ERZÄHLERREIHE-220 Hans Siebe
Raritäten
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Der Auktionssaal war bis...
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ERZÄHLERREIHE-220 Hans Siebe
Raritäten
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Der Auktionssaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Interessenten drängelten sich in den Gängen, und die Saaltüren blieben offen, damit die im Vorraum Stehenden die Versteigerung wenigstens mitanhören konnten. Die Sitzplätze blieben für jene Besucher reserviert, die eine Nummerntafel besaßen und in einer Liste namentlich erfaßt worden waren. Die offenen oberen Flügel der Saalfenster ließen die laue Sommerluft ein. Es roch nach frisch geschnittenem Rasen. Nicht weit entfernt kreischte eine Straßenbahn in der Kurve. „Siebenhundertfünfzig“, wiederholte Clemens Richter, der Auktionator, eine imposante Erscheinung mit breiten Schultern und einem wuchtigen, fast kahlen Schädel, das letzte Gebot. Seine Stimme war es gewohnt, größere Räume zu füllen. Es herrschte jene atemlose Stille, die einem Zuschlag vorauszugehen pflegt. Richter hielt in den gespreizten Fingern eine silbrig glänzende Münze hoch. „Siebenhundertsechzig“, bot eine grauhaarige Dame in der zweiten Reihe und hob dem Versteigerer das Nummernschild entgegen. 5
„Siebenhundertsechzig für diesen Palmbaumgulden!“ wiederholte der Auktionator. Seine Augen glitten rasch über die ihm zugewendeten Gesichter hinweg. Aus den steigenden Geboten zeichneten sich drei, vier ernsthafte Reflektanten ab. Darunter war die Grauhaarige, aber seine Erfahrung verriet ihm, daß sie nicht mehr weiter mitbieten würde. So blieben zwei Widersacher übrig, passionierte Numismatiker, denen Richter schon auf anderen Versteigerungen begegnet war. „Siebenhundertachtzig!“ rief ein hagerer Graubart mit der Nummerntafel zweihundertzwölf. Frau Bechler, Richters Sekretärin, eine gepflegte Endvierzigerin, notierte auf ihrem Block das Gebot und die Nummer der Bietenden. Sie las in Richters Miene, daß dieser mit einem baldigen Zuschlag rechnete. „Siebenhundertachtzig zum ersten, zum zweiten und zum –!“ Clemens Richter legte die obligatorische Pause ein und hob den Hammer. Aus der Menge der dicht gedrängt Sitzenden erhob sich keine Nummerntafel mehr. „– dritten!“ rief Richter und ließ den Hammer auf die Hartgummiplatte fallen. Sofort brandeten die Stimmen auf, die Spannung löste sich. Es wurden Meinungen darüber ausgetauscht, ob der Palmbaumgulden seinen Preis wert war, da zu der Ersteigerungssumme noch die zehn Prozent Auktionsgebühr hinzukamen. Kataloge wurden raschelnd geblättert, Kugelschreiber notierten Ziffern; das war die übliche Atmosphäre gespannter Erwartung vor den Höhepunkten einer Auktion. Ein leises Räuspern des Auktionators genügte, um schlagartig Ruhe eintreten zu lassen. „Es folgt Katalog 6
Nummer neunhundertsiebenunddreißig: ein AnhaltischBernburgischer Ausbeutetaler von sechzehnhundertvierundneunzig! Rundes Brustbild, fünf Zeilen Schrift, zwei Schrötlingsfehler am Rande. Prädikat ‚fast vorzüglich’. Ausgewiesen mit drei ‚R’, das heißt, sehr selten! Schätzwert sechstausend Mark!“ Richter schwieg, und die Stimmen im Saal schwollen wieder an. Der Bernburgische Taler zählte zu jenen Raritäten, die auch einem Auktionator nicht allzu häufig unter den Hammer kamen. Richter musterte abschätzend jenes halbe Dutzend Interessenten, von denen er wußte, daß sie ernsthaft auf die Münze reflektierten. Das Stimmengewirr versiegte, und es entstand eine erwartungsvolle Pause, die Richter nun unterbrach: „Meine Damen und Herren, es liegt ein schriftliches Gebot vor über sechstausendfünfhundert Mark. Wer bietet mehr?“ Die Pause dehnte sich, niemand machte einen Anfang. Draußen pötterte der Zweitaktmotor eines Rasenmähers und verdrängte die Straßengeräusche. Vom Fluß her dröhnte die Schiffssirene eines Dampfers der Weißen Flotte. „Wer bietet mehr als sechstausendfünfhundert?“ wiederholte Clemens Richter geduldig. Zögernd erfolgte das erste Gebot: „Sechstausendfünfhundertfünfzig!“ „Sechssechs!“ Frau Bechler drehte den Kugelschreiber spielerisch in den Fingern, sie sah sich noch nicht veranlaßt, die Nummerntafel zu notieren. Der Bann schien aber gebrochen zu sein, die Gebote kamen nun zügiger. 7
„Sechstausendsiebenhundert!“ „Sechstausendsiebenhundert sind geboten“, wiederholte Richter, „Sechstausendsiebenhundert zum ersten–!“ „Siebenhundertfünfzig!“ „Sechsacht!“ Richter hielt die Münze in den gespreizten Fingen hoch. „Sechstausendachthundert für diesen Anhaltisch-Bernburgischen Ausbeutetaler! Sechstausendachthundert zum ersten –!“ „Achtfünfzig!“ Frau Bechler notierte von nun an die Nummern auf den Tafeln der Bietenden. Von den anfänglich fünf, sechs In8
teressenten blieben nur noch zwei. Höchstens sieben, dachte sie, dann ist Schluß. „Sechsneun!“ Richter blickte über die atemlos schweigende Menge hinweg, die mit heimlichem Neid das Duell der Numismatiker verfolgte. Er war zufrieden, der Anhaltische und einige andere gute Stücke gehörten zu einer Erbmasse, die aufgeteilt werden sollte. Solche Raritäten wechselten selten den Besitzer. Vielleicht bis sieben, dachte auch er, oder knapp darüber. Das nächste Gebot folgte. „Neunfünfzig.“ Die Köpfe wendeten sich dem Bietenden zu. Richter hob seine Stimme. „Sechstausendneunhundertfünfzig zum ersten –!“ „Siebentausend!“ Fast alle Anwesenden drehten sich ruckartig um und musterten den schlanken, dunkelhaarigen jungen Mann in der vorletzten Reihe, der sich bisher zurückgehalten hatte und nun sein erstes Gebot abgab. Die Stimmen brandeten auf, solche Überraschungen passierten nicht selten, daß jemand das Geplänkel im Vorfeld abwartete und erst gegen Ende eingriff. Oder versuchte da jemand im Auftrag des Verkäufers den Preis hochzutreiben? Das Unterfangen wäre mehr als riskant. „Siebentausend!“ wiederholte Clemens Richter lautstark. „Wer bietet mehr als siebentausend? Bietet niemand mehr als siebentausend? Siebentausend Mark zum ersten, zum zweiten und zum dritten!“ Krachend fiel der Hammer, und die Spannung entlud sich im aufbrausenden Durcheinander der Stimmen.
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Die Tage nach einer Auktion waren mit hektischer Betriebsamkeit angefüllt. Auf den Schreibtischen des Staatlichen Kunsthandels häuften sich die Abrechnungsbelege, Dutzende Briefe mußten geschrieben und Überweisungen vorgenommen werden. „Sagen Sie, Bechlern, wie hat der eigentlich bezahlt? Mit Scheck?“ Frau Bechler sah von der Arbeit auf und zu Clemens Richter hinüber, der reglos an seinem Schreibtisch saß und seine Glatze massierte. Frau Bechler wußte sofort, daß er den AnhaltischBemburgischen Ausbeutetaler meinte beziehungsweise dessen neuen Besitzer. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, bar!“ „Siebentausend bar“, wiederholte er. „Und Doktor Leupold war so sicher!“ In ihrer Stimme schwang Bedauern mit. Leupold war ein alter Kunde und besaß eine kleine, aber ansehnliche Münzensammlung. Drei Tage vor der Auktion waren die Stücke ausgestellt worden, und Doktor Leupold hatte sein Interesse für den „Anhaltisch-Bernburgischen“ bekundet. Daran erinnerte sich auch Richter. „Ja, ich dachte, er geht bis siebentausend mit. Aber der sah nicht so aus, als machte er bei siebentausend Schluß. Da hätte sich Leupold auf jeden Fall den Tod geholt!“ „Er schien ganz geknickt.“ Richter tippte einige Zahlen in die Rechenmaschine, Frau Bechler klapperte einen Brief auf der Schreibmaschine herunter. Der Auktionator unterbrach abermals seine Tätigkeit. 10
„Woher kenne ich den nur? Ich habe den Mann schon irgendwo gesehen.“ Frau Bechler nahm die Hände von den Tasten, das Klappern verstummte. Sie sah forschend zu Richter hinüber. „Hier?“ Clemens Richter schüttelte den Kopf. „Nein, eben nicht. Geben Sie mir doch mal die Liste. Das war Losnummer …“ „Hundertsiebenundzwanzig!“ Das Telefon läutete. Frau Bechler nahm den Hörer ab. „Staatlicher Kunsthandel, guten Tag!“ Richters Zeigefinger glitt die Namensliste entlang. Er hörte nur nebenher, daß Frau Bechler eine Zimmerbestätigung entgegennahm. Sie legte den Hörer auf die Gabel zurück. „Die Zimmer für die Italiener im ‚Jalta’ gehen in Ordnung!“ Richter nickte zerstreut, er hatte den Namen gefunden. „Hundertsiebenundzwanzig, Rintisch, Heinz, Dresden A einundzwanzig … Rintisch?“ „Er sah ganz schick aus. Vielleicht ein Künstler?“ Richter schüttelte zweifelnd den Kopf. „Die mit Geld, die kennt man doch alle. Na, wer weiß. Morgen müssen wir uns gleich um den Andruck für den neuen Katalog kümmern.“ Er brach ab, ihm kam ein Gedanke. „,Jalta’? Sagten Sie ‚Jalta’?“ „Ja, das ist geklärt, ein Zweibett, ein Einbett …“ „Bechlern – der Mann ist Kellner!“ „Wie?“ Richter nickte heftig. „Kellner! Dieser Rintisch ist Kellner im ‚Jalta’. Dort hab’ ich ihn gesehen!“ 11
Frau Bechler sah Richter verblüfft an. „Das ist aber …, irgendwie …, ich weiß nicht!“ Er nickte. „Eben. ‚Jalta’, internationales Publikum! Ein Kellner, der siebentausend bar aufs Brett legt. Merkwürdig!“ Das Treppenhaus war erst kürzlich renoviert worden. Es roch durchdringend nach frischer Farbe. Schäfer drückte im zweiten Stock unter dem Namensschild Rintisch den Klingelknopf. Es dauerte einige Zeit, dann klirrte die Sperrkette, danach wurde geöffnet. Schäfer sah sich fragend gemustert. „Frau Rintisch?“ „Ja?“ „Schäfer, Zollverwaltung der DDR. Könnte ich Ihren Mann sprechen?“ Über das sympathische Gesicht der jungen Frau huschte ein Schatten. Gleichzeitig wurde es besorgt. Für Schäfer war dies kein Grund, voreilige Schlüsse zu ziehen. Solche Reaktionen waren ihm nicht fremd. Welcher Bürger hatte schon gern mit einer Kontrollbehörde zu tun? „Was ist denn?“ Sie versuchte ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben, aber das gelang ihr nicht überzeugend. „Eine Routinesache“, erklärte Schäfer. Frau Rintisch tat unschlüssig. „Mein Mann ist grad beim Tapezieren!“ „Es dauert nur ein paar Sekunden!“ Sie wendete sich in die Wohnung zurück. „Vati!“ „Kann jetzt nicht!“ klang es von irgendwoher zurück. 12
„Jemand vom Zoll!“ Sie trat zögernd beiseite, Schäfer schob sich an ihr vorbei und murmelte ein Dankeschön. Sie führte den Besucher in das Wohnzimmer mit den hellen, modernen Möbeln und bot ihm einen Sessel an. Schäfer ließ sich darin nieder. Gerda Rintisch hastete in den Flur. Dort kam ihr Heinz entgegen. Er sah verwegen aus mit der alten Hose, dem ausgeweiteten Pulli und der bunten Küchenschürze darüber. „Im Wohnzimmer“, flüsterte sie und fügte besorgt hinzu: „Ist da was? Mit Ausländern?“ „Ach wo.“ Er rieb die Hände an seiner Schürze sauber. „Heinz!“ „Ich werde mich hüten!“ „Aber was kann der denn wollen?“ Rintisch zuckte die Achseln und trat entschlossen ins Wohnzimmer. Der Mann vom Zoll erhob sich und zeigte seinen Ausweis. „Schäfer, Zollverwaltung der DDR.“ Rintisch nickte. „Entschuldigen Sie, die Hände sind voller Kleister. Ich habe zwei Tage freigenommen. Das Kinderzimmer.“ Der Besucher lächelte verständnisinnig. „Das steht mir auch noch bevor.“ „Ich wollte erst Latex nehmen, aber Latex ist ’n bißchen kalt.“ Schäfer setzte sich, als Rintisch einladend auf einen Sessel wies und selbst auf einem Hocker Platz nahm. Schäfer kam ohne Umschweife auf den Grund seines Besuches zu sprechen. „Eine Frage, Herr Rintisch: Sind Sie Münzensammler?“ Rintischs Miene verriet Staunen. Er brauchte einige Zeit, 13
ehe er sich von seiner Überraschung erholte. Zögernd antwortete er: „Münzensammler? Na, nicht direkt!“ Schäfer hatte Rintischs Verlegenheit bemerkt und fuhr sachlich fort: „Stimmt es, daß Sie vor zwei Wochen beim Staatlichen Kunsthandel eine Münze für siebentausend Mark ersteigert haben? Und zwar, Moment …“, er kramte in seiner Aktentasche und brachte einen Bogen Papier zum Vorschein, „einen Anhaltisch-Bernburgischen Ausbeutetaler von sechzehnhundertvierundneunzig. Rundes Brustbild, fünf Zeilen Schrift, zwei Schrötlingsfehler am Rande …“ „Ja. Na und?“ unterbrach ihn Rintisch ungeduldig. Einen Augenblick blieb es still. Sie maßen sich verstohlen. Rintischs Antwort klang aggressiv, Schäfer besaß da seine Erfahrungen. Suchte der Kellner etwas zu verbergen? „Sie besitzen demnach die Münze?“ Rintisch wich dem forschenden Blick seines Gegenübers aus und erklärte ungehalten: „Sie fragen, als hätte ich die Münze geklaut.“ Schäfer blieb gleichmäßig freundlich. „Darf ich mich durch Augenschein überzeugen?“ An Rintischs rechter Schläfe schwoll eine Ader. Seine Hände öffneten und schlossen sich. Er zwang sich mühsam, gelassen zu erscheinen. „Ich habe meiner Frau vorige Woche einen Bademantel gekauft – wollen Sie den auch sehen?“ „Herr Rintisch!“ Schäfer schüttelte mißbilligend den Kopf. „Ist das überhaupt gesetzlich?“ grollte der Kellner. „Empfinde ich jedenfalls als glatten Eingriff in mein Privatleben!“ Schäfer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, doch un14
gewollt klang seine Stimme belehrend. „Wenn es nicht notwendig wäre, daß wir uns durch Stichproben nach dem Verbleib hochwertiger Gegenstände erkundigen, Bilder, altes Kunsthandwerk, Münzen und so weiter …“ „Außerdem habe ich das Ding nicht hier“, unterbrach Rintisch. „Nicht?“ „Nein. Im Tresor vom Hotel.“ Schäfer zuckte die Schultern. „Dann muß ich Sie dort aufsuchen. Wann haben Sie wieder Dienst?“ Es entstand eine Pause. Heinz Rintisch knetete nervös seine Finger. „Bewahren Sie nur diese eine Münze im Tresor auf oder Ihre ganze Sammlung?“ wollte Schäfer wissen. „Ich habe nicht gesagt, daß ich eine Sammlung besitze“, antwortete Rintisch unsicher. Für den erfahrenen Zollfahnder war dies gleichbedeutend mit einem Eingeständnis, dennoch lag ihm nicht daran, den Kellner mit einem Trick zu überrumpeln. Vielmehr baute er ihm eine Brücke. „Herr Rintisch, wenn irgend jemand aus, sagen wir, persönlichen Gründen nicht selbst steigert, sondern einen Bekannten darum bittet, so ist das nicht verboten. Es geht um den tatsächlichen Besitzer. Sie sind es also nicht, nehme ich an. Oder nicht mehr. Haben Sie die Münze weiterverkauft?“ Rintisch blickte unentschlossen auf seinen Besucher und rieb sich nervös sein Kinn. Endlich rang er sich zu einer Antwort durch. „Ich hab’ sie für jemand ersteigert. Er wollte nicht, daß es bekannt wird. Aber bitte schön, nun kann ich es auch nicht mehr ändern.“ 15
Schäfer beugte sich vor. „Und von wem ist die Rede?“ „Ein Gast“, antwortete Rintisch zögernd, „ein Doktor Wieland aus Cottbus.“ „Hotelgast? Ich meine, übernachtet er?“ Rintisch wirkte nunmehr gelöster, als sei eine Last von ihm genommen. „Nein. Er kommt zwei-, dreimal im Jahr ins ‚Jalta’, ißt zu Abend, trinkt ’ne Flasche Wein. – Letztens kam er auf seine Münzensammlung zu sprechen und daß am übernächsten Tag Versteigerung sei. Er hatte einen Katalog bei sich und zeigte mir, worauf er scharf war – und ob ich ihm nicht den Gefallen tun könnte …“ Schäfer musterte nachdenklich seinen Gesprächspartner. Rintisch sah ihn offen an, seine Angaben wirkten glaubhaft, er schien nicht mit Fakten hinterm Berg zu halten. „Warum hat er denn nicht selbst gesteigert?“ Rintisch schwieg zunächst, zuckte dann die Schultern und antwortete bereitwillig: „Er sagte, er läge in Scheidung, und wenn seine Frau erfährt, daß er sieben- oder achttausend Mark ’rausgeschmissen hat, also ‚rausgeschmissen’ hat er nicht gesagt. Er steht übrigens im Telefonbuch, ich habe nachgesehen: Doktor Karl-Heinz Wieland, Cottbus.“ Am nächsten Tag unternahm Schäfer die Dienstreise nach Cottbus und fand nach einigem Hin und Her den Ingenieur Doktor Karl-Heinz Wieland an seinem Arbeitsplatz. Das Werk lag am Ende einer neuen Betonstraße inmitten eines Kiefernwäldchens. So neu wie die Zufahrt waren auch die Werkgebäude und die silbrig blinkenden Tanks, die durch mannsdicke Rohre miteinander verbunden waren. Ein pe16
netrant süßlicher Geruch schwebte in der Luft und legte sich beklemmend auf die Brust. Wieland war nicht in seinem Büro. Er kraxelte auf einer schmalen Eisenleiter von einem der haushohen Tanks herunter und maß Schäfer mit einem überraschten Blick, als dieser den Grund seines Kommens vortrug. Der Ingenieur stieß einen Pfiff aus und schob mit zwei Fingern seinen weißen Schutzhelm in den Nacken. Auch Schäfer hatte beim Betreten des Werkes einen Helm aufsetzen müssen. „Siebentausend Mark?“ wiederholte Wieland. „Ich bin doch nicht bescheuert! Nein, mit alten Goldmünzen habe ich so viel zu tun wie ’n Taubstummer mit ’ner Blockflöte. Vielleicht ein anderer Wieland?“ Sie liefen nebeneinander die Werkstraße hinunter. Schäfer blieb stehen und zwang somit auch Wieland zum Verweilen. „Kennen Sie einen zweiten Ihres Namens und mit Doktorgrad?“ Der Ingenieur schüttelte den Kopf. „Hier? Nein.“ „Die Einwohnermeldestelle auch nicht.“ Wieland nahm die zielstrebige Wanderung Richtung Werktor wieder auf. „Bißchen ulkig das alles, was?“ Er blickte bedauernd auf seine Armbanduhr. „Übrigens, in einer Viertelstunde habe ich eine Besprechung angesetzt.“ Schäfer gab noch nicht auf. „Haben Sie vielleicht einen Bekannten, der sich für Numismatik interessiert?“ Wieland grinste unverhohlen. „Ich wüßte nur einen mit ’ner Leidenschaft. Wollen Sie’s genauer wissen?“ „Danke. Eine letzte Frage: Der angebliche Doktor KarlHeinz Wieland hat sich am siebenundzwanzigsten Mai 17
vormittags in Dresden, aufgehalten. Das war der Tag der Versteigerung – und er war zwei Tage zuvor abends im Hotel ‚Jalta’!“ Wieland blieb stehen und langte einen dickleibigen Taschenkalender aus seinem Jackett. „Ohne meinen Terminkalender wäre ich jetzt wohl erschossen?“ Schäfer schüttelte den Kopf. „Verstehen Sie mich nicht falsch.“ „Moment.“ Wieland blätterte in seinen Notizen. „Na also, Siebenundzwanzigster: acht Uhr Exkursion mit Neuereraktiv zum Kraftwerk Lübbenau! Und Fünfundzwanzigster war Sonntag!“ Obwohl Schäfer nur wenige Minuten vor Dienstschluß zurückkam, wurde er zur Berichterstattung zum Leiter gerufen. „Der Name ist offenbar wahllos aus dem Telefonbuch herausgepickt worden.“ Schäfer wartete auf die Zustimmung seines Abteilungsleiters. „Was meinen Sie? Ob dieser Kellner schiebt? ‚Jalta’ – internationales Publikum, Devisen!“ „Kann ich mir nicht vorstellen. Bei der Auktion hat er schließlich seinen Ausweis vorlegen müssen.“ „Aber Sie sagen doch, er habe anfangs geschwindelt, er besäße die Münze?“ „Wer weiß, wie hoch das Trinkgeld war, damit er den Mund hält? Und anzukreiden ist ihm ja nichts. Eine Gefälligkeit ohne Risiko. Und in der Branche weiß man Bescheid.“ Eine Weile schwiegen beide. Schließlich traf der Leiter die resignierende Feststellung: „Dann also Aktennotiz und Ablage.“ 18
Schäfer erhob sich steif und ging zur Tür. Er hielt die Klinke bereits in der Hand. Da fragte er: „Was halten Sie davon: Rintisch könnte uns Bescheid geben, falls dieser Mann wieder im ,Jalta’ aufkreuzt.“ Der Dienststellenleiter zögerte, schüttelte dann den Kopf und erklärte: „Ich weiß nicht. – Nein, das schmeckt mir nicht.“ Eine Woche nach diesen Vorkommnissen fand ein Bürger in der Kreisstadt Remberg, gute hundert Kilometer von Dresden entfernt, mitten in einer Parkanlage einen alten Mann. Der war anscheinend so unglücklich gestürzt, daß er mit einer Stirnplatzwunde besinnungslos liegenblieb. Der Bürger telefonierte aus dem nahen Parkrestaurant, und wenige Minuten später waren ein Funkstreifenwagen der Volkspolizei und ein Rettungswagen zur Stelle. Der Verunglückte wurde behutsam auf eine Trage gelegt und in den Krankenwagen geschoben, dann fuhr dieser mit Blaulicht und Martinshorn davon, und die Neugierigen, die sich inzwischen eingefunden hatten, zerstreuten sich wieder. Der Funkstreifenführer, Meister der Volkspolizei Scholz, schrieb einen Bericht. Am darauffolgenden Tag wurde Scholz wenige Minuten vor Dienstschluß zu Oberleutnant Sander von der Kriminalpolizei gerufen. Scholz war ein vierschrötiger Mann und wirkte etwas bäurisch mit seinem rotbäckigen gutmütigen Gesicht. Als er in Sanders Zimmer trat, zeigte dieser einladend auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Nehmen Sie Platz, Genosse Scholz.“ 19
Der setzte sich und blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr, aber Sander nahm davon keine Notiz. Vielmehr tippte er auf das vor ihm liegende Dienstformular. „Ihr Streifenbericht von gestern! Seit wann fahren Sie Streife?“ „Vier Jahre. Wieso?“ „Die vier Jahre merkt man aber Ihrem Bericht nicht an.“ Sander räusperte sich und las die Meldung. „Der Bürger Metzler, Albert, zwölfter dritter null eins, Lehrer, Strich Rentner, wohnhaft Dresden A neun, Lessingstraße vierzehn, wurde von mir und Unterleutnant Handschuh um zwölf Uhr fünfzig bewußtlos und mit stark blutender Stirnplatzwunde 20
in der Nähe des Pumphäuschens Parkteich aufgefunden. Die Meldung erfolgte zwölf Uhr vierzig auf Veranlassung des Bürgers Zeuke über Anschluß Parkrestaurant …“ Scholz nutzte eine Atempause und warf ein: „Das stimmt doch.“ „Moment“, forderte Sander und las weiter: „Zeugen des Unfalls konnten nicht ermittelt werden …“ „Der Rettungswagen war Punkt eins da“, unterbrach ihn Scholz. „Na gut. Hier folgt die Aufzählung der persönlichen Gegenstände, Brieftasche, Portemonnaie, Personalausweis und dann Ihre Unterschrift: Scholz, Streifenführer.“ „Ich habe alles aufgezählt.“ Der Oberleutnant blickte Scholz vorwurfsvoll an. „Aufgezählt! Wenn Sie zwei und zwei zusammengezählt hätten, dann wäre der Bericht schon gestern bei mir gelandet.“ . Scholz’ Gesicht rötete sich, er fühlte sich zu Unrecht getadelt. „Also das ist einwandfrei ein Unfall gewesen! Der Alte lag mit der Stirn auf diesen Klinkern von der Raseneinfassung, und an der rechten Schuhspitze war ’ne frische Schramme zu sehen. Der ist einfach über ’ne Baumwurzel gestolpert, Genosse Sander. Ein Mann von vierundsiebzig. Sie putzen mich ab – zwei und zwei nicht zusammengezählt zu haben.“ Der Protest blieb ohne Eindruck auf Sander. Ungerührt fuhr er fort: „Menschenskind, Scholz, nun gucken Sie sich das mal an. Inhalt der Brieftasche und der Hosentasche: ’ne Rechnung vom Hotel-Restaurant ‚Jalta’ in Dresden. Hier der Abschnitt von einer Postanweisung, paar Fotos, na ja, das ist alles weniger interessant, aber im Portemonnaie eine 21
entwertete Fahrkarte Dresden-Remberg, und dann hat der Mann, säge und schreibe, drei Mark fünfzig bei sich!“ Scholz zuckte die Schultern. „Ja?“ „Das ist Ihnen nicht aufgefallen? Einer, der in Dresden wohnt, laut Datum der Fahrkarte höchstwahrscheinlich gestern hierher nach Remberg gefahren ist, keinen Koffer bei sich hatte, nichts, der soll diesen Ausflug mit drei Mark fünfzig unternommen haben? Und ohne Rückfahrkarte nach Dresden? Das ist es ja: die paar Kröten und keine Rückfahrkarte. Und dann die Restaurantrechnung: zweiundsechzig Mark. Und hier: achtzig Mark Honorar für einen Vortrag in der ‚Urania’. So einer schwirrt doch nicht in der Weltgeschichte herum mit drei Mark fünfzig im Portemonnaie!“ Scholz sah betreten auf seine Schuhspitzen. Er mußte zugeben, daß etwas an Sanders Vorhaltungen dran war. Sie klangen logisch, aber vielleicht gab’s für all das eine plausible Erklärung? Die Genossen von der K witterten eben hinter jeder Ungereimtheit gleich wunder was. Er räusperte sich. „Fragen wir ihn doch.“ Sander schüttelte den Kopf. „Vernehmungsunfähig. Das sieht wohl nicht gut aus. Ich hab’ vorhin im Krankenhaus angerufen.“ Scholz starrte Sander verblüfft an. „Sie denken doch nicht etwa an Straßenraub?“ „Jedenfalls stimmt hier was nicht.“ Sander wich aus. „Ist das überhaupt mal bei uns vorgekommen, Straßenraub? Und dazu noch am hellichten Tag?“ Die Unterredung endete mit einer Belehrung durch Oberleutnant Sander, die Scholz zerknirscht über sich er22
gehen ließ. Er mußte zugeben, daß der so simpel erscheinende Unfall plötzlich gar nicht mehr so harmlos aussah. Die Genossen von der K besaßen zweifellos einen besonderen Spürsinn für solche Fakten. Sander verließ bald nach Scholz das VolkspolizeiKreisamt. Er lenkte seinen Trabant in Richtung Bahnhof und bog kurz davor zum Parkrestaurant ab. In der Gaststätte war nur wenig Betrieb. Es lag wohl daran, daß im Fernsehen ein Fußballspiel übertragen wurde. Sander nahm sich vor, wenigstens die zweite Halbzeit nicht zu versäumen. Hoffmann, der Wirt, brachte ihm die gewünschte Cola an den runden Tisch mit dem Schild „Privat“. Sander beschrieb den verunglückten Bürger Metzler, und Hoffmann erinnerte sich. „Ja, der hat hier gesessen. Der Beschreibung nach muß er’s gewesen sein, um die Siebzig, volles, weißes Haar. Hatte was von ’nem Künstler. Ich sag’ noch zu Zeuke: Mensch, der hat doch hier gegessen, der ist doch eben erst ’raus!“ „Wer ist Zeuke?“ „Der ihn gefunden hat, Zeuke, von der Molkerei. Er wollte zur Schicht.“ Sander erinnerte sich an Scholz’ Bericht. „Stimmt. Jetzt fällt mir der Name wieder ein. Das war der Anrufer?“ „Was ist denn eigentlich los?“ Der Wirt starrte Sander neugierig an. „Ich frage nur der Ordnung halber, Herr Hoffmann. Wie hoch war denn seine Zeche?“ Der Wirt legte seine Stirn in grübelnde Falten, doch ehe er dazu kam, die Frage zu beantworten, wurde er an einen 23
der wenigen besetzten Tische gerufen. Er kassierte und kam wieder zurück. „Moment, das war so um fünf, sechs Mark ’rum. Wildschweinragout, Rote Beete, ’n Pils. – Suppe hatte er, glaube ich, nicht.“ „Ein Pils?“ Sander betonte lächelnd das erste Wort. „Ja, nur eins“, versicherte Hoffmann. „Hätte ja sein können, daß er ein bißchen weich in den Knien war und deshalb gestürzt ist.“ „Von einem Glas Bier?“ Sander lenkte seine Fragen in die von ihm gewünschte Richtung. „Und wie hat er gezahlt? Ich meine, hatte er’s passend, oder mußten Sie wechseln? Wissen Sie das noch?“ Der Wirt rieb nachdenklich sein Kinn. „Ja, wie war ’n das?“ „Na, Herr Hoffmann, nun enttäuschen Sie mich nicht. Gastwirt und ein schlechtes Gedächtnis?“ „Sie sind gut“. Hoffmann schmunzelte, „eben habe ich das ganze Menü ’runtergebetet. – Also, er fragte mich beim Kassieren nach einer Straße, Riesaer, glaube ich. Ich sage, so und so und am besten gleich quer durch den Park, und dabei tippt er auf einen Zettel mit hingekritzelten Linien. – Also hier, sagt er, das war so ’ne Art Straßenskizze.“ „Ja, die hatte er bei sich“, bestätigte Sander, „war auf die Rückseite einer Restaurantrechnung gemalt.“ Hoffmann staunte. „So? Habe ich nicht bemerkt.“ „Spielt auch keine Rolle.“ „Dann hat er den Zettel in die Brieftasche …“ Hoffmann brach ab, sein Gesicht hellte sich auf. „Jetzt weiß ich’s, mit 24
einem Fünfzigmarkschein hat er bezahlt. Aus der Brieftasche nämlich.“ „Aha“, sagte Sander zufrieden. „Kam Ihnen der Mann irgendwie angeschlagen vor? Oder nervös?“ Der Gastwirt blickte ihn ratlos an und zuckte bedauernd die Schultern. „Gut, Herr Hoffmann, vielen Dank. Dann meine Cola.“ „Vierzig Pfennig.“ Sander suchte die Münzen aus seiner Geldbörse und fragte nebenher: „Und zurückgekommen ist er nicht?“ „Weshalb denn?“ „Vielleicht, weil er unterwegs gemerkt hat, sein Geld ist weg? Und hier hat auch keiner vierzig Mark gefunden?“ Kurz vor Dienstschluß ertappte sich Oberleutnant Sander dabei, daß seine Gedanken von dem Bericht abirrten, den er gerade entwarf, und sich wieder mit der Unfallsache Metzler beschäftigten. Er wußte nicht, weshalb er nicht davon loskam. Sein Gefühl sagte ihm, daß hier mehr dahintersteckte. Er überhörte das Klopfen an der Tür und erschrak, als Unterleutnant Weidner unverhofft eintrat. Weidner war erst vor einem halben Jahr von der Hochschule gekommen und ging alles, auch das Unbedeutendste, mit frischem Elan an. „Genosse Oberleutnant, der Wißmann ist noch immer nicht ausgenüchtert, den können wir erst morgen früh vernehmen.“ Er blickte Sander erwartungsvoll an. Der nickte. „Ich muß morgen vormittag nach Dresden, zum Bezirksgericht. Knöpfen Sie sich den Wißmann vor.“ 25
„Jawohl.“ Weidner setzte sich an seinen Schreibtisch, der dem von Sander gegenüberstand. „Nur Obacht. Das ist einer von den Treuherzigen. Der weiß immer nie, was los war!“ „Na, ein Wunder ist das schon“, erwiderte Weidner, „mit zwo Komma acht Promille einen Zigarettenautomaten knacken …“ Das Läuten des Telefons unterbrach ihn, er hob ab, meldete sich und reichte Sander den Hörer hinüber. „Für Sie.“ Der Oberleutnant nahm eine Nachricht entgegen und äußerte sich nur einsilbig dazu. Dann legte er den Hörer auf die Gabel zurück, räusperte sich und meinte: „Armer Kerl!“ „Wer?“ „Dieser Metzler – verstorben, Gehirnbluten!“ „Wollten Sie da nicht nachhaken?“ „Die vierzig Mark sind weg, das ist alles. – Geärgert hatte ich mich eigentlich nur über die Art und Weise, wie Scholz seine Streifenberichte über den Leisten haut. Na, machen wir Schluß für heute.“ Er schob energisch die Aktenhefter zusammen und verstaute sie in seinem Schreibtisch. „Wißmann ist klar. Über die Sache Metzler informiere ich morgen in Dresden den zuständigen Abschnittsbevollmächtigten. – Merkwürdig, als ob es der alte Herr geahnt hätte.“ „Wieso?“ „Vor kurzem kassierte er ein Honorar, das er offenbar sofort verbraten hat, und zwar first class: im Dresdner ‚Jalta’. An die sechzig Mark.“ „So was gibt’s“, bestätigte Weidner eifrig, „’ne Tante von meiner Frau hat kurz vor ihrem Tod das ganze Spargeld abgehoben, hat den Schmuck verkauft und überall 26
dort, wo sie mal wohnte, das Geld an die Kirchen geschickt.“ Sander reckte sich und grinste. „Da haben Sie sich aber gefreut, was?“ „Na und ob.“ Weidner schloß rasselnd den Aktenschrank. Es klopfte. Nach Sanders Aufforderung trat ein junger Wachtmeister herein. Er grüßte vorschriftsmäßig. „Genosse Oberleutnant, der Bürger Klinke!“ „Klinke?“ Sander verschloß seinen Schreibtisch. Der Wachtmeister lächelte verstohlen. „Sie wissen doch.“ Sander nickte. „Ja, ja, aber ist der denn schon wieder draußen? Der hatte doch anderthalb Jahre? Was will er denn?“ „Er möchte Sie sprechen.“ „Ich hab’ Dienstschluß, Soll sich an Oberleutnant Grabow wenden.“ „Er will aber zu Ihnen.“ Sander seufzte. „Dann morgen nachmittag, wenn ich aus Dresden zurück bin.“ Der Wachtmeister traf keine Anstalten zu gehen, vielmehr meinte er hartnäckig: „Es sei dringend, sagt er.“ „Verflucht und zugenäht!“ „Wann morgen?“ Der Wachtmeister wendete sich zum Gehen. „Schicken Sie ihn ’rauf!“ Der Volkspolizist nickte zufrieden und ging. Weidner fragte, ob Sander ihn benötigte, aber der winkte ab. In der Tür stieß der Unterleutnant mit einem jungen, vierschrötigen Menschen zusammen. 27
Klinke blieb zögernd neben der Tür stehen. Erst als diese sich hinter Weidner geschlossen hatte, grüßte er höflich: „Tag, Herr Oberleutnant!“ „Tag, Herr Klinke. Nehmen Sie Platz!“ Sander beobachtete den Besucher, der sich auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch niederließ. Das Sitzmöbel ächzte unter der Belastung. „Schon wieder zu Hause?“ Klinke grinste. „Na ja, zwölf Monate abgerissen – den Rest spendiert.“ „Freut mich. Dann also jetzt – Ohren steifhalten! Wo arbeiten Sie denn?“ „Plattenwerk. Kann ich eine rauchen?“ „Bitte schön.“ Sander nahm die Büroklammem aus der Aschenschale, legte sie zu den Bleistiften und schob den Ascher zu Klinke hin. Der paffte eine Zigarette an. Nach den ersten Zügen erklärte er: „Herr Oberleutnant, ich hab’ was gefunden!“ Sander sah ihn erstaunt an. „So? Was denn?“ Klinke beugte sich vor und blickte über den Schreibtisch hinweg gespannt auf den Oberleutnant. „Daß das in meine Akten kommt, geht das?“ Sander runzelte unmutig die Stirn. „Mann, Klinke, erstens ist das hier nicht das Fundbüro, und zweitens wäre es doch sowieso Ihre Pflicht gewesen …“ „Schirme und Hausschlüssel, na klar“, unterbrach ihn sein Besucher, „aber ich möchte mal wissen, wann auf ’m Fundbüro Geld abgeliefert wird. Also – kommt das in die Akten?“ „Sie haben Geld gefunden?“ Sander machte kein Hehl daraus, daß er erstaunt war. 28
Klinke griff in die Seitentasche seines sportlichen Sakkos, brachte einen prallen Briefumschlag A 5 zum Vorschein und warf ihn klatschend auf den Tisch. Danach lehnte er sich seufzend auf dem Stuhl zurück. Oberleutnant Sander ergriff zögernd das Kuvert, es war ursprünglich zugeklebt, jetzt aber aufgerissen. Sander erblickte einen Packen blauer Geldscheine. „Menschenskind, das sind ja lauter Hunderter?“ „Achttausend Mark“, sagte Klinke. Seine Stimme klang unüberhörbar ein wenig traurig, weil das Geld nun endgültig für ihn verloren war. „Wo haben Sie die denn gefunden?“ Klinke zögerte sekundenlang, sein Blick wanderte unruhig über das Mobiliar des Dienstzimmers. „Heute mittag, am Wall, als ich von der Schicht gekommen bin.“ Nun erst blickte er Sander treuherzig in die Augen. Der musterte ihn, als hätte er einen völlig fremden Menschen vor sich, aber es gab keinen Zweifel, es war Klinke – ausgerechnet Klinke! Sander räusperte sich. „Offen gesagt, ich hätte mit keinem gewettet, daß Sie das abliefern – achttausend Mark!“ Klinke versicherte mit beschwörender Stimme: „Ich tu’ keinen Schritt mehr auf den Güterbahnhof. Da können Sie sich drauf verlassen. Und mit sechs Monaten im Rucksack – nee, Herr Oberleutnant! Nicht in die Tüte!“ Wie er das sagt, klingt es beinahe überzeugend, dachte Sander. Waren die zwölf Monate im Strafvollzug mit der strengen Disziplin eine heilsame Lehre für ihn? Sander blickte seufzend auf seine Armhanduhr. „Ich wollte eigentlich schon zu Hause sein, wir wollen Gardi29
nen anmachen, aber das Protokoll schreibe ich noch gern.“ Er rückte die Maschine heran und spannte das Formular ein. Klinke blies den Zigarettenrauch von sich und sagte zögernd: „’n Protokoll?“ „Ja. Wieso nicht?“ „Schon gut.“ Sander begann zu tippen. „Datum und Fundort und möglichst genau, wann und wo.“ Klinke zerdrückte die halbgerauchte Zigarette in der Aschenschale und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Sein Blick wanderte zur Decke hinauf, die Augen waren halb geschlossen. „Also das war gestern mittag, so gegen halb eins, am Wall, in der Nähe vom Fahrradgeschäft …“ Der Oberleutnant nahm die Hände von der Maschine und fragte erstaunt: „Gestern? Sagten Sie nicht heute?“ Klinke rutschte abermals auf seinem Stuhl hin und her und meinte hastig: „Na klar, heute. Heute nachmittag. Wie komme ich denn auf gestern?“ „Das Geld hat Sie wohl nervös gemacht?“ Der Besucher feixte und versicherte bieder: „So is’ es, Herr Oberleutnant.“ Sander musterte ihn nachdenklich. „Oder war es vielleicht doch gestern?“ „Nein, nein“, klang es eindringlich.
Oberleutnant Sander schob die Maschine ein Stück fort und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Sein Blick ruhte for30
schend auf seinem Besucher. Wie viele Bürger hatten im Laufe seiner Dienstjahre so wie Klinke dort gesessen, Angeschuldigte, Verdächtige, Zeugen oder Anzeigende, manchmal auch Bürger in einer Notlage, denen rasch geholfen werden mußte. Er hatte zufriedene und enttäuschte Gesichter gesehen, erleichterte und verzweifelte. Und wie verschieden klangen die Stimmen. Im Laufe der Zeit war sein Ohr geschult, er unterschied leise zitternde Unsicherheiten von unverfrorenen Lügen. Bei Klinke befiel ihn plötzlich die untrügliche Gewißheit, daß dessen Biederkeit nicht echt war. „Könnte ja sein“, meinte Sander, „daß Sie einen ganzen Tag gebraucht haben, um sich zu überlegen: Was mach’ ich? Behalten oder abliefern? Das würde Ihnen kein Mensch ankreiden. Also?“ Klinke schwieg und knetete seine Hände. „Gestern?“ Der vierschrötige junge Mann hielt seinen Kopf gesenkt und wirkte unentschlossen. Oberleutnant Sander schob die Maschine demonstrativ noch ein Stück weiter fort und beugte sich näher zu seinem Besucher hinüber. „Fällt mir gerade ein: Vor zwei Jahren, war das nicht hier im selben Raum? Und in der Ecke saß der Genosse von der Transportpolizei, der Sie festgenommen hatte. Stimmt’s?“ Klinke runzelte unmutig die Stirn. „Was soll ’n das jetzt?“ „Vor der Tür hatten Sie noch Courage, und plötzlich hier drin? Glauben Sie, ich weiß nicht, was mit Ihnen los ist?“ Klinke wich Sanders forschendem Blick aus. 31
„Übrigens, wenn Sie wollen, können Sie gehen“, sagte der Oberleutnant. „Ich rufe das Fundbüro an, und Sie unterschreiben mir eine kurze Notiz, daß Sie sich mit einem Geldfund bei mir gemeldet haben. Moment, ich zähle nur mal durch …“ Sander fing murmelnd an, die Geldscheine zu zählen. Er besaß nicht die Routine eines Schalterkassierers der Sparkasse, es dauerte länger. Er hatte noch nicht die Hälfte der blauen Scheine gezählt, als Klinke ihn schnaufend unterbrach. „Es ist gestern gewesen“, sagte er kleinlaut. „Und auch nicht am Wall.“ „Nein.“ „Sondern?“ „Stadtpark.“ 32
„So, Stadtpark. – Etwa am Pumphäuschen?“ Klinke preßte die Lippen aufeinander und rutschte wieder unruhig auf seinem Stuhl hin und her. An seiner Miene war unschwer zu erkennen, daß er es bereute, Oberleutnant Sander aufgesucht zu haben. Die Pause dehnte sich, und Sander wartete geduldig. Es war ein beredtes Schweigen. Er irrte nicht, Klinke sah ihn plötzlich ängstlich an und erklärte eindringlich: „Ich schwör’s, ich hab’ ihn nicht angerührt. Er lag da mit dem Kopf nach unten.“ Klinke seufzte schwer, seine Stimme klang gepreßt, er murmelte kaum verständlich: „Ich hab’ die ganze Nacht nicht geschlafen. Er war tot …“ Sander schüttelte langsam den Kopf. „Nein, er war nicht tot, noch nicht!“ „Herr Oberleutnant …“ „Erzählen Sie!“ „Ich hab’ ihn nicht angerührt, Herr Oberleutnant. Glauben Sie mir …“ Klinke brach ab. Sander klopfte mit seinem Kugelschreiber ein Staccato auf die Schreibtischplatte. „Und das Geld? Das lag wohl verstreut auf dem Weg ’rum?“ Klinke fuhr mit dem Zeigefinger hinter den Hemdkragen und zerrte daran. Auf seiner Stirn perlte Schweiß. Er sprach auch nicht mehr unbeholfen, vielmehr sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. „Der Umschlag und die Brieftasche guckten unterm Jackett vor. Ich war wie beballert. Wenn jetzt einer kommt und dich sieht, das Geld in der Hand … Ich hab’ doch noch Bewährung.“ Er verstummte. Sander nickte verständnisvoll. „Und da drehten Sie durch.“ 33
„Ja.“ Klinke schnaufte schwer. „Und merkten erst zu Hause, daß Sie ein Paket Hunderter in der Hand haben.“ „Genau.“ „Und die vierzig Mark aus der Brieftasche?“ „Wieso?“ Klinke schluckte verblüfft. „Nun bringen Sie sich nicht um Ihre Pluspunkte. Los, die vierzig Mark auf den Tisch!“ „Am Freitag“, murmelte Klinke, „ich, ich hab’ gestern einen genommen.“ Es entstand eine Pause. Sander rückte umständlich die Schreibmaschine wieder heran. „Unterlassene Hilfeleistung, Beraubung, falsche Angaben – Mensch, Klinke!“ „Meine sechs Monate – sind die jetzt im Eimer?“ Sander musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Erwarten Sie, daß ich das deichsle?“ Klinkes Antwort klang gequält: „Ich bin doch dazu gekommen wie die Jungfrau …“ „Verschonen Sie mich mit solchen Sprüchen“, unterbrach ihn der Oberleutnant ärgerlich. Er riß das Formular aus der Maschine, warf es in den Papierkorb und spannte ein neues ein. „So, wir fangen noch mal an.“ Er machte eine Pause und fuhr eindringlicher fort: „Aber wenn sich herausstellt, daß der alte Mann etwa per Nachhilfe gestürzt ist oder an dem Geld nur ein einziger Groschen fehlt …“ „Ich hab’ die reine Wahrheit gesagt“, klang es beschwörend. „Wollen wir’s hoffen“, knurrte Sander und begann aufs neue zu tippen. –
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Als er eine Stunde später das Volkspolizei-Kreisamt verließ und in seinen Trabant stieg, fuhr er noch immer nicht nach Hause, sondern zum südlichen Stadtrand, wo sich die Neubaublocks erhoben, die Remberg eine großstädtische Silhouette verliehen. Er hatte Glück und traf Unterleutnant Weidner ein. „Etwas Neues?“ fragte dieser und führte ihn in sein gemütlich möbliertes Zimmer. „Das kann man wohl sagen.“ Sander erzählte von Klinkes Besuch. Sie saßen auf dem Balkon, der vom sechsten Stock einen Ausblick über das Städtchen gestattete, und Weidner bot eine Flasche Bier an. „Nee, danke, ich bin mit dem Trabi …“ „Das ist ’n Ding“, kam Weidner auf Sanders Bericht zurück. „Und Sie glauben ihm?“ „Ich glaube ihm sogar, daß er die letzte Nacht nicht geschlafen hat“, antwortete der Oberleutnant überzeugt. „Und die vierzig Mark auch?“ „Ja, die auch.“ „Es wäre gut“, meinte Weidner zögernd, „wenn er mit einem blauen Auge davonkäme.“ Der Oberleutnant lächelte still. Weidner sprach seine eigenen Überlegungen aus. „Ich rede mit Staatsanwalt Hellmer“, versprach Sander. „Achttausend Mark, Donnerwetter!“ „Weshalb ich komme: Sie müssen morgen umpolen, die Sache Metzler können wir noch nicht abgeben.“ „Wegen des Geldes?“ „Ja. Auf unser Fernschreiben nach Dresden ist die Antwort gekommen: Metzler hat keine Angehörigen, er war Junggeselle.“ 35
„Vielleicht besaß er hier Verwandte? Oder Bekannte?“ Sander schüttelte entschieden den Kopf und langte seine Brieftasche heraus. „Dachte ich auch erst, aber dann fiel mir die Skizze auf der Rechnung ein und daß er sich im Parkrestaurant nach der Riesaer Straße erkundigte. Er hat sich also in Remberg nicht ausgekannt. Hier, sehen Sie mal …“ Sander legte die Rechnung vom „Jalta“ mit der Rückseite, nach oben auf den Tisch und strich das Papier glatt. Weidner beugte sich über die Zeichnung. „Riesaer Straße könnte stimmen. Hier der Teich …“ „Der Pfeil mit der Achtzehn wäre dann auch kein Rätsel“, unterbrach ihn Sander. „Ich erkundige mich morgen“, versicherte Weidner. Sander warf noch einen Blick über die Dächer hinweg, dann erhob er sich. Weidner begleitete ihn zur Tür. Dort blieb Sander stehen. „Aber erwähnen Sie nur den Unfall. Nichts von dem Geld!“ „Klar.“ „Moment, hab’ ich die Skizze eingesteckt?“ „Ja.“ „Die brauche ich noch. Mal sehen, wenn es morgen auf dem Gericht nicht zu lange dauert, trink’ ich im ‚Jalta’ ’ne Tasse Kaffee!“ Die Zeugenaussage, derentwegen Sander am folgenden Tag nach Dresden fuhr, hielt ihn im Bezirksgericht nicht lange auf, und früher als erwartet besuchte er das Interhotel „Jalta“. Doch ehe er das Hotelrestaurant betrat, suchte er die Buchhaltung auf. 36
Als er sie wenige Minuten später verließ, drückte seine Miene Zufriedenheit aus. Das Restaurant war mäßig besetzt. Er hatte kaum an einem der weißgedeckten Tische Platz genommen, als sich bereits lautlos der schlanke, dunkelhaarige Kellner näherte. „Ein Kännchen Kaffee“, bestellte Sander. „Entschuldigung, Herr Rintisch?“ Der Kellner musterte ihn erstaunt. „Ja?“ „Eine Frage. Volkspolizei, Oberleutnant Sander! Im Büro wurde mir gesagt, diese Rechnung hätten Sie ausgestellt?“ Er legte sie auf den Tisch. „Gestatten?“ Rintisch hob das Blatt Papier mit spitzen Fingern auf. „Erinnern Sie sich an den Gast?“ „Wieso? Ist reklamiert worden? Soviel ich sehe …“ Sander winkte ab. „Es handelt sich nicht um den Betrag. Mich interessiert, ob Sie sich an den Gast erinnern.“ „Du lieber Himmel“, der Kellner schickte einen gequälten Blick zur Decke empor, „davon schreibe ich in jeder Schicht Dutzende!“ Sander gab noch nicht auf. „Auch in dieser Höhe – zweiundsechzig Mark?“ „Das ist bei uns nicht selten.“ „Das Papier ist noch nicht angegilbt, nicht zerknittert, ich schätze, das ist kaum ein paar Tage her.“ Der Kellner Rintisch ordnete exakt eine weiße Serviette auf seinem linken Unterarm und zuckte bedauernd die Schultern. „Tut mir leid.“ „Auf der Rückseite ist eine Skizze.“ Sander drehte die Rechnung um. 37
„Nicht von mir“, erklärte Rintisch bestimmt, „Das ist übrigens auch nicht mein Kugelschreiber.“ „Bitte, denken Sie mal nach, Herr Rintisch: ein älterer Herr, Anfang Siebzig, volles, weißes Haar …“ „Nein, nein, bestimmt nicht“, unterbrach der Kellner ihn rasch. Sanders Stimme klang vorwurfsvoll: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nicht bloß nein sagen, um mich rasch loszuwerden!“ „Darf ich fragen …“ „Ich kann Ihnen keine Auskunft geben.“ 38
„Natürlich, verstehe“, antwortete Rintisch steif. „Also Fehlanzeige?“ „Beim besten Willen …“ Um dieselbe Zeit etwa, als Oberleutnant Sander im Dresdner „Jalta“ seinen Kaffee trank und der Kellner Rintisch sich aufatmend zurückgezogen hatte, stoppte Unterleutnant Weidner in Remberg den Dienstwartburg vor dem Haus Riesaer Straße achtzehn. Im Vorgarten stand kniehohes Gras, die Büsche wucherten unverschnitten, und zwei Blautannen ragten bis zum zweiten Stock empor. Von der Fassade bröckelte der Putz ab. Zweifellos hatte das Haus einmal bessere Tage gesehen. Im Hochparterre drückte Weidner vergeblich die Klingelknöpfe. Eine ältere Frau kam die Treppe herab. Er sprach sie an. „Entschuldigung, wohnen Sie hier?“ „Ja. Warum?“ „Ist Ihnen zufällig ein Herr Metzler bekannt?“ „Metzler?“ „Älterer Herr, Anfang Siebzig.“ Die Frau bedauerte, sie kannte ihn nicht. Weidner stieg in die erste Etage hinauf und klingelte an einer Wohnungstür. Endlich näherten sich Schritte, dann wurde ihm geöffnet. Weidner sah sich von einer hageren, weißhaarigen Dame streng gemustert. „Wünschen?“ klang es barsch. „Guten Tag, mein Name ist Weidner, Volkspolizei. Ich habe eine Frage …“ „Wie? Etwas lauter bitte!“ 39
Sie ist schwerhörig, auch das noch, dachte er und wiederholte lautstark sein Sprüchlein. „Haben Sie einen Ausweis, junger Mann?“ „Bitte schön“, Weidner wies ihn vor. „Kennen Sie einen – Herrn Metzler?“ „Junger Mann, ich unterhalte mich nie im Treppenhaus. Bitte näher zu treten.“ Weidner folgte der schrulligen alten Dame über einen halbdunklen, mit schweren Möbeln vollgestellten Flur in einen Salon aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Sie zeigte gnädig auf ein zerbrechlich wirkendes Stühlchen. „Sie sind Polizist? Und nicht in Uniform?“ „Kriminalpolizei. Kennen Sie einen Herrn Metzler?“ Die alte Dame musterte ihn ablehnend. „Kriminalpolizei? In unserem Haus? Das muß wohl ein Irrtum sein, junger Mann. Hier wohnt nicht Krethi und Plethi. Ich kenne mich einigermaßen in den Verhältnissen aus, aber ein Herr dieses Namens ist mir unbekannt. Mein verstorbener Mann, Generaloberst von Teitelbach …“ „Entschuldigung, aber …“ „Wie sind Sie eigentlich zu diesem Beruf gekommen, Kriminalpolizei?“ Es kostete Weidner einige Mühe, sich von der energischen Generalswitwe loszueisen. Seine Hoffnung, in der Sache Metzler weiterzukommen, war nicht mehr groß, dennoch stieg er ins zweite Stockwerk hinauf und drückte den Klingelknopf unter dem Namensschild „Gehrig“. Frau Gehrig, die ihm öffnete, mochte Mitte Fünfzig sein, sie war liebenswürdig, fast das Gegenteil der Frau von Teitelbach. Der Dienstausweis flößte ihr sichtbar Respekt ein, 40
dennoch blieb sie freundlich. Weidner folgte der Einladung ins Wohnzimmer, einen Raum mit hellen Tapeten und einer modernen Schrankwand. „Sie waren wohl schon bei Frau von Teitelbach?“ Weidner nickte und konnte ein verstohlenes Lächeln nicht unterdrücken. „Sie ist ein bißchen schrullig!“ Frau Gehrig lächelte verständnisinnig. Auf ihrer linken Wange entstand ein Grübchen und verjüngte sie überraschend. Weidner räusperte sich. „Frau Gehrig, kennen Sie einen Herrn Metzler?“ „Metzler, sagten Sie?“ Ihr Gesicht hellte sich auf. „Aber ja, einen Herrn Metzler habe ich am Dienstag erwartet, leider vergeblich.“ „Er hatte auf dem Wege hierher einen Unfall.“ Die Frau blickte ihn erschrocken an. „Deshalb ist er also nicht gekommen“, sagte sie leise. „Sie kannten ihn also?“ Der Unterleutnant sah sich bereits am Ziel seiner Nachforschungen. Frau Gehrig dämpfte jedoch seine Erwartung. „Nur dem Namen nach. Mein Mann sagte mir, am frühen Nachmittag käme ein Herr Metzler wegen der Pierrette.“ Weidner staunte. „Weswegen?“ „Der Pierrette. Einer Porzellanfigur, Herr Metzlet wollte sie kaufen. Mein Mann wäre gern dabeigewesen, aber es ging nicht, die Firma hatte Inventur. Mein Mann ist Prokurist bei der ‚Medica’.“ „Ich verstehe den Zusammenhang nicht“, erklärte Weidner. Frau Gehrig setzte sich zurecht. „Also, das war so: Wir 41
hatten vor einiger Zeit die Figur in Dresden schätzen lassen, beim Staatlichen Kunsthandel. Übrigens gehörte sie früher den Teitelbachs. Der Herr Generaloberst besaß eine kleine Porzellansammlung. Aber nach dem Krieg, wie das so war, sie mußten ein Stück nach dem anderen verkaufen oder eintauschen. Wir haben die Herrschaften in manchem unterstützt, ich habe daraus nie ein Hehl gemacht. Herr von Teitelbach gehörte …“ „Frau Gehrig“, unterbrach Weidner ihren Redestrom, „Sie besitzen also eine Porzellanfigur, die Herr Metzler kaufen wollte?“ „Ja, sagte ich das nicht? Wollen Sie sie sehen?“ „Später gern.“ „Der Kunsthandel taxierte sie um fünftausend Mark. Meißen – Kändlersche Schule, wenn Ihnen das ein Begriff ist?“ „Klar, Meißner Porzellan.“ „Was wir allerdings nicht wußten, die Pierrette ist eine Pendantfigur, und man riet uns in Dresden, mit dem Verkauf zu warten. Zu unserer Figur gehört ein Pierrot, und die Gruppe zusammen brächte um fünfzehntausend Mark.“ Weidner schluckte beeindruckt. „Meine Herren! Das sind Preise!“ Nicht ohne Stolz erklärte Frau Gehrig: „Echtes Rokoko! Was meinen Sie, was wir im Westen dafür kriegen würden? Mindestens das Doppelte – und in Westmark!“ Da Weidner nicht überzeugt zu sein schien, bekräftigte sie: „Ja, im Ernst!“ „Und wie kam das nun, daß Herr Metzler …“ Frau Gebrig hatte nur auf das Stichwort gewartet, sie 42
fuhr lebhaft fort: „Vorige Woche, Mittwoch oder Donnerstag, wurde mein Mann von einer Frau Schulz aus Dresden angerufen. Sie hätte von unserer Erkundigung beim Kunsthandel erfahren und bot für die Pierrette achttausend Mark.“ Weidner staunte. „Achttausend? Und Sie waren natürlich einverstanden?“ „Natürlich. Und diese Frau Schulz sagte, Dienstag mittag käme ein Herr Metzler, ein Sachverständiger in Porzellanfragen, und würde die Figur kaufen, falls die Angaben zutreffen. Mein Mann beschrieb ihr den Weg zu uns, vom Bahnhof zur Riesaer Straße …“ „Aha, daher“, unterbrach Weidner sie spontan und biß sich gleich darauf auf die Lippen. „Bitte?“ Frau Gehrig sah ihn fragend an. „Mir fiel nur etwas ein. Der Käufer wäre also nicht Herr Metzler gewesen, sondern diese Frau Schulz. Herr Metzler hätte nur in ihrem Auftrage gekauft?“ Frau Gehrig nickte eifrig. „So haben wir das verstanden. Mein Gott, und nun ist er verunglückt?“ Ihre Augen wurden feucht. „Ja, Herr Metzler ist gestern im Kreiskrankenhaus Remberg verstorben!“ Als Oberleutnant Sander das Interhotel verließ, blieb ihm noch reichlich Zeit bis zur Abfahrt seines Zuges, und er beschloß, in der Sache Metzler noch einen Besuch zu machen. In einer Fernsprechzelle blätterte er im Telefonbuch und notierte eine Adresse. Zehn Minuten später betrat er das Büro der „Urania“. „Herr Metzler, sagen Sie?“ Die junge Frau im duftigen 43
Sommerkleid nickte bestätigend. „Aber ja, Herr Oberleutnant.“ „Bitte nur Sander.“ „Herr Sander, Herr Metzler ist unser Porzellanexperte. Seine Diavorträge sind immer ausverkauft. Er ist Lehrer gewesen, Kunsterzieher. In der nächsten Woche hat er eine Veranstaltung vor Studenten in der Technischen Hochschule.“ „Die kann leider nicht stattfinden, er wird keine Vorträge mehr halten, Frau Kühn, nie mehr.“ Auf dem Gesicht der jungen Frau verbreitete sich Unglaube, danach Bestürzung. „Wie meinen Sie das?“ „Herr Metzler ist tot.“ Frau Kühn schluckte entsetzt. „Tot? Nein! Er war doch noch so rüstig.“ Sander schilderte den Unfall in Remberg, und die junge Frau drückte ihre Anteilnahme aus. Sander erfuhr nebenher, daß sich Metzler jeden Monat ein bis zwei Honorare verdient hatte, ein hübscher Zuschuß zu seiner Lehrerrente. „Da konnte er sich schon mal einen netten Abend im ‚Jalta’ leisten!“ Frau Kühn sah Sander ungläubig an. „Herr Metzler? Im ‚Jalta’? Das muß wohl ein Irrtum sein; er war geschworener Antialkoholiker, höchstens mal ein Bier, sagte er. Außerdem war er sehr sparsam.“ Bevor sich Sander dazu äußerte, bemühte sie sich, das Image des Verstorbenen aufzubessern. „Er hat aber auch viele Vorträge unentgeltlich gehalten, in Veteranenklubs, in Schulen und Krankenhäusern.“ Sander erhob sich. „Verwandte besaß er wohl nicht?“ 44
Frau Kühn geleitete ihn zur Tür. „Nein. Wenn ich mal sterbe, meinte er immer, weint kein Mensch eine Träne um mich.“ Als sie das sagte, wurden ihre Augen feucht. Die Kantine der Volkspolizei-Dienststelle war gut besucht, obwohl sich die Tischzeit dem Ende zuneigte. Oberleutnant Motz aß mit gesundem Appetit. Man sah ihm an, daß er gut und gern aß. Er trug seinen sportlichen Janker meist offen, da der mittlere Knopf zu straff saß. Als in der Tür Oberleutnant Sander erschien, hob Motz winkend die Hand. Sander holte sich einen Teller dampfenden Eintopfs und ging auf den Tisch zu, an dem Motz saß. Der reichte ihm lächelnd die Hand. „Du hast wohl gerochen, daß es bei uns Erbsen gibt?“ „Sehen gut aus.“ Sander schnüffelte genüßlich. „Die sehen immer gut aus. Schweinekopf drin wie bei Muttern. Wenn du Nachschlag haben willst …“ „Sehe ich so verhungert aus?“ „Leuten aus der Provinz tut man gern was Gutes. Ich spendier’ dir sogar ’n Kaffee.“ Sander blies vorsichtig auf die heißen Erbsen. Werner Motz war stets gut gelaunt und frozzelte gem. Sander fand seinen Einfall gut, die Zeit bis zur Abfahrt seines Zuges zum Besuch der Dienststelle zu nutzen. Nicht zuletzt hatte ihn sein Abstecher zur „Urania“ dazu veranlaßt. Er beantwortete Motz’ Einladung mit der Feststellung: „Kaffeetrinken war schon. Im ‚Jalta’.“ Motz grinste. „Ja, da gucken die Provinzler auch immer ’rein.“ „Das war dienstlich.“ 45
„Ich denke, du bist wegen einer Zeugenaussage …? Das sagtest du doch am Telefon.“ „Ja, schon.“ Nach einer Pause ergänzte Sander: „Remberg hat einen Dresdner Fachmann auf dem Gewissen.“ „Wie das?“ „Ein Porzellanexperte, alter Lehrer. Der Mann ist gestern verstorben. Und nun suchen wir die Besitzer oder Erben von achttausend Mark.“ Motz schob den leeren Teller fort. „Wieso denn ihr?“ Sander ließ den Löffel sinken und sah Motz mit nachdenklich gerunzelter Stirn an. „’ne E-Sache! Vielleicht kriegt ihr auch damit noch zu tun. Eine merkwürdige Geschichte: Immer, wenn ich denke, sie hat sich erledigt, kommt mir was Neues in die Quere. Zum Beispiel vorhin. Bei seinen Honoraren konnte der alte Herr sich schon mal ’nen Abend im ‚Jalta’ leisten, sag’ ich, und höre, er ist ein geschworener Antialkoholiker gewesen. Dabei zweiundsechzig Mark im ‚Jalta’ verputzt. Hier“, Sander langte die Rechnung aus seiner Brieftasche und schob sie Motz hin. „Flasche Wein, drei Bols …“ „Was ist ’n das?“ fragte Motz. „Ein Westschnaps.“ „Ich meine die Rechnung.“ „Fanden wir in der Brieftasche. Deshalb war ich im ‚Jalta’. Aber der Kellner: eine komplette Niete. Unsere Remberger Gastronomen wissen noch nach einem Jahr, ob jemand rote Bete oder gemischten Salat zum Gulasch hatte. – Na, ich muß los, schade um den Nachschlag, um zwei geht mein Zug. – War schön, dich mal wiederzusehen, alter Junge.“ 46
Oberleutnant Motz sah Sander nachdenklich an. „Kellner im ‚Jalta’, sagtest du?“ „Ja.“ „Sag mal, weißt du den Namen?“ „Rintisch. Wieso?“ „Wir hatten kürzlich eine Anfrage vom Zoll. Warte mal, du, das interessiert mich. Ich erkundige mich mal.“ Motz sprang behende auf und lief in den Vorraum ans Telefon. Sander sah ihm nachdenklich hinterher. Und dann kam alles ganz anders, als Sander es gedacht hatte. Eine halbe Stunde später nämlich saßen sie in einem Dienstwartburg und fuhren zum Interhotel. Motz fuhr leidenschaftlich gern und hatte deshalb auf einen Fahrer verzichtet. Während er den Wagen sicher durch den lebhaften Verkehr lenkte, meinte er: „Paß auf, der kriegt das große Fracksausen!“ Sander zuckte zweifelnd die Schultern. „Ich weiß nicht, Werner, ob da mehr herausspringt als mein verpaßter Zug.“ Motz warf ihm einen überraschten Blick zu. „Hör mal, wenn hier nicht organisierte Kunstschiebung vorliegt, freß’ ich ’nen Besen. In dem einen Fall erfindet er einen Strohmann, diesen Doktor Wieland aus Cottbus, im anderen schickt er einen alten Lehrer los, den er bei der ‚Urania’ aufgegabelt hat. Daß den plötzlich das Gedächtnis im Stich läßt – der weiß doch spätestens seit dieser Münzensache, daß der Dachstuhl brennt!“ „Ich würde dir recht geben“, erklärte Sander zögernd, „auch weil Rintisch für mein Gefühl regelrecht bestritt, den Alten zu kennen …“ 47
„Na also“, fiel Motz ihm ins Wort. „Aber was nicht ins Bild paßt, ist die Rechnung. Oder Metzler war ein ganz Ausgekochter: nach außen der biedere Kunstkenner und Abstinenzler. Nein, Werner! Außerdem hätte Rintisch bei der Sache achttausend Mark verloren. Das muß schon ein großer Künstler sein, der auf so eine Nachricht hin das Geschirr mit ruhiger Hand einsammelt.“ Oberleutnant Motz stoppte den Wartburg auf dem Parkplatz, doch bevor er ausstieg, packte Sander seinen Arm. „Rintisch! Dort kommt er.“ „Aha, Schichtwechsel.“ Der Kellner starrte die Kriminalisten betroffen an, als sie unversehens vor ihm standen. Die Sonne war hinter den Wolken verschwunden, ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, und Motz schlug vor: „Setzen wir uns ins Auto.“ Rintisch folgte ihnen mit verbissenem Gesicht. „Worum geht’s denn nun wieder? Ich muß schon sagen! Ich habe nichts verbrochen und bin mir keiner Schuld bewußt.“ Motz und Rintisch setzten sich auf die Hintersitze, Sander rückte sich auf dem Beifahrerplatz zurecht und wendete sich zu dem Kellner um: „Aber Herr Rintisch, wenn es nötig ist, über Hotelgäste Ermittlungen anzustellen, befragt man auch das Personal. Das kann Ihnen doch nicht neu sein? Außerdem habe ich Grund, mich noch einmal nach dieser Rechnung hier zu erkundigen.“ Sander kramte sie abermals aus seiner Brieftasche. „Sie haben mir einen älteren Herrn beschrieben“, erklärte Rintisch zögernd. „Ich kann nur wiederholen, was ich heute vormittag gesagt habe.“ „Entschuldigen Sie, Herr Rintisch“, hielt Sander ihm 48
entgegen, „aber weshalb sind Sie in diesem Fall so sicher? Sie haben mir im gleichen Atemzug erklärt, Sie könnten sich unmöglich an alle Gäste erinnern, die Sie in den letzten Tagen bedient haben.“ Rintisch erwiderte gereizt: „Na hören Sie! Ob Sie mich fragen, für wen ich eine x-beliebige Rechnung ausgestellt habe, oder Sie beschreiben mir eine bestimmte Person – das ist doch wohl ein Unterschied. – Natürlich habe ich nachgedacht. Darf ich die Rechnung noch mal sehen?“ „Bitte.“ Sander reichte sie ihm hinüber. „Das muß nicht ein einzelner Gast gewesen sein“, erklärte Rintisch zögernd. „Die Rechnung könnte für zwei Personen …“ „Und käme da Licht in die Sache?“ „Ich bin nicht sicher. Drei Bols! – Die Frau kam, glaube ich, später, aber als ich abkassierte, war sie nicht mehr da. Der Wein könnte ein Krötenbrunnen – die Sorte von Doktor Wieland, aber wie gesagt …“ „Doktor Wieland? Der Cottbuser?“ warf Motz ein. Rintisch sah ihn verblüfft an. „Wieso? Kennen Sie ihn?“ „Ja, ist uns bekannt. Von der Zollverwaltung der DDR. Haben Sie nicht eine Münze für ihn ersteigert?“ Das Gesicht des Kellners wurde plötzlich verschlossen. „Sagen Sie, was wollen Sie eigentlich von mir?“ Die Stimme von Motz klang indes gemütlich. „Nun mal ’raus mit der Sprache.“ „Herr Rintisch“, schaltete sich nun auch Sander ein, „Sie sind ein erfahrener Kellner und arbeiten seit Jahren in einem Interhotel. Sie haben es doch in den Fingerspitzen, ob ein Gast Bürger der DDR ist oder nicht.“ 49
Aus dem Nieselregen wurde ein kräftiger Schauer. Die schweren Tropfen trommelten auf das Pkw-Dach, als würden Erbsen auf ein Blech geschüttet. Unwillkürlich hob Rintisch seine Stimme: „Ja – und?“ „Ist dieser Doktor Wieland Bürger der DDR?“ fragte Motz. „Selbstverständlich“, antwortete Rintisch. „Woher wissen Sie das?“ fragte Motz skeptisch. „Hat er Ihnen seinen Personalausweis gezeigt?“ „Wie stellen Sie sich eigentlich meine Arbeit vor?“ erwiderte Rintisch reserviert. Oberleutnant Motz blieb gleichmäßig freundlich. „Dem Genossen von der Zollverwaltung haben Sie gesagt, Sie hätten sich im Telefonbuch von der Identität dieses Doktor Wieland überzeugt.“ „Das stimmt.“ „Und warum?“ „Bei der Versteigerung ging es um ein paar tausend Mark!“ Motz schüttelte den Kopf und erklärte sachlich: „Andersherum wird ein Schuh draus: Wären Ihnen keine Zweifel gekommen, daß der Mann die Wahrheit sagt, dann hätten Sie nicht im Telefonbuch nachgesehen – falls dieser Herr, ob er sich nun Wieland oder Meier nennt, überhaupt existiert.“ „Was soll denn das heißen?“ brauste Rintisch auf. Sander, der bisher aufmerksam zugehört hatte, räusperte sich. „Herr Rintisch, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß alle Ihre Angaben überprüft werden! Aber um auf die Rechnung zurückzukommen: Sie vermuten, daß Sie sie für diesen Doktor Wieland ausgestellt haben und für eine Frau, die zeitweilig am Tisch saß?“ 50
„Jawohl“, erklärte Rintisch bestimmt. „Beschreiben Sie uns, bitte, die beiden Personen“, forderte Sander. So plötzlich, wie er eingesetzt hatte, versiegte der Regen wieder, und das lästige Trommeln auf dem Wagendach brach ab. Die Wolken rissen auf, und die Sonne goß ihren hellen Schein aus über die naß blinkenden Bäume und Büsche. Sander schloß sekundenlang geblendet die Augen. „Doktor Wieland ist um die Fünfzig“, erklärte Rintisch, „starke Brille, Halbglatze. – Die Frau könnte seine Zukünftige sein, er liegt in Scheidung, wie er mir sagte, etwa zehn Jahre jünger, hellblond, großer Haarknoten …“ Motz hatte Rintisch vor dessen Haustür abgesetzt. Danach hatte er Sander zum Bahnhof gebracht. Es war dennoch bereits eine halbe Stunde nach Dienstschluß, als er sein Zimmer im Volkspolizei-Kreisamt Remberg betrat. Unterleutnant Weidner hatte auf ihn gewartet. Er räumte seinen Schreibtisch ab und berichtete von seinen Ermittlungen. „Ich kann Ihnen sagen, das war ein Vormittag! Haben Sie schon mal mit einer echten Generalswitwe zu tun gehabt? Daß es so was noch gibt? Junger Mann, ich unterhalte mich nie im Treppenhaus!“ Später rekapitulierte Sander: „Bei diesen Gehrigs hat also eine Frau angerufen …“ „Eine Frau Schulz aus Dresden“, bestätigte Weidner. „Und der alte Metzler kam in ihrem Auftrag?“ „Ja, – Ich habe mir die Figur angeguckt – überhaupt nichts dran – bunt bemalt – und achttausend Mark! Die Leute müssen bescheuert sein. Achttausend Mark!“ 51
„Ist Ihnen diese Frau Schulz beschrieben worden?“ „Nein. Hat nur angerufen.“ „Schulz – und weiter nichts. Die einfachste Sache von der Welt!“ Sander griff zum Telefonhörer und verlangte eine Verbindung auf der internen Leitung nach Dresden. Während er wartete, legte er die Hand auf die Sprechmuschel und meinte; „Für uns ist der Fall gelaufen, den Rest erledigt Oberleutnant Motz!“ Am Vormittag des nächsten Tages war Motz in der Sache Metzler unterwegs. Der Hinweis aus Remberg auf eine Frau Schulz war vage genug, doch hatte er sich vorgenommen, notfalls den Bekanntenkreis Metzlers abzuklopfen. Irgendwann und wo mußte der alte Lehrer dieser Frau Schulz begegnet sein, schließlich kannte sie ihn so gut, daß sie ihm ohne weiteres die achttausend Mark anvertraut hatte. Sofern der Kellner Rintisch die Wahrheit gesagt hatte, war es nicht ausgeschlossen, daß diese mysteriöse Frau Schulz identisch war mit jener Frau, die bei dem vermeintlichen Doktor Wieland am Tisch gesessen hatte. Das Haus Lessingstraße vierzehn hatte einen parkartigen Hof, und die Wohnung Albert Metzlers lag im zweiten Stock des Gartenhauses. Motz ermittelte eine ältere Frau, die Metzlers Wohnung in Ordnung gehalten hatte und einen Schlüssel besaß. Frau Blume, so hieß die alte Dame, war tief erschüttert, als sie von Metzlers tödlichem Unfall erfuhr. „Ich kann es noch gar nicht fassen, daß er tot sein soll“, sagte sie. „So ein lieber, ruhiger Mensch, ich wunderte mich nur, daß er nicht nach Hause kam; sonst sagte er doch 52
immer, wenn er mal über Nacht wegblieb.“ Frau Blume tupfte mit ihrem Taschentuch die Tränen fort. „Hat in den letzten Tagen jemand nach Herrn Metzler gefragt?“ wollte Motz wissen. „Nein, ich wüßte nicht.“ Frau Blumes Hand zitterte stark. Motz nahm ihr den Schlüssel ab und schob ihn ins Schloß. Die Luft im Korridor war abgestanden, man merkte, daß einige Tage nicht gelüftet worden war. „Sagen Sie, Frau Blume, hatte Herr Metzler in letzter Zeit Besuch von einer Frau zwischen dreißig und vierzig? Hellblond, großer Haarknoten?“ „Herr Metzler hatte in den letzten Jahren nie Besuch“, antwortete Frau Blume bestimmt. Motz öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Es sah aufgeräumt aus, die Möbel waren altmodisch, aber gepflegt, und an den Wänden hingen viele Zeichnungen und Aquarelle, meist Landschaftsmotive. Die Bilder gefielen Motz, sie verrieten eine Vorliebe für Details. Frau Blume bemerkte sein Interesse und erklärte wichtig: „Die hat er alle selbst gemalt.“ Motz nickte anerkennend. Im Briefkasten lag ein Zettel. Frau Blume drehte ihn ratlos zwischen den Fingern und gab ihn dem Oberleutnant. Es standen lediglich fünf Ziffern, darauf, sonst nichts, weder ein Name noch sonst ein Hinweis. „Anscheinend eine Telefonnummer“, äußerte der Oberleutnant, „vermutlich soll Herr Metzler dort anrufen.“ Motz hatte es plötzlich eilig, zum nächsten Telefon zu kommen. 53
Er fand eine öffentliche Fernsprechzelle in einer nahen Parkanlage. Eine ältere Frau führte darin ein Dauergespräch. Oberleutnant Motz trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Als er an die Tür klopfte und unmißverständlich auf seine Armbanduhr zeigte, erntete er einen bitterbösen Blick. Aber endlich beendete sie das Gespräch. Motz wählte vier-fünf-neun-null-acht und wartete. Das Rufzeichen ertönte einige Male, dann meldete sich eine Frauenstimme: „Schulz, guten Tag!“ Oberleutnant Motz sprach schläfrig-schleppend und bieder, seine Stimme klang alles andere als dienstlich. „Guten Tag, mein Name ist Metzler! Metzler! Ich habe in der Wohnung meines Onkels einen Zettel gefunden mit Ihrer Telefonnummer …“ Die Frau am Ende der Leitung unterbrach ihn lebhaft: „Ihr Onkel, sagen Sie?“ „Ja, ich bin der Neffe. Mein Onkel ist verunglückt. In Remberg.“ „Um Himmels willen, was ist ihm denn passiert?“ „Ich bin gestern benachrichtigt worden. Am Telefon möchte ich das nicht weiter erklären, verstehen Sie? Könnten wir uns vielleicht in einer halben Stunde im ‚Jalta’ treffen? Das wäre nicht allzuweit vom Bahnhof entfernt. Mein Zug fährt nämlich bald. Ich wohne in Neustrelitz.“ „Aber ja, einverstanden, Herr Metzler!“ Motz hängte den Hörer ein und rieb nachdenklich sein Kinn. Sein Instinkt sagte ihm, daß die Spur heiß wurde, die zur Aufhellung jener undurchsichtigen Transaktionen mit Kunstgegenständen führen sollte.
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Der Kellner Rintisch verzog unmutig das Gesicht, als er Motz wiedererkannte. Der Oberleutnant wählte einen Tisch, der nicht in seinem Revier lag. „Ich erwarte eine Dame, Herr Rintisch. Sollte sie mit der Tischdame dieses Doktor Wieland identisch sein, dann nicken Sie. Einverstanden?“ „Ist gut.“ Und dann kam sie. Unverkennbar war sie es mit ihrem hellblonden üppigen Haarknoten. Motz war es zu spät eingefallen, daß sie ein Erkennungszeichen hätten ausmachen sollen. Frau Schulz trat sicher und unbefangen auf. Elegante Lokale waren ihr anscheinend nicht fremd. Sie blieb auf dem roten Läufer des Mittelganges stehen und blickte sich suchend um. Motz sah zu Rintisch hinüber. Der nickte bedeutungsvoll. Ob er ahnte, daß Oberleutnant Motz erst jetzt seinen Verdacht gegen ihn endgültig begrub? Der suchende Blick der Frau blieb fragend auf Motz haften. Der stand auf und ging ihr entgegen. „Frau Schulz? Metzler.“ Er geleitete sie an seinen Tisch, und die Serviererin nahm die Bestellung entgegen. Frau Schulz wünschte zu ihrem Mokka einen „Bols-Ananas“. Motz dachte seufzend an seinen Dienstwagen draußen, er hätte sich sonst gern einen Kognak genehmigt. Die Frau ihm gegenüber war nervös. Ihre schlanken Finger drehten unablässig den massiv goldenen Armreifen am linken Handgelenk. Motz tat unbeholfen. Auf den Trick fielen die meisten herein.
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Nach einigen Höflichkeitsfloskeln steuerte Frau Schulz entschlossen ihr Ziel an. „Das ist natürlich, wie soll ich sagen, bedrückend. Wäre er nicht nach Remberg gefahren … Wie geht es denn Ihrem Herrn Onkel?“ Motz starrte betrübt vor sich hin. „Sieht gar nicht gut aus. Ich war um acht in der Klinik. Er war wach, aber erkannt hat er mich erst nach einer halben Stunde. Mit manchem, was er sagte, kann ich überhaupt nichts anfangen. Unter anderem redete er dauernd von achttausend Mark.“ Auf den Wangen seiner Tischnachbarin erschienen zwei runde rote Flecke. Sie beugte sich ihm entgegen und sagte rasch: „Aber darum handelt es sich doch, die gehören mir.“ Motz starrte sie treuherzig an. „Nehmen Sie mir’s nicht 56
übel, aber ich kann Ihnen doch nicht so ohne weiteres …“ Er brach ab, denn die Serviererin brachte die Getränke. Das Mokkakännchen klirrte in der Hand von Frau Schulz. Sie nippte an ihrem Likör. „Ich bitte Sie, das ist doch selbstverständlich. Wir kennen uns nicht. Überhaupt bin ich Ihnen sehr dankbar, daß Sie mich angerufen haben. Sehr freundlich von Ihnen.“ „Kannten Sie meinen Onkel näher?“ „Nein, nur flüchtig. Von der ‚Urania’. Er hielt dort wunderbare Vorträge.“ „Ja, ja, darin war er groß.“ „Interessieren Sie sich auch für Antiquitäten?“ „Keinen Schimmer, ehrlich gesagt.“ Motz sah, daß der Kellner Rintisch ab und zu neugierig herüberblickte. Vielleicht hätte er gern gewußt, worüber sie sich so angeregt unterhielten. „Sie sind mehr fürs Reale?“ Motz nickte. „Ja. Gegenwart.“ „Landwirtschaft?“ „Wieso?“ „Sie sagten Neustrelitz. Bei Neustrelitz denkt man automatisch an Ackerbau und Viehzucht.“ „Ist ja nicht falsch. Ich arbeite im Handel.“ „Ach ja?“ Frau Schulz öffnete ihre Handtasche und brachte einen säuberlich gefalteten Zettel zum Vorschein. „Ich habe hier die Quittung, daß ich Ihrem Onkel achttausend Mark für den Kauf einer Porzellanfigur ausgehändigt habe. Wenn Sie sich bitte überzeugen wollen?“ Motz nahm das Schriftstück und murmelte: „Ja, ja, das geht dann wohl in Ordnung.“ 57
„Na fein.“ „Ich hab’ allerdings verstanden, das Geld gehört Ihrem Mann?“ „Meinem Mann?“ „Oder hab’ ich mich da verhört?“ „Da haben Sie sich bestimmt verhört. Ich bin seit zehn Jahren verwitwet.“ „Aber er hat ganz sicher von einem Mann gesprochen.“ Motz blieb hartnäckig bei seiner Behauptung. „Moment, ich hab’ mir doch Notizen gemacht.“ Er blätterte in seinem Merkbüchlein. „Schulz.“ „Jawohl, das bin ich.“ „Ja, ist klar, das sind Sie. Dann Gehricke – oder Höricke?“ „Gehrig! Die Leute in Remberg mit der Pierrette.“ „Und dann noch ein Name – ein Herr …“ Motz hielt das Büchlein von sich gestreckt und kniff weitsichtig die Augen zusammen. „Was hab’ ich da bloß zusammengeschmiert?“ „Graupner?“ „Graupner? Das könnte hinhauen, Graupner!“ „Das ist mein Schwager.“ Oberleutnant Motz schob das Notizbuch wieder in die Seitentasche seines Jankers und trank in kleinen Schlucken den Mokka. Er legte die Hände übereinander und blickte nachdenklich sein Gegenüber an. „Wissen Sie, Frau Schulz, ich bin in diese Angelegenheit, wie man so sagt, richtig hineingerasselt. In meinem Koffer draußen sind achttausend Mark. Sie zeigen mir eine Quittung, schön – aber andererseits sagt mir mein Onkel, er hat das Geld von diesem Herrn Graupner bekommen.“ 58
Die Stimme von Frau Schulz klang ein wenig schrill. „Aber das ist ein Irrtum, Herr Metzler. Er hat es von mir erhalten!“ „Vielleicht können Sie Ihren Schwager anrufen, daß er herkommt? Mein Zug geht erst in einer Stunde.“ „Das ist leider nicht möglich“, sagte sie bedauernd, „mein Schwager ist gestern abgereist, nach Hannover.“ „Ach, ’n Westdeutscher?“ „Ja, Familienbesuch.“ Motz lächelte zufrieden. „Sehen Sie, jetzt geht mir ’n Seifensieder auf.“ „Inwiefern?“ „Diese tolle Restaurantrechnung vom ‚Jalta’ hier, zweiundsechzig Mark! – Und ich sag’ noch zu meinem Onkel: Du spielst ja nette Stückchen. Er wollte mir an Hand der Rechnung was erklären …“ Frau Schulz unterbrach ihn lebhaft. „Das hängt ja ganz anders zusammen. Mein Schwager suchte ein Stück Papier, um Ihrem Herrn Onkel den Weg zu den Remberger Herrschaften zu skizzieren – und da kam ihm die Rechnung in die Finger. – Wir hatten uns am Vorabend hier getroffen, mein Schwager und ich.“ „Woher kannte er denn die Remberger Herrschaften?“ Motz übernahm unwillkürlich diese Bezeichnung. „Er wollte Gehrigs Sammlung besichtigen. Porzellan interessiert ihn sehr, aber er traf niemand an. Leider hatte er nicht die Zeit, selbst noch einmal …“ Sie brach ab. „So war das also. Und ich war schon ganz irre, mein Onkel ist nämlich in der ganzen Familie bekannt als Alkoholgegner. Der hat schon manche Feier geschmissen deswegen.“ 59
Frau Schulz sah ihn gespannt an. „Und wie verbleiben wir nun?“ Motz erhob sich. „Wenn es Ihnen recht ist, zur Garderobe?“ Er winkte der Serviererin und zahlte. Nachdem auch Frau Schulz ihre Rechnung beglichen hatte, folgte sie ihm nach draußen. „Und Ihren Koffer?“ fragte sie, als er an der Garderobe vorbeilief. „Ich habe gar keinen Koffer abgegeben, Frau Schulz. Heißen Sie überhaupt Schulz?“ Seine Begleiterin wurde blaß. „Wie? Ist das ein Scherz?“ „Bitte, kein Aufsehen! Motz, Kriminalpolizei. Ich muß Sie bitten, mir zur Dienststelle zu folgen. Sie stehen im Verdacht, sich an der illegalen Ausfuhr von Kunstgegenständen beteiligt zu haben! Kommen Sie!“
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(c) Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) – Berlin, 1977 Cheflektorat Militärliteratur 1. Auflage, 1.–150. Tausend Lizenz-Nr. 5 • LSV: 7001 Lektor: Helge Paulus Umschlaggestattung: Bernhard Kluge Typografie: Peter Mauksch • Hersteller: Renate Ohmen Korrektor: Ingeborg Kern Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Druckerei des Ministeriums für Nationale Verteidigung (VEB) Berlin – 3 3240-6 DDR 0,45 M
Oberleutnant Sander hatte noch nicht die Hälfte der blauen Scheine gezählt, als Klinke ihn schnaubend unterbrach. „Es ist gestern gewesen“, sagte er kleinlaut. „Und auch nicht am Wall.“ „Nein.“ „Sondern?“ „Stadtpark.“ „So, Stadtpark. – Etwa am Pumpenhäuschen?“ Klinke preßte die Lippen aufeinander und rutschte wieder unruhig auf seinem Stuhl hin und her. An seiner Miene war unschwer zu erkennen, daß er es bereute, Oberleutnant Sander aufgesucht zu haben. Die Pause dehnte sich, und Sander wartete geduldig. Es war ein beredtes Schweigen. Er irrte nicht. Klinke sah ihn plötzlich ängstlich an und erklärte eindringlich: „Ich schwör’s, ich hab’ ihn nicht angerührt. Er lag da mit dem Kopf nach unten“, Klinke seufzte schwer, seine Stimme klang gepreßt, er murmelte kaum verständlich: „Ich hab’ die ganze Nacht nicht geschlafen. Er war tot …“
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