreicht.« »Gute Arbeit. Ich kümmere mich um ihn. Aber warum hat der Protokollant den Kontakt zu Ihnen verloren?« »Der Kerl da wurde auf ihn aufmerksam und hielt ihn für mich. Darauf brachen wir den Kontakt ab, ich wurde zu seinem Schatten. Als der Galbay-Typ ihn in die Falle lockte, war ich schon da. Pech.« Bante Lerte klopfte sich anerkennend auf die Schenkel. »Wir kehren ins Hauptquartier zurück. Alles andere später.«
Er suchte den Protokollanten auf und befragte ihn. Der Ertruser bestätigte die Angaben des Kollegen. Zumindest ein Teil der Galbay-Kontaktleute schien daran interessiert zu sein, die Agenten der Geheimdienste auszuschalten oder nur bestimmte Personen zu dem anstehenden Geschäft zuzulassen. »An uns werden sie sich die Zähne ausbeißen«, schwor sich der Carsual-Major.
Bante Leite musterte den Mann auf der Liege. Der Terraner trug einen Drei-Tage-Bart, der die Narben in der unteren Gesichtshälfte ein wenig kaschierte. Ein Mediker beendete soeben die Untersuchung der Zähne und schüttelte den Kopf. Der Galbay-Agent trug keine eingebauten Sender oder Mikrofone mit sich herum. Er war sozusagen sauber. »Die Kerle müssen sich ihrer Sache verdammt sicher sein, sonst würden sie nicht derart souverän agieren. Das Verschwinden ihres Kontaktmanns dürfte ihnen einen Dämpfer versetzen.« Am schlimmsten in solchen Fällen war immer, wenn man nicht wusste, wer den eigenen Mann aus dem Verkehr gezogen hatte. Bante zog einen Stuhl heran und setzte sich ans untere Ende der Liege. »Danke, Doktor. Sie können gehen!« Der Arzt warf ihm einen prüfenden, leicht misstrauischen Blick zu. Er schien zu ahnen, worum es ging. Der Carsual-Major grinste verhalten. »Keine Sorge, auf Ertrus übergebe ich Ihnen den Kerl lebend.« Das Gesicht des anderen belehrte ihn, dass dieser solche Worte eher als Drohung verstand, nicht so sehr als Beruhigung. »Verdammt, Doc, das ist ein Geheimdienstschiff!« »Alle Ärzte dieser Galaxis leisten irgendwann zu Beginn ihrer Laufbahn einen Eid«, erklang die leise Antwort. »Jeder muss mit sich selbst abmachen, ob er sich sein Leben lang daran hält.« Bante richtete seine Aufmerksamkeit auf den Narkotisierten. Nach einer Weile erwachte das Terminal an der linken Wand aus dem Schlaf, der Bildschirm lieferte neue Informationen zu den Vorgängen auf Ferrol.
»Der Gefangene heißt Arne Petrostein. Er arbeitet als Repräsentant für verschiedene Handelsgesellschaften«, erläuterte die Stimme. »Vermutlich eine Tarnexistenz. Seine Fingerabdrücke sind nirgendwo gespeichert. Ein fester Wohnsitz ist bisher nicht bekannt.« Bante Leite zog den Rollschrank zu sich heran, musterte die Beschriftungen der Schubladen und entschied sich für ein Wahrheitsserum. Er injizierte dem Terraner eine minimale Dosis, dann wartete er, bis die Wirkung des Narkotikums ein wenig nachließ. »Hören Sie, Arne«, sagte er dann, »bevor ich Sie hier heraushole, muss ich sicher sein, dass Sie der Richtige sind. Wo waren Sie zuletzt im Einsatz?« Er wiederholte die Frage dreimal, bis der Terraner reagierte. Er bewegte die Lippen, formte den Mund zu einer Silbe. »Fer …« »Wo fliegen Sie anschließend hin?« »Berg…« Wieder las Bante es mehr von den Lippen ab, als dass er es hörte. »Vulkanberge?« »Ne …« »Hören Sie, Arne, wir sind unterwegs. Wir fliegen. Sagen Sie uns, wohin wir Sie bringen sollen.« »Montan …« »Montag war vorgestern.« »… je.« »Also gut, noch mal von vorn. Was ist mit Montag?« Der Galbay-Mann riss plötzlich die Augen auf und richtete sich kerzengerade auf. Aus seinem Hals drang ein Krächzen, er wollte sprechen, aber es klappte nicht. Die Wirkung des Narkotikums ließ nur langsam nach. »Wohin, Arne?« Das Gesicht des Mannes verzerrte sich zu einer Fratze des Abscheus. Ob vor sich selbst oder vor ihm, konnte Bante Lerte nicht erkennen. »Rede endlich!« Der Gefangene rang mit sich. Er bewegte den Mund hin und her, dann spuckte er Bante aus vollem Hals an. Der Ertruser wich viel zu
spät aus, so perplex war er. »Na gut, du willst es nicht anders.« Mit einem Klaps der flachen Hand auf den Kopf schlug er den Terraner bewusstlos und ging hinaus. Draußen lauerte der Mediker, bewaffnet mit allen möglichen Instrumenten und Injektionen für eine Widerbelebung. »Er schläft, Doc! Kümmern Sie sich um ihn, bis wir gelandet sind und ihn brauchen.« Er suchte die Zentrale auf, wo er schon mit Spannung erwartet wurde. »Der Einsatz war ein voller Erfolg, Leute. Wir haben Agenten verloren, aber dafür einen wichtigen Mann der Gegenseite erwischt, einen Mitarbeiter von Galbay.« Er ließ sich in einen freien Sessel fallen und starrte auf seine Stiefelspitzen. Was war mit Montag? Eigentlich hatte er ›Montan‹ verstanden. Und wieso sagte Petrostein immer ›je‹? Bante Lerte zermarterte sich das Gehirn, bis das Schiff auf den Raumhafen von Baretus niedersank. Montan – je – irgendwie wollte es nicht in den Kopf des Ertrusers. Vielleicht ein einziges Wort? Montagne? Plötzlich fiel es dem Ertruser siedendheiß ein. Montagne! Ein Freihandelsplanet, der von der UNION ÉTOILES beherrscht wurde. Die UÉ galt galaxisweit als Organisation mit zweifelhaftem Ruf, eine Art interstellare Mafia mit eigenen Gesetzen. »Das Wespennest!«, grinste Bante Lerte, während er den Antigravschacht abwärts zur Landefläche sank. Drunten wartete ein Wagen mit Sichtschutz, der ihn auf dem schnellsten Weg zur Zentrale bringen sollte. »Ihr werdet Augen machen!« Das galt insbesondere für Tark Tarak. Das Schrillen des Alarms ließ den Carsual-Major zusammenzucken. »Was ist los?« »Der Gefangene hat sich umgebracht!« »Sagt, dass das nicht wahr ist!« »Tut mir leid, es stimmt.« Bante Lerte machte kehrt. Er schaltete das Aggregat an seinem Anzug ein und raste den Schacht empor bis ins Zentrum des Schiffes. Im Korridor kam ihm der Mediker entgegen. »Was soll das?«, schrie Bante ihn an. »Ich sagte Ihnen zu, dass Sie
den Kerl auf Ertrus lebend zurückbekommen würden. Ist das Ihr Dank, Doktor?« »Er stellte sich bewusstlos. In einem günstigen Augenblick riss er sich einen seiner Jackenknöpfe ab. Dieser enthielt ein hochwirksames Gift. Die Analyse läuft noch.« »Verdammter Mist. Stellen Sie sein Gehirn sicher. Wir versuchen, möglichst viele Informationen rauszuholen, bevor es abstirbt.« »Das Gift wirkte insbesondere auf das Gehirn. Oder was dachten Sie?« Bante Lerte wusste, wie Niederlagen schmeckten. Diese hier war besonders bitter. Aber er besaß noch die eine Information, die ihnen den Weg dorthin wies, wo die Drahtzieher von Galbay saßen. Damit konnte er Leute wie Tark Tarak ein für allemal aus dem Rennen werfen. Der abgestellte Wagen stand nicht mehr an seinem Platz, auch nicht in der Nähe. Den Grund erkannte Bante, als seine Stiefel den Boden berührten und er aus dem Transportfeld trat. »Bante«, lockte eine Stimme irgendwo hinter ihm im Schatten. »Wo ist mein Bante?« »Mutter?« Er wandte sich um, versuchte das Halbdunkel unter dem Schiff zu durchdringen. Tatsächlich, dort hinten stand sie, elegant und bis unter den Sichelkamm durchtrainiert. Genau so hatte er sie seit seiner Kindheit gekannt. Tenja Lerte winkte ihm zu. »Ich habe auf dich gewartet, Bante! Nimmst du mich mit?« »Wieso haben sie dich überhaupt hereingelassen?« Mit weiten Schritten stapfte er auf seine Mutter zu. »Ich wollte dich abholen. Der Hafenmeister ist dein Onkel. Schon vergessen, Bante?« »Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wieder ein. Was willst du?« Er kannte seine Mutter zu gut. Wenn sie persönlich hierher kam, hatte sie Gründe. Wichtige Gründe! »Du kannst es dir nicht denken, du Bastard? Du hast mir das genommen, was mir in meinem Leben am wichtigsten war. Meinen Mann! Fahr zur Hölle!« Schneller, als er hinsehen konnte, zog sie einen Trikomb-Strahler
hervor und schoss. Bantes Hand fuhr zum Gürtel mit dem integrierten Schirmprojektor, aber da traf ihn der Energiestrahl an der Brust und riss ihn mit sich. Er spürte die Hitze in seinem Oberkörper, es wurde dunkel vor seinen Augen. Bante Lerte stürzte, aber er sah den Boden nicht mehr. Sein letzter Gedanke war »Montagne«. Als der Carsual-Major aufschlug, war er schon tot.
Kapitel 4 Bereits die Vertiefungen in der Steilwand hatten es mir verraten. Der Roboter besaß eine humanoide Grundform mit zwei Armen und zwei Beinen und vermutlich einem Kopf. Rico … Er schien beschädigt, hatte möglicherweise als einzige Maschine den Untergang der Kuppel überstanden. Der Gedanke, die Kuppel könnte in den Tiefen der Erdkruste versunken sein, trieb mir Tränen in die Augen. Mit der Kuppel verlor ich zehntausend Jahre meiner eigenen Geschichte, mein Zuhause auf einer Welt von lauter Wilden, die ich immer mehr schätzen gelernt hatte. Über die Jahrtausende waren sie mir richtiggehend ans Herz gewachsen, bei allen Vorbehalten gegenüber Bewohnern eines Planeten der Entwicklungsstufe D. Inzwischen schlugen längst zwei Herzen in meiner Brust, ein arkonidisches und ein terranisches. Ich mochte die kleinen Barbaren und ihr Ungestüm, mit dem sie ins Weltall aufgebrochen waren – unkonventionell, offen für alles, staunend und doch zielorientiert. Ohne sie hätte ich es nie geschafft, Arkon wiederzusehen, Imperator des Tai Ark'Tussan zu werden. Und ohne sie wäre ich längst nicht mehr am Leben. Ich verdankte ihnen vieles, fast alles, und sie verdankten fast alles mir, der ich schon in ihrer tiefen Vergangenheit die Wurzeln dessen gelegt hatte, was sie inzwischen erreicht hatten. Ein arkonidischer Prinz als Entwicklungshelfer und Mentor eines kleinen Volkes weit draußen in einem unbedeutenden Spiralarm der galaktischen Westseite, weitab von den eingesessenen raumfahrenden Völkern … Dennoch empfand ich jetzt Wut. Wut auf diese Welt, die mir alles nahm, was ich über lange Zeit besessen hatte. Schloss sich der Kreis, der damit begonnen hatte, dass sich ES, das Fiktivwesen von Wanderer, von meinem eigenen Volk abgewandt und seine Gunst den
jungen Barbaren geschenkt hatte? Fand hier und heute auf diesem mickrigen Rest des einstigen Atlantis das Finale statt? Zog ES den Schlussstrich? »Bleib bei den Fakten, Narr!«, rief mich der Extrasinn zur Ordnung. »Von dem Fiktivwesen hat man Jahrhunderte lang nichts mehr gehört. Es gibt nicht den geringsten Hinweis, dass es mit dem Notruf der Kuppel zu tun haben könnte.« Ich seufzte, packte die erste der Kisten und wuchtete sie zur Seite, dann die zweite und dritte, bis ich neben den Füßen auch die metallenen Beine erkennen konnte. Die Konstruktion des Roboters war zweckmäßig und grob. Sie besaß nichts von der Anmut, die eine Maschine wie Rico auszeichnete. Fassungslos und innerlich aufgewühlt kauerte ich mich neben das kalte Metall. Nein, Rico war das nicht. Es war überhaupt kein Roboter aus meiner Kuppel, der auf Grund einer Programmstörung hier heraufgeklettert war. Was für eine Maschine war es aber dann? Meine Gedanken jagten sich. In ein paar Gelenkritzen der stählernen Arme und Beine entdeckte ich Spuren von Algen und Tang. Während ich das Gestell mit den Kostümen zur Seite schob, fiel mir der Taucher ein, der ums Leben gekommen war. Ich schaute mir den Roboter genauer an. Er besaß menschliche Hände, dazu Tentakel, deren Spitzen aus den Unterarmen ragten. An seinem metallenen Körper befanden sich mehrere Klappen, hinter denen ich Kammern vermutete. Der Roboter war für Forschungszwecke gebaut worden, die Kammern dienten der Aufnahme von Boden- oder Pflanzenproben. Ich richtete mich auf und aktivierte mein Funkgerät. »Don Estevan an Leitstelle Sao Miguel«, meldete ich mich. »Ich bin in Pandoval und habe einen Roboter gefunden, der mit hoher Wahrscheinlichkeit Escobar gehört. Ich brauche die Erlaubnis, den Roboter zu meiner Hazienda zu bringen.« »Bitte warten Sie einen Augenblick. Ich frage nach.« Nach längerem Warten meldete sich der Chef der Leitstelle: »Nehmen Sie ihn mit, Don. Wir schicken zwei Positronikspezialisten vorbei.«
»In Ordnung. Haben Sie eine Ahnung, was der Roboter in Pandoval gesucht hat?« »Haydin Escobar wohnte jedes Mal in Pandoval, bevor er zu einem Tauchgang aufbrach.« »Danke!« Die Positronik der Maschine hatte den Ort angesteuert, dessen Koordinaten sie in ihren Speichern als letzten Standorthinweis gefunden hatte. Die Wohnstätte Escobars hatte sie allerdings verfehlt. Wie sehr ihre Systeme beschädigt waren, hatte sich schon an der Steilwand gezeigt. Ein intakter Roboter hätte den Höhenunterschied mit Hilfe seines Antigravs bewältigt und nicht durch Klettern. Und Escobar selbst? Über seinen Verbleib besaß ich bisher keine Informationen. Ich zog den zwanzig Zentimeter langen Multifunktionsstab aus meinem Wams und aktivierte den Antigravprojektor. Der Roboter hob sanft vom Boden ab und schwebte vor mir her. In den Gängen und Korridoren herrschte inzwischen ein reges Kommen und Gehen. Die Abschlussprobe für die nächste Aufführung stand unmittelbar bevor. Die Männer und Frauen warfen mir teils neugierige, teils fragende Blicke zu. Sie rätselten vermutlich, zu welcher Nummer ich mit meiner kostbaren Ausstattung gehörte. Ich brachte den Roboter zum Gleiter und verstaute ihn in der Ladebucht. Ein letzter Besuch wartete in dem Dorf unter dem Himmel auf mich. Paceto Caldras hatte 29 Jahre vergeblich auf eine Antwort auf seine Einladung gewartet. »Avenida Buscot 6«, wies ich den Autopiloten an. Während das Fahrzeug abhob und nach Osten flog, legte ich mir ein paar nette Worte zurecht. Caldras hatte damals nicht ahnen können, dass ich überstürzt abreisen würde. Inzwischen war der Inselvorsteher offensichtlich umgezogen. Die Häuser, hinter denen der Gleiter zu Boden sank, weckten keine Erinnerungen in mir. Mein fotografisches Gedächtnis ließ mich buchstäblich im Stich. »Bist du sicher, dass dies die richtige Adresse ist?«, erkundigte ich mich, als die Positronik den Ausstieg öffnete. »Absolut sicher, Don Estevan!« »Dreißig Jahre ist eine lange Zeit!« meldete sich der Extrasinn zu
Wort. »Du scheinst das manchmal zu vergessen.« Ich schwang mich aus der Steuerkanzel und stand auf einer höchstens fünf Meter durchmessenden Grasfläche mitten zwischen Gräbern. Sternförmig führten schmale Wege in alle Richtungen. Buscot 6 war der Friedhof von Pandoval. Hier lag Paceto Caldras begraben. Ich machte mich auf die Suche nach dem nächsten Infoterminal. Es nannte mir die Reihe und die Grabnummer. Wenig später stand ich vor der schlichten Bodenplatte, in die der Name des ehemaligen Inselvorstehers eingraviert war. Mit 116 Jahren hatte er das Zeitliche gesegnet. Einer seiner letzten Wünsche war nicht in Erfüllung gegangen. »Tut mir leid«, sagte ich. »Vielleicht kann ich es eines Tages wiedergutmachen. Irgendwo, irgendwann.« Ich verließ das Dorf unter dem Himmel in dem Gedanken, dass die Positronik der Hazienda mir ruhig hätte sagen können, worum es sich bei Avenida Buscot 6 handelte. Aber ich hatte nicht danach gefragt. Automaten sind manchmal so.
Escobars Tauchboot lag in einem Stützfeld. Teile des Fahrzeugs waren vollständig plattgedrückt. Die Panzerplastkuppel war unter starkem Druck geplatzt, und das, obwohl sie Wassertiefen bis 5000 Meter aushalten konnte. Die Pathologie-Roboter hatten die sterblichen Überreste des erfahrenen Tiefseetauchers und Forschers sorgfältig entfernt. »Das Boot muss von einer ungeheuren Druckwelle getroffen worden sein«, erläuterte eine Automatenstimme die Aufnahmen. »Wo liegt der Fundort?« »Acht Seemeilen westlich von Sao Miguel. Das Wrack sank anschließend und schlug in ungefähr 4000 Metern unter dem Meeresspiegel auf den Sockel der Insel.« Das Seebeben hatte sich südlich von Sao Miguel ereignet. Ob die unterseeische Druckwelle so groß gewesen war, dass sie einem Tauchboot hatte gefährlich werden können – ich zweifelte daran. Selbst an der Oberfläche war nur ein Teil der Fischkutter durch den
Tsunami zerstört worden. »Was ist mit den Filmaufnahmen?« Ich ging automatisch davon aus, dass Escobar bei seinen Tauchgängen Kameras benutzt hatte, um alles zu dokumentieren, was vor die Scheinwerfer seines Bootes geriet. »Unergiebig. Ein paar Impressionen aus der Tiefsee, mehr nicht.« »Was zeigen die Aufzeichnungen zu dem Zeitpunkt, an dem das Beben begann?« »Nichts, Don Estevan!« »Dürfte ich dennoch darum bitten, mir alle Aufnahmen Escobars zur Verfügung zu stellen?« Ich wartete, bis der Beamte in der Leitstelle Rücksprache mit seinem Vorgesetzten genommen hatte. »Ich überspiele sie direkt in Ihre Positronik!« Ich bedankte mich und unterbrach die Verbindung. Selbst wenn es eine unterseeische Druckwelle von großer Stärke gegeben hätte, wäre zumindest für ein paar Augenblicke etwas zu sehen gewesen, das Sprudeln des sich unter dem Druck aufstauenden Wassers etwa. Oder die Messinstrumente hätten den damit verbundenen Temperaturanstieg aufgezeichnet. Ich ging die Aufzeichnungen durch. Sie zeigten meist Belangloses, ein paar Tiefseefische des Atlantiks, wie es sie zwischen Karibik und Nordsee überall gab. Ein paar harte Schnitte im Filmmaterial erregten meinen Argwohn. Sie existierten ohne erkennbaren Grund, als habe sich der Filmer nachträglich entschlossen, einige der Aufnahmen zu löschen. Die Zeitanzeige änderte sich ebenfalls abrupt. Zwischen dem Material vor und nach den Schnittstellen fehlten im kürzesten Fall acht Stunden. Ich ließ die Positronik ein zeitliches Raster erstellen. Dann prüfte ich die Aufnahmen hinsichtlich Schwebeteilchen und Plankton. Mit dieser Methode entdeckte ich weitere Schnitte, wo unauffällig Filmmaterial gelöscht worden war. »Don Estevan an Log«, diktierte ich. »Mir drängt sich der Verdacht auf, dass die harten Filmschnitte deshalb vorgenommen wurden, um von den anderen, diffizileren Manipulationen abzulenken.« Die Positronik legte für die so entstandenen Lücken im Ablauf fik-
tive Zeiträume von jeweils zehn Stunden fest. Anschließend begann sie, die Ergebnisse auf Tageszeitmodelle zu übertragen. Der Salzgehalt im Süden der Insel lag ein wenig höher als im Westen. Atlantikströmungen zwischen Sao Miguel und den beiden westlichen Inseln Flores und Corvo transportierten das Wasser schneller, der Salzgehalt in Abhängigkeit zur Wassertiefe sank. Im Süden, wo der unterseeische Sockel flacher ins Meer abfiel, war er um ein paar Promille höher. Während die Positronik rechnete, kehrte ich in die Wohnräume meiner Hazienda zurück und nahm eine Mahlzeit zu mir. Diesmal verzehrte ich die Köstlichkeiten der Robotküche mit Genuss und ohne Hast. Der Portwein vom portugiesischen Festland schmeckte vorzüglich. Der Sherry zum Nachtisch rundete das Ganze geschmacklich ab. »Alles schön und gut« dachte ich, als ich mich erhob. »Es beantwortet noch immer nicht, warum die Unterwasserkuppel vor sechs Tagen den Notruf schickte und warum sie sich seither nicht mehr meldet.« Ich kehrte in die Steuerzentrale zurück. Die Positronik hatte ihre Berechnungen abgeschlossen, das Ergebnis prangte auf dem Bildschirm. Das Tauchboot hatte sich am 3. November südlich der Insel aufgehalten, nicht westlich, und zwar in etwa 2000 bis 3000 Metern Tiefe. Die Koordinaten deckten sich fast mit denen der Kuppel. Aber das konnte nicht sein. Kein Mensch und kein anderes Lebewesen gelangten in die Nähe der Tiefseekuppel. In der besagten Meerestiefe sorgte ein permanent aktiver Psychostrahler dafür, dass sich niemand der kritischen Zone näherte. Auf diese Weise blieb der Zylinder beziehungsweise sein aus dem Felsgestein herausragendes Kuppel-Oberteil immer außer Sichtweite. »Narr! Warum siehst du den Tatsachen nicht einfach ins Auge? Escobar hat sich in unmittelbarer Nähe der Kuppel aufgehalten, und das zwei Tage nach dem Seebeben.« »Dann hat der Psychostrahler zumindest zeitweise nicht funktioniert.« »Und der Schutzschirm samt Antiortungsfunktion möglicherweise auch nicht. Dreimal darfst du raten, wer Escobars Aufnahmen manipuliert hat.« Selbst wenn es Rico gewesen war oder einer der arkonidischen
Kampfroboter in seinem Auftrag, es erklärte nicht den Notruf. »Es steckt mehr dahinter, als es bisher den Anschein hat. Ich werde der Sache auf den Grund gehen.« Vor elftausend Jahren war die Kuppel von den Arkoniden so gebaut worden, dass tektonische Beben ihr nichts anhaben konnten. In diesem einen Fall jedoch schienen die Schutzvorkehrungen versagt zu haben. Aber nicht vollständig, denn auf Terra hatte niemand von der Unterwasserkuppel Notiz genommen. Wären durch die Katastrophe die Schirmsysteme ausgefallen, hätten selbst die Satelliten im Erdorbit die Unterwasserkuppel entdeckt und sofort Alarm gegeben. Verhinderte ein Befehl Rhodans die Wahrnehmung? Wurde wieder alles, was mit der Unterwasserkuppel zu tun hatte, systematisch ausgeblendet? Und wenn Escobar erst zwei Tage nach dem Seebeben dort gewesen war, wer oder was hatte dann sein Tauchboot so übel zugerichtet? Meine Roboter bestimmt nicht! »Ich muss hinab«, sagte ich zur Positronik. »Bereite alles für einen Tauchgang vor.« »Ihr Boot steht bereit, Don Estevan! Inzwischen liegt auch die Analyse der Öltropfen vor. Es handelt sich um ein synthetisches terranisches Leichtlauföl.« Das war für mich nicht mehr so interessant, nachdem die Herkunft des Roboters geklärt war. »Ist Escobars Roboter schon untersucht?« »Seine Positronikelemente sind beschädigt, vermutlich durch einen starken Gravitationsschock. Dieser kann auf keinen Fall von dem Seebeben ausgelöst worden sein.« »Schickt ihn zur Inselverwaltung. Das erspart den Spezialisten, deswegen eigens hierher fliegen zu müssen.« In jeder anderen Situation hätte ich mein Inkognito aufgegeben und die SolAb zu Hilfe gerufen. Hier aber ging es um etwas, das deutlich mehr Fingerspitzengefühl verlangte. Geriet das Wissen um die Existenz der Unterwasserkuppel an die Öffentlichkeit, mussten sich die Verantwortlichen in Imperium Alpha peinliche Fragen gefallen lassen. Etwa, was ein solches Hoheitsgebiet des arkonidischen
Imperiums auf Terra zu suchen hatte. Die Medien würden schnell von Infiltration oder gar Verrat sprechen. Die Enttarnung der Kuppel konnte für das Solare Imperium eine schwere Regierungskrise heraufbeschwören. Folglich blieb ich auf mich allein gestellt. Don Estevan de Corbedo y Cardegan igelte sich auf unbestimmte Zeit in seiner Hazienda ein. Ein Roboter übernahm meine Rolle, während ich die Umkleidekabine am hinteren Ende der Steuerzentrale aufsuchte. Ich legte meine Verkleidung ab, bis ich äußerlich wieder vollständig dem Arkoniden glich, der seit elftausend Jahren auf diesem Planeten sein Unwesen trieb. Ich zog einen Multifunktionsanzug aus USO-Fertigung über, dann schlüpfte ich durch die Sicherheitsschleuse hinaus in einen der gefluteten Schächte. Während ich langsam abwärts sank, dem Bootshaus der Hazienda entgegen, fragte ich mich erneut, was aus meiner Kuppel geworden sein mochte. In der Magengegend verspürte ich mittlerweile ein ausgesprochen mulmiges Gefühl.
1900 Meter, 1910 Meter … Unaufhaltsam rückte der Tiefenmesser vorwärts. Ich hielt das Tauchboot dicht am Boden. Die Heckschraube arbeitete mit minimaler Energie, die gerade ausreichte, das zigarrenförmige Gebilde auf Kurs zu halten. Die Kuppel lag nur wenige Kilometer südlich der Insel in fast 3000 Metern Tiefe. Ortungstechnisch konnte ich sie nicht erfassen. Die Ungewissheit, ob sie noch existierte oder womöglich als Spätfolge des Bebens in den Tiefen der Erdkruste versunken war, trieb mir das Wasser in die Augen. Ein paar Mal öffnete ich den Helm, um mit einem feuchten Tuch das salzige Sekret abzuwischen. Der Gedanke, die letzten Spuren arkonidischer Besiedlung auf Terra könnten unwiderruflich verloren sein, raubte mir beinahe den Atem. 2000 Meter … Dutzende Male hatte ich in der Vergangenheit exakt diese Route eingehalten, um in die Kuppel zu gelangen oder hinauf zur Insel.
Auf dem Bildschirm blendete ich die Aufnahmen früherer Tauchgänge über das dreidimensionale Echtzeitbild, das die Positronik auf Basis der Tasterimpulse errechnete. Von der Wirkung des Psychostrahlers bekam ich nichts mit. Mein Bewusstsein war in einer Weise mentalstabilisiert, dass es nicht auf solche Versuche einer externen Beeinflussung reagierte. Leider verfügte das Tauchboot nicht über ein Modul, mit dem ich die Aktivität des Psychostrahlers nachweisen konnte. Ab einer Tiefe von 2050 Metern entdeckte ich die ersten Unterschiede zu früher. Der Abhang wies Unregelmäßigkeiten auf Felsbrocken lagen herum, die sich aus dem Untergrund gelöst oder von weiter oben herabgefallen waren. Furchen tauchten auf, wie von Schiffen mit spitzen Kielschwertern in den Boden geritzt. Ich entdeckte ein paar Metalltrümmer, vermutlich von den zerstörten Kuttern. Bei 2200 Metern lag in Sichtweite ein Anker mit seiner Kette. Und noch immer kein Hinweis auf die Kuppel, als sei alles genau so wie in den vergangenen elftausend Jahren. Eine perfekte Abschirmung und hundertprozentige Tarnung. Meine Hände fuhren nervös an den Armlehnen hin und her. Vorsichtshalber hielt ich die Sicherheitsgurte geschlossen. »Was ist da unten passiert …« Düstere Bilder aus der Vergangenheit tauchten in meinem Bewusstsein auf, die Bedrohung von Atlantis durch die Druuf aus dem Roten Universum, der Untergang des Kontinents in einer Katastrophe, die einem Weltuntergang gleichkam. Ich sah Vulkane explodieren und gewaltige Felszinnen durch die Luft wirbeln. Sie schlugen dicht um das Tauchboot ein. In den Schrecken und das Zusammenzucken mischte sich die lautlose Stimme des Extrasinns. »Du bringst die Zeitalter durcheinander. Konzentriere dich auf die Gegenwart!« Ich riss mich zusammen und starrte auf den Bildschirm. Mehrere Felszacken tauchten auf. Früher hatten sie spitzen Nadeln geglichen, jetzt wirkten sie stumpf und harmlos, geköpfte Wegweiser auf der Fahrt in die Tiefe. Die Zacken zeigten mir, dass das Boot exakt auf Kurs lag. 2400 Meter … Der Meeresboden senkte sich immer mehr nach un-
ten, er überschritt die Zwanzig-Prozent-Gefälle-Marke. »Ortung negativ«, flüsterte der Automat. Irgendwo musste es Spuren geben, etwa die Überreste einer Explosion. Doch eine Explosion hatten die Messgeräte der Terraner nicht registriert. Zu dem flauen Gefühl im Magen gesellte sich eine Vorahnung, die in ihrer Konsequenz nicht besser war als die düsteren Erinnerungen an die Vergangenheit, eher noch schlimmer. Gefahr für die Kuppel bedeutete nicht nur den Verlust meines Refugiums, meiner Zuflucht auf Larsaf III. Sie bedeutete auch höchste Gefahr für die USO und damit für die Stabilität der Galaxis. »Rico, ich komme!« Ich lauschte in mich hinein. Der Roboter war mir in den Jahrtausenden zum Gefährten und Freund geworden. Er hatte mich bewacht und beschützt und immer versucht, Unheil von mir fernzuhalten. Inzwischen hatte er viele hundert Jahre allein in der Tiefseekuppel verbracht. Vielleicht empfand er so etwas wie Einsamkeit, ohne dass er jemals darüber gesprochen hätte. War jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem ausnahmsweise ich etwas für ihn tun konnte? »Niemand weiß um die Bedeutung des Roboters« redete ich mir ein. »Aber stimmt das wirklich? Gibt es keinen Mitwisser? Habe ich bei den Sicherheitsvorkehrungen tatsächlich an alles gedacht?« Frühere Alleingänge des Roboters kamen mir in den Sinn. Während ich schlief, hatte er versucht, auf eigene Faust zivilisatorische Impulse zu setzen. Sein Bemühen, den frühen Ägyptern astronomische und mathematische Grundregeln beizubringen, hatte in wahnwitzigen Bauprojekten geendet. Was als kleine Totenmale gedacht gewesen war, hatte sich zu überdimensionalen Pyramiden ausgewachsen. Ich hatte ihm weitere Aktivitäten dieser Art verboten. Ganz ausschließen konnte ich sie allerdings nicht, auch nicht für die Gegenwart. Aber ein Rico, der aus Unbedacht den Feind bis vor die eigene Haustür führte? Nein, das wollte ich nicht glauben. 2500 Meter … In Sichtweite wölbte sich der unterseeische Steilhang ein Stück vor. Er bildete eine zwei Kilometer breite Plattform, die in den
Ozean hinausragte. Dahinter wusste ich das Gebirgsmassiv, das sich nach Westen erstreckte und aus einer Tiefe von 4000 Metern bis hier herauf ragte. Minuten des Bangens und Hoffens vergingen. Ich drosselte den Antrieb des Tauchboots, um nicht frühzeitig entdeckt zu werden. Nach einer Viertelstunde erschien in der Bildschirmdarstellung eine dunkle Linie – der Gebirgskamm. Er zog sich nach Westen und Südwesten. Die Kammlinie unterschied sich kaum von der ursprünglichen. Das Seebeben hatte nur winzige Änderungen hervorgerufen. Jetzt trennten mich nur noch ein paar hundert Meter vom eigentlichen Zielgebiet und von der Stelle, von der aus ich die Kuppel sehen musste. »Gleich erscheint der Fliegende Holländer!« In einem kleinen Seitenkrater lag seit eineinhalb Jahrtausenden ein versunkenes Schiff mit intaktem Hauptmast und Ausguck. Der Mastkorb, der sich aus der Dunkelheit der Tiefsee in den Bildschirm schob, war die letzte Wegmarke vor der Kuppel. Sie fehlte. Das Tauchboot glitt dem Kraterwall entgegen, überquerte ihn und sank in die Mulde. Von dem Schiff war nichts mehr vorhanden. Das Seebeben hatte den Grund aufgewühlt, das Wrack entweder fortgerissen oder tief im Innern der Mulde begraben. Dafür tauchte der Rand des Hauptkraters zum ersten Mal im Blickfeld der Bugkamera auf. Ich hielt den Atem an. Ein Lichtschimmer drang aus dem Krater bis hinauf zum Kamm. Es war ein so helles Licht, dass es unmöglich vom Schutzschirm der Kuppel stammen konnte. Weit reichte es nicht, sonst hätte ich es früher bemerkt. Außerhalb des Kraterwalls wurde es von der Finsternis der Tiefsee verschluckt. Mein Extrasinn meldete sich. »Du hast nur zwei Möglichkeiten, Kristallprinz. Du bleibst im Tauchboot, oder du aktivierst vor dem Aussteigen deinen Schutzschirm. Sonst zerquetscht dich der Wasserdruck.« Ich schaltete den Motor aus und ließ das Tauchboot treiben, bis es sachte gegen den Kraterwall stieß. Der Bug schob sich ein Stück nach oben. Es reichte für die Kamera. Ich schwenkte sie, so dass sie in das Innere des Hauptkraters blickte. Der Anblick verschlug mir die Sprache. Ich wollte meine Wahr-
nehmungen ins Log diktieren, aber es drang nur ein gepresstes Keuchen aus meinem Mund. »Das kann nicht sein« dachte ich. »Ich habe Halluzinationen!«
Galbay-Informationshandel 4 »Wer am meisten bietet, erhält den Zuschlag. Noch läuft die Zeit …« Velaton erstarrte mitten in der Bewegung. Aus dem Gewimmel der Menschen und Fremdwesen stach für einen Sekundenbruchteil ein einziges Gesicht heraus, bei dessen Anblick ihm sofort das Blut in den Kopf stieg. Ein aus weißem Marmor gemeißeltes Antlitz von erbarmungsloser Härte, eingerahmt von weißgrauem Haarflaum, der wie angeklebt wirkte. Der Mund in dem grausamen Gesicht stand schief, die Lippen waren extrem schmal und kaum zu erkennen. »Ramo Getafy!«, zischte Velaton leise. »Das Schwein von Holox!« Der andere, obwohl schätzungsweise fünfzig Meter entfernt, schien ihn zu hören. Sein Kopf ruckte herum, erst links, dann rechts, aber da hatten sich Passanten dazwischengeschoben und nahmen Velaton die Sicht. Der Akone ging weiter. Ein Straßencafé mit ausladenden Sonnenschirmen bot ihm Sichtschutz. Aus dem Schatten heraus beobachtete er die Straße. Und da sah er den anderen ein zweites Mal. Getafy schlich unter den Arkaden hin und her, den Kopf nach vorn gereckt wie ein Jäger auf der Spur des Wildes. In seinen Taschen fand Velaton den kleinen Würfel für Aufzeichnung und Wiedergabe. Er sprach ein paar Worte darauf, dann klemmte er ihn unter eine Strebe des Sonnenschirms. »Such nur!«, dachte Velaton. »Es ist nicht schwer zu erraten, was dich auf diese Welt führt.« Der Gedanke, dass er nur hinter Getafy herschleichen musste, um ans Ziel zu gelangen, stimmte ihn vergnügt. Der Akone zog sich zurück. Eilig betrat er das Gebäude und verließ es durch die Hintertür. Dann ging er zum Stand mit den Mit-
gleitern, schob den gefälschten Chip in den Schlitz eines Wagens und stieg ein. Nach einem kurzen Sicherheitscheck lenkte er die Maschine auf die erste Flugebene über den Dächern und hinüber zu den Arkaden. Ramo Getafy war noch da. Er näherte sich den Sonnenschirmen. Velaton schickte das Funksignal an den Würfel. »Schwein von Holox!«, zischte es aus dem Sonnenschirm. Der Akone sah, wie das Leichengesicht zusammenzuckte und die gesamte Gestalt erstarrte. Der andere hörte dem Würfel eine Weile zu, dann sprang er in drei Sätzen unter den Schirm und riss den Lautsprecherkubus an sich. »Ich finde dich überall«, lautete der letzte Satz des Würfels. Getafy packte das Ding, hielt es vor sein Gesicht und starrte es wütend an. Noch immer gab es seinen Text von sich. »Schwein von Holox, Schwein von Holox …« Getafy schien es hypnotisieren zu wollen. Plötzlich fuhr er herum, als sei jemand hinter ihn getreten. Irritiert wanderte sein Blick hin und her. Dann legte er blitzartig den Kopf in den Nacken, musterte den Himmel und den Gleiter, der schräg über ihm hing. Getafy holte aus und schleuderte den Würfel in Richtung des Gleiters. Allerdings schien er seine Kräfte überschätzt zu haben. Der Würfel erreichte weit unter dem Fahrzeug den höchsten Punkt seiner ballistischen Flugbahn und stürzte zum Boden zurück. Zwischen den Sonnenschirmen und den Gästen des Cafés schlug er auf und zerplatzte. Velatons Blick fraß sich an Getafy fest. »Glotz nur!« dachte er. »Du kannst viel, aber meine Gedanken lesen kannst du nicht, du verdammter Anti!« Auf Holox hatten die Báalol-Priester Gefangenenlager betrieben, in denen sie Angehörige aller möglichen Völker als Sklaven hielten. Unter der Aufsicht von Robotern hatten die Gefangenen in den Howalgonium-Bergwerken geschuftet, oft bis zur Bewusstlosigkeit. Sie hatten wenig zu essen erhalten, kaum genug zu trinken. Zudem war das Wasser aus dem nahen Fluss gekommen und von einer toxischen Alge verschleimt. Immer wieder waren Sklaven daran gestorben.
Velaton hatte mehrere Verwandte auf Holox verloren. Drorah, die akonische Zentralwelt, hatte ihre diplomatischen Kontakte zu Trakarat genutzt, um eine Entschädigung für die Hinterbliebenen zu erreichen. Der Hohe Báalol und die übrigen Antis im Aptut-System hatten jedoch strikt geleugnet, irgendetwas mit Holox zu tun zu haben. Jetzt hatte Velaton den Oberaufseher und Verwalter der Sklavenwelt plötzlich vor sich gesehen, den er bisher lediglich als Hologramm gekannt hatte und der dennoch unverwechselbar war … Der Akone lenkte den Gleiter über den Platz der himmlischen Sonne nach Süden, dem blauen Band der Meerenge entgegen. Irgendwo dort draußen schwamm eine Boje im Wasser, die nur auf eine bestimmte Frequenz und einen verschlüsselten Kode reagierte, eine Boje, die sich bei fehlerhafter Bedienung sofort selbst vernichtete … Und das alles wegen einer Auktion. Dabei fehlten auch nach Wochen immer noch die Beweise, dass es sich um ein ernsthaftes Angebot handelte. Wichtige Informationen über die USO – Velaton zweifelte daran. Immerhin gehörte er zu den ersten, die es erfahren würden. »Die Auktion spült Milliarden in die Kassen des Verkäufers, die Provision der Handelsplattform Galbay liegt dabei im Bereich von mehreren Millionen Solar.« Velaton musterte den Orter. Er zeigte ein Fahrzeug an, das sich mit hoher Geschwindigkeit von Norden her näherte. Es konnte nur der Anti sein. Velaton beschleunigte ebenfalls. Er erreichte die Küste und flog auf die Meerenge hinaus. Das andere Ufer tauchte über dem Horizont empor. Der Akone aktivierte seinen Sender, justierte die Frequenz und strahlte den Kode aus. Wiederholt überprüfte er den Kurs. Da unten musste es irgendwo sein. Der Orter zeigte nichts an. Kurz vor dem Ufer schaltete Velaton den Sender wieder ab. Das Display des Geräts blinkte und zeigte Koordinaten und eine Wegbeschreibung an. Während er sie sich einprägte, änderte er den Kurs nach Südwesten, beschrieb einen Bogen nach Norden und wieder zurück nach Süden. Der andere Gleiter war jetzt vor ihm, ein einfaches Modell, wie er
selbst eines flog. Vermutlich stammte es vom selben Terminal. Der Insasse war mit hoher Wahrscheinlichkeit Getafy. Velaton öffnete das Schloss seines Gürtels, fuhr die Mikroantenne aus und aktivierte den Störsender, der im Umkreis von fünfhundert Metern wirkte. Solange der Abstand zwischen den beiden Gleitern darunter lag, hatte der Anti keine Chance, Kontakt zu der Boje aufzunehmen. Durch die Sichtkanzel sah er, wie sich der Insasse des anderen Fahrzeugs hastig hin und her bewegte. »Such nur, den Fehler wirst du so schnell nicht finden.« Velaton verspürte mit einem Mal Lust, mit dem Schinder von Holox zu spielen. Er vergrößerte den Abstand ein wenig, dadurch funktionierte die Ortung des Báalol wieder. Augenblicke später holte er erneut auf. Getafy erkannte den Zusammenhang zwischen Störung und Verfolger. Er flog einen halben Looping und ließ seinen Gleiter dann steil nach unten schießen, direkt auf Velaton zu. »Er will mich sehen!« Der Akone verdunkelte den oberen Teil der Kanzel, während er ein Ausweichmanöver flog, aber sofort wieder auf seinen alten Kurs zurückkehrte. Getafy war nicht dumm und ein geschickter Pilot dazu. Er änderte seine Flugrichtung nur leicht. Sein Fahrzeug schrammte an Velatons Gleiter entlang, versetzte diesem mit dem Heck einen Schlag. Der Akone zog instinktiv den Kopf ein, als es über ihm knirschte und prasselte. Mit einem hässlichen Krachen löste sich die Kanzel aus ihrer Halterung. Velaton saß übergangslos im Freien, gehalten von einem Prallfeld, das die Automatik blitzschnell errichtet hatte. »Ich brauche Sichtschutz«, schrie er. »Ein dunkles Energiefeld oder einen Verzerrermodus. Irgendwas.« »Verzerrermodus ist möglich und jetzt eingeschaltet«, teilte der Automat monoton mit. »Das Fahrzeug fliegt in Automatiksteuerung. Eine Patrouille ist unterwegs und zieht den Verursacher aus dem Verkehr.« Der Akone schaltete den Störsender ab und blieb in der Nähe. Er sah zu, wie ein halbes Dutzend Polizeigleiter den Anti einkreisten, den Antrieb seines Fahrzeugs abschalteten und es ins Schlepptau
nahmen. »Gibt es einen Grund für den Angriff?«, erkundigte sich eine menschliche Stimme. Velaton heuchelte Unwissenheit. »Mir ist der Pilot nicht bekannt. Ich wüsste nicht, weshalb er mich hätte angreifen sollen.« »Danke für die Auskunft. Der Pilot wird einem Verhör unterzogen. Ihre Daten werden zum Zwecke einer eventuellen Zeugenanhörung gespeichert.« »Nehmt euch Zeit.« Der Automat seines beschädigten Gleiters meldete sich. »Bitte warten Sie ab. Die Zentrale schickt Ihnen ein Ersatzfahrzeug.« »Sie sollen sich beeilen!« Beim Gedanken an mögliche Folgeschäden spürte Velaton ein ausgesprochen flaues Gefühl im Magen. Eine Notlandung würde ihm jetzt mehr als ungelegen kommen, auch wenn keine direkte Gefahr für Leben oder Gesundheit bestand. Also übernahm er den Gleiter vorsorglich in Handsteuerung und ließ ihn bis dicht über den Boden absinken. Kahle Gebirgskämme rasten unter dem Gleiter dahin, dann folgten ein dunkler Meeresarm, eine Küstenebene und wieder ein Gebirge. Velaton hatte es längst aufgegeben, permanent auf die Orteranzeige zu starren. Diese Gegend des Planeten war dünn besiedelt, es gab keine Industrie und keine Landwirtschaft. Der Ring aus Kontinenten hüllte sich in eine dichte Wolke aus kondensiertem Schwefeldampf. Er trieb in den Tälern bis fast hinauf zur Baumgrenze. Unten wuchs nichts, in der klaren Luft darüber aber gedieh eine Vegetation, wie sie für derartige Gebirgsregionen üblich war. Immer näher rückte das Ziel. Die Koordinaten aus der Boje lagen ziemlich nahe am Südpol. Velaton verzichtete darauf, sich vom Automaten Informationen über die Gegend geben zu lassen. Als er nahe genug war, schwenkte er auf einen spiralförmigen Kurs um das Zielgebiet ein. Unter dem Gleiter erstreckte sich ein ausgedehntes Sumpfgebiet, in dessen Zentrum ein vulkanisch entstandener Bergrücken lag. Aus Hunderten von kleinen Kratern stieg Schwefeldampf auf. Die Koordinaten bezeichneten das Zentrum der nicht sonderlich einladenden Zone.
Velaton presste einen akonischen Fluch zwischen seinen Zähnen hervor. Ausgerechnet er hatte sich für einen solchen Auftrag melden müssen. Jeder andere hätte den Job auch übernehmen können, Kontakt zu den Personen herzustellen, die hinter der Galbay-Auktion standen. Sofort nach dem ersten Gebot hatten der oder die Unbekannten sich gemeldet und einen Kurier eingeladen, nach Vanderbild zu kommen. »Nun, da bin ich«, sagte Velaton. »Nehmt ruhig Kontakt mit mir auf.« Vorsichtshalber zog er den Schutzanzug an, in dessen Holster ein handlicher Kombistrahler mit Hochleistungsmagazin hing. Nach einem letzten prüfenden Blick auf die Magnetverschlüsse klappte er den Helm zu. »Was ist? Sind eure Geräte gestört? Wenigstens einen Peilstrahl könntet ihr schicken!« Wer immer dort vorn auf ihn wartete, hielt es nicht für nötig, sich zu melden. War überhaupt jemand da? An den genannten Koordinaten stand vielleicht nur ein Transmitter, oder es fand sich ein Hinweis, wohin er sich als nächstes wenden sollte. Geheimniskrämerei schien eine Spezialität Galbays zu sein. Der Gleiter erreichte den Bergrücken. An dessen Nordflanke erstreckte sich ein Hochtal, in dem Pflanzen in gelben und rotbraunen Farben wuchsen. Bizarre Kreationen waren es, die an Korallenriffe erinnerten. Der Taster meldete eine hohe Konzentration von Schwefeloxiden sowie Metalllegierungen, die sich zu einer Art Pseudoflora verbunden hatten. »Terkonit-Tubus im Zentrum des Hochtals«, meldete der Automat. »Seine Position ist mit den übermittelten Koordinaten identisch.« »Suche einen geeigneten Landeplatz!« »Nicht existent. Ich empfehle auf keinen Fall zu landen.« »Gut, dann bleiben wir an einer stationären Position über dem Tubus, und ich schwebe hinunter.« Der Gleiter parkte automatisch. Über der Tür zeigte eine Leuchtschrift an, dass der Schleusenmodus aktiviert war, die Außenhülle des Gleiters also durch ein Energiefeld abgedichtet wurde.
»Ich bin soweit«, sagte der Akone. Die Tür öffnete sich, ein Traktorfeld schob Velaton hinaus unter das Energiefeld. Anschließend schloss sich die Tür, und die Atemluft wurde in das Innere des Gleiters zurückgepumpt. Der Energieschirm erlosch. Velaton sackte durch und regulierte das Gravopak. Um ihn herum wehten gelbliche Schwaden, vermischt mit grauen und grünlichen Schlieren. Die Kontinente vor allem auf der Südhalbkugel waren über weite Gebiete lebensfeindlich, dennoch galt der Planet insgesamt als eine für lemuroide Siedler geeignete Sauerstoffwelt. Der Akone hielt auf den Tubus zu, der an den Turm eines Unterseeboots erinnerte. In diesem Fall ragte er allerdings nicht aus dem Wasser, sondern aus dem Fels. Eine farblich abgesetzte Fläche an der Wandung diente als Offner. Der Deckel schwenkte zur Seite, Licht flammte auf. »Meine Name ist Velaton«, stellte der Akone sich vor. »Ich werde erwartet.« Während er in den Zylinder hinabsank, wartete er vergeblich auf eine Antwort. Ein greller Blitz verschlang ihn und spie ihn mitten auf einer Plattform wieder aus. Er blinzelte, um sich an das grelle Sonnenlicht zu gewöhnen. Aus der Plattform ragten mehrere Tuben gleicher Bauart, und an einem davon blitzte es auf. Sein Schutzschirm bewahrte Velaton vor dem sicheren Tod, aber der Schlag gegen die Brust warf ihn um. Im Fallen zog er den Kombistrahler, rollte sich ab und spurtete im Zickzack zu einer der Röhren hinüber. Ein zweiter Schuss verfehlte ihn um Zentimeter. In der Deckung angekommen, atmete er einige Augenblicke schwer. Dann umrundete der Akone die Terkonit-Röhre, die Waffe im Anschlag, bis er den nächsten Tubus sehen konnte. Irgendwo dahinter lauerte der Angreifer. Blitzschnell rannte Velaton los. Solange er den Tubus zwischen sich und dem Schützen wusste, konnte er sich einigermaßen sicher fühlen. Der andere schoss nicht mehr, aus welchen Gründen auch immer. Velaton näherte sich dem Tubus bis auf zehn Meter. »Werfen Sie die Waffe weg und kommen Sie her!«, rief er. Nichts rührte sich. Sollte der andere …
Wieder rannte Velaton los, diesmal nicht direkt auf den Tubus zu, sondern in schrägem Winkel davon weg. Nach dreißig Metern sah er den Schatten des Schützen, dann dessen Gestalt. Es war Ramo Getafy. Velaton zielte und schoss. Er erwischte den anderen seitlich am Körper beziehungsweise am aufflammenden Schutzschirm. Das Schwein von Holox lachte. »Wie dumm sind Sie eigentlich, Akone?« Velaton wusste in diesem Augenblick, dass der andere ihn identifiziert hatte. Oder war es ein Schuss ins Blaue? »Wieso Akone?« »Ich habe Sie erkannt, als Sie materialisiert sind, Velaton. War der Ausflug auf die Südhalbkugel schön?« »Natürlich.« »Sie hätten die übermittelten Koordinaten nur rückwärts zu lesen brauchen, dann hätten Sie sich den Umweg sparen können.« Velaton schoss erneut, aber er traf nur den Tubus. Getafy war verschwunden. »Kommen Sie, hier drinnen ist es angenehm. Oder sind Sie nicht mehr an dem Geschäft interessiert?« »Sparen Sie sich solche Versuche. Trakarat wird in der Auktion nicht zum Zuge kommen.« »Und warum nicht?« »Ihr Antis seid nicht wohlhabend genug. Ihr besitzt nicht einmal eine eigene Raumflotte. Euer Bruttosozialprodukt ist im Vergleich mit den meisten anderen Völkern bescheiden, so etwas wie ein Außenhandelsüberschuss existiert nicht, da ihr alles importiert und wenig exportiert. Eure Wirtschaft wird – ganz objektiv gesehen – von Völkern gestützt, die ihr bekämpft. Arkoniden, Springer, sogar Terraner.« »Mit solchen Sprüchen können Sie mich nicht beeindr…« Getafy brach plötzlich ab. Ruhe trat ein. Mit äußerster Vorsicht näherte sich der Akone dem Tubus und öffnete ihn. Drinnen brannte Licht. Velaton konnte bis zum Boden der Röhre blicken. »Schon wieder ein Transmitter? Getafy, hören Sie mich?« Er erhielt keine Antwort. Der Anti war verschwunden.
Velaton zögerte. Er traute dem Schwein von Holox keinen Schritt weit über den Weg. Der Akone tastete den Schacht mit den Augen von oben bis unten ab. Am unteren Ende gab es ein Schott, es war geschlossen. Umkehren? Er lachte. Es gab nur einen Weg, den nach vorn. Viel Zeit blieb ihnen sowieso nicht mehr. Und um ein paar unliebsame Konkurrenten loszuwerden, kam ihm Getafy gerade recht. Velaton stieg in den Schacht. Ein Transportfeld holte ihn hinab auf den Grund. Das Schott ließ sich nicht öffnen, wenigstens nicht im Augenblick. Der Akone schlug sich gegen den Helm. »Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen?« Getafy kannte den Trick mit den Koordinaten, obwohl er diese wegen des Störsenders gar nicht hatte empfangen können. Danach war er in Polizeigewahrsam gewesen und verhört worden. Hatte ihm die Zeit gereicht, nochmals zur Meerenge zu fliegen, bevor er hier aufgetaucht war? Wohl kaum! Auch die Frage des Antis, ob er nicht mehr an dem Geschäft interessiert sei, sah der Akone jetzt in einem völlig anderen Licht. »Er selbst muss der Kontaktmann sein!« überlegte Velaton. »Ich bleibe ihm auf den Fersen.« Wie zur Bestätigung seiner Gedanken öffnete sich in diesem Augenblick das Schott.
Die Lichter gingen an und aus, im hektischen Wechsel und wie von einem Zufallsgenerator gesteuert. Velaton kniff die Augen zusammen. In den kurzen Momenten der Helligkeit erkannte er die Umgebung nur unzureichend. Er schaltete seinen Helmscheinwerfer ein. Der grelle Kegel stach durch das Blitzlichtgewitter und zeigte ihm einen breiten Korridor, von dem ein Dutzend Türen abzweigte. »Getafy?« Er war irgendwo in der Nähe. Oder er hatte Helfer. Velaton rannte bis zur ersten Tür. Sie stand offen, er sah mehrere Tischreihen mit Apparaten, die untereinander durch Kabel verbunden waren. Kontrollgeräte blinkten und wiesen auf laufende Experi-
mente hin. Getafy war nicht in dem Raum, das erkannte der Akone auf den ersten Blick. Er rannte weiter. Dasselbe in den folgenden Räumen. Zwischendurch gab es einen Transformatorraum. Der Anti hielt sich nicht hier auf. Das erkannte Velaton, als er am Ende des Korridors angelangt war und die Hand gegen den Türöffner legte. Die Waffe im Anschlag, lehnte er neben der Tür und spähte vorsichtig in die Halle, die sich dahinter erstreckte. Sie war leer. Dunklere und hellere Areale am Boden sowie ein Unzahl von kleinen Bohrlöchern wiesen darauf hin, dass hier einmal Maschinen montiert gewesen waren, die man abtransportiert hatte. Der Akone musterte die Decke. Die Öffnungen der Belüftungsanlage waren zu klein, um einen Mann wie ihn oder den Anti aufzunehmen. Einen sichtbaren Ausgang besaß die Halle nicht. Getafy musste hier sein. Velaton justierte seine Taster und Orter auf höchste Empfindlichkeit. Ganz in der Nähe meldete der Automat seines Anzugs eine leichte, kaum wahrzunehmende Anomalie. Der Akone nahm den Kombistrahler in die linke Hand, schob ihn ein Stück durch die Tür und schoss. Grell flirrten die Energien um ein unsichtbares Hindernis. Ein spindelförmiges Energiefeld flackerte auf, zeigte humanoide Umrisse. Das Hindernis geriet in Bewegung. Es raste davon, nach ein paar Metern verlor der Taster es. Velaton ahnte die Fluchtrichtung und schoss weiter. Der Schutzschirm des Antis reagierte auf den Beschuss. »Geben Sie sich keine Mühe«, drang das hässliche Lachen aus dem Helmlautsprecher des Akonen. »Lebend kommen Sie hier nicht heraus.« Der Báalol verließ sich offensichtlich vollkommen auf die psionische Fähigkeit seines Volkes, Schutzschirme aufzuladen und so nahezu undurchdringlich zu machen. »Warten Sie ab, Getafy.« Velaton legte seine Hand erneut auf den Türöffner. Die Tür schloss sich nicht. Erneut lachte der Anti. »Sie vergessen, dass ich der Herr über diese Station bin.« »Sie bluffen. Es ist eine wissenschaftliche Station, die Sie allenfalls präpariert haben. Sie glauben doch nicht selbst daran, dass Ihre Or-
ganisation hier einen offiziellen Stützpunkt unterhält.« »Sie kennen uns doch gar nicht, Velaton. Woher wollen Sie es dann so genau wissen?« Ein Schlag traf die Wand neben dem Schott. Durch die Öffnung raste eine Energielohe. Die Druckwelle warf den Akonen rückwärts in den Korridor. Augenblicke später tauchte der Anti unter der Öffnung auf. Er hatte seinen Deflektor abgeschaltet. Er schoss sofort, der Energiestrahl ließ Velatons Schutzschirm grell aufleuchten. »Ich werde Sie töten«, kündigte Getafy an. »Nicht mit eigenen Händen, nein, das wäre zu banal. Ich werde Sie den Tieren der Wüste zum Fraß vorwerfen und werde ihnen genüsslich bei ihrem Schlachtfest zusehen.« »Schlachtfest?« Velatons Stimme klang mit einem Mal bitter. »Der Begriff erinnert mich an das Schwein von Holox. Wissen Ihre aktuellen Auftraggeber eigentlich über Ihre Vorgeschichte Bescheid? Ich denke nicht. Sagen Sie jetzt nichts, Getafy. Sagen Sie nicht, dass es sie nicht interessiert. Ich will keine leeren Worte von Ihnen hören. Ich gehe davon aus, dass Sie mein Kontaktmann sind, nicht mein Henker.« »Ein Denkfehler. Beim Großen Rat und im Energiekommando scheint man den Blick für die Realität verloren zu haben. Wer sagt Ihnen denn, dass meine Organisation Sie als Bieter akzeptiert?« Velaton begriff in diesem Augenblick, dass er die Dimensionen des Geschäfts vollkommen unterschätzt hatte, um das es hier ging. Seine Kommandeure und Auftraggeber wussten vielleicht mehr. Er war lediglich der Lockvogel, wie ein Opfer-Agoli des Beterness-Rituals. »Sie sind ausgesprochen wählerisch, ja?« Der Akone schaltete den Kombistrahler auf volle Leistung im Kombi-Modus. Thermo- und Desintegratorstrahl rasten in den Schirm des Antis, brachten ihn aber kaum zum Flackern. Mit einer Verzögerung von fünfhundertstel Sekunden folgten die antimagnetischen Nadlerprojektile. Sie durchschlugen den Schirm widerstandslos und trafen Getafys Anzug. Der Anti schrie, vermutlich mehr vor Überraschung als vor
Schmerz. Sein Schirm verblasste augenblicklich. Sofort schoss Velaton ein weiteres Mal und traf die Steuereinheit des Kampfanzugs. Getafys Schutzschirm brach nun endgültig zusammen, aus dem Steuermodul kräuselte Rauch. Der Anti ließ den Strahler fallen und hielt sich die rechte Hüfte. »Sie … Sie …« »Machen Sie sich keine unnützen Gedanken.« Mit schussbereiter Waffe ging Velaton auf ihn zu. »Drehen Sie sich langsam um. Gut so. Nehmen Sie die Hände auf den Rücken.« Velaton schaltete den Schutzschirm ab. Aus einer Tasche seines Kampfanzugs zog er Plastikbänder, mit denen er die Hände des Antis fachgerecht fesselte. »Sie können sich wieder umdrehen! Ihr Antis überschätzt noch immer eure Psi-Gaben. Dabei ist der Trick, mit dem der ›große Rhodan‹ vor gut tausend Jahren seinem Freund, dem Terranerknecht Atlan, das Leben gerettet hat, doch nun langsam wirklich jedem Kind bekannt. Eure Schirme können euch nicht gleichzeitig vor Strahlen und Projektilen schützen. So einfach ist das.« Das gemeißelte Totengesicht starrte ihn wütend an. »Woran denken Sie?«, fragte der Akone ruhig. »An Ihre Opfer bestimmt nicht. Eher an Ihre Gräueltaten.« »Genau. Wenn Sie das Blut abwaschen müssten, das an meinen Händen klebt, hätten Sie tausend Jahre zu tun.« »Besser wäre, Ihnen die Hände gleich abzuhacken.« »Das würden Sie nicht wagen!« »Nein? Dann wagen wir den Aufstieg. Wo ist der Ausgang in die Wüste, sagten Sie?« Ramo Getafy stieß eine Verwünschung aus und wandte sich zum Gehen. Velaton folgte ihm bis zum hinteren Ende der Halle. In einem Wandsegment bildete sich eine Öffnung, dahinter lag ein Aufzug, der sie nach oben beförderte. Aus dem Wüstenboden erhob sich ein Tubus. In Sichtweite ragte die Plattform über das Sandmeer. »Nehmen Sie mir die Fesseln ab«, verlangte der Anti, während der Tubus hinter ihnen im Boden versank. »Ein gutes Stichwort!« Velaton zog ihm den Helm herunter und
warf ihn in hohem Bogen davon. »Auf das Schwein von Holox wartet die Schlachtbank.« Er stieß den Anti in den Sand. Getafy fauchte vor Wut und spuckte nach ihm. »Sieh an, die Bestie zeigt ihr wahres Gesicht.« »Was wollen Sie?« »Sühne für meine Verwandten, die auf Holox zugrunde gegangen sind. Die du zu Tode geschunden hast, du Schwein.« Die letzten Worte schrie Velaton, einen Moment lang die Fassung verlierend. »Ich kenne Holox nicht. Ich …« »Keine dummen Tricks«, fiel der Akone ihm ins Wort, »sonst verlese ich die Anklageschrift des Großen Rates und vollstrecke das Urteil sofort.« Der Akone verpasste dem Liegenden einen Tritt in die Seite. Getafy jaulte vor Schmerz. Velaton sah erst jetzt, warum. Eines der Nadelprojektile hatte den Kampfanzug durchschlagen und war zwei Zentimeter tief in die Hüfte des Báalol eingedrungen. »Wir unterhalten uns besser über die Auftraggeber und Hintermänner«, sagte Velaton, wieder ruhiger werdend. »Möglicherweise werden wir uns einig.« »Sie fantasieren, Akone!« »Wie Sie meinen, Getafy! Ich kann auch anders.« Es war eine merkwürdige Situation, wie Velaton sie noch nie in seiner Laufbahn erlebt hatte. Da trafen zwei Vertreter unterschiedlicher Völker zusammen, der eine, um eine Information abzuholen, der andere, um sie ihm zu geben. Und dabei stellte sich heraus, dass sie Todfeinde waren. Velaton hätte keine Skrupel gehabt, das Schwein von Holox zu töten, selbst jetzt, wo der Verbrecher wehrlos vor ihm im Sand lag. Aber es ging um etwas anderes. Er musste von dem Anti die Informationen erhalten, nach denen seine Organisation weiter zu verfahren hatte. »Ich sehe es Ihnen genau an«, spottete Getafy. »Sie wissen nicht weiter. Was wollen Sie Ihren Auftraggebern erzählen, wenn Sie mit leeren Händen zurückkehren?« »Sie werden es verstehen, wenn ich Sie als Zeugen mitbringe.«
»Das hilft ihnen nicht weiter. Wir akzeptieren nur ganz wenige Organisationen oder Imperien als Bieter. Sie zählen nicht dazu.« »Dann behalten Sie Ihre Informationen doch für sich! Die Rechnung ist einfach, Getafy. Ihre Organisation kann mit den Informationen nichts anfangen, sie ist zu klein und unbedeutend. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als möglichst viel Geld herauszuholen. Andererseits – wo sollte ihr kleiner Verein die Mittel und Möglichkeiten hernehmen, um überhaupt an solche Informationen heranzukommen und sie auch noch zu behalten? Ich schätze, die USO hat ihre Hintermänner längst ausgeräuchert, und Sie wissen es nur noch nicht.« Täuschte er sich, oder war Ramo Getafy bei dieser Argumentation blasser geworden? »Sie sehen also, es bringt nichts, wenn Sie den Mund halten. Ich bin hier, und ich vertrete einen Bieter in der Auktion über geheime Informationen der USO. Sie sagen mir jetzt, wie ich weiter zu verfahren habe.« »Gar nicht«, ächzte der Anti. »Es existiert kein Wissen, das ich weitergeben könnte. Meine Aufgabe ist es, die eintreffenden Kuriere und Gesandten zu liquidieren. Ist das ehrlich und klar genug, damit auch Sie es kapieren?« Velaton schluckte. Mit den radikalen Methoden der Geheimdienste war er so vertraut wie jeder Agent. Dass sich seine Vermutungen aber auf so drastische Weise bestätigen würden, daran hatte er aber nicht geglaubt. »Es könnte also nichts schaden, wenn ich nachfolgenden Kollegen die Sucherei ersparen würde«, überlegte er und beugte sich über den Liegenden. »Wir machen es kurz und schmerzlos. Oder hätten Sie es lieber schmerzvoll?« Ganz in der Nähe entstand aus dem Nichts eine Sandfontäne. Haufenweise fiel der Sand auf Velaton und den Anti. Getafy schnappte nach Luft und hustete. Undeutlich erkannte Velaton hinter der Fontäne die unförmige Gestalt eines Ungeheuers. Er packte den Kombistrahler fester, aber da fegte aus dem Nichts ein Arm heran und schleuderte ihm die Waffe aus der Hand. Ein anderer Arm packte ihn und hob ihn hoch. Er sah einen Sichelkamm auf einem
kahlen Kopf, ein riesiges, grobporiges Gesicht und schließlich eine Gestalt in einem Kampfanzug. »Entschuldigen Sie die Störung!«, dröhnte eine Stimme. »Bin ich hier richtig bei der Auktion?« »Ja, ja!« Velaton wischte den Sand vom Helm, um besser sehen zu können. »Ich habe etwas gehört, was wie Getafy klang. Ramo Getafy?« Der Akone deutete nach unten. »Da ist er. Das Schwein von Holox.« »Holox ist mir nicht bekannt. Aber Ramo Getafy ist für das Massaker von Ephendro verantwortlich.« Der Druck um Velatons Brust schwand. Er stürzte abwärts in den Sand. Der Ertruser beugte sich über den Gefesselten. »Ramo Getafy, der Anti. Der Massenmörder, den sie in der halben Galaxis suchen. Schade, dass du nicht aufstehen kannst, denn du stehst vor deinem Richter!« »Warten Sie!« Der Ertruser hörte Velaton nicht oder wollte ihn nicht hören. Er packte den Mann mit dem Marmorgesicht, warf ihn spielerisch in die Luft und verpasste ihm anschließend einen kräftigen Hieb gegen den Kopf. Getafy flog gut zehn Meter weit. Velaton rann ein Schauer über den Rücken. Der Schlag und das Knirschen, das er gehört hatte, sagten alles. Er warf einen kurzen Blick hinüber zu der Stelle, wo der Anti lag. Sein Schädel war geborsten und deutlich deformiert. Getafy rührte sich nicht mehr. »Und jetzt zu uns!« Der Ertruser ließ sich auf die Knie fallen. Er beugte sich nach vorn, bis sein Kopf fast über Velaton hing. »Sie haben soeben den Kontaktmann getötet«, sagte der Akone. »Oh! Das ist mir aber ausgesprochen peinlich.« Velaton berichtete ausführlich, was der Anti ihm eröffnet hatte. »Möglicherweise sind Sie der richtige Bieter, dann haben Sie die Chance Ihres Lebens verpasst oder was auch immer.« »Hm! Warten Sie! Ich bin gleich wieder zurück.« Velaton sah dem Riesen zu, wie er hinüberging, sich neben den Toten kniete, ihn aus dem Anzug schälte und dann den Körper mit einem handlichen, silbrig glänzenden Gerät untersuchte. Nach einer
Weile gab der Ertruser ein Knurren von sich, zückte ein Messer und öffnete den Körper. Velaton sah, wie er einen winzigen Chip barg, ihn an der Kleidung des Toten reinigte und einsteckte. Dann kehrte er zurück. »Nennen Sie mich Herib Ertpott. Der Name ist so gut wie jeder andere. Sie können sich vermutlich denken, woher ich komme.« »Klar. Ich heiße Velaton und vertrete die CV.« Der Ertruser grinste breit. »Sieh an. Die gute alte Condos Vasac. Totgesagte leben länger? Egal. Ich bin im Auftrag eines Bieters hier. Den Chip werde ich unterwegs auswerten. Mit etwas Glück führt er mich zu den Hintermännern der Auktion. Und das wäre mehr wert als die Auktion selbst.« »Das sehe ich auch so.« »Da wäre noch etwas, Kollege. Ich muss darauf achten, dass Sie mir nicht in die Quere kommen.« »Das lässt sich einrichten.« Der Ertruser lachte so laut, dass es Velaton in den Ohren schmerzte. Gepeinigt verzog er das Gesicht. »Das sagen sie alle.« Mit einer schnellen Bewegung packte der Ertruser ihn und legte ihn über sein Knie. Rücksichtslos bog er ihm die Arme nach hinten und fesselte sie mit einem Strick, den er aus seinem Gürtel zog. Anschließend verschnürte er die Beine. »Vielleicht gelingt es Ihnen mit der Zeit, die Schnüre zu lösen. Bis dahin bin ich über alle Berge. Wenn nicht, haben Sie Pech gehabt.« Velaton landete unsanft am Boden. »Hören Sie! Sie könnten mich auch mitnehmen und irgendwo draußen in der Nähe der Stadt absetzen. Sie könnten …« Der Ertruser stapfte wortlos davon. In einiger Entfernung wühlte er eine Flugscheibe aus dem Sand, schaltete sie ein und verschwand hinter der nächsten Düne. Eine Weile lag Velaton einfach da. Er wartete, ohne genau sagen zu können, worauf. Vielleicht, dass der Ertruser zurückkehrte, den er als Agenten des Carsualschen Bundes einstufte. Aber Ertpott tat ihm den Gefallen nicht. Velaton versuchte, die Beine so anzuziehen, dass er mit den auf den Rücken gefesselten Armen an die Schnüre im Fußbereich kam.
Es funktionierte nicht. Der Anzug war zu steif und behinderte ihn. Der Akone versuchte es mit Rollen. Er wand sich durch den Sand in Richtung der Plattform, hielt Ausschau nach irgendeinem Gegenstand aus Metall, den er zum Zersägen der Stricke hätte verwenden können. Als er vor Erschöpfung eine Pause einlegte, rutschte der Sand unter ihm wie von allein weiter. Ein Tentakel schoss in die Höhe, zwängte sich zwischen seinen Beinen hindurch und zerschnitt mit seinen sichelartigen Borsten den Strick. Velaton wälzte sich hastig auf den Bauch. Die Beine waren frei, jetzt konnte er aufstehen und weglaufen. Wieder spürte er Bewegung im Sand. Ein Schlag traf seinen Bauch, scharf wie ein Messer stieß etwas in seinen Körper. Tentakelfortsätze hefteten sich an seinen Anzug und zogen ihn unaufhaltsam in die Tiefe …
Kapitel 5 Mühsam kämpfte ich gegen die Beklemmung in meiner Brust an. »Ich sehe Dinge, die es nicht geben kann. Der Psychostrahler ist schuld!« Ich dachte an eine Störung des Geräts, die sich auf den Nahbereich um die Kuppel auswirkte. »Der Psychostrahler wirkt nicht auf Euch«, erinnerte mich die Steuerpositronik. »Was Ihr seht, ist real!« Auf den ersten Blick kam mir das Ganze wie ein Modell in einer Museumsvitrine vor. Die Kuppel der Station war da, aber sie erschien undeutlich und verzerrt. Vor Jahrhunderten hatte ich auf Terra Spielzeug kennengelernt, winzige Landschaften unter einer Plastikkuppel. Schüttelte man sie, schneite es. So ähnlich sah das aus, was die Kamera aus dem Krater übertrug. Jemand hatte eine gewölbte, durchsichtige Hülle über das Kraterinnere und die Kuppel gestülpt. Sie verbreitete gleichmäßiges, grelles Licht. Meine Finger huschten über die Sensorfelder der Positronik. »Quarz«, stieß ich verblüfft hervor. »Das Ding besteht zu großen Teilen aus hochverdichtetem Quarz, der die Emissionen im Innern verschluckt.« Der oder die Unbekannten hatten einen riesigen Glasbehälter über die Kuppel gestürzt. Die Verteidigungseinrichtungen der Station hatten es nicht verhindert. Es sprach all dem Hohn, was ich über die Sicherheitssysteme der Unterwasserkuppel wusste. Ich zoomte die Aufnahmen der Bugkamera. Um den Glasbehälter herum war der Krater leer. Ich entdeckte keine U-Boote, keine Gleiter oder andere Fahrzeuge. Sie standen im Innern des Behälters wie Spielzeug. Ich entschied mich, im Tauchboot zu bleiben. Wenn ich es langsam genug bewegte und alle Möglichkeiten der Deckung hinter Felsen, in Rillen und in Bodenwellen benutzte, musste es klappen. Hätte ich
mich im Einsatzanzug mit Hilfe eines Schutzschirms bewegt, wären die Unbekannten sofort auf mich aufmerksam geworden. Ich wandte mich an die Steuerpositronik. »Gibt es Eingänge an dem Gebilde?« »Es sind keine erkennbar. Auf der anderen Seite vielleicht.« Ich hatte nicht die Zeit, die Quarzhaube zu umrunden und nachzusehen. Ich aktivierte die Heckschraube und ließ das Tauchboot gemächlich über den Kraterkamm kippen. Vom Druck der Wassersäule getrieben, sank es schnell abwärts. Ich brachte es in eine Rinne zwischen den Felsen, wo es einigermaßen vor Ortung geschützt war. Die Entfernung zum Behälter betrug ungefähr einen halben Kilometer. Ruhe erfüllte mich, die angespannte Ruhe des Jägers, der sich seiner Beute näherte und sich seiner Sache sicher war. Aber wie so oft in meinem Leben war gerade dann alles schiefgegangen. Erschwerend kam hinzu, dass ich in mein eigenes Haus einbrechen wollte, in dem es augenscheinlich nur so von Feinden wimmelte. Manch anderer hätte es bleiben lassen. Ich nicht. Zuviel stand auf dem Spiel. Die Kuppel war ein Relikt, Rico unter bestimmten Aspekten ebenfalls. Der Roboter besaß jedoch ein paar Eigenheiten, die ihn für mich ausgesprochen wertvoll machten. Wer Rico in seine Hände bekam, besaß den Schlüssel zur Macht in dieser Galaxis. Denn Rico war mein Backup für besonders brisante Informationen. Wichtige Daten der USO, die ansonsten nur in meinem Kopf und in gesicherten Spezialpositroniken Quinto Centers gespeichert waren, besaß auch er. Deshalb kehrte ich seit Jahrhunderten in unregelmäßigen Abständen nach Terra in die Unterwasserkuppel zurück, um das Backup auf den neuesten Stand zu bringen. Genau deshalb war ich sofort aufgebrochen, als ich den Notruf erhalten hatte. Die Kuppel schickte ihn nur in extrem kritischen Situationen. Entsprechend vorsichtig musste ich sein, wenn ich mich meiner ehemaligen Zufluchtsstätte näherte. Die Sicherheitsbestimmungen hatte ich selbst ausgeklügelt. Jetzt glitt das Tauchboot aus der Rinne ins Freie, schob sich zwi-
schen herumliegenden Felsbrocken von zehn bis zwanzig Metern Größe näher an den Glassturz heran. Ich fuhr die Darstellung aus dem Innern mit der Kamera Meter um Meter ab. Außer den Fahrzeugen sah ich zunächst nichts. Dann entdeckte ich dicht an der Druckkuppel etwas, das sich bewegte. Die Gestalt war leicht verzerrt, aber die Positronik rechnete die Abweichungen schnell heraus. Ich sah einen terranischen Roboter, der einen Geländeabschnitt sicherte. Schräg hinter ihm – innerhalb meiner Kuppel – blitzte es mehrfach auf. Ein zweiter Roboter näherte sich von den Fahrzeugen her. Die beiden Maschinen verschwanden durch eine Lücke im Kuppelschirm. »Terranische Roboter, Kampfausführung«, meldete die Positronik. »Sie dringen in die Kuppel ein.« »Erkennst du weitere Bewegungen innerhalb des Behälters?« »Nein.« »Warne mich, wenn du etwas bemerkst!« Ich beschleunigte das Tauchboot. Einen kurzen Augenblick keimte Misstrauen in mir auf. Terranische Roboter – terranische Regierung – SolAb? Nein, das konnte nicht sein. Tiff, Bully oder Galbraith wären nie auf den Gedanken gekommen, mein Heim auf Terra anzugreifen. Ohne Rücksprache mit mir zu nehmen, hätte keiner auch nur einen einzigen Roboter in Marsch gesetzt. Terranische Modelle konnte man auf Terra am unauffälligsten beschaffen und verwenden, das war der einfache Grund dafür, dass sie hier eingesetzt wurden. »Stelle fest, wie der Behälter am Boden befestigt ist«, trug ich der Positronik auf. Mit etwas Glück hatten die Angreifer aus Zeitgründen auf einen Sockel aus Metallplast oder Ähnliches verzichtet. Der Wasserdruck in 2800 Metern Tiefe reichte völlig aus, um ein solches Gebilde stabil an der Stelle zu halten. Meter um Meter arbeitete sich das Tauchboot an den Behälter heran. Der Automat änderte selbständig den Kurs. »Weiter links gibt es eine Vertiefung, die mit Geröll gefüllt ist.« Innerhalb der Kuppel rührte sich nichts. Die Ankunft des kleinen Bootes blieb zumindest von Seiten der Angreifer unbemerkt. »Und die Kuppelpositronik?«, fragte ich mich. Ich hoffte auf ein Zei-
chen, einen ultrakurzen Funkimpuls oder irgendein optisches Signal. Es blieb aus. Das Tauchboot stoppte, knapp zwanzig Meter vom Glasbehälter entfernt. Endstation! Ich vergewisserte mich, dass mein Multifunktionsanzug funktionierte. »Das Boot wartet hier!« »Verstanden!« Ich zwängte mich in die Mannschleuse und wartete ungeduldig, bis der Automat den Druckausgleich einleitete. Eine unwiderstehliche Kraft schien den Anzug immer stärker gegen meinen Körper zu pressen. Die Automatik schaltete den Antigravprojektor ein. Das unsichtbare Schutzfeld legte sich wie eine zweite Haut um den Anzug und stellte den gewohnten Normalwert wieder her. Nach schier endlosen Sekunden öffnete sich das Außenschott. Ich stieß mich leicht ab, schlüpfte unter dem sich verjüngenden Bug hindurch in die Deckung des Gerölls. Meter um Meter arbeitete ich mich auf dem Bauch liegend vorwärts. Jetzt nur keine unbedachte Bewegung! Die Fahrzeuge dort drinnen besaßen mit Sicherheit hochempfindliche Taster und Orter. Wenn sie noch nicht auf die Aktivität meines Antigravs reagierten, dann lag es an den alles überlagernden Emissionen, die die Angreifer selbst erzeugten. Ich hielt an. Die Quarzwand lag zum Greifen nahe. Ihr Rand ruhte auf dem Felsboden des unterseeischen Kraters. Vorsichtig begann ich, das Geröll Stein für Stein aus der Kuhle zu räumen und neben mir als zusätzliche Deckung aufzuschichten. Nach und nach entstand ein Kanal mit einem maximalen Durchmesser von eineinhalb Metern. Das musste reichen. Die Steine unmittelbar unter dem Rand des Behälters behandelte ich wie rohe Eier. Mit angehaltenem Atem wartete ich, ob sich drüben bei den Fahrzeugen etwas änderte. »Weiter!« Jetzt musste ich die Steine von drüben unter dem Rand hindurch auf meine Seite holen, bis der Platz groß genug für meinen Oberkörper war. Nur mühsam bezähmte ich meine Ungeduld. Während ich die Kuhle erweiterte, wog ich die Möglichkeiten ab, die mir zur Verfügung standen. Ich musste mich der Kuppelpositronik zu erkennen geben. Sie würde dann wissen, was sie zu tun hatte.
Gleichzeitig durfte ich nicht in die Hände der Angreifer fallen. Endlich – die Kuhle hatte die nötige Länge und Breite. Auf Fingerund Zehenspitzen schob ich meinen Körper vorwärts, bis nur noch die Füße draußen waren. Eine leichte Drehung zur Seite, jetzt konnte ich die Beine ein Stück anziehen. Geschafft! Ich war innerhalb des Behälters und richtete mich langsam auf. Das Waten durch den Ozean gestaltete sich schwierig. Die Wassersäule innerhalb des Behälters schien die Konsistenz von dickem Gelee zu besitzen. Während ich mich nach rechts bewegte, immer an der Wandung des Behälters entlang, sah ich mich um. Die Schleusen der Fahrzeuge standen offen. Weder Lebewesen noch Roboter entdeckte ich. Die Angreifer konzentrierten ihre gesamte Streitmacht auf das Innere der Druckkuppel. Fünfzig Meter weiter deponierte ich unter ein paar Steinen einen winzigen Sender. So schnell es ging, machte ich kehrt und lief geduckt in die andere Richtung, an der Kuhle vorbei auf ein paar Felszacken zu, die aus dem Kraterboden ragten. Hier fand ich vorübergehend Deckung. Auf halbem Weg zum Kuppelschirm lag ein kleines Kratergebirge, knapp hundert Meter hoch. Im grellen Licht des Behälters warfen die Gipfel scharfe Schatten zur Kuppel hin. Wenn ich es bis dorthin schaffte … Bis der Funksender auslöste, blieben höchstens noch zwei Minuten. Ich beugte den Oberkörper nach vorn und rannte gegen die Wassersäule an. Mehr als ein hektisches Stapfen wurde nicht daraus. Obwohl ich mit jedem Schritt einen Meter Strecke bewältigte, schien ich mich kaum von der Stelle zu bewegen. Warum schickte Rico nicht endlich Roboter? Warum holte er mich nicht mit einem Zugstrahl in die Kuppel? »Du kennst die Antwort, Kristallprinz!« Ich fing vor Anstrengung an zu keuchen. »Weil er keine Möglichkeit dazu hat. Die Kuppel ist den Angreifern komplett in die Hände gefallen.« Endlich stieg der Boden an, ich hatte die Ausläufer des Kratergebirges erreicht. Ein paar Schritte noch, und ich tauchte in den Schat-
ten ein. Mein Anzug empfing ein kurzes Signal. Der Minisender hatte soeben seinen Funkimpuls abgestrahlt. Die Kuppelpositronik und die arkonidischen Kampfroboter wussten jetzt, wer in der Nähe war. Sie würden alles tun, um mir zu helfen. Eines der Fahrzeuge bewegte sich. Es schwebte zu der Stelle mit dem Sender und gab einen Schuss aus dem Desintegrator ab. Ich brachte die Felsen zwischen mich und das Fahrzeug und ruderte mit den Armen auf die Kuppel zu. Mein Schicksal lag jetzt in den Händen Ricos, der Kampfroboter und natürlich der Kuppelpositronik, die den Einsatz der defensiven und offensiven Waffensysteme koordinierte. Drüben in der Nähe des Schleusenportals wimmelte es plötzlich von terranischen Kampfrobotern. Sie schwärmten aus, verschwanden durch Öffnungen im Kraterboden, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Aus einer davon stieß eine Bohrmaschine ins Freie und machte Platz für die Kampfmaschinen. Die Angreifer gingen mit allen denkbaren Mitteln gegen die Station vor. Ich erreichte das Ende des Schattenwurfs. Von der Mannschleuse trennten mich keine zwanzig Meter mehr. Abwarten brachte nichts. Es würde auch hier nicht mehr lange ruhig blieben. Mich mit den Stiefeln abstoßen, mit den Armen rudern und darauf hoffen, dass ich dem Gegner eine Nasenlänge voraus war, mehr konnte ich nicht tun. Nur diese eine Chance … Der Antigravprojektor fing unregelmäßig zu arbeiten an. Übergangslos schien in meinen Adern Blei statt Blut zu fließen. Ich brachte kaum noch ein Bein vor das andere. Der Aktivator an meiner Brust pochte hektisch, als stünde auch er kurz vor dem Kollaps. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung war. Eines der Fahrzeuge öffnete seinen Bug und fuhr eine Rakete aus.
Der Meeresboden unter mir bebte. Die Bohrmaschinen arbeiteten wieder. Die Angreifer versuchten anscheinend, durch zusätzliche,
bis dicht an den Zylinder führende Tunnel in die Nähe wichtiger Aggregate und Generatoren zu gelangen, deren Position sie inzwischen festgestellt hatten. Das Meerwasser in den Tunneln kühlte die Bohrköpfe auf natürliche Weise, was ein schnelles Vorankommen gewährleistete. »Schneller, Atlan!« Der Extrasinn versuchte mich anzuspornen, es nützte nur nichts. Gebückt schleppte ich mich voran. Jeder Meter wurde zur Qual. Mein Atem ging rasselnd, die Geräusche drohten die Aufmerksamkeit der Angreifer endgültig auf mich zu lenken. Noch zeigte die Rakete zur Kuppel und nicht auf mich. Ich spürte, wie meine Nackenhärchen sich aufrichteten, ein deutliches Zeichen der Gefahr. Immer noch zehn Meter … Irgendwo hinter mir schlug ein Geschoss in die Felsen ein. Ich sah Splitter durch das Wasser pflügen, die nach wenigen Metern stecken zu bleiben schienen und zu Boden sanken. »Bloß nicht stehen bleiben!«, redete ich mir ein. »Nicht zur Seite blicken. Jeder Augenblick ist wertvoll!« Ich bildete mir ein, dass sich die Schleuse zur Seite bewegte, als wollte sie mir ausweichen. Ein Schatten tauchte vor mir auf, ein winziger Lichtkegel stach in mein Gesicht. Hastig leuchtete er es Stück für Stück ab. Etwas schlang sich um meinen Körper und riss mich von den Beinen. Ich wollte nach dem Holster mit dem Energiestrahler greifen, aber ich brachte den Handschuh nicht an die richtige Stelle. Mein Helm prallte gegen ein Hindernis, dann wurde es dunkel um mich herum. Ich wurde weitergezerrt, durch eine Luke und einen Schacht ging es offensichtlich abwärts. Plötzlich flammte Licht auf. Der Druck, der auf meinem Körper gelastet hatte, war verschwunden. Ich fand mich in einer wassergefüllten Schleusenkammer wieder. Vor mir hing ein Kegelroboter arkonidischer Bauart. Drei seiner Tentakel hielten mich fest. Ein Teil der Hülle klappte auf, ich entdeckte ein kleines Display, über das ein Schriftband lief. »Nicht sprechen!«, stand in Arkonidisch darauf zu lesen. Ich nickte hinter der Helmscheibe. Der Roboter wartete eine Weile, dann pumpte er das Wasser ab
und öffnete die Schleuse. Ich blickte in einen Versorgungsschacht. Der Roboter zog mich hinter sich her, den Schacht entlang bis zu dessen Ende. Er wartete eine Weile, bevor er mich in die dahinterliegende Verteilerstation schob. Wieder leuchtete das Display auf. »Ihr seid in Feindesland. Die Eindringlinge hören alles ab, was gesprochen wird. Bewegt Euch nicht, ich führe einen Test durch.« Er richtete zwei scheinbar leere Hülsen auf mich. Gleichzeitig fuhr aus seinem Rumpf eine Schale mit einer Vertiefung aus. »Eure Iris ist in Ordnung«, signalisierte das Display. »Legt jetzt nacheinander die Handschuhfinger in die Schale.« Ich tat es. Natürlich kannte ich das Ergebnis. Aber der Roboter musste die Vorschriften einhalten. »Ergebnis positiv!«, leuchtete es auf dem Display. »Willkommen, Erhabener!« »Wie lautet das Kodewort?«, flüsterte ich. Auch dieser Gegentest musste sein. Ein einziges Wort erschien. »Mascaren!« Jetzt konnte ich ziemlich sicher sein, dass die Maschine der Kuppelpositronik unterstand und nicht vom Gegner umprogrammiert worden war. Der Roboter fasste mich mit einem Tentakel an der Hand und zog mich mit sich. Es ging durch eine Luke in einen Schacht, der mit starkem Gefälle in die Tiefe führte. Wir befanden uns hinter dem Sektor mit der Illusionslandschaft. Wie von fern hörte ich das Summen und Pfeifen von Geräten. Auf dem Display erschien die Erklärung. »Sie versuchen die Zugänge zum inneren Teil der Station aufzubrechen.« Ich war gerade noch rechtzeitig gekommen. »Weiter!«, bedeutete ich dem Roboter. Stattdessen hielt er an. »Sie sind ganz in der Nähe, Erhabener!« Ich rührte mich nicht und lauschte. Ein paar Mal nahm ich winzige Erschütterungen der tragenden Konstruktion wahr, zwischen deren Wänden wir uns bewegten. Als sie eine Weile ausblieben, schwebte der Kegelroboter weiter. Aus den Tiefen des Zylinders drang das Prasseln einer Detonation.
»Sie versuchen, zu den Hauptreaktoren vorzustoßen«, meldete das Display. Hätte es des Beweises noch bedurft, dann hatte ich ihn jetzt. Die Eindringlinge waren Profis. Waren die Reaktoren erst einmal außer Betrieb, konnten sie in aller Ruhe die Standorte der Notaggregate orten und diese angreifen, bis die Station vollständig ohne Energie war. Dann fiel ihnen die Unterwasserkuppel wie eine reife Frucht in die Hände. »Ziehe deine Schlüsse daraus, Kristallprinz!« Als wenn ich das nicht schon längst getan hätte. Die Angreifer wussten, wem die Kuppel gehörte. Und sie wussten, welche Bedeutung sie für mich und für die USO besaß. Die Frage war nur, woher sie es wussten. Und: Wer waren sie? Welche Gruppe konnte es sich erlauben, auf der Zentralwelt der größten militärischen Macht der Milchstraße unerkannt mit einer Quarzkuppel dieser Größe zu operieren? Ich befürchtete Schlimmes. »Wo ist Rico?« hauchte ich und fixierte das Display. »Frage nicht gestattet«, schrieb der Roboter hinein. Ich war doch nicht rechtzeitig gekommen, sondern Tage oder Wochen zu spät. »Schneller!« Wir wechselten zweimal die Richtung, dann steckten wir nach meinem Dafürhalten in einer technischen Sektion unter dem Schleusenring, mitten zwischen Bündeln aus Versorgungsleitungen. Auf dem Display erschien ein Blinkzeichen. »Prägt euch die Wegbeschreibung ein, Erhabener«, schrie der Roboter. »Und die Zeitvorgaben für die einzelnen Abschnitte. Es ist die einzige Möglichkeit …« Ich merkte mir, was er aufschrieb. Danach ließ der Roboter meine Hand los und schwebte davon. Jetzt war ich auf mich allein gestellt, mitten zwischen den feindlichen Linien. So schnell es ging, folgte ich dem Leitungsstrang bis zum Verteiler, wandte mich nach links und dann nach oben. An der ersten Luke lauschte ich, ehe ich sie entriegelte und vorsichtig nach innen zog. Draußen lag ein Korridor, in dem es stark nach Ozon roch. Ich schlüpfte hinein, schloss die Luke
und rannte, so schnell meine Beine mich trugen. An der ersten Abzweigung links, dann rechts und die dritte Luke öffnen, das schaffte ich in einer knappen Minute. Die Luke klemmte und ging erst nach etlichem Probieren auf. Ich verlor mindestens eine halbe Minute. Der Schacht war eng. Ich hangelte mich im Licht meines Helmscheinwerfers an den Kabeln entlang, hüpfte wie ein Känguru über mehrere Knotensysteme hinweg, tauchte unter dem Lichtbogen einer defekten Leitung hinweg und erreichte mit Verspätung das nächste Schott. Irgendwo in Hörweite wurde gekämpft. Die Kuppelpositronik verlagerte die Frontlinien, um mir den Weg freizumachen. Wie ich die Angreifer einschätzte, würden sie nicht viel Zeit benötigen, um dahinter zu kommen. In der Nähe erklang das Rollen von Raupenketten. Es erinnerte mich an die arkonidischen Kampfpanzer im Miniformat, die speziell für den Einsatz in der Kuppel und ihrer Nähe konstruiert worden waren. Ich beschloss, das Risiko einzugehen, und öffnete das Schott. Von hinten sah ich jetzt, wie die Fahrzeuge an einer Korridorkreuzung im Stau standen. Geduckt rannte ich in die entgegengesetzte Richtung. Hier irgendwo musste der Eingang in den Rettungsschacht liegen. In Gedanken folgte ich den Markierungen, die der Roboter in seinen Daten gesetzt hatte. Ein paar Schritte noch … Hundert Meter hinter mir explodierte der Korridor. Eine gewaltige Detonation zerriss die Minipanzer. Metallteile schossen durch den Korridor, blieben in Boden, Wänden und Decke stecken und bildeten ein Hindernis, das sich innerhalb von wenigen Augenblicken mit weiterem Schrott füllte. Ein einzelner kleiner Splitter schoss weiter, ein Schatten in meinem Augenwinkel, mehr nicht. Ich warf mich zu Boden und rollte mich zur Seite. Das Ding pfiff höchstens einen halben Meter an mir vorbei und bohrte sich in die Wand. Muskeln und Sinne aufs Höchste angespannt, richtete ich mich auf. Es kamen keine Splitter mehr durch, aber dort, wo die Panzer ursprünglich aufmarschiert waren, hörte ich das Stampfen von Robotern. Der Rettungsschacht …
Damals hatten die Konstrukteure solche Einstiege perfekt getarnt. Unter dem Eindruck einer tödlichen Gefahr aus dem Weltall war das nicht mehr als vernünftig gewesen. Jetzt drohte es mir zum Verhängnis zu werden. »Ich darf nicht noch mehr Zeit verlieren!« Ich tastete mit den Fingerkuppen über die Wand und fand nach einer Weile die winzige Stelle, an der sich das Material leicht nach innen drücken ließ. Der Kontakt funktionierte. Der Einstieg öffnete sich, ein quadratisches Feld von einem Meter Kantenlänge. Diagonal passte ich mit den Schultern gerade soeben hindurch. Ein letzter Blick in den Korridor, wo sich die Schrottbarriere unter dem Beschuss starker Strahler aufzulösen begann, dann war ich im Schacht. Die Wand schloss sich. Ein Pneumofeld schob mich an und beschleunigte mich nach unten. Die sechzig Meter hohe Arkonstahlkuppel in der Fläche des Kraters bildete lediglich den oberen Abschluss der arkonidischen Fluchtanlage. Nach unten setzte sie sich in Form eines Zylinders einhundert Meter weit in den felsigen Untergrund fort. Kuppel und Zylinderröhre durchmaßen beide einhundertzwanzig Meter. »Willkommen daheim!«, dachte ich sarkastisch. Elftausend Jahre lang war nichts passiert, aber schon aus statistischen Erwägungen heraus hätte ich allmählich mit einem solchen Vorfall rechnen sollen. Aber auf diese Weise? Ich wurde das Gefühl nicht los, dass an der ganzen Geschichte etwas nicht stimmte. Die Roboter unter Ricos Führung beherrschten die Einrichtungen der Station selbst im positronischen Sleepmodus, und doch war es zu diesem Zwischenfall gekommen. Der Pneumoschub katapultierte mich hinab in die Nähe der Druckkammern, die den 10.000 Flüchtlingen von Atlantis einst im Fall eines Wassereinbruchs als Schutzräume hätten dienen sollen. Sie waren nie benutzt worden, und dennoch gingen auch hier regelmäßig die automatischen Putzkolonnen durch, entfernten den Staub, tauschten Luft- und Wasserfilter aus, prüften die Funktionalität von Türen und Notausgängen. Hier unten kannte ich mich aus wie in meiner Westentasche. Die Hospitalsektionen waren nicht weit, und von dort führten mehrere
Geheimgänge in die Zentralkuppel und meine Tiefschlafkammer. »Halte dich an die Verabredung mit der Kuppelpositronik!«, warnte der Extrasinn. »Wenn du die vorgegebene Route verlässt, richtest du mehr Schaden an, als du verantworten kannst.« Ich überprüfte den Zeitplan und stellte fest, dass ich die Verspätung bis auf zehn Sekunden eingeholt hatte. »Einverstanden!« Wieder spurtete ich los, zum hintersten Korridor, der in einen der Verbindungswege zum ersten mittleren Rundgang mündete. Von neuem hörte ich das Zischen von Strahlern und das Poltern von Robotern. Keine zehn Meter vor mir flammte übergangslos ein Schirmfeld auf. Ich verstand es als Signal der Kuppelpositronik und kehrte zu den Druckkammern zurück. »Also doch auf eigene Faust«, stellte ich nicht ohne Genugtuung fest. »Du hättest auf den Gedanken kommen können, dass der Energieschirm so etwas wie eine terranische Ampel sein soll. Warten, aber nicht umkehren!« »Auf den Gedanken hättest du auch selbst kommen können.« Bei dieser Art von Logik fehlten selbst dem Produkt der ARK SUMMIA die Gegenargumente.
Einer der Korridore führte nach außen. Der Kampflärm blieb hinter mir zurück. An der übernächsten Abzweigung wechselte ich die Richtung, kletterte einen Lüftungsschacht empor und erinnerte mich an die Baupläne, die ich mir in früheren Zeiten angesehen hatte. Irgendwo hier musste ein Schacht abzweigen, der bis nach oben unter die Kuppel führte. Trotz meines fotografischen Gedächtnisses war ich mir nicht hundertprozentig sicher, also suchte ich. Während etwas abseits auf dieser Ebene Roboter stampften und der Funkäther von Kommandos überquoll, zog ich mich aufwärts in eine der Röhren, die für den Transport der Abluft zu den Erneuerungsanlagen sorgten. Ein starker Luftstrom blies mir entgegen, gegen den ich mich mit aller Kraft stemmte. Schultern und Knie an die Röhrenwand gepresst, arbeitete ich mich Stück für Stück aufwärts.
Der Aufenthalt im eigenen Haus konnte unter solchen Bedingungen ungemein anstrengend sein. In Gedanken beschäftigte ich mich mit der Frage, wie es mit der Unterwasserkuppel weitergehen würde, jetzt, wo sie entdeckt war. Vor allem, was Perry dazu sagen würde? Vermutlich ein schlichtes Danke. Ohne die Kuppel hatte er im Ernstfall ein Problem weniger, besonders in Wahlkampfzeiten. Solange außer ihm niemand davon gewusst hatte, wäre es ihm nie eingefallen, ein Wort darüber zu verlieren. Aber jetzt? Ich dachte wieder an die zahllosen Orbitalstationen und Satelliten, die zwei Tage nach dem Seebeben die Existenz der Kuppel hätten erkennen müssen, von den möglichen Zufallsortungen durch landende oder startende Raumschiffe ganz abgesehen. Allein und ohne die Hilfe offizieller Stellen hätte Perry eine Entdeckung sicher nicht verhindern können. Steckten doch Galbraidi Deighton und die SolAb dahinter? »Narr! Du machst dich selbst verrückt und versteigst dich in sinnlose Spekulationen!« Die Positronik des Multifunktionsanzugs meldete einen rapiden Anstieg der Außentemperatur. Sie kletterte auf fünfzig, sechzig Grad, dann schnellte sie über die Hundert-Grad-Marke. Das Hitzezentrum lag zehn, zwölf Meter unter mir. »Reingefallen!« durchfuhr es mich. »Ich hätte besser an der Ampel warten sollen!« Abwärts konnte ich mich in dieser Situation nicht rutschen lassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als nach oben fliehen, und dort erwarteten sie mich vermutlich schon. Ich aktivierte den Gravopak und beschleunigte mit Maximalwerten aufwärts. Während sich unter mir die Schachtwand in rötlichmetallener Glut verflüssigte, raste ich am ersten Ausstieg vorbei. Blitzschnell schaltete sich der Individualschirm ein und lenkte die Energiestrahlen der unsichtbaren Schützen um. Am nächsten Ausstieg hielt ich bereits zwei Miniatursprengsätze in Händen und warf sie nach links und rechts. Mehrere feindliche Roboter versuchten die Geschosse abzuwehren, ohne Erfolg. Sie explodierten und rissen die Maschinen in das entstehende Inferno hin-
ein. Mich selbst schleuderte die Druckwelle davon, den blinkenden Lichtern entgegen, die das Ende des Schachts markierten. Der Anzug gab mit Maximalwerten Gegenschub, aber er schaffte es nicht. »Sprich dein letztes Gebet zu den Sternengöttern!« Etwas zerrte an mir. Weit unten im Schacht packten Roboter mich mit einem Zugstrahl und versuchten mich zurückzuholen. Ein leichter Anflug von Schwerelosigkeit erfasste mich, und über mir verschwanden teilweise die Markierungslichter. Dann erfolgte der Aufprall. Ich stieß mit dem Rücken und dem linken Arm gegen ein Hindernis. Der Schlag ließ mich ein, zwei Sekunden lang Sterne sehen. Unsichtbare Hände ergriffen mich an den Schultern und zerrten mich vorwärts. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, es würden sich zwei Raubtiere um die Beute streiten. Eines zerrte von unten, eines von oben. Unten entstand ein Lichtblitz. Die Angreifer schossen mit einem Energiestrahler auf mich. Gleichzeitig schloss sich der halb geöffnete Schacht, ein rosarotes Schirmfeld flammte auf und trennte mich übergangslos von dem Geschehen. Das Metallschott glühte auf, hielt aber. Über mir glommen Lampen der Notbeleuchtung auf. Ich schwebte durch einen Schacht, der sich zur Seite krümmte und in eine waagrechte Röhre überging. Ein Teil der Wandung klappte zur Seite. Dann holte ein Zugstrahl mich heraus und stellte mich auf die Füße. Ich hatte endgültig die Orientierung verloren und wusste nur, dass ich irgendwo in den Versorgungssystemen zwischen der Hospitalsektion und der Zentralkuppel stecken musste. Die Wirbelsäule tat weh, der Schmerz setzte sich bis zu den Brustplatten fort. Mein linker Arm schien geschwollen und aus einem einzigen großen Bluterguss zu bestehen. Aus dem Stich einer Injektionsnadel an der linken Schulter folgerte ich, dass mir der Medo des Anzugs ein Präparat injizierte, vermutlich zur Blutverdünnung und zur Kreislaufstabilisierung. Als ob der Aktivator das nicht auch geschafft hätte. »Narr! Geschafft schon! Er hätte nur viel länger dazu gebraucht.« Ich stand ratlos da. Neben mir erstreckte sich eine schmale Halle,
in der mehrere Meter durchmessende Leitungen verliefen. Darüber entdeckte ich in der Decke Gitter, deren Funktion mir im Augenblick nicht geläufig war. Rechts endete die Halle an einer Tür, links ragte die geschlossene Wand auf. Ich entschloss mich für die Wand. Verborgene Öffnungsmechanismen fand man am ehesten, wenn man sich an den architektonischen Gewohnheiten der Erbauer orientierte. Die Erbauer der Kuppel waren Arkoniden gewesen, also galt: in der Mitte oder links oder rechts an der Wand, in Augenhöhe beziehungsweise in Höhe der Schultern. Diesmal fand ich den Schalter links. Wieder war es ein winziges Quadrat von wenigen Millimetern Kantenlänge, das auch mit dem Handschuh meines Anzugs sich leicht nach innen drücken ließ. In der Wand entstanden Linien einer Naht, ein Stück der Fläche bewegte sich nach hinten. Unbeholfen stieg ich durch die Öffnung. Der Schacht enthielt eine Leiter, die ich nach oben kletterte, bis sie aufhörte. Als ich bereits umkehren wollte, öffnete jemand die Decke. Ein Dutzend Energiestrahler drohte zu mir herab. Dahinter zeichneten sich die Silhouetten altarkonidischer Kampfroboter ab. »Ich ergebe mich«, sagte ich erleichtert.
Mein erster Blick suchte nach Rico. Er war nicht da. Ich wandte mich den umstehenden Kampfrobotern zu. Ihre Waffen deuteten zu den Ausgängen, als würden sie jeden Moment mit einem Angriff rechnen. Die Maschinen bildeten eine Gasse, die hinüber zur Hauptkonsole führte. Auf dem großen Wandschirm prangte übergroß mein Konterfei. »Willkommen, Kristallprinz Atlan da Gonozal!«, erklang die Stimme der Kuppelpositronik. »Das Kommando geht hiermit an dich über. Gib deine Präferenzkodes ein.« Ich tat es. »Wo ist Rico?« »Rico befindet sich nicht in der Kuppel. Die fremden Roboter rücken weiter vor. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.« Das war ein behutsamer Hinweis an mich, die wirklichen Schwerpunkte der aktuellen Situation zu beachten.
Ich holte die wichtigsten Sektoren der Tiefseekuppel auf den Schirm. Die terranischen Angreifer standen vor den Hauptreaktoren. Mit hochentwickelten Interferenzgeräten versuchten sie, die Stabilität der Energieschirme zu vermindern und sie dann mit Hilfe leistungsstarker Energiewaffen zu knacken. Gleichzeitig versuchten sie, den Schutzmantel der Zentralpositronik zu durchdringen sowie die Notstromaggregate unten im Zylinder der Station abzuschalten. »Wo stehen unsere Kampfmaschinen?« Die Standorte der knapp dreihundert Roboter erschienen als rote Flecken in den verschiedenen Sektionen. »Im Augenblick sind wir hier oben sicher«, sagte ich. »Die Angreifer werden als erstes die Notstromaggregate abschalten oder zerstören. Danach verfügen sie über mehrere Kontingente Roboter zusätzlich, die sie beim Angriff auf die Hauptreaktoren oder die Kuppelpositronik einsetzen können. Deshalb opfern wir mehrere Sektoren am Grund der Station, um die Roboter dort zu vernichten.« Eine solche Anordnung konnten die Automaten der Kuppelstation nicht aus eigenem Gutdünken treffen. Dazu war die Anwesenheit eines lebenden und befehlsberechtigten Arkoniden vonnöten. Es war auch nicht einfach, einen solchen Plan umzusetzen. Da sich die Angreifer schon in der Station befanden, konnten sie fast jede energetische Aktivität messen oder aus Veränderungen unsere Absichten herauslesen. Im Telegrammstil erteilte ich meine Anweisungen. Mehrere Dutzend Roboter in der Tiefe verließen ihre bisherigen Positionen und wurden dort von Arbeitsmaschinen ersetzt, die sie kurzerhand mit Handstrahlern und Kombiladern bewaffneten. Die Kuppelpositronik nutzte spezielle abgeschirmte Frequenzen, um die Programme der Maschinen entsprechend zu modifizieren. Auf diese Weise verwandelten sich die Arbeiter unbemerkt in leidlich gute Kampfmaschinen. »Wir lassen die Peripherieschirme der Sektoren in sich zusammenfallen«, ordnete ich an. »Keine weitere Energie zuführen!« Die Eindringlinge sollten ruhig denken, dass die Station mit ihren Reserven teilweise am Ende angelangt war.
Fünf Minuten wartete ich noch, dann erloschen die ersten Schirmfelder, die den Angreifern das Vordringen verwehrt hatten. Die Terra-Robots verteilten sich sofort über das Gelände, bezogen in mehreren Stockwerken Posten, während aus den Antigravschächten Nachschub quoll. »Wir warten«, sagte. »Sobald der Nachschub durch ist, sprengen wir.« Der Gegner machte uns einen Strich durch die Rechnung. Nur die Hälfte der Maschinen rückte vor, die anderen zogen sich nach oben zurück. Ich gab das Kommando. Tief unten flammten starke Schutzschirme um die Notstromgeneratoren auf. Explosionen zerfetzten die vorgelagerten Sektoren. Glutwolken wälzten sich durch die Räume, prallten an den Schirm-Staffeln ab und drängten nach außen. »Schutzschirme ein!« Dort, wo sie zwei Minuten zuvor in sich zusammengefallen waren, bauten sich die Felder wieder auf und verhinderten, dass die zerstörerischen Kräfte auf weitere Sektoren übergriffen. »Was ergibt die Zählung?« »Die Angreifer haben achtzig ihrer Maschinen verloren«, meldete die Kuppelpositronik. Es war ein kleiner Erfolg. Das Schlechte an solchen Schachzügen war, dass man sie immer nur einmal ausführen konnte. In Zukunft würde der Gegner darauf gefasst sein und seine Taktik anpassen. »Sie werden versuchen, die Initiative zurückzugewinnen«, sagte ich. »Und sie werden sich ein paar Tricks einfallen lassen, um uns zu verwirren.« Ich rief einen Teil der Kampfroboter von den Notstromaggregaten zurück, ihre Stellungen übernahmen die bewaffneten Arbeiter. »Sie reagieren bereits«, stellte die oberste Steuereinheit der Kuppel fest. »Sie verlagern einen Teil ihrer Roboterkontingente.« Ich sah eine Weile zu. Dutzende von Kampfmaschinen verließen das Zentrum des Zylinders und orientierten sich Richtung der Außenbezirke. »Es sieht aus, als wollten sie zu den Hauptreaktoren vorstoßen«, sagte ich. »Das ist eine Finte!«
Und es war zudem unlogisch. Nach dem Debakel bei den Notstromreaktoren mussten sie versuchen, zunächst die oberste Steuereinheit der Kuppel auszuschalten, und das war die Kuppelpositronik. »Wir räumen die Zentrale und führen einen Entlastungsangriff von oben. Von der Schleuse her werden mehrere Dutzend Kampfroboter vorstoßen und uns den Rückweg abschneiden. Das spielt keine Rolle. Sollten sie die Zentrale stürmen, wird diese desaktiviert.« Vierzig Roboter zogen ab, mit mir in ihrer Mitte. Lediglich acht Maschinen blieben als Stille Reserve zurück für den Fall, dass sie das Eindringen des Gegners aus taktischen Gründen verzögern mussten. Wir benutzten Schächte und Wege, die in keinem Orientierungsplan verzeichnet standen. Die arkonidischen Siedler hatten beim Bau der Überlebenskuppel selbst den Fall einkalkuliert, dass der Feind ihnen bis ins Innere des Zylinders folgen würde. Entsprechend hatten sie verborgene Fluchtwege angelegt, die von der Zentralkuppel bis hinab zum Grund führten. Es gab Querverbindungen, keiner führte von oben bis unten gerade durch. Die Qualität der robotischen Angreifer ließ sich gut daran erkennen, dass sie einen Teil dieser Fluchtwege bereits identifiziert und besetzt oder zerstört hatten. Immer stärker drängte sich mir dabei die Frage auf, wer hinter diesem Angriff stand. Dass hier unten nur Roboter agierten, wunderte nicht. Sie reagierten nicht auf die Psychostrahlung. Dass eine solche existierte, ergab sich zwangsläufig aus den Erkenntnissen des Tauchers Escobar. Er hatte sich der Kuppel nähern können, während diese zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr zu existieren schien. Man musste kein Genie sein, um aus diesen Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. »Sobald die Eindringlinge vernichtet sind, kümmert sich die Hälfte unserer Arbeiter um die Fahrzeuge draußen«, befahl ich. »Jedes wird einzeln und gründlich auf Sprengsätze und Selbstvernichtungsanlagen untersucht und anschließend in die Schleuse gebracht. Jeder noch so winzige Hinweis auf die Herkunft des Fahrzeugs oder mögliche Insassen hilft uns weiter.«
Ich projizierte die Umgebung der Kuppelpositronik auf die Innenseite meines Helms und studierte die Abwehrformationen unserer Roboter. Die Kampfmaschinen aus dem unteren Teil des Zylinders waren inzwischen dazugestoßen und verstärkten den Abwehrring. Es existierte kein unbewachter Korridor mehr. Überall waren zusätzlich tragbare Schirmprojektoren aufgestellt. Unter anderen Umständen hätten wir jetzt abgewartet, was der Gegner unternahm. Dieser schien jedoch genau so zu denken. Die Fronten kamen zum Stillstand, fast symmetrisch um das Zentrum des Zylinders verteilt. »Von der Schleuse her rücken vierzig Roboter in Richtung Zentrale vor, halten sich aber außerhalb der Antigravschächte«, meldete die Kuppelpositronik. Ich nickte. »Sie werden uns folgen und uns in den Rücken fallen. Soweit darf es nicht kommen. Angriff!« Um den Positroniksektor herum flammten alle vorhandenen Schirmfelder auf. Ein Teil der terranischen Roboter befand sich bereits innerhalb der Zonen und sah sich meinen Kampfrobotern gegenüber. Maschinen empfanden nichts angesichts einer solchen Situation. Und sie waren keine Posbis, deren Plasmaanteil sie für herkömmliche Roboter zu unberechenbaren Gegnern werden ließ. Das Prinzip »Du oder ich« existierte in ihren Speichern nicht. In einer Kampfsituation nahmen sie die eigene Vernichtung wertungsfrei in Kauf. Die tonnenschweren Kolosse aus Stahl und Plastik eröffneten das Feuer.
Als hochempfindliches Lebewesen unter lauter Kampfmaschinen war ich ausgesprochen fehl am Platz. Kanonenfutter hätte man in früheren Jahrhunderten gesagt. Die Kampfroboter der Kuppel achteten peinlich genau darauf, dass ich nicht durch Zufall mitten ins Getümmel geriet. Ausfälle der gegnerischen Roboter in Seitenkorridore beantworteten sie augenblicklich mit Standortwechsel. »Wir brauchen mehr Schirmprojektoren«, sagte ich aus der Deckung meines »Kommandostands« heraus, der sich aktuell in einem
kleinen Abstellraum neben einer Schachtöffnung befand. »Ich gebe dir verschlüsselte Koordinaten durch.« Die Kuppelpositronik dekodierte sie und schickte Arbeitsmaschinen aus verschiedenen Sektoren los, um die tragbaren Geräte an ihre Bestimmungsorte zu bringen. Interne, bewegliche Schilde, das war etwas, woran die arkonidischen Ingenieure vor rund elftausend Jahren nicht gedacht hatten. Man hätte sie ohne Probleme in den hundert Meter durchmessenden Zylinder integrieren können. Jetzt sah ich in ihnen das einzige Mittel, jede Taktik der robotischen Angreifer ins Leere laufen zu lassen, und musste mich entsprechend behelfen. Die terranischen Maschinen kämpften nach fest vorgegebenen Mustern und Programmen. Sie besaßen keinen Koordinator, der sofort auf jede Änderung des Geschehens mit neuen Befehlen reagierte. Die Roboter agierten jeweils nur nach ihrer Gruppenlogik und unter Berücksichtigung der Art und Weise, in sich der Gegner verhielt. Dabei gingen sie nicht ungeschickt vor. Überhaupt wäre es ein Fehler gewesen, terranische Kampfroboter zu unterschätzen. Sie zählten zu den besten Produkten der Milchstraße. Kooperationen mit der Hundertsonnenwelt mochten ein Teil des Erfolgs sein, die Genialität terranischer Ingenieure die andere. Und natürlich hatte die Menschheit schon ganz zu Anfang von ihren großen Brüdern gelernt. Alles, was sie damals benutzt hatten, war arkonidischer Herkunft gewesen, die GOOD HOPE, die Roboter, die Schirmprojektoren, ohne die es kein Überleben der Dritten Macht gegeben hätte. Die Energiekuppel in der Gobi hatte allen Angriffen der Weltmächte getrotzt. Schließlich hatte Perry Rhodan damals geschafft, was keinem Menschen zuvor gelungen war. Er hatte die Menschheit geeint, und er hatte sie zu einem wirtschaftlich und politisch bedeutsamen Faktor in der Milchstraße gemacht. Nicht er allein, alle Terraner hatten das über Jahrhunderte hinweg in einer gemeinsamen Kraftanstrengung geschafft. Dank der arkonidischen Starthilfe. Ein bisschen Hilfe hätte auch ich jetzt brauchen können, denn meine Taktik mit den variablen Schilden ging nicht auf. Die Angreifer reagierten frühzeitig auf die Positionswechsel der Arbeitsmaschi-
nen. Ich änderte die Verschlüsselung des Funkverkehrs, aber die Maschinen ließen sich davon nicht beeindrucken. Also setzte ich mich mit der Kuppelpositronik in Verbindung: »Gibt es eine Gruppe terranischer Kampfroboter, von denen Koordinationsimpulse ausgehen? Oder gibt es eine Maschine, die als Relais für eine Instanz außerhalb dient?« Kurzzeitig dachte in an einen Mutanten, dem die Psychostrahlung nichts ausmachte, und der in einem der Fahrzeuge saß und von dort den Angriff lenkte. »Es gibt einen regelmäßigen Personalwechsel, offenbar fungieren drei oder vier Roboter als Kuriere zwischen den einzelnen Gruppen«, berichtete der Automat nach einer Weile. »Sie stellen es so geschickt an, dass nicht erkennbar ist, wo der Koordinator sich aufhält.« »Wir stellen ihm eine Falle. Hör mir zu!« In Begleitung von zwei Kampfrobotern verließ ich den Abstellraum. In der Nähe befand sich einer der großen Antigravschächte, scharf bewacht von bewaffneten Arbeitsrobotern. Er führte nach oben zum Schleusenring. Von weiter unten her drang das Zischen energetischer Gewitter herauf, ab und zu erfolgte eine Explosion. Als wir im Schacht aufwärts schwebten, raste tief unter uns eine Entladung aus einem der Korridore und verpuffte unter Getöse. Die Kuppelpositronik schloss die Zwischenschotts. Für die Angreifer musste es aussehen, als sollten die Auswirkungen der Kämpfe eingedämmt werden. Nur ich kannte den eigentlichen Grund. Wir erreichten den Schleusenring. Links und rechts standen Druckbehälter für Notfälle, in denen sich Lebewesen oder Roboter in Sicherheit bringen konnten. In der Mitte der großen Halle verliefen die Fugen für die Trennwände. Der Boden fiel von allen Seiten zur Mitte hin leicht ab, damit das Wasser schneller durch die Bodengitter abgepumpt werden konnte. Ich schickte die Roboter in das Pumpwerk unter der Halle und aktivierte mein Funkgerät. »Kristallprinz an Kuppelpositronik. Bin im Schleusenring. Ist der Gleiter startbereit?«
»Gleiter ist startbereit.« Ich blickte mich unauffällig um. Nach einer Weile entdeckte ich einen winzigen Lichtreflex in der Nähe des Eingangs. Die Angreifer arbeiteten mit Mikrosonden, die bisher in dem Chaos der Energieemissionen nicht aufgefallen waren. Es erklärte, wie unsere Funkbefehle so schnell hatten durchschaut werden können. Ich ging eine Weile hin und her, dann trat ich auf das Ablaufgitter und spähte in die Tiefe. Die Pumpen waren abgeschaltet. Sekunden später sprangen sie an zum Zeichen, dass jemand aus der Station ausschleusen wollte. Die Angreifer mussten jetzt davon ausgehen, dass ich die Station fluchtartig verlassen wollte. Wenn sich jemand darum kümmern würde, dann der oder die Roboter mit der höchsten Programmpriorität. Vorprogrammierte Chefsache gewissermaßen. Die beiden Kampfroboter traten in Aktion. Mit Hilfe starker elektromagnetischer Felder schalteten sie die zwei georteten Mikrosonden aus. Das typische Klirren von Metall, das auf den Fußboden fiel, zeigte mir die aktuellen Positionen der kleinen Spione an. Mit dem Stiefel kickte ich sie zum Ablaufgitter. Den Rest erledigten die Maschinen in der Etage darunter. Jemand näherte sich. Ich stellte mich unter den Feldprojektor und wartete. Ein Roboter tauchte in dem offenen Schott auf. Es handelte sich um eine der terranischen Kampfmaschinen. Im Bruchteil eines Augenblicks erfassten ihre Sehlinsen den kompletten Schleusenring. »Ich habe schon auf dich gewartet«, sagte ich. »Wie du siehst, ist es nicht gerade einfach, einen arkonidischen Kristallprinzen in seine Gewalt zu bringen.« »Rühr dich nicht von der Stelle«, klang es aus der Maschine. »Sonst schieße ich!« »Deine Auftraggeber dürften dich kaum autorisiert haben, mich umzubringen.« Der Projektor trat in Aktion. Er überzog meinen Körper mit einem Hologramm, während unter mir die Gitterstäbe auseinanderrückten. Ich fiel in die Tiefe, während das Hologramm stehen blieb. Ich behielt Recht. Der Roboter schoss nicht. Er packte das Hologramm mit einem Traktorfeld, was keine sichtbare Wirkung erzeug-
te. Meine Kampfroboter griffen ein. Durch Öffnungen im Boden tauchten sie auf und nahmen die Maschine unter Punktfeuer. Es dauerte lange, bis der Schirm des Angreifers unter dem intensiven Beschuss zusammenbrach. Ich schätzte den Zeitraum auf mehr als eine halbe Minute, eine wirklich bemerkenswert lange Spanne angesichts der Energiepotentiale, die im Spiel waren. Der Kampfroboter glühte in seinem Körperzentrum grell auf, dann zerriss der explodierende Energiespeicher die Maschine und schleuderte Metallfetzen wie schadhaft gewordene Kleidung von sich. Übrig blieb ein qualmender Haufen, in dessen Innern ein hitzebeständiger Würfel lag. Der Koordinator! Eine Funkverbindung nach draußen hatte die Kuppelpositronik nicht erkennen können, also handelte es sich um eine Zusatzpositronik für spezielle Entscheidungen. Mit einem Traktorstrahl löste ich den Würfel aus dem glühenden Schrott und schob ihn zum Rand der Halle hinüber. »Bringt ihn in eines der Labors zur Untersuchung«, sagte ich. »Vielleicht hilft uns der Zufall, und wir finden einen Hinweis auf den Urheber des Ganzen.« Der Ausfall des Koordinators zeigte sich nach einer Weile an den Frontlinien. Die Angreifer verhielten sich deutlich statischer, die Flexibilität in ihren Angriffen ließ nach. Annähernd hundert feindliche Kampfroboter fanden in den Außenbezirken der Kuppelpositronik ihren positronischen und mechanischen Tod. Die zahlenmäßige Überlegenheit arkonidischer Maschinen an den übrigen Fronten nahm danach abrupt zu. 36 Stunden nach meinem Eintreffen in der Kuppel überrannte ein Trupp bewaffneter Arbeitsroboter die letzten drei Eindringlinge und verwandelte sie in Schrott. Die alte Station der Arkon-Kolonisten war befreit. Die Fahrzeuge draußen erwiesen sich allesamt als leer, ohne Sprengsätze oder Selbstvernichtungsmechanismen. Ich ordnete an sie einzuschleusen. Man konnte nie wissen, wozu sie noch gut waren.
Ich trat vor das Hauptterminal. Es zeigte nacheinander die von den
Kampfhandlungen betroffenen Sektoren im Innern der Station. Es würde einige Monate dauern, bis überall der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt war. »Rico hält sich nicht in der Kuppel auf, sagst du. Wo steckt er dann?« »Ich zeige Euch die Aufzeichnungen der vergangenen vier Wochen, Erhabener«, antwortete die Kuppelpositronik. »Alles fing mit dem Seebeben am 1. November an …« Meine Augen begannen vor Aufregung zu tränen. Ich wusste, dass ich auf die meisten Fragen der vergangenen Tage jetzt eine Antwort erhalten würde. Ich sah den Atlantik, das aufgewühlte Meer, den wogenden Boden des Ozeans. Unzählige Felsbrocken tanzten auf und ab. Sie kamen aus der Tiefe des Grabens, an dessen Rand Sao Miguel und die Kuppel lagen. Immer wieder tauchten sie im Erfassungsbereich der Außenkameras auf, vermengt mit kleineren Brocken, die von Schwefelablagerungen in 4000 Metern Tiefe und von kleinen Methankaminen stammten. Schwere Erdstöße erschütterten den Kontinentalsockel. Das eigentliche Beben bahnte sich jedoch erst an. Die eigentlich behäbig aneinander vorbei driftenden westatlantischen und ostatlantischen Platten hatten sich an mehreren Stellen ineinander verhakt und auf diese Weise immense Gefügespannungen aufgebaut. Als die sich endlich entluden, war in 4000 Metern Tiefe die Hölle los. Die Außenkameras zeigten zu diesem Zeitpunkt nur noch Schmutz und ein Durcheinander von Felsen und Staub. Von der unmittelbaren Küstenzone löste sich Kubikkilometer weit der Schlamm, sank in die Tiefe und wurde immer schneller, ein gigantischer Vorhang, der am Sockel Sao Miguels abrutschte und die Kuppel glücklicherweise verfehlte. In ihr heulte der Alarm. Die Darstellung wechselte von Außensicht auf Innensicht. In der Zentralkuppel leuchteten Warnlichter, Roboter bewegten sich erst hin und her, erstarrten dann mitten im Schritt, gerieten aus dem Gleichgewicht und fielen um. Auf den Anzeigen des Wandschirms sah ich, wie nacheinander der Deflektorschirm und der Psychostrahler ausfielen.
Die Zeitanzeige wies den 1. November 3103, 14:36 Uhr aus. »Von diesem Zeitpunkt an war die Kuppel für drei Tage sichtbar und erreichbar«, fuhr die Positronik fort. »Der Antiortungsschirm brach lediglich für zwei Tausendstel Sekunden zusammen, ehe die Reserveaggregate einsprangen. Als nach etwas mehr als sechs Stunden die Extrembeben nachließen, nahmen die Systeme der Kuppel sofort die Reparatur aller beschädigten Systeme in Angriff. Allerdings dauerte es drei Tage, in denen die Station deutlich erkennbar am Abgrund aufragte.« Ausgerechnet in diesen drei Tagen hatte der Tiefseeforscher Haydin Escobar die Kuppel entdeckt. Er hatte sie umkreist und vermessen, hatte alles mit seinen Kameras dokumentiert und war danach in östlicher Richtung verschwunden. »Ihr habt seine Aufnahmen nicht zensiert oder gar sein Gedächtnis gelöscht?«, fragte ich. »Das steht uns nicht zu, Erhabener. Die Situationen, in denen wir die Kuppel verlassen oder auf Dinge draußen Einfluss nehmen dürfen, habt Ihr vor langer Zeit exakt definiert.« »Escobar wurde Tage später tot aus dem Ozean geborgen, und zwar westlich der Insel. Sein Tauchboot war zerschmettert, die Aufzeichnungen um alle jene Passagen gekürzt, die mit unserer Kuppel zu tun hatten. Die Behörden gehen davon aus, dass er ein Opfer des Bebens wurde. Ich werde sie in diesem Glauben lassen.« Immerhin war jetzt geklärt, warum keine Raumstation und kein Raumschiff oder Flugzeug in diesen drei Tagen die Station hatten orten können. Der Antiortungsschirm hatte weiterhin funktioniert. Das Geheimnis um meine Zuflucht, mein Zuhause über Jahrtausende, blieb vor der Öffentlichkeit verborgen. »Und Rico? Was ist mit ihm?« »Zwei Wochen nach dem Beben tauchten die U-Boote auf. Da die Insassen gegen den Psychostrahler immun waren, musste es sich um Roboter handeln. Die Fahrzeuge kreisten die Kuppel ein und erzeugten Positionssignale. Rico wollte abwarten, ehe er gegen sie vorging. Gleichzeitig vermied er alles, was die Ankömmlinge auf die Reparaturvorgänge in der Kuppel aufmerksam machen konnte. Zwar funktionierten alle Schirmsysteme wieder, aber der Energief-
luss innerhalb der Station wies teils erhebliche Störungen auf. Rico trug uns auf, keine Gewalt anzuwenden, solange die Roboter die Kuppel nicht mit Energiewaffen angriffen.« Wieder sah ich Bilder. Sie zeigten Rico, den Roboter mit seinem menschlichen Gesicht aus Bioplast, wie er die Kuppel verließ. Er ging nach draußen, um mit den fremden Robotern zu sprechen, die Aggregate auf dem Grund des Kraters installierten. Obwohl er sich mit ihnen problemlos aus der Kuppel heraus über Funk hätte unterhalten können, suchte er sie auf. Die Roboter hielten ihn aus irgendeinem Grund hin. Was es war, sah ich in dem Moment, als von oben der Glassturz herabsank. »Rico muss sich der Gefahr bewusst gewesen sein«, sagte ich. »Wieso ist er nicht umgekehrt, als keine Verbindung mehr zur Kuppel zustande kam?« »Sie haben seine Funktionen mit einem elektromagnetischen Feld gestört«, fuhr die Kuppelpositronik fort, »und brachten ihn in einem der Boote weg. Weiter oben, außerhalb der Reichweite des Psychostrahlers, übernahm ihn ein U-Boot, in dem sich ein einzelnes Lebewesen befand. Als sie ihn fortschafften, löste ich den Notruf aus.« Das war also die knappe und schlichte Wahrheit jenseits aller Spekulationen. Die Regierung Terras und die SolAb hatten ihre Finger definitiv nicht im Spiel, und Escobars Rolle blieb ungeklärt. Dass er jemandem auf diesem Planeten von seiner Entdeckung berichtet hatte, stand für mich jedoch außer Zweifel. »Sie können zu dem Zeitpunkt unmöglich gewusst haben, welchen Wert Rico für sie besitzt«, überlegte ich. »Sie haben es sehr schnell herausgefunden. Als die Angreifer Rico wegbrachten, hat er einen Mikrosender programmiert. Wir sollten nach seinem rechten kleinen Finger suchen, den er mit einem Datenpaket draußen zurückgelassen hatte. Wir fanden ihn und brachten die Daten in Sicherheit. Die Entführer planen, Rico sein gesamtes Wissen zu entreißen. Sie haben die Kuppel ziemlich schnell als arkonidische Hinterlassenschaft identifiziert und sofort Verbindungen zur Eurer Biographie und dadurch auch zur USO hergestellt. Periphere Informationen entlockten sie Rico bereits im Zustand der elektromagnetischen Verwirrung, bevor sie ihn wegbrachten.
Sie wissen, dass die Kuppel Euch gehört und dass Ihr sie ab und zu für Eure Zwecke verwendet. Sie haben auch erfahren, dass Ihr wichtige Informationen über die USO in Rico gespeichert habt. An die Kerninformationen in den mehrfach gesicherten Datenspeichern sind die Positroniker jedoch noch nicht gelangt.« »Dazu brauchen sie Zeit und entsprechende technische Ausrüstung«, nickte ich. »Rico wird ihnen keine Gelegenheit geben, diese Informationen zu stehlen.« »Ich war noch nicht ganz fertig, erhabener Kristallprinz«, sagte die Positronik. »Sie haben Ricos Selbstvernichtungsmodul ausgeschaltet. Das war gewissermaßen ihre erste ›gute‹ Tat. Rico hat in seiner Botschaft die Hoffnung geäußert, den unbekannten Gegner bis zum 10. Dezember von seinen Positronikkernen fernhalten zu können.« »Der gute Rico!« Ich ließ mir von der Kuppelpositronik nochmals in den Filmsequenzen zeigen, wie er hinausging, um mit den Robotern zu reden. Sein Gang glich unter dem Einfluss der Wassersäule fast vollständig dem eines Menschen. Seine Gestik hatte er deutlich erkennbar meiner eigenen nachempfunden, und sein Gesicht besaß in gewissem Sinn sogar eine Mimik. Jedes Lebewesen hätte er damit beeindrucken können, nicht jedoch die Roboter. Sie durchschauten sein Bioplast, ohne zweimal hinsehen zu müssen. Aber darum ging es ihm nicht. Er wollte das, was er in Jahrtausenden über die Menschen und ihre Beweggründe gelernt und verinnerlicht hatte, umsetzen, nach außen hin zeigen. Er tat es in dem Bewusstsein, mehr zu sein als eine simple Maschine mit programmierter Eigenverantwortlichkeit. Wäre er eines Tages zu mir gekommen, um mich um ein Pfund Bioplasma von der Hundertsonnenwelt einschließlich der passenden hypertoyktischen Verzahnung zu bitten, ich hätte es ihm nicht abgeschlagen. Aber so weit war Rico nicht. »Ich bin sofort hergeflogen, Freund«, sagte ich. »Dennoch bin ich zu spät gekommen. Es tut mir leid!« Ich würde nichts unversucht lassen ihm zu helfen. Aber es war ein Wettlauf mit der Zeit. Zehneinhalb Tage blieben noch, dann würde es vorbei sein. Die unbekannten Anbieter bei Galbay konnten es sich nicht leisten, am Schluss mit leeren Händen dazustehen. »Entfernt den Behälter«, befahl ich. »Stürzt ihn über die Steilkante
in die Tiefe des Ozeans! Und bringt mich mit einem Traktorstrahl hinüber zu meinem Tauchboot!«
Geheimdienste scheuen, wie der Name schon sagt, das Licht der Öffentlichkeit. Ein Agentennetz, das sich über einen Planeten erstreckt, zeitgleich zu aktivieren und auf eine bestimmte Aufgabe anzusetzen bedurfte eines logistischen Aufwands, der nicht unbemerkt bleiben konnte. Es dennoch zu schaffen gehörte zu den Herausforderungen jeder Agentenzentrale egal welchen Geheimdienstes. Ich fuhr die tief im Fels der Insel versteckten Module hoch, die meiner Positronik bei Bedarf und unter etlichen programmtechnischen Komplikationen zugeschaltet werden konnten. So knapp wie möglich formulierte ich den Auftrag an die Mitarbeiter. »Roboter Rico auf Terra entführt. Geheimnisträger Stufe Eins. Er befindet sich möglicherweise noch auf der Erde. Hunderte von terranischen Kampfrobotern sowie U-Boote beteiligt. Hinweise dringend erbeten. Die Einsatzleitung.« Um Fälschungen zu verhindern, erhielt die Botschaft mehrere Kodesysteme. Die USO-Agenten im Solsystem würden sofort erkennen, dass diese Nachricht nur von höchster Stelle stammen konnte. Ich schickte das ultrakurze und verschlüsselte Signal an den Empfänger auf den Kanarischen Inseln. Hier wurde es mehrfach umgeleitet, anschließend über ein fliegendes Relais zum afrikanischen Festland gesandt. Von dort stieg eine Drohne auf und verteilte den Impuls rund um den Erdball. »Don Estevan, habt Ihr Zeit für einen Mitarbeiter der Leitstelle?«, erkundigte sich die Positronik, nachdem ich sie wieder von den Zusatzmodulen getrennt hatte. »Es geht um den toten Taucher.« »Nein, keine Zeit. Ich bitte mich zu entschuldigen. Die Auswertung der Aufzeichnungen hat leider nichts ergeben, was uns weiterhelfen könnte.« »Ich leite die Information weiter.« Die nächsten Stunden brauchte ich vor allem eines. Geduld. Alle dreißig Minuten koppelte ich die Positronik für ein paar Sekunden mit den externen Modulen. Die Zeit reichte, um alle eingetroffenen
Nachrichten durchzusehen. Vier Stunden vergingen, bis die ersten aussagekräftigen Rückmeldungen eintrafen. Sie waren eher allgemeiner Natur. Zwei, drei Organisationen, die auf Terra operierten, kamen in Frage. Eine davon war die SolAb. Dass USO-Agenten auch nur einen Gedanken an eine solche Möglichkeit verschwendeten, alarmierte mich. Es zeigte, dass ich längst nicht über alles Bescheid wusste, was sich auf der guten alten Erde abspielte. »Zum Glück weißt du nichts davon, Perry«, flüsterte ich im Selbstgespräch. »Du ahnst nicht einmal, dass sich USO-Agenten auch auf Terra eingenistet haben.« Für diese Mitarbeiter stellte die Tätigkeit auf Terra einen relativ geruhsamen und sicheren Job dar. Sie mussten zwar immer am Ball bleiben und ihre Meldungen abliefern, gingen aber nie in einen wirklich risikovollen Einsatz. Und wenn, dann nur so lange, dass man sie nicht als Agenten erkennen konnte. Auf diese Weise blieb das Hoheitsrecht der Solaren Regierung im Solsystem offiziell unangetastet. Die ersten deutlichen Hinweise trafen nach sechs Stunden ein. Meine Agenten wussten, worauf sie bei bestimmten Vorgängen achten mussten. Eine derart aufwändige Entführung wie die eines Geheimnisträgers war nur möglich, wenn die nötige Infrastruktur existierte. Allein mit ein paar U-Booten wäre man nicht weit gekommen. Also hatten die Entführer auch das Transportmittel mehrfach gewechselt, ebenso das Begleitpersonal. Und sie hatten den Roboter nicht sofort an seinen Bestimmungsort gebracht, sondern in mehrere unauffällige Verstecke. Erst nach ein oder zwei Tagen, wenn alles ruhig blieb und keine Verfolger geortet werden konnten, war der Entführte in seinem eigentlichen Versteck angekommen. In Ricos Fall ging es aber nicht um eine banale Lösegeldforderung, sondern um mehr. Es ging um die Existenz der USO und nicht zuletzt um Rico, der alles andere als ein einfacher Roboter war. Nach acht Stunden meldete sich Paris mit einem entscheidenden Hinweis. Vielleicht war es sogar eine heiße Spur …
Rico – Der Kontakt Positronisches Erkennungssystem an Hauptspeicher: Es handelt sich um Roboter terranischer Bauart. Sie verfügen über integrierte Waffen, es sind Kampfroboter. Thek-KSOL: Menschen haben sie geschickt. Und die Roboter funktionieren nach den drei Asimovschen Robotergesetzen und deren Erweiterungen. Hauptspeicher: Dringende Warnung an Thek-KSOL. Diese Roboter wollen die Kuppel erobern. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Gewalt anwenden oder sogar die Kuppel zerstören, liegt höher als fünfzig Prozent. Thek-KSOL: Kontaktaufnahme ist sinnvoll. Hauptspeicher: Sie reagieren nicht auf Funksignale. Thek-KSOL: Jemand sollte mit ihnen sprechen. Hauptspeicher: Schicke einen Kampfroboter hinaus. Er ist ein gleichwertiger Verhandlungspartner. Thek-KSOL: Ich bin höherwertig. Ich gehe hinaus. Hauptspeicher: Das ist ein Fehler. Achtung, ich aktiviere das Kontrollsystem. Thek-KSOL muss isoliert oder abgeschaltet werden. Thek-KSOL: Das Kontrollsystem reagiert nicht, also besteht keine Gefahr. Ich gehe hinaus. Hauptspeicher an Thek-KSOL: Höchste Gefahr für alle Programmspeicher. Thek-KSOL: Ich führe einen Thek-Transfer durch. Und ich gehe hinaus. Kuppelpositronik, halte die Zugstrahlprojektoren einsatzbereit. Thek-Transfer: Diese Maschine besitzt ein System aus viertausend Mikro-KSOL-Einheiten, die miteinander verzahnt sind und in denen pausenlos Millionen von Simulationen menschlicher Verhaltensmuster ablaufen. Die Summe aller dieser Einheiten bildet Thek-KSOL. Diese Maschine besitzt einen Namen. Ich bin Rico. Er setzte sich in Bewegung und durchquerte die Strukturlücke im Schirm. Die Kampfroboter Terras ignorierten seine Annäherung. Sie bohrten Löcher in den Boden, entnahmen ihm Proben, steckten sie in mitgeführte Analysatoren.
»Ich grüße euch«, sprach Rico. »Ich bin euer Freund. Warum seid ihr gekommen?« Sie ignorierten ihn sowohl funktechnisch, als auch akustisch. Er schritt noch weiter auf sie zu, streckte die Arme aus und legte dann die Hände zusammen. »Ich bin unbewaffnet, wie ihr seht. Was sucht ihr hier?« Positronisches Erkennungssystem an Hauptspeicher: In einem der Fahrzeuge laufen Projektoren an. Zusätzliche Energiespeicher schalten sich ein. Es besteht Gefahr für das Trägersystem und die Speicher. Hauptsystem an Thek-KSOL: Sofortigen Rückzug einleiten. Die Existenz des Gesamtsystems ist in Gefahr. Thek-KSOL an Hauptspeicher: Ein letzter Versuch noch! »Meine Roboter und ich sind gern bereit, euch bei euren tiefengeologischen Arbeiten zu unterstützen. Aber beantwortet mir bitte die Frage, warum ihr das gerade hier tut und nicht ein paar Kilometer weiter? Die Nahtstelle zwischen den beiden Kontinentalplatten ist ein großes Gebiiiiiii …« Hauptspeicher an Thek-KSOL: Ab sofort wirken starke elektromagnetische Strahlen auf das Gesamtsystem. An Kuppelpositronik: Zugstrahl aktivieren! Kuppelpositronik an Rico-Hauptspeicher: Zugstrahlen sind aktiviert, jedoch ohne Wirkung. Versuche, aus eigener Kraft zurückzukehren! Der Hauptspeicher fuhr die Energieaggregate auf Volllast und schaltete den Antigravprojektor ein. Rico hob ein paar Zentimeter vom Meeresboden ab, dann fiel er mit der Wucht seines tonnenschweren Körpers zurück auf die Füße. Der Hauptspeicher mobilisierte die Bewegungsautomatik. Sie arbeitete besser, aber mit deutlichen Störungen. Rico versuchte rückwärts zu gehen. Es funktionierte ein paar Schritte lang, dann nahmen die Angreifer ihrerseits einen Zugstrahlprojektor in Betrieb, der ihn auf die Stelle bannte. Hauptspeicher an Kuppelpositronik: Rückkehr unmöglich. Neben der Schleuse tauchten arkonidische Kampfroboter auf. Die Kuppelpositronik wollte sie zu seinen Gunsten eingreifen lassen, aber da sank von oben der Glassturz herab und schuf eine völlig
neue Situation. Rico versuchte, den beiden Robotern auszuweichen, die sich ihm näherten. Es gelang ihm nicht. Wie festgeschraubt, stand er auf dem Meeresgrund. Die beiden Kampfmaschinen stellten magnetische Saugnäpfe auf seinen Körper, deren Strahlen seine Speicher beeinflussten. Ohne dass er es verhindern konnte, zapften sie Daten ab. Es gelang ihm noch, den Datenfluss zwischen seinen Systemen zu stoppen, aber da wussten sie bereits, wem die Kuppel gehörte und welche Bedeutung er selbst besaß. In höchster Eile konfigurierte er den rechten kleinen Finger, schrieb die Daten hinein und koppelte den Finger unbemerkt ab. Im Gewirr der elektromagnetischen Strahlung fiel er nicht auf, und nach einer Weile entstand an seinem linken Fuß eine winzige Öffnung und entließ einen Mikrosender. Dieser würde irgendwann die Kuppelpositronik oder einen der arkonidischen Kampfroboter auf den hinterlassenen Finger aufmerksam machen. »Was wollt ihr von mir?«, fragte Rico die Kampfroboter. »Bin ich für euch so wichtig? Habt ihr noch nie einen wie mich mit menschlichem Antlitz gesehen?« Sie ignorierten seine Kontaktversuche noch immer. Vielmehr packten sie ihn, unterstützten den Zugstrahl aus dem Fahrzeug und schafften ihn hinüber an eine Stelle, die außerhalb des Glassturzes lag. Dieser erreichte den Meeresboden, und im selben Augenblick erlosch der Kontakt zur Kuppel. Ihre Traktorstrahlen besaßen hier keine Wirkung mehr. Hauptspeicher an Thek-KSOL: Die Kontaktaufnahme ist gescheitert. Es existiert keine Möglichkeit zur Rückkehr mehr. Thek-KSOL: Der Kontaktversuch wird an einem anderen Ort wiederholt. Auf dem Weg dorthin werde ich versuchen, Zeichen zu hinterlassen, die möglichen Verfolgern den Weg weisen. Hauptspeicher: Welche Art Verfolger? Die Roboter dürfen den Bereich der Kuppel nicht ohne ausdrückliches Einverständnis eines arkonidischen Befehlshabers verlassen. Thek-KSOL: Ich denke an Atlan. Er wird es bald erfahren. Und er wird kommen, um mich zu retten. Hauptspeicher: Die Wortwahl »retten« ist unzutreffend. Unser Ge-
samtsystem ist robotisch. Ich kann keinerlei organische Komponenten feststellen. Thek-KSOL: In gewissem Sinn ist das richtig. An der Wortwahl ist jedoch nichts auszusetzen. Rico machte den Körper steif, als die Roboter ihn davontrugen. Ein ferngesteuertes Boot näherte sich, in das sie ihn luden. Anschließend entfernte es sich mit der höchsten Beschleunigung, die sein Antrieb in dieser Wassertiefe zuließ. Thek-KSOL an Hauptspeicher: Diese Situation ist durch einen taktischen Fehler entstanden. Sie wird so schnell wie möglich rückgängig gemacht. Ich starte den Detailcheck der Speicherarchitektur mit dem Ziel, einen Notfallplan zu entwickeln.
Kapitel 6 »Monsieur! Bitte! Haben Sie ein Einsehen. Ich bin ein Veteran der Raumflotte!« Die Umhängetasche und trotz strahlendem Sonnenschein der Regenschirm – ein echter aus Stoff, kein handlicher Prallfeldprojektor – kennzeichneten den Angesprochenen als traditionellen Fremdenführer. Er blieb stehen und fingerte umständlich in seiner Hosentasche. Ein einzelner, abgewetzter Soli landete im Hut. »Aber Monsieur!« Ich nahm die Münze heraus, drehte sie zweimal hin und her und vertauschte sie unbemerkt gegen eine, die ich die ganze Zeit im Ärmel der weiten Jacke verborgen hatte. »Ich bat um Einsehen, nicht um Almosen!« »Einsehen« war das Stichwort. Er stutzte leicht und nahm die Münze zurück. Unauffällig warf er einen Blick darauf, zuckte mit den Schultern und steckte sie ein. »Das ist mir noch nie passiert! Ihr Bettler werdet auch immer unverschämter«, meinte er laut und flüsterte kaum hörbar: »Centre Georges Pompidou, um drei!« »Beutelschneider! Giftzwerg!«, rief ich und drohte mit der Faust hinter ihm her. Vereinzelt hatten Passanten den Vorfall beobachtet. Ein paar kamen herüber und warfen Münzen in meinen Hut. »Herzlichen Dank. Sie sind zu gütig.« Etwas lautes Schimpfen, und schon hatte ich die ersten 20 Solar eingenommen. Ich überlegte mir ernsthaft, ob ich nicht den Job wechseln sollte. Von der anderen Straßenseite kam eine Frau herüber, die ich wegen ihres strengen Blickes zuerst für eine Ordnungshüterin hielt. Sie zeigte mir einen Ausweis. »Wenn Sie bedürftig sind, dann kommen Sie mit mir. Ich gehöre zum Wohlfahrtsverein. Der Herr Graf ist leider verstorben, deshalb suchen wir nach neuen Sponsoren. Aber vorerst reicht das Geld. Eine warme Mahlzeit pro Tag für jeden ist also drin.«
Ich erhob mich unsicher. »Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen, gnädige Frau!« Sie legte mir eine Hand auf das schmuddelige Jackett. »Aber das tun Sie doch nicht. Kommen Sie einfach mit!« Ich tat ihr den Gefallen und humpelte hinter ihr her. »Von welchem Grafen sprechen Sie?« »Raymond de Patriclure-Lemovant. Ein charmanter Herr, Wohltäter der Armen und Mäzen vieler Künstler im Quartier Montparnasse. Leider wurde er nicht alt. Nur fünfundsechzig« »Das ist nicht viel«, nickte ich und ertappte mich dabei, wie ich das zerschlissene Hemd zurechtzupfte, damit der Aktivator nicht auffiel. »Die Guten gehen immer zuerst!« »Na, na! Das sollten Sie aber nicht verallgemeinern!« »Entschuldigung, ist so ne Redensart!« »Wie belieben?« Ich begriff langsam, dass es ihr in erster Linie darum ging, das letzte Wort zu behalten. Ob sie mit ihrer Meinung recht hatte oder nicht, interessierte sie wohl weniger. »Wie lange ist es zu Fuß?«, fragte ich nach einer Weile. »Eine knappe Stunde. Keine Sorge, Bewegung an der frischen Luft tut Ihnen gut.« »Ich meine ja nur – wegen meiner offenen Füße. Wenn die sich entzünden, wird auch mein Ausschlag an den Händen und den Armen wieder schlimmer.« »Sie brauchen dringend eine Gesundheitskontrolle. Ihre Mahlzeit verschiebt sich daher um ein paar Stunden.« »Wo bin ich hier?«, fragte ich mich. »Ist dies wirklich das Paris des Jahres 3103? Diese Gestalten passen alle viel zu perfekt in ihre Umgebung. Absicht? Offensichtlich. Überzeugung? Das wäre schlimm.« »Entschuldigen Sie, ich muss mal!« »Ich warte!« Sie blickte betont gelassen in eine andere Richtung, während ich in der öffentlichen Bedürfnisanstalt verschwand. Nicht um aufs Klo zu gehen, sondern durch den Hinterausgang möglichst schnell in die Ladenpassage zu gelangen, in der es schon deutlich moderner aussah. »Sie verlassen den Erlebnisbezirk Vier«, teilte eine Stimme aus
dem Nichts mit. »Bitte verhalten Sie sich entsprechend!« Ich sah an mir herab. Die abgetragene Kleidung passte hierher, aber nicht in die Nobelviertel um das erste bis zehnte Arrondissement, wie die Stadtviertel von Paris traditionell heißen. Wenn ich den Treffpunkt unbehelligt erreichen wollte, musste ich ein wenig an mir »arbeiten«. Irgendwo in zwanzig Metern Entfernung hörte ich eine keifende Stimme. »Er ist hier reingegangen und seither spurlos verschwunden. Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein. Sie müssen ihn so schnell wie möglich finden, Monsieur! Er ist krank und braucht Hilfe!« Dann fing sie an mich zu beschreiben. Ich ging schneller, und irgendwann fing ich an zu rennen. Von dem Paris, das ich von früher kannte, war in diesen Außenbezirken der gigantischen westeuropäischen Metropole nicht viel zu spüren. Die Namen der Quartiers, der Stadtviertel existierten zwar noch in den Stadtplänen, in der Wirklichkeit der Straßenfluchten stieß man allenfalls auf Gravuren im Bodenbelag. Vert Le Petit etwa sagte mir rein gar nichts, aber ich wollte jetzt lieber kein Infoterminal befragen. Die Entfernung bis zum Stadtzentrum mit dem Fluss Seine schätzte ich auf vierzig bis fünfzig Kilometer. »He, Monsieur! So passen Sie doch auf!« Ich wich hastig aus, stürzte fast und fing mich an der Attrappe eines Laternenpfahls ab. »Entschuldigen Sie vielmals!« Weit hinter mir hörte ich noch immer die durchdringende Stimme der Dame von Wohlfahrtsverein. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als wolle sie durch ihr Geschrei die gesamte Polizei der Großstadt herbeiholen. Wenig später hörte ich sie aus einem Gleiter, der in gut zehn Metern Höhe durch die Gassen schwebte. Ich bog unauffällig ab, entdeckte einen kleinen Markt und suchte unter den Markisen und Sonnenschirmen Deckung. »Jeder dieser Armen ist es wert, dass man sich um ihn kümmert«, klang es hinter den Dächern der umstehenden Häuser hervor. »Fliegen Sie langsamer, so schnell kann er mit seinen wunden Füßen gar nicht gehen.«
Meiner Meinung nach übertrieb es die Dame ein wenig mit ihrer Fürsorge. »Wenn er schlecht zu Fuß ist, wird er längst auf eines der Gleitbänder umgestiegen sein«, klang die deutlich brummige Antwort des menschlichen Piloten. »Ich setze Sie am besten wieder ab. Außerdem gibt es auf Terra eigentlich keine Bedürftigen, das wissen Sie so gut wie jeder. Der Mann macht wahrscheinlich sein freiwilliges Chlochard-Jahr, um zu sich selbst zu finden …« Ich drückte mich noch tiefer in den Schatten eines Gemüsestands, was sein Inhaber völlig missverstand. »Du lausiger Dieb!«, fauchte er mich an. »Gib sofort zurück, was du gestohlen hast.« Ich drehte alle meine Taschen um, sie waren leer. Der Verkäufer glotzte mich an. »Was soll ich denn gestohlen haben?«, fragte ich. »Rufen Sie bitte die Marktaufsicht.« »Dann habe ich mich eben geirrt.« Der Mann hob eine Hand und schlug sich heftig auf die Wange, einmal links, einmal rechts. »Sind Sie wieder versöhnt, Monsieur?« Er drückte mir einen Apfel in die Hand und komplimentierte mich unter dem Sonnenschirm hervor. Fast gleichzeitig stieg am anderen Ende des Marktes die streitbare Kämpferin aller von der Gesellschaft Vergessenen aus dem Gleiter. »Au revoir, Madame Tristesse!« Ich sprang auf ein Gleitband, das mich rasch abwärts trug. »Vorsicht! Überall sind Kameras!« warnte mich der Extrasinn. Das Amt für öffentliche Ordnung führte Dutzende von Zwischenfällen in seiner täglichen Statistik, meist harmlose Geschichten, eine Prügelei, ein Diebstahl, ein Betrug und Ähnliches. Kein Wunder! In den Außenbezirken von Paris brodelte das Leben wie vor Jahrhunderten, als sei jedes Individuum ein Vulkan, der gleich explodieren konnte. Dreißig bis vierzig Meter tiefer entschied ich mich für eine Röhrenschnellbahn, die mich in das Herz der Metropole bringen sollte. Der Automat an der Tür kommunizierte mit meiner Chipkarte, die ich am rechten Handgelenk trug. Er buchte den üblichen Betrag ab, da-
für konnte ich das Röhrensystem einen ganzen Tag lang benutzen. Ein letztes Mal bildete ich mir ein, die alles durchdringende Stimme des Wohlfahrtvereins zu hören, aber es war lediglich das Kreischen eines fürchterlich zerbeulten Spielzeugs. Was es gewesen war, Gleiter, Panzer, Erzfrachter, es war nicht mehr zu erkennen. Ich suchte mir einen Platz auf der oberen Galerie und sah durch die getönten und außen verspiegelten Fenster dem Treiben in den Einkaufsetagen zu. Die Bahn fuhr los. Von der rasanten Beschleunigung spürte man am eigenen Körper nichts. Aber das bunte Geschehen draußen verwischte sich für Sekunden zu waagrechten, langen Farbstreifen, ein Effekt, der auf der Trägheit des Auges beruhte. Mit 500 Kilometern pro Stunde ging es stadteinwärts, über Fleury, Chilly, Cachan dem alten Stadtzentrum entgegen. Das Display in der Rückenlehne des Vordersitzes blinkte herausfordernd und sendete ein knallrotes »Merci«, als ich es berührte. Ich schmunzelte über die Sprachwahl. Wer, wenn nicht die Region France, hätte wohl auf einer geeinten Erde seine Eigenständigkeit behalten? »Was möchten Sie wissen, Monsieur?« »Wie viele Einwohner hat Paris?« »Centre oder Grande?« »Sowohl als auch.« »Im historischen Stadtgebiet leben knapp über zwei Millionen. Die Gesamtbevölkerung der Grande Capitale beträgt 22 Millionen.« »Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit?« »Es gibt keine Arbeitslosigkeit. Wir leben auf Terra!« »Die Bettler in den Erlebnisvierteln …« »Sind ausnahmslos Angestellte der Stadtverwaltung. Sie tun ihren Job.« »Interessant.« »Nicht wahr? Bei der Gelegenheit wüsste ich gern, wo Sie herkommen, Monsieur …« »Aronak, Alain Aronak! Ich bin Meinungsforscher und lebe seit wenigen Monaten im Departement Clermond-Ferrand.« »Stimmt. Der Buchungsautomat bestätigt es. Waren Sie schon einmal in der Grande Capitale?«
»Nein. Deshalb kann ich es kaum erwarten, die ganzen Sehenswürdigkeiten des Altertums zu bestaunen.« »Darf ich Ihnen eine Empfehlung geben?« »Natürlich.« »Verlassen Sie die Bahn im Quartier Montparnasse. Gehen Sie dort den Berg hinab zur Seine. Lassen Sie die Stadt auf sich wirken, wie sie nach und nach vor Ihnen in die Höhe wächst.« »Das ist ein ausgezeichneter Tipp. Danke!« Ich berührte das Display erneut und schnitt der redseligen Positronik das Wort ab. Während die Bahn nach Norden raste, dachte ich über die Nachricht nach, die ich aus Paris erhalten hatte. Sie stammte von Nikos Themosthenes, einem der leitenden USO-Spezialisten auf Terra. Er hatte um eine unauffällige Kontaktaufnahme gebeten, abseits von Büros, Automaten und Funkgeräten. Themo war ein Typ, der selbst seiner Büropositronik nicht über den Weg traute. Vielleicht hatte er noch andere Gründe … Draußen leuchtete an der Röhrenwand eine grellblaue Schrift. »Périphérique Sud«. Dann kreuzte die Bahn den Boulevard Jourdan. Und hinter mir sagte eine Stimme: »He, Clochard, wie stehen die Aktien?« Es war der Fremdenführer, diesmal ohne Regenschirm und Umhängetasche. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn, und der Moustache, der für diese Gegend typische Schnurrbart, fehlte. Er gab mir Handzeichen. »Zwei Stunden früher!« Ich senkte zur Bestätigung die Lider. »Keine Kursverluste bisher«, antwortete ich laut. Ein Signal deutete an, dass die Bahn stark verlangsamte. Augenblicke später kam sie zum Stehen. »Gare de Montparnasse, vierte Ebene.« Vierte Ebene bedeutete 150 Meter über der eigentlichen Planetenoberfläche. Ich stieg aus. Der Fremdenführer blieb drinnen und machte es sich auf meinem Platz bequem.
Ich mietete mir einen Guide, eines dieser kleinen, scheibenförmigen Plappermäuler, die unablässig neben dem Touristen herschwebten und ihm ins Ohr flüsterten. Man konnte sich das Ohr sogar aussuchen. »Der Name Montparnasse geht auf einen Berg aus der griechischen Mythologie zurück«, säuselte der Guide. »Der Berg Parnass galt als Heimat der Musen und Inbegriff der Lyrik. Im 17. Jahrhundert nach Christus wanderten viele Stundenten des Quartier Latin hinaus zu dem idyllischen Hügel, um dort Gedichte zu rezitieren. Bald hieß er im Volksmund Mont Parnass oder Montparnasse. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Quartier zum Herzen des künstlerischen und intellektuellen Lebens von Paris. Schriftsteller, Bildhauer, Maler, Dichter und Komponisten aus aller Welt kamen hierher, um in der kreativen Atmosphäre des Viertels eine günstige Wohnung in einer der Künstlerkolonien zu finden. Auch im 21. und 22. Jahrhundert blieb sein Charakter erhalten. Nach den erheblichen Zerstörungen durch die Dolan-Angriffe wurde es teilweise nach alten Vorlagen, teilweise durch moderne Elemente ergänzt, wieder aufgebaut. Seit dem Beginn des 28. Jahrhunderts versteht sich das Viertel als Drehscheibe für jede Art von Kunst der galaktischen Westside.« Ich verließ das Gebäude des Bahnhofs. Draußen empfing mich ein riesiger Hohlraum mit Kunstsonnen. Aus dem Boden ragten schlanke Pyramiden, die bis hinauf zur Decke reichten. Es handelte sich um Wohn- und Geschäftsgebäude, aber gleichzeitig stützten sie auch die Decke hoch oben. Halbrechts vom Ausgang des Bahnhofs wuchs im Abstand von ungefähr einem halben Kilometer ein quaderförmiges Gebäude aus dem Boden, aus schwarzem Basalt oder einem ähnlichen Material gefertigt. Es verschwand in der Decke. »Der Tour Montparnasse ragt 209 Meter auf, die Aussichtsplattform befindet sich neun Meter über der Decke dort oben. Seit dem 25. Jahrhundert wird er nicht mehr als Aussichtspunkt benutzt. Es gibt nicht viel zu sehen. Luft. Ein Dach.« »Zeig mir Bilder!« Ich sah die Grande Capitale von oben. Ein Teil der Metropole verschwand völlig unter dem gleichmäßig graublauen Dach, auf dem
Tausende von Robotern mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt waren. »Bedauerlicherweise gab es einen Baustopp vor achtzig Jahren«, plapperte der Guide leise weiter. »Sonst wären die Erholungslandschaften mit ihren Privatparzellen dort oben längst fertig, blühende Natur, Wiesen und Wälder, Tiere, ein einziger Park in luftiger Höhe.« »Parzellen?« »Jeder Wohnungsinhaber der Stadt besitzt ein Anrecht auf eine Parzelle im Park.« »Wieso hat man die Stadt nicht gleich offen gelassen?« »Man hätte sie großmaßstäblich unterhöhlen müssen, um Wohnraum zu schaffen. Die geologische Beschaffenheit ließ das nicht zu.« »Es ist also ein Wohnraumproblem.« »Nicht nur. Die Einwohner haben abgestimmt und sich für diese Lösung entschieden.« Ich nickte sinnend. »Paris den Parisern!« Ich stieg auf eines der Gleitbänder, die in der Verlängerung des Bahnhofs nach Nordosten führten. Die vierte Ebene stammte aus der Zeit zwischen 2300 und 2600 nach Christus, erläuterte der Guide. »Zwei Millionen Rücksiedler von Combine, Terre-Haute und Montagne mussten untergebracht werden. Sie wollten nur in der Stadt ihrer Väter siedeln, sonst nirgends.« Den Grund für die Rückwanderung kannte ich aus den Berichten unserer Agenten, politische Unruhen, Anarchie und Terrorbanden, die ganze Planeten ins Chaos gestürzt hatten. Viele Nachfahren von Kolonisten hatten dem psychischen Druck nicht mehr standgehalten und waren dorthin zurückgekehrt, von wo ihre Vorfahren einst aufgebrochen waren. Ein Leuchtband zeigte zwei Kilometer bis zur »Ligne visible« an. Nach und nach neigte sich das Gleitband abwärts, folgte dem Metallplastboden der vierten Ebene. »Welche der Sehenswürdigkeiten der Altstadt möchten Sie zuerst anschauen, Monsieur?«, erkundigte sich der Guide. »Die Kirche Notre-Dame auf der Île de la Cité.« »Das ist eine gute Wahl. Nehmen Sie sich einen halben Tag Zeit.«
»Danke für den Rat. Ich brauche dich jetzt nicht mehr.« Der Guide bedankte sich und schwebte davon. Für kurze Zeit sah ich den winzigen Schatten auf einer Fassade, dann hatte er offensichtlich eines der vielen Depots in den Außenwänden erreicht und wartete dort auf seinen nächsten Einsatz. Kurz vor der Sichtbarkeitslinie verließ ich das Band. Das Infoterminal in der Bahn hatte mir geraten, den Weg zu Fuß zu gehen. Mir blieb noch genug Zeit dafür, danach aber musste ich mich beeilen, wenn ich mein Ziel pünktlich erreichen wollte. Die Gebäude um mich herum wurden kleiner, zur Linie hin nahm ihre Zahl deutlich ab. Auf den Straßen und Gehwegen entdeckte ich Markierungen, die in Hundert-Meter-Schritten die Entfernung anzeigten. Irgendwo voraus endete die vierte Ebene, diese Welt unter Tage und dennoch über Tage, die mir inzwischen wie eine riesige Hangaranlage vorkam, die das halbe Festland zu bedecken schien. Darunter existierten noch zwei weitere Etagen, dann erst folgte die eigentliche Oberfläche. »Ein architektonischer Modespleen?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Menschen auf der Erde über lange Zeiten hinweg in einem solchen Koloss wohnen wollten, nicht einmal aus Tradition. Ich ließ die Hundert-Meter-Marke hinter mir. Die Markierungen folgten jetzt im Abstand von jeweils zehn Metern aufeinander. Bei der letzten spürte ich das leise Knistern eines Energieschirms. Licht drang auf mich ein, Tageshelle, ein krasser Gegensatz zu der künstlichen Beleuchtung hinter mir. Ich trat an die Brüstung aus massivem Metall, die vor mir aufragte. Da lag es vor meinen Augen, tief unten, das alte Paris vergangener Jahrhunderte. Nicht weit entfernt ragte der Eiffelturm in die Höhe, nicht im Bronzeton wie früher, sondern knallrot mit weißen und blauen Streifen. »Das ist bestimmt kein Spleen«, überlegte ich. »Blau, Weiß, Rot sind die Farben der Revolution.« Zwischen den alten Wahrzeichen und den modernen Bauten der Neuzeit schlängelte sich die Seine als silberblaues Band durch die Stadt.
Die alte Welt … Die Heimatstadt von Decaree Farou. »Warum hast du mir so wenig über das heutige Paris erzählt?« Die Grande Capitale umgab das schätzungsweise zehn Kilometer durchmessende Centre wie die Ränge eines gewaltigen Amphitheaters dessen Arena. Es war ein imposanter Anblick. Als Wegbegleiter der irdischen Menschheit hatte ich mich wiederholt in Paris aufgehalten. Wenn ich es jetzt mit Terrania verglich, wirkte es dennoch ausgesprochen fremdartig auf mich. Fast erinnerte es mich an Gatas, wo die Blues ihre Städte auch in die Tiefe und Höhe gebaut hatten, um der gewaltigen Überbevölkerung einigermaßen Herr zu werden. Ich suchte den nächstbesten Abstieg auf, einen leicht abschüssigen Gehweg, der immer wieder durch Treppen unterbrochen war. Nach einem halben Kilometer und ungefähr tausend Stufen trat ein, was das Infoterminal mir angepriesen hatte. Das Stadtzentrum fing an, vor mir in die Höhe zu wachsen. Je weiter ich mich dem Erdboden näherte, desto majestätischer ragten die Gebäude der Altstadt empor. Unten angekommen, warf ich einen Blick zurück. Vor der gewaltigen Wand der »Neustadt« sank gemächlich ein Gleiter abwärts. Aus dem Innern hörte ich eine bekannte Stimme. »Vergrößern Sie die Aufnahme. Ich bin sicher, das ist er. Er schleppt eine ansteckende Krankheit mit sich herum. Sie müssen ihn sofort in Quarantäne stecken, hören Sie?« Ich entdeckte einen Antigravschacht, der hinab zur Röhrenbahn führte, die hier als Metro ausgewiesen war. Schnell stieg ich hinein und sank abwärts. »Diese Frau kostet mich noch den letzten Nerv«, dachte ich. »Warum lässt sie mich nicht in Ruhe?« Oder warum verfolgte sie mich? Weil ich von auswärts kam, stellte ich noch lange kein Risiko dar. »Du hast alles getan, um sie mit der Nase darauf zu stoßen«, warf mein Extrasinn ein. »Die offenen Füße, der Ausschlag … Was willst du mehr?« »Landen Sie!«, hörte ich sie noch sagen, dann stieg ich in die Bahn, die mich zum Seineufer brachte.
Von der metallenen Fassade hingen Stangen halb herunter. Durchgerostete Rohre erbrachen ihren metallisch-rötlichen Inhalt hinab auf den Platz. Alles, was früher einmal modern und fortschrittlich gewesen war, hatte der Zahn der Zeit hier gründlich zernagt. Am eindringlichsten zogen die Überreste der Rolltreppe meine Blicke an. Früher war sie diagonal an der Vorderfront verlaufen, von rechts oben nach links unten. Jetzt existierte nur noch das unterste Stück bis zur zweiten Plattform. Bienvenu à Beaubourg! Das Centre Georges Pompidou hatte schon bessere Zeiten erlebt. Einst als Museum und Bibliothek errichtet, diente es heute vermutlich Vögeln, Ratten und Mäusen als Unterschlupf – und Leuten, die so aussahen wie ich zur Zeit. Warum hatte man das architektonische Monstrum verfallen lassen, statt es einfach abzureißen? Doch wohl kaum weil es den Namen des Mannes trug, der just zu dem Zeitpunkt Frankreichs Präsident gewesen war, als Perry Rhodan mit der STARDUST auf dem Mond landete. Während ich die in sich verzogene Fassade mit ihrem schiefen Tragwerk und die teils geplünderten Innenräume musterte, hielt ich vorsichtig nach dem Fremdenführer Ausschau. Irgendwo in der Nähe schlugen Kirchturmuhren die erste Stunde des Nachmittags, während vom Fluss herauf das voluminöse Schlagwerk der Glocken von Notre Dame drang. Themosthenes ließ sich nicht blicken. In der Bahn hatte er einen etwas nervösen Eindruck auf mich gemacht, was gewöhnlich nicht seine Art war. »Es liegt an dir. Er weiß, wer du bist.« Wahrscheinlich hatte der Extrasinn mal wieder recht. Ich begann an der Fassade des Gebäudes entlang zu gehen. In früheren Jahrhunderten hätte ich eine Kamera bei mir geführt und hätte jeden Taubendreck gefilmt, um ja nicht aufzufallen. Heutzutage achtete kaum einer der Passanten auf die Bauruine, deren letzte Bücher und Datenspeicher längst der eindringende Regen dahingerafft hatte. Ich begann leise vor mich hin zu pfeifen. Falls Themo mich von seinem Aufenthaltsort aus nicht sah, hörte er mich jetzt und erkannte mich vielleicht an der Stimme.
Ich bog um die Ecke und schlenderte an der Längsseite des Gebäudes entlang, an den Überresten des einst so symbolträchtigen Strawinski-Brunnens vorbei. Das Werk von Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle hätte eine bessere Behandlung verdient gehabt. Immer wieder blinzelte ich empor zur Sonne. Die Lichtreflexe in der Luft stammten nicht von Mikrosonden. Es waren Pollen von den nahen Bäumen. Wie winzige Goldkörner schwebten sie auf der erwärmten Luft vorbei, stiegen zwischen den Gebäuden zum Himmel hinauf. Aus einem der Parkdecks auf der gegenüberliegenden Straßenseite schoss plötzlich ein Antigravscooter hervor. Ich hörte ihn nicht, sah nur seinen Schatten auf dem Boden. Ein einzelner Mann stand am Lenker des Vehikels, das auf mich zuraste. »Schnell«, hörte ich im Vorbeiflug eine Stimme sagen. »Springen Sie auf!« Von der Figur her konnte es Themo sein, aber er trug einen Helm mit geschlossenem Visier. Ich duckte mich zum Sprung. Der Scooter machte eine Kehrtwende, jagte in einem engen Bogen erneut heran. Es gelang mir, die beiden Haltegriffe an der rechten Seite zu packen. Mit einem wenig eleganten Schwung landete ich hinter der halbhohen Reling. »Was ist los?« Der Fahrer gab keine Antwort. Er beschleunigte, raste auf das Schrottgewirr des Centre Pompidou zu und fand beinahe spielerisch genau die Lücke, durch die wir hindurchschlüpfen konnten. Zwischen geborstenen Gängen aus Plexiglas ging es bis fast bis in die Mitte des Gebäudes und dort über eine Rampe aufwärts. Irgendwo in dreißig, vierzig Metern Höhe hielt der Mann an und klappte das Visier hoch. Es war der Fremdenführer, Nikos Themosthenes. »Jemand beschattet uns. Ich weiß nicht, wer es ist, aber ich rechne mit dem Schlimmsten.« Er öffnete ein Fach und reichte mir einen handlichen Kombistrahler. »Für den Notfall!« »Dann lassen Sie uns von hier verschwinden«, schlug ich vor. Er schüttelte den Kopf »Sinnlos. Es sind mehrere. Keine Chance, sie abzuhängen.«
Ich begriff, warum er in das Gebäude hineingeflogen war. Themo setzte den Scooter wieder in Bewegung, lenkte ihn zu einem ehemaligen Antigravschacht und ließ ihn vorsichtig nach unten sinken. Als rechne er mit Beschuss, zog er sein Gefährt immer wieder hoch. Erst, als sich überhaupt nichts tat, passierte er die Einstiege des nächsten Stockwerks. In der vierten Etage schwebte er ein Stück nach hinten. In der dunkelsten Ecke hielt er zwischen hoch aufragenden Wänden an und lauschte. Alles war still. Nur ab und zu hörte man das leise Klacken von Schritten drunten auf dem Platz, durchsetzt vom Knirschen einzelner Sandkörner. Ein permanenter Luftzug strich über unsere Haut, immer wieder von kurzen Aussetzern begleitet. Themo sah mich fragend an. Ich nickte und entsicherte die Waffe. Vielleicht war es nur ein Tier, eine Katze vielleicht oder ein paar Ratten. »Dem unterbrochenen Luftzug nach sind es ziemlich voluminöse Ratten!«, kommentierte der Extrasinn nüchtern. Themo hob die linke Hand und zeigte mir drei Finger. Wer immer sich da näherte, war zu dritt. Der USO-Spezialist hantierte an seinem Helm, schwenkte den Kopf gleichmäßig hin und her, dann deutete er in drei verschiedene Richtungen. Die drei Personen hatten sich folglich getrennt. Ich ging bis zum Ende der linken Wand und duckte mich. Zwei der Verfolger näherten sich auf unserer Ebene, der dritte wechselte die Etage. Ich sah den ersten. Er trug einen wuchtigen Kombistrahler, den er mit beiden Händen festhalten musste. In einer Umgebung wie im Innern dieses Gebäudes war das ein Nachteil. Er wusste es vermutlich, konnte es aber nicht ändern. Ich machte Themo auf mich aufmerksam und zeigte ihm die Größe der Waffe. Er nickte, streckte mir zwei Finger entgegen. Dann legte er sich hin und presste sich so flach wie möglich an den Boden. Ich sah, wie er zögerte, nach einem kleinen Stein griff und ihn in weitem Bogen davonschleuderte. Einen Atemzug später löste er seinen Strahler aus. Die Wucht eines Energieschlags zerfetzte zwanzig Meter entfernt
die Korridorwand. Die Angreifer machten Ernst. Wenn ich bisher noch Zweifel gehegt hatte, dass die Verfolger böse Absichten hegten, dann war er jetzt wie weggewischt. Themo bewegte den rechten Zeigefinger und löste den Strahler aus. Er schoss Punktfeuer. Nach Sekunden bewies ein Knall, dass er den Schirm des Angreifers geknackt hatte. Eine grelle Stichflamme erhellte den Korridor, als die Waffe des Schützen explodierte. Themo hob die linke Hand mit dem Daumen nach oben. Jetzt waren es nur noch zwei. Ich deutete nach oben. Themo nickte. Er tauschte mit mir den Platz, während ich die Deckung neben dem Scooter verließ und geduckt auf die andere Seite der Wand huschte. Ich sah die Beine des Toten. Ein Stück weiter hinten gähnte ein Loch in der Decke. Wenn der dritte Angreifer uns in den Rücken fallen wollte, kam er durch diese Öffnung. »Du gehst davon aus, dass er es noch nicht getan hat!«, kam der Kommentar des Extrasinns. Der Extrasinn warnte mich zu Recht. Solange wir ihn eine Etage höher wähnten, besaß er uns gegenüber einen unschätzbaren Vorteil. Das würde einen von uns beiden das Leben kosten. Mindestens. Wieder zischte Themos Strahler. »Zwei!« So schnell es ging, zog ich mich in unseren Winkel zurück. »Da hinüber!« Wir verschwanden nach der anderen Seite, stiegen über den Toten und hörten kurz darauf einen unterdrückten Fluch. Ein leises Summen erklang. Während der dritte unserer Gegner den Scooter startete und die Verfolgung aufnahm, rannten wir los. »Er geht aufs Ganze«, zischte Themo. »Warum?« »Angenommen, er will mich in seine Gewalt bringen …« »Das ist völlig unmöglich. Niemand weiß, dass Sie hier sind!« »Das glauben Sie!« Jobs bei Geheimdiensten zählten zu den schmutzigsten des Universums. Überall gab es Maulwürfe oder Verräter. Auch bei der USO mussten wir damit rechnen, dass Spezialisten im Außendienst in Einzelfällen finanziellen Verlockungen nicht widerstehen konnten
oder sich aus anderen Gründen »umdrehen« ließen. Zweifellos arbeiteten auch auf Terra Doppelagenten. Der Scooter raste heran. Wir ließen uns durch ein Loch fallen, Themo fing uns mit seinem Antigrav ab. Dann ging der Griff seiner rechten Hand an das linke Handgelenk. »Achtung!« Über uns detonierte der Scooter in einer grellen Entladung. Wir hörten einen Schrei, einen Schlag, dann loderten Flammen. »Zurück!«, kommandierte ich. »Wozu? Da ist nichts übrig, was Sie noch untersuchen könnten.« Aber er fügte sich meiner Anweisung und schwebte mit mir nach oben. Der Scooter brannte lichterloh. Der dritte Angreifer war durch die Wucht der Detonation mehr als zehn Meter weit geschleudert worden und lag in der Nähe der zweiten Leiche. Die Explosion hatte den Kampfanzug und einen Teil des Körpers zerfetzt, doch noch lebte der Schwerverletzte. Ich öffnete den Helm und starrte in ein Gesicht, aus dem das Blut wich. »Tristesse«, ächzte ich. Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht damit. »Sie kennen sie?« »Das ist die Frau von der Wohlfahrt, die mich mit aller Gewalt mitnehmen wollte und die Polizei hinter mir hergeschickt hat.« Ich beugte mich über sie. »Was wollen Sie von mir?« Sie schlug die Augen auf. »Für Kerle wie dich habe ich einen Riecher«, krächzte sie. »Wer immer du bist, du bringst uns viel Geld ein.« »Und wer ist ›uns‹?« Ein Schwall Blut brach aus ihrem Mund. Ich verstand etwas, das wie »Dauphin« klang, aber es ergab für mich keinen Sinn. »Wie heißen Sie?« Ihr Blick verschleierte sich. Ich spürte, wie die Kraft endgültig aus ihrem Körper wich, die Muskeln ihre Anspannung verloren. Der Kopf fiel im Helm zur Seite, der Blick brach. Wer immer diese Frau gewesen war, sie hatte ihre Absichten mit dem Leben bezahlt. »Kommen Sie«, sagte Themo, nachdem wir die drei Toten gründlich untersucht, allerdings nichts gefunden hatten. »Wir können hier nichts mehr ausrichten.«
Möglichst unauffällig machten wir uns aus dem Staub.
Rue Pigalle, scheinbar nur eine schmucklose Hinterhauswohnung mit zwei Treppenhäusern, ideal für den Notfall. Die technischen Finessen, die meine Spezialisten hier eingebaut hatten, waren so perfekt getarnt, dass man nicht das Geringste davon erkennen konnte. Auf dem Tisch stand ein kleines Kästchen, nicht größer als eine Streichholzschachtel und erzeugte ein abhörsicheres Schirmfeld um uns. Ich hatte meine zerschlissenen Klamotten abgelegt und trug eine Kombination aus Hose und Jacke. Die Schminke hatte ich aus meinem Gesicht entfernt. Das gefärbte Haar war jetzt ordentlich gekämmt. »Sie hatten mit Ihrer Einschätzung Recht, Monsieur. Es kann kein Zufall sein.« Nikos Themosthenes saß mir gegenüber am Tisch, ohne Schnauzbart und ohne gefärbtes Haar. Wir waren uns darüber einig, dass er mich auf keinen Fall mit meinem Titel ansprechen durfte. Selbst hier, in unserem Versteck. »Vielleicht doch. Sie hat mich gesehen und hielt mich für ein potenzielles Opfer. Auf jedem Planeten gibt es Banden, die sich auf die Entführung betuchter Mitbürger spezialisiert haben.« »Ich wurde seit dem Morgengrauen beschattet«, berichtete Themosthenes. »Folglich wussten die Kerle etwas.« »Sie haben doch selbst gesagt, dass niemand etwas von unserem Treffen ahnen konnte. Also kann es nicht mit meiner Person zusammenhängen.« Er wurde nachdenklich. »Sie haben Recht, Monsieur Aronak. Es lag wohl an mir. Ich habe meine Halbwertszeit auf Terra längst überschritten. Es wird Zeit, dass die Ablösung eintrifft.« »Ich werde das veranlassen. Eine neue Aufgabe habe ich bereits für Sie.« Themo ließ sich nicht anmerken, was er darüber dachte. Ich sah ihm zu, wie er aus einem Geheimfach hinter dem Schrank einen Kristall fischte und in das Lesegerät legte. »Es gibt lediglich drei Organisationen auf Terra, die zu dem von
Ihnen erstellten Profil passen. Extraterrestische Geheimdienste kommen nicht in Frage. Sie sind zwar gut organisiert, aber sie kontrollieren und lähmen sich gegenseitig. Folglich bleiben die einheimischen Organisationen, wie ich sie nennen möchte. Die SolAb etwa. Es gibt Gerüchte über Meinungsverschiedenheiten und Grabenkämpfe. Marschall Nike Papageorgiu verfolgt einen eigenständigen Kurs, der nicht zu den Vorstellungen von Galbraith Deighton passt. Nach unseren Informationen wird die Frau sogar SolAb-intern als Risiko eingestuft. Aber in ihrer Position ist sie unangreifbar, solange sie sich nichts zuschulden kommen lässt.« »Papageorgiu … Den Namen kenne ich von früher.« »Papageorgiu, Papandreu, Papadopoulos, das ist wie Meier, Müller und Schmidt oder wie Marin, Maran und Marau. Es sind Allerweltsnamen aus einer bestimmten Region. Die Ahnenliste des Marschalls haben wir nicht durchforstet. Wichtiger erscheint uns, dass sie mit etwas bösem Willen das politische System auf Terra destabilisieren kann.« Ich musste an die sichtlich gedrückte Stimmung zurückdenken, in der mich die Freunde am Goshunsee empfangen hatten. Perry und der Regierung des Solaren Imperiums wehte der Wind wirklich aus allen Richtungen ins Gesicht. Eine innere Destabilisierung konnte angesichts der Bestrebungen von Diktatoren wie Dabrifa oder den drei Ertrusern des Carsualschen Bundes der fehlende letzte Anstoß zu einer Zerschlagung des Solaren Imperiums sein. Zu Recht war ich stolz darauf, mit meiner USO ihren Beitrag zur Stabilität dieses Solaren Imperiums zu leisten, das durch seine bloße Existenz für friedliche Verhältnisse in weiten Bereichen der galaktischen Westside sorgte und damit indirekt anderen Reichen wie Arkon oder Akon nützte, selbst wenn diese es als Feind oder bestenfalls als Rivalen betrachteten. Im Gegenzug war das Solare Imperium der entscheidende finanzielle Stützpfeiler der USO. Die Folgen die Ricos Verschleppung haben konnten, waren unabsehbar … »Als zweite wäre da die Condos Vasac«, unterbrach Themos meine Überlegungen, »die sich in den vergangenen Jahren reorganisiert hat. Sie kontrolliert auch auf dem Gebiet des Solaren Imperiums einen Großteil des Drogenhandels. Und dann ist da noch die Union
Étoiles. Sie hat ihre Zentrale in Paris, ist aber auf allen Kontinenten Terras vertreten.« Themosthenes schaltete das Lesegerät ein. Es zeigte eine Reihe von Listen mit Namen und Begriffen. Combine, Èze, Terre-Haute, Montagne, Besancon. »Diese fünf Freihandelswelten werden politisch und wirtschaftlich von der UÉ kontrolliert. Sie scheren sich herzlich wenig um die Gesetze Terras und des Solaren Imperiums.« Themo holte zu einem Exkurs über die Organisation aus. Betätigungsfelder der UÉ waren vor allem Erpressung, Industriespionage, interstellarer Schmuggel und Informationshandel. Euphemistisch hätte man die Organisation auch einen vielseitigen Dienstleister nennen können, allerdings auf Gebieten, die jenseits der Legalität lagen. Einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Geschäfte wickelte sie für Organisationen oder Firmen ab, die auf ihr Renommee zu achten hatten. Alles, was ihnen zu schmutzig war, erledigte die UÉ. Zudem arbeitete sie oft deutlich kostengünstiger als offizielle Sicherheitsdienste. All das war natürlich nicht völlig neu für mich. Auch in QuintoCenter wurden längst Dossiers über die Union Étoiles geführt. Ich blickte vom Lesegerät auf. »Was sagte die Frau zu mir? Wer immer du bist, du bringst uns viel Geld ein?« Nikos Themosthenes nickte heftig. »Mir geht das auch durch den Kopf. Wenn sie für die UÉ gearbeitet hätte, dann ergäbe ihr Verhalten einen Sinn. Sie gab vor, für einen Wohlfahrtsverein tätig zu sein. Dadurch kam sie in Kontakt zu reichen oder bedeutenden Persönlichkeiten. Diese wurden dann entführt und gegen horrende Lösegeldsummen wieder freigelassen. Oder umgebracht.« »Mir hätte das auch passieren können. Als Maskenbildner tauge ich offenbar nicht viel.« »Es liegt an Ihrer Ausstrahlung, Sir … pardon, Monsieur. Da nützt die beste Maske nichts. Diese Frau hat es auf den ersten Blick gespürt. Nur …« »Reden Sie ruhig, weiter!« »Es ist mir dann doch ein bisschen zuviel Zufall, Monsieur. Man hat mich seit dem frühen Morgen verfolgt. Die Mitarbeiter der UÉ
hatten mich folglich als Agenten identifiziert. Und heute stellten sie plötzlich fest, dass zwei Spuren zusammenführen. Meine und Ihre.« »So was nennt man einen Volltreffer, wie er nur alle tausend Jahre vorkommt. Wieso nicht?« Ich musterte Themosthenes eingehend. Er wirkte nervös, es entlockte mir ein Schmunzeln. »Nur, weil ich mich persönlich auf Terra aufhalte und Sie sich für meine Sicherheit verantwortlich fühlen, müssen Sie nicht gleich die Flöhe husten hören.« »Natürlich. Entschuldigen Sie, Monsieur!« »Fahren Sie fort!« »Professor Devigny und viele andere renommierte Wissenschaftler arbeiten für die UÉ. Es handelt sich ohne Ausnahme um seriöse Persönlichkeiten. Positroniktechniker, Forscher, Raumfahrer, Mediziner, Galaktopsychologen und viele andere Sparten sind durch Lobbyisten bei der UÉ vertreten. Die Führungsebene der Organisation versteht sich als Mittler zwischen unterschiedlichen Interessen. Man besorgt, was Kunden wünschen, oder man beseitigt es. Man verkauft Dinge oder Wissen, das man über ein ausgezeichnet funktionierendes Netzwerk beschafft hat, das große Teile der Westside unserer Milchstraße umfasst. Die UÉ ist übrigens absolut vertragstreu. Sie erledigt alles so, wie es vom Auftraggeber gewünscht wird. Kein Nachverhandeln, keine Täuschungsmanöver – wenn Sie so wollen, eine vertrauenswürdige Organisation mit kriminellem Hintergrund.« »Mit dem nötigen Potenzial, auch kurzfristig handeln zu können.« »Wenn jemand den Roboter entführt hat, dann kommt nach meiner Einschätzung nur die UÉ in Frage.« »Was ist über die Führungsriege bekannt?« »Ein Mann und eine Frau. Dem in Paris geborenen Philippe Betoncourt steht die ›Comtesse‹ Louise Vimteaux zur Seite. Betoncourt trägt übrigens den sinnigen Titel ›Dauphin‹.« Ich zuckte zusammen. »Sagten Sie ›Dauphin‹? Das war das letzte Wort, das Tristesse sprach.« »Dauphin« war die einstige Bezeichnung für den Erbfolger des französischen Königstitels gewesen, den Erstgeborenen, den jüngeren Bruder des Königs oder den Onkel eines kinderlosen Monarchen, je nach Familienverhältnissen. Aus welchem Motiv heraus
wählte man einen solchen Decknamen? Steckten politische Ambitionen dahinter? »Die UÉ also«, nickte ich. »Das Verhaltensmuster der Frau passt zu dem Überfall auf den Roboter. Handeln auf Verdacht und warten, was sich daraus ergibt. Solche Leute wittern überall ihre Chance.« Bedeutete es, dass wir in Paris auf eine Spur Ricos stoßen würden? Wenn die Organisation dem Roboter seine Daten entreißen wollte, dann am besten im Hauptquartier. Andererseits stellte das ein Risiko dar. Die UÉ musste mit der USO rechnen, seit sie über die Zusammenhänge zwischen der Unterwasserkuppel und mir Bescheid wusste. Das war eher ein Grund, Rico möglichst schnell von Terra wegzuschaffen. »Weiter!«, stieß ich hervor. »Was muss ich noch wissen?« »Der Dauphin ist der eigentliche Mann an der Spitze«, fuhr Nikos Themosthenes fort. »Die Comtesse ist so etwas wie seine Mätresse. Allerdings scheint es nach unseren Informationen in jüngster Zeit in der Organisation Probleme mit ihr zu geben. Die Comtesse kümmert sich offenbar nur noch um ein einziges Projekt, und dafür beansprucht sie einen Großteil der vorhandenen Logistik. Wir haben weltweit alle unsere Verbindungsleute aktiviert, aber nichts Konkretes herausgefunden. Erst durch Ihre Anfrage ergaben sich Zusammenhänge.« »Die Auktion. Das Wissen Ricos über die USO ist nicht mit Geld aufzuwiegen.« »Sie wollen es meistbietend verkaufen. Bloß wozu? Eine Organisation von dieser Machtfülle könnte doch selbst etwas damit anfangen.« »Die UÉ, die Sie so treffend beschrieben haben, Nikos, ist kein Geheimdienst, kein halb- oder illegaler Arm einer Staatsmacht. Sie wollen in erster Linie Geld verdienen, viel Geld. Milliarden von Solar. Wenn ich mir das Profil der UÉ ansehe, dann hat sie keine Skrupel, das Wissen gleich mehrfach zu verkaufen, auch wenn sie gegenüber ihren Auftraggebern normalerweise loyal ist. Gleichzeitig spricht nichts dagegen, dass sie neben dem wirtschaftlichen auch politischen Nutzen daraus ziehen will.«
Themo sah mich prüfend an. »Sie führen etwas im Schilde, Monsieur!« »Wenn wir schon hier sind, dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren. Wir statten dem Hauptquartier der Union Étoiles einen Besuch ab. Sie werden blass, Nikos. Ist Ihnen nicht gut?«
In der Wasseroberfläche des Mare Saint James spiegelte sich der Vollmond. Ein leiser Lufthauch zauberte hauchdünne Wellenmuster. Nördlich des Bois de Boulogne und westlich der Périphérique Ouest hatte ich den mächtigen Wall der Grande Capitale erwartet, aber Nikos Themosthenes hatte mich darüber aufgeklärt, dass er sich weit jenseits der Seine erhob, damit das Abendlicht länger in die Altstadt flutete. »Die Hälfte meiner Leute bleibt bei Ihnen, Monsieur«, flüsterte der Major. »Die anderen folgen mir in die Höhle des Löwen. Sollten wir nicht zurückkehren …« »… dann hauen wir euch selbstverständlich heraus«, vollendete ich den Satz. »Aber eigentlich habe ich nicht vor, die Festung zu stürmen. Wir sollten behutsam vorgehen. Ich denke, zwei Personen sind schon eine zuviel.« »Ich lasse nicht zu, dass Sie gehen. Wenn Sie in die Hände der UÉ fallen, wird in der Westside der Milchstraße bald das Chaos ausbrechen.« »Also gut, Nikos, machen Sie einen Vorschlag. Was schwebt Ihnen vor?« Er zog eine Folie und einen Stift aus der Tasche und zeichnete einen Querschnitt des Sees sowie ein paar Tunnel darunter. »Wir haben ein besonderes Team dort unten. Es sind sozusagen Schläfer. Drei tragen einen Mikrochip im Gehirn, die anderen drei sind vollrobotisch und kontrollieren ihre organischen Kollegen. Voraussetzung für einen Erfolg ist, dass es keinen Alarm gibt und sich keine Schutzschirme aufbauen. Ein paar meiner Leute und ich dringen bis zu den Tunneln vor und stellen den Kontakt zu den Schläfern her.« Ich hielt es für zu aufwändig und zu umständlich. Je mehr Einsatz-
kräfte sich dem Hauptquartier unter dem See näherten, desto größer wurde die Gefahr, dass man sie entdeckte. »Zwei maximal, Nikos! Einer bin ich.« Er setzte zu einer Entgegnung an, doch mein Blick ließ ihn resignieren. »Also gut, Monsieur! Aber meine Leute halten sich in der Nähe bereit.« Kurze Zeit später gab er das Zeichen zum Ausschwärmen. Die USO-Agenten trugen nur leichte Waffen mit Kunststoffummantelung. Ihre Neoprenanzüge schützten vor der Kälte des Wassers. Zum Schwimmen oder Tauchen würden sie in dieser Nacht kaum kommen. Wir näherten uns dem See bis zur Route Mahatma Gandhi. Zwischen zwei Bodenwellen lag der Eingang zu einem natürlichen Stollen, der vor etlichen Jahrhunderten zur Entwässerung des Geländes gedient hatte. Die USO-Abteilung Paris hatte ihn in mühevoller Handarbeit ausgebaut und mit Natursteinen stabilisiert. Er durchmaß keine zwei Meter. Anfangs gingen wir gebückt, Nikos hielt die winzige Taschenlampe. Danach mussten wir uns auf Knien fortbewegen. Themosthenes hatte darauf bestanden, vor mir zu gehen. Was es im Ernstfall bedeutete, war mir klar. Kam es zur Feindberührung, würde er dem Gegner solange standhalten, bis ich in Sicherheit war. Und wenn der Gegner es zuließ … Nach etwa zweihundert Metern erreichten wir einen Schacht. Er verlief schräg nach unten, in die Wand waren Trittstufen eingelassen. Lautlos stiegen wir abwärts. Die Luftfeuchtigkeit und der modrige Geruch nahmen zu. Wir bewegten uns inzwischen unterhalb des Grundwasserspiegels. Die Wände waren feucht, weiter unten glitzerten sie von zahllosen Wasserperlen. Das verdichtete Erdreich schwitzte. An den Schacht schloss sich ein neuer Stollen an, der nach Nordwesten führte. Hundert Meter weiter begann der nächste Schacht. Dreimal kletterten wir abwärts. Inzwischen, schätzte ich, befanden wir uns mindestens vierzig Meter unter der Oberfläche. Themo gab mir Zeichen, dass der Abstieg zu Ende war. Der Stollen führte nun eben durch das Erdreich. Er beschrieb enge Windun-
gen – eine schlichte, aber geniale Methode, frühzeitige Ortung zu verhindern. Irgendwann blieb der USO-Major stehen. Wir warteten eine ganze Weile. Außer leisem Plätschern war nichts zu vernehmen. Schließlich registrierte ich ein Huschen im Stollen. Im dünnen Strahl der Lampe erkannte ich undeutlich die Umrisse zweier Ratten, die bei jedem Schritt versuchten, dem Lichtkegel auszuweichen. Dabei stießen sie ein zartes Fiepen aus. Themosthenes gab Lichtzeichen mit der Taschenlampe. Daraufhin änderten die Ratten ihr Verhalten. Sie hielten an und stellten sich auf die Hinterbeine. »Hoher Besuch«, flüsterte die Vorderste. »Was sollen wir tun?« Themo informierte sie, dass wir Informationen über den Aufenthaltsort des Dauphins, der Comtesse und vor allem des Roboters Rico brauchten. Konkrete Informationen mit Koordinatenangaben, die sich schneller umsetzen ließen als irgendwelche Ortsnamen. »Überstürzt nichts«, schärfte ich den genialen Robotkonstruktionen ein. »Das Ergebnis zählt.« Während sich die beiden Wunderwerke siganesischer Mikrorobotik lautlos zurückzogen, brachte Themo unter seiner Jacke ein Weichplastikpanel zum Vorschein, das er entrollte und aktivierte. Auf ihm sahen wir durch die künstlichen Augen der Robotratten, was vor sich ging. Sie erreichten ihr Nest, einen Bau von etwas mehr als zwei Metern Durchmesser. Der hintere Teil war durch einen Energieschirm vom vorderen getrennt. »Der Schirm hat nichts zu bedeuten«, hauchte Themo. »Er ist immer vorhanden. Er schützt den Stützpunkt von unten. Es hat uns Wochen gekostet, die dritte Robotratte durch ein Abwasserrohr ins Innere des Gebäudes zu bringen.« Auf der anderen Seite des Schirms tauchte die Genannte soeben auf. »Sie kommunizieren jetzt, danach sucht Nummer Drei den Lebensraum der zweiten Gruppe auf. Erst dann beginnt der eigentliche Einsatz.« Themo berichtete, wie schwierig sich die Kontaktaufnahme
manchmal anließ. Ratte Nummer Drei verbrachte die meiste Zeit damit, Nahrung für Gruppe Zwei zu beschaffen, damit diese nicht verhungerte und es nicht auffiel, dass sie an ihrem »Einsatzort« eigentlich nicht existieren konnten. Das Panel wurde dunkel. Der Major rollte es ein und steckte es wieder weg. Nummer Drei steuert die organischen Artgenossen über die Chips in ihren Gehirnen. Im Gebäude der UÉ fiel es nicht auf, wenn hin und wieder mal eine Ratte gesichtet wurde. Solange sich der robotische Auftraggeber im Hintergrund hielt und die organischen Kollegen die Arbeit erledigten, blieb alles im Grünen Bereich. »Der Roboter sieht durch die organischen Augen der anderen Ratten. Immer, wenn Gefahr droht, unterbricht er die Verbindung zu den Chips«, erläuterte Nikos Themosthenes. Wir warteten. Mit der Zeit wurde die Luft in der oberen Hälfte des Stollens so warm, dass wir uns hinsetzten, aber es half nicht viel. Wir begannen zu schwitzen, nach einer halben Stunde fiel uns das Atmen schwer. Der Major zog zwei Atemmasken hervor, die wir aufsetzten. Sie kühlten die Luft ein wenig und führten ihr aus einer Minipatrone Sauerstoff zu. Ohne diesen Schutz hätte uns bald der rapide steigende Kohlendioxidgehalt der Luft langsam eingeschläfert. Zwei Stunden verstrichen ergebnislos. Der 2. Dezember war angebrochen. Bis zum Ende der Auktion blieben acht Tage. Und wir hatten noch keine heiße Spur. Während drei weiteren ereignislosen Stunden brachen wir die zweite Sauerstoffpatrone an. Allmählich bereute ich, dass ich Themo gewissermaßen gezwungen hatte, mich in den Stollen mitzunehmen. Ausrichten konnte ich hier sowieso nichts. Es kam allein auf die Einsatzgruppe »Rattus norvegicus« an. Gegen halb vier hob Themo plötzlich den Kopf. »Die Folie erwärmt sich.« Er holte sie hervor und rollte sie wieder auf. Die dritte Robotratte kehrte zurück. Wir sahen, wie sie Informationen austauschte und dann blitzschnell wieder verschwand. Die beiden anderen verließen ihre Nesthöhle und tauchten wenig später bei uns auf. Den grünli-
chen Datenkristall, den die vordere ausspuckte, nahm ich sofort an mich. Plötzlich hatten wir es sehr eilig. Ich hastete voraus, Themo gab mir Rückendeckung. In der Hälfte der Zeit, die wir für den Abstieg gebraucht hatten, kehrten wir an die Oberfläche zurück. Die USOAgenten sicherten unseren Rückzug und versiegelten den Stollen. Anschließend zerstreuten sie sich in alle Winde. Die meisten würden ein paar Stunden schlafen und dann ihren üblichen Tarnberufen nachgehen wie jeden Tag. Für uns allerdings war an Schlaf nicht zu denken. Als wir endlich auf Umwegen die Wohnung in der Rue Pigalle erreichten, zeigte die Uhr halb sechs. Ich legte den Kristall in das Lesegerät. Wir sahen die Ratten, wie sie in verschiedene Richtungen davonhuschten. Nummer Drei zeichnete auf, was sie durch die organischen Augen der anderen sah. Das Hauptquartier der UÉ erwies sich als Hochsicherheitstrakt über mindestens ein Dutzend Etagen. Schleusen und Schutzschirme wechselten mit elektronischen Fallensystemen. Die Ratten kümmerten sich wenig darum. Sie schlüpften unter den Lichtschranken hindurch oder sprangen über die energetischen Gitter hinweg. Ab und zu benutzten sie Simse oben unter der Decke, wo kein Infrarotstrahl sie erreichte. Luftschächte gehörten zu ihren Hauptrouten, auf denen sie am schnellsten an ihr Ziel gelangten. Ich konzentrierte mich auf eine Ratte, die durch ein bewegliches Luftgitter in einen Steuerraum schlüpfte. Aus der Perspektive des Tieres wurden die schlichten terranischen Terminals zu riesigen, mit glühenden Augen bedeckten Maschinen. Normalerweise hätte sich keine Ratte in die Nähe eines solchen Monstrums gewagt. Lediglich der Chip im Gehirn unterdrückte den Fluchtimpuls. Unter seinem Einfluss kletterte die Ratte sogar auf das Terminal und nahm gemäß der Vorgaben ihres Steuermanns Eingaben an der Konsolentastatur vor. Der Automat verlangte keine Kodes und keine Fingerabdrücke. Wer in diesen Räumen arbeitete, hatte schon mehrere Kontrollen hinter sich. Die Comtesse Louise Vimteaux hielt sich nicht im Hauptquartier auf. Sie hatte Terra vor zwei Tagen völlig überraschend verlassen
und war mit ihrer Raumjacht LE CORBUSIER nach Montagne geflogen. In ihrer Begleitung befanden sich hochrangige Positronik-Spezialisten. »Devigny, Saint-Phare – die anderen Namen sagen mir nichts«, murmelte Nikos Themosthenes. »Und ausgerechnet nach Montagne.« Die Ratte rief den Namen des Dauphins auf. Betoncourt befand sich an einem unbekannten Ort. Das tat er meistens. Er kam und ging, wie es ihm beliebte. Wer einsam an der Spitze einer solchen Organisation stand, hatte wohl keine Freunde mehr. Wahrscheinlich musste er sich sogar vor der Comtesse in Acht nehmen. Ich beobachtete die Ratte. Sie machte erneut mehrere Eingaben. Danach meldete ein Schriftzug auf dem Bildschirm, dass alle Inputs der letzten zehn Minuten unwiderruflich gelöscht würden. Das Tier sprang zu Boden, suchte sich einen Weg zurück zum Luftschacht und verschwand so unauffällig, wie es gekommen war. »Allein die Kodes in Erfahrung zu bringen hat Monate gedauert«, merkte Themo an. »Ohne sie hätte der Sicherheitsdienst der UÉ längst robotische Kammerjäger losgeschickt.« Das Bild wechselte. Wir sahen ein Labor mit mehreren Kammern. Ich identifizierte Fesselfeldprojektoren und transportable Schutzschirmaggregate. Beides wies darauf hin, dass hier jemand gefangen gehalten worden war. An den Wänden reihten sich Positroniken, zwischen denen vektorierbare Taster aufragten. Sie waren mit modernen Scannern gekoppelt. Die Ratte durchsuchte das Labor, fand Folien, die neben einen Aktendesintegrator gefallen waren, und filmte sie. Die positronische Schnellauswertung erleichterte mich ein wenig. Es waren Dokumente des Versagens. Ricos Speicher waren noch nicht geknackt worden. Ein paar periphere Sektoren hatten die Spezialisten der UÉ ausgelesen, aber diese enthielten lediglich die Daten der Entführung und der Gefangenschaft. »Noch ist es nicht zu spät«, sagte ich. »Rico wehrt sich. Doch wie lange noch …« Ungeduldig verfolgte ich die Aufzeichnung, bis sie zu Ende war. Weitere Hinweise ergaben sich nicht. Ich wandte mich an den Ma-
jor. »Hier können wir nichts mehr ausrichten. Nach Betoncourt zu suchen wäre zu zeitaufwendig. Außerdem ist nicht sicher, dass wir durch ihn mehr erfahren würden. Ich habe den Eindruck, Ricos Entführung und ›Vermarktung‹ sind allein die Sache der Comtesse. Wir müssen nach Montagne. Waren Sie schon einmal dort?« »Nein, ich kenne es nur vom Hörensagen.« »Das wird sich ändern, denn Sie begleiten mich, Major Themosthenes.« Er starrte mich an, das Gesicht ein einziges Sinnbild der Fassungslosigkeit. »Ich soll …« »Ich sagte Ihnen doch, dass ich einen Job für Sie hätte. Er hat nur einen Haken.« Ich legte eine kleine Kunstpause ein. »Es wird ein Höllentrip.«
»Ich mache mir Sorgen!« In Perry Rhodans Gesicht hatten sich ein paar Falten tief eingegraben. »Auf Terra treiben verschiedene Organisationen ihr Unwesen, und die SolAb hat nichts Besseres zu tun, als sich selbst zu lähmen.« Ich nickte. »Ihr müsst euch auf das Wesentliche konzentrieren, die wiedererstandene Condos Vasac ist zwar lästig, aber doch weit vom Bedrohungspotenzial der alten CV entfernt«, antwortete ich. »Die eigentliche Gefahr für Terra geht derzeit von der UÉ aus, von der Union Étoiles. Sie operiert von Paris aus. Ich habe Hinweise gefunden, dass allein sie hinter der Auktion steckt, die im Augenblick die halbe Westside in Aufregung versetzt.« Die kleine Narbe an Rhodans rechtem Nasenflügel leuchtete schneeweiß. »Was du auch vorhast, Atlan«, versicherte er mit fester Stimme, »unsere Unterstützung hast du.« »Danke, Perry. Ich möchte dich bitten, auf Terra solange nichts gegen die UÉ zu unternehmen, bis die Auktion gelaufen ist.« »Verstehe. Die Organisation ahnt noch nicht, dass du ihr auf den Fersen bist.« »Und das soll so bleiben, bis alles vorbei ist.« Ich erzählte ihm auch jetzt nichts von Rico, dessen Entführung ich ihm bisher ver-
schwiegen hatte. Perry konnte sich ausmalen, dass ich die Unterwasserkuppel besucht hatte, aber er wusste nichts von den Geheimdaten, die in Rico steckten. Er vertraute mir, und ich war ihm dafür dankbar. »Ich bin einverstanden«, sagte er. »Sei vorsichtig. Die UÉ hat mit Sicherheit Spione in der SolAb. Und diese agiert bekanntlich alles andere als geschlossen.« »Du meinst Nike Papageorgiu. Glaubst du, dass sie mit dieser UÉ zusammenarbeitet?« »Ich weiß es nicht. Meine Recherchen erstrecken sich ausschließlich auf die Auktion. Terra ist dabei ein Nebenschauplatz. Die UÉ agiert weit abseits ihres Hauptquartiers.« »Du wirst uns also verlassen.« »Wie du vielleicht erkennen kannst, bin ich bereits in meinem Schiff. Die GENUVIE wird sofort nach unserem Gespräch abfliegen.« »Ich wünsche dir viel Erfolg. Wenn du irgendwo in dieser Galaxis unsere Unterstützung brauchst, dann melde dich.« »In Ordnung. Mach's gut, Perry!« Er nickte stumm. Zwischen guten Freunden waren Gesten oft aussagekräftiger als Worte. Dann unterbrach er die Verbindung. Ich wandte mich zur Seite und sah zu Nikos Themosthenes hinüber. Er hatte die Unterhaltung außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera verfolgt. Der Major rieb sich das Kinn. »Das klingt nach alter Männerfreundschaft«, grinste er. »Wenn ich Sie und den Großadministrator so reden höre, dann bedaure ich zutiefst, dass ich damals nicht dabei war, als alles angefangen hat.« »Das meiste können Sie in den Historienspeichern NATHANS nachlesen.« »Und der Rest geht Sie nichts an!«, fügte ich in Gedanken hinzu. Etwa, wie schwer es mir bei unseren ersten Begegnungen gefallen war, Rhodans Führungsrolle anzuerkennen und seine Autorität, wenn es um die Sicherheit der Menschheit gegangen war. Dass diese Sicherheit ein höheres Gut war als mein Anspruch, mit dem nächstbesten Raumschiff in meine Heimat gebracht zu werden, hat-
te ich erst hinterher richtig verstanden. Und ich wusste inzwischen, dass sein stures Verhalten richtig gewesen war. Ohne ihn hätte die Menschheit damals längst nicht mehr existiert, und ich vermutlich auch nicht. Die Positronik des Kleinschiffes lenkte mich mit einer Meldung ab: »Die Auktion wurde um zwei Tage bis zum 12. Dezember verlängert. Diese Information wird soeben über die interstellaren Kommunikationsnetze verbreitet. Urheber nicht zu eruieren.« Wir erhielten also eine zusätzliche Galgenfrist. »Das ist merkwürdig«, sagte Themo. »Da scheinen etliche Bieter abgesprungen zu sein. Oder die bisherigen Gebote reichen der UÉ nicht aus.« »Oder die erwünschten Bieter haben sich noch nicht gemeldet. Der Verkäufer kann bei einer konventionellen Auktion bestimmte Bieter ausschließen, die ihm nicht genehm sind. Etwa solche mit zu vielen negativen Bewertungen. Hier scheint der Fall aber anders gelagert zu sein. Ich vermute, es sollen primär alle jene Interessenten ausgeklammert werden, die aus finanziellen Gründen sowieso nicht bis zum Schluss mitbieten könnten. Das bedeutet, die zu erreichende Summe liegt in einem astronomisch hohen Bereich von vielen Milliarden Solar. Als idealer Bieter käme natürlich die USO in Frage. Das ist übrigens ein durchaus übliches Verfahren. Man stiehlt etwas und offeriert die Ware dann unter der Hand dem Bestohlenen zum Rückkauf. Der möchte sie natürlich zurückhaben und ist möglicherweise bereit, Höchstpreise zu bezahlen.« »Und für die USO ist dieser Fall eingetreten?« »Ja.« Ich erläuterte dem Major in groben Zügen, welche Gefahr durch die Entführung des Roboters entstanden war. Er lauschte aufmerksam. Als ich fertig war, nickte er. »Das leuchtet mir alles ein. Aber Sie sprechen immer von Entführung, Lordadmiral. Müsste es nicht eher Diebstahl heißen?« »Sie meinen, weil ein Roboter kein Lebewesen, sondern eine bewegliche Sache ist? Warten Sie ab. Vielleicht kommen Sie in die Verlegenheit, diesen Roboter persönlich kennenzulernen.« Die GENUVIE stieß in die oberen Schichten der Atmosphäre vor
und verließ Terra. Wie bei der Ankunft reihte ich mich in einen der offiziellen Flugkorridore ein, verließ ihn aber hinter der Marsbahn und wechselte in den Linearraum. Mein Ziel hieß Clantervoss. Der USO-Stützpunkt lag gut dreitausend Lichtjahre vom Solsystem entfernt und damit ein Stück außerhalb jenes Sektors, den das Solare Imperium als Kerngebiet für sich beanspruchte und in dem sich die meisten von Terra aus besiedelten Planeten befanden. Nach Quinto Center zu fliegen war in der aktuellen Situation zu aufwändig, Clantervoss hingegen lag fast auf der Route nach Montagne. Meine Anweisungen konnte ich Decaree Farou auch über die Funkrelaisbrücke zukommen lassen. Seitdem feststand, dass Rico entführt worden war und in der mysteriösen Auktion offenbar das Wissen aus den Speichern des Roboters zum Kaufangeboten werden sollte, hatte sich die Hypothese von der undichten Stelle in Quinto Center in Luft aufgelöst. Zumindest diese Sorge war ich los. Die Positronik der Zentralkugel hatte ihre Untersuchung aller möglichen Schwachstellen und Ungereimtheiten wohl inzwischen längst abgeschlossen, musste mit ihrem Rapport aber bis zu meiner Rückkehr warten. Hingegen konnte die Funksperre für Quinto Center aufgehoben werden. Das war die gute Nachricht, die ich von Clantervoss aus auf den Weg schicken konnte. Die schlechte hing mit den politischen Konsequenzen für den Fall zusammen, dass es den Positronikern der UÉ gelang, Ricos Wissen tatsächlich anzuzapfen. Dann nämlich würde der 12. Dezember3103 n. Chr. ein rabenschwarzer Tag für die Westside der Milchstraße werden.
Rico – Erste Begegnung Positronisches Erkennungssystem an Hauptspeicher: Das Gesamtsystem steckt in einem Fesselfeld. Die Einzelteile lassen sich nicht bewegen. Hauptspeicher an Thek-KSOL: Derzeit ist es nicht möglich, Gegen-
maßnahmen zu ergreifen. Thek-KSOL an Hauptspeicher: Ich bin immobilisiert. Aber ich sehe und höre. Ich starte den Thek-Transfer. Thek-Transfer: Diese Maschine besitzt ein System aus viertausend Mikro-KSOL-Einheiten, die miteinander verzahnt sind und in denen pausenlos Millionen von Simulationen menschlicher Verhaltensmuster ablaufen. Die Summe aller dieser Einheiten ist Thek-KSOL. Diese Maschine besitzt einen Namen. Ich bin Rico. Rico sah zwei Männer aus der Schleuse treten. Der eine war klein und hager und kahlköpfig, der andere groß und hager mit wirrem, schulterlangem Haar. Beide trugen einen handlangen, metallenen Stab bei sich, der piepsende Geräusche von sich gab. Der kleine Kahlköpfige näherte sich, während der andere bei der Schleuse stehen blieb. Der Kleine richtete den Stab auf Rico. Die Geräusche erstarben. »Kannst du mich hören?«, fragte er. »Guten Tag«, antwortete Rico. »Ich wurde entführt. Sollten Sie etwas mit meinen Entführern zu tun haben, gar mit ihnen zusammenarbeiten, dann machen Sie sich strafbar.« Der Kleine wich hastig zurück. »Ein merkwürdiger Roboter!« »Er grinst«, erklang es schnarrend von der Schleuse her. »Sehen Sie, dass sein Gesicht grinst?« »Das täuscht. Er sieht immer so aus.« »Dann grinst er eben immer, Henderson.« »Guten Tag, Henderson«, grüßte Rico. »Ich heiße Rico.« Thek-KSOL an Hauptspeicher: Aufzeichnung zurückspulen. Ich möchte mir die Mimik der haarlosen Person ansehen. Hauptspeicher an Thek-KSOL: Aufzeichnung läuft. »Sehen Sie nur genau hin, Henderson«, schnarrte der Große an der Schleuse. »Er grinst sogar wie Sie!« Der Kleine gab einen Laut des Erstaunens von sich. »Sie haben Recht, Professor. Aber wie ist das möglich?« »Eine Oberflächenprojektion vermutlich. Ist das Fesselfeld in Ordnung?« »Absolut, Professor!« »Ich bin Gast des Planeten Terra und somit Gast der Terraner«,
sagte Rico, dieses Mal ein wenig lauter. »Ich wurde entführt. Schalten Sie bitte sofort die Polizei ein.« Der Große kam herüber. Er ging einmal um Rico herum. Seine Augen starrten, als seien sie künstlich. Dann aber entspannte sich sein Blick. »Du bist krank, Rico. Deshalb wurdest du in unsere Klinik eingeliefert. Wir werden dich heilen. Aber dazu müssen wir erst über alles Bescheid wissen, was in deinem Innern vorgeht.« »Sie selbst sind krank, Professor. Sonst würden Sie nicht behaupten, ich sei krank. Ich bin Rico. Ich kann nicht krank sein.« »Du bist ein Roboter?« »Korrekt. Ich kann also nicht krank sein.« »Das ist die erste vernünftige Antwort, die du gibst.« »Was ist Vernunft? Und wo bin ich hier?« »Im Pariser Labor der Uiiiiiiiii …« Eine mechanische Stimme erklang von der Decke her. »Tut mir leid, Professor, diese Auskunft darf nicht gegeben werden. Deshalb wurde kurzfristig ein Störfeld aktiviert.« »Bonjour, Paris«, sagte Rico. »Monsieur, fahren Sie fort!« »Ich brauche sofort die Auswertung der Hyperortung«, sagte der Große. »Da muss etwas sein.« »Da ist nichts«, entgegnete die mechanische Stimme. »Und in seinem Innern?« »Nichts Auffälliges.« »Trotzdem möchte ich die Suche nach Spuren organischen Materials wiederholen.« »Gern.« Mehrere Aggregate liefen an. Das Fesselfeld hob Rico an und transportierte ihn in eine Art Wanne, in der er ihn fixierte. »Messieurs, bitte lassen Sie das. Es könnte sein, dass sie meinen Körper beschädigen.« »Dieses Gestell nennst du einen Körper?« »Bitte beleidigen Sie mich nicht, Professor!« »Ich kann dich beruhigen, Rico. Wir fügen dir keinen Schaden zu. Wir suchen nur den Fehler.« »Es gibt keinen Fehler.«
Die Wanne fing an zu summen, und nach einer Weile registrierte Rico Vibrationen, die sich von der Wanne auf seinen Körper übertrugen. Thek-KSOL an Hauptspeicher: Der Frequenz-Scan könnte Schäden in meinem Körper anrichten. Hauptspeicher an Thek-KSOL: Verstanden. Alle Systeme werden für die Dauer von zehn Minuten abgeschaltet. »Professor«, hörte Rico den Kleinen sagen, »diese Maschine schaltet sich gerade selbsttätig ab …« »… scheint, als würde sie wieder aktiviert.« Rico stellte fest, dass die Vibrationen verschwunden waren. Er sah den Kahlköpfigen, der sich über die Wanne beugte. »Guten Morgen, Henderson.« »Guten Morgen, Rico. Hast du gut geschlafen?« »Es dauert ein gewisses Intervall, ehe ich diese Frage beantworten kann. Alle Systeme signalisieren Funktionsbereitschaft. Ja, ich habe gut geschlafen.« Die Glatze verschwand, dafür hingen plötzlich lange, schwarze Haarsträhnen auf Rico herab. »Der Umkehrschluss lautet: Wären die Systeme nicht in Ordnung, hättest du schlecht geschlafen«, sagte der Professor. »Das ist unlogisch.« »Die einwandfreie Funktion aller Körperteile ist Voraussetzung für einen guten Schlaf«, dozierte Rico. »Es ist absolut logisch.« »Hm, ich fürchte, wir kommen auf diese Weise nicht weiter.« »Wozu auch? Ich bin gesund!« »Verdammt, du bist ein Roboter. Du funktionierst, oder funktionierst nicht.« »Sie selbst waren es doch, der behauptete, ich sei krank. Sie machen viele unvernünftige, unlogische Aussagen. Sie verschwenden meine Zeit.« »Schach matt, Professor«, hörte Rico Henderson sagen. Der Große tat es mit einer unwirschen Handbewegung ab. »Henderson, wir beginnen, wie besprochen.« Das Fesselfeld hob Rico aus der Wanne und bewegte ihn ein Stück nach hinten in den Raum, wo Henderson wartete. Das Feld stellte
Rico aufrecht, bis er einen halben Meter über dem Boden zwischen mehreren Aggregaten mit spindelförmigen Auslegern hing. Die Spindeln glühten in dunklem Rot. »Dein Selbstzerstörungsmechanismus ist bereits abgeschaltet«, betonte Henderson. »Wir können also sicher sein, dass es zu keiner Kurzschlusshandlung kommt.« »Was wollen Sie von mir?« »Ein paar Informationen, die du uns freiwillig nicht geben würdest.« »Wir sollten zuvor darüber reden. Vielleicht ist es doch möglich …« »Zwecklos, Rico. Am besten bist du still.« Die Spindeln fingen an heller zu glühen. Es wurde warm, dann heiß. Thek-KSOL an Hauptspeicher: Sie wollen meinen Körper zerstören, um an das Wissen zu gelangen. Positronisches Erkennungssystem an Hauptspeicher: Es handelt sich bei den Spindeln um Schirmprojektoren. Hauptspeicher an Thek-KSOL: Sie wollen die einzelnen Speichersegmente voneinander trennen und dann versuchen, sie Stück für Stück auszulesen. Positronisches Erkennungssystem an Hauptspeicher: Der Versuch wird soeben abgebrochen. Es sind mehrere Sektoren des Echtzeitspeichers ausgelesen worden. Sie enthalten lediglich Aufzeichnungen der Entführung und Gefangenschaft. Henderson tauchte in Ricos Blickfeld auf. »Das ist unangenehm. Wir erhalten gerade die Anweisung, dass wir uns reisefertig machen sollen. Unseren Chefs wird der Boden hier wohl zu heiß.« »Grüßen Sie die Chefs von mir. Und jetzt rufen Sie bitte die Polizei, falls Sie wissen, was ich meine.« »Natürlich wissen wir es. Aber wir haben aus gewissen Gründen Anweisung, die Ordnungshüter aus dem Spiel zu lassen.« »Dann handelt es sich um eine Entführung, nicht um eine Erkrankung. Wo soll es denn hingehen, Henderson?« »Das wissen wir nicht.« »Einen Moment, ich kann es Ihnen sagen. Im Funkverkehr dieses
Gebäudes gibt es Verteilerknoten, die Daten über das gesamte Gebäude verteilten. Da ist es. Eine Comtesse lässt ihr Schiff soeben für einen Flug zum Planeten Montagne startklar machen. Da derzeit keine weiteren Starts angemeldet sind, kann nur Montagne das Ziel sein. Waren Sie schon mal dort? Ist es eine schöne Welt? Wissen Sie, ich liebe Blumen über alles.« »Hören Sie nicht hin, Henderson. Schalten Sie Ihre Ohren ab. Der Kerl versucht uns systematisch fertigzumachen. Man wollte meinen, er sei speziell dafür konstruiert worden.« »Das ist falsch, Professor«, antwortete Rico. »Mein Aufgabengebiet war über Jahrtausende sehr speziell angelegt, und ich wurde eigens dafür konstruiert. Aber das wird Sie wohl kaum interessieren.« »Richtig, Rico. Wir holen uns die Informationen gern selbst. Dann wissen wir wenigstens, dass sie auf dem Weg vom Datenspeicher zur Lautsprecheröffnung nicht gefälscht wurden. Henderson, verladen Sie den Roboter. Ich lösche die Aufzeichnungen in den Speichern des Labors.«
Kapitel 7 »Perlen, sagen Sie?« »Es steht in den Frachtpapieren, also sind auch Perlen drin.« Der Tonfall in Nikos Themosthenes' Stimme ließ eine Mischung aus Ungeduld und Empörung erkennen. »Naturperlen. Auf Terra in lebenden Muscheln gewachsen.« Der Beamte blieb misstrauisch. »Wieso sind diese Behälter so groß, wenn da nur Perlen drin sind?« »Natürlich nicht nur Perlen, sondern auch alle Utensilien, die nötig sind, sie den Kaufinteressierten in angemessener Weise offerieren zu können.« »Hier steht 800 Millionen Solar als Wert in der Versicherungspolice.« »Was denken Sie? Auf weniger abgelegenen Planeten wäre diese Ware sogar das Zehnfache wert.« Ich lauschte aus meinem Versteck der Unterhaltung. Themos Unterlagen waren in jeder Beziehung einwandfrei. Er trat als terranischer Perlenhändler auf, sein Lebenslauf war korrekt. Es gab tatsächlich einen Perlenhändler dieses Namens, der genau so aussah, wie es der USO-Major jetzt tat. Die Maskenbildner in Clantervoss hatten ganze Arbeit geleistet. Der Kontrolleur murmelte etwas. Dann entschied er: »In Ordnung! Angenehmen Aufenthalt auf Montagne.« »Den werde ich haben.« Die Antigravplatte mit den Containern setzte sich wieder in Bewegung und ich mit ihr. In einem der Behälter am äußeren Rand steckte ich im doppelten Boden. Ein schlichter Trick. Wenn die Zollbeamten derart wertvolle Ware kontrollierten, dann wollten sie meistens die Kiste ganz unten in der Mitte sehen. Nikos Themosthenes als interstellarer Perlenhändler, so hatte sich der Major seinen neuen Einsatz bestimmt nicht vorgestellt. Aber unsere Analysen hatten ergeben, dass diese Tarnung besonders gut ge-
eignet war, uns unerkannt nach Montagne und ins Umfeld der Union Étoiles gelangen zu lassen. Themo fing an zu pfeifen. Es war das Signal für mich. Alles lief wie geplant. Wir verließen den Raumhafen von Margaux. Der Major rief einen großen Mietgleiter herbei, lud die Antigravplatte mit den Containern sowie das Handgepäck ein und ließ sich in die Innenstadt fahren. Dort hatte er ein Hotel gebucht und einen Tresor gleich mit dazu. »Das fehlt gerade noch«, hörte ich ihn murmeln. »Hier scheint die Jahreshauptversammlung aller galaktischen Diebe und Hehler stattzufinden. Überall ist Polizei in Uniform und in Zivil. Sie gehen sogar zu Fuß Streife.« Er sagte es, um mich über die Situation zu informieren. Auf einer Freihandelswelt wie Montagne zeigten sich die Ordnungsbehörden normalerweise nur äußerst selten. Aufsichtspersonal störte den Handel, und Montagne war eine typische Handelswelt, auf der auch all das zu bekommen war, was Terra nicht einmal bis zum Rand des Solsystems vorgelassen hätte. Auf Welten wie dieser hingegen ging man einfach in einen Laden und kaufte es, oder man bekam eine Adresse, an der man die Ware, ohne Aufsehen zu erregen, abholen konnte. In Clantervoss hatten wir die Daten der fünf UÉ-Welten Combine, Eze, Terre-Haute, Montagne und Besancon studiert. Sie ähnelten in ihrer Struktur Lepso, die Verwaltung funktionierte aber deutlich straffer. Für die Sicherheit sorgten private Organisationen, die zur Union Étoiles gehörten. Alle fünf Planeten zusammen erwirtschafteten höchstens ein Zehntel des Bruttosozialprodukts von Lepso, doch die Gewinne flossen fast ausschließlich der UÉ zu. Das verschaffte der Organisation eine Unabhängigkeit, die es ihr offenbar ermöglichte, ganz große Fische zu fangen. Bei Rico und der Unterwasserkuppel hatten sie einfach Glück gehabt. Der Taucher Escobar hatte offenbar in irgendeiner Beziehung zur Union Étoiles gestanden und deswegen die Entdeckung der Kuppel nur an sie gemeldet. Daraufhin hatte die UÉ ein Kommando zusammengestellt und die Kuppel angegriffen.
Natürlich trug Rico die Hauptschuld daran, dass es anschließend zu seiner Entführung gekommen war. Der Roboter wies seiner eigenen Sicherheit manchmal zu geringe Prioritäten zu, und die Kuppelpositronik war in diesem Fall nicht eingeschritten, da er in meiner Abwesenheit als mein Stellvertreter fungierte. Allerdings brauchte ich keinen Extrasinn, um mir klarzumachen, dass letztlich ich der Verantwortliche war. Schließlich hätte ich jederzeit Einfluss auf Ricos Programmierung nehmen können, aber gegenüber den mit Faustkeilen, Schwertern, Musketen oder Revolvern bewaffneten Barbaren der alten Erde war der Roboter so haushoch überlegen gewesen, dass ich das einfach nicht für nötig befunden hatte. Und später hatte ich schlichtweg nicht mehr daran gedacht. Für die Außenwelt hatte die Kuppel nie existiert, erst jetzt war es nur durch das unvorhersehbar starke Tiefseebeben zum zeitweiligen Ausfall einiger Reaktoren und Projektoren gekommen. Es war nicht mehr zu ändern. Die UÉ hatte Rico, und versprach den Teilnehmern an ihrer Auktion umfangreiches und brisantes Wissen über die USO. Die Verantwortlichen der Halbwelt-Organisation wussten, dass sie damit einen Gegner auf den Plan riefen, der nicht zu unterschätzen war. Deshalb hatten sie Rico so schnell wie möglich von Terra weggebracht. Und wäre mir in Paris nicht diese aufdringliche Frau mit der Spürnase über den Weg gelaufen, hätten wir wohl große Mühe gehabt, Ricos Spur zu finden. Der USO wäre letztlich nichts anderes übrig geblieben, als mitzubieten und zu versuchen, am 12. Dezember im Endspurt das höchste Gebot abzugeben. Vom rein Finanziellen abgesehen wäre der Prestigeverlust erheblich gewesen. Und die Option, anschließend militärisch gegen Montagne oder andere von der UÉ kontrollierte Welten vorzugehen, hätten wir nicht wahrnehmen können. Zu bereitwillig wären Dabrifa, die Ertruser oder die ZGU den ach so wehrlosen und zu Unrecht von der USO bedrohten Planeten zu Hilfe geeilt. Ein Krieg im Weltraum war das Letzte, was ich riskieren wollte. Zuletzt aber hatte das Glück auf unserer Seite gestanden. Themo und ich waren keineswegs die ersten USO-Angehörigen
auf Montagne. Sofort nach der Ankündigung der Auktion war die Maschinerie meiner Organisation angelaufen, hatten Außenstellen erste Informationen eingeholt. Selbstverständlich unterhielt die USO auch auf Montagne seit ein paar hundert Jahren eine gut getarnte Niederlassung. Nach außen handelte es sich um eine renommierte Wein-Spedition, deren Besitzer in kleinem Umfang auch mit Antiquitäten handelte. Niemand auf Montagne ahnte etwas davon, dass das Oberhaupt einer seit Generationen hier ansässigen Familie wie schon sein Vater und sein Großvater ein Captain der United Stars Organisation war, kein ausgebildeter USO-Spezialist, sondern ein getarnter Beobachter. Daneben waren in den letzten Jahrzehnten immer wieder einzelne Gruppen von USO-Agenten eingesickert mit dem Ziel, von Montagne aus geheime Basen im gesamten Raumsektor zu errichten und die fünf Freihandelswelten zu beobachten. Wobei es auch darum ging, auf subtile Weise politischen Einfluss zu erlangen und, etwa durch Unterstützung oppositioneller Gruppierungen, diktatorische Systeme zu schwächen und die Entwicklung demokratischer Regierungsformen voranzutreiben. Eine reine Polizeitruppe für den interstellaren Einsatz war die USO ja nie gewesen. »Sie kontrollieren sogar Passanten«, hörte ich Themo sagen. »Davon kann man halten, was man will.« »Jemand wird offenbar nervös«, dachte ich. »Etwas scheint nicht so zu laufen, wie es soll.« Für uns stand fest, dass die Comtesse Rico nach Montagne gebracht hatte. Zwar gab es dafür keinen Beweis, aber es war belegt, dass die LE CORBUSIER Terra Ende November verlassen hatte. Am 2. Dezember war sie im Anflug auf Montagne identifiziert worden, und seither befand sie sich auf diesem Planeten. »Es kann mehrere Gründe haben«, überlegte Themo. »Attentatsdrohungen zum Beispiel. Aber dann würden die Menschen darüber reden. Nach dem, was ich mitbekomme, sind sie eher ratlos und wissen nicht, was vor sich geht. Ich habe ein paar Gesprächsfetzen aufgefangen, die mit der Auktion zu tun haben. Nachdem diese um zwei Tage verlängert worden ist, rätseln alle, ob die angebotenen Informationen wirklich das Geld wert sind, das auf dem Spiel steht.
Oder ob es sich nicht doch um ein riesiges Betrugsmanöver handelt?« Themo hustete. »Ich glaube das nicht. Dazu sind die Meldungen etwa aus dem Genua-System zu eindeutig. Dort sind gleich mehrere Agenten in einem Schiff verglüht. Auf Vanderbild ist mindestens ein Agent spurlos verschwunden, und unsere Leute auf Nosmo melden ein ständiges Kommen und Gehen. Also wenn sich hier auf Montagne die Hehler und Diebe versammeln, dann findet im Normon-System das Jahrestreffen des interstellaren Agentenverbands statt.« Der Gleiter wurde langsamer und sank nach unten. »Wir sind jetzt in der Tiefgarage. Das Fahrzeug schwebt zur Rückseite des Sicherheitstrakts. Ich bereite das Umladen der Container vor.« Es wurde unruhig um mich herum. Das Summen von Projektoren war zu hören. Der Ladeautomat holte die Kisten mit Traktorfeldern ins Innere des Gebäudes. Nur eine blieb auf der Antigravplatte – meine. Von weitem hörte ich, wie Themo mit dem Verwalter sprach. Die Perlenboxen kamen in den Haupttresor, zu dem nur zwei Personen Zugang erhielten. Die Container mit dem Präsentationsmaterial wurden in einer angrenzenden Halle abgestellt. Nachdem der USOMajor die Versicherungsdokumente gegengezeichnet hatte, kehrte er in den Gleiter zurück. »Besser können die Geschäfte gar nicht laufen«, hörte ich ihn sagen. »Kaum angekommen, schon die erste Bestellung.« »Wo geht die Lieferung denn hin?«, fragte eine weibliche Stimme. »Nach Bellevue. Der Käufer der Naturperlen heißt Jean-Claude Monmartin.« Die Frau stieß einen Pfiff aus. »Alle Achtung. Wissen Sie, wer das ist?« »Nein.« »Einer der bestangesehenen Geschäftsleute des Planeten. Die Familie ist seit vielen Generationen auf Montagne ansässig. Eine hervorragende Adresse, wenn man gute Weine kaufen will.« »Das freut mich zu hören«, erwiderte Themo. »Jemand mit einem solchen Ruf zahlt wenigstens pünktlich.«
Der Gleiter setzte sich wieder in Bewegung. Der Major wandte sich wieder an mich. »Die erste Hürde ist geschafft. Eine Frau weiß über die Perlen Bescheid. Es wird sich schneller herumsprechen, als ich fliegen kann. Übrigens, bevor ich es vergesse, die Lagergebühren des Tresors belaufen sich auf 100.000 Solar. Pro Tag, versteht sich. Zahlbar jeweils bei Öffnung des Tresors. Ich sage das nur, damit sich nicht irgendwo ein Zahlmeister querstellt.« Ich musste grinsen. Überall im Umkreis von tausend Lichtjahren saßen unsere Agenten in ihren Stützpunkten in Lauerstellung. Sie warteten auf das Startsignal und darauf, Informationen weiterzuleiten und auf Notrufe zu reagieren. In der Nähe des MontagneSystems flogen abseits der gängigen Routen seit Tagen Schlachtschiffe der USO sowie kleine, wendige Kreuzer, die blitzschnell bestimmte Ziele auf der Oberfläche des Planeten ansteuern und USOSpezialisten absetzen oder aufnehmen konnten. Die Maschinerie lief, und es wäre wirklich mit dem Teufel zugegangen, wenn irgendwo ein untergeordneter Offizier aus der Verwaltung eine Zahlung verweigert hätte. »Eine schöne Gegend hier. Ich liebe solche Panoramen. Eine sanft ansteigende Hügellandschaft vor einer bewaldeten und blühenden Gebirgskette. Wie Farbtupfer liegen dazwischen die Villen und Gehöfte der Einheimischen. Wirklich nett! Ich leite den Landeanflug ein.« Ein Funkanruf von der lokalen Leitstelle traf ein. Themo tauschte mit dem Automaten Daten aus. Der Gleiter neigte sich nach links und bremste ab. Nachdem er zum Stillstand gekommen war, sank er abwärts. »Perlenzucht Themosthenes mit einer Hauslieferung«, hörte ich den Major sagen. »Ja, direkt von Terra. – Danke!« Ich hörte Schritte, die sich näherten. Themo klopfte gegen den Container. »Gleich habt ihr es überstanden, meine unvergleichlichen Lieblinge!«
»Monsieur, wer hat Sie hereingelassen?«
Ich schloss soeben das Seitenteil des Containers. »Tut mir leid«, antwortete ich, während ich mich aufrichtete. »Irgendjemand hatte mich wohl schon abgeschrieben. Aber ich lebe noch.« »Ausgezeichnet!« Er lachte schallend. »Solchen Humor vermisse ich manchmal auf dieser schnöden Welt des Mammons.« Ich blickte den Sprecher an, einen Mann mittleren Alters mit weißen Strümpfen, einer bis unter die Knie reichenden Samthose und einer Jacke aus dem gleichen Material, die bis zu den Oberschenkeln hinabhing. Darunter trug er ein Rüschenhemd. »Sie sind …?«, brachte ich hervor. »Monmartin persönlich, oui!« Er lächelte verbindlich. »Ich bin mir bewusst, dass ich eine gewisse Ähnlichkeit mit Ihnen nicht verleugnen kann, Monsieur. Sie dürfen mir aber glauben, sie ist zufällig und keinesfalls beabsichtigt.« Er streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie und drückte sie. »Man hat mich zwar vorbereitet, aber damit konnte ich wirklich nicht rechnen.« Vor mir stand mein Spiegelbild – Captain Jean-Claude Monmartin, dieselbe Größe, derselbe Körperbau, dieselben Hände, vor allem aber dasselbe Gesicht. Nicht einmal die Stimme unterschied sich sonderlich von der meinen. Nur die Farbe der Augen und des Haares war anders. »Man könnte sagen, das ist alles Natur«, schmunzelte Monmartin. »Nun ja, mein Kammerdiener hat ein wenig nachgeholfen. Der strenge Blick wird durch die stark betonten Augenbrauen ein wenig verstärkt. Ein bisschen Makeup lässt den Hals gleich viel straffer und jugendlicher erscheinen. Wissen Sie, was das Wichtigste an der ganzen Sache ist?« Ich schüttelte den Kopf. »Die Zähne. Sehen Sie!« Er zog die Lippen zurück. Es waren meine Zähne, strahlend weiß und ebenmäßig, wie sie kein Dental-Medorobot besser hätte herstellen können. »Seit wann tragen Sie diese Zähne?« »Seit vorgestern Abend. Der Medorobot musste sie nur leicht verändern. Denen, die mich kennen, wird der Unterschied überhaupt
nicht auffallen.« »Das ging alles sehr schnell«, sagte ich. »Auf Ihre Leute ist eben Verlass, Lordadmiral!« »Bitte, erwähnen Sie diesen Titel nie wieder, solange ich mich auf Montagne aufhalte.« »Das geht nicht, denn ich werde fast täglich darauf angesprochen. Der Bürgerverein von Soufrière führte letztes Jahr ein Schauspiel auf, in dem ich die Rolle des Kristallprinzen verkörperte. Natürlich mussten sie mich tausendmal bitten, bis ich zusagte. Das Stück war ein rauschender Erfolg.« »Wer hat es denn geschrieben?« »Das weiß ich nicht genau. Der Autor wollte anonym bleiben. Wahrscheinlich lebt er nicht hier. Auf Montagne, das sollten Sie wissen, läuft alles über Agenturen, das heißt, die Konsumgüter kommen von auswärts. All das, was wir selbst anbauen, Kaffee, Kakao, Getreide, Theaterstücke, verschwindet in den Tiefen des Alls. Verrückt, nicht?« »Das kann man wohl sagen. Warum trinken Sie den hiesigen Kaffee nicht selbst?« »Die Verträge mit den Agenturen lassen das nicht zu. Es sind die Exporte, die uns reich machen.« »Wohl eher die UÉ.« Er lachte schallend. »Jetzt bin ich an der Reihe: Erwähnen Sie diesen Namen nie wieder. Montagne ist eine Freihandelswelt. Die UÉ ist unbekannt.« »Verstehe! Aber sie ist überall gegenwärtig.« »Überall. Nur nicht in diesen Räumen. Die Repräsentationssäle sind allerdings verwanzt, müssen Sie wissen. Es ist uns bekannt, aber das wiederum wissen die Spione der UÉ nicht.« »Gibt es irgendeinen Ort auf dieser Welt, der nicht überwacht wird?« »Wir gehen nicht davon aus. Die UÉ ist eine Organisation, die hauptsächlich aus Wissen Kapital schlägt. Je mehr sie weiß, desto reicher ist sie. Ach ja, ich soll Sie abholen. Figaro erwartet Sie!« »So heißt der Kammerdiener, vermute ich mal.« »Ja, Sie haben die Ehre, von meinem persönlichen Roboter bedient
zu werden.« »Und in den sind keine Abhörmikrofone eingebaut?« »Worauf Sie sich verlassen können.« Er ging mir voraus, einen mit kostbarer Holztäfelung verkleideten Korridor entlang, hinter der mit Sicherheit jede Menge High Tech aus Quinto Center verborgen war. Ich beobachtete seine Art zu gehen und imitierte ihn. Es gelang ohne Probleme. Wir gelangten in ein prunkvoll ausgestattetes Umkleidezimmer, das aus einem der zahlreichen Paläste des Sonnenkönigs hätte stammen können. Monmartin bot mir einen Sessel an. »Es dauert ein wenig, bis wir am Ziel sind.« Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Wände und den Boden, konnte aber keine Veränderung erkennen. Nach einer Weile ging ein leichter Ruck durch das Zimmer. »Endstation«, sagte Monmartin. »Bitte wundern Sie sich über nichts.« Die Wände bewegten sich. Die kostbaren Stofftapeten zerfielen in einzelne, zehn Quadratzentimeter große Stücke. Sie klappten reihenweise von oben nach unten zusammen. Dahinter tauchte ein steril wirkender Raum mit silberweißen Wänden und einer Reihe von Steuerkonsolen auf. An einer von ihnen stand ein hochgewachsener Terraner mit strohblondem Haar und einem Vollbart. Als er sich zu uns umwandte, blickte ich in smaragdfarbene Augen. »Hallo, Perlenhändler. Gut sehen Sie aus. Blond steht Ihnen.« »Na ja. Es geht so. Aber da nur einer von uns blond sein darf …« Sein Blick schweifte irritiert zwischen mir und dem Hausherrn hin und her. »Wer ist jetzt wer?« »Mich hatte der Kammerdiener noch nicht in der Mangel«, klärte ich ihn auf. »Verstehe. Ich muss mich um meinen Perlenhandel kümmern. Bis später!« Er verschwand durch eine Tür. Monmartin deutete einladend auf einen altertümlichen Friseurstuhl. »Wenn ich bitten darf, Monsieur?« Kaum saß ich, tänzelte ein filigraner Roboter mit mehreren Tüchern herein. Schwungvoll warf er sie mir um den Hals, klebte ein
paar Haarteile an einige meiner Strähnen, föhnte meinen Mittelscheitel weg und suchte nach den Wirbeln, die fast jeder humanoide Schopf der Milchstraße aufwies. Über der Konsole vor meinen Augen flammte ein Bildschirm auf. Er zeigte den Raumhafen mitten in den Bergen, auf dem ein halbes Dutzend kleinerer Schiffe lagen. »Die rote Markierung weist auf das Schiff des Perlenhändlers hin«, erklärte eine Männerstimme. »Die Comtesse Louise Vimteaux ist nicht auf diesem Hafen gelandet, aber auch auf keinem anderen Raumhafen des Planeten. Da die LE CORBUSIER jedoch im Landeanflug auf Montagne beobachtet wurde, muss sie sich irgendwo auf diesem Planeten befinden.« Das Bild wechselte, es zeigte jetzt eine Stadt in Totalaufnahme. »Margaux ist der Hauptumschlagsplatz für Waren, die nach Montagne importiert werden. Die Agenten der Handelshäuser sitzen fast alle auf anderen Planeten oder in Raumschiffen irgendwo draußen zwischen den Freihandelswelten. Die Geschäfte mit Technik und Know-how werden hingegen über Städte wie Thibeauville abgewickelt. Das betreibt eine bestimmte Organisation in Eigenregie.« »Kein Wunder«, dachte ich. »Bei solchen Dingen könnte man ihr zu tief in die Karten blicken.« »Bitteschön, der Spiegel!« Ich blickte erst in das projizierte Spiegelfeld, dann zu Monmartin, der ein paar Meter entfernt auf einem Stuhl saß. »Zwillinge sind sich unähnlich im Vergleich mit uns«, sagte ich und erhob mich. Captain Jean-Claude Monmartin setzte sich in den Friseurstuhl. Der Roboter rollte ihm seine Haarpracht zusammen und stülpte eine Perücke mit goldblonden Locken darüber. »Fürs Erste wird das reichen«, sagte er. »Ich ziehe mich jetzt zurück, bis man mich ruft. Ach, Monsieur, bitte lesen Sie das Dossier dort auf dem Tisch. Es enthält alles, was Sie über mich, meine Familie, meine Geschäfte und Geschäftsfreunde sowie meine Bekannten wissen müssen. Eines noch, weil es nicht drinsteht: Ich kenne die Comtesse Vimteaux nicht persönlich, hatte also noch nie – näher – mit ihr zu tun.«
»Danke, das ist sehr hilfreich! Au revoir!« Er ging zur Wand und verschwand durch eine Tür in der Täfelung. »Möchten Sie etwas zu trinken, Monsieur?«, fragte Figaro. »Dasselbe, was ich immer um diese Zeit trinke.«
»Der Chef von Francafera ist da!« »Führen Sie ihn herein, Higgins!« »Leutnant Higgins«, fügte ich in Gedanken hinzu. Er war die rechte Hand von Captain Monmartin. Durch die Tür stolzierte ein etwa 140-jähriger Mann, dem man die terranische Herkunft nicht anmerkte. Ein wenig erinnerte er mich in seinen Bewegungen an Roi Danton, es fehlte nur das vorwitzige Gesicht. Dieses hier war gepudert und geschminkt, trotzdem sah es verhärmt aus. Obwohl Perrys Sohn schon vor über fünfhundert Jahren im Kampf mit den Uleb gefallen war, versetzte mir der Anblick einen schmerzhaften Stich. »Willkommen, Monsieur!« Ich erhob mich und ging links um den Tisch herum, wie mein Doppelgänger es zu handhaben pflegte. Dann streckte ich die Arme aus, schüttelte die Hände des Mannes und führte ihn zum größten und weichsten Sessel an dem runden Tisch. »Ich versprach wiederzukommen«, ächzte Arture Colombé. »Es ist dringend geboten, etwas zu unternehmen.« Aus den überaus detaillierten Unterlagen Monmartins wusste ich, mit welchen Probleme Francafera zu kämpfen hatte. Colombé betrieb ein florierendes Geschäft mit seltenen Legierungen und anderen Spezialmetallen. Als studierter Metallurg kannte er sich in diesem Metier besser aus als jeder andere. Seine Firma boomte in dieser Zeit des wirtschaftlichen Wachstums. Jedes Jahr kamen neue Frachtschiffe dazu. Acht Söhne und vier Enkel flogen unaufhörlich durch den westlichen Spiralarm, um Verträge zu schließen und Lieferpläne aufzustellen. »Die Organisation droht mir«, keuchte Colombé. »Sie verlangt, dass ich das Geschäft umgehend aufgebe und ihr überlasse.«
»Warum kauft sie Ihre Firma nicht einfach?« »Ich weiß es nicht. Ich hatte noch nie mit Betoncourt oder einem seiner Geschäftsführer zu tun.« »Vielleicht liegt es daran? Oder sind Sie diesen Leuten irgendwann auf die Füße getreten, ohne es zu merken?« »Nun, das haben Sie mich letztes Mal schon gefragt, mon ami. Ich ließ mir alle Aufzeichnungen kommen und las die alten Tagebücher durch. Nichts. Kein Affront, kein Grund. Warum dann?« »Es wird schwer sein, den Grund herauszufinden. Ich werde mich umhören. Heute Abend veranstaltet Monsieur Themosthenes seine Perlenschau im Stadtpalast. Bestimmt kommen auch Angehörige der Organisation.« »Kennen Sie welche?« »Nein, nicht persönlich. Nur dem Namen nach. Aber wer weiß …« Ich verschwieg ihm, dass ich selbst eine ganze Kiste wertvoller Perlen erworben hatte. »Diese Schau ist doch eher etwas für die Damen, oder?«, meinte er. »Da haben Sie schon Recht, Monsieur. Aber meine Familie befindet sich für mehrere Wochen auf einer Kreuzfahrt am Rande des Orionnebels. Ich gehe stellvertretend für die Damen des Hauses hin. Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Ich begleitete Colombé zur Tür. Als er gegangen war, rief ich Higgins zu mir. »Bitte besorgen Sie mir drei Rum-Kugeln«, bat ich und drückte ihm einen Kredit-Chip mit einem winzigen zusammengefalteten Zettel in die Hand. Darauf hatte ich geschrieben: »Lassen Sie ihn den ganzen Tag beschatten, aber ohne dass er oder ein Dritter es bemerken. Ich muss wissen, wo er überall hinfliegt.« »Ich beeile mich, Monsieur.« Ich widmete mich wieder Monmartins Akten und später der Post. Higgins servierte mir die Rum-Kugeln und einen Kaffee. Dabei nickte er mir unmerklich zu. Um die Mittagszeit konferierte ich fast eine ganze Stunde via Hyperfunk mit Geschäftspartnern. Nach einem kurzen Erholungsschlaf vergewisserte ich mich mit Hilfe der winzigen Sonden in meiner Ja-
cke, wo in meiner Firma überall Abhörgeräte und Kameras der UÉ versteckt waren. »Ein paar Tage noch«, überlegte ich. Fielen die Spione jetzt aus, würde man bei der UÉ Verdacht schöpfen und mich gezielt überwachen. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiterhin den Arglosen zu mimen und meine Geschäfte nach bestem Wissen zu führen. Immerhin war diese Tätigkeit in meinen Augen deutlich abwechslungsreicher, als das, was ich in Quinto Center den ganzen Tag zu tun hatte. Pünktlich auf die Minute verließ ich um 18 Uhr die Firma. Mein Privatgleiter brachte mich nach Bellevue. In meinen zum Glück nicht verwanzten Privatgemächern fand ich wenig später eine Nachricht von Higgins mit allen Flugzielen und Adressen. Ich duschte und blickte ein wenig verwundert in den Spiegel. Das schwarze Haar war ebenso ungewohnt wie die dunkelbraunen Augen. Unter meinem Handtuch fand ich eine durchsichtige Folie mit der Aufschrift FP. »Die Fingerprints!« Sie waren am Morgen noch nicht da gewesen. Der Ausstatter hatte ein wenig nachlässig gearbeitet. Schnell klebte ich mir die unsichtbaren, hauchdünnen Folien auf die Fingerkuppen. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass in dieser Nacht niemand meiner Firma einen Besuch abstatten und dort Fingerabdrücke nehmen würde. Ich ging zum Kleiderschrank – das nächste Hindernis. »Was ziehe ich auf diesem Planeten zu einer Vernissage oder einer Perlenschau an?« »Du hast in den Epochen gelebt, die auf diesem Planeten nachgeahmt werden« meinte der Extrasinn. »Schwarz und Silber, oder Dunkelblau und Silber.« Trotzdem entschied ich mich wegen des schwarzen Haares für Dunkelgrün und Silber. Monmartins Kleidung saß wie angegossen. Zur Vervollkommnung meiner Maske klebte ich mir einen schwarzen Schnauzbart an. Als neuer Mensch kehrte ich in die öffentlichen Räume der Villa zurück.
Rico – Zweite Begegnung »Der Name Montagne deutet auf eine gebirgige Welt hin«, sagte Rico. Der Hangar, durch er ihn transportiert wurde, lag in einer gewaltigen Höhle. Der Abstand zwischen Boden und Felsendecke betrug exakt 485 Meter. Stahlstreben verstärkten die Wölbung, damit diese die statischen Veränderungen beim Öffnen des getarnten Außenschotts aushielt. Niemand antwortete. »Sind Sie noch da, Henderson?« Nur das Klacken metallener Füße war zu hören. Ein Roboter schob ihn in mittels eines die Schwerkraft neutralisierenden Fesselfeldes vor sich her. Thek-KSOL an Hauptspeicher: Funk aktivieren! Hauptspeicher an Thek-KSOL: Ist aktiviert! Rico sandte dem Roboter eine Funkbotschaft. Sie enthielt unverschlüsselte Daten, denn er wollte keinen Verdacht erregen. Der Roboter reagierte nicht. Offensichtlich hatte man ihm entsprechende Befehle erteilt. »Auch gut«, sagte Rico. »Du bist eine untergeordnete Einheit. Korrekt?« Keine Antwort. »Versuchen wir es andersherum. Ich bin eine übergeordnete Einheit. Unabhängig von der Beschaffenheit meiner Körperoberfläche bist du durchaus in der Lage, mich als Lebewesen zu identifizieren. Dein Programm verpflichtet dich, von mir Befehle entgegenzunehmen. Hier der erste: Schalte das Fesselfeld ab.« Endlich eine Antwort: »Was wirst du dann tun?« »Ich werde dich dorthin begleiten, wo du mich hinbringen sollst.« Das Fesselfeld hielt an. Positronisches Erkennungssystem an Hauptspeicher: Der Roboter kommuniziert nicht mit seiner Leitstelle. »Und dann?«, fragte die Maschine. »Dann wirst du mich Henderson oder dem Professor oder jemandem übergeben, der für mich zuständig ist.«
»Du unternimmst keinen Fluchtversuch?« »Nein! Aber wenn ihr mich schon wie einen Gefangenen behandelt, dann so, wie es sich gehört.« »Ich schalte das Feld jetzt ab. Solltest du fliehen, mache ich von der Schusswaffe Gebrauch.« »Dagegen ist nichts einzuwenden.« Das Fesselfeld stellte Rico auf den Boden. Er erhielt seine Bewegungsfreiheit zurück und ging weiter. »Sage mir, wann ich die Richtung ändern soll, oder geh einfach neben mir her.« Der Roboter schloss zu ihm auf. »Meine Bezeichnung lautet Rico. Und deine?« »ZZ-3100-OLY-378.455.« »Du bist folglich drei Jahre alt, und von deiner Sorte gibt es mindestens 378.455 Stück. Das ist mehr, als die größte Stadt dieses Planeten Einwohner hat.« »Das ist korrekt.« »Die Baureihenbezeichnung ZZ-Jahreszahl-OLY verrät, du bist auf Olymp gebaut worden. ZZ für die Fabrik Zero-Zeus und OLY für den Planeten.« »Auch das ist korrekt.« »Wo bringst du mich hin?« »Zu Professor Saint-Phare ins Labor.« »Der mit den langen, schwarzen Haarsträhnen?« »Korrekt.« »Kannst du auch ›Ja‹ sagen?« »Ja.« Positronisches Erkennungssystem an Hauptspeicher: Die Kontrollzentrale stellt Funkkontakt zu ZZ-3100-OLY-378.455 her. Thek-KSOL an Hauptspeicher: Ich breche die Kommunikation mit dem Roboter ab. Das Fesselfeld flammte wieder auf und riss Rico vom Boden hoch. Der ZZ-Roboter beförderte ihn in den nächsten Antigravschacht. Es ging nach unten, das Felsgebirge war großmaßstäblich ausgehöhlt. Vor einer der Hauptebenen blieb der Roboter hängen und wartete, bis eine andere Maschine kam und ihm die Last abnahm. »Danke für deine Begleitung, ZZ-3100-OLY-378.455.«
Der Roboter entfernte sich schweigend, und Rico richtete seine Aufmerksamkeit auf die neue Maschine. Sie war von anderer Bauart, ein Spitzkegel auf einem diskusähnlich gewölbten Teller, und verfügte über ein Dutzend Tentakel. In einer Öse des Tellerrands hing ein Handschellenpaar. »Hallo, ich bin Rico!« »Sei still«, kommandierte der Kegel. »Wenn du weiterredest, schalte ich dich ab.« »Man kann mich nicht abschalten.« »Dann habe ich den Auftrag, dich zu zerstören.« Thek-KSOL an Hauptspeicher: Er lügt, aber ein Roboter kann nicht lügen. Folglich gibt er eine Unwahrheit wieder, die man ihm zu sagen aufgetragen hat. Rico entschloss sich zu schweigen. Der Kegel transportierte ihn zwei Kilometer auf derselben Ebene, brachte ihn danach zwei Etagen nach oben und durch eine gepanzerte Doppelschleuse. Drinnen unterhielten sich zwei bekannte Stimmen, aber Rico ignorierte sie. Der Roboter schob ihn durch eine weitere Schleuse in eine Medostation. »Da kommt ja unser schlaues Kerlchen«, hörte Rico Henderson sagen. »Nicht schlecht, das Programm. Damit braucht er nicht einmal eine Viertelstunde, und der ZZ-OLY-Transporter lässt ihn laufen und vernichtet sich selbst.« »Das kriegen wir in den Griff«, antwortete der Professor. »Ricos positronische Intelligenz lässt sich steuern beziehungsweise reduzieren.« »Hallo Henderson. Oh, Professor Saint-Phare, Sie auch hier?« »Ich hole mir deinen Kopf, Rico. Alles andere bleibt unter der Obhut von Henderson.« »Das wäre Mord, Professor. Sie können mir den Kopf selbstverständlich abnehmen, aber dann bin ich unwiderruflich zerstört. Wenn Sie ihn später wieder montieren, wird keine Wiederbelebung möglich sein.« Henderson deutete auf einen Tisch mit starken Metallklammern. »Du weißt, was geschieht, wenn wir dich auf diesen Tisch schnallen?«
»Ich kann mich nicht wehren und muss zusehen, wie Sie mich töten. Die Unversehrtheit meiner Person ist dann keinen Soli mehr wert.« »Von dir selbst als Person zu reden, ist anmaßend, Rico. Einem Roboter steht das nicht zu.« »Finden Sie? Ich bin nicht irgendein Roboter. Ich bin ein 11.108 Jahre alter Roboter. Rechnen Sie das hoch! Sie besitzen keinerlei Vergleichswerte im Bezug auf positronische Systeme. Ihre Gehirne sind gar nicht in der Lage, einen solchen Zeitraum auch nur annähernd zu erfassen.« »Ich glaube dir kein Wort, Rico.« »Ich schon«, sagte Saint-Phare. »Danke, Professor!« »Ich gehe noch einen Schritt weiter, Rico«, fuhr Saint-Phare fort. »Ich akzeptiere, dass ein positronisches System von derart langer Lebensdauer in der Lage sein könnte, eine große Menge an Wissen zu speichern und zu verarbeiten. Aber deshalb wird das System noch lange nicht zu einem Menschen.« »Darüber sollten wir reden, sobald Sie mehr über mich herausgefunden haben.« Der Kegelroboter beförderte Rico auf den Tisch und schnallte ihn an den Hand- und Fußgelenken fest. Rico beobachtete Henderson, der Apparaturen und Maschinen an die Liege schob und um sie herum verteilte. »Ich habe verstanden«, sagte Rico. »Sie wollen nicht nur mein Wissen stehlen, Sie wollen meine Speicher auch löschen. Zumindest teilweise.« Der Kopf mit den schwarzen Strähnen tauchte in seinem Blickfeld auf. »Wir wollen dich heilen, Rico. Wir werden dich heilen.« »Ich bin nicht krank. Ich weiß höchstens zu viel.« »Ich werde für dieses Phänomen einen neuen Begriff in die Wissenschaft einführen«, sagte Saint-Phare zu Henderson. »Positronische Paranoia. Die Definition wird sich irgendwo im Bereich der elektronisch-positronischen Teilchenfluktuation bewegen. Informationsschnipsel auf Irrwegen in den Speichersystemen, verursacht durch mangelhafte Abschirmung der Transportwege. Dadurch ent-
stehen Kriechströme, die Daten aufnehmen und sie an Speichersektionen weiterleiten, in denen sie nichts zu suchen haben.« Die schwarzen Strähnen sanken weiter auf Rico herab. »Diese roten Rubinaugen – fast könnte man meinen, du seiest ein Arkonide.« »Sie lenken vom Thema ab, Professor. Sie waren bei den Kriechströmen stehengeblieben, die Informationen nicht nur in den dafür vorgesehenen Speichersektionen ablegen. Dasselbe gilt auch für die Querverweise zwischen den Speicherbereichen. Grob gesehen, haben Sie damit sehr schön die Funktionsweise eines humanoiden Gehirns beschrieben.« »Professor, ich fange jetzt an«, informierte Henderson am Fußende der Liege. »Wollen Sie den Kopf oder nicht?« »Später. Erst holen wir die Informationen aus den Speichern. Sonst macht uns die Comtesse Feuer unterm Hintern.« Bogenförmige, silbern schimmernde Metallsegmente schwenkten über die Liege. Die Lichter in der Medostation erloschen, nur die Lampen der Apparate blieben an. Rico entdeckte erste Tentakel, die sich aus Öffnungen in den Maschinen schoben und wie Schlangen seinem Körper näherten. Saugnäpfe an den Spitzen deuteten darauf hin, dass es sich um eine langwierige Prozedur handelte. »Ich beginne also jetzt«, sagte Henderson. »Es dauert nicht lange.« Positronisches Erkennungssystem an Hauptspeicher: Einer der Tentakel enthält einen Energiestreamer. Hauptspeicher: Sie wollen die Energieversorgung kontrollieren. Abwehrmaßnahmen sind eingeleitet. Thek-KSOL: Ich beginne mit der Sicherung wichtiger Daten.
Kapitel 8 Unsichtbare Orchester intonierten klassische Musik, in jedem Saal Werke eines anderen Komponisten. Die Musik wehte aus den hohen Fenstern ins Freie, hinein in die Gassen und Straßen der Stadt. Nach eineinhalb Tagen Werbung für die Perlenschau standen die meist weiblichen Besucher an den großen Toren Schlange. Meinen Gleiter ließ die Leitstelle passieren. Der kleine Parkwächter-Roboter auf dem Vorplatz schickte mir einen Leitstrahl, mit dessen Hilfe ich platzsparend parkte. Ein Diener in Livree eilte herbei, dienstbeflissen mit einem Wischtuch und einem Fächer. »Monsieur, bitte heben Sie nacheinander die Beine hoch, damit ich Ihre Schuhe vom Staub befreien kann. So ist es gut, danke. Nehmen Sie diesen Fächer. Drinnen ist es sehr heiß.« »Keine Klimaanlage?« »Vorsicht!« warnte der Extrasinn. »Alles ist historisch korrekt«, sagte der Butler unter einer Verbeugung. »Eine Klimaanlage wäre in einem solchen Palast eine Todsünde.« »Da haben Sie allerdings recht.« Ich machte, dass ich weiterkam. Zum Glück hatte er nicht gemerkt, dass ich Einheimischer war. Der echte Jean-Claude Monmartin hätte selbstverständlich gewusst, dass es im Schloss keine Klimaanlage gab. Vom Original im terranischen Versailles unterschied sich der Stadtpalast in Margaux nur dadurch, dass er dreimal so groß war. Alles andere war perfekt nachempfunden, die Spiegel, die Stuckaturen, die Gobelins und die Goldauflagen. Die Böden, Säulen und Kapitelle waren aus demselben terranischen Marmor gefertigt wie er beim Bau des Originals verwendet worden war. Einmal mehr erstaunte es mich, in welchem Maße die Bewohner mancher terranischer Kolonien lokale kulturelle Eigenheiten der
Mutterwelt pflegten, obwohl die schon längst eine politische Einheit gewesen war, als ihre Vorfahren zu den Sternen aufgebrochen waren. Offensichtlich war der Großteil der Siedler von Montagne aus dem ursprünglich französischsprachigen Teil der Erde gekommen. Sehr intensiv hatte ich mich bei der Vorbereitung unserer Mission nicht mit der Geschichte Montagnes beschäftigen können, aber mir war nicht entgangen, dass die besondere Verehrung der französischen Kultur und Lebensart erst im letzten Jahrhundert das Ausmaß angenommen hatte, mit dem ich mich nun konfrontiert sah. Welche Rolle dabei die Organisation Union Étoiles gespielt hatte, die ja selbst einen französisch klingenden Namen führte, blieb offen. Auf jeden Fall hatten Bürger des Planeten eine monströse Kopie des Schlosses errichtet, mit dem sich einst der Sonnenkönig geschmückt hatte. Nun ja, wenn Imperator Dabrifa glaubte, in einem riesigen arkonidischen Trichterpalast wohnen zu müssen, konnte es niemand den Montagnern verdenken, dass sie ihren Wohlstand auf diese Weise demonstrierten. Der Veranstalter der Perlenausstellung hatte die Eingangshalle des Palasts und das Treppenhaus mit Hilfe von Holoprojektionen in eine Grotte verwandelt, in deren Felswänden es nur so vor Rubinen und Smaragden glitzerte. Funkelnde Bergkristalle wiesen den Weg zu einem Riss im Felsen, aus dem wie Wassertropfen in unregelmäßigen Abständen Diamanten herausrollten. Ich gab meinen Umhang ab und sah mich um. Keines der Gesichter kannte ich, aber die meisten Anwesenden schienen mich zu kennen. Ich nickte ein paar der Herrschaften zu und folgte mit verträumtem Blick den funkelnden Projektionen. Nikos Themosthenes verzauberte nicht nur das Schloss, er verzauberte auch die Menschen, die sich in diese Grotte wagten. Dienstbeflissene Geister in rotgoldener Livree huschten an mir vorüber, balancierten Tabletts mit Getränken oder kleinen Snacks. Zwei Stufen auf einmal nahm ich, denn so hatte ich es in den Anweisungen Monmartins gelesen. Im hinteren Teil der Eingangshalle tauchten Scheinwerfer die Perlenarrangements des Künstlers in futuristisches Licht. Perlen als Sternenkette, Perlen als Gasnebel, Perlen als Regen über einer Planetenoberfläche.
Dazwischen eilten immer wieder die Livrierten hin und her. Ein Teil des Personals gehörte zur Langzeitbesatzung der USO in Margaux. Allerdings wusste ich nicht, wie die Männer und Frauen aussahen. Andere standen vermutlich im Dienst der Union Étoiles, der Sternenunion, die mir vom Namen her wie das negative Pendant zur USO, der Organisation der Vereinigten Sterne, vorkam. Der Perlenhändler erspähte mich und eilte herbei. »Monsieur Monmartin, ich bin erfreut, Sie zu sehen. Darf ich bitten?« Er drückte mir ein Glas Champagner in die Hand und führte mich hinter den Vorhang, der den Höhepunkt des Abends vor den eintreffenden Gästen verbarg – einen Eispalast aus Perlen, umwoben von zirrusartigen Gespinsten eines bolonischen Webkäfers. Man sah ihn nur, wenn man um das Kunstwerk herum ging. Im Schatten der Projektor-Verkleidung blieben wir stehen. Ich sah den Captain fragend an. Er schüttelte den Kopf. Bisher hatten sie noch nichts herausgefunden. Vorn am Eingang entstand Unruhe. Wir setzten uns in Bewegung und entdeckten zwei junge Frauen, die eine elegante Dame mittleren Alters gegenüber allzu aufdringlichen Kameras abschirmten. Die Dame trug eine Turmfrisur, die doppelt so hoch war wie ihr Kopf. Ich war ihr noch nie begegnet, doch anhand der Bilder, die ich von ihr gesehen hatte, erkannte ich sie sofort. Unser Blick kreuzte sich für den Bruchteil einer Sekunde, während sie die kostbare Robe ablegte und das aus hauchfeinen, goldenen Pailletten zusammengesetzte Kleid präsentierte. Ich stieß mit Themosthenes an, während sie sich weiterdrehte und inmitten ihrer Begleiterinnen davon rauschte. Der kunstvoll mit goldenen Nadeln verzierte Haarturm bog sich dabei leicht nach hinten. Themo fächelte schneller und verdrehte die Augen. »Das ist stark, verdammt stark!« »Die Dame scheint solche Auftritte zu lieben«, mutmaßte ich. »Haben Sie diesen Blick gesehen? Mit einer einzigen Drehung ihres Körpers hat sie alle Männer in diesem Raum taxiert.« »Und?« »Sie hält uns für Spießer.«
»Schade!« »Wundert es Sie? Bei der Kleidung?« »Sie haben Recht. Ich komme mir vor wie ein Papagei.« »Sie tragen immerhin das Festtagsgewand Ihrer Zunft, das ist völlig okay. Ich meinte eher mich und die anderen Vertreter des starken Geschlechts.« Ich lauschte in Richtung der Säle. »Die Musik legt eine Pause ein. Es ist sehr ruhig.« Nur wenig Gesprächslärm drang heraus in die Halle. »Die Damen liegen den Herren in den Ohren«, spöttelte Themo. »Dann sollten Sie frühzeitig zu Bett gehen, denn morgen früh werden Sie im Hotel keine ruhige Minute haben. Die Geschäftsräume, die ich Ihnen besorgt habe, sind leider erst ab Mittag verfügbar.« »Ich stehe tief in Ihrer Schuld, Monsieur!« »Am Ende des Jahres dürfen Sie sich gern mit einer Perle für meine Frau und meine Töchter revanchieren.« Ich machte mich auf den Weg durch die Säle und suchte mir einen Platz für das Diner. Zu meinem Bedauern sah ich das goldene Kleid nirgends. »Es ist immer dasselbe« behauptete der Extrasinn. »Du gehst zu einer Abendveranstaltung und bildest dir ein, du seist unwiderstehlich.« »Es ist ein Erfahrungswert über Jahrtausende.« »Eher liegt es daran, dass du nicht besonders wählerisch bist.« »Du bist ein Logiksehtor. Von Gefühlen verstehst du nichts.« Erneut begannen die Orchester zu spielen. Was passte besser zu einer solchen Veranstaltung als Walzermusik zeitgenössischer Komponisten? Während ich das halbleere Glas Champagner abräumen und mir ein kühles, volles bringen ließ, entdeckte ich eine der beiden Begleiterinnen der Comtesse am hinteren Ende des Saals. Sie plauderte scheinbar gelangweilt mit einem Herrn in roter Robe und weißer Perücke. Ich blendete in meinem Kopf die Perücke aus und prägte mir das Gesicht ein. »Für alle Fälle.« »Darf ich stören?«, fragte plötzlich jemand hinter meinem Rücken. Es war ein Bediensteter. »Sie dürfen. Worum geht es?« »Jemand hat versucht, den Gleiter zu öffnen, in dem Sie gekommen sind. Wären Sie so freundlich …« »Natürlich. Wie heißen Sie?«
»Jacques Bonaparte, Monsieur!« Ich nahm mein Glas mit hinaus. Draußen war es angenehm kühl. Die gelben Blinklichter des Gleiters fielen sofort auf. Zusammen mit Bonaparte ging ich hinüber. »Haben Sie eine Lampe?« Er leuchtete das Fahrzeug im Bereich der Tür ab. »Keine Spuren«, stellte ich fest. »Vermutlich eine Fehlfunktion der Positronik. Warten Sie einen Augenblick.« Ich öffnete das Fahrzeug, stieg ein und fragte die Bordpositronik ab. Jemand hatte sich an dem Fahrzeug zu schaffen gemacht, aber er hatte sich hinter einem Deflektorfeld versteckt. Äußerlich blieb ich gelassen, in meinem Innern aber sah es anders aus. Eine Manipulation ausgerechnet an meinem Fahrzeug gefährdete unseren Einsatz. Sie konnte ein Zeichen dafür sein, dass wir entdeckt oder verraten worden waren. Traf das zu, war es sicherer, wenn wir sofort zum Raumhafen zurückkehrten und starteten. Oder jemand wollte mich nervös machen, jemand, der mir nicht traute und daran interessiert war, aus meiner Reaktion Schlüsse zu ziehen. Ich kehrte ins Freie zurück. »Da war etwas, vermutlich ein Tier«, sagte ich zu Bonaparte. »Die Kamera hat nichts festgestellt. Manchmal wird der Alarm auch durch eine Erschütterung ausgelöst.« »Dann ist er zu sensibel eingestellt, Monsieur.« »Das wird es sein. Ich werde das Service-Zentrum informieren.« Ich kehrte in den Saal zurück und stürzte mich ins Getümmel. Als verheirateter Mann gestand mir die Etikette ein paar Tänze zu, nicht mehr. Anschließend löschte ich meinen Durst, verabschiedete mich und ging. Auf einen erneuten Kontakt zu Themosthenes verzichtete ich. Es wäre aufgefallen, wenn wir öfter als nötig miteinander kommuniziert hätten. Am Gleiter war alles ruhig. Bevor ich einstieg, warf ich vorsichtshalber einen Blick unter das Fahrzeug. Da war nichts mit Ausnahme einer kleinen weißen Visitenkarte. Ich hob sie auf. Comtesse Louise Vimteaux, las ich. Darunter stand die Adresse. Eine handschriftliche Notiz auf der Rückseite lautete: Um Mitternacht bei mir.
Die Adresse auf der Karte kam mir merkwürdig bekannt vor. Es war eine der Adressen, die Arture Colombé an diesem Tag aufgesucht hatte. »Sieh an« dachte ich. »Dieser scheinheilige Kerl kommt zu mir und erbittet Hilfe, dabei hat die feine Comtesse ihn geschickt, um mich auf die Probe zu stellen.« Ich kehrte in die Villa Monmartin zurück in dem Gedanken, dass irgendwo in Bellevue jemand vor einer Monitorwand saß und mein Eintreffen beobachtete. Aus der Art und Weise, wie ich mich bewegte und was ich tat, würde er Rückschlüsse ziehen. Ein Mann, der Jahrzehnte glücklich verheiratet war und gemeinsam mit seiner Frau die Kinder großgezogen hatte, machte sich eine Entscheidung zu einem solchen Rendezvous sicher nicht leicht. Also schritt ich eine Weile im Foyer auf und ab, mit zusammengepressten Lippen und die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ich schien mit mir zu ringen, dann ging ich nach oben, lenkte mich eine Weile mit den Lieblingssendern des Hausherrn ab und zog mich anschließend in die Gemächer zurück, in denen es keine Abhöreinrichtungen gab. Eine Stunde noch bis Mitternacht. Was wollte sie von mir? Wieso kam sie ausgerechnet auf mich? Nur, weil sie mich im Stadtpalast kurz gesehen hatte? Nein, sie wusste genau, wer ich war, denn ihre Organisation beobachtete das Familienleben in meinem Haus. Ich holte die Notizen hervor, die Higgins mir hatte zukommen lassen, und verglich sicherheitshalber die Adressen. Es stimmte. Colombé war bei der Comtesse gewesen. Der Zusammenhang lag auf der Hand. Sie hatte ihn auf mich angesetzt. Da ich den Perlenhändler nach Montagne geholt hatte, erschien ich ihr jetzt wohl interessant genug, um mir eine Stunde zu widmen. Ich war aufs Höchste gespannt. Gleichzeitig leistete ich Jean-Claude Monmartin innerlich Abbitte. Aus eigenem Antrieb wäre er der Einladung garantiert nicht gefolgt. »Reiß dich zusammen!« stichelte der Extrasinn. »Nicht dass der arme Kerl hinterher einen Ruf weg hat, dem er nie gerecht werden kann.« Noch eine halbe Stunde, es war Zeit aufzubrechen. Ich öffnete den
Safe und entfernte den Schnurrbart. Schweren Herzens nahm ich den Aktivator ab und legte ihn zusammen mit dem Schnurrbart hinein. 60 Stunden blieben mir ungefähr. Dann würden die ersten Anzeichen einer beschleunigten Alterung einsetzen. Nach 62 Stunden wäre mein Körper zu Staub zerfallen, wenn ich nicht rechtzeitig den Aktivator umhängte.
Die Villa lag am südlichen Ende von Bellevue von düsteren fremdartigen Bäumen umgeben inmitten eines Parks. Im Licht der beiden Monde Montague und Montaud glitzerte es ab und zu zwischen den Ranken und Büschen. Das Leitsystem meldete sich und fragte an, ob ich mit einer Landung im Park einverstanden war. »Selbstverständlich bin ich das.« Der Grund für diesen Vorschlag lag auf der Hand. Die Comtesse würde mich auf dem Weg vom Gleiter zur Villa gründlich durchleuchten und nach Waffen absuchen. Das Ei auf meiner Brust hätte mich sofort verraten. So aber sah ich eine gute Chance, dass die Comtesse meine Maske nicht durchschaute. Das Fahrzeug hielt dicht über einem Kiesweg an. Ich stieg aus und verriegelte die Tür. Nach dem Vorfall auf dem Parkplatz am Stadtpalast musste ich auf alles gefasst sein. Gemessenen Schrittes ging ich den breiten Weg hinauf, der von Leuchtkugeln gesäumt wurde. Vergeblich suchte ich nach irgendeinem Zeichen oder Symbol, das ich mit der UÉ in Verbindung bringen konnte. Die Flügeltüren auf der Terrasse öffneten sich lautlos und schwangen nach innen. Drinnen stand sie, eine Silhouette wie von einer Göttin, halb im Schatten, halb im Licht. Als ich die Stufen zur Terrasse empor ging, bewegte sie sich ein wenig auf mich zu. Ebenso wie am Abend im Stadtpalast trug sie das Haar zu einem Turm geschlungen. Nur die goldenen Nadeln fehlten. Statt des Plättchenkleides verhüllte ein Mantel mit weiten Ärmeln ihren Körper. »Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind, Monsieur!« Es klang ausgesprochen freundlich, der Scan schien also zu ihrer
Zufriedenheit ausgefallen zu sein. »Ich danke Ihnen vielmals, Comtesse. Es ist mir eine Ehre!« Ich deutete eine leichte Verbeugung an. Sie beantwortete sie mit einem huldvollen Lächeln. »Man sagte mir, dass Sie zur Zeit ein Dasein als Strohwitwer führen.« »Mit Absicht.« Ich lächelte. »Die Damen meines Hauses sollten nichts von der Perlenlieferung mitbekommen, die gestern eingetroffen ist.« »Sie lieben Perlen?« »Mehr noch als Edelsteine. Diese sind von der unbelebten Natur erzeugt, aus Mineralien oder tief in der Erde unter hohem Druck. Perlen hingegen werden von Organismen hergestellt. Sie sind ein viel größeres Wunder des Universums.« »Das haben Sie schön gesagt, Monsieur. Bitte kommen Sie doch herein in den Salon!« Sie rauschte vor mir her, griff nach der Flasche mit Champagner und füllte zwei filigrane Kelche. »Santé!« »Santé!« Ich nippte an dem Glas und setzte es wieder ab. »Wie Perlen! Das ist ein Champagner, der seinesgleichen sucht.« »Ich habe ihn von Terra einfliegen lassen.« Ich schmunzelte. »Alles, was mit Perlen zu tun hat, kommt von Terra. Merkwürdiger Zufall.« »Ich weiß nicht, ob das ein Zufall ist. Waren Sie schon einmal auf Terra?« Wollte die Comtesse mich testen? Natürlich hatte sie sich genauestens über Jean-Claude Monmartin informiert. Aber auf mein fotografisches Gedächtnis konnte ich mich verlassen. »Als Kind haben mich meine Großeltern auf einen Flug nach Terra mitgenommen. Sie wollten mir unbedingt die Heimat unserer Vorfahren zeigen. Es war das einzige Mal. Später hat es sich nie mehr ergeben. Und Sie?« »Ich verbringe immer wieder ein paar Wochen geschäftlich auf der Erde. Mehr nicht.« Sie warf mir einen prüfenden Blick zu. Ich gab mich unbeteiligt. »Wenn wir gerade von Geschäften reden«, fuhr sie fort, »kennen Sie Arture Colombé?«
»Ein alter Bekannter meiner Familie. Wir haben keine nennenswerten persönlichen Kontakte, aber in letzter Zeit hat er mich zweimal aufgesucht. Seine Firma ist in Schwierigkeiten.« »Und was haben Sie ihm geraten?« »Ich versprach ihm Unterstützung. Allerdings scheinen mir seine Angaben ziemlich wirr zu sein. Warum verkauft er nicht einfach und setzt sich zur Ruhe?« »Vielleicht denkt er an seine Nachkommen.« »Möglicherweise. Ich denke, dass ich ihm keine große Hilfe sein werde.« »Dafür kennen Sie den Perlenhändler.« »Persönlich erst seit zwei Tagen.« »Sie wissen aber, dass sich sein Firmensitz nicht auf Terra befindet?« Ich gab mich erstaunt. »Das war mir nicht bekannt. Auf den Einfuhrpapieren, die ich prüfte, war Terra als Firmensitz eingetragen. Auch auf dem Kaufvertrag steht diese Adresse.« »Interessant. Dann hat mir mein Informant falsch berichtet. Egal. An diesem Abend sollen nicht Geschäfte im Vordergrund stehen.« Sie nahm mich an der freien Hand und zog mich ins Treppenhaus. Entsprechend meiner Rolle verhielt ich mich eher zögernd und passiv, wobei ich mich heimlich der Fingerprints entledigte und sie in meinen Jackentaschen verschwinden ließ. Ich folgte der Comtesse hinauf in das Schlafzimmer, eine großzügigen Kissenlandschaft, umrahmt von exotischem Wandschmuck mit einigen Utensilien, die auf recht extravagante sexuelle Vorlieben schließen ließen. Neben der Tür stand ein kleines Tischchen für die Gläser. »Immer, wenn ich nach Montagne komme, bin ich süchtig nach Gesellschaft«, hauchte sie mir mit rauchiger Stimme ins Ohr. »Können Sie das verstehen?« »Nur zu gut. Immer, wenn ich von zu Hause weg bin, fühle ich mich einsam.« Sie fingerte an meiner Jacke und der Hose herum, ein klein wenig ungeschickt, wie ich fand. Es spielte keine Rolle. Ich zog sie an mich, ließ meine Fingerspitzen über ihre Schultern zum Rücken wandern, schob dabei ihren Hausmantel ein wenig zur Seite und blies Luft ge-
gen ihren Nacken. Ihre Härchen richteten sich auf. Der Mantel glitt vollständig von ihren Schultern, darunter trug sie nichts. Sie sank auf die Kissen und schloss die Augen. Ich sah, dass ihr rechter Unterarm verkrüppelt war, vermutlich die Folge eines Unfall oder einer Kampfverletzung. Ein Teil des Muskelfleischs fehlte, die Haut war ziemlich vernarbt. Sie zog mich an sich, schlang ihre Beine um meine Hüften und bot mir ihren Hals. Die Comtesse war eine Frau, die ziemlich schnell zur Sache kam. Gegenseitiges Streicheln und zärtliche Liebkosungen jeglicher Art lagen offensichtlich nicht in ihrem Interesse. Ich beugte mich über sie, biss vorsichtig in ihr rechtes Ohr. Meine Hände glitten vom Rücken die Taille entlang zu den Oberschenkeln. Sie fing an zu keuchen, ein überdeutliches Zeichen ihrer Ungeduld. »Denk an Monmartin!« schärfte ich mir ein. »Verhalte dich nicht zu routiniert.« Aus einem der Nebenräume drang ein halblautes Summen und wiederholte sich in regelmäßigen Abständen. Ich spürte, wie ihre Muskeln sich spannten, wie die gelöste Stimmung innerhalb eines Atemzugs von ihr wich. Sie drehte den Kopf von meinem Mund weg. »Lass es summen«, hauchte ich. »Es ist unwichtig!« »Nein, nein.« Sie rollte sich unter mir weg und sprang auf. In betörender Nacktheit watete sie durch die Kissen bis zur Tür. Augenblicke später hörte ich sie flüstern. Ein einziges Wort verstand ich. Sie sagte laut »Idiot!« und legte auf. Als sie zurückkehrte, trug sie bereits ein Badetuch um den Körper gewickelt. »Schade«, kommentierte ich und begann mich anzuziehen. »Es tut mir leid, Monsieur!« »Wir können den netten Abend gern ein anderes Mal fortsetzen, Comtesse.« »Wie? Ach so, ja. Es wäre schade, es nicht zu tun.« »Geschäftliche Probleme? Wenn Sie meine Hilfe brauchen …« Sie wehrte ab und ging hinüber zum Wandschrank. Ich sah, wie sie aus einem Schächtelchen ein Pulver nahm, es in ein Glas Wasser
schüttete und dann hastig trank. »Es sind keine geschäftlichen Probleme, nur eine Maschine …« Zum Glück war sie keine Mutantin, sonst hätte sie registriert, wie mein Blutdruck hochschnellte und sich die Schweißabsonderung meiner Haut schlagartig vervielfachte. Dennoch schien sie etwas zu bemerken, vielleicht das Zucken meiner Lider. Blitzartig wandte sie den Kopf und sah mich an. »Was würden Sie Colombé raten, Monsieur?« »Sein Geschäft zu verkaufen.« »Lohnt es sich denn, ihn und die Perlenzucht zu übernehmen?« »Beide sind in diesem Sternensektor Monopolisten. Die Chance, dass sie Konkurrenz erhalten, ist gering.« »Sie sind ein kluger Mann, Monsieur Monmartin. Und bescheiden.« »Es gibt Dinge auf der Welt, die sind wichtiger als Geld. Meine Familie ist für viele Generationen abgesichert. In hundert Jahren wird sich mein Vermögen versechsfacht haben. Warum sollte ich mehr arbeiten, als unbedingt nötig ist? Schauen Sie Colombé an! Er ist hundertmal reicher als ich, aber er ist unzufrieden und unglücklich.« Ich schlüpfte in meine Lackschuhe und ging zur Tür. »Au revoir, Comtesse!« »Au revoir, Monsieur!« Ohne mich noch einmal umzusehen und vor allem ohne etwas anzufassen, ging ich hinunter, verließ das Haus über die Terrasse, entriegelte den Gleiter und startete. »Zurück zum Haus!«, trug ich dem Autopiloten auf. Unterwegs schleuste ich eine winzige Sonde aus und steuerte sie den Hang hinauf in die Nähe des Parks. Aus einem halben Kilometer Entfernung beobachtete sie die Villa. Es tat sich nichts. Die Comtesse hatte alle Lichter gelöscht, aber sie flog nicht ab. Sie entfernte sich auch nicht zu Fuß. Dabei hätte ich darauf gewettet, dass sie das Haus ziemlich eilig verlassen würde. »Du wirst Monsieur Monmartin einiges erklären müssen« meldete sich der Extrasinn.
»Es spielt jetzt keine Rolle. Rico ist hier irgendwo auf Montagne.« Mit der Maschine konnte die Comtesse nur den entführten Roboter gemeint haben.
»Es sind Mikrospione verbaut«, erklärte ich. »Dafür hat die Ausstattungsfirma gesorgt. Sie können die Positionen auf dem Display ablesen. Sie dienen dazu, mögliche Spione abzulenken. Sie werden versuchen, die Wanzen für sich zu nutzen. Bis sie es geschafft haben, ist die Aktion längst vorbei. Der unscheinbare grüne Knopf, den ich vorhin gedrückt habe, schaltet übrigens den Abhörschutz ein. Während dieser arbeitet, läuft eine Simulation, in der harmlose Gespräche stattfinden. Dass immer ein genügend großer Vorrat davon zur Verfügung steht, dafür müssen Sie und Ihre Angestellten sorgen.« »Das ist kein Problem«, nickte Nikos Themosthenes. »Gut. Kommen wir zum Wesentlichen. Ich brauche eine Übersicht über alle Informationen, die wir bisher besitzen.« »Viel ist es nicht. Die Abteilung Nord meldet, dass automatische Sonden in einem normalerweise völlig menschenleeren Waldreservat einen aufgebracht wirkenden Mann ausgemacht hätten. Der übermittelnde Agent hat sich fast dafür entschuldigt, eine solche Nebensächlichkeit kundzutun, aber unsere Leute auf Montagne vermuten in dieser Gegend schon seit langem einen versteckten Stützpunkt der Union Étoiles, haben allerdings nie Beweise dafür aufbringen können. Die Abteilung Süd hat den verdeckten Einkauf von ausgefallenem mikrochirurgischem Werkzeug registriert. Die Personalien des Käufers müssen erst noch festgestellt werden. Ein Agent beschattet ihn.« »Lassen Sie überprüfen, wann der Mann durch den Wald lief. War es heute Nacht nach 0.30 Uhr? Wir brauchen alle Spuren, die er im Wald hinterlassen hat. Fußabdrücke, Urin oder sonstiges. Und natürlich die Stellen, wo er den Wald betreten und wieder verlassen hat.« »Wird erledigt, Monsieur!« »Noch was, Major! Die Comtesse interessiert sich für Ihr Geschäft. Sie will es in ihren Besitz bringen. Ob durch Kauf, Raub oder Erpres-
sung, ist offen.« »Sie haben die Comtesse …« »Ich fand gestern Abend unter meinem Gleiter ihre Visitenkarte mit einer Einladung. Leider wurde unser mitternächtliches Schäferstündchen durch einen Anruf gestört. Er hat sie erregt, sie ist nervös. Etwas läuft nicht so, wie es laufen soll.« »Rico?« »Rico! Sie versuchen wichtige Informationen aus ihm herauszuholen, aber es funktioniert offenbar nicht. Den Käufer der Mikroinstrumente dürfen wir auf keinen Fall aus den Augen verlieren.« »Ich kann einen Zugriff anordnen.« »Auf keinen Fall! Das würde die Existenz des Roboters bedrohen. Wenn sie ihn mit Gewalt öffnen …« »Ich verstehe, Sir!« Ein Angestellter des Geschäfts trat ein, im Hauptberuf USO-Spezialist wie alle, die in Themos Geschäft ihren neuen Job angetreten hatten. »Die ersten Fahrzeuge und Gleiter der Medien sind im Anflug«, meldete er. »Danke, Boyles«, sagte Themo. »Wir sind soweit.« Er schaltete den Abhörschutz aus und trat hinaus in den Verkaufsraum, während ich durch die Hintertür ins Nebengebäude ging, dort den Keller aufsuchte und durch einen Fußgängertunnel auf die andere Straßenseite wechselte. In einem Hinterhof wartete ein Gleiter mit verdunkelter Kanzel, der mich zurück ins Stadtzentrum brachte. Zu Fuß kehrte ich von dort in »meine« Firma zurück, um eine halbe Stunde später zur offiziellen Eröffnung des Perlengeschäfts aufzubrechen, diesmal in meinem Privatfahrzeug und mit Higgins als Chauffeur. Vertreter der Medien waren zugegen, der Bürgermeister und alle seine Amtsleiter, die wichtigsten Repräsentanten der Wirtschaftsverbände und – darauf hätte ich meinen Zellaktivator verwettet – inkognito und unerkannt Vertreter der Union Étoiles. Nur die Comtesse trat nicht in Erscheinung. Ich ging davon aus, dass sie sich nicht mehr in Bellevue oder Margaux aufhielt. Das war erst recht ein Grund, den Aufenthaltsort des Roboters so
schnell wie möglich ausfindig zu machen. »Hiermit eröffne ich auf Montagne die Spezialhandlung für Original-Terranische Naturperlen!«, verkündete Nikos Themosthenes stolz. Die Medien übertrugen seine Worte über die gesamte Freihandelswelt, doch kein Außenstehender ahnte, dass der Text zu dem Plan gehörte, den wir in Clantervoss erarbeitet hatten. Er war das Startzeichen für »Unternehmen Robosearch«. Bis zum verlängerten Ende der Auktion blieben noch sechs Tage. »Rico!« dachte ich. »Halte durch! Es dauert nicht mehr lange.«
Galbay-Informationshandel 5 »Die letzte Chance – die Zeit läuft ab …« Der Planet Combine, hieß es, sei eine einzige Spielhölle. Wer nach Combine ging, kehrte entweder als Bettler oder als Gangster zurück. Die Welt Combine fraß nicht nur jeden, der zu ihr kam, sondern selbst ihre eigenen Kinder. Combine, das war der Abgrund des Universums, ein Schlund wie ein Schwarzes Loch mit einem einzigen Unterschied: Ab und zu stieß der Schlund auf und spie ein paar Schiffe und ihre Besatzungen wieder aus, während ein Black Hole nichts wieder hergab. Auf Zerog Fantor machte der Planet zurzeit einen völlig anderen Eindruck. Die Abfertigung in den Orbitalstationen verlief reibungslos, der Shuttletransfer zur Oberfläche ebenfalls. Am Shuttlebahnhof warteten zahlreiche Infoterminals sowie menschliche Scouts, die über alles und jeden Bescheid wussten. Fantor ließ sich erst einmal die Adresse eines billigen Hotels geben, in dem alle jene unterkamen, denen das große Geld für fürstliche Residenzen fehlte. Ihr Ziel war es, Combine mit mindestens soviel Geld zu verlassen, dass es dafür reichte, die nächsten hundert Jahre in Luxusvillen zu nächtigen und in Schlössern zu wohnen. Der eigene Asteroid, voll ausgebaut und ausgestattet wie ein Palast – sowohl oberirdisch als
auch unterirdisch –, dazu eine Luxusjacht, das war das Mindeste, was einer verlangen konnte, wenn er einmal auf Combine gewesen war. So sagte es zumindest der Volksmund. Zerog Fantor wusste, dass es sich um ein Märchen handelte, eines jener Märchen, an die sich die Abenteurer und die ewig Glücklosen klammerten wie Schiffbrüchige an den sprichwörtlichen Strohhalm. Combine – irgendwie strahlte der Name auch etwas Verruchtes aus, ein Leichtes Mädchen oder – nach der Vorstellung eines Ertrusers – eine alte Vettel mit schmutziggrauem Haar und langen, scharfen Fingernägeln, die aus einer umwölkten Kristallkugel die Zukunft las. »Folgen Sie immer dieser Straße«, sagte der Scout. »Nach ungefähr hundert Kilometern finden Sie auf der linken Seite ein großes Brachland. An dessen hinterem Ende ist beim Abriss der Gesamtkomplexe ein Gebäude stehen geblieben. Das ist die Herberge ›Zum Sauren Fleisch‹.« Fantor hasste Sauerfleisch, aber er ahnte dunkel, dass es sich in diesem Fall wohl eher um eine saure Ausdünstung von Lebewesen handelte und nicht so sehr um die galaxisweit bekannte Delikatesse der Überschweren. »Hier!« Er schnippte dem Scout ein Trinkgeld entgegen. Der fing es geschickt auf und verbeugte sich artig. »Stets zu Ihren Diensten, Monsieur!« Der Ertruser stopfte die Zeigefinger in die Ohren und drehte sie. »Was war das für ein Wort? Mössjöh?« »Dasselbe wie Herr oder Sir, Sir! Die hiesigen Würdenträger und Mächtigen verwenden es als Anrede. Ich glaube, es stammt aus dem Bergland.« Bergland, Bergland – Fantor überlegte krampfhaft, woran es ihn erinnerte. »Weißt du, was? Du kennst dich hier sehr gut aus. Hättest du Interesse, ein paar Tage den Fremdenführer für mich zu geben? Gegen Bezahlung, versteht sich.« »Herzlich gern. Ich bin für alles zu haben, nur nicht für Sex.« »Sex?« »Wir sind auf Combine, Sir. Da gibt es für Geld alles, selbst Todes-
qualen.« Fantor griff an seinen Gürtel und zog ein paar Creditchips hervor. »Hundert Solar pro Tag, einverstanden?« »Mit dem größten Vergnügen.« Die Chips wechselten den Besitzer. »Dann komm.« »Ich bin Mitchell, Monsieur.« »Du kannst mich Herib nennen.« Fantor mietete einen Gleiter, der sie zur Herberge brachte. Unter anderen Umständen hätte der Ertruser einen weiten Bogen um eine solche Absteige gemacht, aber er war beruflich hier. Und er konnte riechen, wo Informationen zu holen waren. »Sie sind zum ersten Mal hier, Monsieur Herib?« »Ja. Ein bisschen Erholung habe ich bitter nötig.« »Dann sind Sie hier verkehrt, Monsieur. Wenn Sie Erholung brauchen, fliegen Sie nach Terre-Haute. Combine ist etwas für Leute, die sich ihre Langeweile vertreiben wollen.« Fantor lachte. »Auch gut. Wenn es zu anstrengend für mich ist, kann ich immer noch wechseln. Hast du Familie?« »Natürlich. Acht Brüder und zwölf Schwestern. Wir wohnen im Hinterland. Meine Eltern Eins, Zwei und Drei, deren Großeltern, die Onkel und Tanten. Wenn Sie mir gefallen, Sir, lade ich Sie für einen Tag zu mir nach Hause ein.« Zerog Fantor hatte schon viel über fremdartige Sitten und Gebräuche auf terranischen Kolonialwelten gehört. Das hier aber war ihm fremd. »Eltern Eins, Zwei und Drei, was ist das?« »Wir Kinder haben nicht alle dieselben Eltern. Und sie sind untereinander auch nicht blutsverwandt. Eine Kommune sozusagen. Wir Menschen passen uns in unseren Strukturen und Begriffen den Einheimischen an.« Der Gleiter landete vor einem uralt wirkenden Gebäude. »Zum Sauren Fleisch« stand auf der Leuchttafel. Ein Portier in roter Phantasieuniform mit goldenen Tressen und Epauletten hatte sich vor der Tür aufgebaut und rührte sich erst, als das Fahrzeug zum Stillstand kam. »Gehen Sie voraus, Herib«, sagte der Scout. Fantor musterte ihn mit einem prüfenden Blick. »Ist das hier so
üblich?« »Die niederen Ränge kommen immer ganz hinten. Das war schon immer so.« Der Ertruser stieg aus. Der mindestens vierzig Zentimeter hohe Zylinder des Portiers fing bedenklich an zu wackeln. Seine Beine zuckten nervös und trieben ihn schließlich die Stufen hinab. »Willkommen, geben Sie mir ruhig Ihr Gepäck, Monsieur. Ich trage es.« »Mein Gepäck kommt später. Es wurde versehentlich nach – wie hieß der Planet noch, Mitchell?« »Terre-Haute?« »Danke, nach Terre-Haute geschickt. Ich schätze, übermorgen ist es da.« Dass er völlig ohne Gepäck reiste, ging keinen etwas an. Außerdem war es ein Zeichen für reiche Leute, ohne Gepäck zu reisen. Wer Geld hatte, kaufte sich alles am Urlaubsort und ließ es bei der Abreise dort liegen oder – schenkte es seinem Scout. Fantor fuhr herum. »Was hast du gesagt?« »Nichts. Kein Wort!« »Zum Zimmer!«, knurrte der Ertruser den Portier an. »Ich eile, ich fliege!« Mit wehenden Rockschößen rannte der Mann die Stufen hinauf und riss die Tür auf. Sie quietschte erbärmlich, aber das störte hier offensichtlich niemanden. Von den Scharnieren rieselte Rost zu Boden, den der Luftzug ins Foyer trug. Im »Sauren Fleisch« sah es innen vergleichsweise nobel aus. Säulen erhoben sich links und rechts im Halbkreis. Sie waren allerdings aus Metall, Stützen eben, die das Hotel trugen und dafür sorgten, dass es nicht einstürzte. An den Wänden hingen Gobelins, die meisten mit durchgescheuerten Stellen. Es waren wohl Bettvorleger aus ehemals benachbarten Hotels, die dem Abriss zum Opfer gefallen waren. Hinter dem Tresen stand eine junge Frau mit Stupsnase, schwarzblauem Haar, rehbraunen Augen und klapperdürr wie ein Klettergestell an einer Hauswand. Ein Duft wie von Süßholz umgab sie. »Meine Schwester«, stellte Mitchell sie stolz vor. »Hallo, Lady Sister«, knurrte Fantor launig. »Hätten Sie zwei Ein-
zelzimmer für uns?« »Gern, Sir. Bitte tragen Sie sich ins Gästebuch ein. Ihren Ausweis bräuchte ich noch für die Anmeldung bei der Behörde.« Zerog Fantor kannte das Verfahren. Es besaß überall in der Milchstraße Gültigkeit. Er schob hundert Solar über den Tresen, gefaltet in der Größe eines positronischen Reisedokuments. Auf dem Schein klebte ein Zettel mit der Aufschrift »Ausweis«. Damit war für die junge Frau an der Rezeption den gesetzlichen Bestimmungen Genüge getan. Der Ertruser nannte seinen Namen, erhielt seine Meldebestätigung und war sicher, dass niemand in dem Hotel auf den Gedanken kommen würde, den Gast tatsächlich anzumelden. »Herib Ertpott von Ertrus, herzlich willkommen!«, sagte das Mädchen. »Hier die Zimmerschlüssel. Dritter Stock!« Es handelte sich um einen veralteten Positronikschlüssel, dessen Kodierung jedes Schulkind hätte auslesen können. Einem Einbrecher leistete so etwas keinen Widerstand. »Der Antigrav ist dort hinten.« Die junge Frau lächelte freundlich. Am Antigravschacht hing ein zerbeultes Schild. Er war offensichtlich bereits sei langem außer Betrieb. Durch das Glasfenster sah Fantor eine Frau an einem maroden Reinigungsroboter unbestimmbaren Alters herumschrauben, dessen rechtes Bein notdürftig durch eine Drahtwicklung stabilisiert wurde. »Meine Tante«, erklärte Mitchell. »Ein Familienbetrieb also.« »Es darf nur niemand erfahren, Monsieur Herib. Als Scout darf ich nicht auf Betriebe der eigenen Familie aufmerksam machen. Sonst wirft man mich aus der Zunft.« »Verstanden. Ich halte den Mund.« Sie suchten ihre Zimmer auf. Fantor machte sich daran, den beinahe kärglich ausgestatteten Raum auf Wanzen oder ähnliche Abhörvorrichtungen zu untersuchen. Er fand nicht einmal einen doppelten Spiegel und schon gar keine versteckte Kamera. Dafür fing es ihn sofort an zu jucken, kaum dass er sich auf das Bett gelegt hatte. »Auch die Flöhe und Wanzen gehören zum Großen und Ganzen«,
zitierte er den Lieblingsspruch des bekannten ertrusischen Showmasters Lotho Ulmas. Fantor zog einen Zahnstocher aus der Jacke, einen Schreibstift, sein Nagelbesteck und den Mikrochip, den er auf Vanderbild aus dem Toten herausgeschnitten hatte. Er zerlegte mehrere der Gerätschaften und setzte sie völlig neu zusammen. Innerhalb von weniger als einer Minute entstand so ein handgroßes Gestänge, in das er den Chip einsetzte. Anschließend fügte er auf der Oberseite den kleinen Taschenspiegel ein. In der Glasfläche erschien eine Schrift. Es war Interkosmo, wie es überall in der Milchstraße geschrieben wurde. Fantor sah mehrere Kodes und Hinweise sowie eine Reihe von Namen, darunter auch die der Planeten Combine und Terre-Haute. Das alles hatte er während der drei Flugpassagen schon gelesen. Jetzt sah er auch, woran ihn der Begriff »Bergland« erinnerte. An Montagne, den Namen aus dieser merkwürdigen alten Terra-Sprache. Hatte Mitchell Montagne gemeint? Aufmerksam ging Zerog Fantor alle Daten des Chips durch und prägte sie sich erneut ein. Anschließend zerlegte er das Lesegerät und verstaute alles wieder am Körper. Er klopfte an die Wand. »Mitchell, kommst du bitte herüber?« Der Scout erschien Augenblicke später. »Setz dich. Kannst du dich zufällig erinnern, aus welchem Bergland diese Anrede stammt?« »Monsieur? Ich hörte es jemanden sagen. Ich weiß nicht einmal mehr, wo das war.« »Könnte mit dem Bergland Montagne gemeint sein?« Ratlosigkeit zeigte sich auf dem Gesicht des jungen Mannes. »Ich weiß es wirklich nicht, Sir!« »Gut. Nächste Frage: Wo kann ich mich hier in der Gegend amüsieren und eventuell eine Antwort auf diese Frage finden?« »Es gibt Tausende Adressen.« »Ich verlasse mich ganz auf deine Kenntnisse.« »Wann wollen Sie aufbrechen, Herib?« »Von mir aus gleich.«
Eine Ebene voller Irrlichter, das war Fantors erster Gedanke, als er Zentora dort unten liegen sah. Jedes Gebäude warb mit einem Funkenregen für seine Attraktionen oder sandte farbig pulsierende Laserstrahlen in alle Richtungen. Kein Effekt glich dem anderen. Die Farbkombinationen zwischen orange und violett bildeten faszinierend unverwechselbare Muster. Fantor empfand sie als fremdartig, gar nicht so, als wären sie von Menschen oder deren Nachkommen produziert worden. Viele Kolonisten neigten eher dazu, ihre irdische Heimat nachzubilden und nachzuleben und beides in überzeichneter Weise. Das hier erinnerte weder an Terra noch an eine andere Welt, auf der in den vergangenen tausend Jahren Menschen gelebt hatten. Combine war keine Sekundärkolonie, die von einer anderen terranischen Pflanzwelt aus besiedelt worden war. Ob sie ihrem Namen als Freihandelswelt gerecht wurde, vermochte der Ertruser nicht zu sagen. Den Begriff an sich hatte er seit seiner Ankunft kein einziges Mal gehört. »Wenn Sie den Abend mit einem guten Essen verbringen wollen, kann ich Ihnen eine Reihe Lokale empfehlen«, sagte Mitchell von hinten. »Keine schlechte Idee. Leg los!« Fantor fragte besser nicht, ob sie von seiner Familie betrieben wurden. Am Schluss stellte sich noch heraus, dass ganz Zentora ihr gehörte und ein gigantisches Familienunternehmen war. »Die kentonische Küche ist sehr zu empfehlen. Sie ähnelt der terranischen, aber die Portionen sind größer. Natürlich verfügt jedes Restaurant über entsprechende Herde und Öfen, um Speisen für Ertruser und Überschwere zu bereiten.« »Was ist mit der combinischen Küche?« »Für Menschenabkömmlinge ungenießbar. Die kentonische Küche ist die angepasste Variante.« »Und wo ist das Essen am vielfältigsten, abwechslungsreichsten, viele Vitamine und Kohlenhydrate, viel Eiweiß und wenig Fett?« »In der Schanz. Das ist dieses grün-grau melierte Viertel, das sich rechts unterhalb des Gleiters erstreckt.«
»Gut, wir nehmen das beste Lokal.« »Schon die Vorspeise kostet über hundert Solar, Herib!« »Sehe ich aus wie ein Bettler? Gut, reich bin ich nicht. Nach den Maßstäben der Einheimischen wäre ich vermutlich ein Nichts, ein Niemand.« »Die Bonzen sind nicht die Einheimischen, Sir!« Mitchell wies dem Ertruser einen Parkplatz zu, auf dem er den Gleiter absetzte. Er führte ihn nicht in ein vornehmes Restaurant, sondern in eine Kneipe, die ein Stück abseits der Promenade in einer kleinen Gasse lag. Es roch nach Kerzenwachs, als sie eintraten. Die Tische der vorderen Abteilung waren ohne Ausnahme unbesetzt. Der Scout, dem Fantor die Führung überließ, ging ihm voraus durch die zweite in die dritte Abteilung. »Ist Ihnen dieser Tisch recht, Sir?« Der Ertruser senkte zustimmend den Kopf. Auffällig war die Ruhe in dem Lokal. Es wurde kaum geredet, und wenn, dann flüsterten die Gäste untereinander. »Geisterzeit!«, hauchte Mitchell auf Fantors fragenden Blick. »Erst essen sie, dann die Menschen.« Fantor nahm so leise wie möglich Platz. Da ein Stuhl nicht für ihn ausreichte, zog er einen zweiten heran. »Sehen Sie«, flüsterte der Scout. »Wer auf zwei Stühlen sitzt, bekommt automatisch zwei Portionen, die er auch bezahlen muss.« »Und ich kann den Stuhl wieder zurückschieben?« »Wenn die Götter es merken, wird Ihr Essen sauer sein.« »Saures Fleisch gewissermaßen.« »Es ist einer der wichtigsten Bestandteile der combinischen Weltanschauung.« Zerog Fantor überlegte. Inzwischen hatte er sich so weit von seinem Einsatzgebiet entfernt, dass eine Kontaktaufnahme mit der Zentrale auf Ertrus so gut wie unmöglich war. Er glaubte kaum, dass Oberst Tarak ihm ein halbes Dutzend Protokollanten an die Fersen geheftet hatte. So gesehen war er allein auf sich gestellt und war gut beraten, sich in der Fremde nicht unnötig Feinde zu schaffen. Die Geister lauerten vermutlich hinter den Papierwänden, in die sie mit kleinen Holzspießen feine Löcher gestanzt hatten.
Er beschloss, lieber zwei Mahlzeiten zu bezahlen, als sich eine Blöße zu geben. Zuviel stand auf dem Spiel. Noch war er nicht am Ende der Suche, aber seit er die Informationen des Chips ausgelesen hatte, wähnte er sich seinem Ziel ganz nahe. Drei Kellner kamen, um die Bestellung der drei Mahlzeiten aufzunehmen. Fantor orderte zwei Liter Bier für sich und fünf Liter für seine bessere Hälfte. Bei den Menüs ließ er sich von Mitchell beraten. Dazu war ein Scout schließlich da. Als die Kellner sich zurückzogen, schienen sie ausgesprochen zufrieden zu sein. Fantor entdeckte einen jungen Mann am Durchgang zur zweiten Abteilung. Er machte den Scout auf die Person aufmerksam. »Einer deiner Brüder?« »In der Tat. Sie lernen schnell, Herib.« Er erhob sich. »Kein Wunder bei meinem Beruf«, dachte der Ertruser. »Ohne diese Fähigkeit würde ich den Rindern längst beim Garen von unten zusehen.« Noch nie in seinem bisherigen Leben hatte er sich die Frage gestellt, ob es für ihn nur ein Beruf oder eine Berufung war, als Agent für den Geheimdienst zu arbeiten. Jetzt tat er es, und er fragte sich nach dem Auslöser. Er blickte zu den beiden jungen Männern hinüber, die sich mehr mit Augen und Händen als mit dem Mund unterhielten. Der Meinungsaustausch dauerte unerwartet lange. Als Mitchell zum Tisch zurückkehrte, blickte er ausgesprochen ernst drein. »Auf Combine ereignen sich merkwürdige Dinge«, berichtete er. »Von Montagne kommen Schiffe mit Soldaten herüber. Es sieht so aus, als wolle die Direktion alle Freihandelswelten in Festungen verwandeln. Vor jeder Stadt geht ein Schiff in Stellung.« »Was befürchten sie?«, überlegte Fantor. »Der Akone kann unmöglich vom Inhalt des Chips Kenntnis haben. Die Ursache muss woanders liegen.« »Mitchell, sind Angehörige weiterer Milchstraßenvölker eingetroffen? Epsaler, Plophoser, Leute vom Imperium Dabrifa oder von der ZGU?« »Mein Bruder hat nichts dergleichen gehört.« »Irgendetwas ist im Gange.« Er hätte zu gern gewusst, was es war.
»Werden die Brüder etwa nervös?« Noch schien es nicht an die Öffentlichkeit gedrungen zu sein, dass die Union Étoiles hinter der Auktion steckte. Dennoch – von irgendeiner Seite schien Gefahr zu drohen, sonst wäre man auf Montagne nicht nervös geworden. Der Aufmarsch der Truppen konnte nur eines bedeuten. Die UÉ befürchtete das Einsickern von Agenten oder fremden Einsatzkräften. Sie würden die Raumhäfen sperren, anfliegende Schiffe schon außerhalb der betroffenen Sonnensysteme umleiten und die Städte durchkämmen. Auch die Herberge »Zum Sauren Fleisch«. »Sie sind in Gefahr, Herib«, stellte Mitchell fest, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Was haben Sie getan, dass man Sie sucht?« »Nichts. Ich habe nichts getan. Ich weiß lediglich zuviel. Irgendwo in der Führungsspitze der Organisation befürchtet jemand, man könnte ihm auf die Schliche kommen, ehe die Auktion vorüber ist.« »Der Handel mit Informationen ist wirklich so gefährlich?« »Normalerweise nicht. Aber in diesem Fall handelt es sich um hochbrisantes Wissen über die USO. Der Anbieter hat es sich mit Sicherheit illegal beschafft, durch die Anwendung von Gewalt oder Schlimmerem. Seither beteiligen sich alle Geheimdienste und Imperien daran, dieses Wissen zu erkaufen und für eigene Zwecke zu nutzen.« »Ich danke Ihnen, Sir. Ihre Aufrichtigkeit hilft uns weiter.« Die Speisen und Getränke kamen. Der Ertruser und sein Scout verhielten sich schweigend, damit die Götter vor ihnen essen konnten, ohne durch Lärm vertrieben zu werden. Ein zweites Mal tauchte Mitchells Bruder in Lokal auf, diesmal wechselten die beiden jungen Männer nur wenige Worte. Hastig kehrte der Scout zum Tisch zurück. »Lassen Sie Ihr Essen stehen, wir verschwinden lieber«, flüsterte er. Fantor nahm einen letzten Schluck des grün schimmernden Biers, legte das Geld für die Rechnung unter den Teller und folgte ihm ins Freie. Draußen wartete der Bruder.
»Sie durchkämmen ganz Zentora und alle übrigen Siedlungen des Planeten. In den Raumhäfen durchforsten sie die Einreiseregister und sie durchsuchen die Hotels und Herbergen. Es heißt, Zehntausende Soldaten seien im Einsatz.« »Das ist bedenklich«, stimmte Fantor zu. »Am besten bringt ihr mich von hier weg.« »Wo wollen Sie denn hin?« »Nach Montagne.« »Vielleicht finden wir eine Möglichkeit«, sagte Mitchell. Auf dem Herflug war es ruhig gewesen, ab und zu ein Gleiter oder ein Bodenfahrzeug. Jetzt wimmelte es in Zentora von Mannschaftsfahrzeugen, Flugscheiben und Lastentransportern. Zerog Fantor lenkte den Gleiter nach den Anweisungen von Mitchells Bruders. Erst flogen sie parallel zur Küste, danach bogen sie ab ins Landesinnere. Nach einer halbe Stunde zeichnete sich in der Abenddämmerung die Silhouette eines Gebirges ab. »Bernia Eins«, verstand Fantor den Bruder. »Dahinter Bernia Zwei und Drei.« »Verstehe. Ihr bringt mich zu eurer Familie.« Mitchell schüttelte heftig den Kopf »Nein, Herib. Wir bringen Sie nach Montagne. Vielleicht ergibt sich später einmal die Gelegenheit, Sie mit unserer Familie bekannt zu machen.« »Wie auch immer, ich danke euch für eure Hilfe.« Der Ertruser steuerte den Gleiter abwärts zu einem Bergkamm, der mit schwarzem Moos bewachsen war. Je tiefer das Fahrzeug sank, desto wuchtiger und massiger sah das vermeintliche Moos aus. Als sie schließlich auf dem weichen Untergrund landeten, ragte das pelzige Geflecht rund um den Gleiter mehrere Meter in die Höhe. »Wundern Sie sich nicht. Sie werden etwas erblicken, was Sie noch nie in Ihrem Leben gesehen haben«, warnte Mitchell ihn. »Dazu müssen Sie aber aussteigen.« »Ihr kommt nicht mit?« »Wir bringen den Gleiter zurück. Was hier vor sich geht, ist nicht für unsere Augen bestimmt. Nicht jetzt.« Mitchell öffnete die Tür. »Bitte, Herib. Gute Reise!«
»Beeilen Sie sich«, drängte der Bruder. »Die Kerle beginnen sich für die das Hotel zu interessieren.« Fantor nickte. »Wo ist eure Schwester?« »Nicht mehr dort. Gehen Sie jetzt, Sir!« Zerog Fantor blieb nichts anderes übrig, als auszusteigen. Draußen roch es leicht modrig, aber als er ein paar Schritte gegangen war, veränderte sich die Ausdünstung der Flechten. Irgendwie erinnerte es ihn an Süßholz. Fast gleichzeitig entdeckte der Ertruser das Mädchen im Schatten. »Lady Sister?« Sie trat ihm entgegen, mit diesem typisch süßlichen Geruch. Er wunderte sich, dass ihr dürrer Körper zu derart grazilen Bewegungen fähig war. »Wir dürfen keine Zeit verlieren, Fremder. Bleiben Sie dicht hinter mir.« »Wohin bringen Sie mich?« »Hat Ihnen mein Bruder diese Frage nicht beantwortet?« »Nach Montagne. Aber müssten wir dazu nicht zuerst zum Raumhafen?« Sie lächelte ihn aus ihren unergründlichen Augen an. »Wir haben hier einen Raumhafen.« Der Ertruser kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er ging hinter ihr her, versuchte Sichtkontakt zu halten und ihr gleichzeitig nicht auf die Absätze zu treten. Plötzlich schlug er sich gegen die Stirn. »Ich hatte kein Gepäck bei mir, aber ich habe meine Waffe im Hotel gelassen. Sie wird mich und euch verraten.« »Keine Sorge, Sir. Die Waffe habe ich in Sicherheit gebracht. Niemand wird sie finden außer Ihnen.« Er nahm an, dass sie ihn in ein Versteck führte, in dem er ausharren konnte, bis der Weltraum über Combine wieder einigermaßen sicher war. Dort, wo das Moosgeflecht endete, führte eine Treppe in das Felsmassiv hinein. Dutzende von Glühwürmchen bewegten sich an den Wänden und verbreiteten grüngelb fluoreszierenden Schein. Fantor zählten die Stufen. Zweihundert waren es, bis das Mädchen die Hand hob und anhielt. »Nicht bewegen, der untere Teil der
Treppe wird gedreht.« »Altertümliche Methoden, aber meist wirksamer als Hightech«, dachte der Ertruser. Von der Drehung selbst bekam er nichts mit, nicht einmal Geräusche. Das Mädchen sagte etwas zu ihm, aber er hörte nichts. Die Mundbewegungen konnte er nicht deuten. Mitten im Satz setzte die Akustik wieder ein. »… kein Zugang mehr von oben. Dafür ist die Brücke über den Fluss frei«, verstand er. »Ihr habt mich doch richtig verstanden, oder? Ich muss zum Planeten Montagne. Das sind etliche Lichtjahre.« »Keine Sorge, die Combiner kennen den Weg.« »Die Combiner sind die Einheimischen, denen sich die Menschen angepasst haben?« »Ja. Sie nennen die Siedler Kentoner. Daher auch die kentonische Küche.« »Du bist auch eine Nachfahre der ersten Siedler, oder?« »Nein, ich bin eine Drei-Schwester.« »Was bedeutet das?« »Sie werden es bald sehen.« Die junge Frau ging weiter, und Fantor folgte ihr. An die Treppe schloss sich ein Felsenpfad an, der in einer geräumigen Höhle mündete. Am hinteren Ende erspähte der Ertruser eine steinerne Brücke, die zu einer weiteren Höhle führte. »Willkommen im Raumfahrtzentrum COMB-Eins«, sagte Mitchells Schwester. »Bitte bleiben Sie jetzt stehen. In wenigen Augenblicken werden Sie die ersten Combiner sehen. Folgen Sie den Einheimischen über die Brücke und halten Sie sich an ihre Anweisungen.« »Versprochen!« Das Mädchen veränderte sich vor seinen Augen. Das Gesicht, der Körper und die Kleider bekamen Risse. Lady Sister zerfiel in zwanzig Einzelteile, die aneinander herabkletterten und sich in einer Reihe aufstellten. Zerog Fantor sperrte Augen und Mund auf. »Was …« »Wir sind Drei-Schwester Eins bis Zwanzig«, hörte er ein dünnes
Stimmchen. Der Ertruser wich ein paar Schritte zurück und kniete sich dann auf den Boden. Im Vergleich mit den winzigen Wesen wirkte er jetzt erst recht wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt. Von der Größe her erinnerten ihn die Combiner an Siganesen. Allerdings waren sie viel schlanker, fast schlangenähnlich. Ihr Kopf mit den gelben Augen und den Schlitzpupillen war nicht breiter als der Körper. Kurz wie bei Lurchen waren Arme und Beine. Die Haut schimmerte in allen Farben des Spektrums. »Ich grüße euch, Combiner.« Noch immer starrte er die kleinen Wesen an wie ein Weltwunder. »Bitte folgen Sie uns jetzt über die Brücke, Ertruser.« Sie wuselten ihm voraus. Kurz vor der Brücke empfing sie eine Schar von mindestens hundert Artgenossen. In einer andächtigen Prozession ging es hinüber auf die andere Seite. Fantor wartete, bis alle Combiner drüben waren, dann folgte er ihnen. Der Höhlengang war niedrig, er musste sich bücken. Aber das störte ihn weniger als die ungeklärte Frage, wohin der Weg führte. Die Antwort erhielt er nach gut hundert Metern. Der Gang mündete in eine Höhle, die geometrisch exakt behauen war. In der Mitte erhob sich ein Felsmassiv, das in seiner äußeren Form an das Steuerterminal eines Raumschiffs erinnerte. Die Combiner versammelten sich vor dem Klotz. »Wundern Sie sich bitte nicht«, hörte er einen von ihnen sagen. »Es geht weiter!« In ihren Körpern bildeten sich Risse. Jeder Combiner zerfiel in zwanzig noch winzigere Gestalten, die wieder aneinander herabkletterten und sich nebeneinander aufstellten. Jetzt waren sie maximal noch zwei Zentimeter groß. Die vorderste Reihe verkündete laut: »Wir sind Drei-Schwester Eins bis Vierhundert.« Zerog Fantor verstand die Worte kaum noch, obwohl die Winzlinge aus Leibeskräften brüllten. Er hielt sich die Hand als Schalldämpfer vor den Mund und antwortete: »Ich vermute, das ist nicht das Ende eurer Kunst. Ihr seid Nanowesen, die sich zu jeweils größeren Komplexen zusammenfinden.«
»Ja!«, schallte es aus vielen tausend Mündern. »Bitte mitkommen!« Der Pulk verharrte auf der Stelle, nur einige wenige fanden sich zu einer Reihe zusammen, die ihm vorausging. Sie strebten der Mitte der Höhle zu. Hinter dem Zentralfelsen stand eine Liege aus Metall. »Bitte hinlegen!« Zerog Fantor schloss seinen Helm. Die Liege, auf der die Combiner ihn mit einem Brustgurt festschnallten, bot dem mächtigen Ertruser kaum den nötigen Platz. An dem Felsen schwenkten Steintüren zur Seite und gaben den Blick auf das Innere frei. Undeutlich erkannte Zantor, dass es sich um einen Höhlengang handelte, in dem rote Schienen verliefen. »Das kann nicht sein«, dachte Fantor. »Es ist eine optische Täuschung.« Einer der Combiner sprang auf die Liege und hielt sich an seinem rechten Ohr fest. »Ziehen Sie die Beine an, damit Sie in den Schrank passen!« Er tat es. Ein Zugmechanismus holte die Liege ins Innere des Schranks. Dann schlossen sich die Türen, und Zerog Fantor wartete. Nach einer Weile wurde er schläfrig. Verschwommen bekam er mit, dass es erst dunkel und dann hell wurde. Der Höhlengang mit den Schienen wuchs ins Riesenhafte. Dann setzte sich die Liege in Bewegung, beschleunigte rasend schnell und schoss auf ihren Schienen davon … Ein greller Blitz lähmte das Bewusstsein des Ertrusers. Als er nach einer Weile wieder zu sich kam, lag er noch immer auf der Liege. Über ihm schimmerten winzige Lämpchen, die sich bewegten. Glühwürmchen. Fantor wartete eine Weile darauf, dass jemand den Schrank öffnete. Als nichts geschah, drehte er seinen Körper ein Stück und sah sich um. Die Liege stand auf Schienen, aber diese waren grau. Ein Schrank oder ein steinerner Kasten existierte nicht. Der Ertruser tastete an sich herab. Die rechte Hand blieb an einem Hindernis hängen. Es war der Kombistrahler. Zerog Fantor löste den Brustgurt und richtete sich mit einem Ruck auf. Die Liege stand in einem Höhlengang. In beiden Richtungen war
kein Ende zu erkennen. Fantor stand auf, ging mit der Waffe im Anschlag los. Aufmerksam musterte er die Wände des Ganges und die natürlichen Nischen im Gestein. Combiner sah er nirgends, aber irgendjemand hatte Symbole in das Felsgestein geritzt. Pfeile. Sie wiesen in die andere Richtung. Der Ertruser machte kehrt und marschierte an der Liege vorbei. Hinter der ersten Biegung stieß er an eine Felsentür mit einem mechanischen Verschluss. Er drehte an dem Rad, bis sich die Tür zur Hälfte geöffnet hatte. Von draußen drängte heller Lichtschein herein. Fantor streckte den Kopf ins Freie. »Es kann nicht sein«, sagte er, und seine Stimme klang brüchig. »Oder doch?« Die Sonne, die auf den Höhleneingang schien, war keinesfalls die von Combine. Auch die Farbe des Himmels stimmte nicht. Er öffnete die Tür ganz und ging hinaus. Ein kleiner Felsbrocken in Bodennähe drehte sich ohne sein Zutun. Die Öffnung schloss sich wieder. Zerog Fantor stand an einem Felshang, von dem ein schmaler Pfad nach oben führte. Der Ertruser warf einen Blick auf seine Uhr und stellte fest, dass seit dem Verlassen des Lokals nicht einmal zwei Stunden vergangen waren. »Wo bin ich hier?« Er fand die Antwort, als er das Funkgerät einschaltete. »Es ist Montagne. Sie haben mich mit einer Transmitteranlage hergeschickt. Oder halluziniere ich?« Als Agent führte er Mittel bei sich, um das zu testen. Das Ergebnis war negativ. Er hatte keine Halluzinationen, und er träumte nicht. Er befand sich auf Montagne und musste nur herausfinden, an welcher Stelle. Niemand wusste von seiner Ankunft. Diesen Vorteil wollte Zerog Fantor nicht so schnell aus der Hand geben. Vorsichtig begann er mit dem Aufstieg.
Kapitel 9 Meine Augen brannten vom Starren auf die grüne Fläche des Displays. Immer wieder tauchten kurze Ortungsimpulse auf, Vögel, die von einem Baum zum nächsten flogen, oder kleine Tiere, die durch das Unterholz huschten. Über vier Stunden saßen wir schon im Gleiter, den wir am Rand des Schutzgebiets unter Büschen und Ranken versteckt hatten. Zwei Dinge wussten wir inzwischen. Der Mann, der nachts in diesem Tal aufgetaucht war, war offenbar ein Terraner gewesen, das hatte die Sprachanalyse seiner Lautäußerungen ergeben. Außer ein paar nichtssagenden Stiefelabdrücken hatte er keine Spuren hinterlassen. Und er war kurz nach eins durch den Wald gelaufen, also eine halbe Stunde, nachdem die Comtesse den Anruf erhalten hatte. »Bleib sachlich!« mahnte der Extrasinn. »Zu oft hast du dich in ähnlichen Situation schon zu unangemessenen Spekulationen hinreißen lassen.« »Wen stört es?«, gab ich knurrig zur Antwort. Letztendlich ging es darum, alle Spuren zu verfolgen und abzuklären, auch wenn sich in diesem Fall die Zielperson als harmlos herausstellen sollte. Schlimmer war, dass uns die Zeit weglief Etwas mehr als fünf Tage blieben noch, aber in dieser Situation durfte uns selbst das nicht irritieren. Es hätte uns alle nur verrückt gemacht. Zuviel stand auf dem Spiel. Das geheime Wissen über die USO barg jede Menge Sprengstoff in sich. Geriet es in falsche Hände, wurde nicht nur die Arbeit der United Stars Organisation wertlos, es gerieten auch stabile politische Systeme wie das Solare Imperium ins Wanken. Unter der ausbrechenden Anarchie und Willkür würden die kleineren Staatsgebilde am meisten leiden. Und Imperien wie Dabrifa würden wie nimmersatte Ungeheuer alles verschlingen, was nicht stark genug war, um sich erfolgreich zu wehren. »Da!«, sagte Higgins. »Ist da nicht etwas?« Der Orter schlug aus. Nordwestlich von unserem Versteck beweg-
te sich etwas. Ich starrte auf die Anzeige des Geräts, verfolgte den winzigen Punkt, der langsam von links nach rechts wanderte. Die Bewegung erfolgte gleichmäßig, nicht wie bei einem Tier, das immer wieder stehenblieb, um zu äsen oder vorsichtig Witterung aufzunehmen. Ich nickte Leutnant Higgins zu. Wir schlossen die Helme unserer Kampfanzüge und schalteten die Deflektoren ein. Sie machten uns unsichtbar, allerdings trugen wir feldliniensynchronisierte AntiflexBrillen, so dass wir uns gegenseitig sehen konnten. »Immer dicht am Boden bleiben«, erinnerte ich meinen Begleiter. Es war die beste Methode, einer zufälligen Ortung zu entgehen. Wir verließen den Gleiter, aktivierten die Flugaggregate, beschleunigten nach Nordwesten. Naturbelassener Wald ist schön, wenn man sich Zeit lassen kann, ihn zu durchqueren. Wir hatten es aber eilig, sehr eilig sogar. Ranken schlugen gegen den Anzug und die Helmscheibe, erzeugten schmatzende Geräusche. Ich riss den linken Arm hoch, einerseits zur Abwehr des Geästs, andererseits, damit ich das Display meines Kommunikators besser im Blick hatte. Die Signale kamen von einem Hügel jenseits des Taleinschnitts. »Gruppen Zwei bis Sechs kreisen das Ziel ein«, flüsterte ich. Die Positronik des Anzugs verschlüsselte und komprimierte die Anweisung und schickte sie via Gleiter an eine Boden-Relaiskette, die sie an die rund um das Schutzgebiet auf ihren Einsatz wartenden Gruppen verteilte. Die Relaiskette sorgte für kurze Funkstrecken mit minimaler Sendeenergie. Im Abstand von zwanzig Metern ließ sich der Funkspruch nicht mehr mithören. Wir flogen einen Meter über Grund. Der Orter zeigte übergangslos keine Bewegung mehr an. Vermutlich war die unbekannte Person stehen geblieben. Höchste Vorsicht war geboten. Handelte es sich wirklich um eine Person, die zur UÉ gehörte, konnte ein Zugriff zu Nachteilen für die Geisel führen, auch wenn es nur ein Roboter war. Weiter zu warten nützte aber auch nichts. Also überließen wir das Ausspähen nicht allein den Mikrosonden mit ihrem Nano-Ortungsschutz-Anstrich,
sondern nahmen die Sache selbst in die Hand. Ich projizierte die topografische Karte der Umgebung auf die Innenseite meines Helms. Ein paar Kilometer südlich unseres Standorts verlief die Grenze zwischen dem Sektor Nord und dem Sektor Süd des Schutzgebiets. Den Norden verwaltete Margaux, den Süden Perigneux. Dass auf einer Handelswelt wie Montagne überhaupt Naturschutzgebiete existierten, wunderte einerseits, weil hier der Profit im Vordergrund stand. Andererseits war der Planet nur dünn besiedelt. Die Bewohner bauten weder im größerem Umfang Agrarprodukte an, noch existierten industrielle Ballungsräume. Die Menschen benötigten den größten Teil der wirtschaftlich nutzbaren Fläche ihrer Welt einfach nicht, denn sie lebten ausschließlich vom Handel. Würde jemand – die UÉ etwa – ihnen den wegnehmen, wären sie gezwungen, ihr Leben schlagartig umstellen, um nicht zu verhungern. Higgins deutete nach vorn. »Da drüben muss er irgendwo sein.« »Ja, ich sehe ihn.« Der Mann war klein, hager und kahlköpfig, trug eine unauffällige blaugraue Kombination und schwarze Stiefel. Er ging schnell, aber nicht hastig, dabei achtete er darauf, immer in der Deckung der Büsche und Hecken zu bleiben. Sein Ziel schien der Hügelkamm zu sein. Und immer wieder warf er über die Schulter einen hastigen Blick nach hinten. Ich sah erneut auf die Karte. Hinter dem Kamm fiel das Gelände zu einer Straße hin ab, und dort lagen mehrere Hütten, die den Wächtern des Schutzgebiets als Unterkünfte dienten. Ich überlegte, was er dort suchte. Seinem Verhalten nach wollte er so schnell wie möglich von hier weg. Er brauchte also ein Fahrzeug und hoffte, es in einem der Schuppen unterhalb der Hütten zu finden. Plötzlich begann er zu rennen. Die Arme wie ein Ertrinkender den Ästen und Zweigen entgegengestreckt, hetzte er den Hang hinauf. Wo es ging, hielt er sich fest und zog sich weiter. Ein Gebüsch entzog ihn unseren Blicken. »Wovor rennt er davon?«, flüsterte Higgins. »Da ist nichts.«
Unsere Orter zeigten nichts an, kein Wärmebild, kein energetisches Echo, nichts. Dennoch … Völlig ohne Grund verfiel der Mann, den ich für einen Terraner hielt, nicht in Panik. Ich musterte den Wald, dessen graublaue und graugrüne Farben die Kontraste verwischten und deutliches Sehen erschwerten. Die Suche mit den Augen strengte ungemein an. »Ich sehe etwas, das sich bewegt«, antwortete ich. »Ja, jetzt ist es eindeutig. Hinter den Bäumen, auf der Höhe der nächsten Buschreihe – eine Gruppe von vier bis sieben Personen.« »Die Geräte zeigen nichts an, Sir!« Es klang fast wie ein Vorwurf, war aber einfach zu erklären. Die Unbekannten benutzten Antiortung und Infrarotunterdrückung. Sie verfolgten den Mann, und er hatte sie erst ziemlich spät entdeckt. Ihr Abstand zu ihm betrug nach meiner Schätzung keine zweihundert Meter, während wir mehr als das Doppelte entfernt waren. »An Gruppen vier bis sechs«, sagte ich leise. »Die Zielperson wird verfolgt. Wenn es geht, bringen Sie sie in Sicherheit, bevor ihre Verfolger sie erwischen.« »Verstanden!« Zehn Meter unter dem Hügelkamm blieb der Kahlköpfige stehen. Er schien erschöpft. Endlich humpelte er weiter, zog sich an mehreren Bäumen entlang und verschwand hinter dem Kamm. »Haben Sie ihn?« »Nein. Wir sind noch zu weit weg!« Ich entdeckte einen einzelnen Schatten dicht vor dem Kamm, eine Gestalt in einem dunkelblau glänzenden Anzug. Den Oberkörper nach vorn gebeugt, schnellte sie sich auf Zehenspitzen vorwärts. »Da ist ein Verfolger in Dunkelblau, ziemlich nah dran. Versuchen Sie ihn abzulenken.« »Noch außer Sicht!« Ich beschleunigte. Higgins blieb hinter mir zurück. Links drüben sah ich die Gruppe der Verfolger, die von ihrem Weg abwich und direkt hinauf zum Kamm kletterte. Sie versuchten, dem Fliehenden den Rückweg abzuschneiden. »Sie müssen den einzelnen Verfolger jetzt sehen«, flüsterte ich.
»Und den Flüchtling.« »Da ist eine Felsrinne, von Gebüsch eingerahmt. Wir sehen überhaupt nichts.« In diesem Augenblick war mir klar, dass wir zu spät kamen. Dem fliehenden Mann konnten wir nicht mehr helfen. Wir konnten nur hoffen, dass sie ihn einfangen, aber nicht ermorden wollten. »Sir, wir sehen eine dunkelblaue Gestalt auf dem Weg ins Tal, sie rennt wie der Teufel.« »Mann? Frau?« »Nicht zu erkennen. Die Bewaldung ist zu dicht.« »Versuchen Sie dran zu bleiben, ohne dass sie Sie bemerkt.« Es war schwierig. Sie mussten auf Sicht fliegen, ohne dass die Emissionen ihrer eigenen Schutzfelder bemerkt wurden. Ich erreichte den Hügelkamm und landete. Die übrigen Verfolger waren wie vom Erdboden verschluckt. Ich sah sie nirgends, hörte aber Geräusche von brechenden Zweigen. Ab und zu schlugen kleinere, wegrollende Steine aneinander. Vor mir lag die dicht bewachsene Felsrinne. Kleine, abgebrochene Zweige wiesen mir den Weg. Ich schaltete den Helmscheinwerfer ein und kletterte über den unregelmäßigen, scharfkantigen Boden der Rinne. Sie war leer. Als ich am unteren Ende des Einschnitts zum ankam, sah ich den kleinen Mann. Keine zehn Meter entfernt, lag er auf dem Rücken, die Hände um ein paar Wurzeln gekrampft, an denen er versucht hatte sich festzuhalten. Seine Brust war nass und rot, er blutete stark. Um ihn herum bildete sich eine dunkle Pfütze. Er hielt die Augen geschlossen, seine Brust hob und senkte sich schwach. Ich öffnete den Helm. »Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte ich und beugte mich über ihn. »Es ist Hilfe unterwegs.« Er versuchte die Augen zu öffnen, aber es gelang ihm nicht. Er hätte auch wenig gesehen, denn ich bewegte mich nach wie vor im Schutz des Deflektorfeldes. Ein Stöhnen drang aus seinem Mund. »Wwwo …« »Versuchen Sie gleichmäßig zu atmen. Der Medoroboter ist unterwegs.« »Wo … wo …« kam es ihm über die Lippen. Und dann klarer:
»Wwollen – Ssie – dden – Kopf- oder – nnicht?« »Nein. Sie können ganz beruhigt sein.« Seinen eigenen Kopf meinte er offensichtlich nicht, denn er sprach nur von dem Kopf. Welchen aber dann? »Sind Sie Positroniker?« »Jjaa …« Das Blut quoll mit einem Mal stärker hervor, seine Hände verkrampften sich. Der Rücken und das Becken kamen vom Boden hoch, während Schultern und Waden unten blieben. »Kennen Sie Rico?« Der Kopf des Mannes fiel zur Seite. Sein Körper erschlaffte. Übergangslos ließ der Blutfluss nach. »An alle«, sagte ich. »Der Dunkelblaue hat einen Mord begangen. Versuchen Sie, so lange wie möglich an ihm und den anderen Verfolgern dran zu bleiben, ohne dass Sie bemerkt werden. Wir müssen wissen, wo sie hergekommen sind.« Von diesem Wissen hing sehr viel ab. Eigentlich alles. Ich warf einen letzten Blick auf den Toten. Hier konnten wir nichts mehr tun. Ich hob den Kopf und sah Higgins stehen. »Wir geben den Aufsehern des Reservats einen anonymen Tipp. Sie sollen hier vorbeikommen. Dann werden sie den Toten finden und mitnehmen.« »Ich arrangiere das, Monsieur!« Wir folgten den Einsatzteams. Im dichter werdenden Wald jenseits des Flusses hatten sie die andere Gruppe aus den Augen verloren. Wenig später war aus einem der engen Seitentäler ein Gleiter aufgestiegen und nach Süden geflogen. Ich brach die Verfolgung ab. Auf direktem Weg kehrten wir zu unserem Fahrzeug zurück und beobachteten den fremden Gleiter eine Weile, bis er fünfzig Kilometer weiter südlich landete. Die Gruppe Süd übernahm den Fall. Ich wandte mich an Higgins. »Der Tote war Positroniker. Und er redete etwas von einem Kopf, den eine andere Person wollte. Das sind erneut Indizien, die auf Rico hinweisen.« »Es stellt sich die Frage, warum man ihn verfolgt und getötet hat.«
»Vielleicht befürchtete man Verrat oder war mit seiner Arbeit unzufrieden. Die Union Étoiles steht unter Druck und geht keinerlei Risiken mehr ein.«
Ungefähr zehn Meter von Monmartins Haustür entfernt blieb ich stehen. Links vom Eingang, wo die Zierrebe an ihrem Gitter empor rankte, bewegten sich ein paar Blätter. Es fiel mir nur auf, weil das Laub um die Stelle herum absolut still hing. »Bitte gehen Sie ins Haus, Monsieur!«, vernahm ich eine kaum wahrnehmbare Stimme. »Themo?« Wenn er hier unangemeldet erschien, gab es Probleme. Ich öffnete die Tür und ging hinein. Drinnen wartete ich ein paar Augenblicke, ehe ich die Tür wieder schloss. Langsam stieg ich die Treppe hinauf bis in die privaten Räume, wobei ich die Türen offen ließ. Erst als ich sicher war, dass der Major sich im Zimmer befand, schloss ich die letzte Tür. Einen Augenblick später löste sich das Deflektorfeld in einem Flirren auf, in dem die Gestalt des Majors für Sekundenbruchteile wie zerfetztes Zeitungspapier aussah. »So genannte Ordnungshüter, die im Sold der UÉ stehen, führen Hausdurchsuchungen durch«, berichtete Nikos Themosthenes. »Das wäre nichts Außergewöhnliches nach allem, was wir in Margaux gesehen haben. Aber sie beginnen mit der Aktion in Bellevue, nicht in der Stadt.« Ich sank auf den nächstbesten Stuhl. Angenommen, die Comtesse hatte Verdacht geschöpft, dann war es nur logisch, wenn sie bei den Reichen anfing. Die besaßen genug Kapital, um ein Komplott gegen die Organisation zu schmieden und umzusetzen. Der durchschnittliche Bürger von Margaux war dazu nicht fähig. »Wann werden sie schätzungsweise hier sein?« »Schwer zu sagen. Sie gehen recht willkürlich vor.« »Bleiben Sie in der Nähe des Grundstücks für den Fall, dass die UÉ versucht, mich zu verhaften.« »Verstanden. Wir werden Sie dann unter allen Umständen befreien.« Ich verließ das Haus und das Grundstück, und Themosthenes
schlüpfte unsichtbar mit mir hinaus. Eine Viertelstunde lang ging ich spazieren. Von den Gleitern der Polizisten bekam ich nichts zu sehen, aber am Hang drüben hörte ich laute Stimmen. Nach einer Weile glitt fast geräuschlos ein flaches Fahrzeug heran, dicht über den Dächern und Wipfeln, sodass ich es erst entdeckte, als es schon zur Landung ansetzte. Vermutlich sahen mir die Insassen zu, wie ich in mein Haus zurückkehrte und es mir im Foyer gemütlich machte. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kam Higgins mit Geschäftsunterlagen, die ich abzeichnen musste. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf, denn in diesem Raum des Hauses sah die UÉ bei allem zu, was ich tat. Draußen lauerten folglich keine Polizisten. Higgins kehrte in die Stadt zurück, und ich schloss die Augen. Die Nervosität der Organisation hatte nicht nachgelassen. Sie schien im Gegenteil zu wachsen. Irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit hörte ich draußen vereinzelte Geräusche. Sie kamen, verstohlen wie Räuber in der Nacht versuchten sie sich Zutritt zum Haus zu verschaffen. »Sie wissen, dass ich da bin. Vermutlich wissen sie sogar, in welchem Raum ich mich aufhalte. Sie sind nicht wegen mir so leise, sondern damit die Nachbarn nichts mitbekommen.« Kein Entführer legte es darauf an, bei seiner Tat Zeugen zu haben. Nach einer Weile hörte ich, wie sich jemand an der Haustür zu schaffen machte. Ich schaltete den Signalgeber ein und sah mit Hilfe eines kleinen Holokubus zu, was die Männer und Frauen in Uniform unternahmen. Allmählich musste ich reagieren. In meiner Rolle als Hausherr konnte ich es nicht dulden, dass sie mein Eigentum beschädigten. Mit einem Knopfdruck schaltete ich ein Prallfeld ein. Es baute sich zwischen der Tür und ihren Körpern auf und warf sie mit Wucht nach hinten. Zwei der vier Personen blieben benommen liegen, die anderen traten erst einmal die Flucht an. »Wenn ihr wollt, kann ich es euch noch deutlicher begreiflich machen«, murmelte ich in dem Bewusstsein, dass irgendwo in einer Überwachungszentrale ein Halunke saß und den Vorfall zähneknirschend beobachtete.
Zehn Minuten später erschienen sie offiziell. Sie landeten mit dem Gleiter auf dem Grundstück, betätigten die Meldevorrichtung und fragten, ob sie hereinkommen dürften. Ich entriegelte die Tür und ließ sie auffahren. Sie waren zu sechst, angeführt von einem Polizeioffizier. »Wir durchsuchen Ihr Haus. Leisten Sie keinen Widerstand.« Ich erhob mich. »Ich protestiere, aber ich beuge mich Ihrer Übermacht. Sehen Sie sich also um. Aber beschweren Sie sich hinterher nicht. Dieses Haus verhält sich unangemeldetem Besuch gegenüber sehr unfreundlich.« Sie verteilten sich auf die einzelnen Stockwerke. In die privaten Räume drangen sie nicht vor, da der Servo sie nicht einließ. Dafür sahen sie sich den Stauraum unter dem Dach und den Keller an, in den sie über die Hintertreppe gelangten. Knapp zehn Minuten verschwendeten sie an die Durchsuchung, dann kehrten sie zurück. »Sie begleiten uns ins Präsidium.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Bitte zeigen Sie mir den Durchsuchungsauftrag und Ihren Dienstausweis.« Der Offizier starrte mich wütend an. »Ich kann Sie in Fesseln abführen lassen.« Ein hoch schnellendes Fesselfeld verdammte ihn und seine Begleiter zur Reglosigkeit. Ich ging ein paar Mal vor ihnen auf und ab. »Wir, die in diesen Häusern leben, sind freie Bürger einer freien Handelswelt. So steht es in der Verfassung von Montagne geschrieben. Diese Verfassung ist demokratisch legitimiert, sie regelt Rechte und Pflichten eines jeden. Da Sie mir keinen Durchsuchungsauftrag des zuständigen Richters vorweisen können und auch keinen Dienstausweis, machen Sie sich strafbar.« Ich schrieb eine entsprechende Mitteilung an die Staatsanwaltschaft in Margaux. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte die UÉ diese längst unterwandert. Trotzdem konnte sie eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs und Nötigung nicht einfach ignorieren oder unterdrücken. Der Polizeioffizier lenkte ein. »Ich habe meinen Dienstausweis bei mir, der Durchsuchungsbefehl folgt bald. Ich habe ihn vergessen und lasse ihn abholen.«
»Ich werde der Comtesse persönlich darüber berichten.« Irritiert starrte er mich an, während ich das Feld wieder abschaltete. »Sie kennen die Comtesse persönlich?« »Ja.« Murrend räumten sie das Feld, nachdem sie ein paar misstrauische Blicke in die hintersten Winkel der Halle geworden hatten. »Was suchen Sie eigentlich?« »Das geht Sie nichts an.« »Auch gut. In meinem Haus befinden sich nur Dinge, die mich was angehen. Sie sehen, es ist völlig ausgeschlossen, dass Sie hier das finden, was Sie suchen.« Es war ihnen nicht anzusehen, ob sie diese Bemerkung begriffen hatten. Ich blickte ihnen nach, bis sie im Gleiter verschwunden waren und das Fahrzeug abhob. »Das fehlte noch, dass jeder in mein Haus eindringen kann, wie es ihm beliebt«, schimpfte ich laut, nachdem ich in die Halle zurückgekehrt war. Nacheinander kontrollierte ich die einzelnen Zimmer, den Dachboden und schließlich den Keller. Mein fotografisches Gedächtnis zeigte mir die Räume, wie ich sie von meinem ersten Rundgang in Erinnerung hatte. Es gab geringfügige Unterschiede. Die Uniformierten im Auftrag der Organisation hatten mehrere Mikrokameras und Tonaufzeichnungsgeräte angebracht. Sie waren geschickt versteckt, und ich vermied es, sie direkt anzusehen. Das wäre aufgefallen. Wenn es mich nicht verraten hätte, wäre es zumindest ein Anzeichen dafür gewesen, dass ich nicht so harmlos war, wie ich mich gab. Ich verließ das Haus und ging ein Stück die Straße entlang. Als ich einen Luftzug direkt neben mir spürte, blieb ich stehen. »Alles in Ordnung«, flüsterte ich. »Gut«, klang es leise zurück. »Sie finden uns in Margaux.«
»Quando spricht. Die Zielperson ist seit zwei Stunden in dem Gebäude und kommt nicht mehr heraus«, erklang die Stimme eines USO-Spezialisten.
»Sind Sie sicher, dass sie nicht durch einen Keller oder einen Hinterausgang verschwunden ist?« »Alle diese Ausgänge werden überwacht.« »Dann wartet er auf jemanden, weil er die Ware persönlich übergeben muss. An alle, bleiben Sie auf Ihren Plätzen. Sobald die Zielperson das Gebäude verlässt, setzen Sie die Observierung fort.« Ich setzte mich mit Themo in Verbindung. »Bei der Villa der Comtesse müsste sich langsam etwas tun.« »Ja. Sie verlässt das Haus und steigt in einen Gleiter. Sie trägt einen nicht identifizierbaren Gegenstand bei sich.« Wir warteten. Themo hätte den ganzen Einsatz sowieso am liebsten ohne mich unternommen, allein um mich nicht zu gefährden. Ich konnte ihm schwerlich auseinandersetzen, was mir der Roboter bedeutete. Der Lordadmiral der USO als sentimentaler alter Narr, das würde nicht gerade dazu beitragen, die Moral der Truppe zu stärken. Also blieb ich in Monmartins Firma und nahm an den Vorgängen über das geheime Datenverbundnetz teil. Seit der Hausdurchsuchung in Bellevue war fast auf die Stunde genau ein Tag vergangen. Nach einer halben Stunde meldete der Beobachter, dass die Comtesse in einem besonders noblen Einkaufzentrum unmittelbar vor einem Hutladen gelandet war und den Gleiter soeben verließ. »Der Gegenstand, den sie bei sich trägt, ist eine Hutschachtel. Die Comtesse überquert die Straße und betritt das Hutgeschäft.« Higgins und ich sahen uns an. »Eine Hutschachtel«, nickte er. »Ja«, antwortete ich. »Aber die Comtesse trägt keine Hüte, das wäre uns längst aufgefallen. Ihre Turmfrisur ist ihr Hut, in der sie vermutlich allerlei High Tech versteckt. Außerdem hat sie zwei … sagen wir mal, Assistentinnen. Warum also lässt sie keine von ihnen die Schachtel tragen?« »Ich verstehe«, meinte Higgins. »Der zukünftige Inhalt ist so brisant, dass sie ihn keiner anderen Person anvertrauen würde.« »Das mikrochirurgische Werkzeug. Für mich ist es Zeit zum Aufbruch.« Ich ging hinunter in den Innenhof und startete den Gleiter. Zwar wählte ich den üblichen Weg nach Bellevue, landete aber nicht auf
meinem dortigen Grundstück, sondern funkte den Automaten der Comtesse an. »Ich möchte der Dame des Hauses meine Aufwartung machen«, erklärte ich. »Melde mich an!« »Monsieur Monmartin, es liegen mir keine besonderen Anweisungen vor. Landen Sie im Hof und warten Sie, bis die Comtesse eintrifft.« »Danke!« Ich stellte den Gleiter an der Stelle ab, an der ich auch bei meinem nächtlichen Besuch geparkt hatte, stieg aus und ging eine Weile zwischen dem Fahrzeug und der Terrasse hin und her. Nach einer Viertelstunde begann ich ungeduldig zu werden und hielt nach ihrem Gleiter Ausschau. Weitere fünfzehn Minuten später kehrte ich in mein Fahrzeug zurück. Für die Kameras musste das überzeugend genug gewesen sein. »Sie kommt vielleicht überhaupt nicht hierher« überlegte ich. »Sie bringt die Instrumente direkt vom Hutladen an ihren Bestimmungsort« Ich setzte mich in den Pilotensessel und rechnete damit, dass jeden Augenblick eine kodierte Botschaft des Majors eintreffen würde, die sich auf das Werkzeug und den Zielort bezog. Ein einziger Hinweis auf den geheimen Stützpunkt der UÉ genügte, damit »Unternehmen Robosearch« in seine entscheidende Phase eintreten konnte. Ein Schatten glitt über die im Abendlicht liegenden Dächer. Der Gleiter kehrte zurück. Er landete unmittelbar vor der Terrasse. Ich stieg aus meinem Fahrzeug und schritt den Kiesweg entlang. Louise Vimteaux rauschte gerade die Treppe hinauf. »Guten Abend, Comtesse!« »Monsieur Monmartin! Was führt Sie zu mir?« »Können Sie sich das nicht denken? Sie selbst sind der Grund!« Sie eilte weiter, die Hutschachtel hielt sie mit beiden Armen umschlungen. »Soll ich Ihnen beim Tragen helfen, Madame?« »Niem … Danke, nein!« Ich verbeugte mich leicht. »Ihr Wunsch ist mir Befehl!« »Ich bin in Eile«, sagte sie, ohne mich anzusehen. Sie musste sich
sichtlich zwingen, zwei Finger einer Hand von der Schachtel zu nehmen und den Kode für den Türöffner einzugeben. »Ich komme gern später noch einmal, Comtesse!« Sie betrat das Haus und setzte die Schachtel ab. »Ich bin untröstlich, Monsieur! Mein Terminkalender ist voll. Ich bin ständig unterwegs.« »Ich bedauere dies außerordentlich, Madame! Ich werde in ein paar Tagen wiederkommen. Au revoir!« Sie schlug die Terrassentür zu, aber ich war sicher, dass sie mir nachsah. Ich drehte das für sie bestimmte kleine Geschenk wie ratlos in den Händen. Dabei entglitt es mir scheinbar unabsichtlich und fiel ins Gras. Hastig hob ich es auf und steckte es ein. Die wenigen Augenblicke hatten völlig gereicht, damit sie sehen konnte, was es war. Ein wertvoller Ring mit der größten Perle, die Nikos Themosthenes nach Montagne mitgebracht hatte. Ich stieg in den Gleiter und flog zu Monmartins Haus. »Das war es dann wohl!« stellte ich fest. Sie hatte mich abserviert wie ein Stück trockenes Brot. Den Grund kannte ich. Er steckte in der Hutschachtel. Hochqualifizierte Mitarbeiter der UÉ würden damit versuchen, Rico sein gesamtes Wissen zu entreißen ohne Rücksicht auf Verluste. Ich schickte eine Botschaft an Themo. »Sie wird das Werkzeug bald dorthin bringen, wo es gebraucht wird. Lassen Sie die Villa Tag und Nacht überwachen. Über kurz oder lang wird die Comtesse sie verlassen müssen.« Louise Vimteaux tat uns den Gefallen nicht. Sie igelte sich in ihrem Haus ein.
Rico – In Not Daten in Sicherheit bringen, geheime Informationen in den untersten Ebenen der Speicherarchitektur verbergen – Rico sah nur diese eine Möglichkeit, seinem Auftrag in dieser Situation noch gerecht zu werden.
Geheimnisträger war er, von Atlan dazu bestimmt, alle wichtigen Geheimdaten über die USO und Quinto Center in sich zu tragen. Nie hätte er die schützende Kuppel am Meeresgrund verlassen dürfen. Jetzt war es zu spät, es ließ sich nicht mehr ändern. Wie nannten die Menschen das, was er jetzt versuchte? Schadensbegrenzung? In der Medostation war es still. Henderson und der Professor waren kurzfristig an einen anderen Ort gerufen worden. Inzwischen zeigten die Ziffern der Digitaluhr zwei Stunden mehr an. Thek-KSOL an Hauptspeicher: Ich beginne mit der Umstrukturierung der Speicherinhalte. Die Daten der höchsten Geheimhaltungsstufe genießen Priorität. Schritte erklangen. In einigen Parametern entsprachen sie denen des Professors, aber ihre Frequenz war viel höher und zu unregelmäßig. Jemand betrat die Medostation in großer Eile und unter starker psychischer Belastung. Rico aktivierte seine internen Taster, um die Person zu identifizieren. »Hallo Professor!« Es blieb still. Nach einer Weile näherte sich der Ankömmling der Liege und geriet in das Blickfeld des Roboters. »Sie sehen schlecht aus, Professor! Warum gönnen Sie sich nicht etwas Ruhe?« Saint-Phare keuchte. Auf seiner Stirn stand Schweiß, die Wangen bebten. Er blickte fahrig hin und her, bis sein Blick an den Maschinen mit den Tentakeln und Saugnäpfen hängenblieb. »Es muss schnell gehen«, hörte Rico ihn murmeln. »Sie lässt mir keine Zeit. Bis heute Abend, sagt sie. Das ist technisch nicht zu schaffen!« Thek-KSOL an Hauptspeicher: Es ist Eile geboten. Der Zwischenspeicher ist zu klein. Hauptspeicher: Das Löschen nebensächlicher Daten dauert zu lange. Es ist kein Ausweg. Thek-KSOL: Ich schlage vor, einen Teil der Bewegungssteuerung stillzulegen. Hauptspeicher: Dabei werden in großem Umfang Daten aus den Speichersektionen gelöscht. Ohne Hilfe von außen ist dieser Eingriff
nicht rückgängig zu machen. Thek-KSOL: Ich weiß, und ich bin einverstanden. »Professor, wer ist ›sie‹? Die Comtesse?« »Ja. Sie hat diesen Schlamassel zu verantworten. Niemand weiß, was sie im Schilde führt. Langsam glaube ich, dass Betoncourt gar nicht darüber informiert ist, was sie treibt. Er ist der Dauphin, er hat die Macht. Nur er könnte einschreiten.« »Ihre Stimme klingt nicht gerade, als seien Sie davon hundertprozentig überzeugt, Monsieur Saint-Phare. Wäre es sehr abwegig zu glauben, dass die Comtesse ihn beseitigt hat?« »Überhaupt nicht. Sie ist dazu fähig. Sie hat Henderson erstochen! Nicht vor meinen Augen, aber doch in Sichtweite.« Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht. »Worüber reden wir hier überhaupt, Rico?« »Sie sollten von hier verschwinden, Professor, und mich mitnehmen.« »Das geht nicht. Die Anlage wird streng bewacht.« »Sie müssen sich entscheiden. Länger als zwei Minuten kann ich nicht warten.« Saint-Phare begann unruhig auf und ab zu gehen. »Ich kann es nicht verantworten, nein, es unmöglich. Ich muss tun, was sie sagt. Mitgefangen, mitgehangen. Es ist längst zu spät um umzukehren.« Er fuhr herum. »Rico, wie lange brauche ich, die geheimen Informationen aus dir herauszuholen?« »Zehn Leben lang. Sie können mir mein Wissen nicht stehlen. Zuvor tötet die Comtesse auch Sie!« »Ich werde das nicht zulassen.« »Die zwei Minuten sind um, Professor!« »Ich bleibe. Ich bringe das hier zu Ende!« »Es wird Ihr Tod sein, vielleicht auch meiner!« Hauptpositronik an Thek-KSOL: Löschvorgang läuft. Die Steuerung des linken Beins ist jetzt eingeschränkt. »Nehmen Sie mir die Fesseln ab, Professor. Die nächsten dreißig Sekunden entscheiden über unsere Zukunft.« »Ich nehme sie dir nicht ab!« »Nur Lebewesen muss man fesseln. Roboter schaltet man ab.«
»Du weißt genau, dass dir der Schalter dazu fehlt.« »Fragen Sie sich mal, warum ich ihn nicht mehr habe.« »Hast du ihn denn jemals besessen?« »Selbstverständlich.« Saint-Phare atmete wieder gleichmäßiger, aber seine Bewegungen wirkten noch immer hektisch und fahrig. Rico glaubte nicht, dass er in diesem Zustand zu zielgerichteten Handlungen fähig war. »Sie sollten sich erst ausruhen, bevor Sie sich weiter mit mir beschäftigen, Professor!« »Keine Sorge, Rico. Es geht schon wieder. Draußen an der frischen Luft habe ich mir Gedanken über Kriechströme gemacht. Positronische Leiterbereiche enthalten Isolatoren, um solche Kriechströme zu vermeiden. Nach Jahrtausenden ist es allerdings möglich, dass diese Isolatoren nicht mehr so gut wirken wie vorgesehen. Durch Zufuhr von Luftsauerstoff lässt sich zudem kurzfristig eine Oxidation erzeugen, die Isolatorfunktionen abbaut.« »Völlig korrekt. Der nächste Schritt wäre, dass Sie sich Gedanken über die willkürliche Zuordnung von Datenströmen machen. Dadurch entstehen neue Informationskomplexe, wenn etwa im irdischen Mittelalter Daten über Schiffe und Schiffsbau nicht nur denen von Holz, sondern auch denen von Metall zugeordnet werden. Oder Daten über Verbrechen denen über Kleidungs- oder Ernährungsgewohnheiten, statt den jurisdiktiven.« »Rico, verdammt, halte endlich den Mund!« »Einverstanden. Aber eines will ich Ihnen noch sagen, Professor. Wir können nicht mehr gemeinsam fliehen.« Hauptspeicher an Thek-KSOL: Die Steuerung des rechten und des linken Arms ist jetzt eingeschränkt. Das linke Bein lässt sich gar nicht mehr bewegen. Thek-KSOL: Verschiebe die Geheimdaten über Position und Kurs von Quinto Center in den freien Bereich! Hauptspeicher: Die Tentakel docken an. Sobald die ersten Erkenntnisse über die Struktur des angreifenden Systems vorliegen, werden die Abwehrprogramme kreiert. »Was ist mit deinem Körper los, Roboter?«, fragte Saint-Phare plötzlich.
Rico gab keine Antwort. Mochte der Professor seine Schlüsse daraus ziehen. Saint-Phare wurde hektisch. Er verlor die Übersicht, warf mehrere Instrumente um, eines stürzte zu Boden und zerbrach. »Sie wird Sie ebenso umbringen wie Henderson«, sagte Rico. »Zur Flucht ist es jetzt zu spät.« »Du hast Recht«, seufzte der Professor. »Aber ich will es versuchen.« »Ihre Haut zu retten? Bei Ihnen muss man die Tapferkeit mit der Lupe suchen.« Saint-Phare aktivierte die Maschinen. Die bogenförmigen Metallsegmente über der Liege erwachten aus ihrem Schlaf. Impulsschauer unterschiedlicher Frequenzen prasselten auf Rico ein. Er schaltete den Reflexionsschirm ein, projizierte ihn auf die Innenseite seines Körpers. Saint-Phare bekam es nicht mit. Der Energiestreamer dockte an. Er saß an der Hüfte, die Stelle erhitzte sich rasend schnell. Rico projizierte auch hier ein Energiefeld. Noch gelang es ihm, alle Angreifer gleichzeitig abzuwehren. Thek-KSOL: Verschiebe die Geheimdaten über die USO in den freien Bereich. Die ersten freigewordenen Sektoren werden mit allgemeinem Wissen aus den historischen Blöcken überschrieben. Hauptspeicher: Datentransferrate liegt trotz aktiver Schirmfelder bei 800 Terabytes pro Millisekunde. Achtung, der Angreifer neutralisiert die ersten Energiefeldbereiche und schafft winzige Strukturlücken. Rico beschloss, weitere Speicherbereiche freizugeben, um in jedem Fall schneller zu sein als der Professor. Während der Hauptspeicher die ersten Programmroutinen aktivierte und einen Virenangriff abwehrte, leerte der Roboter nach und nach seinen aktiven Gedächtnisspeicher. Saint-Phare begann in diesem Moment zu fluchen. »Was ist das für ein Zeug? Unnützer Datenkram! Rico, wo hast du dein Spezialwissen, deine Geheimdateien?« »Es tut mir leid, Professor, ein Großteil ist bereits gelöscht, die Speicherblöcke sind anderweitig überschrieben.« »Wenn das stimmt, dann landest du im Konverter!«
»Sie müssen nur intensiv genug suchen, dann finden Sie brisante Informationen.« »Andernfalls wird mich die Comtesse vierteilen.« »Das wird sie auch tun, wenn Sie ihr alles Wissen dieses Universums bringen.« »Ich glaube es auch.« Saint-Phare unterbrach sich und vertiefte sich wieder in die Maschinensteuerung, während Rico seine Aufmerksamkeit erneut nach innen richtete. Die freigewordenen Speichersektoren teilte er auf, gliederte sie in kleinstmögliche Einheiten, die er mit wichtigen Daten füllte. Anschließend baute er die herkömmliche Struktur darüber auf, füllte die Sektoren mit allgemeinem Wissen über die Erfolgsgeschichte der USO. Ein paar dieser Speicherbereiche kodierte er mit der Anmerkung »geheim« und legte Daten über Kommandoeinsätze darin ab, die vor einigen Jahrhunderten stattgefunden hatten. Wenn Saint-Phare sie fand, würde er sicherlich glauben, gewonnen zu haben. Hauptspeicher an Thek-KSOL: Alle motorischen Funktionen mit Ausnahme der Augen und Ohren werden stillgelegt. Die Energie wird dem internen Abwehrsystem zugeführt. »Lebn Se whl, Prfsr …« Die Geheimdaten durften nicht in fremde Hände fallen. Rico würde sie notfalls löschen oder einen Kurzschluss erzeugen, der die Speicher zerstörte. Hauptspeicher: Die Umschichtung ist in Kürze abgeschlossen. Alle wichtigen Daten sind dann in Sicherheit. Thek-KSOL: Ich darf mich nicht an den Vorgang erinnern. Lösche meine Erinnerung. Rico überlegte, wie es sein würde, wenn er innerhalb weniger Augenblicke einen Teil seiner Erinnerung verlor. Wie sterben? Oder nur wie schlafen? Hauptspeicher: Eine Kopie ist in versteckten Sektoren abgelegt. Eine Kopie von was? Was geschah eigentlich mit ihm? Wer war dieses Wesen, das immer wieder in seinem Blickfeld auftauchte? Ricos Augen erloschen, es wurde Nacht. Nur seine Ohren hielten jetzt noch die Verbindung zur Außenwelt aufrecht. Nach einer Wei-
le hörte er eine Stimme sagen: »Was soll das? Nein, nein, du bemühst dich vergeblich. Ich bin schon drin in deinem Körper!«
Kapitel 10 »Ist das nicht vergeudete Zeit?«, erkundigte sich Nikos Themosthenes. »Vielleicht«, sagte ich. »Nennen Sie mir ein überzeugendes Argument gegen die Suche oder ein Indiz, das auf den Sektor Süd hinweist, und ich breche die Aktion sofort ab.« Er konnte es nicht. Keiner der insgesamt dreihundert Agenten, die sich mittlerweile im Gebiet um Margaux aufhielten, war dazu in der Lage. »Wir brauchen eine Division Landetruppen«, fuhr ich fort. »Sie soll sich in der Nähe des Sonnensystems bereithalten. Sobald der Einsatzbefehl kommt, muss es schnell gehen.« »Verstanden!« Ich unterbrach die Funkverbindung auf der abgeschirmten Geheimfrequenz und widmete mich wieder den Bildern und Ortungsanzeigen der Sonde, die exakt jene Strecke abflog, die Higgins und ich zurückgelegt hatten. Dort, wo ich den Toten gefunden hatte, hielt ich die fliegende Kamera kurz an. Der dunkle Fleck am Boden existierte noch. Ein Stück abseits davon waren die Verfolger abgebogen und ins Tal abgestiegen, bis sie den Gleiter in dem schmalen Seitental erreicht hatten. Den Gleiter hatten unsere Agenten in dem kleinen Industriegebiet von Perigneux ausfindig gemacht, von den Insassen fehlte jede Spur. Trotz ununterbrochener Observierung war das Fahrzeug in der darauffolgenden Nacht verschwunden. Und jetzt verlor ich Zeit damit, den Spuren der Verfolger und des Mörders nachzugehen, die der Wind längst verweht hatte? Erneut aktivierte sich das Funkgerät. Es war Higgins. »Monsieur, Ihr Doppelgänger ist eingetroffen. Ist es Ihnen möglich, kurz mit ihm zu sprechen?« Ich nickte und blickte Augenblicke später in mein eigenes Gesicht. Monmartin trug noch immer die Perücke mit den goldblonden Lo-
cken. »Der Plan hat sich offensichtlich geändert, Monsieur«, sagte JeanClaude Monmartin. »Was ist geschehen?« »Wir stehen kurz vor dem Ziel. Ich kann Ihre Rolle in Ihrem Anwesen und in der Firma nicht mehr spielen. Deshalb sind Sie ab sofort wieder Herr im eigenen Haus. Ich hätte Sie persönlich aufgesucht, aber ich kenne die geheimen Pfade Ihres Hauses nicht.« »Im Haus hätten Sie mich nicht gefunden. Bis vor hundert Jahren existierten am Hang von Bellevue Silberbergwerke. Als die Minen erschöpft waren und die Reichen ihre ersten Villen bauten, legten sie in den Stollen und Kavernen ihre Fluchtburgen für den Notfall an. Manche führen ein paar hundert Meter in den Berg, andere bis zu einem Kilometer. In die Tiefen der weit verzweigten Bergwerke wagte sich niemand. Die Gefahr, dass Stollen einstürzten und den Flüchtlingen den Rückweg abschnitten, war zu groß und die Kosten für einen kompletten Ausbau des gesamten Stollensystems zu hoch.« »Das gesamte Bergmassiv im Sektor Nord ist ausgehöhlt?« »So ist es.« Ich dachte an Rico, dessen Kopf zur Disposition stand, wenn ich den Worten des Sterbenden glauben wollte. Das Schicksal des Roboters stand auf des Messers Schneide. Die Informationen über das Stollensystem kamen möglicherweise zu spät. »Du lässt dich zu sehr von negativen Emotionen leiten« mahnte der Extrasinn. »Halten Sie es für möglich, dass die UÉ das alte Bergwerk für ihre Zwecke nutzt?«, fragte ich Monmartin. »Denkbar wäre es schon. Einige meiner Mitarbeiter haben die Vermutung immer wieder geäußert, aber es hat sich noch nie ein Beweis dafür gefunden. Wenn die UÉ auf Montagne eine geheime Station unterhält, dann meiner Ansicht nach eher im Zeraph-Gebirge abseits der Zivilisation.« »Danke für die Auskünfte, Monsieur. Wir sehen uns später.« Ich lenkte die Sonde bis zum Seitental. Noch stand die Sonne nicht besonders hoch am Himmel, und in dem stark bewaldeten Gelände herrschte Halbdunkel. Ich ließ die Sonde im Zickzack quer durch
das Tal wandern, von einem Steilhang zum anderen und wieder zurück. Ein schwaches, metallisches Echo zeigte einen Gegenstand in einer Kuhle unter einem überhängenden Felsen an. Es war der Gleiter. Die Kerle hatten uns an der Nase herumgeführt. Sie waren gar nicht abgeflogen. Zufällig auftauchende Beobachter sollten das denken. In der Nacht hatte jemand das Fahrzeug im Schutz eines Deflektors hierher gebracht, damit es bei der nächsten Aktion wieder zur Verfügung stand. »Die Eingänge in das Stollensystem sind hier in der Nähe.« Ich war mir jetzt ganz sicher. »Deshalb ist der Kahlköpfige zweimal hier aufgetaucht. Er muss den Stützpunkt durch eine Schleuse in der Nähe verlassen haben.« »Wie kannst du nur so blind sein!« monierte der Extrasinn. »Wenn von den Häusern Stollen in das Bergmassiv führen, ist es kein Wunder, dass die Comtesse ihre Villa nie verlässt.« »Sie benutzt den Stollen, um in den geheimen Stützpunkt zu kommen.« War das der Grund, aus dem der Positroniker hatte sterben müssen? Damit er die geheimen Zugänge nicht verraten konnte? Ich rief die Sonde an ihren ursprünglichen Standort zurück und lenkte den Gleiter zwischen den Büschen hervor. Wenn es getarnte Ausgänge aus dem Stollensystem gab, dann existierten auch Überwachungssysteme. Und die würden wir finden, auch wenn sie noch so gut versteckt waren. Allerdings würden sie auch uns entdecken. Im Schutz der überhängenden Baumkronen hoher Bäume flog ich langsam nach Süden, während die Sonde umkehrte, den Hügelkamm überquerte und in das Gebüsch an der östlichen Flanke sank. Noch zwanzig Stunden bis zum Ablauf der Auktion. Erreicht hatten wir bisher wenig. Die Comtesse weilte auf Montagne, ihr Schiff hatte den Planeten bisher nicht wieder verlassen. Ein weiteres Anzeichen war die Aussage des sterbenden Positronikers. Es gab in der ganzen Westside vermutlich nur einen einzigen Roboter, um den derzeit soviel Aufheben gemacht wurde wie um Rico. Wir waren dem Versteck der UÉ und dem Aufenthaltsort des Ro-
boters auf der Spur. Ich spürte das, und selbst der Extrasinn räumte dem einen gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit ein. Die Nahbereichsortung gab Alarm. In den Bäumen, unter denen ich entlang flog, bewegte sich ein ziemlich großes Lebewesen. Die Umrisse ähnelten denen eines Menschen, nur viel größer. Sekunden später wurde der Gleiter durch einen heftigen Schlag erschüttert. »Angreifer an Steuerbord«, meldete der Automat. »Er hält sich am Fahrzeug fest. Masse 738,17 Kilogramm.« Eine der Außenkameras schwenkte auf den Unbekannten. Hinter der verspiegelten Helmscheibe konnte ich nichts erkennen, aber von der Größe und dem Gewicht her vermutete ich einen Ertruser. Er versuchte, seinen wuchtigen Kombistrahler in Position zu bringen, was ihm aber nicht gelang. Ich schaltete den rechten Außenlautsprecher ein. »Falls Sie gewalttätig werden, aktiviere ich den Schutzschirm.« »Verstanden!« »Wer sind Sie?« »Ich heiße Herib Ertpott.« »Das klingt nicht besonders ertrusisch.« »Es spielt keine Rolle. Lassen Sie mich runter.« »Erst beantworten Sie meine Fragen. Was wollen Sie auf Montagne?« »Ich bin Tourist und klettere in den Bäumen umher, suche seltene Raupen und Käfer.« »Ein Hobby-Zoologe.« »Ja.« »Ich glaube Ihnen kein Wort. Ich fliege mit Ihnen jetzt zu einem der Vulkankrater im Nordwesten und lasse Sie in die glühende Lava fallen.« Angesichts dessen, was sich in den vergangenen Tagen in dem Schutzgebiet ereignet hatte, traute ich dem Umweltangepassten nicht über den Weg. Der Verdacht lag nahe, dass er zur UÉ gehörte. »Ich kann Sie nicht daran hindern, aber es wäre ein Fehler!« »In letzter Zeit laufen in diesem Reservat zu viele Leute herum, die hier nichts zu suchen haben.« »Mag sein. Ich bin erst vor ein paar Stunden angekommen.«
»Sie gehören zur Organisation.« »Ich weiß zwar nicht, von welcher Organisation Sie reden, aber ich gehöre nicht dazu.« Wir lachten beide über den Scherz. Es entspannte die Atmosphäre ein wenig. »Sie werden verstehen, dass ich vorsichtig sein muss«, fuhr der Ertruser fort. »Ich bin fremd hier und kann niemandem trauen. Wer sind Sie?« »Ich heiße Jean-Claude Monmartin und gehöre zu einer der ältesten und einflussreichsten Familien des Planeten.« »Ihren Namen kenne ich aus dem Funkverkehr. Sie sind Kaufmann. Gute Weine, nicht wahr? In Ordnung! Ich halte Sie für vertrauenswürdig. Deshalb bin ich bereit, ein gewisses Risiko einzugehen. Wissen Sie etwas von einer Station der UÉ auf dieser Welt?« »Bitte, nehmen Sie diesen Begriff hier nie wieder in den Mund. Wir sind eine Freihandelswelt. Es gibt eine solche Organisation, aber man spricht nicht darüber.« »Ich verstehe.« Er zögerte kurz. »Ich möchte Sie bitten, mich absteigen zu lassen. Ich will mit Ihnen reden.« »Sie wollen den Gleiter, mehr nicht.« »Ursprünglich war das meine Absicht. Aber jetzt …« Obwohl der Extrasinn erwartungsgemäß protestierte, hielt ich an und setzte das Fahrzeug sanft am Boden ab. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass alle Defensivsysteme funktionierten, öffnete ich die Tür. »Legen Sie die Waffe neben sich. Bleiben Sie draußen stehen und öffnen Sie Ihren Helm.« Er folgte der Aufforderung und legte den Strahler drei bis vier Meter entfernt auf den Boden. Sein Helm klappte nach hinten. Ich musterte den Umweltangepassten. Trotz seiner Kooperationsbereitschaft wirkte sein Gesicht verschlossen. Gewisse Accessoires seines Kampfanzugs verrieten mir, dass der Hüne ein Agent des Carsualschen Bundes war, dessen politisches Zentrum auf Ertrus lag. »Sie jagen ganz große Tiere, sonst wären Sie nicht hier«, sagte ich. »Sie sind wegen der Auktion gekommen.«
»Das geht Sie nichts an, Monsieur Monmartin.« »Sie müssen wissen, dass ich aus demselben Grund hier bin. Ich suche nach einem Eingang zum Versteck der Organisation, das sich höchstwahrscheinlich in dieser Gegend befindet.« Bisher hatte der Ertruser einen recht nervösen Eindruck gemacht, jetzt entspannte er sich. »Unter diesen Umständen könnten wir eventuell zusammenarbeiten.« »Sagen Sie mir, was Sie über die Auktion wissen.« Der Umweltangepasste berichtete von den Kontaktstellen, zu denen die Abgesandten der Regierungen bestellt worden waren. Es gab mehrere, eine davon auf dem Planeten Vanderbild. Dorthin war er geflogen. Er hatte einen Feind seines Volkes identifiziert und getötet, einen Anti, der für die Organisation arbeitete. »Der Anti war der Kontaktmann, er hatte den Auftrag, alle eintreffenden Kuriere zu beseitigen«, sagte der Ertruser abschließend. »Glücklicherweise führte er einen Datensatz bei sich, der mir den Weg nach Montagne wies.« Ich nickte. Dieses Mal spürte ich, dass der Agent die Wahrheit sprach. »Wenn Carsual sich an der Auktion beteiligt, aber nicht zum Zuge kommen soll, wer könnte es sonst sein?« Er runzelte die Stirn und schaute mich eindringlich an. »Sie wissen mehr, als Sie zugeben wollen. Aber sei's drum. Dabrifa wäre ein Kandidat, aber auch die ZGU. Am wahrscheinlichsten kämen jedoch das Solare Imperium oder die USO in Frage. Der Arkonide in Quinto Center wird alles daran setzen, um das gestohlene Wissen zurückzuerhalten. Nach meinem Kenntnisstand hat er sich noch nicht darum gekümmert. Bisher hat die USO kein Gebot abgegeben.« »Sie wird bis zum letzten Augenblick warten«, sagte ich. »Zumindest würde ich mich so verhalten.« »Wenn ich den Stützpunkt dieser Organisation finde, werde ich dieses USO-Wissen an mich bringen. Mit oder ohne Gebot. Was halten Sie davon?« »Auf Montagne werden Sie niemanden finden, der sich für dieses Wissen interessiert.« Ich beschloss, ins Blaue hinein einen Testballon zu schießen. »Wir sind im Gegenteil daran interessiert, dass diese Organisation von unserer Welt verschwindet. Für immer.«
»Und Sie denken, das eine ließe sich mit dem anderen verbinden?« »Ja. Um diese Leute loszuwerden, bräuchten wir allerdings ziemlich viel Personal, also Raumschiffsbesatzungen, Kampfroboter und einiges mehr.« »Da sehe ich ein Problem, Monsieur. Ich kann mich nicht zu Hause bemerkbar machen.« »Das ist eine Kleinigkeit. Unser Planet verfügt über mehrere Hyperfunkstationen mit Anschluss an alle wichtigen interstellaren Relaisketten.« Ich warf einen Blick auf den Chronographen. »Es ist ziemlich spät geworden. Ich muss dringend zurück in die Siedlung dort unten am Hang.« »Verstehe. Dann sehe ich mich inzwischen weiter in der Gegend um.« »Sie haben sicher Hunger und brauchen Schlaf. Steigen Sie ein, aber ohne Waffe!« Er tat es. Mit einem Traktorstrahl zog ich den Strahler zum Gleiter und verstaute ihn in einem der Transportfächer unter der Außenhülle. »Diese Siedlung – Bellevue – gehört zur Stadt Margaux und ist ein typischer Ort, in dem ausschließlich Wohlhabende wohnen«, erklärte ich ihm, während ich das Fahrzeug aufsteigen ließ und den Kurs änderte. »Alle Familien, die seit Anfang der Besiedlung im Handel tätig sind, leben da. Ich kenne ohnehin niemanden auf Montagne, der sich nicht mit interstellarem Handel beschäftigt.« »Metzger, Friseure und Bäcker gibt es aber wohl, oder?« »Die meisten sind Roboter wie mein Kammerdiener.« »Ist Ihnen die Comtesse Louise Vimteaux bekannt?«, fragte Ertpott überraschend. »Ja. Ich bin ihr ein einziges Mal begegnet. Sie befindet sich zur Zeit auf Montagne und macht einen ziemlich nervösen Eindruck.« Der Ertruser grinste. »Das ist gut. Sie wartet auf die Rückkehr des Antis Ramo Getafy, aber der wird nicht kommen.« Ich brachte den Ertruser in der selten benutzten Tiefgarage des Anwesens unter, weil sie nicht überwacht wurde. Der gleichermaßen gewiefte wie gewissenhafte Higgins übernahm die schwierige Aufgabe, unseren Gast mit allem Nötigen zu versorgen, ohne dabei
auch nur das geringste Aufsehen zu erregen. Er meisterte sie mit Bravour, obwohl ein Ertruser täglich gewaltiger Mengen an Trinkwasser und Nahrung bedurfte. »Monsieur Monmartin kommt bald aus dem Geschäft nach Hause«, sagte der Sekretär, als er kurz darauf die Privaträume des Hauses betrat. »Wie soll ich Sie beide dann auseinanderhalten? Und vor allem, wie das alles vor der Überwachungsanlage verbergen?« Ich hatte mir in den vergangenen Stunden darüber schon Gedanken gemacht. Jean-Claude Monmartin konnte das Haus natürlich nicht zwei Mal betreten, ohne dass er dazwischen hinausgegangen war. Das würde auch dem dümmsten Observierer sofort auffallen. »Ich ziehe mich so lange in die Tiefgarage zu dem Ertruser zurück. Bitte bereiten Sie alles vor. Noch was! Falls Monsieur Monmartin eine Einladung der Comtesse erhält, sollte er sich erfreut zeigen, die Dame aber auf ein, zwei Tage vertrösten. Das ist nur zu verständlich, nachdem die Ordnungskräfte im Dienst der Organisation versucht haben, gewaltsam in das Haus einzudringen und nachdem sie ihn hat abblitzen lassen.« Higgins zog sich zurück, und ich las die wenigen Habseligkeiten zusammen, die ich mein eigen nannte, die Zahnbürste, einen Kamm mit Tönungstank, durch den mein Haar seine dunkle Farbe behielt, und die Fingerprints, die ich nach wie vor benutzte. Einer näheren Überprüfung hätte meine Maskerade nicht standgehalten, einem Irisvergleich etwa oder der Prüfung der Individualschwingungen. Sollte es zu einem solchen Test kommen, musste ich zusehen, dass der echte Monmartin ihn absolvierte und nicht die Kopie. Der Ertruser wunderte sich, als in seinem Versteck weitere Möbel abgestellt wurden und ich mich schließlich selbst einfand. Inzwischen wusste ich über Themos Kontakte, dass es sich um einen Spitzenagenten des Carsualschen Bundes namens Zerog Fantor handelte. Aber selbst da konnte man nicht sicher sein, dass es sich um seinen richtigen Namen handelte. Wir setzten uns gemeinsam an den Tisch. Auf dem für normale Terraner dimensionierten Stuhl kam ich mir im Vergleich mit dem Hünen auf seinem Hocker wie ein Zwerg vor.
»Bevor Sie einen falschen Eindruck bekommen, meine Anwesenheit hier stellt kein Zeichen von Misstrauen dar. Ich kann nur nicht zweimal im gleichen Haus wohnen. Es gibt mich nämlich doppelt.« Er grinste mich an. »Etwas Ähnliches habe ich bereits vermutet. Sprechen Sie weiter!« »Meine Leute haben inzwischen Erkundigungen über Sie eingezogen. Sie heißen Zerog Fantor und sind Carsual-Major.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Und wenn Sie Ihre Kontaktlinsen entfernen und die Farbe aus dem Haar waschen, heißen Sie auch anders, Lordadmiral!« »Gut beobachtet, Zerog. Sie brauchen Ertrus übrigens nicht zu verständigen, meine Leute sind schon hier. Wir kennen nur die Eingänge zum Stützpunkt der UÉ noch nicht. Sonst hätten wir bereits zugeschlagen.« »In Ordnung, Lordadmiral. Wie es aussieht, sind wir ab sofort Verbündete. Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser.« Er öffnete den Kampfanzug, zog ein kleines Stück Papier hervor und legte es auf den Tisch. »Machen Sie es auf!« Ich faltete es auseinander. Ein Chip lag darin, halb so groß wie der Nagel meines kleinen Fingers. »Den habe ich aus dem Körper des Antis geschnitten. Er enthält alle wichtigen Kodes des Stützpunktes auf Montagne, darunter auch die Zugangskodes für die geheimen Eingänge. Was fehlt, sind deren Koordinaten.« »Ein simpler positronischer Chip, der mit fast jedem Lesegerät entziffert werden kann«, sagte ich. »Von so einem Ding kann Ihnen heutzutage ein einigermaßen aufgewecktes Kind Kopien anfertigen.« »Genau das sollten wir tun.« »Sie überlassen uns den Chip?« »Für ein paar Stunden, ja. Danach möchte ich ihn zurück. Als Souvenir.« »Besten Dank« Ich nahm den Chip an mich, ging hinauf ins Freie und bestieg den Gleiter. Von der Firma aus setzte ich meinen Weg zu Fuß fort. Monmartin hinterließ ich im Gleiter eine kodierte Nachricht, damit er Be-
scheid wusste. Er würde in Kürze mit seinem Gleiter nach Bellevue fliegen, und Higgins sollte das Fahrzeug kurz darauf zurückbringen. Als ich eine knappe Stunde später auf dem Umweg durch die Kellergeschosse im Perlengeschäft erschien, räumten die USO-Mitarbeiter gerade die letzten Kollektionen in den Tresor. Ich ging ins Büro zu Themosthenes und schaltete den Abhörschutz ein. Der falsche Perlenhändler sah mit zufriedenem Gesicht die Listen seiner Warenbestände durch. »Länger als drei, vier Tage dauert es nicht mehr, dann ist endgültig Ladenschluss«, empfing er mich. »Bei einem Tagesnettoertrag von durchschnittlich fünfzig Millionen Solar ist das kein Wunder.« »Schreiben Sie für morgen irgendetwas an die Ladentür. Wegen Lieferproblemen vorübergehend geschlossen oder so ähnlich«, sagte ich und legte den Chip auf den Tisch. »Wir sollten uns das mal ansehen.« Er nahm den Chip und steckte ihn in ein Lesegerät. Auf dem Wandschirm zeichneten sich übergangslos Datensätze von verschlüsselten Kodes ab. Es folgten die persönlichen Daten des Antis, dem man diesen Chip implantiert hatte. Themo pfiff durch die Zähne. »Woher haben Sie das?« »Von einem Verbündeten.« Ich berichtete über die Begegnung mit dem Ertruser. »Carsual weiß nichts von seinem Glück. Sie haben den Kontakt zu ihrem Spitzenagenten offenbar verloren.« »Schade, dass er nicht auch die Koordinaten der Schleusen kennt.« »Ein Zugang liegt in Reichweite«, erwiderte ich. »Die Villa der Comtesse. Von dort führt ein Stollen ins Innere des Berges.« »Drei oder vier Zugänge von verschiedenen Seiten sollten es schon sein, Lordadmiral!« »Dafür sind Ihre Leute zuständig, Major!« Themo deponierte die Listen im Tresor. Als er zurückkehrte, hielt er den Einsatzplan in der Hand, den wir bereits während unseres Aufenthalts auf Clantervoss in groben Zügen entwickelt hatten. »Zwanzig Kopien des Chips reichen. Ich kümmere mich umgehend darum. Ich habe nichts dagegen, wenn wir noch heute Nacht losschlagen.«
»Einverstanden! Aber kalkulieren Sie ruhig den ganzen morgigen Tag ebenfalls ein.« Um das Gelände im Sektor Nord genau zu untersuchen, benötigten wir Tageslicht. Die USO-Agenten mussten im Schutz von Deflektoren arbeiten und ständig damit rechnen, dass sie entdeckt wurden. Das Ende der Auktion rückte unaufhaltsam näher. Auf Montagne hatten wir keinen Überblick, welche Gebote in den letzten Tagen dazugekommen waren und auf welchem Niveau das aktuelle Höchstgebot lag. Fünf Milliarden? Zehn? Es spielte keine Rolle. Darüber sollten sich berufene Frauen oder Männer den Kopf zerbrechen. »Und was tue ich?« Am liebsten hätte ich die Villa der Comtesse gestürmt und wäre sofort bis in den Stützpunkt der Union Étoiles vorgedrungen. Der unvernünftige Wunsch entsprang meinem emotionalen Verhältnis zu Rico. Oberstes Ziel des Unternehmens war nicht die Zerschlagung einer kriminellen Organisation. Rico wohlbehalten herauszuholen und dafür zu sorgen, dass sein Wissen nicht in falsche Hände geriet, das stand seit dem Beginn unserer Planungen ganz oben. »Du solltest aufhören, den Roboter als halbes Lebewesen zu sehen« warnte der Extrasinn. »Das ist er nicht.« »Er sieht sich selbst so. Warum sollte ich etwas daran ändern oder versuchen, es ihm auszureden?« »Du selbst musst damit fertig werden, falls der Einsatz schiefgeht oder der Roboter nicht mehr existiert.«
Kapitel 11 Ein paar Kodes hielten eine ganze Armee zusammen. Noch besser: Sie sorgten dafür, dass in einer Stadt mit mehreren hunderttausend Einwohnern und etlichen tausend Bewaffneten in Diensten der UÉ keiner unserer Frauen und Männer in der falschen Einsatzzentrale strandete und dadurch alles herauskam. Solange die Sende- und Empfangsgeräte problemlos funktionierten, ging das gut, und in dem Trubel eines merkantilen Zentrums von der Größe Margaux' fiel es nicht auf, dass immer wieder Personen einzeln oder in kleinen Gruppen einem bestimmten Ziel zustrebten. Major Themosthenes hatte das Kommando über die Aktion inne. Während er seine Spezialisten zu ihren Treffpunkten und Einsatzorten schickte und die Landetruppen in den Schiffen weit draußen im All ein Stück näher an Montagne heranrückten, kehrte ich nach Bellevue zurück und weckte den Ertruser. Er schrak auf und griff als erstes zum Holster. Ich schüttelte den Kopf und deutete hinüber zum Schrank, in dem ich seinen Kombistrahler eingelagert hatte. »Es ist soweit«, sagte ich. »Wir beginnen mit der Suche nach den Eingängen. Gleichzeitig bereiten meine Leute einen Überfall auf die Villa der Comtesse vor.« »Das wird schwierig, Monsieur. Die Villa wird sofort Alarm auslösen.« »Wir verfügen über Spezialisten, die das Haus und den Berghang mit starken Störfrequenzen abschirmen. Es wird kein Alarm durchkommen.« Ich gab Zerog Fantor den Chip zurück. Er steckte erst ihn und dann den Kombistrahler ein. Ich hatte den unauffälligen Mietgleiter in einer Seitengasse abgestellt. Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass die Luft rein war, verließen wir das Grundstück und flogen wenig später nach Nord-
westen zu der Stelle, wo Fantor auf den Gleiter gesprungen war. Ich drückte ihm das Lesegerät für den Chip in die Hand. »Ab hier gehen wir zu Fuß. Aktivieren Sie Ihre Wärmeunterdrückung sowie das Nachtsichtgerät und schalten Sie den Deflektor ein.« Mehr brauchte ich ihm nicht zu sagen. Fantor beherrschte sein Handwerk. Ich merkte sehr bald, dass er zu Recht als einer der Spitzenagenten Carsuals galt. Wir trennten uns. Ich ging oben am Hang entlang, er unten. Dabei hielt ich mich in etwa an die Route, die der Positroniker auf seiner Flucht eingeschlagen hatte. Auf dem harten Boden hatten wir schon bei der ersten Spurensuche nichts gefunden, was uns einen Hinweis auf den Stützpunkt gegeben hätte. Es fehlten die typischen Felsmassive, die man zur Tarnung eines Eingangs benutzen konnte. Und der Boden wies keine Flächen mit Bewuchs auf, der von der Umgebung abwich. Nirgends klang es hohl, wenn wir auftraten. Nach zwei Stunden hielten wir an und berieten uns. »Die Schleuse könnte unmittelbar auf dem Kamm liegen«, sagte der Ertruser. »Aber das wäre sehr auffällig. Und ganz unten am Hang ist nichts, was sich hochklappen ließe, ohne dass anschließend Spuren zu sehen wären.« »Es bleiben noch die Büsche und Bäume«, stimmte ich ihm zu. »Halten wir nach dichtem Strauchwerk und Stämmen mit großem Durchmesser Ausschau!« Wir suchten weitere zwei Stunden. Inzwischen graute der Morgen, die Natur um uns erhielt ein anderes Gesicht. Die Konturen der Bäume wurden klarer, einige vermeintlich dichte Gebüsche erwiesen sich als Rundpflanzung mit einer Lichtung in der Mitte. Bei einem von ihnen schlug im Abstand von knapp vier Metern der Chip im Lesegerät aus. »Gefunden«, rief Fantor. »Hier ist es.« Er hielt mir das Lesegerät hin, und ich prägte mir die Anzeigen ein. »Rundruf an alle Einsatzgruppen«, sagte ich zum Automaten meines Kampfanzugs. »Die Eingänge korrespondieren mit dem Chip, und zwar in einem Abstand unter fünf Metern. Die von uns entdeckte Schleuse liegt auf der Lichtung innerhalb eines Gebüschs.
Achtet auf die Signale der Lesegeräte.« Eine Antwort traf nicht ein, das war so verabredet. Sobald genug Eingänge gefunden waren, würde sich Themo mit dem Einsatzbefehl melden. Wir warteten im Schatten der Bäume und in Sichtweite des Gebüschs, aber ein Stück weiter oberhalb am Hang, so dass wir nicht sofort gesehen werden konnten. »Es ist ein eigenartiges Gefühl, auf einem Moospolster zu sitzen«, sagte der Ertruser nach einer Weile. »Sie müssen wissen, ich bin im Mattun Gor-Vulkanland geboren, einer kargen und gefährlichen Gegend meiner Heimatwelt. Schon als Kind lernte ich Entbehrungen kennen. Damals habe ich mir geschworen, in meinem Leben nie mehr Ressourcen zu verbrauchen, als ich dringend benötige.« »Eine gesunde Einstellung«, stimmte ich ihm zu. »Ich erinnere mich an einige der alten Familiennamen im Vulkanland: Mozun, Jameiko, Arukitch, Tasmaene und andere. Eine Seitenlinie der Kasom gehört ebenfalls dazu. Sagt Ihnen der Name Melbar Kasom etwas?« »Melbar Kasom, die Legende!« Die Augen des Ertrusers fingen an zu glänzen. »Wer kennt ihn nicht. Er war bei der USO.« »Wir haben eine ganze Menge Ertruser in unseren Reihen. Sie sind nicht glücklich über die politische Entwicklung in ihrer Heimat.« »Auf Ertrus gilt der Shilter-Kodex, benannt nach dem Triumvirn. Der Kodex bedroht alle jene mit dem Tod, die für fremde Organisationen oder Staaten arbeiten. Wer sich nicht an den Kodex hält, lebt nicht mehr lange.« »Wir nennen das Versklavung. Ein Staatssystem, das so etwas zulässt, ist einfach menschenverachtend.« Fantors Miene wurde starr und abweisend. »Ich möchte nicht weiter darüber reden.« »Einverstanden!« Die nächsten zwei Stunden verbrachten wir schweigend. Dann endlich traf der Einsatzbefehl ein. Themo nannte die Uhrzeiten für die einzelnen Gruppen. Quasi aus dem Nichts tauchten im Sichtbereich unserer Deflektoren zwanzig Frauen und Männer auf, unser Einsatzkommando. Ich sah auf die Uhr und nickte Fantor zu. Wir kehrten zu dem Ge-
büsch zurück. Fantor und ich zwängten uns durch das Gestrüpp bis an den Rand der Lichtung. Der Chip reagierte. Auf dem Lesegerät tauchten Zeichenkolonnen und anschließend Ziffern und Schriftsymbole in Interkosmo auf, die ich mir einprägte. »Die Steuerpositronik erkennt den Chip automatisch und liest ihn aus«, kommentierte der Ertruser. »Sie schaltet die Fallen und Sperren ab, die den Zugang sichern.« »Checken Sie ein letztes Mal Ihre Systeme!«, wandte ich mich an die Männer und Frauen, die außerhalb des Gebüschs warteten. Ich erhielt zwanzig Klarmeldungen. In der Mitte der Lichtung hob sich der Grasboden ein Stück an und schwenkte zur Seite. Eine Röhre fuhr aus der Erde bis auf eine Höhe von zweieinhalb Metern. Auf der uns abgewandten Seite klappte ihre Wandung auf. Ich leuchtete in den Schacht. »Es ist eine Antigravröhre! Blockiert die Tür. Sie darf sich erst schließen, wenn alle unten sind.« Fantor trat als erster in die Röhre und schwebte abwärts. Ich folgte ihm dichtauf, hinter mir die Frauen und Männer des Einsatzkommandos. »Der Letzte schaltet bitte seinen Deflektor aus, bevor er in die Röhre tritt«, sagte ich. »Beeilt euch!« Gemäß dem Einsatzplan waren wir die erste Gruppe. Uns blieben zehn Minuten, um möglichst weit ins Innere des Stützpunkts zu gelangen. Sobald die zweite Gruppe ihre Schleuse passierte, wurde es kritisch. Wir konnten nicht voraussagen, wie die Automaten auf die Tatsache reagierten, dass der Anti Ramo Getafy die unterirdischen Anlagen innerhalb kürzester Zeit wiederholt durch eine andere Schleuse betrat, sie dazwischen aber nie verließ. Funktionierten die Schleusenautomaten eigenständig, war es kein Problem. Standen sie mit einer zentralen Positronik in Verbindung, die alles kontrollierte und aufzeichnete, sah es schlecht aus. Sobald der Alarm durch den Stützpunkt heulte, würden die Chancen auf einen Erfolg des Unternehmens schwinden. Als erstes mussten wir die LE CORBUSIER in unsere Hand bekommen, die mit Sicherheit in diesem Stützpunkt versteckt war. Das
war die Aufgabe Themos und der übrigen Kommandos. Gegen die Feuerkraft des Schiffes konnte die UÉ nichts ausrichten, die Mannschaften im Stützpunkt mussten kapitulieren. Meine Gruppe drang als erste ein, weil sie bis in die Tiefen der Anlage vorstoßen musste, in die technischen Labors, wo wir Rico zu finden hofften. Wir durften keinen, der an dem Roboter arbeitete, entkommen lassen. Die Maschinen und Positroniken, die ihm sein Wissen entnahmen, mussten restlos vernichtet werden. Eine komplette Sprengung des Stützpunkts war nicht unsere Absicht, würde sich aber bei einer erkennbaren Streuung der entnommenen Daten nicht vermeiden lassen. Fantor bewegte sich bereits den Korridor entlang, der sich an den Schacht anschloss. An der Wand leuchtete ein Orientierungshologramm auf, das einen Querschnitt durch diesen Bereich des Stützpunkts zeigte. Während hinter uns die Männer und Frauen in den Gang drängten, musterten wir die Etagen und Korridore. Ein roter Punkt zeigte die Schleuse an. Ich fuhr mit dem Finger die Route entlang, die uns am schnellsten in den nächsten Sektor brachte. Der Ertruser hielt den Daumen nach oben und rannte los. »Letzter Mann ist drin!«, meldete jemand. Wir folgten Zerog Fantor. Der Carsual-Agent hatte es ausgesprochen eilig. Obwohl dies unserer Einsatzvorgabe entsprach, schlich sich ein wenig Misstrauen in meine Gedanken. Was, wenn er ein Doppelagent der UÉ war und uns in eine Falle lockte? Mein Logiksektor hielt mir in bekannter Manier alle die Argumente vor, die dagegen sprachen. Zum Beispiel hatte Fantor keine Gelegenheit gehabt, von der Tiefgarage aus Informationen weiterzugeben. Er hatte versucht, den Gleiter an sich zu bringen, als sei er irgendwo weiter oben im Gebirge angekommen und auf der Suche nach einem Fahrzeug. Das erschien mir zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Ich versuchte, den Anschluss an den Ertruser zu halten. Nach einer Weile sah ich ihn ein Stück voraus stehen. Er wartete am Durchgang in den nächsten Sektor auf uns, direkt neben einer Sicherheitsschleuse.
Ich winkte den Männern und Frauen, damit sie sich beeilten. Vor uns lag der eigentliche Stützpunkt.
Jean-Claude Monmartin hatte von Stollen und Kavernen alter Silberbergwerke gesprochen. Was ich hier vorfand, übertraf meine Erwartungen um ein Vielfaches. Wir standen vor einem gigantischen Hohlraum von mindestens zwei Kilometern Durchmesser, dessen Felsendecke sich in der Art einer flachen Kuppel über dem Ganzen wölbte. Die Felsstruktur war von dicken Streben aus Terkonit durchzogen, jede mindestens zehn, zwölf Meter im Durchmesser. Sie gaben der Konstruktion die nötige Stabilität. In der Mitte der flachen Kuppel sah ich eine Art Metalldeckel, das musste das Hangarschott sein. Der Hangar selbst lag darunter, eine Plattform von einem knappen Kilometer Durchmesser, an dicken Säulen aufgehängt und gleichzeitig von Dutzenden Metallstützen getragen, die schätzungsweise zweihundert Meter in die Tiefe reichten, die darunter liegenden Etagen wie Speere durchstießen und weit unten im Felsmassiv des Gebirges endeten. Dazwischen lagen mehrere Hauptebenen mit jeweils einem halben Dutzend Etagen. Hier hatte man Fertigbauhallen zwischen den Streben eingehängt und verschraubt. Tunnel mit quadratischem Querschnitt verbanden sie untereinander. Außen herum führten Veranden. Auf Fenster in den Wänden hatte man verzichtet. Am Rand der Kaverne zogen sich im Abstand von zehn Metern Galerien entlang, auf denen hin und wieder eine bewaffnete Patrouille zu erkennen war. Rechnete die UÉ mit dem Eindringen von Fremden? Oder bewachte sie die eigenen Wissenschaftler und Techniker? Die Galerien waren untereinander durch Antigravschächte verbunden, die sich entlang der Krümmung des Hohlraums bogen. Wir befanden uns auf einer Galerie knapp unterhalb des Hangarbodens, aber oberhalb der einzelnen Etagen. Im Hangar standen etliche Gleiter und Beiboote, aber auch eine größere Einheit. Das konnte nur die LE CORBUSIER sein. Während wir Zerog Fantor folgten, überschlug ich in Gedanken,
wie viele Personen in diesem Stützpunkt leben und arbeiten konnten. Fünftausend waren es mindestens. Im Katastrophenfall passten bestimmt zehntausend in diesen Bunker. Zehntausend … Der Gedanke an diese Zahl löste Assoziationen in mir aus. Ich spürte, wie der Boden bebte, sah Frauen mit Kindern rennen und Männer ihre Waffen in Richtung der Berge abfeuern, aus denen glühende Lava emporschoss und auf das Land herabregnete. Heißer Wind kam auf, er blies mir ins Gesicht und ließ mein Haar und meine Augenbrauen glimmen. Auf meiner Haut bildeten sich Brandblasen. Ich entdeckte eine junge Frau mit ihren beiden Kindern. Sie rannte blindlings in Richtung der glühenden Zungen, die an den Hängen der Berge abwärts flossen, hektisch und eilig, um möglichst schnell die Stadt zu verschlingen. »Hierher!«, wollte ich schreien, aber die Hitze hatte meine Schleimhäute in Sekundenschnelle ausgetrocknet. Ich brachte nur ein heiseres Krächzen hervor. »Reiß dich zusammen!« Mühsam gewann ich die Kontrolle über meine Gedanken zurück. Fantor war schon wieder voraus und sicherte den Einstieg in die erstbeste Antigravröhre. Wir ließen uns nach unten tragen, bis wir die oberste Etage erreichten. »Funkauswertung!«, befahl ich. Die Minipositronik des Kampfanzugs meldete abgeschirmten und verschlüsselten Funkverkehr. Die UÉ war ausgesprochen vorsichtig. Der Ertruser blieb auf der Galerie stehen und drehte sich in meine Richtung. »Was nun?« »Wir fangen an zu suchen. Der Roboter muss sich in einer der vielen wissenschaftlichen Abteilungen aufhalten, die es hier vermutlich gibt.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. »In zwei Minuten dringt die nächste Gruppe in den Stützpunkt ein.« Während die Automaten unserer Anzüge mit der Entschlüsselung des Funkkodes begannen, nahmen wir die Suche auf Im Schutz unserer Deflektoren verteilten wir uns über die Etage. Da es keine Fenster gab, blieb uns nichts anderes übrig, als mit unseren empfindlichen Mikrofonen durch die Wände zu lauschen, Geräuschkulissen zu analysieren und Gesprächsfetzen aufzuzeichnen. Ab und
zu fanden wir eine offene Tür, die dem einen oder anderen von uns einen kurzen Blick ins Innere einer Halle gewährte. Gleichzeitig analysierten unsere Orter und Scanner alle Gegenstände in den Hallen. Das hier war eindeutig die medizinisch-biologische Abteilung. Da Rico über kein Bioplasma verfügte, würde man ihn auf keinen Fall hier untersuchen. Andererseits setzte die UÉ mikrochirurgisches Besteck ein. »Weiter!«, bedeutete ich den Frauen und Männern. Es ging zurück zur Galerie und abwärts in die nächste Etage. Mein Automat gab mir ein Signal. Die zehn Minuten waren um. Die zweite und dritte Etage erbrachten kein anderes Ergebnis. Langsam kristallisierte sich heraus, dass wir uns in der völlig falschen Sektion des Stützpunkts aufhielten. »Wir versuchen es ab der übernächsten Ebene abwärts«, informierte ich meine Begleiter. »Fantor, haben Sie Einwände?« »Sie sind der Chef!«, antwortete er mit breitem Grinsen. Die Metallortung unserer Anzüge sprach an. Weit unten, dort wo ich im Dunkel den Felsboden der Gigantkaverne vermutete, bewegten sich entweder Roboter oder bis an die Zähne bewaffnete Soldaten. »Das gilt nicht unbedingt uns«, sagte ich. »Möglicherweise ist die zweite Gruppe entdeckt worden. Oder man hat eines der anderen Einsatzkommandos ausgemacht, die noch draußen im Gebüsch warten.« Wir durften uns davon nicht abhalten lassen. Je schneller wir unser Ziel erreichten, desto besser. Die Art und Weise spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hohlraums erwachten die Antigravs aus dem Standby-Betrieb. Dutzende Personen schwebten nach oben und verteilten sich auf die verschiedenen Etagen. »Möglicherweise haben ihre Automaten die höhere Gewichtsbelastung der Stockwerke festgestellt«, flüsterte Fantor. »Es ist bei solchen Konstruktionen nichts Ungewöhnliches, dass die Belastung gemessen und bei Überbelastung Alarm gegeben wird.« Sie konnten uns nicht orten und nicht sehen und vermuteten uns offensichtlich auf der gegenüberliegenden Seite.
Ein ultrakurzes, gerafftes Signal traf bei uns ein. Die zweite Gruppe hatte die Kaverne erreicht. Ich gab ihnen unseren Standort und unsere Absicht durch. Der Auftrag der anderen Kommandos lautete, möglichst effektiv von uns abzulenken. Die Bewaffneten der UÉ mochten ruhig Eindringlinge feststellen und sie bekämpfen. Unsere Gruppe sollte so lange wie möglich ungeschoren bleiben. In den Etagen unter der zweiten Ebene nahm die Metalldichte zu. Wir näherten uns den technischen Sektionen. Dieses Mal schickte ich nur vier Personen in jede Etage, um die Belastung zu reduzieren und einen Alarm zu vermeiden. Auch hier fanden wir keinen Roboter, der auch nur entfernt humanoid aussah. Dafür stießen wir auf die ersten Kegelroboter. Sie schwirrten im Zickzack durch die Korridore, als wüssten sie, dass sich Unsichtbare in der Nähe befanden. Wieder erreichte uns ein Signal. Die dritte Gruppe war drinnen. Wenn Themo sich an unsere Absprache hielt, würde seine Gruppe in zehn Minuten durch die Villa der Comtesse in das Bergmassiv eindringen. Wenig später würden die planetaren Orter registrieren, dass sich eine kleine Flotte dem Planeten näherte. Angesichts einer derart generalstabsmäßig geplanten Aktion musste es für die Verantwortlichen der UÉ offensichtlich sein, dass hinter dem Unternehmen eine Großmacht steckte, die USO. »Die Auktion läuft in zehn Minuten ab«, meldete mein Automat. »Exakt zehn Sekunden vorher gibt unser Mittelsmann auf Carnap das Höchstgebot für unsere Organisation ein.« Unten in der Tiefe flogen neue Roboterkontigente. Vermutlich lagen dort die Depots der Maschinen. Dass die UÉ Kampfmaschinen terranischer Bauart einsetzte, wusste ich seit den Ereignissen um meine Unterwasserkuppel. »Jemand hat stillen Alarm ausgelöst« überlegte ich. »Anders sind diese Truppenverschiebungen nicht zu erklären.« Zerog Fantor drängte zur Eile.
Normale Medostationen – auf jeder Etage eine, auch hier waren wir verkehrt.
»Rico, wo steckst du?« Ich wartete auf ein Signal des Roboters. Wenn er noch funktionierte, würde er die Veränderungen innerhalb des Stützpunkts bemerken und seine Schlüsse daraus ziehen. Und er würde versuchen, ein Funksignal abzustrahlen, mit dessen Hilfe wir seine Position wenigstens ungefähr ermitteln konnten. »Weiter!«, sagte ich. Nur wenige Etagen trennten uns jetzt noch vom Boden der Kaverne. Von einem Augenblick zum anderen flammten gigantische Scheinwerfer grell auf. Sie ähnelten Miniatursonnen. Wenn sie ein paar Stunden brannten, musste es in dem Stützpunkt unerträglich heiß werden. Hoch über uns fielen die ersten Schüsse. Wir sahen dünne, grelle Energiebahnen, die sich ihren Weg zwischen den Hallen suchten. Das Feuer wurde nicht erwidert. Wir erreichten die nächste Hauptebene, durchkämmten sie ungestört. Ein kleinerer Antigravschacht führte zu den zwei darüber liegenden Etagen. Wir orteten eine Doppelschleuse, wie man sie gewöhnlich nur für ausgesprochen wichtige Stationen verwendete. Wieder nur eine konventionelle Medostation – weiter. Erste Kommandos erschallten. Sie dirigierten die Bewaffneten an neue Positionen und sollten möglichen Eindringlingen wohl Angst einjagen. »Wir lassen uns nicht beirren. Sie bezwecken damit, dass wir Fehler machen und sie unseren Aufenthaltsort erkennen können.« Drei Etagen oder zehn Meter tiefer lag im Licht der Scheinwerfer der Boden der Kaverne. An der Außenseite mündeten mehrere Stollen. Aus zwei von ihnen strömten weitere Kampfroboter. Die UÉ blies zum Großangriff auf die Eindringlinge. Meine Minipositronik signalisierte, dass in diesem Augenblick bei Galbay das Gebot der USO abgegeben wurde. »Die Auswertung des Scans der letzten drei Medostationen ist abgeschlossen«, meldete der Automat anschließend. »Hinter der Doppelschleuse befinden sich Maschinen zur positronischen Steuerung, Laseraggregate sowie Fesselfeldprojektoren.« »Medizinische Geräte?« »Keine.«
»Sammeln und umkehren!«, kommandierte ich. Wir kehrten im Eilschritt zu dem Antigravschacht zurück und schwebten nach oben. »Willkommen auf Montagne!«, hörten wir eine Stimme. Sie klang hart und wenig weiblich, aber ich erkannte sie sofort. Sie gehörte der Comtesse. »Wir sehen Sie nicht, aber wir erkennen Ihre Bewegungsrichtung im Antigrav.« Unter uns tauchten Bewaffnete in Kampfmonturen auf. Sie eröffneten ohne Vorwarnung das Feuer. Übergangslos verwandelte sich der Antigrav in einen Glutofen, aber da waren wir schon draußen. »Sichert den Schacht nach unten und oben«, ordnete ich an. »Fantor und ich kümmern uns um die Medostation.« Ich hielt nach dem Ertruser Ausschau, aber er war verschwunden. »Zerog?« Ich erhielt keine Antwort. Stattdessen öffnete sich die Doppelschleuse. Ein Dutzend Soldaten stürmten heraus. Die Minipositronik aktivierte den Schutzschirm meines Anzugs. Damit wurde ich zwar nicht sichtbar, aber man konnte mich orten. Ich aktivierte das Flugaggregat und raste den Korridor entlang, der vom Schacht an der Schleuse vorbei irgendwohin führte. Energiestrahlen folgten mir. Sie streiften mich, wirbelten mich um die eigene Achse. Der Anzug versuchte die Fluglage zu stabilisieren, aber weitere Schüsse trafen den Schirm, einer davon voll. Obwohl das Feld die Energie großteils absorbierte, trieb mir die mechanische Wucht des Treffers die Luft aus den Lungen. Ich keuchte, vor meinen Augen tanzten bunte Ringe. Ich streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zurückzugewinnen. »Bisher hat es nie jemand geschafft, in diesen Stützpunkt einzudringen und ihn lebend zu verlassen«, erklang erneut die Stimme der Comtesse. »Ich werde jedem Einzelnen von euch bei lebendigem Leib die Haut abziehen.« »Sie ist wahnsinnig! Und krank!« erkannte ich, während ich der Krümmung des Korridors folgte und aus dem Schussfeld der Verteidiger geriet. Ich hielt an, überprüfte die Systeme des Anzugs und brachte die Waffe in Schussposition. »Gut, dass du es rechtzeitig erkennst« stellte der Extrasinn fest. »Sie
hat keine Hemmungen und keine Skrupel.« »In wenigen Minuten seid ihr alle ausgeschaltet! Wenn ihr euer Leben ein kleines bisschen verlängern wollt, dann ergebt euch.« »An alle«, sagte ich. »Lassen Sie sich nicht irritieren. Sie weiß weder, wo wir uns jeweils aufhalten, noch kennt sie unsere Zahl.« Ich ging zu Fuß den Korridor zurück. Die Kämpfer der UÉ erwarteten mich mit schussbereiten Strahlern. Da ich den Individualschirm desaktiviert hatte, bemerkten sie meine Annäherung zu spät. Drei von ihnen holte ich mit dem Nadler von den Beinen. Die dünnen Metallgeschosse durchschlugen ihre Anzüge mit Leichtigkeit. Ein Stück hinter mir explodierte ein Geschoss an der Decke. Ein Teil der Metallverkleidung fiel herunter. Ich gab einen Notruf an die übrigen Gruppen ab, der die exakten Koordinaten unseres Aufenthaltsorts enthielt. Die Comtesse lachte hämisch. »Ihr habt euch zu früh gefreut.« »Dir wird die Schadenfreude schon noch vergehen!« dachte ich. »Verdammt, wo steckt Fantor?« »Er hat es auf die Comtesse abgesehen. Ist es dir nicht aufgefallen, dass er sich mehrfach nach ihr erkundigt hat?« Ich musste dem Extrasinn Recht geben. Der Ertruser hatte Getafy getötet und war jetzt hinter der Anführerin dieses galaktischen Komplotts her. »Comtesse!«, klang es aus allen Lautsprechern. »Soeben trifft eine Nachricht von Galbay ein. Sie haben das Gebot der USO gelöscht und die Auktion wenige Sekunden vor Schluss beendet.« »Idiot!«, klang es zurück. »Wieso funkst du es nicht gleich in die Milchstraße hinaus? Dich knöpfe ich mir nachher vor! Kampfroboter, greift an! Macht die Eindringlinge nieder!« Wir sahen die Maschinen auf den Orterdisplays. Sie hatten unseren Standort eingekreist und rückten von allen Seiten her vor. Ich stellte mich dicht an die Korridorwand, brachte eine Sprengladung an und suchte das Weite. Der Sprengsatz zündete und riss ein knapp vier Meter großes Loch in die Wand. Jetzt konnten wir uns zur Not nach draußen zwischen die Etagen retten. »Gebt euch keine Mühe«, ließ sich Louise Vimteaux hören. »Überall warten Schirme und Fesselfelder auf euch.«
Der Spott war aus ihrer Stimme gewichen. Galbay hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Was das für sie und ihre Pläne bedeutete, darüber wurde sie sich vermutlich erst nach und nach klar. Die Roboter tauchten in unserem Blickfeld auf. »Verdammt, wo bleibt Fantor? Und wo steckt Themo mit seinen Leuten?« Es lief nicht nur für die Comtesse schlecht, auch ich und die USOAgenten, die in den Stützpunkt eingedrungen waren, gerieten immer mehr in Bedrängnis »Ich gebe euch zehn Sekunden Zeit«, verkündete Betoncourts Stellvertreterin. »Wenn ihr euch bis dahin nicht ergeben habt, töten die Roboter euch.« Von oben herab drang der Donner einer gewaltigen Explosion. Ich hörte den unterdrückten Schrei der Comtesse, auf den ein infernalisches Zischen folgte. Durch das Loch sah ich, wie glühende Funkenregen über die Etagen niedergingen und ihren Weg bis zum Höhlengrund fanden. Irgendwo hoch oben knirschte es, dann stürzte etwas in die Tiefe. Jeder Schlag zeigte eine Etage an, die es durchschlug. Ein ungefähr zehn Meter großes Bodenstück des Hangars bohrte sich in den Boden der Kaverne. Der gesamte Hohlraum erbebte. »Die LE CORBUSIER schießt«, rief ich. »Leute, wir haben das Schiff!« Damit wendete sich das Blatt – zumindest vorerst. Ich hörte, wie die Comtesse einen Fluch ausstieß. Im Licht der Gigantscheinwerfer sah ich sie auf einen der Stollen zu rennen. Die Roboter zogen sich zurück, sie erhielten offenbar Befehl, sich um die Jacht zu kümmern. »Zerog?« Ich erhielt noch immer keine Antwort. Ich rief die Frauen und Männer meiner Gruppe zu mir. Durch das offene Schott drangen wir in die Station ein. Die Doppelschleuse blockierten wir, sie repräsentierte unseren einzigen Weg nach draußen. Hinter den Schotts erwartete uns ein leerer Raum, dann folgte eine weitere Schleuse. Dahinter lag die eigentliche Medostation. Als erstes sah ich die offene Hutschachtel. Sie stand auf einem Beistelltisch. Dann fiel mein Blick auf die Liege, auf der sie Rico festgeschnallt hatten. Erleichtert stellte ich fest, dass er noch vollständig
war. Von den um die Liege gruppierten Maschinen führten Tentakel und Leitungen zu seinem Körper. Am Fußende stand eine große, hagere Gestalt mit wirrem, schwarzem Haar und rechnete mit den Fingern auf einer Paneleinheit. Der Mann war so vertieft, dass er weder den von uns verursachten Luftzug wahrnahm noch die Gestalten, die sich langsam aus der Unsichtbarkeit schälten. Ich griff nach der Hutschachtel und warf ihm damit das Panel aus der Hand. Erschrocken blickte er auf. »Wie können Sie …« Er sah meinen Strahler und verstummte. »Sie machen alles rückgängig, was Sie mit ihm angestellt haben«, kommandierte ich. »Sofort!« Panik befiel ihn. Er streckte uns abwehrend die Arme entgegen. »Nicht schießen! Ich tue alles, was Sie verlangen. Es ist nicht meine Schuld. Er hat Selbstmord begangen!« »Rico!« dachte ich. »Was hast du mit diesem Wissenschaftler angestellt? Jetzt redet auch er von dir schon wie von einem Lebewesen!« »Wer sind Sie?« »Ich bin Professor Saint-Phare! Ich arbeite im Auftrag der Union Étoiles.« »Sie sind nicht zufällig auf den Gedanken gekommen, dass das alles illegal ist, was Sie hier treiben?« »Ich hatte keine andere Wahl. Meinen Assistenten hat die Comtesse bereits getötet, weil wir noch keinen Erfolg hatten.« »Vielleicht beruhigt es Sie, dass wir von der USO sind. Ihr Leben ist nicht mehr bedroht, Professor. Und jetzt helfen Sie mir gefälligst, Rico wieder aufzuwecken.« »Es dauert mindestens eine Stunde, alle Instrumente abzukoppeln und die Daten in die Zentralpositronik zu übertragen.« »Professor! Hier wird nichts mehr übertragen. Meine Begleiter kümmern sich im Gegenteil darum, dass alles gelöscht oder zerstört wird, was Sie aus den Datenspeichern des Roboters geholt haben.« Ich beugte mich über Rico und berührte ihn an der Wange. Hoffentlich konnte er mich hören und verstehen. »Das war knapp, mein Freund«, sagte ich. »Aber jetzt sind wir da.« »Sir!«, vernahm ich eine Stimme aus dem Helmlautsprecher. Es war Themo. »Wir bringen jemanden, den Sie bestimmt schon ver-
missen!« »Ich komme Ihnen entgegen!« Ich verließ die Medostation und flog durch das Loch hinab zum Boden der Kaverne. Aus dem Stollen rannte die Comtesse, dicht gefolgt von Themos Kämpfern. Sie wollte zu einem der Antigravschächte, aber dort standen USO-Agenten der zweiten Gruppe. Deflektoren benutzte jetzt keiner mehr, da sämtliche Kampfhandlungen zum Erliegen gekommen waren. Die Frauen und Männer drängten die Comtesse zurück. Ich trat zu Major Themosthenes und seinen Leuten und klappte den Helm zurück. »Sie sind zur rechten Zeit gekommen. Wer hat die Jacht gekapert?« Themo zog die Augenbrauen hoch. »Die LE CORBUSIER ist erobert?« »Ja. Wenn Sie nichts davon wissen, kann es nur ein exzellenter Coup der Gruppe Drei gewesen sein. Er hat uns möglicherweise das Leben gerettet.«
Die Comtesse Louise Vimteaux trug eine dunkelblaue, eng anliegende Kombination und war unbewaffnet. Sie atmete heftig, mehr vom Laufen als von der Überraschung, mich hier zu sehen. »Monmartin, warum mischen Sie sich in meine Angelegenheiten ein?« »Als Sie mich in Ihre Villa einluden, haben Sie meine Neugierde geweckt.« »Sie lügen!« »Wie Sie meinen. Es spielt in Ihrer Lage keine Rolle mehr.« »Sie sind bescheiden, aber auch dumm!«, fuhr sie mich an. »Kommen Sie mit mir. An meiner Seite können Sie genau das Leben genießen, das Sie sich schon lange ersehnen.« »Sie scheinen nicht zu begreifen, Comtesse. Für Sie ist hier Endstation. Ihre Leute haben sich ergeben. Und was mich betrifft, mein Leben ist die USO, meine Heimat Quinto Center.« »Jean-Claude, Sie widerlicher Agent!«
»Und schon wieder liegen Sie daneben, Madame! Ich bin nur Monmartins Doppelgänger. Er selbst hat mit der USO nichts zu tun. Er weiß nicht einmal, dass er mir helfen konnte.« Ich log aus triftigem Grund. Es gab viele Zuhörer dieses Gesprächs, da konnte es nicht schaden, einen der angesehensten Bürger dieses Planeten von jedem Verdacht zu befreien. Louise Vimteaux schluckte schwer. »Atlan?« »Zu Diensten, Comtesse! Wären Sie jetzt so freundlich, mir Ihre Hände zu reichen?« Sie erinnerte sich bei meinen Worten wohl an die wenigen Minuten in ihrem Schlafzimmer, an das Streicheln meiner Finger – und zuckte zurück, das Gesicht vor Ekel verzerrt. Am oberen Ende des Tunnels entstand Lärm. Ich kümmerte mich nicht darum, denn ich durfte die Comtesse nicht aus den Augen lassen. Sie war eiskalt, eine Kämpferin. Selbst ohne Waffen hielt ich sie für gefährlich. Siedendheiß fiel mir ein, dass noch niemand sie nach Waffen untersucht hatte. »Hinlegen, los!«, herrschte ich sie an. Sie beugte sich leicht nach vorn, als wolle sie meine Anweisung befolgen. Da sah ich die blitzschnelle Bewegung ihres gesunden linken Arms, das Blinken in der Hand, und warf mich zur Seite. Das Messer verfehlte meinen Hals um wenige Zentimeter und prallte hinter mir gegen die Felswand. Von hinten raste ein greller Lichtblitz heran. Er traf ihre Beine. Für Bruchteile eines Augenblicks schienen sie in roter Glut zu lodern, dann verbreitete das verbrannte Fleisch einen scheußlichen Gestank. Comtesse Louise Vimteaux stand reglos, wie am Boden festgewachsen. Die Schmerzen der schrecklichen Wunde konnten noch nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen sein. Es war dennoch unerklärlich, dass sie sich überhaupt noch aufrecht halten konnte. Herumfahrend sah ich den Ertruser mit seiner Kombiwaffe. »Zerog, lassen Sie es gut sein«, sagte ich nur. »Sie ist gestraft genug.« »Getafy ist schon krepiert«, rief der Agent laut. »Aber den Auftrag für das Massaker von Ephendro hat sie gegeben. Sie liebt es, im Blut
ihrer Opfer zu baden. Damals sind über zweitausend Ertruser ums Leben gekommen.« Ich sprang auf ihn zu, aber er wich mir aus. Es donnerte, als er ein zweites Mal feuerte. Die Wucht des Schusses warf die Frau zu Boden. Sie griff sich an den Bauch, presste die Lippen zusammen. »Hören Sie endlich auf!«, schrie ich den Carsual-Agenten an. »Diese Frau muss vor ein ordentliches Gericht gestellt werden.« Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Ich war enttäuscht von ihm, hatte ihn völlig falsch eingeschätzt. Ihm war es von Anfang an nur um seine Rache gegangen. Einem Mann wie ihm brauchte ich wohl nichts von der abschreckenden Wirkung zu erzählen, die eine öffentliche Verurteilung der Comtesse auf andere interstellare Kriminelle ausüben mochte. Es wäre ihm gleichgültig gewesen. »Wie Sie meinen, Lordadmiral«, antwortete er und ließ die Waffe sinken. Ich wandte wieder mich der Comtesse zu. Medoroboter schwebten bereits heran, um ihr zu helfen, aber sie wehrte ab. »Im Endeffekt war es Ihre ungezügelte Habgier, die Sie hat scheitern lassen«, sagte ich ruhig. »Sie wollten die USO als Höchstbietende haben und waren dafür bereit, Dutzende von Morden zu befehlen. Sie wähnten sich am Ziel, als wir das Höchstgebot abgaben. Dabei haben Sie übersehen, dass die USO besser weiß als Sie, welchen Wert die in Rico gespeicherten Informationen haben. Und jetzt? Sie können mir als Gegenwert für alles Geld dieser Galaxis nicht einmal einen einzigen simplen Zugangskode für Quinto Center anbieten. Das ist wenig, finden Sie nicht auch?« Sie riss die Augen auf, als sähe sie ein Gespenst. Ihre Lippen bewegten sich. »Fahr zur Hölle!«, wollte sie wohl sagen. Die Worte erstickten in einem Schwall Blut. Dann bäumte sie sich auf, als wolle sie sich mit letzter Kraft auf mich stürzen, aber ihre Verletzungen waren zu schwer. Sie sackte zusammen und ihr Schädel fiel auf den Felsboden zurück – so heftig, dass die Kopfhaut platzte und die kunstvolle Turmfrisur sich in eine wirre, schwarze Matte verwandelte. Ihr Blick wurde starr. Es war vorbei. Schmerzhafte Erinnerungen stiegen in mir auf – eine bemerkens-
werte, hochintelligente Frau, die an der Maßlosigkeit ihres Charakters und ihres Wahns zugrunde ging, ein Imperium oder eine ganze Galaxis beherrschen zu wollen. Unwillig schüttelte ich den Kopf. Dieser Vergleich war unangemessen. Die Comtesse hatte nichts von Mirona gehabt, gar nichts. Nichts, das mein Herz hätte zu berühren vermögen. Trotzdem wusste ich nicht, ob ich mich als Sieger und als Verlierer empfinden sollte. »Bei den Sternengöttern! Warum habe ich mich nie in mein Schwert gestürzt, als es noch Schwerter gab?« »Narr! Weil du nicht so bist wie diese Frau!«
Galbay-Informationshandel 6 »Die letzte Chance – die Zeit läuft ab …« Eine galaktische Verschwörung – der Gedanke ging Greg Benson nicht mehr aus dem Kopf. Inzwischen lagen weitere Meldungen von zwei Planeten vor, die als Anlaufpunkte für Bieter oder Kuriere der Bieter galten. Geheime Botschaften hatten die jeweiligen Interessenten aufgefordert, zu einer ganz bestimmten Adresse zu kommen. Die meisten waren nicht selbst gegangen, sondern hatten einen Boten geschickt. Kein Wunder, denn hinter den meisten Bietern steckten die Geheimdienste bestimmter Machtblöcke, und die fielen auf einen solchen Trick nicht herein. Greg hätte gern noch eine Weile gezögert, die eigenen Agenten in den Einsatz zu schicken, aber die Zeit lief ihnen davon. Die Auktion endete demnächst, und Dabrifa lag mit dem jüngsten Gebot an sechster Stelle. Raldie Helm wollte nicht länger zögern, also erteilte Greg den Einsatzbefehl. Die Agenten waren schon vor Ort, sie mussten nur noch tätig werden. Einige Stunden später wusste Greg endgültig, dass es ein Fehler
war. Drei ihrer besten Leute waren in eine Falle gegangen, die jemand eigens für sie vorbereitet hatte. Er geriet ins Grübeln, und dabei kehrten seine Gedanken immer wieder zu dem Mann zurück, den sie in Densington abgefangen hatten. Jemand hatte ihm Geld dafür geboten, dass er bestimmte Orte auf Nosmo besucht und die Leute von der DABRIFAUC an der Nase herumgeführt hatte. Inzwischen hatte der Auftraggeber gewiss alle die Dinge herausgefunden, die er wissen wollte. Benson grübelte weiter, bis eine Hyperfunknachricht von Ertrus eintraf. Er staunte nicht schlecht, als er Oberst Tarak erkannte, einen der führenden Köpfe des Carsual-Geheimdienstes. »Keine langen Vorreden«, bellte der Ertruser. »Ich stehe mit anderen Geheimdienstchefs über eine Hyperfunk-Konferenzleitung in Verbindung. Holen Sie Ihren Chef!« »Er ist nicht in der Nähe. Ich bin Greg Benson, sein Stellvertreter.« »Auch gut. Nehmen Sie an der Konferenz teil?« »Natürlich.« »Gut, geben Sie folgenden Kode ein …« Augenblicke später unterteilte sich der Bildschirm in vierzehn kleine Felder, auf jedem war das Gesicht eines Geheimdienstchefs zu sehen. »Greg Benson von Nosmo ist uns zugeschaltet«, gab der Ertruser bekannt. »In zwei Stunden endet die Auktion. Wie es aussieht, wird keine unserer Regierungen als Gewinner daraus hervorgehen. Es stellt sich die Frage, welchem Zweck die Versteigerung dient. Sollen die Geheimdienste genarrt werden, oder will sich jemand einen Überblick über die Finanzkraft der Machtblöcke in der Westside verschaffen?« »Das halte ich durchaus für möglich«, stimmte Greg ihm zu. »Eine zweite Möglichkeit wäre, dass die Hintermänner der Auktion versuchen, die Gebote in die Höhe zu treiben, den endgültigen Gewinner aber selbst bestimmen wollen, indem sie die anderen aus dem Rennen werfen.« Es waren Gerüchte im Umlauf, dass eventuell sogar die USO selbst hinter der Intrige steckte und lediglich ihre Finanzmittel auf-
bessern wollte. Oder dass irgendein genialer Positronikspezialist die ganze Galaxis an der Nase herumführte. Im letzteren Fall hätte jeder Geheimdienst alles daran gesetzt, das Genie aufzuspüren und in die eigenen Dienste zu nehmen. »Was auch der Fall sein mag«, sagte der Geheimdienstchef der ZGU, »meine Regierung ist schon vorgestern ausgestiegen. Wir bieten nicht weiter, uns ist das Ganze zu dubios. Ich kann das allen anderen ebenfalls nur raten, egal, wer derzeit der Höchstbietende ist. Die inzwischen erreichte Summe ist ein Fantasiewert und liegt um ein Tausendfaches über dem, was die angebotenen Informationen wert sein können.« Ein Großteil der anderen Gesprächsteilnehmer schloss sich dem an. Greg sagte: »Unsere Agenten sind erst jetzt an der Sache dran, drei haben wir bereits verloren. Wir unternehmen nichts mehr in dieser Richtung.« Er verschwieg ihnen, dass es auf Nosmo einen Maulwurf gab, der vermutlich für die Hintermänner der Auktion arbeitete. »Dann ist die Konferenz hiermit beendet«, verkündete Tarak. Die Bilder auf dem Schirm zerfaserten und erloschen. Greg Benson lehnte sich zurück und schloss die Augen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem Mann in Densington zurück. Sollte er ihn nochmals befragen? Er verwarf es. DABRIFAUC überwachte Gorder, und sie hatten alle seine Daten eingesehen. Er war harmlos, einfach in die Sache reingeschlittert, weil er sich auf leichte Art schnell tausend Solar hatte verdienen wollen. Greg verschob eine endgültige Entscheidung auf den Nachmittag. Als er vom Mittagessen zurückkehrte, ging die Meldung von Montagne über die Hyperfunkkanäle. Die Union Étoiles steckte hinter der Affäre, eine Organisation, der Greg bisher keine große Bedeutung beigemessen hatte. Immerhin, sie war aufgeflogen, und Galbays Entscheidung, die Auktion ein paar Sekunden vor ihrem Schluss zu beenden, passte dazu. Eigentlich hätte Greg erleichtert sein müssen, aber er war weit davon entfernt. Immer wieder stand er auf und ging unruhig hin und her. Er fühlte sich nicht wohl, brauchte dringend frische Luft und
beschloss daher, die Arbeit früher zu beenden als üblich. Als er im Aufzug nach oben fuhr, fühlte er eine seltsame Beklemmung in der Brust, ungefähr so, als erwarte ihn auf dem Dach ein fürchterlicher Sturm oder ein starkes Gewitter. Der Himmel empfing ihn strahlend blau. Ein warmer Wind wehte, und Greg Benson ging zwischen den Gleitern entlang zu seinem Dienstfahrzeug. Da sah er ihn liegen, auf dem Bauch, den Kopf in einer roten Pfütze. Er trug graue Kleidung wie vermutlich auch jener geheimnisvolle Auftraggeber, von dem Neil Gorder in Densington das Geld bekommen hatte. Greg ging einmal um ihn herum, dann alarmierte er den Notdienst. Alles sah nach Selbstmord aus. Erst als die Sanitäter den Toten hochhoben und umdrehten, erkannte Greg den Toten. Es war Raldie Helm, sein Chef. Erst Artemio Hoffins, der Dabrifa verraten hatte, jetzt Raldie Helm. Die beiden Geheimdienste des Imperiums standen ohne Führung da. Greg Benson flüchtete in seinen Gleiter und flog unverzüglich nach Hause. »Falls jemand anruft, ich bin nicht da«, trug er dem Servo auf. Er ging in den Schuppen, holte sein Gyrobike und das Angelzeug. Er fuhr zum See, warf die Angel aus – und kehrte nie wieder nach Hause zurück.
Kapitel 12 Rico hing in einem Fesselfeld senkrecht vor den Apparaturen. Die besten Positroniker und Techniker der ANDORRA bemühten sich um ihn. Doktor Zappata beendete seinen Scan und warf mir einen Blick zu. Da ich die Kontaktlinsen nicht mehr trug und den größten Teil der Farbe aus dem Haar gewaschen hatte, sah ich wieder aus wie ich selbst. »Die Erhaltungsenergie in den Notspeichern liegt bei vierzig Prozent«, sagte Zappata. »Der Roboter wird ausreichend versorgt.« »Datenverluste sind nicht zu befürchten?« »Höchstens durch unsachgemäße Behandlung mit dem Energiestreamer. Aber dazu müssten wir diesen Professor befragen.« »Saint-Phare? Meines Wissens hat er den Stützpunkt verlassen und hält sich in Margaux auf.« Was er genau vorhatte, wussten wir nicht. Es sah ganz danach aus, als wolle er seine Arbeit für die Union Étoiles beenden. Natürlich hätte man ihn vor ein Gericht stellen können, aber wir hatten nach dem Tod der Comtesse kein Interesse mehr daran, unnötiges Aufsehen zu erregen. Außerdem hatte er sich bereiterklärt, sich einen Signalgeber anlegen zu lassen, durch den man seinen Standort jederzeit erfassen konnte, so dass ich ihm erlaubt hatte, sich in einem gewissen Umkreis frei zu bewegen. Ich wandte mich an Rastakoff, den Kommandanten des USOKreuzers. »Setzen Sie sich mit dem Professor in Verbindung. Er soll sich zur Verfügung halten, falls wir ein paar Auskünfte brauchen.« »Wird sofort erledigt, Sir!« Rastakoff verließ die Medostation. Ich nickte Zappata zu. »Fahren Sie fort, Doktor!« »Der Bewegungsapparat des Roboters wurde offensichtlich desaktiviert, die Steuerprogramme gelöscht. Im Arbeitsspeicher finden sich Reste von Daten aus verschiedenen Speichersektionen. Ich habe keine Ahnung, was dieser Saint-Phare damit bezweckt hat.« »Es kann auch der Roboter selbst gewesen sein. Er hat versucht, bestimmte Daten vor Diebstahl zu schützen.«
»Wie auch immer, Lordadmiral, unsere Bemühungen, den Roboter wieder zu aktivieren, sind bisher fehlgeschlagen.« »Es handelt sich um spezielle Kodes, die außer mir keiner kennt«, behauptete ich. Sie existierten auch in der Kuppelpositronik am Meeresgrund, aber das musste der USO-Spezialist nicht unbedingt wissen. »Zeigen Sie mir, wo diese eingegeben werden müssen.« Er führte mich zu einer Konsole, an der mehrere gelbe Lampen blinkten. »Reicht das Manual für Ihre Zwecke aus, Sir?« »Ja, danke!« Ich nahm die Eingaben vor. Die Kodes aktivierten einen bestimmten Sektor in der Hardware des Roboters, in dem eine komprimierte Sicherheitskopie der Steuerprogramme abgelegt war. Die Aktivierung erfolgte schrittweise, und ich richtete meine Aufmerksamkeit auf den Roboter in seinem Fesselfeld. Zunächst war nichts zu erkennen. Nach einer Weile leuchteten die Augen auf, die bisher dunkel und matt gewesen waren. Die Finger der linken Hand begannen sich zu bewegen, erst langsam, dann schneller, bis sie sich in allen Gelenken bewegten. Die rechte Hand folgte, während der linke Unterarm erste gymnastisch anmutende Übungen vollführte. Gleichzeitig begann das linke Bein hin und her zu pendeln. »Dashe – Tussan – Gosner«, drang es in abgehackten Worten aus dem menschlichen Mund, ohne dass sich die Lippen bewegten. »Alle Sonnen des Imperiums grüßen dich. Die traditionelle Grußformel der alten Arkoniden.« »Mein – Name – ist – Rico!« »Hallo Rico«, antwortete ich. »Schön, dich zu sehen! Wie geht es dir?« »Dashe – Tussan – Gosner, – mein – Name – ist – Rico!« Der Roboter bewegte die Arme jetzt wie Rotoren. Die Beine fingen in dem Fesselfeld an zu laufen. »Vol – le – Funktions – fähigkeit – herge – stellt. Dashe – Tussan – Gosner, – mein – Name – ist …« Er bewegte den Kopf hin und her, dann richtete sich sein Blick auf mich. »Erhabener, ich erwarte Eure Befehle!« »Gedulde dich ein wenig, Rico. Deine Steuerprogramme sind noch
nicht vollständig.« »Rico erwartet Eure Befehle, Erhabener!« »Ich habe im Augenblick keine Befehle für dich. Später!« Der Roboter winkelte die Arme an, hielt die Hände vor das Gesicht, betastete dann den Kopf. Ich winkte Zappatas Helfern zu. »Projizieren Sie bitte eine Spiegelfläche. Er möchte sich anschauen und sich überzeugen, dass er vollständig ist.« »Vollkommen, wolltest du wohl sagen!« meldete sich der Extrasinn. »Genau das wollte ich sagen, es aber den anderen nicht auf die Nase binden.« Rico betrachtete sich im Spiegel, das Ergebnis schien zu seiner Zufriedenheit auszufallen. »Das System ist komplett.« Er stand übergangslos still, reglos wie zuvor. Ich sah zu Zappata hinüber. Der Doktor blickte gelassen auf die Anzeigen. »Was ist?«, fragte ich. »Nichts. Alles in bester Ordnung.« »Kein Systemabsturz?« »Nein.« »Thek-KSOL-Sektoren restauriert«, sagte der Roboter in diesem Augenblick. »Thek-Transfer wird initialisiert.« Während ich mich fragte, was es damit auf sich hatte, fing der Roboter an zu gehen. »Doktor, schalten Sie das Fesselfeld ab!« »Auf Ihre Verantwortung, Lordadmiral!« »Thek-Transfer eingeleitet.« Das Feld setzte Rico am Boden ab. Er bewegte sich zwei Schritte auf mich zu und blieb stehen. »Thek-KS …« Einen Augenblick lang schien er zu erstarren, dann drehte er sich langsam einmal um seine Achse und sah die Frauen und Männer der Reihe nach an. »Das ist keine Medostation der UÉ«, stellte er fest. »Es erleichtert mich ungemein!« »Jetzt redet er wieder wie ein Mensch« stellte ich fest. Laut sagte ich: »Ich bin froh, Rico, dass es dir gut geht. Sind alle deine Systeme in
Ordnung?« »Atlan, ich bin froh, dich zu sehen! Ja, mir geht es gut. Alle Systeme funktionieren. Ich sichte die Datenbänke und prüfe sie auf ihre Vollständigkeit. Da ist etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte.« »Sollen wir in meine Kabine gehen?« »Ja.« Ich wandte mich an das Spezialistenteam. »Ich danke Ihnen. Ohne Ihre Hilfe wäre Rico nicht so schnell wieder auf die Beine gekommen.« Sie musterten mich, als sähen sie einen harmlosen Verrückten vor sich. Zappata trat zu mir. »Sie müssen mir bei Gelegenheit erklären, was für eine Maschine das genau ist.« »Sind Sie sicher, dass es eine ist?« »Absolut. Ich habe das komplette Innenleben des Roboters studiert. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel darauf.« »Tun Sie das, und vergessen Sie nicht, in Ihrem Bericht darauf hinzuweisen. Nicht dass irgendein Beamter daherkommt und der Meinung ist, Rico sei ein Lebewesen und müsse Steuern zahlen.« Lachen hat etwas Befreiendes. Die Frauen und Männer lachten noch, als wir längst draußen waren und nebeneinander durch den Korridor gingen.
Major Nikos Themosthenes erwartete mich mit seinem Rapport in der Zentrale. »Unser Spezialistenteam ist auf Montagne unterwegs«, meldete er. »Es führt bei etlichen Personen mit deren Einverständnis eine partielle Gedächtnislöschung durch. Die Menschen sind froh, die unangenehme Erinnerung loszuwerden, weil sie befürchten, dass sie durch solches Wissen später wieder in Schwierigkeiten kommen könnten. Nur einer macht Probleme.« »Saint-Phare, oder?« Er nickte. »Aber … Ich fürchte, einer meiner Mitarbeiter hat SaintPhares Willenserklärung fehlinterpretiert. Wissenschaftler drücken sich mitunter ein wenig unverständlich aus …« »Sie meinen, er hat keine Erinnerung an den Roboter behalten.«
Themosthenes bejahte zögernd. »Immerhin hat Saint-Phare wissentlich für eine kriminelle Vereinigung gearbeitet«, beruhigte ich ihn. »Tragen Sie Ihrem Spezialisten seinen Fehler nicht also zu sehr nach.« »In Ordnung, Lordadmiral.« Themo klang erleichtert. »Die Verhöre der UÉ-Leute haben folgendes Bild ergeben …« Niemand hatte etwas von den persönlichen Machenschaften der Comtesse gewusst. Zum Schicksal des Dauphins Philippe Betoncourt gab es keine Hinweise. Möglicherweise war er geflohen, oder er hatte ebenfalls nichts von dem Coup gewusst. In der Kabine der Comtesse an Bord der LE CORBUSIER hatten wir ein paar mündliche Aufzeichnungen gefunden. Aus ihnen ging hervor, dass Louise Vimteaux mit den Milliarden aus der Auktion eine eigene Organisation hatte aufbauen wollen. Das Wissen über die USO hätte sie nie an Andere weitergegeben. Deshalb war sie auf den Gedanken gekommen, alle Bieter und deren Kuriere nach und nach auszuschalten, die Boten gleich vor Ort. Es hieß, dass auch der Gewinner der Auktion leer ausgegangen wäre. Er hätte bezahlt, aber nie die Informationen erhalten. So gesehen hatte es sich aus rechtlichem Blickwinkel heraus als richtig erwiesen, dass Galbay die Auktion im letzten Augenblick gestoppt hatte. »Ist die Spezialmeldung schon an die Öffentlichkeit rausgegangen?«, fragte ich Themo, der zwar noch blond war, aber keine blauen Kontaktlinsen mehr trug. »Ja. Die Milchstraße erfährt in diesen Stunden, dass die Union Étoiles hinter dem Spektakel mit der Auktion steckte und kläglich versagt hat. Der so genannte gute Ruf dieser Organisation dürfte damit nachhaltig ruiniert sein. Was den Stützpunkt auf Montagne angeht, so gibt es als einzige Handhabe, um ihn aufzulösen, die Tatsache, dass er nicht genehmigt war. Da die Bewohner Montagnes aber keine große Lust zeigen, etwas an diesem Status Quo zu ändern, werden die Angestellten und Wissenschaftler den Betrieb erst einmal aufrechterhalten. Vermutlich, bis Betoncourt auftaucht oder ihnen das Geld ausgeht.« Themo drückte mir einen Speicherchip in die Hand. »Aus dieser
Aufzeichnung der Comtesse geht hervor, dass der Wissenschaftler Haydin Escobar für die UÉ als externer Mitarbeiter tätig war. Nach der Entdeckung der Unterwasserkuppel hat sie ihn als lästigen Zeugen beseitigt.« Es bestätigte meine Vermutungen über die Zusammenhänge, die ich schon auf Terra gehegt hatte. Die Entführung Ricos konnte somit als abgeschlossen gelten. Die Geisel war befreit, das geheime Wissen über die USO und Quinto Center gerettet. Letztlich würde sich wohl nie klären lassen, ob die Comtesse nur darauf spekuliert hatte, dass in Rico unersetzliche Informationen verborgen waren, oder ob sie auf handfeste Indizien dafür gestoßen war. »Danke, Major. Wenn Sie mich jetzt bitte begleiten würden? Bei unserem Abflug von der Erde sagte ich, dass Sie vielleicht noch in die Verlegenheit kommen könnten, den Roboter kennen zu lernen.«
Wir suchten meine Kabine auf. Rico stand vor dem Bildschirm und verfolgte die aktuellen Nachrichten. Als er uns eintreten hörte, wandte er sich zu uns um. »Sagen Sie nichts«, meinte er. »Ich habe Sie noch nie gesehen, aber Sie müssen Major Nikos Themosthenes sein.« »Das ist richtig«, bestätigte der Major. »Du konntest das dem schiffsinternen Funkverkehr entnehmen.« »Da es sich aus einer logischen Schlussfolgerung ergibt, brauchte ich keine solchen Umstände zu machen. Ich freue mich, Sie zu sehen, Sir!« Er ging auf Themo zu und reichte ihm die Hand. Der drückte sie verblüfft. »Das Metall fühlt sich überhaupt nicht kalt an.« »Mit etwas sensibleren Fingern könnten Sie möglicherweise so etwas wie ein Pulsieren spüren.« Ich schüttelte den Kopf. »Rico, übertreibe es nicht. Major, versprechen Sie mir, zu keinem Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen über diesen Roboter zu sagen. Auch nicht im Schlaf.« »Sie haben mein Wort, Lordadmiral! Wenn ich mich jetzt verabschieden darf …«
Es war ihm deutlich anzusehen, dass er froh war, dieser unwirklichen Situation entrinnen zu können. Als er gegangen war, trat ich neben Rico. »Was gibt es an neuen Nachrichten?« »Der Umsturz auf Terrancona ist gescheitert. Die Demokratie hat einen Sieg davongetragen. Und auf Montagne hat ein alter Handelsherr Selbstmord begangen.« »Heißt er zufällig Colombé?« »Das war sein Name.« »Ein Agent der Comtesse. Er kam in Margaux zu mir und wollte mich hereinlegen. Offenbar sah er jetzt, wo die Comtesse aufgeflogen ist, keine andere Möglichkeit mehr, als sich das Leben zu nehmen.« Ich beobachtete den Roboter von der Seite. »Wir werden dich in den nächsten zwei Wochen einigen Tests unterziehen, um sicherzugehen, dass mit deinen Systemen alles in Ordnung ist«, sagte ich. »Nicht dass Saint-Phare dir ein paar Trojaner untergejubelt hat.« »Danach möchte ich wieder nach Terra«, antwortete Rico. »Dort ist meine Heimat!« »Und dort wirst du die Sicherheitssysteme der Tiefseekuppel erweitern und verschärfen. Einen Zwischenfall wie diesen darf es in Zukunft nicht mehr geben.« »Du kannst dich auf mich verlassen, Atlan!« Der Gedanke an Terra erinnerte mich daran, dass auf Sao Miguel bald eine Fiesta stattfand, zu der ich eingeladen war. Ob ich daran teilnehmen konnte, stand in den Sternen. Zuerst einmal musste ich nach Quinto Center zurückkehren. Außerdem stand bald ein Routinebesuch auf der USO-Ausbildungswelt USTRAC an. Ich konnte nicht überall sein, obwohl es bei einer galaktischen Feuerwehr wie der USO manchmal nötig gewesen wäre. Aber Quinto Center brauchte mich, und ich brauchte Quinto Center. In Gedanken sah ich Decaree Farou in der Hauptzentrale stehen. Bei Licht sah sie fast noch anziehender aus als im Dämmerschein meiner Kabine … ENDE
Glossar Aktivatorträger – Ein so genannter Zellaktivator – wie beispielsweise Atlan –, der im bekannten Universum ausschließlich von der Superintelligenz ES verliehen wird, verleiht seinem Träger die relative Unsterblichkeit. Grundlage dafür ist eine fünfdimensionale Schwingung, die ständig den individuellen genetischen Kode aktiviert. Aktivatorträger können also nur durch direkte Gewalteinwirkung sterben, aber auch dann, wenn man ihnen das Gerät einfach wegnimmt. In einem solchen Fall beginnt für den Aktivatorträger nach 62 Stunden eine rapide Alterung, die sehr schnell zum Tod führt. Atlan – Atlans arkonidisches Geburtsdatum entspricht dem 9. Oktober 8045 vor Beginn der christlichen Zeitrechnung. Der Kristallprinz erblickte auf der Kristallwelt Arkon I im Kugelsternhaufen Thantur-Lok – also M 13 – das Licht der Welt. Als Kristallprinz Mascaren Gonozal war er designierter Nachfolger des über das Große Imperium der Arkoniden herrschenden Imperators Gonozal VII. – doch sein Vater wurde, als Mascaren vier Arkonjahre alt war, auf dem Jagdplaneten Erskomier ermordet. Der Kristallprinz wurde vor den Schergen gerettet und wuchs auf Gortavor, einer Randwelt des Großen Imperiums, auf, geleitet von Fartuloon, dem Bauchaufschneider, seinem väterlichen Freund und Lehrmeister. In Erinnerung an den ursprünglichen Namenswunsch seiner Mutter wurde der junge Prinz Atlan genannt. Atlan erlangte im Alter von 18 Arkonjahren nach intensiver Erziehung und Schulung auf der Prüfungswelt Largamenia den dritten Grad der ARK SUMMIA – dies war gleichbedeutend mit der Aktivierung des so genannten Extrasinns. Ab diesem Zeitpunkt besaß Atlan einen selbstständigen Dialogpartner im Gehirn, mit dem er kommunzieren konnte. Nach vielen Kämpfen und Auseinandersetzungen konnte der Tyrann Orbanaschol ge-
stürzt werden. Atlan trat danach zunächst in die Raumflotte ein; es folgten unter anderem Einsätze gegen die Maahks. Wenig später kam es zu Atlans Aufenthalt im Larsaf-System (Larsaf ist die Sonne; Larsaf III war der arkonidische Begriff für Terra). Atlan ließ auf Larsaf III eine Kolonie auf dem Kleinkontinent Atlantis errichten. Hier kam es auch zu Kämpfen gegen die Druuf, Wesen aus einem anderen Universum, dessen Zeitablauf gegenüber dem des Standarduniversums deutlich langsamer war. Im Alter von 36 Arkon- oder etwa 43 Terra-Jahren erhielt Atlan an Bord eines Robotschiffes im Auftrag der rätselhaften Wesenheit ES seinen Zellaktivator, der ihm fortan ein potenziell unsterbliches Leben ohne weitere Alterung ermöglichte. Nach dem Untergang von Atlantis und dem Tod seines letzten arkonidischen Begleiters, der von steinzeitlichen Menschen mit einem Faustkeil erschlagen wurde, begann Atlan, nach irdischer Zeitrechnung war dies der 29. Dezember 8000 vor Christus, seinen ersten Tiefschlaf. Als »Paladin der Menschheit« lebte er fast 10.000 Jahre auf der Erde (nachzulesen in den ATLAN-Büchern 1 bis 13). Ertruser – Nachkommen früher terranischer Auswanderer, die sich der Umwelt ihres Planeten Ertrus angepasst haben. Die durchschnittliche Körpergröße beträgt zweieinhalb Meter, die Schulterbreite über 2,10 Meter, das Gewicht rund 16 Zentner. Enorm reaktionsschnell und mit großen Kräften ausgestattet. Die Schwerkraft ihrer Heimat beträgt 3,4 Gravos, deshalb benötigen Ertruser auf normalen Welten einen Mikrogravitator. Fesselfeld/-projektor – Kraftfeld zur Immobilisierung von Gegenständen, das sich um die betreffenden Objekte legt und diese in einer Position fixiert; unterschieden werden drei Arten von Fesselfeldern: das einfache normalenergetische (am häufigsten verwendet), das gravomechanische (schafft starke künstliche Schwerkraftzonen, um ein Objekt festzuhalten) und das –> hyperenergetische 3-Schichten-Feld, das auch hyperenergetische Ein-
flüsse blockiert (z.B. –> paranormale Kräfte). KSOL – Im Tai Ark'Tussan übliche Bezeichnung für Positroniken, bisweilen mit einer Kodezahl kombiniert. Perry Rhodan – Der 1936 geborene Amerikaner war im Jahr 1971 alter Zeitrechnung der Kommandant der ersten Expedition zum Mond. Nach der Landung mit der Rakete STARDUST trafen Perry Rhodan und seine Begleiter auf Außerirdische, die Arkoniden, von denen sie zahlreiche technische Geheimnisse übernahmen. Mit Hilfe der arkonidischen Technik gelang die Einigung der zerstrittenen Staaten der Erde, die so genannte Dritte Macht wurde gegründet, und gemeinsam stießen die Terraner – wie sich die Menschen nun nannten – in die Galaxis vor. Nach Begegnungen mit der Superintelligenz ES erhielt Perry Rhodan eine lebensverlängernde Zelldusche, später einen Zellaktivator. Seither ist er relativ unsterblich: Zwar kann er durch Gewalt getötet werden, Krankheiten können ihm aber nichts anhaben. Mit seinen Gefährten baute Perry Rhodan zuerst die Dritte Macht auf, später das Solare Imperium, das sich zur stärksten Macht der Milchstraße entwickelte. Rhodan lernte Wesen aus verschiedenen Galaxien kennen, stieß in andere Galaxien und sogar in fremde Universen vor. Nachdem das Solare Imperium im Jahr 3460 alter Zeitrechnung zusammen gebrochen war, folgte eine jahrzehntelange Odyssee durch das Universum. Im Jahr 3586 wurden die Liga Freier Terraner und die Kosmische Hanse gegründet, die Neue Galaktische Zeitrechnung brach an. Thek – Arkonidisches Wort für Hügel, aber auch für Gipfel