Das Leben unserer Generation Otto Zierer, der Verfasser der 40 bändigen Weltgeschichte „Bild der Jahrhunderte", hat sei...
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Das Leben unserer Generation Otto Zierer, der Verfasser der 40 bändigen Weltgeschichte „Bild der Jahrhunderte", hat seinen Ruf als großer Gestalter geschichtlicher Ereignisse mit dem jüngst erschienenen "Werk
DAS BILD UNSERER ZEIT
1917 bis 1954 von neuem gefestigt. Auch in diesem großangelegten Werk verbindet Zierer das, was man im allgemeinen unter Geschichte versteht — Kriege und Schlachten, Konferenzen und Verträge, Staatsmänner und Politiker, Monarchen und Feldherren — mit dem Alltag des Bürgers und Arbeiters und mit dem Geschehen in den Ateliers der Maler und Bildhauer, den Arbeitszimmern der Dichter, den Wohnungen der Musiker und Komponisten, den Laboratorien der Wissenschaftler, den Studierzimmern der Philosophen und den Konferenzräumen der Finanzmänner und Unternehmer. „EIN BUCH, VON DEM MAN SPRICHT" schreibt die Allgemeine Zeitung, Mainz, in ihrem Urteil über „Das Bild unserer Zeit". „Es ist eines der fesselndsten Dokumentarwerke geworden, weil es in die brennenden, selbsterlebten Ereignisse der Gegenwart eingreift, mit denen wir selbst Geschichte erlebten . . . Man wünscht, wir hätten heute viele dieser Bücher" (Der Fortschritt, Düsseldorf). —• Im Rheinischen Merkur urteilt der Kritiker: „Dieser 702 Seiten umfassende Band ist eine großartige Leistung, ein anschauliches Bild des politischen, kulturellen, wissenschaftlichen, künstlerischen und wirtschaftlichen Lebens . , . Die Szenen lassen uns in oft herzbeklemmender Anschaulichkeit die jüngstvergangenen Jahre wieder erleben . .. DerVerf asser stellt den Leser mitten in charakteristischeSzenen nicht nur aus dem öffentlichenGeschehen, sondern auch aus der privaten Sphäre geschichtlicher Persönlichkeiten oder auch gutgezeichneter Menschen aus allen Bevölkerungsschichten". 736 Seiten mit historischen Karten, Zeitdokumenten und Begriffserklärungen — Ganzleinen mit Goldprägung DM 16.90 Durch alle Buchhandlungen zu beziehen
Y E R L A C SEBASTIAN LUX M U R N A U - M Ö N C H E N - I N N S B R U C K - ÖLTEN
KLEINE
BIBLIOTHEK
D E S WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND K U L T U R K U N D L I C H E
HEFTE
Fritz Bolle
RATSHERR GUERICKE Energien aus dem Nichts
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU- M U N C H E N - I N N S B R U C K - OLTEN
„Ich werde es versuchen . . ." Von der Kirche zu St. Michael dröhnen elf Glockenschläge über die winkligen Gassen von Jena. Silberner Mondschein liegt in dieser Sommernacht des Jahres 1621 auf den Dächern der kleinen Universitätsstadt. Aber mit der nächtlichen Ruhe ist es schlecht bestelU in dieser Stadt, in der tausend Studenten ihr wildes Wesen treiben — Kinder einer unruhigen, gärenden Zeit. Burschengesang schallt aus dem Gasthaus zur Rose, in dem die Universität ihr eigenes Bier braut und an die Studiosen ausschenkt; mit „Vivat" und „Pereat" lärmt es durch die Nacht. Nicht minder laut geht es in der Studentenbude des Hans Kohls zu. Zu fünft sitzen sie da beieinander. Auch hier kreist, wie drüben in der Rose, der Becher, aber kein Lied klingt auf. Mit heißen Köpfen reden sie aufeinander ein, die jungen Herren. Meister Grehier, der Hausherr, lauscht eine Zeitlang an der Tür. Über welch wirres Zeug die Studenten sich erregen und disputieren, über die Planeten und über die Sonne, den leeren Raum und das Nichts — wie soll ein biederer Bürgersmann da mitkommen! Kopfschüttelnd schlurft Greiner in seine Schlafkammer, aber lange noch hört er aus Kohls Stube die Stimmen. Leerer Raum? Nichts? — Wie man sieb darüber nur ereifern kann, denkt der M e i s t e r . . . über das Nichts? . . . „Und Kopernikus hat recht, hat dreimal recht! Im Raum, im leeren, kreist unsere Erde um die Sonne! Durch den leeren Raum rasen die Planeten. Und im Raum, im unendlichen, grenzenlosen glühen tausend und tausend Sonnen wie unsere. Lest's nach bei Jordanus Brunus, den sie verbrannt haben vor zwanzig Jahren!" Streitlustig blickt Karl Riese in die Runde, als wolle er sie alle vor seine Klinge fordern. — Ruhig antwortet ihm Hans Kohls, Student der Gottesgelehrsamkeit: „Schau nicht so bös drein, Carole! Man 2
muß darüber nachdenken, muß die Autoritäten befragen. ,Leerer Raum' — wie schnell das ausgesprochen ist. Lies einmal bei Augustinus nach: Es gibt keinen leeren Raum; denn in Gott hat alles sein Maß und alles seine Form. Und Gott ist allgegenwärtig. Wie aber sollte er im Nichts gegenwärtig und wirksam sein? Hat nicht Doktor Martinas Luther selbst des Kopernikus' Ansichten verworfen? — „Und doch hat Kopernikus recht!", entgegnet Rudolf Borchers aus Magdeburg dem Theologen. „Unsere Kirche lehrt doch die Allmacht Gottes? Sollte es ihm, dem Allmächtigen, nicht möglich sein, auch im Nichts, im Leeren, zu wirken, mit seinem Finger ins Nichts die Bahnen zu schreiben, auf denen er die Sonnen und Planeten laufen läßt? Ist nicht nach den Worten des gelehrten Johannes Scotus Eriugena das Nichts das Letzte und Tiefste im Unendlichen urd in der Natur?" Johannes Lippold, der vierte im Kreise, blickt spöttisch auf den Sprecher. „Bleib doch auf dem Boden der handgreiflichen Tatsachen, Borchers!" sagt er und zieht eine der gebauchten Weinflaschen zu sich herüber. „Ich beweise Dir, daß die Natur das Nichts haßt — Horror vacui nennen's die Schriften, schon der alte Heron hat es gewußt. Hier, Freund, nimm diese Flasche! Vorhin war Wein darin, jetzt ist sie leer. Nein, sie ist nicht leer, nur das Flüssige ist daraus gewichen", — Lippold lächelt — „entwichen in unsere Kehlen. Hineingeschlüpft ist dafür das leichte Element, die Luft. Versuch's doch einmal, die Luft herauszubekommen ^aus der Flasche, einen wirklich leeren Raum zu schaffen. Saug doch einmal daran, trink die Luft heraus — du wirst sehen, Borchers, wie bald schon die Lippe sich in den Flaschenhals drängt, weil die Lippe das entstehende Leere ausfüllen will, weil die Natur das Vacuum haßt, und das Nichts, und1 den leeren Raum nicht duldet. Je mehr du saugst, desto mehr saugt's dich ins Leere hinein, so sehr, daß du die Flasche nachher kaum noch losbekommst. Ist das nicht ein überzeugender Beweis gegen deine Meinung, Borchers?" Das Gespräch kommt in ruhige Bahnen. „Du hast recht mit deinem horror vacui", scherzt Karl Riese, um die Stimmung vollends aufzulockern, „auch ich spüre plötzlich einen schrecklichen Horror vor leeren Flaschen. Doch Spaß beiseite! Was Lippold vom 3
alten Heron gesagt hat, stimmt. Denkt: Wenn man eine leere Flasche mit der Öffnung nach unten in ein Wasserbecken drückt, steigt nur wenig Wasser im Halse hoch. Die Flasche ist eben nicht leer, es ist Luft darin. Nun sauge einmal an der Flasche! Sobald die Lippe hineinschlüpfen will ins Leere, steck schnell den Finger auf die Öffnung und halt sie nach unten ins Wasser. Jetzt, sobald du die Öffnung freigibst, steigt das Wasser schnell hoch in der Flasche, es will, es muß dem Leerwerden zuvorkommen, es hat — wie ich — einen horfor vacui, einen Abscheu vor dem leeren Raum." „Du meinst also", erwidert Borchers, „es gebe nichts, was völlig leer sei. Und der Weltenraum? Ist auch er nach deiner Meinung mit Luft gefüllt? Oder mit einem zarten, leichten Stoff? Oder ist die Himmelsmaterie flüssig, wie Tycho Brahe glaubt, der dem Kopernikus heftig widerspricht." Es gibt in dieser Nachtstunde viele Fragen, auf die niemand eine Antwort weiß. Der fünfte im Kreis der Freunde hat bis jetzt schweigend am offenen Fenster gestanden. Hofisch vornehm ist seine Tracht, schmal und blaß das Gesicht, hellwach aber sind die Augen. „Und du, Guericke was meinst du?" wendet sich Kohls, der Gastgeber, an den Schweigsamen „Trotz des horror vacui — muß nicht da draußen der Raum leer sein, muß nicht irgendwo ein Ende der Luft sein und der leere Raum beginnen? Was halst du davon?" Der am Fenster Stehende wendet sich dem Fragenden zu. „Ihr diskutiert über das Leere", sagt er, „wie es schlechte Philosophen tun. Jeder verteidigt seine vorgefaßte Meinung. Gewiß, man muß nachdenken, gründlich nachdenken. Aber man sollte im Versuch das gedanklich Erschlossene nachprüfen. Lippold hat handgreifliche Tatsachen gefordert; ja, man sollte versudien, Tatsachen zu schaffen, und den leeren Raum selber herstellen. — Je mehr idi über den Weltenbau nachsinne, wie Kopernikus und Giordano Bruno und Kepler ihn uns enthüllt haben, um so mehr läßt mich der Gedanke an die Riesengröße der Gestirne und ihre unermeßlichen Entfernungen ersdiauern, um so mehr bannt mich der Raum, der sich zwisdien ihnen und über sie hinaus ins Grenzenlose erstreckt. Ihn muß man erforschen. Was mag dieses Etwas 6ein, in dem jegliches Gestirn sich bewegt? Man sollte bei guter 4
Muße darüber experimentieren. Und ich glaube einen Weg zu kennen, der weiterführen kann." Rudolf Borchers ist nicht überzeugt. „Experimente? Reichen deine Versuche bis ins Weltall? Sowas kann man nur durch Nachdenken herausbekommen, durch die Philosophia naturalis." „Philosophie der Natur — schön und gut!" antwortet Otto Guericke, „aber nur in Verbindung mit praktischen Versuchen, wie sie in Italien Professor Galilei anstellt. Auch er denkt nach, treibt Naturphilosophie, über Fall und Gewicht, über die Bewegung und Geschwindigkeit der Körper. Aber was er sich ausdenkt, das prüft er praktisch nach. Erst wenn Überlegung und Versuch das gleiche ergeben, erst dann überträgt Galilei die Ergebnisse auf das Ganz« der Welt. Tausende Jahre hat man über den leeren Raum nur nachgedacht, es ist an der Zeit, der grauen Theorie durch Experimente ein Ende zu setzen . . ." Otto Guericke wird Versuche anstellen. Aber es werden Jahrzehnte darüber vergehen. Denn ganz andere Pflictiten ziehen den Jenaer Studenten der Rechte schon bald in ihren Bann.
Student
und
Ratsherr
Jena ist nicht die erste Universität, die Otto Guericke besucht. Schon mit 15 Jahren ist er — der Sitte der Zeit entsprechend — nach Leipzig gegangen; hier, wie im kleinen Helmstedt, hat er die Vorlesungen und Disputationen der philosophischen Fakultät gehört. Der Vater Hans Gericke weiß, was für den Sohn ein gutes Studium wert sein kann, ist er doch selbst studierter Jurist, hat dann als Diplomat in Diensten des Königreichs Polen ein gute.-« Stück der Welt gesehen, sogar das ferne Moskau und die Hauptstadt des Türkensultans, Konstantinopel. Dann ist er in seine Heimatstadt Magdeburg zurückgekehrt, zu deren bodenständigen Patriziern die Gerickes seit dreihundert Jahren gehören (erst Otto Guericke hat, als er 1666 geadelt wird, die französische Schreibart Guericke gewählt). In Magdeburg dient Vater Gericke treu und gerecht als Kämmerer und Schultheiß des Kaiserlichen Schöppen5
gcrichts. Die Familie ist wohlhabend, lebt von Braugerechtsamen und vom Grundbesitz in der reichen Magdeburger Börde, wo ihnen die Güter Altstedt und Niederröldingen gehören. Aus angesehenem Patriziergeschlecht stammt auch Ottos Mutter Anna von Zweidorff; mit zärtlicher Liebe hängen die Eltern an ihrem einzigen Kind, das ihnen am 30. November 1602 neuer Zeitrechnung geboren worden ist. Hauslehrer erziehen den Buben Otto; der Vater, ein weitgebildeter und belesener Mann, lenkt früh das Interesse seines aufgeweckten Sohnes auf all die brennenden Fragen der Zeit. — Aber nun ist der Vater schon fast ein Jahr tot —- von Helmstedt ist Otto in letzter Stunde an sein Sterbelager geeilt. Das ist im Jahre 1620 gewesen, als Tilly, der Feldherr der Liga, den Winterkönig von Böhmen besiegt hat — noch hat niemand ahnen können, daß aus diesem böhmischen Feldzug ein Krieg werden soll mit drei Jahrzehnten voller Brand und Mord, Plünderung und Not, Hunger und Pest ohnegleichen.
* Die juristischen Studien in Jena sind beendet, die Freunde ver-gnügter Studententage und vieler Nachtgespräche über den Lauf der Sterne und den Bau der Welt sind in alle Winde verstreut. Im Vaterhaus zu Magdeburg ist es still geworden; die Mutter hat sich wieder verheiratet. Guericke ist nach Leiden gegangen, um weiterzustudieren; gerade an dieser jungen Universität der Niederlande, die vor wenigen Jahren ihre Unabhängigkeit erkämpft haben, blühen jene Wissenschaften, denen seine ganze Neigung gehört, die „mathematischen Szienzien", die Erforschung der „mechanischen Künste" und die Lehre von ihrer Anwendung. — Ingenieurwissenschaften nennen wir es' heute. Während Otto Guericke in Leiden mit Feuereifer die Gesetze von Hebel und Schraube studiert, sich in die Formelsprache der Mathematik einlebt und Himmelskunde treibt, während er lernt, wie man Gelände vermißt, Häuser entwirft, den Bau ganzer Städte plant und wie man sie befestigt — eine in dieser unruhigen Zeit besonders wichtige Kunst —, frißt sich der Feuerbrand des Krieges immer weiter durch Deutschland. Von schrecklichen Verwüstungen hört und liest Otto Guericke, von den rohen Söldnern 6
des Herzogs Christian von Braunschweig, den sie den „Tollen" nennen, vom Feldherrn Tilly, der den wilden Christian geschlagen. Frankreich, England, Dänemark beginnen sidi in diesen Krieg einzuschalten, ein neuer Name klingt auf: Wallenstein, der nun als General-Oberst-Feldhauptmann die kaiserlichen Armee gegen die Evangelisdien führt. Deutschland brennt an allen Ecken und Enden. Noch aber bleibt Magdeburg verschont. Und noch sind Otto Guericke seine Studien wichtiger als die kriegerischen und diplomatischen Verwicklungen der Zeit. Von Leiden aus madit er, wie es bei jungen Herren von Stand üblich ist, eine ausgedehnte Bildungsreise durch England und Frankreich. Aus dem Studenten der Philosophie, Jurisprudenz, der mechanischen Künste und der Befestigungskunde ist ein fünfnndzwanzigjähriger Mann geworden, der über all die Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt, die der Rat der Stadt Magdeburg jetzt so dringend braucht. So wählt man ihn in den Rat der Stadt als Bauherr; der junge Gelehrte versteht ja einiges von der Fortifikation. und nichts ist in diesen Tagen nötiger als eine starke Sladtbefestigung. Denn Magdeburgs Stellung in diesen verworrenen Kämpfen, in denen es um den Glauben nicht minder geht als um die Macht, ist heikel genug. Es ist eine stolze und reiche Stadt, dieses Magdeburg. Aber nie hat sich der geheimste Wunsch der Magdeburger erfüllt, nie ist diese Hansestadt an der Elbe, deren Rechtspredmng viele andere Städte bis weit nach Polen und Rußland hinein sich zum Vorbild genommen haben, Freie Reichsstadt geworden. Der Erzbisdiof war und blieb Herr der Stadt, so weit man audi seine Rechte beschnitten hatte, so wenig er, der meist in Halle residierte, sich auch in der Stadt sehen ließ. Daran hat anch die Reformation nidits geändert; nun hat man eben keinen Frzbisdiof mehr, sondern einen Administrator des Erzstifts, und das ist in diesen Tagen Herr Christian Wilhelm aus dem brandenburgisdien Haus der Hohenzollern. Gegen den Glauben des Administrators haben die Magdeburger gar nidits; er ist evangelisch wie der größte Teil des Landes. Viel haben sie jedoch dagegen, daß er die Ansprüdie des Erzstifts mit Nachdruck gegenüber den Forderungen der Hauptstadt Magdeburg vertritt. Magdeburg aber will endlich frei 7
und unabhängig sein. Und als der Kaiser über den Administrator die Reichsaclit verhängt, weil er dem dänischen König Kriegshilfe gegen die Reichstruppen geleistet hat, ist das den Magdeburgern nur recht. Aber der Kaiser tut in der Folge etwas, was den Zorn auch all jener Magdeburger erregen muß, die Christian Wilhelm los sein wollen und durchaus der Meinung sind, man müsse dam Kaiser geben, was des Kaisers ist: Der Kaiser benennt seinen zweiten Sohn, den katholischen Erzherzog Leopold Wilhelm, als neuen Administrator. Das ist den braven Magdeburgern zuviel: Ein katholischer Kaisersohn als Herr in Magdeburg — das bedeutet, daß der Traum von der Freien Reichsstadt für immer ausgeträumt ist! Gut, daß in dieser bedrohlichen Lage Ratsbauherr Otto Guericke, der aus Leiden das Neueste an Kenntnissen über den Bau von Wällen und Bastionen, von Schanzen und Batterien mitgebracht hat, im Dienst Magdeburgs steht. Alle Bemühungen, den Kaiser umzustimmen, schlagen fehl. Schon hat er von Papst Urban VIII. die Ernennung des Erzherzogs Leopold Wilhelm, der bereits Bischof von Halberstadt, Bremen und Osnabrück geworden ist, auch zum Erzbischof von Magdeburg erwirkt, schon nehmen Prämonstratenser-Mönche wieder Klöster des Stiftsgebietes in Besitz. Und schon rückt der kaiserliche Feldherr Wallenstein vor die Stadt, um dem neuen Herrn gewaltsam die Tore zu öffnen. Wild geht es in diesem Sommer 1629 in Magdeburg zu. Der Feind steht vor den Mauern der Stadt. Im Innern streitet man sich über das, was zu tun ist. Die Ratsherren und Patrizier sind unsicher. So erzwingen die Bürger, denen die Haltung der zaudernden Patrizier verdächtig wird, unter Berufung auf die evangelische Sache eine Erweiterung des Rates: 18 Bürgerschaftsbevollmächtigte, alles wütende Feinde der kaiserlichen Partei, sind von nun an bei allen Ratssitzungen anwesend. Und sie entscheiden sich für die Verteidigung der Stadt. Die Befestigungen halten. Tag und Nacht ist Otto Guericke auf den Mauern und Bastionen und läßt alle Schäden schnell wieder ausbessern. Er arbeitet nun nicht mehr für sich allein, nicht mehr nur für Magdeburg, sondern auch für seine junge Frau, für seinen kleinen Sohn und für das Kind, das erwartet wird. 29 Wochen 8
Mit dieser Waage gelang Otto von Guericke der Nachweis, da& ein luftleer gepumpter Behälter leichter ist als ein luttgefüllter (siehe auch S. 27)
wehrt sich Magdeburg, 29 Wochen steht Otto Guericke seinen Mann — dann zieht Wallenstein ab. Der Städtebund der Hanse kommt Magdeburg zu Hilfe: Wallenstein erhält 10 000 Taler für die Einstellung der Kanonade. Aber die Unruhe in der Stadt bleibt. Noch immer ist die Gefahr, daß ein katholischer Kaisersohn Herr über Magdeburg werden kann, nicht gebannt. Den Patriziern ist auch weiterhin nicht zu trauen. Es grollt in den Zunfthäusern, in den Hütten der Fischer unten an der Elbe, in den Stuben der Handwerksgesellen. Den ganzen Winter von 1629 auf 1630 gärt es. — Im Februar 1630 bricht die Empörung des Volkes los. Der alte Rat muß zurücktreten, die Verfassung wird geändert, den Patriziern wird fast jegliche Einflußnahme genommen; nun hat auch Gevatter Schneider und Handschuhmacher mitzuwählen, mitzureden, mitzubestimmen. Ein neuer Rat tritt an die Spitze der Stadt; von den alten Ratsherren werden nur zwei wiedergewählt, einer von ihnen ist Otto Guericke. Er ist immer noch schlank, der Ratsbaumeister Guericke, hat immer noch den hellen, schnell zupackenden Blick, und immer, noch den überlegenen Zug des weitgereisten Und weltgewandten 9
Patriziers um den Mund. Was schert ihn das Geschrei der Gasse? Ihn drücken andere Sorgen. Wie wird man im Lager der Kaiserlichen diese Revolte der Bürgerschaft auffassen? Er ahnt, daß Magdeburg schwere Zeiten bevorstehen — wie schwer sie sein werden, das vermag er sich selbst in seinen trübsten Gedanken nicht auszumalen. Der Sicherung der Stadt gelten all seine Anstrengungen; keine Zeit bleibt mehr für Studium- und Forschung. Die schweinsledernen Bände mit den Werken des Köpernikus und des Galilei, des Giordano Bruno und des Johannes Kepler, Bücher, die von den Wundern und Geheimnissen des Weltraumes berichten, stehen unberührt auf den Regalen. Wie gern würde Otto Guericke sie zur Hand nehmen. Aber jetzt Tieißt es neue Batterien entwerfen, alte Schanzen verstärken, Gräben vertiefen und Bastionen erhöhen. Denn die Lage Magdeburgs wird immer bedrohlicher.
Der große
Brand
Die Volkspartei, die an der Macht ist, befestigt ihre Stellung. Triumphierend kann sie verkünden, daß ihre Sache zum Besten steh': Wallenstein, von dem man befürchtet, daß er zurückkehren könne, ist selbst den katholischen Fürsten zu mächtig geworden; schon raunt man, daß er in Ungnade gefallen sei. Große Hoffnung setzt man auf König Gust v Adolf von Sdiweden; es heißt, er werde die Sache der Evangelischen zu der seinen machen; schon rüste er zur Hilfeleistung. Da in dieser Zeit Christian Wilhelm heimlich mit Gustav Adolf verhandelt, wendet sich der Rat wieder dem abgesetzten Administrator zu und fordert ihn auf, sein Amt wieder anzutreten. Leidenschaftlich wird die Empörung gegen den Kaiser, als aus dem Gebiet des Erzstifts um Halle gemeldet wird, daß kaiserliche Kommissare nachdrücklichst die HuWigung vor dem neuen Erzbischof Leopold Wilhelm fordern und daß ein kaiserliches Mandat alle evangelischen Geistlichen verpflichtet, Häuser und Pfründen binnen adit Tagen an die Kommissare zu übergeben. Magdeburg fügt sich nicht, Rat und Bürgerschaft stehen zu Christian Wilhelm und schließen ein Verteidigungsbündnis mit dem König von Schweden. 10
Noch immer vermeiden die Besonnenen, zu deren Wortführern auch Otto Guericke gehört, das Äußerste. Ausdrücklich wird festgelegt, daß sich Magdeburgs Bündnis mit Schweden nicht gegen des Kaisers Majestät richte, sondern einzig und allein um des Religionsfriedens willen geschlossen sei. Die militärischen Vorbereitungen werden nicht unterbrochen. Geworbene Truppen besetzen den größten Teil des Erzstifts, besetzen auch Halle. Der Bündnispartner, der schwedische König landet auf der pommerschen Insel Usedom, beim Dorf Peenemünde, und beginnt seinen Siegeszug durch Norddeutschland. Auch die Kaiserlichen bleiben nicht untätig. Was in Magdeburg geschehen ist, gilt ihnen als Meuterei wider kaiserliches Gebot, als Provokation durch einen Geächteten. Kaiserliche Truppen rücken ins Erzstift ein, drängen die magdeburgischen Söldner aus den besetzten Orten, nehmen Halle, marschieren auf Magdeburg zu. Es wird Ernst! Der schwedische König hat seinen Obristen Dietrich von Falkenberg mit einer Truppe tüchtiger Soldaten nach Magdeburg vorausgeschickt. Falkenberg bringt die beruhigende Kunde, daß Gustav Adolf Magdeburg entsetzen werde, und organisiert die letzten Verteidigungsmaßnahmen. Wieder hat Otto Guericke alle Hände voll zu tun: Die Wälle werden nochmals verstärkt, auf der Marsch, der Eibinsel, werden neue Schanzen angelegt, auf dein rechten Stromufer die Befestigungswerke so erweitert, daß nur ein sehr großes Heer die Stadt einschließen kann. Es ist höchste Zeit. Im Oktober ist Oberst Falkenberg in Magdeburg eingerückt, im November bereits erseheint der kaiserliche Feldmarschall Gottfried Heinrich von Pappenheim vor Magdeburg, ein Mann, von dem man weiß, mit welch rücksichtsloser Härte er vor kaum fünf Jahren den Bauernaufstand in Oberösterreich niedergeschlagen hat. Die knapp 10 000 Mann, die Pappenheim mit sich führt, reichen nicht aus, den Ring um Magdeburg zu schließen. Ohne Entscheidung vergeht der Winter von 1630 auf 1631, Im Frühjahr 1631 führt der kaiserliche Generalissimus Tilly 26 000 Mann mit 86 Geschützen vor die Mauern von Magdeburg. Pappenheim drückt auf die Schanzen am rechten Eibufer, nimmt die meisten schon in kurzer Zeit; im April fällt auch die Bastion 11
am Brückenkopf, geht die Elbinsel verloren. Der Kreis um Magdeburg wird enger. Und doch erkennen die Magdeburger noch immer nicht den Ernst der Lage. Erbittert schreibt Otto Guericke in sein Tagebuch: „Die Constabler lassen es sich sehr angelegen sein, den Feind, der im Roten Hörn, hinter den Weiden und allbereits in den Laufgräben liegt, mit dem Geschütz zu vertreiben, weil Pulver genug bei der Stadt vorhanden und unnötig zu ersparen wäre"; heftig rügt er vor dem schwedischen Oberst die Verschwendung der kostbaren Munition, nur jeder zwanzigste oder dreißigste Schuß treffe einen Feind, man werde das Pulver noch sehr nötig haben. Falkenberg geht über die Warnung hinweg tinrl verweist auf die baldige Hilfe seines Königs. Der Druck des Feindes wird stärker. Die beiden großen Vorstädte, Süden bürg im Süden, die Neustadt in Norden, werdeD geräumt und alle Kämpfer für die Verteidigung der Hauptbefestigung zusammengezogen. Die Vorstädte werden niedergebrannt, um sie nicht in die Hand des Feindes fallen zu lassen. An den gleichen Tagen, dem 24. und 25. April 1631, beginnt der große Angriff der Kaiserlichen. Brandbomben fallen in die Stadt. Sturmtruppen rücken von Norden und Süden vor. Und doch ist man in Magdeburg noch immer guten Mutes, weil man die Hilfe der Schweden nahe glaubt. Übergabeverhandlungen werden stolz zurückgewiesen, Ausfälle sollen den Druck der Belagerer lockern. Doch Gustav Adolf kommt nicht! Zwar steht er bereits in Brandenburg, schon halt er die Festung Spandau besetzt, aber der Kurfürst von Brandenburg, schwankend zwischen seinem evangelischen Glauben und der Gefolgstreue zum Kaiser, verweigert Gustav Adolf den Übergang über die Elbe. Tilly nützt die Chance. Die Fahne des Kaisers muß früher über den Wällen von Magdeburg wehen als die des Schweden! Die Beschießung wird verstärkt, Pappenheim drängt von der Neustadt immer dichter unier den Hauptwall, mehrere Werke sind schwer beschädigt, an einer Stelle ist eine Bresche gelegt. Verzweifelt wehren sich die Bürger und die kleine schwedische Besatzung. Was Guericke vorausgesehen, trifft ein: Das Pulver reicht nicht aus. Am 8. Mai schweigen plötzlich die Geschütze der Belagerer. Tilly schickt einen Parlamentär und fordert erneut einfache Unter12
werfung und Übergabe. Rat und Bürgerschaft der Stadt treten am 9. Mai zusammen, um über seine Forderung zu verhandeln, heftig prallen die Meinungen aufeinander. Lauter werden die Stimmen derer, die meinen, die Stadt habe sich wacker genug gehalten, und es sei an der Zeit, mit dem Feind zu paktieren; mit Gustav Adolf sei nicht mehr zu rechnen. Rat und Bürgersdiaft beschließen am Nachmittag des 9. Mai, Parlamentäre ins feindliche Lager zu entsenden. Doch Oberst Falkenberg überredet sie, die Entsendung der Unterhändler auf den nächsten Morgen zu verschieben. Noch immer schweigen die Geschütze des Feindes. Die Posten auf den Wällen melden, daß da und dort die Batterien der Kaiserlichen zurückgezogen würden. So darf man seit langer Zeit zum erstenmal einen Teil der Verteidiger von den Befestigungswerken nach Hause schicken, damit sie endlich ausschlafen können. Man atmet auf in Magdeburg. Und dann dämmert der Morgen des 10. Mai 1631 — nach unserem Kalender ist es der 20. Mai. Bürgermeister Kühlewein, Ratssyndikus Gerhold und der Ratsbaumeister Guericke verhandeln seit der Frühe mit Oberst Falkenberg. Soll man wirklich Verbindung mit Tilly suchen, soll man ausharren? Falkenberg ist für Verteidigung, vertröstet in langer Rede auf den schwedischen Entsatz. Otto Guericke steht enttäuscht am Fenster, er kennt das alles zur Genüge. Boten kommen, melden, daß die kaiserlichen Heerhaufen wieder gegen die Wälle vorrücken. Falkenberg verzögert weiterhin die Entscheidung. Es ist 7 Uhr morgens. Otto Guericke fährt zusammen: Der Wächter auf dem Turm von St. Johannis bläst Sturm. Guericke stürzt aus dem Ratbaus. Die weiße Kriegsfahne ist wieder ausgesteckt, hell weht sie durch den Morgen. Guericke springt in den Sattel, galoppiert hinunter zur Elbe. Schon kommen ihm die ersten Flüchtenden entgegen. Von der Neustädter wie von der Sudenburger Seite her haben die Kaiserlichen mit Leitern die fast unverteidigten Wälle überstiegen. Endlich sammeln sich da und dort Trupps der Schweden. Zu spät: die fremdländischen und deutschen Landsknechte des Kaisers stürmen dort unten in die Fischerhäuser, hauen nieder, was ihnen begegnet, plündern. Guericke reißt sein Pferd herum 13
und jagt zurüde. Im Rathaus reden sie immer noch. Guericke fährt mit dem Ruf zwischen sie: „Weitere Beratungen sind nicht mehr nötig, meine Herren! Der Feind ist in der Stadt!" Und in sein Tagebuch wird er schreiben: „Dies ist allen gar unglaublich vorgekommen." Der Feind ist in der Stadt. Verzweifeltes Ringen um jede Gasse, um jedes Haus. Zu Mord, Plünderung und all den Greueln des Krieges gesellt sieh furchbar das Feuer. Nie wird man erfahren. wie es losgebrochen — die Flammen lodern hier, brennen dort auf, und dann ist Magdeburg ein Feuermeer, durch das die entfesselte Soldateska tobt. Falkenberg wird zusammengehauen, der Stiftsadministrator Christian Wilhelm fällt verwundet in Gefangenschaft. Der Ratsherr Guericke rettet mit knapper Not die Seinen, seine Frau, die beiden Kinder. Der Säbelhieb eines Kroaten trifft einen der Knaben. Das Vaterhaus brennt, wie das ganze stolze Magdeburg. Es ist zu Ende mit der Stadt. Otto Guericke ist mit Tausenden Gefangener des Kaisers. Jeder Rettungsversuch ist vergebens; an diesem Tag versinkt Magdeburg in Glut, Sthutt und Asche; nur der Dom, in dem „die elenden Reste der Bevölkerung in bebender Angst od-er dumpfer Verzweiflung den letzten Augenblick" erwartet haben, das Liebfrauenkloster und ein paar Fischerhütten sind unversehrt geblieben. Am nächsten Morgen reitet Tilly durch die rauchenden Trümmer. Er begnadigt die, denen der Dom letzten Schutz geboten hat, und übergibt das Gotteshaus den Katholiken. Draußen im kaiserlichen Feldlager, zwischen den Gefangenen, wartet Otto Guericke mit den Seinen auf die Entscheidung des Siegers über sein künftiges Schicksal. Er hat an diesem einen Tag alles verloren — nur nicht die Zuversicht.
Wiederaufbau Es wird erzählt, Otto die er einst als Skident Seinen satt zu machen, Uhren — damals noch
Guericke habe die mechanischen Künste, in Leiden gelernt, benutzt, sich und die indem er den kaiserlichen Offizieren die seltene, viel bestaunte Kostbarkeiten —
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reparierte. Man kennt den Ratsherrn Guericke auch bei den Gegnern; Tilly und Pappenheim sind sehr genau unterrichtet, wie es in den Mauern der belagerten Stadt zugegangen ist, sie wissen, daß Otto Guericke geraten hat. dem Kaiser nicht „hart zu opponieren"'. So kann er sich mit 300 Talern geliehenem Lösegeld aus der Gefangenschaft freikaufen; Feldmarschall Pappenheim läßt ihm einen „guten Paß" ausstellen, „daß man ihn allenthalben frei passieren lassen sollte". Heimatlos — „mit Weib und kleinen Kindern ganz ausgeplündert" — geht Guericke zunächst nach Braunschweig und tritt dann als Festungshaumeister in Erfurt in schwedische Dienste. Doch nicht lange hält es ihn dort. Schon 1632 kehrt er in die Kuinen seiner Vaterstadt zurück, die inzwischen von den Schweden besetzt worden sind. Er wird zum Wiederaufbau des Zerstörten gebraucht. Als schwedischer Ingenieur und unbesoldeter Stadtrat macht er sich an die Riesenarbeit und wird zum Städtebauer. Doch die großzügigen und weitsichtigen Entwürfe sind nicht zu verwirklichen: Die Bürger sind arm. und sie sind, was schlimmer ist. trotz der gemeinsamen Not eigensüchtig und engstirnig. Jeder will sein Haus wieder da und nur da haben, wo es gestanden hat; so wird die Arbeit am Wiederaufbau Magdeburgs zu einem zermürbenden Kleinkrieg um jedes Fundament, um jede Gasse. Tag um Tag steht Otto Guericke vor seinen Zeichnungen und Plänen, besucht die Baustellen, plagt sich mit querulierenden Bürgern ab. Er will für die Zukunft bauen, braucht geradlinige Straßenzüge, breite Fahrwege — die Bürger denken nur an ihre eigenen Interessen. Schwierig sind auch die Verhandlungen mit dem Kommandanten der schwedischen Besatzungstruppe, denn auch die Befestigungen werden wieder aufgebaut. Noch ärger wird es, als die Scliweden abgezogen sind, mit der nachfolgenden kursächsischen Besatzung. War die schwedische Soldateska noch einigermaßen zu ertragen, so bedrücken nun die kurfürstlich Sächsischen das völlig erschöpfte Magdeburg mit Einquartierung, mit Abgaben an Geld und Gut bis an die Grenze des Menschenmöglichen. Mit flehenden Bitten um Abhilfe entsenden die Bürger den Ratsbaumeister Otto Guericke an den kursächsischen Hof nach Dresden. 15
Die „Magdeburger Halbkugeln" Guerickes werden allein durch „aä äußeren Luftc'ruck zusammengepreßt. 16 Pferden gelingt es nicht, sie auseinanderzureißen (Zeitgenössischer Stich; oben die Halbkugeln mit dem Dichtungsring aus Leder)
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Mit der Reise nach Dresden beginnt ein neuer Abschnitt im Leben Otto Guerickes. Aus dem Ratsbauherrn, aus dem Fortiiikations-Ingenieur, aus dem Städtebauer wird der Diplomat Guericke. Als er anno 1642 vom Dresdener Hof zurückkehrt, bringt er ersten günstigen Bescheid mit; eine zweite Reise im nächsten Jahr wird zum vollen Erfolg: Die sächsischen Regimenter rücken ab. und auch die Schweden, die Teile des Erzstifts besetzt halten, vermag Guericke zum Abzug zu bewegen. Die dankbaren Mitbürger ernennen den Ratsherrn zum vierten Bürgermeister.
Eine Feuerspritze und ein Faß Bürgermeister Guericke ist in diesen schweren Jahren noch ernster geworden, sein streng und scharf geschnittenes Gesicht wirkt noch abweisender als das des jungen Ratsherrn von 1628Es ist einsam geworden um Otto Guericke. Nur ein Sohn ist noch um ihn, seine Frau und sein zweiter Sohn haben die Strapazen des Elendsjahres 1631 nicht überstanden. Und noch eines ist ihm geblieben: Die Liebe zu den Wissenschaften, das Grübeln um die Geheimnisse des Weltalls und seines leeren Raumes. Am Tage schafft er für Magdeburg und für den Wohlstand seines Hauses, das er wiederaufgebaut hat, die Nächte und die wenigen freien Stunden, die er sich gönnt, gehören den Folianten und seinen Versuchen. Otto Guericke macht jetzt endlich wahr, was er einst in Jena versprochen hat. Er geht dem leeren Raum mit Versuchen zu Leibe. Da er ein frommer Mann ist, überkommt ihn zwar der Gedanke, ob es nicht Gott lästern heißt, ins Nichts vorzustoßen; aber wenn Gott allmachtig ist, warum sollte er dann nicht auch im Leeren wirken können, warum sollte er nicht auch das Nichts zulassen? Und warum sollte Gott nicht zulassen, daß ein Mensch, brennend vor Sehnsucht nach dem Einblick in die göttlichen Geheimnisse des Weltenbaues, nicht mehr auf den papierenen Streit der Autoritäten und nicht mehr auf das spitzfindige Für und Wider der Gelehrten hören will, sondern selbst, durch eigene Untersuchungen, hinter das Rätsel des leeren Raumes zu kommen 18
sucht? „Wo nämlich Tatsachen vorhanden sind, bedarf es keiner schonen Worte. Über die Ergebnisse der Geisteswissenschaften kann man gewiß streiten, denn ihnen fehlt die augenscheinliche Gewißheit. In den Naturwissenschaften aber ist die Kunst des Überredens und Disputierens ohne Bedeutung." So sollen dieTatsachen sprechen. In diesen Jahren beginnt Otto Guericke mit seinen Experimenten. Sie erscheinen uns Heutigen, — dreihundert Jahre später und in einer Zeit, da die Luftpumpe zum Hausrat gehört — in ihrer Einfachheit geradezu naiv, so naiv, daß man „seinen Bemühungen beinahe fassungslos gegenübersteht. Aber solche Naivität ist das Vorrecht und der Vorzug genialer Menschen" (Hans Schimank). Otto Guericke nimmt sich vor, einen leeren Baum zu schaffen, indem er aus einem festen, gut verpichten (mit Pech abgedichteten) Faß, das voll Wasser ist, mit einer Pumpe das Wasser entfernt. Die Pumpe herzustellen macht ihm keine Mühe: Eine Handfeuerspritze aus Messing, wie sie damals gang und gäbe ist, wird umgebaut; Guericke könnte sie zum Entleeren des Fasses auch ohne diesen Umbau verwenden, aber dann müßte er sie jedesmal, wenn sie voll Wasser ist, absetzen, und das würde den Versuch unterbrechen, und Luft würde eindringen. Soll das Wasser heraus aus dem Faß, soll im Faß ein leerer Raum entstehen, so muß man das Wasser absaugen können, ohne die Pumpe abzusetzen. Der Batsherr läßt also an der Spritze seitlich einen Stutzen anlöten und zwei Klappenventile anbringen, einfache Lederscheiben. Das eine öffnet sich in der Spritze nach innen, wenn man den Kolben herauszieht — das Säugventil; das zweite sitzt am Stutzen und öffnet sich nach außen, wenn der Kolben wieder heruntergedrückt wird — es ist das Druckventil. Die Pumpe wird gut abgedichtet in das Spundloch des Fasses eingepaßt und mit eisernen Bändern an den Dauben befestigt. Ein kräftiger Hausknecht geht daran, den Kolben der Pumpe herauszuziehen. Er packt zu, zieht, zieht stärker — nichts rührt sich. Batlos schaut der Mann seinen Herrn an; aber Guericke ist nicht minder ratlos. Von der Kraft, die hier auftritt, die sich hier offenbar der Entstehung eines leeren Baumes entgegen19
stemmt, hat auch Otto Guericke noch keine Vorstellung. Ein zweiter Mann wird geholt. Beide zerren sie mit aller Gewalt, zerren, daß ihre Muskeln zittern, daß die Adern heraustreten. Der Pumpenkolben rührt sich nicht. Noch einmal — es gibt einen Ruck, die Männer stürzen hin. Der Kolben hat immer noch nicht nachgegeben, wohl aber die Eisenbänder! Otto Guericke gibt trotzdem nicht auf. Die Befestigung wird verstärkt, längere Schrauben werden eingezogen, ein dritter Helfer herbeigerufen. Ist es nicht beinahe lächerlich, daß drei starke Männer alle ihre Muskelkraft aufwenden müssen, um mit Mühe und Not nun doch den Kolben herauszuziehen, nur damit das Wasser aus dem Faß läuft? Die drei Wackeren plagen sich ab, machen sich keine Gedanken darüber, was der Bürgermeister beabsichtigt. Sie horchen nur auf, als mit dem ersten Zug am Kolben, mit dem ersten Strahl Wasser ein dumpfes Kollern und Brodeln im Faß einsetzt, als koche darin das Wasser. Und es wird ihnen unheimlich, als dieses sonderbare Geräusch stärker wird, je mehr sie pumpen. Otto Guericke muß den Männern gut zureden. Als ei schließlich Halt gebietet, hört auch das Brodeln auf. Und nun wird das Faß untersucht: Die Hälfte des Wassers ist herausgepumpt, die andere Hälfte aber enthält — Luft! Es ist also nichts mit dem leeren Raum. Wieder ist Luft dort, wo eigentlich das Nichts sein müßte. Gibt es also doch diesen „horror vacui", diesen Abscheu der Natur vor dem Leeren, von dem die Gelehrten 80 vieles geredet und geschrieben haben in jenen 1800 Jahren, die vergangen sind, seit Heron von Alexandria die Feuerspritze erfunden haben soll? Otto Guericke grübelt. Wo ist die Luft hergekommen, die den Raum des Leeren eingenommen hat? Er findet nur eine Denkmöglichkeit: Im Bestreben, den leeren Raum auszufüllen, ist sie durch das Holz gedrungen, durch das feste Holz des sorgfältig gepichten Fasses! Das Holz, das keinen einzigen Tropfen Wasser herausläßt, muß dennoch feinste Löchelchen enthalten, zahllose Poren, und eine gewaltige Kraft muß die Luft durch diese Poren pressen. Er grübelt weiter: Wie kann ich die Luft daran hindern, in den entstehenden leeren Raum einzudringen? Und er findet eine ebenso einfache wie geniale Lösung: Der Meister Böttcher 20
muß ein kleines Faß bauen, so klein, daß es in ein gewöhnliches Bierfaß hineinpaßt. Es wird mit Wasser gefüllt und in das große Faß gestellt. Die umgebaute Feuerspritze wird durch das Spundloch des größeren Fasses in das des kleinen geführt und sorgfältig abgedichtet; dann wird auch das große Faß voll Wasser gelassen und auch außen alles gut dicht gemacht. Wenn es jetzt gelingt, das Wasser aus dem kleinen Faß herauszupumpen, kann keine Luft hineingepreßt werden, dann ist nichts da, was den entstehenden leeren Raum ausfüllen kann. Ein Glücksgefühl packt Otto Guericke: Ich werde es versuchen! Wieder kommen die vierschrötigen Helfer („viri quadrati" wird er sie später in seinem Bericht nennen!), packen zu dritt den Kolben, ziehen ihn heraus, stoßen ihn hinein, und so geht es — Zug und Druck und Zug und Druck. Jetzt gibt es auch kein Wallen drin im Faß und kein Brodeln. Otto Guericke achtet genau darauf, wieviel Wasser herausfließt; nicht umsonst hat er die eingefüllte Menge vorher ausgemessen. Die drei arbeiten unverdrossen, bis das innere Faß völlig leer ist. Leer! Es ist geschafft! So hat Otto Guericke diesen Augenblick selbst dargestellt: „Jetzt gelang es, aus dem kleineren Faß das Wasser herauszuschaffen, an dessen Stelle ohne Zweifel ein leerer Raum zurückblieb. Als aber nach Ablauf des Tages mit der Arbeit aufgehört wurde und alles ringsum ruhig geworden war, vernahm ich einen wechselnden, von Zeit zu Zeit unterbrochenen Ton, ähnlich dem eines leise zwitschernden Singvogels. Dies dauerte volle drei Tage. Als darauf die Mündung des kleineren Fasses geöffnet wurde, fand ich dies zum großen Teil mit Wasser und Luft gefüllt. Alle waren von Erstaunen darüber ergriffen. Wie hatte das Wasser in ein Faß gelangen können, das so sorgfältig an allen Stellen verpicht und verstopft war! Ich ersah endlich aus mehrfach wiederholten Versuchen, daß das unter starkem Druck befindliche Wasser durch das Holz hindurchging und wegen der Pressung und der beim Passieren des Holzes erzeugten Reibung immer aus dem Wasser gleichzeitig etwas Luft in dem Fasse sich entwickelte." Der Schluß aus diesen Versuchen ist für Guericke klar: Man muß mit einem Stoff arbeiten, der mit Sicherheit nicht porös ist, mit Metall. Der Kupferschmied bekommt den Auftrag, eine Kugel 21
aus Kupfer zu treiben; oben erhält die Kupferkugel eine mit einem Hahn verschließbare Öffnung zum Einfüllen des Wassers, unten eine zweite zum Anschluß der Pumpe.
„Die Kugel von wunderlicher Wirkung" Immer wieder unterbrechen diplomatische Reisen die nimmermüde Tätigkeit Otto Guerickes als Bürgermeister, als Stadtkämmerer und Stadtbaumeister. Der Krieg, der dreißig Jahre gewütet hat, geht endlich seinem Ende entgegen. Deutsdiland ist ausgebrannt, ist ausgeblutet. In Osnabrück und Münster wird verhandelt. Mit unendlichem Geschick weiß Otto Guericke als Gesandter Magdeburgs die Interessen seiner Vaterstadt zu wahren; als 1648 die Friedensglocken das Ende des Mordens und Brennens einläuten, scheint dieser ernste Mann mit dem kühnen Gesidit das für unmöglich Gehaltene erreicht zu haben. Die Verwirklichung des Traums von der Freien Reichsstadt Magdeburg liegt greifbar nahe. Denn so steht es in dem von Guericke entworfenen Paragraphen des Friedensvertrages, der sich auf Magdeburg bezieht: „Der Stadt Magdeburg soll ihre vormalige Freiheit und das Privilegium Kaiser Ottos I., auch wenn es durdi Ungunst der Zeitumstände verlorengegangen sein sollte, auf ihr untertäniges Bitten von Seiner Kaiserlichen Majestät wieder erneuert werden." Da sind zwar noch einige Ansprüche, die der Kurfürst von Brandenburg und der von Sachsen stellen — aber auch das, so hoffen die Magdeburger zuversiditlidi, wird Guericke schon schaffen. Voll Freude über den fast schon mit Händen zu greifenden Erfolg sagen die Magdeburger ihrem Bürgermeister Guericke für ihn selbst und alle seine leiblichen Nachkommen lebenslängliche Befreiung zu von allen „bürgerlichen Steuern, von Akzisen, Warten, Nachbarrechten, Diensten, und wie das alles sowohl als steuerliche Abgaben wie auch als freiwillige Spenden, als Opfer an Sachwerten und persönlichen Leistungen begriffen und gezählet sein mag". Aber es werden neue Reisen nötig, neue Verhandlungen. Denn Brandenburg und Sadisen pochen auf ihre Ansprüche. So muß 22
Otto Guericke immer wieder hinausfahren, zum Reichsexekutionstag nach Nürnberg 1649, muß an den kaiserlichen Hof nach Wien, nach Prag, zu Beratungen nach Braunschweig und Quedlinburg, muß reisen und mit mächtigen Herren schwierige politische Gespräche führen. Auf allen Reisen begleiten ihn seine Apparaturen. Denn auf den Kongressen ist nicht nur von Gebietsabtretungen, von Privilegien und Staatsverträgen die Rede; hier, im Gefolge der Fürsten, trifft man auf die besten Köpfe der Zeit, und sie alle, selbst die Regierenden, sind brennend interessiert an diesen neuen „mechanischen Künsten" und „mathematischen Szienzien", an den Erkenntnissen des Kopernikus und Keplers, an den Arbeiten des Magdeburgers. Guericke ist ein gutes Stück vorangekommen. Jene Kugel aus Kupfer freilich, die er hat hämmern lassen, hat zu einem Mißgeschick geführt; aber — selbst dieses Mißgeschick ist zugleich Leitstern zu neuen Überlegungen, zu neuen Versuchen gewesen. Über das Mißgeschick hat Guericke selber berichtet: „Anfangs ließ sich der Stempel leicht bewegen, bald wurde dies aber immer schwieriger, so daß zwei kräftige Männer kaum imstande waren, den Stempel auszuziehen. Während sie noch mit dem Ein- und Anziehen des Kolbens beschäftigt waren und schon glaubten, es sei nahezu alles Wasser herausgeschafft, wurde die Metallkugel plötzlich mit lautem Knall zu aller Schrecken so zusammengedrückt, wie wenn man ein Tuch zwischen den Fingern zusammenhallt, oder als ob die Kugel von der äußersten Spitze eines Turmes mit heftigem Aufprall herabgeworferi worden wäre." Zerdrückt ist de metallene Kugel von jener Kraft, die auf das Vakuum wirkt. Und warum zerdrückt? Es gibt für Guericke, und darin ist er ganz und gar ein Kind seiner Zeit, keine andere Erklärung als d'n: Diese Kugel, die da von der Gewalt des Drucks auf das Vakuum so jämmerlich zerquetscht worden ist, war keine vollkommene Kugel. Sonst hätte sie standhalten müssen. Denn die Kugel ist mehr als nur ein mathematischer Körper, sie ist Abbild und Symbol des Vollkommenen schlechthin, sie ist Gottes Zeichen! Mit aller Sorgfalt muß der Kupferschmied eine neue Kugel herstellen, und mit ihr gelingt das große Wagnis: Die Kugel wird 23
leergepumpt, und Guericke schafft zum erstenmal den leeren Raum. Dieser Augenblick muß für den Forscher eine der größten und glücklichsten Stunden seines Lebens gewesen sein. Alle geistreichen Theorien werden sich künftig der Beweiskraft seines Versuches beugen müssen! Schritt für Schritt dringt Guericke tiefer in das Geheimnis des leeren Raumes ein: Er läßt nicht mehr Wasser aus der Kugel herauspumpen, sondern Luft — pfeifend entweicht sie aus dem Ventil. Aus der umgebauten Feuerspritze, der Wasserpumpe, ist die erste Luftpumpe entstanden. Die Knechte haben wieder einmal solange gepumpt, bis keine Luft mehr zischt. Die Kugel muß leer sein. Guericke wird prüfen, ob wirklich in der Kugel ein leerer Raum ist. Er ist gewiß, daß seine Vermutung zutrifft — und doch klopft ihm das Herz, als er den Hahn an der kupfernen Kugel öffnet. Zischend stürzt sich die Luft in den leeren Raum, mit solcher Gewalt, daß der Luftstrom die Hand mitzureißen droht, daß er dem gebannt Beobachtenden den Atem nimmt. Und nicht minder stürmisch füllt sich die leergepumpte Kugel mit Wasser, wenn er den Hahn beim Öffnen unter Wasser hält. Nun geht es schnell vorwärts: Die Pumpe wird verbessert; sie wird auf einen Dreifuß montiert, der Kolben braucht nicht mehr gezogen zu werden, sondern wird durch einen Hebel bewegt. Durch die Abdichtung der Kolben und der Ventile mit Wasser steigt die Saugleistung um das Vier- und Fünffache; dennoch dauert es immer noch Stunden, bis ein größeres Gefäß leergepumpt ist. So kommt Guericke auf die Idee, Kugeln gleichsam auf Vorrat leerzupumpen, wenn er interessierten hohen Herren seine Versuche vorführen, die Zuschauer aber nicht langweilen will: Eine solche „VorratsKugel" — er nennt sie „Cacabus" — reißt das Wasser oder die Luft schon zu einem guten Teil aus dem eigentlichen Vorführungsgefäß, so daß die Pumpe nur noch die letzte Arbeit zu leisten hat. Das Vorführungsgefäß ist nicht mehr aus Kupfer, sondern aus Glas — aus kräftigem Glas, durchsichtig, so daß man nun endlich sehen kann, was im leeren Raum drinnen vor sich geht. Die Glaskugeln, mit denen Guericke arbeitet, beschafft er sich von den Apothekern. 24
Der Druck der Luft Seit j e n e r S t u n d e , d a e r d i e L u f t i n d i e l e e r g e p u m p t e H o h l k u g e l h a t s t ü r z e n sehen, w e i ß G u e r i c k e , welche K r a f t es ist, d i e auf das V a k u u m , d e n l e e r g e p u m p t e n B a u m , w i r k t : E s ist d e r Druck d e r L u f t . „ M e i n e E r f i n d u n g l ä u f t eigentlich d a r a u f h i n a u s , nachzuweisen, d a ß die L u f t nichts a n d e r e s ist als ein Rauch o d e r eine Ausd ü n s t u n g d e r E r d e ; m i t e i n e m ganz b e s t i m m t e n D r u c k l a s t e t sie r i n g s u m auf d e r E r d e , alles von k e i n e m a n d e r e n K ö r p e r A u s g e -
Versuch Otto von Guerickes zur genauen Gewichtsbestimmung des auf den Halbkugeln lastenden Luftdrucks
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füllte durchdringt sie, mit der Erde selbst bewegt sie sieh mit und bildet mit ihr gleichsam einen einzigen Körper." Welche Macht aber hat diese unsichtbare, ungreifbare Luft, mit welcher Kraft zertrümmert sie leergepumpte Glasflaschen! Und wie unentbehrlich ist die Luft: Ohne Luft brennt keine Flamme — die Kerze erlischt, wenn die Luft unter der Glaskuppel abgepumpt wird. Ohne Luft gibt es keinen Schall, denn die Glocke im leeren Raum klingt nicht mehr. Und ohne Luft gibt es kein Leben: Hilflos flattert der Spatz noch ein wenig, wenn die Luft unter den Kolbenstößen der Pumpe immer dünner wird, bis sein kleines Leben erlischt. Und nun weiß er auch, warum die sauber gerundete Kugel nicht vom Luftdruck zerdrückt wird: Nicht weil sie Symbol des göttlich Vollkommenen ist, sondern weil der Druck der Luft von allen Seiten gleichmäßig auf ihre Oberfläche wirkt. All seine Versuche führt Guericke auf dem Regensburger Reichstag von 1654 vor. Kaiser und Kurfürsten, Bischöfe und Reichsgrafen — eine erlauchte Versammlung folgt wie gebannt dein, was der Gesandte Magdeburgs vorzuführen hat. Groß ist das Erstaunen, als Otto Guericke die hochmächtigen Herren schließlich ersucht, allergnädigst doch selbst die Kraft des Luftdrucks zu erproben. Man tritt herbei, betrachtet, was der Magdeburger aufgebaut hat: Ein kupferner Zylinder, darin sich ein Kolben bewegt, von dem ein Seil hoch hinauf zu einer Rolle führt und von dort wieder herabfällt, an den Enden vielfach zerteilt. Guericke bittet die Herren, jeder möge eines der Seilenden festhalten, recht kräftig festhalten. Dann führt er seine bereits leergepumpten „Cacabi" an den Zylinder und macht den Raum unter dem Kolben rasch luftleer. Unaufhaltsam senkt der Kolben sich, vom Luftdruck heruntergetrieben, und die Kurfürsten, die Reichsgrafen, der Kaiser selbst — sie alle mögen noch so viel Widerstand leisten, sie werden mitgezogen, wenn sie nicht loslassen. Lachend, noch ein wenig außer Atem von der ungewohnten Anstrengung, wendet sich der Kaiser an diesen erstaunlichen Gesandten: „Hier hat nur einer gefehlt, der Brandenburger. Der wäre nicht gewichen, der hätte standgehalten, auch wenn er in Stücke zerrissen wäre." Der Brandenburger — das ist Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, ein junger Fürst noch, 34 Jahre alt — aber einer, 26
der weiß, was er will. Er ist auch der Mann, der die gewichtigsten Ansprüche auf Magdeburg in der Hand hält und sie durchzusetzen weiß. Guericke müßte in ihm seinen schärfsten Widersacher sehen, aber er vermag es nicht. Er ahnt, daß mit diesem jungen, stolzen und klugen Fürsten eine Macht heraufsteigt, der Magdeburg kaum wird widerstehen können. Zwölf Jahre später wird diese Ahnung Wirklichkeit: Als Regierender Bürgermeister von Magdeburg unterschreibt Otto Guericke am 28. Mai 1666 zu Kloster Bergen den Vertrag, in dem sich Magdeburg endgültig der landesherrlichen Gewalt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg unterstellt.
Magdeburgische Halbkugeln und Wettermännchen In diesem Jahr 1666 wird Otto Guericke vom Kaiser geadelt. Als Otto von Guericke wird der Erfinder der Luftpumpe unsterblich. Immer tiefer ist er in die Geheimnisse der Luft und des leeren Raumes eingedrungen: „Die Luft ist ein körperliches Etwas, die Wärme dehnt sie aus, die Kälte zieht sie zusammen, sie läßt sich zusammendrücken, doch hat die Verdichtung ebenso eine Grenze wie die Verdünnung. Die Luft besitzt Gewicht" — er vergleicht auf der Waage, um wieviel eine leergepumpte Kugel leichter ist als eine gleich große mit Luft gefüllte — „und sie drückt sich selbst, wie sie auf alles drückt. Sie nimmt Schall und Geruch auf wie Feuchtigkeit und Dämpfe". Und er nennt auch bereits eine greifbare Zahl: „Der Luftdruck ist gleich dem Druck einer Wassersäule, die 19 Magdeburgische Ellen (das sind zehn Meter) hoch ist". Diese zehn Meter Wassersäule entsprechen der dreiviertel Meter hohen Quecksilbersäule, wie sie Galileis Meisterschüler Torricelli im Jahre 1643 als Maß des Luftdruckes gefunden hatte, als er anstatt des Wassers das dreizehnmal schwerere Metall wählte. Otto von Guericke ist weltberühmt geworden, obwohl er selbst noch nichts über seine Versuche veröffentlicht hat. Die Bücher des klugen und gelehrten Jesuitenpaters Caspar Schott über Guerickes Experimente haben die Aufmerksamkeit von Fürsten und Wissenschaftlern auf den Bürgermeister von Magdeburg gelenkt. Das größte Aufsehen aber erregt sein Großversuch, bei dem es 16 Pfer27
den nicht gelingt, zwei luftleer gepumpte, genau aufeinander gepaßte Halbkugeln auseinanderzureißen. Acht Pferde ziehen nach links, acht nach rechts — die Macht des Luftdrucks hält die Kugeln zusammen. Das einfache Drehen eines kleinen Hahnes jedoch reicht aus, die Kugeln kraftlos auseinanderfallen zu lassen (siehe Bild Seite 16/17). Diesen auch heute noch jeden Unbefangenen verblüffenden Versuch hat Otto von Guericke nicht auf dem Regensburger Reichstag von 1654 vorgeführt, wohin ihn die Überlieferung verlegt hat, sondern erst einige Jahre später in seiner Heimatstadt. Deshalb führen diese beiden von dem Druck der Luft allein zusammengepreßten Halbkugeln bis heute mit Recht den Namen „Magdeburgische Halbkugeln". Im Jahre 1662 hat Guericke seiner Luftpumpe ihre endgültige Form gegeben; als kostbare kulturhistorische Schätze werden heute noch drei solcher Pumpen gehütet, eine in Braunschweig, eine zweite, die sich zuvor in der Berliner Königlichen Bibliothek befunden hat, im Münchener Deutschen Museum, das die Erinneruni; an den großen Magdeburger besonders lebendig bewahrt, und eine dritte im Physikalischen Institut der Universität von Lund in Schweden. Im gleichen Jahre 1662 hat Guericke auch das Manometer, den Druckmesser, erfunden. Die rund 19 Magdeburgische Ellen lange Wassersäule, die allein vom Druck der Luft hochgetrieben wird, bringt neue Erkenntnisse. Guericke beobachtet, daß die Höhe der Wassersäule je nach der Witterung schwankt, und daraus schließt er auf die Abhängigkeit der Wetterlage von der Höhe des Luftdrucks. In seinem Magdeburger Haus baut er sich ein durch alle Stockwerke führendes Wasserbarometer, in dem ein holzgeschnitztes „Wettermännchen' 4 auf und ab steigt und manchen Sturm schon Stunden vorher ankündigt. Guericke erkennt auch die Abhängigkeit des Luftdrucks von der Höhenlage; ein Versuch im Harz freilich mißglückt, da der Diener das Instrument zerbricht. Aber es gibt für Guericke keinen Zweifel: Je hoher man kommen würde, desto niedriger würde der Luftdruck sein, desto dünner die Luft. Und dann würde sie schließlich ganz aufhören — dort, wo der leere Raum des Weltalls beginnt, der leere Raum, in dem sich die Weltkräfte ausbreiten. 28
Die
elektrische
Schwefelkugel
Diesen Weltkräften, deren Rätsel ihn seit den Tagen noch unbeschwerten Studiums in. Jena beschäftigen, sucht er auch auf anderen Wegen nahezukommen. Er stellt Überlegungen über die Kometen an und vertritt bereits die Meinung, ihre Wiederkehr müsse sich rechnerisch bestimmen lassen. Und weil er hinter das Geheimnis der Kräfte kommen will, die in der Erdkugel wirken, baut er in Anlehnung an den kugelförmigen Eisenmagneten, mit dem der englische Forscher William Gilbert um das Jahr 1600 den Gesetzen des Erdmagnetismus nachgespürt hat, die erste Elektrisiermaschine: Eine auf einer eisernen Achse drehbare Schwefelkugel von der Größe eines Kinderkopfes, die ihre Ladung durch Reiben mit der trockenen Hand erhält. An ihr entdeckt er erste Gesetze der Elektrizität. Bis ins hohe Alter schafft Otto von Guericke unermüdlich — im Dienst an seiner Vaterstadt ebenso wie an seinen Forschungen. Seine Mitbürger freilich können nicht begreifen, warum all diese Reisen, all die Verhandlungen ihres Bürgermeisters fruchtlos geblieben sind. Sie wägen nicht die grundlegend verwandelten Zeitverhältnisse, sie sind erbittert, daß Magdeburg seine alten Freiheiten verloren hat. Aus dieser Erbitterung kommt es zu bösen Mißhelligkeiten, und so lehnt es der 74jährige Otto von Guericke ah, nochmals den Vorsitz im Rat der Stadt zu übernehmen. Zwei Jahre danach legt er alle Amter nieder, alle Bitternis des Undanks kostet er aus. Als 1681 die Pest Magdeburg bedroht, verläßt er endgültig seine Vaterstadt und sucht im Hamburger Hause seines einzigen Sohnes Zuflucht. Hier lebt er noch fünf Jahre; „Gott hat ihm die große Gnade erwiesen, daß er in seinem höchsten Alter, bei gutem Verstände, Gedächtnis, Gesicht, Gehör, gutem Appetit, Essen und Trinken geblieben. Das Reden aber, Gehen und Stehen ist ihm mit der Zeit beschwerlich geworden". Als 84jähriger ist Otto von Guericke am 11. Mai (nach unserer Zeitrechnung am 21. Mai) 1686 um drei Uhr nachmittags friedlich entschlafen. Zehn Tage später wird er mit dem ganzen feierlichen Pomp seiner Zeit in St. Nikolai von Hamburg zu Grabe getragen. Was irdisch an ihm war, ist verschollen; die Magdeburger haben den Sarg des größten 29
Sohnes ihrer Stadt später in einer Gruft der Magdeburger St. NicolaiKirche beigesetzt, doch ist diese Gruft in den Kriegswirren des Jahres 1806 beseitigt worden.
Geburt eines neuen Zeitalters Geblieben ist sein Werk, das Leibniz noch zu Guerickes Lebzeiten mit diesen schönen Worten gewürdigt hat: „Wenn Sie, mein hochgeehrter Herr, nichts anderes jemals gefunden oder entdeckt hätten als die Kugel von wunderlicher Wirkung zur Erleuchtung menschlicher Weisheit und die Ausschöpfung der Luft zur Vermehrung menschlicher Kräfte, so hätten Sie sich das menschliehe Geschlecht genugsam verbunden". An diese „Ausschöpfung der Luft zur Vermehrung menschlicher Kräfte" hat Guericke wohl gedacht, wenn er sah, welch „ungeheure« Gewicht zu heben" der Luftdruck in der Lage war; zur Ausführung ist er nicht mehr gekommen. Aber von seinen Versuchen, die er in dem prächtigen, 1672 in Amsterdam erschienenen Werk „Experimenta nova (ut vocantur) Magdeburgica de vacuo spatio — Sogenannte Magdeburger Versuche über den Leeren Raum" zusammengefaßt hat, führt eine direkte Linie zu jener Notiz vom Jahre 1673 im Tagebuch des holländischen Physikers Christian Huygens: „Stets eine sehr bedeutende Triebkraft zur Verfügung zu haben, die keine Unterhaltungskosten erfordert wie Menschen und Tiere", und zu seinen Versuchen, den luftleeren Raum unter dem Kolben durch Verbrennen von Schießpulver schneller und wirkungsvoller zu erhalten als durch Auspumpen. Und von dort führt sie weiter zu Huygens' Schüler und Gehilfen Denis Papin, der den Kolben mit Wasserdampf bewegt, zu den Dampfmaschinen von Neweomen und Watt, aber auch zu Lenoirs Gasmaschine, zum Otto-Motor, zu Benz und Daimler wie zu Diesel. Guerickes, Magdeburger Versuche fallen in die Geburtsstunde eines neuen Zeitalters der Menschheit, der Maschinen- und Motorenzeit. Diese Geburtsstunde wurde von einem Manne heraufgeführt, der in der ersten Reihe jener großen Naturforscher steht, die in jener Zeit den experimentellen Wissenschaften zum Durchbruch verhelfen und Beobachtung und Versuch an die Stelle von Autorität 30
und Spekulation gesetzt haben; ebenbürtig steht Otto von Guericke neben den Galilei und Torricelli in Italien, Blaise Pascal in Frankreich, Boyle und Hooke in England, Huygens in den Niederlanden. Er brauchte keine Spekulationen mehr, als er daran ging, das Geheimnis des leeren Raumes zu ergründen, denn „ein Beweis, der auf Erfahrung beruht, ist jedem aus Vernunftschlüssen vorzuziehen". Wenn er dann aber den Blick hinauf richtete zum gestirnten Himmel, zur Unendlichkeit des Raumes, dessen Geheimnis er einst mit Hilfe einer bescheidenen Feuerspritze und eines wassergefüllten Fasses zu enträtseln gewagt hatte,, dann tat er es mit der gläubigen Ergriffenheit des Wahrheitssuchers, der weiß, daß hinter allem Erforschbaren, hinter allem Meßbaren und Wägbaren ein letztes Unermeßliches steht. Denn so hat Otto von Guericke sein großes Werk von den Magdeburger Versuchen geschlossen: „Wenn wir nachts bei heiterem Himmel, wenn die Winde nur noch atmen, jene unermeßliche Weite des Raumes von den unzähligen, flammend leuchtenden Fahnen und Feldzeichen des himmlischen Heeres ganz erfüllt sehen und den Himmel samt ihrer Heerschar mit Augen des Geistes wie des Leibes betrachten, dann schauen wir jenen unsichtbaren Gott Zebaoth, lichtumflossen und in der Zier seines diamantgeschmückten Mantels. Alles andere ist nach unserer Auferstehung einem seligeren und ewigen Leben vorbehalten. Denn in diesem unserem sterblichen Zustande ist — wie der Apostel spricht — unser Wissen nur Stückwerk; wenn aber die Stunde der Vollendung herbeigekommen ist, werden alle Schranken als unnütz fallen. Denn jetzt erkennen wir riur in Bildern und Gleichnissen, einst aber werden wir von Angesicht zu Angesicht schauen. Bis dahin sei und bleibe Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Schöpfers und Erhalters aller Dinge, das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit." Umschlagqestaltung: Karlheinz Döbsky L u x - L e s e b o g e n 182 ( N a t u r k ü n d e ) - H e f t p r e i s 2 5 Pfg. Natur- and kulturkundliciie Hefte — Bestellungen (vierteljährl. ö Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murmu, Müncfcen, Tnnsoruck., Ölten — DruJt: Buch druck er ei Muhlberger, Augsburg 31
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