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Eine deutsche Großstadt in naher Zukunft: Noch ist die Welt in Ordnung, als Amtsrichter Andreas Betz gemeinsam mit seiner Freundin Gisa Wormser, Rechtsanwältin, die Geburtstagsfeier an Bord des Schiffes lustvoll ausklingen läßt. In einer kleinen Ecke des Salons sitzend, lauschen die beiden erst den Geräuschen des tanzenden Schiffes, nehmen den Flußgeruch von Tang und Algen wahr und nippen abwechselnd an der Flasche Wein, bis sie sich dann schließlich den handfesteren Freuden der Liebe zuwenden. Doch zu diesem Zeitpunkt muß das Unfaßbare, das das Leben des Richters Andreas Betz nachhaltig beeinflussen und die ganze Welt verändern soll, bereits geschehen sein: Ein junger Mann, ein Bluter, verletzt sich, sein Blut wird einer Routinekontrolle unterzogen – das Ergebnis lautet «serumpositiv». Weitere gentechnische Analysen, die an ihm vorgenommen werden, weisen auf einen neuen Virus hin, einen kleinen, vielfach gefährlicheren Bruder von dem bekannten. Er ist ansteckend wie eine Grippe und tödlich wie die bisher bekannte Form der Immunschwächekrankheit. Ein Wettlauf mit dem Tod beginnt. Innerhalb nur kurzer Zeit verändern sich Welt und Leben der Menschen radikal. Immer mehr Krankheitsfälle treten auf, die Presse kommt der Sache auf die Spur, und die Seuchengefahr wird öffentlich. Die Gesellschaft reagiert hysterisch; außer Hygiene zählt nichts mehr. Das Leben erstarrt in Eiseskälte. – Nur jene Menschen, die sich mit dem neuen Virus infiziert haben, brauchen sich nicht zu fürchten. In der Quarantänestation entwickelt sich eine neue Qualität menschlichen Lebens. Fred Breinersdorfer, einer der wichtigsten deutschen Kriminalautoren, ist das Thema Aids unter völlig neuem Blickwinkel angegangen. Aufgrund umfangreicher Recherchen schrieb der praktizierende Rechtsanwalt und Staatsrechtler den Roman Quarantäne, der vor Erscheinen bereits Vorlage eines Drehbuchs für einen großen Fernsehfilm sowie für ein Hörspiel wurde.
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Breinersdorfer, Alfred W.: Quarantäne / Fred Breinersdorfer. – Stuttgart; Wien, Ed. Weitbrecht, 1989 ISBN 3 522 70510 6 Vw. Breinersdorfer, Fred [Pseud.]→Breinersdorfer Alfred W. © 1989 Edition Weitbrecht in K. Thienemanns Verlag, Stuttgart und Wien Die Gestaltung des Umschlags besorgte Zembsch’ Werkstatt in München. Gesetzt in der Bembo 11 Punkt von der Utesch Satztechnik GmbH in Hamburg. Umschlagreproduktion Repro GmbH in Kornwestheim. Gedruckt und gebunden von Franz Spiegel Buch in Ulm. Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten.
Eine deutsche Großstadt Nahe Zukunft
Sonntag, Nacht Das Schiff wiegt sich im Strom, tanzt an den Tauen, die wie alte gebrechliche Weiber ächzen. Betz sitzt im oberen Salon des Schiffes, der während der Feier unzugänglich geblieben ist, weil er mit Bänken zugestellt war, und trinkt Rotwein aus der Flasche. Er ist sicher, daß ihn das Getränk umhauen wird, nach all dem Bier, Sekt und Schnaps. Aber er liebt das Lutschen und Suckeln und den herben Geschmack. Draußen glänzt hinter Regenschleiern die Stadt. Vor dem Anleger blinkt ein Auto mit den Scheinwerfern ein sinnloses Morsealphabet. Kreischen, Gelächter von den letzten Gästen. Als ein Rest vom Feuerwerk furzen Schweizer Kracher auf dem Asphalt herum. Auf jeden der feuchtigkeitsgedämpften Schläge folgen wieder Johlen und Grölen. Es scheint, als finde der sonntägliche Brunch nun endlich sein verdientes Ende. Schließlich fährt das Auto doch noch ab. Ein zweites folgt. Zurück bleibt ein Paar, das Betz im gelben Gegenlicht der Straßenlaterne unter einem Schirm miteinander knutschen sieht, die Körper aneinander geschmiegt. Die Köpfe gehen hin und her wie Pendel einer langsamen Uhr. Bis schließlich eine der beiden Silhouetten mit stoßenden Bewegungen des Unterkörpers beginnt, die von der anderen Silhouette harmonisch aufgenommen werden. Der Pendelschlag der Kopfuhren geht schneller. Betz, nun aufmerksam geworden, steht auf und tritt ans Fenster. Aber er kann nicht erkennen, wer wem das Kopulieren verspricht. Er grinst, auch wenn er nicht herausbekommt, ob Melanie von der Geschäftsstelle es viel7
leicht mit dem Vorstand des Amtsgerichts zu treiben verspricht oder die so gesetzt erscheinende Amtsrichterin Schultheiß, über welche die Kollegen wegen ihrer gierigen Augen so gerne lästern. Wenn die Schultheiß, dann aber mit wem? fragt sich Betz und schneidet eine Grimasse, suckelt an der Flasche, zuckt mit den Schultern, feixt für sich, beobachtet mit Gelassenheit, wie nun die nicht erkennbare Frau, ihr Geschlecht ist an der Silhouette des Rockes zu definieren, ihren Liebhaber der nächsten Stunde mit sich zieht. Beide verschwinden in der nassen Dunkelheit. Bald heult ein Motor auf, ein Fahrzeug schießt unter Fernlicht davon. Die Scheinwerfer streifen ein rundes, glatt rasiertes Gesicht, dessen Stirn in eine Glatze ausläuft, die von militärisch kurzem, braunem Haar bekränzt wird. Die Augen scheinen im grellen Licht für den Bruchteil einer Sekunde in ihrer grünen, prächtigen Farbe. Der ein wenig gebückte, trotzdem athletisch wirkende Körper mit seltsam schmalen, ja fast zierlichen Händen, die mit der Beaujolaisflasche spielen, pendelt hin und her. Betz schließt für eine Sekunde die Augen, dann ist der Lichterspuk vorbeigeflogen. Das Brüllen des Motors vergurgelt an der Kurve hinter den Lagerhäusern. Nun kann sich Andreas Betz wieder zurücklehnen, den Geräuschen des tanzenden Schiffs lauschen und auf seine eigene Liebhaberin warten, die ja versprochen hat zu kommen. Unter dem Kiel gluckst und schlürft das Wasser. Betz schnüffelt, riecht den alten Lack und den Duft des Flußwassers, Tang und Algen. Seltsame Laute mischen sich in seine Wahrnehmung, metallische Schläge wie an Heizungsrohre, Schnarren ungeölter Scharniere. Es scheint, als schließe jemand das Schiff ab. Da, endlich klappern lustig Pfennigabsätze über das Holz des Anlegers. 8
«Komm, gib den Schlüssel her, alter Herr», hört Betz die helle Stimme Gisas rufen und hinzufügen: «Hab dich nicht so, ich kann auch deinen Kahn abschließen. Taue fest?» Ein Gebrumm ist die Antwort. Schließlich nimmt Betz stampfende Schritte wahr, die sicher zum Schiffer gehören. Dann ist es ruhig auf dem Kahn. Kein Geräusch, außer jenen, die das Schiff in seinem Ruhezustand verursacht. Betz ertappt sich bei der Überlegung, ob Gisa sich irgendwo, vielleicht auf der metallenen Bordtoilette, die überall Rostsprenkel hat, für die nächste Stunde herrichtet? Ob sie sich schminkt, kritisch ihr Gesicht überprüft? Oder sie pinkelt sich ganz einfach aus und bohrt dabei in der Nase. Für Betz ist nur wichtig, daß sie bald kommt. Nicht, daß er vor Erregung geplatzt wäre, er sitzt hier gut und süffelt, aber irgendwie muß es weitergehen mit dieser Nacht, denkt er. Er stößt mit der Spitze seines linken Fußes an die gegenüberliegende Bank, stellt dabei fest, daß diese nicht fest montiert ist und sich bewegt. Ein wenig unkonzentriert mustert er das Szenarium um sich, sich gleichzeitig fragend, wie denn technisch ein zärtlicher Liebesakt auf all diesen übereinandergestapelten hölzernen Sitzgelegenheiten zu bewerkstelligen sei. Die Schiebetür rasselt. Betz fährt heftig zusammen, weil er vorher keine Schritte gehört hat. Er fühlt sich ertappt, lächelt, als er Gisa im schrägen gelben Licht sieht, das die Straßenlaterne draußen spendet. Sie ist klein, fast winzig, zerbrechlich. Ihre rötlichblonden Haare wirken in dieser Beleuchtung dunkler, fast brünett, das Sommersprossengesicht wie gut gebräunt. Die kleine Nase, die volle Unterlippe gleichen aus der Distanz betrachtet Strichen. Und die burschikos geschnittenen, kurzen 9
Haare verbergen die ein wenig abstehenden Ohren, an denen Betz sie vorhin beim Tanzen gezupft hat, um sie zu ärgern. Er fühlt sie näher treten. Er riecht ihren frischen Duft nach Parfüm, Alkohol und Schweiß. Er ist froh, daß sie nicht ihre Brille trägt. Statt sie aber mit offenen Armen leidenschaftlich zu empfangen, steht er da wie ein Esel mit hängendem Kopf, in einer Hand die Weinflasche, und schnüffelt mit bebenden Nüstern. Gisa hustet ein wenig, ihre Hand berührt streichelnd, aber nur sehr flüchtig seine Wangen und seinen Hals. Er will sie an sich ziehen, sie umarmen, diesen tiefen Kuß voller Hitze von vorhin wiederholen. Doch sie schlüpft ihm weg, kniet auf eine Bank, die ein gequältes Quietschen von sich gibt, und macht sich rasch mit kundigen Händen über seinen Hosenladen her, kramt, ja, muß kramen, denn was ihr da in die Hände fällt, ist ein kleines, schüchternes Schnippelchen, vierzigjährig und fast kalt anzufühlen. Sie nimmt es in den Mund, küßt es, beißt ein wenig mit spitzen Zähnchen darauf herum. Und Betz hält immer noch seine Weinflasche in der Hand, starrt nun mit aufgerissenen Augen hinaus auf die Straße, auf der im Schrittempo nun ein Polizeiwagen patrouilliert. Er tastet nach ihrem Kopf, streichelt die kurzen Haare so zärtlich es gerade geht, immer noch atemlos und sprachlos wegen der plötzlichen Attacke ihrer körperlichen Liebe. Er klappert mit der Weinflasche auf einer Bank herum, bis er einen scheinbar sicheren Platz gefunden hat, dann faßt er den Kopf des Mädchens mit beiden Händen, entwindet sich ihrem saugenden Mund und kniet auf den Sitz der Bank nieder. Jetzt endlich kommt der lange, feuerheiße Kuß, mit dem der Amtsrichter Betz in seinem Liebesszenarium üblicherweise die Zärtlichkeiten beginnt. Auf diese Weise gewinnt er 10
ein wenig seine Sicherheit zurück. Ihr Mund fühlt sich weich und voll an, die Zunge geht flink auf seine trägen Vorschläge ein. Mit der linken Hand tastet er sich geschickt unter ihr Polohemd und an die kleinen Brüste, deren Spitzen so steif sind, wie ein gerade vierzigjähriger Amtsrichter sich gerne seinen Schwanz wünscht. Dieser nämlich, der ungewohnten Nachtluft ungeschützt ausgesetzt, noch feucht von der liebevollen Behandlung, hat sich trotz des innigen Kusses, kaum daß er sich ein wenig gestreckt hatte, in seine schrumpelige Ausgangssituation zurückgezogen. Andreas legt nun um so mehr Feuereifer in die Finesse seiner Zärtlichkeiten, züngelt an ihrem Ohr herum, schnauft schon heftig und behandelt mit spitzen Fingern tastend die kleinen Nackenhärchen. Und plötzlich gleitet sie ihm wieder weg, nach unten, nimmt wieder genauso selbstverständlich ihre für Betz so verblüffende Tätigkeit auf, läßt Umsicht und Geschick walten, obwohl die ganze Sache mit dem nun auf der Bankkante knienden Liebhaber ein wenig umständlich und unbequem erscheint. Der, wie heute viele gebildete Männer, ganz voller Rücksicht, will das ändern, erhebt sich mit einem Grunzen, so daß ihre Zähne an Schwanz und Schamhaar zupfen und reißen. Sie lacht darüber, glucksend, so wie vorhin, so daß die aus seiner subjektiven Sicht straffe, objektiv gesehen aber eher halbstraffe Männlichkeit sofort wieder sensibel zu schwinden beginnt. Sie kommt hoch, krault ihn hinter den Ohren und flüstert schnurrend: «Du Einfaltspinsel! Warum darf man nicht einmal lachen beim Schmusen? Ihr meint, ihr müßt immer bierernst mit einem Ständer herumrennen und stoßen wie der Hirsch im Wald.» Lachen, Glucksen. Betz räuspert sich, versucht in seine Stimme Schmelz und Zärtlichkeit zu legen. «Nein, nein», sagt er. 11
«Macht doch nichts», schnurrt Gisa, «ich will sowieso nicht mit dir schlafen. Schlafen eigentlich schon, aber nicht vögeln. Ich habe die Tage. Ich hasse diese Blutsudelei.» So kommen sie schließlich fast ernüchtert nebeneinander zu sitzen, zwischen sich die fast leere Flasche Beaujolais. Ihr hängt der Saum des Polohemdes noch knapp unterhalb der Brüste, und seine halb offene Hose zeigt den Schwanz und einen weißlichen Hoden. Sie beginnen einträchtig aus der Flasche zu saufen, kräftige Schlucke, kein Schnuckeln. Sie streicheln und küssen sich dabei. Der Alkohol durchzieht warm und freundlich Magen und Kopf. Betz hebt den Hintern und fädelt sich wieder in seine Unterhose ein. Die Jeans läßt er offen, sozusagen als Kompromiß. In diesem Augenblick schwingt sich Gisa rittlings auf ihn. Im Halbdunkel schwebt für einen kurzen Augenblick ihr Gesicht über seinem, bevor sie ihren Kopf in seine Halsbeuge bettet, wo sie lange und warm ruht. So sieht sie nicht, daß der Streifenwagen der Polizei mit grell flackerndem Blaulicht, aber ohne Martinshorn, draußen vorbeijagt.
Sonntag, nach Mitternacht Irgendwie sind sie zusammen, trotz beträchtlichen Rausches, in Gisas Dachwohnung gekommen, haben in der Küche gesessen und aus der Hand Käse und Brot gegessen und ein Bier getrunken und haben miteinander unsinniges Zeug über den unsäglichen Gerichtsbetrieb geredet, nur damit geredet wird. Kaum daß die Bierflasche geleert war und der Käse aufgegessen, beginnt Gisa, sich mitten in der Küche aus12
zuziehen, als sei man schon Jahre zusammen. Mit gekreuzten Armen greift sie nach dem Saum des Polohemdes und streift es über den Kopf, sie schüttelt die Haare zurecht, daß die Brüste ein wenig pendeln, was Betz für einen Augenblick beim Bierschlucken innehalten läßt. Dann streift sie die Leinenhose ab und strampelt sich aus einer Winzigkeit von Slip. Zum erstenmal fällt Betz auf, daß sie für ihre zierliche Figur etwas zu breite Hüften hat. Und dieses rötliche, durchsichtig wirkende Schamhaar! Aber sie gefällt ihm trotzdem. Und so spürt er, da augenblicklich nichts bewiesen werden muß, ganz plötzlich ein auffälliges Ziehen in den Lenden. Sehr angenehm. Gisa geht einfach hinaus, sanft mit dem Hintern wiegend, und schaltet an der Tür das Küchenlicht aus. Sie sagt, daß sie nun zusammen mit ihm schlafen will, sie meint aber offensichtlich nur «übernachten». Betz, ein ordentlicher Mensch, verstaut die angebrochene Bierflasche im Kühlschrank, folgt ihr dann, sich Hemd und Hose im Gehen auf dem Flur entledigend, schließlich auch nach kurzem Zögern der Unterhose, sucht das Bad, schaut kurz hinein, um sich die Zähne mit Zahnpasta und den Fingern zu putzen. Und schließlich tastet er sich in der ohnehin nicht sehr großen Wohnung weiter bis zum Schlafzimmer mit einem erstaunlich breiten Bett, auf dem, unter vielfältig geschichteten französischen Decken liegend, sich der Körper seiner nächtlichen Freundin abzeichnet. Eine Lampe mit weißem Schirm spendet freundlich-kühles Licht. Gisa rührt sich nicht. Betz schläft sehr unruhig. Schon lange, viele Monate vor seiner Scheidung, war er nicht mehr über Nacht mit einer Frau zusammen gewesen, hat nur hier und da eine Damenbekanntschaft gehabt, allesamt verheiratete Frauen in seinem Alter, aus deren Gemächern er sich – meist 13
tagsüber – davongestohlen hatte, wie ein Tagedieb, als die Sache vorbei war. Da macht ein nackter, warmer Frauenkörper, der nach Parfüm und laszivem Schlaf duftet, ganz schön unruhig. Und irgendwann im Morgengrauen merkt Gisa, wie ihm nun endlich das morgendliche Glück einer prallen Erektion beschieden ist. Halb wachend, halb schlafend zieht sie ihn auf sich und hilft ihm dabei, nach kurzem, erregtem Stoßen sich auf ihrem Bauch zu ergießen. Monatsblut hin, Monatsblut her. Sie schubst ihn dann, endlich ein wenig wacher, zirpt ihm in die Ohren und summt «Strangers in the Night». Dann fragt sie, warum er seinen Freund herausgezogen hat, heute kann doch nichts passieren? Betz, ein wenig ratlos über das, was er angerichtet hat, will ins Klo, Papier holen, um sein Sperma abzuwischen. «Nur so», sagt er. Doch Gisa zieht ihn an sich, reibt sich an ihm und flüstert: «Das lassen wir einfach drauf.» Dann schläft sie, halb auf ihm liegend. Schwer wie ein Stein.
Sonntag, nach Mitternacht Genau zur selben Stunde, oben auf dem Gelände der Universität, herrscht in den Kliniken tiefe Ruhe. Nachtbeleuchtung, die Wachstationen flimmern blau. Virologisches Institut: Arnold Kron steht an einem Eichenschreibtisch aus der Zweiten Zeit und stützt die Fäuste auf die Platte. Auf dem Bildschirm des Monitors, der vor seinen Fäusten steht, laufen grüne Zahlenkolonnen herunter. Kron nagt an den Lippen und verfolgt die Kaskade der Ziffern. Immer wenn sie ins Stocken geraten, drückt er auf dem Keybord, das zwischen dem Monitor und 14
ihm liegt, einige Tasten – und schon wieder setzen sich die Kolonnen und Zahlen in Bewegung. Wie im Kopf von Musikern Noten Töne erzeugen, so bewirken die Zahlenkaskaden hinter der schmalen Stirn des Forschers Kron Unsicherheit und Spannung. Erneut klimpern seine Finger über das Keybord. Die Elektronik reagiert und formt auf dem Monitor eine bunte Grafik, in der gelbe, grüne und rote Linien in einem Koordinatensystem elegant auf und ab schwingen. «Herrgott!» zischt Kron zwischen den Zähnen durch und wiederholt die Prozedur. Die Grafik verschwindet, Zahlen flimmern vom oberen Bildschirmrand zum unteren. Kron setzt sich, wühlt in dem Papierhaufen auf dem Schreibtisch herum. Alles ist ungeordnet, übersät mit Einwegfilzschreibern in jeder nur denkbaren Farbe, befleckt vom Kaffee, beladen mit Filmkartuschen, da liegt ein Brieföffner, zwei überquellende Aschenbecher. Endlich finden die fliegenden Finger einen kleinen Stapel ziehharmonikagefalteter Computerbögen aus grauem, umweltschonendem Papier. Seine Augen suchen die Spalten durch, vergleichen die Werte mit dem Bildschirm. Zurück zum Keybord: ein Tastendruck. Die Ziffern bleiben auf dem Monitor stehen. Kron blättert. Er sucht eine Zeile. Er vergleicht. Wie ein Kind, das erst lesen lernen muß, tastet er mit dem Zeigefinger auf Bildschirm und Papier in die richtige Reihe. Hier steht 83,7, dort 11,49. 83,7 und 11,49. Eine banale Kombination, ohne Aussagewert für Laien, doch Kron versetzt sie in Nervosität, Ungeduld. Plötzlich läßt er alles liegen, hastet zur Tür, hinaus auf den Flur, hinüber in die großen, hellen Laborhallen, belegt mit Forschungsgerät und Versuchseinrichtungen. Er zwingt sich zu einem Lächeln, obwohl ihn keiner sieht, ist von dem Gerenne ein wenig 15
außer Atem und ruft: «Fräulein Cerzig, geben Sie mir noch einmal die zweite Probe auf drei – aber dieses Mal mit 10 % Serum mehr.» Das Fräulein Cerzig, gedrillt wie beim Militär, wiederholt den Befehl ihres Chefs, gibt den Versuch auf den dritten Kanal und die 10 % Serum dazu. Sie ist schnell, geschickt, verläßlich. Das weiß Professor Kron, deshalb hat er sie in dieser Nacht telefonisch aus dem Bett geholt und hergejagt. Denn Fräulein Cerzig ist die älteste PTA im Stall und kennt sich bei allen Versuchen aus, und sie ist besser als viele der jungen Mediziner, die hier überall herumwuseln und denen Professor Kron mißtraut, weil sie seiner Auffassung nach nur gute Noten und kein Fingerspitzengefühl mitbringen. Deshalb stutzt er auch nicht, als das Fräulein Cerzig, ohne von der Aufregung ihres Chefs angesteckt zu sein, antwortet, ob man nicht vielleicht mit 12 % Serum besser darangeht, dann könnte man ja immer noch mit zehn fahren. Kron fuchtelt mit den Händen, was so etwas wie Zustimmung signalisieren soll, dann rennt er voller Ungeduld zurück in sein Zimmer, einen dieser von ihm gehaßten, farblosen Assistenten vom Nachtdienst zur Seite stoßend. Doch auf halbem Wege hält er an, stürzt zurück, noch einmal in die Versuchshalle, sogleich hin zu Fräulein Cerzig, die, mit Gummihandschuhen über den Händen, durch die man wie mit weißlichem Schleier den roten Nagellack schimmern sieht, die Versuchseinrichtung justiert. Professor Kron, sich scharrend am unrasierten Kinn kratzend, sieht ihr für wenige Sekunden zu, dann fragt er fast flüsternd, sich konspirativ umsehend, weil er niemanden in die Sache hineinziehen will, ob das schon die Proben aus dem Tierversuch sind. «Ja», sagt das Fräulein Cerzig nüchtern. Kron steht ne16
ben ihr, registriert im Widerschein des Laserlichts die feinen Härchen auf ihrer Wange, die, vom Make-up nicht bedeckt, abstehen. Eine hübsche Frau, denkt er, sie führt abends und an Wochenenden ein glückliches Leben, draußen, irgendwo in der Vorstadt. Jetzt sieht sie besorgt aus, unruhig, aber beherrschter als ihr Chef. «Ja, aus dem Versuch mit den Ratten», sagt sie, «genau die Probe, wie Sie gesagt haben.» «Es ist zum Mäusemelken, es ist zum Mäusemelken …», murmelt Kron zwischen den Zähnen und scharrt fortwährend am Kinn, mit zusammengekniffenen Augen die Versuchsanordnung visitierend. Und als er sieht, daß alles in Ordnung ist, rennt er wieder weg. Die Schritte seiner weißen Turnschuhe quietschen leise auf dem versiegelten Kunststoffboden.
Montag, lange vor Sonnenaufgang Der rein technische Ablauf der Analyse war Kron nicht bekannt gewesen, weshalb er sich die Details von der PTA Cerzig hat erklären lassen, bevor er sie nach Hause geschickt hat. Sie ist maulend gegangen, weil sie gemerkt hat, daß hier ein außergewöhnlich wichtiger Versuch läuft. Doch Kron hat sie hinausgescheucht, weil er es nicht gebrauchen kann, wenn Leute um ihn herum sind, die ihn beobachten können, wenn er nervös ist, unsicher, gehetzt. Ein Tag, den er schon am Nachmittag beschlossen hat zu verfluchen und über den er gelegentlich Notizen machen wird, die er zu Hause bei sich in ein Stahlfach genauso einschließen wird wie bestimmte Forschungsergebnisse, deren Geheimnis er hüten will. Ein schwarzer Tag! 17
Endlich ist er völlig alleine, in Ruhe, kann seine Motorik entfalten. Er reißt den weißen Kittel herunter, zieht sogar den Norweger-Pullover über den Kopf, fährt nur flüchtig durch die schwarzen Haare. Nun krempelt er noch die Ärmel auf, er sieht aus wie einer, der ans Holzhacken geht und sich ein gewaltiges Pensum vorgenommen hat. Nur die Gummihandschuhe, die er sich schnalzend überstreift, stören das Bild. Obwohl er voller Ungeduld ist, zwingt er sich, nicht noch einmal nach den Ratten zu sehen, weil seine Ratio ihm sagt, daß die Versuchstiere genauso stumpf und pfeifend durcheinanderwieseln, gleichgültig, ob eines der Brüder oder Schwestern das Virus auf den eigenen Körper übertragen hat oder nicht. Die Tiere bewirten das Virus; es vernichtet sie nicht. Sie können jedoch Aufschluß über den Anstekkungsvorgang geben. So begibt sich der Forscher Kron zu einem Plastikgestell, das Glasträger enthält, auf die teilweise Serum, teilweise Blut aus der zweiten Probe verteilt ist, die man einem jungen Mann namens Vogel abgenommen hat. Mit dieser zweiten Testreihe will Kron sich Zeit lassen; die erste Probe wurde zu schnell vergeudet. Den zweiten Versuch hat er persönlich überwacht, genau angeordnet, in welche Kulturen Serum und Blut eingeimpft werden, durchaus wild improvisiert, um zu prüfen, wie sich das Virus in Urin- und Speichelproben verhält. Er selbst ist aufs Klo gelaufen, um persönlich ein Tröpfchen für den Versuch abzuzweigen, nachdem die PTA und die Assistenten sich kichernd gesträubt haben. Er will, nein, er muß einfach sehen, ob dieses Virus bei den vielfältigen Behandlungen, die er ihm zugedacht hat, am Leben bleibt, nachdem er durch reinen Zufall bei einer Routinekontrolle auf seine Spur geraten ist. Die aufwendige 18
gentechnische Analyse läuft. Doch Krons Erfolg als Forscher ist nicht nur auf penible Systematik begründet, sondern auch auf Fantasie, Erfindungsreichtum und Mut. Und wenn ihm die Kollegen, teils bewundernd, teils nicht ohne Neid, eine große Karriere und eine kleine Anwartschaft auf einen großen wissenschaftlichen Preis voraussagen, dann nur wegen seiner Spürnase, seiner Sherlock-Holmes-haften Kombinationsgabe. Kron ist eine ebenso wütende Intoleranz gegenüber den Lehrmeinungen seiner Kollegen zu eigen, wie er japanischen Pragmatismus an den Tag legen kann, wenn er ihm plausible Forschungsergebnisse anderer kurzerhand übernimmt. Kron ist mit seinen 45 Jahren ein weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus bekannter und angesehener Forscher, ein Freigeist und gleichzeitig Dogmatiker – und vor allen Dingen ein beharrlicher Arbeiter. Er geht ans Werk. Es wird zwei, es wird drei Uhr. Kron hat sich zuerst die unorthodoxen Proben vorgenommen, wie gesagt Urin und Speichel, die Proben jeweils zur Sicherheit dreimal durch den Test laufen lassen: positiv! Die Meßwerte und Ergebnisse gibt er in den Computer ein, im Augenblick bedeutet das alles noch nichts, kann es doch auf Zufälle und Verunreinigungen basieren. Doch die Systematik der Datenerfassung ist wichtig. Kron grübelt, läuft rastlos hin und her, blickt aus dem Fenster, wartet. Er probiert fast eine halbe Stunde an der Software im Betriebssystem herum. Die nächsten Proben: verschiedene Milieus, basisch, sauer. Doch immer dasselbe Ergebnis, jeweils dreimal gemessen: serumpositiv. Krons Hände klappern über das Keybord des Computers, Zahlenkolonnen entstehen, Diagramme, ein Umbruch, der Bildschirm zeichnet Kurven in Koordinaten19
systemen. Krons Augen schmerzen schon lange, er reibt sie, bis die Augenlider ein fast wohliges Gefühl zwischen Schmerz und Jucken ausstrahlen. Er setzt sich, starrt wieder auf die Diagramme, die von Versuch zu Versuch regelmäßige Ergebnisse liefern. Alles läßt nur einen Schluß zu: Das Virus lebt! Anders als die bisher bekannte Form, die tot war, sobald ein Blutstropfen eingetrocknet war, weder in Wasser noch in Luft außerhalb des menschlichen Körpers überlebte, ist dieses neue Virus aus der Blutprobe des jungen Patienten Vogel immer noch aktiv, auch wenn schon Stunden vergangen sind. In Krons Fantasie entstehen Horrorvisionen. Er zwingt seinen Verstand zur Intervention. Bevor eine definitive Feststellung möglich ist, müssen Tausende von Versuchen durchgemessen werden. Aber er hat jetzt schon fast 40 Proben analysiert, und noch immer kein abweichendes Ergebnis. Kron verfällt ins Grübeln und gibt noch einige zusätzliche Daten in den Rechner ein, doch das erzeugt keine plausiblen Modelle. Kron betrachtet heimlich die Gummihandschuhe, die er vorhin beim Versuch getragen hat. Nein, sie haben keinen Riß. Gott sei Dank! Vorsichtig trägt er die verbliebenen Proben zurück und stellt sie an ihren Platz, dann nimmt er sich die wenigen Kulturen, die er über Stunden, bei minus fünf Grad, aufbewahrt hat, und beginnt sie zu messen. Später kommen die Proben an die Reihe, die bei 50 Grad Celsius Hitze gelagert worden sind. Und es wird vier Uhr in der Früh, als Kron glücklicherweise eingeben kann, daß die Temperaturresistenz des Virus zwischen minus fünf und plus 50 Grad Celsius zu liegen scheint – scheint, wohlgemerkt. Er macht eine kleine Pause, geht aufs Klo, wäscht sich lange und sorgfältig die Hände, setzt sich endlich auf die 20
Toilettenbrille, starrt durch die offenen Türen hinaus auf den neonbeleuchteten Flur und erleichtert sich dröhnend, wobei er die Konsequenzen aus seinen Untersuchungen im ermüdeten Gehirn zusammenzuaddieren versucht. Als er fertig ist, wäscht er sich wieder fast zehn Minuten lang die Finger, wie er es früher getan hat, bevor er in den OP ging. Dabei kreisen die Gedanken erneut um das «was tun». Dann hat er eine Idee, rennt im Dauerlauf den Flur hinunter, die Schritte knallen über den Bodenbelag, er spurtet in sein Zimmer, kramt sein privates Telefonverzeichnis aus der Schreibtischschublade, schlägt bei «Sch» nach. Da ist er, Schummberger. Die Geschäftsnummer im Innenministerium interessiert nicht, aber dort, mit einem kleinen p markiert, die private. Beim Wählen blickt Kron auf die Uhr. Halb fünf. Immerhin besteht die Chance, daß Schummberger ein extremer Frühaufsteher ist. Kron wartet darauf, daß jemand abhebt. Er schaut noch einmal in seine Notizen. Ja, die Nummer stimmt. Er hat sich auch nicht verwählt. Freizeichen um Freizeichen. Endlich knackt es, am anderen Ende brummt eine Stimme: «Ja.» Kron ist ruhig, gelassen, es geht jetzt um die Sache. Und aus dem Alter, in dem man vor Autoritäten, besonders politischen, Respekt hat, ist er längst heraus. «Kron, Virologisches Institut, Herr Schummberger?» «Ja», das klingt mürrisch und verschlafen. Der Name Kron signalisiert allerdings Wichtigkeit, so daß der Angerufene nicht gleich wieder auflegt. «Sind Sie schon wach?» fragt Kron fast einfältig. Schummberger schweigt, also fährt der Professor fort: «Wir haben hier einen Fall, serumpositiv, ein Bluter. Ich habe das Virus isoliert. Es paßt in keine bisher bekannte Kategorie.» 21
Es klingt ächzend und unendlich träge, als Schummberger antwortet: «Ich habe etwas eingenommen, ich schlafe, ich bin nicht, ja sagen wir, ich bin nicht verhandlungsfähig. Geht’s nicht auch morgen früh?» Nun gewinnt Krons Stimme jene Kälte, die seine wissenschaftlichen Assistenten gelegentlich fürchten lernen. Er sagt: «Ich hatte noch nicht das Vergnügen zu schlafen, Herr Staatssekretär. Wir haben hier einen Fall, der auch die Verwaltung angeht, nicht nur die Wissenschaft. Es besteht, wie man heute so schön in politischen Worthülsen sagt, Handlungsbedarf. Wieviel Zeit zum Schlafen brauchen Sie noch?» Eine Pause entsteht. Plötzlich ist der Staatssekretär Dr. Schummberger da, hellwach, wie in einer Kabinettssitzung. Er fragt: «Was passiert in den nächsten drei Stunden? Es ist 4.48 Uhr.» «Ich weiß es nicht, niemand kann das sagen», das abgewogene Urteil eines Forschers, aus dem der Jurist Schummberger sofort Konsequenzen zieht. Er spricht schnell: «Ich habe vor acht Uhr die Möglichkeit, Sie zu sehen. Wo?» Doch Kron läßt sich nicht ohne weiteres in das Ritual der Terminabsprache einwickeln. «Ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich nicht die Verantwortung übernehmen kann, wenn es Zeitverzug gibt.» «Verstanden», sagt Schummberger, «wo treffen wir uns am Morgen?» «Hier im Labor, da kann ich Ihnen alles zeigen.» Der Staatssekretär sagt: «Gute Nacht» und wartet nicht eine Äußerung des Professors ab. Er legt auf. Kron läßt sich in seinen Sessel zurückfallen, gähnt lange mit weit offenem Mund, massiert sich die Stirn, dann 22
gibt er noch drei, vier Befehle in den Rechner ein, bevor er sich zurücklehnt, um ein wenig zu dösen.
Montag, früher Morgen Andreas Betz hat wegen seines dicken Schädels nicht mehr schlafen können. Er ist schließlich aufgestanden und gegangen. Wie ein Tagdieb. Nun steht er, regenumflossen, in einer Telefonzelle, der Vandalen Tür und Hörer ausgerissen haben, und hat die Hände in der Tasche. Gesicht und Glatze sind naß. Er niest, atmet die kalte Morgenluft ein, die eher aus dem März als aus dem Juli stammen könnte, und vertritt sich die Beine. Er weiß, daß in spätestens fünf Minuten die Bedienung kommen wird, die das schräg gegenüberliegende Bistro aufschließt, um mit dem Frühstücksbetrieb zu beginnen. Hier ist Betz öfters zu Gast, wenn er nachts nicht schlafen kann, spazierengeht, um den Kopf zu klären, die Einsamkeit seines Bettes fürchtend. Sie haben sogar ein Klavier in dem Bistro, und sie erlauben stillschweigend, daß er, der passionierte Feierabendpianist, für sich spielt vor den übriggebliebenen Nachtschwärmern, den frühen Gleitzeit-Sekretärinnen, den melancholischen Säufern und den Spätheimkehrern vom Oberstufen-Internat außerhalb der Stadt. Da, dort drüben trippelt die Bedienung, den Schirm mit einer Reklameaufschrift gegen die Regenböen gestemmt. Betz sprintet hinüber zu ihr, gesellt sich schiebend und händereibend unter den Schirm. Sie lacht, als sie ihn erkennt, schnickt ihm die Ellenbogen in die Seite und sagt, er sähe so abgerissen aus, als habe er die Nacht mit einer Frau zugebracht. 23
Betz schweigt, wartet, bis sie aufgeschlossen hat. Gemeinsam betreten sie den buchengetäfelten Raum, in dem es nach kaltem Rauch und Korken riecht. Die Bedienung schüttelt den Schirm aus und stellt ihn in die Ecke, dann beginnt sie, hinter dem Tresen zu hantieren. Geschirr klappert, die Kaffeemaschine setzt zischend zur Arbeit an. Betz erhält den Schlüssel, damit er die Zeitung aus dem Briefkasten hole. Als er wiederkommt, wirkt der Raum des Bistros schon fast heimelig, denn Kaffeedunst zieht durch die Luft. Der Bäckerjunge bringt drei große Tüten frisches Gebäck, das appetitlich duftet. Die Bedienung ist eine nicht so ganz schlanke Studentin der Kunstgeschichte, noch sehr jung. Sie arbeitet nicht für den Luxus, sondern fürs Auskommen. Betz weiß es, weil er mit ihr schon oft an solchen kalten Morgen geredet hat. Er hätte sich durchaus vorstellen können, mit ihr etwas anzufangen, damals nach der Scheidung. Immerhin, er kann mit seinen Bezügen eine Studentin aushalten. Und sie bräuchte nicht mehr zu arbeiten, könnte in ihre Vorlesungen und Kurse gehen. Aber er weiß aus den Gesprächen, daß sie einen Freund hat, den sie stolz als «Verlobten» bezeichnet und der ihr Herz besitzt; da hilft alles nichts, sie verläßt den Freund nicht, auch wenn ein anderer Mann ein Auskommen bieten könnte und nicht so eine arme Kirchenmaus ist wie jener Verlobte. So denkt Betz. Die Bedienung stellt ihm einen großen Espresso auf das Klavier und hört einige Augenblicke zu, wie er voller Melancholie «Summertime» spielt. Aber er spielt es nicht für sie, sondern für seine Träume, in denen er dem Körper dieser hellhaarigen Kollegin und unwirklichen Geliebten der gerade vergangenen Nacht nachhängt. Er hat sich nach der Scheidung vorgenommen, ganz bestimmt 24
nicht mehr an irgendeine Zukunft mit einer Frau zu denken. Aber das klappt nicht immer, und dann verspottet er sich insgeheim, sich und seinen Körper, der sich gerade anschickt, ein fünftes Jahrzehnt zu leben. Er verspottet auch seine sentimentalischen Träume von einem Verhältnis voller Zärtlichkeit und Harmonie, von gemeinsamen häuslichen Abenden zu zweit – und noch dazu mit einer Juristin. Um so inbrünstiger kommt nun das «Summertime» heraus. Und er kann singen, der Richter Betz, und, als wäre er vollgekifft, zaubern seine Träume nun heiße, sonnenbeschienene Strände vor sein Gesicht, Strände, die sich lieblich dahinschwingen und mit dem Türkis eines ruhigen Ozeans kontrastieren oder, besser zu «Summertime» passend, ein kühles, weiß lackiertes Pflanzerhaus mit schattiger Veranda, umgeben von hohen Maulbeerbäumen, in denen Zikaden ihr monotones Lied singen. Und auf allen Ferienbildern steht Gisa mit ihrem keß frisierten Bubikopf, lächelnd, harmlos und ohne ihre Brille. Doch «Summertime» verklingt, und an den großen Scheiben des Bistros sprenkeln graue Regentropfen. Die Bedienung bringt ein Croissant, das sie mit Schinken, Gürkchen und einem Salatblatt belegt hat. Betz beißt hinein und sagt mit vollem Mund, daß er bald Urlaub habe. «Wo fährst du hin?» «Weiß noch nicht, das hängt davon ab», brummt Betz beim Kauen. «Nimmst du mich mit?» fragt die Bedienung und wirft ihm ein kokettes Lächeln zu. «Du hast doch einen Kerl.» «Ist egal, wir müßten doch nicht miteinander bumsen, im Urlaub, wir zwei, oder?» sagt die Bedienung und fügt 25
hinzu, daß ihr Verlobter an seiner Diplomarbeit schreibt und diesen Sommer nicht weg kann. «Künstlerpech», sagt Betz und beginnt mit den Fingern auf dem Instrument an einem neuen Stück herumzuprobieren. «Ich reise nur mit Frauen, die mir sexuell hörig sind», sagt er lachend und hat plötzlich den richtigen Ton gefunden: «Bei mir biste scheen», er spielt die Nummer rasant herunter und kriegt wieder träumerische Augen. Andreas Betz hat tatsächlich einen kurzen Gedanken daran verschwendet, an diesem Morgen nach sieben ins Gericht zu gehen, die Arbeit aufzunehmen, dabei die Ruhe zu genießen, die das öde Haus ausstrahlt. Doch dieses alte Gerichtsgebäude ist in der Frühe noch unbehaglicher als am Tage, zu kühl bei der Witterung draußen, weil amtlich Sommer ist und die Heizung abgestellt bleibt. Und außerdem erklärt man einen Richter für verrückt, der morgens vor zehn Uhr erscheint. Nur ein oder zwei Halbtags-Richterinnen treiben sich zu dieser Stunde in den Amtsstuben und auf den Gängen herum, weil sie nur anwesend sind, solange die Kinder in der Schule sitzen. Betz, von den Kollegen nicht so sehr wegen seiner Arbeitsfreude und seines Einsatzes als wegen der Akkuratesse seiner Arbeit und der Präzision seiner Gedankenführung geschätzt, entschließt sich ohne langes Ringen, zumal am Tag nach seinem Geburtstag, keinen Anlaß für falsche Eindrücke zu geben und dem Gericht fernzubleiben – heute vielleicht sogar bis elf. Er hat das Frühstück bezahlt, die Pause zwischen zwei Schauern abgewartet und ist mit eingezogenem Genick davongegangen, die Bedienung in einer Flaute des Morgengeschäfts zurücklassend, diese mit den Gedanken beschäftigt, ob es eigentlich zu auffällig wäre, mit einem solchen alten Kerl – eigentlich ist er ja noch nicht wirk26
lich alt – irgendwo am Meer aufzutauchen –, und wenn es Nacht ist, ob er dann zudringlich wird und ob es was ausmacht, wenn das passiert … Betz wird unterdessen von einer Bö in eine Ladenpassage gejagt, die noch ruht. Er geht versonnen an den Fenstern entlang, prüft sein leicht über die Schaufensterscheiben dahinschwebendes Spiegelbild in Gang, Haltung und Ausdruck. Er strafft sich, die Krümmung in seinem Rücken verschwindet. Um ihn herum hasten frühe Angestellte, meist Tippfräulein und Verkäuferinnen, zu Schreibtisch und Tresen, stöckeln zwei und zwei nebeneinander her, flüchtig geschminkt. Oft sind sie grau im Gesicht von der vergangenen Nacht, Geheimnisse sich zutuschelnd. Betz genießt den frühen Tag in der Stadt, diesen Aufbruch ins Neue; er beschließt sogar, gelegentlich wieder einmal früher aufzustehen, um diese Stimmung einzufangen. Er tritt hinaus in die Regenschleier unter die Bäume einer Allee. Von einer nahen Brauerei stinkt es nach Malz, dazwischen weht der Geruch nasser Blätter. Straßenbahnen rattern, Hupen bellen, regenglänzende Autos bewegen sich im Takt, den die Ampeln schlagen. Betz kauft sich eine Zeitung, ein Blatt, das er sonst nicht bezieht, und liest es unter einem Vordach stehend, ganz in der Nähe einer Haltestelle, von der er weiß, daß von hier aus ein Bus in die Nähe seiner Wohnung fährt. Es kommen auch kurz hintereinander zwei dieser modernen, mit Werbung bunt lackierten Ungetüme herangeglitten. Einer von beiden trägt die falsche Nummer, und der andere ist gestopft voll. Er hält nicht und fährt einfach vorbei. Gerade als Betz erwägt, die für einen Richter nicht unbeträchtliche Ausgabe für ein Taxi in Kauf zu nehmen, rollt der nächste Linienbus heran, scheinbar genauso voll 27
wie der andere, doch er hält, die Türen geben zischend den Eingang frei, und Betz drängt sich zwischen die Wartenden hinein in einen Brodem von Rasierwasser, Deodorant, frühem Schweiß und nassem Stoff. Die Fenster sind beschlagen, die Körper der Passagiere dicht aneinander gedrängt, man hört leise Gespräche. Zeitungen stehen wie kleine Segel auf dem Meer der Köpfe. Betz fährt seine sieben, acht Haltestellen, gerät dabei durch neu zusteigende und aussteigende Fahrgäste fast auf die andere Seite des Busses, von der er sich, Entschuldigungen murmelnd, durch die Menge schiebt, um erleichtert auszusteigen und die paar Schritte hinüberzutraben, zu dem Haus, wo er wohnt. Er beschließt, sofern er Orangensaft zu Hause hat, ein großes Glas zu trinken, vielleicht einen Schuß Wodka hinzuzugeben, sich ins Bett zu legen, zuzudecken bis unters Kinn und die Zeitung zu lesen, die vom Regen angeweicht unter seinem Arm klemmt, und dann noch zu schlafen, bevor er ins Gericht geht. Er eilt dem Haus entgegen, das mit seiner gelbbraunen, von halb abgeschlagenen Schmuckelementen überladenen Fassade schmutzig zwischen zwei Neubauten mit jungen Gesichtern steht. Man findet heute solche knorrigen Gesellen unter den Gebäuden gemütlich und erhaltenswert; hinter den zugigen, nicht mehr abdichtbaren Fenstern dieses Exemplares freilich wohnen noch nicht die arrivierten Freiberufler und hohen Beamten, die Ehepaare mit Doppeleinkommen. Die Sanierung kommt erst noch. Betz hat die 120 Quadratmeter große Belétage gemietet, die Wohnungen über ihm stehen bereits leer, bis auf das Dachgeschoß mit alten Dienstbotenkammern, in denen Studenten hausen, meist emsige junge Leute, die, wenn sie ihm auf der Treppe begegnen, höflich grüßen. 28
Gerade als Betz mit den Händen seine Taschen abklopft, um den gewichtigen Schlüssel für die Eingangstür zu finden, geht der eine Flügel des wettergezeichneten Eichenportals auf, der Bewohner der Erdgeschoßwohnung, ein gewisser Jonason, tritt Betz entgegen. «Ei, ei, der Herr Amtsgerichtsrat», sagt er mit einer merkwürdig brüchigen, hohen Stimme. Es klingt ironisch, weil Jonasons Gesicht wegen der mächtigen roten Narbe zu lächeln scheint und er den Kopf schräg trägt. Betz weiß, daß diese Anrede höflich gemeint ist. Seinesgleichen waren früher tatsächlich «Rat», auch wenn es in seinem Metier nichts zu raten, nur zu entscheiden gibt. «So früh heute?» erkundigt sich Jonason und zieht das Pudelchen, das eisgrau und winzig auf seinem Unterarm kauert, die Ausgehdecke schon über den Rücken geschnallt, an seine Brust. «Ausnahmsweise», sagt Betz und tritt in den hallenden Hausflur. Jonason, der immer mal gerne mit seinem Hausgenossen redet, schließt die Tür von innen und setzt mit einer Verrenkung seiner Hüfte vorsichtig das Pudelchen vor sich auf den Boden. «So, so», murmelt er, und man weiß nicht, ob er dies als Antwort auf Betzens Feststellung tut oder den Hund meint. Dann erhebt er sich wieder, strafft sich zur vollen Höhe seiner 160 Zentimeter, fährt sich über den Kopf, auf dem dünn und flaumig weiße Haare sprießen. Das Zucken seiner Mundenden verläuft sich hinauf zu den Augen. Ein Lächeln entsteht auf diese Weise. «Sie wachsen jetzt wieder», sagt er. Mit energischem Schnicken seiner schmalen, fleckigen Hände zieht er die dunkelblaue Klubjacke zurecht, kontrolliert den Sitz seiner gestreiften Seidenkrawatte, streicht noch einmal über den Kopf und sagt: «Leute, die nicht wissen, was mir zugestoßen ist, bekamen von mir 29
zu hören, als ich diese Glatze hatte, daß eine Glatze für besondere Männlichkeit und Potenz bürgt. Sie ist mein Zeuge für diesen wohltuenden Umstand!» Betz, der mit der Handwurzel seine Nase gewischt hatte und auf den kleinen Kerl hinunterstarrt, muß nun grinsen über die Chuzpe des Mittsiebzigers, die er, zumindest nach außen, im Umgang mit seiner Krankheit an den Tag legt. Die wässerlich bläulichen Augen des Mannes glitzern, und die Mundwinkel wollen von der Augennähe nicht wegkommen, das schiefe, kleine Gesicht strahlt. «Ich habe beschlossen, nun mein Jagdrevier in diskret beleuchtete Tanzlokale zu verlegen. War gestern dort. Halte mich jetzt an der Bar auf und schaue unscharf in die Gegend. Und durch die verkürzten Sehnen da», seine Finger zeigen an die rechte Halsseite, wo sich die Narbe breit unter dem Hemdkragen hervor zum Ohr schlängelt, «zeige ich ein lächelndes Gesicht, … immer nur lächeln, immer vergnügt», zitiert er brüchig singend die bekannte Melodie, «und alle Damen meinen, ich lächelte nur sie an. Nur sie, die eine. Früher war ich einfach zu ernst, jetzt geht das automatisch besser.» Betz hat ungläubig und mit offenem Mund zugehört, jetzt lacht er, hebt den Unterarm an, schnickt zweimal mit den Daumen, schiebt die Hüfte raus und sagt: «Und dann geht der Herr Jonason auf eine der Damen zu und sagt: ‹Ich bin der schärfste Hund hier im Schuppen.›» Da entgleist in des kleinen Mannes Gesicht das Lächeln, nur der rechte Mundwinkel bleibt oben, ein merkwürdiges, ungläubiges Staunen zeichnet seine Züge. «So etwas sagt man in meinen Kreisen nicht», sagt der kleine Mann todernst, dann meckert er plötzlich mit einem markerschütternden Lachen los, knickt zusammen, hebt den Pudel auf, drückt ihn wieder an die Brust und 30
öffnet die Tür, um auf seinen erhöhten Absätzen die Freitreppe hinunter in den Regenschauer zu stöckeln, in einer Art krähendem Rezitativ wiederholend: «Ich bin der schärfste Hund, ich bin der schärfste Hund …» Die Tür fährt, von einem Schließer gezogen, krachend ins Schloß, und das Echo des Schlages hallt das Treppenhaus hinauf. Betz dreht sich um und geht, den Kleinen imitierend und mit der Zeitung auf die flache Hand den Takt klopfend, grinsend die ersten Stufen hinauf und murmelt das gleiche Rezitativ.
Montag, Arbeitsbeginn Der Virologe Arnold Kron geht neben einem der Stationsassistenten der «Inneren» her. Während der junge Arzt beim Sprechen gestikuliert, hat Kron, der Universitätsprofessor, die Hände hinter dem Rücken auf dem weißen Kittel gefaltet. Er schreitet bedächtig, einen halben Schritt hinter dem Jüngeren zurückbleibend, über den blanken, grünschillernden Flur. Der Kopf ist ihm auf die Brust gesunken. Er schweigt, hört zu, wie der Assistent beredt über die eingeleiteten Isolierungsmaßnahmen referiert, die den Patienten Bertold Vogel betreffen. Kron nickt zustimmend, gibt aber keinen Kommentar. Nun endlich sind die beiden angelangt. Der Assistent öffnet die Tür zu der Sterilschleuse, die jedes der Isolierzimmer mit dem Flur verbindet; nichts anderes tut sich auf als ein weiterer kleiner Flur, der mit Blaulicht bestrahlt werden kann, in dem man Gummihandschuhe, Mundschutz, Überzieher für die Füße und frische sterile Kopfbedeckungen findet, wenn die hygienischen Maßnahmen dies erfordern. Innen zum Zimmer hin liegt 31
eine Tür mit einer großen Scheibe ohne Vorhänge, durch welche die beiden Ärzte nun schweigend in einen kahlen, völlig weiß gehaltenen Klinikraum starren. Ein Farbfleck ist die großformatige Kopie eines NoldeAquarells, das grellgelbe Kühe vor blauer See und rotem Himmel darstellt. Ein anderer Farbfleck ist der Patient Vogel, den die beiden Männer wie ein buntes, seltsames Tier anstarren. Er ist fast noch ein Knabe, wirkt kindlich in seinem vom Schlaf zerknitterten Aufputz: Die Haare sind an der Seite geschoren, nur der schmale, nun verdrückte Kamm knallrot gefärbter Irokesenlocken ist sichtbar. Grellblau geschminkte Augen und ein mit Lippenstift benetzter Mund, vom Schlafen weich gezeichnet und ohne jene gewollte Strenge, die der wache Vogel so gerne zur Schau stellt. Eine Lederjacke mit bunten Fransen, Jeans mit Querrissen und ein giftgrünes T-Shirt komplettieren das merkwürdige Bild. Vor dem Bett liegen, gerade so hingeworfen, klobige, schwarze Fallschirmspringerstiefel und geringelte Socken. Der junge Arzt sagt nach einem Seitenblick auf den Professor, daß der Junge sich habe nicht ausziehen lassen. «Besser so», sagt Kron. Der junge Arzt greift nach einem Reagenzglasständer, der auf einem Bord neben den sterilen Handschuhen und Überzügen steht. Darin pendelt ein Spritzenkolben, vollgesogen mit bräunlich wirkendem Blut. Er hebt ihn vorsichtig heraus und will ihn dem Professor geben. «Die zweite Probe, ich habe sie ihm vorhin abgenommen, jetzt schläft er weiter.» Kron nimmt den Reagenzglasständer, berührt ihn aber nur mit spitzen Fingern und stellt ihn zurück auf die Ablage. In sachlichem Ton sagt er zu dem Assistenten, daß dieser nur noch in Gummihandschuhen mit dem Patien32
ten umgehen soll. Nur noch in Gummihandschuhen! Er selbst streift sich gekonnt die schnalzenden Dinger über die Hände und nimmt den Spritzenkolben behutsam, führt ihn in die Nähe seiner Augen, rückt die Lesebrille zurecht, als könne man ohne eingehende Analyse mit der Probe etwas anfangen. Unterdessen dreht sich der junge Mann drinnen im Zimmer erschöpft und in traumlosem Schlaf auf den Rücken, liegt nun da, die Hände seitlich von sich gestreckt, die Füße übereinander geschlagen, wie das Abbild des Gekreuzigten. Doch das Gesicht zeigt keinen Schmerz, nur alle Anzeichen eines tiefen, bewußtlosen Schlafes. «Haben Sie ihn sediert?» fragt der Professor. «Nein, kein Anlaß.» «Vorsicht!» sagt der Professor, und der Assistent nickt. «Und was ist es?» fragt der Assistent, «… wenn Sie sich schon persönlich mitten in der Nacht darum kümmern.» Kron wirft ihm einen schrägen Seitenblick zu. «Ich weiß es selbst noch nicht», sagt er. «Drücken Sie uns die Daumen, daß alles nur ein Irrtum ist.» Der Tag ist grau, viel zu gebrechlich für den Sommer. Im Labor strahlt Neonlicht. Leben ist eingekehrt, Geplapper ist zu hören, Kaffeemaschinen brodeln, der Duft von frisch geschminkten Frauen und gerade gebrühtem Kaffee könnte fröhlich stimmen, doch über allem lastet ein wenig die bittere Ausstrahlung des Chefs, der, knallende Türen hinter sich lassend, gerade durch die helle Halle in das Tierlabor geeilt ist. Besuch folgt ihm. Den Staatssekretär Schummberger kennen alle aus der Zeitung; und jeder Assistent und Mitarbeiter fragt sich, was der Politiker in aller Herrgottsfrühe im Labor zu suchen hat. 33
Hinter verschlossenen Türen, im halbdunklen Raum, starrt Schummberger mit auf dem Rücken verschränkten Armen in die Rattenkäfige und vermag nichts anderes dabei zu erkennen als ein quiekendes, weißfelliges Durcheinander. Gespannt lauscht er den Ausführungen Krons, der gerade erläutert, daß die jüngsten Analyseergebnisse zeigen, daß – bei allem Vorbehalt und nur unter den Nagern – das neue Virus sich nach den ersten Ergebnissen als erheblich ansteckender erweist als das alte. Wie in einer Geste des Reinigens stäubt Schummberger mit der flachen Hand über seine Jackettaufschläge, zieht an den Manschetten seines blau-weiß gestreiften Maßhemdes, rückt den Seidenschlips zurecht, bevor er vorsichtig, um nicht an einer der Apparaturen anzuecken, dem immer noch hemdsärmeligen Professor Kron folgt, um einen Blick in die Temperaturkammern zu werfen und dort eine für ihn unerklärliche Anordnung von Glasplättchen und Objektträgern zu betrachten, die nach einem verwirrenden System gekennzeichnet sind und durchsichtige wie auch fahlrote Flüssigkeitskleckse enthalten. Jeder einzelne ist mit dem Virus infiziert worden. Endlich formuliert Kron seine Vermutung: «Es ist ein Verdacht, Herr Schummberger, lediglich ein Verdacht, mit allen Vorbehalten, dem ganzen Krimskrams an Einschränkungen, den wir Wissenschaftler machen …» «Und?» Zögern, dann: «Dieses Virus ist der böse kleine Bruder des bisher bekannten. Die Apokalypse, die ungeheure Bedrohung der Menschheit, die wir aufgrund der bisherigen Situation hochgerechnet haben, ist eine biedermeierliche Idylle gegenüber dem, was von diesem kleinen Wunderding drohen könnte. Ich schätze, wir werden dieselbe Symptomatik haben. Eine lange Latenzzeit, zwei 34
bis fünf Jahre, bis langsam das Vollbild der Immunschwäche entsteht, doch dann geht’s unrettbar dem Tod entgegen. Wir können nur retuschieren, aber nicht helfen. Dieses kleine Ding, hier noch gefangen auf unseren Objektträgern, könnte, wenn es in die Welt gesetzt ist, genauso tödlich sein. Doch man bekommt es nicht nur, verzeihen Sie, Herr Staatssekretär, beim Bumsen mit perversen Praktiken. Es wird nicht nur auf Bluter übertragen. Es bleibt nicht im Ghetto der Homosexuellen. Es wird eine Krankheit werden, alltäglich wie die Grippe. Denken Sie an die Epidemien der asiatischen Grippe. Ein Husten, ein Niesen, ein freundlicher Kuß auf die Wange, ein Schluck verunreinigtes Leitungswasser, ein Salat im Restaurant, ungewaschenes Obst, ich weiß nicht, was alles genügt, um den Tod zu verbreiten.» Unterdessen ist der Staatssekretär zwei Schritte zurückgetreten, hat immer noch die Hände auf dem Rükken und starrt Kron an. Er überlegt. Seine Zungenspitze erscheint zwischen den Lippen, schließlich fragt er: «Wie sicher ist das?» «Ich sage doch», Kron lächelt, seine Worte sind ohne Ironie: «Der ganze Schnickschnack von Vorbehalten muß dabei mitbedacht werden, aber die Gefahr besteht … Ich schätze das alles ab, es sind noch nicht einmal Hochrechnungen. Die Datenbasis ist zu schmal.» Schummberger hat seine Sicherheit wiedergefunden. «Und wir sollen Panik machen? Wissen Sie, was das bedeutet?» «Ich rede nicht von Panik machen. Sie sind die politische Instanz. Dies hat die Verwaltung zu ordnen. Wie sagen Sie so schön? Gefahrenabwehr. Ich möchte mir nur nicht den Vorwurf zuziehen, nicht frühzeitig und umfassend genug aufgeklärt zu haben. Ich bin nur ein kleiner 35
Forscher, ein Reagenzglasgucker sozusagen. Wir haben getan, was wir aufgrund der Sachlage tun können. Den Patienten haben wir im Griff, er ist isoliert. Handeln Sie, Herr Schummberger.» Schummberger ist wieder irritiert, tritt einen weiteren Schritt zurück. «Wie, was? Sie haben den Patienten isoliert? Ist er einverstanden?» «Soll ich angesichts dieser Situation danach fragen, mir was unterschreiben lassen?» sagt Kron und lächelt über den Juristen. Er hat diese Wissenschaft noch nie verstanden. «Sie müssen den jungen Mann gehen lassen, wenn er will. Das nur nebenbei», sagt Schummberger. «Das ist ein Fall fürs Bundesseuchengesetz.» «Richtig, doch das gibt Ihnen nur einen Tag Zeit, wie bei einem vorläufig Festgenommenen. Dann muß der Richter entscheiden, wenn der Patient nicht bleiben will. Es gibt dafür extra ein Gesetz, Freiheitsentziehungsgesetz heißt es, so sind die Realitäten hier und heute in der Bundesrepublik.» Kron ist nicht zu beeindrucken. Den Juristen traut er alle möglichen Behinderungen seiner Arbeit zu. Er neigt zum Pragmatischen: «Dann fragen wir den Patienten, ob er sich zur Verfügung halten will.» Er will zur Sache zurückkehren, doch der Staatssekretär beharrt: «Erklärung schriftlich, bitte», sagt er. «Denken Sie an die Medien, Herr Kron. Sie sind wie die Wölfe, wenn sie Blut riechen. Und unser Blut, das sind die administrativen Fehler. Und solche Fehler müssen nicht sein. Deswegen schriftlich.» Kron zögert ein wenig, dann nickt er, sieht dem Staatssekretär in die Augen. Schummberger hält seinen Blick aus. 36
«Und die Kontaktpersonen?» fragt der Professor. «Welche?» «Nun, beispielsweise die Familie von Vogel, der Freundeskreis, jeder, der mit ihm in Kontakt war. Gehen wir einmal davon aus, daß wir dieselben Maßnahmen ergreifen müssen wie bei einer Tbc, die irgendwo aus heiterem Himmel auftaucht.» Schummberger, langsam rückwärts gehend, denkt wieder nach, dann kommt schnell die Frage: «Halten Sie das für notwendig?» Kron: «Ja.» «Nun gut, Sie kennen den Justitiar des Gesundheitsamtes, Oberregierungsrat Winter?» «Nein.» «Nach dem Gesetz ist die Gesundheitsbehörde zuständig. Ich veranlasse, daß Herr Winter mit Ihnen zusammen eine Liste der Kontaktpersonen erstellt. Er kann auch die notwendigen gerichtlichen Schritte einleiten. Kompetenter Mann. Sie können sich auf ihn verlassen. Er wird mich unterrichten.»
Montag, Vormittag Ein wenig unsicher, fast tastend, tritt Betz auf das Telefontischchen zu, das sich in seinem großen Wohnzimmer in der Nähe des Fensters befindet. Ein ausrangiertes Wirtshausmöbel, auf dem ein alter, schwarzer Apparat steht. Das Zimmer ist spärlich möbliert. Auf dem Boden liegen Grasteppiche, um blinde Stellen im Parkett zu überdecken. In der Mitte prangt unter einem riesigen, weißen Papierballon, der als Leuchte dient, ein kleiner, glänzender Konzertflügel. An der Wand liegen, zu einem 37
Diwan geschichtet, bunt bezogene Matratzen. Dort, statt im Bett, hat Betz es sich vorhin gemütlich gemacht, mit angezogenen Beinen unter einer Decke gelegen, die Zeitung studiert. Doch seine Gedanken sind immer wieder von der leichten Lektüre abgeirrt. Gisa: Eigentlich ist man ohne konkrete Verabredung verblieben. Eine flüchtige, kühle Sommernacht. Auch nicht schlecht. Passiert ist nichts. Natürlich nicht. Sie hat die Tage, er hat aufgepaßt. Außerdem, was hat eine Frau wie Gisa davon, geschwängert zu sein. Er hat weitergelesen, doch immer wieder: Gisa. So steht er nun in einem weiten Buschhemd, in Unterhosen, barfuß, die Fersen aneinander, die Fußspitzen im Winkel von 45 Grad vor dem alten Telefontisch und überlegt. Schließlich kramt er das Telefonbuch heraus, findet die Kanzleinummer und wählt. Der Anrufbeantworter. Betz lauscht mit offenem Mund der Ansage, hört den Pfeifton und verzichtet darauf, irgend etwas aufs Band zu sprechen. Es erscheint ihm töricht. Weil es ihn fröstelt, geht er auf seinen Diwan zurück, deckt sich zu, nimmt ein Kissen zwischen die Knie und legt sich auf die Seite, um in einen leichten Schlaf zu duseln. Mit einer Hand wärmt er seine Glatze. Er träumt, während sein Schwanz, von der Blase bedrängt, sich beim Aufrichten in der Unterhose verheddert.
Montag, Vormittag Der Piepser an der Brust des Assistenzarztes in der Isolierstation meldet sich. Routiniert geht der Doktor zum nächsten Wandfernsprecher, wählt und sagt: «Felser». Eine Kraft aus der Verwaltung sagt ihm, daß er endlich sei38
ne Essenkarten abholen muß, er will etwas richtigstellen, doch dann sieht er einen Pfleger am Ende des Ganges um den Flur biegen und mit einer großen Geste des rechten Armes winken. Da ist etwas los, es eilt. Felser wirft den Hörer auf die Gabel und rennt zu seinem Pfleger. Doch der ist schon wieder um die Ecke verschwunden. Er steht vor der Sterilschleuse, die zum Zimmer dieses merkwürdigen Patienten Vogel führt, und deutet mit einer Geste beider Arme hinein. Über seinem Kopf blinkt ein rotes Licht. Der Patient hat gerufen. Der Arzt nähert sich, späht um die Ecke, betritt den Zwischenraum vor dem Krankenzimmer. Er lugt durch die Scheibe und erkennt, daß die weiße Ordnung zerstört ist. Das fahrbare Bett ist schief an die Wand gekippt, das Bettzeug herausgefetzt, die Gummiunterlage liegt im ordinären Rosarot in geschwungenen Falten auf dem Boden. Das Kissen ist aufgeplatzt, Schaumstoffflocken wirbeln noch in der Luft wie Reste von Konfetti, dazwischen, in Schnipseln, die Reste des Nolde-Drucks. Der junge Vogel steht fordernd, die Hüfte vorgeschoben, den bandagierten Arm hängend, den anderen in die Seite gestützt, mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln hinter der Tür, die von seiner Seite aus nicht zu öffnen ist. Seine klobigen Fallschirmspringerstiefel treten in unregelmäßigem Rhythmus an das Holz, das freilich so stabil ist, daß es nur dumpf widerhallt. Der verächtliche Zug im Gesicht rutscht weg, der Junge schreit etwas, was ebenfalls nur ganz fern und undeutlich als Geräusch wahrzunehmen ist. Der Assistenzarzt Felser drückt auf die Gegensprechanlage und hört nur noch die Satzfetzen: «… raus hier, raus hier, oder ich mach’ alles um!» 39
Dann wendet sich Vogel wieselflink um, ein Tritt, ein Zug, und das Bett stürzt mit schepperndem Knall, der von der Gegensprechanlage verzerrt wiedergegeben wird, endgültig auf die Seite, der Nachtisch fällt um, Vogel tritt noch zwei Beulen in das weiße Blech, dann kommt er zurück, sieht nun den Arzt, grinst breit und sagt: «Kannst du mich hören, Weißer, da draußen?» «Ja», schnarrt die Gegensprechanlage. «Du, ich paß auf wie immer, ich weiß, daß ich aufpassen muß auf die Gesundheit. Bloß, nur mit Aufpassen kann keiner leben. Das Ding hier», er hebt den bandagierten Arm, «das ist versorgt. Das ist nicht das erste Mal, daß man sowas macht. Ich nehm’ den Scheißdreck von Medikamenten ein, den ihr mir verschreibt – ey, aber da sind noch ein paar Leute, die auf mich warten.» Nun senkt sich die Stimme des jungen Mannes zu einem bedrohlichen Knurren: «Ich will hier raus, Weißer, verstehst du mich?» Felser wartet einen Augenblick, sucht nach den richtigen Worten, dann drückt er wieder den Knopf, der es ermöglicht, daß man ihn in dem verwüsteten Zimmer hört. «Wissen Sie, Herr Vogel», spricht der Arzt mit möglichst ruhiger Stimme, «wir haben Ihr Blut abgenommen. Es ist im Labor zur Untersuchung.» Auf der anderen Seite der Scheibe sieht man eine Grimasse, aus der zu schließen ist, daß Vogel irgend etwas aus Leibeskräften brüllt. Es könnte «Was für eine Untersuchung?» heißen. Felser sagt deshalb: «Wir müssen prüfen, ob Sie serumpositiv sind, das Virus, Sie wissen.» Tastendruck, Vogels Stimme, nur wenig verunsichert: «Was, das ist doch alles getestet, bin negativ. Und die neuen Medikamente sind sauber … oder nicht?» «Doch.» 40
«Also.» Felser nimmt sich Mut und sagt: «Wir haben trotzdem Untersuchungen gemacht. Und das Ergebnis ist nicht so toll. Wir haben etwas gefunden.» Vogel, der mit seiner Krankheit umgehen kann, hat schon oft mit dem Verdacht gekämpft, er habe sich infiziert, gehöre zu den Opfern unsauberer Medikamente. Doch in den letzten Wochen und Monaten war in ihm die Überzeugung gewachsen, daß er nun alle Chancen habe, nicht krank zu werden, einer von den 50 % sauberen Blutern zu bleiben. Und nun, ohne Vorankündigung, unverbrämt das Wort «serumpositiv»; scheinbar leidenschaftslos von einem bedrängten jungen Arzt dahingesagt und vom Lautsprecher ausgespuckt: «Serumpositiv.» Es ist wie ein Schlag, den man kommen sieht, ihm aber nicht ausweichen kann. Das Gefühl stellt sich nicht rasch darauf ein. Erst mit Verzögerung durchlaufen Entsetzen, Panik und Angst das Hirn. Davor flackert eine Losung durch die Gedanken: «Das kann doch nicht wahr sein.» Deswegen brüllt der eingesperrte Vogel die Scheibe an, schreit, daß das nicht wahr ist. «Doch, wir haben es zehn-, zwanzig-, dreißigmal getestet. Es ist ein Sonderfall bei Ihnen, deswegen müssen Sie vorläufig dableiben.» Vogel zieht sich langsam zurück, geht ans Fenster, schaut hinaus auf die Wiese vier Stockwerke unter ihm. Auf dem graugrünen Grund steht eine weiße Marmorskulptur, die einen Menschen darstellt, der die Hände zum Himmel reckt. Dahinter verzettelt sich graurot die Silhouette der Stadt. Vogel beobachtet eine Frau, die im Morgenrock, geborgen unter einem lila Schirm, an der Skulptur vorbeigeht. Als er sich umdreht, sieht er hinter 41
der Scheibe nur noch das violettblaue Licht der Desinfektion. Der Assistenzarzt ist verschwunden. Vogel wackelt mit dem Kopf, als könnte er die soeben erhaltene Todesnachricht von sich schütteln wie ein nasser Hund das Wasser. Doch das Wort «serumpositiv» bleibt in seinem Hirn, beginnt zu hämmern wie ein Eiterherd. Vogel geht, holt sich die Matratze, zerrt sie in die Ecke zwischen Fenster und kalter Heizung. Er rollt sich zusammen, die Arme bis zu den Ellenbogen zwischen die Knie geklemmt. So liegt er da, öffnet nur gelegentlich die Augen, schließt sie wieder. Das Schwarz hinter den Augenlidern und das Weiß der kahlen Wand ergeben einen flimmernden Kontrast, auf den sich Vogel nun zu konzentrieren versucht. Ein neues Leben beginnt für ihn. Er erhebt sich, weil die Wut aufflackert, beginnt wieder zu schreien und zu toben. Er will raus, raus, raus hier. Niemand schert sich darum. Der Lautsprecher bleibt stumm, auch wenn Vogel an die Wand trommelt. Das violette Licht in der Sterilschleuse strahlt in der Dunkelheit wie ein böses Gestirn. Die Tür zum Flur bleibt geschlossen. Vogel sieht sich um, packt einen Stuhl bei den Beinen, holt aus und wirft ihn gegen die große Panoramascheibe. Das Glas bebt, das Wurfgeschoß prallt daran ab, ohne einen Kratzer oder gar einen Riß zu hinterlassen. Vogel geht einige Schritte bis in die Mitte des Zimmers, mit gesenktem Kopf, das Chaos betrachtend, das er angerichtet hat, ohne etwas ausrichten zu können. Wieder ans Fenster. Unten ist der Rasen leer. Einige Pfützen scheinen bläulich im fahlen Grün. Ein penetranter Dauerton, vorher schon gegenwärtig, fällt Vogel auf. Sein Gesicht verfinstert sich. Er will wieder nach etwas greifen, was er versuchen kann zu zerstören, doch dann 42
dringt in sein Bewußtsein, daß er den Ton kennt. Telefon. Freizeichen. Tatsächlich liegt neben dem umgekippten Bett, halb unter dem Nachttisch begraben, ein Telefonhörer. Endlich hat Vogel etwas, womit er handeln kann, ohne nur ohnmächtig zu toben. Die gesunde Hand kramt in der Brusttasche seiner Lederjacke, fördert einen Stapel zerknitterter Papiere hervor, gleichzeitig scharren die Springerstiefel den Fernsprechapparat zutage. Vogel läßt sich nieder, hat für eine Sekunde die Todesnachricht vergessen, raschelt eifrig in den Zetteln und findet schließlich die Nummer, die er sucht. Er klemmt den Hörer zwischen Schulter und Ohr, wählt, es funktioniert tatsächlich. Voller Ungeduld wartet er, bis nach drei oder vier Tönen abgehoben wird. «Anwaltskanzlei», meldet sich eine Frauenstimme. «Mich muß hier einer rausholen, hören Sie, schnell …» sagt Vogel hastig und in konspirativem Ton. Aus der Sicht einer Anwaltssekretärin, die gerade ihren Dienst beginnt, ist das merkwürdige Benehmen des Anrufers Grund genug, ihren Chef vorzuwarnen. Dieser ist ein Mitglied einer Sozietät von Anwälten unterschiedlichen Alters. Einer der Kollegen hat Vogel bei einer kleinen Strafsache verteidigt. Doch dieser Mann ist ausgeschieden, hat die Anwaltszulassung aufgegeben und ist zu einer Versicherung gegangen. Der Rechtsanwalt, beruflich stark belastet, hat erst gar keine Lust, sich mit dem querulatorisch klingenden Anruf zu beschäftigen. Er sagt: «Abwimmeln», setzt seine Brille auf und blättert die Sportseite in der Morgenzeitung auf. Nun hat die Sekretärin die Aufgabe, dem atemlos wartenden Anrufer auseinanderzusetzen, daß die Kanzlei momentan zu beschäftigt sei und Aufträge nicht entgegengenommen werden. Fassungslos sagt Vogel: «Ich 43
brauch’ doch jemanden, man hat mich eingesperrt, das geht doch nicht!» Die Sekretärin denkt, daß der Anrufer eigentlich recht habe, aber was soll sie machen? «Wer hilft mir?» fragt die flüsternde Stimme eindringlich. «Moment», sagt die Sekretärin, dann fällt ihr ein, daß sie eine zusätzliche Information braucht, geht noch einmal zurück, schaltet in die Leitung und fragt, wo denn der Anrufer eingesperrt sei, hört nicht ohne Erstaunen das Wort «Klinik», unterbricht wieder, geht zu ihrer Kollegin ins Nachbarzimmer und fragt, ob sie denn einen Anwalt weiß, der Nervenkranke vertritt. Die Kollegin zieht die Ohrhörer des Diktiergerätes ab und starrt die Sekretärin ungläubig an. «Nervenkranke?» fragt sie. «Oder so», schränkt die Sekretärin ein. Die Kollegin zieht die Schultern hoch, läßt die Mundwinkel hängen, überlegt einen Moment, fragt hilflos, für wen es denn sei, wird aufgeklärt, grübelt weiter, bis sie schließlich in einem Packen Unterlagen wühlt, den sie zum Diktat hat, und einen Anwaltsbogen zutage fördert, auf dem der Name Gisa Wormser in zierlicher Schreibschrift steht. «Die hier würde ich nehmen, die hat gerade vor ein paar Monaten angefangen», erklärt sie, «die hängt sich noch ganz mächtig rein, die hat noch Zeit für solche komischen Sachen, das merkt man.» Die Sekretärin nimmt sich einen Klebezettel, notiert schnell die Nummer, geht wieder in die Leitung, gibt dem Anrufer knapp die Nummer durch und atmet erleichtert auf, als dieser ohne Dank auflegt. Die Irritation ist vorüber.
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Montag, später Vormittag Gisa Wormser hat sich zurückgelehnt, sie spielt die Naive, strahlt ein wenig. Sie schlägt die Beine übereinander, läßt sie sehen, warum auch nicht? Der Professor, zu dem sie nur über zahlreiche Hürden vorgelassen wurde, sitzt schniefend hinter einem scheußlichen Monstrum von Schreibtisch und schiebt mit kaum verhohlener Nervosität Computerbögen und umherliegende Aufzeichnungen durcheinander. Es soll so aussehen, als ordneten die Hände etwas, doch sie verraten Verlegenheit. Er fühlt sich belästigt. Er klimpert auf seinem Keybord. Eine lange Pause ist entstanden. Kron bemerkt sein Herumscharren und legt die Hände in den Schoß. Er ringt um Konzentration, versucht ein Lächeln, dann sagt er leise, daß er normalerweise nicht mit Rechtsanwälten redet. Nicht, daß er etwas gegen diese Leute habe, doch dafür sei die Rechtsabteilung der Universität oder das Gesundheitsamt … «Gesundheitsamt?» fragt Gisa schnell. Kron ärgerlich: «Ja, oder so ähnlich. Jedenfalls reden Sie am besten mit dem zuständigen Juristen.» «Niemand da», sagt Gisa mit dem naiven Lächeln, das sie einsetzt, um ihren Gesprächspartner zu provozieren. «Ja, Mann, ich weiß doch auch nicht», schnauzt Kron plötzlich. Er verwünscht in Gedanken diese dumme Gans vor sich, verwünscht namentlich Frau Cerzig und seine Assistenten, die ihm dieses Gespräch eingebrockt haben. Als gehöre es zu Krons Aufgaben, auch noch mit irgendwelchen Anwältinnen, mögen sie auch ansehnlich sein, dienstliche Gespräche zu führen. Er kleidet dies in einigermaßen höfliche Worte und sagt es Gisa, die sich artig für das Kompliment bedankt, aber nach wie vor mit 45
sturer Gelassenheit darauf beharrt, Herrn Bertold Vogel sehen und sprechen zu dürfen, der ihr telefonisch Mandat erteilt habe, damit sie ihn aus seiner Gefangenschaft in der Klinik befreie. «Gefangenschaft, Gefangenschaft», wiegelt Kron ab, «was soll denn das?» «Gibt es denn einen Patienten mit dem Namen Vogel oder nicht?» Kron bejaht gequält. «Und was ist, kann er die Klinik verlassen?» Es entsteht eine Pause, in der Kron plötzlich auffährt. Er zieht einen gefalteten Computerbogen aus einem der Stapel hervor und verdeckt ihn brüsk mit einer wissenschaftlichen Zeitschrift. In einer Art Übersprungshandlung hämmert er energisch auf die Tasten seines Keybords. Er unterbricht die laufende Prozedur auf dem Rechner, speichert eine Datei ab, ruft eine neue auf und sieht sich mit gerunzelter Stirn eine Computergrafik an. «Erkennen Sie auf dem Bildschirm, ob er festgehalten wird?» fragt Gisa Wormser. «Oder soll er einen Text unterschreiben, daß er auf eigene Gefahr die Klinik verläßt? So was wäre nämlich juristisch zulässig.» «Nein», knurrt Kron, er tritt zurück, setzt sich, schlägt die Hände vors Gesicht und sagt leise und ungeheuer müde, daß der Patient nicht vernehmungsfähig sei. «Überlassen Sie bitte mir die Einschätzung dieses Umstandes», sagt Gisa. «Führen Sie mich zu dem Mann.» Endlich schafft es Kron, der jungen Frau ins Gesicht zu sehen. Sie hält den Blick aus. Kron sagt: «Nein!» Da erhebt sich Gisa, sie knöpft ihren Trenchcoat zu, schiebt die linke Hand in die Tasche und zeigt mit der rechten Hand auf den Schreibtisch. 46
Sie spricht: «Sie sind ein bekannter Wissenschaftler, Herr Kron. Ihr Assistent hat es mir gesagt. Man hat Hochachtung vor Ihnen. Sie wissen also, was Sachkompetenz bedeutet.» Gisa wartet auf keine Antwort, sie fährt fort: «Und ich kenne mich ein wenig in meinem Fach aus. Und sehen Sie, ich sage Ihnen, wenn Sie mir diesen Herrn Vogel nicht innerhalb der nächsten halben Stunde für ein Gespräch vorführen, dann hole ich ihn mir heraus, und zwar mit Gericht und Polizei. Haben Sie verstanden?» Kron lungert in seinem Sessel, es wäre übertrieben, wollte man behaupten, er fände ein hilfreiches Mittel gegen die junge Frau, die ihn gerade zusammengebellt hat. Soll er ihr sagen, er sei es nicht gewohnt, daß man mit ihm in solch einem Ton spricht? Diese Person würde ihn verspotten. Und er befürchtet, daß sie noch auf die Rechte ihres Berufs stolz sein dürfte, die ihr diesen Auftritt erlauben. Er massiert die Stirn, um diesen Spuk zu vertreiben, nicht nur die vor ihm sitzende Anwältin, auch das Virus mit seinen bemerkenswerten Erscheinungsformen und alles, was ihn während der letzten Nacht beschäftigt und umgetrieben hat. In müder Resignation bittet er die Anwältin, die halbe Stunde zu warten. Fast erstaunt nimmt er zur Kenntnis, daß sie seiner Bitte folgt. Er atmet auf. Fast ein wenig verächtlich denkt er an den Staatssekretär, wie er die Aktionen präzise koordiniert, sogleich bedenkt, daß Erklärungen schriftlich vorliegen müssen, die zuständigen Instanzen aus dem Ärmel schüttelt. Nicht im geringsten hat sich Kron darum gekümmert, eine schriftliche Erklärung des Patienten Vogel zu besorgen. Ist er denn die Tippse im Hause? Er weiß nur aus einem Telefongespräch, das er mit dem Stationsassistenten von 47
der Inneren zwischen Tür und Angel geführt hat, daß der Patient tobt, randaliert und alles zusammenschlägt. Kron lacht gehässig bei der Vorstellung, in dieser gefährlichen Situation mit Kugelschreiber und Papier den aggressiven Halbstarken wegen einer Unterschrift anzugehen. Im Zuge seiner Erinnerung an Schummberger fällt ihm der Name Winter ein. Dieser Mann ist Jurist, und vielleicht weiß er weiter. Kron drückt die Tasten einer Sprechanlage. Am anderen Ende eine weibliche Stimme: «Ja, Herr Professor», eine andere Stimme kichert im Hintergrund. Alltag, normal. Kron bestellt einen Kaffee und eine Verbindung mit dem Gesundheitsamtsjustitiar. Der Kaffee kommt, Kron trinkt, würgt das lauwarme Gebräu hinunter und spielt mit dem Keybord, bis man ihm das Gespräch durchstellt. Er erklärt dem Juristen die Situation. Winter schweigt, Kron muß fragen, ob er noch am Apparat sei. «Ja, ja», murmelt Winter. «Die Frau hat recht, Herr Professor. Ohne schriftliche Einwilligung geht nichts.» Kron ist empört: «Nein, ich lasse den Kerl nicht laufen, dann muß man mich halt verurteilen wegen Freiheitsberaubung oder so etwas. Ich mache ein Riesentheater in der Presse. Herr Schummberger hat ja von den Medien gesprochen, dann machen wir es also öffentlich.» Kron steigert seine Wut, er brüllt: «Das ist absurd, mein Herr!» Doch Winter bleibt gelassen, er denkt nach, während am anderen Ende der Verbindung Professor Kron, den Telefonapparat in der Hand, den Hörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, hin und her läuft und wütend im Rhythmus seiner Schritte auf die Platte trommelt. Endlich spricht Winter: «Wir könnten eine gerichtliche Entscheidung beantragen, Herr Professor.»
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Montag, später Vormittag Betz ist das ewige Parkplatzsuchen in Gerichtsnähe schon zur leidigen Routine geworden. Um so erstaunter ist er, als er, quasi als Geburtstagsgeschenk der Öffentlichkeit, einen regulären Parkplatz findet, der es ihm zudem erlaubt, ohne Körperverrenkungen auszusteigen. Es ist spät, schon fast elf, doch Betz grämt sich nicht. Es ist ein Privileg der Richter, keine festen Dienstzeiten zu haben. Wer schaffen und ackern will, wird Rechtsanwalt oder macht Karriere in der Verwaltung. Betz ist unter anderem wegen dieser kleinen Annehmlichkeiten im Alltag Amtsrichter geblieben, der Mann für die kleinen Fälle, der also auch nicht so schmerzlich vermißt wird, wenn er einmal fehlt. Und an einem Tag nach dem vierzigsten Geburtstag, gezeichnet von den Anstrengungen der Fete und dem Danach, erlaubt sich Andreas Betz zu schlendern, Mädchen nachzusehen und einen Umweg zur Musikalienhandlung zu machen, um nach neuen Noten zu fragen. Er findet sie sogar, zahlt, spaziert die paar Blocks zum Gericht, während das erste Mal seit Tagen zwei Sonnenstreifen über die Innenstadt wandern und strahlende, gelbe Muster und kühle Schatten auf den regennassen Asphalt zeichnen. Betz betritt in guter Stimmung das Gerichtsgebäude, eine ehemals ehrwürdige Architektur, die durch Zweckumbauten innen verschandelt ist. Von dem großen Flur hinter dem Eingang geht man links und rechts in die Verhandlungssäle. Anwälte, Parteien, Kläger und Beklagte stehen in Gruppen, besprechen ihren Fall, der irgendwann zum Aufruf kommt. Über allem hallen die Lautsprecherstimmen der Richterinnen und Richter, welche die Streitsachen nach einem Beschluß des Bundesverfas49
sungsgerichts laut aufzurufen haben. Der Flur ist düster, kühl, vorherrschend ein gewisser Schweißgeruch, dem Angstschweiß nicht unähnlich. Anwältinnen und Anwälte hasten geschäftig. Keiner trägt mehr eine Robe. Das Amtsgericht in Zivilsachen hat allen Pathos verloren. Er ist das Sprungbrett für die Berufsanfänger unter den Freiberuflern; die Seniorpartner der Kanzleien kümmern sich nur, wenn Not am Mann ist, um den alltäglichen Zank. Betz geht, hier und da flüchtig mit Kopfnicken begrüßt, durch die Szene zur Treppe, um hinauf zu den Richterzimmern zu gelangen. Der obere Flur ist enger, dunkler noch als das Erdgeschoß. An den Wänden zwei Schwarze Bretter, eines vom Personalrat und den Gewerkschaften, das andere vom Richterrat. Die Gewerkschaft hat ein Plakat ausgehängt: Bachkonzert. Sonderveranstaltung für die Justiz in Zusammenarbeit mit dem Verein der Richter und Staatsanwälte. Das Plakat ist neu, deshalb studiert Betz die Interpreten, stellt aber fest, daß es sich um ein besseres Schulorchester handelt, und beschließt, nicht teilzunehmen. Plötzlich tritt sein Freund und Kollege Küster neben ihn, legt ihm die Hand auf die Schulter, rüttelt ihn ein wenig, grinst. «Mir tut der Schädel weh, dir wohl eher ein anderes Körperteil», sagt er flachsend. Er war gestern auch unter den Gästen, ist aber beizeiten brav mit seiner Frau nach Hause gegangen. Er erwartet keine Antwort, spricht sofort weiter: «Da geh ich hin, Bach ist für mich immer etwas Besonderes, und ich weiß nicht, aber es jagt mir manchmal einen Schauer über den Rücken.» «Kommt drauf an, wie’s gespielt wird», sagt Betz skeptisch. «Drei Mark Eintritt, der Preis stimmt», lästert Kü50
ster, «auch ein Richter muß gelegentlich seiner Angetrauten Kultur bieten – wie war sie denn, die Wormser?» Betz steckt die Hände in die Taschen, zuckt mit den Schultern, lächelt ein wenig verlegen. «Ist was aufgefallen?» fragt er. «Fast gar nichts», sagt Küster grinsend, «so wie ihr getanzt habt!» Nun nimmt er Andreas Betz am Arm, zieht ihn mit sich in Richtung Flurende: «Du hast Kundschaft, ein neuer Fall», sagt Küster. «Eine einstweilige Anordnung. Die waren zuerst bei mir, aber nach dem Geschäftsverteilungsplan ist es deine Sache. Ich hab sie schon einmal auf die Geschäftsstelle geschickt, damit sie sich ein Aktenzeichen holen. Sie machen nicht den geduldigsten Eindruck. Deswegen habe ich sie in dein Zimmer gesetzt. Erschrick also nicht.» Man sieht Betz an, wie er solche Unregelmäßigkeiten im Tagesablauf haßt, zumal heute, an einem Tag, an dem er sich vorgenommen hat, in Ruhe und Konzentration an den Akten zu arbeiten und ein längeres Gespräch mit der Rechtsanwältin Gisa Wormser zu führen, sofern diese im Gericht erschiene, persönlich, ansonsten telefonisch. Eine einstweilige Anordnung schmeißt alles durcheinander. Küster sieht seinem Freund an, daß er ärgerlich ist, er hebt die Hände, Handflächen nach oben, tut wie die Karikatur eines orientalischen Händlers und sagt: «Es war der Geschäftsverteilungsplan in seiner höheren Weisheit, nicht ich, wo ich nur sein ausführendes Organ bin.» Dann lacht er schallend, geht links ab in sein Zimmer und wirft hinter sich die Tür zu, während Betz lustlos weitertrabt und ohne zu klopfen seinen Arbeitsbereich betritt. Er sieht zwei Männer, die im Gespräch stocken, zu ihm 51
herblicken. Der eine, ein schlanker, braunhaariger Vollbartträger in Anzug und Krawatte, hält einen schmalen Aktendeckel auf dem Schoß. Er springt sofort auf. Betz registriert, daß er das Gesicht irgendwoher kennt, kann es aber nicht zuordnen. Daneben sitzt ein Mann, der ein paar Jahre älter sein dürfte als er selbst, in weißen Turnschuhen und einer modisch zerknitterten Leinenhose. Er trägt einen Pullover mit Norwegermuster, wirkt salopp. Sein Gesicht ist rund und voll, mit blauschimmerndem Bartwuchs, volles Haar, von ersten weißen Streifen durchzogen. Als Betz die Tür schließt, fällt ihm der Name ein, der zu dem Gesicht mit dem Vollbart paßt. «Guten Tag, Herr Winter», sagt er. Der Jurist grüßt artig zurück. Betz wirft einen Seitenblick auf den immer noch mit verschränkten Armen sitzenden Mann. Nun erkennt er, daß die Augen verwaschen und rot wirken, der Bartschatten nicht modische Attitüde ist, Falten um einen schmalen Mund Anstrengung verraten. Was wird das wohl wieder werden? fragt er sich, verstaut die Noten auf dem Schrank, als gelte es, den Dienstbereich vom Privaten zu trennen. Eine einladende Geste zum Stuhl hin, Winter setzt sich wieder, und Betz begibt sich hinter seinen einfachen Schreibtisch. Winter beugt sich vor, schiebt den Aktendeckel, den er in den Händen gedreht hat, hinüber zum Richter und murmelt, daß es eine kleine Sache sei, nichts Besonderes, eine Eilentscheidung zwar, die aber keine Arbeit mache, ein Routinefall sozusagen. Seitens der Gesundheitsbehörde sei man mit abgekürzter Entscheidung einverstanden. Nur der Tenor interessiere, nicht die Gründe. Für Betz’ Geschmack hat der Jurist gegenüber drei, vier Worte zuviel gesagt – und zu schnell. Da wird der In52
stinkt des Richters wach, der immer fürchtet, von einer der Parteien nicht gerade hereingelegt, aber doch nicht vollständig und zutreffend informiert zu werden. Er hat Angst, offenkundige Fehler zu begehen, die das Landgericht als übergeordnete Instanz zum Gegenstand eines rügenden Beschlusses machen könnte. Er zögert noch eine Sekunde, bevor er das Dossier aufschlägt, wartet, ob Winter noch etwas hinzuzufügen hat. Doch Winter hat auch so ein Gefühl, das ihm sagt, daß er zuviel geredet hat. Der Richter Betz beginnt zu lesen. Der Schriftsatz enthält den Antrag, den Betroffenen, einen gewissen Bertold Vogel, für die Dauer eines Jahres in eine Absonderung nach dem Bundesseuchengesetz einzuweisen. «O lala», entfährt es Betz. Ein schneller Blick, der kontrollieren soll, ob die Beteiligten dies als ein Zeichen von Festlegung bei der Einschätzung des Falles auffassen. Er blickt in starre Mienen, deshalb fügt er hinzu: «So einen Fall hatten wir noch nicht.» Dann liest er weiter. Man trägt vor, der Betroffene, so nennt man amtlich den jungen Vogel, sei serumpositiv. Gerade an dieser Stelle unterbricht der bisher schweigsame Mann mit den roten Augen die Lektüre des Richters und sagt mit einem mißbilligenden schrägen Blick auf Winter: «Ich bin der medizinische Sachverständige, den man wohl bei einem solchen Verfahren braucht. Kron ist mein Name.» Betz nickt, deutet auf das Schriftstück und sagt: «Professor Kron, Virologisches Institut, Universität?» «Ja.» Großes Kaliber, denkt sich Betz, warum denn, wenn es nur eine kleine Sache ist? Dann liest er weiter und 53
nimmt zur Kenntnis, daß die Gesundheitsbehörde dem Betroffenen zur Last legt, eine Gefahr für die Allgemeinheit, ein Ansteckungsherd zu sein, da er nicht die Gewähr dafür biete, mit seiner Krankheit und der damit verbundenen Gefahr richtig umgehen zu können. Der Betroffene sei höchst aggressiv, vielleicht auch promiskuitiv, zumindest aber nicht kontrollierbar. Ein erster Fall, doch irgendwann einmal habe es so kommen müssen, daß man eine von der Krankheit betroffene Person mit gerichtlicher Hilfe absondern müsse. Betz sieht die Blicke der beiden Männer auf sich gerichtet. Erwartungsvoll. Er dreht ihnen die Schulter zu, liest die Schriftstücke noch einmal sorgfältig durch, dann sagt er nach einer kurzen Pause des Überlegens: «Ich muß zunächst einmal die Rechtslage prüfen, das ist kein Alltagsfall.» Er bittet die Herren um zehn Minuten Geduld, geht, öffnet unmißverständlich die Tür und komplimentiert den Forscher und den Justitiar mit einer knappen Geste der Hand aus seinem Zimmer, das er auch selbst verläßt, um in die Bibliothek zu gehen, wo er einen Kaffee von der Bibliothekskraft bekommt und in Ruhe nachdenken kann.
Montag, gegen Mittag Im Halbdunkel, zwischen einem Spalier alter Metallregale sitzend, grübelt Betz über die ihm zur Entscheidung vorgelegte Sache nach. Er hat das Bundesseuchengesetz durchgesehen, kam aufgrund einer Fußnote dazu, das Freiheitsentziehungsgesetz zu konsultieren, beides alte und ehrwürdige Rechtsvorschriften, von denen er aber angenommen hat, daß sie auf so einen dahergelaufenen 54
neuen Fall passen. In der Tat, so weit gibt der Jurist Betz dem Kollegen Winter recht, ist die Gesundheitsbehörde, das stellt sich bei näherer Prüfung der Gesetze heraus, befugt, ansteckende Kranke für einen Tag gegen ihren Willen festzuhalten und dann beim Amtsgericht eine Entscheidung zu erwirken, um den Betroffenen bis zu einem Jahr von seiner Umgebung abzusondern, wenn Infektionsgefahr besteht. Und das, was im Schriftsatz vorgetragen ist, läßt a priori nicht den Schluß zu, als habe sich das Gesundheitsamt vergaloppiert. Ein Testergebnis liegt bei den Akten, wonach der Patient Vogel serumpositiv ist, und eine ärztliche Stellungnahme des Virologen Professor Kron ist ebenfalls beigefügt, in der die hinlänglich bekannte Tatsache versichert wird, daß diese Krankheit tödlich sei und daß beim Patienten das Testergebnis feststehe. Betz grübelt nach einer Methode, um den Fall kritisch anzugehen. Ihm fällt das Repertoire ein, das er als Strafrichter in Verkehrssachen kennt, wenn es um Blutalkohol geht: Stammt die Blutprobe authentisch vom Patienten oder wurde sie verwechselt? Arbeiten die Meßgeräte richtig? Wie würden sich die beiden Männer zu einer erneuten Untersuchung stellen? Wohl durchaus positiv, huscht ihm durch die Gedanken, denn man weiß ja nie … Doch Verhandlung, Neuuntersuchung, Testergebnis, das alles wird mehr als einen Tag in Anspruch nehmen. Soll er den Mann, den er nicht kennt, vorläufig einweisen, um das Ergebnis in Ruhe abzuwarten, oder hat der Betroffene Anspruch auf seine Freiheit, bis eine zweite Probe geprüft ist? Betz ärgert sich darüber, daß er in diesem Fall keinen Anfang findet, er stopft die Akte in eine Lücke im Regal, stapelt Gesetzbücher und Kommentare auf dem hölzernen Stuhl und geht nach vorne zum Schreibtisch der 55
Bibliothekskraft, um noch einmal für fünfzig Pfennig einen Kaffee zu erstehen. In der selbstverordneten Pause bleibt er einsilbig, antwortet auf die Fragen der jungen, aber imponierend häßlichen Angestellten nach dem Verlauf der gestrigen Geburtstagsfeier freundlich und ausweichend, zieht sich nach wenigen Minuten mit dem Kaffee wieder zum Nachdenken in das düstere Staubloch der Bibliothek zurück. Irgendwie ist ihm nicht geheuer dabei, auf eine bloße Behauptung hin einen Menschen, den er noch nie gesehen hat, in eine Absonderung einzuweisen. Das wäre wie Freiheitsstrafe. Er nimmt noch einmal den Schriftsatz, liest ihn durch, stockt bei den Worten «promiskuitiv» und «aggressiv», wägt ab, sieht noch einmal zur Selbstbestätigung in das Gesetz und folgert, daß doch sehr konkret dargetan werden müsse, welche Gefahr für einzelne oder gar die Allgemeinheit von diesem Mann ausgehe. Betz gähnt lange und herzhaft, trinkt den Kaffee aus und stellt fest, daß Kron und Winter nun schon über eine halbe Stunde auf dem Flur stehen. Jedoch das treibt ihn nicht zur Eile. Bedächtig stellt er Kommentare und Gesetzesbände zurück an ihren Platz, dann verläßt er mit einem kurzen Gruß die Bibliothek. Direkt vor deren Eingang läuft er Winter in die Arme, der ihn besorgt darauf hinweist, daß die zehn Minuten längst überzogen sind. Kron, ein wenig im Hintergrund, schreitet nervös hin und her und dreht dem Richter abrupt den Rücken zu, als dieser hinübersieht, um seine Mißachtung auszudrücken. Kron, ein Mann, der es gewohnt ist, daß man seinen Wünschen folgt, weil sie aus seiner Sicht nie unangemessen sind, ist innerlich aufgebracht, zügelt sich indes, weil er diesen Mann dort drüben am ehesten mit einem DDR-Grenzer vergleicht, dem man in seiner Un56
freundlichkeit und Undurchdringlichkeit jedesmal restlos ausgeliefert zu sein scheint. Betz stört die Geste des Arztes nicht. Er betrachtet ihn und seinen Gehilfen Winter ohnehin als Störenfriede. «Ich würde mir diesen Mann gerne einmal ansehen», sagt er in sachlichem Ton, «außerdem ist nach dem Freiheitsentziehungsgesetz anwaltliche Vertretung zwingend erforderlich, wenn Sie den Betroffenen nicht persönlich vorführen.» «Termin?» fragt Winter knapp, sieht gleichzeitig auf die Uhr, um Mißverständnisse zu vermeiden: «Ich meine heute noch.» Betz zögert, entscheidet sich aber, diesem formlosen Antrag stattzugeben. Heute Termin, heute entschieden, und so wird er die Sache los sein, bevor es Abend wird, und er kann zu seiner Geliebten gehen.
Montag, Nachmittag Fünf Minuten vor drei steht Andreas Betz hinter den Vorhängen des Beratungszimmers, das an den schmucklosen Verhandlungssaal des Amtsgerichts grenzt. Draußen, jenseits der vollständig mit Anwaltsautos zugeparkten Halteverbotszone, rollt ein Krankenwagen aus. Es kann losgehen. Betz wirft sich die Richterrobe mit schwarzen Samtaufschlägen über, knüpft seinen weißen Schlips, den er stets griffbereit zusammengerollt in der weiten Tasche des Talars trägt, mit einigen Handgriffen um den Hals, hebt das Telefon ab, um noch einmal zu versuchen, mit Gisa einen telefonischen Kontakt zu bekommen. Bis jetzt ist er stets vom automatischen Anrufbeantworter abgefertigt worden. Zwar hat er bereits bei 57
dem ersten Versuch widerwillig eine kurze Nachricht auf das Band gesprochen, doch es wäre ihm angenehmer, einige Worte mit ihr selbst von dem prosaischen Beratungszimmer aus zu wechseln. Zu seinem Erstaunen meldet sich nun eine lebendige Stimme, die sehr jung wirkt. Aha, der Lehrling, über dessen Rechtschreibkünste Gisa heute morgen bei Bier und Käse in ihrer Küche gelästert hat. Das junge Mädchen weiß mit dem Namen Betz natürlich nichts anzufangen. Sie behandelt den Anrufer kühl. Andreas muß lächeln, denkt daran, wie Gisa die steife, geschminkte Attitüde der gerade 16jährigen imitiert hat. «Es wäre privat», bekennt Betz. Das Mädchen antwortet mit dem geschraubten Hinweis, die Frau Rechtsanwältin sei zu Gericht. «Bei welchem?» will Betz wissen. «Beim Amtsgericht», antwortet der Lehrling. «Was macht sie da?» «Das kann ich nicht sagen.» Als sie dann fragt, ob sie etwas aufschreiben kann, um es der Frau Rechtsanwältin auszurichten, sieht Betz draußen auf der Straße Gisa in einem Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen, den Schirm griffbereit für den nächsten Regenschauer unter dem Arm, auf das Portal des Gerichts zustöckeln. Betz beendet das Telefongespräch. Er hätte am liebsten das Fenster aufgerissen, ihr etwas zugerufen, sie für fünf Minuten hereingebeten. Eine Verhandlung kann durchaus mit Verzögerung beginnen. Indes, es entspricht nicht den Üblichkeiten, daß Richter, zumal in der Amtstracht, vorbeistöckelnden jungen Rechtsanwältinnen nachrufen. Deshalb will Betz schnell die Robe ausziehen, damit er ohne Aufsehen über den Gang laufen kann. Aus dem Augenwinkel beob58
achtet er noch, daß Gisa stehenbleibt und einer kleinen Prozession entgegensieht, die sich zwischen den Fahrzeugen durchschlängelt: voran Winter, ein Pfleger folgt in weißem Kittel, dann, mit gewissem Abstand, ein niedergeschlagen wirkender Junge in martialischen Kleidern, mit hängendem Kopf und eingezogenen Schultern, schließlich in noch größerem Abstand ein weiterer Pfleger und endlich Kron, der virologische Sachverständige, in genauso salopper Kleidung wie am Morgen. Winter geht schnell auf Gisa zu, verwickelt sie in ein Gespräch, drängt sie scheinbar von ihrem Mandanten ab, dem sie nur kurz zuwinken kann, dann verschwinden die Gestalten aus Betzens Gesichtskreis. Wenig später hört er hinter der Tür seines Beratungszimmers gedämpfte Stimmen, Schritte, Stühlegeschiebe. Er nimmt die Akten unter den Arm und tritt durch den Zugang hinaus in den schäbigen, angeschmutzten Gerichtssaal auf das Podium, das mit minderwertigem Furnier belegt und gut einen halben Meter höher als der Saal ist, in dem Beteiligte und Zuschauer Platz finden. Rechts Kron und Winter, links der Betroffene Bertold Vogel und die Rechtsanwältin Gisa Wormser. Alle sind aufgestanden, sehen zu ihm hoch. Betz ist auf diese Art von Ehrenbezeugung nicht angewiesen. Das wissen alle, doch die Gewohnheit siegt. Er macht deshalb kein Aufhebens. Man setzt sich genauso automatisch, wie man aufgestanden ist. Betz hat die Angewohnheit, nach dem Knarren der Sitze und dem Fußgescharre einen Augenblick zu schweigen, damit die Parteien sich konzentrierten. Er nützt diese kleine Zone der Ruhe vor der Verhandlung dazu, die Beteiligten anzuschauen, sich die Gesichter einzuprägen. Bei Gisa bleibt sein Blick länger hängen als üblich. Sie 59
blättert in einem Schriftsatz, bemerkt nicht, daß er sie ansieht. Die Brille, denkt er. Sie hat eine Brille mit ganz modernem Gestell auf der Nase, es wirkt weniger streng als das Modell, das er kennt. Auch die neue gefällt ihm nicht. Er wehrt sich ein wenig gegen die Einstellung, daß Brillen bei Männern markant und bei Frauen deplaciert wirken, er versucht deshalb, die Augengläser, die Gisa trägt, schön zu finden. Mitten in diese kurze Betrachtung hinein räuspert sich Winter und macht Anstalten aufzustehen. Betz nimmt mit erhobenen Augenbrauen davon Notiz, fixiert den Justitiar des Gesundheitsamtes, dann beginnt er mit ruhiger und sachlicher Stimme die Formalia festzustellen, hält auf einem Zettel protokollarisch fest, wer erschienen ist, den Zeitpunkt der Eröffnung der Sitzung und den Verhandlungsgegenstand. Erfahrene Prozeßbeteiligte, die den Amtsrichter Betz kennen, wissen, daß er normalerweise gut vorbereitet ist, die strittigen Fragen herausgearbeitet und sich schon eine Meinung gebildet hat, die er in der Verhandlung mit den Parteien offen zu besprechen pflegt. Anders als viele Kollegen, die aus lauter Ängstlichkeit vor einem Befangenheitsantrag sich ungern offenbaren, stellt Betz seine vorläufig gewonnenen Ansichten – natürlich betont er stets das Wort «vorläufig» – zur Diskussion. Und jeder, der ihn kennt, weiß, daß derjenige, der zuerst angesprochen wird, nach dem noch unfertigen Eindruck des Richters die schlechteren Aussichten hat. Gerade ihm gibt er aber eine Chance, den eingenommenen Standpunkt zu rechtfertigen. Heute ist es Winter, an den Betz zuerst das Wort richtet. Dieser, fast ein wenig aufgeregt wirkend, springt auf und beginnt das darzulegen, was er schon schriftlich dem Gericht unterbreitet hat. Nun, Winter gehört nicht zu 60
den Leuten, die im Umgang mit dem Amtsgericht Routine haben. Gisa dagegen weiß die Zeichen zu deuten und entspannt sich ein wenig, lehnt sich zurück, beginnt mit dem Kugelschreiber zu spielen und gibt ihrem Mandanten, der zusammengekrümmt, die Fäuste zwischen den Knien eingesperrt, seitlich hinter ihr sitzt, ein Zeichen zur Beruhigung. Es scheint, als sei man auf der Siegerstraße. Doch Vogel nimmt das nicht wahr. Er fühlt sich ausgeschlossen, seine Gedanken kreisen um diese bizarre Situation, plötzlich Gegenstand einer juristischen Erörterung in einem Gerichtssaal mit fleckigen Wänden und abgelaufenem Linoleumboden zu sein. Der Geruch nach Papier, Aktenstaub, aggressiven Bodenpflegemitteln, die stumpf an der fleckigen Scheibe tanzende Fliege, diese Aufsteherei und Setzerei, dieses Schweigen, diese befremdlichen Gesten! Und gestern war er ein Mensch, manchmal launisch, manchmal sogar glücklich, einer, der mit seiner Bluterkrankheit zu leben gelernt hatte. Es war deshalb keine Katastrophe, als er den Arm beim Mopedreparieren zwischen Kette und Zahnkranz verletzte. Gelassen und voller Vertrauen ging er in die Klinik. Und damit war sein bisheriges Leben beendet. Über sein neues Leben wird ein Mann in schwarz-weißer Kleidung entscheiden, der trotz seines feierlichen Aufzuges hinter einem Richtertisch, in dessen Sperrholzverkleidung ein fußgroßes Loch klafft, kaum Würde ausstrahlen kann. Zudem wirkt der Mann mit seinem faltenlosen Gesicht und seinen spärlichen Haaren kühl, streng, beinahe schon feindlich. Daß der Richter sich zuerst mit dem Gesundheitsamt befaßt, steigert die Furcht des jungen Kerls. Angst dringt spitz aus der trübseligen Dumpfheit der Sedierung her61
vor. Vogel mahlt mit den Zähnen, sieht, wie der Richter lächelt, als der Mann neben dem Professor mit ihm spricht. Und seine eigene Anwältin wimmelt ihn ab, spielt mit dem Kugelschreiber und scheint nicht bei der Sache zu sein! Doch Betz ist immer freundlich zu den Parteivertretern. Das kann Vogel nicht wissen. Andere Kollegen befleißigen sich streng der Distanz zu den Menschen, mit denen sie beruflich umgehen, er meint, zu einem ordentlichen Arbeitsklima gehören auch Lächeln und gute Worte. Zu einer sauberen Arbeit gehört aber auch ein Mindestmaß an handwerklicher Kenntnis – und da gibt es etwas zu bemängeln bei Winter. Betz erklärt: «Herr Winter, was Sie vorbringen, habe ich gelesen. Ich habe Ihnen schon heute morgen erläutert, wo ich die Problematik des Falles sehe: Warum stellt der Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar?» Winter, jäh unterbrochen, bekommt schmale Lippen. Er ärgert sich, weil er seine Trumpfkarte jetzt sofort ausspielen muß. Er greift in die Innentasche seines Jacketts, zieht einen Umschlag heraus, öffnet ihn und fächert daraus Polaroidbilder auf, die er dann Stück für Stück, eben wie Trumpfkarten, dem Richter auf den Tisch blättert. Gisa kommt herüber, sie weiß nichts von Fotografien. «Hier, hier und hier», sagt Winter und deutet mit dem Zeigefinger auf die Fotografien. «Das sind Aufnahmen aus der Isolierstation, in die wir die Patienten regelmäßig bringen, wenn Blutuntersuchungen erforderlich sind.» Doch anders als Winter erwartet, erschrickt der Richter nicht angesichts der Verwüstung, die vor ihnen dokumentiert wird, denn er weiß, daß es auf jeden Beweis einen Gegenbeweis und auf jedes Argument ein Gegenargument geben kann. 62
Gisa nimmt die Brille von der Nase, wedelt ein wenig mit den Bügeln herum, deutet dann auf ihren Mandanten, der mit ängstlichen Augen herüberschaut, und fragt: «Der hier?» Winter erklärt fest: «Ja.» «Oho!» sagt Gisa, und es klingt voller Ironie. «Wir haben ihn momentan sediert.» Winter dreht sich zu Kron herum, der sitzen geblieben ist und das seltsame Schauspiel mit zusammengezogenen Brauen betrachtet. «Wieviel haben Sie ihm gegeben?» «30 mg Librium.» «Schweres Geschütz», sagt Winter. «Haben Sie auch einen Zeugen dafür, daß Herr Vogel …?» Typische Anwaltsfrage. Betz wischt das mit einer Handbewegung weg, reckt den Hals ein wenig, damit er Vogel richtig sieht, und fragt ihn mit erhobener Stimme, ob er das Krankenzimmer zerlegt habe. Vogel läßt den Kopf sinken, er nickt. «Passiert so etwas öfters?» fragt Betz. Er bekommt keine Antwort. Nun wendet er sich an Gisa, fragt, ob sie Auskunft geben könne, doch Gisa sagt, sie kenne den Mandanten nicht näher. Vogel ist unsicher, er fürchtet sich, er spürt, wie er schwitzt, er fühlt sich schon durchschaut. Seine Vorstrafe! Für ihn verbergen sich in den Papieren, mit denen diese Menschen hantieren, alle Informationen, die es über ihn gibt. Ein Gericht ist wie das andere, ein amorpher Körper mit einem allwissenden Geist. Daß der Richter Andreas Betz außer ein paar Blättern Schriftsatz und einem medizinischen Gutachten nichts besitzt, geschweige denn ein persönliches Dossier über den Betroffenen, sich mühsam in den Fall mit Fragen hineintasten muß, ist die Realität. Für Vogel nicht vor63
stellbar. Es ist weniger Berechnung denn Ratlosigkeit, die Betz nun zögern läßt. Schließlich sagt er zu Winter: «Aggression, gut, unterstellen wir das. In wieviel anderen Fällen von serumpositiven Patienten haben wir das auch?» Winter dreht sich fragend zu Kron um. Kron schweigt. «Promiskuität, vielleicht aggressive Sexualpraktiken, und schon ist die Infektionsgefahr riesig», sagt Winter. Gisa tritt zurück an ihren Platz, mustert den Kollegen vom Gesundheitsamt vom Kopf bis zu den Füßen, bevor sie sagt, daß er nach der Prozeßordnung dafür einen Beweis schuldig sei. «Das hier», sie zeigt zum Richtertisch, wo die Fotos liegen, «das geschah in einer extremen Ausnahmesituation, ein Kurzschluß.» Kron hat mit immer stärkerem Befremden die Szene beobachtet, nun steht er auf, bleibt an seinem Platz und spricht über Winter hinweg, der etwas unglücklich im Zentrum steht. «Hohes Gericht», sagt Kron ohne jede Ironie, «wir haben es hier mit einem prekären Fall zu tun. Sehen Sie, dieser junge Mann hier ist Bluter, er hat sich infiziert, wir wissen nicht wo. Sie sehen an dem Verband, daß seine Hand frisch versorgt wurde. Sie blutet. Sein Blut ist ansteckend, eine tödliche Gefahr. Ich übertreibe nicht. Normalerweise haben wir keine Schwierigkeiten in solchen Fällen, die Patienten sind einsichtig, sie stellen sich unseren Untersuchungen. Nicht wir sind initiativ, Herr Vogel und Ihre Gesetze zwingen uns dazu, eine solche Verhandlung zu beantragen. Ich möchte der Frau Rechtsanwältin keine Vorwürfe machen, aber ich meine, daß sie sich ihrer Verantwortung bewußt sein muß.» Nun wendet er sich zu Gisa: «Appellieren Sie an den Patienten, daß er bei uns stationär bleibt.» Alle sehen nun Vogel an, der unsicher umherblickt. Er 64
muß sich räuspern, bevor er einen Ton herausbringt, doch dann sagt er fest, daß er nicht in dem weißen Käfig bleiben kann. «Es geht nicht, ich krieg dort keine Luft.» Gisa erkundigt sich, wieviel Tage für eine solche Untersuchung notwendig wären. Da wiegt Kron mit dem Kopf. «Ein oder zwei Wochen mindestens, genau kann ich mich noch nicht festlegen. Die Hand muß heilen – und das dauert.» «Was müssen Sie untersuchen?» fragt Gisa, es sei doch bekannt, daß der Patient Bluter sei und nun unglücklicherweise auch serumpositiv. Kron bleibt die Antwort schuldig. Betz, nach wie vor freundlich wirkend, wiederholt in ruhigem Ton die Frage Gisas. «Gentechnische Tests», sagt Kron. «Menschenversuche», Gisas Stimme wirkt scharf, sie setzt sich. «Mitnichten, ich verbitte mir das!» Kron wird laut, doch er zügelt sich sofort wieder. «Haben Sie Vertrauen zu mir als Arzt», appelliert er. «Wenn das Gericht fragt, so ist dies kein Mißtrauen. Ich muß über die Freiheit dieses jungen Mannes entscheiden», Betz deutet mit dem Kuli hinüber zu Vogel. «Ihr Antrag lautet: ein Jahr. Nach dem, was man in der Zeitung liest, wird das Vollbild der Krankheit in drei oder vier Jahren entstehen. Lassen Sie es mich einmal mathematisch und damit nüchtern ausdrücken: Sie verlangen von mir ein Urteil über ein Viertel bis ein Drittel der Lebenserwartung dieses noch nicht einmal 20jährigen Menschen. Daher ist es meine Pflicht, mich zu erkundigen, was dahinter steckt. Sie müssen nachweisen, daß eine Gefährdung der Allgemeinheit im Sinne des Bundesseuchengesetzes vorliegt. Vermutungen genügen nicht.» 65
Kron zuckt mit den Schultern, dies sei eine juristische Frage, bringt er mit einer Handgeste zum Ausdruck, die auf Winter weist. Er solle einspringen. Mit geschultem Pragmatismus versucht der Justitiar eine vermittelnde Position zu finden. Deshalb fragt er, welche Beweise der Richter benötige. Es sei nur in beschränktem Umfang Sache des Gerichts, in einem Eilverfahren den Sachverhalt zu ermitteln, antwortet Betz. Nun verliert Kron die Beherrschung, steht auf, tritt ebenfalls an die Schranke des Gerichts vor und poltert: «Weisen Sie diesen Mann ein. Er ist aggressiv, das ist bewiesen, hier liegen die Fotos. Der Patient stellt eine Gefährdung für alle dar, auch für unser Pflegepersonal. Aber das ist glücklicherweise geschult. Wollen Sie denn die Verantwortung für die anderen übernehmen, die nicht wissen, wie man mit so jemandem umgehen muß? Was geschieht, wenn auch nur ein weiterer Ansteckungsfall bekannt wird? Treten Sie dann von Ihrem Amt zurück, werden Sie von irgendwelchen Angehörigen haftpflichtig gemacht? Ich als Arzt stehe in so einem Fall möglicherweise vor einem Zivilgericht und kann mich wie ein Narr der Justiz in einem Schadenersatzprozeß verteidigen, nachdem ich hier verloren habe. Trotzdem, glauben Sie mir, ich kann nur jedem raten, dem ein solches Schicksal widerfahren würde, daß er die Verantwortlichen verklagt.» Betz reagiert gewöhnlich auf Ausfälle der Parteien mit größter Gelassenheit, auch wenn die Attacken von Universitätsprofessoren vorgetragen werden. Er lächelt, zuckt mit den Schultern. «Was weiß man aus der Vorgeschichte?» erkundigt sich der Richter. «Ist der Betroffene öfters aggressiv?» Winter sieht sich hilflos zu Kron um. Doch was soll der 66
sagen. Er hat mit der virologischen Analyse, nicht aber mit dem Patienten zu tun. Betz setzt nach: «Es ist das Argument von Frau Wormser zu entkräften: Kurzschluß.» Winter zuckt mit den Schultern, er reißt sich zusammen und behauptet, daß so was jederzeit wieder geschehen kann. «Richtig», fährt Gisa dazwischen, «bei Herrn Vogel wie bei jedem anderen, der sich infiziert hat. Da müssen Sie alle einweisen. Alle!» Betz wirkt ernst. Er lehnt sich zurück, studiert die Gesichter der Menschen in diesem schäbigen Saal. Die Sache ist dubios, kein vernünftiger Beweis erbracht. Die Befragung der Antragstellerseite ist sehr frühzeitig unergiebig geworden. Was soll er von einem solchen Vorbringen halten? Gisas Wort «Menschenversuche» klingt ihm noch nachdrücklich im Ohr. Der ganze Tag ist in Beschlag genommen worden von der undurchsichtigen Antragsaffäre des Gesundheitsamts! Betz läßt sich nichts anmerken. Formal ist die Sache zur Entscheidung reif, und Betz ist entschlossen, den Antrag abzuweisen. Gisa sieht es seinem Gesicht an, und auch die beiden Antragstellervertreter haben denselben Eindruck. Weil keiner mehr spricht, hebt Vogel den Kopf. «Können wir vertagen?» fragt Winter. «Entschuldigung», man weiß nicht genau, wofür er sich entschuldigt, «ich bessere nach. Ich kann Ihren Standpunkt irgendwie verstehen.» «Wie schön», spottet Gisa. «Ich habe mich nicht festgelegt», sagt Betz. Gisa Wormser beharrt darauf, daß die Sache zur Entscheidung reif sei, fordert einen Beschluß. Doch Betz, dem das Einlenken Winters überraschend kommt, zögert. 67
«Geben Sie uns die Chance», bittet Winter. Und weil eigentlich nichts dagegen spricht in einem fairen Verfahren, bei dem es einerseits um das Recht eines kranken jungen Mannes auf Freiheit, andererseits aber um den Schutz Unbeteiligter vor dem unter Umständen unrechtmäßigen Gebrauch eben dieser Freiheit geht, bricht Andreas Betz eine Entscheidung nicht gerne übers Knie, er gibt einen neuen Termin bekannt: «Morgen früh, zehn Uhr.»
Montag, später Nachmittag Betz steht wieder hinter dem Vorhang im Beratungszimmer und knotet seinen Schlips auf, nachdenklich betrachtet er den langsam heranrollenden Krankenwagen und Kron und seine Leute, wie sie mit deutlichem Abstand den Kranken umstehen, ihn aber nicht aus den Augen lassen. Betz hätte eigentlich mit Gisa gerne noch ein paar Worte geredet, doch er hat sich eine Geste der Einladung versagt, weil dies wie eine Verschwörung ausgesehen hätte. Ein mit einer Partei auch nur scheinbar konspirierender Richter verliert das Ansehen bei der anderen; sein Spruch hat keinen Wert mehr. Wenn Betz in seinem Beruf, den er ebenso gekonnt wie unpathetisch ausübt, sich ein Ziel setzt, dann ist es, daß man sein Urteil respektiert. Daher die Vorsicht. Auch Gisa hat während der gesamten Verhandlung durch keinen Blick, durch keine Andeutung ein Gefühl vermittelt, das als eine gewisse Vertrautheit, geschweige denn als Reminiszenz an die teilweise gemeinsam verbrachte Nacht zu deuten gewesen wäre. Und Betz gesteht sich ein, daß dieser Umstand ihn verwirrt hat und er sich über ein 68
Signal gefreut hätte, obwohl er selbst, für sich, den Richter, die Strenge bei der Trennung zwischen Dienst und Bett nach außen reklamiert. Draußen beginnt kühler Sommerregen zu tröpfeln. Passanten spannen Schirme auf, Betz beobachtet, wie Vogel in den Krankenwagen klettert. Man verriegelt hinter ihm die Klappe. Blaulicht zuckt, mit schreiender Sirene bahnt sich das Transportfahrzeug den Weg in den Verkehr. Kron und Winter verschwinden aus dem Gesichtsfeld. Betz will sich gerade umdrehen, um auf dem Flur nach Gisa zu schauen, die nach seinen Beobachtungen das Gericht noch nicht verlassen hat, da klopft es, leise und gedämpft, denn die Tür zum Beratungszimmer ist dick, sie soll vor heimlichen Lauschern schützen. «Ja, herein.» Betz denkt, daß einer seiner Kollegen den Raum braucht, er rafft seine Akte zusammen und ist verblüfft, als Gisa die Tür öffnet, hereinschlüpft und ihn fröhlich anlächelt. Die ganze Strenge, die von ihr während der Verhandlung ausging, ist verschwunden, wie die Brille, die irgendwo in der Handtasche steckt. Kein Gruß, kein Wort, Gisa eilt auf ihren Liebhaber zu, faßt ihn zärtlich mit den Händen am Nacken, zieht sein Gesicht zu sich herunter, sie spürt, wie er zögert, flüstert, daß sicher keiner ins Beratungszimmer kommen werde. Dann schiebt sie ihre Zunge durch seine langsam sich öffnenden Lippen und beginnt, sie warm und freundlich in seinem Mund turnen zu lassen. Betz riecht ihre Haut, ihr Parfüm, er umarmt sie mit einer fast unwirschen Bewegung, zieht sie an seine Brust, wodurch ein kleiner Seufzer entsteht. Und als er seine Zunge auf der anderen Seite ‹Guten Tag› sagen läßt, 69
kneift sie ihn mit den Zähnen, das schmerzt ein wenig, sie stößt sich von ihm ab, lacht, pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht und fährt sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. In Betzens Mund schmeckt es nach Blut. «Ob das das erste Mal ist, daß sich Organe der Justiz in diesem der Lust nicht ganz zuträglichen Zimmer küssen?» fragt Gisa. «Eine Pionierin?» lästert Betz. Er wischt sich mit einem Taschentuch über die Lippen, betrachtet es verstohlen. Kein roter Schleier. «Ja … von Zeit zu Zeit gerne.» Betz stößt an den Tisch, schubst dabei die Akte auf den Boden, hebt sie auf, sagt strahlend zu Gisa: «Der Küster behauptet sogar, die Schultheiß soll es schon einmal mit einem Kollegen hier getrieben haben. Der Kollege ist jetzt beim Landgericht.» «Deswegen?» fragt Gisa. «Nein, Quatsch», sagt Betz und feixt, er zeigt ihr einen Vogel, «kopulierende Organe der Justiz, alles unter einem heiligen Dach, wie kömmt mir das für?» «Ich habe das Gericht immer für keusch gehalten, keusch und trocken, keinesfalls promiskuitiv.» «Ja, ja, das ist richtig. Küster behauptet auch nur, sie haben es hier gemacht, weil beide verheiratet sind, jeder mit jemand anderem – und sie wissen nicht wohin. Ein Hotel wollten sie sich nicht leisten.» Gisa ist plötzlich ernst und sagt: «Das ist eklig und würdelos, nur damit …» «Aber menschlich», sagt Betz und grinst, öffnet den Mund und spielt mit der Zunge an ihren Schneidezähnen, an denen man kein Blut sieht. Dann streicht er Gisa zärtlich über Haare und Wange, nähert sich ihr dann plötzlich, als wolle er sich in sie hineinkuscheln, und 70
küßt sie. Er geht noch ein wenig in die Knie, zupft dann ihren Rocksaum hoch, und flugs ist er mit einer Hand an dem nylonbedeckten Fleisch ihrer Schenkel. Sie fühlen sich heiß, glatt und synthetisch an. Gisa reißt sich los, zieht den Rock zurecht, streckt ihm die Zunge raus. «Ich kann heut’ nicht», sagt sie leichthin. «Immer noch die Tage?» erkundigt sich Betz und sagt, daß ihm das weiß Gott nichts ausgemacht habe heute nacht. «Nein, ich muß zu meinem Vater», sagt Gisa sachlich. Das flüchtige Verhältnis ist offenbar: kein Grund, die Alltagsplanung umzuwerfen – kein Gefühl, keine Zeit für Flitterwochen.
Montag, Abend Der alte Wormser hat seinen kleinen Ausflugsdampfer an der Mole vertäut. Heute ist kein Geschäft zu machen gewesen, deswegen hat er gar nicht abgelegt und die beiden Matrosen nach Hause geschickt. Schlechtwetter. Gisa betritt die schwankende Holzgangway, sie sieht ihren Vater im Salon sitzen, die Zeitung auf dem Tisch ausgebreitet, neben sich einen Kaffee stehend und das Neue vom Tage ohne Gemütsregung zur Kenntnis nehmend. Als Gisa ihren Trenchcoat abstreift und den Salon betritt, reagiert der alte Wormser nicht auf ihren Gruß und ihr fröhliches Plappern. «Was ist?» fragt sie schließlich. «Du hast gestern nicht abgeschlossen.» «Au Scheiße», sagt Gisa und haut sich mit der flachen Hand vor die Stirn. «Verzeihung, ich war vielleicht ein bißchen voll.» 71
«Warum hast du mich nicht abschließen lassen?» knurrt Wormser. «Weil jemand an Bord war, der auf mich gewartet hat.» «So, so?» brummt der Schiffer. «Eifersüchtiger, alter Kindskopf», lacht Gisa. Sie erhält keine Antwort. Es werde schon keiner das Schiff wegfahren oder die alten Deckstühle klauen, sagt sie – und weggekommen sei nichts, das nur als Beweis. Der Alte hat es sich abgewöhnt, sich gegen seine Tochter zu wehren, er steht auf, geht in die kleine Pantry, sie hört den Kühlschrank knarren. Wormser kommt zurück und kaut auf einem Stück Speck. Er sagt zu seiner Tochter, daß sie nicht mehr sauberzumachen brauche, weil er den Regentag genützt habe, um alles zu polieren. Mit einer Geste verweist er auf blitzendes Messing und spiegelndes Chrom. «Na gut», sagt Gisa leichthin, «nicht böse sein.» «Nein», erwidert Wormser, holt ein Messer aus der Schublade und säbelt an dem Speck herum. «Willst auch was? Aber man muß aufpassen, hörst du? Deswegen muß man abschließen.» «Die Welt ist nicht so schlecht, wie du denkst», sagt Gisa, «alte Männer meinen immer, die Welt wird schlimmer und böser. Aber vielleicht seid ihr selbst vergiftet, in euren Gedanken», Gisa bohrt den Zeigefinger in die Stirn und lacht, «deswegen traut ihr den anderen alles zu.» «Vielleicht», brummt Wormser. «Wer war das gestern?» will er wissen. «Andy Betz, ein Richter.» «Wieder ein Jurist?» Das klingt skeptisch. «Ja, ja, wieder einer. Viel älter als ich, geschieden noch dazu, nix Richtiges, nichts fürs Leben.» 72
«Ich habe schon befürchtet, es wäre wieder was fürs Leben», sagt der Alte amüsiert. Jetzt, wie er seiner Tochter ein Lachen schenkt, sieht man, von wem sie diese Grübchen geerbt hat. Er fährt fort zu lästern: «Hat er wieder so tolle Augen, einfach nur toll?» Gisa nickt mit übertriebenem Eifer. «Oder ist es die Stimme?» «Dieses Mal leider nicht. Heiser, man meint, er müßte hüsteln, und nicht so tief und melodisch wie ein Italiener.» «Oder riecht er gut?» Wieder dieses eifrige Nicken. «Er ist behaart wie ein Tier, dunkel mit silbernen Strähnen. Bloß eine Halbglatze hat er. Aber das macht nichts.» «Wie oft unterläuft dir so was?» fragt der Vater. «Du weißt es, ein- bis zweimal alle drei Jahre.» Von dem benachbarten Schiff an der Anlegestelle hört man aggressives Schlagen. Ein Matrose klopft auf rostigem Blech. Fähnchen, die über die Toppen geflaggt sind, scheinen leidlich trocken zu sein und fliegen schon wieder leicht in einer Brise. Als Gisa wenig später das Schiff verläßt, flackert das Licht an den Laternen auf, die mit hängenden Köpfen die Mole säumen, obwohl der Tag noch nicht erloschen ist. Unter dem Bauch einer schweren Wolke malt die bereits hinter den Bergen versunkene Sonne rote Farbtöne. Vom Wasser her riecht es süß und faulig, ein Schubschiff kommt breit und gewichtig im Strom zu Tal. Gisa folgt dem Kahn mit den Augen, vergleicht damit die Dimension des erbärmlich kleinen Ausflugsdampfers ihres Vaters. Wenn sie das Schiff erben wird, wird sie es verschrotten müssen; die Schiffshypotheken werden abgelöst sein – und der Schrottwert ist ansehnlich, keinesfalls 73
zu verachten. Gisa verscheucht die Gedanken an den Tod und geht zu ihrem Auto.
Montag, Abend Betz steht vor der Wohnungstür seines Hausgenossen Jonason und klingelt vergeblich gegen dröhnende Marschmusik an, die schmetternd überall im Haus zu vernehmen ist. Radetzky-Marsch. Betz erkennt, daß er nur dann eine Chance hat, wenn er exakt den Augenblick zum Klingeln erwischt, den das Wiedergabegerät braucht, um von einem Stück zum anderen zu gelangen. Eine schneidige Musik. Betz ertappt sich dabei, wie er mit dem Knie im Takt wippt. Vorhin, als er nach Hause gekommen war, ist alles still gewesen. Er hat über diesen vergeudeten ersten Tag in seinem einundvierzigsten Lebensjahr gegrübelt, sich geärgert, daß er Gisa nicht treffen kann, herumgewurstelt, ohne aufzuräumen. Der Kühlschrank war leer, wie es sich für einen Junggesellen gehört. Und zu trinken hat er auch nur Orangensaft und Wodka gefunden. Im Kopf war langsam der Herd eines brütenden Schmerzes entstanden. Dann plötzlich diese Musik, dieser Viervierteltakt, der mitreißt und zugleich ärgerlich macht, wenn man nicht mitgerissen werden will. Die perfekten Phrasen! Drei Märsche lang hat er gezaudert, und erst, als wieder nach kurzer verheißungsvoller Pause der Radetzky-Marsch losjubiliert, ist Betz, der gerade vergebens seine Schubladen nach einem Schmerzmittel durchstöbert hat, der Kragen geplatzt. Nun steht er da, konzentriert die Zunge zwischen den Lippen, den Finger auf dem Klingelknopf, und wartet die 74
letzten Takte ab, wie ein Sprinter vor dem Start. Er starrt auf den bröckelnden Lack des Türblatts. Da, das Ende! Eine hallende Stille, in die plötzlich die Klingel bellt. Die Stereoanlage setzt brüllend ihre Arbeit fort. Das Läuten wird verschluckt. Es war nicht vergebens, denn der kleine Jonason klinkt seine Wohnungstür auf und starrt Betz durch eine Brille an, die er sich mit geschlossenen Bügeln vor die Nase hält. Der Kopf liegt schräg, der Mund lacht halb und redet. Man versteht nicht. Betz folgt einladenden Gesten in den mit Nadelfilz belegten Flur und hinein in ein Wohnzimmer, in dem noch der Geruch kalten Zigarettenrauchs sitzt, obwohl hier seit Wochen nicht mehr geraucht worden ist. Zwischen all dem bürgerlichen Plunder, den Lederfauteuils und wuchtigen Vitrinen liegt Verpackungsmaterial aus Pappe und Styropor, liegen Plastikfolien und zerschnittene Haltebänder herum. Und mitten auf dem Tisch mit seiner Spitzendecke erhebt sich schwarz und durchgestylt ein HiFi-Turm, eine ansehnliche Galerie grüner und roter Lichter blitzt, und eine Reihe von Lampen zuckt im Marschrhythmus an einer Skala grün, gelb und rot auf und nieder. Fast genauso groß wie der Turm sind die beiden Boxen, ebenfalls schwarz, denen Betz sich nicht zu nähern traut, weil er meint, sein Trommelfell erleide Schaden. Doch Jonason ist schnell bei der Hand, er hält wieder die Brille vor die Augen, studiert die Schaltborde mit vorgerecktem Kopf, sein Zeigefinger sucht, tippt auf einen Knopf; das hackt die Musik ab. Triumphierend sieht er seinen Hausgenossen an und sagt: «CD, Deutsche Märsche, nicht das geringste Rauschen.» Betz ist sprachlos. 75
«Nicht das geringste», versichert Jonason noch einmal, drückt wieder und setzt damit krachend Pauken, schmetternde Trompeten und Posaunen in Gang, um sie nach wenigen Takten erneut abzuschalten. «Mir brummt der Schädel», sagt Betz und verzieht das Gesicht. «Tablette?» fragt Jonason hilfsbereit. «Ja, und nicht diesen Krach – ich weiß, ich spiele viel zu oft Klavier», räumt er ein. Jonason, schon in die Küche verschwunden, klappert dort mit Schranktüren und ruft, daß es nur ein Test gewesen sei, wegen des Rauschens – und das könne man nicht anders testen als, wie gesagt, laut. «Und Ihr Hund?» «Liebt die Musik, er freut sich immer, wenn Sie Klavier spielen. Aha, da sind sie, die Tabletten. Starke Qualität, ich muß sie auch nehmen. Ich habe ihn in die Toilette getan, für den Fall, daß er unter sich läßt bei dem Lärm, aber so ein Test muß sein», kräht Jonason. Betz hört Wasser laufen, hört ihn dann an einer Tür hantieren, und schließlich erscheint er, das am ganzen Leibe zitternde Pudelchen auf dem Arm, in der rechten Hand ein Glas Wasser, in dem die Tablette aufgelöst ist. «Er hat nicht unter sich gemacht, er hat starke Nerven», sagt Jonason und strahlt. «Ein Hund läßt immer unter sich, wenn er sich fürchtet. Aber nichts im Klo, nichts auf dem Gang.» Betz läßt sich das Glas geben, schwenkt die Flüssigkeit, trinkt sie mit angewidertem Gesicht und hilft dann Jonason beim Aufräumen und bei der Sichtung von Bedienungsanleitungen und Garantiekarte. Unterdessen versucht er zu erklären, weshalb man den Rauschtest nicht bei voller Lautstärke, sondern im Leisen viel günstiger 76
vornehmen kann, und welchen Wert dabei Kopfhörer besitzen – durchaus nicht uneigennützig, wie er auf eine Frage von Jonason ehrlich bekennt. «Dann kaufen wir ein Paar Kopfhörer, und jeder zahlt die Hälfte», schlägt Jonason feixend vor. Betz ist drauf und dran, sich ernsthaft nach dem Preis und der genauen Höhe seiner Beteiligung zu erkundigen, doch dann gackert Jonason, kramt in einer Einkaufstüte, die bisher unbeachtet auf dem Sofa gelegen hat, und zieht triumphierend einen Markenkopfhörer heraus. «Da», sagt er, «alles klar.» «Ja, ja, alles klar», lächelt Betz, und er ist etwas erleichtert, daß er den skurrilen Vorschlag nicht weiter verfolgen muß, den ihm sein Hausgenosse macht. Jonason, der vor Freude über den Besuch umtriebig ist, geht in die Küche, kommt mit einer von der Kälte beschlagenen Bierflasche zurück, die er öffnet und auf den Tisch stellt. Aus der Vitrine holt er Henkelgläser. Betz läßt sich einschenken, trinkt vorsichtig einen Schluck, weil er nicht weiß, wie sich der Alkohol zu seinem Kater und der Tablette verhält. Sie schweigen. Jonason streichelt seinen Hund, der in seinem Schoß kauert und nur noch gelegentlich von einem Zittern geschüttelt wird. Schließlich sagt er leise: «Ich habe den Krach vorhin gebraucht, es war wie Medizin. Sie werden es nicht glauben, aber ich habe mitgesungen, lauthals. Einfach so, lalala, laut, so laut es ging. Singen hilft, du merkst, daß du noch nicht tot bist.» Betz weiß, worauf Jonason anspielt, deshalb sagt er beruhigend: «Sie haben doch alles rausgemacht. Der Krebs ist weg. Die Chemie hat jede Zelle einzeln getötet.» Jonason sagt leise: «Ja.» 77
«Also.» «Nichts also. Es können sich Metastasen bilden, irgendwo in der Brust. Und vorhin, nachdem ich das Ding hier», Jonason zeigt auf den Hi-Fi-Turm, «zusammengebaut hatte, hatte ich ein solches Stechen hier irgendwo in der Brust. Ich habe getastet, geglaubt, daß es schon so weit ist. Man schwitzt vor Schreck, ist wie gelähmt vor Entsetzen. Der Atem geht schwer. Man fingert an sich herum. Doch Gott sei Dank war es nichts, eine alte Narbe, schon längst vergessen. Ich habe es gesehen, als ich im Bad vor dem Spiegel das Hemd heruntergerissen habe.» «Sie machen sich verrückt», sagt Betz. «Natürlich, das macht jeder», sagt Jonason, und sein Gesicht wirkt jetzt entstellt vom Ernst und von der Narbe am Hals. Doch dann ziehen sich die Mundwinkel wieder hinauf. «Ich lache ja schon», sagt er, so als sei es an ihm, Betz zu trösten. Betz schüttelt den Kopf, trinkt sein Bier aus, greift in Jonasons Schoß, um den winzigen Pudelkopf zu streicheln. Er verabschiedet sich und geht. Leise schreitet er durch den Flur und zieht hinter sich vorsichtig die Tür ins Schloß. Er wartet noch einige Augenblicke, dann hört er laut und krächzend die Stimme des Alten, wie er den Radetzky-Marsch mitsingt, den ihm die Stereoanlage über die Kopfhörer zuspielt. Betz’ Kopf hat die Melodie aufgenommen. Während er die Stufen nachdenklich hinaufgeht, pfeift er den Marsch vor sich hin. Er hat die Augen auf die eigenen Fußspitzen geheftet. Behutsam steigt er die letzten Stufen hinauf. Als Kron, der vor der Wohnungstür wartet, sich bewegt, um auf Betz zuzugehen, erschreckt dieser heftig 78
und fährt zusammen. Er fühlt sich bloßgestellt durch diese Reaktion. «Sie?» fragt er eisig. Kron bleibt in einem Abstand von etwa zwei Metern stehen, er hält die Arme hinter dem Rücken verschränkt. «Ja, ich», sagt er, «haben Sie einen Moment Zeit?» «Nein, ich muß weg», sagt Betz. «Es geht um unseren Fall», beharrt der Arzt. «Ich denke mir das. Sie haben morgen früh genügend Gelegenheit, alles Relevante darzulegen, kein Problem.» «Doch», sagt Kron und schweigt. «Es entspricht nicht den Grundsätzen der Fairneß, wenn ich mit einer Partei rede, außerhalb der Sitzung», sagt Betz. «Die Waffengleichheit muß gewahrt bleiben.» Kron schweigt, rührt sich nicht. Seine geröteten Augen starren Betz an. Und Betz überlegt sich, ob er nicht einfach den Professor stehen lassen, die Tür öffnen und diesem vor der Nase zuschlagen soll. «Ich habe Ihnen eben die Hand nicht gegeben», sagt Kron. «Nicht nötig.» «Oh, das ist nicht eine Frage der Höflichkeit gewesen!» «Sondern?» «Es ist eine Frage der Hygiene, Herr Betz.» «Händegeben ist nicht ansteckend», sagt Betz und lächelt spöttisch. «So steht es überall in der Zeitung, so hört man es im Rundfunk, so sieht man es auf der Mattscheibe. Werbespots werden zur Beruhigung gezeigt, daß ja keiner meint, er stecke sich im Schwimmbad an. Was ist, ist es jetzt anders?» Kron zögert einen Augenblick, bevor er sagt, daß es durchaus anders sein könne. Und gerade um diese Möglichkeit gehe es in dem Prozeß. Als das Wort ‹Prozeß› fällt, zuckt Betz wieder zurück. 79
Ja, da hat er sich schon in ein Sachgespräch verwickeln lassen. «Also, bis morgen», sagt er. Er will die Tür aufschließen, Kron tritt einen Schritt vor, seine Stimme wird laut, fordernd: «Ich verrate Ihnen nun ein Geheimnis, Herr Betz, Sie haben auf Ihre Schweigepflicht zu nehmen, was Sie jetzt hören.» «Morgen, ich will nichts wissen.» «Doch», Kron tritt noch näher an Betz heran, fixiert ihn mit den Augen, seine Lippen sind schmal vor Zorn über die Hartnäckigkeit des Richters. Bevor er weiterspricht, sieht er sich um. «Es besteht der Verdacht, daß wir bei dem Patienten Vogel ein mutiertes Virus gefunden haben. Die Tests laufen. Wir analysieren und arbeiten, sichern und systematisieren. Wie gesagt, es darf nicht publik werden. Stellen Sie sich die Panik vor, diese Katastrophe! Und deswegen öffnen Sie die Tür, lassen Sie mich eintreten.» Betz fühlt sich belästigt, überrumpelt, weiß, daß er im Recht ist, wenn er dieses Gespräch ablehnt, doch andererseits bringt er es doch nicht fertig, diesen wie besessen erscheinenden Wissenschaftler einfach vor der Tür stehen zu lassen. Er bittet ihn herein, wenigstens in den Flur, und Kron tritt vorsichtig näher. Die Männer setzen ihr Gespräch in dem weiß getünchten Korridor fort, vor einer Kulisse aus Plakaten, die von türkisfarbenen Stränden, Kathedralen, dem schiefen Turm, Flugzeugen im Abendhimmel und der Arena in Verona künden. «Nun?» fragt Betz. «Ein mutiertes Virus, der kleine böse Bruder des bisher bekannten. Es wird alle Symptome erzeugen, die wir an der Krankheit bisher kennen: Eine Phase scheinbarer Gesundheit nach der Ansteckung, Jahre, doch dann wird 80
das Immunsystem zerstört, der Körper baut ab, der Patient stirbt nach langem Leiden an einer beliebigen Infektion. Schnupfen, Lungenentzündung, Hepatitis, Grippe.» «Und?» «Ja, dieser kleinere Bruder steht im Verdacht, auch durch die Schleimhaut dringen zu können, anders als das große, bisher bekannte Virus. Und noch etwas, fast noch alarmierender: Das neue Virus lebt auch außerhalb des menschlichen Körpers weiter, existiert nicht nur in Blut und Samen. Wir züchten es in Wasser, Urin, Speichel, auf Staubpartikeln. Seine Lebenszone liegt zwischen dem Gefrierpunkt und etwa 40 Grad Celsius. Sogar in eingetrockneten Flüssigkeiten hält es etwa acht oder neun Stunden. Alles, was der Patient Vogel ausscheidet, kann virusverseucht sein. Wir müssen ihn absondern. Vielleicht ist er der einzige Fall. Hoffen wir! Wir haben eine Chance, also nutzen wir sie!» Betz ist nachdenklich geworden, hat, während Kron sprach, fast spielerisch einen Schritt zurück gemacht und auch die Hände auf dem Rücken verborgen. «Gut», sagt er bedächtig. «Und warum tragen Sie das nicht in der Verhandlung vor? Offen und klar?» «Weil es vertraulich bleiben muß, nicht nur das, streng geheim! Im Augenblick wissen von dem konkreten Verdacht nur wenige Personen: Herr Winter, meine Wenigkeit und der Staatssekretär, Herr Schummberger, der mir gesagt hat, daß er ein Kommilitone von Ihnen ist, nicht wahr?» Betz lächelt. «Aha, der Schummberger?» «Er hat den Minister informiert. Man hat die Informationen an die WHO weitergegeben, allerdings nur prophylaktisch. Doch alles geheim. Wir können uns nicht leisten, daß auch nur ein winziges Gerücht durchsickert. 81
Die Folgen einer öffentlichen Panik wären unabsehbar. Nichts rechtfertigt eine Benachrichtigung der Öffentlichkeit im Augenblick …» «Auch nicht Ihre Untersuchungsergebnisse?» fragt Betz lauernd. «Exakt. Sie sehen das Problem», sagt Kron. «Forscher sind es gewohnt, mit Hypothesen umzugehen, leidenschaftslos, fast spielerisch alles auszuprobieren.» Ein seltsames Pathos. «Was ist sicher von dem, was Sie wissen?» fragt Betz. Kron zählt an den Fingern ab wie ein ABC-Schütze. «Das Virus ist kleiner, es überlebt außerhalb des Körpers, und zwar sowohl eingetrocknet als auch in verschiedenen Milieus … Und daraus bilde ich die Hypothese, daß es hochgradig ansteckend ist, sowie, das darf ich ergänzen, daß die Krankheit genauso tödlich verläuft wie die Seuche, die wir bisher kennen.» «Ja, aber auch das ist Hypothese. Frau Wormser, die Anwältin, hat heute mittag in der Verhandlung das Wort ‹Menschenversuche› gebraucht.» «Gut, sollen wir die Menschenversuche machen, damit wir beweisen können, daß das Virus genauso tödlich ist? Auf Ihre Verantwortung, Herr Richter?» Betz schweigt einen Augenblick, verheddert sich mit seinen Händen hinter dem Rücken, schiebt sie schließlich in die Tasche, dann blickt er seinem Gegenüber, dem bulligen, großen Mann ins Gesicht und sagt: «Ich nehme mir die Freiheit, meinen Beruf ernst zu nehmen, Herr Kron. Ich habe hier auf der einen Seite einen Verdacht, wissenschaftliche Hypothesen, erste Untersuchungsergebnisse.» Kron nickt. Betz fährt fort: «Und auf der anderen Seite habe ich die Freiheit dieses jungen Mannes, wir haben 82
bereits darüber gesprochen, Skepsis ist ein veritabler Teil meines Lebens. Es gilt also abzuwägen …» Nun verliert Kron die Fassung, er unterbricht und brüllt: «Was heißt hier abwägen? Das ist das allgemeine Lebensrisiko, das ein solcher Mensch hat, genau so wie Sie und ich. Bei jedem kann sich ein Tumor bilden, jeder kann an den Folgen eines Verkehrsunfalls sterben», und hier überschlägt sich die Stimme des Professors fast, «man kann auch von unserer Justiz besten Wissens und unschuldig ins Gefängnis geworfen werden!» «Ich halte mich gerne an Fakten», sagt Betz kühl. «Ich sehe das doch richtig, daß die Gewalttätigkeit des Betroffenen Vogel nicht der wahre Grund für Ihren Antrag ist?» Kron nickt. «Gut, und zur angeblichen Promiskuität werden wir keine neuen Fakten bekommen?» «Nein.» «Keine Gewalt, keine Promiskuität?» «Nein.» «Also bleibt die wissenschaftliche Hypothese der Ansteckung. Das werden Sie mir morgen in der Verhandlung detailliert erläutern.» «Nein, aus den bekannten Gründen nicht.» Nun verliert Betz die Beherrschung. Noch spricht er mit zusammengebissenen Zähnen: «Sie werden nichts dergleichen morgen in der Verhandlung vortragen, und besonders wichtig: beweisen, glaubhaft machen?» «Nein.» Jetzt brüllt Betz den Professor an, und es ist das erste Mal, soweit er sich erinnern kann, daß er in beruflichen Dingen vollständig die Beherrschung verliert: «Ja, Mann, was glauben Sie, was meinen Sie, wer ich bin? Ich erhalte 83
in der Sitzung nicht den geringsten Beleg für Ihre Behauptungen. Was Sie mir hier erzählen, kann genausogut gelogen sein. Unser Gerichtssystem ist dazu da, die Wahrheit festzustellen, offen und ehrlich; oder jedenfalls das, was man als wahr aufgrund einer Beweislage annehmen kann. Und ich kann doch nicht angeblich geheime Informationen, die Sie mir zuflüstern, zum Anlaß nehmen, diesen Menschen für ein Jahr einzuweisen?» «Es ist Ihre Verantwortung, allein Ihre», sagt Kron schneidend. Er sei sich seiner eigenen Verantwortung sehr wohl bewußt, trotz durchwachter Nacht stehe er hier und versuche, Betz zu überzeugen. Für Sekunden starren sich die Männer an, plustern sich. «Auch wir müssen verurteilen, Herr Betz», sagt Kron eindringlich. «Unser Urteil besteht aus ein paar scheinbar nichtigen Zahlen, doch sie können den Tod bedeuten. Berufung und Revision mag es bei Ihnen geben, bei uns nicht. Es hängt an Ihnen, wie viele Todesurteile wir fällen müssen.»
Montag, später Abend Betz steht am offenen Fenster. Er hat lüften müssen. So als könne ein Hauch des Windes alles wegtragen, was ihn belastet. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, im Schein der Laterne, balancieren zwei Buben, vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt, auf Skateboards, die sie auf und nieder schnappen lassen. Betz hört sie reden, gelegentlich weht ein Lachen herüber. Die Luft wirkt milder, angenehm, wie an einem Frühsommerabend, der noch grau geblieben ist – aber man darf auf den nächsten Tag hoffen. 84
Jonason hat scheinbar auch die Fenster auf. Betz hört deutlich unten das ältliche Stimmchen im Marschtakt singen. Lauthals. Jonason wird dastehen, mitten zwischen den schweren Möbeln, rhythmisch in den Knien wippen, um seine Angst zu überschreien versuchen. Betz lächelt. Wie oft spielt er selbst Klavier, wenn er unsicher ist, ängstlich oder einfach nicht gut drauf. Bei dem Mann mit der roten Narbe geht es um den nahen Tod, mit dem er leben lernen muß. Betz fürchtet sich auch vor seinem ureigenen Tod. Er kann nachfühlen, wie es dem Alten zumute sein wird. Doch begreifen, begreifen kann man so etwas wohl erst richtig, wenn man selbst die Sense am Hals spürt. Deshalb ist die Gefahr der Seuche, die man vor ihm beschworen hat, zu abstrakt, zu theoretisch, um ihn innerlich nachhaltig erschrecken zu können. Ihn hat viel eher das Bild des unter schweren Drogeneinfluß stehenden Bertold Vogel betroffen gemacht, seine nahezu kreatürliche Abhängigkeit von den Männern in Weiß, die ihn leidenschaftslos dirigieren und ihn wohl vollends zum Objekt und Opfer gemacht hätten, hätte nicht der Gesetzgeber, Epidemien von Typhus, Pocken oder Pest vor Augen, ein Regulativ geschaffen, das es den Ärzten verbietet, mit der Freiheit der Patienten umzugehen, wie es beliebt und für notwendig erachtet wird. Seuchen sind archaische Erfahrungen des Menschen; Unfreiheit auch. Der Wille zu leben, der den alten Mann im Erdgeschoß Marschlieder schmettern läßt, ist der enge Verwandte der Freiheit, denkt Betz. Wenn die Freiheit fehlt, geht das Leben vor die Hunde. Betz beobachtet die beiden Knaben, die nun üben, wie man laut und ohne Anlaß rülpsen kann. Knarrend klingt das Geräusch zu Betz empor. Eine Mutter reißt ein Fen85
ster auf, ruft ihren Sprößling, ermahnt den anderen, heimzugehen. Jonasons Gesang verstummt. Irgendwo oben in den dichten Wolken sucht sich ein Passagierjet grölend seine Route. Auf einem Balkon außerhalb des Lichtkreises der Straßenlampen werden scheppernd Bierkisten sortiert. Sonst ist es ruhig. Einzelne gewichtige Regentropfen fallen. Sie sprenkeln den Asphalt und die Autodächer. Es riecht nach feuchtem Staub, Sommer. Dann hört das Tröpfeln wieder auf. Betz zögert, geht zum Telefon auf dem kleinen Tisch, doch er hebt nicht ab, sondern entschließt sich dafür, Jonason aufzusuchen. Er läßt das Licht brennen; denn nach dem schlechten Wetter der letzten Tage drohen keine Schnaken. Er geht hinaus und hinunter vor die Tür, klingelt und erwartet noch nicht einmal, daß man ihn hört, weil er glaubt, daß Jonason die Kopfhörer übergestülpt hat. Jonason öffnet sofort, als habe er auf Betz gewartet. Er steht hinter der Tür, bleich, mit einer Hand sich an der Mauer abstützend, die Augen niedergeschlagen. An seinen Füßen der Pudel. Das Tier kläfft. «Was ist?» fragt Betz erschrocken. Jonason antwortet nicht, er schüttelt nur ein wenig den Kopf. Betz sieht, daß er nach Luft ringt. Er nimmt ihn, packt ihn unter den Achseln und zerrt ihn in das Schlafzimmer, wo er ihn auf ein ungemachtes Bett legt, die Füße hoch, den Kopf flach. Doch das ist falsch, der Patient gurgelt, also probiert es Betz andersherum und stopft ihm Kissen und Decke unter die Schultern. Langsam erholt sich Jonason. Sein Blick wird klarer. Das verzogene Gesicht lächelt ein wenig. Das Lächeln bricht schnell ab. «Das Herz», flüstert Jonason leise. «Das käme nämlich noch dazu, damit alles perfekt ist. Dort drüben, die Ta86
bletten», seine etwas krallenartig verbogenen Finger scharren am Nachttisch. Betz reagiert und zieht die Schublade auf. «Ja, da», hüstelt Jonason. Erstaunt holt Betz einen etwa aktendeckelgroßen Plastikkasten hervor, in dem einzelne würfelförmige Behältnisse eingelassen sind, durchnumeriert von eins bis einunddreißig. «Meine Pillen», sagt Jonason. Mit seinem Zeigefinger klopft er auf drei fast leere Abteilungen, in denen jeweils zwei grüne Perlen kugeln. Über die Hälfte der Behältnisse ist prall gefüllt mit vielerlei Dragees. «Das alles nehme ich an einem Tag, damit ich dem Tod noch einmal von der Schippe springen kann», flüstert er. «Und weil es mir gut gegangen ist, habe ich diese drei Tage die Herztabletten weggelassen. Sie haben gefährliche Nebenwirkungen.» Mit den Fingern schnickt er die Plastikabdeckung weg und nimmt die grünen Perlen, alle sechs gleichzeitig. Er lehnt sich zurück, starrt an die Decke, die ein Wasserfleck verunstaltet, der fast die Form Afrikas auf der Landkarte hat. Betz ist aufgestanden, er betrachtet diesen kleinen Mann auf dem Bett, elegant in verrutschter Klubjacke mit Tüchlein, Gabardinehosen und schwarzen Schuhen. Leidenschaftsloses Abtasten mit dem Blick. Betz versucht, sich in dieser Gestalt zu erkennen. Doch das gelingt nicht. Mitleid, Furcht um den anderen durchfließen ihn. Etwa eine Viertelstunde später ist Jonason wieder einigermaßen zu Kräften gekommen, so daß er seine Schuhe ausziehen und fortschnicken kann und den Schlips lösen. Er atmet freier. «Es ist gut, daß Sie nicht den Notarzt gerufen haben, denn es ist noch nicht soweit gewesen», sagt er tapfer. «An den Notarzt habe ich gar nicht gedacht», gesteht Betz. 87
Der Alte schüttelt den Kopf. «Der kommt früh genug.» «Ich wollte nur nach Ihnen sehen.» Ein kleines Gelächter. «Es ist ein eigentümliches Gefühl, wenn man sich wieder so, so … hochlebt. Von Null auf vierzig, wenn Sie verstehen. Da hat man wieder eine kleine Energie. Man glaubt wieder, daß es weitergeht. Herr Amtsgerichtsrat, Sie sind jetzt vierzig, warten Sie nicht, bis es bei ihnen soweit ist. Es lohnt sich nicht, auf so was zu warten. Wenn Sie saufen wollen, dann saufen Sie. Und wenn sie ein Weib brauchen, dann gehen Sie um die Ecke und nehmen sich eins. Machen sie alles so oft, daß Sie sich später nicht einmal an Einzelheiten erinnern. Es ist gut, wenn man alles durcheinanderbringt. Dann war es was wert.» Ein meckerndes Gelächter hallt durch das Schlafzimmer. Betz wird aufgerüttelt, er bemerkt, wie muffig es riecht. Kein Wunder, ein feuchter Schirm lehnt zusammengeklappt unter dem Fenster. Das Bett ist durcheinandergeworfen. Leere Schnapsgläser, klein, nur gut für einen Schluck, stehen verklebt auf der Anrichte und den beiden Nachttischen. In der Schale der gelblichen Lampe liegen tote Fliegen. Der kleine Hund ruht nun auf seiner Decke neben dem Schrank und betrachtet die Szene befremdet. Betz bettet den Alten noch einmal. Jonason ist schon wieder beweglicher. «Hauen Sie ab, Herr Amtsgerichtsrat», sagt der Alte und hustet und ringt nach Luft, weil er versucht hat aufzustehen, «gehen Sie und tun Sie etwas für Ihr Konto in punkto Leben.»
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Montag, Nacht Ein Schwall warmer Luft weht durch die schräg gestellten Dachflächenfenster herein. Die Blätter der jungen Birke, die sich tagsüber unter den Scheiben sonnt, wippen und zittern. Es scheint, als schicke sich das Wetter an umzuschlagen. Die weiche Luft riecht nach dem nahen Hafen, nach Teer und dem flüchtigen süßlichen Duft des Flußwassers. In dem kleinen Zimmer verbreitet eine Stehlampe mit strengem, weißem Schirm ein freundliches, sommerlich wirkendes Licht, das nicht bis in die Ecken vordringt, seinen Schein nur auf ein niedriges Bett verstreut. Es ist breit, bietet genügend Platz für den Schlaf und die Liebe. Betz kennt es im kühlen Morgenlicht und aus einer finsteren Nacht. An den Wänden, soweit sie nicht schräg sind, stehen Regale, beladen mit Büchern, meist schmale Bändchen, und Krimskrams aus Beständen ehemaliger Fluß- und Seeschiffereien. An der Wand gegenüber lehnt ein Mahagoni-Sekretär, alt und zierlich, der vielleicht einmal eine Steuermanns- oder Kapitänskajüte geschmückt haben mag. In die weiche Luft mischt sich ein zärtliches Liebeslied. Mel Tormé singt «It’s a blue world», eine Big Band swingt behutsam dazu und läßt gelegentlich ein wenig Raum für Streicher. Andreas Betz kniet am Ende der Matratze, die Füße auf dem Boden. Er ist nackt. Sein Kinn hat er auf die Brust sinken lassen und starrt über seine behaarte Brust hinunter auf seinen Schwanz, der im Rhythmus des Pulses nickt und durchaus verlockend prall und steif steht. Die Eichel ist rot und glatt. Betz nimmt sie in die Hand und drückt sie wie die Hand eines guten Freundes. Es ist Gisa, die ihn so erregt. Kaum wenige Finger breit vor seinem erigierten Glied befindet sich ihre Scham, 89
rötlichblond behaart, darunter fast ungeschützt wirkend, aber mit geschlossenen Lippen. Gisa hat die Schenkel weit auseinandergespreizt, nun hebt sie die Beine langsam und legt sie behutsam um seine Hüften. Betz schließt die Augen, er läßt den Kopf in den Nacken kippen und registriert, daß die Geigen von «It’s a blue world» ausklingen. Für wenige Sekunden gewinnen die fernen Geräusche auf der Straße an Bedeutung. Motoren, Hupen. Dann Stille. Birkenblättergesäusel. Betz ist für Augenblicke von diesen Eindrücken abgelenkt. «The Lady is a Tramp» beginnt. Andreas kneift die Augen zu und kratzt sich am Kopf, dann streicht er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und schaut die nackte Frau vor sich an, die für ihn die Tramp-Lady dieser Nacht sein wird. Mel Tormé singt «She loves the free fresh wind in her hair, life without care». All das traut er seiner neuen Freundin zu, die er in diesem Moment bewundert, ja verehrt, sie auf Händen tragen, sie heiraten möchte, ja, weiß der Teufel, was sonst noch, was einem Mann halt so durch den Kopf geht, wenn er, steifen Schwanzes, vor einem Weib kniet, die sich ihm noch nicht ganz eröffnet hat. Das Now or Never-Gefühl: Nur noch reinstecken und rammeln, bis es kommt. Er streichelt sie, sie öffnet sich. Gisa steckt für Betz voller Überraschungen. Er war gekommen, sie zu nehmen. Nach dem unerquicklichen Gespräch mit Kron hat er angerufen und gehört, daß sie zu Hause ist. Also ist er aufgebrochen. Er hat sie an der Tür mit einem Blumenstrauß und einer Flasche Wein in der Hand überrumpelt, ihre Lippen mit seiner Zunge durchbohrt, ist auf gieriges Verlangen gestoßen. Sie hat ihm die Kleider heruntergerissen, daß sogar Knöpfe vom Hemd flogen. Er hat sie gepackt, hochgehoben, atemlos in den küssenden Mund gefragt, 90
ob das mit den Tagen vorbei sei, hat sie hinübergetragen, sich auf das Bett geworfen und sie auf seine Brust genommen. Auf einmal hat sie mit ganz normaler Stimme gesagt, daß sie noch nicht feucht sei, sorry! Das hat Betz irritiert, weil es so sachlich und unleidenschaftlich herausgekommen war, rein technisch. Gisa, die seine Verwirrung bemerkt hat, hat wieder dieses glucksende Lachen von sich gegeben, das nicht geeignet war, ihn sicherer werden zu lassen, und dann hat sie seinen Kopf genommen und ihn sanft, aber nicht ohne Autorität über ihre kleinen Brüste, an denen er ein wenig züngelte, am Nabel vorbei zu ihrer Spalte dirigiert. Betz hat sich mit Mund und Nase abgewendet und seine Wange in das warme, eben noch nicht richtig feuchte Nest gekuschelt und, einen herzförmigen Leberfleck auf der Innenseite ihres Oberschenkels vor Augen, gewartet, daß Gisa wieder lache. Nun liegt er da und wartet. Er hat es noch nie einer Frau, die ihre Periode hat, mit der Zunge gemacht. Er überrascht sich zudem bei einer unbestimmten Zurückhaltung vor Blut, die nichts mit dieser bevorstehenden Premiere zu tun hat. Er küßt voller Inbrunst die weiche Haut an der Innenseite des Oberschenkels in der Gegend des Leberflecks. Er beißt ein wenig, saugt sich fest, weiß, daß nun ein Knutschfleck entstehen wird. Mit einer gewissen kleinen Lust zieht er an der Haut, bis seine Zunge und das Zahnfleisch im Vakuum prickeln. Genauso wird es sich auf ihrer Haut angefühlt haben. Dann schnellt er hoch, kniet sich vor die offen daliegende nackte, weißhäutige Frau. Die Vorhaut seines abgesackten Schwanzes zieht er zurück, knetet ihn, und Gisa sieht ihm dabei zu. Er preßt die Beine zusammen, das Blut füllt leidlich den Penis. 91
Erst jetzt lacht Gisa wieder. Sie streckt sich und bekennt: «Ich bin sauber.» Und dann leise: «Ich selbst kann die Blutsauerei nicht leiden. Du erinnerst dich, ich hab’ es dir gesagt.» Erleichtert, dem weichen Trommeln ihrer Fersen auf seinem Rücken gehorchend, läßt sich Betz auf Gisa fallen, federt sich mit den Armen ab und gräbt den Kopf in ihre Achselbeuge, während sein Schwanz im Gebüsch der hellen Haare herumstöbert. Sie küssen sich und küssen sich. Andreas rollt sich auf die Seite, sie bekommt seine Männlichkeit zu fassen und zieht ihn burschikos zu sich heran, verschlingt, verschluckt den Schwanz wie in einem Überfall. Im Mund ist es heiß und weich, bis tief hinunter in die Kehle. Betz stößt ein oder zweimal, und Gisa speit ihn aus und nimmt ihn wieder an, dieses Mal gelassener. Er wiederum stürzt sich mit vorgespielter Gier über ihre Scham, deren Lippen er mit einem kennerischen Griff von Zeige- und Mittelfinger spaltet, mit einem schnellen Blick prüft und systematisch ausleckt, so daß die Härchen am Rande, zunächst noch strohig, feucht und biegsam werden. Ihr Kitzler wacht auf, gewinnt an Größe, wird prall unter der Liebkosung, und da Betz zu den Menschen gehört, die ihre Zunge zu einem Röllchen formen können, spürt er damit, als vorläufigen Ersatz des Schwanzes, ihr Loch auf, schlüpft hinein und zappelt ein wenig darin herum. Der süßliche, recht angenehme, für Betz aber doch ein wenig penetrante Geruch der Scheidenflüssigkeit reizt seine Nase. Seine Bemühungen haben Erfolg. Am anderen Ende seines Körpers spürt er die sachkundige Behandlung durch seine Tramp-Lady. Kopf, Zunge und Schwanz sind aber noch keineswegs eine Einheit. Trotzdem bekommt er ein viriles, prächtig 92
pralles Gefühl, das ihn dazu veranlaßt, sich wieder herumzuwerfen, um die Geliebte, die er in Fahrt wähnt, ordentlich zu begatten. Gisa hebt die Beine in die Höhe, hilft ihm mit der Hand in ihr Loch. Und Andreas Betz hört Glocken läuten und Engel singen, wie er nun, ihren erhitzten Körper, die Brustwarzen hart wie kleine Gummistöpsel unter sich, den weichen Schoß weit offen, wie verrückt losrammelt. Doch da wirft ihn Gisa ab wie ein Wildpferd den ersten Reiter, dreht sich unter ihm auf die Seite und erhebt sich dann auf alle viere, ihm ihre Rückseite entgegenstrekkend, die Beine wieder gespreizt. Die orangeblonden Haare pinseln dazwischen hervor, rosa leuchtet das Fleisch ihrer Schamlippen. Sie hat sich Kissen unter die Brust geschoben, den Oberkörper angeschmiegt ans Bett, den Kopf auf die Seite gewendet. Ihre Augen sind geschlossen, der Mund halb geöffnet, und ihre weiche und große Unterlippe trägt die feuchtglänzende Zunge. Aus den zerzausten Haaren stehen ein wenig ihre abstehenden Ohren hervor, doch Betz hat keinen Blick dafür. Er nähert sich ihr wieder an jener Stelle, die sie ihm im sommerlichen Licht der Stehlampe präsentiert. Mit der flachen linken Hand tastet er ihr vorsichtig zwischen die Beine, spürt die kräuselnden Haare, streichelt ihre offene und jetzt sogar glitschige Weiblichkeit, die rechte Hand wandert über Hüfte und Taille, zart und sanft hinauf zu den kleinen Brüsten, die, der Gravitation gehorchend, spitz hinunter auf den Bettbezug zeigen und leise bei der Berührung von Andreas’ Hand zittern. Er muß sich ein bißchen abmühen, bis er wieder Zugang zu ihr findet, weil sich sein Schwanz biegt und windet, obwohl alles bereit zu sein scheint und sein Meister, der ja sportlich und durchtrainiert wirkt, mit kraftvollen Stößen nach93
hilft. Doch endlich spürt er das weiche Gleiten, fühlt, wie Gisas Geschlecht ihn umfängt, ihn förmlich anzusaugen scheint. Jetzt ist es mit seiner Fassung endgültig vorbei, er packt ihre Oberschenkel unterhalb der Hüften, zieht sie zu sich heran und beginnt einen Trommelwirbel auf ihr Becken loszulassen, der sich wollüstig auf sie überträgt. Sie fängt an zu keuchen und zu schreien. Betz ist still. Er hat die Augen geschlossen, den Mund geöffnet, die Nasenflügel beben. Die Platte spielt «Lou Lou’s Back in Town», dort wie hier Finale. Der Rhythmus des scharf akzentuierten Swing tanzt Betz im Kopf herum, vor seinen Augen rieselt Gries, bald darauf buntes Konfetti. Durch diesen Schleier nimmt er wahr, wie Gisa ihre Arme ausstreckt, mit den Fingern einer Hand am Eingang ihrer Scheide seinen heftig auf und nieder zuckenden Schwanz massiert, mit der anderen Hand ihren pulsierenden Kitzler wärmt und reibt. Ihre Vagina zieht sich zusammen, Gisa macht ein Hohlkreuz, rückt mit den Beinen noch ein wenig weiter auseinander, sie stöhnt und schreit, dann ist es für sie vorbei, ihre Seufzer erlöschen. Betz, wieder irritiert, macht weiter. Doch die Augen finden auf dem langgestreckten Rücken keine Reizsignale. Die Musik ist verklungen, die Elektronik des Plattenspielers fährt knackend ihr Schlußritual. Damit der Konfettischauer vor den Augen nicht verfliegt, schließt er die Augen. Seine Lenden haben den Rhythmus eines Dauerläufers gefunden. Er spürt, wie der Schwanz an Kraft verliert, er legt zu, ein wenig spurtend, Gisa ist still, drängt sich ihm nicht mehr aus Leidenschaft, nur einfach aus Freundschaft, Liebe, Kameraderie vielleicht, entgegen. Er reproduziert hinter seinen geschlossenen Lidern Bild und Gefühl der vor ihm liegenden Gisa. Da dreht sich die Frau, als hätte sie es geahnt, 94
mit einem hohen Schwung ihres einen Beines, das ihm am Kopf vorbeischrammt, auf den Rücken, zieht ihn mütterlich an sich, hebt wieder die Schenkel, so daß er tief in sie eindringen kann. Er küßt sie, und siehe da, es geht, das Gefühl, jetzt nichts tun zu müssen außer rammeln und stoßen, dieses alles verdrängende Muß bemächtigt sich seines Hirns und seines Körpers. Bevor der schrille Orgasmus unter der Bauchdecke zu zucken und zu zappeln beginnt, reißt er sich los von seiner Freundin und ergießt sich unweit der Stelle, die er mit einem beachtlichen Knutschfleck markiert hat, auf ihren linken Oberschenkel, vor Lust und auch Erleichterung seufzend. Sie liegen lange beieinander, schweigend, hechelnd, schwitzend. Gisa hält ihn zärtlich in den Armen, spürt seine Haut und die vielen Haare auf Bauch und Brust, diesen störrischen, beim Atmen ein wenig knisternden Bewuchs. Sein Sperma auf ihren Schenkeln kühlt ab, wirkt nun feucht und glitschig. Sie küssen sich, aber die Hände tun nicht viel. Sie spüren die Haut, spüren die Haare, spüren Puls und Wärme. Wenn einer schluckt, schluckt der andere. Zwischen den Geruch des Hafens mischt sich der Duft frischer Liebe. Die warme Luft dringt nun von außen ungestümer herein, die kleine Birke macht Verbeugungen und winkt mit den Blättern. Der Regen ist verscheucht. Im Strom, unsichtbar von hier oben, tuckert ein Frachter, die Geräusche der Straße sind abgeebbt. Gelegentlich knackt es in den Lautsprechern der Stereoanlage. Andreas ist wieder zu Atem gekommen, er löst sich aus der Umarmung, wirft sich auf den Rücken und hangelt mit den Füßen seine Hose heran, aus deren Tasche er ein paar Tempos zieht. Er nimmt eines, faltet es ausein95
ander, es scheint, als wolle er wie ein Fensterputzer sich an das Mädchen machen. Doch die schubst ihn zurück, lacht wieder mit gekräuselter Nase und beginnt, mit der flachen rechten Hand seinen Samen auf der Haut einzumassieren, wie eine Sonnenmilch. «Ich schlaf so gut, wenn ich nach einem Mann rieche. Warum hast du ihn wieder rausgezogen? Es kann heute nichts passieren, das weißt du.» Betz hat sich auf die Seite gelegt, starrt sie an, er zeichnet mit dem Finger ihr Profil nach, hält an ihrer Unterlippe an, die er streichelt, bevor er die Grübchen seitlich am Mund besucht. Er lächelt, er antwortet nicht. «Warum?» fragt Gisa. Betz schließt die Augen, atmet durch die Nase. Er spricht leise: «Dieser Fall, heute mittag, das irritiert mich irgendwie.» «Warum?» «Ich weiß nicht, hast du schon mal einen Test gemacht?» Gisa schüttelt den Kopf. «Ich auch nicht, das ist auch nicht nötig nach allem, was man da oben drin», Betz tippt mit dem Zeigefinger an die Schläfe, «alles, was man da rational erfassen kann …» Er grübelt kurz, dann setzt er hinzu: «Ich habe Verhältnisse gehabt. Verheiratete Frauen. Eine Kollegin.» «Wer?» fragt Gisa. Betz fährt fort, ohne zu antworten: «Eine Frau, die ich beim Sport kennengelernt habe, und eine Zufallsbekanntschaft. Doch man fragt sich immer, was macht der Mann von so einer Frau. Sie selbst mag ja sauber sein, ich weiß nicht …, aber wenn der Mann in ein Bordell geht oder wenn er sich eine Drogensüchtige auf der Straße greift, da kann er sich was holen.» 96
Betz wirkt plötzlich rational, abwägend: «Ich ziehe ihn lieber raus, als daß ich mich testen lasse», er lacht unsicher, legt sich auf den Rücken und starrt an die Decke. «Ich weiß, ich spinne», sagt er. «Ich habe manchmal Angst, daß ich krank bin, unheilbar krank. Da war zum Beispiel einmal ein Knoten unter dem Arm, hart und derb hat sich das Ding angefühlt. Es war eine Fettgeschwulst, und ich habe befürchtet, es sei Krebs. Dieser Kampf, bis ich überhaupt zu einem Arzt gegangen bin, weil ich die Wahrheit fürchte, die Wahrheit über meinen Körper. Was heißt eigentlich Wahrheit? Es gibt für mich zweierlei. Eigentlich lebe ich in meinem Hirn. Und der Körper ist wie ein Trägerschiff. Wenn ich Sport treibe, laufe, den Rhythmus gefunden habe, auf Steigungen und Gefälle präzise reagiere, wie es meiner Erfahrung entspricht, oder wenn ich rudere, gegen den Strom, gut im Rhythmus, dann sind wir fast eins: Ich fühle mich wie er, er sich vielleicht wie ich. Und oft denke ich auch gar nicht an ihn, dann ist es ähnlich. Oft bin ich aber unsicher, in einer Opposition zu ihm. Und wenn es irgendwo Unregelmäßigkeiten gibt, gerate ich in Panik. Ich kontrolliere den Stuhlgang, seine Farbe, seine Konsistenz. Ich kontrolliere die Bindehäute in den Augen. Ich taste meine Eier ab, ich befühle den Bauch, ich höre auf meine Stimme, ob sie heiser klingt.» Betz lächelt, er wirkt verlegen. «Es ist wie ein Programm. Ein feststehendes Ritual. Und immer mehr Kontrollmechanismen kommen mit der Zeit hinzu. Mit meinen Methoden fühle ich mich sicher. Was anderes ist das, was der Arzt sagt. Das eine bin ich, das andere sind Fremde.»
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Dienstag, Vormittag Um diese Zeit ist das Amtsgericht wieder dabei, geschäftig Fall um Fall abzuarbeiten, selten zur Befriedigung der Beteiligten; denn es werden viele Vergleiche geschlossen, schnell zurechtgezimmerte Abkommen, die den Streit erledigen und die Parteien mit dem unguten Gefühl zurücklassen, sie hätten neben den Gebühren für Gericht und Anwalt auch in der Sache zu viel zugesetzt. Wieder ist dieser Basar des Rechts aufgezogen, hallen die Mikrofonstimmen der Richter durch die Flure, wieder dieser Geruch, in dem eine schweißige Note steckt. Jeder Tag gleicht hier dem anderen. Auch wenn draußen, so wie heute, die Sonne ein wenig durch die Wolken schaut und das Wetter noch nicht einmal so trist wirkt. Nur wenige Juristen bemerken den außergewöhnlichen Besuch. Die schwarze Dienstlimousine hat nicht vor dem Gericht gehalten. Schummberger ist einen Block weiter ausgestiegen und wie Herr Jedermann in das Amtsgericht gegangen, hat höflich den einen oder anderen gegrüßt, der ihn verblüfft erkannte, und ist schnell hinauf zu Betzens Dienstzimmer gestiegen. Er kennt sich hier aus, der Staatssekretär; hier war er Referendar, sogar ein dreiviertel Jahr Amtsrichter wie die Kollegen, die hier entscheiden, was recht und billig ist. Hier ist alles beim alten geblieben, nicht weil es für gut befunden wird, sondern weil die Justizverwaltung kein Geld für Renovierungen besitzt. Schummberger kann nicht anders, er bemerkt geschäftsmäßig die Mängel an Fußbodenbelag und Farbe, die abgestoßenen Türen. Er ist voller gespannter Aufmerksamkeit. Wann hat schon ein Staatssekretär die Zeit, in ein altes Amtsgericht zu gehen? Vor der Tür des Amtsrichters Andreas Betz hält 98
Schummberger, er wartet kurz, dann klopft er höflich. Drinnen hebt Betz den Kopf. Er studiert einen anderen Fall, denn für den Termin heute morgen ist er hinreichend präpariert. Die Tür öffnet sich, Schummberger tritt ein. Er ist ein sehr großer Mann, der schlank und elegant aussieht in seinem modisch verknautschten Trenchcoat. Seine dichten dunkelblonden Haare und der durchaus stattliche Schnauzstorz verleihen seinen Zügen etwas Verbindliches. Schummberger hebt die Arme, breitet sie aus. Zuerst läßt er den Unterkiefer fallen, dann zieht er den Mund zu einem Lachen auseinander. Zwei Reihen erstaunlich winziger Zähne werden sichtbar. «Wie, Alter?» fragt der Staatssekretär den Amtsrichter in einem Ton fröhlicher Kumpanei. Mit der Ferse tritt er an die Tür, die ins Schloß fällt. Die beiden Männer sind alleine. Verblüffung zeichnet das Gesicht von Andreas Betz. Er klappt die Akte zu, wirft sie mit einem Schwung auf den Bock neben dem Schreibtisch, steht auf, tritt dann zwei, drei Schritte zur Seite, während Schummberger auf ihn zukommt, seine rechte Hand nimmt, sie heftig schüttelt und ihm zum Geburtstag gratuliert. Wie lange er’s denn noch machen will, rein beruflich, fragt der Staatssekretär den Richter, packt ihn an den Schultern und schiebt ihn ein wenig nach hinten, so daß er auf der Kante des Schreibtischs zu sitzen kommt. Dabei tätschelt er Betz die Glatze. Erstaunlicherweise löst diese sehr vertrauliche Geste bei Andreas keine Aversion aus, er schließt die Augen, wackelt mit dem Kopf und sagt mit einem müden Grinsen: «Jetzt ist es ein Osterei geworden, inzwischen.» «Au weia, Frau Maya», sagt der Staatssekretär mit gespieltem Bedauern. In diesem Augenblick trifft ihn ein 99
gerader, kurzer Boxhieb in den Bauch, was durchaus schmerzt. «Man zieht die Leute nicht mit ihren Macken auf, das gilt besonders für Behinderte, geistig wie körperlich, und so», sagt Betz grinsend, dann wird er ernst: «Wie geht’s, du Karrierist?» «Den Umständen entsprechend.» «Und, die Umstände sind gut?» fragt Betz. Schummberger nickt, der Schnauzbart an den Mundenden zipfelt jedoch nach unten, und aus dem Nicken wird ein fast verschämtes Kopfschütteln. Der Staatssekretär nimmt Andreas Betz in den Arm, wie man es bei Buben auf der Straße sehen kann. «Ich weiß, daß ich mich habe nicht mehr blicken lassen, seit ich den neuen Job habe. Ich bin nicht mehr zum Rudern gekommen, noch nicht einmal sonntags nach Hause zum Kaffeetrinken. Meine Frau ist mir fortgelaufen, und sie hat recht gehabt. Und ich beklage mich nicht mal darüber.» Schummberger hält ein, preßt die Lippen zusammen und starrt seinen Kumpanen an, der ihm schweigend zuhört. «Und jetzt kannst du sagen, daß ich hier nichts zu suchen habe, eine treulose Tomate, klar.» Schummberger läßt die Schultern seines Kumpels fahren, tritt einen Schritt zurück, zupft die Aufschläge seines Trench zurecht und sagt nach einer Pause, daß er auch nicht privat hier sei, sondern dienstlich, wegen dem Fall, den Betz gleich verhandele. «Hab’ ich mir gedacht», brummt Betz, verschränkt die Arme und die Beine. Eine Geste der Abwehr. Er ist nun genauso ernst wie Schummberger. «Was gibt es in dieser Sache Neues?» fragt der Richter. «Nichts, was heute nacht nicht schon bekannt gewesen 100
wäre, als du mit Kron gesprochen hast. So schnell geht die Forschung dann auch wieder nicht. Gentechnische Analysen laufen, die Vermutungen kennst du.» «Vermutungen», sagt Betz. «Okay, ich weiß, das ist genau das Problem.» Schummberger beginnt, hin und her zu wandern. Er berichtet, daß er veranlaßt habe, daß die Familie Vogel, Vater, Mutter, zwei Brüder und eine Schwester, zu einem Zwangstest vorgeführt werden. «Sie alle leben zusammen in einer großen Wohnung, das mußte also auch noch passieren, gleich fünf Menschen!» «Ergebnisse?» fragt Betz. Achselzucken. «Wir haben im Augenblick nur die Mutter. Die Tochter ist mit ihrem Freund auf einer kurzen Urlaubsreise, die beiden Söhne arbeiten als Aushilfen auf dem Rummelplatz, sie sind bis vor einer Stunde noch nicht nach Hause gekommen. Den Vater werden wir nach der Frühschicht vor der Fabrik antreffen – hoffen wir.» Jetzt tritt Schummberger an Betz heran, greift nach seinem Ellenbogen, schüttelt ihn leicht und sagt beschwörend: «Wir müssen diesen Jungen vorerst aus dem Verkehr nehmen.» Betz macht sich los, geht instinktiv der Ausstrahlung des Staatssekretärs aus dem Weg, setzt sich auf seinen Stuhl, verharrt mit durchgedrücktem Rücken. «Ein Jahr habt ihr beantragt, ein Jahr, das ist ein Drittel oder ein Viertel der Lebensspanne, die dem armen Kerl noch bleibt. Es ist das Höchstmaß dessen, was das Gesetz überhaupt zuläßt.» Schummberger dreht sich ein wenig um, spricht gegen die Wand, macht einen leicht entnervten Eindruck, als er sagt: 101
«Okay, okay, das muß sein. Wir müssen Zeit haben zu experimentieren. Alle Risiken müssen ausgeschlossen sein. Verstehst du das nicht? So was ist doch allgemeines Lebensrisiko», er dreht sich herum und kommt auf den Schreibtisch zu, stützt sich mit den Fäusten auf die Platte und starrt den Richter an. «Ich habe alles veranlaßt, einen Stab gebildet. Das Kabinett ist informiert. Größte Vertraulichkeit! Du mußt uns helfen, Andreas!» Betz schweigt, er wirft Schummberger einen zweifelnden Blick zu, dann zieht er langsam die Akte Vogel zu sich herüber, ein schmales Dossier, er blättert darin, dann haut er plötzlich krachend mit der flachen Hand auf den Schriftsatz des Gesundheitsamts. Er spricht leise: «Es fehlt jeder konkrete Nachweis über die wirklichen Ansteckungswege, die Infektionsgefahr. Doch das Gesetz – mit Verlaub, Euer Gnaden, du selbst produzierst ja permanent Gesetze und weißt deshalb, was das ist – das Gesetz verlangt einen konkreten, nota bene, konkreten Nachweis der Gesundheitsgefahr für die Öffentlichkeit, wenn jemand abgesondert werden soll. Ich kann eine richterliche Entscheidung nicht nur an unbeweislichen Vermutungen orientieren – dir muß ich das doch nicht sagen!» Schummberger spricht beschwörend, fast wie mit einem unwilligen Kind: «Diese Krankheit geht nicht weg wie eine Grippe. Sie frißt die Kraft der Menschen auf, tötet jeden, den sie erwischt, ohne daß die Medizin wirklich etwas dagegen tun könnte. Wir investieren Milliarden, ohne konkreten Erfolg. An uns hängt es nicht. Und jetzt dieser Betriebsunfall der Natur.» «Das ist doch alles politisch. Ich entscheide einen Fall, mehr nicht.» «Ach ja.» Das klingt fast hämisch. «Der Kommilitone 102
Betz, der früher hinter allem und jedem die politischen Implikationen sah, trennt säuberlich Politik und Recht. Begreifst du nicht, was wir uns vorwerfen lassen müssen, wenn wir wegen sturer Paragraphenreiterei eine Epidemie auslösen, die verhindert werden könnte?» Betz spürt, daß er wütend wird, er ist geübt, sich zu beherrschen, er schluckt zweimal, bevor er sagt: «Natürlich hat jeder juristische Fall seine politische Dimension. Trotzdem ist es ein Unterschied, ob ich eine politische Entscheidung treffe oder mit einem Fall befaßt bin. Die Politik betrifft alle, der Fall einen.» Nun springt Betz auf, daß der Stuhl beinahe umfällt, und gestikuliert voller Leidenschaft: «Und dieser eine Fall, der junge Kerl hier, der hat, verdammt nochmal, einen Anspruch darauf, daß ich mir die Sache nicht einfach mache, daß ich überlege und abwäge. Du hast doch schon fast eine Paranoia! Es wird keine Schutzhaft verhängt, jedenfalls bei mir nicht, nicht in meinem kleinen beschissenen Stadtgerichtsdezernat.» Schummberger tritt zurück, er geht ans Fenster, versucht, sich auch zu beruhigen. Die fahle Sonne ist im Dunst höher gestiegen, sie spiegelt sich in den Autodächern. Schräg gegenüber an einem öffentlichen Gebäude hängt die Bundesflagge schlaff herab, schwarz rot gold. Windstille. Der Verkehr läuft in ruhigen Bahnen. Schummberger spricht, ohne Betz anzusehen, mit leidenschaftsloser Stimme: «Uns bleibt keine Wahl, außer die armen Teufel, die sich angesteckt haben, von den gesunden Menschen zu isolieren. Wir müssen aufteilen in eine gesunde und eine kranke Welt.» Betz erwidert in dem gleichen ruhigen Ton: «Ich teile die Welt nicht auf, so vermessen bin ich nicht. Und du 103
redest schon von Fällen, bevor du überhaupt weißt, ob der einzige Fall, den ihr gentechnisch bestimmt habt, überhaupt wirklich ansteckend ist.» Schummberger rührt sich nicht, hebt nicht die Stimme: «Forderst du Beweise aus Menschenversuchen?» «So einfach ist das nicht, Klaus. Prävention ist Sache der Polizei, nicht des Gerichts. Verzeihung, Kommilitone Schummberger, ich erinnere an alte Diskussionen im Seminar zwischen uns beiden.» «Wir haben viel Unsinn geredet.» «Überhaupt nicht. Wir beide waren so frei und haben das ernst genommen, was wir an der Uni gehört haben. Und der alte Schneider, dein Doktorvater, hat uns eingebleut …» Schummberger wendet Betz immer noch den Rücken zu, er hebt die Arme, läßt sie dann wieder fallen, eine Geste der Hilflosigkeit: «… keine Menschenrechte zu verletzen, ohne daß ein triftiger Grund dafür vorliegt, das ist auch okay», sagt er. Nun dreht er sich plötzlich herum, kommt wieder an den Tisch und sagt eindringlich: «Du kannst doch auch keinen mutmaßlichen Mörder laufen lassen, wenn du überzeugt bist, er war’s?» Betz zieht die Arme vor die Brust, verschränkt sie noch enger als vorher und sagt arrogant: «Doch, wenn die Beweise nicht reichen, macht man das so. Und übrigens: der Vergleich hinkt. Ich bin in unserem Fall keineswegs überzeugt davon, daß Gefahr droht. Weißt du, man könnte den Verdacht bekommen, diese Sache sei für euch ein willkommener Anlaß.» «Ich wünschte, du kämst einmal herunter von deinem hohen Roß. Was helfen politische Unterstellungen.» «Im Zweifel für die Freiheit!» sagt Betz ohne jedes Pathos. Es ist eine Feststellung voller Selbstverständlichkeit. 104
«Man verlangt von mir ein faires Urteil. Ich kann nicht einen einbuchten, weil ein Forscher mit tadellosem Ruf – durchaus nach bestem Wissen und Gewissen, das unterstelle ich mal – bestimmte Befürchtungen hat, wofür ihm aber die Beweise fehlen.» Betz löst sich aus seiner starren Haltung, er steht auf, tritt auf Schummberger zu, nun ist er es, der den Körperkontakt sucht. Er nimmt den Staatssekretär unter den Achseln und zieht den langen Mann ein wenig zu sich herunter, damit er ihm genau in die Augen schauen kann. Er nagt an seinen Lippen, dann sagt er leise: «Weshalb geht ihr überhaupt zu einem Gericht? Wenn ihr alles genau wißt, könnt ihr doch eurem eigenen unfehlbaren Urteil folgen, was braucht ihr dann meine Entscheidung? Interniert, sondert ab oder laßt frei, macht einfach, was ihr wollt!» Einen Augenblick lang hat Betz das Gefühl, als scheue der andere die körperliche Nähe. Und tatsächlich, Schummberger reißt sich los, tritt zwei oder drei Schritte zurück, stößt dabei gegen die Tür, dann sagt er, eine Spur zu laut: «Abgesehen von den Schlagzeilen und dem bösen Wort ‹Konzentrationslager›, das in Leitartikeln zu lesen wäre, du weißt, daß Gesetz zwingt uns dazu, zum Richter zu laufen. Stellst du mich auf eine Stufe mit irgendwelchen Schergen aus einer Bananenrepublik?» Schummberger zögert ein wenig, dann kommt es noch etwas lauter: «Oder willst du etwa Parallelen zu früher ziehen? Bitte nimm zur Kenntnis, daß wir angetreten sind, eine Katastrophe zu verhindern. Wehret den Anfängen!» Betz schweigt. Schummberger sieht, daß sich der Richter nun festgelegt hat. «Aber eines, wenigstens das eine kannst du für mich tun», sagt Schummberger. 105
«Was?» «Schweig! Um Gottes willen kein Wort zu irgendwem. Noch nicht einmal zu deiner neuen Freundin.» Betz nickt.
Dienstag, Vormittag Der Staatssekretär ist längst gegangen. Im Gerichtssaal haben sich die Beteiligten wie gestern versammelt. Der junge Vogel scheint ein wenig aufrechter zu sitzen, er wirkt unruhiger, aber trotzdem stumpf. Die Augen haben keinen Glanz. Der Umgang mit ihm ist aus der Sicht Unbeteiligter noch grotesker geworden; denn man hat es fertiggebracht, ihn dazu zu überreden, einen Mundschutz aus Mull zu tragen, so wie ihn heute viele Zahnärzte benutzen. In Betzens Augen wirkt dies wie ein Maulkorb. Kein Anblick, der geeignet wäre, ihn umzustimmen. Weiße Übervorhänge sind zugezogen. Dahinter blendet die Sonne. Ein unerfreulicher Termin. Kron und Winter winden sich unter den Fragen der Anwältin, die hart wie ansatzlose Boxschläge niederprasseln. Unsicherheit und Verwirrung prägen das Bild. Winter wird ausfallend, er schreit: «Man muß einmal die Frau Anwältin zur Ordnung rufen, das ist unmöglich, sie läßt mich nicht ausreden.» «Der Einwand, Sie wiederholen sich, vor allen Dingen das, was schriftsätzlich vorgetragen ist, ist nicht von der Hand zu weisen», brummt Betz. «Gibt es noch etwas wirklich Neues?» Man schweigt. Betz steht auf, beobachtet, wie sich die anderen erhe106
ben, nur Vogel bleibt dumpf und starr sitzen. Hinter den weißen Vorhängen wird das Sonnenlicht abgedunkelt. Scheinbar ziehen Wolken vorbei. Man hört auf dem Flur undeutlich einen Lautsprecher scheppern, Namen werden aufgerufen. «Drei Minuten», sagt Betz und tritt zurück ins Beratungszimmer. Eine flüchtige Erinnerung an gestern, die Zeit nach der Verhandlung huscht an ihm vorbei. Er streicht mit einer zärtlichen Geste an der Tischkante entlang, dann klopft er wie aus Aberglauben dreimal mit den Knöcheln auf dieselbe Stelle. Die Ruhe in diesem Raum mit den Polstertüren umfängt ihn, seine Gedanken schweifen ab zur vergangenen Nacht. Er lächelt, überlegt sich, ob Gisa mit ihm in Urlaub fahren würde. Türkisgestade zu zweit. Doch dann zügelt er sich schnell und blättert noch einmal in der Akte. Da gibt es aber nichts zu überdenken für ihn. Man hat es nicht verstanden, ihn von der Gefährlichkeit des Falles zu überzeugen. Sie schleppen ihm da mit Mummenschanz einen unter schweren Medikamenten stehenden Jungen her, fabulieren und reden, belästigen ihn mit Vermutungen. Betz öffnet das Fenster, läßt die kühle Luft herein. Geräusche der Fahrzeuge, klappernder Absätze und Spatzengetschilp, Hundegebell. Der Himmel über der Stadt ist wieder bewölkt, aber grell weiß, die Sonne fast nicht zu erkennen. Betz setzt sich an den Tisch, nimmt ein Blatt Notizpapier und wirft den Beschluß in flüssiger Handschrift hin: «Der Antrag auf Absonderung wird abgewiesen. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens. Eine Begründung ergeht schriftlich und wird den Parteien zugestellt, gez. Andreas Betz RiAG.» Betz erhebt sich schnell, schließt das Fenster, zieht die 107
Vorhänge vor. Nun ist es vollbracht, die Entscheidung gefällt, sie muß nur noch verkündet werden. Rasch betritt er den Saal, läßt den Beteiligten kaum Zeit aufzustehen, dann verliest er mit seiner durchaus klingenden, aber verhältnismäßig rauhen Stimme den Beschluß. Er unterbricht sich zweimal, um sich zu räuspern. Vogel erwacht aus seiner starren Sedierung, er begreift den juristischen Wortlaut nicht, sieht aber seine Anwältin strahlen, eine Faust machen, den Daumen nach oben zeigend. Er registriert die betroffenen Gesichter von Kron und Winter. Mit beiden Zeigefingern schiebt er die Maske vor seinem Mund herunter, er blickt auf seine bolligen Schuhspitzen, die er fast liebevoll anlächelt. Dann flüstert er: «Gewonnen, gewonnen.» Das Unverständliche ist eingetreten, man schenkt ihm die Freiheit. Doch soweit ist es noch lange nicht, einer der Krankenpfleger ist hinter ihn getreten, streift ihm mit den Gummihandschuhen wieder die Maske über das Gesicht, und als er hochsieht, umstehen ihn der andere Krankenpfleger, Kron und Winter, der mit dem seitlich ausgestreckten Arm die Anwältin daran hindert, zu ihrem Mandanten zu gehen und sich gratulieren zu lassen. Er sagt: «Ich mache von meinem Recht Gebrauch, Sie 24 Stunden festzuhalten, Herr Vogel. Gegen die Entscheidung dieses Gerichts hier lege ich sofort Rechtsmittel ein. Das Landgericht muß noch entscheiden.» In Vogels Kopf drehen sich Nebel. Und er hält den soeben vernommenen Gerichtsbeschluß plötzlich für eine falsche Wahrnehmung. Er nickt, artig wie ein wohlerzogener Knabe. Er kann nicht einschätzen, was mit ihm geschieht. Die Tabletten lösen den Konflikt in matte Gleichgültigkeit auf. Ein seltsam heiteres, fast bittersüßes 108
Gefühl zieht vom Magen herauf zum Kopf. Er möchte grinsen, triumphieren. Man sieht ihm diese seltsame Freude aber nicht an. Sein Gesicht wirkt entspannt, soweit man es hinter der Mullmaske erkennen kann. Er folgt fast willenlos den Händen, die ihn schieben. Gisa vertritt Kron den Weg. In einem Mundwinkel klebt eine Zigarette, noch unangezündet. Er mustert sie von oben bis unten. Ein feindseliger Blick. Doch Gisa stört das nicht, wenn jemand sie haßt, bloß weil sie ihrem Beruf nachgeht und sich für ihren Mandanten einsetzt. Mit ruhiger Stimme sagt sie zu dem Professor: «Schlagen Sie diesen Mann nicht mit der chemischen Keule nieder. Geben Sie ihm nicht so viele Beruhigungsmittel, er ist jetzt fast wirklich nicht Herr seiner Sinne. Er kann nichts mehr empfinden.» Der Professor Kron hat das bullige Haupt gesenkt wie ein Stier, er starrt die Anwältin an, ohne zu antworten. Gisa fährt fort: «Das Landgericht ist die letzte Instanz. Ich werde mich dafür einsetzen, daß man Herrn Vogel zu Wort kommen läßt. Wenn er sich nicht äußern kann, müssen Sie warten, die 24 Stunden verrinnen ohne neuen Termin, und mein Mandant ist frei. Ich sage Ihnen dies nur, damit Sie sehen, daß ich kein falsches Spiel spiele, anders als andere Leute.» Kron nickt, unwillig zwar, aber er hat diese kleine rotblonde Person mit der auffälligen Brille fürchten gelernt. Er weiß, daß es gefährlich ist, Menschen zu unterschätzen. Er verschluckt sich am Rauch, hustet. Die Versuche warten, er drängt sich ohne Gruß an Gisa vorbei. Gisa winkt Vogel nach. Keine Resonanz. Sie muß sich eilen. Ein anderer Termin wartet.
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Dienstag, Mittag «Wie hast du entschieden?» fragt Küster. «Was?» Betz war einen Augenblick unkonzentriert. «Dieser Seuchenfall.» «Ach ja, abgewiesen.» «Gut so», sagt Küster. Er rührt in seinem Espresso. Die Männer schweigen. Sie sitzen in einem kleinen italienischen Restaurant, das sich unweit des Gerichts befindet. Es ist keines von den besseren, teuren. Hier wirkt alles so schön unfertig, daß man den Eindruck bekommt, hier koche Mama für einen persönlich. Das zieht gelegentlich das Gerichtspersonal an, wenn in der Kantine Fisch serviert wird. Eigentümlicherweise ist keine Kollegin, kein Kollege zu sehen, obwohl der Koch der Kantine, ein invalidisierter Starkstromtechniker, auf dem Speiseplan schriftlich pasta asciutta angedroht hat. Dafür tafelt eine laute italienische Gesellschaft an dem großen Tisch in der Apsis, wo zahlreiche Bilder hängen, Stilleben, Landschaften, Öldrukke in bunten, grellen Farben. Die Italiener prassen. Sie reden laut, trinken viel, soweit man es erkennen kann, sind es keine Geschäftsleute, eher Freunde, die Freunde besuchen. Der Kellner trägt eine rote glänzende Smokingjacke mit schwarzen Aufschlägen. Sein Gesicht ist mürrisch. Er bringt ihnen eine unglaubliche Portion Tiramisu in einer mächtigen Schale, die einem Fisch nachgebildet ist. Man plappert, lacht, ein älterer grauer Mann tätschelt dem Kellner freundlich den Handrücken. Dann folgen eine große Schale mit Obstsalat und einige Portionen Eis, auf denen Wunderkerzen ihre Sternchen versprenkeln. Man freut sich, als wäre es das erste Mal, daß man Wunderkerzen auf Eis serviert bekommt. Dann klimpern wieder Gläser, Kognakschwenker, eine Flasche Grappa folgt. 110
Bevor die Wunderkerzen ausgeglüht sind, hüstelt der Grauhaarige, klopft an sein Weinglas, steht auf und beginnt, eine Rede zu halten. Auf Italienisch. Betz und Küster verstehen nichts. Sie setzen ihr Schweigen fort. Ganz offenbar gilt es, jemanden zu ehren, auf sein Wohl das Glas zu erheben. Wohlgefälliges Murmeln begleitet den Redner. Schließlich stößt man an. Man trinkt andächtig die gelblich-durchsichtige Flüssigkeit hinunter. Die Gläser werden synchron abgestellt. Applaus. Und schon reden sie wieder weiter, jeder mit jedem, vergnügt und laut. Man ruft sich zu, wenn man nicht nebeneinander sitzt. Das Dessert wird verteilt. Wer Tiramisu wählt, probiert beim Nachbarn den Fruchtsalat, wer Eis genießt, kostet Tiramisu. Die Tischdecke ist arg mitgenommen, der Blumenstrauß halb geplündert, weil sich die Herren die Nelken in die Knopflöcher der Jacketts gesteckt haben. Ein Glas mit abgestandenem Rotwein fällt um. Rufe, Gelächter. Die leise Musik, italienische Schlager mit sehr viel Gefühl, ist kaum noch zu vernehmen. Andreas Betz nippt an seinem Espresso. Küster sieht ihn schräg von unten an. «War es nicht richtig abzuweisen?» «Doch», das klingt fest und sicher. Nach einer nachdenklichen Pause setzt Betz allerdings dazu: «Ich bin davon überzeugt, daß es richtig war. Bloß, Zweifel sind doch erlaubt, oder?» Küster beantwortet die Frage nicht, er kennt sich aus, er hat denselben Job. «Woran liegt’s?» fragt er. Am Nachbartisch sind alle ruhig. Nur ein junger Mann mit einer Frisur wie Elvis Presley erzählt halblaut, untermalt mit temperamentvollen Gesten etwas, was die anderen Herren fasziniert. «Und wenn es doch so ist, wie das Gesundheitsamt behauptet?» Küster zuckt mit den Schultern. 111
«Ich muß ja entscheiden, so oder so, kann nicht mit den Schultern zucken. Entweder Ja oder Nein.» Betz schweigt, verzieht sein Gesicht zu einer skeptischen Grimasse. Er schüttelt unwillig den Kopf. «In diesem Fall gibt es einige unwägbare Einflüsse. Durchschnittskram, den wir täglich auf den Schreibtisch kriegen, den erledigt man emotionslos und sicher. Doch hier», er hält einen Augenblick abwägend inne, als prüfe er, ob er sich seinem Kollegen und Freund anvertrauen könne, «aber hier ist es anders gewesen. Die haben mich überfallen mit der Sache, am Morgen nach meinem Geburtstag, einfach überfallen. Da ist man nicht mehr ganz frei von … sagen wir einmal, Ressentiment der Sache gegenüber. Man fühlt sich belästigt, gestört. Ja, so ist es mir gegangen. Und dann taucht noch die Wormser auf …» «Also war doch was», stellt Küster halb feixend, halb besorgt fest. Betz antwortet schnörkellos: «Ja. Und das ist auch so eine Art Beeinflussung. Im täglichen Kram, in der Routine macht das nichts. Aber hier.» «Hast du ihr was beweisen wollen?» fragt Küster. «Habt ihr über irgendwelchen grundsätzlichen Scheiß geredet, bevor ihr ins Bett seid?» Küster grinst dreckig. Betz bläst die Backen auf, zieht die Augenbrauen hoch und sieht Küster an wie ein kleines Kind, das Unfug redet. «Doch nichts Grundsätzliches vor dem Bumsen», sagt Küster. «Ist ja schon gut! Ich sag’s nie mehr wieder. Also hast du ihr nichts beweisen wollen?» «Doch», antwortet Betz. «Sie war nur die scheinbar Schwächere in diesem Fall. Sie war alleine, der junge Kerl, den sie zu vertreten hat, mit Medikamenten eingelullt. Und auf der anderen Seite ein brillanter Arzt und 112
ein ordentlicher Jurist. Und als Spießgesellen haben die beiden noch die Angst auf ihrer Seite.» «Mir wär’s genauso gegangen», sagt Küster nun ernst, «ganz genauso.» Richter lernen früh, wenn sie gute Lehrer haben, daß man dem Starken mißtrauen muß, auf Zwischentöne achten, die Schwachen zu Wort kommen lassen muß. Besonders raffinierte Anwälte sehen immer wie Schwächlinge aus. Die Starverteidiger reden fürs Publikum wie für die Presse und nicht oft wirksam für ihren Mandanten. «Also hast du doch einen Kater», stellt Küster fest. Betz nickt. Am Nachbartisch redet einer der Männer schnell, wie eine Maschine. Betz sieht irritiert hinüber. Küster: «Manschetten vor der eigenen Courage?» Betz streicht sich über seine Glatze, eine Geste der Verlegenheit. Er sieht Küster an und lächelt. «Ja», sagt er. Dann setzt er kleinlaut hinzu, daß es ja noch das Landgericht gäbe, als wolle man die Verantwortung abschieben. Außerdem liebt man es nicht, von der höheren Instanz korrigiert zu werden. Sich darauf rauszureden, daß das Obergericht nun den Schwarzen Peter habe, ist nichts für Betz. Das weiß auch Küster. Er sagt: «Ja gut, unterstellen wir mal, das Landgericht hebt dein Urteil auf. Und dann geht die Wormser zum Bundesverfassungsgericht, und hinterher bestätigt dich Karlsruhe, und das Landgericht kommt in den Sack. Nein, nein, verlaß dich auf deine Nase! Im Zweifel für die Freiheit! Und Zweifel gibt es doch genug, oder?» Die Festgesellschaft in der Apsis der italienischen Kneipe schreit auf, die Männer lachen dröhnend, schlagen sich auf die Schenkel. 113
«Mein Gott, war das ein Witz», sagt Küster säuerlich. Und die Männer wiehern weiter, ringen nach Luft, wiederholen die Pointe, lassen sich die Worte wie auf der Zunge zergehen, wischen sich die Augen aus. Am anderen Ende des Raumes steht der Kellner und wischt Gläser, er grinst vor sich hin. Das Buffetfräulein, ein Mädchen mit schwarzen Haaren und weißem, schönem Gesicht, blickt verlegen zur Seite. Sie hat rote Ohren bekommen. Der Kellner sieht sie an, sagt zwei, drei Worte – und dann lacht auch das Buffetfräulein ein kleines, fast amüsiertes Lachen. «Was grübeln wir rum, du hast einen Fall entschieden wie tausend andere, basta und aus. Draußen wird das Wetter schön, die Sache ist vorbei. Buche es auf Erfahrung. So ein Fall wird schon nicht wiederkommen», sagt Küster. Betz klopft mit den Knöcheln auf die Holzlehne seines Stuhles.
Dienstag, früher Nachmittag Die Herren marschieren im Sturmschritt durch die Isolierabteilung der Klinik für Innere Medizin. Allen voran Professor Müller im weißen Kittel, weißen Hosen und weißen Schuhen, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, Gummihandschuhe, Mundschutz. Einen halben Schritt dahinter, weißer Kittel, Turnschuhe, Sporthosen und Pullover, Professor Kron, dann der Oberarzt, zwei Assistenten, zwei Pfleger. Alle mit Gummihandschuhen und Mundschutz. Kurz vor der Tür zur ersten Sterilschleuse spurtet ein Pfleger vorbei, reißt wie ein Hoteldiener die Tür auf, tritt zurück. 114
Die beiden Professoren treten vor ins bläulich-violette Licht, an die Scheibe. Die Herren kennen sich schon lange, sind Rotarier, treffen sich regelmäßig, schätzen einander, trauen sich sogar beruflich über den Weg. Das erleichtert vieles. Sie starren wortlos hinein in die weiße Zelle, diese hier geschmückt mit einem bunten Impressionistendruck. Provençalische Landschaft, Sonnenglühen, pastellfarbene Striche und Sprengsel, einen sommerlichen mediterranen Wald andeutend, dahinter – im Dunst schwebend – ein Berg, der der Mont Sainte Victoire sein könnte. Auf dem Bett sitzt eine Frau. Starr. Sie dreht der Tür den Rücken zu. Sie hat graue Haare, zu einem Dutt geschlungen. Ihre Gestalt wirkt schmal und hochaufgeschossen. Sie bewegt sich nicht. Beide Männer streifen synchron die weißen Manschetten zurück, um ihre Uhren freizulegen. «Sonst ist das Labor doch auch immer pünktlich», sagt Müller. Kron, der sich getroffen fühlen könnte, schweigt. Er zeigt keine Reaktion. Ohne seinen Kollegen anzusehen, spricht Müller mit einer fast flüsternden Stimme, er sagt: «Sind wir denn wirklich weiter, wenn wir die Ergebnisse haben?» «Ja und nein», antwortet Kron. «Ja, wenn positive Fälle in signifikanter Menge auftreten, nein, wenn sie negativ sind. Wir wissen noch zu wenig über das neue Virus, nicht wahr? Bei der bisher bekannten Form gibt es eine gewisse Latenzzeit, bis wir es nachweisen können. Wir wissen nicht, seit wann der junge Vogel angesteckt ist. Vielleicht dauert es hier auch länger, bis der Nachweis gelingt.» «Und wenn wir positive und negative Fälle zugleich haben, das würde doch einiges klären.» «Ja.» 115
Die Suite der Professoren hält sich im Gang auf. Man steht herum und schweigt. Es gibt nichts zu sagen, wenn Autoritäten reden. Kron und Müller bleiben, obwohl sie nichts ausrichten können. Es ist sehr still in diesem Krankenhaus. Keine Schritte, keine Gespräche, nichts ist zu hören, keine Maschine summt. Es riecht steril. Die Klimaanlage sorgt für gereinigte Luft. Die Sonne zeichnet helle Parallelogramme auf den grünen Plastikboden des Flurs. Der Piepser an der Manteltasche des Oberarztes klingt. Es ist so still, daß man zusammenfährt. Kron und Müller haben sich herumgedreht und kommen aus der Sterilschleuse. Der Oberarzt rennt den Flur hinunter zu einem Wandtelefon, von dem er den Hörer herunterreißt, eine Nummer anwählt. Die Suite bleibt, wo sie ist. Kron und Müller gehen gemessenen Schrittes auf den Oberarzt zu, der die Zunge zwischen den Lippen hat und mit leerem Gesicht wartend zum Fenster hinausstarrt. Kron und Müller stehen vor ihm, lesen auf seinen Lippen. Der Oberarzt lächelt. «Negativ», sagt er. «Die Frau ist negativ!» Man sieht ihm die Erleichterung an. Müller atmet durch, Kron bleibt unbeweglich, wartet, er weiß, daß man drei Proben untersucht hat. «Die Brüder?» fragt er drängend. Da verfinstert sich das Gesicht des Oberarztes. Die Brauen ziehen sich zusammen, die Lippen werden schmal. «Positiv», sagt er und schluckt ein wenig, dann vergewissert er sich: «Ist das sicher?» fragt er ins Telefon. «Natürlich», knurrt Kron. Er hat sich zum Gehen gewendet, Müller folgt ihm, auch die Suite setzt sich in Bewegung. Kron strebt auf die nächste Krankenzimmertür zu. 116
«Hier sind Hepatitisfälle, Herr Professor», sagt ein Pfleger. «Weiter!» sagt Kron mit harter Stimme. Müller ist bei ihm, sie eilen zur dritten Tür, die wieder einer der Pfleger aufreißt. Dasselbe Bild: Eine Zelle in der Krankenstation, gepanzertes Glas, Tür ohne Klinke, ein bunter, freundlicher Druck an der Wand. Zwei Männer, schätzungsweise Mitte Zwanzig, stehen am Fenster und beraten sich, sehen herüber. Einer der beiden erkennt die beiden weißen Gestalten im violetten Licht an der Tür. Die Brüder kommen herüber. Große, wuchtige Männer, der eine mit breiten Schultern und einem stattlichen Bauch, athletisch der andere. Sie reden auf die Scheibe ein. Kron will den Knopf der Gegensprechanlage drücken, doch Müllers Hände im Gummihandschuh ziehen ihn behutsam zurück. Kron wirft seinem Kollegen einen unfreundlichen Blick zu. Dann dreht er sich abrupt herum und ruft hinaus: «Wer hat die beiden in ein Zimmer gelegt?» Felser hebt zaghaft den Finger, er meldet sich wie ein Schüler. Für Kron ist Felser einer der wenigen Assistenten, den er nicht verächtlich anschaut. Deshalb reagiert er verhältnismäßig gelassen. Er sagt: «Daß mir keiner nochmal zwei von den Leuten auf ein Zimmer legt.» «Warum?» fragt einer von der anderen Sorte Assistenten. Das paßt dem Professor Kron gut, wenn einer so altklug fragt. «Aus hygienischen Gründen, Herr Kollege», sagt er in süffisantem Ton und er fügt hinzu: «Oder meinen Sie vielleicht, ich produziere hier ein bißchen Arbeit für die Verwaltung, nur so zum Possen?» 117
«Nein, Herr Professor», antwortet der Assistent mit dem Gleichmut eines preußischen Infanterieleutnants, der von seinem Hauptmann einen Anschiß bekommt. Als Kron und Müller weiterstürmen, raunt er seinem Kollegen Felser zu: «Die spinnen wohl, was ist denn mit denen los? Das ist doch nicht der erste Fall von serumpositiv?» «Keiner weiß, was los ist», brummt Felser, «er muß sich halt aufführen.»
Dienstag, später Nachmittag Das Landgericht ist ein halbwegs modernes Gebäude, an ihm hat man im postmodernen Stil das gerade eröffnete Oberlandesgericht angebaut. Vor den Eingängen beider Gebäude wacht, wie könnte es anders sein, die Skulptur einer Justitia, der der Bildhauer treu mitgegeben hat, was eine Justitia so alles braucht, die vor Gerichtseingängen zu wachen hat: Schwert, Waage und Augenbinde. So steht sie da, die Göttin der Gerechtigkeit, stumm und blind, aus Bronze, Schultern und Kopf von Taubenscheiße weiß. Unweit von ihr befinden sich Standplätze für Taxis und Haltebuchten für Einsatzfahrzeuge der Polizei. Mitten zwischen den grünweißen Peterwagen steht eine schwarze Regierungslimousine. Der Fahrer lehnt am Kotflügel und hält den Kopf so, daß ihn die Sonne gut bescheinen kann. Der Himmel hat das Grau abgeworfen. Er strahlt. Federleichte Wolkenbündel ziehen von der Sonne weg, die über den Hügeln im Südwesten der Stadt leuchtet. Gisa Wormser hat ihr altes VW-Cabriolet in einem überfüllten Parkhaus in der Innenstadt untergebracht. Sie kommt gerade eilig die Straße herunter, die ein wenig 118
abschüssig zu den Gerichtspforten führt. Weil es warm geworden ist, hat sie auf Strümpfe verzichtet. Sie trägt rote Pumps, einen schwarzen, für eine berufstätige Frau sehr kurzen, für eine Anwältin schon fast ein wenig frivolen Rock, eine olivgrüne Bluse und ein rotes Jackett mit ausgestopften Schultern. Eine verrückte Sonnenbrille mit geschweiften Gläsern und mit grünem Gestell schmückt ihr Gesicht. Als sie an dem Fahrer der Regierungslimousine vorbeistöckelt, öffnet dieser die Augen, blickt ihr ein wenig bewundernd nach. Er wackelt genießerisch mit dem Kopf. Gisa dreht sich herum. Der Fahrer glaubt, sie meine ihn, er lächelt. Doch es ist nur diese Limousine auf dem Polizeiparkplatz, die Gisa interessiert. Und kaum, daß sie die Statue der Justitia erreicht hat, sieht sie den Staatssekretär Schummberger durch die Drehtür des Landgerichts schlüpfen, federnd die breiten Stufen herabkommen und der geparkten Limousine zustreben. Gisa bleibt stehen. Sie beobachtet, wie der lange Mann die Schnurrbartenden mit einer routinierten Geste zwirbelt und sich eine große Sonnenbrille mit grünen Gläsern aufsetzt. Schummberger bemerkt die Anwältin nicht. Er ist sichtlich in Eile. Der Fahrer hört die Schritte seines Herrn, er geht zur Tür, öffnet den Schlag. Schummberger schlüpft in das schwere Fahrzeug. Türen werden zugeworfen. Nachdenklich geht Gisa weiter. Sie glaubt zu wissen, was geschehen ist. Ihr Blick wandert hinauf an der Fassade des Landgerichts. Dort, im zweiten Stock, erkennt sie am Fenster ihren Mandanten, den Mundschutz im Gesicht. Er winkt. Tatsächlich, er winkt. Man wird ihm vielleicht keine zusätzliche Dosis verabreicht haben, hofft Gisa. Nun geht sie entschlossen weiter. 119
Dienstag, später Nachmittag Der Vorsitzende Richter der zuständigen Kammer ist kein heuriger Hase. Er hat seine Überzeugung und judiziert danach. Er ist ein Mann mit Autorität, deshalb kommt es selten vor, daß die beiden Beisitzer ihn in einer Sache überstimmen. Neben ihm sieht man einen jungen Spund, der gerade dabei ist, das Handwerk zu lernen. Noch keine Dreißig ist er alt, er hat gute Noten und eine berufliche Karriere vor sich. Auf der anderen Seite sitzt eine erfahrene Richterin, etwa zwei Jahre jünger als der Vorsitzende, doch er behandelt sie wie eine Assistentin, einerseits mit kollegialer Hochachtung, andererseits mit der Vorstellung, sie müsse ihm zuarbeiten. Gisa kennt die Kammer nur vom Hörensagen, hat hier noch nie prozessiert. Sie weiß nur, daß der Vorsitzende in seiner knarzenden, fast provokant langsam wirkenden Sprechweise gerne junge Anwältinnen und Anwälte regelrecht im Prozeßrecht zu examinieren pflegt, wenn sie zum ersten Mal vor den Schranken seines Gerichts auftauchen. Sie hat sich fest vorgenommen, jede Frage dieser Art höflich, aber entschieden zurückzuweisen. Um so erstaunter ist sie, als dieser Mann, der ein rundes, fast freundlich wirkendes Gesicht besitzt, ohne Präliminarien auf den Kern der Sache zusteuert. «Herr Betz ist ein ausgezeichneter Richter», beginnt er. «Aber fraglich ist, ob er in dieser Sache richtig entschieden hat. Wir kennen seine Gründe nicht, das Amtsgericht hat prozessual zulässig zunächst einmal nur die Entscheidung als solche gefällt», sagt der Vorsitzende deutlich akzentuiert, dem Professor Kron zugewandt. «Deshalb ist das Landgericht auch auf Mutmaßungen angewiesen, was die Entscheidungsgründe angeht.» 120
Er dehnt die Worte, spricht bedächtig, setzt sich noch einmal zurecht, streicht über die Samtaufschläge seiner Robe und richtet den weißen Schlips, bevor er fortfährt. Er wendet sich an Vogel. «Und Sie, bitte treten Sie doch einmal näher vor», mit dem Zeigefinger der linken Hand zeigt der Richter auf ein kleines Pult, das für Zeugen zwei oder drei Meter vor dem erhöhten Richterpult aufgebaut ist. Kron blickt besorgt, ein fast unmerklicher Wink mit dem Kopf, und einer der beiden Pfleger setzt sich in Bewegung und folgt Vogel, der nun nur noch schwach betäubt wirkt. Er hat seine Haare wieder hochgekämmt, seine Jacke über die Schulter geworfen, er stellt sich mit Stand- und Spielbein an das Zeugenpult. Aus Unsicherheit tritt er rhythmisch gegen den Fuß des Möbels. Sein Gesicht soll Härte, Kompromißlosigkeit zeigen. Doch der Vorsitzende, geübt beim Einschätzen von Mienen, glaubt dem jungen Kerl nicht. Er fragt schleppend, warum sich Vogel nicht in Behandlung stelle. «Weil es nichts zu behandeln gibt», sagt Vogel knapp. «Die Hand ist okay, hier», er zeigt den etwas angeschmutzten Verband, «und ich bin okay. Es ist doch die Härte», sagt er, «echt, absolut. Was soll der Scheiß mit serumpositiv? Ich weiß, daß da was anderes dahintersteckt. Das glaubt doch keiner, daß ausgerechnet ich der Schläger bin.» Der Vorsitzende: «Das Krankenzimmer ist zertrümmert.» «Das, ja», räumt Vogel ein. «Aber darauf will ich gar nicht hinaus», sagt der Vorsitzende. «Sehen Sie, dieses Gericht hier», sein Daumen zeigt mit einer Winkbewegung auf die beiden Beisitzer, «hat die Sache schon einmal vorberaten, wir sind nicht so ganz sicher, daß das Amtsgericht richtig entschieden hat.» 121
«Das ist doch die Härte, ey», schnauzt Vogel und sieht seine Anwältin an. Dann erklärt er dem Gericht: «Ey, da gibt es einen Haufen Typen, Leute, die schwul sind. Wissen Sie, was Schwule alles machen?» Der Vorsitzende Richter lächelt ein wenig, die Beisitzerin sieht auf ihre Hände, und der junge Richter starrt Vogel streng an. Doch der läßt sich dadurch nicht irritieren. Er spricht weiter: «Schwule sind gefährlich, ey, richtig gefährlich. Dann buchtet die ein.» Nun sieht er, daß das runde Gesicht des Vorsitzenden Richters fast vor priesterlicher Güte strahlt. Wieder dreht er sich rum zu seiner Anwältin. «Da stimmt doch was nicht», sagt er. «Irgendwas ist faul.» Und nun wieder zum Gericht. «Und wissen Sie was, Herr Richter? Man hat auch meine Brüder geschnappt. Aus dem Fenster in der Klinik habe ich gesehen, wie man sie gebracht hat, in einem Krankenwagen. Da ist doch was los.» Gisa fährt auf, sieht Kron an, der hält ihren Blick nicht aus, er schabt sein Kinn mit der Hand und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. «Stimmt das?» fragt Gisa. Kron sieht Winter an, Winter entgegnet schnell und sicher: «Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Rechtsanwältin, gehen wir davon aus, daß Ihr Herr Mandant durch sein Verhalten Ansteckungsgefahr bietet. Es ist nicht nur für die Umwelt im allgemeinen gefährlich, noch viel schlimmer ist es für die Familie. Glauben Sie denn wirklich, wir sind so verantwortungslos und lassen alles schleifen? Wir haben die Familie von Herrn Vogel testen müssen.» «Ergebnis?» fragt Gisa schnell. Sie beobachtet, wie Winter zögert, einen kurzen Blick mit dem Professor tauscht. 122
Sie weiß, daß Winter lügt, als er sagt, die Laborbefunde seien noch nicht da. «Aber meine Dame, meine Herren», spricht der Vorsitzende gedehnt, «wir verhandeln doch nicht über andere Fälle. Hier haben wir über den Fall Vogel zu sprechen. Und Sie», der Zeigefinger des Richters pocht auf die polierte Schreibplatte, «Sie möchten nicht freiwillig bleiben, nein?» Vogel schüttelt den Kopf. «Ich halt’s doch nicht aus, dort», sagt er. «Ja, dann …» der Vorsitzende erhebt sich, die Beisitzer folgen. Man will sich zur Beratung zurückziehen, die Argumente scheinen gewechselt. Gisa schnellt hoch, tritt vor, bis in die Nähe Vogels, die Hand des Krankenpflegers erhebt sich, wieder so eine Schranke. «Hohes Gericht», sagt Gisa. «Ich möchte noch Ausführungen machen.» Der Vorsitzende, schon halb zum Gehen gewendet, zieht die Brauen hoch. «Es ist ungewöhnlich, daß in solch einer Sache plädiert wird, wir sind keine Strafkammer, dort mag so was üblich sein, Frau Rechtsanwältin», sagt er. Eine kurze Pause folgt, dann setzt er hinzu: «Aber Sie haben das Recht zu plädieren, gleichgültig in welcher Verhandlung. Das Gericht hört zu.» Sie setzen sich wieder. Doch nicht mehr bequem und zurückgelehnt, sondern vorne auf der Stuhlkante, verspannt. Nur die Beisitzerin scheint Verständnis zu haben, offen für Gisas Argumente zu sein. Sie sieht die Anwältin an, während der Vorsitzende mit halb in den Nacken gelegtem Kopf in eine Zimmerecke starrt, Aufmerksamkeit vortäuschend. Der Beisitzer malt Figuren auf einen Notizzettel. 123
Gisa weiß, daß sie stundenlang sprechen könnte und nichts ausrichten würde. Doch sie gibt nicht auf. Sie legt ihre Argumente dar, geht kurz das medizinische Gutachten, die Aussage des Professors Kron, den Schriftsatz des Gesundheitsamtes durch, zeigt die Blößen der Beweisund Gedankenführung. Man läßt sie reden. Ihre Stimme hallt in dem Saal wider. Alle anderen schweigen, kein Flüstern, kein Füßescharren. «Lassen Sie diesem jungen Mann die Freiheit!» sagt Gisa zum Schluß. Sie bleibt stehen. Das irritiert den Vorsitzenden ein wenig. Es wirkt, als wolle sie noch etwas sagen. Er zieht das milde Lächeln über sein Gesicht, das Gisa vorhin schon an ihm bemerkt hat. Sie fürchtet diesen Mann wegen seiner steinernen Unzugänglichkeit, wie am Vormittag Kron den Amtsrichter Betz gehaßt hat. Freundlich sagt der Vorsitzende: «Danke.» Dann erhebt man sich, geht hinaus.
Dienstag, später Nachmittag Hier, auf diesen Stapel kommen die Ordnungswidrigkeitssachen. Rasen im Verkehr, eine rote Ampel, eine Geschwindigkeitssache, 48 km/h zuviel. Dort auf den zweiten Stapel Bagatellstrafsachen, Einsprüche gegen Strafbefehle; drei Fälle heute. Ein Mannequin, das mit einem Radarwarner geschnappt wurde, eine Hausfrau, Ladendiebstahl, ein 22jähriger verheirateter Mann, unerlaubtes Entfernen von der Truppe. Ist das das Pensum für einen Verhandlungsvormittag? Betz hat die Fälle durchgelesen, geprüft, sortiert. Er hat sich darum gekümmert, daß die Tagesordnung geschrieben wird, vor124
bereitet zum Aushängen am Schwarzen Brett und im Glaskasten vor dem Gerichtssaal. So, der Arbeitstag geht zu Ende. Telefon. Betz erwägt kurz, ob er überhaupt abheben soll. Ein Blick auf die Uhr, er hat das Recht, um diese Zeit nicht mehr anwesend zu sein. Doch dann siegt ein Gefühl, zusammengesetzt aus Neugier und Pflichtbewußtsein. Er hebt ab. Schummberger ist am anderen Ende der Leitung. Man kann ihn nur schwer verstehen. Ein Rauschen, ein Brummen unterlegt seine Stimme. Sie klingt wie von weit, regelmäßige Pieptöne zerhacken seine Sprache. «In der Familie des jungen Vogel sind vier weitere Personen serumpositiv!» ruft der Staatssekretär ins Telefon. Betz schweigt. «Zufall», sagt er schließlich. Schummberger lacht nicht, er spart sich eine ironische Bemerkung. «Das glaubst du doch selbst nicht», sagt er. «Gib uns morgen früh einen Termin.» «Morgen früh ist Sitzung», erwidert Betz. «Dann vor der Sitzung, je früher, um so besser.» «Auch Hinrichtungen finden vor dem Morgengrauen statt. Vielleicht gewinnst du beim Landgericht, dort sind die Richter konservativ. Sie wissen, was sich gehört.» Eigentlich bewundert Betz Schummbergers Geduld. Denn es ist nicht fair, die eigene Verhandlung mit einer Hinrichtung zu vergleichen. Schummberger erspart sich den Hinweis. «Wir haben keine Zeit für Instanzen», sagt er. «Wie hat das Landgericht entschieden?» fragt Betz. «Ich weiß es noch nicht, keine Zeit für Instanzen – ich telefoniere aus dem Auto, da vorne kommt ein Tunnel, ich bin gleich wieder dran», ruft der Staatssekretär. Die 125
Rausch- und Brummgeräusche werden stärker. Schummberger verstummt. Betz, der nicht weiß, ob die Verbindung weiterbesteht, wenn er nicht auflegt, zögert, dann drückt er mit dem Zeigefinger die Gabel hinunter, starrt hinaus auf die Straße, die nun vollends im Schatten liegt, und über ihr wölbt sich ein strahlender Himmel in fast türkisem Blau, ein Schwarm Schwalben fliegt knapp über die Dächer. Das Telefon schellt wieder. Die Geräusche und Schummbergers Stimme sind wieder da. Er spricht eindringlich. «Aus dem engen Kreis der Familie Vogel gleich vier Fälle.» Irgend jemand aus dem Hintergrund sagt, daß es Betz noch durch das Rauschen verstehen kann: «Drei …» «Drei Fälle», korrigiert Schummberger. Die Muschel des Telefonhörers wird zugehalten, ein undeutliches Konglomerat von Pfeifen und Rauschen. Schummberger: «Beide Brüder und eine Schwester.» «Und die Mutter?» fragt Betz. «Negativ.» «Der Vater?» «Negativ.» «Alle aus dem engsten Familienkreis», sagt Betz leidenschaftslos. «Ja, und sie haben nicht miteinander geschlafen, keine Blutorgien gefeiert oder weiß ich was angestellt. Am gleichen Tisch haben sie gesessen.» «Die Mutter auch?» Nach einer kurzen Spanne des Zögerns sagt Schummberger: «Ja, die Mutter auch. Keiner weiß warum, die einen erwischt’s, die anderen bleiben verschont. Nicht alle wehren sich, nur der älteste Bruder will nicht freiwillig hierbleiben. Für den brauche ich einen Termin. Morgen, morgen früh, wann du willst.» 126
Betz schweigt. Er zieht seinen Terminkalender herüber, obwohl er genau weiß, daß seine Routinesitzung um zehn Uhr beginnt. Es ist nur eine Geste, um Zeit zu gewinnen. Schummberger am anderen Ende glaubt, Betz zögere immer noch aus grundsätzlichen Erwägungen. Seine Geduld wird brüchig. Die Aggression in seiner Stimme ist schon zu hören: «Das sind die Beweise, die du verlangt hast, Andreas Betz. Was forderst du noch? Menschenversuche? Kron experimentiert mit Ratten. Das bisherige Virus hat ihnen nichts anhaben können. Und das neue Virus wird unter Ratten rasch übertragen. Was sollen wir daraus schließen? In der Familie Vogel haben wir insgesamt vier Infektionsfälle. Vier!» «Wie lange brauchen wir?» fragt Betz. «Das hängt von dir ab.» «Gut», eine Pause entsteht, Betz klemmt den Hörer zwischen Schulter und Ohr ein. Er schiebt die Akten seiner geplanten Verhandlung ineinander wie ein Kartenspiel. Er wirft sie hinüber auf den Bock. Hoch droben im blauen Himmel zieht ein Jet vorbei, nicht erkennbar, ein wolkiger Strich entsteht im Türkis. «Andreas?» fragt Schummberger. «Ich melde mich krank. Küster vertritt mich. Ein guter Richter.» Schummberger: «Du bist doch kein Feigling, oder?» Am Himmel ist der Wolkenstrich nun fertiggezogen. Eine weiße Diagonale im Fenster, die sich am anderen Ende schon wieder aufzulösen beginnt. «Morgen um halb acht», sagt Betz.
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Dienstag, Abend Es dauert schon beträchtliche Zeit, bis das Landgericht den Saal wieder betritt. Kron ist unruhig. Er läuft im Gerichtssaal auf und ab, mehr als eineinhalb Stunden muß er ausharren, bis sich die Juristen zu etwas durchringen. Seine Versuche, seine Tests, seine Leute, alles wartet im Institut. Doch er kann sich nicht losreißen, kann sich nicht damit begnügen, daß Winter ihm das Ergebnis durchtelefoniert. Alle zehn Minuten zieht er den Justitiar des Gesundheitsamtes an den Ärmeln hinaus auf den Flur, fragt ihn um seine Meinung, verlangt von ihm die Einschätzung, ob man das Verfahren gewinnen könne. Doch Winter ist vorsichtig. Er sagt sich, es sei besser, jetzt auf Pessimismus zu machen und später tatsächlich zu gewinnen als umgekehrt. Kron verachtet diese Juristen mit ihrer Zauderei, ihrer Wortklauberei, ihrer Macht. Also rennt er wieder hin und her. In der anderen Ecke sitzt Gisa Wormser, äußerlich ruhig und entspannt. Sie liest eine Frauenzeitschrift, die sie aus ihrer Handtasche hervorgeholt hat, als ihr das Warten zu lange wurde. Ihren Mandanten hat man weggeführt. Er steht ein beträchtliches Stück vom Eingang des Saales entfernt an jenem Fenster, wo ihn Gisa vor der Verhandlung sah, und starrt hinaus. Die Sonne scheint schräg. Die Stadt sieht blankgeputzt aus. Die langen Schatten akzentuieren das Bild. Vogel blickt in das Grün der Platanen, die den Eingang des Parks gegenüber säumen. Das Grün verschwimmt vor seinen Augen, er hat eine gewisse Gelassenheit gewonnen. Seit er aus dieser wachen Bewußtlosigkeit aufgetaucht ist, redet er sich ein, daß man ihn nur verfolgen, ihn fertigmachen will, und daß diese Geschichte mit dem Serumpositiv eine Lüge ist, 128
eine dreckige Lüge, um ihn gefügig zu machen. Also gibt es für ihn nur die einzige Aufgabe, hier herauszukommen. Er hat schon überlegt, ob er einfach lossprinten soll. Die Treppe ist nicht weit, doch die beiden Pfleger, die immer in seiner Nähe herumlungern, scheinen auch nicht unsportlich zu sein. Und außerdem hat er beim Eintreten in dieses Gericht gesehen, daß ein Pförtner hinter schußsicherem Glas die Drehtür automatisch anhalten kann. Er schöpft wieder Zuversicht, denn vorhin war seine Anwältin bei ihm, hat ein wenig geplaudert. Sie sind hin und her gegangen, immer die beiden Pfleger auf den Fersen. Wenn er mit jemand spricht, muß er seinen Mundschutz anlegen. Jetzt, an der Scheibe stehend, darf er die Mullbinde abnehmen. Man ringt ersichtlich um das Ergebnis. Die Zeit ist schon fortgeschritten. Kein Richter bleibt ohne Not so lange im Gericht. Die Flure sind ausgestorben. Die Türen der Verhandlungssäle stehen offen, aus einem tönen Staubsaugergeräusche. Plötzlich ein freundliches «Ding-dong», dann hört man die knarrende Stimme des Vorsitzenden, der die Parteien über einen Lautsprecher in den Saal bittet. Bis Vogel und die Pfleger eingetreten sind, hat sich das Gericht schon postiert. Den Mienen der Richter kann man nicht ansehen, wer mit dem nun zu verkündenden Ergebnis zufrieden ist und wer nicht. Alle wirken gefaßt und ruhig. Der Vorsitzende wendet sich zunächst an Winter, dann an Gisa. Seine langsame, jedes Wort wählende Sprechweise wirkt quälend für die Beteiligten, weil er immer noch nicht präzise sagt, was entschieden wurde. «Sie sehen alleine aus der Zeit, die wir für die Beratung benötigten, daß es sich die Kammer nicht leichtgemacht 129
hat, eine Entscheidung zu fällen. Ich verletze das gesetzlich geschützte Beratungsgeheimnis des Gerichts nicht, wenn ich mitteile, daß die Entscheidung nicht einstimmig ergangen ist. Wie könnte es bei einem Fall wie diesem anders sein. Indessen, das Gericht hat abwägen müssen zwischen Verantwortung und Freiheit, wenn ich es einmal so nennen darf, zwischen dem öffentlichen und dem privaten Interesse. Die Gründe, die wir den Parteien so schnell wie möglich zustellen werden, berücksichtigen beides. Im Ergebnis bekennt sich die Kammer allerdings zur öffentlichen Sicherheit.» Vogel hat nicht verstanden, was sie meinen. Er war genauso gespannt wie die anderen, hatte einen Spruch erwartet, so oder so. Die lange Vorrede deutet er als einen trügerischen Versuch, die Unsicherheit zu bemänteln. Ähnlich ist es Kron gegangen, der mit verschränkten Armen und gespanntem Gesicht den Vorsitzenden anstarrt. Und als der Professor hört, daß für die öffentliche Sicherheit entschieden worden ist, läßt er die Arme seitlich fallen, atmet auf, ist befreit und er vergibt innerlich dem Gericht. Winter sieht ihn an, nickt ernst, ja, sie haben gewonnen. Und so verkündet das Landgericht diesen Spruch: «Der Beschluß des Amtsgerichts wird aufgehoben. Der Betroffene, Bertold Vogel, wird vorläufig für die Dauer eines Jahres in eine Absonderung eingewiesen. Der Betroffene trägt die Kosten des Verfahrens.» Eine kurze Spanne des Schweigens entsteht. Und als der Vorsitzende ansetzen will zu erklären, was den Juristen geläufig ist, daß dies nämlich nur eine Eilentscheidung darstellt, die in einem sogenannten Hauptsacheverfahren noch einmal überprüft werden kann, ja muß, hört 130
man das Schluchzen des jungen Kerls, den sie gerade verurteilt haben. Aus ist es mit der harten Miene und dem forsch-brutalen Auftreten. Er ist zusammengeknickt, hat den rechten Arm vors Gesicht geschlagen, heult in den Ärmel hinein. Vielleicht sind es auch die Tabletten, die ihn in dieses Wechselbad der Gefühle stürzen. Eben war er noch sicher, daß er von einem Spuk verfolgt wird. Serumpositiv war nur ein Vorwand, ein böses Gerücht, nichts weiter, und nun, nun hat ein Gericht mit drei Richtern alles geglaubt, was die anderen sagen. Nun glaubt Vogel plötzlich selbst, daß er tödlich krank ist. Ihn springt die Angst wieder an, die Verzweiflung drückt ihm die Brust zusammen. Er schluchzt. Da unterläßt der Vorsitzende seine Belehrung. Die Juristenkollegen vor den Schranken des Gerichts werden es ihrer Partei schon mitteilen. Er flieht förmlich aus diesem Saal, gefolgt von dem jungen Richter. Die Beisitzerin geht langsam, nachdenklich, erreicht die Tapetentür und dreht sich um. Sie sieht, wie nun die vier Männer auf den hemmungslos weinenden jungen Mann zutreten, immer näherkommend, ruhig und beherrscht wirkend. Vogel läßt den Arm von den Augen sinken. Der Mundschutz rutscht unter sein Kinn, die Lippen zucken. Er sieht sich umringt. In diesem Augenblick schnellt Gisa vor, ist unversehens zwischen Kron und dem einen Pfleger durchgeschlüpft. Der Professor erwischt sie am Ellenbogen, will sie zurückziehen, doch sie reißt sich los, wirft ihm einen verächtlichen Blick zu. Sie steht knapp eine Armlänge entfernt vor Vogel, dem die Tränen über das Gesicht laufen. Hinter ihr Kron, sprungbereit, seinem Gewirr von Gefühlen nach kann er diese Nähe von Gisa zu dem in seinen Augen hochansteckenden Mann gerade noch tole131
rieren, nicht lange, aber für ein, zwei Minuten. Wenn er nur nicht heulen würde, der Patient, hoffentlich schweigt er und spuckt nicht beim Sprechen. Kron hält den Atem an. Die Pfleger stehen neben ihm. Winter tritt zurück, tut, als müßte er in der Akte etwas ordnen. «Bin so verzweifelt», flüstert Vogel, «so fertig, Mann, bin ich fertig!» Alle schweigen. Vogel, in unendlicher Traurigkeit: «Ich schnall das nicht. Warum gerade ich? Was wollen die von mir? Keiner hat bis jetzt wirklich gesagt, warum sie mich einsperren.» Das Weinen schüttelt ihn. Behutsam spricht Gisa nun mit ihrem Mandanten: «Komm, Vögelchen, Berti. Ich kann nicht sehen, wenn ein junger Kerl weint.» Vogel faßt sich, reibt mit den Handballen seine Augen. «Kommen Sie, Herr Vogel, wir müssen jetzt gehen», sagt Kron dazwischen. Gisa dreht sich um und zischt ihn an: «Einen Moment, bitte.» «Ziehen Sie den Mundschutz vor», schnauzt einer der Krankenpfleger. Vogel starrt seine Hände an. Sie sind benetzt von den Tränen. «Ich heul’ schon nicht mehr, es ist schon gut», sagt er. «Ich faß mich jetzt.» Gisa sieht, wie der junge Kerl vor ihr mit den Tränen ringt, und sie selbst ist mehr als betroffen, sie schluckt, einmal, zweimal, bevor sie sprechen kann. «Ich versteh’ das Urteil doch auch nicht, nichts verstehe ich.» «Gibt’s keine Chance mehr?» fragt Vogel. «Nein, der Beschluß ist rechtskräftig», antwortet Gisa. «Und das Bundesverfassungsgericht?» Da schüttelt Gisa den Kopf. Sie bleibt stumm. Sie weiß, daß sie allenfalls in Jahren zermürbenden Wartens einen Beschluß oder ein 132
Urteil dieses hohen Gerichts bekommen würde. Daß man eine einstweilige Anordnung dort erlassen könnte, glaubt sie nicht. Trotzdem sagt sie: «Ja, wir gehen nach Karlsruhe. Aber es dauert.» «Wir müssen fort», sagt Kron eindringlich, aber durchaus freundlich. Vogels Augen füllen sich wieder mit Tränen. Gisa streckt den Arm aus, berührt Vogel noch nicht. Kron tritt unmittelbar hinter sie. Sie sagt: «Das Leben geht doch weiter, man bringt Sie in ein Krankenhaus, das ist doch kein Knast.» Und nun aufmunternd, aufgesetzt wirkend: «Dort sind Sie frei, Vögelchen, frei auf eine andere Art natürlich. Dort brauchen Sie auf nichts mehr Obacht zu geben. Dort leben auch Menschen, liebenswert wie Sie. Bestimmt gibt’s dort viel Schönes.» Vogel nickt unter Tränen, artig wie ein Junge, der verspricht, auf seine Mutter zu hören. «Es wird schon gehen», sagt er in großer Traurigkeit, «wenn’s nur kein so weißer Kasten wär, weiß wie ein Kühlschrank. Tür und Fenster verrammelt.» Nun weint er bitterlich. Und Gisa greift nach dem Ärmel des Jungen. Immer noch zaudert Kron dazwischenzugehen, weil er selbst gerührt ist, mehr als ihm als Forscher guttut, wie er meint. Und in einem Augenblick der Unkonzentriertheit geschieht, was nicht hätte geschehen dürfen. Gisas Hand streicht über die tränenfeuchte Wange, und schluchzend wirft sich ihr der junge Vogel in die Arme. Gisa zieht ihn an ihre Brust, bevor noch Hände in Gummihandschuhen die beiden auseinanderreißen. Kron, selbst ohne hygienischen Schutz, stößt Gisa zur Seite. Er schreit sie an: «Was machen Sie da?» 133
Gisa strauchelt, fällt fast hin, muß sich am Gerichtstisch festhalten. Sie starrt in wortloser Anklage die Richterin an, die schweigend und ohne einzugreifen die Szene verfolgt hat. Die Richterin hält den Blick der Anwältin aus, dann tritt sie langsam, Schritt für Schritt zurück und schließt die Tür. Als Gisa sich umdreht, ist ihr Mandant verschwunden, auch Kron und Winter sieht man nicht mehr. Auf dem Flur hallen Schritte. Sie rennt, so schnell es mit dem engen Rock geht, zur Tür. Dort unten, am Ende des Korridors, biegt die Gruppe eilig um die Ecke. Sie ruft hinterher: «Ich besuch’ dich, Junge, bestimmt, so, wie ich meine anderen Mandanten besuche, die im Gefängnis sind.»
Dienstag, Nacht Oben rumoren die Studenten. Sie sind seltsam unruhig. Man ist das nicht gewohnt. Normalerweise gehen sie still ein und aus und büffeln. Brave junge Leute. Heute ist irgendwas mit ihnen, denkt Betz und hält inne. Er hat Klavier gespielt. Nicht ernsthaft geübt, nein, herumimprovisiert, wie er es oft macht, um schlechte Laune oder Müdigkeit zu vertreiben. Er ist bei «Summertime» hängengeblieben. Sein Kopf reproduziert ihm Bilder des regenverhangenen Montagmorgens und der Frau, der Nacht; Träume vom Urlaub. Summertime. Oben über Betzens Kopf fällt etwas runter, rollt über den Boden, trampelnde Schritte, jemand grölt drei Worte. Betz bekommt dies über einen Umweg, über die geöffneten Fenster, zu hören. Einsilbige Worte, ähnlich wie Hi-ha-ho. Vielleicht hat sich einer betrunken, weil er eine 134
Klausur nicht bestanden hat oder weil er besonders erfolgreich war. Es gibt keinen Anlaß, das Fenster zu schließen. Die Nacht draußen ist lauwarm, durchzogen von einem leicht föhnigen Wind. Der schwarze Himmel ist rosa und gelb eingetönt von den Lichtern der Stadt. Eine Grille ruft in einem Baum unweit der Fenster. Ihr noch zaghaftes Liedchen schwebt hoch über dem Asphalt. Plötzlich läutet es. Es wird Jonason sein, denkt Betz und geht, er öffnet, doch es ist nicht der alte Mann, sondern Gisa Wormser, die sich an ihm hochstreckt, ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange drückt, dann an ihm vorbeistürmt, das Band ihrer Tasche wütend über den Kopf ziehend, durch den Flur ins Wohnzimmer eilt, dessen Tür offensteht. Betz trottet ihr nach, erstaunt über die Impulsivität der Frau. Er glaubt an alltäglichen Ärger, einen Strafzettel im eingeschränkten Halteverbot oder sowas ähnliches. Gisa steht neben dem Klavier, sie kramt in der Tasche herum, zieht Zigaretten und ein Feuerzeug heraus. Sie beginnt hastig zu rauchen. Mit den Worten «Zuerst lassen sie einen geschlagene eineinhalb Stunden warten» beginnt sie ihren Bericht über die Verhandlung vor dem Landgericht. Betz hört zu, den Blick gesenkt, bedacht wirkend. Er unterbricht sie nicht, er geht auf leisen Sohlen hinaus in die Küche und kehrt wieder mit einer geöffneten Flasche Wein und zwei Gläsern. Er schenkt ein, gibt ihr ein Glas. Gisa trinkt einen Schluck und fährt nun etwas ruhiger fort: «Ich bin sicher, die Frau hat zu unseren Gunsten entschieden, der Vorsitzende und sein Adlatus dagegen. Es soll wahrscheinlich so was wie ein Exempel statuiert werden. Ein Fall, den man in die Zeitungen bringen kann. Warum gibt der Staatssekretär dem Landgericht die 135
Ehre, wenn er sich sonst noch nicht einmal beim Juristenball sehen läßt?» Betz schweigt. Natürlich kennt er den Grund, doch sie haben ihm das Versprechen abgenommen zu schweigen. Gisas Ärger ist wie ein vergrollendes Gewitter. Was soll er auch sagen? Dieser Fall ist entschieden und vorbei. So schweigt er. Wozu soll er Gisa mit dem Wissen belasten, mit den Zweifeln befassen? Morgen, da kommt ein anderer Fall daher, mit einem anderen Anwalt, dem man genauso wenig sagen wird. Man wird auch diesem zu verstehen geben, wie er vergangene Nacht seiner Freundin, daß man sich aus der Schußlinie halten soll – zum eigenen Wohlergehen. Er sagt zu ihr: «Nimm’s nicht so tragisch, dir bleibt noch das Hauptverfahren.» «Pah, von wegen Hauptverfahren. Ich geh’ nach Karlsruhe zum Bundesverfassungsgericht.» Betz weiß, welch hohe Hürden das höchste deutsche Gericht vor sich aufgebaut hat. Sie zu überspringen ist schwer. «Du riskierst, daß sie dir eine Mißbrauchsgebühr aufbrummen beim Verfassungsgericht», sagt Betz nüchtern. «Von mir aus.» «Das können tausend Mark sein.» «Ich zahle das», sagt Gisa energisch und drückt wütend ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus. «Du redest wie eine Querulantin», knurrt Betz, und weil dies unter Juristen ein böser Vorwurf ist, setzt er abschwächend hinzu: «Nimm’s mir nicht übel, wenn ich behaupte, daß du dich verrennst.» «Oh mein Gott, ja, ich verrenne mich», faucht Gisa. Sie schüttet mit einer Bewegung aus dem Handgelenk den Wein in sich hinein; sie schüttelt sich, ähnlich einem 136
ungewohnten Trinker, der einen Schnaps zu sich genommen hat. Sie fährt leise fort zu sprechen, sieht Betz an, der ihrem Blick ausweicht, kommt Schritt um Schritt näher. «Ich kann nicht mit ansehen, wenn man mit einem Menschen so umgeht wie mit einem Stück Holz.» «Wer sich persönlich mit dem Herz engagiert, ist ein schlechter Anwalt», sagt Betz zögernd. «Ja, ja, ja», schreit Gisa plötzlich, «ich kann nicht aus meiner Haut.» Dann beruhigt sie sich. «Du hast ihn doch auch nicht verurteilt», sagt sie fast lauernd. «Eben», sagt Betz lahm. «Die haben ihn mit ihren Medikamenten eingelullt, seine Sinne verstopft. Sie reagieren nur, wenn man ihnen droht. Nur deshalb haben sie ihm heute nachmittag die weitere Betäubung erspart, nur deshalb. Und er hat sich der Verhandlung gestellt. Er hatte Anlaß zum Mut. Und dann dieses abgekartete politische Spiel. Das hat doch nichts mit einem fairen Verfahren zu tun.» Betz schenkt seiner Freundin nach, durchaus in der Absicht, sie durch den Alkohol zu mäßigen. Gisa läßt es geschehen, sie raucht intensiv, inhaliert, läßt den blauen Dunst durch die Nase entweichen. «Ich weiß nicht, ob es nicht besser ist, du konzentrierst dich auf das Hauptverfahren», wirft Betz ein. «Das Verfassungsgericht wird das auch verlangen.» Gisa ist zu sehr in ihre Erinnerung verstrickt, als daß sie sich auf die Fachfragen einläßt. Grübelnd sagt sie: «Vielleicht ist es die Angst, daß einem selbst einmal etwas ähnliches zustößt, was einen so verrückt macht! Wenn man das sieht, wie sie mit dem Vogel umgehen!» «Wie?» fragt Betz. «Daß sie dich herausreißen aus dem Alltag, aus deinen 137
Gewohnheiten, deiner Welt, in der du lebst, dich verschleppen oder dir die Existenzgrundlage entziehen. Du bist atemlos, hilflos. Im Rahmen der Möglichkeiten behandelt dich jeder korrekt. Nein, nein, das sind keine KZ-Schergen. Sie sind freundlich und handeln nach dem Gesetz. Jeder von denen findet gute, passende Argumente dafür, was er macht. Ja, und tatsächlich haben sie recht, es wäre eine Katastrophe, wenn dir selbst so etwas zustößt.» Sie zögert kurz, sieht Betz an, dann sagt sie: «Und außerdem geht es mir beruflich gegen den Strich. Ich verliere nicht gerne.» Eine lange Pause entsteht. Betz setzt sich auf den Klavierschemel, er tauscht die Noten auf dem kleinen Pult aus, sucht irgend etwas zum Spielen, aber er findet nichts, was ihm gefällt. Gisa raucht. Man hört über den Köpfen trampelnde Schritte und wieder diese drei einsilbigen Worte, die man nicht verstehen kann. Unten auf der Straße hupt ein Wagen rhythmisch. Das Lied der Grille erstirbt für einen Augenblick. Plötzlich Stille. «Er hat geheult», sagt Gisa leise, «geweint wie ein Kind.» Sie lächelt fast, dann dreht sie sich herum, tritt neben Betz, legt ihm die Hand auf die Schulter, streichelt dann zärtlich seinen Kopf, die weichen Haare im Nacken. Sie flüstert: «Dieser widerborstige, so patzige Kerl – und Tränen in den Augen, Tränen auf dem Gesicht. Plötzlich hat er sich an meine Brust geworfen. Ich sehe noch sein Gesicht vor mir, ein Kind, das den Schutz seiner Mutter sucht.» Betz fährt auf, verursacht dabei einen Ton, den er versehentlich auf dem Klavier anschlägt. «Was?» fragt er schnell. «Okay, ich weiß, eine ordentliche Anwältin macht so etwas nicht. Aber vielleicht bin ich keine ordentliche 138
Anwältin. Das ist mir auch egal. Und sei beruhigt, Pfleger und Kron, sie haben uns sofort auseinandergerissen.» Sie lächelt, ein Augenblick weiblicher Sentimentalität. «Dank Kron und seinen Wächtern war es nur ein kurzer Augenblick der Unbeherrschtheit. Mein Ruf ist nicht in Zweifel gezogen.» Betz schluckt, bevor er fragt, ob der Mandant sie angehaucht habe. Gisa lächelnd: «Aber ja, du tust, als ob man sich anstecken könne. Das ist es doch gerade, was sie uns tagtäglich mit Werbespots einbleuen: im normalen Umgang passiert nichts. Sie brauchen diesen Fall, weiß der Himmel aus welchen Gründen, um Panik zu machen. Das ist …» Es klingelt wieder. Gisa hält inne. Betz, höchst beunruhigt, ist trotzdem froh für diese Unterbrechung. Er steht schnell auf, geht hinaus. Und weil er nicht möchte, daß ein Fremder sieht, daß er Besuch hat, zieht er die Tür halb zu. Dabei hofft er, daß es der Jonason sein würde und keiner von den Studenten. Es klingelt wieder, dringender. Gisa steht am Klavier und raucht. Betz öffnet die Tür, ein Lächeln auf den Lippen, bereit, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Das Lächeln gefriert augenblicklich. Kron. Hinter ihm, in angemessenem Abstand, stehen die beiden Pfleger. Der Professor nickt, tritt, ohne gebeten worden zu sein, näher, die Hände auf dem Rücken. Nur kurz zuckt sein Arm vor. Zwischen seinen Fingern baumelt eine Mullbinde, wie sie Vogel am Vormittag im Gericht getragen hatte. «Guten Tag, Herr Betz, kommen Sie bitte mit, wir müssen Sie testen», sagt Kron sachlich und kühl. Betz ist verblüfft, erschrocken, starrt die Mullbinde an. 139
«Warum ich?» fragt er. «Weil wir alle Personen, die mit Vogel in den letzten Tagen in Kontakt gekommen sind, einer Untersuchung unterziehen. Das Seuchengesetz.» «Ich weiß», unterbricht Betz. «Wir haben vier Infektionsfälle», sagt Kron, «den jungen Vogel eingeschlossen.» «Ich weiß», wiederholt Betz. Er zögert ein wenig, bevor er sich räuspert, und sagt, daß er keinen Sinn darin sähe, sich einem Test zu unterziehen. «Ich hatte mit diesem Mann keinerlei körperlichen Kontakt, ich bin ihm nicht näher gekommen als fünf Meter.» «Trotzdem», Kron legt die Mullbinde auf eine Anrichte im Flur. Er tritt zwei Schritte zurück. «Bitte legen Sie dies an, über Mund und Nase.» «Selbst nach dem, was Sie sagen, kann nichts passiert sein», sagt Betz. Er achtet nicht darauf, daß Gisa mithören kann, Zeugin des Geheimnisses der Männer werden könnte. «Davon gehe ich auch aus, aber es ist zu Ihrer und unserer Sicherheit. Ich will jeden Verdacht ausschließen.» Ohne Anklage und ohne Süffisanz fügt Kron hinzu: «Sie haben gefordert, daß man sich nicht auf Mutmaßungen stützt. Wir verfolgen Ihre Linie.» Betz: «Es paßt mir zeitlich nicht, jetzt nicht. Morgen wäre es besser. Ich habe sowieso eine Verhandlung.» «Richtig, Peter Vogel, der ältere Bruder.» «Davor könnte ich doch zu Ihnen kommen. Es ist dann viel einfacher.» Kron sagt kalt: «Nein. Kommen Sie, wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir bringen das jetzt hinter uns, dann wissen wir Bescheid, dann können Sie wenigstens ruhig schlafen. Sonst quälen Sie sich nur herum mit weiß Gott 140
was für einem Verdacht.» Kron nimmt die Hand vom Rücken und zeigt auf die Mullbinde. «Hier, vergessen Sie das nicht», sagt er. Betz lacht, wie er schon oft hat Straftäter lachen sehen, wenn man sie mit einem Verdacht konfrontiert und sie sich anschicken, die Unterstellung in das Reich der Fabeln zu verweisen. Er zuckt mit den Schultern, nimmt die Mullbinde, betrachtet sie, macht sich umständlich daran, sie über den Kopf zu streifen. «Wo ist Frau Wormser, wissen Sie das zufällig?» fragt Kron. Betz antwortet nicht, er tut, als sei er mit der Aufgabe vollauf beschäftigt, den Mundschutz überzustülpen. «Ich habe gedacht, ich komme bei Ihnen beiden persönlich mit. Sie sind ein Mann der ersten Stunde, der die neue Ansteckungsgefahr rational sieht. Sie haben das verdient, daß man Sie besonders behandelt», sagt Kron. «Die anderen Fälle bearbeiten die Herren hier.» Er weist mit dem Kopf in Richtung der beiden Krankenpfleger, die hinter ihm in der Tür stehen. Dann fährt er fort und erklärt, daß zukünftig auch Winters Leute mithelfen. Als die vier Männer die Wohnung verlassen und die Tür behutsam ins Schloß gezogen wird, merkt Gisa, daß ihre Zigarette heruntergebrannt ist bis zum Filter. Sie hat atemlos zugehört. Die Zigarette stinkt, der warme Wind weht herein. Gisa erschrickt, stößt den glimmenden Stummel in den Aschenbecher. Dann löscht sie das Licht, tritt an das Fenster. Durch die Blätter des Alleenbaumes sieht man einen Krankenwagen im Licht der Straßenlaterne stehen. Schritte auf dem Pflaster. Niemand spricht ein Wort. Eine Schiebetür an dem Fahrzeug rumpelt auf, wird wieder zurückgezogen und zugeschlagen. Die Türen eines 141
anderen Fahrzeugs klappen. Blaulicht blitzt, es huscht herum, es wirft seinen Schein über die gegenüberliegende Fassade, auf die Autos, es funkelt rhythmisch unter dem Blätterdach. Dann setzt sich das Fahrzeug in Bewegung. Der Krankenwagen gibt Gas, gewinnt schnell an Fahrt. Ohne Sirene, nur das blendend blaue Licht um sich verbreitend, biegt er um die Ecke. Gisa ist erstarrt. Sie spürt nicht den freundlichen Wind. Sie nimmt nicht die neugierigen Gesichter in den anderen Häusern wahr, Gaffer, die sich aus den Fenstern lehnen. Hinter ihr das dunkle Zimmer. Irgendwo singt ein Mann mit einer brüchigen Stimme, oder ist es eine Frau? Endlich ist Gisa wieder konzentriert, lauscht auf die Stimme, riecht den Geruch von Asphalt und Frische, den der Wind mit sich trägt, registriert, wie Fenster wieder angelehnt, Vorhänge wieder vorgezogen werden. Welch eine verrückte Verschwörung ist das, fragt sich Gisa. Geheime Tests, sie suchen mich? Gisa setzt sich und tastet in der Dunkelheit nach ihren Zigaretten.
Dienstag, Nacht Betz steht mitten in einem Ambulanzzimmer der Inneren Klinik. Neonlicht, Klimaanlagenluft. Er preßt sich einen Tupfer auf die Armbeuge. Unter seinem Finger bildet sich ein roter Hof. Er betrachtet sein Blut wie einen bösen Feind. In der Nähe einer Durchreiche hantiert die MTA, die ihn behandelt hat. Sie trägt einen grünen Kittel, den man hinten schließen kann, Gummihandschuhe und einen großen Mundschutz, viel größer als der vor Betzens Gesicht. Sie hat seltsam dünne Augenbrauen und große, ungeschminkte Augen. Sie hat mit Betz nur 142
kurze, befehlsartige Worte gesprochen. Sie war konzentriert auf ihre Arbeit. «Bitte warten», sagt sie. Die Durchreiche bleibt geschlossen, das Mädchen verläßt auf klappernden Pantinen den Raum. Betz sieht, daß sie Storchenbeine hat. Er hört mit größtem Erstaunen, wie ein Schlüssel herumgedreht wird. Er ist allein. Warten.
Dienstag, Nacht Verkehr brandet durch die Straßen der Innenstadt. Kinos und Theater haben ihre Vorstellung beendet, die Zuschauer entlassen. Passanten schlendern in der milden Luft, nach langem Regen aus den Häusern gelockt, betrachten die Auslagen. In den Fußgängerzonen die Biergärten. Lachende, gesellige Menschen. Man trinkt, stößt an, ißt. Leuchtreklamen flackern an den Häuserfronten. Vor ihnen wirken die Menschen oft wie Silhouetten. Straßensänger gastieren in Hauseingängen, wo ihre Stimme hallt und besonders gut getragen wird. Jongleure, Pantomimen, Hundedresseure. Pflastermaler im Halogenlicht eines eleganten Kleidergeschäftes sitzend, kopieren den Gekreuzigten von El Greco. Ganz selten sieht man ein paar Polizisten mit einem Walkie-Talkie am Koppel. Alle Parkplätze sind verstopft. Die Autos stehen kreuz und quer. Auf allen Straßen haben sich Schlangen gebildet. Man sieht viele Cabriolets mit offenem Dach. Doch Gisas Verdeck bleibt geschlossen. Sie sitzt rauchend bei geschlossenem Fenster hinter dem Steuer, kuppelt, gibt Gas, bremst, wie es ihr der Stau befiehlt. Bläuliches Licht von draußen huscht über ihr Gesicht. 143
Sie nagt an den Lippen. Gisa fährt nur umher, damit sie in Bewegung ist. Ihr Charakter erlaubt ihr keine Ruhe in einer solchen Situation. Sie ist wie gepeitscht, wie besessen. Sie kann noch nicht ordnen, was sie erfahren hat. Sie spricht laut mit sich selbst, versucht, sich zu überzeugen, daß alles ein Aberwitz, ein Spuk ist. Natürlich, sie ist hineingeraten in ein von machtgierigen Politikern inszeniertes Spiel der Angst. Und sie reagiert prompt, wie man es von ihr erwartet, mit Angst, mit Flucht, so schaltet man die Menschen aus. Wer weiß, wo Andreas ist, wer weiß, was sie mit ihm vorhaben? Was haben sie ihm vorgegaukelt? Politik und Medizin. Sie haben die Macht über die Befunde. Was hindert sie daran, einfach solche bedrohlichen Tatbestände zu erfinden? Kann man als Bürger prüfen, ob die Aussagen stimmen? Sie müssen nur alle zusammenhalten! Man macht einen Mummenschanz, testet, verkündet das Urteil «serumpositiv», und schon stürzt man die Betroffenen in Todesangst und Panik. So einfach, so wirkungsvoll ist das. Nein, sie wird sich nicht zum Narren halten lassen, ermahnt sich Gisa. Sie läßt sich nicht ausschalten. Sie wird zurückkehren in ihre Wohnung und abwarten, was geschieht. Endlich gewinnt sie wieder freie Bahn. Mehrere Ampeln hintereinander leuchten grün. Die Räder rollen. Gisa öffnet das Fenster, raucht. Die Angst verfliegt für Augenblicke. So fährt sie noch einige Zeit ziellos durch die Stadt, sich immer und immer wieder beschwörend, nicht verrückt zu spielen, nicht durchzudrehen, die Krankheitsfurcht bagatellisierend, die sie vorantreibt. Natürlich weiß sie, daß sie die einzige war, die Vogel wirklich zu nahe gekommen ist. Endlich erreicht sie die 144
Straße, in der sie wohnt. Sie hat fast schon wieder so etwas wie Gelassenheit zurückgewonnen. Sie beschwört sich, ruhig zu bleiben, will gleich bei Andreas anrufen, ihn überreden, daß er mit der Sprache herausrückt. Denn daß er mehr weiß als sie, ist ihr nach dem belauschten Gespräch klar. Doch dann sieht sie knapp dreihundert Meter vor dem Haus, in dem sie wohnt, rechts einen Krankenwagen stehen. Brav eingeparkt in einer Parklücke. Im Führerhaus brennt ein kleines Licht. Gisa bremst. Sie weiß, daß sie nicht vorbeifahren darf, sonst sieht man ihre Autonummer, die man sicher schon kennt. Sie stößt in eine Einfahrt zurück, wendet, gibt Gas und rast davon, gerade noch die letzte Phase eines Gelblichts an der Ampel ausnutzend.
Dienstag, Nacht Die absolute Geräusch- und Geruchlosigkeit, das fast schattenlose Licht, die grünlichweiße Umgebung, alles gibt Betz einen Eindruck jener Kälte, die auch der junge Vogel gefürchtet hat. Betz kann nun sehen, wie richtig er gehandelt hat, am Morgen den jungen Mann nicht zu verurteilen, er weiß, wie recht Gisa hat. Menschlich gesehen. Durch seinen Magen zieht ein dumpfes, schales Gefühl. Befürchtungen kommen auf. Der Einstich an seinem Oberarm ist schon dunkelrotbräunlich verkrustet. Nun kann er den Hemdsärmel wieder herunterstreifen. Betz sitzt da und kämpft mit Ahnungen. Und was ist, wenn er doch durch irgendeinen seltsamen Umstand ein Speichelpartikelchen aufgelesen hat, irgendwie in sich 145
gebracht hat? Die Mutter ist nicht infiziert. Gut. Aber warum? Die Brüder sind es. Wie und auf welchem Wege weiß keiner. Betz grübelt, er betrachtet seine Hände, formt sie zu Fäusten, öffnet sie wieder, dreht und wendet sie. Diese Krankheit geht nicht weg wie eine Influenza. Sie laugt die Menschen aus, entzieht ihnen die Kraft, bringt sie um. Und die Medizin? Nur Kosmetik. Das sind Aussagen, an die er sich erinnert, Aussagen, die für seine trockene Kehle und die feuchten Hände verantwortlich sind. Betz atmet durch, schnauft bewußt tief, um gegen diese Gefühle anzukämpfen. Er sieht auf die Uhr, schon fünfundvierzig Minuten ist er allein, eingeschlossen in diesem Zimmer. Soll er sich wehren, soll er an die Tür trommeln? Das Wort «Freiheitsberaubung» huscht durch seinen Kopf. Routiniert prüft sein Intellekt die Voraussetzungen dieses Straftatbestandes durch. Betz findet die Antwort: Durch das Bundesseuchengesetz als vorläufige Maßnahme gerechtfertigt. Er ertappt sich bei der Überlegung, ob er freiwillig einwilligen soll, wenn es soweit kommen sollte, daß man ihn absondern muß, oder soll er auf ein Gerichtsverfahren bestehen? Wer würde an seiner Stelle als Richter entscheiden? Vielleicht Küster. Küster könnte, sich als befangen erklärend, ablehnen. Dann wäre nach dem Geschäftsverteilungsplan der Amtsgerichtsvorstand dran. Ein Mann, zu dem Betz ein kühles Verhältnis hat. Ein glatter, routinierter Jurist. Keine Besorgnis der Befangenheit in seinem Fall! In seinem grünlichweißen Verlies hat Betz Schritte gehört. Er erschrickt, als die Tür aufgeschlossen wird. Kron tritt herein. Auch der Professor trägt jetzt einen Mund146
schutz. In der gereinigten Luft riecht er ein wenig nach Tabaksqualm. Einen kurzen Augenblick sieht er den Patienten an, der äußerlich ruhig und gefaßt zu sein scheint. Doch der Mund verrät große Unruhe. Die Augen fragen. Kron taxiert diesen Mann, dessen Macht er, der Professor, hat kennenlernen müssen. Er blickt ihn ein oder zwei Augenblick länger an, als es notwendig gewesen wäre, bevor er den Befund verkündet. «Und?» fragt Betz tonlos, räuspert sich, wiederholt: «Und?» Kron fährt mit einer Hand unter die Mullbinde, streift sie mit einem Schwung über den Kopf. «Entwarnung, Herr Betz» sagt er, «wie ich gesagt habe, es war nichts. Negativ.» Betz atmet tief durch, er bläßt die Backen auf, seine Hände kneten einander. Ein absurdes Gefühl der Dankbarkeit durchzieht ihn, löst diesen Druck im Magen auf. «Danke», sagt Betz. Er lächelt. «Danke», wiederholt er. Dankbarkeit für einen Mann, der lediglich Tatbestände feststellt. Dankbarkeit, als sei der Professor in der Lage, aus eigenem Gutdünken zu entscheiden, ob positiv oder negativ. «Ich kenne diese Erleichterung, die Sie jetzt spüren», sagt Kron. «Ich sage meinen Patienten lieber dieses Ergebnis als ein anderes, das können Sie mir glauben.» «Und nun?» fragt Betz. «Nun können Sie gehen», sagt Kron. «Und in drei Wochen wiederholen wir den Test. Wir wissen ja noch nicht, wie bald sich die Viren feststellen lassen. Aber bei Ihnen ist nichts, da habe ich keine Angst.» Betz geht auf den Arzt zu. Will ihm die Hand drücken, doch dieser weicht ihm lächelnd aus, zuckt mit den Schultern. 147
«Bis morgen um 8.30 Uhr», sagt Betz. «Nein, ich werde im Institut gebraucht», sagt Kron. «Morgen kommt nur Herr Winter. Die medizinischen Fakten kennen Sie ja.»
Dienstag, Nacht Betz rennt durch seine Wohnung. Er schlägt Türen, sieht in jedem Winkel nach. «Gisa, Gisa», schreit er. Keine Antwort. Er schaut sogar unter das Bett und in die Besenkammer. Nichts. Kein Hauch ihres Parfüms, kein Gegenstand von ihr. Nur zwei Kippen im Aschenbecher, das ist alles. Das Telefon. Betz stürzt hinüber zu dem kleinen Marmortisch. Er reißt den Hörer hoch. «Betz», sagt er hastig. «Sekretariat Professor Kron», sagt eine warme Frauenstimme. Betz, dem schon schwant, seine Diagnose werde revidiert, erschrickt. «Ja?» fragt er in Panik. «Herr Peter Vogel hat nun auch seine Einwilligung gegeben, daß er hier behandelt wird. Der Termin morgen früh bei Ihnen im Gericht ist nicht mehr notwendig. Das Gesundheitsamt hat die Erklärung schriftlich bei den Akten», sagt die Sekretärin und verabschiedet sich.
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Mittwoch, Morgen Der Tag graut. Gisa fröstelt. Noch aus Kindertagen kennt sie sich im Winterhafen aus, der längst seine ursprüngliche Funktion verloren hat. Hier liegen heutzutage alte Schiffe vor dem Abwracken, daneben Sportboote und Jollen. Im hinteren Ende ist die ehemalige Flußbadeanstalt Ravin vertäut. Sie wird nicht mehr gebraucht. In dem braun sich dahinwälzenden Strom kann keiner mehr baden. Aus den Lagern und Industriehallen des neuen Hafens kommen schon lange keine Bengels mehr, die auf den Wracks herumturnen und die Badeanstalt aufbrechen. Alles ruhig und verlassen. Hierher hat sich Gisa zurückgezogen und versteckt. Schräges Licht scheint durch die halbblinden Scheiben in die ehemalige Damenumkleidekabine. Gisa hatte zwei Sitzbänke zusammengestellt, war auf ihnen eingenickt. Nun sitzt sie, den Rücken an der Holzwand, den Trenchcoat eng um sich geschlungen, und fröstelt. Ihre Zähne klappern leise. Es riecht schon lange nicht mehr nach Schweiß und Seife und feuchtem Holz. Es ist klamm, es ist kalt. Süßlicher Moder dringt aus allen Ekken. Gisa erhebt sich, sie schlägt die Arme zwei-, dreimal um den Körper, damit das Blut wieder zirkuliert. Dann verläßt sie die Kabine, geht den von Schimmel glitschigen Holzflur hinunter bis zur steilen Treppe, die hinauf zur Bademeisterkabine führt. Von hier aus kann man über die Mole sehen, bis zur Anlegestelle des Wormserschen Ausflugsdampfers. Und dort steht ein Krankenwagen. Gisa fährt zusammen, als sei hinter ihr ein Schuß gefallen. Kein Mensch ist zu sehen. Gisa holt ein Papiertaschentuch aus der Tasche, wischt rasch ein wenig Spinnweben und Staub von 149
den Scheiben, drückt sich fast wie ein Kind die Nase halb platt. Es dauert schier endlos, bis drei Männer in Weiß erscheinen, einsteigen und mit dem Krankenwagen fortfahren. Ihr Vater ist nicht dabei. Man sucht sie, sagt sie sich. Das Frösteln kehrt wieder. Oh nein, man wird sie nicht so leicht finden. In der vergangenen Nacht hat Gisa lange nachgedacht, ihre Situation durchgespielt. Es ist entschieden, sie will sich nicht stellen. Sie will nicht das Ergebnis wissen, auch wenn sie angesteckt sein sollte. Warum auch? Sie kann sich verantwortungsbewußt benehmen. Sie kommt niemand zu nahe. Es passiert niemandem was. Und sie selbst fühlt sich gesund, ihr fehlt nicht das geringste – außer einer heißen Dusche. Sie hat sich dazu entschlossen abzuwarten, zu beobachten. Sie gibt nicht so leicht auf, läßt sich doch nicht von weißen Männern einfangen. Trotz des tiefen Schrecks, den ihr der Anblick dieses Krankenwagens in früher Morgenstunde versetzt hat, wirkt das Tageslicht belebend auf ihre Seele. Der kurze Schlaf hat die schweren Gedanken verscheucht. Es ist keine große Zuversicht, die sich in ihr aufbaut, aber das Morgengefühl genügt, um den Entschluß zu bestätigen, daß sie sich nicht stellen wird. Sie steigt wieder hinunter, um die ehemalige Flußbadeanstalt Ravin auf einen geeigneten Platz hin abzusuchen, der ein Campieren für ein, zwei oder drei Tage zuläßt. Dann sieht man weiter. Und Geld? Zum Glück hat sie genügend, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen.
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Mittwoch, später Morgen Betz hat den Zettel, den ihm die Geschäftsstellenbeamtin auf den Schreibtisch gelegt hat, mehrfach hin und her geschoben. Er hat sich selbst vorgemacht, er brauche diese Notiz nicht zu beachten. Aber es geht nicht, daß ein Richter die Bitte des Amtsgerichtsvorstandes ignoriert, ihn, den Vorstand, aufzusuchen. Es ist eine Frage des Anstandes. Nicht, daß Betz den Leiter des Gerichts fürchtet, er ist ein Primus inter pares, kein wirklicher Vorgesetzter. Richter sind unabhängige Personen. Der Vorstand schreibt Beurteilungen. Andreas Betz legt auf gute oder schlechte Zensuren keinen Wert. Er macht seine Arbeit. Und die Leute sind damit im Rahmen des üblichen zufrieden. Wozu soll er zum Vorstand? Er hat verdammt schlecht geschlafen, sich ruhelos hin und hergewälzt, bis er sich entschlossen hat, Hustentropfen zu nehmen, in denen Codein ist, um endlich einnicken zu können. Dann ist sein Bewußtsein weggesackt. Und er hat sich am Morgen wiedergefunden mit einem dicken Kopf und belegter Zunge. Kurz nach acht Uhr. Er ist ohne zu frühstücken, ohne Eile aufgebrochen, weil seine Routinefälle erst um zehn terminiert sind. Dann der Zettel, den er wieder vergessen hat, während er mit der Sache des blassen, dürr aussehenden Mannequins befaßt war, die er zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à DM 100 verurteilen mußte, weil sie so dumm war, ihren Radarwarner nicht von der Konsole zu nehmen, als sie in eine Polizeikontrolle kam. Eine Pause, wieder der Zettel. Die zwei Verkehrsordnungswidrigkeiten folgen. Im 151
einen Fall Verfahren eingestellt. Im anderen Geldbuße und Fahrverbot, ein Monat. Etwas später hat er gegen den jungen Soldaten verhandelt, der nicht aus Leichtsinn weggeblieben war, sondern weil die Mutter krank war, im Sterben lag, inzwischen auch gestorben ist. Der Verteidiger hat einen Zeugen beigebracht, der behauptet, einen Eilbrief an die Kompanie abgeschickt zu haben. Die Staatsanwaltschaft wird durch einen jungen Referendar vertreten, der geschickt agiert und den Zeugen in Widersprüche verwickelt. Doch Betz ist nicht konzentriert. Geplänkel, die ihn sonst interessieren, stören ihn heute. Er läßt den Referendar reden, den Zeugen zappeln, den Verteidiger dagegenhalten. Dann spricht er frei. Wo kommen wir denn hin, wenn so ein Bub nicht am Sterbebett seiner Mutter bleiben darf? Der schneidige Referendar kündigt Berufung an. Betz zuckt mit den Achseln. Die Hausfrau, eine stille, damenhafte Erscheinung, ist einschlägig vorbestraft. Der vierte Ladendiebstahl, den man ihr nachweist. Es scheint, als stehle sie immer hochwertige Kleidung. Ein Kaschmirpullover, Wert eintausend Mark. 45 Tagessätze zu DM 40, urteilt Betz. Der letzte Fall ist entfallen, weil der Betroffene den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid kurz vor Beginn der Sitzung hat zurücknehmen lassen. Andreas Betz steht in seinem Zimmer, spielt mit dem Zettel, den er langsam zerknüllt. «Gehe nicht zu deinem Ferscht, wenn du nicht gerufen werscht», geht es ihm durch den Kopf. Er lächelt. Doch wie gesagt, der Vorstand eines Amtsgerichts ist kein Vorgesetzter, schon lange kein «Ferscht». Und gerufen hat er auch. Also trabt Betz los. Auf dem Gang trifft er Küster in der Robe. Er streitet lautstark mit einem alten Mann. Eine gerichtsbe152
kannte Erscheinung. Ein hutzeliges dürres Männchen mit keifender Stimme, früher Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht. Nun, im Ruhestand, hat er sich als Anwalt niedergelassen. Böse Zungen behaupten, seine Frau werfe ihn jeden Morgen aus der Wohnung, weil sie ihn nicht ertragen könne, deshalb gehe er zu Gericht, um seine Kollegen Anwälte und seine ehemaligen Richterkollegen zu ärgern. Ein schrilles Gelächter des Alten scheppert durch den Flur. Er kreischt das Wort «Befangenheit» und sticht mit dem Finger hoch über dem Kopf in die Luft. Küster bläst die Backen auf, schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Umstehende lächeln und lachen. Betz grinst. Er erreicht das Zimmer des Vorstands, der als einziger Richter eine Sekretärin und ein Vorzimmer hat. Betz schaut herein. Die Sekretärin kocht Kaffee und schnickt mit dem Kopf in Richtung der halb geöffneten Polstertür. Betz geht hinein. Der Vorstand ist ein Mann von Mitte Fünfzig. Betz beneidet ihn um seine vollen blonden Haare. Er trägt stets korrektes, ja sogar modisch akzentuiertes Tenue. Seine Frau besitzt das notwendige Kleingeld dazu. «Ah, Herr Betz», sagt der Vorstand und zeigt auf einen Stuhl. Doch Andreas Betz bleibt in der Nähe der Fensterbank stehen, er verschränkt die Arme. «Was war denn das für eine Sache gestern?» fragt der Vorstand. Betz berichtet mit einigen Worten. Er verschweigt nicht, daß das Landgericht anderer Auffassung war. Von dem Geheimnis, das er weiß, sagt er natürlich nichts. Der Vorstand läßt ihn ausreden, steht selbst auf, weil ihm die Höflichkeit dies gebietet. «Ich bin Zivilist», sagt der Vorstand. Er meint damit, daß er als Zivilrichter nicht mit Bußgeld-, Straf- und 153
sonstigen Sachen wie Betz zu tun hat. Zivilisten halten sich für die besseren Juristen und gestatten sich eine gewisse Nonchalance im Umgang mit dem Strafrecht und seinen verwandten Gebieten. «Ich bin Zivilist», wiederholt der Vorstand. «Deshalb verstehe ich nichts davon. Aber grundsätzlich, ich meine rechtspolitisch, finde ich Ihre Entscheidung sehr vertretbar. Wir müssen kritisch sein, dürfen es nicht zulassen, daß die Verwaltung in solchen Fragen die Verantwortung auf die Gerichte abschiebt. Wenn die Beweise nicht ausreichen, dann eben nicht …» Betz nickt. Der Vorstand fährt fort: «Aber deswegen habe ich Sie nicht gebeten zu kommen.» Natürlich ist das eine Ausrede, denkt Betz, der weiß, daß der Vorstand neugierig ist wie eine junge Katze. Er muß alles wissen, denn er hat noch viel mit sich vor. Seine restlichen zehn Dienstjahre will er nicht als einfacher Amtsgerichtsvorstand verbringen. «Es geht um die Personalratswahl», sagt der Vorstand. «Ja, ja.» «Wollen Sie kandidieren, Herr Betz?» «Nein.» Der Vorstand registriert befremdet die einsilbige Art des Richters Betz, den er sonst viel aufgeschlossener kennt. Er schiebt dies auf private Umstände. Man hat ja gehört, daß er gerade Geburtstag hatte, der Betz, und daß er mit irgendeiner Anwältin eine Geschichte haben soll. «Also, wie gesagt, ich finde, daß Sie in dieser Seuchensache richtig entschieden haben.» Betz wendet sich zum Gehen. Unter der Tür sagt er: «Ich bin mir da nicht mehr so sicher.» Er läßt den Vorstand verblüfft zurück. 154
Mittwoch, gegen Mittag Gisa in der Anonymität eines Kaufhauses. Das Netz der Gesundheitsbehörden ist keineswegs so dicht geknüpft, wie sie anfänglich gefürchtet hat. Sie hat sogar in der Nähe ihrer Wohnung gehalten, den Eingang von einer gegenüberliegenden Hofdurchfahrt beobachtet. Niemand, so hat es geschienen, hat auf sie gewartet. Doch sie hat sich nicht hinaufgetraut. Ein heißer, ein wunderschöner Tag. Kinder spielen auf dem Trottoir, malen mit Kreide Springfiguren. Ferienzeit. Gegenüber öffnet jemand ein Fenster, ein flimmernder Sonnenreflex zuckt an Gisa vorbei. Hinter ihr im Hof schmettern Vögel ein freies Lied. Sie verstummen, als Blechbögen in einer Schlosserei knallend aufeinanderstürzen. Ein Tag zum Spazieren, ein Tag, an dem man sich auszieht, um sich unten am Fluß auf die Wiese zu legen und zu sonnen. Man sollte ruhig liegen, die Augen schließen, den Schiffen zuhören, die brummend ihre Ladung zu Berg oder zu Tal fahren, ihren heulenden Sirenen lauschen. Den Wellen, die zwischen den bemoosten schwarzen Steinen spielen. Man blinzelt, atmet. Sonnenglast. Gisa wischt die Phantasie zur Seite. Sie schiebt einen Einkaufswagen, in dem sie Büchsen und Getränke stapelt. Sie wird schwer tragen müssen. Doch das reicht für einige Tage. Sie wählt Konserven und keine frischen Artikel. Da müßte man sich anstellen, wird vielleicht erkannt. Genauso wie sie nicht mit Leuten sprechen will, damit sich später niemand an sie erinnert, scheut sie auch die Nähe der anderen. Sie ist unsicher, sie hat sich fest vorgenommen, sich absolut korrekt und vernünftig zu ver155
halten. Nicht weil sie sich vor einer Strafe fürchtet, nein, aus Überzeugung. Sie hat damit die ganze Nacht zu kämpfen gehabt, daß der Mann, zu dem sie Zutrauen gefaßt hat, den sie sogar fast begonnen hat zu lieben, daß Andreas ihr nicht das Vertrauen geschenkt hat, sie in diese Situation gebracht hat. Wenn die neue Krankheit existiert, wenn sie so ansteckend ist, hätte sie sich bei Vogel besser vorgesehen. Wenn sie nur davon gewußt hätte! Da spielt keine Rolle, daß eine Anwältin ihren Mandanten nicht in den Arm nimmt, daß keiner mit so etwas rechnen muß. Gisa wähnt sich schon am Ziel, als sie in der Nähe der Kasse einen Mann mit weißem Kittel stehen sieht. Sie erschrickt, fährt zurück, läßt den Einkaufswagen stehen und eilt einige Regale weiter, hinter denen sie sich verbirgt. Nichts geschieht. Sie denkt, sie können mich doch nicht einfach herumlaufen lassen, wenn sie mich sehen. Sie müssen sofort zugreifen, wenn sie meinen, daß ich ansteckend bin. Drei, vier, fünf Minuten verstreichen. Nichts geschieht. Gisa nimmt sich ein Herz und tritt aus den Regalen hervor und schreitet hinter den Kassen entlang. Der Weißkittel steht immer noch da, sieht auf die Uhr. Gisa registriert ein auffälliges Brillengestell. Vielleicht ist er ein Optiker. Vielleicht ist er kein Pfleger. Sie werden doch nicht so verrückt sein, Pflegepersonal in weißer Kleidung als Polizisten einzusetzen, denkt sie, ganz abgesehen von der rechtlichen Zulässigkeit, natürlich nicht, sie haben sowieso Mangel an ausgebildeten Kräften. Gisa ist fast schon so weit, daß sie über ihre Verwirrung lachen muß. Sie geht zur Kasse, bezahlt. Unweit von ihr tritt eine junge Frau auf den Weißkittel zu. Er macht ihr Vorhaltungen. Er greift sie ärgerlich am Arm, zieht sie 156
mit sich. Ein dicker Mann stößt Gisa an. Er geht, ohne sich zu entschuldigen, weiter. Gisa sieht ihm empört nach. Sie hat für einen Augenblick vergessen, daß sie sich auf der Flucht befindet. Schwer bepackt mit Vorräten geht sie aufrecht durch das Kaufhaus, provokant aufrecht. Nein, sagt sie sich, sie flieht nicht. Sie betritt die Abteilung für junge Damenmode, schlendert hierhin, schlendert dorthin, betrachtet die ausgestellten Kleider, prüft, welches Modell in Konfektionsgröße 36 vorhanden ist, sieht nach dem Preis. Doch als eine Verkäuferin auf sie zukommt, ergreift Gisa wieder die Flucht, um den selbstverordneten Sicherheitsabstand nicht zu unterschreiten.
Mittwoch, Mittag Gisa hat nun das Verdeck aufgeklappt. Sie fährt fast im Schrittempo auf der Uferstraße entlang, die inzwischen verkehrsberuhigt ist und im Sommer am Nachmittag ganz gesperrt wird. Normalerweise trägt sie keine Kopftücher, doch heute hat sie sich eines umgeschlungen. Auf der Nase hat sie diese supermoderne geschwungene Sonnenbrille, die ihrem blassen Gesicht einen abweisenden Akzent verleiht. Das Cabriolet rollt langsam dahin. Gisa hat den Arm über die Tür gelegt, steuert mit der rechten Hand. Im Radio spielen sie ein Stück von Bob Marley. Reggae. In dieser hellen Sommerstimmung verfliegen vollends die schwarzen Gedanken. Die Sonne glitzert auf dem Wasser. Wellen rollen gegen den Strom. Ein Achter mit einer Besatzung in bunten Leibchen rudert stromab. Man hört den Steuermann rhythmisch rufen. Gisa denkt an Andreas Betz, der früher ein bekannter Ruderer war. 157
Jedenfalls sagt er das. Sie lächelt. Sie folgt mit dem Auge dem Boot, beobachtet, wie die Riemen scheinbar mühelos das Wasser peitschen. Der Achter ist fast so schnell, wie ihr Auto rollt. Die Besatzung hat einen Spurt angezogen, der Bug schnellt mit jedem Schlag aus dem Wasser hoch und fällt wieder zurück. Am Ende des Spurts liegt das schnittige Boot eine Länge vor Gisa. Jetzt ist sie an der Stelle, an der die Straße noch schmaler wird und in einem kleinen Schwung vom gemauerten Ufer wegführt. Nun beginnen die Wiesen, die sich ein ganzes Stück flußab bis an die Einfahrt des Industriehafens ziehen. Hier liegen nackte und spärlich bekleidet Menschen. Kinder toben umher, Frisbeescheiben sausen durch die Luft. Gelächter. Musik. Niemand badet. An einen Poller sind zwei Hunde angebunden, die in der Sonne dösen. Die Musik wird unterbrochen. Verkehrsnachrichten. Gisa achtet mit halbem Ohr auf den Sprecher, eigentlich nur, weil sie auf die Fortsetzung der Musik wartet. Ein Reiseruf. Ein, zwei, drei Leute werden gebeten, bei der Einsatzzentrale der Polizei anzurufen. Normalerweise werden die Personen aufgefordert, zu Hause anzurufen. Nur ganz dringende Fälle gibt man durch, denkt Gisa. Und jetzt sind es schon fünf oder sechs Menschen, die gesucht werden. Da hört Gisa ihren eigenen Namen: «Frau Gisa Wormser», sagt der Sprecher, «unterwegs mit einem dunkelblauen VW-Cabrio, wird ebenfalls gebeten, die Polizeieinsatzstelle anzurufen.» Gisa ist starr vor Schreck! Sie läßt ihr Fahrzeug in die Wiese ausrollen, was eigentlich verboten ist. Die Sonnenbadenden blinzeln zu ihr hinüber, wundern sich, warum diese Frau plötzlich das Radio so laut aufdreht. Insgesamt neun oder zehn Fälle registriert Gisa. Darunter wird einmal der 158
Name Vogel genannt. Erst als Eros Ramazotti eine Schnulze anstimmt, löst sich von Gisa die Starre. Sie schaltet in den ersten Gang, gibt Gas und fährt gemessen, die vorgeschriebenen 30 Stundenkilometer penibel einhaltend, mit starr nach vorne gerichtetem Kopf bis ans Ende der Flußwiesen, um vor der Abzweigung des Industriehafens abzubiegen. Sie meidet die direkte Zufahrt.
Mittwoch, Nachmittag Jelena Wilhelmy, Schummbergers Sekretärin, ist eine der Frauen, die alles über ihren Chef zu wissen scheinen. Geburtstag, Vorlieben, politische Details bis hinein in Parteiinterna. Sie kennt auch seine persönlichen Lebensverhältnisse. Eine vorbildliche Kraft. Überdies ist sie hochgewachsen und schlank, eine jener stolzen blonden Frauen, die trotz einer Gardegröße von knapp 1,80 Meter es sich erlauben, hohe Absätze zu tragen, weil ihre Beine dann besonders gut zur Geltung kommen. Sie weiß, daß kleine Männer sie oft umschwärmen. Dazu gehört, das kennt sie von verschiedenen Feiern in der Staatskanzlei, sogar der Ministerpräsident, der gerne mit ihr tanzt, sagen wir besser: überschlank und federleicht wie er ist um sie als Mittelpunkt herumspringt. Anläßlich einer dieser Feierlichkeiten, es war bei der Verabschiedung eines altgedienten Wirtschaftsministers im Rahmen einer kleinen Kabinettsumbildung, da hat ihr der Ministerpräsident das Angebot gemacht, sie in seinen persönlichen Stab aufzunehmen. Selbstverständlich hat ein Ministerpräsident heute einen persönlichen Referenten im Range eines Ministerialrates. Doch er braucht, ebenso wie der Bundeskanzler, 159
eine Schreibkraft für die allervertraulichsten Arbeiten, so etwas wie eine halbe rechte Hand. Und bei dieser Abschiedsfeier hat der Ministerpräsident ohne jedes Augenzwinkern gefragt, ob ihr just dieser Posten nicht Spaß machen würde. Doch Jelena Wilhelmy weiß, was sie von Versprechungen kleiner Männer halten muß, die ein wenig zuviel getrunken haben – und der Ministerpräsident hatte an jenem Abend tatsächlich etwas zuviel getrunken. Die kleinen Männer brauchen in solchen Situationen starke Reize, etwas zum Anpacken, dennoch konkret Weibliches, Gardemaß, lange Beine, beachtliche Brüste. Und so kommen solche Versprechen zustande. Indes, der persönliche Referent des Ministerpräsidenten hat drei Tage später angerufen und ihr tatsächlich zur Bewerbung auf diese Stelle geraten. Doch Jelena hat sich diesen Karrieresprung versagt. Sie bleibt lieber. Schummberger, an dem ihr nur der Schnauzer nicht gefällt – doch sie weiß, daß man mit Männern über solche Äußerlichkeiten durchaus reden kann – ist stattlich, fast noch einen halben Kopf größer als sie. Er ist intelligent, absolute Voraussetzung für einen Partner, er ist sogar im Begriff, eine politische Karriere von Rang zu machen. Man wird ihn nicht entmachten wie einen bayrischen Kollegen vor einiger Zeit. Und Jelena, die selbst weiß, wie der Hase läuft, würde ihn nach Kräften unterstützen. Eine begabte Sekretärin hat heute viel Macht in einem Ministerium. Das ist unbestreitbar. Jelena hat deshalb mit einer gewissen Besorgnis das Privatleben des Staatssekretärs beobachtet und festgestellt, daß dieser außer oberflächlichen dienstlichen Bekanntschaften keine Weibergeschichten, geschweige denn eine geordnete Beziehung hatte. Das hat sogar dazu geführt, daß sie eine 160
Zeitlang ernsthaft befürchtete, er sei homosexuell. Doch die Befürchtungen hat sie verdrängt. Er ist ein Mann, von dem der Ministerpräsident neulich im Kabinett gesagt hat, er habe die richtige Mischung von Härte und Konzilianz; diesen Mann würde sie vielleicht irgendwann in eine feste Beziehung einbinden können. Loyalität, Fleiß, Intelligenz und, wenn es darauf ankommen sollte, ein wenig Erotik sind ihre Waffen. Seit das Wetter umgeschlagen war, hat Jelena mit dem Gedanken gespielt, einmal auf die etwas strenge, typische Ministerialkleidung zu verzichten und sich ein wenig lockerer anzuziehen, damit nicht hinter geziemenden, wenngleich durchaus eleganten Kostümjacken ihre weiblichen Vorzüge verschwänden. Infolgedessen hat sie an diesem Mittwochmorgen extra den Wecker fünf Minuten vor sechs gestellt, damit sie die Zeit und auch die Stimmung habe, sich etwas auszusuchen, was im Rahmen des Schicklichen bleibt, aber einen Schuß Sex ausstrahlt. Sie braucht auch exakt fünf Minuten für ihre Wahl, die auf eine weiße, sehr durchsichtige Bluse fällt, die vorne an den Brüsten allerdings Taschen aufgesetzt trägt, so daß man nur, wenn man nach den Trägern eines BHs schielen sollte, feststellt, daß sie heute auf dieses stützende Beiwerk verzichtet. Sicher, man würde an der Bewegung der Brust erkennen können, daß sie nichts unter dem Seidenstoff trägt. Aber alles ist verschleiert genug, um schicklich zu sein, und so offen, um einen Mann zum Hinsehen zu reizen. Natürlich gilt die Inszenierung nicht den übrigen Bediensteten im Hause. Beileibe nicht. Deshalb trägt Jelena selbstverständlich eine Kostümjacke, wenn sie ihr Vorzimmer verläßt. Doch die Hitze des Tages ist eine willkommene Gelegenheit, die Jacke im Vorzimmer des Staatssekretärs abzulegen. 161
Und Schummberger überrascht sie, wie sie über seinen Schreibtisch gebeugt die Blumen arrangiert, die einem Staatssekretär nach Maßgabe des Landeshaushalts wöchentlich einmal zustehen. Dabei gewährt der Ausschnitt der Bluse, durchaus unbeabsichtigt, Einblicke. Schummberger, der immer sehr dynamisch durch die Tür stürmt, ist nicht erwartet worden in diesem Augenblick. Sie sieht, wie seine Augen ihre Brüste streifen, wieder dahin zurückkehren. Ein wenig ist ihr so, als werde sie rot. Sie hebt den Oberkörper, strafft ihn, sucht ihr strahlendstes Lächeln aus, das sie ihm nun schenkt. Sie sagt: «Mahlzeit.» Schummberger sieht sie strahlen, sieht, daß sie rote Ohren bekommt. Natürlich hat er gelernt, auch in einer solchen Situation die richtige Antwort zu geben. «Hoppla.» Ihm unterläuft ein Grinsen, das Jelena nicht so gut findet. «Schick haben sie sich gemacht, Frau Wilhelmy», sagt er nicht ohne Ironie. «Soll ich meine Kostümjacke wieder anziehen?» fragt sie, und sie könnte sich hassen wegen des schnippischen Tones, in dem sie das herausbringt, so gar nicht mit einem Schuß Koketterie. «Wegen mir nicht», sagt Schummberger, sein Grinsen ist weggewischt. Er hat sein Arbeitsgesicht wiedergefunden, das Jelena Wilhelmy so gut kennt. Er geht um seinen Schreibtisch herum, ignoriert die Blumen, überfliegt die Akten mit einem Blick. «Neue Nachrichten von Professor Kron?» «Ja, Herr Staatssekretär», Jelena ist ganz konzentriert auf ihre Aufgabe. Verscheucht sind die erotischen Reminiszenzen. Sie referiert aus dem Kopf: «Weitere sechs Fälle sind positiv. Eine Frau, fünf Männer. Untersuchungsergebnisse liegen seit etwa einer halben Stunde 162
vor. Die Fälle stammen aus der unmittelbaren Umgebung der Familie Vogel. Schlechtes soziales Milieu. Man lebt auf engstem Raum.» Schummberger unterbricht: «Ist das Ihre Interpretation, oder hat der Professor das gesagt?» «Es sind die Worte von Professor Kron.» «Okay, und weiter?» «Der Professor analysiert auch hier die Proben, gentechnisch. Und er läßt die Frage klären, ob die Patienten nicht freiwillig bleiben. Das erscheint ihm als die bessere Methode. Und: Er möchte wissen, ob die notwendige Effizienz bei der Suche weiterer Kontaktpersonen gewährleistet ist – und natürlich auch die notwendige Vertraulichkeit.» «Der fängt an, sich meinen Kopf zu zerbrechen», knurrt Schummberger und läßt sich in seinen Sessel fallen, der leise ächzt und nach hinten rollt. «Müde?» fragt Jelena weich. «Kaffee?» «Jawoll», sagt der Staatssekretär burschikos, und wenn er burschikos ist, sagt er zu Jelena: «Wilhelm». Jelena haßt das nicht. Also holt sie ihm einen Kaffee. Er liegt förmlich in seinem Sessel, hat die langen Beine von sich gestreckt. Die Hände formt er vor dem Gesicht zu einer Art Dach. Als er hört, daß sie eintritt und ihm einen Kaffee im feinsten Porzellan kredenzt, sagt er: «Gell, Wilhelm, das hier ist ein Fall von Staatsgeheimnis. Pscht.» Jelena ist fast schon entrüstet darüber, daß Dr. Schummberger ihr zutraut, sie könne etwas verraten. Er weiß genau, sie lebt alleine, noch nicht einmal mit ihrer Mutter zusammen. Er weiß, wann sie ins Ministerium kommt, und er weiß, wann sie geht. Da bleibt keine Zeit für Geheimnisverrat. Schummberger winkt ab und sagt: 163
«Entschuldigung. Deswegen kann ich auch nicht ein halbes Regiment von Kriminalbeamten losjagen, um die Leute aufzutreiben, die auf der Liste des Professors stehen. Wir haben exakt zehn Beamte eingeweiht, teilweise vom SEK ausgesuchtes medizinisches Hilfspersonal steht zur Verfügung. Solange er selbst keine handfesten Ergebnisse hat, kann ich doch nicht an die Presse. Nein, nein, das wollen wir alles mal unter der Decke lassen. Nicht wahr, Wilhelm?» «Aber Sie haben doch immer gesagt, ein heilsamer Schock sei gut für die Leute», wirft Jelena ein. «Klar, aber nicht mit einer unausgegorenen Sache. Unterstellen Sie doch einmal, das entwickelt sich alles zu einem Flop» – da erkennt Schummberger, daß er sich im Wort vergriffen hat, er korrigiert sich: «Unterstellen wir mal, die Leute um Vogel haben eine Satansorgie gemacht, sich mit Blut besudelt und auf diese Weise angesteckt. Alles bleibt beim alten. Na, und wer ist dann wieder der Aufwiegler? Wer ist wieder der Hetzer?» Sie sagt: «Sie, Herr Staatssekretär.» «Also! Ich mache das doch nicht, weil ich Spaß dran habe, Leute zu erschrecken», knurrt Schummberger. «Es sind Sachzwänge. Man muß lernen, mit der Seuche umzugehen.» Er blickt auf, lächelt ein wenig, betrachtet die stattliche, schlanke Gestalt seiner Sekretärin, die vor ihm steht. Er bewundert sie, eine kompetente Frau, eine kalte Schönheit. Er sagt: «Komisch, keiner nennt die Seuche gern beim Wort. ‹Serumpositiv› hat sich eingebürgert oder nur ‹positiv›.» Er lächelt wieder. «Wir haben die Sache im Prinzip doch im Griff», sagt Jelena. «Auch hier ist es wieder das schlechte Milieu, aus dem die Leute stammen.» 164
«Meistens, aber nicht nur», brummt der Staatssekretär. Er hat vorhin ganz genau gesehen, daß seine Sekretärin heute nichts unter ihrer weißen Bluse trägt. Das kann nicht nur die Hitze sein. Er ist verblüfft. Er hat sich schon oft gefragt, ob die wunderbare Arbeitsmaschine, dieses schöne Präzisionsinstrument, überhaupt schon einmal mit einem Mann geschlafen hat. Dabei fällt ihm wieder einmal ein, daß er selbst schon seit fast einem Jahr nichts mehr mit einer Frau gehabt hat. Er denkt: Arbeit frißt Sexualität auf. Nicht schlecht in diesen Zeiten. Ein Lächeln unterläuft ihm. Jelena registriert dies, sie lächelt auch. In einem Anfall von Übermut fragt Schummberger, immer noch die Hände wie ein Dach vor dem Gesicht: «Sagen Sie mal, Wilhelm, glauben Sie daran, was der Professor behauptet?» «An die Ansteckungsgefahr? Ja.» «Würden Sie trotzdem heute nacht mit einem Mann schlafen, niemandem Unbekannten, einem, den Sie kennen?» Jelena erschrickt so, daß sie fast zusammenzuckt. Sie muß schlucken, kann ein verlegenes Lächeln nicht mehr abfangen. Der Staatssekretär hebt die linke Hand wie ein Indianerhäuptling und sagt: «’tschuldigung, Wilhelm, das geht mich nichts an.» An dieser Stelle nimmt Jelena allen Mut zusammen, den sie besitzt, und sagt, daß sie mit einem Mann schlafen würde, den sie kenne. Denn wenn sie die Unterlagen richtig im Kopf habe, dann beruhe die Ansteckungsgefahr in den neuen Fällen nicht mehr auf der körperlichen Liebe. Ja, tatsächlich, sie benutzt diesen Begriff statt den amtlichen Begriff «Geschlechtsverkehr». Schummberger starrt sie an. Dann sagt er bewundernd: 165
«Sie sind eine ungeheuer intelligente Frau, wissen Sie das?» Und Jelena könnte heulen, weil sie endlich einmal nicht wegen ihrer Intelligenz und ihrer Einsatzfreude gelobt werden möchte, sondern weil sie eine Frau ist und das fast Undenkbare ausgesprochen hat, daß sie sich körperliche Liebe als etwas Normales vorstellen könne. Und dazu noch in dieser Situation! Schummberger bohrt nach: «Jeder denkt, daß es ihn nicht erwischt, daß sein Partner, mit dem er den Geschlechtsverkehr ausübt, nicht seine eigene, ganz geheime Geschichte sexueller Kontakte hat. Das ist es doch?» Jelena bleibt standhaft: «Vielleicht», sagt sie, «aber das Vertrauen, das Vertrauen muß doch da sein.» «Okay», sagt Schummberger, «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Stammt von Lenin. Nicht meine Partei.» Jelena schweigt. Sie beginnt, sich für ihre nackten Brüste unter der durchscheinenden Bluse zu schämen, sie spürt, wie sich die Brustwarzen aufstellen, hart werden. Sie fühlt sich noch mehr entblößt. «Das alte Lied, Wilhelm», sagt Schummberger. Er stößt sich von seinem Stuhl ab, der polternd nach hinten rollt, und steht auf. Er blickt auf die Uhr. «In zehn Minuten kommt der Kollege vom Gesundheitsministerium», sagt er. «Herr Staatssekretär Meuler», sagt Jelena mechanisch. «Ja, wir zerbrechen uns den Kopf, wie wir den kleinen Krisenstab zusammensetzen», sagt Schummberger. «Können Sie das Protokoll machen?» Jelena nickt. Nun hat sie einen Anlaß, hinauszugehen und ihre Kostümjacke zu holen.
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Mittwoch, später Nachmittag Betz hat sich schon den ganzen Nachmittag dabei ertappt, wie er – man könnte sagen, unwillkürlich, so wie die Dinge liegen, aber doch eher rational – einen gewissen Sicherheitsabstand einhält, wenn er mit seinen Mitmenschen redet. Während der Gerichtssitzung am Morgen war dieses Gefühl, eine bestimmte Distanz zwischen sich und den Nächsten bringen zu müssen, noch nicht vorhanden. Erst beim Essen in der Kantine, später beim Besuch in der Bibliothek und schließlich jetzt auch, da er in Gisas Kanzlei dem jungen Lehrfräulein gegenübersteht. Das Mädchen ist relativ dicht an ihm vorbeigekommen, weil der Flur so eng ist und Betz hinter sich die Tür offengelassen hat. Als sie ihn passiert hat, hat er den Atem angehalten. Auffällig geschminkte Augen und feuerrote Lippen unterstreichen ungewollt ihre grobschlächtigen, noch nicht fertigen Züge, denen es an Falten und Differenzierung fehlt. «Die Frau Wormser wäre nicht da», sagt das Mädchen. «Und wo ist sie?» Achselzucken, ein verlegenes Lächeln auf den knalligen Lippen. Die Augen lächeln nicht mit. Sie kennt Betz nicht, ist reserviert. Andreas erklärt, er sei ein guter Freund, er stellt sich genauer vor. «Aha», sagt das Mädchen. «Hat sie angerufen?» «Nein.» «Hat sie irgendwas schriftlich, ich meine irgendeine Notiz …?» «Auch nicht.» Betz überlegt, was er noch fragen könnte. Ihm fällt nichts ein. Das Lehrmädchen zieht die Schultern hoch, 167
verharrt einen Augenblick so, die Mundwinkel nach unten gezogen, dann läßt sie die Schultern fallen. Sie wirkt hilflos, fragt plötzlich, ob Betz tatsächlich ein guter Freund sei. Andreas nickt. «Sie wird gebraucht», klagt das Mädchen, «wo doch eine Berufung heute noch begründet werden muß. Sonst läuft die Berufungsbegründungsfrist ab», sagt sie besorgt. Es gehört zu den ersten und wichtigsten Aufgaben, die jeder Azubi lernt, daß er auf Fristen achten muß. Versäumte Fristen sind ein Todesurteil für einen juristischen Fall. «Dann wird sie bestimmt noch kommen.» «Und wenn nicht?» Wieder diese Geste der Hilflosigkeit. Betz zögert kurz, es ist natürlich nicht seine Sache, sich um Gisas Anwaltsfälle zu kümmern. Es könnte sogar sein, daß er dadurch einen unerwünschten Tatbestand herbeiführt, dennoch, er fühlt sich ja nicht ganz unschuldig an der Lage, die nun entstanden ist, und nachdem er den ganzen Nachmittag herumtelefoniert hat, um Gisas Aufenthaltsort ausfindig zu machen, ist er jetzt noch hierher gekommen. Da muß er sich schon auch um einen Fall kümmern, bei dem die Frist abzulaufen droht. Er sagt deshalb: «Zeigen Sie mal.» Das Mädchen tippelt vor, öffnet mit einem Schwung die Tür zu Gisas kleinem Büro, in dem ein winziger Schreibtisch steht. Nicht viele Akten liegen dort. Andere Anwälte haben mehr. Ein Regal ist spärlich mit Büchern dekoriert. Das eine oder andere, das man noch vom Studium hat und dazu die Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs, Bände 1–50, antiquarisch. Betz weiß von Gisa, daß das ein Geschenk ihres Vaters war, zur Kanzleieinweihung. Die Bücher sind mehr Dekoration als Hilfsmittel. Heute nutzt man juristische Datenbanken. 168
Das Lehrfräulein kennt sich aus, hat schnell ein relativ dickes Aktenkonvolut in der Hand. «Hier», sie zögert, «ein Richter wie Sie darf doch so was.» «Ja», sagt Betz. Er tritt einen Schritt zurück, als das Mädchen auf ihn zukommt. Er streckt den Arm aus, nimmt das relativ schwere Aktenstück und fragt, ob er sich setzen könne. Das Mädchen nickt heftig. Betz läßt sich auf einen mit braunem Leder bezogenen Schwenkstuhl nieder. Sonderangebot, DM 1210,–, wie er von Gisa weiß. Routiniert öffnet er den Aktenvorgang, blättert. Sein Blick schweift ab. Immerhin ist er das erste Mal in Gisas Kanzlei. Anders als in seinem kahlen Dienstzimmer, das er nicht leiden kann, in dem er aber arbeiten gelernt hat, ist diese Kanzleistube mit Liebe eingerichtet, mit Liebe und nicht mit Geld. Die alten Stiche, durchweg Schiffahrtsmotive zeigend, sind wahrscheinlich Kalenderblätter. Die Rahmen sind Kaufhausware. Aber alles wirkt auf die Distanz und für den flüchtigen Betrachter gediegen und zugleich ungewöhnlich. Das Lehrmädchen steht ratlos im Türrahmen und sieht Betz zu. «Nichts zu tippen?» fragt er. Sie schüttelt den Kopf. «Gleich», sagt Betz, und das Mädchen versteht, daß es ihn alleine lassen soll. Er befaßt sich nun konzentriert mit dem Aktenstück. Es ist ein wenig schlampig geordnet, nicht so, wie man es bei Gericht gewohnt ist. Es ist auch keine Pagina angebracht. Aber er kommt relativ schnell zurecht. Der Fall ist kompliziert, nur durch längeres Aktenstudium wäre zu ermitteln, was an der Entscheidung der Vorinstanz zu kritisieren ist. Doch darum kümmert sich Betz nicht. Er ist in den Formalia routiniert. Am Zustellungsdatum des Urteils erkennt er, daß es möglich ist, die Berufungsbegründungsfrist durch 169
einen einfachen Schriftsatz von drei Zeilen, der heute noch beim Gericht eingeworfen werden muß, verlängern zu lassen. Also geht er, öffnet die Tür und ruft das Mädchen, diktiert ihr, die natürlich kein Steno kann, in die Maschine den notwendigen Text. Doch da taucht ein neues Problem auf: Gisa ist die alleinige Bevollmächtigte. Sie müßte auch unterschreiben, sonst wäre der Antrag wirkungslos. Doch auch hier schaltet Betz schnell und sicher. Er kennt genügend Anwälte, zu denen er ein hinlänglich gutes Verhältnis hat, so daß es möglich ist, sie um einen kleinen Gefallen zu bitten. Er läßt das Lehrmädchen die Telefonnummern heraussuchen, sich verbinden. Gleich der erste, den er anruft, ist zu sprechen. Ein ehemaliger Kommilitone, genauso wie Schummberger. Auch er war am Sonntag auf dem Schiff bei der Geburtstagsfeier. Nicht ohne Verblüffung nimmt der Freund und Juristenkollege zur Kenntnis, daß sich der Richter Betz plötzlich um Berufungsfälle eher kleinen Zuschnitts bei Frau Wormser kümmert und nun jemanden zum Unterschreiben als amtlich bestellten Vertreter benötigt, obwohl überhaupt kein Antrag auf amtliche Vertreterbestellung gestellt wurde. Seiner Stimme hört man das Grinsen an. Doch jedermann in den Juristenkreisen dieser Stadt weiß, daß diese Formalie läßlich gehandhabt wird und auch nachträglich für einen Betrag von zehn Mark eine Vertreterbestellung durch die Justizverwaltung ausgesprochen wird. Indessen, der Anwalt belehrt ihn, daß man so kompliziert das Ganze nicht machen müsse. Einfache Untervollmacht genüge. «Zivilisten wissen so etwas», fügt er hinzu. Und er erbietet sich, auf eigenem Briefpapier, unter Ankündigung, daß Untervollmacht nachgereicht werde, zu ersuchen, die Berufungsbegründungsfrist zu verlängern. Er 170
werde es mit einem Fax noch schnell durchpfeifen lassen, sagt er. Betz bedankt sich, fühlt sich ein wenig als inkompetent abgestempelt, aber er ist nun mal kein Zivilist, er ist Strafrechtler. Trotzdem hätte er auf die Idee mit der Untervollmacht kommen müssen. «Kann ich jetzt gehen?» fragt das Mädchen.. «Gleich», sagt Betz. Nun sind seine Gedanken wieder bei Gisa. Er notiert auf einem Zettel, was er veranlaßt hat. Drunter schreibt er mit einem Rotstift, den er auf dem Tisch findet, daß Gisa sich sofort melden soll, auch mitten in der Nacht. Er müsse unbedingt mit ihr reden. Dahinter setzt er drei Ausrufezeichen. Als sie hinausgehen, wendet Betz den Kopf ab, wie er das Mädchen passiert. Er erkundigt sich, ob sie wisse, ob das Schiff von Frau Wormsers Vater einen regelmäßigen Fahrplan habe, denn den Vater hat er bisher telefonisch nicht erreichen können. Das Mädchen weiß es nicht. Die beiden treten nacheinander in die Hitze des späten Tages.
Mittwoch, später Nachmittag Das Zimmer des Staatssekretärs im Ministeriumsneubau ist von Architekten und Innenarchitekten genau durchgeplant. Es entspricht in seiner Größe dem Dienstrang, verfügt also über weniger Quadratmeter als ein Ministerbüro. Diese Grundfläche reicht aus, neben einem sehr imposanten italienischen Designer-Schreibtisch auch eine gediegene Sitzgruppe aufzunehmen, die, um einen halbhohen Herrentisch gruppiert, Verhandlungen 171
und Gespräche in entspannter Atmosphäre zuläßt. Die Luft ist klimatisiert wie in einer Klinik. Rauchen ist nicht erwünscht. Das Gespräch mit dem Staatssekretär im Gesundheitsministerium, Professor Dr. Meuler, entbehrt ein wenig der Harmonie. Meuler ist nicht Mitglied der Partei Schummbergers, sondern der des Koalitionspartners. Meuler hat immer schon eine gewisse Neigung besessen, im Umgang mit der Krankheit und deren Opfern das an den Tag zu legen, was viele in Schummbergers Augen zu Unrecht unter Liberalität verstehen. Entsprechend hart ist das Ringen um den Krisenstab. Und nur, weil der Ministerpräsident heute am frühen Nachmittag schon entschieden hat, daß ein Stab gebildet wird, kann dieser Punkt relativ zügig abgehakt werden. Während Meuler, ein Mann von Mitte Fünfzig, ehemals Ordinarius für Sozialmedizin an einer der nicht ganz alten und hervorragenden Universitäten, unbedingt Spezialisten für Öffentlichkeitsarbeit und Psychologen in den Stab holen will, besteht Schummberger auf einem Exekutivkomitee aus Fahndungsfachleuten und Verwaltungsspezialisten, Hygienikern und Gentechnikern, einem Team fachlich hochqualifizierter Mitglieder, die aber offensichtlich eher auf eine härtere Linie eingeschworen sind. Da es sich jedoch um einen ressortübergreifenden Ausschuß handelt, muß Schummberger schließlich auch noch einen Psychologen und einen Fachmann für Öffentlichkeitsarbeit akzeptieren. Und als Meuler die Namen nennt, da zieht Jelena Wilhelmy die Augenbrauen ein wenig hoch; denn der eine ist sogar parteilos, und der andere, ein gewisser Professor Hipper, hat sich ein gewisses, aus der Sicht Schummbergers zweifelhaftes Renommée erworben, indem er die Ansteckungsgefahr unter Heterosexuellen 172
bewußt bagatellisiert hat. Deshalb sagt Schummberger nicht ohne Süffisanz: «Sehen Sie, Herr Meuler, Hipper ist nicht der Mann dieser Stunde, wenn es um konkrete Gefahrenabwehr geht. Da lassen sie uns nach einem anderen Psychologen suchen, der sich besser – na, sagen wir, in die Gefährlichkeit der Situation – einfühlen kann.» «Das wird auch Hipper können. Ein Mann von seiner Qualifikation ist lernfähig», sagt der Gesundheitsstaatssekretär gelassen. Schummbergers nächstes Argument: «Können Sie sich persönlich dafür verbürgen, daß er nicht einen Alleingang macht, die Presse informiert, bevor wir beschlossen haben, wie zu verfahren ist?» «Ja.» «Und was ist, wenn er sich trotzdem nicht an die Verhandlungslinie hält? Loyalität zu den Regierenden, um einmal diese Diktion aufzugreifen, war ja Hippers Stärke noch nie», sagt Schummberger. «Ich brauche Hipper», beharrt Professor Meuler und starrt Schummberger wütend an. Schummberger, der weiß, daß Meuler schon geraume Zeit wegen seiner liberalen Haltung zum Seuchenproblem eine gute Presse hat und deswegen gerne vom Ministerpräsidenten, ja sogar in Bonn gehört wird, verlegt sich auf einen diplomatischen, wenngleich relativ harten Kurs. Er sagt zu Meuler: «Sie gestatten, daß ich mich hier absichern muß.» Nun wendet er sich an Frau Wilhelmy: «Nehmen Sie bitte ins Protokoll auf, daß ich Bedenken gegen Herrn Hipper habe und daß Staatssekretär Professor Dr. Meuler sich persönlich für Herrn Hipper verbürgt, namentlich für seine Verschwiegenheit.» Nun wieder zu Meuler: «Richtig so?» Meuler nickt. 173
Die beiden Männer blicken Jelena an, die schnell zu Ende stenografiert. Sobald sie alles aufgenommen hat, schaut sie beide Männer ausdruckslos an. Schummberger steht auf, reibt die Hände, tritt an das Fenster, sieht hinaus, registriert die pralle Abendsonne nicht, die in prächtigem Orange über der Stadt leuchtet. Er dreht sich wieder herum und sagt: «Lassen Sie uns handeln. Die Tagesordnung! Ich referiere. Bitte unterbrechen Sie, wenn Sie Einwände haben.» Und nun beginnt er zügig die Punkte zu benennen, die ihm unter den Nägeln brennen: Errichtung einer vorläufigen Quarantänestation; Vorbereitung für eine Auffangeinrichtung für den Fall, daß noch mehr Infektionen auftreten; Aufbau- und Ablauforganisation für einen Notplan, wenn die Infektion epidemische Ausmaße annimmt; Vorbereitung für die Bildung eines übergeordneten Ausschusses, der in diesem Falle zusammentreten müßte; Sicherstellung der Information des Ministerpräsidenten, des Bundesgesundheitsministeriums, der Weltgesundheitsorganisation, Einschaltung des Zivilschutzes. Meuler schweigt. Er sieht zu, wie die stattliche Blondine, um die Schummberger jeder im Hause insgeheim beneidet, die präzisen Ansagen ihres Chefs notiert. Er will ihn zunächst in seinem Aktionismus austoben lassen, dann hat er beschlossen, seine eigenen Forderungen durchzusetzen. Nicht jeder im Ausschuß wird gleich auf Katastrophe schalten. So hofft Meuler.
Mittwoch, Abend Es ist heiß, das Pflaster strahlt. Die Sonne ist seit einer halben Stunde hinter den fernen Auwäldern versunken, 174
die man von der Anlegestelle der Ausflugsdampfer hinter der schwarzen Silhouette einer Brücke im Indigoblau des Abends noch ahnen kann. Auf der anderen Seite hinter den Lagerhäusern, leicht an den Hängen der flußbegleitenden Hügel aufsteigend, liegt in brillantem Funkeln die Stadt. Jenseits des Stromes sieht man hinter einem Pappelwald die Lichter der auf der Autobahn vorbeihuschenden Fahrzeuge fliegen, ähnlich Irrlichtern, die über ein Moor ziehen. Geräuschlos, denn der Strom ist breit. Seine Dünung rollt, vom föhnigen Wind, der gegen die Fließrichtung steht, in Bewegung gehalten. Sterne erscheinen im Osten, funkelnd das Abendgestirn. Gisa Wormser hat an diesem Nachmittag viel beobachtet, viel auf sich einwirken lassen, die Welt betrachtet wie ein Mensch, der zu einer langen Haftstrafe verurteilt auf dem Weg zum Gefängnis ist und weiß, daß er in den nächsten Jahren nichts sehen wird außer einer stinkenden Zelle und kahle Gefängnismauern. Um ihre Gesundheit hat sie sich nicht gesorgt. Nein, sie glaubt nun zu wissen, daß irgendeine politische Inszenierung läuft, etwas, was in ihren Augen eigentlich noch viel unglaublicher ist als die Seuche, nämlich ein totales Entgleisen des Staates, ihres Staates, mit dem sie aufgewachsen ist. Demokratie ist für eine Juristin ihres Alters kein Bekenntnis, sie ist eine Selbstverständlichkeit. Demokratie bedeutet Begrenzung von Macht. Und nun diese Maßlosigkeit! Affären, die den Namen von Politikern wie beispielsweise Barschel tragen, sind abstrakt für sie geblieben. Eine Erschütterung des Systems zwar, aber keine wirkliche Gefährdung. Abstrakt war bisher auch das Risiko, sich mit dem bis dato bekannten Virus der Seuche zu infizieren. Natürlich hat man verstandesmäßig darauf geachtet, mit wem man sich einließ, und so viele 175
waren es beileibe nicht, die sie in ihr Bett mitgenommen hat. Und bezogen auf die Politik hat sie natürlich auch reagiert auf Skandale, Sensibilität dafür entwickelt, wen sie wählt. Doch beides, die Politik und die Seuche, gingen sie persönlich nicht unmittelbar an. Selbstverständlich weiß sie, daß man die Infektion mit dem Virus nicht spürt. Zunächst nicht. Aber nach einer Nacht der Zweifel, der Angst, hat sie nun die Sicherheit entwickelt, daß ihr Körper nicht mit im Spiel ist. Doch jene Zeichen, die sie inzwischen kennt, jener seltsame Prozeß, der Zwangstest ihres Freundes, die Fahndungsmaßnahmen, alles fügt sich selbst für sie als Betroffene, als Verfolgte, nur zu einem Bild, nämlich zu der konkreten Vermutung, nein, mittlerweile zu der Gewißheit, daß das Gemeinwesen entgleisen wird, weil ein kleiner Staatssekretär oder vielleicht auch irgendein Minister oder ein Ministerpräsident beabsichtigen, Angst zu erzeugen, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Ein raffiniertes Präludium vor einem psychologischen Staatsstreich sieht sie vor ihren Augen. Andreas Betz ist auch nur eine kleine Schachfigur im Spiel jener Leute, sagt sie sich, ein Richter, der zufällig an diesem Platz ist, der deshalb über einen inszenierten, obskuren Fall zu befinden hat und der sich plötzlich mutig auf die Lektionen besinnt, die er gelernt hat, der freispricht, obwohl es unbequem ist. Doch das sind Pannen, die man offenbar auszumerzen versteht. Sie erinnert sich daran, wie sie den Staatssekretär Schummberger aus dem Gericht eilen sah, und sie erinnert sich an den Spruch des Landgerichts. Natürlich wird man die Zahl der Mitwisser kleinhalten wollen. Und Betz, der gut zu packen ist an seiner Loyalität als Richter, hat sich genau dort 176
festnageln lassen und war sogar loyaler, als man annehmen durfte, und hat ihr nichts gesagt von diesem absurden Verdacht. In dieser Beziehung hat er funktioniert. Und dann noch der Zwangstest! Wie wird wohl das Ergebnis ausgefallen sein? Das ist für Gisa keine Frage mehr. Sie ist schon so weit gekommen, daß sie lachen muß. Ja, sie lacht in diese Indigonacht hinein. Nun, man wird sich auch dieser Herausforderung stellen müssen. Es gibt Nachrichtenmagazine, die auf Informationen dieser Art fliegen! Spätestens morgen ruft sie in einer der Redaktionen an. Gisa hat sich in eine kämpferische Stimmung hineingeredet. Sie ist deshalb noch vorsichtiger geworden, hat ihr Cabriolet auf einem Lagerhof versteckt, dessen Tore schon seit einigen Monaten offenstehen. Sie lehnt, gedeckt von Nachtschatten, in einer engen Nische. Sie wartet auf Andreas Betz, den sie von einer Telefonzelle aus erreicht hat. Er hat sie atemlos gefragt, wie es ihr gehe, wo sie sei. Doch sie hat nicht auf die Fragen geantwortet, ihm nur verschlüsselt gesagt, wo man sich treffen könne. Verschlüsselt, weil sie sich sogar zu der Vorstellung verstiegen hat, Betzens Telefon werde abgehört. «Wo wir Sonntagnacht Rotwein aus der Flasche getrunken haben», hat der codierte Hinweis gelautet. Endlich rollt Betzens Wagen die Pier herunter. Es ist ein unscheinbares Gefährt, ein französischer Kleinwagen. Gisa kennt das Fahrzeug. Sie beobachtet aus der Dekkung heraus, wie Betz aussteigt und über die Gangway zu dem halberleuchteten Schiff geht, an die Scheiben klopft. Da erscheint Wormsers verblüfftes Gesicht hinter der Scheibe, er öffnet. Gisa versichert sich, daß sie niemand beobachtet, dann eilt sie über die Straße und folgt ihrem Freund. 177
Sie trifft die beiden Männer in der Pantry des Schiffes. Wormser hat nicht abgeschlossen. Beide sehen Gisa in einer Mischung aus Freude und Überraschung an. Gisa sagt: «N’Abend». Die Männer nicken. Sie haben ihre Starre noch nicht aufgegeben. Betz, in einem gewissen Abstand an der Wand lehnend, hat scheinbar dem Schiffer gerade erzählt, daß seine Tochter unauffindbar ist, sich aber hier mit ihm treffen wolle, nur so läßt sich das Mienenspiel interpretieren. Gisa sagt im normalen Ton, als handle es sich um eine Plauderei: «Wie war der Test, Andreas?» Betz verblüfft: «Negativ.» «Negativ?» Diese Mitteilung verunsichert Gisa, ein hinhaltendes Urteil hätte besser in ihr Bild gepaßt. Denn wer positiv ist, der muß entfernt werden. Das ist klar. «Eindeutig negativ» paßt auch nicht in die Strategie, das würde den Richter nicht gefügig machen. Man braucht ihn ja in seiner Position. Deshalb fragt Gisa: «Negativ, ohne Wenn und Aber?» Nun entsteht ein Stirnrunzeln, ein skeptisches Lächeln auf Betzens Gesicht, die Hand fährt über die Glatze, zwirbelt die Nackenhaare zwischen den Fingern: «Ich muß in drei Wochen noch einmal hin zum Test», sagt er. «Aha», sagt Gisa. «Wo warst du?» fragt Betz. Wormser, der sich keinen rechten Reim auf diesen Dialog machen kann, schaut seine Tochter und deren neuen Freund, soviel hat er inzwischen mitbekommen, fragend an. «Ich habe nachgedacht», sagt Gisa. Betz: «Du mußt auch zum Test.» «Warum?» 178
«Damit wir ganz sicher sind.» «Was ist los?» will Wormser wissen. «Nichts, nichts», sagt Betz schnell. Gisa lächelt. Sie glaubt sich auf der richtigen Spur: «Sie haben dir gesagt, daß alles geheim ist, richtig?» Betz nickt. «Was ist geheim?» fragt der alte Wormser. Betz: «Was geheim ist, muß geheim bleiben. Bitte haben Sie doch Verständnis.» Wormser will sich nicht aufdrängen. Er sagt: «Geht hoch in den Salon, dort könnt ihr sprechen.» Gisa steigt die Treppe hinauf, schiebt rasselnd die Tür zurück, Betz folgt ihr. Und da ist schon wieder dieses Gefühl, Distanz zwischen sich und den anderen legen zu müssen. Diesmal noch stärker, noch intensiver als in den anderen Fällen am Nachmittag. Der Salon ist aufgeräumt, die Bänke sind wieder an ihrem Platz. Die Tanzfläche im unteren Fahrgastraum ist verschwunden. Heute riecht es stickig, es ist heiß; gefangene Sonnenwärme. Betz bricht der Schweiß aus. Vorne gibt es eine kleine Apsis, auf die man hinaustreten kann. Der Versuch, die Tür zu öffnen, scheitert, sie ist verschlossen. Gisa kommt in seine Nähe, genau an die Stelle, wo sie begonnen hatten, sich Sonntagnacht zu lieben. «Hier war’s», sagt Gisa. «Ja.» Betz tut, als wolle er die huschenden Lichter auf der Autobahn drüben, jenseits des Stromes, betrachten. Er tritt ans Fenster, wendet Gisa den Rücken zu. «Was meinst du, was herauskommt, wenn ich mich testen lasse?» fragt Gisa. «Hoffentlich negativ, genau wie bei mir», sagt Betz. 179
«Du weißt, daß ich zufällig Zeuge geworden bin von dem, was dir Kron gesagt hat, vergangene Nacht.» «Ja.» «Glaubst du das, was er dir sagt?» Betz dreht sich herum. Gisas Gestalt kann er nur als Silhouette erkennen. Hinter ihr tanzen die Glitzerlichter der Stadt in der heißen Luft über den Lagerhäusern. «Ja, ich glaube es.» Da beginnt Gisa ihrem Freund die neue Theorie auseinanderzulegen. Und sie schließt mit den Worten: «Ist dir nicht aufgefallen, wie Kron gestern abend, als sie dich abgeholt haben, in Andeutungen gesprochen hat?» Betz schweigt lange. Dann sagt er: «Das war ein Gespräch unter Insidern. Es ist wahr, sie haben bei Vogel einen neuen Virustyp gefunden, ziemlich ansteckend.» «Und wenn das alles getürkt ist?» «Es ist nicht getürkt. In der Familie gibt es neue Infektionen – und vorhin haben sie mich angerufen, daß nicht nur in der Familie, sondern auch im Umfeld Infektionen aufgetreten sind, sie zählen inzwischen zehn Fälle. Über drei Leute, die sich nicht mit einer Einweisung freiwillig abgefunden haben, muß ich morgen früh entscheiden. Sie haben angerufen, wie gesagt.» «Und wenn das alles bloß erfunden ist?» fragt Gisa noch einmal. «Spürt man denn etwas von dem Virus? Kann man das Virus sehen? Kein Hollywood-Autor hätte sich das dramaturgisch besser ausdenken können. Überleg doch mal! Die lange Latenzzeit, die Übertragungswege über Sexualität und Spritze, die Unheilbarkeit der Krankheit und nun noch ein erhöhtes Ansteckungsrisiko. Aber der frisch Infizierte spürt nichts. Man kann einen mutierten Erreger auch fingieren. Alles bleibt in Wirklichkeit beim alten, doch das Volk wird vor Furcht gefügig.» 180
«Absurd!» «Beweise? Wo sind die Beweise? Dir jedenfalls haben sie nicht ausgereicht, gestern morgen. Hast du jetzt die Hose voll, Andreas?» «Ich kenn den Schummberger persönlich», sagt Betz schließlich leise. «Ein Scharfmacher, jeder weiß das», fährt Gisa dazwischen. «Das ist richtig, doch wir haben zusammen studiert, wir waren zusammen am Anfang Richter. Wir haben Sport getrieben, gerudert, Wettkämpfe, bei denen jeder sich auf den anderen verlassen mußte. Du gewinnst nur, wenn beide gleichmäßig pullen, alles geben.» «Männerromantik», spottet Gisa. «Nein, Erfahrung», sagt Betz nüchtern, «ich würde es spüren, wenn er mich anlügt.» Gisa fühlt, obwohl sie in der Dunkelheit Betzens Augen nicht sehen kann, daß er es ernst meint. Die Befürchtungen der ersten Stunden, diese aufkeimende Angst, sind plötzlich wieder da. Sie schweigt. Betz sagt: «Und der Kron, das ist keiner von den scharfen Hunden, der hat’s entdeckt.» Nach einer Pause sagt er eindringlich: «Laß dich testen. Es wird nichts sein. Es ist nichts.» «Die suchen mich», sagt Gisa unsicher. «Und wenn meine Hypothese stimmt, dann kriege ich das positive Testergebnis, auch wenn mein Blut so sauber ist wie ein frischgewaschenes Handtuch.» Betz sagt: «Es gibt anonyme Tests. Man geht hinein, wartet eine kurze Zeit und bekommt sein Ergebnis und kann wieder gehen.» Gisa zögert. Dann sagt sie: «Ich will es nicht wissen.» «Unterstellt, das stimmt, was Schummberger und Kron 181
sagen, dann ist die Sache brandgefährlich. Man muß erkennen, was los ist.» «Seit wann weißt du das eigentlich alles, sag mal?» fragt Gisa. Betz erkennt an der Silhouette, daß sie die Arme verschränkt. Ihre Stimme hat nun den Ton angenommen, den er von ihr im Gerichtssaal kennt. Er antwortet: «Seit gestern nacht. Sie sind gekommen, um mich zu überzeugen, daß ich den Vogel sofort einweise.» «Wer sind ‹sie›?» «Es war Kron.» Gisa spricht sehr leise, sehr akzentuiert. «Ich versteh das Ganze noch nicht. Ist das richtig, daß du genau informiert warst, bevor die zweite Verhandlung begonnen hat?» Betz weicht aus. «Worüber informiert?» «Über die Gefahr mit dem Virus?» «Ja», Betz braust plötzlich auf, wie man aufbraust, wenn man sich im Unrecht fühlt. «Ich habe mich zum Schweigen verpflichtet. Ich habe es dem Schummberger versprochen. Es darf doch keine öffentliche Panik ausbrechen. Als Richter bin ich …» Da unterbricht Gisa: «Und eine Anwältin, hat sie keine Schweigepflicht? Nein? Jetzt mal eins nach dem anderen: Morgens im Gerichtssaal war ich die einzige, die nichts gewußt hat, außer dem Berti Vogel?» «Ja.» Gisa spricht nun sehr langsam, sie flüstert fast: «Ich frage nur ganz dienstlich: Du hast nicht drauf bestanden, daß man mir sagt, was los ist?» «Nein.» Betz sammelt sich, er kämpft seine Emotionen nieder, sagt ganz sachlich: «Es war doch nur ein Einzelfall.» Und nun wird er doch etwas lauter: «Und ich habe dich auch gewarnt, rechtzeitig.» 182
«Oh ja, im Klartext», Gisa lacht zynisch. Betz beharrt: «Muß man damit rechnen, daß eine Anwältin ihren Mandanten in den Arm nimmt, ihn tröstet?» Gisa ist, als werde ihr nun zu heiß, sie dreht sich herum, geht zur Tür des Salons, reißt sie auf, damit etwas von der süßlich-faulen Luft, die über dem Strom liegt, hereindringt. Plötzlich schreit sie: «Ja, jetzt liegt die Schuld bei mir!» Einen Moment ringt sie um Fassung. Da ist er wieder, dieser professionelle Ton aus dem Gerichtssaal: «Doch abgesehen vom Dienstlichen, hast du nicht ganz persönlich als mein …» sie sucht nach einem Wort, findet es: «… als mein Beischläfer Angst um mich gehabt? Es kann doch wohl nicht Liebe gewesen sein? Nein! Es war Sex, und es hat gutgetan. Dir und mir. Ich mache dir keinen Vorwurf. Daraus resultieren auch keine Pflichten, wenn ein Mann mit einer Frau schläft. Aber man kommt sich, obwohl man es fast vermeiden möchte, irgendwie doch näher. Und nun habe ich die Illusion, daß der Mann, der mich bespringt, auch so etwas wie den Mut aufbringen muß, mir zu sagen, wenn etwas im Busch ist, wo es ums Leben geht. Auch oberflächliche Beziehungen laufen doch so, oder nicht?» Zuletzt hat sie geschrien, mit dem Fuß aufgestampft auf die hölzernen Planken. Man hört ihren Vater die Treppe heraufeilen. Betz sagt noch schnell beschwörend: «Gisa, es ist nichts, bestimmt nicht! Wie sollst du dich angesteckt haben?» Die Schritte kommen näher, Betz geht auf Gisa zu. Er spricht eindringlich: «Laß dich testen, dann lachen wir darüber.» Jetzt ist Wormser da, stellt sich neben seine Tochter, knipst das Licht an, eine gelbe, prosaische Beleuchtung. «Worüber lacht ihr?» fragt Wormser verwundert. 183
Betz beschwörend: «Gisa, du darfst nichts sagen!» «Doch!» Gisa spricht schnell, erklärt ihrem Vater: «Da ist eine neue Krankheit aufgetaucht. Der Mann, den ich vertreten habe, hat sie. Und ich kann mich im Gericht bei ihm angesteckt haben.» «Gisa, du mußt schweigen!» beschwört sie Betz. «Oh du, mit deinem beschissenen Ehrenkodex, deiner Loyalität – alles Geschwätz, du bist gesund, du kannst gut reden», zischt Gisa. Wormser, der nicht so ganz begreift, worüber hier gestritten wird, fragt, warum seine Tochter nicht zu einem dieser Tests gehe. Eine lange Pause entsteht. Dieselben Geräusche werden vernehmbar wie am vergangenen Wochenende, die reibenden Taue, die leckenden, schmatzenden Wellen. Betz erkennt Tränen in Gisas Augen. Sie sagt leise: «Weil ich Angst habe. Mich würgt es, wenn ich an so einen medizinischen Befund denke.» Wormser geht auf seine Tochter zu, doch sie weicht ihm aus. Er sagt beschwörend: «Kind, Vater hat dich schon zweimal aus dem Wasser gezogen, weil du hineingefallen warst. Weißt du noch? Da warst du gerade vier, im Rheinhafen Mannheim, bei so einer Kälte, daß die Eisschollen auf dem Rhein getrieben sind, ein blaues Bündel aus Haut, Haaren und Knochen warst du. Auch da sah es aus, als hättest du nicht weiterleben wollen. Wie deine Mutter, die auch immer hat aufgeben wollen und schließlich auch aufgegeben hat.» Gisa weint, ihr laufen die Tränen über das Gesicht, wie dem jungen Berti Vogel. Es ist das erste Mal, seitdem sie aus Betzens Wohnung geflohen ist, daß die Traurigkeit sie überwältigt. Ihr Vater sagt zu Betz: «Sie ist stark nach außen, 184
schwach da drinnen», er pocht auf seine Brust, geht wieder einen Schritt auf seine Tochter zu, die nun schnell die Treppe hinunterflieht. Er macht eine Geste, als wolle er sie tröstend in den Arm nehmen. Gisa schreit von unten hoch: «Weg, Vater, ich Idiot habe auch einen Menschen getröstet.» Da ist plötzlich Betz auf dem Treppenabsatz. Er stößt Wormser zur Seite und rennt hinunter auf Gisa zu, die zurückprallt. Er sagt: «Komm, küß mich, damit du siehst, daß ich nicht glaube, daß du dich angesteckt hast.» Gisa starrt ihn feindselig an. Im schrägen gelben Licht von oben sieht er ihr Gesicht, von Tränen und von Schweißperlen benetzt. Plötzlich ist wieder die existentielle Angst in ihr aufgeflackert, schüttelt sie: Sie wird sterben müssen! Gisa flieht. Betz bleibt stehen, verschränkt die Hände hinter dem Nacken und rudert mit den Armen wie ein Schmetterling. Wormser hört, wie er mit den Zähnen klappert vor Wut und Ohnmacht. Betz brüllt: «Gisa, bleib da!» Doch sie ist schon über den Anleger gelaufen und auf der Pier verschwunden. Plötzlich rennt Betz los, auch über den Anleger, die Betonstufen hinauf zur Pier, stolpert, stürzt schier. Die Straße liegt ruhig und verlassen vor ihm. Die Hitze des Asphalts schlägt ihm entgegen. Das Licht der Straßenlaternen bildet fahle Flächen. «Gisa!» brüllt Betz. Keine Antwort. Keine hundert Meter entfernt steht Gisa Wormser in einer Nische hinter einem Wärterhäuschen am Industriegleis, das die Straße kreuzt. Sie atmet schwer. Sie heult Rotz und Wasser. Sie glaubt, sie muß sich erbre185
chen. Sie hört ein Schubschiff heulen, sie hört, daß sie gerufen wird. Doch sie antwortet nicht. Der alte Wormser ist mit seinen Holzlatschen inzwischen auch auf die Straße gekommen. Er tritt neben Betz. Das Hemd hängt ihm über die Hosen. Ein wenig riecht er nach Alkohol und Zigarrenqualm. Er hat die Hände in den Taschen. Er starrt zum Himmel und wartet, bis Betz noch zwei- oder dreimal gerufen hat, dann sagt er schließlich mit einer fast gleichgültigen Stimme: «Laß sie, sie braucht jetzt Ruhe, muß nachdenken, ich kenn sie.» Betz neben ihm schweigt. Er hat die Hände im Nacken gefaltet. Er atmet schwer, rudert wieder mit den Armen. Der alte Wormser fragt: «Wie ernst ist das mit der Krankheit?» Betz zögert, dann sagt er ehrlich: «Es scheint schlimm zu sein.» Wormser: «Aber du wolltest sie küssen?» Betz registriert die vertrauliche Anrede. Er widerspricht nicht. «Ja», sagt er auf die Frage. «Was ist?» stößt Wormser nach. Betz: «Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich den Mut gehabt hätte. Ich muß sie suchen.» Betzens Hände fahren vom Nacken herunter, beginnen in den Taschen nach dem Autoschlüssel zu wühlen. Da spürt er Wormsers Hand auf dem Rücken. «Du wirst sie nicht finden», sagte der Alte, «sie verkriecht sich. Das war immer schon so.»
Mittwoch, Nacht Die Bedienung in diesem Caféhaus lächelt ein wenig verschwörerisch, als sie vor Gisa einen Kognakschwenker hinstellt. Gisa sieht die Frau verblüfft an, die ein dunkel186
braunes Kleid trägt, trotz der Hitze mit langen Ärmeln. Unter den Achseln haben sich Schweißflecken ausgebreitet. Die weiße Schürze ist makellos geblieben. «Dort, von dem Herrn», sagt die Bedienung. Gisa löscht ihre Zigarette. Der Herr sitzt an der entgegengesetzten Wand auf der Bank, genauso wie Gisa. Er hat nichts zu tun, außer zu schauen, Gisa hat nichts zu tun, außer zu schauen. Deshalb sehen sie sich an, wenn die Augen sich treffen, wenden sie sich beide flüchtig ab. Der Mann ist jünger als Gisa, hat lange weiche Haare, er ist muskulös, wahrscheinlich groß. Das Gesicht ist seltsam bartlos und flach. Doch das kann am Licht des Caféhauses liegen, das zudem durch Spiegel reflektiert wird. Wenn Gisa den Kopf dreht, kann sie ihr eigenes Halbprofil sehen. Ihr Make-up ist verbraucht, die vollen rötlichblonden Haare sind zusammengefallen. Auch die Brillengläser scheinen nicht mehr zu blitzen. Die Bedienung geht. Der Mann gegenüber hebt seinen Kognakschwenker, prostet ihr zu. Gisa prostet zurück. Warum nicht? Sie prostet zurück. Wieder sitzen beide da, schauen, jeder für den anderen Interesse hegend, doch zu schüchtern, um ein Wort zu sagen. Blicke tasten umher. Draußen in der Küche des Cafés fällt Geschirr zu Boden, es zerbricht. Niemand schimpft. Als sei dies das Signal, so etwas wie ein Stichwort, erhebt sich der Mann. Er ist nicht groß, hat nur einen Oberkörper von beträchtlicher Länge. Er kommt geschickt durch die Stühle heran. Ein gutes Stück von Gisa entfernt bleibt er stehen und sagt verlegen, daß er jemanden suche, mit dem er reden kann. Gisa lächelt. «Haben Sie Kummer?» «Nein, ich bin nur allein. Alleinsein ist nicht schlimm. 187
Bloß braucht man manchmal jemanden zum Reden. Über irgendwas reden.» Gisa hüstelt. Es fällt ihr nichts Besseres ein als zu sagen, sie habe eine Grippe und bitte darum, der Mann möge sich an den anderen Tisch setzen. Er tut, wie ihm geheißen. «Und?» fragt Gisa. «Nichts», sagt er, «ich muß öfters in dieses Café, weil ich Tennislehrer bin.» «Was hat das mit einem Café zu tun?» Der Tennislehrer zeigt mit dem Daumen über die Schulter. «Dort hinten ist die Halle, sie ist nicht bewirtschaftet. Auch im Sommer nicht. Deswegen das Café. In einer Stunde geht es weiter.» Gisa betrachtet den Mann näher, registriert, daß er ein dünnes Sweat-Shirt trägt, Jeans und Tennisschuhe mit weißen Socken. Gisa ist fast von ihrer Grübelei abgelenkt, sie lächelt, zeigt auf den Kognak, den der Tennislehrer trinkt. «Ist das nicht schlecht? Haut man nicht daneben, wenn man was trinkt?» «Nein, den Ball treffe ich auch noch, wenn ich total zu bin. Es beruhigt nur.» «Und mit Ihren Schülern reden Sie nie?» «Nie», sagt der Tennislehrer, «sie kommen, ich korrigiere die Haltung, sie zahlen und gehen. Das ist alles. Und Sie haben die Grippe?» «Ja», sagt Gisa. «So», sagt der Tennislehrer, «bei diesem Wetter ist das beschissen.» Sie schweigen. Man hört, wie jemand das zerbrochene Geschirr zusammenfegt und in einen Mülleimer wirft. Gisa spielt mit ihrem Glas. «Noch einen?» fragt er. 188
«Nein danke», sagt Gisa. Sie schaut den jungen Mann an, der vor ihr sitzt. Er weicht ihrem Blick nicht aus. Seine Augen sind grün oder braun, nicht genau zu erkennen. Andreas Betz hat grüne Augen, denkt sie. «Haben Sie eine Frau?» fragt Gisa. «Manchmal, im Sommer», sagt der Tennislehrer. «Aber in diesem Sommer noch nicht.» Er schlägt die Augen nieder, nimmt den letzten Schluck, ruft laut, daß er noch einen Doppelten braucht, dann fragt er Gisa: «Haben Sie einen Mann?» Gisa sagt: «Ja.» «Dann wartet er auf Sie?» «Nein, er sucht mich», sagt Gisa. «Warum?» «Weil er ein schlechtes Gewissen hat.» Der Tennislehrer: «Hat er Sie betrogen?» «Ja», sagt Gisa, «betrogen ist vielleicht das richtige Wort.» «Dann betrügen Sie ihn auch», sagt der Tennislehrer. «Mit Ihnen?» fragt Gisa. «Nein, besser nicht», sagt der Tennislehrer. «Warum?» fragt Gisa. Die Bedienung kommt, sie hat wieder ein Glas auf einem kleinen verchromten Tablett mit Plastikdeckchen. «Hier, Peter», sagt sie, als sie es vor ihn hinstellt. «Es ist bald Zeit.» «Ja», sagt der Tennislehrer. «Und Sie?» fragt die Bedienung. «Nichts, nein danke», antwortet Gisa. Als die Bedienung gegangen ist, schweigen die beiden. Gisa betrachtet seine Hände. Sie sind dicht behaart, lang und muskulös. Er trägt keine Ringe. Er führt den Kognakschwenker mit zwei Händen zum Mund. 189
«Wollen Sie ein anderes Mal mit mir reden?» fragt Gisa. «Vielleicht», sagt der Tennislehrer. «Morgen früh?» Gisa nennt einen Ort in der Nähe der ausrangierten Flußbadeanstalt.
Donnerstag, Morgen Der Schöffengerichtssaal des Amtsgerichtes ist der einzige bauliche Zeuge aus der prächtigen Vergangenheit des Gebäudes. Je größer die Straftaten, die abzuurteilen sind, umso prunkvoller gibt sich die Justiz. Es scheint, als müsse sie bei der Bewältigung kapitalerer Verbrechen dem eigenen Selbstbewußtsein nachhelfen. Zum Schöffengerichtssaal führen zwei schwere Eichenportale, der Hochsitz der Richter weist geschnitzte Voluten und eine gewisse Überladung mit Details auf. Die Wände sind mannshoch getäfelt. Das Besuchergestühl ist dürftig, stammt aus den 60er Jahren. Auch am Platz des Verteidigers ist gespart worden. Hierhin, in den Schöffengerichtssaal hat Andreas Betz die Verhandlung in den drei neu aufgetauchten Seuchenfällen verlegt, das hat er mit Winter telefonisch so abgesprochen. Denn der Schöffengerichtssaal ist besser, er erlaubt mehr Sicherheitsdistanz zwischen den Beteiligten. Auch auf einen zweiten Punkt hat man sich verhältnismäßig schnell geeinigt: Auf eine Vorführung der Betroffenen kann verzichtet werden. Ein Blick ins Gesetz belehrt, daß auch ohne Anwesenheit der infizierten Patienten eine Verhandlung stattfinden kann. Voraussetzung ist eine anwaltliche Vertretung. Dafür hat Winter gesorgt. Er nennt Betz den Namen eines Rechtsanwalts, den dieser vom Hörensagen kennt. Der Rechtsanwalt heißt 190
Kupka. Betz weiß, daß dieser Mann von Pflichtverteidigungen beim Landgericht lebt. Da das Gericht die Pflichtverteidiger selber bestellt, lernen sie das Anpassen. Betz liebt keine zahmen Advokaten. Doch was soll Betz machen, wenn die Behörde mit diesem Anwalt kommt und wenn er gültige Vollmachten für die Patienten vorlegen kann? Betz sorgt sich vor dieser Verhandlung weniger um die Formalien als darum, wie er in der Sache entscheiden wird. Hier ringt er noch mit sich. Eine fast zu dreiviertel durchgewachte Nacht. Sein Kopf ist dumpf. Ein halbstündiger Lauf, vom Parkplatz der Ruderclubs auf dem Treidelweg bis zum Anleger der Vergnügungsschiffe und zurück, brachte keine Besserung. Insgeheim hat Betz gehofft, auf Gisa zu stoßen, vielleicht ihren Wagen irgendwo zu entdecken. Nichts. Nun steht er, obwohl kalt geduscht, immer noch vom Lauf schwitzend, im Schöffengerichtssaal, den er inspiziert. Die stickige Kühle des Raumes bedrückt ihn. Die Fenster gehen hinaus auf den Hof, westseitig, so daß sie morgens noch in tiefem Schatten liegen. Ihre Flügel kann man aus Sicherheitsgründen nicht öffnen. Vor Jahren soll einmal ein Spitzbube während der Verhandlung auf diesem Wege entkommen sein. Betz überlegt sich, wie er die Beteiligten gruppieren soll. Wenn tatsächlich keiner der Betroffenen mitkommt, ist es unproblematisch. Doch Winter hat den Schöffengerichtssaal wohl nicht ohne Grund vorgeschlagen und man hat in diesen Fällen ja schon einige Kehrtwendungen erlebt, denkt Betz. Also den Patienten in die Mitte, seinen Anwalt auf die Verteidigerbank, gegenüber das Amt. Aber dann müßten Anwalt und Winter durch die engen Stuhlreihen am Betroffenen vorbei. Betz wäre ein Sicherheitsabstand 191
von etwa drei Metern lieber. Auf die Anklagebank möchte er den Betroffenen nur sehr ungern setzen. Prinzipielle Erwägungen! Dann besser auf den Platz des Verteidigers. Aber der Anwalt vorne im Zuschauerraum, das geht auch nicht. Da kommt Betz auf die Idee, zwei Zugänge zu schaffen. Er schiebt knatternd und rumpelnd die Stuhlreihen in der Mitte zusammen, so daß außen an den Wänden ein Gang entsteht. So kann er den betroffenen Patienten in die Mitte setzen, nachdem die Prozeßvertreter Platz genommen haben. Man wird ihn ja mit Pflegern bringen, für die ist Platz einige Reihen dahinter. Dabei verdrängt er das Problem, das entstehen könnte, wenn einer der Betroffenen gewalttätig wird. Es ist kurz nach sieben Uhr am Morgen. Draußen ein schon früh sehr heißer Sommertag. Betz hat dafür kein Auge, er ist verstrickt in seine verworrenen Nachtgedanken. Er weist sich die Schuld an der Komplikation mit Gisa zu, ja, er nennt es bloß Komplikation; denn noch steht kein Untersuchungsergebnis fest. Hätte er nicht gezögert einzuweisen, wäre die Verwirrung nicht entstanden – oder doch? Wer kann ausschließen, daß Gisa nicht schon am ersten Tag so töricht gewesen wäre, den jungen Vogel in den Arm zu nehmen, um ihn angesichts eines solchen Beschlusses zu trösten? Wie hätte er sich verhalten, selbst ohne Ahnung um die Gefahr? Indes, der Betroffene Vogel war sediert gewesen. Es war deshalb eher unwahrscheinlich, daß es zu emotionalen Ausbrüchen nach seinem Spruch gekommen wäre. Und gegen seine Entscheidung, das kommt hinzu, gibt es noch eine Instanz, also noch keinen Grund zur ganz großen Verzweiflung. Das Landgericht dagegen spricht das letzte Wort. Nach dessen Beschluß war Zeit für Emotionen. Trotz aller Argumente, Betz fühlt sich schuldig. 192
Mit diesen Überlegungen und den eigenen Erfahrungen beim Test und dem Auftauchen neuer Ansteckungsfälle hat es zusammengehangen, daß Betz sich fast entschlossen hat, nun doch Einweisungen auszusprechen, eine Meinung, die auch in der morgendlichen Katerstimmung, die ihn umfängt, Bestand hat. Absonderung! Diese Richtung paßt ihm trotzdem nicht. Und natürlich wird er auch in diesem ungewöhnlichen Rechtsstreit die medizinischen Gutachten genauestens lesen. Selbstverständlich wird er danach forschen, ob Verwechslungsgefahr bei den Proben besteht oder bestanden hat. Gerade als er damit fertig ist, die Stühle umzugruppieren, und sich den vermeintlichen Staub von den Händen klopft, betritt Winter den Saal. Er grüßt. Betz grüßt zurück. Man gibt sich nicht die Hand. «Wo?» fragt Winter. «Dort», sagt Betz und zeigt auf den dem Amt zugedachten Platz. «Werden die Betroffenen kommen?» «Wir versuchen es zu vermeiden. In diesen Fällen haben alle drei verzichtet. Trotzdem ist gut, daß wir den großen Saal haben.» Betz antwortet nicht, er geht in das Beratungszimmer, das dem allgemeinen Stil entsprechend mit wuchtigen Lederfauteuils ausgestattet ist. Er angelt sich seine Robe, zieht den Schlips aus der Tasche und bindet ihn blind um. Dann tritt er wieder hinaus in den großen Saal. Jemand hat die Kronleuchter angeschaltet. Das Zwielicht macht die Atmosphäre noch trostloser. Draußen hat die Sonne den Hof erreicht. Ein Pflastersegment leuchtet grellweiß. Der Pflichtverteidiger ist gekommen. Er ist aufgestanden, trägt einen Talar, was in dieser Verhandlung gar nicht nötig wäre. Er dienert leicht. Er besitzt ein 193
schmales Gesicht, ist kaum älter als Gisa, keine unsympathische Erscheinung. Melanie von der Geschäftsstelle tritt ein. Sie erkennt sofort die neue Bestuhlung und fragt, ob sie den Hausmeister holen soll. Betz, verlegen, winkt ab und läßt sich die Akten geben, die gerade frisch angelegt wurden. Melanie geht achselzuckend. Die Tür des Verhandlungssaales öffnet sich mit einem kaum hörbaren Knarren. Küster streckt den Kopf herein, Betz blickt von seinen Akten auf, Küster zieht den Kopf wieder zurück und betritt nach kurzem Zögern den Saal. Auch er nimmt verblüfft zur Kenntnis, daß anders bestuhlt ist. Auf leisen Sohlen geht er zur letzten Sitzreihe und läßt sich nieder. Und weil es durchaus ungewöhnlich ist, daß ein Richter einem anderen bei der Arbeit zusieht, dehnt Betz seine Pause noch länger hin, bis Winter und der Rechtsanwalt unruhig mit den Füßen scharren. «Fangen wir an», sagt Betz, als Küster keine Anstalten macht, wieder zu gehen. Die Juristen verständigen sich in kurzen, routinierten Sätzen formelhaft darauf, daß die Regularien in Ordnung sind. «Haben Sie Ihre Mandanten gesehen?» fragt Betz. «Nein», sagt der freundliche Rechtsanwalt Kupka. Er hat die Untersuchungsbefunde geprüft. Sie sind in Ordnung. Betz schweigt. Das irritiert Winter. Er schiebt es auf das Zwielicht, daß der Richter so blaß wirkt. Betz spielt mit einem Kugelschreiber, der ihm gelegentlich herunterfällt. Die beiden anderen Juristen warten darauf, daß er die Verhandlung weiterführt. Endlich sagt Betz: «Thema Verwechslungsgefahr.» «Kein Problem!» sagt Winter. Kupka nickt. 194
Wieder dieses gedehnte Schweigen. Nun fühlt sich Winter bemüßigt, detailliert den Ablauf der Probenentnahme und -analyse zu schildern. Am Ende sagt er, sozusagen als gewinne dadurch sein Vortrag zusätzlich an Plausibilität, daß die Patienten sich in einem verschlossenen Ambulanzzimmer aufhalten müßten, bis die Probe geprüft sei. Er sieht lange zu Betz hinüber. Betz schaut weg. In der Tat, was Winter vorträgt, läßt nur den einen Schluß zu, daß organisatorisch alles getan wird, um eine Verwechslung zu verhindern. «Welches Interesse sollte das Gesundheitsamt daran haben, Proben zu vertauschen?» fragt der Anwalt. Betz sieht ihn irritiert an. «Ich meine ja nur», sagt der Anwalt. Wieder eine zähe Pause, bis Betz sagt, daß er ja wohl kaum dem Verdacht Ausdruck gegeben hat, jemand handle vorsätzlich zum Nachteil anderer. Verletzungen geschähen auch fahrlässig. «Und in diesen Fällen liegt wirklich aggressives Verhalten bei den Patienten vor?» versichert sich Betz deshalb. «Aggressiv und deshalb gefährlich. Ansteckungsgefahr», bestätigt Winter. «Auch wieder zertrümmerte Krankenzimmer?» Betz zieht Polaroids aus den Akten. Ihm scheint, als sei dasselbe Zimmer abgelichtet wie bei Vogel. Er zögert, ob er die Frage stellen soll. Doch so viel Objektivität ist er sich schuldig. «Dieselbe Station», sagt Winter, «ein Krankenzimmer sieht heute aus wie das andere.» Verlegen verdeckt er beim Sprechen den Mund mit der Hand. «Aha», sagt Betz und steckt die Fotos in die Akten zurück. Und nun sind sie am Ende dessen angekommen, was sinnvoll verhandelt werden kann. Betz wäre es lieber, er könnte entscheiden, ohne daß Küster ihn dabei 195
beobachtet. Er findet es nicht fair, daß sein Kollege sich hier aufhält. Indes, er kann nichts dagegen unternehmen. Er spürt, daß er wütend wird. Er zügelt dieses Gefühl und erhebt sich. «Eine Entscheidung ergeht in fünf Minuten.» Er geht hinaus. Draußen im Beratungszimmer geht Betz zunächst auf und ab. Sein Kopf sagt ihm, wie er entscheiden soll. Doch dieses merkwürdige Interesse seiner Kollegen, nachdem gestern der Vorstand gefragt hatte, das macht ihn wieder unsicher. Sind denn die Zweifel seit gestern ausgeräumt, hat sich etwas grundsätzlich anderes ergeben? Nur seine eigene Verunsicherung ist größer geworden, die objektiven Befunde sind konstant. Richten ist aber auch ein Prozeß, bei dem persönliche Erfahrung besonders wichtig ist. Betz beobachtet am Fenster stehend den grellen Sonnenfleck, der nun an den Rändern Zacken bildet. Dann entschließt er sich endgültig, den vorher zurechtgelegten Weg zu gehen: Er skizziert handschriftlich die Entscheidung auf drei Blättern, die zu diesem Zweck auf dem Tisch liegen, und dann stürmt er fast in den Gerichtssaal und verkündet seine drei Sprüche hintereinander weg. Daß Küster schon nach den ersten Worten, die einem geübten Juristen das Ergebnis signalisieren, genauso leise wie auffällig den Gerichtssaal wieder verläßt, hat Betz geahnt. Als er abschließend die Frage stellt, ob auf Rechtsmittel verzichtet wird – das Gesetz verpflichtet ihn zu dieser Nachforschung –, nickt der junge Rechtsanwalt fast so schnell wie Winter. Betz kann sich nicht vorstellen, daß dieser Mann nicht eingeweiht sein soll. Oder was verspricht er sich von einem solchen Kollaborieren? Neue Fälle, Publizität? Mit einem kurzen Kopfnicken entläßt Betz die Prozeßparteien. 196
Donnerstag, Vormittag Die anderen Beteiligten sind längst fort, als Betz das Beratungszimmer verläßt. Küster wartet davor, mit der Schulter an die Wand gelehnt, die Hände in den Taschen. «Was ist mit den Leuten wirklich los?» will er wissen. «Du hast ja im Saal gesessen», sagt Betz gereizt. «Deswegen frage ich ja, du kannst dich nicht für ein solches Schnellverfahren hergeben, du doch nicht.» Betz wird unwillig. «Wie hättest du entschieden?» fragt er. «Ich hätte mir Fall für Fall angesehen, hätte mich vor allen Dingen gefragt, ob ein Jahr Absonderung gleich das richtige Maß ist. Warum entscheidest du nicht zunächst auf eine Einweisung für ein oder zwei Monate, befaßt dich dann wieder mit der Sache? In der Ruhe liegt die Kraft!» Betz wird aggressiv. Er faucht Küster an: «Hör zu, das ist mein Dezernat und meine Verantwortung. Wozu soll ich Zeit verplempern, wenn das Ergebnis klar ist? Dieser Professor Kron ist eine Koryphäe, die Leute sind krank, man wird sie nach einem Jahr erneut in eine Absonderung verurteilen müssen, das liegt doch auf der Hand! Das sind Sachzwänge, die kann man nicht einfach wegverhandeln.» Küster stößt sich mit der Schulter von der Wand ab, tippt mit dem Finger salutierend an die Stirn und sagt spöttisch: «Beachtlich! Dann laß doch gleich Formulare für diese Prozesse drucken. Du sparst dir das Protokollieren.» Küster geht, läßt Betz stehen wie einen dummen Schulbuben. Betz geht drei Schritte hinterher und ruft: «Sei froh, daß du nicht entscheiden mußt!» Küster geht weiter, ohne sich umzusehen. Er brummt etwas, was sich anhört wie «Deine Sache». 197
Donnerstag, gegen Mittag Kron sitzt in seinem Arbeitszimmer und süffelt an einer halbkalten Tasse Kaffee. Eine Zigarette kohlt im Aschenbecher. Er hat einen Stapel Notizblätter vor sich, auf denen er mit seiner winzigen, akribischen Handschrift in Spalten die Schritte seiner Versuchsprogramme niedergelegt hat. Er ist unkonzentriert, übernächtigt, ausgelaugt. Der Kaffee hilft nicht mehr, das Medikament, das er gegen die bleierne Müdigkeit eingenommen hat, entfaltet seine Wirkung nur mangelhaft. Für eine stärkere Dosis fehlt ihm der Mut, weil er weiß, welchen Unfug man am eigenen Körper damit anrichten kann. Kron ist in einer Phase schlaffer Ruhe und nahezu vollständiger Gleichgültigkeit. Er hat die Vorhänge vorgezogen, weil die Sonne grell sticht. Das blendende helle Licht ermüdet. Das Telefon reißt ihn hoch. Er wird plötzlich von Wut überfallen. Hat er denn nicht gesagt, daß man ihn nicht stören soll? Er reißt den Hörer von der Gabel, bellt: «Was ist denn jetzt schon wieder los?» Doch die Frau in seinem Lehrstuhlbüro erklärt ihm ruhig, daß es Professor Wagenbauer sei. «Ja!» sagt Kron schnell. Wagenbauer darf man durchstellen. Wagenbauer ist nach Krons Einschätzung der einzige einigermaßen ernstzunehmende Virologe außer ihm selbst in Deutschland. Um ganz sicher zu gehen, hat er den Kollegen gestern abend eingeweiht und ihm per Kurier Proben geschickt. «Wagenbauer», sagt am Telefon eine Stimme mit jovialem österreichischen Akzent. Kron meldet sich. Er fragt nach dem Stand der Dinge. Wagenbauer, ein gelassener 198
Mann von großer Körperfülle, ist nie schnell bei der Hand mit Beurteilungen. Er gibt sich vorsichtig: «Ja, das mit der Ansteckungsgefahr scheint plausibel. Es wäre eher wahrscheinlich gewesen, daß beispielsweise ein mutiertes Grippevirus plötzlich das Immunsystem angreift, als daß das bekannte Virus brisant wird, was den Infektionsgang angeht», referiert er. Aber so sei die Natur. «Wer sagt uns aber, Herr Kollege», fragt Wagenbauer, «daß das mutierte Virus bei Menschen genauso tödlich sein muß wie das bekannte?» «Wollen Sie die Verantwortung übernehmen?» fragt Kron schnell. «Jo mei», sagt Wagenbauer gutmütig, «wann übernimmt die Wissenschaft schon einmal eine Verantwortung?» «Prophylaxe», sagt Kron scharf. «Sie haben also die Leute aus dem Verkehr gezogen?» «Wir bemühen uns darum.» «Das kann nicht schaden», befindet Wagenbauer. «Wieviel Fälle habt’s denn?» «Elf oder zwölf inzwischen», sagt Kron. «Sind’s nicht genau informiert über die Zahl?» Kron wird langsam ungeduldig, er hat nicht die Proben verschickt, um sich einem Examinatorium zu stellen. «Darum kümmert sich die Verwaltung», sagt er. Unter Ärzten ein Zauberwort: Die Verwaltung. «Schon, schon», sagt Wagenbauer, der spürt, wie gereizt sein Kollege ist. Er fügt gutmütig hinzu: «Also von der Analyse her, von der gentechnischen Seite, da bin ich ja d’accord. Eine Mutierung der bisherigen Form, kleiner. Auch was die Temperaturtoleranzen und die anderen Randfaktoren anbelangt, stimme ich mit Ihnen überein. Die Feldstudie muß halt zeigen, wie groß die Gefahr ist. 199
Es ist besser, wenn man’s jetzt erkennt als später. Hoffentlich habt’s Ihr den Patienten Null erwischt. Es wäre ein verrücktes Glück. Ich lasse übrigens unsere eigenen Proben auch durchsuchen, ob wir was ähnliches finden.»
Donnerstag, Mittag Die Kantine des Amtsgerichts liegt im Souterrain. Sie ist nicht ganz so trostlos ausgestattet wie viele andere Pausenräume in den Behörden. Was dem Koch an Geschmack beim Kochen abgeht, hat er zusammen mit dem Vorstand in die Einrichtung investiert: freundliche Kiefernholzmöbel, die Wände werden jährlich frisch mit weißer Farbe gestrichen, Künstler unter den Richtern und Angestellten und deren Gattinnen stellen von Zeit zu Zeit Aquarelle aus, die je nach persönlichem Geschmack des Künstlers Landschaften, Stilleben oder Tiere zeigen. Betz hat eigentlich zum Italiener gehen wollen, aber donnerstags hat der Ruhetag. Und weil er in der vergangenen Nacht und am Morgen nichts in den Magen bekommen hat, hat er Hunger, also beschließt er, sich das Kantinenessen zuzumuten. Als Betz eintritt, riecht es heftig nach Gekochtem. Er sieht an der Theke, daß man Gulasch auf Nudeln ausgibt, Salat in kleinen Schälchen. Er stellt sich an, faßt ein Essen, bezahlt, sieht sich um. Es gibt, obwohl von niemandem so offiziell festgelegt, Tische für Richter, für Staatsanwälte, solche für Anwälte und schließlich Tische, an denen das Geschäftsstellenpersonal und die Büroboten essen. Mit einem aufgeräumten «Mahlzeit» grüßt Betz zu dem Tisch, der mit Kolleginnen und Kollegen besetzt ist. Er 200
späht, doch er findet keinen freien Platz. Dafür ist an dem Nachbartisch genügend Raum. Hier sitzt Frau Schultheiß, jene Richterin mit den gierigen Augen, zu der Betz eigentlich ein gutes Verhältnis hat. «Frei?» fragt er. Sie nickt. Er sieht, sie hat ihr Essen beendet, weil er weiß, daß sie raucht, schiebt er ihr wortlos den Aschenbecher hin. «Danke, Herr Betz», sagt sie kühl. «Ich rauche heute draußen.» Sie nimmt ihr Tablett und geht. Hat sie es eilig oder will sie ihn brüskieren? Betz grübelt, während er in den verkochten Nudeln stochert. Am Nachbartisch erzählt Küster einen Witz über Österreicher. Österreicherwitze sind die Mode der Saison. Man lacht gerade noch über den vorangegangenen Spruch, da setzt Küster einen obendrauf: «Ein Österreicher lehnt sich an einen Zaun. Was passiert?» Ratloses Schweigen. Küster: «Der Zaun fällt um. Warum?» Gespannte Aufmerksamkeit. «Warum denn?» fragen zwei oder drei Stimmen. «Der Klügere gibt nach», sagt Küster. Die Richter wiehern. Einer klopft mit der flachen Hand auf den Tisch, daß ein Sprudelglas umfällt, der Inhalt ergießt sich über den Tisch. Man weicht hektisch aus, Stühle rutschen über den Boden. Betz, unmittelbar daneben sitzend, ist ausgeschlossen. Er verzieht das Gesicht, statt zu lachen. Keiner sieht zu ihm herüber. Jemand sagt: «Spielverderber» und meint einen Kollegen, der aufsteht, um zur Arbeit zu gehen.
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Donnerstag, früher Nachmittag Gisa ist nicht in ihrer Kanzlei, nicht bei sich zu Hause. Wormsers Schiff ist unterwegs. Betz sitzt ratlos in einem Straßencafé der Fußgängerzone und süffelt ein Achtel Rosé. Das beruhigt die Nerven. Der Alkohol lullt das Bewußtsein ein, deckt Sorgen zu. Es ist das dritte Achtel, das Betz trinkt. Das Kinn auf der Brust, beobachtet er die Straße. In der Hitze des frühen Nachmittags sind kaum Menschen unterwegs. Das Pflaster glüht. Betz tupft sich gelegentlich den Schweiß von der hohen Stirn. Im Schatten des Cafés hinter ihm streiten zwei Kellner in jugoslawischer Sprache. Der Himmel hat an Bläue verloren. Die Luft steht. Die Fenster der Hochhäuser spiegeln. Sie sind geschlossen. Aircondition. «Ach, da ist er ja, der Meister des Rechts», eine etwas gequetscht klingende hohe Frauenstimme läßt Betz aus seinem Dämmern auffahren. Frau Lang-Bergheim, eine freie Mitarbeiterin im Lokalteil der örtlichen Presse. Frau Bergheim ist klein, dürr wie eine Magersüchtige, trägt eine Zahnspange im offensichtlichen Bemühen, die Natur wenigstens dort zu korrigieren, wo es noch möglich ist. Frau Bergheim hat sich auf Gerichtsreportagen spezialisiert. Ihre betont flotte Schreibe, ihr aggressiver Stil gefallen nicht jedem Richter. Und als vor kurzem die junge Lehrersgattin angeblich schwanger war, freute sich der Amtsgerichtsstammtisch einträchtig. Doch aus der Schwangerschaft wurde nichts. Nun ruhen die Hoffnungen des Kollegiums darauf, der Ehrgeiz von Frau Bergheim möge sie als festangestellte Redakteurin in die Landesredaktion oder ins Feuilleton oder den Sport oder sonstwohin befördern. Betz, der noch keine Schwierigkeiten mit ihr hatte, fühlt sich 202
dennoch belästigt, nicht nur wegen des kumpelhaften Tons. «Gibt’s heute was zu feiern?» fragt Frau Bergheim und schnickt mit den Fingern an das Weinglas. Betz rückt von ihr ab. Sie setzt sich ungefragt. Betz rückt noch ein Stück weiter weg. «Ich such Sie», verkündet Frau Bergheim. «Warum?» «Heute morgen, diese drei Fälle, ganz früh, was war das?» Betz zuckt mit den Schultern. «Frau Lange-Bergheim», sagt er förmlich, «ich bin nicht der Pressesprecher des Amtsgerichts.» «So was gibt es auch gar nicht», sagt sie. Sie bestellt einen Kaffee. Dann spricht sie weiter: «Das ist doch nur die Spitze des Eisbergs!» Betz schweigt. «Gestern oder vorgestern soll etwas ähnliches gewesen sein», sagt Frau Bergheim. «Sie machen’s nicht dadurch einfacher und besser, daß Sie nichts sagen. Die Presse hat eine öffentliche Aufgabe.» «Ja, ja», brummt Betz. «Also!» das klingt sehr fordernd. «Nichts also!» sagt Betz. Der Kaffee kommt, Frau Bergheim nimmt vorsichtig einen Schluck, dann stützt sie die Ellenbogen auf die Knie und legt das Kinn in die Hände. Sie spreizt dabei ihre dürren Oberschenkel. Trotz der Hitze trägt sie schwarze Nylons unter einem schwarzen Minirock. Betz widert das an. «Zahlen!» ruft er. «Moment, das erledige ich», sagt Frau Bergheim. «Nein», sagt Betz. 203
Doch der Kellner kommt nicht. Frau Bergheim schlägt vor, sie werde kurzerhand einfach mal das referieren, was sie weiß, und Betz könne dann entscheiden, ob er etwas dazu sagen wolle oder nicht. Er schweigt, hört zu, stellt fest, daß sie ziemlich viel weiß. «Woher haben Sie das?» fragt er, sie unterbrechend. Da lächelt Frau Bergheim ihr Zahnspangenlächeln und verweist, mit Recht, wie Betz feststellt, auf die Schweigepflicht der Presse, wenn es um Informanten geht. «Warum haben Sie im ersten Fall freigesprochen, wenn ich es so einmal sagen darf, und im zweiten Fall gleich drei Leute eingebuchtet?» «Ich prüfe jeden Einzelfall», brummt Betz und winkt dem Kellner. «Und was war an diesen drei Einzelfällen dran? Sind diese Leute wirklich alle aggressive Schläger?» faßt Frau Bergheim nach. «Ich habe medizinische Forschungsergebnisse zu respektieren, da gibt es einen Beurteilungsspielraum, den das Gericht dem Wissenschaftler zubilligt.» «Aha. Was für Forschungsergebnisse waren das?» will Frau Bergheim wissen. Endlich kommt der Kellner, der Betz einen Bon in die Hand drückt. Betz zahlt. «Es geht um Serumpositive, nicht wahr?» fragt die Reporterin. Betz erhebt sich, er sieht auf die kleine Person, dieses Energiebündel herunter. Dann sagt er, schließlich nicht ohne Häme, daß die Verhandlungen öffentlich seien und, wenn die Sache es erfordere, die Öffentlichkeit und damit die Presse ausgeschlossen werden könnte. Die Journalistin blickt den Richter feindselig an. Sie muß zu ihm hochsehen, deshalb streckt sie sich, mit den Hand204
ballen zupft sie den Rocksaum nach unten. Sie nimmt ihre Sonnenbrille, die mit einem Bügel im Ausschnitt der Bluse baumelt, und schiebt sie vor die Augen. «Wir werden sehen», sagt sie.
Donnerstag, später Nachmittag Der Staatssekretär Schummberger ruft durch die halboffene Tür nach seiner Sekretärin. Fast im selben Augenblick steht Jelena auf der Schwelle. «Bitte, Herr Staatssekretär?» fragt sie. «Alle Routinetermine absagen», befiehlt Schummberger. «Ist noch mehr passiert?» fragt Jelena, die gerade vor fünf Minuten ein Gespräch zwischen ihrem Chef und Professor Kron vermittelt hat. Man sieht Schummberger an, daß er selbst durch die Nachricht betroffen ist. Schummberger brummt, daß gleich ein Fax mit den Einzelheiten durchkäme. «Gehen Sie bitte rüber zum Empfänger, Wilhelm», sagt Schummberger. Wenige Augenblicke später ist seine Sekretärin wieder zurück. Sie hat das Schriftstück auf dem Flur schon überflogen. Ein weiterer Verdachtsfall. Die Probe stammt aus einem der anonymen Tests. Ein Zusammenhang zu den bisher bekannten Fällen aus dem Umkreis des Patienten Vogel kann deshalb nicht hergestellt werden. Gibt es einen weiteren Infektionsherd? Unter der Aktennotiz hat jemand in winziger, auf der Telekopie fast nicht mehr leserlicher Handschrift Zahlenreihen von Befunden notiert. Als sie wieder das Büro betritt, registriert sie, daß ihr Chef selbst ein Gespräch gewählt hat. Er ist aufgebracht. Sie hört ihn rufen: 205
«Bitte, Herr Meuler, dann gehen wir zusammen zum Ministerpräsidenten. Aber ich bestehe darauf, daß der Ausschuß sofort zusammentritt. Frau Wilhelmy wird hier einen der Sitzungssäle reservieren. Die Herren werden doch angesichts dieser Tatsachen einmal den Feierabend noch ein Stück hinausschieben können?» Noch während der Staatssekretär Schummberger mit seinem Kollegen um Terminfragen streitet, hebt Jelena ihren eigenen Apparat ab und wählt auf der anderen Leitung den Hausmeister an, um einen Konferenzraum für zwölf Personen bereitstellen zu lassen.
Donnerstag, später Nachmittag Betz sitzt neben dem schwarzen Hi-Fi-Turm in Jonasons Wohnzimmer. Hinter ihm stehen die Fenster offen. Die Hitze lastet in den Räumen. Der Himmel draußen ist so dunstig, daß es fast scheint, als sei er von Wolken bezogen. Doch es ist der Dunst der Großstadt, der ihn verschleiert. Betz hat eine Sporthose an und ein Polohemd. Er ist barfuß. Vor ihm sitzt Jonason auf einem Stuhl. Er hat die Füße in einer Schüssel mit kaltem Wasser. Die Beine sind unförmig angeschwollen. Jonason ist nackt bis auf eine Unterhose mit angeschnittenen Beinen. Sein dürrer weißer Körper ist unbehaart. Die Muskeln der Oberarme zeichnen sich unter der Haut scharf ab. Jonason hüstelt. Er ringt um Atem. Trotzdem sagt er: «Sie haben Wein getrunken, nicht? Das riecht man.» Sein Kichern verläuft sich in einem keuchenden Husten. Betz, der mit diesem Nachmittag nichts anfangen kann, weil er nicht mehr weiß, wo er seine Freundin suchen soll, und weil es ihn im Gericht nicht mehr hält, hat 206
noch ein paar Gläser Rosé getrunken. Oben bei sich und ganz alleine. Dann ist ihm eingefallen, den alten Kauz von unten einzuladen. Doch der ist malad und keucht. «Die Hitze!» sagt Betz. Dann setzt er hinzu: «Und Ihr Arzt war da?» Jonason nickt. «Und was sagt er?» Das schiefe Gesicht des Alten verzieht sich zu einem ratlosen Grinsen: «Was soll er sagen? Er gibt mir inzwischen die vierfache Dosis.» Jonasons Lungen pfeifen leise. «Und schauen Sie das an.» Er klatscht mit den Händen auf seine Knie: «Trotzdem immer noch Wasser in den Beinen. Der Kreislauf schafft’s nicht mehr. Er will mich stationär, aber ich will nicht.» Betz sieht, daß an Weintrinken nicht zu denken ist. «Das Wasser hier tut gut», krächzt der Alte. Und seine Füße plantschen ein wenig. Der Pudel, der hechelnd auf der Seite liegt, hebt den Kopf. Die Hände des alten Mannes wandern über den Bund der Unterhose hoch, er drückt sich auf den Bauch, der ein wenig heraussteht. «Hier, man kann es tasten, eine Geschwulst. Der Arzt hat zwar nichts gesagt, aber er hat mich abgetastet. Und hier besonders lange. Da habe ich schon ein paar Tage Schmerzen, und jetzt spüre ich’s auch. Wollen Sie mal fühlen?» Jonason hustet. Sein Gesicht überläuft bläulich. «Der Arzt sagt nichts. Aber er muß es gespürt haben.» Betz erschrickt, und man sieht das seinem Gesicht an. Er ekelt sich davor, seine Hände auf den Greisenbauch zu legen und nach einer Metastase zu fühlen. Jonason sagt: «Lassen Sie.» Eine lange Pause entsteht. Auf der Straße ist es seltsam ruhig. Nur das Grillengeschrei im Baum wird mächtiger, tragender. «Das hört sich an wie im Süden», sagt Betz. «Aber die Hitze», sagt Jonason, «diese Hitze.» 207
Schließlich bittet er Betz darum, den Plastikkasten mit den Medikamenten zu holen. Andreas, froh, aufstehen zu können, geht in das Schlafzimmer, in dem es schwül ist und streng riecht. Auf dem Nachttisch findet er das Behältnis. Er bringt es zu dem alten Mann in der Unterhose. Der alte Mann sagt: «Es muß irgendwie noch gehen. Jetzt ist einfach noch nicht Schluß, heute noch nicht. Morgen vielleicht, aber heute noch nicht.» Seine nach innen gekrümmten Finger bemächtigen sich des Behältnisses und klappern damit herum. Er sucht, wählerisch, wie ein Mensch in einem Pralinenkasten sucht, nach den richtigen Dragees. Als Betz aufstehen will, um in der Küche Wasser zu holen, schüttelt der Alte den Kopf. «Es geht auch so, ohne Wasser», sagt er, und man sieht ihn würgen. Durch das Fenster hört man nun in Betzens Wohnung das Telefon schrillen. «Telefon», sagt Jonason. «Ja.» «Und wenn es eine Frau ist, die Sie anruft? Oder sonst was Wichtiges?» Betz lehnt sich an den Hi-Fi-Turm. Was soll er dem alten Mann sagen, was ihm erzählen? Sein Kopf ist schwer vom Wein, die Zunge ist trocken. Er spürt, daß der Schweiß einen Film von Feuchtigkeit unter den Haaren auf seiner Brust bildet. Der Anrufer ist hartnäckig, das Telefon klingelt penetrant. Endlich ist wieder Ruhe. Die Hitze strahlt. Man vernimmt wieder das Grillengezirpe. Ein Auto fährt langsam vorbei, der Fahrer schaltet. Jonason spricht leise: «Man fragt sich in einer solchen Situation, wie es einem reichen Mann geht, oder einem, der wirklich wichtig ist, ein Präsident oder sowas. Was geben sie so einem für Medikamente? Operieren sie ihn 208
anders, bekommt er ein neues Herz, untersuchen sie ihn in kürzeren Intervallen, ob der Krebs sich wieder bildet?» Betz zuckt mit den Schultern. «Da drüben in der Kredenz ist ein Schnaps», sagt Jonason. Betz steht auf, holt den Schnaps, holt ein Glas, schenkt ein. «Nicht für mich», sagt Jonason und hüstelt, «für Sie. Für mich reicht das Gift in Form von Tabletten.» Jetzt sieht Betz auf das Etikett, ein deutscher Weinbrand, Fusel. Er kippt das Glas hinunter. Es tut ihm gut. Das Telefon beginnt bei ihm wieder zu schellen. «Telefon», sagt Jonason, «nehmen Sie noch einen?» fragt er und zeigt mit krummem Zeigefinger auf den Schnaps. Betz gießt noch einmal ein. Trinkt. Das Telefon schrillt. «So ist’s recht», sagt Jonason. «Man freut sich am Zugucken, wenn man nicht mehr darf.» Der Weinbrand geht wie Feuer durch Betzens Speiseröhre. Er beißt die Zähne zusammen. Der Schweiß bricht ihm noch stärker aus. Das Telefon hört nicht auf zu schrillen. Betz verliert die Nerven, er murmelt eine Entschuldigung und läuft zur Tür hinaus, rennt die Treppe hinauf, er schließt auf und eilt in seine Wohnung, als er abhebt, hört er Frau Wilhelmys volle, wohlklingende Stimme. «Einen Augenblick, bitte, Herr Betz, ich verbinde mit Herrn Staatssekretär», sagt sie. «Andreas?» fragt Schummberger. Betz brummt bejahend. Schummbergers Stimme klingt kalt, und er spricht schnell: «Eine Journalistin taucht auf, die Fragen stellt. Von wem hat sie die Informationen?» 209
«Von mir nicht», sagt Betz wahrheitsgemäß, «aber sie hat mir auch Fragen gestellt. Sie wußte schon viel.» Schummberger schweigt, er denkt nach. «Irgendwer muß doch was gesagt haben?» «Die Verhandlung heute morgen, der ungewöhnlich frühe Termin, das blieb im Gericht nicht verborgen.» «Winter hat berichtet, daß ein Mann für kurze Zeit an der Verhandlung teilgenommen hat.» «Die Verhandlung ist öffentlich», sagt Betz. «Wer war der Mann?» «Küster, Kollege.» «Den kenne ich nicht», sagt Schummberger. «Er ist später aus dem Rheinland hier zugezogen», erklärt Betz. «Mann, oh Mann», seufzt Schummberger. Dann setzt er hinzu: «Kannst du für morgen früh wieder für sieben Uhr den Schöffengerichtssaal bekommen?» «Noch mehr Fälle?» fragt Betz. Der viele Alkohol macht ihn stumpf. Er erregt sich nicht. Schummberger berichtet von dem ungeklärten Fall aus dem anonymen Test. «Gerade werden etwa 30 Proben untersucht, hat Winter mitgeteilt. In zwei Stunden wissen wir mehr. Den Termin brauche ich nur prophylaktisch.» Betz schweigt. Dann fragt er schließlich, ob Gisa Wormser dabei sei. «Ich weiß nicht, ruf Winter an», sagt Schummberger. «Mit ihr wird genauso wenig sein wie mit Dir», sagt er. «Ja, ja», sagt Betz. Schummberger meint Resignation aus der Stimme zu hören. Deswegen sagt er, bevor er das Gespräch beendet, daß er Anlaß habe, sich bei Andreas Betz zu bedanken für dessen kooperative Haltung, für die Fähigkeit umzudenken, im richtigen Augenblick richtig zu entscheiden. Erst 210
nach einigen Augenblicken bemerkt er, daß das Gespräch unterbrochen ist und daß er ins Leere redet. Mit einem Achselzucken legt auch der Staatssekretär auf.
Freitag, vor dem Morgengrauen Fast die ganze Nacht hat sie wach gelegen. Diese Hitze. Die Befürchtungen: der Selbsttrost, der einmal funktioniert, beruhigt das andere Mal nicht. Die Gefühle, die gegen Argumente streiten. Die Selbstgespräche. Die Floskeln in diesen Selbstgesprächen: Es wird weitergehen. Es wird Medikamente geben. Es wird ein Impfstoff gefunden. Und dann gehen die Tore des Quarantänelagers auf. Man kommt lachend heraus. Ein schwarzer Traum, sonst nichts. Sei vernünftig. «Du hast nichts, Andy hat auch nichts. Und wenn du etwas hast, dann schafft’s die Medizin.» Und dann wieder dieselben Argumente von vorne. Dazwischen, mitten in der heißen Nacht, welche die alten Pissoirs in der Badeanstalt intensiv zum Stinken bringt, einer Nacht, die lastet und drückt wie ein Alptraum, entsteht das schrille Bedürfnis hinauszugehen, sich an eine Straßenecke zu stellen, jemanden mitzunehmen in den wirklichen oder vermeintlichen Tod, irgendeinen Mann, der daherläuft und den Fehler begeht, an ihr Interesse zu zeigen. Der so mutig ist, sie anzusprechen, und nicht den Schwanz einzieht und vorbeigeht. Irgendeiner. Egal wer. Vielleicht geht er zur Arbeit, vielleicht kommt er von der Arbeit, vielleicht kann er nicht schlafen. Nur geil muß er sein und so viel Mut haben, es zu sagen. Oder Andreas Betz. Sie hat die Macht, ihn mitzunehmen, ihn, dem sie ihr Schicksal anlasten kann. Wollte er 211
sie nicht küssen? Ein Kuß dürfte nach Lage der Dinge genügen. Ein bittersüßes Gefühl könnte das sein. Gisa war schon auf dem Sprung gewesen hinauszugehen, bereit, zu bestrafen. Gisa Wormser verhängt die Todesstrafe. Wie Andreas Betz und Bertold Vogel über sie die Todesstrafe verhängt haben. Bloß bewußt und vorsätzlich. Sie will diesem Mann, der genügend Mut zum Mitkommen besitzt, allerdings vorher sagen, daß er dann sterben muß. Ist es ein Fremder, wird er es ihr nicht glauben, denn sie sagt ihm nicht die ganze Wahrheit, nur eben, daß er sterben muß, wenn er sich mit ihr einläßt. Ist es Betz, wird er sich für sie oder mit ihr opfern, damit er seine Schuld auslöscht. Ihre Wut reiche aus, so zu handeln. Indessen, sie bleibt, geht ruhelos durch das knackende, beängstigende und stinkende Labyrinth der alten Flußbadeanstalt, bis sie schließlich in einem Winkel im schrägen Licht der Straßenlaternen einen Haufen Seegrasmatratzen findet, auf dem früher die wohlhabenderen Gäste gelegen haben mögen. Die Matratzen sind nicht verfault. Gisa zerrt sie auseinander. Wirft sich auf das Lager, verbirgt den Kopf in der Armbeuge. Was soll sie heulen, es hat keinen Zweck. Bilder, Worte, Argumente verschieben sich in ihrem Kopf. Sie merkt nicht, wie sie einschläft.
Freitag, früh am Morgen Der Schöffengerichtssaal. So früh ist er wahrscheinlich noch nie in Benutzung genommen worden. Gestern hat man die Bestuhlung an die alte Stelle gerückt, heute hat Betz wieder persönlich die Sitzgelegenheiten an den 212
Platz geschoben, den er ihnen zudenkt. Er steht vor dem Richterpult, wirkt heute etwas ausgeschlafener, tatsächlich hat er die Nacht ruhig verbracht, weil er Tropfen zu sich genommen hat. Er hält eine Visitenkarte in der Hand, auf der Carl M. Kupka steht. Drunter: Rechtsanwalt, es folgen Kanzlei- und Privatadresse, zwei Telefonnummern. Der junge Anwalt mit dem sympathischen Gesicht ist auch heute wieder der Vertreter der Patienten. Er hat ihm gerade die Visitenkarte überreicht, nicht ohne Stolz. «Wie kommen Sie zu diesen Fällen?» «Herr Winter ist ein Bekannter meines alten Herrn», sagt Kupka. «Aha. Erstaunlich viele Fälle von aggressiven Positiven?» «Ja, aggressiv und ansteckend.» «Kennen Sie Ihre Mandanten?» Betz fragt das mit erhobenen Augenbrauen. «Nein, nicht. Ich verstehe meinen Job so, daß ich die Einhaltung der formalen Rechte garantiere.» «So, so?» Dem Anwalt entgeht nicht die Ironie in der Stimme des Richters. Er sagt akzentuiert, daß er sich nicht anmaße, medizinische Fragen zu beurteilen. «Ist Aggression ein medizinisches Problem?» fragt Betz schnell. Das verwirrt den jungen Anwalt. Sein Lächeln erlischt. Dann sagt er: «In gewisser Weise schon.» «Mit wem haben Sie über die medizinische Seite gesprochen?» fragt Betz. «Mit Professor Kron. Er war so freundlich, mir seine Versuche zu zeigen.» «Mir gegenüber besaß er diese Freundlichkeit noch nicht», sagt Betz. 213
Nicht ganz ohne Erleichterung stellt Kupka fest, daß der bärtige Gesundheitsjustitiar Winter erscheint. «Morjen», sagt er, «ungeheuer schwül heute, schon früh am Morgen ist es schwül.» Er tupft sich mit einem Taschentuch die Schläfen. Kupka geht an seinen Platz und sagt: «Verdammt schwül.» Winter zieht sein Jackett aus und hängt es über einen Stuhl. «Darf ich?» fragt er pro forma. Betz holt seine Robe. Als er wieder erscheint, steht Kupka auf, Winter bleibt sitzen, sieht zerstreut hoch, schlägt sofort den Blick nieder und sortiert seine schmalen Aktenbündel. Dann tritt er vor an den Richtertisch, legt eines der Bündel in die Nähe von Betz. Obenauf befindet sich ein Zettel. Winter lächelt ein wenig entschuldigend. «Heute morgen geht es ziemlich durcheinander. In der Nacht waren meine Leute fleißig. Wir haben 48 Proben genommen, 36 sind ausgewertet. Sieben Fälle positiv, das sind 20 %.» Winter läßt diese abschreckende Quote unkommentiert. Er sieht den Richter an, der die Akten durchzählt. «Hier liegen acht Akten», sagt er. «Ja, ich sage ja, alles ist nicht ganz klar. Da sind noch zwei Fälle aus einer Probe von gestern nachmittag, über die uns die Virologie erst später unterrichtet hat. Wir haben sie hier mit in die Verhandlung genommen. Herr Kupka verzichtet ja auf Ladungs- und Einlassungsfristen.» Ein Blick aus dem Augenwinkel, der kontrolliert, daß der junge Anwalt zustimmend nickt. «Auf dem Zettel ist alles zusammengefaßt», sagt Winter, «übersichtlich. Und zwei Betroffene haben sich gewehrt, sich vertreten zu lassen. Es ist der dritte Fall von oben, ein gewisser Ruske, ein Lehrer. Und dann der letzte Fall, 214
den ich Ihnen hochgelegt habe, eine Frau, Marion Laup. Die beiden Personen werden nacheinander um 7.40 Uhr und 7.50 Uhr gebracht. Es hat sich nicht vermeiden lassen», setzt Winter hinzu. Betz zuckt mit den Achseln, er räumt sich selbst genügend Zeit ein, die Akten zu prüfen. Inzwischen kennt er die Aufbereitung der Fälle durch Winter. Formal ist daran nichts auszusetzen. Erstaunlich, daß er es in dieser frühen Stunde schon geschafft hat, Aktenzeichen zu beschaffen, ein EDV-gefertigter Standardschriftsatz repetiert in jedem einzelnen Fall die ihm hinlänglich bekannte Argumentation. Serumpositiv, promiskuitiv, aggressiv, mit einem Wort: gefährlich. Auf den Einzelfall wird nicht eingegangen, wozu auch. Jeder weiß, was gespielt wird. Ein Anlageblatt auf stark holzhaltigem, umweltfreundlichem Papier enthält ein schnell entworfenes Formular, das minuziös protokolliert, von wem die Probe stammt, wann sie entnommen wurde, mit welchem Ergebnis sie analysiert wurde, wer analysiert hat, Stempel, Datum, Unterschrift. Neu an dem Formular ist lediglich eine stereotyp aufgenommene Versicherung, daß die Probe gegen Verwechslung gesichert ist. Betz verläßt wortlos den Gerichtssaal, um nachzudenken. Er hat viel Zeit, bis die anderen beiden Fälle vorgeführt werden. Das Beratungszimmer ist dunkel, man kann kaum lesen. Trotzdem macht Betz kein Licht. Er weiß, daß nach Lage der Akten seine Entscheidung an Rechtsbeugung grenzt. Als Rechtfertigung dazu fällt ihm der alte Spruch ein, daß dort kein Richter ist, wo kein Kläger ist. Und wer soll ihm Vorwürfe machen? Kann er es, nach allem, was er weiß, verantworten, daß einer dieser Leute freigelassen wird? Solange nichts publik ist, kann man keinen über die Gefahr aufklären, die er für andere darstellt. Ein Kuß 215
auf die Wange beim ersten Wiedersehen kann genügen, um das Leben eines Verwandten oder Freundes zu zerstören. Ist der Beweis der großen Ansteckungsgefahr nicht dadurch erbracht, daß die Fälle nun massenhaft auftreten? Wieviele sind es wirklich? fragt er sich, und selbst wenn die Krankheit nicht zum Tode führen sollte, kann man ihr so ohne weiteres die Menschen aussetzen? Betz geht wegen dieser Frage noch einmal zurück in den Gerichtssaal, wo er die beiden Juristenkollegen plaudern sieht, jeder auf seinem Platz sitzend. Das Gespräch verstummt. Betz: «Wieviele haben denn freiwillig in die Absonderung eingewilligt?» Winter erhebt sich. Er sagt: «Von den sieben Fällen von heute nacht eigenartigerweise kein einziger. Die Leute sind aggressiv, gereizt. Ich schiebe das auf das Wetter. Von gestern nachmittag sind noch drei Freiwillige da.» «Waren es nicht vier?» fragt Krupka. «Drei oder vier», sagt Winter. Betz zieht sich zurück. Er schaukelt in einem der Ledersessel, legt die Füße auf den Tisch, direkt neben die Robe, die wie ein Leichentuch hingeworfen ist. In diesem Zimmer ist es noch vergleichsweise kühl. So kann man warten. Um 7.30 Uhr tritt Betz hinaus und verkündet seine Entscheidungen. Jedesmal Einweisung. Winter sortiert die Akten in der Reihenfolge des richterlichen Spruchs und macht einen Haken in ein Kästchen, neben dem erste Instanz steht. Der Anwalt verzichtet auf Rechtsmittel. Betz verschwindet wieder. Er wartet genauso stumpf und emotionslos, bis die folgenden Minuten verronnen sind und es 7.40 Uhr ist. Mit einer Minute Verspätung 216
tritt er wieder auf das Podest. Er sieht, daß die Gesundheitsbehörde pünktlich ist. Eine korpulente Frau in einfacher Kleidung, das Gesicht durch einen breiten Mullmundschutz verdeckt, sitzt in der letzten Reihe, vorne, in der Mitte, der Lehrer, ebenfalls mit Mundschutz und Gummihandschuhen. Je ein Krankenpfleger steht seitlich an der Reihe. Betz beginnt mit der Verhandlung, spielt die Formalia durch. Er nimmt den Lehrer in Augenschein. Ein mittelgroßer Mann, dessen Gesicht er wegen der Maske nicht erkennen kann, nur die dunklen Augen, sie wirken verhangen unter buschigen Brauen. Schwarzbraune Haare, glatt nach hinten gekämmt, setzen früh über einer tiefen Stirn an. Der Kopf zittert vor Erregung. Betz erteilt ihm das Wort. Mit einem Seitenblick erkennt er, daß Winter unruhig wird. Kupka schaut freundlich-interessiert drein. «Ich bezweifle das Ergebnis der Analyse», sagt der Lehrer gefaßt. «Ich bin kein Bluter. Ich habe keinen homosexuellen Umgang. Ich habe auch keinen Umgang mit Frauen. Ich habe ein hormonelles Leiden, das mich außerstande setzt, den Geschlechtsverkehr durchzuführen. Ich habe auch in den letzten drei Jahren keine Spritze bekommen, geschweige denn eine Bluttransfusion. Alles ist ein Irrtum.» «Ja, alles ist ein Irrtum», sagt zu Betzens Erstaunen der Rechtsanwalt Kupka. «Herr Winter?» Betz gibt den Schwarzen Peter weiter. Winter wirft ihm einen prüfenden Seitenblick zu, dann referiert er erneut, was in diesem Saal schon referiert wurde. Er beschreibt den minuziösen Ablauf der Analyse, das Analyseverfahren und verweist auf das Protokollformblatt. «Was glauben Sie, was die Patienten oft alles 217
behaupten», setzt er hinzu. «Jeder glaubt, daß ihm nichts passiert. Und hinterher werden die abenteuerlichsten Behauptungen aufgestellt.» «Hören Sie», entrüstet sich der Lehrer und steht auf. «Bitte bleiben Sie sitzen», sagt Betz. Der Lehrer folgt wie ein Soldat in straffer Haltung. Er beteuert noch einmal seine Unschuld. Er benennt Zeugen, gibt den Namen seines Hausarztes zum Beweis der Tatsache, daß er keine Spritze oder ähnliches bekommen hat, zu Protokoll. Betz notiert und kommt sich so unendlich schäbig vor, weil er weiß, daß er diesem Mann keine faire Chance geben kann, mit seinen Argumenten durchzudringen. Statt eines Verfahrens ein Mummenschanz aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, das alles hat nichts mit dem Beruf zu tun, dem Betz bisher nachgegangen ist. Und genau in dieser Situation ereifert sich noch Kupka und verlangt, zumindest telefonisch den Hausarzt zu konsultieren, bevor eine Entscheidung fällt. Da fährt es auch Betz heraus, er schnauzt den Anwalt an: «Mein Gott, Herr Kollege, der Mann kann doch an jeder Ecke, an jedem beliebigen Krankenhaus eine Spritze bekommen haben, er muß sich noch nicht einmal daran erinnern. Was hilft uns denn ein solcher Beweisantrag?» «Nein», ruft der Lehrer. «Sie können das nicht einfach so runterbügeln», sagt Kupka gelassen. Betz zügelt sich. Zu allem Überfluß beginnt die dicke Frau zu weinen. Man hört ihr Schluchzen. «Auch über das Hormonleiden kann man den Hausarzt befragen», stößt Kupka nach. Betz schaut wütend hinüber zu Winter, fühlt sich von diesem alleine gelassen. Doch Winter schweigt. Er klopft mit seinem Bleistift einen Takt auf den Tisch. 218
Betz sagt sich, daß er da durch muß. Irgendwann wird es der Mann erfahren, daß Betz im Recht war. Er ist ein intelligenter Mensch, er muß so etwas begreifen, er wird das billigen müssen, wenn er eines Tages die Wahrheit hört. Betz verläßt den Gerichtssaal, er tritt wieder ein, der Anblick des freundlichen Gesichtes von Kupka zieht ihm den Magen zusammen. Trotzig verkündet er die Entscheidung: «Einweisung in die Absonderung.» Zu seiner Verblüffung erklärt Kupka plötzlich und noch bevor Betz routinemäßig die Frage stellt, daß auf Rechtsmittel verzichtet wird. Betz sagt zu dem Lehrer: «Eine mit Gründen versehene Entscheidung wird Ihnen zugestellt. Und Sie haben ja noch das Hauptverfahren.» Betz verschwindet, weil er nicht beschimpft werden möchte und nicht miterleben kann, wie sie diesen Mann wegbringen. Er sieht nicht, daß dieser ungläubig lacht, sich an den Kopf greift, während ihn der Pfleger mit weit ausgestrecktem Arm, die Fingerspitzen immer wieder auf die Schulterblätter tippend, vor sich her schiebt, Richtung Ausgang. Nun Frau Laup: Betz erscheint wenige Minuten später, die Frau weint, Tränen sind gefährlich. Er sieht an des Anwalts Gesicht, daß auch dieser die Gefahr kennt. Die Formalien. Dann spricht Frau Laub: «Ich weiß nicht, wie ich mich angesteckt haben soll. Bei mir gilt dasselbe, was der Mann vorhin von sich gesagt hat. Ich weiß nicht, ob das nicht alles ein schrecklicher Irrtum ist. Das muß ein schrecklicher Irrtum sein, nicht wahr?» Die Augen der Frau sind feucht und aufgerissen. Betz lehnt sich weit in seinen Stuhl zurück und schubst diesen noch einmal einen Schritt in Richtung Wand. Das scharrende Geräusch unterbricht die Frau. 219
«Bitte sprechen Sie weiter», sagt Betz hastig. «Ich habe drei Kinder, Hohes Gericht», sagt die Frau, «zwei Buben, die älteren zwei, und ein Mädchen. Wissen Sie, ich kann nicht so einfach von zu Hause weg. Wir haben keinen Papa, ich leb nämlich in Scheidung.» Ein Richter wie Betz muß täglich viel Elend mitansehen. Er ermahnt sich deshalb: business as usual. Die Frau schreit heraus: «Meine Buben müssen in die Schule, es ist fast acht, und niemand ist zu Hause! Ich wohne in einem riesen Hochhaus, dort kennt keiner keinen. Die Kinder haben nichts zum Frühstück, ich muß weg, man hat mich gestern abend abgeholt, die Kinder wissen nichts davon, sie sind alleine. Die Kinder sind alleine, verstehen Sie nicht?» Die Stimme ist schrill, die Frau ist aufgestanden, sie kommt einen Schritt auf den Richtertisch zu. Betz drückt sich mit den Fersen ab. Der Stuhl schrammt noch ein letztes Stück zurück an die Wand. «Bleiben Sie bitte sitzen, behalten Sie doch Platz», sagt er barsch. «Die Kinder sind alleine!» schreit die Frau. Aus dem Augenwinkel beobachtet Betz, wie der Anwalt sich erhebt, das Jackett schließt und mit sonorer Jungmännerstimme sagt, daß dies doch ein Härtefall sei und daß er das Gericht bitte, in diesem Fall zu prüfen, ob nicht doch, jedenfalls im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, von einer Einweisung abgesehen werden könne. Frau Laup sei auch bereit, Auflagen bezüglich des Umgangs mit ihrer Umwelt zu akzeptieren. Die Frau schweigt und nickt unter Tränen. Winter starrt den Juristenkollegen wütend an. Betz weiß nicht, ob dieser Mann verwirrt ist oder das Gericht nur auf den Arm nehmen will. Er bemüht sich um Gelassenheit, als er sagt, daß er das prüfen werde. 220
Schnell flieht er wieder hinaus in das Beratungszimmer. Er atmet durch, schlägt die Hände vors Gesicht, schüttelt den Kopf und sagt leise fünf- oder sechsmal hintereinander: «Scheiße, Scheiße, …» Wie ein solches Theater einen Mann quält, der in seinem Beruf bisher geglaubt hat, mehr Wert auf ein faires, transparentes und ordnungsgemäßes Verfahren zu legen als die meisten seiner Kollegen! Jetzt muß er sich hinsetzen und mitspielen, weil er mehr weiß als die armen Teufel, die er verurteilt. Es würgt ihn der Ekel vor sich selbst, als er hinausgeht und fast flüsternd verkündet, was aus seiner Sicht Recht ist, was aber nach Lage der Dinge von der betroffenen Frau als schreiendes Unrecht empfunden werden muß.
Freitag, Vormittag Von der ehemaligen Bademeisterkabine aus sieht Gisa den Tennislehrer warten. Er trägt ein dünnes weißes Hemd und kurze Hosen, die knapp über den Knien enden. Er ist braungebrannt. Sie kann erkennen, daß er eine schwere Uhr am Handgelenk hat. Gisa beobachtet den jungen Mann, wie er auf diese Uhr sieht, wie er ungeduldig zu sein scheint. Sie hat noch nicht entschieden, ob sie mit ihm nur sprechen oder ob sie ihn am hellichten Morgen zu ihrem Opfer machen soll. Sie betrachtet ihn wie ein Schulkind eine Mücke, die ohnmächtig an einer Fensterscheibe tanzt. Wenn über dem Fluß eine Brise weht, scheint das lange Haar des Tennislehrers zu fließen. Es ist nun schon 20 Minuten her, seit sie verabredet sind. Er schickt sich an zu gehen, da stürmt Gisa los, barfuß, sie klettert aus dem Fenster, hangelt über die 221
mächtige Anlegekette, sich an einem Tau haltend, zieht sich an den Quadern der schrägen Böschung hinauf. Dann ist sie oben an der Mole. Sie läuft dem Tennislehrer hinterher, aber nicht rufend, um nicht unnötiges Aufsehen zu verursachen. Endlich erreicht sie ihn. «Mein Gott, wie Sie aussehen», sagt er. Er hat jetzt eine Sonnenbrille über seine Augen geschoben. «Sie haben noch dasselbe Kleid an», bemerkt er. «Ja», sagt Gisa. «Warum, bei dieser Hitze?» fragt der Tennislehrer. «Mir sind Kleider egal», sagt Gisa. «Worüber sprechen wir?» fragt der Tennislehrer. Er blickt über den Fluß. «Nimm mich mit nach Hause zu dir», sagt Gisa, überwältigt von dem wütenden Gefühl, eine Existenz zerstören zu wollen. Der Tennislehrer bleibt stehen. Er sieht Gisa an. «Sie sehen gut aus, Sie können ganz andere Männer haben», sagt er zu Gisa. Gisa lacht. «Machen Sie es immer so? Daß Sie sich den Frauen ausreden?» «Ja», sagt der Mann. Gisa: «Das ist ein Fehler.» «Mit Ihnen ist irgendwas los», sagt der Tennislehrer, «da stimmt was nicht.» «Doch, doch», sagt Gisa, «bloß manchmal habe ich einen Rappel. Dann wirke ich etwas durchgedreht oder heruntergekommen oder so.» «Sie hauen vor irgend jemand ab?» stellt der Mann fest. «Irgendwas ist doch los!» «Nein», sagt Gisa. «Warum zu mir nach Hause?» fragt er. «Sucht man Sie wegen Knast oder so?» Gisa lacht. Das ist ja einmal ihr Metier gewesen, mit 222
Leuten umzugehen, die wegen Knast gesucht werden, wie sich der Mann ausdrückt. Sie will seinen Mut testen. «Okay», sagt sie, «man sucht mich wegen Knast.» «Warum?» «Das ist eine lange Geschichte», sagt Gisa, «ich erzähl sie dir zu Hause.» «Nein», sagt der Mann. «So will ich nicht reden.» Plötzlich zieht er den Geldbeutel, öffnet ihn, und ein Bündel kleiner Scheine ist zu sehen. Die Tennislehrer werden mit kleinen Scheinen bezahlt. «Brauchen Sie Geld?» fragt er, bevor er geht, und läßt raschelnd den Daumennagel über das kleine Päckchen Papier laufen.
Freitag, Vormittag Der Lokalteil der Zeitung ist aufgeschlagen. Der Aufmacher lautet: «Im Schnellverfahren hinter Gitter.» Dreispaltig aufgemacht. Betz hat den Artikel noch nicht gelesen. Er steht im Zimmer des Amtsgerichtsvorstandes und überfliegt die Zeilen, die von Frau Lange-Bergheim über seine Fälle verfaßt wurden. Äußerlich ist er wieder ruhig und gelassen, nur das Gesicht ist blaß, die Hände zittern ein wenig. Aber das kann von der Erregung kommen, plötzlich mit einer solchen Schlagzeile konfrontiert zu sein. Betz sagt: «Kein Wort ist wahr», er zählt an seinen Fingern ab: «Die Leute kommen nicht hinter Gitter, es war kein Schnellverfahren, sie waren anwaltlich vertreten. Es wurde sogar auf Rechtsmittel verzichtet.» Der Vorstand hat sich auch erhoben, er steht hinter seinem Schreibtisch und sieht Betz in die Augen: «Ja, ja, 223
Herr Kollege Betz, Sie sind ein freier Richter, keinen Weisungen unterworfen. Trotzdem, ich gebe zu bedenken, hier steht unser Amtsgericht in der Presse, nicht ein einzelner Richter.» Betz sagt kalt: «Wie ich entscheide, hat gute Gründe. Sie wissen, daß ich mich zu meiner Position erst habe durchringen müssen.» «Es gibt viele gute Gründe, die für Ihre erste Entscheidung sprechen, das habe ich Ihnen gesagt. Im Vertrauen: Die Kollegen sind schockiert.» Betz bleibt hart: «Das Landgericht weist ebenfalls ein.» «Ein Einzelfall, wohlerwogen sicherlich, aber kein Schnellverfahren. Man stößt sich weniger am Ergebnis Ihrer Rechtsprechung als», der Vorstand hebt die Stimme, «als an der Vorgehensweise. Heute morgen um sieben, hat mir der Hausmeister gesagt, haben Sie ebenfalls schon gesessen.» «Reguläre Verhandlung, auf Ladungs- und Einlassungsfristen wurde verzichtet, was soll ich den Gerichtsbetrieb mit diesen Sonderverfahren belasten?» Der Amtsgerichtsvorstand wiederholt halblaut das Wort ‹Sonderverfahren›. Da verliert Betz die Geduld. Er schreit: «Ja, meinen Sie denn, ich mache diese Verfahren zum Vergnügen? Gehen Sie hin, ändern Sie den Geschäftsverteilungsplan, ich übernehme Ihr Dezernat, Sie das meine.» «Ich bin Zivilist», sagt der Vorstand zurückhaltend. «Ich muß mich auch ins Bundesseuchengesetz einarbeiten, das hat nichts mit meiner Alltagsarbeit zu tun», schnauzt Betz. «Bitte, Herr Kollege!» Betz senkt die Stimme, sieht dem Vorstand in die Augen, er bedauert, daß er nicht näher auf ihn zutreten 224
kann, um ihn besser zu fixieren: «Welchen Standpunkt würden Sie einnehmen, wenn Sie persönlich, Ihre Familie betroffen wäre?» «Das steht nicht zur Debatte, meine Familie ist nicht betroffen», sagt der Vorstand. «Es geht nicht ums Persönliche, es geht ums Dienstliche.» Betz schweigt. Er hat die Hände in die Seite gestemmt, er wartet, bis der Vorstand ihn wieder ansieht. Betzens Gesicht verzieht sich in diesem Augenblick zu einem verächtlichen Lächeln, dann geht er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Erst auf dem Flur merkt er, daß er die Zeitung immer noch in der Hand hat. Er bleibt stehen, liest den Artikel nun intensiv. Erleichtert stellt er fest, daß die Verfasserin außer den bekannten Tatsachen nichts Konkretes mitzuteilen weiß, was auf die Möglichkeit einer starken Infektionsgefahr hinweist. Dies erfüllt ihn mit Genugtuung, als wäre die Geheimhaltung der ganzen Angelegenheit auch seine Sache.
Freitag, Mittag Andreas Betz macht erneut von seinem Recht Gebrauch, das Gericht zu verlassen, wenn er seine Arbeit getan hat. Nun kümmert er sich um das Private. Er sucht nach Gisa. In der Wohnung bleibt sein Klingeln unbeantwortet. Er vernimmt auch keine Schritte hinter der geschlossenen Tür. Nichts regt sich. In der Kanzlei hat er vorher schon angerufen. Niemand hat abgehoben. Betz weiß, daß der Lehrling freitags Berufsschule hat. Die Kanzlei ist verwaist. Nun ist er mit dem Auto unterwegs zum Anlegeplatz, um Gisa bei ihrem Vater zu suchen. Ein unglaublicher Verkehr herrscht an diesem Freitag. Fast überall stauen 225
sich die Fahrzeuge. Die heiße Luft ist erfüllt von bläulichen Abgaswolken. Die Sonne kämpft sich durch die Dunstschleier. Sie wirkt grell, weiß, unscharf. Betz hat die Scheiben offen, aber da er kaum vorwärtskommt, weht selten ein kühlender Fahrtwind. Das zähe Stop and Go, der Gestank, die Hitze, der Krach! Sein Kopf beginnt zu schmerzen, sein Blut hämmert in den Schläfen. Praktisch alle Autos, neben denen er steht oder die ihm entgegenkommen, zahlreich genug begegnen, haben die Fenster geschlossen. Das wundert Betz. Er schließt ebenfalls die Fenster, das mildert den Krach, aber die stickige Luft ist kaum zu atmen. Vor ihm fahren Fahrzeuge in die Kreuzung, blockieren den Querverkehr. Alles steht. Vereinzelte hupen. Doch niemand steigt aus. Betz lehnt sich zurück, versucht, sich zu entspannen. Er schaltet das Radio an. Belanglose Musik. Er quält sich weiter Richtung Hafengelände. Mehr als eine halbe Stunde ist er unterwegs, als die Zwölf-UhrNachrichten kommen. Der Sprecher: «Bonn. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll in drei deutschen Städten ein mutiertes Virus der bekannten Immunschwächekrankheit aufgetreten sein. Der Erreger soll, anders als die bisher bekannte Form, in hohem Maße ansteckend sein. Die Infektion mit der Krankheit soll nicht nur auf den bisher bekannten Wegen, über das Blut, erfolgen, sondern auch über die sogenannte Tröpfcheninfektion. Das Bundesgesundheitsministerium hat ebenso wie die Ministerien der Bundesländer bisher eine Stellungnahme verweigert. Die Nachrichtenagentur dpa will erfahren haben, daß eine gemeinsame Kommission zusammengetreten ist, die die verschiedenen Ansteckungs- und Verbreitungsfälle untersucht.» Dann folgt Routine, Politik, Streiterei. Wetter: Hochdruck. Betz schaltet ab. 226
Betz gerät in den nächsten Stau. Keines der Fahrzeuge hat noch offene Fenster.
Freitag, Mittag «Wer flieht schon, bloß weil im Radio kommt, daß irgendwo die Pest oder die Pocken oder was weiß ich ausgebrochen sind?» sagt Betz. «Drei Städte. Das kann überall sein. Überall und nirgends.» Wormser steht in Unterhemd und Arbeitshose auf dem hinteren Deck und streicht zwei Eisenstreben, die einen Teil der Brücke des Schiffs halten, mit Mennige, nachdem er den Rost sorgfältig abgebürstet hat. Er legt den Pinsel zur Seite, geht hinein in die Pantry, kommt wieder heraus und hält Betz den Lokalteil der Zeitung hin, weist auf den Artikel, den Betz gut kennt. «Und das hier? Das ist doch eure Sache? Das hängt doch mit Gisa zusammen?» Betz nickt. «Diese Fälle hängen doch auch mit dem zusammen, was sie im Radio bringen?» «Ja», sagt er. Jetzt kann man darüber reden. «Also kann sich das Kind an dieser Krankheit angesteckt haben?» fragt er in einem nüchternen Verhörston, der Betz gegen den Strich geht. «Das war mir nicht so klar. Hab’s mehr für Einbildung gehalten.» «Ich glaube nicht, daß sie sich infiziert hat», sagt Betz, obwohl er vom Gegenteil überzeugt ist. «Glauben heißt nicht wissen», knurrt Wormser. «Ich hab immer Sorgen mit dem Kind gehabt», sagt er nach einer Pause, in der er mit dem Pinsel in der Farbe rührt. «Seit ihre Mutter tot ist, ist das Mädchen das einzige, was ich habe.» 227
Was soll Betz darauf antworten? Er geht an die Reling, schaut flußseits ins Wasser, das sich ockergelb und schmutzig zu Tal wälzt. Es sondert seinen Gestank ab. Die Hitze. Das gegenüberliegende Ufer des Stromes liegt halb verhüllt vom Dunst. Die Luft steht. Auf der Autobahn, die man nicht erkennt, pfeifen die Pneus der Fahrzeuge, wummern Laster. Betz registriert, daß der Verkehr dort fließt. «Normaler Freitagsmittagverkehr», sagt er, «kein Grund zur Panik.» Der alte Wormser geht nicht darauf ein, was Betz sagt. Er legt den Pinsel wieder weg, wischt sich die Hände an der Hose ab, tritt auf den Richter zu und sagt: «Ich kenne Sie nicht näher, Herr Betz. Meine Tochter hat gut über Sie gesprochen. Sie hat ein scharfes, kritisches Urteil von ihrer Mutter geerbt. Ich erwarte, daß Sie sagen, was Sie wissen. Ich mach mir Sorgen.» «Ich weiß nicht, wo Gisa ist.» «Sie weichen aus.» Betz braust auf: «Hören Sie, Herr Wormser, ich habe in der letzten Verhandlung wieder ansteckende Fälle gehabt, und mir ist auch nichts passiert.» «Sicher?» Wormsers Miene verfinstert sich. «Sie wissen, man hat mich getestet.» «Kann man das jetzt schon feststellen?» «Ich glaube ja.» «Glauben heißt nichts wissen», sagt Wormser. Er tritt noch einen Schritt näher, Betz weicht aus. «Ich werde mich wieder testen lassen. Ich weiß nicht, weshalb Gisa sich so anstellt.» «Sie hat Angst, ich kenne sie», sagt Wormser und senkt den Kopf. Dann fragt er leise: «Wo kommt sie hin, wenn sie es hat?» 228
Betz: «In irgendeine Klinik, vielleicht ein altes Sanatorium.» «Ein Zauberberg also, wo viele auf den Tod hin leben? Ich suche das Kind.» Wormser beginnt zusammenzupacken. «Man findet sie nicht», sagt Betz.
Freitag, später Nachmittag Kron hat Schummberger unten in der Halle erwartet. Die Männer grüßen sich durch Erheben der Hand. Sie fahren nicht mit dem Aufzug. Sie nehmen die Treppe, dann gehen sie über den Flur zu Krons Dienstzimmer. Schummberger referiert die Maßnahmen, die von der Kommission beschlossen wurden, soweit diese für den Professor von Interesse sind. Im wesentlichen betrifft es die Erweiterung der Testkapazitäten. «An flächendeckende Tests ist augenblicklich noch nicht zu denken», sagt Kron. «Aber es wird politisch gefordert werden», erklärt Schummberger. «Selbst wenn Sie genügend Mittel zur Verfügung haben, es fehlen Geräte, Personal», sagt Kron. Schummberger bleibt stehen. «Machen Sie mich nicht wahnsinnig», sagt er, «das ist ein wichtiger politischer Programmpunkt.» «Reden Sie mit dem Gerätehersteller», sagt Kron. «Wir können uns nur darauf beschränken, unser Personal, dazu rechne ich jetzt auch einmal das Gerichtspersonal und die Leute bei der Abfertigung vor der Quarantäneklinik, regelmäßig – sagen wir, alle drei bis vier Tage – durchzuchecken, und vielleicht 200 Fälle zusätzlich, wenn wir Tag 229
und Nacht arbeiten, 250 Proben pro Tag. Das ist alles, was für unsere Stadt und unseren Kreis zur Verfügung steht!» «Knapp eine Million Einwohner leben hier!» ruft Schummberger, der schon wieder stehengeblieben ist. «Es sind immer die Details, die verdammten Details, an denen alles hängt», schimpft er. Sie stürmen in Krons Zimmer, schließen die Tür, Kron setzt sich, Schummberger geht auf und ab, die Hände in der Tasche, das Sakko offen, den Schlips ein wenig geöffnet. Kron betrachtet den Staatssekretär, er sagt in fast hämischem Ton: «Sehen Sie, jetzt sind Sie auch nicht zum Schlafen gekommen.» Schummberger reagiert nicht, er sagt: «Der Richter funktioniert, er hat alle Fälle eingewiesen.» Kron nickt. Schummberger referiert weiter: «Insgesamt haben wir drei, wenn wir das einmal so sagen wollen, Seuchenherde. Zwei davon mußten vor die Gerichte. Ein Richter hat auch Schwierigkeiten gemacht. Das Landgericht hat geholfen. Der dort bleibt übrigens auf seinem Standpunkt. Im anderen Fall haben wir es mit einer Richterin zu tun, die ist vernünftig.» Kron: «Das Gericht ist sowieso ein Nebenschauplatz. Ich habe das am Anfang überschätzt. Die Leute sind meistens einsichtig. Wir argumentieren so mit einer Art Halbwahrheit und sagen, wir müßten das Serum noch einmal überprüfen. Die absolute Mehrzahl entscheidet sich dann fürs freiwillige Bleiben. Die Post hat uns zusätzliche Telefonleitungen geschaltet, so daß die Leute zunächst mal mit Telefonieren beschäftigt sind, um ihre Angelegenheiten zu regeln.» Schummberger bleibt stehen. Er schaut den Professor an. «So viel administrative Schläue habe ich Ihnen, Respekt, Respekt, gar nicht zugetraut.» 230
Kron lächelt: «Ich weiß, wir Wissenschaftler gelten als weltfremd.» Das Telefon. Kron greift zerstreut nach dem Apparat, hört die Helferin von der Aufnahme: «Ein Herr Betz will Sie sprechen, Herr Professor.» Kron hält die Sprechmuschel zu und sieht Schummberger an, er sagt: «Betz.» Schummberger macht eine abwimmelnde Geste; Zeigefinger, die wie Scheibenwischer hin und her gehen. Kron sagt, er habe keine Zeit. Er hört noch, wie die Helferin sehr freundlich, aber bestimmt sagt: «Bedaure, Herr Betz, der Herr Professor hat Besuch.»
Freitag, später Nachmittag Andreas Betz steht vor dem Schalter. An der Glasscheibe hängt ein handgeschriebenes Plakat: «Keine anonymen Tests mehr. Freiwilliger Serumtest ab heute in der Medizinischen Klinik, Erdgeschoß, Zimmer 015.» Betz hat die Hände in der Tasche, starrt die Helferin an, die mit einem Mundschutz und in Gummihandschuhen arbeitet. Ohne daß Betz eine Frage gestellt hätte, antwortet sie: «Ich weiß nicht, wie lange der Besuch dauert.» «Schon gut», sagt Betz. Weil er immer noch stehenbleibt, fühlt sich die Helferin beobachtet. Sie sieht irritiert auf, blickt diesen Mann an, der finster wirkt mit den herabgezogenen Mundwinkeln und sie mit einem Blick fixiert, der nicht angenehm ist. Er hat ein schweißfleckiges T-Shirt an, enge Khakihosen und Sandalen, ohne Strümpfe. 231
«Ich bin der Richter», sagt Betz. «Aha», sagt das Mädchen desinteressiert. Dann fragt sie mit dienstlicher Stimme: «Haben Sie Ihr Testergebnis noch nicht?» Betz lächelt, doch das Lächeln fällt schnell in sich zusammen. «Doch, doch», sagt er, er klopft mit der rechten Hand auf seine Brust. «Negativ. Ich laß das jetzt alle zwei Tage machen, weil ich im Gericht mit Kranken zu tun habe.» «Das ist gut», sagt das Mädchen. Nun sortiert sie weiter die Karteikarten, zwingt sich dazu, nicht mehr zu dem Mann hinüberzusehen, der sie starr anblickt, als wolle er was von ihr. Doch Betz grübelt nur. Sie fragt sich, ob so ein Richter aussieht, ob der immer in schweißverflecktem T-Shirt, Khakihosen und Sandalen ohne Strümpfe herumläuft? Doch ihr ist das eigentlich egal. «Hallo», sagt der Mann. Sie sieht hoch, ihr bleibt nichts anderes übrig. Er deutet auf das Plakat. «Muß ich dahin das nächste Mal, wenn ich mich testen lasse?» fragt er. «Nein», erwidert das Mädchen geschäftsmäßig, «das ist nur für die Allgemeinheit. Das Hilfspersonal wird hier im Institut getestet.» «Aha», sagt Betz. Erst dann wendet er sich langsam zum Gehen. Er tritt durch die Pforte aus der klimatisierten Luft hinaus in die Hitze. Auf den weitläufigen Wiesen ist kein Mensch zu sehen. Verschiedene Marmorstatuen stehen still in eingefrorenen, artifiziellen Bewegungen. Im grauen Himmel sticht die Sonne. Betz geht hinüber zur Inneren. Dort fällt ihm sofort eine Menschenschlange auf, die mehr als hundert Meter lang ist. In Abständen von drei bis vier Metern stehen Männer, Frauen, Kinder, jeder 232
einzeln für sich. Sie rücken nur sehr langsam vor. In der Nähe des Eingangs wie auch seitlich an der Schlange sind Krankenschwestern und Pfleger postiert, erkenntlich an der Berufskleidung und dem Mundschutz. Als Betz unmittelbar auf den Eingang zugeht, vertritt ihm ein Mann in Weiß den Weg. Er bittet ihn, sich einzureihen. Der Mann ist sehr freundlich. Betz erwidert, daß er Richter sei und Fragen zu stellen habe. «In Übereinstimmung mit Professor Kron», sagt er. Er lügt. Der Pfleger ist irritiert. «Sie wollen nicht zum Test?» fragt er. «Da war ich gerade», sagt Betz. Er nestelt aus seiner Tasche ein zusammengefaltetes Stück Papier, auf dem er jetzt, wie die anderen, das Testergebnis mit Datum und Stempel bestätigt bekommen hat. Eine Art vorläufiger Ausweis. «Drüben im Virologischen Institut», setzt er hinzu. Das überzeugt den Pfleger. «Ausweise sind halt immer wichtig», sagt Betz aus einem Gefühl der Ironie heraus. Der freundliche Krankenpfleger antwortet nicht und gibt den Weg frei. Betz muß durch die Menschenschlange. Er will zum Haupteingang. Die Schlange der Wartenden führt nicht hier hin. Sie biegt vorher nach links ab. Die Vorgerückten stehen entlang der Fassade, später auf einer schrägen Rampe hinunter ins Untergeschoß. Betz taxiert die Reihe und wählt den größten erkennbaren Abstand zwischen zwei Personen, um hindurchzuschlüpfen. Es werden alles Hypochonder sein, sagt er sich, Menschen, die sich ohne äußere Anzeichen nach den ersten Radiomeldungen Leiden einbilden und freigesprochen werden wollen. Er bleibt jedoch vorsichtig. Durch eine der breiten automatischen Pforten betritt er 233
die Innere Klinik. Auch hier gibt es einen Empfang, ähnlich dem im Erdgeschoß des Virologischen Instituts. Hier ist man mit Scheibe und Gegensprechanlage ausgerüstet. Ein Mann sitzt dahinter, der die Zeitung liest. Ihm gegenüber weist sich Betz sofort aus, er preßt den Zettel an die Scheibe. Er sagt, daß er Richter sei und Auskünfte benötige. «Angehörige betreffend?» fragt der Mann. «Nein, Hilfspersonal.» Betz hat sich der Diktion bemächtigt. «Auskünfte gibt’s über die Verwaltung», sagt der Mann. Doch Betz beharrt: «Es geht um eine Person, eine Rechtsanwältin, können Sie bitte für mich anrufen, ob hier bereits ein Test gemacht wurde?» «Tests für Hilfspersonal im Virologischen Institut», sagt der Mann und blättert eine Seite der Zeitung um. Betzens Geduld ist strapaziert. Er sagt mit Nachdruck, Professor Kron habe ihn hierher verwiesen, denn im Virologischen Institut liege eben nicht dieses Ergebnis vor, es müsse hier sein. Und der Pförtner könne doch wohl nicht annehmen, daß der Professor persönlich … «Das ist kein Krankenhaus, das ist ein Affenstall», sagt der Mann, dann fragt er: «Wie heißt die Person?» Betz nennt den Namen, der Name wird notiert. Die Gegensprechanlage wird abgeschaltet. Betz sieht den Pförtner wählen, fragen, auflegen, noch einmal wählen, wieder fragen, der Mann malt aus den Buchstaben, die Gisas Namen bilden, geometrische Figuren, zerteilt, fügt zusammen, etwas völlig Neues entsteht. Endlich drückt er auf den Knopf der Gegensprechanlage. Nicht ohne Triumph in der Stimme sagt er: «Fehlanzeige, mein Herr. Das muß doch drüben im Virologischen sein. Ich sag’s doch.» 234
Betz nickt. Er tritt zurück. Er wartet, bis der Mann sich wieder seiner Zeitung widmet. Dann geht er in einen der Flure in die Richtung, in der draußen die Schlange steht. Er ist in irgendeine Station gekommen. Der Flur ist menschenleer. Eine verglaste Loge für Schwestern und Ärzte steht offen. Niemand ist zu sehen. Am Ende des Gangs findet Betz eine Treppe, die er hinuntersteigt. Der Boden ist hier nicht mehr mit verschweißten Plastikbahnen belegt. Nur noch lackierter Beton. Die Wände sind nicht verputzt. Hier befinden sich offenbar die Betriebsräume. Immer noch ist kein Mensch zu sehen. Irgendwo wird man die Wartenden in die Prozedur nehmen. Blutprobe. Warten. Ergebnis. Betz will einen Blick darauf werfen. Er öffnet zwei Stahltüren, die in Stahlzargen schwingen. Ein Heizungsraum, ein Lagerraum, vollgestellt mit Bettgestellen. Die dritte Tür führt schließlich in einen Gang, der ebenfalls spärlich mit Neon beleuchtet ist. Betonboden. Betonwände. Hier hat es wenig Türen. Zwei sind verschlossen. Eine dritte geht nach links. Sie ist zu öffnen. Betz späht vorsichtig. Er blickt in einen weiteren Flur, genauso gestaltet wie der, in dem er steht. Eine Art Stichgang. Hier stehen die Menschen aufgereiht mit Sicherheitsabstand. Ein Mann mit Hut liest. Eine junge Frau sitzt im Schneidersitz auf dem Boden. Sie hat ihre langen Haare über das Gesicht hängen. Ein Greis mit Stock hat sich auch auf die Erde gesetzt. Als nächstes ein junger Mann, der an der Wand lehnt und ein ernstes Gesicht macht. Dahinter eine Frau, ein Kind, das mit einem Tennisball an die gegenüberliegende Wand kickt. Danach eine rostrot gestrichene Stahltür. Im Vordergrund links eine ebenso gestrichene Tür, auf der ein Plakat mit 235
derselben Handschrift hängt wie im Virologischen Institut: «Test, bitte einzeln eintreten.» Roter Filzstift. Betz geht weiter, prüft die Türen in dem Flur, in dem er sich befindet. Vielleicht kann er einen Blick in das Labor werfen. Alle Türen sind verschlossen. Vielleicht ist das Labor woanders im Hause, durch Rohrpost zu erreichen. Unter der Decke laufen zahlreiche Kabel und Schächte, vielleicht ist auch Rohrpost dabei. Betz bleibt stehen, er lauscht. Nichts ist zu hören außer dem leisen Summen der Klimaanlage. Keine Preßluft. Plötzlich hat er ein Gefühl von Platzangst. Was ist, wenn in dieser langen Menschenreihe doch Infizierte sind, nimmt nicht die Abluft die Keime mit und wirbelt sie zurück in das Gebäude, an anderer Stelle, beispielsweise hier in diesen Flur? Betz geht in die Knie, atmet tief durch. Alles ist so eng, so eng! Eine Tür bleibt ihm noch. Er rennt hin, versucht sie zu öffnen. Tatsächlich, offen. Dahinter Finsternis in einem Raum, den er nicht ermessen kann. Betz tastet links. Findet einen Schalter. Neonlicht züngelt auf. Überall in dem Raum befinden sich Koffer, Taschen, Aktenmappen. Sie sind teilweise übereinandergestapelt. Sie tragen weiße Etiketten, wahrscheinlich den Besitzer ausweisend. Betz löscht schnell das Licht, wirft die Tür zu und flieht.
Freitag, später Nachmittag Unterdessen, unweit davon, grübelt Kron in seinem Arbeitszimmer in der Virologie. Er ist nicht sehr aufmerksam, verfolgt nicht detailliert, was der Staatssekretär an Maßnahmen referiert. Schließlich sagt Kron dazwischen: «Wir hätten ihn empfangen sollen.» 236
«Wen?» fragt Schummberger. «Betz.» Schummberger: «Er ist von unserem Weg überzeugt.» «Irgendwann wird er wieder anfangen, nach Fakten zu fragen. Sie kennen die Auffassung von meinem Heidelberger Kollegen?» «Ja.» Schummberger spricht in schneidendem Ton: «Es gibt immer nur die eine Antwort darauf: Wir können nicht die Verantwortung dafür übernehmen, daß sich innerhalb von ein oder zwei Jahren die halbe Bevölkerung infiziert, um eine Verlaufsstudie anzufertigen, nur um am Ende festzustellen, daß die neue Virusform auch tödlich ist.» Kron schweigt. Schließlich sagt er niedergeschlagen: «Die Medien decken alles auf. Wie konnte das eigentlich geschehen?» Schummberger lacht ohne Heiterkeit. «Ich habe sogar, wenn ich ehrlich bin, noch viel früher damit gerechnet. Man kann so etwas nicht geheimhalten. Es wird mehrere Quellen geben. Aber das ist in meinen Augen nicht so schlimm, wenn etwas durchsickert. In unserem Sinn selbstverständlich.» «Fürchten Sie keine Panik?» Schummberger spricht aus einer lässigen Haltung heraus, aber vorsichtig abwägend: «Bitte verstehen Sie das nicht als zynisch, Herr Kron. Es kommt auf die Dosierung an.» «Sie werden also einiges bekannt geben.» «In der Tat.» «Sie spielen mit der Verführbarkeit der Öffentlichkeit?» Kron wirkt unwillig. Ganz plötzlich geht ihm die souveräne Attitüde des hochgewachsenen Mannes auf die Nerven, der fast im Plauderton seine Fragen beantwortet. 237
Schummberger sagt: «Ich weise auf einen fundierten Verdacht hin.» Kron weiß, daß das alles richtig ist, die Maßnahmen ihre Berechtigung haben. Er war es selbst, der auf die Gefahren aufmerksam gemacht hat. Trotzdem begreift er, daß er persönlich nun nichts mehr ausrichten kann. Er weiß, daß seine Vorstellungen bei der Abwehr dieser Gefahr nur eine Meinung sind, die nicht auf ihren sachlichen Inhalt, sondern auf ihre Stimmigkeit in ein taktisches, politisches Konzept geprüft werden. Schummberger spürt, wie Kron ihn anstarrt. Er zieht den Schlips wieder zurecht, er krempelt die Ärmel seines Hemdes herunter, schließt die Manschetten. «Was haben Sie?» fragt er. «Ich beginne zu begreifen», sagt Kron. «Die Menschen sind gewarnt. Wir werden es leichter haben, Problemfälle zu isolieren. Haben Sie nicht den Verkehr bemerkt? Viele werden nach Hause gefahren sein, viele verzichten darauf, ins Schwimmbad zu gehen bei dieser Hitze. Das alles hilft uns, hilft der Sache.» Kron ist unaufmerksam gewesen, er hat dem Staatssekretär nicht zugehört. «Der Verdacht kommt Ihnen gelegen, Herr Schummberger, ich meine das jetzt nicht persönlich, sondern als Politiker.» Schummberger sagt verächtlich zu Kron: «Sie haben eine Phantasie wie eine Sekretärin oder wie ein Leitartikler in einer Provinzzeitung.» Nun lächelt Schummberger. Er tritt auf den Professor zu, er hebt die Hände, ihm macht es nichts aus, daß Krons Kiefer aufeinanderbeißen, daß er sieht, wie die Muskeln unter der unrasierten Bakkenhaut spielen. «Was wollen Sie?» sagt Schummberger. «Sie haben doch mit der ganzen Geschichte angefangen. Sie waren es, der die Gefahr beschworen hat. Sie müssen 238
sich mit Ihren Kollegen auseinandersetzen, die auf liberal machen und sagen: Alles halb so wild.» Und nun schlägt Schummberger mit der Faust auf den Tisch und sagt etwas lauter als gewöhnlich: «Und Sie haben doch recht, Professor Kron.» Kron, mehr zu sich: «Das war meine Pflicht, meine wissenschaftliche Pflicht, ich kann meine Überzeugung nicht einfach verleugnen. Und ich habe …» Schummberger beugt sich vor, er versucht den Blick des Professors mit den Augen einzufangen. Deutet auf die eigene Brust. Beschwörend sagt er: «Ich, ich habe nun die Konsequenzen zu ziehen. Als Jurist, als Politiker. Sie haben romantische Vorstellungen, ich meine das nicht böse, wenn ich das so sage. Überlassen Sie die Politik den Leuten, die es gelernt haben.» Kron schüttelt unwillig den Kopf. Schummberger tritt zurück, er lehnt sich an die Wand, steckt die Hände wieder in die Taschen, legt den Kopf schräg. «Ich sage jetzt etwas ganz ungeschützt, etwas, was ich als Politiker niemals öffentlich äußern würde: Die Politik ist auch ein Metier, das man studieren, lernen muß. Nur leider gibt es an den Universitäten keinen Ausbildungsgang dafür. Denn das Drama ist, daß jeder glaubt, mitreden zu können, jede Hausfrau, jeder Stammtischpolitiker. Den Leuten fehlen die Informationen, aber sie reden. Den Leuten fehlt der Erfahrungsbackground, die geschichtliche Analyse, aber sie reden. Keiner käme auf die Idee, Ihnen reinzuquatschen, wenn Sie eine Versuchsanordnung aufstellen. Aber im Vergleich zu politischen Entscheidungen sind naturwissenschaftliche Versuche von einer faszinierenden Schlichtheit. Ein falscher politischer Schritt kann unübersehbare Konsequenzen auslösen. Ein falscher Versuch im Labor ist gescheitert, das ist alles.» 239
Kron, im allgemeinen eher konservativ, sieht den Staatssekretär trotzdem erschrocken an. «Das hat ja nichts mehr mit Demokratie zu tun», sagt er. Da lacht Schummberger. «Aber selbstverständlich! Die Leute müssen uns wählen, sie müssen uns am Ergebnis beurteilen. Das ist schon recht. Wo kämen wir hin, wenn wir nicht am Erfolg oder Mißerfolg gemessen würden. Das ist wie in der Wirtschaft. Der Aufsichtsrat entscheidet auch nach Maßgabe des Geschäftsergebnisses, ob der Vorstand gefeuert wird oder ob er bleibt. Aber die Wege, die zum guten Geschäftsergebnis führen, über diese Wege, bitte sehr, über die entscheidet der Vorstand. Forschen Sie, Herr Kron!»
Freitag, gegen Abend Betz hat Schwierigkeiten, einen Parkplatz in der Nähe seiner Wohnung zu finden. Die Straßen sind leerer geworden, die Parkplätze voll. Scheinbar sind viele nach Hause gefahren, haben die Arbeit vor der Zeit abgebrochen. Betz hat das Autoradio angeschaltet, wohl aber gerade die Meldungen versäumt. Er findet schließlich einen Abstellplatz zwei Blocks weiter. Die Gehsteige sind leer. Keine Passanten, keine spielenden Kinder. Betz erreicht sein Haus. Jonason steht davor, ein wenig gebückt, er ist bekleidet mit einem offenen Hemd und weiten Hosen, die fast seine Schuhe überdecken. Seinen Hund führt er an einer zierlichen Leine. Unter dem Arm hält er eine Zeitung. Als er sieht, daß Betz kommt, nimmt er die Zeitung und winkt damit. Er sagt hüstelnd: «Tag, hier ist Ihre Zeitung, Herr Betz. Ich habe sie aus dem Briefkasten genommen. War gerade dabei, den 240
Hund rauszubringen, auch wenn’s mir schwerfällt. Aber die Überdosis wirkt. Ich schaffe es langsam wieder mit dem Gehen. Ich habe wieder Mut.» Jonason lächelt sein schiefes Lächeln. Doch die Augen sind glanzlos. Er spricht weiter: «Aber das Wichtigste steht nicht in der Zeitung, daß man zu Hause bleiben soll. Das kam nämlich im Radio.» «Ja», sagt Betz. «Man soll zu Hause bleiben. Eine Epidemie kann es geben. Man soll sich leicht anstecken können. Schulen zu. Was glauben Sie, was die Kinder eine Freude haben! Alle öffentlichen Gebäude geschlossen, auch Kneipen, bis auf weiteres.» «Das ist massiv», sagt Betz. «Ich bin auch erschrocken», sagt Jonason. «Die Regierung in Bonn gibt in einer halben Stunde eine Erklärung ab. Bis dahin gehen die Leute nicht auf die Straße, kann man doch verstehen.» «Und Sie?» fragt Betz. Der kleine alte Mann lächelt, zuckt die Schulter, dann sagt er: «Der Hund muß doch raus. Oder soll er mir in die Wohnung scheißen?»
Freitag, gegen Abend Betz liegt rücklings auf dem Diwan in seiner Wohnung. Er ist nackt. Auf seiner Haut stehen überall Perlen. Schauer überlaufen ihn. Gänsehaut. Er hat geduscht. Nun genießt er wohlig das Frösteln. Auf der Straße ist es still. Im Haus ist es still. Die Studenten rumoren nicht. Jonason singt nicht. Es ist längst mehr als eine halbe Stunde her, seit Betz mit dem Alten gesprochen hat. Die 241
Bonner Erklärung wird durch den Äther sein. Sie interessiert Betz nicht. Er hat ein Glas Rotwein getrunken, er spürt, wie das den Magen wärmt. Ein Kontrast zur kalten, schauernden Haut. Telefon. Betz läßt es zunächst läuten, dann fährt er plötzlich auf, weil er glaubt, Gisa rufe an. Er meldet sich atemlos. Es ist Küster. «Du hast alles die ganze Zeit gewußt. Gib es zu», sagt Küster. «Nein, nicht die ganze Zeit.» «Aber rechtzeitig», das kommt knapp, aggressiv. «Ja», sagt Betz. «Und jetzt: Seuchengefahr, Zivilschutz, Maßnahmen, die das Leben umkrempeln.» «Sagt das die Bundesregierung?» fragt Betz. «Ja, hör mal, hörst du denn noch nicht einmal Radio? Schalt doch den Fernseher an», schreit Küster. «Wir haben die ganze Zeit hoch Infektiöse im Gericht, und der Kollege Betz behandelt das mit vornehmer Diskretion. Andreas Betz macht sich zum Handlanger dieser Seuchenpolitiker.» «Es waren Einzelfälle», sagt Betz, der durch diesen Angriff völlig verwirrt wird. «Einzelfälle, verstehst du?» Da lacht der Richter Küster dröhnend. «Als ob man sich nicht an einem Einzelfall anstecken kann», ruft er, nach Fassung ringend, «als hätte die Öffentlichkeit nicht einen Anspruch, wohlgemerkt, einen Anspruch darauf, sofort und ohne Schnickschnack informiert zu werden. Jetzt, wo es ein paar hundert Fälle sind, ist vielleicht alles zu spät.» Nun ist auch Betzens Geduld zu Ende. «Ja, mein Gott, ist das denn ein absurdes Theater hier?» schreit er. «Ge242
stern noch schneidet ihr mich, weil ich die Fälle, die aufgetaucht sind, sang- und klanglos einweise, und heute redest du diesen Scheiß. Überleg doch mal bitte, was du sagst!» Es knackt in der Leitung. «Was hätte ich denn anderes machen können, als die Leute einweisen?» brüllt Betz, bis er merkt, daß er ins Leere schreit. Zitternd vor Zorn, wieder schwitzend, steht er splitternackt in seinem Wohnzimmer. Sein Blick fällt auf das Klavier. Er geht hin und wirft den Deckel über den Tasten zu, daß die Saiten brummen. Dann geht er zu seinem Plattenspieler, ein älteres Modell, gleichwohl in der Lage, mindestens dieselbe Lautstärke zu produzieren wie das Jonasonsche Gerät. Er legt das Klavierkonzert Nummer 1 von Tschaikowsky auf, läßt den Pianisten Alexis Weissenberg in die Tasten hauen, daß die Boxen dröhnen. Betz nimmt sich die Weinflasche, führt sie zum Mund, trinkt in langen Schlucken, daß die rote Flüssigkeit ihm über Kinn und Brust läuft, gierig, wie ein Ertrinkender nach Luft ringt. Als die Flasche leer ist, würgt er eine kurze Zeit, dann übergibt er sich mitten in das Zimmer. Er läßt sich auf den Diwan fallen, krümmt sich zusammen und beginnt zu weinen.
Freitag, Abend Das Telefon reißt Betz aus einem dumpfen Schlaf. Es ist dunkel im Zimmer. Diese Stille! Dazwischen kreischt das Telefon. Betz steht auf, schwankt, der Gestank von Erbrochenem schwelt im Raum. Mit einem Schlag ist alles wieder da, was Betz wissen muß. Er tastet sich zum Marmortisch und zum Telefon. «Gisa?» 243
«Winter.» Eine ruhige, eine gefaßte und freundliche Stimme. Betz spricht nicht, er ist auch nicht in der Lage, den Hörer aufzuwerfen wie vorhin Küster. Er hört Winter sagen: «Gut, daß ich Sie erreiche, Herr Betz. Wir machen jetzt tabula rasa. Sie werden es ja schon gesehen oder gehört haben. Wir haben angegeben, es seien etwas über zweihundert Fälle. In Wirklichkeit haben wir mehr. Aber ich glaube, wir haben alles eingekreist. Meine Leute, auch Schummberger, alle sind optimistisch, daß wir es packen. Und jetzt müssen wir natürlich auch gerichtlich durch. Wo alles so hochgespielt ist, gibt es mehr und mehr Verweigerer. Kurz: Ich brauche einen Termin morgen. Morgen, Samstag.» «Ich kann nicht, ich bin krank», sagt Betz. «Herr Betz, Sie sind unsere letzte Hoffnung. Lassen Sie uns doch diese Sache in rechtsstaatlichen Bahnen abwikkeln.» «Was hilft dem Rechtsstaat ein kranker Richter?» fragt Betz. «Ich habe mir schon gedacht, daß Sie sehr belastet sind», sagt Winter. Man hört seiner Stimme nun Resignation und Müdigkeit an. «Ich bin auch ziemlich fertig, das können Sie glauben», sagt er. «Ich habe ja nicht nur die Prozeßvertretung, das wäre schön. Ich muß ja zusätzlich in der Einsatzleitung arbeiten.» «Das lenkt ab», sagt Betz. Es klingt zynisch. Winter geht darauf nicht ein. Er sagt, er habe mit dem Vorstand gesprochen. Doch der Geschäftsverteilungsplan lasse sich jetzt nicht kurzfristig ändern. Als Vertretung käme Doktor Küster in Frage. Doch Doktor Küster sei krank. «Ja», sagt Betz. «Den Eindruck habe ich auch.» «Was?» «Nichts.» 244
«Herr Betz, nehmen Sie etwas ein, kommen Sie.» Betz schweigt so lange, bis Winter fragt, ob er noch dran sei. «Ja, ja, ich nehme was.» Winter: «Wenn Sie ein Rezept brauchen, wir regeln das.» «Nein, nein», sagt Betz. «Ein Schmerzmittel habe ich selbst zu Hause. Was gegen Fieber auch. Aber Sie können mir mit etwas anderem helfen, Herr Winter.» «Gerne.» «Zwei Punkte: Erstens, haben Sie Frau Wormser gefunden?» «Nein. Sie gehört zu den Personen, die wir am meisten suchen. Wir müssen davon ausgehen, daß sie angesteckt ist, und wir wissen nicht, wo sie sich aufhält, mit wem sie Kontakt hat. In der Stadt gibt es nur vier oder fünf ähnliche Fälle. Unser größtes Restrisiko.» «Ich denke, Sie haben die Sache in der Hand?» «Ja, wenn wir diese vier oder fünf Fälle haben, sind wir durch.» «Gut», sagt Betz, «nun der zweite Punkt: Wo kommen die Leute hin, die ich verurteile?» «Ich weiß nicht», sagt Winter, und das klingt ehrlich. «Das ist nicht mein Zuständigkeitsbereich. Ich bin wie gesagt für das Gericht und für die Suche nach Patienten zuständig. Die Versorgung und die Verbringung in die Quarantäne macht jemand anders. Ich gebe Ihnen aber eine Nummer. Rufen Sie dort an.» Winter gibt Betz die Nummer, dieser notiert. Sie verabreden sich auf 9.00 Uhr, Samstag morgen. Betz nimmt den Apparat, der über eine lange Schnur verfügt, mit zum offenen Fenster. Dort kann er im Licht der Straßenlaterne, das durch die Blätter des Baumes 245
scheint, die Ziffern auf der Wählscheibe erkennen. Gerade als er das erste Mal wählt, beginnen die Grillen zu schreien. Ihr Lied wirkt laut und penetrant in der Stille. Die Wählscheibe ratscht. Freizeichen. Als Betz meint, daß jemand abhebt und schon sprechen will, erkennt er an der blechernen Stimme den automatischen Anrufbeantworter: «Hier ist der automatische Anrufbeantworter des Gesundheitsamtes, Abteilung Seuchenbekämpfung. Dieser Anschluß ist vorübergehend wegen Überlastung nicht besetzt. Angehörige, die Nachrichten über infizierte Patienten erhalten wollen, werden so schnell wie möglich durch das Gesundheitsamt verständigt. Sie erhalten so bald wie möglich Gelegenheit, mit den Patienten zu telefonieren. Bitte fassen Sie sich in Geduld. Das Gesundheitsamt weist ausdrücklich darauf hin, daß die Infektion mit dem neuen Virus nicht zwingend zum Tod führen muß. Bitte haben sie Geduld.» Der Anrufbeantworter schaltet ab.
Freitag, Abend Freitag abend im Staatssekretärsbüro: Schummberger hat gerade den Hörer auf die Gabel geworfen. Er ist hell empört. Jelena Wilhelmy hört sich wieder einmal mit der Geduld der geübten Vorzimmerdame einen Zornesausbruch ihres Chefs an. «Der Meuler hat extra jemanden für die Öffentlichkeitsarbeit in der Kommission haben wollen, habe ich recht?» «Ja, Herr Staatssekretär», sagt Jelena. «Und was macht dieses Rindvieh?» «Der Staatssekretär?» erkundigt sich Jelena höflich. 246
«Nein, dieser Mensch für die Öffentlichkeitsarbeit, dieser, dieser, dieser …» Schummberger sucht den Namen, «es war der Pressesprecher des Gesundheitsministeriums …» «Herr von Raaben», sagt Jelena, die ein besonderes Geschick hat, sich Namen zu merken. «Und was macht dieser Raaben? Er sagt dem Korrespondenten vom SPIEGEL, ausgerechnet vom SPIEGEL, daß vorerst keine Informationen über die Personen, die wir absondern, herausgegeben und daß demzufolge auch die Angehörigen nicht informiert werden. Ist das denn zu fassen?» Schummberger geht schnell hin und her, er haut sich mehrfach vor Empörung vor die Stirn. «Ausgerechnet dem SPIEGEL, das Blatt kennt man doch! Der Winter vom Gesundheitsamt, der hat das cleverer gemacht. Der läßt den Leuten über Anrufbeantworter sagen, daß sie Geduld haben sollen, daß man sich bemühe. Verwaltung ist Dienstleistung. Einem Pressesprecher im Range eines Ministerialrats fällt so was nicht ein, was ein kleiner Oberregierungsrat ganz selbstverständlich inszeniert. Es ist Wahnsinn.» «Haben Sie dementiert?» fragt Jelena. «Natürlich», schreit Schummberger, «aber meinen Sie denn, daß mir die Journalisten glauben? Kein Wort glauben die. Wir wollten die Informationen dosiert rausgeben, nach zwei oder drei Tagen einen ersten Teil, bei Bedarf mehr, und jetzt muß ich, wenn ich nicht dementieren will, auch gleich mit allem herausrücken. Das ist ein Aufwand, sage ich Ihnen! Aber der Meuler braucht es ja nicht zu machen. Er spielt halt mal wieder den Mann, der das liberale Profil verkörpert.» Schummberger kommt auf seine Sekretärin zu, er deutet mit dem Finger auf sie. «Aber ich sage Ihnen», sagt er 247
mit leiser Stimme, «ich merke mir die Kantonisten. Und wenn die ganze Scheiße vorbei ist, dann werde ich dafür sorgen, daß dieser Raaben das Sarglager verwaltet oder sonst irgend etwas Segensreiches tut. Das kann er dann mit liberaler, aristokratischer Noblesse machen, von mir aus. Und wenn hier im Hause ein ordentlicher Mann gesucht wird, werde ich mich einsetzen dafür, daß wir den Winter nehmen.» Jelena notiert.
Freitag, später Abend Gisa ist aus dem Schatten hervorgetreten, sie braucht sich nicht zu verbergen. Niemand ist auf der Straße, jedenfalls sieht man keinen Menschen. Der Asphalt, die Häuserfronten scheinen zu glühen. Sogar hier ist Grillengezirpe zu hören. Die Insekten mögen in den Pflanzen sitzen, die aus Betonkübeln herauswachsen. Die Bestuhlung einiger Straßencafés ist nicht abgeräumt und nicht angekettet. Gisa registriert, daß Lichter brennen. Die Elektrizitätsversorgung läuft also. Die Atommeiler und die Wasserkraftwerke fahren automatisch. Weil sie nicht fürchtet, von irgend jemanden in der menschenleeren City gesehen zu werden, öffnet sie noch einen Knopf ihrer Bluse und fächelt sich mit den Aufschlägen Luft zu. Wo sich zwei verkehrsberuhigte Straßenzüge kreuzen, steht ein moderner Brunnen. In der Fontäne plätschert das Wasser frisch und klar. Es erscheint blau und appetitlich in der Unterwasserbeleuchtung. Gisa streift ihre Schuhe ab, hebt den Rock, steigt in das Becken. Sie watet zunächst einmal im Kreis herum, den gelüfteten Rock von unten beleuchtet wie ein Schirm. Dann kniet sie, 248
legt sich, die Luft anhaltend, schnell flach in das Becken. Untergetaucht genießt sie die Kälte, die Frische des Wassers, das sie umspült. Sie taucht auf, atmet diese verbrauchte, stickige, heiße Luft, taucht wieder unter. Schließlich steht sie im Rampenlicht des Brunnens wie nackt mit Kleidern, die auf ihrer Haut kleben. Instinktiv sichert sie sich nach den vier Seiten ab. Doch niemand ist zu sehen. Gisa steigt aus dem Brunnen, nimmt ihre Schuhe in die Hand und wandert weiter, eine immer dünner werdende Wasserspur auf dem Pflaster hinterlassend, die von der Hitze schnell verzehrt wird. Etwa hundert Meter weiter kommt sie an einem Fernsehgeschäft vorbei. Eine gigantische Wand voller Monitore befindet sich im dunklen Schaufenster. Sie laufen alle, zeigen ein synchrones Bild. Über Außenlautsprecher wird der Ton übertragen. Gisa bleibt stehen, denn sie erkennt auf den zahlreichen Bildschirmen das Gesicht des Staatssektretärs Schummberger, der ruhig und gelassen wirkt im tadellosen Hemd und mit einer sehr modischen Krawatte. Aus den Boxen tönt die Stimme des Nachrichtenmoderators, der ein Interview ankündigt. Ein Umschnitt. Schummbergers schlaksige Gestalt im Blitzlichtgewitter. Seine Stimme: «Ich bin nicht der Pressesprecher der Regierung.» Ein Fernsehjournalist hält ihm ein Mikrofon hin. Er sagt: «Aber Sie leiten den Krisenstab.» «Es ist kein Krisenstab, es ist eine Kommission. Von Krise kann keine Rede sein.» Der Fernsehjournalist: «Aber Sie dementieren nicht, daß eine interministerielle Sonderkommission wegen dieser Seuchengefahr eingesetzt ist?» Schummberger wirkt sehr souverän: «Es gibt keinen Grund, Tatsachen zu dementieren. Das Grundgesetz 249
und nicht nur das, auch unser Pflichtbewußtsein halten uns dazu an, die Bevölkerung zu warnen. Wir raten zu Vorsichtsmaßnahmen. Dies alles ist notwendig, um die Lage in den Griff zu bekommen. Keiner kann Interesse daran haben, daß Unschuldige sich mit einer tödlichen Krankheit anstecken.» «Aber es ist noch nicht sicher, daß der Krankheitsverlauf derselbe ist?» Schummberger spricht sehr ernst und zwirbelt seine Schnurrbartenden: «Um Schlimmeres zu vermeiden, müssen wir davon ausgehen.» Gisas Gesicht verrät keine Regung. Sie steht vor der ungeheuren Schaufensterscheibe des Fernsehgeschäfts, naß, die Schuhe in der Hand, einsam in der Hitze und sieht zu, wie die Bildschirme nun den Fernsehjournalisten in einer Halbtotalen zeigen. Er steht vor dem Ministerium, dessen Scheiben hell erleuchtet sind. Er sagt in das Mikrofon, das er in der Hand trägt: «Auch wenn sich offizielle Stellen noch nicht konkret äußern, daß Fälle mit hoher Ansteckungsgefahr aufgetreten sind, wird nicht mehr dementiert. Seit den aufsehenerregenden Fällen, darunter der Aburteilung praktisch einer ganzen Familie durch ein Amtsgericht, seit dem Auftreten des mutierten Virus auch an anderen Orten besteht kein Zweifel daran, daß die Verantwortlichen mit Hochdruck daran arbeiten, weitere Fälle, so sie vorhanden sind, zu isolieren. Mit Recht weisen die Behörden darauf hin, daß jeder einzelne im Augenblick die Verantwortung dafür trägt, sich selbst und seine Familie sowie die nähere Umgebung durch ein Höchstmaß an hygienischen Maßnahmen zu schützen. Wenn dadurch der Lebensrhythmus kurzzeitig verändert wird, ist das im Interesse des Ganzen, der Allgemeinheit hinzunehmen. 250
Die Maßnahmen der Regierung haben momentan nur Empfehlungscharakter, keinen Zwangscharakter. Zweifellos ein stimmiges, demokratisches Konzept. Man spielt nicht mit der Angst, verzichtet, wie Staatssekretär Schummberger ausdrücklich sagte, auf flächendeckende Massentests, um der Hysterie keinen Vorschub zu leisten. Besonnenheit ist das Gebot der Stunde, der Bürger ist in seiner Eigenverantwortlichkeit gefordert.» Gisa hat sprachlos zugehört, blickt sich um, sieht die menschenleere breite Fußgängerzone, die flackernden Neonlichter, die einladenden Geschäfte, deren verschlossene Türen. Sie geht fort, langsam, schlendernd, das Fernsehgeschäft unbeachtet zurücklassend. Erst als sie fast das Ende der Fußgängerzone erreicht hat, tritt sie vorsichtig in die grell erleuchtete Passage eines Bekleidungsgeschäftes, in der sie starr stehen bleibt, für den flüchtigen Beobachter nicht zu unterscheiden von den Modepuppen, die bereits mit Herbstbekleidung dekoriert sind. Denn sie hat Anlaß, sich zu verbergen. Sie hat einen Krankenwagen gesehen, der in die Straße einbiegt. Das Fahrzeug kommt im Schrittempo vorbei. Sein Blaulicht flackert, mischt sich in das Bunt der Neonreklamen. Der Krankenwagen verschwindet, Gisa geht weiter.
Freitag, später Abend Die Dunkelheit ist perfekt. Andreas Betz liegt im Wohnzimmer auf dem Diwan. Er schwitzt. Das Erbrochene hat er weggewischt. Trotzdem bleibt ein säuerlicher Geruch. Er versucht zu schlafen. Er ist müde. Er kann nicht schlafen. Plötzlich hört er laut rasselnd die Haustür ins Schloß schlagen. Betz stützt sich auf die Ellenbogen. Er 251
wartet, ob weitere Geräusche folgen. Außer dem Grillengeschrei ist aber nichts zu hören. Doch: ein Hüsteln. Betz stemmt sich vollends hoch, tritt ans Fenster, lehnt sich hinaus. Er sieht unten im Kreis der Straßenlaterne den kleinen Alten stehen. Und weil ihm danach zumute ist, mit jemandem zu reden, ruft er «Hallo, Herr Jonason, man soll doch nicht auf die Straße. Jetzt ist es offiziell.» Die kleine Gestalt dreht sich herum, legt den Kopf in den Nacken, späht hinauf, kann Betz im dunkeln Geviert des Fensters nicht erkennen. Hüsteln. Ein leises «Bitte» folgt. In Betz wird das Bedürfnis dringender zu reden, mit einem Menschen nicht nur über’s Telefon zu tun zu haben. «Einen Augenblick», ruft er. Dann holt er seine Hose, sein Hemd, schlüpft in die Sandalen, nimmt den Schlüssel mit und verläßt seine Wohnung in der Finsternis, ohne Licht gemacht zu haben. Vor dem Haus steht Jonason, er hat die Arme herabhängen und atmet schwer. Er wartet auf Betz. Auch hinter Andreas fällt das Haustor krachend zu. «Wo ist der Hund?» fragt Betz. «Ich habe ihn oben gelassen, er schafft die Hitze nicht», sagt Jonason. «Und Sie?» «Tabletten. Ein künstliches Leben. Aber immerhin Leben.» «Warum gehen Sie auf die Straße, wollen Sie was beweisen?» fragt Betz. «Oh Jesses, Jesses», sagt Jonason. «Man muß nicht vor allem Angst haben, was so beschworen wird, und nicht alles fürchten, was passieren kann. Mein Vater, der ist auch in den Bombennächten im Krieg draußen herum252
gelaufen. Feuer und Tod kamen vom Himmel, haben willkürlich damals viele weggeputzt. Und mein Vater ist oft spazierengegangen. Gestorben ist er anständig in einem Krankenhaus an seiner Prostata.» «Aber heute ist die Gefahr groß», sagt Betz. Er mustert den kleinen Mann, der wie zur Feier des Tages wieder die Schuhe mit dem Plateausohlen trägt, eine helle, fast weiße Hose, exakt gebügelt, ein weißes Hemd, ein Halstuch, dessen Farbe im matten Licht der Straßenlaterne nicht genau erkennbar ist. Jonason beginnt Schritt für Schritt zu gehen, so wie ein Rekonvaleszent ausprobiert, ob ihn die Beine tragen. «Die Gefahr war damals auch akut. Ich bin dafür, daß sie die Schulen schließen und auf die Menschen einwirken, damit nichts passiert. Und die Kinder werden in ihrer Arglosigkeit eine Freude haben, weil die Schule zu ist. Ich habe vorhin das Fernsehprogramm angeschaltet. Sehen Sie.» Jonason deutet an der Fassade des gegenüberliegenden Hauses hoch. Viele Fenster sind erleuchtet, überall huschen die bläulichen Schatten der Fernsehröhren synchron auf- und abblendend durch die Zimmer. «Man macht ein Sonderfernsehprogramm. Das ist richtig. Damit die Kinder nicht auf die Straße gehen. Wenn ich welche hätte, ich würde sie auch nicht rauslassen.» Jonason geht in kleinen Schritten bis mitten auf die Fahrbahn, dort bleibt er stehen, verschränkt die Hände hinter dem Rücken, schaut hin und her, schüttelt den Kopf. «Aber ich persönlich …», er läßt den Satz unausgesprochen. «Sie sind krank», sagt Betz, der ihm gefolgt ist. Man kann unbehelligt mitten auf dem Fahrdamm stehen. Jonason lacht. «Grad deswegen gehe ich hinaus. Mir, mir ist es doch egal, ob Ansteckung oder nicht. Bei mir haben sie eh die letzte Runde eingeläutet, wie ich mal 253
sagen will. Das haben Sie gesehen, was ich an Tabletten einnehmen muß, damit das Herz noch tuckert! Eine ganze Handvoll am Tag. Und trotzdem», er klatscht sich mit den Handflächen an die Oberschenkel, «das Wasser in den Beinen». Jonason geht wieder, schrittweise, nun aber durchaus zügig, mitten auf der Straße, die Häuser, die abgestellten Autos, die Einsamkeit betrachtend. Betz folgt. Er sagt: «Sie wissen es selbst, es gibt gute, es gibt schlechte Tage. Seien Sie lieber vorsichtig, es wird auch noch ein paar gute Tage für Sie geben.» Jonason geht auf Betzens Hinweis nicht ein. Er fragt: «Was in der Zeitung steht, das war in Ihrem Gericht? Gell, Sie haben mit den Sachen zu tun?» «Ja», sagt Betz, «nachdem alles heraus ist, ist kein Grund, weiter zu schweigen». «Sehen Sie, die Menschen haben sich erschreckt. Das ist auch richtig so. Man bekommt die Gefahr in den Griff. Aber ich, ich habe mich nicht erschreckt, vorhin, als alles im Radio kam und im Fernsehen. Interessant war es. Ich habe das neue Radio, das in dem schwarzen Monsterturm eingebaut ist, laufen lassen und dazu das Fernsehen. Dazu habe ich die Fernbedienung, nicht wahr?» Ein meckerndes Gelächter. «Ich wäre froh, der Arzt tät zu mir sagen ‹Ich geb Ihnen so lange, wie ein Virus seinen Opfern gibt›. Zwei oder drei Jahre oder so. Nein, ich muß mich über jeden Tag freuen. Und wenn es nach den Doktoren ging, wäre ich schon tot. Wenn’s noch gute Tage gibt, dann erleb ich die mit oder ohne Virus.» Betz sinniert, daß es sicherlich bald Sperrverordnungen geben wird, dann sei es verboten auszugehen. 254
«Sie sind ein Jurist», krächzt Jonason und räuspert sich. «Das spürt man. Sehen Sie doch, daß sowas für mich nicht gilt. Bei mir kann es aus sein, stündlich. Wer weiß, wie lange die Überdosis wirkt. Da hält man, so wie jetzt, mit den Augen jedes Bild fest, schmeckt es förmlich ab. Hören Sie, wie still es ist! Riechen Sie die Luft, spüren Sie das Lasten der Schwüle? Nur schade, daß alles so ausgestorben ist und wir alleine spazierengehen müssen.» Jonason bleibt stehen, zupft sein Halstuch zurecht und ermahnt sich selbst: «Ach was, Geschwätz von einem alten Mann.» Betz sagt: «Sie sind mutig, nicht wahr, Herr Jonason. Andere warten zitternd auf den Tod. Hier, sehen Sie, überall in den Häusern nistet die Angst. Die Angst ist schneller gewesen als das Virus.» «Mutig, ich? Nein, nein», sagt Jonason. «Man muß sich nur damit abfinden, daß Menschen leben wie Ameisen, genauso zahlreich wie nutzlos, und daß nichts gewonnen oder verloren ist, wenn einer davon fort muß.» Er hustet. Er geht weiter. «Kommen Sie», sagt Betz, «wir fahren lieber mit dem Auto.» «In die Stadt!» sagt Jonason.
Freitag, Nacht Schon auf der Fahrt haben die beiden Männer festgestellt, daß sie beileibe nicht die einzigen sind, die unterwegs sind. Gelegentlich kommt ein Fahrzeug entgegen oder eines überholt in rasender Fahrt. Ampeln arbeiten in gewohntem Rhythmus. Man fährt schneller, rast. Auch Betz rast. «Gut so», lobt Jonason, als Betz eine Ampel passiert, die gerade schon rot zeigt. Sie fahren mit 255
aufgeblendetem Licht. Ganz selten, vielleicht nur zweioder dreimal, huscht der Scheinwerfer über etwas, was eine menschliche Gestalt sein könnte, aber keinesfalls sein muß. «Haben Sie Kinder?» fragt Jonason plötzlich. «Nein.» «Ich auch nicht», sagt der Alte. «Früher einmal habe ich gedacht, daß man Kinder braucht, damit man irgendwie weiterlebt. Sonst verwehen die Spuren eines Menschen so schnell, schneller als Herbstlaub im Wind. Aber jetzt bin ich froh, daß ich niemanden hab, der mit dem allem hier kämpfen muß. Nur andererseits ärgert es mich um die Rentenversicherung. Was ich da eingezahlt hab! Und was hab ich rausbekommen? Die hätten ruhig noch Waisen- oder Witwengeld zahlen können. Und Sie, haben Sie Kinder wollen?» fragt Jonason. «Meine Frau hat keine gewollt», sagt Betz. Er legt sein kleines Auto in die Kurve. Die Reifen kreischen. «Und mir war es egal.» «Sie sind geschieden, nicht wahr?» «Genau», sagt Betz und zieht das Auto in eine andere Kurve. «Geschieden und glücklich darüber. Sie bekäme auch nichts von einer Rente.» Betz verlangsamt die Fahrt. Dort ist der Bahnhof. Dort drüben der Dom. Dazwischen die Innenstadt. Achtlos parkt Betz mit zwei Rädern auf dem Bürgersteig im Halteverbot. Es ist niemand zu sehen. Er hilft Jonason mit einem Griff unter die Achsel aus dem Wagen. Jonason steht breitbeinig auf dem Asphalt, atmet heftig, streicht sich über die Flaumhaare seines Kopfes und sagt: «Nun gehen wir einmal das Ganze inspizieren.» Auch jetzt schreitet er wieder mitten auf dem Fahrdamm. Ein, zwei Autos kommen vorbeigeschossen, wei256
chen ihm aus, hupen schrill. Ein Motorrad zieht mit röhrendem Triebwerk vorüber. Man kann seinen stählernen Singsang noch lange hören. Jonason bildet mit den Händen Fäuste, geht ein wenig in die Knie und sagt: «Ja, das ist was!» Sie streifen weiter, werfen einen Blick in die Fußgängerzone. Man kann bis hinunter zur modernen Fontäne sehen, die bläulich schimmert. Sie treten unter die Alleebäume. «In der Seitenstraße da vorne ist ein Bistro», sagt Betz. «Da gehe ich manchmal morgens hin. Vielleicht gibt es was.» «Ich darf nichts trinken, sonst falle ich zusammen. Aber Sie!» Sie gehen langsam. Der Alte bestimmt das Tempo. Betz, so müde er auch ist, sieht sich oft um, als suche er eine Spur von Gisa. Endlich erreichen sie das Bistro. Es ist erleuchtet. Sie stehen davor, sehen hinein. Es ist nicht aufgestuhlt, über dem Klavier brennt ein Licht. Betz rüttelt an der Tür. Verschlossen. Im Hintergrund bewegt sich der Vorhang, der zu einem kleinen Lagerraum geht. Das runde Gesicht der Studentin erscheint, mit der Betz neulich noch über die Ferien gesprochen hat, Erinnerungen huschen durch seinen Kopf. Er winkt, lacht, macht die Geste des Aufschließens. Das Mädchen winkt zurück und schüttelt mit traurigem Gesicht den Kopf. Betz macht die Geste des Trinkens. Wieder Kopfschütteln. Die Studentin kommt näher, bis sie unmittelbar hinter der Scheibe steht. Sie lächelt. Sie legt eine Hand auf das Glas, ganz in der Nähe von Betzens Gesicht. Nun versteht man ihre Stimme, wenngleich leise und undeutlich. 257
Wäre Verkehrsgetöse draußen, es wäre hoffnungslos gewesen. Doch die Straße ist still. Die Worte: «Geschlossen, ich darf nicht», sind halb zu vernehmen, halb von den Lippen abzulesen. Dann zeigt sie mit der Hand nach rechts. Man kann «Bahnhof» und «trinken» verstehen. Betz lächelt, er deutet auf die eigene Brust, auf Jonason, der sich straff und aufrecht neben ihm aufgebaut hat, aber mit seiner Hand an der Mauer festhalten muß, und dann auf die Scheibe, wo das Mädchen steht. Sie lächelt. «Der Verlobte?» ruft Betz. «Nein», ruft die Studentin zurück, «ich bleibe hier. Hier! Hier habe ich, was ich brauche.»
Freitag, Nacht Jonason und Betz haben den Bahnhof betreten. Die hohe eiserne Halle liegt in einem seltsamen Halbdunkel. Die Nachtbeleuchtung brennt. Die Gleise sind leer. Nur eine rote Lok steht an den Prellböcken. Die große Anzeigetafel ist noch in Betrieb. Ein grünes Blinklicht zeigt die Abfahrt eines Zuges nach Dortmund an. Eine Tonbandstimme mahnt zum Einsteigen und Zurücktreten. Inzwischen geht Jonason nur noch mit kurzen Schritten. Es fällt ihm schwer. Und Betz ist froh darüber, daß er so nahe geparkt hat. Doch Jonason wollte wissen, was man im Bahnhof zu sehen bekommt. Er war es, der sie vorangetrieben hat, und tatsächlich: Vorne in der Nähe des Aktualitätenkinos ist eine Wirtschaft geöffnet. Man hört Stimmen, Gelächter, normale Alltagsgeräusche. Aber keine Musik. Als die beiden Männer näher kommen, verstummen die Gespräche. 258
Ein bärtiger Wirt, hager, ein südländischer Typus, zapft stoisch Bier in Pilsgläser ab. Vier Gäste: eine Frau, mollig, untersetzt, kaum vierzig Jahre alt, Einkaufstüten aus Plastik an den Füßen. Neben ihr zwei junge Kerls. Dem einen fehlen zwei Schneidezähne, er hat einen prallen Bauch, der weiß unter einem blauen Unterhemd hervorlugt, und tätowierte Arme. Sein Kompagnon trägt eine Baseballmütze auf dem Kopf. Die Züge des Gesichts sind verwaschen, wie man es bei jungen Menschen sieht, die mit dem Alkohol nicht klarkommen. Und schließlich ein Mann mittleren Alters mit fein gewienerten Schuhen, weißem halbärmligem Hemd zu dunkelblauen Hosen und einem kräftigen, braunrötlichen Gesicht mit knolliger Nase und tiefen Poren. «Ich hab gedacht, die Sittenpolizei», sagt die Frau, als Betz und Jonason durch die offenen Glastüren eintreten. Man lacht laut. Jonason kräht mit. Betz grinst. «Pils?» fragt der Wirt. «Nein,» sagt Jonason. «Sprudel». «Aber das hier ist nicht ansteckend», sagt der Mann in mittleren Jahren. «Nichts ist ansteckend. Wir sind die einzigen, die sauber sind auf der Welt.» Er lacht. «Spürt ihr was?» fragt er. «Fühlt sich irgendeiner schlechter als zuvor?» Keine Reaktion. «Na also!» «Sonst wär alles aus», lallt der mit der Baseballmütze und schüttet den Rest eines Bieres in sich hinein. Die Lippen gurgeln Schaum hervor. Er seufzt. «Und Sie?» fragt der Wirt Andreas Betz. «Nichts, ich schau nur», sagt Betz. «Schauen kostet Geld», ruft die Frau. Sie zieht aus der Tasche eines zweiten Rockes eine Brille, die sie aufsetzt, und mustert Betz von Kopf bis Fuß. «Wo kommt ihr her?» 259
«Von zu Hause», sagt Jonason, «es war zu heiß, verstehen Sie, Gnädigste?» Der Mann im weißen Hemd wendet sich zum Wirt und sagt: «Und dann gehe ich hin und sage ihm: ‹Wenn Sie mich rausschmeißen wollen, na bitte. Ich finde auch noch woanders einen Job. Nicht wahr? Und mein Anwalt verklagt Sie, weil Sie sagen, ich bin ein Trinker›. Wer drei, vier Pils trinkt, ist kein Säufer. Nicht wahr? Das kriege ich auch bei Gericht durch. Und ich sag dir, der kneift den Schwanz ein! Du hättest sehen sollen, wie er die Arschbacken zusammengeklemmt hat, als die ersten Nachrichten von dieser Scheiße hier», der Mann macht eine weite, kreisende Bewegung, «über den Rundfunk gekommen sind. Der Kacker trinkt nur Sprudel», sagt er verächtlich. Ein kleiner Blick streift Jonason, der nur mit der Schulter zuckt und nippt. «Man riecht auch nach Alkohol, wenn es nur ein Schluck war, den man getrunken hat, nicht wahr?» fragt der Mann. «Ja», sagt Jonason. «Was willst du denn wissen?» schnauzt der Mann. «Ich weiß, wann ein Mann nach Alkohol riecht», sagt Jonason. «Wer trinkt, lebt.» «Eben», sagt der Mann. Auch die Frau schluckt ihr Bier, und der Junge mit der Baseballmütze bestellt ein neues. Sein Kumpan mit den tätowierten Armen greift dem schweren Weib, das neben ihm steht, flink an den Hintern und kneift es. Sie wackelt ein wenig mit den Hüften. Und sie sagt zu ihm: «Du traust dich doch nicht, oder?» Der Mann im weißen Hemd hat sein Bierglas ausgetrunken, er bestellt ein neues. Der Wirt reicht es ihm. «Und ich sag dir, nicht wahr», sagt er zu dem Wirt, «der kriegt nie recht. Ich verklag den. Ich bin hin zu dem und 260
sag’s ihm einfach ins Gesicht. Das können Sie nicht machen, hören Sie, das geht nicht, nicht wahr.» «Zahlen», sagt der Mann mit den tätowierten Unterarmen. «Zahlen», sagt die Frau. Der Wirt gibt Kleingeld heraus. Die beiden gehen. Plötzlich hört man Schritte draußen in der Halle. Eine Doppelstreife blauuniformierter Männer von der Bahnpolizei tritt in die Nähe des Eingangs. «Janko, schließ den Laden», ruft der eine Polizist. Der andere: «Gehen Sie nach Hause. Es ist zu Ihrem eigenen Wohl.» Jonason nimmt eine lederne Brieftasche heraus, klappt sie auf, wählt unter den darin liegenden Scheinen einen Zehner aus, den er zwischen Zeige- und Mittelfinger haltend auf den Tresen legt. Rausgeld nimmt er nicht. Man zerstreut sich. Jonason und Betz benutzen einen Seitenausgang. Beschwerliche Treppen führen auf die Straße hinunter. Unten, auf der linken Seite, befindet sich eine Reihe moderner Läden. Kurz bevor sie aus dem Portal treten, hören sie Glas splittern. Und noch einmal. Betz macht zwei schnelle Schritte, lugt um die Ecke. Er sieht, wie prasselnd eine große Schaufensterscheibe in sich zusammenstürzt. Ein gutsituiert aussehender Mann in hellem Sommeranzug hat einen Eisenfäustel in der Hand. Er schaut in die andere Richtung. Er sieht Betz nicht. Mit dem Hammer schlägt er Reste der Scherben nieder, damit er einsteigen kann. Er verschwindet. Augenblicke später ist er wieder da mit einem Arm voll Konserven und zwei Flaschen. Er rennt über die Straße, wirft seine Beute in ein Auto, das mit offenen Türen dasteht, kommt zurück, springt noch einmal in das Geschäft. Jetzt dauert es länger, er erscheint wieder 261
mit Plastiktüten in der Hand, die er flink verstaut, und er fährt schnell davon. Jonason ist ungerührt zu dem Geschäft gegangen, er tritt an das hell erleuchtete Fenster. «Der hat früh geschaltet», sagt er, «ein Mann mit Weitblick. Später würden sie ihn vielleicht erschießen wegen sowas, weil man im Gefängnis keinen Platz hat. Und bei dem hier», Betz zeigt auf das Geschäft, «zahlt die Versicherung». «Nein», widerspricht Betz, «bei Plünderungen nicht.» Jonason hustet, er verschluckt sich, hustet noch einmal, stützt sich an der Mauer ab, bevor er krächzend spricht. Er sagt: «Ich könnte hineingehen, mir etwas nehmen. Es ist ein Delikatessenladen. Doch ich vertrag nichts mehr außer Haferschleim, Wasser und Tee. Ich stehe nicht mehr unter dem Gesetz, und jetzt kann ich nichts mehr brauchen.» Atemnot unterbricht ihn erneut. «Aber, wenn Sie …» sagt er zu Betz. «Nein», sagt Betz, «ich könnte was zwischen die Zähne gebrauchen, aber so nicht». «Als käme es darauf an», sagt Jonason leise.
Samstag, vor dem Morgengrauen Die letzte Stunde der Nacht. Sie bringt einen kühlen Lufthauch. Telefon. Betz ist jedesmal genarrt worden. Doch auch jetzt jagt ihn die Hoffnung hoch, Gisa könnte wieder anrufen. Er tastet sich ins Wohnzimmer, hebt ab, nennt seinen Namen. Schon am Keuchen hört er, daß es Jonason sein muß. «Ich komm nicht durch», stammelt der Alte. 262
Betz wirft den Hörer auf die Gabel, er macht Licht, ihm ist es egal, ob jemand, der auch nicht schlafen kann im Haus gegenüber, ihn nackt durch die Wohnung laufen sieht. Er steigt in seine Hose und rennt barfuß hinunter zu Jonason, dessen Tür angelehnt ist. Er findet den Alten im dunklen Wohnzimmer sitzend. Neben sich die Kopfhörer, zischelnde Musik. Betz hebt den Mann hoch, trägt ihn ins Bett, legt ihn so wie neulich. Das Gesicht ist eingefallen, die Augen stehen weit offen und wirken starr. Betz macht überall Licht, der kleine Pudel knurrt. Andreas sucht das Telefon, findet es auf einer Konsole hinter dem schwarzen Hi-Fi-Turm im Wohnzimmer. Er hebt ab, wählt 110, besetzt. Er sucht im Telefonbuch die Nummern von Notarzt und Rotem Kreuz. Er wählt, besetzt. Er wählt wieder und wieder. Besetzt. «Es muß doch in dieser verdammten Stadt einen Notdienst geben», schreit Betz unbeherrscht. Doch dann fällt ihm ein, daß es auch die überlasteten Telefonleitungen sein können. Natürlich telefoniert jeder auf Teufel komm raus. Zehn Minuten, fünfzehn Minuten, die Versuche sind vergeblich. Darüber hat er fast den Alten vergessen. Nun schaut er nach ihm. Er trifft ihn in der selben starren Haltung an wie zuvor, schwer atmend, kaum fähig, den Arm zu heben. Betz muß mit dem Ohr ganz nahe an den Mund des Kranken, damit er etwas versteht von dem, was dieser sagen will. Er hört: «Es ist jetzt soweit. Daß es heute noch sein muß, habe ich nicht geglaubt. Eher morgen.» Es folgt eine lange Pause, in der Jonason Speichel sammelt, um weitersprechen zu können. Betz sagt, um die Stille zu durch263
brechen: «Was ist das für eine Welt hier? Sie ist geplatzt. Zum Hassen.» Jonason schüttelt leicht den Kopf. «Nein», sagt er und dann nach einer Pause, «besser hier als tot». Es scheint, als fasse er Mut. Das Gesicht scheint unablässig zu lächeln. «Ich schlaf jetzt, die Tabletten setzen mir zu. Es wird besser – nicht heute, nein, übermorgen … Angst … nicht fort», versteht Betz mühsam. Er versucht, noch einmal zu telefonieren. Besetzt. Er kommt zurück. Betz wartet, bis der Alte die Augen schließt, er starrt ihn an, registriert, daß sich die schmale Brust, wenngleich kaum merklich, hebt und senkt. Dann rennt er hinüber ins Wohnzimmer, versucht wieder durchzukommen, Hilfe zu rufen. Wieder besetzt. Aber Jonason hatte ihn erreicht. Außerdem ist es mitten in der Nacht. Betz probiert seinen eigenen Anschluß. Besetzt. Er läuft zurück ins Schlafzimmer, er schaut nach Jonason. Der alte Mann schläft nicht. Er ist tot.
Samstag, im Morgengrauen «Hier sind die Schlüssel», sagt Betz. Der Polizist sieht ihn an, prüft das graue Gesicht, in dem sich Tränensäcke gebildet haben. Er riecht den süßlichen Alkoholatem. Der Mann vor ihm trägt Hemd, Hose, sonst nichts. «Nein, den Schlüssel kann ich nicht gebrauchen.» «Ich auch nicht», sagt Betz. Er fügt hinzu: «Machen Sie doch das Blaulicht aus. Es blendet.» 264
Der Polizist geht darauf nicht ein. Ein Streifenwagen steht schräg vor Betzens Auto. Man hat ihn nicht angehalten. Er hat dem Streifenwagen zugewunken, der entgegenkam, mit den Lichtern geblinkt, gehupt. Routinemäßig hat die Besatzung den Peterwagen vor das andere Auto gestellt. «Der Mann ist tot, er liegt in seiner Wohnung, und dort ist noch sein Hund», sagt Betz und hält den Schlüssel vor sich am Bund hoch. Er klimpert damit. «Hier sind die Schlüssel. Man muß die Leiche abholen und das Tier. Bitte!» «Wir sind nicht zuständig», sagt der zweite Polizist. «Die Telefone sind überlastet. Sie müssen sich drum kümmern.» «An was ist der Mann gestorben, an der Krankheit?» fragt der erste Polizist. «Nein, an Herzversagen», sagt Betz. «Sind Sie Arzt?» Der eine Polizist belehrt seinen Kollegen: «Richter ist er doch, hat er gesagt.» «Ach so!» «Dann können Sie nicht feststellen, woran der Mann gestorben ist.» «Doch, das sieht man.» «Wir holen ihn nicht», sagt der andere Polizist. «Sie sollen das ja nur regeln», knurrt Betz. «Haben sie Alkohol getrunken?» fragt man Betz. «Ja», sagt Betz, dann fügt er mit Gelassenheit hinzu: «Es reicht nicht für Ihre 0,8 Promille. Zwei Cognac, als ich die Leiche gesehen habe, das ist alles.» Immer noch hat keiner nach dem Schlüssel gegriffen, den er vor sich hinhält. «Hep», sagt Betz und wirft dem Streifenwagenführer 265
die Schlüssel zu. Dem bleibt nichts anderes übrig, als aufzufangen. «Ist niemand im Haus?» Ein letzter hilfloser Versuch. «Nein, deswegen kriegen Sie die Schlüssel des Toten», sagt Betz. «Vergeßt nicht den Hund.»
Samstag, früher Morgen Wieder flackernde Blaulichter, wieder Polizei. Straßensperre. Betz ist auf dem Weg zum Gericht, flüchtig geduscht, in offenem Hemd, bei den Temperaturen gerade richtig. Vor seinem kleinen Wagen steht eine Limousine, die schnell abgefertigt wird. Eine Megafonstimme sagt: «Weiterfahren», redet ihn mit seinem Autokennzeichen an. Betz läßt die Scheibe oben, hält sein Gesundheitsamtspapier von innen dagegen. Doch kein Polizist kommt auf ihn zu. Die Megafonstimme sagt dröhnend: «Dies ist eine Fahrzeugkontrolle. Bitte lassen Sie die Scheiben oben, drücken Sie Ihre Papiere gut sichtbar an die Fahrzeugscheibe. Ein Beamter wird die Papiere kontrollieren.» Nun tritt ein Polizist vor. Uniform und Mundschutz. Kleine Augen, sommersprossige Haut. Er sieht verwirrt das Papier an, das Betz hochhält. Liest es. Dann geht er zurück, es dauert einen Augenblick, man berät offenbar. Dann die Megafonstimme: «Sie wissen, daß man an die Bevölkerung appelliert, vorerst die Häuser nicht zu verlassen und auch das Kfz nicht zu benutzen?» Betz kurbelt die Scheibe herunter. Er ruft, er müsse zum Gericht. Er sei der Richter, auf den man wartet. Das Megafon überträgt ungewollt ein Getuschel, aus 266
dem man die Worte «Richter», «Gericht» vernehmen kann. Jemand fragt: «Kennzeichen?» Ein Beamter kommt aus dem Einsatzwagen. Tritt einige Schritte vor, ruft Betzens Kennzeichen seinen Leuten zu. Betz wird nervös in seinem stickigen Wagen. Er schreit hinaus: «Was meint ihr, weshalb ich das mache?» «Wir sind auch im Dienst», scheppert die Megafonstimme. Tuschelnd: «Ist okay.» Der Megafonmann sagt: «Sie können weiterfahren.» Hinter Betz kommt ein Gemüselaster angeschaukelt.
Samstag, Morgen Betz sitzt an seinem Schreibtisch. Das Fenster des Zimmers ist offen. Draußen ist Feiertagsstille. Er arbeitet die Beschlüsse von gestern auf. Melanie hat sie ihm vorbereitet. Er unterschreibt, er stempelt sogar, damit die Entscheidungen nicht noch einmal zur Geschäftsstelle müssen. Er heftet sie auch eigenhändig in die Akten ab. Der normale Gerichtsbetrieb ruht. Womit soll er sonst seine Zeit totschlagen? Es klopft. Der Amtsgerichtsvorstand tritt ein. Er bleibt an der Tür stehen. «Guten Tag, Herr Kollege», sagt der Amtsvorstand, «ich wollte mal schauen …» Er lächelt verlegen, holt aus der Innentasche seines Freizeitjacketts ein solches graues Papier heraus, wie es auch Betz besitzt. «Sie haben auch so eins», sagt er, «negativ». «Selbstverständlich», sagt Betz. «Es macht Ihnen also nichts aus, wenn ich näher trete?» fragt der Vorstand. 267
«Nein», sagt Betz und stempelt, unterschreibt und heftet ab. Er hebt dabei kaum den Kopf. Der Vorstand trägt eine Mappe unter dem Arm, die er nun vor Betz auf den Tisch legt. «Hier, Herr Betz, dies ist das verkürzte Formular für die Verfahren.» Er ist immer noch sehr verlegen, er lacht gequetscht. «Ja, es stellt eine weitere Vereinfachung dar. Es ist amtlich. Sie können es durch den Kopierer laufen lassen.» Noch einmal das zerquetschte Lachen. Der Vorstand reibt die Hände, tritt zwei Schritte zurück Richtung Fenster, sieht hinaus in den gelbgrauen Tag. «Man hat den Eindruck, die Hitze beschleunige alles», sagt er. Dann dreht er sich herum, räuspert sich und sagt mit fester Stimme: «Vielen Dank, Herr Betz, für Ihren Einsatz. Ich glaube, daß ich Ihnen das schuldig bin, daß ich dies sage.» «Mir ist das so egal wie noch was», sagt Betz. «Einer muß es doch machen, oder?» Der Vorstand fährt sich mit der Hand durch die Haare, mit einer fahrigen Geste reibt er die Nase. Er spricht mit ernster Stimme: «Ja, Herr Betz, so haben wir uns unseren Beruf nicht vorgestellt. Und vor ein paar Tagen hätte ich noch zu jedem gesagt: so was lehne ich ab. Kategorisch. Tja», er unterbricht sich, nimmt noch einmal Anlauf, er sagt: «Herr Kollege Betz, ich habe Veranlassung, mich bei Ihnen zu entschuldigen. Ich bewundere Sie, wie Sie Ihre Linie durchgehalten haben, lange bevor alles publik wurde.» «Sie hätten sich nicht anders verhalten», sagt Betz. «Ich weiß nicht», antwortet der Vorstand. Betz ist mit seiner Arbeit fertig, er schiebt den Stuhl zurück, steht auf, häufelt die alten Formulare, überfliegt mit einem kurzen Blick die neuen, prüft, ob sie für die Praxis etwas taugen, er nickt. 268
«Die Formulare sind in Ordnung», sagt der Vorstand, «jedenfalls für den Zweck, den sie erfüllen müssen.» «Mal sehen», sagt Betz. Der Vorstand: «Für Ihre Sitzung nachher hat Ihnen die Geschäftstellenbeamtin die Akten in den Schöffengerichtssaal gelegt.» «Danke.» «Und drei von den Infizierten sind da, die persönlich gehört werden wollen.» Der Vorstand räuspert sich wieder. «Also nach meiner Rechtsauffassung», sagt er, «und ich bin sicher, daß es das Landgericht nicht anders sieht, brauchen diese bedauernswerten Leute nicht gehört zu werden, wenn das Gericht es nicht anordnet.» «Es ist immer derselbe Anwalt», knurrt Betz, «ich wundere mich, wie die das schaffen. Er behauptet, er sei Spezialist.» Betz lacht. «Ich möchte, ehrlich gesagt, diese Infizierten nicht im Haus haben, vielleicht überdenken Sie einmal meine Rechtsauffassung, Herr Kollege», sagt der Vorstand. «Bis dahin habe ich veranlaßt, daß die Betroffenen auf dem Gang warten. Ich selbst habe Klebestreifen von zu Hause mitgebracht und habe besondere Zonen auf dem Fußboden markiert. Die Putzfrau kommt später und desinfiziert. Wenn Sie da bitte strikt sind, was die Einhaltung der Sicherheit im Haus angeht», sagt der Vorstand. «Wir haben eine Fürsorgepflicht für unser eigenes Personal.» Seine Stimme klingt nun routinierter, ruhiger. Betz nickt. Er sagt, daß er zur Verhandlung gehen muß. Der Vorstand sagt: «Wir wollen morgen auch einen Termin anberaumen, vormittags.» «Morgen ist Sonntag», sagt Betz. «Trotzdem, ich wäre Ihnen sehr verbunden …»
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Samstag, gegen Mittag Betz verläßt das Gericht. Die von ihm Verurteilten sind abgeholt. Die Parkplätze im Halteverbot sind leer bis auf eine schwarze Mercedeslimousine mit dunkel getönten Scheiben. Als Betz an ihr vorbeigehen will, öffnen sich die Fahrertür und gleichzeitig eine Tür im Fond. Der Fahrer sagt Betz, daß der Staatssekretär ihn sprechen wolle. Betz hält an, blickt in den Fond des Wagens. Schummberger winkt ihm zu. Betz tritt näher. «Komm Andreas, auf ein Wort», sagt Schummberger. Betz beugt sich herunter, fragt «Was?» Schummberger: «Setz dich rein, wir haben Klimaanlage, da redet es sich besser.» Betz bleibt stur stehen. Schummberger interpretiert das als Scheu vor Ansteckung. Er nestelt das graue Formular heraus, hält es hoch, sagt nicht ohne Ironie: «Negativ, verbrieft, wie du.» «Das ist es nicht», sagt Betz. «Nur: ich muß weiter.» «Komm setz dich, einen Augenblick wenigstens.» Also setzt sich Betz in den Wagen. Der Staatssekretär macht eine kleine Handbewegung, der Fahrer setzt den Motor in Gang, und die Limousine rollt los. «Was gibt’s?» fragt Betz. «Hast du nichts Besseres zu tun, als mit einem Amtsrichter zu reden?» «Nein», sagt Schummberger, «Es gibt nichts Besseres zu tun, als dir zu danken. Siehst du, wir bekommen die Sache in den Griff. Die Kommission arbeitet. Ich bin jetzt auch der Koordinator auf Bundesebene. Ab morgen haben wir die Lebensmittelversorgung aufgebaut. Die Stromversorgung steht, die Wasserversorgung steht, die Medien funktionieren, Telefon und Telefax sind schwer 270
überlastet, aber immerhin.» Schummberger lehnt sich zurück, er legt die Hand auf die Lehne des Sitzes. So kann er Betz auf die Schulter klopfen. «Sitz nicht so steif», sagt er zu Betz. Betz winkt ab, er sieht hinaus. Im Auto ist es kühl und frisch. Draußen ziehen leere Straßen vorbei, die Ampeln sind auf gelbes Blinklicht geschaltet. Öde Spielplätze, Parks mit prächtigen Blumenrabatten in glühenden Farben. Vorgärten mit wuchernden Büschen. Leere. «Weißt du», sagt Schummberger, «es ist eine verdammt schwere Zeit. Keiner hat sich gewünscht, daß es so kommt. Nun müssen wir damit fertig werden. Und jetzt, in diesen Tagen erkennt man, auf wen man sich verlassen kann, wer arbeitet, wer sich einsetzt und wer nur gut ist für große Sprüche. Und ich wollte es dir als erstem sagen, weil du ein skeptischer Weggefährte warst: ich habe mit dem Staatssekretär im Justizministerium telefoniert. Auch der weiß, daß Männer wie du für unser Land wichtig sind.» Schummberger macht eine Pause, dann sagt er: «Dies ist keine Sache unter alten Freunden, dies ist eine Sache unter neuen Freunden: Du wirst Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht, wenn du willst.» «Was?» fragt Betz zerstreut, dessen Konzentration durch die bleierne Müdigkeit und die angenehme Temperatur im Auto, die Gleichförmigkeit der vorbeiziehenden leeren Straßen eingelullt war. «Vorsitzender am Oberlandesgericht», sagt Schummberger nicht ohne Stolz. «Bundesrichter konnte ich noch nicht durchsetzen. Dann hättest du auch nach Karlsruhe gemußt, und ich weiß nicht, ob dir das gefallen hätte. Also, du kannst dich bewerben auf die Stelle eines Vorsitzenden Richters am OLG. Das klappt.» Betz sagt kategorisch: «Nein!» 271
Schummberger lächelt. «Ich habe gewußt, daß du mir deswegen nicht um den Hals fällst. Überlege es dir. Du hast allen geholfen. Dir steht Dank zu. Du brauchst dich nicht zu schämen. Wenn wir so weitermachen, die harte Linie fahren, konsequent die Ansteckungsherde ausräumen, dann werden wir eines Tages die Sache in den Griff bekommen.» Betz schweigt. Schummberger: «Du weißt, daß außer dir kein anderer Richter an diesem Amtsgericht willens war, die Sachen zu übernehmen für den Fall, daß du ausgefallen wärst?» «Nein», sagt Betz. «Feiglinge», sagt Schummberger. «Diese Seuche ist unser Krieg, der Krieg, den unsere Generation gewinnen muß. Verstehst du? Es hat wenig Richter gegeben in den Städten, die so überlegt und zielsicher gehandelt haben wie du.» «Das ist das Resultat», sagt Betz und deutet nach draußen, «mit und ohne Kollaborateure.» Schummberger beugt sich vor, sieht Betz in die Augen: «Ein Höchstmaß an Hygiene ist Voraussetzung. Es gibt Anlaß zur Hoffnung!» Betz: «Jeder hat vor jedem Angst.» Die beiden Männer schweigen. Der Chauffeur fährt scheinbar planlos durch die Straßen der Stadt. Sie passieren unbehelligt zwei Straßensperren der Polizei. Endlich sagt Schummberger: «Du tust, als hätte Kron das neue Virus produziert, um die Welt zu zerstören. Nein, mein Lieber, wir reagieren auf eine tödliche Gefahr, die uns die Natur geschickt hat. Ein Dammbruch, ein Wirbelsturm, Überschwemmungen, Erdbeben, alles ist im Prinzip dasselbe. Bloß: dort jubelt man den Rettern zu, hier verurteilt man sie.» 272
«Der Unterschied besteht in der Angst, der diffusen Todesangst für jeden», sagt Betz. «Es gibt auch eine Pest der Angst – und ich bin ihr Handlanger geworden.» «Laß die Emotionen draußen, Andreas», sagt Schummberger. «Nein, Klaus, ich kann die Emotionen nicht mehr draußen lassen», antwortet Betz. «Du, ich fühle mich irgendwie für das da draußen verantwortlich.» Er zeigt auf die Straßen. «Und das macht mich fertig. Ich will nichts von dir, ich will nichts von der Gesellschaft. Und schon gar keine Beförderung dafür, daß ich ein schlechtes Gewissen hab. Halt an, laß mich raus.» «Wie du willst», sagt Schummberger, «aber merke dir, ich laß mich nicht ins Unrecht setzen, nicht in dieser Sache.» Zum Fahrer sagt er: «Halten Sie bitte an.» Die Limousine rollt aus. Doch als sie steht, öffnet Betz noch nicht die Tür. Er ergreift auch nicht die Hand, die ihm Schummberger hinstreckt. Er bleibt stur sitzen. Er sagt: «Unter uns Männern der ersten Stunde …» «Was?» «Sag mir, wo kommen diese Leute hin?» «In einen Absonderungsbereich», antwortet der Staatssekretär. «Wo ist das?» fragt Betz. «Hilft es dir bei der Arbeit, wenn du es weißt?» «Ich will wissen, wo ich die Leute hinschicke, verstehst du? Meine Nerven sind gereizt, ich bin überspannt. Ich habe manchmal völlig irrsinnige Vorstellungen. Und da solltet ihr, sozusagen als vertrauensbildende Maßnahme, mal sagen, was mit den Menschen genau geschieht. Früher hat man mit den Referendaren einen Ausflug in den Knast gemacht, damit sie wissen, wo die Verurteilten hinkommen.» 273
«Okay», sagt der Staatssekretär, «es ist eine aufgelassene Kurklinik. Sie war Reha-Center für Lungenkranke. Es ist das ehemalige Versorgungskrankenhaus der britischen Garnison.» «Draußen an der B 630?» fragt Betz. «Genau.» «Und was geschieht dort?» will Betz wissen. «Das Haus ist zuständig für unseren Regierungsbezirk. Insgesamt stellt unser Bundesland vier dieser Einrichtungen zur Verfügung. Die zu isolierenden Patienten kommen in Sondertransporten dorthin. Du kennst doch den Staatssekretär Meuler vom Gesundheitsministerium?» «Ja.» «Er hat auf einem Psychologen für die Kommission bestanden. Zuerst habe ich mich dagegen gewehrt, dann habe ich festgestellt, der Psychologe hat eine famose Idee gehabt: er hat geraten, daß die Patienten sich in Selbsthilfe organisieren. Das absorbiert sehr viel Energie, läßt sie die Trauer, das Heimweh, den Kampf mit dem Bewußtsein, krank zu sein, besser bewältigen, lenkt ab.» Jetzt lächelt Schummberger etwas ironisch und fügt hinzu: «Hygieneprobleme, wie wir sie hier bei uns kennen, haben die dort ja bekanntlich nicht.» «Hat nicht schon jemand zu fliehen versucht?» fragt Betz. Schummberger: «Komm, Andreas laß uns weiterfahren, ich bring dich nach Hause oder zu deinem Auto.» Betz nickt. Schummberger winkt dem Fahrer. «Zum Gericht», sagt Betz. Nach einer kurzen Pause fährt Betz fort: «Das interessiert mich. Ist schon einmal einer abgehauen?» «Nein», sagt Schummberger, «bis dato nicht. Aber es sind ja gerade erst ein paar Stunden her, seit wir die Klinik evakuiert haben und die ersten Fälle einliefern. Etwas 274
anderes ist kurios: wir müssen mehr nach außen sichern als nach innen.» «Journalisten?» fragt Betz. «Auch die werden kommen, ja», sagt Schummberger. «Aber ich mache rechtzeitig einen Pressetermin, damit sie fotografieren können und den Wind aus den Segeln bekommen. Jeder kann sich überzeugen, daß dies keine KZs sind, um einmal einem Vorurteil vorzubeugen. Nein, Verwandte, Freunde, in drei Fällen wurde schon ein Durchbruch versucht. Einer sogar vor der Evakuierung. Weißt du, es ist so, die Leute lungern in der Nähe der Kliniken herum. Sie verfolgen die Transporte. Und wenn sie Glück haben, erwischen sie einen, der sie hinaus zum alten Versorgungskrankenhaus führt. Deswegen machen wir jetzt auch Straßenkontrollen. Wir wollen kein Risiko eingehen mit solchen Phantasten. Eine förmliche Ausgangssperre haben wir ja noch nicht.» Betz lacht. Schummberger schaut ihn verwundert an. Betz sagt: «Wenn es nicht so zynisch wäre, müßtet ihr über das Eingangstor schreiben: Krankheit macht frei.» «Das ist widerlich», sagt Schummberger.
Samstag, früher Nachmittag Hunger. Betz steht vor dem Kühlschrank. Die Vorräte: Eine Packung Butter, noch unangebrochen; ein Glas angebrochene Cocktailkirschen; Wurstpapier, leer; zwei Tuben Senf; eine Tube Tomatenmark; ein Becher Naturjoghurt, halb offen, angeschimmelt. Das ist alles. Betz schaut in der Lade nach. Kein Brot. Noch nicht einmal eine trockene Rinde. 275
Ab Sonntag ist die Versorgungslage sichergestellt, hat Schummberger gesagt. Jetzt ist Samstag. Betz ist hungrig. Er hat noch Schnaps von Jonason, Rotwein von dem Alten und eine angebrochene Flasche Bier. Aber er will nicht saufen, er will essen. Betz geht hinaus, hinauf unters Dach, wo die Studenten wohnen. Er ruft. Er klopft, klingelt. Niemand öffnet. Niemand antwortet. Betz steigt hinunter zu Jonasons Wohnung. Ob sie den Leichnam abgeholt haben? fragt er sich. Vielleicht steht die Tür noch offen. Vielleicht kann er Konserven finden. Die Tür ist verschlossen.
Samstag, früher Nachmittag Es ist bequem, wenn man ein Laissez-passez hat. Betzens Autonummer ist überall gespeichert. Er sagt, daß er Richter ist. Dann passiert er ohne Schwierigkeiten die Straßenkontrollen. Er muß an einem Kontrollpunkt vorbei, um zu Küster zu kommen. Küster besitzt ein Reihenhaus. Ein Reiheneckhaus. Es liegt in einem neuen Viertel, jenseits der Stadt vom Hafen aus gesehen, dort, wo die bewaldeten Hügel ansteigen. Eine ruhige Vorortstraße. Ein Haus gleicht dem anderen. Die Besitzer haben durch unterschiedliche Vordächer an den Eingängen für Individualität gesorgt. Hier Schmiedeeisen, dort Plastik. In einem Vorgarten liegt ein Kinderfahrrad. Im Rinnstein nahe Küsters Haus liegt ein Ball. Betz läßt sein Auto mitten auf dem Fahrdamm stehen. Da scheinbar alle Bewohner zu Hause sind, gibt es keinen Parkplatz. Als Betz aus dem Wagen steigt, fegt eine Bö durch die 276
Straße. Er sieht hoch, erkennt im Westen eine schwarze Wolkenwand. Der Himmel davor ist blendend weiß. Die Sonne scheint nicht. Der Wind ist heiß. Betz geht auf Küsters Haus zu. Das kleine Gartentörchen ist abgeschlossen, an einem Steinsockel steht das Namensschild: «Dr. Küster», darunter Sprechanlage und Klingel. Betz klingelt. Betz sieht hinter der gelblichen Kathedralglasscheibe, die in die Tür des Hauses eingelassen ist, eine Gestalt. Die Sprechanlage knackt. «Bitte» fragt Küster. «Andreas Betz.» Es dauert einen Augenblick, bis Küster fragend sagt: «Ja?» Betz: «Du, ich muß mit dir reden.» Er sieht sich um, als würde irgend jemand auf die Idee kommen können, ihn belauschen zu wollen. Verlegen sagt er: «Außerdem habe ich Kohldampf. Nichts zum Essen zu Hause. Ich war im Gericht. Arbeiten. Und kein Laden ist auf.» Küster schweigt. «Hörst du? Verstehst du mich?» «Ja», sagt Küster. Dann scheint er Mut zu fassen, er sagt stockend: «Andreas, versteh mich nicht falsch, es ist nicht wegen mir. Es ist wegen meiner Kinder. Du gehst mit diesen armen, bemitleidenswerten … Menschen um. Ich bewundere dich. Ich habe auch schon versucht, dich zu erreichen … Es ist schwer, dir das zu sagen, aber es geht im Moment nicht, daß du reinkommst.» Betz holt das graue Papier mit Stempel und Unterschrift aus der Tasche seines Hemdes, er hält es hoch, winkt damit wie mit einem Taschentuch. Er ruft, so daß es Küster auch ohne Sprechanlage verstehen kann: «Hier, amtlich getestet.» Es entfährt ihm ein 277
wirres, zu lautes Lachen. «Bei uns herrscht Ordnung, hörst du? Ich muß dir das erklären.» Küster: «Ein anderes Mal.» Betz ruft: «Kohldampf habe ich. Ich kann doch nicht irgendwo einbrechen, mir was holen?» «Moment», sagt Küster. Betz ruft laut und eindringlich: «Ich habe vorher mit Schummberger gesprochen. Ab morgen ist die Versorgung mit Lebensmitteln sichergestellt. Ganz klar. Was Schummberger ankündigt, macht er wahr.» Die Sprechanlage knackt, Küster sagt, Betz solle ein paar Schritte zurücktreten. «Okay», sagt Betz und tritt zurück. Küsters Tür öffnet sich, er hat einen Plastikbeutel in der Hand, den er an das Gartentörchen hängt. Er winkt Betz zu, sein Lächeln zeigt ein schlechtes Gewissen. Er läuft schnell wieder zurück und wirft hinter sich die Tür zu. Betz gibt Küster die Zeit, die er braucht, um zu verschwinden. Dann holt er sich die Plastiktüte. Er sieht hinein. Ein gebratenes Schnitzel, drei Scheiben Brot, ein Plastikpack mit Fruchtsaft, wie ihn die Kinder gerne trinken. Andreas Betz stellt sich auf die Zehenspitzen und ruft ganz laut: «Danke». Essend geht er zu seinem Auto.
Samstag, Nachmittag Es ist die Stunde der Bundesligaspiele, die Stunde der Familienausflüge, die Stunde des späten Mittagschlafes, die Stunde der Spaziergänge. Andreas Betz sitzt in seinem Auto und verzehrt das Schnitzel aus der Hand, da278
zwischen beißt er vom Brot ab. Den Fruchtsaft hebt er sich für den Schluß auf. Das Radio läuft auf vollen Touren. Oldies but goodies. Musik, nach der Betz und seine Freundinnen und Freunde tanzen gelernt haben. Die Beatles, die Stones, Elvis, The Who, eine immerwährende Hitparade. Nachdem er fertig gegessen und den Fruchtsaft genossen hat, fährt er los, lenkt mit einer Hand, mit der anderen greift er auf dem Armaturenbrett Akkorde wie auf einem Klavier. Er hat das Fenster geöffnet. Der heiße Fahrtwind wirbelt brausend um ihn herum. Die Musik brüllt. Er fühlt sich frei, als er die Stadt und die Straßensperren hinter sich gelassen hat. Das Asphaltband der Straße, die er zügig entlang fährt, schlängelt sich durch staubiges mattes Grün. Die Farbe des Himmels ist dunkelgrau. In der Ferne zuckt Wetterleuchten. Als er das Versorgungskrankenhaus linkerhand von der Straße oben auf dem Hügel sieht, biegt er in den nächsten Feldweg ein, rumpelt einen halben Kilometer, eine beträchtliche Staubfahne aufwirbelnd, an einem Maisfeld entlang bis zu einem kleinen Wäldchen, wo er sein Fahrzeug unterstellt. Dann geht er zu Fuß weiter.
Samstag, später Nachmittag Nach einem Fußmarsch von fast einer halben Stunde ist Andreas Betz in den näheren Einzugsbereich der Klinik gelangt. Er geht vorsichtig vor, weil er von Schummberger weiß, daß man auch nach außen sichert. Bei der Bundeswehr hat er gelernt, sich im Gelände zu bewegen. Er verläßt deshalb den Feldweg und schlägt sich durch den Wald. Er muß durch einen tiefen Tobel, in dem 279
noch glitschiges nasses Laub vom letzten Regen liegt. Er rutscht ab, stürzt, seine Kleider werden schmutzig. Doch es passiert ihm nichts. Er steigt auf der anderen Seite hinauf und nähert sich gebückt, wie ein Knabe, der Indianer spielt, dem Waldrand. Auf einer Lichtung steht ein Polizeifahrzeug. Ein Mann in Zivil sitzt hinter dem Steuer. Betz umgeht den Posten im Wald. Er kommt langsam voran, weil er keine unnötigen Geräusche verursachen will. An einer Feuerschneise bemerkt er den zweiten Posten. Dieser sitzt halbwegs getarnt auf einem Hochsitz und späht mit einem Fernglas auf und ab. Betz wartet, bis der Mann in die andere Richtung schaut, dann huscht er geduckt über den mit Büschen bestandenen Streifen. Wieder im Wald. Das Gelände steigt nun stark an. Betzens Sandalen gewähren wenig Halt. Die Wolken scheinen immer stärker aufzuziehen. Es wird dunkler. Oben in den Kronen der Bäume zuckt das Licht des Wetterleuchtens. Raschelnd fallen große Tropfen durch die Blätter. Dann ist es wieder still. Kein Lufthauch. Es riecht nach Pilzen und Nadelgehölz. Bald erreicht Betz die Mauer, die das Versorgungskrankenhaus waldseitig umgibt. Er steigt auf eine Buche, damit er auf das Grundstück sehen kann. Der Himmel ist blauschwarz gefärbt. Unter den Bäuchen der Wolken ziehen weiße Nebelfetzen dahin. Immer noch kein Regen. Jetzt läuft eine Bö durch den Wald, schüttelt die Äste, raschelt energisch mit den Blättern. Betz hält sich fest. Von ihm bis hinüber zum Krankenhaus sind es vielleicht fünfzig, sechzig Meter. Dazwischen liegt ein Rasen mit buschigen Inseln. Unmittelbar hinter der Mauer und dann noch einmal zwischen den Büschen winden sich Dreierschlangen geschliffenen Stacheldrahts, der im 280
Wetterleuchten blitzt. Stahl, modernste Ausführung, kaum mit einer Zange zu durchschneiden. Betz weiß das aus Gerichtsverfahren um Demonstrationen an Kernkraftwerken. In der Klinik brennt in einigen Zimmern Licht. Sie liegen tief zurückgesetzt hinter großen überdachten Balkonen, auf denen in früheren Tagen Lungenkranke in Decken gehüllt im Schatten durch den Tag dämmerten. Jetzt sind die Balkons leer. Die Zimmer dahinter werden bald wieder bewohnt sein. Das gelbe Licht wirkt seltsam anheimelnd. Überall stehen Fenster und Türen auf. Betz hört zwischen dem Rauschen des Waldes eine Melodie, die herüberweht. Jemand singt ein kleines Lied. Im dritten Stock tritt eine Frau auf einen der Balkone, sie lehnt sich über das Geländer, sieht in den Park. Sie ruft etwas, was Betz nicht versteht, weil der Wind die Bäume schüttelt. Er folgt dem Blick der Frau. Auf einer Bank sitzen zwei Leute, eng nebeneinander, sie halten sich im Arm, trösten sich. Die Frau im dritten Stock geht wieder in das Zimmer und schließt die Tür. Läden schlagen. Im zweiten Stock auf der linken Seite sieht Betz die Silhouette eines Paares, das tanzt. Ob von dort die Melodie gekommen ist? Sie tanzen eng wie ein Liebespaar. Sie küssen sich. Sie bleiben die ganze Zeit umschlungen stehen. Sie erinnern ihn an jenes Paar nach seiner Geburtstagsfeier, das im Regen unter der Laterne knutschte. Wann war das? fragt sich Betz. Gebannt betrachtet er die zwei. Das Licht im Zimmer geht aus. Ein Blitz zuckt über den Himmel. Das Licht brennt wieder. Das Paar steht unbewegt, wie ein Holzschnitt, der an die Scheibe geklebt ist. Ein schmetternder Donner folgt. Wieder Blitz, wieder Donner. Und immer noch kein Regen. Das Paar tritt auseinander. Die Menschen auf der Bank 281
sind ins Haus gegangen. Die Frau erscheint wieder auf dem Balkon im dritten Stock und zankt ins Leere. Ein über den Himmel zitternder Blitz verjagt sie. Jetzt rennt ein Mann am inneren Stacheldrahtkranz entlang. Er hat die Jacke über den Kopf gezogen. Betz beobachtet atemlos, ob der Mann, das Gewitter ausnutzend, einen Fluchtversuch macht. Doch dann erkennt er, daß der andere einer vom Sturmwind davongetragenen Zeitung nachrennt, die er mit vorsichtigen Fingern aus den geschliffenen Stacheln des Drahtes entfernt, bevor er wieder zurückläuft, um die Ecke verschwindet und nicht mehr zu sehen ist. «Sie da oben!» der Strahl einer Taschenlampe erfaßt Betzens Gestalt. Erst jetzt merkt er, daß seine nackten Füße in den Sandalen fast eingeschlafen sind und sich taub und leblos anfühlen, eingeklemmt zwischen Astgabeln. Er blickt hinunter, wird geblendet vom Licht. «Polizei, bitte kommen Sie herunter», sagt eine Stimme. Betz steigt vom Baum, er säubert sich die Hosen und greift routinemäßig zu seinem Ausweis in der Brusttasche. Er hält ihn nach vorne, der Polizist liest. Ein Donner rollt heran, explodiert krachend über ihren Köpfen. Wieder ein Blitz. Betz sieht, daß es ein junger Mann ist, der ihn festnimmt. Kaum zwanzig wird er sein und die Hose wird er voll haben, denkt sich Betz.
Samstag, gegen Abend Die Sterilschleuse ist ein Zelt aus den Beständen der Bundeswehr. Es ist olivgrün und trägt ein riesiges rotes Kreuz auf weißem Grund auf dem Dach. Innen hat es moderne medizinische Ausstattungen. Stromkabel liegen 282
umher. Auf Ständer montierte Halogenlampen verbreiten ein gleißendes Licht. Draußen hat der Himmel seine Schleusen geöffnet. Regen stürzt nieder, trommelt prasselnd auf die Zeltbahnen. Dazwischen schmettern die Donner. Am Ende der Sterilschleuse, die der Klinik zugewendet ist, steht Arnold Kron, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Die Zeltbahn ist halb offen. Er blickt hinaus in die grauen Wasserschleier, die die Fassade fast verbergen. Nur wenn der Blitz aufleuchtet, erkennt man die verschnörkelte würdige Architektur des Hauses. Die Lichter wirken wie gelbe Flächen. Wie man Betz hereingeführt hat, hat Kron gesagt: «Lassen sie ihn, er ist unser Richter. Wir haben ihn getestet.» Der junge Polizist geht, ängstlich und tastend begibt er sich zurück in den Regen. Betz, naß bis auf die Haut, aber angenehm abgekühlt, kommt mit langsamen Schritten auf Kron zu. Auch er sieht hinüber zur Klinik. Die beiden Männer stehen nebeneinander und schweigen. Es ist Betz, der zu sprechen beginnt: «Ist Frau Wormser aufgetaucht?» fragt er. «Nein», sagt Kron, «aber ich bin nicht sicher, ich weiß nur, daß Winters Leute sie suchen. Ihren Vater haben wir vorsorglich untersucht.» «Aha», sagt Betz. Kron: «Ich weiß das nur, weil dies zum Fallkomplex unseres Patienten 0 zählt.» «Und wie ist sein Ergebnis?» Kron zuckt mit den Schultern. Betz sagt: «Es geht voran. Schummberger sagt, er hat Hoffnung.» Kron lächelt. «Schummberger sagt das», sagt Betz. 283
Kron: «Ich glaube nicht mehr daran. Ich weiß nicht mehr, woran ich glauben kann. Ich handle. Wie Sie.» «Und was ist das Resultat?» fragt Betz. «Eine endlose Niederlage», antwortet Kron. «Aber man muß auf die eine oder andere Art kämpfen. Resignation bedeutet Tod. Der Tod ist nichts für Menschen meines Schlages.» «Es geht nicht nur um den Tod», sagt Betz. «Mag sein», sagt Kron, er sieht Betz an. «Warum sind Sie eigentlich gekommen? Warum so heimlich? Ich hätte Ihnen alles gezeigt.» «Wer glaubt daran», sagt Betz.
Samstag, später Abend Alle populären Fernsehsendungen des letzten Jahres werden wiederholt. Eine nach der anderen. Die ganze Nacht lang. Dies war die Stunde der Discos, die Stunde der eleganten Dinners, die Stunde der Melancholie der Einsamen, die Stunde der Säufer, die Stunde, um die die Kinder gekämpft haben, weil sie am nächsten Morgen keine Schule haben und ausschlafen können. Die Stunde der Bälle. Betz hat die vorletzte Flasche Rotwein ausgetrunken. Er sitzt am Klavier, spielt, so gut es eben seine Fähigkeiten zulassen, stückweise das Klavierkonzert Nummer l von Peter Tschaikowsky nach, das dröhnend über seine Lautsprecher kommt. Das Fenster ist offen. Kühle Luft. Ein Landregen. Genüßlich. Es riecht frisch und neu. Die erste Seite der Platte läuft aus, Betzens Griffe gehen ins Leere. Es schellt. 284
Die Nadel knackt rhythmisch in der Endlosrille. Betz erhebt sich verblüfft von seinem Klavierstuhl. Er geht an die Tür. Betätigt den Summer. Er öffnet, hört in den Hausflur. Rasselnd fällt das große Tor ins Schloß. In der Dunkelheit tastende Schritte. Gisa tritt in den Kreis des Korridorlichtes. «Du?» fragt Betz, breitet die Arme aus, geht schnell auf sie zu, doch Gisa weicht über die Treppe aus. «Nicht», sagt sie, und dann fügt sie hinzu: «Bitte geh vor und halte Abstand.» Betz tut, worum Gisa ihn bittet. Er zieht sich in sein Wohnzimmer zurück, hebt den Tonarm ab. Gisa tritt ein, geht an der Wand entlang und setzt sich auf seinen Diwan. Sie ist naß. Die Haare kleben ihr am Kopf. Ihr dünnes Kleid hat breite Wasserflecken. Sie zittert. Betz geht eine Decke holen. Doch Gisa weist die Decke zurück. «Ich fühl mich schmutzig, irgendwie so schmutzig, nein, es geht schon.» Betz schließt das Fenster und fragt, ob es so besser sei. Gisa nickt. «Wo bist du gewesen», fragt Betz. Gisa: «Wo ich gewesen bin? Man geht der Polizei aus dem Wege und den Krankenwagen, sonst nichts.» «Wir haben dich gesucht, dein Vater und ich», sagt Betz. «Sie haben Vater mitgenommen.» «Ich weiß», sagt Betz. «Das Ergebnis habe ich noch nicht erfahren können.» «Er ist frei, er ist auf seinem Schiff, ich habe ihn beobachtet», sagt Gisa. «Und was machst du jetzt?» will Betz wissen. «Ich stelle mich», sagt Gisa, «ich habe mich dazu entschlossen, weil ich sehe, daß Fortlaufen keinen Sinn hat.» 285
Betz: «Wir hätten im Bett bleiben sollen am letzten Montag, den Telefonhörer nebendran legen. Ich quäle mich rum, weil ich schuld bin, daß du … Na ja, daß das alles passiert ist.» Gisa spricht leise. Sie zittert nicht mehr. Sie kann sogar schon wieder lächeln: «Das ist jetzt nicht mehr wichtig», sagt sie, «ich bin nur gekommen, um dich noch einmal zu sehen, deine Stimme zu hören.» «Bleib. Bitte.» «Nein, Andy, ich hab’s mir zehnmal überlegt. Ich muß jetzt da durch. Die Welt wird geteilt in gesund und krank. Ich muß wissen, wo ich hingehöre.» Betz fährt auf, er streicht sich über den Kopf, verschränkt die Hände im Nacken, geht hin und her, er fragt: «Und welche ist gesund und welche krank?» «Das fragst du?» Eine Pause entsteht. Betz sagt niedergeschlagen: «Ich pack das alles nicht mehr. Ich krieg es nicht mehr auf die Reihe. Ich habe geholfen zu verurteilen, weil du krank bist.» Gisa sagt: «Ich glaube auch, daß ich mich angesteckt habe. Also gut.» «Mein Gott, du bist nicht angesteckt, mir ist ja auch nichts passiert, und ich muß die ganze Zeit mit den Leuten umgehen», fährt Betz auf. «Krankheit bedeutet jetzt was anderes. Ich bin auch krank!» «Nein!» sagt Gisa. Wieder entsteht eine Pause. Betz ist in großer Unruhe. Er reibt die Augen, wischt die Hände an der Hose ab, schwankt mit dem Oberkörper hin und her, so als trage er eine große Last. Dann sagt er: «Sie haben erwähnt, daß andere Richter nach wie vor nicht so einfach verurteilen. Kein anderer hätte sich bei uns im Gericht gefunden für 286
diesen Job, sagt der Vorstand. Und ich bin der Einweiser geworden. Der Verurteiler. Verstehst du?» Gisa: «Und was macht es aus, ob so oder so?» «Dann hätte ich wenigstens nichts damit zu tun, daß die Welt vor die Hunde geht.» «Meinst du, sie geht nicht auch ohne dich kaputt?» fragt Gisa. «Doch klar, aber ich bin ein Handlanger.» «Oh Andy», sagt Gisa, «wirklich, es kommt doch nicht mehr drauf an, weißt du das nicht? Es ist gut, daß man den Leuten hilft, die es noch nicht haben. Da müßt ihr alle durch. Es ist eine Quälerei, aber die Chance besteht, daß es vielleicht einmal wieder anders wird. Meinst du, drüben, auf der anderen Seite, da ist es besser?» Betz ist immer noch in Unruhe. Ihn treibt es hin und her, er sagt, daß er dort gewesen sei, daß er die Klinik gesehen habe. «Es war seit Tagen das erste Mal, daß ich zwei Menschen beobachtet habe, die sich im Arm halten, verstehst du, was das heißt?» «Ja und nein», sagt Gisa. «Und ein Paar, das tanzt, sich küßt», sagt Betz. Er erschrickt, als er sieht, daß Gisa weint. «Faß dich doch», sagt er, tritt näher auf sie zu, sie zuckt zurück. «Mein Gott, faß dich doch», bittet er. Durch die Tränen fragt Gisa: «Wie sie wirklich aussehen mag, diese Welt in so einem Quarantänelager?» «Ein blöder Alltag vielleicht», sagt Betz. Er wischt sich über die Augen, reibt die Hände, die sich schweißig anfühlen, am Hemd trocken, «aber sie haben keine Angst voreinander, verstehst du?» Gisa sagt: «Man muß dort lernen, mit dem Tod umzugehen. Irgendwann werden sie mitansehen müssen, wie einer von ihnen stirbt. Einer macht den Anfang. Und 287
wenn sie ihn ins Grab tragen, dann wird jeder noch intensiver spüren, wie seine eigene Zeit zwischen den Finger verrinnt. Stunde um Stunde, langsam, unerbittlich. Nichts kannst du festhalten!» Betzens Stimme hat etwas Verzweifeltes: «Aber sie werden doch auch leben wollen, sie müssen leben!» «Es wird eine zerbrechliche Existenz sein, drüben in der Quarantäne. Aber du hast recht, sie können sich in die Arme nehmen, Trost spenden, Zärtlichkeiten auf dem Weg zum Tod.» Betz sagt sehr leise: «Wir alle, jeder von uns, lebt auf dem Weg in den Tod. Auch wir hier, die sogenannten Gesunden. Der Tod gehört zum Leben wie das Ende zur Wurscht.» «Nein», sagt Gisa, sie zieht ihre Beine noch enger an den Oberkörper, sie fröstelt, «nein, deine Seele ist noch nicht von der Angst verletzt. Du glaubst eigentlich nicht recht daran, sterblich zu sein. Das wiegt mehr als manche flüchtige Zärtlichkeit. Du mußt mithelfen, daß den Menschen diese Angst erspart bleibt.» Betz lächelt, er wehrt mit den Händen ab, «Nein», sagt er, «mich schaudert davor, wenn die Bürokraten die Gesundheit verwalten. Ich habe lange genug mitgeholfen. Eine hygienische kalte Welt ist geboren. Klinisch rein vielleicht, aber wie eine Tiefkühltruhe. Das Gefühl stirbt, die Kunst stirbt, die Musik taugt nur noch für Betäubung und für Trauermärsche.» «Aber die Krankheit hat keine Chance», schreit Gisa, «und du weißt nicht, was das ist, wenn du dich mit diesem Scheißvirus auseinandersetzen mußt, da oben drin», sie zeigt auf die Stirn. Betz spricht weiter, als habe er den Einwand nicht gehört: «Klinisch sauber, chemisch rein, ein Leben wie die 288
weißen Ratten im Glaskäfig. In der Natur sind die Ratten stark, sie überleben alles, vielleicht sogar einen Atomkrieg, aber in der Gefangenschaft der Medizin können sie nichts ausrichten, sind manipuliert und stumm. Genau wie die scheinbar gesunden Menschen. Denn die Angst vor der Seuche hat sie schneller erreicht, als das Virus die Opfer anstecken kann. Alle haben ihre Unschuld gegenüber dem eigenen Ende verloren.» «Aber hier, diesseits der Quarantäne», sagt Gisa, «da habt ihr die Chance, daß etwas gefunden wird von der Medizin, ein Medikament, ein Impfstoff.» Betz argumentiert wie ein Jurist. «Das hilft dann auch den sogenannten Kranken, – ach, alles Illusionen, und unterdessen redet man, sofern man sich überhaupt noch treffen darf, mit abgewendeten Gesichtern und auf dem Rücken verschränkten Armen über eine Distanz von ein paar Metern.» Gisa: «Eine kranke gesunde Welt.» Eine Pause entsteht. Gisa ist still und gefaßt, ja sogar fast gelöst. Betz hat wieder seinen unruhigen Marsch aufgenommen. Manchmal scheint es, als spreche er mit sich selbst, denn seine Lippen bewegen sich. Er faltet die Hände über dem Kopf, dann wieder im Nacken, er fährt mit ihnen durch den Hosenbund, kratzt sich, dann rennt er hinaus, holt die letzte Flasche Rotwein, öffnet sie, trinkt daraus, bietet Gisa etwas an. Gisa lehnt ab. Betz tritt an sein Klavier. Er lehnt sich darauf und schaut Gisa an. Er spielt nicht. Der Wein hat ihn für einen kurzen Augenblick ruhiger gemacht. Er fragt leise, fast schüchtern: «Darf ich mit dir schlafen heute nacht?» Gisa lächelt, bevor sie antwortet, dann sagt sie: «Es ist nicht vernünftig, du bist gesund – und mich sucht man.» 289
Betz schwach: «Trotzdem.» «Andy, ich habe zuviel Angst. Das ist nicht gut für eine Geliebte.»
Samstag, Nacht In der Nähe des Bahnhofs haben sie eine stationäre Kontrollstelle der Polizei eingerichtet. Halogenstrahler auf hohen Spinnenbeinen. Plappernde Walkie-Talkies. Übernächtigte Beamte. Langeweile. Es ist schon lange niemand mehr unterwegs, der nicht in der Windschutzscheibe einen provisorischen Sonderausweis hat. «Dort! Eine Passantin. Eine hübsche zierliche Frau.» Die Halogenscheinwerfer fingern nach vorne. Blenden. Die Frau kommt mit hängenden Armen, doch mit erhobenem Kopf auf die Sperre zu. Eine Megafonstimme bellt: «Bitte halten Sie sich für eine Ausweiskontrolle bereit. Sie wissen, daß es aus hygienischen Gründen empfohlen wird, zu Hause zu bleiben. Sie müssen damit rechnen, daß sie sich einem Serumtest unterziehen müssen.» Formeln, wie von einem automatischen Anrufbeantworter. Gisa tritt in den Bannkreis der Straßensperre. Ein mit Mundschutz vermummter Beamter kommt ächzend aus einem Einsatzwagen. «Bleiben Sie bitte stehen», sagt Gisa. Sie nennt ihren Namen. «Ich habe Grund zur Annahme, daß ich serumpositiv bin», sagt sie zu den Männern. «Bitte sehen Sie sich vor, ich willige in den Test ein.»
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Samstag, Nacht Betz steht auf der Mole. Drüben auf dem Schiff, schwach beleuchtet vom gelben Licht aus dem Salon, sieht er den alten Wormser stehen. Er hat eine Regenkutte um und einen Südwester auf. Er schreit: «Warum stellt sich das Kind?» Betz ruft: «Weil Gisa wahrscheinlich serumpositiv ist.» «Das geht nicht», brüllt Wormser, «das kann man nicht machen! Sie sind ein Richter, Sie sind wer. Jetzt tu was, und sei kein verdammter Feigling.» Betz, nach wie vor unruhig und inzwischen ziemlich alkoholisiert, lacht schallend: «Ich?» fragt er und deutet auf seine Brust, dann zeigt er mit dem Daumen über die Schulter hin zur Stadt, die in glitzerndem Licht unter den Regenwolken liegt. «Gegen das da sind wir alle ohnmächtig.» Wormser ruft: «Sie haben auf alles eine Antwort.» Da sagt Betz: «Dann ändern Sie doch was, Herr Wormser.» Wormser: «Ich? Wie soll ich?» Der Regen setzt unvermittelt wieder ein. Ein Teppich von Wasser bildet sich um Betzens Füße. «Sie könnten Ihrer Tochter beistehen, wie damals im Rheinhafen», ruft Betz. «Sie war gestern bei mir.» «Und?» schreit Wormser herüber. «Nichts», antwortet Betz. «Nichts. Man könnte sie nur trösten, indem man ihren Weg mitgeht.» «Ich bin negativ», ruft Wormser. Betz versteht im Regengeprassel kaum. «Doch ich glaube, ich könnte dort hinübergehen in diese andere Welt. Wo ist das?» «Ich weiß nicht», lügt Betz. «Werden diese Menschen getötet?» schreit Wormser. «Nein, sicher nicht», antwortet Betz. 291
«Ich werde suchen», sagt Wormser. «Fahren Sie mit?» Betz tritt drei Schritte zurück, er winkt. «Nein», schreit er, «ich bleibe hier.» Er beobachtet, wie der alte Wormser die Leinen loswirft, die Gangway vollends zu sich herüberzieht und die Positionslampen, grün und rot, setzt. Dann donnert der Dieselmotor auf. Qualm. Das Schiff dreht seinen Bug in den Strom und verschwindet aus dem Kreis der schwachen Lampen an der Pier, eine flüchtige Schaumspur zurücklassend, die von den schwarzen Wellen, die der Regenguß pünktelt, davongetragen wird. Hinter der Stadt flackern letzte Blitze.
Sonntag, früher Morgen Betz in seinem Zimmer am Telefon. Er macht einen verwahrlosten, heruntergekommenen Eindruck. Die Wangen sind eingefallen, die vom Regen noch feuchten Kleider stinken. Sein Atem stinkt. Er trägt ein buntes Hemd, offener Kragen, die Robe hat er über die Schultern geworfen. Er brüllt ins Telefon: «Ich will, daß die betroffene Wormser vorgeführt wird zur Verhandlung. In anderen Fällen habe ich das auch angeordnet. Wir haben alles so organisiert, daß das hygienetechnisch klappt. Und sie läßt sich nicht vertreten durch einen Anwalt, weil sie selber Anwältin ist. Also hat sie ein Recht zu kommen.» Eine quäkende Stimme am anderen Ende der Leitung sagt: «Aber das Sicherheitsrisiko …» Betz schreit: «Dann halten Sie eben Ihren Scheißsicherheitsabstand ein, wenn die Frau kommt. Wozu ist der sonst da?» Betz wirft den Hörer auf die Gabel.
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Sonntag, früher Morgen Draußen hat es aufgehört zu regnen. Ein diffuser grauer Tag, der noch nicht entschieden hat, wie er werden will. Pfützen auf dem Pflaster. Die Fenster im Schöffengerichtssaal sind geschlossen. Der Kronleuchter brennt. Auf dem Boden sind Markierungen mit Klebestreifen angebracht. Betz mit zugeknöpfter Robe, ohne Schlips, im bunten, schmutzigen Hemd sitzt auf seinem Platz. Er sortiert planlos und nervös in den Akten, wirkt fahriger denn je, unstet, er springt gelegentlich auf, läuft ins Beratungszimmer, dessen Tür er offenstehen hat, dann kommt er zurück, bringt Bleistift und Papier mit, trägt wieder Akten weg. In Gelassenheit warten Winter und der Rechtsanwalt Kupka. Beide sonntagmorgendlich gekleidet. Sie kümmern sich nicht um ihn. Die Tür öffnet sich. Gisa tritt ein. Sie trägt einen Mundschutz aus Mull und Gummihandschuhe. Ihr folgt eine Schwester. Sie geht bis zur Markierung des Sicherheitsabstandes um den Richtertisch vor. Ihre Schuhe berühren den Klebestreifen nicht. Betz beugt sich über seinen Richtertisch, er sieht Gisa an. Er spricht leise, sehr eindringlich: «Hat dich einer gequält?» Gisa sagt leise: «Aber nein. Ich bin froh, daß es jetzt vorbei ist.» «Wie du das nur ausgehalten hast?» Winter räuspert sich, seine Stimme klingt klar und trocken: «Zur Sache, Herr Betz, es eilt.» Betz fährt herum, schnauzt Winter an: «Wenn Sie sich das einmal merken, daß ich die Verhandlung führe.» «Schrei ihn nicht so an», sagt Gisa, «er kann nichts dafür.» 293
Betz sagt hektisch: «Nimm bitte diesen Mundschutz ab, man versteht dich so schlecht.» Da schnellt Winter auf und ruft, daß dies gegen die Vorschrift sei. «Ich führe die Verhandlung», kontert Betz, «sie hält ja den Sicherheitsabstand ein.» Gisa sagt in ruhigem, gelassenen Ton: «Herr Winter, ich spreche zu niemandem direkt.» Nun hört sich ihre Stimme erleichtert an, «ich weiß jetzt, was ist, und es geht mir besser. Ich bin zwar noch nicht darüber hinweg, sicher nicht, doch ich habe wieder so etwas wie Hoffnung. Aber nicht für euch hier. Selbsterhaltung ist scheinbar euer einziges Gesetz. Was wollt ihr erhalten? Seht euch um. Was muß man eigentlich mehr fürchten, die Krankheit oder euch?» Winter sagt zu Kupka leise: «Kranke Menschen.» Gisa spricht immer noch abgewandt, aber sie meint Winter: «Na und? Lieben Sie Ihre Frau noch? Liegt Ihr zusammen in einem Bett? Und an was denken Sie, wenn Sie nach Hause kommen? Daran, daß Ihre Frau irgendwann einmal einen Liebhaber hatte, während Sie gearbeitet haben – ach was, daß nur ein Kind ihr zu nahe gekommen ist, das infiziert sein könnte? Und Ihre Frau, meinen Sie, die traut Ihnen noch? Bei Ihrem Beruf? Nein! Ich freue mich darauf.» In Gisas Augen treten Tränen, aber sie lächelt. «Ich freu mich auf diese Umarmung, die kommen muß. Der erste Kerl, der mir über den Weg läuft! Ein tiefer Kuß!» Winter steht auf, er streicht sich über das Jackett, räuspert sich, bringt sich in Positur. «Hohes Gericht», sagt er, «die Patientin ist verwirrt. Wir haben das oft in den letzten Tagen gesehen, daß die Leute nicht wissen, was sie sagen. Und irgendwie verstehen wir das. Wir alle.» Er 294
sammelt sich für einen kurzen Augenblick, dann sagt er mit kräftiger Stimme: «Herr Betz, wäre es recht, wenn wir jetzt die Formalia …» Betz sieht Winter verwirrt an, dann hinüber zu Gisa, dann murmelt er: «Alles in Ordnung, Anträge wie gehabt? Und du, Gisa?» «Ich geh doch freiwillig!» Betz nimmt das nicht zur Kenntnis, er sagt: «Das Gericht berät.» Doch er zieht sich nicht zurück, er notiert schnell etwas auf einen Zettel. Schwankt scheinbar für einen Augenblick. Dann springt er auf, verliest mit lauter sicherer Stimme: «Es ergeht folgender Beschluß des Amtsgerichtes in der Absonderungssache gegen Frau Gisa Wormser: Der Antrag auf vorläufige Absonderung wird kostenpflichtig abgewiesen.» Er schaut Winter prüfend an. Der fährt auf, Kupka fährt auf. Sie sind sprachlos, starren auf Betz. Winter ruft: «Herr Betz, ich darf doch bitten!» Er sieht, wie der Richter die Robe aufreißt, daß die Knöpfe fliegen, über den Tisch des Schöffengerichtssaales springt, auf die Betroffene Gisa Wormser zuläuft, die selbst erschrocken ist und ihm ausweichen will, doch er packt sie an der Taille, ruft laut: «Komm, Gisa, wir gehen jetzt.» Er zieht sie an sich, nimmt sie in den Arm, dreht sich mit ihr wie im Dreivierteltakt. Gisa, zunächst noch widerstrebend, folgt ihm, er nimmt sie zärtlich, er hebt sie hoch. Die Krankenschwester im Hintergrund des Saales reißt die Tür auf, sie schreit etwas hinaus, was man nicht versteht. Winter und Kupka sind zurückgewichen. Dort, wo sonst Zeugen stehen, beginnt der Richter Betz mit der Anwältin Gisa Wormser einen Walzer zu 295
tanzen, zunächst langsam, tastend, dann haben sie den Rhythmus gefunden und drehen sich, wirbeln herum. Nur die Musik fehlt. Von außen her hören sie Schritte, eilig, entschlossen. Sie halten ein. Die Welt fliegt um sie im Kreis. Sie sehen einander kaum im Taumel, spüren nicht die Gummihandschuhhände, die nach ihnen greifen. Ein Kuß, ein tiefer Kuß.
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