VIBEKE LØKKEBERG
PURPURENGEL HISTORISCHER ROMAN
Aus dem Norwegischen von Dagmar Lendt
GUSTAV LÜBBE VERLAG
Wir dank...
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VIBEKE LØKKEBERG
PURPURENGEL HISTORISCHER ROMAN
Aus dem Norwegischen von Dagmar Lendt
GUSTAV LÜBBE VERLAG
Wir danken NORLA für die freundliche Übersetzungsförderung Gustav Lübbe Verlag ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Titel der norwegischen Originalausgabe: Purpur
Für die Originalausgabe: Copyright © 2002 by Forlaget Oktober AS, Oslo Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2004 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Anne Bubenzer Fachgutachten: Stephanie Bank Satz: Bosbach Kommunikation & Design GmbH, Köln Druck und Einband: Ebner & Spiegel GmbH, Ulm Alle Rechte, auch die der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten Printed in Germany ISBN 3-7857-2161-7 Sie finden uns im Internet unter: www.luebbe.de
Italien 1460. Anna ist die Einzige, die für Papst Pius II. die wertvolle Farbe Purpur herstellen kann. Sie wird mit Lorenzo, dem Leibwächter des Papstes, verheiratet und soll nun Seiner Heiligkeit und der Kirche bedingungslos dienen. Pius ist machtbesessen und völlig beherrscht von dem Gedanken, einen Kreuzzug gegen Konstantinopel zu führen. Purpur allein ist die Farbe der Macht und Anna muss helfen, Pius’ irrwitzigen Plan in die Tat umzusetzen …
FÜR TERJE
PROLOG
Während der gesamten Antike galt die Purpurfarbe als ebenso wertvoll wie Perlen, Silber und Gold. Die Seltenheit der Murex-Schnecken und die enormen Mengen ihres Sekrets, das man zur Herstellung des Farbstoffes benötigte, machten ihn außerordentlich kostbar. Aus zehntausend Schnecken gewann man ein Gramm Farbstoff. Das Wissen über die Herstellungsmethoden war geheim und wurde vom Vater an den Sohn vererbt. Als Alexander der Große 331 v. Chr. Persien eroberte, fand er in den königlichen Schatzkammern fünfundzwanzig Kilogramm Purpursekret von Murex-Schnecken. Es lagerte dort schon seit zweihundert Jahren, hatte aber seine ursprüngliche Frische und Farbkraft bewahrt. Für Alexander war dieser Fund der größte aller Schätze. Als Sultan Mehmet II. im Jahre 1453 Konstantinopel eroberte und den Halbmond auf die Kuppel der Sophienkirche setzte, markierte dies nicht nur den Zusammenbruch des Byzantinischen Reiches. Es bedeutete auch das Ende der jahrtausendelangen Verwendung von Purpur. Während der Schlacht setzten die Soldaten Kaiser Konstantins die Purpurwerkstätten in Brand und schnitten den Färbern die Zungen heraus, um zu verhindern, dass ihr Wissen in die Hände der Feinde gelangte. So versank nach Sultan Mehmets Eroberung die Kunst der Purpurgewinnung. 1458 wurde Aeneas Silvius Piccolomini zum Papst gewählt. Er nannte sich Papst Pius II. und sollte einer der großen Päpste der Renaissance werden. Er war zuvor als Dichter
erotischer Verse bekannt geworden, und seine große Vision war es, einen Kreuzzug gegen Konstantinopel zu führen. Um dieses Ziel zu verwirklichen, brauchte er Purpur.
D
ie Purpurfärberin träumte, sie sei in einem Schrank gefangen. Ab und zu wurde die Schranktür geöffnet und eine Hand reichte ihr etwas zu essen. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, und sie blieb allein in der Dunkelheit zurück. Unsicher, ob es die Hand ihres Gemahls gewesen war, die sie gesehen hatte.
Sie erwachte. Aus dem Fenster konnte sie Reihen von Weinreben und Olivenbäumen sehen, Berghänge mit Weizenfeldern und Schluchten mit weißer Erde. In den Teilen des Tals, wo Holz geschlagen worden war, lagen gefällte Eichen. Sie erhob sich aus dem Bett und trat ans Fenster. Das Haus stand auf einem Bergrücken mitten im Val d’Orcia, und ihr Blick konnte ungehindert in alle Himmelsrichtungen schweifen. Sie konnte die Dörfer Monticchiello, San Quirico d’Orcia, Bagno di Vignoni und Castiglione d’Orcia ausmachen und Radicofani. Das Kloster Abbadia San Salvatore lag, halb von einem Bergkamm verdeckt, so hoch oben am Felshang des Monte Amiata, dass sie es nur erahnen konnte. Unten im Tal, am Fuße des Monte Amiata, erstreckte sich die Via Francigena. Pilger zogen in großen Gruppen diese Straße entlang, die von Rom aus bis in die Länder jenseits der Alpen führte. Gleich unterhalb des Bergrückens, auf dem sie wohnte, schlängelte sich der Fluss Orcia durch das Tal. Lorenzos Schafe und Ziegen weideten dort unten, gehütet vom Hirtenjungen Andropolus. Die Stadt Corsignano war oberhalb des Tals mit Ausblick auf den Monte Amiata erbaut worden, gerade noch nahe genug, dass die Glocken der Kirche San Francesco zu hören waren.
Während sie ihren Blick über das schöne Val d’Orcia schweifen ließ, merkte sie, dass der Traum immer noch in ihr nachwirkte: Alles, was sie um sich herum erblickte, war in sein Licht getaucht, jedes Geräusch erschien ihr wie eine Warnung. Sie fühlte sich klein in dieser großen Landschaft, so als ließe sich nichts vor ihr verbergen. Es war, als kenne die Landschaft das Geheimnis ihres Traumes. Erst als sie die Tür zum Nebenraum öffnete, in dem sie an der Altartafel arbeitete, erinnerte sie sich des Rings auf dem Tisch. Die Sonne ließ seinen Rubin funkeln. Schon seit mehreren Tagen lag er dort neben einem Krug mit zinnoberrotem Temperapulver. Es war der Ehering, den sie von Lorenzo bekommen hatte. Sie hatte ihn abgenommen, damit er keine Spuren im Blattgold hinterließ, das auf der noch unvollendeten Altartafel Sankt Agathas Gesicht umschloss. Mit einer Gravurnadel begann sie die rote Farbe abzukratzen, die die Bordüren auf dem Kleid der Heiligen bedeckte. Darunter war das Gold verborgen. Liam, der Mönch, rührte in einem Kessel Leim aus einem Gemisch von Schweinsohrenhaut, Kreide und Titanweiß an. Die Schweinsohren lagen in einem Haufen auf dem Boden, der Kessel stand auf der Glut in der Feuergrube. Der gipsartige Brei sollte auf den Leinenstoff gestrichen werden, mit dem die Eichenplatten bespannt waren. Anschließend wurde die Oberfläche so geglättet, dass man darauf malen konnte. Liam stand mit gesenktem Kopf an dem dampfenden Gefäß. Die alten Eichenbretter rochen angenehm, doch der Hautleim verbreitete einen durchdringenden Gestank. Die Kutte des Mönchs war weiß von Kreidestaub. Wie Puder bedeckte er Gesicht und Hände. Nur Liams helle irische Augen glitzerten in all dem Weiß. Seine Augen waren dieselben wie früher, aber das Gesicht war gealtert. Sie studierte die weichen Bewegungen seiner Hand, während er mit dem Pinsel die
siebente Schicht Leim auf die Eichenplatten strich. Jetzt waren sie fertig imprägniert. Liam hatte die Tafelmalerei von den Mönchen eines Klosters in Konstantinopel gelernt. Die Bewegung, mit der er den Pinsel über die Eichenplatten führt, ist wie der Teil eines Gebets, dachte sie. Eine Altartafel zu malen war wie ein Gebet, jede Farbe hatte ihre Bedeutung. Das Gesicht der Märtyrerin wurde in drei Umbratönen gemalt, umrahmt von Gold. Gold war Gottes Licht, Sein Himmel. Liam hatte sie gelehrt, sich an die Motive der Liturgie zu halten. Sie hatte seinen Rat befolgt, doch die Brüste der Märtyrerin waren ihre eigene Idee. Sie hatte sich vor dem Spiegel im Schlafzimmer entkleidet und ihre Brüste studiert, von vorn und von der Seite. Sie hatte beobachtet, wie ihre Brustwarzen hart wurden, wenn sie sie berührte oder wenn ein kalter Luftzug darüber fuhr. Als Liam zum ersten Mal die Altartafel und Sankt Agathas alabasterweiße Brust sah, hatte er gewarnt, dass sie gegen das Göttliche verstoße. Dass sie sich nicht von Gott leiten lasse, sondern von der blinden Kraft ihres eigenen Fleisches. Aber er hatte Masaccio nicht erlebt und nie Piero della Francescas Fresken im Schlafgemach von Papst Pius betrachtet. Dort hatte sie zum ersten Mal Figuren gesehen, die in einer vereinfachten Form und frei von allen dekorativen Details gemalt waren. Piero della Francesca hatte seine Wurzeln in der florentinischen Schule und war der erste Maler, der Aufträge außerhalb von Florenz ausführte. Außer seinen Werken hatte Papst Pius ihr auch Tafeln mit Masaccios lebendigen und naturgetreuen Gestalten gezeigt. Und wie verblüfft sie gewesen war, als er sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass die Figuren mit beiden Füßen auf der Erde standen und nicht nur auf den Zehenspitzen, wie die Maler sie für gewöhnlich darstellten.
Sie hatte versucht, Liam zu beschreiben, wie tief die Gemälde Piero della Francescas und Masaccios mit ihren schlichten Gestalten unter blauem Himmel sie berührt hatten. Doch er entgegnete lediglich, es sei eine Gefahr für die Seele, mit dem orientalischen Einfluss auf die Tafelmalerei zu brechen. Was sie im Vatikanspalast gesehen hatte, war nicht ohne Auswirkung auf ihre Art der Darstellung von Sankt Agatha geblieben. Jetzt war die Tafel beinahe fertig, nur den Staub musste sie noch vom Gold fegen. Statt dafür die Haare aus einem Eichhörnchenschweif zu benutzen, schnitt sie aus ihren eigenen Locken eine Strähne heraus. Unter ihrem Kleid verborgen trug sie einen glatt polierten Topas bei sich. Der Edelstein ruhte rund und warm zwischen ihren Brüsten. Dort hatte er die ganze Nacht gelegen, damit die Wärme der Haut die Feuchtigkeit aus ihm herausziehen sollte. Mit dem Topas würde sie das Gold polieren, bis der rote Bolus hindurchschien. Gold vertrug keine Feuchtigkeit. Vor sich auf einem Tisch hatte sie glatt geschliffene Granate und weitere Topase von verschiedener Größe aufgereiht. Neben den glänzenden Steinen lag der blank polierte Eckzahn eines Wolfs. Ihn würde sie zur Vollendung der Politur verwenden, denn der Zahn bewirkte einen besonderen Schimmer des Bolus, auf der das Gold lag. Er brachte das Gold zum Glühen. Doch zunächst suchte sie nach kleinen Unebenheiten auf der Goldfläche. Mit einem breiten Pinsel aus Eichhörnchenhaar nahm sie dünne Plättchen auf und legte sie vorsichtig auf die Schadstellen. Das Motiv der leidenden Sankt Agatha war ihr mehrere Male im Traum erschienen, und sie hatte die Märtyrerin so gemalt, wie sie sich ihr gezeigt hatte. Die Tafel war für die neue Kirche in Corsignano bestimmt. Sie wusste, dass die heilige
Agatha zu den Märtyrern zählte, die Papst Pius sich für diese Kirche gewünscht hatte. Die Legende von der Tötung Agathas berührte sie so sehr, dass sie viele Tage vom Morgen bis zum Abend in der Werkstatt zugebracht hatte. Der Gedanke an das Schicksal der Märtyrerin hatte sie nicht losgelassen, und sie fand keine Ruhe, ehe sie nicht vor der Leinwand saß und malte. Sie wollte, dass alle wissen sollten, wie Sankt Agatha den Tod erlitten hatte. Doch auch jetzt, da die Altartafel so gut wie fertig war, fühlte sie sich noch immer von Unruhe getrieben. Die Vergoldung, die Farben und die Komposition, die Entscheidungen, die sie getroffen, und jene, die sie nicht getroffen hatte – alles erfüllte sie mit Unrast. Sie vergewisserte sich, dass Liam ihr den Rücken zugewandt hatte, ehe sie die Hand in den Busen schob und den warmen Topas hervorholte. Als sie das Blattgold poliert hatte, nahm sie einen Zirkel zur Hand und tauchte seine Spitze in verdünntes Zinnoberrot. Nun fehlte nur noch die Aura der Märtyrerin. Doch ihre Hand zitterte, und Anna legte den Zirkel wieder fort. Die Aura über dem Kopf eines Märtyrers zu zeichnen erforderte eine ruhige Hand. Es war wichtiger als alles andere, dass der Kreis geschlossen und ewig war, dass er nicht unterbrochen wurde. Liam sprach ein Gebet für die Ruhe ihrer Hand. Er war Annas Beichtvater. Er hatte lange dafür gebetet, dass Gott Lorenzo und Papst Pius zu ihnen auf den Hof schicken möge. Sie hatten Anna versprochen zu kommen. Lorenzo war jetzt seit fast einem Jahr fort. Anna hatte in dieser Zeit kurze Briefe von ihm erhalten. Von Kurieren und Soldaten hatte sie Geschichten gehört, die erzählten, wie Lorenzo und Pius II. das künftige Europa planten. Während Anna über die lange Abwesenheit ihres Mannes nachdachte, fiel ihr Blick auf die kleine Flasche mit
Schneckenpurpur. Einzig um die Messgewänder Seiner Heiligkeit zu färben, verwendete sie die Flüssigkeit. Sie hatte Papst Pius gelobt, Purpur nur für von ihm bestimmte Zwecke zu gebrauchen. Als Lorenzos Bote die Nachricht brachte, dass der Papst seine Segnungsreise in Abbadia San Salvatore beendet hatte, holte sie deshalb die wertvolle Flasche aus ihrem Lager im Kellergewölbe. Bald würden Lorenzo und der Papst hier sein, um Lucrezia zu segnen und das Purpursekret mitzunehmen, davon war sie überzeugt. Sie hielt die Flasche gegen das Licht. Ein grauweißer Schleim, den das Sonnenlicht in die edelste aller Farben verwandeln konnte. Wenn sie Wolle und Seide färbte, tauchte sie den Faden in das Sekret und legte ihn in die Sonne. Zuerst wurde der Stoff grün, anschließend verwandelte sich die Farbe in ein blasses Blau und schlug schließlich in ein tiefes Purpurrot um. Danach konnte das Sonnenlicht der Farbe nichts mehr anhaben. Aus dem Sekret in der Flasche, die sie in der Hand hielt, sollte Tinte für den Papst werden. Sie dachte an ihr Treuegelöbnis. Agatha war doch auch heilig, dachte sie. Und die Tafel sollte an der Kirchenwand hängen. Sie sagte zu sich selbst, dass sie nur einen oder zwei Tropfen des kostbaren Sekrets brauchte. Der Papst würde nichts dagegen haben. Seine Liebe zum Purpur war nicht größer als die Liebe zu der Märtyrerin, die er ehren wollte, dessen war sie sich sicher. Statt den Pinsel in helles Kadmiumrot zu tauchen, wie sie es erst beabsichtigt hatte, brach sie die Versiegelung der Flasche. Sie entfernte das erstarrte Wachs um die Öffnung und entnahm ein wenig Flüssigkeit. Behutsam setzte sie den purpurgetränkten Pinsel auf Sankt Agathas Brust.
Lorenzo rief ihren Namen. Fern. Weit weg. Sein Ruf klang vom Tal herauf. Sie erhob sich und ging hinaus in den Garten.
Angelockt durch das Flötenspiel der Spielleute unten im Tal hatten sich die Bediensteten samt ihrer Kinder unter den Zypressen versammelt, die wie dunkelgrüne Säulen den Garten des Gehöfts säumten. »Viva! Viva!«, riefen sie. Noch immer konnte sie Lorenzo rufen hören, während sie voller Erwartung den Klängen der Flöten entgegenlief. Am südlichen Rande des Gartens, wo hinter den Zypressen die Olivenhaine begannen, blieb sie stehen. Sie sah sie beide: Lorenzo und Papst Pius. Zusammen mit ihrem Gefolge bewegten sie sich entlang des Flusses Orcia. Gern hätte sie gerufen, so wie die anderen, doch das war nicht schicklich. Sie hob die Hand und winkte. Der Papst war umgeben von Kardinälen und von Lorenzos Söldnern in ihren bunten Uniformen, von Maultieren und Pferden mit Federschmuck auf dem Kopf. Seine Heiligkeit saß in einer mit Brokat verkleideten Sänfte. Als Lorenzo Anna entdeckte, bückte er sich und griff eine Hand voll Sand, den er über seinen Kopf rieseln ließ. All diese geistliche Eleganz verschmolz mit den blühenden Ginsterbüschen in Gelb und Rot. Anna wünschte, sie könnte es den Kindern gleichtun und dem Gefolge entgegenlaufen. Stattdessen musste sie würdevoll abwarten, um sie zu empfangen. Andropolus, der Hirte, stand zwischen seinen Schafen und rief aus voller Kraft. Ein Stück entfernt kam der Dorfpfarrer auf einem Esel heran. Es war noch früh am Morgen. Der Zug war sicher noch vor Sonnenaufgang vom Kloster Abbadia San Salvatore aufgebrochen. Der Papst schien abwechselnd geritten und in der Sänfte getragen worden zu sein. Anna erkannte sein Pferd und den Sattel, der mit purpurfarbenem Stoff bezogen war.
Aus den Briefen, die Lorenzos Bote gebracht hatte, wusste Anna, dass der Papst und sein Gefolge den Sommer in Abbadia San Salvatore verbringen würden. Dort wollte man der Sommerhitze im Val d’Orcia entgehen und darauf warten, dass die umfangreichen Bauarbeiten in Corsignano, der Geburtsstadt des Papstes, beendet würden. Abbadia San Salvatore lag höher als die Hügelkuppen rund um Corsignano, und in der trockenen Bergluft fühlten sich die Malariamücken nicht wohl. Die Leute im Tal aber waren überrascht, den Papst und sein Gefolge zu dieser Zeit des Sommers zu sehen. Die Segnung von Corsignano durch Papst Pius war erst für die Feierlichkeiten zum Todestag von Sankt Johannes im August angesetzt. »Geh und zieh deine schönsten Kleider an, Papst Pius ist da«, rief sie ihrer Tochter Lucrezia zu, die im Nachthemd und mit unordentlichen Haarzöpfen durch den Garten kam. Als Lucrezia ihren Vater und den Papst unten am Flussufer entdeckte, jubelte sie und lief davon, um sich anzukleiden. Die langen schwarzen Zöpfe tanzten auf ihren Schultern, als sie teils hüpfend, teils stolpernd zwischen Zierbüschen und Vogeltränken zum Haus eilte. Sie hat lange gewartet, dachte Anna und erinnerte sich an den Kranz, den Lucrezia aus Olivenzweigen gebunden hatte, während sie den Papst erwartete. Anna rief den Mägden zu, sie sollten den besten Wein heraufholen und dazu Pecorino und Schinken. Sie selbst stieg unbemerkt in das Kellergewölbe hinab und nahm ein neues versiegeltes Fläschchen mit Purpursekret aus einem verschlossenen Schrank. Als sie wieder nach oben kam, sang das Gesinde laut zu Ehren des Papstes. »Sie ziehen weiter nach Spedaletto«, riefen die Kinder, die ihre Blicke nicht von dem langen Zug im Tal lassen konnten.
»Sie kommen gar nicht hierher! Der Papst will sicher die Kirche Sankt Niccoló besuchen.« »Nein«, erklang eine andere Stimme. »Er will in den Quellen von Bagno di Vignoni baden.« Während sich Annas Hände fester um die für den Papst bestimmte Flasche schlossen, sah sie das Gefolge in Richtung Via Perugina weiterziehen, auf die Brücke über die Orcia zu. Lorenzo und Papst Pius hatten gar nicht die Absicht, sie und Lucrezia zu besuchen. Sie hatten sich ihr nur gezeigt, um dann wieder zu verschwinden. Seit dem vorigen Sommer, als der Papst Caterina von Siena heilig sprach, hatte Anna die beiden nicht gesehen. Damals war sie zu den Feierlichkeiten im Vatikan gewesen. An ihrem Gürtel hing der Rosenkranz, den der Papst ihr während der Zeremonie geschenkt hatte. Das war seine Art, ihr für den Purpur zu danken. Den Rosenkranz trug sie seither immer bei sich. Es war Juli gewesen und der Papst und seine Kardinäle wollten fort aus der Stadt. Er hatte darauf bestanden, dass Anna zusammen mit ihm und seinem Hofstaat nach Tivoli vor den Toren Roms zog. Weiter weg als bis zur Sommerresidenz des Vatikans wollte Pius jedoch nicht reisen, weil die Leute aus Sora und Aquila den Klerus bedrohten. Angeführt durch Federico von Urbino und den Kardinal von Teano waren zehn Schwadronen samt Kavallerie als Leibwache bis Ponte Lucano geritten. Die Abendsonne hatte sich in den Schilden und Helmen der Söldner gespiegelt, und die Reiter hatten zu Ehren des Papstes ihre Fechtkünste zu Pferde gezeigt. Während eines Essens, das sie im Zelt des Papstes einnahmen, war Lorenzo auffallend schweigsam gewesen. Die ganze Zeit hatte sie seine Blicke auf ihrem Körper gespürt, während der Papst lebhaft von der Rücksichtslosigkeit Sultan Mehmets gegenüber den Janitscharen berichtete. Pius erzählte von Lorenzos
Erlebnissen, als seien es seine eigenen. Anna erkannte all die Erzählungen über Mehmet und seine Gespielinnen wieder, auch die Geschichte, wie Mehmet nach dem Liebesakt eine nackte Frau aus seinem Zelt geschleift und ihr mit dem Schwert den Kopf abgeschlagen hatte, nur um den Janitscharen zu beweisen, dass Frauen keine Macht über ihn besaßen. Entgegen dem Wunsch des Papstes hatte Lorenzo darauf bestanden, dass sie aufbrach und nach Hause ins Val d’Orcia reiste. Manches Mal hatte sie sich darüber gewundert, dass sie seitdem nicht mehr gebeten worden war, den Papst zu besuchen. In der Regel hatte Anna ihm die Purpurtinte stets persönlich überbracht. Doch in der letzten Zeit hatte Lorenzo seine Soldaten als Kuriere geschickt. Sie bildete sich ein, dass Lorenzos Eifersucht der Grund dafür war und dass der Papst darauf Rücksicht nahm. Später dann, als Lucrezia das Unglück widerfuhr, hatte Anna einen Boten zu Lorenzo geschickt mit der Bitte, den Papst nach Val d’Orcia zu geleiten, um Lucrezia zu segnen. Der Bote war mit dem Versprechen zurückgekehrt, dass sie kommen würden. Sie starrte dem Gefolge des Papstes hinterher. Es stimmte, was die Kinder sagten – der Zug bewegte sich in Richtung Spedaletto. Fast ein ganzes Jahr hatte sie gewartet. Seit dem Tag des Unfalls wartete sie. Der Papst hatte sein Versprechen gebrochen. Sie fühlte die Blicke des Gesindes in ihrem Nacken, als sie durch den Garten zum Haus hinüberschritt. Als sie vor der Tür zu Lucrezias Kammer stand, wollte die Tochter ihr nicht öffnen.
A
ndropolus aus Konstantinopel stand inmitten seiner Schafe und rief dem Papst sein »Viva!« zu. Doch bald bereute er es. Was der Vater wohl dazu gesagt hätte, wenn er ihn jetzt gesehen hätte, dachte er, wie er am Flussufer stand und der Prozession hinterherschaute. Was ist aus mir geworden?, fragte er sich. Bin ich einer von ihnen? Er fühlte sich weder als Byzantiner noch als Untertan des Papstes. Andropolus war dreizehn Jahre alt und Lorenzos Sklave. Seit drei Jahren hütete er dessen Schafe. Er war einer der »pópolo minuto«, einer der namenlosen Sklaven aus dem Osten. Solche wie er wurden nicht einmal zu den Untertanen des Papstes gezählt. Aber als er »Viva!« rief, fühlte er, dass er dazugehörte. Eines Tages würde er als Soldat im Kreuzzug gegen die Türken ziehen. Dieser Gedanke gab ihm das Gefühl, erwachsen zu sein. Er hörte, wie das Gesinde und die Kinder auf Lorenzos Hof dem Papst huldigten. Er sah hinauf zum Hügel, wo sie standen und mit Olivenzweigen winkten. Doch warum zogen der Papst und sein Gefolge weiter, ohne Lorenzos Gutshof zu besuchen? Er lag doch ganz nah? Andropolus wusste, wie sehr Lucrezia auf den Papst wartete. Er lief dem Gefolge hinterher und vergaß seine Schafe. »Heiliger Vater! Probiert meine Schafsmilch!«, rief er. Die Träger setzten die Sänfte ab. Andropolus stand so dicht daneben, dass er den Papst hätte berühren können. Die Sonnenstrahlen brachen sich funkelnd in dem prachtvollen Gewand. Andropolus starrte auf den mit Silber- und Goldfäden durchwirkten Seidenstoff. Zögernd reichte er dem Papst die Lederflasche mit frischer Schafsmilch. »Der Hirtenjunge ist mein Sklave«, erklärte Lorenzo dem Papst. Der Papst hob die Flasche, ohne jedoch die Öffnung an seinen Mund zu setzen, und tat, als tränke er.
Dennoch strahlte Andropolus über das ganze Gesicht, er glühte vor Freude. Es macht nichts, dass der Papst nicht wirklich aus der Flasche getrunken hat, dachte er. Auf jeden Fall hat er sie in den Händen gehalten. »Siehst du manchmal Vögel über dieses Tal hinwegziehen?«, fragte der Papst. »Ja«, antwortete Andropolus. »Entenschwärme.« »Siehst du auch, dass sie landen?«, fragte der Papst weiter. »Nein, Eure Heiligkeit, nie, sie ziehen vorüber.« »Hättest du gern, dass sie am Fluss Rast machen?« Andropolus nickte eifrig. »Dann würde ich Schlingen auslegen. Aber Enten mögen lieber stille Gewässer als einen dahineilenden Fluss.« Der Papst sah hinauf zu Lorenzo. »Hörst du? Wenn wir den Fluss aufstauen und das Tal zu einem See machen, werden die Leute in Corsignano nie Hungers leiden.« Als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, blickte Andropolus den vielen Menschen hinterher. Er hatte vergessen, weswegen er gekommen war: der Papst musste Lucrezia besuchen. Er hob die lederne Flasche zum Mund und küsste sie. »Viva!«, sang er, sodass es im ganzen Tal zu hören war.
D
er Dorfpfarrer näherte sich dem päpstlichen Gefolge. Sein Esel wollte ihm nicht gehorchen. Er schlug dem Tier die Fersen in die Flanken, um es anzutreiben, doch der Esel schrie und weigerte sich zu laufen. Ein Wildschwein hatte ihn erschreckt. Oder fürchtete er sich vor den vielen Menschen, die ihnen entgegenkamen? Im Hintergrund war auf einer Anhöhe über dem Tal Lorenzos Hof zu sehen, ein schöner Anblick. Auf einer Bergkuppe am rechten Flussufer thronte der Turm von Radicofani. Warum kommt der Papst ins Val d’Orcia?, fragte er sich. Ihm waren Gerüchte zu Ohren gekommen, der Papst reise umher, um seine Heimatgefilde in Augenschein zu nehmen. Er wolle in den warmen Quellen nahe Abbadia baden und sich kurieren und mit den Kardinälen unter den hohen Nussbäumen an den Hängen des heiligen Monte Amiata wichtige Gespräche führen. Er beobachtete, wie der Papst in seiner Sänfte in alle Richtungen deutete. Das Weihrauchgefäß, mit dem der Pfarrer die bösen Geister vertrieben hatte, schwang vom Wind bewegt in seiner Hand. Wieder schlug er auf den Esel ein, der sich immer noch weigerte, weiterzugehen. Dann musste er wohl hier stehen bleiben und warten, bis sie heran waren. Ein Sendbote war während der Morgenmesse in der Sankt-Niccoló-Kirche erschienen und hatte berichtet, dass der Papst unterwegs dorthin sei. Böse Geister solle er mithilfe von Gebeten und Weihrauch aus dem Gotteshaus vertreiben, hatte der Bote befohlen und gesagt, der Papst werde für die Pilger beten, die in Spedaletto logierten. Später werde er über den Burghof zum Hospital gehen, um zusammen mit den einquartierten Pilgern zu Abend zu speisen. Ein Gericht aus Singdrosseln und ein Bett, in dem er sich ausruhen konnte, erwarteten Papst Pius in einem der Säle des Palastes. Der Pfarrer hatte sich
vergewissert, dass alles in bester Ordnung war, ehe er sich aufmachte, um dem Papst entgegenzugehen. Der Pfarrer versuchte, dem Esel gut zuzureden. Es durfte nicht so sein, dass der Papst zu ihm kam. Er musste dem Papst entgegeneilen und sich ihm zu Füßen werfen. Erneut schlug er dem Esel die Hacken in die Seiten, und ebenso plötzlich, wie das Tier stehen geblieben war, lief es jetzt los. Mit schnellen Schritten stob es zwischen die Kardinäle und Soldaten, während der Pfarrer rief: »Eure Heiligkeit, vergebt dem Esel! Er ist von bösen Geistern besessen!« Lachten sie? Er sah in die Runde, in die ernsten Gesichter der Kardinäle. Nein, sie lachten nicht. Der Esel blieb abrupt stehen. »Seht euch vor! Es wimmelt hier von Wildschweinen«, rief er warnend. Er sah, dass der Papst den Trägern das Zeichen gab, ihn abzusetzen. Der Pfarrer kletterte vorsichtig von seinem Esel und näherte sich der Sänfte. Das Weihrauchgefäß hatte er immer noch in der Hand. »Versucht der Pfarrer, dem Esel die Geister mit Weihrauch auszutreiben? Oder sind es Wildschweine, die er jagt?«, fragte Lorenzo und deutete auf das Weihrauchfässchen. Die Menge lachte. Das musste sie wohl, wenn der Heerführer des Papstes versuchte, lustig zu sein, dachte der Pfarrer. Ihm fiel auf, dass Lorenzo nicht die Uniform eines Heerführers trug. Seine Kleidung zierten die purpurfarbenen Streifen, die einem Adligen vom Stand eines Freiherrn zukamen. Er dachte an Julius Cäsar: Seine Toga war mit Schneckenpurpur gefärbt gewesen, während die Gewänder der Senatoren lediglich einen purpurfarbenen Streifen haben durften. »Ist Corsignanos zukünftiger Bischof gekommen, uns vor Wildschweinen zu warnen?«, sprach der Papst den Pfarrer an.
»Eure Heiligkeit. Ich konnte nicht warten. Ich musste Euch entgegengehen.« Sein Mund war trocken, er warf sich auf die Knie in den Staub, um demütig den Papst zu preisen. Der Wind fuhr unter seine Kutte, die sich wie eine Decke über seinen Kopf legte. »Hast du die Geister vom Weg vertrieben, sodass wir nach Spedaletto weiterziehen können?«, fragte der Papst. »Sie stehen am Fluss und trinken«, antwortete der Pfarrer und richtete sein Gewand. »Die Geister?«, scherzte der Papst. Jetzt lächelte auch er. »Die Wildschweine. Die bösen Geister sind aus Spedaletto vertrieben. Eure Heiligkeit kann sich getrost dorthin begeben. Gott weiß, wohin die Geister geflohen sind, Herr.« Er vernahm Gelächter, und es verwirrte ihn, dass Seine Heiligkeit über eine so ernste Sache lachte. Das Lachen stand im Widerspruch zu den vier Kardinaltugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Tapferkeit. Konnten sie ihm nicht Jesu Gabe der Barmherzigkeit erweisen, wo sie doch sahen, dass er sein Bestes tat? Der Papst gab das Zeichen zum Aufbruch. Die Kammerdiener hoben die Sänfte an und setzten sich in Bewegung. Der Pfarrer hörte die Kardinäle lachen, während sie dem Papst folgten. Er ertrug das Gelächter nicht mehr. Er stand auf und folgte dem Esel, der in schnellem Trab vor ihm davonlief. Als er ihn endlich eingefangen hatte, wandte er sich um und schaute dem Gefolge des Papstes nach. Er spürte Übelkeit aufsteigen. Sie wurde hervorgerufen durch das Wort »Bischof«. Der Gedanke ließ ihn schwindelig werden. Der Papst hatte es ausgesprochen. Corsignanos »zukünftiger Bischof«. Das war zu viel, er begann zu würgen. Kurz darauf kam der ganze Mageninhalt hoch: Schwanzfedern der Drossel und ihr Kopf, den er zwischen den Zähnen zerbissen hatte. Reste, die an der Feuergrube gelegen hatten
und die er in einem unbeobachteten Augenblick an sich genommen hatte. Abfall, den der Papst bei seiner Mahlzeit in Spedaletto nicht bekommen sollte. Er wand sich vor Schmerzen. Er wäre dem Zug des Papstes gerne gefolgt, doch er war nicht in der Lage dazu. Wie ein sabbernder Hund stand er über sein Erbrochenes gebeugt, während der prachtvolle Zug verschwand. Wäre der Esel nicht gewesen, wäre er jetzt Teil dieser Pracht. Er hob einen Ast von der Erde auf und schlug damit auf das Tier ein, bis es schrie. »Spedalettos böse Geister sind in dich gefahren!«, rief er. Die Beine gaben unter ihm nach. »Dieses verfluchte Vieh«, jammerte er. Sollte er Bischof von Corsignano werden, würde er den Papst um ein Maultier bitten.
L
ucrezia hatte sich eingeschlossen. In ihren schönsten Kleidern lag sie auf dem Bett und weinte. Wieder einmal hatte der Papst sein Versprechen gebrochen und war nicht gekommen, obwohl er dem Hof so nahe gewesen war. Bald würde sie vierzehn Jahre alt werden. Es eilte, die Segnung war das Einzige, was sie noch retten konnte. Sie fühlte sich schwindlig. Das tat sie oft. Die Schwindelanfälle hatten begonnen, als die Mutter anfing, die Tafel zu malen, die Sankt Agathas Martyrium darstellte. Der Geruch von gekochter Schweinehaut, der Anblick roher Eidotter, die angestochen und mit der Spitze einer Nadel von der Haut befreit und mit Farbpigmenten vermischt wurden, der Ruß aus dem Kamin für die schwarze Farbe, der spitze Wolfszahn, den die Mutter in den Fingern hielt, wenn sie das Gold polierte. All das rief Schwindel hervor, ebenso wie der Geruch des Schneckensekrets Übelkeit hervorrief. Das Sekret roch wie Fisch, der in Fäulnis übergegangen war. Die Mutter hatte ihr erklärt, wie man aus den Meeresschnecken drei Mal Sekret herauspressen konnte, ehe sie starben. Die Schneckensammler pflückten sie von den Klippen, ritzten sie auf und pressten das Sekret heraus. Danach setzten sie sie wieder auf den Felsen aus. Beim dritten Mal zerdrückten die Sammler die Schnecken in der Hand. Dann strömte das Blut aus allen Hohlräumen. Die Schnecke war nun nichts mehr wert und wurde weggeworfen. Eine ausgeleerte Schnecke konnte nicht weiterleben. Ihre Mutter wusste alles über das Leben der Purpurschnecken, darüber, wie sie auf den Klippen in den nordischen Gewässern lebten. Lucrezia hatte Mitleid mit den Schnecken. Sie wurden zu Tode gequält. Warum konnte die Mutter ihre Purpurfarbe nicht aus der Krapp-Pflanze gewinnen, die aus Asien kam? Cosimo de’ Medicis Färbereien benutzten Krappwurzeln. Rubia hieß
der Farbton, der am ehesten an Schneckenpurpur erinnerte. Das schöne Rot, das Venezianischer Scharlach genannt wurde, kam von der Kermesschildlaus. Blut aus den Eiern des Läuseweibchens wurde für einen Farbstoff verwendet, den man Sankt Johannesblut nannte. Widerwärtige Läuse, die an den Eichen entlang der Küste Palästinas klebten. Die eingetrockneten Tiere mussten den langen Weg von Palästina bis zu den Färbereien Venedigs unbeschadet überstehen, damit die Eier des Läuseweibchens noch zu gebrauchen waren. Das hatte Lucrezia gehört. Sie selbst zog die Krappwurzeln den Läuseeiern vor. Wenn die Mutter dazu überginge, Krappwurzeln zu verwenden, könnte der Vater Saatgut aus Konstantinopel mitbringen und sie könnten die Pflanzen in toskanischer Erde ziehen. Sie richtete sich im Bett auf und griff nach einem kleinen Spiegel, der auf dem Nachttisch lag. Wenn sie ihre Nase betrachtete, kam es ihr so vor, als sei sie das Einzige, was wuchs. Die Lippen waren schon lange füllig, als wären sie geschwollen. In ihren Augen entdeckte sie einen Glanz, den sie vorher nicht gesehen hatte, ein Schleier hatte sich über sie gelegt. Jedes Mal, wenn sie nach dem Spiegel griff, hoffte sie, darin eine andere zu sehen. Ein Gesicht, das nicht unfertig war, sondern endlich reif. Sie legte den Spiegel zur Seite und sank zurück in die Kissen. Die Arme ließ sie schlaff aus dem Bett hängen. Es war halbdunkel im Zimmer. Läden vor den Fenstern sperrten die Sonne aus, damit es nicht zu heiß im Zimmer wurde. Sie hoffte, dass Andropolus bald nach ihr rief. Aber es war ihr ja doch nicht erlaubt, mit ihm zusammen am Flussufer entlangzugehen, wo er die Schafe hütete. Hätte sie sich heute dem Verbot der Mutter widersetzt und wäre hinunter ins Tal gelaufen, dann hätte sie Papst Pius und
den Vater getroffen. Vielleicht hätte der Vater sie auf den Schoß des Papstes gehoben. Dort hätte sie dann gesessen und seine Arme um sich gespürt. Er hätte ihr seinen Segen auf die Wange gehaucht, während er die Wunde oben am Rücken berührte. Wenn Mutters dummes Verbot nicht gewesen wäre, könnte sie gerettet sein. Als sie gefragt hatte, ob sie Andropolus begleiten dürfe, war die Antwort nein gewesen. »Es zieht immer noch kalt vom Gebirge herunter«, hatte sie gesagt. Lucrezia wusste, warum die Mutter es eigentlich untersagte. Sie hatte Angst, dass sie in der Orcia badete. Sie liebte es so sehr, zu baden. Doch der Fluss war im Juni nicht warm genug. So sei das mit dem Wasser aus dem Gebirge, hatte die Mutter erklärt. Sie wusste ja nicht, dass Lucrezia im letzten Jahr zur selben Zeit mit nackten Füßen in den Fluss hineingewatet war. Er war überhaupt nicht kalt gewesen. Sie und Andropolus hatten mit den Steinen im Wasser gespielt, hatten mithilfe von Holzstöcken Segel aus Stofflappen gehisst, die sie an einem vertrockneten Eichenstumpf befestigt hatten. Andropolus wollte ein Floß bauen, auf dem sie gemeinsam mit der Strömung flussabwärts treiben konnten. Das hätte sie heute tun können, wenn die Mutter nicht gewesen wäre. Sie freute sich auf den Tag, an dem sie kräftig genug sein würde, um von morgens bis abends draußen zu bleiben. Dann würde sie mit Andropolus zusammen Schafe hüten, im Fluss baden und dicht neben den Lämmern und Zicklein im Gras liegen, so wie sie es vor dem Unglück getan hatte. Sie hatte sich daran gewöhnt, das Bett zu hüten. Den ganzen Herbst und Winter über war sie krank gewesen. Erst als der Frühling kam, begann sie sich besser zu fühlen. Jetzt übte sie sich darin, wieder auf Bäume zu klettern.
Ihr Zimmer lag nach Süden. Durch Risse in den Fensterläden fiel Sonnenlicht auf ihr Gesicht. Sie drehte sich mit dem Rücken zum Fenster und schloss die Augen. Das Schwindelgefühl kam in Wellen und wollte sie nicht loslassen, wenn sie daran dachte. Das Blut. Ihr eigenes Blut, das aus ihrem Unterleib floss und wie das Schneckensekret roch. Ein Geruch, der an den Tod erinnerte. Aber die Mutter wusste nicht, dass Gott sie durch das Blut an den Tod gemahnte. Die Mutter saß meist allein vor einer Holztafel und malte das Gesicht einer Märtyrerin. Sie wusste auch nicht, dass der Ausdruck im Antlitz der Märtyrerin Schmerz in Lucrezia auslöste. Es war etwas Gefährliches an der Tafel. Etwas, das sie vor der Mutter zurückschrecken und vom Tod träumen ließ. Lucrezia hatte Angst, dass sie im Schlaf die Zukunft voraussehen könnte, so wie die Mutter des Papstes, als sie mit ihm schwanger war. Pius’ Mutter hatte geträumt, dass ihr Sohn mit einer Mitra gekrönt würde. Und als er sieben Jahre alt war, wurde er von den Jungen, mit denen er in Corsignano spielte, tatsächlich gekrönt. Sie setzten ihm eine Mitra aus grünen Blättern auf und küssten seine Füße. Sowohl ihr Traum als auch das Verhalten der Spielkameraden wurde als Zeichen dafür gedeutet, dass er eines Tages römischer Papst sein würde. Lucrezia wusste genau, einer der Knaben, die ihn gekrönt hatten, war ihr eigener Vater gewesen. An der Wand vor einem Bildnis der Jungfrau Maria hing eine Mitra, die sie selbst für den Papst geflochten hatte. Sie war aus Olivenzweigen, und er sollte sie bekommen, wenn er sie besuchte. Es war Andropolus’ Vorschlag gewesen, dafür Olivenzweige zu verwenden, denn sie zierten das Wappen Sienas. Andropolus war während der vielen Monate, die sie bettlägerig war, treu zu ihr gekommen. Oft hatte sie ihn dann gebeten zu singen. Niemand hatte eine so schöne Stimme wie
er. Er hatte es ganz von allein gelernt. Immer, wenn er gesungen hatte, fühlte sie sich etwas besser. Wenn der Papst eines Tages kam, um sie zu segnen, würde sie ihn bitten, sich Andropolus’ Gesang anzuhören. Der Papst war ja auch oft krank, das hatte die Mutter ihr erzählt. Vielleicht konnte Andropolus ihn mit seinem Gesang heilen? Als es ihr wieder etwas besser ging, hatte Andropolus vorgeschlagen, dass sie Rollen spielen sollten, wie in einem Schauspiel. Sie hatte die heilige Caterina gespielt, die Färberstochter aus Siena. Und Caterina lag oft im Bett, wenn sie wie im Rausch Kontakt zu Gott erhielt. Andropolus war Papst Gregor gewesen, der Caterina auf dem Weg von Avignon nach Rom in Bagno di Vignoni besuchte. Er hatte in Lorenzos Umhang mit den eingewebten Goldfäden wie ein Geistlicher ausgesehen. Sie war gekleidet gewesen wie eine Nonne, mit einem Bettuch um den Kopf geknotet. Vor hundert Jahren hatte sich die heilige Caterina im Tal der Orcia aufgehalten, nachdem sie Papst Gregor überredet hatte, nach Rom zurückzukehren. Nach der langen Zeit auf dem Krankenlager war eine Veränderung mit Lucrezias Körper geschehen, die der Grund dafür war, dass sie nicht mehr vor Mutters venezianischen Spiegel trat, um sich anzusehen. Ihr genügte ihr eigener kleiner Spiegel, der lediglich einen Ausschnitt ihres Gesichtes zeigte. Nicht den ganzen Körper. Gleichzeitig mit der Veränderung ihres Körpers hatte eine Sehnsucht sie befallen. Das machte ihr Angst. Sie wusste ja selbst, dass die Sehnsucht niemals in Erfüllung gehen konnte. Es war, als stünde sie auf einer Klippe und starrte hinab in die Wellen, so wie sie es getan hatte, als sie einmal mit der Mutter an die Küste der Maremma gereist war. Sie erinnerte sich an den Drang, sich fallen zu lassen. Allein der Gedanke daran erfüllte sie jetzt mit Angst. Sie konnte nicht nachgeben. Sie nicht. Mit einem Gesicht, das man
nur stückweise betrachten konnte. Mit Lippen, Nase und Augen, die unabhängig voneinander wuchsen. Wenn sie mit Andropolus spielte, vergaß sie alles andere. Sie freute sich auf den morgigen Tag, wenn sie sich wiedersähen. Diesmal wollte sie nicht Caterina sein. Sie wollte die schöne Frau sein, die ihren heimlichen Geliebten erwartete. Eine romantische Gestalt aus einer Erzählung, die Papst Pius in seiner Jugend geschrieben hatte, über eine junge Frau, die ebenfalls Lucrezia hieß. Andropolus sollte der junge Mann sein, den sie liebte, Euryalus, Soldat im Heer des deutschen Kaisers Sigismund, geboren unter einem nordischen Himmel, mit blondem Haar und blauen Augen. Wie Lucrezias Mutter. »Die beiden Liebenden« hieß das Buch. Sie hatte es einmal in Händen gehalten. Der Einband war mit französischem Antilopenleder bezogen. Es fühlte sich noch weicher an als Kalbsleder. Lucrezia war oft in der Gerberei des Hofes und suchte sich Leder aus, von dem sie sich Schuhe wünschte. Der Gerber war gerade fertig mit dem Kalbsleder für ihre neuen Schuhe. Die Schuhspitzen sollten zu einem Schnabel verlängert werden, wie es der Mode entsprach. Anschließend würden sie mit dem Farbstoff einer getrockneten Krappwurzel türkischrot gefärbt werden, so wie der Gerber auch Mutters Schuhe gefärbt hatte. Sie hatte zugesehen, wie er das Leder mit Alaun beizte, damit die Farbe lichtecht und dauerhaft wurde. Das nächste Mal, wenn der Vater mit Briefen des Papstes zu Sultan Mehmet reiste, würde sie ihn bitten, Samen der KrappPflanze mitzubringen. Sie würde sie im Garten aussäen und der Mutter zeigen, dass die verschiedenen Farbtöne aus der roten Wurzel mindestens ebenso schön waren wie Schneckenpurpur. Wären die Schuhe nur schon fertig, dann könnte sie sie morgen anziehen, wenn sie die Lucrezia aus »Die beiden Liebenden« war. Aber die Schuhe waren nicht fertig. Sie würde sich in
Mutters Zimmer schleichen und eines ihrer französischen Kleider stehlen müssen. Wenn sie zur heißen Quelle ging, würde sie es anziehen. Andropolus wollte sie dort erwarten. Das hatte er versprochen. In aller Heimlichkeit würden sie in dem heißen Wasser baden, das aus dem Inneren des Monte Amiata kam, dem heiligen Berg der Etrusker. Bald stand die Sonne im Zeichen des Löwen. Dennoch war sie so müde, als wäre es bereits spät am Abend. Sie hörte Schritte auf der Treppe. Falls es wieder die Mutter war, würde sie ihr auch diesmal nicht öffnen.
A
nna stand nackt am offenen Fenster. Zwischen den hohen Zypressen sah sie den Mond am Himmel aufgehen. Sie hatte ein weißes Nachthemd mit Schneckensekret getränkt und ins Fenster gehängt, damit die ersten Sonnenstrahlen das Sekret in Purpurrot verwandelten. Vorsichtig hatte sie die Flasche mit dem wertvollen Saft auf die Fensterbank gestellt. Es war die Flasche, die für den Papst bestimmt gewesen war, die Flasche, deren Versiegelung sie aufgebrochen hatte, um Sankt Agathas Brüste zu malen. Den Rest des Sekrets hatte sie für das Nachthemd verwendet. Sie war allein im Schlafgemach, und die Nacht brach herein. An einer Schnur befestigt, bewegte sich das Nachthemd sachte im Wind. Sie hatte einen Pakt gebrochen. Etwas Unerlaubtes getan. Sie hatte die heilige Farbe verschwendet. Erst für Sankt Agathas Brust und dann für ihr Hemd. Der Purpur der Murexschnecke war allein dem Papst und seinen Kardinälen vorbehalten – das war die Absprache zwischen ihr und dem Vatikan. Doch der Papst kam ja nicht, um den Purpur zu holen, rechtfertigte sie sich. Er hatte sie enttäuscht. Beide hatten sie enttäuscht, der Papst und Lorenzo. Deshalb verspürte sie den Drang, das zu verschwenden, was ihnen am kostbarsten war. Sie lauschte. Doch alles war still. Niemand rief ihren Namen, keine Pferde, die sich näherten. Sirius ging auf. Es war schon die Zeit des Hundssterns. Draußen auf den Feldern war kein Mensch zu sehen. Nur weiße Schafsherden und Rinder, die am Flussufer weideten. Fackeln erleuchteten die Dörfer auf den Höhenzügen rund um das Tal, und schwache Winde strichen über die Berghänge. Sie hörte, wie der Wind, der Scirocco genannt wurde, in Büschen und Bäumen flüsterte. Er brachte Hitze und roten Sand aus der Wüste in Afrika mit sich. Der Scirocco konnte plötzlich stark werden. Sie sah es an den Bäumen, wie er an Kraft zunahm. Die Zypressen bogen sich,
der Baldachin über ihrem Bett flatterte im Luftzug. Die weiche Seide streifte ihre Schulter. Die Berührung des Windes an Armen, Brüsten und Hüfte glich einer Liebkosung. Sie ließ ihre Hand zur feuchtesten Stelle des Körpers wandern. Das Gesicht eines Mannes tauchte in ihren Gedanken auf. Sie gab sich dem hin und ließ sich aufs Bett sinken. Im selben Augenblick erfasste ein starker Luftzug das Nachthemd. Sie sah, wie es, vom Wind getragen, über die Mohnfelder davonschwebte und hinauf zum Sternenhimmel geschleudert wurde. »Ich fliege«, flüsterte sie.
Der Hirte, der inmitten der Schafe auf dem Feld stand, streckte die Arme zum Himmel empor, als sähe er einen Engel kommen. Der Wind wirbelte die trockene Erde auf, und Andropolus musste sich die Augen reiben, denn der Sand machte ihn blind. Im Licht des Mondes war er in Mysterien eingeweiht worden, auf die ihn niemand vorbereitet hatte. Eine nackte Frau in einem offenen Fenster – und dann wurde er vom Sand geblendet, als sei dieser Anblick nicht für ihn bestimmt gewesen. Als er die Augen öffnete, sah er die Frau auf sich zufliegen. Sie drehte und wand sich in der Luft, ekstatisch und wild, so als kämpfe sie darum, sich aus der hitzigen Umarmung des Windes zu befreien. Aber nach einer Weile, als der Wind in seiner Kraft nachließ, streckte sie sich aus wie ein Segel und ähnelte einem Engel. Es war ein Engel. Erneut reckte Andropolus die Arme in die Höhe, bereit, den Engel zu empfangen. Vielleicht kam er aus Konstantinopel, mit einem Gruß vom Vater! Einmal war dem Vater ein Engel erschienen und hatte ihm geraten, Andropolus weit
fortzuschicken. So weit, dass er nicht von den Türken gefangen genommen werden konnte und als Krieger im Heer des Sultans endete. Endlich besuchte der Engel auch ihn. »Ich bin hier«, rief er mit erhobenen Armen. Im nächsten Augenblick bekam er es mit der Angst und zog die Arme rasch zurück. Vielleicht brachte er eine Todesbotschaft? Andropolus sah vor sich das Gesicht des Vaters, den er liebte, aufgespießt auf einem Stock. Nein, so etwas wollte er nicht denken. Dieser Engel flatterte vor Freude! Er flog um des Fliegens willen und damit er ihm folgte. Gleich würde der Engel sich zwischen den Schafen niederlassen und ihm eine Freudenbotschaft verkünden. Vielleicht würde er die Nachricht von der Wiedervereinigung der Familie in einem freien Konstantinopel bringen. Hierhin und dorthin flatterte der Engel, bald auf die Zypressen zu, bald in Richtung des Olivenhains, der zum Pfarrhaus gehörte. Er warf sich herum, füllte sich mit Wind und verschwand gen Himmel. Andropolus lachte und lief hinterher. Ihm war, als würde auch er in die Luft gehoben. »Ein Engel, seht, ein Engel!«, rief er. Der Hund antwortete mit Gebell, die Schafe drängten sich zusammen und stoben über bucklige Hügel und durch lehmige Senken davon. Auf dünnen Beinen lief Andropolus barfuß vorbei an den Zypressen und der großen Eiche, während der Engel über den Baumkronen dahinsegelte. Als der Wind nachließ, fürchtete er, der Engel könnte herunterfallen und in der Krone des Olivenbaums im Pfarrgarten landen. Genau das geschah. Andropolus blieb außer Atem stehen und bekreuzigte sich mit drei Fingern. Der Hund legte sich zu seinen Füßen, sobald das Bimmeln der Schafsglocken verstummte. Es war, als warte
der ganze Sternenhimmel über ihm auf etwas. Was würde die Erde mit einem Engel machen? Er hörte Schritte und sah einen Schatten, der sich auf den Baum zubewegte. Er hörte das angestrengte Atmen eines Menschen. Eine gebückte Gestalt trat seinem Engel entgegen. Der Pfarrer kam vom Abendmahl. Andropolus verharrte und wurde Zeuge, wie er Gottes Wunder aus dem Baum befreite.
Eine Frau, flüsterte der Pfarrer, der auf einem Ast des Olivenbaums stand und die weiche Seide in den Händen drückte. Das war der Moment der Gottesgnade, auf den er gewartet hatte. Bald war sein Zölibat vorbei. Er würde Bischof werden. Das gute Leben wartete auf ihn. Es war, als trüge er bereits die Liebe zu einer unbekannten, wunderbaren Person in sich. Die Liebe zog in alles ein, was in seiner Nähe war. In den Mondschein, der sich über die Mohnfelder legte, in das Quaken der Frösche und das Singen der Zikaden unter den silbern schimmernden Olivenbäumen. Er ging durch den Olivenhain, das Nachthemd fest an die Brust gepresst.
Der Pfarrer konnte nicht schlafen. Das Mondlicht schuf unheimliche Reflexe im Zimmer, und der Wind spielte mit dem Seidenkleid, das er in die offene Tür gehängt hatte. Dahinter konnte er die Schafe auf den toskanischen Hügeln weiden sehen. Im bleichen Licht des Mondes starrte er auf sein nacktes Spiegelbild. Was er sah, war ein vom Teufel verhöhntes Gottesgeschöpf. Er war nicht nach dem Bilde Gottes geschaffen, dachte er. Das Schöne, das die Welt erlöste, war ihm von Natur aus nicht gegeben. Gott stellte ihn auf die
Probe und verspottete ihn, weil er es nicht schaffte, seine Scham zu bekennen. Wieder und wieder stieg der Gedanke in ihm auf, dass die Besessenheit sein Wesen verdreht hatte. Diese Besessenheit, in den Schoß einer Frau zu dringen, war unmöglich durch Beichte und Gebet aufzuhalten. Eine Kreatur wie er konnte die Einheit mit Gott nicht erreichen. Er war auf sich selbst und sein Spiegelbild verwiesen, in dem er Gottes Schöpfungswerk durch einen Schleier von Scham sah. Des Pfarrers Hände legten sich auf den Schritt und verbargen das aufgerichtete Glied, damit das Spiegelbild nicht zeigte, was das Glied des Teufels sein musste. Nicht eine Nacht verging, ohne dass er Gott fragte, ob es Er oder Satan war, der ihn in diese Sünde hineinlockte. Er strich mit der Hand über den Stoff und fühlte die weiche Seide unter den Handflächen. Bei der Berührung war ihm kurz zumute, als seien seine Gebete erhört worden. Das Kleid und auch der Besuch des Papstes im Tal schienen sichere Zeichen, ebenso wie das Versprechen Seiner Heiligkeit, ihn zum Bischof von Corsignano zu machen. Seine Hände umschlossen das Kleid, als besäße es heilende Kräfte. Sein Blick streifte das Spiegelbild, und er sah seine Männlichkeit geschwächt. Der Ausdruck in seinen Augen war sanft wie der einer Frau. Er verabscheute diesen Anblick und doch tröstete er sich damit, dass man über sein Gesicht sagte, es lasse Frauen ihre Sünden ohne Vorbehalte bekennen. Schwach und erbärmlich, ergeben und unterwürfig gaben sie die Macht über sich selbst weg. Er verachtete sie dafür. Doch er rührte sie niemals an. In ihm schwelte noch immer das unbehagliche Gefühl, dass es Macht über ihn hatte. Er konnte ja nie sicher sein, ob es Gott war oder der Teufel, der ihn vom Zölibat befreien wollte. Aber konnte der Teufel hinter diesem süßen Gefühl stecken, das ihn erfüllte, wenn er das Kleid einer Frau berührte? Für dieses
Ziehen, das auf die Berührung folgte, trug sicher Satan die Schuld – ein Ziehen, das den Puls in seinen Lenden pochen ließ. Auf dem Fußboden lag seine schwarze Katze und starrte ihn an. Plötzlich rollte sie sich geschmeidig auf den Rücken und schrie, so als lachte sie ihn aus. Er griff die Katze am Nackenfell und schleuderte sie gegen die Wand. Sie hatte versucht, ihn zu beherrschen. Oft kam die Katze nachts zu ihm und legte sich in sein Bett. Jetzt kauerte sie zwischen zwei Stuhlbeinen und ließ ihn nicht aus den Augen. Er war sicher, dass sie gelacht hatte. Nun lachte sie nicht mehr. Die anmutigen Bewegungen des Gewandes, wie es da in der Tür hing mit dem Sternenhimmel als Hintergrund – es war Gott, der ihm eine Frau schicken wollte, daran zweifelte er nun nicht mehr. Es war ein Vorbote, deshalb musste er auf der Hut sein. Das kleinste Geräusch veranlasste ihn, auf Schritte zu lauschen. Leichte Schritte. Von Füßen, die nie zuvor die Erde berührt hatten. Manchmal in dieser Nacht war ihm, als hörte er sie, und er eilte wieder und wieder zur offenen Tür, um erneut das Kleid zu berühren. Ein Duft haftete daran. Er wusste nicht, warum dieser Geruch ihn derart aufwühlte, aber er ließ ihn weinen und um Gnade und Vergebung beten. Als die Sonne über die Bergkämme stieg und das Kleid mit ihren Strahlen durchbohrte, sah er die zarte Gestalt endlich kommen, so leichtfüßig, als schwebte sie. Von der Sonne auf dem Seidenstoff geblendet, erschien dem Pfarrer der Anblick überirdisch, ja unwirklich. Er musste die Augen zusammenkneifen, um die Erscheinung nicht aus dem Blick zu verlieren, und in einem Schleier aus glühendem Licht sah er eine Frau in einem lose herabhängenden Gewand an der Tür stehen. Und dann, so als wollte Gott das Wunder vollkommen machen, wechselte das himmlische Kleid vor seinen Augen die
Farbe. Langsam färbte es sich purpur, vergoldet von den Strahlen der Sonne. Das war ein Wunder. Das Einzige, was den göttlichen Anblick störte, war ein Hund, der um die Beine der Frau strich. Die Katze fauchte und der Pfarrer trat nach ihr. Vom Miauen und Knurren der Tiere unangefochten, faltete die junge Frau die Hände und sank vor dem Kleid auf die Knie. Glaubte sie, das Kleid sei ein Beichttuch und der Pfarrer verlange ein Sündenbekenntnis von ihr, bevor sie die Seine wurde? Er hielt den Atem an und wartete. Es wäre besser gewesen, wenn das Kleid nicht dort gehangen hätte, dann hätte er sofort seine Blicke auf sie heften können. »Ich dachte, der Herr Pfarrer hätte den Engel gekreuzigt. Ich bin gekommen, ihn zu retten«, sagte eine helle Stimme. »Jetzt sehe ich, dass der Herr Pfarrer nur das Kleid gekreuzigt hat. Ist der Engel nun nackt?« »Bei mir ist kein Engel. Falls du nicht ein Engel bist.« »Ich habe doch gesehen, wie er im Olivenhain landete«, entgegnete die schmächtige Gestalt. Der Pfarrer war überwältigt von der Unschuld des Mädchens und versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, während er gleichzeitig auf den Dialekt horchte – die helle, schöne Stimme sprach mit einem unbestimmbaren Akzent. »Bist du sicher, dass du einen Engel gesehen hast?«, fragte er und beugte sich vor. »Es war der Engel, der mich aus Konstantinopel hierher ins Tal der Orcia geführt hat. Er ist meinem Vater erschienen und riet ihm, mich fortzuschicken, damit ich nicht in die Hände der Türken falle. Ich kam mit einem venezianischen Schiff hierher. Heute Nacht habe ich das Wunder selbst gesehen, von dem mein Vater damals sprach. Sicher wollte er mir durch den Engel etwas mitteilen. Könnt Ihr mir helfen, es zu deuten?«
Voll Anteilnahme überlegte der Pfarrer, was er dem Mädchen sagen sollte. Dass das Wunder lediglich ein Kleid und dieses Kleid ein Zeichen Gottes für ihn selbst war? Den Engel, von dem das Kind sprach, hatte der Pfarrer zwar nicht gesehen, dennoch war es möglich, dass er ihm das Mädchen mithilfe des Kleides geschickt hatte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Ihm wurde heiß und kalt. Die Geschehnisse zeigten, dass Gott Anteil an seinem Schicksal und seinem Heil genommen hatte. Der Herr war ihm nahe. Und doch streifte ihn wieder der Gedanke, dass Gott ihn vielleicht auf die Probe stellen wollte. Ob das Mädchen eine Versuchung des Satans und gar kein Gottesgeschenk war? »Ich verstehe nichts von Engeln«, sagte die helle Stimme. »Deshalb dachte ich, dass der Herr Pfarrer, der alles über Engel weiß, mir helfen könnte.« Er wollte alle Wünsche erfüllen, die das Mädchen haben mochte. Er fühlte sich verloren. Was wusste er denn schon, wenn es wirklich darauf ankam? »Darf ich das Engelskleid anfassen?«, fragte das Mädchen. »Nur ganz vorsichtig unten am Spitzensaum?« Der Engel war für den Pfarrer unsichtbar gewesen. Das Gewand hatte seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Doch wo war der Engel jetzt? Bei den Hirten auf dem Feld? Er sah ihn nirgends. Hatte dieses Stück Stoff ihn vielleicht blind gemacht für Gottes Engel? Nein. Das durfte nicht sein. Es war ein göttliches Zeichen. Das Mädchen, das Kleid und der Engel, das alles trug in sich den Keim zu einem neuen Leben. Der Pfarrer stand da und lauschte. Es war vollkommen still. Das Mädchen streckte die Hand nach dem Spitzensaum des Kleides aus. Wie gern hätte der Pfarrer diese braune, breite Hand ergriffen. Er blieb stehen, ohne sich zu rühren, und hielt den Kopf gesenkt. Er gab keinen Laut von sich.
»Ich bin erst dreizehn«, sagte der hübsche Hirtenjunge, der vor ihm stand. »Mein Name ist Andropolus.« Aber der Pfarrer, blind vor Verliebtheit, sah nur ein junges Mädchen.
S
ie steigt in mir auf«, flüsterte Lorenzo. »Die Dunkelheit treibt mich in den Abgrund.« Er wollte, dass sie ihn festhielt. Seit Stunden lag er dicht an sie gedrückt. Annas Gemahl war der Waffenträger von Papst Pius und seine Leibwache, niemand durfte je erfahren, dass er Angst hatte. Anna vermutete, dass es die Angst vor dem Schlachtfeld war. Der Papst plante einen Kreuzzug gegen die Türken, auf Kriegsschiffen gebaut mit Eichenholz aus dem Val d’Orcia. Seit vielen Jahren hörte sie morgens, wenn sie erwachte, die Schläge der Holzfäller. Es wunderte sie, dass eine Kriegsflotte jeden einzelnen Baumstamm im Tal benötigte. Der Papst wirkte viel mehr wie ein Kaiser als wie ein geistlicher Mann, dachte sie. Wohin er sich auch begab, machte man viel Aufhebens um ihn. Seine Visionen handelten eher vom Irdischen als vom Himmlischen. Bei dem Mann, der in ihren Armen lag, suchte Papst Pius strategischen Rat. Lorenzo kannte die erbarmungslosen Türken von der Schlacht um Konstantinopel. Sie war vom Hufschlag der Pferde erwacht. Es war sehr spät, als er zu Anna kam, und er war erst eingeschlafen, als die Nacht schon in den Tag hinüberglitt. Er hatte sie haben wollen, doch sie hielt ihn zurück. »Du musst warten«, bat sie ihn. Jetzt lag er mit dem Gesicht an ihrer Brust. Er atmete schwer, und sein Atem roch nach Wein. Nun war er also doch gekommen, allein. Er würde nicht lange bleiben, das wusste sie. In Gedanken sah sie vor sich, dass sie nur eine von vielen Frauen war, zu denen er ging, um seine Angst zu betäuben. Eine von denen, die er nachts aufsuchte. Die Angst machte ihn fern und unnahbar. Das war nicht der Lorenzo, den sie einmal gekannt hatte, der, der er gewesen war, als sie ihn zum ersten
Mal traf. Damals war sie siebzehn gewesen, eine Jungfrau mit rotem Seidenband im Haar. Lorenzo schlief. Sie sah sich zu Nächten voller Einsamkeit verdammt. Lorenzo war doch ohnehin immer an der Seite des Papstes, er hätte sie ebenso gut ins Kloster bringen können, wo er sie einst gefunden hatte. Sollte sie etwa die Süße der Hingabe nur unter der Wärme ihrer eigenen Hände spüren? Sie erinnerte sich noch einmal an das Wunder der letzten Nacht und lächelte bei dem Gedanken an den Flug des Nachthemdes über die Landschaft. Sie sah es vor sich in einem Olivenbaum hängen, nicht mehr weiß, sondern von den Morgenstrahlen der Sonne purpurrot gefärbt. Was die Landarbeiter wohl denken mochten, wenn sie es fanden? Das Geräusch von Axthieben weckte Lorenzo. »Sie kommen näher«, sagte er und sah an ihr vorbei. »Den Wald meines Großvaters, den Olivenhain meines Vaters und meinen eigenen Weinberg – die Geschichte einer ganzen Familie verwandelt Aeneas in einen See«, flüsterte er. »Lorenzo! Schlaf.« »Er holt mich weg von dir.« »Wer holt dich weg?« »Bald fällt der letzte Baum!« »Es braucht lange, bis Bäume zu Schiffen werden«, sagte Anna und strich ihm über die Wange. Einst waren diese Bäume zum Schutz gegen den Scirocco und den eiskalten Tramontana aus dem Norden gepflanzt worden, und nun sollte sogar der Baum des Dichters Dante, den alle im Tal so liebten, Teil eines Kriegsschiffs werden. Es hieß, dass der Baum Dante Zuflucht vor den rauen Winden geboten hatte, als er aus Florenz gewiesen worden war und sich im Tal niederließ. »Wie kann Pius Dantes Baum schänden? Er, der doch selbst ein Dichter ist«, sagte Lorenzo.
»Er war Dichter. Er ist es nicht mehr.« »Die Dunkelheit steigt«, sagte er mit einer Stimme, in der die Furcht eines Kindes lag. Anna hielt ihn. Sie versuchte, seinen gehetzten Blick einzufangen, während sie die Hand auf seine Stirn legte. »Der Fluss wird nie aufgestaut werden«, versicherte sie ihm zum wiederholten Male. »Der Papst ist nicht Gott. Der Damm ist nur ein Traum von ihm.« »Du irrst dich«, sagte Lorenzo. »Der Fluss wird aufgestaut. Letzte Nacht in Abbadia San Salvatore, als ein Vogelschwarm sich im Klostergarten niederließ, kam ihm die Idee, einen Damm zu errichten. Der Schwarm der Wildenten hatte ihn geweckt und ihm einen Wunsch in Erinnerung gebracht, den er schon als Kind gehabt hatte. Er will das Wasser im Val d’Orcia aufstauen, um die Zugvögel zu halten. Ich habe ihm zugehört und geglaubt, er erzähle nur von einer fixen Idee aus der Kindheit.« Aber während des Papstdiktates am nächsten Tag begriff Lorenzo, dass dieser Wunsch nun umgesetzt werden sollte. Er hörte mit an, wie der Papst einen detaillierten Plan von einem Stausee unterhalb der Mauern Corsignanos beschrieb. Der See würde das gesamte Werk krönen, wenn die Arbeiten an der Geburtsstadt abgeschlossen waren, bereit, zu Ehren Pius’ II. eingeweiht zu werden. Noch am selben Morgen wurde Lorenzo nach Corsignano geschickt, um die Architekten Bernardo Rossellino und Leon Battista Alberti mit den Plänen vertraut zu machen. Rossellino sollte eine Skizze anfertigen, damit der Papst sich vorstellen konnte, wie seine Vision sich ausnehmen würde. Obwohl durch Krankheit geschwächt, war Papst Pius am selben Morgen zeitig den steilen Weg von Abbadia San Salvatore hinuntergeritten und hatte sich in einer Sänfte die Via Francigena entlangtragen lassen, um das Erdreich im Tal in
Augenschein zu nehmen, das den Grund des Sees bilden würde. »Ich habe euch zugewinkt«, sagte sie. »Ich dachte, ihr wärt auf dem Weg zu uns.« »Das war auch Pius’ Plan, doch wegen seines Zustandes riet ich, unseren Weg fortzusetzen. Wir mussten vor Einbruch der Dunkelheit die Flussmündung bei Bagno di Vignoni erreichen, dort soll gestaut werden. Auf dem Weg dorthin kannte der Papst kein anderes Thema als den See und die Möglichkeiten für die Einwohner, zu fischen und Vögel zu fangen. Die Olivenhaine werden überschwemmt. Er nimmt mir meinen Grund und Boden«, sagte er leise und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Anna kannte den Papst und wusste, dass er von seinen Visionen besessen war. »Der Stausee soll ein Schutz vor feindlichen Invasionen aus dem Süden sein. Er nimmt keine Rücksicht darauf, wem das Land gehört«, flüsterte Lorenzo. »Er will sicher die Via Cassia zwischen Rom und Siena vor Räubern schützen«, sagte Anna. »Die Banden, die ihr Unwesen an der Küste der Maremma treiben, ziehen bis weit hinauf ins toskanische Hochland und plündern und machen die Menschen zu Sklaven.« »Er hat Angst vor den Araberhorden, die das Kloster Abbadia San Salvatore geplündert haben. Auch er hat Angst«, flüsterte Lorenzo. »Sogar der große Aeneas Silvius Piccolomini hat Angst.« Sie wussten beide, wenn Papst Pius es wünschte, würde Wasser sein, wo zuvor Erde war. Lorenzo war jünger als Pius. Beide stammten aus adeligen Geschlechtern in Siena, die ihre Macht und ihren politischen Einfluss verloren hatten. Aus der Stadt vertrieben, hatten sich ihre Familien in Corsignano eingefunden. Die Familie der
Piccolomini besaß große Teile der Stadt und des Tals, während Lorenzos Familie auf dem alten Familienlandsitz etwas weiter südlich im Tal lebte. Man überließ es dem zwei Jahre älteren Aeneas Silvius, Lorenzo zu unterrichten. Anna hatte sich über Lorenzos Geschichten amüsiert, wie Aeneas sein Interesse für Altgriechisch und Latein geweckt hatte. Wie die beiden im hohlen Eichenbaum Dantes Werke auf Toskanisch gelesen und anschließend zusammen mit den Bauernmädchen in den Schwefelquellen gebadet hatten. Die Liebe zu den antiken Schriften und der üppigen Schönheit des Tales hatte sie miteinander verbunden. Als Aeneas nach Basel reiste, um persönlicher Ratgeber Kaiser Friedrichs zu werden, sandte er einen Boten, um Lorenzo in seine Dienste zu holen. Der Kaiser hatte vorausgesagt, dass Aeneas Silvius Piccolomini eines Tages auf dem Stuhl des heiligen Petrus sitzen würde. Die Weissagung hatte bei Lorenzo und Aeneas für große Heiterkeit gesorgt. Lorenzo erzählte Anna, wie sie gelacht hatten, bis sie sich auf dem Boden wälzten, denn beide wussten, dass keiner weniger zum Kardinal geeignet war als Aeneas. Bei seinem freizügigen Leben und seinen berüchtigten Weibergeschichten! Ganz Europa kannte Aeneas als Verfasser erotischer Schriften. Ein Jahr nach seiner Liebesbeziehung zu einer englischen Frau namens Elizabeth hatte er das Buch »Die beiden Liebenden« geschrieben. Es handelte von der Sieneserin Lucrezia, die ihren Mann mit Kaiser Sigismunds Freund und Offizier betrügt, im Hause ihres Gatten. Die Geschichte von Lucrezia und Euryalus hatte viele Menschen unterhalten und viele verschreckt. Kritische Stimmen behaupteten, der Papst habe durch das leidenschaftliche Weibsbild Frauen zur Untreue angestiftet.
Für die männliche Hauptfigur des Buches hatte Graf Kaspar Schlick aus Nürnberg als Vorbild gedient. Viele beschuldigten Aeneas Piccolomini der Indiskretion, da er mit der Widmung des Buches auf ihn hingewiesen habe. Kaiser Friedrich erkor Aeneas zu seinem Hofpoeten. Nicht aufgrund der erotischen Schriften, sondern wegen seiner schönen poetischen Verse und eines Buches über Kindererziehung, das der Kaiser bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Er bat Aeneas, der Weissagung Glauben zu schenken, dass er eines Tages auf dem Heiligen Stuhl sitzen und regieren werde. »Er lebt wie auf einer Bühne«, sagte Lorenzo. »Die Segnungsreise war wie ein Schauspiel. In Viterbo huldigte ihm das Volk, als sei er Gott persönlich. Die Stadt war ihm zu Ehren mit Palmenzweigen und edlen Stoffen geschmückt. Was weiß er denn vom Kreuzzug? Er, der nur Prozessionen durch ehrfürchtige Volksmassen kennt, die sich vor ihm in den Staub werfen. Was weiß er von Horden, die sich mit gezücktem Schwert aufeinander stürzen? Was weiß er vom Gestank nach Blut und Leichen? Er hat keine Ahnung, was es heißt, in den Krieg gegen einen Herrscher zu ziehen, der niemals verhandelt und sich nur mit seinen Sklaven umgibt. Niemals habe ich größere Furcht empfunden als bei der Begegnung mit türkischen Janitscharen. Für die bedeutet der heilige Papst gar nichts. In einer Schlacht zu sterben empfinden sie als Ehre.« Anna hörte den heiseren Ton in seiner Stimme. Er sprach zu ihr, als wäre sie jemand anderes, ein Mann von seinesgleichen. »Er sieht den Tod nicht«, fuhr er fort. »Er sieht auch die nicht, die in seinen Spuren sterben. Er selbst ist ständig auf der Flucht vor dem Tod. Während unseres Aufenthaltes in Viterbo starben unzählige Einwohner an der Pest. Wir tragen die Pest weiter in alle Orte, durch die wir ziehen.« »Du machst mir Angst«, sagte Anna.
»Mir fehlt nichts. Aber einige meiner Freunde hat in Rom die Pest befallen, bevor wir auf die Segnungsreise gingen. Sie sind in Viterbo gestorben. Mir tun die Unglücklichen Leid, die der Papst in Viterbo gesegnet hat. Viele von ihnen werden das Ende des Sommers nicht erleben. Seit wir Abbadia San Salvatore hinter uns gelassen haben, hat sich keiner von uns Gefolgsleuten an das Quarantänegesetz gehalten.« »Wie ist es um die Gesundheit des Papstes bestellt? Geht es ihm gut?« »Er ist niemals frei von Schmerzen, aber er nimmt heiße Bäder in den Quellen, um sich zu kurieren. Anschließend sitzt er mit den Kardinälen zusammen und schmiedet Pläne.« »Ja. Bald ist Corsignano bereit, seinen Segen zu empfangen«, sagte Anna. Durch den grauen Morgendunst konnte sie hoch oben über dem Tal die Stadt sehen. Die Kirche war fertig. Niemand hatte Aeneas Silvius jemals an der Verwirklichung seiner Träume und Visionen gehindert, dachte Anna. Nur seine Gier nach der purpurnen Tinte übertraf den tollkühnen Plan, das Tal zu überfluten. Sie war seine vorderste Speerspitze im Kreuzzug gegen das Osmanische Reich. Mit Purpurtinte hatte er an Sultan Mehmet geschrieben und ihn aufgefordert, sich zum Christentum zu bekennen, damit Europa geeint werden konnte. Wie einst Kaiser Konstantin hatte er die rote Purpursignatur benutzt, um den Sultan zu demütigen. Lorenzo selbst war der Kurier gewesen, der den Brief überbrachte. »Zehn Jahre sind seit der Schlacht um Konstantinopel vergangen. Glaubst du, der Papst wird Erfolg mit seinem Kreuzzug haben?«, fragte Anna. Lorenzo schüttelte den Kopf. »Es wird das schlimmste Blutvergießen geben, das man sich vorstellen kann. Ich habe
mit angesehen, wie Mehmet nach seinem Sieg Kaiser Konstantin tötete, diesen Anblick werde ich nie vergessen.« Wieder sah Anna die Angst ihres Mannes. Vielleicht hatte auch Pius diese lähmende Furcht gesehen, wenn Lorenzo von der Schlacht sprach, genau wie sie. Dennoch behielt ihn der Papst in seinen Diensten. Sie fühlte Dankbarkeit für seine Großmut. Er war immer noch Lorenzos Beschützer. Lorenzo war eingeschlafen. Vielleicht war er auf einer seiner weiten Reisen, bei Menschen, denen sie nie begegnen würde. Er murmelte undeutliche Worte im Schlaf, etwas von einem »Nadelöhr für das Schwert«. Er träumte vom Krieg. Anna richtete sich im Bett auf und starrte über das Tal hinweg. Unendlich schön eingehüllt im Morgendunst, lag dort oben die Stadt des Papstes. Während Pius mit dem Geld des Vatikans baute, hatte Lorenzo sein Anwesen mit eigenen Mitteln errichtet. So wunderhübsch gelegen, war es Lorenzos Beitrag zur Schönheit des Tals, und mancher Besucher Corsignanos wandte der Stadt den Rücken zu, um sich am Anblick des Gutes zu erfreuen. Aber die Aussicht von hier stand dem in nichts nach. Die Morgennebel lagen schwellend wie Wasser über der Talsohle. Es schien, als ob die Bergkuppe, auf der das Haus stand, darin schwamm. Bald würde es so sein, bald würde der Bergrücken vom See umgeben sein und sie von der Außenwelt isolieren. Anna lächelte bei dem Gedanken daran, dass der Hof jedes Mal wie eine Insel im Zentrum von Aeneas’ Blickfeld liegen würde, wenn er niederkniete und Gott darum bat, sein Verlangen nach ihr zu mildern. Über Papst Pius’ leidenschaftliche Gefühle für Anna fiel zwischen ihr und Lorenzo niemals ein Wort. Ihre letzte gemeinsame Nacht war in Tivoli im Juli des vergangenen Sommers gewesen. Die Nacht, in der Pius davon
erzählt hatte, wie Mehmet seine Geliebte getötet hatte. Die Nacht, in der Lorenzo darauf bestand, dass sie am nächsten Tag nach Hause fuhr, ganz gleich, was der Papst wünschte. Niedergeschlagenheit erfüllte seine Stimme, als er ihr sagte, dass er damit rechnete, vom Papst an die vorderste Front befohlen zu werden, wenn die Schlacht gegen Sultan Mehmet begann. »Dort werde ich sterben. Als ein Schild für Papst Pius.« Sie erinnerte sich deutlich an diese Worte und daran, wie er sie sagte. Am nächsten Morgen war sie von den Soldaten des Vatikans ins Val d’Orcia geleitet worden. Nach der Nacht in Tivoli war er nicht mehr zu ihr gekommen, obwohl sie immer wieder darum gebeten hatte. Nicht einmal, als sie fürchtete, Lucrezia würde nach dem Unfall sterben. Sie stieg aus dem Bett und trat ans offene Fenster. Lorenzo merkte nicht, dass sie ihn verließ. Doch als er sich herumwarf und im Schlaf stöhnte, legte sie sich wieder neben ihn und strich ihm übers Haar, um ihn zu beruhigen. Obwohl er sie im Stich gelassen hatte, konnte sie in seinen Zügen immer noch eine Unschuld erkennen, die sie schon immer angerührt hatte. Ihr wurde klar, dass es diese Eigenschaft war, die sie veranlasst hatte, sich ihm hinzugeben. Je älter er aber wurde und je mehr seine Furcht wuchs, desto seltener nahm sie diesen Zug an ihm wahr. Während Lorenzo schlief, lag sie da und ließ vor ihrem inneren Auge den Stausee erstehen. Sie sah vor sich, wie er sich über das Tal ausbreitete und den Hof in eine Insel verwandelte. Sollte Papst Pius im Siegestaumel aus Konstantinopel zurückkehren, würde er ohne seinen Freund und Waffenträger in der Loggia des Palastes stehen. Von dort aus würde er über das Wasser schauen, das Lorenzos ertrunkene Olivenhaine und Weingärten verbarg, und den Blick auf die Insel richten, wo die Zugvögel brüteten. Sein
See. Seine Insel. Und sie. Sie malte sich einen Abend kurz vor Sonnenuntergang aus, wenn der See ganz still lag, stellte sich vor, wie Pius ihr einen Korb voller Trauben und Feigen bringen würde, um ihn gegen Purpur einzutauschen, die Farbe des Sieges, die jedem siegreichen Kaiser gebührte. Sie wusste es. Sie hatte es immer gewusst, vom Tage ihrer Ankunft an. Sie waren nicht zu zweit, sie waren zu dritt. Anna, Lorenzo und Papst Pius. Die Rituale, die die Übergabe des Purpurs begleiteten, hatten es bestätigt. Sie sollte die Flasche mit der Purpurtinte persönlich überbringen, hatte der Papst verlangt, ohne dass jemand anderes zugegen war als seine engsten Vertrauten. Gut bewacht hatte man sie nach Rom gebracht, zur Audienz im Vatikan. Sie wurde durch die Bronzetür im rechten Kreuzgang zu seinem Empfangszimmer geführt, weiter durch prachtvolle Räume dieses apostolischen Palastes. Schließlich ließ man sie ein in die Bibliothek des Papstes. Dort erfolgte die Übergabe. Seine Heiligkeit saß ihr an einem Schreibpult direkt gegenüber. Gekleidet in ein purpurrotes Gewand, eine rote Stola, rote Schuhe und eine rote Kalotte. Anna trug ein schwarzes Kleid und einen dünnen, perlenbesetzten Schleier vor dem Gesicht. Über seine Schulter hinweg sah sie die Aussicht hinter dem Fenster, da lagen Rom und der Tiber und in der Ferne, kaum zu erahnen, die Berge. Er hatte ihre Hand ergriffen und undeutliche Gebete geflüstert, als sie ihm die kleine Flasche mit der Purpurtinte überreichte. Mit halb geschlossenen Augen starrte er auf ihr Gesicht hinter dem durchsichtigen Schleier. Antike Goldmünzen mit dem Siegel Cäsars wurden ihr in die Hand gelegt. Später, während der Mahlzeit, die sie in seinem privaten Speisezimmer einnahmen, saß Lorenzo neben ihr. Der Papst liebte es, davon zu erzählen, wie sein Schiff vor der englischen Küste abgetrieben war und die Strömung ihn an die
Westküste Norwegens geführt hatte, direkt dorthin, wo sie geboren war. Wie er Schiffbruch erlitten hatte und norwegische Seefahrer ihn retteten und ihm erzählten, dass auf den weit draußen im Meer gelegenen Inseln Purpur aus den Nucella-lapillus-Schnecken gewonnen wurde. Er hatte sich Längen- und Breitengrad und die Stellung der Kompassnadel gemerkt, und später hatte er Lorenzo gebeten, die Reise übers Meer zu wiederholen und das Purpursekret in den Vatikan zu bringen. Ohne sich zu bereichern, hatte sie in all den Jahren, die sie jetzt Lorenzos Ehefrau war, den Papst aus ihrem Vorrat versorgt. Jedes Mal, wenn sie dem Papst begegnete, vergewisserte er sich, dass sie das Gefäß mit dem Schneckensekret, das er für seinen Triumphzug entlang der Via Sacra brauchte, gut hütete. Er wollte es haben, wenn er den Sieg über Mehmet, den Kalifen von Konstantinopel, errungen hatte. Zu keinem anderen Zweck, als sich zum Zeichen seiner Macht die Stirn mit Purpur zu bestreichen, so wie es in der Antike der Imperator und Höchste Priester getan hatte, wenn er aus seinen großen Schlachten siegreich nach Rom zurückkehrte. In einer Prozession war man einst die Via Sacra vom Forum Romanum zum Capitol hinaufgezogen, wo man im Jupiter-Tempel dem Göttervater opferte. Die Purpurfarbe in den Gewändern der Kardinäle hatten ihren Ursprung in den Siegesritualen dieser Höchsten Priester, erklärte Papst Pius. Sie hatte gefragt, ob er beabsichtige, wie die vorchristlichen Kaiser den heidnischen Göttern zu opfern, nachdem er den Kalifen von Konstantinopel vom Thron gestoßen haben würde. Ihre Frage belustigte ihn. »Im Gegenteil«, antwortete er. »Ich will feiern, der Pontifex Maximus geworden zu sein, der größte Brückenbauer zwischen Himmel und Erde.« Als der Papst und Lorenzo am Nachmittag nach Bagno di Vignoni zogen, ohne sie mit ihrem Besuch zu beehren, war
ihre Enttäuschung so groß gewesen, dass sie das Kostbarste vergeudet hatte, was sie besaß. Man hatte sie zu lange warten lassen. Sie hatte nicht einmal empfunden, dass sie eine Grenze überschritt, als sie die Seide mit Purpursekret tränkte. Erst als sie sich zum Schlafen niederlegte, empfand sie Schuld für das, was sie getan hatte. Da kam die Reue. Sie kannte sich selbst nicht so gut, wie sie gedacht hatte. Zorn und Bitterkeit hatten sie verführt, den Treueid, den sie dem Papst geleistet hatte, zu brechen. Was sollte sie tun, wenn das Purpursekret aufgebraucht war? Eines Tages würde es ja so weit sein, dachte sie. Sie war unlösbar an das Leben als Färberin gebunden. Der Saft der kleinen Schnecken verlieh ihrem Dasein eine Bedeutung. Ohne Purpur würde sie nicht länger ein Teil der abenteuerlichen Welt des Papstes sein. Ihr Leben wäre auf das Fleckchen Erde rund um den Hof beschränkt, und man würde sie vergessen. Wie hatte sie so leichtsinnig sein können, ihr Gelöbnis zu brechen und das Sekret für sich selbst zu verwenden? Und wo war das Nachthemd? Sie würde die Mägde aussenden, danach zu suchen. Sie merkte, dass sie in der Zugluft des offenen Fensters fror, und dachte, dass sie das Vertrauen des Papstes nicht verdiente. Sie hatte ihr Treueversprechen gebrochen, weil sie sich gedemütigt gefühlt hatte. Als sie Aeneas vor fast vierzehn Jahren zum ersten Mal begegnete, damals war er noch Bischof von Triest, hatte er angenommen, sie würde ihm ihren ganzen Schatz an Schneckensekret überreichen. Er hatte geglaubt, sie sei Nonne und die Krüge mit dem Sekret seien Eigentum des Klosters. Er meinte, es gehöre dem Vatikan, weil das Kloster der päpstlichen Autorität unterstand. Er hatte es für selbstverständlich erachtet, dass das gesamte Sekret in den Kellergewölben des Vatikans aufbewahrt werden sollte. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass sie keine Braut Christi und
das Purpursekret keine Mitgift an das Kloster war, sondern dass sie es als Mitgift in die Ehe mit Lorenzo eingebracht hatte. Das Zusammenwirken von Weinsalzen, Temperatur und Dauer des Wasserbades in Verbindung mit der Einwirkung der Sonne auf die Farbe gehörte zu dem Geheimwissen, das sie ganz allein besaß und das sie niemals irgendwelchen Mönchen des Vatikans überlassen würde. Sie bat den Bischof, ihren Fähigkeiten als Färberin zu vertrauen, und leistete einen Eid, das Purpursekret in Zukunft nur für Kirchenzwecke zu verwenden. Sie hatte auf Ehre und Gewissen versprochen, ihm purpurgefärbte Stoffe zu liefern, wann immer es ihn danach verlangte. Als er zum Papst ernannt wurde, bat er sie, ihm kleine Flaschen mit Tinte aus Purpursekret zu überlassen. Diese Tinte war es, die sie ihm persönlich in den Vatikan brachte. Jedes Mal, wenn er sich mit ihr unterhielt, war sein Blick forschender geworden. Sie hatte sich erhoben gefühlt durch diese Gespräche, bei denen er von »Den blutroten Männern aus Tyros« aus vorchristlicher Zeit erzählte, Männern, die an den Küsten des Mittelmeeres entlangsegelten und die Farbe Sarranus aus Palästina mitbrachten. Es war der Purpur, der den Papst mit ihr verband. Sie vermisste ihre Treffen. Anna drehte sich um und betrachtete Lorenzo, der neben ihr im Bett lag, unsicher, ob er immer noch schlief. Sie verspürte den Drang, ihn zu beschützen, wusste jedoch, dass sie nichts tun konnte, um zu verhindern, dass er beim Kreuzzug des Papstes den Tod fand. Sie beide waren machtlos gegenüber dem Dichter, der zu Gottes Stellvertreter auf Erden geworden war. Er hatte sie in seiner Gewalt. Die Sonne zeigte sich über den Bergrücken im Osten. Ein Fasan flog auf und landete nach wenigen Flügelschlägen in einer Zypresse. Aus dem Stall hörte sie das Muhen der Kühe
und das Schwatzen der Knechte und Mägde. Die Geräusche des erwachenden Lebens dort draußen machten die Stille fast nicht mehr spürbar. Auf ihrem Nachttisch lag das Buch »Della Famiglia« von Leon Battista Alberti, und in einer Kiste unter dem Bett verbarg sie das Buch von den zwei Liebenden, das sie in aller Heimlichkeit las. Während Lorenzos langer Abwesenheit hatte sie sich ihre eigene Welt geschaffen, eine Welt, in die der Dichter mit seinen Erzählungen Einzug gehalten hatte. Aeneas’ Lucrezia war ihr ein Vorbild geworden, hatte sie mutig und lebendig gemacht. Es war diese Lucrezia gewesen, die sie dazu gebracht hatte, ihren eigenen Körper zu berühren. Aber wenn sie ihren Gefühlen nachgab, das wusste sie, würde es keinen Weg zurück geben. Das galt auch für den Papst. Das dichterische Schaffen in seiner Jugend bedrohte seine Position. Er hatte die Worte in die Welt gesetzt und konnte sie nicht wieder zurücknehmen. Manche liebten, was er geschrieben hatte, andere verachteten es. Anna schloss die Augen. Sie sah das Gesicht des jungen Aeneas Silvius vor sich. Ein Gesicht, das geheime Sehnsüchte barg, die er doch nie würde zu Papier bringen können, seine Berufung untersagte es ihm. Sie wusste, dass er sie, Anna, zu seinem Traum gemacht hatte. Aber was sie für ihn fühlte, war nicht die Liebe einer Frau zu einem Mann. Sie war angezogen vom Wagemut und der Kühnheit in seinen Büchern. Er hatte so geschrieben, wie Masaccio malte. Seine Figuren waren wirklich, »sie stehen mit beiden Füßen auf dem Boden und schweben nicht auf Zehenspitzen«, wie es der Papst ausgedrückt hatte, als er ihr Masaccios Gemälde im Vatikanspalast zeigte. Sie konnte sich in den Romanfiguren des Papstes wiedererkennen.
Gleich neben dem Bett stand das Altarbild, das sie für ihn gemalt hatte. Es war mit einem Tuch verhüllt. Sie hatte die Tafel in das Schlafgemach gebracht, wo sie bis zum Sonnenaufgang stehen sollte. Erst dann wollte sie das Tuch entfernen, damit die Sonnenstrahlen die Farbe auf den Brüsten der heiligen Agatha hervorlockten. Unter dem Sonnenlicht würde sie sich von Grün in Hellblau verwandeln, um schließlich in Purpur überzugehen. Der Papst und seine Gefolgschaft hatten die Segnungsreise im April begonnen. In Viterbo hatten zahlreiche Prozessionen und Zeremonien stattgefunden. Einmal pro Woche hatte Lorenzo ihr durch einen Boten Briefe geschickt. Sie hatte seine ganze Reise vor sich gesehen, und jedes Mal, wenn ein Brief kam, hoffte sie, dass darin geschrieben stünde, sie solle zu ihnen kommen. Doch das geschah nicht. Es war zu jener Zeit gewesen, dass Sankt Agatha sich ihr im Traum zeigte. Anna war wie im Fieber. Jeden Morgen erwachte sie mit Fantasien von biblischen Motiven. Die Heilige hatte sich ihr wieder und wieder gezeigt. Jetzt war das Bild fertig und die Leinwand war trocken. Bald würde die Sonne durchs Fenster fallen. Als sie sich erheben und zur Staffelei gehen wollte, griff Lorenzo nach ihr. Doch sie ließ sich nicht zurückhalten. Sie riss den Stoff herunter, der die Tafel bedeckte, und drehte die Staffelei so, dass Lorenzo das Bild sehen konnte. Im selben Moment floss das Sonnenlicht darüber hin. Er richtete sich im Bett auf. »Das ist Sankt Agatha, die Märtyrerin, die sich für Gott entschied, statt dem Werben eines Mannes nachzugeben«, sagte Anna. Sankt Agathas nackte Brüste bildeten das Zentrum des Bildes. Zwei Figuren waren vor dem Hintergrund der sanften Hügellandschaft von Le Crete gemalt. Sie warfen keine
Schatten. Ein Mann stand hinter der Frauengestalt. Es hätte aussehen können, als liebkoste er ihre Brüste, wenn nicht das Messer gewesen wäre, das er in einer Hand hielt. Die Klinge schnitt tief in Sankt Agathas linke Brust. Die andere Hand des Mannes umschloss ihre rechte Brust. Diese Geste drückte Zärtlichkeit aus, im Gegensatz zu der Hand, die den Messerschaft hielt. Die Brustwarzen änderten die Farbe. »So, wie du sie gemalt hast, hat sie Gott und Satan zugleich im Leib«, flüsterte Lorenzo, während er das Bild ansah. Anna stand schräg vor der Tafel, das Profil Lorenzo zugewandt. »Es ist für die neue Kirche, ein Geschenk von mir an den Papst«, sagte sie. »Der Papst hat gesagt, dass er sich ein Bild der Märtyrerin Sankt Agatha an der Wand der neuen Kirche wünscht.« »Du kannst mir das nicht antun«, flüsterte Lorenzo. »Dir antun?«, sagte sie und warf ihm einen kurzen Blick zu. Er ließ seine Augen auf St. Agathas Brüsten verweilen. »Du hast heiligen Purpur für die Brust der Märtyrerin verwendet. Das Bild wird unsere Stellung beim Papst schwächen! Der Papst will Purpur von dir haben, nicht eine Heilige als Dirne gemalt mit Farbe, die der Kirche gebührt.« »Eine Dirne? Siehst du nicht, dass es die heilige Agatha ist, die für ihre Standhaftigkeit bestraft wird? Warum sollte er etwas dagegen einzuwenden haben, dass ich seine Farbe für die Frau verwende, die er ehren möchte?« »In allen Ecken wird darüber getuschelt, welche Macht du über den Papst hast«, unterbrach er sie brüsk. »Die Leute wissen, dass Pius dich auserwählt hat!« »Wie meinst du das?« Sie sah an seinem Gesicht, dass er seinen Zorn zügelte.
»Als Färberin für Rossellinos Purpurmantel«, antwortete er leise. Sie ließ einen Moment der Stille einkehren, ehe sie etwas sagte. »Du selbst hast den Brief mit dem Befehl des Papstes überbracht. Damals erschien dir der Auftrag als Ehre«, wandte sie ein. »Das war, bevor wir wussten, dass Rossellino Papst Pius in Verlegenheit gebracht hat«, entgegnete er. »Was für eine Verlegenheit?« »Es ist ans Tageslicht gekommen, dass Rossellino das Doppelte der Summe verbraucht hat, die der Vatikan ihm zubilligte, um die Stadt zu bauen. Ein solcher Mann verdient keinen Purpurmantel vom Papst.« »Wollt Ihr Rossellino hintergehen und ihn gedemütigt statt bejubelt sehen, wenn Papst Pius kommt?« Anna sah ihn lange an. »Das ist eine Sache, aus der Frauen sich herauszuhalten haben«, erwiderte er. Anna wandte sich ab, damit Lorenzo nicht sah, wie sie errötete. Wenn der Name des Architekten fiel, wurde sie verlegen. In der glühenden Erregung der letzten Nacht hatte sie mit dem Gesicht dieses Baumeisters aus Florenz vor Augen gesündigt. Auf eine Art gesündigt, die sie niemals irgendjemandem würde beichten können. Es war nicht ihr eigener Wille, der darüber verfügte, welche Fantasien ihr kamen. Sein Gesicht erschien ihr, wenn der Körper es wollte. Sie hatte ihn in ihr Innerstes geholt und ihn besessen. Einen Fremden. Eine Diebin von Gesichtern, das war sie. Vor vier Jahren, als der Bau Corsignanos geplant wurde, hatte sie Rossellino bewirtet. Sie hatte ihm Stoccafisso serviert, den Pilger aus Norwegen mitgebracht hatten. Sie erinnerte sich, wie er geritten kam,
begleitet von Burschen und Dienern. Seine Kleider waren aus Seidenstoffen aus dem fernen China gewebt und in Murexfarbe aus Tyros getaucht. Es war ihr ein Leichtes, zwischen Schneckenpurpur und dem Pflanzenpigment Purpurin zu unterscheiden. Er bestätigte ihr, dass die Aufschläge seines Mantels mit Murex gefärbt waren. Sie sprachen über die Murex-Schnecke, die es im Mittelmeer gab, und sie erzählte ihm alles über die Schnecke Nucella lapillus, die vor der norwegischen Westküste lebte. Eifrig hatte sie ihm die purpurne Mozzetta des Papstes gezeigt, um ihm zu beweisen, dass Nucella-Purpur ebenso strahlte wie tyrischer Murex. »Vielleicht ist er sogar noch strahlender als die Farbe der Murex-Schnecke«, hatte er entgegnet. Während des ganzen Festes hatte Rossellino sie mit einem Blick angesehen, der ihr heute noch ein süßes Ziehen im Bauch verursachte, wenn sie an ihn dachte. Wie Lucrezia in »Die beiden Liebenden« vergaß sie, dass sie eine verheiratete Frau war. Nachts zog sie das Buch hervor und las das Kapitel, das Lucrezias Zustand beschrieb, nachdem sie sich verliebt hatte: »Eine Macht, die mir unbekannt ist, treibt mich gegen meinen Willen; meine Wünsche ziehen mich in die eine Richtung und meine Gedanken in die andere, und wenn ich auch weiß, was das Beste ist, so wähle ich doch das Schlechteste.« Als sie Rossellino das letzte Mal in Corsignano sah, fand sie etwas Gequältes in seinen Gesichtszügen. Er war mit raschen Schritten über den Platz zwischen Kirche und Papstpalast gegangen, ohne sie zu bemerken. Er hatte auch sonst niemanden bemerkt. Es schien, als ginge er tief in Gedanken versunken, ohne die Menschen um sich herum wahrzunehmen. Die Gestalt unter dem schwarzen Umhang wirkte gehetzt. Sie war ihm nicht gefolgt, als er in der Kirche verschwand, obwohl sie es gern getan hätte. Er ging oft dorthin, hatten ihr
Frauen aus Corsignano erzählt. Er betete für seine Ehre und Glaubwürdigkeit, sagten sie. Die Frauen folgten ihm in die Kirche und lauschten seinen Gebeten, sie beichteten von früh bis spät, um in seiner Nähe zu sein. Anna spürte, dass sich etwas Dramatisches hinter seiner Anwesenheit in Corsignano verbarg. »Die Sieneser wollen Rossellino schaden, weil er aus Florenz stammt. Die Bürger von Corsignano halten Siena in allem die Treue, das weißt du genau. Die Kirche, die Rossellino erbaut hat, sei wohl eine der schönsten, die je in Italien erschaffen wurden, sagen die Leute, die in die Stadt pilgern, um sie zu sehen. Er verdient den Purpurmantel«, sagte Anna. »Die Ehre gebührt nicht ihm allein. Leon Battista Alberti ist sein Lehrer und Meister. Was wäre Rossellino ohne den großen Leon Battista Alberti?«, sagte Lorenzo mit einem Lächeln, das Rossellino zu einem Laufburschen Battista Albertis degradierte. »Er kann nicht mit einem Meister konkurrieren, der in ganz Europa dafür berühmt ist, dass er der Malerei die Perspektive beschert hat.« »Rossellino wurde vom Papst beauftragt, die Stadt umzubauen. Also ist die Architektur ihm zu verdanken. Deshalb will Papst Pius ihm einen Mantel aus Purpur schenken«, erwiderte Anna. Sie hielt inne, als sie sah, dass Lorenzo über ihre eifrige Verteidigung des Architekten verwundert schien. Er sah sie erstaunt an, ließ seinen Blick über ihren Körper wandern und endete bei ihrer Hand. Als er den Blick nicht wieder abwandte, fiel ihr ein, dass der Ehering auf dem Tisch in der Werkstatt lag. Ohne ein Wort streckte er seine Hand langsam nach dem Umhang aus, den er zusammen mit dem Schwert über den Stuhl gleich neben dem Bett geworfen hatte. Er umfasste den
Schaft des Schwertes, während er sie ansah und sie in Spannung verharren ließ. »Ein Mann, der Verträge und Kostenpläne nicht einhält, verdient keine Ehre, ganz gleich, wie tüchtig er als Architekt sein mag. Du solltest dich nicht über Männerangelegenheiten äußern. Auch du bist fremd hier, genau wie er.« Sie schaute ihn an, als er an die Staffelei trat, beobachtete, wie er mit seinem Blick der Hand des Scharfrichters folgte, der die Brust der heiligen Agatha abschnitt. Die Farbe der Brust hatte sich schon von Grün zu Blassblau verändert. Wenn das Bild noch länger in der Sonne stand, würden die Brustwarzen sich bald in helles Purpur verwandeln. Das durfte nicht in einer derart zerstörerischen Stimmung geschehen. Für Anna war es ein heiliger Moment, wenn das Sonnenlicht die göttliche Farbe hervorzauberte. »Es ist blasphemisch. Gott straft Frauen, die keinen Respekt vor Seinen Grenzen zeigen«, flüsterte er und packte Annas Handgelenk, als sie das Tuch wieder über die Malerei warf. »Auch wenn du die Einzige bist, die echten Purpur herstellen kann, wird er sich niemals dazu verleiten lassen, ein solches Bild in der Kirche aufzuhängen. Ich kenne den Papst. Er dient vor allem der Macht.« Lorenzos Gesicht war dem ihren ganz nah. Seine Augen flackerten, als wollte er jedes kleinste Detail in ihrem Antlitz in sich aufsaugen. Seine Stimme bebte, und er sprach leise und eindringlich. »Wie kommst du darauf, dass etwas, was du gemalt hast, neben den Meistern von Siena an einer Kirchenwand hängen darf? Du, die nicht einmal in der Toskana geboren wurde? Du setzt dich hinweg über die Prinzipien der Sieneser Schule und versuchst, mit den Traditionen zu brechen.« Als sie den Kopf nicht senkte, sprach er weiter, angestachelt durch ihr Schweigen.
»Es war um der Purpurfarbe willen, dass der Papst mich beauftragte, dich hierher zu bringen«, zischte er so leise, dass es fast nicht zu verstehen war. »Nicht dafür, dass du heilige Gesetze brichst.« »Ich hatte geglaubt, du brachtest mich hierher, damit ich deine Ehefrau werde«, entgegnete Anna ebenso leise. Sie starrte ihm in die Augen. Er starrte zurück. »Purpur kann mein Schicksal werden, auf eine Weise, die zu begreifen deinen Verstand übersteigt. Es zieht Böses nach sich, es ist des Teufels.« Sie sah ihn an. Er berührte ihre Brust. Sie stand mit dem Rücken gegen den Fensterrahmen gedrückt. Die weichen Innenflächen seiner Hände fühlten sich verlockend und zugleich gefährlich an. Wie Messer unter Seide, dachte sie. Es war, als berührte eine Schwertspitze ihre Kehle. Lorenzo hatte dieselbe Farbe teuflisch genannt, die er kurz zuvor noch als göttlich bezeichnet hatte. Das Geräusch eines kleinen Gegenstandes, der zu Boden fiel, ließ ihn herumfahren. Im Gegensatz zu ihr kannte er nicht den Klang eines dünnen Pinselstiels mit einer feinen Spitze aus Rosshaar. Er wusste nicht, dass der Gegenstand, der da hinunterfiel, der Pinsel war, mit dem sie die Iris in Agathas Augen gefärbt hatte. Der dünne Pinsel lag so unbeholfen dort, so zart, dass sie sofort hingehen wollte, um ihn aufzuheben. Aber Lorenzo hielt sie fest. Gleich darauf spürte sie, wie das weiche Leder von Lorenzos Stiefel an der Innenseite ihrer Schenkel nach oben wanderte. Hart stieß er das Knie in ihren Schoß. Seine Lippen näherten sich ihren, und sie wandte das Gesicht ab. Er zwang sie, ihn anzusehen, er lauschte nicht, suchte nicht nach einem
Weg in sie hinein, der ihr das Gefühl gegeben hätte, außer Gefahr zu sein. »Alle Macht liegt beim Papst«, flüsterte er. Sie starrte auf seinen Rücken, als er sich von ihr abwandte und sich an das andere Fenster stellte, das Gesicht gen Corsignano gewandt. Aus dem Tal klang das Bellen der Hunde herauf, die die Schafe zusammentrieben. Plötzlich drehte er sich um und kam zu ihr zurück. In seinen Augen standen Tränen. Sie umarmte ihn fest, als er kam. Immer noch verspürte Anna große Zärtlichkeit für ihren Ehemann.
V
on hier aus kann ich die Welt sehen.« Lucrezia saß im Baum. Hoch oben, ohne die Furcht, zu fallen. Es war noch früh am Morgen. Sie hatte die Holzfäller des Papstes an ihrer Arbeit gehindert, und sie lächelte, als sie sah, wie ängstlich die Mutter war. »Lucrezia! Komm herunter.« »Wenn ich herunterkomme, fällen sie den Baum.« »Willst du wohl hören!«, rief Anna voller Angst. »Du wirst dir wehtun, wenn du fällst!« Die Tochter blickte sie stumm an. »Dein Vater ist gekommen. Er fragt nach dir.« Lucrezia wandte den Kopf ab und flüsterte: »Ist er ohne Papst Pius gekommen?« Anna senkte den Blick. Sie brachte nicht den Mut auf, in Lucrezias enttäuschte Augen zu sehen. »Baronessa Anna, wir dachten zuerst, es sei der Engel, der im Baum säße«, sagte einer der Holzfäller mit tiefem Ernst. »Ein Engel!«, Lucrezia lachte spöttisch. »Ich, ein Engel? Kaum ist der Papst im Tal, sehen die Leute überall Engel«, kicherte sie. »Wir meinten den Engel, von dem Andropolus erzählt hat«, erklärte einer der Holzfäller. »Er flog heute Nacht hier herüber. Wir hörten, wie Andropolus ihn rief.« »Wo ist Andropolus?«, fragte Lucrezia. »Er ist in Richtung Pfarrhaus gelaufen«, antwortete der Holzfäller. Lucrezia beugte sich nach vorn, sodass ihre langen, offenen Haare wie ein Vorhang hinabhingen, und lachte so sehr, dass sie tatsächlich vom Baum zu fallen drohte. Geschickt fand sie wieder Halt auf einem Ast. Ihre Beine waren lang und dünn, und im Vergleich dazu war ihr Leib kurz. Ihr Kopf saß etwas schief zwischen den Schultern, getragen von einem dünnen,
langen Hals. Plötzlich verstummte ihr Lachen. Es wurde still oben im Baum. Die wispernde, zarte Stimme klang fast wie das Säuseln des Windes in den Blättern. »Ihr habt also geglaubt, ich sei der Engel gewesen?« Einmal hatte sie selbst geglaubt, dass sie ein Engel Gottes im Himmel werden würde. Ihre Schmerzen waren so groß gewesen, dass sie zu Gott gebetet hatte, er möge sie sterben lassen. Sie war damals gestolpert und rücklings in eine Speerspitze gefallen. Das war in der Schmiede gewesen. Die neuen Waffen ihres Vaters standen aufgereiht in einem Stativ, mit den eisernen Spitzen nach oben. Das Metall war noch glühend, der Schmied hatte die Waffen erst kurz zuvor geschmiedet. Die Speerspitze war abgebrochen, als Lucrezia darauf fiel, und ein Teil davon steckte immer noch tief zwischen ihren Schulterblättern. »Ein Engel mit einer Speerspitze an der Stelle, wo Flügel hätten wachsen sollen«, rief sie. »Lasst mich lieber hinunterfallen und sterben. Erst dann kann ich ein Engel werden.« Sie lachte, hüpfte auf dem Ast herum und schwankte vor und zurück. »Der Baum ist der Einzige, der mich haben will. Sagt das dem Papst, wenn er kommt, um Corsignano zu segnen. Er weiß doch alles über Lucrezias Träume. Er hat die Frau erdichtet, nach der ich meinen Namen bekam«, rief sie den Holzfällern zu. Die Männer starrten verlegen hinunter auf ihre Äxte. »Es ist eine Schande, den letzten Baum zu fällen. Der hohle Stamm ist doch Andropolus’ Zuhause. Ich warte hier auf Andropolus«, sagte Lucrezia. »Holt ihn mir her.«
Anna ließ Lucrezia allein. Sie konnte der Tochter nicht helfen, ihr eigener Kummer über das, was dem Kind widerfahren war, wog zu schwer. Deshalb ging Lucrezia ihr aus dem Weg. Sie beklagte sich darüber, dass der Blick der Mutter sie an ihr eigenes Unglück erinnere. Anna konnte Lucrezia dort oben im Baum singen hören. Sicher sang sie, um dem Weinen zu trotzen. Nach dem Unglück in der Schmiede fühlte Lucrezia, dass die Leute sie anstarrten, wenn sie mit Anna durch Corsignano ging. Immer öfter fragte sie, warum der Vater nicht den Papst zu ihr brachte. Damit, so meinte sie, könne der Vater Buße tun für das, was geschehen war. Es war sein Speer gewesen, in den sie gefallen war, einer der Speere, die er anfertigen ließ, um den Papst zu beschützen. Anna hatte geglaubt, dass Lucrezia sterben würde. Sie hatte ihre Tochter blutend auf dem Boden gefunden. Andropolus war bei Lucrezia gewesen, und ihr erster Gedanke war, dass er es getan hatte. Zwischen zwei Rückenwirbeln lag dicht über dem Herzen eine weiche Stelle, die Lorenzo »Nadelöhr für das Schwert« nannte. Dort hatte sich die Speerspitze hineingebohrt und war abgebrochen. Der Splitter konnte nicht entfernt werden, er saß zu nahe am Herzen. Eine Schale, ähnlich einer Muschel, kapselte ihn ein und machte den Rücken schmerzhaft und steif. Anna hatte Angst, dass der Splitter zu Lähmungen führen könnte. Sie hatte Lucrezia Tag und Nacht gepflegt, den Herbst und den Winter hindurch. Die Knechte und Mägde des Hofes waren jeden Tag mit Geschenken zu ihr gekommen. Lucrezia hatte sie abgewiesen. Die Geschenke seien ein Zeichen für ihren bevorstehenden Tod, hatte sie zu Anna gesagt. Als Lucrezia im Laufe des Frühlings wieder zu Kräften kam, wies sie Annas Zärtlichkeiten zurück. Was sie sich mehr als alles andere gewünscht hatte, als sie schwach war, wollte sie
nun nicht mehr haben. Sie wollte nur ihn, der nicht da war. Den Vater, der niemals kam. Er sollte sie liebkosen. Betrat sie einen Raum, sah sie an der Mutter vorbei. Sie wollte ihrem Blick nicht begegnen, sich nicht berühren lassen. Die Gerüchte brodelten. Die Leute meinten, Gott habe das Unglück geschickt, es sei die Strafe dafür, dass Anna ihre Tochter nach der sündigen Frau im Buch des Papstes genannt hatte.
Oft saß Anna die ganze Nacht an Lucrezias Bett. Während sie den Schlaf ihrer Tochter behütete, dachte Anna an die Mutter des Papstes, die über das Kind Aeneas gewacht hatte. Kaum drei Jahre alt fiel er von einer hohen Mauer und schlug mit dem Kopf auf einen Stein. Als er acht war, wurde er von einem Stier angegriffen. Dessen Hörn traf ihn an derselben verletzbaren Stelle im Rücken, wo der Speer Lucrezia traf. Aeneas hatte acht Geschwister. Nur er und zwei weitere Geschwister überlebten die Pest. Lucrezia hatte jedenfalls überlebt, dachte Anna. Sie überließ Lucrezia mehr und mehr der Obhut von Liam. Er war Lucrezias Lehrer, so wie er früher Annas Lehrer gewesen war. Als sie ins Kloster Nonneseter von Sankt Jørgen in Bergen geschickt wurde, war sie zwei Jahre älter gewesen als Lucrezia heute. Dort lebte sie unter dem Schutz der Abtei, doch als Proventdame bewohnte sie eigene Räume und hatte eigene Bedienstete. Sie war einzige Erbin und vom Vater nach Nonneseter gebracht worden, um dort das Eheanerbieten eines passenden Mannes abzuwarten. Ihr war gestattet, sich nach der Mode der Zeit zu kleiden, sie konnte sich in Begleitung zweier Nonnen frei in der Stadt bewegen, und sie bekam bessere Kost als die Ordensfrauen. Auch hatte sie persönliche Dinge
mitbringen dürfen, ihr Bett, eine Bettdecke, Leinenlaken, Stuhlkissen mit Federn, Kissenbezüge, eine vergoldete Truhe mit Büchern, ein schwarzes Kästchen, Porzellanmörser, Trinkgefäße, Kupferkessel und anderen Hausrat. Die Mutter hatte ihr eine festliche Ausstattung mitgegeben, ein Diadem, ein französisches Kopftuch und ein Schultertuch. Im Kellergewölbe des Klosters warteten als Mitgift zwei Krüge mit Purpur, den ihre Familie gesammelt hatte. Es gab keine Nucella-lapillus-Schnecken mehr im Meer. Auf den Strandklippen lagen die leeren Schalen, Reste der Fangzüge mehrerer Generationen, die die Schnecke ausgerottet hatten. Jetzt warteten Mutter und Vater darauf, dass die Mitgift ihr eine gute Partie einbringen sollte. Aber der Adel war geschrumpft, nachdem die Pest in Bergen gewütet hatte. Die Eltern waren der Überzeugung, dass das Purpursekret nur im Kloster vor den Plünderungen der Hanseaten sicher sei. Die Deutschen schreckten weder vor Gewalt noch vor Totschlag zurück, sie schossen sogar auf die Kristikirke und den Kongsgården. Sie rissen die Mauern um Sverresborg nieder und scherten sich nicht um das königliche Vorkaufsrecht auf Waren. Dem Schlossvogt auf Bergenshus waren die Hanseaten ein Dorn im Auge, aber sie waren zu mächtig, als dass der König es gewagt hätte, sich gegen sie aufzulehnen. Einflussreiche Deutsche und Holländer hatten versucht, mit dem Vater über eine Ehe zu verhandeln. Sie wussten von der wertvollen Mitgift. Doch der Vater lehnte ab, obwohl einer der Freier drohte, ihn in Ketten gefesselt im Vågsfjord zu versenken, falls er Anna nicht bekäme. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Hanseaten das Kloster überfallen und die Mitgift rauben würden. Sie hatten Feuer gelegt in einem der Bootshäuser ihres Vaters am Strand von Vagen, und Anna lebte in der ständigen Furcht, in einer Feuersbrunst umzukommen. Falls sie sich jedoch entschloss, das Kreuz zu
nehmen, würden die Krüge mit dem Purpur den Klöstern Nonneseter und Selje in Nordfjord zufallen. Doch dazu kam es nicht. In Nonneseter war sie als Färberin geistlicher Kleider unentbehrlich geworden. Sie allein hatte Schneckenpurpur zur Verfügung, und niemand außer ihr kannte das Geheimnis des Färbeprozesses. Doch sie konnte nur im Sommer arbeiten, wenn die Sonne am höchsten stand. An jenem Frühlingstag, als Lorenzo mit seinen Gefährten und dem Bischof von Bergen ins Kloster kam, saß sie mit ihrem Beichtvater Liam zusammen und arbeitete an einem norwegischen Wörterbuch. Vor ihr auf dem Tisch lag die erste Altartafel, die sie mit Liams Hilfe gemalt hatte. Lorenzo reiste im Auftrag des Bischofs Aeneas Piccolomini von Triest. Er wollte das kostbare Schneckensekret, das sich im Besitz des Klosters befand, in den Vatikan bringen. Er sagte, dass der Bischof während einer seiner Seereisen von dem Purpursekret aus dem Nordmeer erfahren habe. Das Gerücht, ein kleines Kloster behüte diesen Schatz, hatte den Vatikan erreicht. »Bisher glaubten wir, es würde nur in Konstantinopel im Byzantinischen Reich und an der irischen Küste hergestellt«, hatte er erklärt. Sie wusste, dass die Färbereien in Konstantinopel Kaiser Konstantin gehörten und dass er das Monopol auf Purpur hatte. Das Geheimnis, wie diese Farbe ihre Schönheit und Kraft bewahrte, verrieten die Färbemeister niemandem, und jetzt sollte die Nonne Anna ihr geheimes Wissen darüber offen legen. Der Bischof von Triest hatte seinen Freund zu dem Kloster gesandt, damit er der katholischen Kirche in Rom brachte, worauf diese ein Anrecht zu haben glaubte. »Auch die Nonne, die Purpurfärberin Anna, wird nach Rom befohlen«, hatte Lorenzo zum Bischof von Bergen gesagt. Als sie ihrem Unverständnis Ausdruck verlieh, wie der Vatikan dazu kam,
sowohl sie als auch den Purpurschatz holen zu lassen, erklärte er ihr, dass das Kloster unmittelbar der päpstlichen Autorität unterstehe und der Vatikan das Recht auf alles habe, was das Kloster besaß. Der Bischof von Triest glaubte, sie sei eine Ordensfrau und der Purpur sei ihre Mitgift an die Abtei. Er wusste nicht, dass sie wie viele andere unverheiratete Jungfrauen unter dem Schutz des Klosters lebte und dass sie von einem ihr ebenbürtigen Mann träumte. Ihre Eltern wurden hinzugerufen und Gespräche über den großen Wert des Purpurs geführt. Sie erklärten Lorenzo und dem Bischof von Bergen, dass Anna dieses Vermögen ganz allein gehöre und die Ehe eine unbedingte Voraussetzung für jegliche Art von Handel sei. Anna hatte Lorenzo mit kindlicher Neugier betrachtet, während er mit den Eltern verhandelte. Er hatte keine Ähnlichkeit mit den hanseatischen Patriziern, den Kaufleuten in den Kontoren, den Lübecker Ratsherren, den englischen Seefahrern oder den Pfefferhändlern aus Holland, bei denen sie Gewürze und Hausrat an den Kais von Vagen kaufte. Sein weltmännisches Auftreten, seine Gestik und Sprachgewandtheit waren unterhaltsam. Er sagte manches in seiner eigenen Sprache, was sie zwar nicht verstand, aber dennoch zum Lachen brachte. Wie ein ununterbrochener Gesang, der sie einhüllte und sie schwindelig und glücklich machte, klangen seine Worte. Einen attraktiveren Mann hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie träumte davon, dass er sie küsste, doch er rührte sie nicht an. Noch bevor der Juni vorüber war, wurden sie vom Bischof in der Marienkirche zu Bergen getraut. Sie war froh, dem eintönigen Dasein des Stifts entkommen zu sein, und erlebte die Heirat wie ein spannendes und romantisches Abenteuer. Der Bischof von Bergen höchstselbst schloss das
Klostergewölbe auf, in dem die Krüge mit dem Purpur aufbewahrt wurden. Unter Aufsicht des Hauptmanns und der Garde von Bergenshus wurden sie verladen. Das Segelschiff verließ Bergen am Geburtstag des Sankt Johannes, am selben Abend, an dem die Hanseaten ihren Heiligen feierten und am Strand vor Bergenshus Türme aus leeren Heringsfässern anzündeten. Das Letzte, was sie von der hufeisenförmigen Bucht sah, waren Fässertürme, die in sich zusammenstürzten und wie Feuerkugeln ins Meer rollten. Es war, als stünde hinter ihnen die Stadt in Flammen, während sie mit drei Schiffen des Hauptmanns als Geleit davonsegelten. Erst in dem Moment, als sie am äußersten Zipfel der Bucht Liam entdeckte, der ihr mit dem roten Band nachwinkte, dass sie für gewöhnlich im Haar getragen hatte, wurde sie nachdenklich. Die Schiffe nahmen Kurs auf den Inselgürtel, und ihr ging durch den Kopf, dass sie ihre Eltern, Bergen und ihren Beichtvater vielleicht nie Wiedersehen würde. Acht Jahre später kam Liam. Er war auf der Pilgerstraße südwärts nach Italien gewandert, um Anna zu suchen. Das war, nachdem die Hanseaten das Kloster Munkeliv erstürmt und den Schlossvogt Olav Nilsson getötet hatten, der beim Bischof von Bergen untergeschlüpft war. Das Kloster brannte nieder und Liam wurde Zeuge, wie beide, der Vogt und der Bischof, von den Deutschen umgebracht wurden. Als Liam ins Val d’Orcia kam, fand er Obdach in Spedaletto und ließ Anna eine Nachricht zukommen. Er brachte die traurige Kunde, dass auch ihre Eltern bei dem Überfall der Hanseaten auf Munkeliv umgekommen waren. Anna bestand darauf, dass Liam zu ihr auf das Gut zog, und so wurde es gemacht. Seitdem er hier war, hatte er jeden Tag die Hofkapelle mit frischen Blumen für das Morgengebet geschmückt. Er besorgte auch die Taufen und Begräbnisse für
das Gesinde. Lucrezia war immer dabei, wenn er Andacht und Abendmahl hielt. Es bekümmerte Anna, dass Liam dünner und dünner wurde. Sein Hund hingegen setzte immer mehr Fett an. Lucrezia glaubte, dass er sein ganzes Essen dem Hund gab. Er hatte sich seiner angenommen, als sein Herr auf dem Marktplatz von Montepulciano gehängt worden war. Der Hund hatte sich nicht von der Leiche entfernen wollen, die aus dem Fenster des Rathauses baumelte; Tage und Nächte hatte er auf dem Rathausplatz gelegen und gejault, bis Liam sich seiner erbarmte und ihn mitnahm. Anna wandte sich um, bevor sie in den Garten ging. Saß Lucrezia noch immer im Baum, oder folgte sie ihr? Sie war nirgends zu sehen.
A
nna zog eine mit Purpurbändern verzierte Bluse an und verließ den Hof, um den Pfarrer aufzusuchen. Sie hatte die Altartafel auf den Rücken eines Esels gebunden und zog nun das Tier hinter sich her. Bevor Lorenzo nach Bagno di Vignoni zurückritt, hatte er damit gedroht, die Tafel zu verbrennen. Das Bild musste während der Messe mit Weihwasser gesegnet werden, damit Lorenzo ihm nichts mehr anhaben konnte. Der Leibwächter Antonio begleitete sie zu Pferd, ein großes Schwert im Gürtel. Er hielt die Führleine ihres Pferdes in der rechten Hand. Das Tier folgte ihm gehorsam. »Baronessa, warum reitet Ihr nicht lieber? Ich kann doch den Esel für Euch führen.« Doch Anna wollte die Tafel niemand anderem überlassen, auch wenn der Esel störrisch war. Jemand rief ihren Namen. Draußen auf dem Feld sah sie Liam stehen, der zu ihr herüberwinkte. »Geh zurück zum Hof!«, rief sie ihm zu. Sie wusste, dass er versuchen würde, ihr Vorhaben zu verhindern. Er hatte Lorenzos lautstarke Kritik an der Altartafel gehört und sich zu Eigen gemacht. Liam rief weiterhin nach ihr. Schließlich gab er es auf und kehrte mit gebeugtem Rücken zum Hof zurück, wo sein Hund ihn am Tor erwartete. Eine Schar Bauern arbeitete auf dem Feld, ihre Ochsen schleppten Eichenstämme hinter sich her. Der Esel blieb abrupt stehen und versuchte umzukehren, er wollte nach Hause. Anna zerrte am Zaumzeug. Ein Stück Leinwand verhüllte die Altartafel. Sie wollte nicht, dass der Leibwächter sie sah. Jetzt war der Stoff an der einen Seite des Esels hinuntergerutscht und hing unter dem Bauch des Tieres. Die Landarbeiter grüßten und einer von ihnen fragte, ob er den
Esel für sie ziehen solle. Sie schüttelte den Kopf und lachte. Wenn sie wüssten, dachte sie, dass das Tier ein Gebet trug, ein verborgenes Zeugnis, eine Märtyrerin, die keinen Schatten warf. Eine Altartafel für die neue Kirche. Konnte man das Bild überhaupt als Altartafel bezeichnen? Während sie weiterging, keimten Zweifel in ihr auf. Vielleicht stimmte es, was Lorenzo gesagt hatte, und ihre Sankt Agatha war profan. »Eine Dirne« hatte er sie genannt. Auch Liam meinte, dass sie gegen die Regeln der geistlichen Malerei verstoßen und Sankt Agatha so dargestellt hatte, dass man sie für eine weltliche Frau halten konnte. Ehe sie den Hof verließ, hatte er angekündigt, dass er ihr von nun an nicht mehr zur Hand gehen wollte, wenn sie arbeitete. Sie hob den Blick und sah zur Kirche. Würde das Gotteshaus ihre Sankt Agatha einlassen? Die Kirche war von überall im Tal zu sehen, sie ähnelte einem antiken Tempel, wie sie dort auf der Anhöhe von Corsignano emporragte. Sie wusste von keiner Kathedrale, die das Licht durch so große Fenster hereinließ wie Papst Pius’ neue Kirche in Corsignano. Der Weg zum Pfarrhaus war steil. Sie geriet außer Atem und blieb stehen. Wie würde der Pfarrer reagieren? Würde er die Tafel akzeptieren, oder würde er wie Lorenzo erschrecken, wenn er sie sah? Würde er begreifen, dass sie, Anna, sie selbst gemalt hatte? Das hielt sie für ausgeschlossen. Für ihn wie für alle anderen war es undenkbar, dass eine Frau malen konnte. Sie ging weiter. Es war nicht weit von Lorenzos Hof zu der kleinen Anhöhe. Sie hörte noch das Rauschen von Wasser und sah den Dampf aus der heißen Quelle aufsteigen. Das Wasser floss über erstarrten Schwefel hinab in ein Becken, das am Ende ihrer Ländereien lag. Sie und Lucrezia pflegten in dem warmen Wasser zu baden.
Kurz darauf betrat Anna das Land der Familie Piccolomini. Lorenzo hätte es nicht gefallen, dass sie den Hof verließ, nachdem er nach Bagno di Vignoni geritten war. Er würde es sicher erfahren. Leibwächter Antonio erstattete ihm über alles, was sie unternahm, Bericht. Aber der Leibwächter hatte kein Recht, sie aufzuhalten. Sie war die Baronessa, kein unmündiges Kind. Nur ihr Ehemann konnte ihr etwas verbieten. Doch jetzt war er nicht hier, deshalb konnte er sie nicht daran hindern, ihr Vorhaben auszuführen. Nach dem Streit über Rossellino und seine Ausgaben für den Umbau der Kirche hatte Lorenzo beschlossen, einen Kurier nach Corsignano zu Rossellino zu schicken, anstatt ihn selbst aufzusuchen. Es war Lorenzo peinlich gewesen, dass sie als seine Gemahlin sich gegen seine Ansichten auflehnte und einen anderen Mann verteidigte. Das hatte er ihr gesagt, bevor er davonritt. Er schickte den Boten mit der Nachricht nach Corsignano, dass der Papst einen See anzulegen wünsche. Gleichzeitig sollte der Kurier dem Architekten ausrichten, dass mit dem Bau eines Kerkers zu beginnen sei. Anna wusste, dass diese Neuigkeit für Unruhe in der Stadt sorgen würde. Der nächste Kerker befand sich in Siena. Nun würden die Folterwerkzeuge von dort nach Corsignano gebracht werden. Die Furcht im Volk würde wachsen. Sogar sie selbst lief Gefahr, ihre Freiheit zu verlieren. Wenn Lorenzo es für richtig hielt, konnte er sie und Lucrezia zwangsweise in das Kloster Sankt Agnes in Montepulciano stecken. Sie fröstelte in der warmen Sonne. »Es genügt mir nicht, zu färben. Ich möchte die Farbe noch für anderes verwenden«, hatte sie am Vorabend zu ihm gesagt. Sollte sie umkehren und sich damit abfinden, dass ihm die Entscheidungsgewalt oblag? Sollte sie ihr Bedürfnis unterdrücken, Sankt Agathas Martyrium allen sichtbar zu machen?
Sie konnte den Monte Amiata sehen, den heiligen Berg der Etrusker, der über dem Tal der Orcia thronte. Dieser Berg hatte in vorchristlicher Zeit Rom mit Holz versorgt. Von hier aus versperrte er den Ausblick aufs Meer. Sie hatte mit Pius zusammen auf dem Gipfel gestanden und hinausgeblickt auf das Tyrrhenische Meer. Hoch oben über dem Val d’Orcia hatte sie die Hand erhoben und zusammen mit ihm den Himmel berührt. Das war 1458 gewesen, als er gerade zum Papst gewählt worden war und den Namen Pius II. angenommen hatte. Er habe diesen Namen nicht aus religiösen Gründen gewählt, hatte er ihr erklärt, sondern im Gedenken an Vergils »Pius Aeneas«. Er hatte den Purpurschal umgelegt, den sie ihm zum Geschenk gemacht hatte, als sie nach Italien kam. Er hatte den Schal an seine Lippen gedrückt und geküsst, während er sie dabei ansah. Auf dem Gipfel dieses heiligen Berges hatte er öffentlich bekannt gegeben, dass er den türkischen Halbmond in sein Wappen aufgenommen hatte; gleichzeitig hatte er sie um eine Flasche mit Tinte aus dem Purpursekret gebeten, damit er den Kalifen von Konstantinopel mit der Purpurtinte des toten Kaisers Konstantin herausfordern konnte. Auf der anderen Seite des Tals sah sie die Dörfer, die sich bis weit hinauf an die Hänge des Monte Amiata klammerten, und lange Zypressenalleen, die zu Burgen und Höfen führten. Die Erde war weiß, das konnte man deutlich an den Wegen sehen, die sich von Hof zu Hof schlängelten. Die Höfe lagen weit auseinander. Die meisten von ihnen gehörten Lorenzo. Sie waren mit hellen Ziegeln erbaut, die man aus Lehm geformt hatte, und schimmerten beinahe rosa. Dieser weiße Lehmboden, den es nur südlich von Siena gab, wurde »Crete Senese« genannt. Anna folgte der Orcia mit den Augen und versuchte sich vorzustellen, wie es aussehen würde, wenn das Tal in einen See verwandelt worden war.
Ein plötzlicher Wind fegte heran. Er blähte ihren Umhang wie das Segel eines Schiffes, um den Stoff im nächsten Augenblick eng an ihren Körper zu pressen. Sie lachte auf, denn ihr fiel wieder ein, wie der Wind ihr Nachthemd gestohlen hatte. Ein süßes Ziehen fuhr durch ihren Körper, als sie daran dachte. Einen Moment lang hatte sie das Bedürfnis, ins Gras zu sinken und sich diesem Gefühl hinzugeben. »Ist Euch nicht wohl, Baronessa?« Antonio sah sie verwundert an. Er war dicht neben ihr. Sie hatte ihn für einen Augenblick vergessen. Hatte er etwas gesehen, was sie verbergen wollte? Das Nachthemd vielleicht, Seide, bestickt mit den Anfangsbuchstaben ihres Namens, in einem Busch? Nein. Er saß einfach auf seinem Pferd und starrte sie an. Sie gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich entfernen solle. Sie war die Frau aus dem Norden, vor der die Toskaner sich in Acht nahmen. »Ihr Flüstern kann große Meerestiere an Land locken«, erzählten sich die Sklaven untereinander, wenn sie glaubten, ihre Herrin höre es nicht. Sie waren überzeugt, dass sie beschwörende Zauberworte gebrauchte, wenn sie in ihrer Muttersprache redete. Ihr war es nur recht. Zauberei sorgte für Furcht unter den aufwieglerischen Sklaven. Pópolo minuto, das »niedere Volk«, das waren Afrikaner, Mauren und Tartaren, sie hatten keinen anderen Gott als die Kraft der Magie. Anna konnte allen Respekt, den sie ihr entgegenbrachten, gut gebrauchen. Sie hatte die Kuppe des Hügels fast erreicht. Sie sah Lorenzos Schafherden im Olivenhain des Pfarrers weiden. Der Hütehund lief hin und her, um sie zusammenzutreiben. Aber Andropolus war nirgends zu entdecken. Warum kam er nicht nach Hause? Was wollte er beim Pfarrer? Wieder musste sie
am Führstrick des Esels reißen, der unablässig versuchte, umzukehren und zum Hof zurückzugehen. Auf einmal entdeckte sie einen Riss in dem Leinentuch, das die Tafel schützte. Ein Sonnenstrahl fiel auf Sankt Agathas nackte Brust. Die Brustwarze war von blassrosa Farbe, so wie es sein sollte. Wenn die Sonne weiterhin den Purpur traf, würde die Brustwarze rot werden. Das würde zwar früher oder später ohnehin passieren, denn die Farbumwandlung konnte nicht auf dieselbe Weise beendet werden wie beim Färben von Wolle. Die rosa Farbe auf Sankt Agathas Brüsten wirkte jetzt noch naturgetreu, und sie wollte, dass es nach wie vor so war, wenn das Bild präsentiert wurde. Anna deckte es rasch zu und ging weiter. Antonio hatte nichts bemerkt. »Ihr müsst müde sein nach dem steilen Anstieg, Herrin. Möchtet Ihr nicht lieber zu Pferde das Pfarrhaus erreichen? Das nimmt sich besser aus für eine Baronessa«, sagte Antonio in einschmeichelndem, untertänigem Ton. Sie mochte ihn nicht, er war Lorenzos Laufbursche. Antonio kam aus der Schweiz und hatte dem Söldnerheer des Vatikans angehört. Lorenzo hatte ihn sorgfältig ausgesucht, da er ihr Leibwächter und sein Lakai sein sollte. »Ich gehe zu Fuß, um meine Sünden zu sühnen«, entgegnete sie. Um der Etikette zu entgehen, pflegte sie sich hinter der Pflicht zur Sühne zu verschanzen. Das war ein weiter Begriff. Einmal war sie im Beisein der Dienerschaft barfuß durchs Gras gelaufen. »Wie ein Bauernmädchen«, hatten sie geflüstert. Anna hatte sie ausgelacht und daran erinnert, wie der Papst in seiner Jugend gewandert war. Es war bekannt, dass er barfüßig durch die Lande pilgerte und sich so seine Füße ruiniert hatte. Sie blieb bei dem Bach gleich neben der schmiedeeisernen Pforte des Pfarrers stehen.
»Warte hier auf mich. Lass die Pferde und den Esel trinken und ausruhen. Ich bringe dem Pfarrer ein Geschenk.« Gerade als sie im Begriff war, den Strick zu lösen, mit dem die Tafel festgebunden war, riss der Esel sich los und rannte auf Lorenzos Hof zu. »Komm zurück, du Esel«, schimpfte sie in ihrer Muttersprache. »Baronessa!«, brach der Leibwächter erschrocken aus. Antonio glaubte wohl, sie habe auf ihn geschimpft. »Weißt du nicht, dass es eine heilige Märtyrerin ist, die du unter deinem Wanst trägst, du dummes Tier!«, rief sie, immer noch in ihrer Muttersprache, dem Esel hinterher. Antonio ritt los, um ihn einzufangen. Es war merkwürdig. Die Sprache ihrer Heimat hatte die Erinnerung an das junge Mädchen wachgerufen, dass sie vor langer Zeit gewesen war. Ein Mädchen an der starken Hand des Vaters unterwegs nach Nonneseter. Er hatte sie mit dem Schiff in die Stadt zwischen den Bergen gebracht, fort vom Leben der Schneckensammler und der Fischer draußen im Meer. Diese Fahrt war der Beginn ihrer Reise hierher gewesen. Einen Augenblick lang vergaß sie, wo sie sich befand und zu welchem Zweck sie hier war. Sie hob jäh die Hand und entfernte den Schleier vor dem Gesicht. Die Holzfäller waren dabei, die Äste von den kräftigen Eichenstämmen zu schlagen, die auf der Erde lagen. »Denkt daran, dass ihr den hohlen Baum nicht fällen dürft«, rief sie über die Felder. Das Geräusch der Axthiebe erstarb. »Ihr dürft ihn nicht fällen. Lucrezia und Andropolus zuliebe!« Die Holzfäller sahen sie verblüfft an. Sie antworteten nicht. Was sie jetzt wohl dachten? Es war nicht üblich, dass adelige Damen sich so benahmen.
Wer war sie für diese Menschen hier? Gehörte sie Lorenzos Stand an, oder gehörte sie zu den Hirten, dem Esel, den Holzfällern, den Vögeln und den summenden Bienen? Waren die Bauern und Hirten ihresgleichen, so wie es die Schneckensammler und das Meer gewesen waren? Sie vermisste das Leben, das sie vor dem Klosterleben in der Stadt geführt hatte. Sie starrte hinüber zur Kirche von Corsignano. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass das Gotteshaus kaum für solch aufrührerische Gemälde wie ihres geschaffen war. Wofür verstellte sie sich? Bis in alle Ewigkeit sollte der Bauch des Esels das Schicksal der Tafel sein. Eine Kirchenwand auf vier Beinen. Eine Wand, die zu den Menschen kam, die den Hirten Gottes heilige Märtyrerin zeigte. Sie lachte laut und befreit, als Antonio mit dem Esel zurückkam. Die Sonne brannte auf sie herab. Schweißtropfen rannen ihr von der Stirn und durchdrangen den Schleier vor ihrem Gesicht, als sie weiterging, die Tafel mit beiden Händen tragend. Langsam begriff sie, dass es ihr erging wie Lorenzo. Sie hatte Angst, nicht vor der Dunkelheit, sondern vor der Tiefe. Sie hatte Angst, langsam mit den Meeresströmungen zu versinken. Aber das wusste Lorenzo nicht.
Als sie durch die Pforte in den Garten des Pfarrhauses trat, bemerkte sie eine Gestalt, die auf unsicheren Beinen zwischen den blökenden Schafen herumstolperte. Es war Andropolus. Als sie sah, dass er ihr Nachthemd am Leib trug, hielt sie es zunächst für eine Täuschung. Es war auch nicht mehr weiß wie am Abend, als sie es ins Fenster gehängt hatte. Die Sonne hatte es tiefrot gefärbt.
D
er Pfarrer erhob sich vom Schemel und trocknete seine tränennassen Wangen, um sich bereitzumachen. Der Engel, der in der Tür stand, gekleidet in einen leuchtend blauen Umhang, hatte wahrscheinlich alles gesehen. Die gewaltige Spannweite der Flügel und die rauschenden Federn gaben ihm Gewissheit. Alles, was er hatte verbergen wollen, hatte dieser Engel gesehen: die Begierde und die aufreizenden Fantasien, die ihn verleitet hatten, dem Jungen das Kleid anzuziehen. Der Engel hatte gesehen, dass es ihm wichtiger war, die Seide mit Leben zu erfüllen, als auf das Geschlecht zu achten. Ein jungfräulicher Körper, Knabe oder Mädchen – in Seide gekleidet war das einerlei. Gott selbst hatte es so gewollt. Fantasien über den Liebesakt hatten in ihm gewütet, und er hatte wie im Fieber von Engeln gesprochen und von der Vorsehung Gottes, den Knaben den langen Weg aus Konstantinopel bis ins Val d’Orcia zu schicken. Er hatte mit der Hand die schulterlangen schwarzen Locken des Knaben gestreichelt, das sinnliche ovale Gesicht und die roten Lippen geküsst und dabei Gott gedankt. Was brauchte er denn anderes als diesen Knabenkörper? Vieles an ihm glich mehr einem Mädchen als einem Burschen. Es würde weniger beschämend sein, sich vor jemandem seines eigenen Geschlechts bloßzustellen, hatte er gedacht. Wenn man es überhaupt Denken nennen konnte. In seinem Kopf herrschte blankes Chaos. Erst als der Knabe anfing, einen Psalm über Johannes den Täufer zu singen, fühlte der Pfarrer Scham. Da verflog das Begehren. Das Gefühl von Besessenheit, das ihn getrieben hatte, verschwand. Unmöglich zu greifen oder zu bezwingen, wie der Gesang des Knaben. Das Gefühl war da gewesen, dann verschwand es, als hätte es nie existiert.
Der Pfarrer sank vor dem Schemel auf die Knie. Er betete und weinte. Plötzlich sah er alles, wie es war. Er hatte versucht, seinen Fehltritt wieder gutzumachen. Aber jetzt bereute er auch das, denn er hatte es auf die erbärmlichste Weise getan, ganz ohne Respekt vor dem, den er gekränkt hatte. Der Hirtenjunge war berauscht von dem heiligen Wein, den der Geistliche ihm eingeschenkt hatte. Er stolperte vor dem Haus herum und redete in seiner Muttersprache mit den Schafen. Bald würde alles bekannt werden, die Geschichte mit dem Kleid und dass er ihm Wein zu trinken gegeben hatte. Er konnte nur hoffen, dass die Leute glaubten, der Junge habe sich das Kleid im Rausch selbst angezogen. Es war unmöglich gewesen, es ihm wieder auszuziehen. Der Pfarrer hatte ihm Wein und einen halben Schinken gegeben und ihn gebeten, Stillschweigen über all das zu wahren. Das war dumm von ihm gewesen, denn es konnte den Anschein erwecken, als sei der Schinken die Bezahlung für sodomitische Dienste. Nie zuvor war der Ruf des Pfarrers befleckt gewesen. Er weinte und betete abwechselnd. Er musste demnächst etwas tun, was die Aufmerksamkeit der Leute beschäftigte, sodass der Verdacht der Sünde von ihm abgelenkt wurde. Was er tun sollte, um das Misstrauen der Leute zu entkräften, war ihm noch nicht recht klar. Er würde es wie andere auch machen, sich Verbündete unter den Mächtigen der Stadt schaffen. Er seufzte resigniert. Und plötzlich war diese Engelsgestalt da. Vom Sonnenlicht umstrahlt stand sie im Türrahmen. Vielleicht lag es an ihrer Gegenwart, dass das Kleid rot geworden war? Es war weiß gewesen, als er es in der Nacht gefunden hatte, und jetzt hatte es die Farbe des Begehrens. Die Verwandlung
der Farbe war der endgültige Beweis. Das Kleid war ein Zeichen von Gott. Wenn die Gemeinde wüsste, welchen Kampf er auszufechten hatte, würde sie ihm vergeben, dass er das Glied des Knaben berührt hatte. Alles, was geschehen war, war eine Sache zwischen Gott und ihm. Welche Folgen hätte es gehabt, wenn er bei dem Knaben zu weit gegangen wäre? Es wäre den Leuten zu Ohren gekommen. Man hätte ihn auf dem Marktplatz verbrannt, und er wäre in der Hölle gelandet. Das Bild ließ ihn nicht los. Er sah sich selbst, wie er mit einem Strick um den Hals am Rathaus baumelte, wie man seine Arme und Beine vom Leib abtrennte und weithin verstreute. Seinen Kopf würde man auf einen Pfahl spießen und die Reste seines kümmerlichen Glieds den Schweinen vorwerfen. Aber zum Glück hatte ihn der Knabe mit einem frommen Lied vor dem Scheiterhaufen bewahrt, im letzten Augenblick, kurz bevor der Engel sich offenbarte. Der Engel hatte alles gesehen. Alles. Dessen war er sich sicher. Vielleicht war der Engel gekommen, um die Pest und den Tod anzukündigen? Gott strafte ja die Menschen mit der Pest für die verbreitete Sodomie. Das wussten alle. Sodomie war so verbreitet in der Toskana, dass Lehrer aus der Gegend keine Erlaubnis mehr hatten, Bauernjungen zu unterrichten, die vom Land in die Stadt kamen. Sollte er, der Pfarrer dieses Kirchspiels, jetzt schuld daran sein, dass die Pest seine Gemeinde heimsuchte? Jetzt, kurz vor der Ankunft von Papst Pius? Das Gesicht des Engels war hinter einem Schleier verborgen. Die Augen schienen blau zu sein, wie bei Engeln üblich. Die Sonne stand wie ein Strahlenkranz um den Kopf der Gestalt. Er wagte nicht, sie anzusehen. Wenn ein Engel Verachtung empfinden konnte, dann verachtete dieses Geschöpf Gottes ihn sicher, denn schon er selbst verachtete sich zutiefst.
Endlich war das Wunder ins Tal der Orcia gekommen. Die Leute hatten lange darauf gewartet. Er fühlte Erleichterung und wurde von einer großen Freude erfüllt. Er war nicht ganz sicher, ob es wegen des Engels war oder weil er immer noch vollständig bekleidet war. Seine Morgenmesse würde ausgefüllt sein vom Bericht über das Wunder. Anschließend wollte er Buße tun. Allerdings nicht beichten. Ach nein, nicht beichten. Er suchte nicht die Erlösung von seinen sündigen Gedanken. Die gab es nicht für ihn, weder im Himmel noch auf Erden.
Andropolus hatte sich hineingeschlichen, er stand im Schatten direkt hinter Anna und starrte sie an. Er wurde nicht von der Sonne geblendet, und er erkannte das Purpurband an ihrer Bluse wieder. Das Hemd, das er trug, roch nach Fisch, genau wie Annas Band an der Bluse. Eine weizenblonde Haarlocke lugte unter ihrem Schleier hervor. Die Schafe hatten sich in die Schlafkammer des Pfarrers hineingedrängt und trampelten zwischen den Bechern und Schüsseln um die Feuerstelle herum. Die schwarze Katze strich an Annas Beinen entlang. Der Pfarrer sah aus, als hörte er nichts als die himmlische Brise über den Berggipfeln. Mit zitternden Händen und gesenktem Kopf nahm der Pfarrer die Tafel mit der heiligen Agatha in Empfang, die Anna ihm gab. Andropolus hörte, wie Anna dem Pfarrer zuflüsterte, dass sie in der Kirche gesegnet werden sollte. »Gebt sie Meister Bernardo Rossellino in Verwahrung, bis Papst Pius kommt«, sagte Anna. Der Pfarrer nickte ergeben. »Ist sie für den Papst?«, fragte er. »Sie ist für die neue Kirche. Er wünscht sich eine Tafel mit dem Martyrium von Sankt Agatha.«
»Was soll ich sagen, von wem sie ist?« »St. Agatha hat mich geschickt«, entgegnete Anna.
Der Pfarrer sah das Gemälde nicht an. Er hielt seinen Blick fest auf die Gestalt vor sich gerichtet. Andropolus, der, berauscht wie er war, kaum aufrecht stehen konnte, gab sich große Mühe, zu begreifen, wie sich alles zugetragen hatte. Eine Frau war geflogen. Eine nackte Frau war wie ein Segel in der Luft über Andropolus und seinen Baum hinweggeflogen. Anna, Lucrezias Mutter. Sie war es, die er in dieser Nacht gesehen hatte. Sie war der nackte Engel der Sünde gewesen, der den Mohnblumen auf den sanft geschwungenen Hängen des Val d’Orcia ein Lied gesungen hatte. Jetzt begriff er, wie alles zusammenhing. Die heiße Nacht und der kühle Wind hatten sie bewogen, die Kleider abzulegen. Aber Lucrezia würde niemals erfahren, dass ihre Mutter sich nackt den Blumen und den Hirten in der Nacht gezeigt hatte. Sollte er es verraten? Dem Pfarrer sagen, dass es kein Engel war, der sich in seine Schlafkammer hinabgelassen hatte? Nein. Den Pfarrer seiner Einbildung zu berauben erforderte eine Entschlossenheit, die Andropolus nicht zu Eigen war. Entschlossenheit und Handlungskraft; mindestens ebensolche Beschlusskraft, wie ein Mann sie aufbringen musste, um ein Schwert durch fremde Haut zu jagen. Andropolus hatte kaum ausreichend Mut gehabt, sich selbst vor dem zu retten, wovon alle sprachen. Er fühlte sich armselig und klein, vergessen von dem liederlichen Pfarrer, der ihn eben noch befingert hatte. Ein Schwert, das durch Menschenhaut drang. Als Gefolgsmann Kaiser Konstantins hatte der Vater
Entschlossenheit genug besessen, Hunderte von Türken im Kampf zu töten. Der Pfarrer war auf die Knie gesunken. Andropolus hörte, dass er Gnadengebete flüsterte. Er musste an die Wasserträger denken, die sich immer am Hundebrunnen auf dem Kirchplatz versammelten. Ihr ganzes Gerede darüber, welche Angst die Leute vor Anna hatten. »Matadorenmantel«. Nannten sie nicht die purpurfarbene Mozzetta des Papstes so, die er um die Schultern trug? Die Farbe, die sie verwendete, hatte eine solche Kraft, dass sie einen Stier in die Knie zwingen konnte, hieß es. Und jetzt sah er es. Der Pfarrer kniete, ohne zu begreifen, dass er vor der Färberin des Papstes kauerte. Das Kennzeichen des echten Purpurs war der Geruch nach verdorbenem Fisch. Andropolus wusste alles darüber. Der Vater hatte ihn damals auf dem Arm getragen, als sie die Färberwerkstätten des Kaisers besucht hatten. Der Purpur war 1453 in Byzanz untergegangen. Die Purpurfärbereien des Kaisers waren während Mehmets Belagerung von Konstantinopel zerstört worden. Sein Vater, der wirklich imstande war, ein Schwert zu führen, auch durch fremde Haut, hatte den Färbermeistern auf Befehl des Kaisers die Zungen herausgeschnitten, damit sie das Geheimnis nicht verraten konnten. Das Wissen um die Herstellung von Purpur war ebenso wertvoll wie Gold, hatte der Vater gesagt. Die geheime Formel durfte nicht in die Hände des Feindes fallen. So war das Gesetz, für Alchimisten und für Purpurfärber gleichermaßen. Konstantinopel fiel an einem Dienstag, nach dreitägigem Kampf. Obwohl die Jungfrau Maria der Schutzpatron der Stadt war, riss der Sultan die Macht an sich. Er hatte seine Verachtung für die Stadtheilige gezeigt und sie besiegt.
Der Dienstag hatte sich für die Griechen in den Tag der Niederlage verwandelt, den Tag, an dem sie ihre Kraft verloren. Den Tag, an dem der Sultan siegesstolz den Halbmond auf die Kuppel der Sophienkirche setzte und auf einem weißen Pferd durch die Kupfertore der Stadt ritt, gefolgt von Leibgardisten mit vergoldeten Schwertern und Bögen. Als das Pferd des Sultans achtlos über die Leichname trampelte, die in den Straßen lagen, verloren die Griechen ihren Stolz. Der Sultan ritt in die gefallene Stadt ein, den Eisenhammer hoch erhoben in der linken Hand. Er beugte sich tief hinab, ergriff eine Hand voll Erde mit der Rechten und ließ die Erde auf seinen Kopf rieseln. Das war der Moment, in dem die griechischen Männer ihre Kraft verloren. Er sah den Vater auf einem Schlachtfeld voller Leichen und blühendem Mohn stehen, während die Türken Andopolus’ Mutter und drei Schwestern verschleppten, auf einem Schiff, voll beladen mit Frauen. Wie eine Salzsäule erstarrte der Vater, und ebenso blickte er neun Jahre später Andropolus nach, als er von Mehmets Janitscharen abgeholt wurde. An Händen und Füßen gefesselt saß Andropolus in einem Korb, von einem Esel getragen. Eng zusammengepfercht mit anderen Jungen in seinem Alter. Sie sollten Soldaten in Mehmets Kinderheer werden und später gegen ihr eigenes Volk kämpfen. Nach einiger Zeit gelang es ihm zu fliehen. Er floh, weil er fürchtete, dass ihm die Janitscharen eines Tages den Befehl geben würden, seinen eigenen Vater zu töten.
Andropolus stand mit dem Rücken zur offenen Tür und starrte mit tränenerfüllten Augen seine Herrin an. Er war in einer anderen Welt und sah doch alles so, wie es war.
In der wirklichen Welt war er Lorenzos Sklave und der Himmel war sein Dach. An diesem Morgen wurde der Hass, den er für die Türken fühlte, durch das rote Nachthemd und Annas Bluse wieder zum Leben erweckt. Er wollte nicht länger Sklave sein. Er wollte seine Kraft benutzen und Krieger in Papst Pius’ Heer werden. Er wollte dem Kreuzzug in den Kampf gegen Sultan Mehmet folgen. Lieber lateinische Barbaren als der Sultan. Er war jetzt bald ein Mann und konnte Rache nehmen an denen, die ihm die Mutter und das Vaterland geraubt und ihn heimatlos gemacht hatten. Anna und Andropolus verließen das Haus des Pfarrers und machten sich auf den Heimweg. Als sie außer Sichtweite waren, half Anna dem Jungen aus dem Nachthemd und verbarg es unter ihrem Umhang. Es erschien ihr sonderbar, dass Andropolus sich das Nachtkleid übergezogen hatte, und sie fragte ihn nach dem Grund. Eifrig berichtete er – von dem Engel, der über seinen Kopf geflogen und im Olivenbaum des Pfarrers niedergegangen war, wie der Pfarrer absolut wollte, dass er das Kleid anzog, weil er meinte, Andropolus sei die Frau, die Gott ihm vom Himmel geschickt habe. Einen Moment lang spürte sie, dass Andropolus sie forschend anstarrte. Das veranlasste sie, ihr Gesicht besser unter dem Schleier zu verbergen. »Pfarrer wissen ja immer alles«, fuhr er fort. »Aber wenn es darum geht, ob ich Mann oder Frau bin, weiß ich selbst am besten, was ich bin«, sagte er mit einem zitternden Unterton in der Stimme. »Nur hat sich der Herr Pfarrer wohl nicht darum geschert.« Leibwächter Antonio ritt ein Stück hinter ihnen. Andropolus zog den Esel hinter sich her, und die Schafe und die Hunde wimmelten um sie herum. Andropolus zeigte zum Himmel. Die Sonne schien grell auf seine hübschen Gesichtszüge.
»Ich bin sicher, dass der Engel mir einen Gruß von meinem Vater geschickt hat. Aber der Herr Pfarrer hat das nicht geglaubt.« Andropolus Stimme ließ Mitgefühl und Zärtlichkeit in Anna aufwallen. Was hatte der Pfarrer mit ihm angestellt? Sie wollte ihn später danach fragen. Jetzt war er viel zu aufgewühlt, und sie wollte ihn nicht mehr als nötig erschrecken. Warum hatte sie sich nicht früher darum gekümmert, diesen Jungen kennen zu lernen? »Manchmal muss man sich in einem hohlen Baumstamm verstecken – nicht vor Wölfen und Wildschweinen, sondern damit die Menschen einen nicht finden«, fügte er mit betrübter Stimme hinzu. Im Baum fühlte er sich sicher, und er verließ dieses Zuhause nie, bevor es nicht Morgen geworden war. »Denn es ist nicht so einfach«, sagte er, »zwischen Schwein und Mensch zu unterscheiden. Schon gar nicht, wenn es dunkel ist.« Er blieb stehen und sah Anna an, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. »Wo soll ich mich verstecken, wenn die Holzfäller meinen hohlen Baum schlagen?« Anna bereute, dass sie ihn nicht schon längst zu sich geholt hatte. »Du wirst in Lorenzos Haus sein, in einem Bett, das ich für dich bereiten werde«, sagte sie. »Du sollst kein Sklave mehr sein. Lucrezia erwartet dich daheim und ihre Amme wird für dich sorgen.« Anna wusste, dass Lorenzo seinerzeit Andropolus’ Vater versprochen hatte, ihn nicht länger als Sklaven zu halten. Sie hatte versucht, Lorenzo daran zu erinnern, doch er machte nicht den Eindruck, als ob ihn sein Versprechen kümmerte. Es schien, als hätte er den Jungen vergessen, so wie er ihn als Hirten leben ließ, bei einfacher Sklavenkost und mit einem Baum als Unterschlupf. Brot war nichts für einen Jungen, der
wachsen sollte. Sie hatte keinen Sohn und Lucrezia keinen Bruder. Warum sollte sie ihn nicht zu sich nehmen? Über das Gerede der Leute wusste Andropolus zu berichten, dass Anna sich davor hüten solle, ohne Leibwache auszugehen. Am besten, sie ginge gleich in Begleitung mehrerer Leibwächter aus, denn sie könne sich ganz und gar nicht sicher fühlen. »Ich werde Euer Leibwächter sein, wenn ich älter bin«, sagte er mit einer Inbrunst, die Anna veranlasste, seine Hand fest zu drücken. »Ich habe bei den Türken gelernt, mit Waffen umzugehen. Und den Rest habe ich im Blut.« »Du bist also eigentlich ein Krieger?«, fragte Anna lächelnd. »Das habe ich von meinem Vater. Willenskraft und Stärke. Die Fähigkeit, ein Schwert zu benutzen.« Anna konnte sehen, dass er ein paar Mal schluckte, nachdem er diese kühnen Worte gesagt hatte. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Die dünne Haut, die ihn beschützte, trug keinerlei Anzeichen von Flaum. In aller Verborgenheit würde sie seine Leibwächterin sein, bis er erwachsen geworden war, dachte sie. Seine warme Jungenhand lag in ihrer. Sie war breit und konnte bestimmt gut eine Bogensehne spannen. Sie würde ihn mit auf die Jagd nehmen, so wie ihr Vater es mit ihr selbst getan hatte. »Die Baronessa soll sich vor der Färbergilde in Siena in Acht nehmen«, fuhr Andropolus fort. »Das haben die Leute am Hundebrunnen in Corsignano gesagt. Sie behaupten, dass die Baronessa sich nur durch Lorenzo Zugang zum Purpur verschafft hat. Ich sage natürlich, dass das eine Lüge ist.« Sie lachte, erleichtert darüber, wie weit das von der Wahrheit entfernt war. Doch sie spürte eine wachsende Unruhe.
Andropolus wusste zu berichten, dass böse Gerüchte die Runde machten, nachdem die Leute begriffen hatten, dass Anna wirklich im Besitz des echten Purpurs war. »War die Baronessa in den kaiserlichen Färbereien von Konstantinopel?«, fragte er. »Ich bin nie in Konstantinopel gewesen«, antwortete Anna. »Das sagen die Leute auch. Sie sagen, dass Ihr nie dort gewesen seid, aber dass Herr Lorenzo als Krieger dort war, das wissen alle. Sie sagen, dass er die Färbermeister bestochen hat, um an das Geheimnis der Farbe zu kommen.« Anna merkte plötzlich, wie die Sonnenhitze eine Welle von Übelkeit in ihr aufsteigen ließ. Sie holte eine Lederflasche mit Wasser hervor und trank, bevor sie sie an den Jungen weiterreichte. Ihr Atem ging schwer und sie wünschte, ein Wind würde aufkommen. Aber es war, als stehe die Luft still. Lorenzo hatte viele Geschichten erzählt von den blutigen Kämpfen mit den Türken an jenem Tag, als Konstantinopel fiel. Sie konnte sich jederzeit Bruchstücke davon in Erinnerung rufen, über Blutbäder, den Sieg des Sultans und den Tod des Kaisers. Lorenzos Geschichten über die Schlacht, die er und die Griechen gegen die Türken geführt hatten, waren grausam. Doch von einer Verbindung zu den Färbermeistern in den streng bewachten kaiserlichen Färbereien war nie die Rede gewesen. »Färbermeister, denen die Zunge abgeschnitten wurde, können doch nicht mehr sprechen«, flüsterte sie. Sie dachte daran, dass man auch ihr mit Verstümmelung drohen konnte. »Ich weiß«, entgegnete Andropolus. »Niemand kann sprechen, der keine Zunge mehr hat.« »Dann weißt du also, dass der Kaiser dafür gesorgt hat, dass den Färbermeistern die Zungen herausgeschnitten wurden,
bevor Sultan Mehmet die Stadt erstürmte«, sagte sie mit rauer Stimme. »Er wollte verhindern, dass der Purpur in die Hände des Feindes gelangte. Was die Leute sagen, ist eine Lüge.« »Das weiß ich wohl, dass es eine Lüge ist! Ich habe zu den Wasserträgern gesagt, dass sie falsche Geschichten verbreiten. Sie behaupten, dass Herr Lorenzo die Soldaten erpresst hat, bevor sie dazu kamen, den Färbern die Zungen herauszuschneiden. Da habe ich ihnen gesagt, dass mein Vater den Befehl hatte, den Auftrag auszuführen, und dass er sich niemals hätte bestechen lassen.« »Dein Vater?« Anna blieb stehen, um Andropolus ins Gesicht zu sehen. Sie fühlte plötzlich, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Wieso stand sie hier vor diesem Jungen und weinte? Die Geistlichen wussten bestimmt von den Gerüchten über Lorenzo. Doch niemand warnte sie. Niemand sagte etwas. Sie verschwiegen das, worüber alle redeten. Andropolus sah sie fragend an. Vielleicht erwartete er, dass sie etwas darüber sagte, was Gerüchte waren und was die Wahrheit. Plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Sie nahm sich zusammen und begann zu sprechen. »Mein Wissen über den Purpur trage ich schon mein ganzes Leben lang in mir. Das kannst du den Leuten sagen, die sich gegen Lorenzo verschwören. Falls sie es vergessen haben sollten, darfst du sie gerne daran erinnern, dass er der treue Leibwächter des Papstes ist und sein Freund seit Kindertagen. Er würde den Papst niemals hintergehen.« Sie legte den Arm beschützend um seine Schultern. »Wer will Lorenzo schaden?«, fragte sie vorsichtig. »Ich weiß es nicht. Ich erzähle nur, was ich gehört habe. Sie sagen, dass Herr Lorenzo nach dem Fall von Konstantinopel
sofort nach Hause geritten ist und Euch, nicht dem Vatikan, das Rezept für die Herstellung von Purpur überbracht hat.« »Sag mir, wer so etwas behauptet.« »Die Wasserträger sprechen darüber am Hundebrunnen auf dem Markt. Sie sind viel unter Leuten und hören überall zu, ohne dass jemand sie überhaupt bemerkt. Ich habe ihnen gesagt, dass es nicht wahr ist, aber das nützt nichts. Sie erzählen es trotzdem weiter. Sie verspotten mich und meinen Vater. Sie sagen, dass er sich von Herrn Lorenzo erpressen ließ, damit ich nicht in die Hände der Türken falle. Dass er Herrn Lorenzo gab, was er verlangte, damit Herr Lorenzo zurückkommen und mich holen würde, sobald ich alt genug wäre, um von den Schergen des Sultans für sein Kinderheer geraubt zu werden. Ich habe den Wasserträgern gesagt, dass ich jeden, der so etwas über meinen Vater erzählt, töten werde. Aber ich habe doch nur Steine, ich habe kein Schwert, mit dem ich töten könnte.« Er wischte eine Träne weg. Anna sah, dass seine Haut trocken und rissig war. In seinen Haaren krochen Läuse, sie würde die Amme bitten müssen, ihn zu entlausen. Sie ging langsam neben dem immer noch berauschten Jungen her und stützte ihn, damit er nicht fiel. Andropolus wiederholte, dass er nicht wisse, wer der Urheber der Gerüchte sei. Ob sie von den Kardinälen stammten? Nein, er wusste nicht, wer wirklich dahinter steckte. Die Einzigen, mit denen er sprach, waren die Wasserträger und die Hirten, sagte er. »Ist das alles, was du gehört hast, oder gibt es da noch mehr?«, wollte sie wissen. Ja, doch… da war noch was. Etwas in der Art, dass die Sieneser Färbereien sich das Geheimnis des Purpurs beschaffen wollten. Sie hatten Angst, dass Lorenzo das, was
ihnen zustand, an Cosimo de’ Medicis mächtige Färbereien in Florenz verkaufen würde. »Sie sagen, dass es die Pflicht von Herrn Lorenzo sei, den Sienesern den Purpur zu überlassen, damit er nicht in die Hände der Florentiner fällt. Die Sieneser haben Angst. Sie sagen, dass der Papst mit den Architekten aus Florenz liebäugelt.« Die letzten Worte flüsterte Andropolus. Anna sah hinauf zum Gutshof. Vielleicht kam Lucrezia ihnen entgegen, wenn sie sah, dass ihre Mutter Andropolus mitbrachte? Doch sie konnte ihre Tochter nirgends entdecken. Sie hatte lange gezögert, Lucrezia in das Geheimnis der roten Farbe einzuweihen. Sie wollte sie schützen, ihr den Schutz geben, den sie selbst nie hatte. Als Kind hatte es Anna erschreckt, dass sie ein Wissen in sich trug, das sie mit niemandem teilen konnte. Deshalb hatte sie angefangen, ihrer Tochter durch märchenhafte Geschichten vom Purpur zu berichten. Sie erzählte von dem König, der die Murex-Schnecke per Dekret für heilig erklärt hatte. Alle Untertanen seines Reiches mussten die Schnecke achten und schützen, weil sie das Rätsel der kostbaren Purpurfarbe in sich barg. Die Farbe kam aus einer weißen Drüse am After der Schnecke. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie Lucrezia angefangen hatte zu lachen. »Ist das wirklich möglich«, hatte sie gefragt, »dass der Ursprung einer Farbe von einer Art ist, die das Göttliche derart herabwürdigt? Kaiser und Könige schmücken sich mit der Farbe aus den Exkrementen einer Schnecke«, rief sie mit einer Mischung aus Ekel und Schadenfreude. Anna hatte sie damit getröstet, dass der magische Stoff auch in einer Drüse enthalten war, die in einer kleinen Vertiefung am Kopf der Schnecke lag. Das Wunder kam zustande, wenn das Sekret des Meerestierchens und die Strahlen der Sonne
zusammentrafen. Es konnte sich nicht in Farbe verwandeln, wenn nicht die Sonne darauf schien, hatte sie Lucrezia erklärt. Anna unterließ es, ihr von den Zutaten zu erzählen, die nötig waren, um die Farbe leuchtstark und dauerhaft haltbar zu machen, dieses detaillierte und immer wieder verfeinerte Rezept, das ihr von ihren Vorfahren überliefert worden war. Lucrezia war Feuer und Flamme gewesen, dass Schnecken eine solche Farbenpracht bewirken konnten. Sie wollte ganz gewöhnliche Schnecken sammeln und untersuchen, ja sogar Eidechsen. Im Garten türmte sie sie zu Haufen auf. Liam segnete die Tierchen, und Andropolus untersuchte bei einigen von ihnen das Hinterteil. »Erzähl mir mehr«, pflegte Lucrezia zu betteln, wenn Anna abends an ihrem Bett saß. Doch Anna hatte Lucrezia nie die ganze Wahrheit gesagt. Das Geheimnis sollte mündlich von der Mutter an die Tochter oder vom Vater an den Sohn überliefert, aber niemals aufgeschrieben werden. Mittlerweile war Lucrezia alt genug, um eingeweiht zu werden. Sie musste lernen, mit der Angst zu leben, dass Fremde sie dazu zwingen könnten, ihr Wissen zu verraten. Anna war immer besorgt, dass ihr selbst etwas zustoßen könnte, ohne dass Lucrezia erfahren hatte, wie sie ihr Erbe verwenden sollte. Aber es konnte auch geschehen, dass der Papst so große Aufträge gab, dass ihr Vorrat an Purpursekret weit vor Lucrezias Zeit aufgebraucht war. Dann würde er sich an Cosimo de’ Medicis Färbereien wenden. Deren Spezialität war das Färben mit Kermesschildläusen von den Kermeseichen in Palästina sowie mit Krappwurzeln aus Asien. Zur Pflanzenfärbung benötigte man Alaunsalz, und Cosimo ließ das Salz aus der Türkei kommen. Mit ihrem Wissen wäre es ihr sicher möglich, aus der Krapp-Pflanze ein Rot zu gewinnen, das dem echten Purpur noch ähnlicher war als das,
was die Färber in Cosimo de’ Medicis Färbereien erreichten. Doch was nützte es die Pflanze anzubauen, wenn in Italien kein Alaun aufzutreiben war? Ohne große Mengen von Alaunbeize hatte es keinen Zweck, mit der Krappwurzel zu färben: Die Textilien würden die Farbe nicht dauerhaft annehmen. Anna drehte sich um und sah hinauf zum Pfarrhaus, bevor sie durch die große Eisenpforte trat. Sie tröstete sich damit, dass der Pfarrer sie für eine himmlische Erscheinung gehalten hatte. Andropolus hatte ihr erklärt, sie habe den Pfarrer in Verzückung darüber vorgefunden, dass die Engel ihm ein Zeichen gegeben hatten. Aber konnte sie ihre Zukunft auf einen solchen Irrtum bauen? Würde er sie nicht verraten, wenn er bei genauerem Nachdenken begriff, vor wem er gekniet hatte? Und dass sie es gewesen war, Lorenzos Gemahlin, die das Bild angefertigt hatte? Eine Unruhe überkam sie, ihr wurde angst bei dem Gedanken, welche Folgen ihr Heiligenbild haben konnte. Hatte sie es Aeneas Silvius Piccolomini gleichgetan, der in seiner Jugend eine Grenze überschritt? Sie kannte die Antwort. Sie hatte sie die ganze Zeit gewusst. Es war unmöglich, umzukehren. Sie konnte sehen, dass der Pfarrer sich dem Stadttor näherte. Sie hatte ihre ganze Macht in die Hände eines Fremden gegeben. Andropolus’ Hand legte sich wieder vertrauensvoll in ihre. Später würde sie in Lorenzos Bibliothek gehen. Dort würde sie nach der Kiste mit den Büchern suchen, die sie aus Norwegen mitgebracht hatte. Darunter war ein Buch, das eine Pflanze zeigte, die in salzhaltiger Erde wuchs. Wo diese Pflanze gedieh, gab es auch Alaun. Es war sechzehn Jahre her, dass sie die Zeichnung dieser Pflanze gesehen hatte. Sie erinnerte sich nicht mehr, wie sie aussah. Sie musste einen Ausweg finden.
Es war nicht gut, so abhängig von einer winzigen Schnecke zu sein. Außerdem kannte sie die Wünsche des Papstes. Vor einigen Jahren hatte er ihr eine zerbrochene Keramikvase verehrt, die man in Titus’ Bad gefunden hatte und deren Inneres mit einem rosa Pigment gefärbt war. Er hatte sie ihr gegeben, damit sie herausfand, ob das Pigment aus einem Schneckensekret stammte oder aus den getrockneten Eiern der Kermesschildlaus. Sie hatte die Vase genau untersucht und dem Papst berichtet, dass das Pigment nicht von Schnecken stammte, denn es war mit Weinsalz und Alaun vermischt, was ausschließlich für die Farben aus Kermes und Krappwurzel gebraucht wurde. Als sie das Alaunsalz erwähnte, erzählte er ihr, dass die Latiner in vorchristlicher Zeit eine kleine Menge Alaun auf der Insel Ischia gefunden hätten. Später erfuhr sie, dass der Papst eine Expedition nach Ischia geschickt hatte, gleich nachdem sie aus dem Vatikan abgereist war. Die Expedition hatte in den Grotten des Vulkans Liparea nach Alaun gesucht. Doch zur großen Enttäuschung des Papstes kamen die Männer zurück, ohne etwas gefunden zu haben. Als Anna den Garten betrat, übergab sie Andropolus in die Obhut von Lucrezias Amme und ging in die Kapelle. Liam stand am Altar und bereitete die Taufe für das Kind einer Bediensteten vor. Sie konnte ihm ansehen, dass er verängstigt war. Lorenzo hatte ihn dafür verantwortlich gemacht, dass sie Sankt Agatha als Dirne dargestellt hatte. Nun fürchtete er wohl, dass man ihn vom Hof jagen würde, deshalb wollte er ihr nicht helfen. Sie hörte ein Kind schreien und sah eine Magd mit einem Neugeborenen auf dem Arm an der Tür stehen. Die Frau freute sich, als sie Anna sah, und kam auf sie zu, um ihr das Kind zu zeigen. Weitere Bedienstete strömten herein, und bald war der Raum gefüllt.
Wenn eine Magd Anna ihr Kind vorzeigte, dann geschah das, um ihr zu versichern, dass es nicht von Lorenzo war. Anna streichelte den Säugling zärtlich. Lorenzo war ja fast ein Jahr lang fort gewesen. Sie stellte sich neben das Taufbecken, um der Taufe beizuwohnen, und fühlte einen Stich von Neid auf die Fruchtbarkeit der jungen Frau.
D
er Hunger nagte in Lucrezia, während sie an den Armen von einem Ast hinunterhing. Sie hatte mindestens eine halbe Stunde so gehangen, und genauso lange knurrte ihr schon der Magen. Aber sie wollte nicht länger essen, was ihre Mutter ihr bereitete. Die Speerspitze saß tief in ihrem Körper. Es war, als hätte sich das Zentrum ihres Körpers an einen Punkt zwischen den Schulterblättern verschoben. Etwas Fremdes, Hartes war in ihren Körper gedrungen. Die Schultern waren schief verwachsen und zwangen sie, den Kopf schräg zu halten. Eines Tages, als sie die Gespräche am Backhaus belauschte, hatte sie gehört, dass die Bäckerin von ihr als von einem Krüppel sprach. Und errötet war sie, als die Mutter ihr und dem Gesinde von der Lucrezia berichtete, die der Papst erdichtet hatte. Anna hatte ihnen schon viele Male Geschichten aus dem Buch erzählt, doch sie wurden es nie müde, von ihrer Heldin zu hören. Zusammen mit Andropolus versteckte Lucrezia sich gerne unter dem Tisch, sodass niemand sie entdecken konnte. Da hockten sie dann und belauschten, was die Erwachsenen besprachen. Papst Pius verleugne sein Buch, weil er die Geschichte geschrieben hatte, bevor er Gottes Stellvertreter auf Erden wurde, erzählte die Mutter. Die Frauen, die um den Backofen herumstanden, zerrissen sich den Mund über das Dilemma des Papstes. Aber wenn Anna ihnen die Teile des Buches vortrug, die von Lucrezias tragischer Liebe zu Euryalus handelten, wurden sie ganz still. Das Einzige, was sie dann außer der Stimme ihrer Mutter hörte, war das rhythmische Teigkneten der Backfrauen. Hinterher sprachen sie noch lange über die erdichtete Lucrezia, über ihre Willenskraft und ihren Mut zur Liebe und über die mangelnde Courage des Papstes, der seine Heldin so im Stich ließ.
Andropolus und sie saßen kichernd unter dem Tisch, während die Backfrauen sich über das Für und Wider von Lucrezias Moral stritten. Sie war stolz darauf, nach einer Romanfigur benannt zu sein, über die alle sprachen. Doch als sie begriff, dass der Papst Lucrezia verleugnete, war ihr, als müsse sie selbst diese erdichtete Frau am Leben erhalten. Papst Pius wollte die Leute vergessen machen, dass er ein Dichter gewesen war, weil seine Bücher von einer verzehrenden körperlichen Liebe handelten. Lucrezia schien es, als würde ihr Ideal verblassen, die andere »Lucrezia« verschwand. Während sie so am Ast hing, fragte sie sich, ob es dem Papst möglich war, Gestalten zu vernichten, die er erschaffen hatte, und damit jemandem das Leben zu nehmen, der durch eine dieser Gestalten gelebt hatte. Befanden sich erdichtete Personen in der Gewalt des Dichters? Konnte er mit ihnen machen, was er wollte? Lucrezia klammerte sich so fest an ihren Ast, dass ihre Knöchel ganz weiß wurden. Sie wollte nicht mit der erdichteten Lucrezia sterben, auch wenn sie die Seele der Sterbenden in sich trug. Sie wollte weiterhin durch sie leben. Denn wer war sie, wenn nicht die Romanfigur Lucrezia? Nichts als ein ängstliches junges Mädchen, das niemand in der Welt haben wollte. Niemand außer Andropolus. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie es war, ein sorgloses Kind mit einem gesunden Rücken zu sein. Sie hatte sich schon gewundert, welche Sehnsüchte sie manchmal überfielen, und ihr war nicht entgangen, dass Andropolus sich innerhalb kurzer Zeit in einen anderen, viel schöneren Jungen verwandelt hatte. Während des morgendlichen Ankleidens hatte ihre Amme eine Erhebung unter der Narbe entdeckt. Ganz oben am Rücken, zwischen den beiden Knochen, die Engelsflügel
genannt wurden, war ihr eine harte Beule aufgefallen, rund wie ein Ball, so wie der Mond am Himmel. Die Amme hatte Lucrezia einmal vom Zyklus des Mondes erzählt und ihn mit dem Blut, das manchmal aus ihr rann, in Verbindung gebracht. Deshalb hatte Lucrezia gedacht, dass auch die Beule verschwinden würde, wenn das Blut versiegte und sie wieder wie früher war. Aber sie hatte schnell bemerkt, dass die Erhebung auf dem Rücken in keinem Zusammenhang mit dem Mond stand. Seine Stellung am Himmel steuerte nur Ebbe und Flut ihrer Körperflüssigkeiten. Die Kugel, die dort wuchs, wo der Weg bis zum Herzen nur kurz war, verschwand nicht. Sie wurde mit jedem Vollmond nur noch praller. Doch Lucrezia gab nicht auf. Deshalb hing sie an ihren Armen vom Ast. Andropolus hatte ihr geraten zu versuchen, den Rücken zu strecken. Manchmal stand er unter ihr und zog an ihren Beinen, bis sie schrie. Manchmal träumte sie, dass die Mutter sie zurückhaben wollte, wenn sie nur wieder so würde wie früher. Lucrezia war davon überzeugt, dass die Mutter sie abwies, weil sie nicht ertragen konnte, dass sie ihre Schönheit verloren hatte. Vergangene Nacht jedoch hatte Lucrezia einen seltsamen Traum gehabt, der sie erschreckte: Die Mutter war tot gewesen. Sie hatte Lucrezia gebeten, zusammen mit ihr im Totenreich zu speisen. Anna hatte ihr am Tisch gegenübergesessen, ohne das Essen anzurühren, während Lucrezia beherzt zugegriffen hatte. Als die Mahlzeit vorüber war, hatte die Mutter sich enttäuscht darüber gezeigt, dass Lucrezia sie nicht gebeten hatte, mit hinauf auf die Erde zu kommen und dort zu essen. Lucrezia, der das Essen geschmeckt hatte, war über diesen Wunsch erstaunt. Sie hatte sich doch hinab in das Totenreich der Mutter gewagt, unter der Gefahr, nicht wieder hinauf zu den Lebenden zu kommen.
Wenn die Mutter tot war, konnte sie sich doch nicht unter den Lebenden aufhalten. Oder doch? Lucrezia erinnerte sich daran, wie elend sie sich gefühlt hatte, weil die Mutter so unzufrieden mit ihr war. Es wurde immer finsterer um sie herum, und sie blieb sitzen und starrte hinaus in das Dunkel, ohne Kraft, aufzustehen und wegzugehen. Das Essen im Totenreich war kein Leben spendendes Essen, erklärte die Mutter, und Lucrezia fühlte sich getäuscht. Die Mutter hatte gewusst, dass das, was Lucrezia zu sich nahm, Kadaverfleisch und Milch aus verfaulten Frauenbrüsten war. Deshalb hatte sie nichts gegessen. Die Mutter liebte sie nicht, das merkte sie am Nachgeschmack des Essens. Er klebte ihr noch am Gaumen, als sie aufwachte. Sie war aufgestanden und zum Schlafgemach der Mutter gelaufen. Als sie die Tür öffnete, sah sie die Mutter auf dem Fußboden liegen und mit entrücktem Blick an die Deckenbalken starren. Sie war nackt, und Lucrezia sah, dass ihre Haut weiß wie Milch war. Das Fenster stand offen und der Wind blähte die hellen Leinengardinen in den Raum hinein wie Segel. Der Baldachin über dem Bett bewegte sich, als lebe er, ja als läge dort jemand in Mutters Bett und atme. Doch das Bett war leer. Vater war nicht da. Der Wind im Zimmer verdrängte die Wärme und Geborgenheit, die für gewöhnlich die Mutter umgab. Aber sie sah nicht aus, als würde sie frieren. Sie merkte nicht einmal, dass Lucrezia in der Tür stand, so ängstlich, dass sie die Luft anhielt. Lucrezia war leise in ihr eigenes Zimmer zurückgekehrt. An dem Abend hatte sie es zum ersten Mal gespürt. Ein starkes Verlangen, gefüllt zu werden.
D
er Pfarrer ging in Gedanken versunken hinter ein paar Kühen den morastigen Trampelpfad entlang. Unter dem Arm trug er das Altarbild. Es war von einem Stück Leinwand verhüllt. Je näher er der Kirche kam, desto sicherer war er sich, dass es die Brust einer irdischen Frau war, die er zu Bernardo Rossellino trug. Nicht die einer heiligen. Nicht die einer geistlichen. Ein wollüstiges Feuer brannte in Sankt Agathas weißer Brust, ein Feuer, das vor vielen hundert Jahren die Begierde und die Wut eines Mannes entzündet hatte. Er hatte um die Jungfrau Agatha geworben und war abgewiesen worden, weil sie Christus ihm vorzog. Der mächtige Mann hatte grausame Rache genommen, eine Rache so schändlich, dass die Jungfrau für die Welt unsterblich geworden war und später heilig gesprochen wurde. War es die Erinnerung an diese Qual, die Papst Pius sich als Altarbild wünschte? Zwei Brüste und ein Messer, das im Begriff war, sie abzuschneiden? Heilige sollten nicht in einer Art gemalt werden dürfen, die wollüstige Gedanken hervorrief. Während er, so schnell er konnte, der Stadtmauer entgegeneilte, hatte er ein Gefühl, als sei er verbunden mit dem Scharfrichter, der die grausame Handlung ausgeführt hatte. Ihm war, als spüre er die Brust in seiner Handfläche, als könne er fühlen, wie die weiche Rundung sich gegen den harten Schaft des Messers schmiegte. Der Schweiß brach in seinen Handflächen aus, und ein Zittern lief durch seinen Körper. Die Grenze zwischen Mord und Lust war hauchdünn. Es war, als werde er Zeuge eines Rituals Satans, einer unbekannten Liturgie. Die Kräfte, die in der Nacht so plötzlich verschwunden gewesen waren, erhoben sich erneut in ihm, und er vergaß, wohin er unterwegs war. Gebannt vom schmatzenden Geräusch der Schuhe, die bei jedem Schritt in den nassen Lehm gesaugt wurden, verspürte er
den Drang, sich tief, tief in den Morast sinken zu lassen und Teil der stinkenden Kuhfladen zu werden, die den Pfad bedeckten. Vage Bilder, die lange in ihm gegärt hatten, gewannen an Klarheit und stiegen an die Oberfläche. Er sah bettelnde Frauen vor sich, die Hände auf den Rücken gebunden, und versuchte diese Vorstellung zu verdrängen, indem er in die Sonne starrte. Ein weißer Streifen aus Licht verjagte die Erscheinung. Er war fast in Corsignano angekommen. Leute grüßten ihn, doch er merkte es nicht. Er bemerkte lediglich, dass seine Schuhe vom Kuhdung verdreckt waren. Er war dabei, Gottes Wege zu verlassen und Pfade zu gehen, auf denen Satan ihn versuchte. Etwas an dem Engel hatte nicht richtig gestimmt. Die Gestalt war mit einem purpurnen Band geschmückt gewesen. Kaiser und Könige trugen eine solche Pracht, um ihre Untertanen in die Knie zu zwingen. Aber im alten Griechenland hatten sich auch Dirnen mit Purpur herausgeputzt, wie er gehört hatte. Vielleicht waren sie alle zusammen Dirnen, verborgen in Kleidern, die mit eigenwillig riechendem Purpur gefärbt waren. Nicht allein die Farbe des Kleides, sondern auch der Geruch hatte Wollust in ihm geweckt. »Mein Gott«, sagte er laut zu sich selbst, als er vor der Kirche stand. Gefahr. Er war in großer Gefahr, seit Gott ihm das Kleid geschickt hatte. Die fatale Nacht und der Tag darauf hatten ein Licht auf etwas gerichtet, das bisher verborgen war, jedoch seit langem in ihm wohnte. Eine Aufgabe, die ihn voll und ganz forderte, die auf ihn wartete. Einen Augenblick lang spürte er eine lähmende Angst. Aber warum? War es nicht das, worauf er gewartet hatte? Ein äußeres Geschehen als Anstoß zu
Befreiung und neuem Leben? Sein Beweggrund, Gott zu suchen, war nicht der gewesen, der es hätte sein sollen. Die Scham war es, die ihn in den Priesterrock getrieben hatte. Er konnte sich nicht länger dahinter verstecken. Er wollte heraustreten wie ein Mann. Aber zuerst würde er das Wunder mit seinen Schäfchen teilen. Er stand mit dem Rücken zur versammelten Gemeinde, zögerte ein wenig, sprach dann ein stilles Gebet, ehe er sich umwandte und die Kanzel erklomm. Er hatte lange darüber sinniert, was er sagen sollte. Die Düfte des Nachtkleides wollte er unerwähnt lassen. Alles, was mit dem Kleid zu tun hatte, konnte die Gedanken auf Abwege bringen und ein schändliches Licht auf das Ganze werfen. Ja, die Details rund um das Kleid könnten die schmutzigen Fantasien der Leute anspornen, und dann würde sich ihr Verdacht gegen ihn richten. Er kannte doch seine Schäfchen. Es war immerhin ein Wunder geschehen, und das wollte er nicht verderben. Er würde sich darauf beschränken, von der Ankunft des Engels und dem Auftrag der heiligen Agatha zu berichten. Um der Sittlichkeit willen würde er aus der Engelsgestalt mit den üppigen Brüsten einen männlichen Engel machen. Er begann seine Predigt. Aber zu seiner eigenen Verwunderung kam er nicht auf das Wunder zu sprechen. Mehrere Male hob er an, sein persönliches Bekenntnis abzulegen, aber aus ihm unerfindlichen Gründen wählte er abstrakte Gleichnisse und die oft gebrauchte Darstellung, dass ihn ein gewaltiges Licht getroffen habe. Nicht ein Wort über die Offenbarung kam über seine Lippen. Es war, als ob die Leute sich ihm entzögen. Statt ihm entgegenzukommen, starrten sie ihn ungläubig an. Sie durchschauten ihn und erkannten, was für einen verweichlichten und feigen Hirten sie hatten.
Die Erinnerung an die gewaltigen Flügel des Engels begann vor dem Pfarrer zu verblassen. Er weigerte sich, das zuzulassen. Die stumme, starrende Gemeinde erfüllte ihn mit einem solchen Zorn, dass er am liebsten gebrüllt hätte. Wie gern hätte er herausgeschrien, was er über sie wusste: dass es Eheleute nach anderen Liebesabenteuern gelüstete, dass Männer ihre Frauen töteten, dass Frauen ihre neugeborenen Kinder erstickten, dass der Vatikan Ränkespiele betrieb, Heuchelei und Gier nach weltlicher Macht. Gott der Herr würde Pest und Elend auf sie alle herabsenden! Er stand hier als der einzige Gerechte. Alles, was auf seine Schultern geladen worden war, wollte er hinausschreien, von alldem wollte er sich befreien. Das Bewusstsein, dass er dennoch nicht erhört worden war, durchdrang ihn so heftig, dass er lange Zeit keinen Laut von sich geben konnte. Vielleicht hatte Gott doch nicht die Absicht, seine Teufel von ihm abzuziehen. Der Pfarrer hatte Gott nur aus dem einen Grund gedient, dass Er ihn aus den Fängen des Teufels befreite. So war das. Gott und die Jungfrau Maria waren Zeugen gewesen, wie er seit seiner Kindheit neidisch auf die Tiere gewesen war. Seit Kindertagen hatte er den Zwang gespürt, sich abzuwenden, wenn der Hengst eine rossige Stute deckte, und er war geflohen, wenn er bemerkte, wie der Hahn seinen Hennen nachstellte. Gott hatte nicht die Absicht gehabt, ihn freizugeben. Bekehrung, so lautete Gottes Plan. Während er auf der Kanzel stand und über all das sprach, was nichts mit dem Wunder zu tun hatte, verschwand sein Zorn. Er glaubte nicht mehr an das Wunder. Ein Hemd, das aus dem Himmel herniedersegelte, ein Hirtenjunge mit rosigem Mund und ein Engel mit Flügeln so mächtig wie die eines Schwans.
Der Engel, der in seiner Tür gestanden hatte, war der Engel der Sünde. Deshalb waren die Engelsflügel ihm während der Predigt abhanden gekommen. Er stieg von der Kanzel und ging in die Sakristei. Die Tafel mit der heiligen Agatha sollte ruhig bleiben, wo sie war. Nicht nur die weißen Brüste stachelten die Lust an, sondern auch die Farbe der Brustwarzen. Ein Altarbild, mit dem der Teufel ihn verlockte, hatte in einer Sakristei nichts verloren. Aber wie sollte er es ungesehen wieder mit hinausnehmen? Auf dem Platz vor der Kirche wimmelte es von Leuten. Auf der Rückseite der Tafel stand geschrieben, dass sie für Meister Bernardo Rossellino bestimmt war. Es würde ihn nicht wundern, wenn Der Böse höchstselbst all das inszeniert hätte, um ihn auf die Probe zu stellen. Doch er würde widerstehen und sich seiner zukünftigen Stellung als Bischof würdig erweisen. Es gab keinen Grund, dem Befehl des sündigen Engels zu folgen. Er würde das Gemälde gewiss nicht an den Architekten des Papstes weitergeben. Es musste verbrannt werden. Der Pfarrer legte das Bild mit der Rückseite nach oben zu seinen beschmutzten Schuhen. Wenn der Kirchendiener, der seine Schuhe putzen sollte, die Tafel fand, würde er sie sicher liegen lassen, er rührte nie etwas an, was dem Pfarrer gehörte. Er beschloss, die Tafel nach dem Abendmahl wieder hinauszuschmuggeln. Er konnte sie im Pfarrhaus verbrennen. Welch lächerlicher Gedanke, dass er bereit sein sollte, die Tafel mit Weihwasser zu segnen, bevor er sie an Bernardo Rossellino weitergab. Das kam nicht infrage. Er allein bestimmte, was vom heiligen Weihwasser benetzt wurde. Er kam nicht darüber hinweg, dass er den Engel Satans in sein Haus gelassen hatte. Jetzt war er müde und hungrig.
Er behielt die Predigtschuhe an. Sie waren zu klein und die Sohlen hatten sich gelöst. Seine Füße fühlten sich schmutzig an. Rochen sie? Er hob sie unter seine Nase. Ja, sie rochen. Die Füße stanken nach Dung. Er würde einen anderen, weniger morastigen Weg nach Hause nehmen. Um das schmutzige Gefühl loszuwerden, füllte er eine Zinnschüssel mit Wasser und rief eine der Frauen aus dem Armenhaus zu sich in die Sakristei. Er bat die alte Frau, die vor ihm stand, seine Füße zu waschen. Er musste gesäubert nach Hause zurückkehren, er wollte nicht beschmutzt über seine Türschwelle treten. Als er wenig später draußen auf der Piazza vor der Kirche San Francesco stand, versuchte er die Kirchgänger abzuschütteln, die sich um ihn scharten. Viele von ihnen beschäftigte die Predigt, die er gehalten hatte. Sie wirkten aufgeregt. Wie sich herausstellte, hatten sie das von ihm gewählte Gleichnis als eine Ankündigung dafür aufgefasst, dass Pest und Siechtum dem Heiligen Vater folgen würden, wenn er kam, um die Stadt einzuweihen. Gerüchte, der Papst habe wegen des Ausbruchs der Pest aus Viterbo fliehen müssen, hatten Corsignano erreicht. Zugereiste und Einwohner der Stadt hatten sich zu Wort gemeldet und erzählt, dass bereits mehrere Kardinäle an der Pest gestorben seien. Deshalb sei der Papst unmittelbar nach Abschluss der Prozession zur Feier von Jesu Blut und Leib überstürzt abgereist. Angst breitete sich aus. Die Leute fragten den Pfarrer, wie ernst der Ausbruch der Pest sei und wie viele es getroffen habe. »Nur die Reichen und die Geistlichen können der Pest entkommen«, rief einer der Alten. »Wir anderen müssen hier bleiben und sterben!« Die Stimmung war aufgeheizt. Alle riefen aufgeregt durcheinander. Die Gerüchte über eine
Epidemie eilten wie ein Lauffeuer durch die Menge der Kirchgänger auf der Piazza. Einige meinten zu wissen, dass der Papst und seine Kardinäle die Pest nach Abbadia San Salvatore gebracht hatten und dass die Leute dort krank geworden waren. Andere Stimmen behaupteten, der Papst und einige seiner Kardinäle lägen mit Fieber im Bett. »Wird er auch uns die Pest bringen, wenn er nach Corsignano kommt, um Johannes den Täufer zu feiern?«, riefen sie. Dem Pfarrer knurrte der Magen. Die Aufregung der Leute wollte kein Ende nehmen. Viele der Einwohner Corsignanos hatten gehört, dass der Papst zu Besuch im Tal gewesen war, und sie hatten begonnen, blühende Myrte und Lorbeerblätter zu sammeln, um die Straßen zu schmücken, falls er überraschend in die Stadt kommen sollte. Schöne Webstücke schmückten die Häuserfassaden zu seinen Ehren. Orientalische Decken und handgeknüpfte Teppiche hingen in allen Gassen aus den Fenstern. Inmitten des Ganzen baumelte eine Leiche an einem Strick aus einem der Rathausfenster. Niemand in der kleinen Stadt sollte vom Anblick des Toten verschont bleiben. Bald würde der Leichnam zerteilt und die Körperglieder an unterschiedlichen Stellen in der Stadt aufgehängt werden. Der Pfarrer wanderte ungeduldig durch die Menge. Ab und an streifte sein Blick die Witwe des Stadtobersten. Er wartete auf eine Einladung zum Mittagessen, so wie es an Donnerstagen üblich war. Sie hatte auf ihrem angestammten Platz vor dem Altar gesessen und mehrmals seinen Blick gesucht. Er blieb stehen, begrüßte den Sohn der Witwe und fragte, wie die Hasenjagd am Morgen verlaufen sei. »Sie war besonders gut«, antwortete der Sohn, der die Jagd angeführt hatte. Doch auf das kurze Gespräch folgte keine Einladung. Der Pfarrer war viel zu hungrig, um darüber nachzudenken, ob der Papst die Pest mitbrachte oder nicht. Die Messe hatte deutlich länger als üblich gedauert, und seine Gedärme schrien
nach Speisen. Plötzlich wurde es still um ihn herum. Eine Stille voller Unruhe, die die Unsicherheit in ihm wachsen ließ. Eine Stille, die an das gespannte Schweigen erinnerte, bevor jemand gehängt wurde. Er starrte mit unstetem Blick über die Kirchgänger und hielt Ausschau nach dem Diener der Witwe. Da fiel sein Auge auf etwas, was er zuerst für ein Trugbild hielt. Der Kirchendiener stand mit der teuflischen Tafel der heiligen Agatha in den hoch erhobenen Händen vor der Gemeinde, als habe er einen Schatz gehoben. Die Menge schwieg, weil sie ihre Heilige entblößt sah. »Das habe ich in der Sakristei gefunden«, rief der Kirchendiener und hielt die Tafel noch höher. »Hingeworfen zwischen Schuhen, die nach Kuhmist stanken.« Habe ich es nicht geahnt?, dachte der Pfarrer. Wenn man die Tafel auf dem Fußboden zusammen mit den besudelten Schuhen fand, würde auch sie besudelt erscheinen. Die Tafel mit Sankt Agathas nackter Brust und dem Messer des Scharfrichters wurde ihm, dem Pfarrer, zugeschrieben. Er musste sich von der Darstellung distanzieren, wenn er nicht stehenden Fußes gehängt werden wollte. »Der Maler muss die Tafel dort hingelegt haben, damit ich sie Bernardo Rossellino für eine Beurteilung bringe«, rief der Pfarrer. Er drängte sich durch die Menge und riss dem Kirchendiener das Gemälde aus den Händen. Er musste seine Ehre retten. Er klemmte sich die Tafel unter den Arm und schritt auf das Tor des Palastes zu. Nicht weil er es dem sündigen Engel versprochen hatte, sondern um den Leuten zu zeigen, dass dies ein kostbares Bild war, das von höchster Stelle bewertet werden sollte. Er würde sie schon zum Schweigen bringen.
Er betätigte den Glockenzug am Tor des Papstpalastes und wurde von der Wache eingelassen. Alle auf dem Platz wussten, dass sich das Kontor des Stadtarchitekten im Palast befand. Als der Pfarrer die Treppe hinaufstieg, stieß er auf Rossellinos Baumeister. Der Mann lehnte an der Wand und weinte. Er blickte den Pfarrer an, ohne etwas zu sagen. Die Wangen waren nass, die Nase rot, das Haar hing strähnig herunter. »Bekenne, mein Sohn«, flüsterte der Pfarrer und sah ihm in die Augen. »Es steht alles in diesem Brief«, schluchzte der Mann. »Ich habe ihn selbst geschrieben. Darin erkläre ich Meister Rossellino alles.« Die Stimme klang heiser und erstickt. Er streckte einen versiegelten Brief vor. »Ich bin nicht imstande, hineinzugehen und ihn zu überreichen.« »Bekenne alles«, raunte der Pfarrer. Der Papst habe befohlen, einen Kerker zu bauen, erzählte der Baumeister. »Ich werde den Gedanken nicht los, dass er für uns gebaut werden soll«, sagte er. »Für uns?«, fragte der Pfarrer und konnte kaum verhehlen, wie erschrocken er war. Der Baumeister räusperte sich. »Ihr wisst vielleicht, dass Rossellino den Kostenplan weit überschritten hat. Die Leute sind aufgebracht. Falls sie erfahren, dass die Kirche reißt, werden sie verlangen, dass man uns ins Gefängnis wirft und aufhängt. Ihr Sieneser hasst uns Florentiner. So ist es immer gewesen. Jetzt ist die Gelegenheit gekommen, uns eure Verachtung zu zeigen.« »Was versucht Ihr mir zu sagen?«, fragte der Pfarrer.
»Die Kirche reißt«, entgegnete der Mann und schlug die Hände vor sein Gesicht. »Ich schäme mich. Könntet Ihr wohl Meister Rossellino den Brief geben? Ich schaffe es nicht, den Sturz eines so edlen Mannes mitanzusehen«, sagte er. Er reichte dem Pfarrer den Brief, wandte sich um und ging rasch die Treppenstufen hinunter. »Die Kirche reißt.« Was meinte er damit? Der Baumeister hatte ihm den Brief gegeben, damit er ihn öffnen und lesen sollte. Dessen war sich der Pfarrer so gut wie sicher. Es konnte nicht schaden. Der Mann hatte eine Sünde zu beichten, und wem konnte er sie besser beichten als dem Pfarrer? Der Baumeister wollte durch den Brief an einen anderen vor Gott geradestehen. Das war Gottes Wille, dachte der Pfarrer. Gott bestimmte im Großen wie im Kleinen und führte ihn stets zu dem, was richtig war. Jetzt hatte Gott eingegriffen und beschlossen, dass Rossellinos Schicksal in seinen, des Pfarrers Händen liegen sollte. Eigentlich passte es ihm gut, Rossellino gedemütigt zu sehen, nachdem er gerade erst selbst vor den Leuten bloßgestellt worden war. Der Pfarrer ging in einen Nebenraum, wo er ungestört war. Dort brach er das Siegel. In dem Brief an Rossellino stand, dass der Papst verraten werden sollte. Man wollte ihn hintergehen und ihm einen Riss in der Grundmauer der Kirche verschweigen. Während der Pfarrer las, hatte er eine seltsame Erscheinung. Er sah sich selbst als Büßer durch die Stadt zum Kerker geführt werden, zusammen mit Rossellino und dem Baumeister. Sie waren alle an den Händen gefesselt. Sie gingen in einem Regen aus Gold, gebadet in das Licht Gottes. Es war dem Pfarrer ein Rätsel, was diese Vorahnung angeregt hatte. Wieso ging er in Handfesseln über die Piazza? Merkwürdig, dachte er. Es war doch nicht sein Plan, den Papst
zu verraten. Hieß das, dass er, genau wie sie, ein Verbrecher war? Ein Judas? Er betrieb doch nicht insgeheim Sodomie, so wie gewisse andere Priester. Obwohl er zugeben musste, dass nicht viel gefehlt hatte. Aber dafür konnte man ihn nicht in den Kerker werfen. Sein Bruch des Zölibats war nichts als ein erregtes Gedankenspiel. Er brauchte keine Angst zu haben. Wärme durchströmte seinen Körper, und er merkte, wie sein Glied steif wurde.
»Verrat«. Er riss sich zusammen und las den Brief genau. Der Baumeister riet Rossellino, dem Papst zu verheimlichen, dass die Kirche kurz vor dem Einsturz stand. Der Boden unter dem Gotteshaus war keineswegs so sicher, wie Rossellino es dem Papst gegenüber beteuert hatte, nachdem zum ersten Mal Risse aufgetreten waren. Das war gleich nach der Erbauung gewesen. Der Pfarrer stöhnte auf. Den Florentinern war wirklich nicht über den Weg zu trauen. Er fühlte sich gereinigt. Fremde Briefe zu lesen war vielleicht eine verbrecherische Handlung, die aber angebracht war, wenn der Inhalt einen Betrug verriet. Das Wissen über den Betrug machte ihn zu einem freien Mann und Rossellino zu seinem Gefangenen! Die Kirche hatte Risse. Falsche Berechnungen des Fundaments sollten vor dem Papst geheim gehalten werden! Der Pfarrer merkte, wie er innerlich wuchs. Rossellinos Ruf hatte schon früher Schaden genommen. Als die Kirche das letzte Mal einen Riss aufwies, hatten die Leute in der Stadt ihm die Schuld daran gegeben, dass mehrere Bauarbeiter vom Gerüst gefallen und zu Tode gestürzt waren. Von der
Grundmauer bis hinauf in den Kirchturm war der Sprung verlaufen. Viele der Einwohner Corsignanos hatten die Bauherren gewarnt. Sie hatten sie auf eine Wasserader hingewiesen, die im Erdreich unterhalb der alten Kirche verlief. Sie war auf Sandstein gebaut und in einen Hang gebettet, sie stand am Abgrund, und viele meinten, dass das Erdreich zu beweglich sei. Bauherren aus Siena schlugen vor, dass die Kirche durch mehrere Erker und Säulen getragen werden sollte. Es wurden Verstärkungen gebaut, mit Steinen als Grundlage für die Erker und Holzstämmen vom Monte Amiata. Rossellino hatte dem Papst versichert, dass die Kirche nicht aufgrund von Verschiebungen im Erdreich aufgerissen war. Die Ursache sei menschliches Versagen gewesen, sagte er. »Das wird nie wieder vorkommen«, hatte er versichert. Der Pfarrer erinnerte sich gut daran. Turmhohe Bäume waren im Amiata-Gebirge gefällt worden. Noch mehr Säulen, noch mehr Bögen. Verstärkungen, die die Arbeiten an der Kirche verteuerten und in die Länge zogen. Nun zeigte sich, dass alles vergebens gewesen war. Rossellino hatte sich geirrt. Sein Baumeister hatte vor kurzem die Entdeckung gemacht. »Die Erde unter Eurem Gotteshaus wird absinken«, schrieb er in dem Brief. »Erst die Zukunft wird zeigen, ob es richtig oder falsch war, die Kirche weiter zu bauen, nachdem wir den ersten Riss entdeckt hatten.« In den folgenden Zeilen beruhigte er Rossellino damit, dass der Riss getarnt und der Raum abgeschlossen worden sei. »Niemand außer Gott war Zeuge für diesen fatalen Beweis«, schrieb er. »Vielleicht streckt Er uns eine Hand hin und schickt ein angemessenes Erdbeben, auf das wir es schieben können. ›Le Crete‹ bedeutet Ton. Vergesst das nicht«, schrieb er weiter. »Der Boden hier ist nicht zu vergleichen mit dem unsrigen in Florenz. Die Wälder des Amiata-Gebirges wurden umsonst
gefällt. Selbst wenn wir den ganzen Berg kahl schlügen, wären es nicht genug Stämme, um die Kirche am Versinken im Le Crete zu hindern. Wir sind verloren bei einem Boden aus Lehm.« Der Baumeister beschloss sein Schreiben mit der Bitte, Gott möge dafür sorgen, dass die Rissbildung während der Einweihung der Kirche durch den Papst zu keinem Unglück führte. »Euer Ergebenster«, hatte er unterzeichnet. Einen Brief wie diesen aus der Hand zu geben war, als bettelte man darum, eingesperrt zu werden. Dem Pfarrer schien es, als schwebte er, während er las. Es ähnelte dem Gefühl, das er manchmal bekam, wenn er an Gottes statt die Messe hielt und es darum ging, ob er die Macht über die Gemeinde übernahm oder die Gemeinde die Macht über ihn. Der Augenblick, in dem er sich einem eingebildeten Urteil unterwarf, einer Anklage, die sie gegen ihn erhoben, wie er fühlte. Diesmal durfte er die Macht nicht aus der Hand geben. Er verstaute den Brief in einer Falte seines Umhangs und stieg rasch die letzten Stufen zu Rossellinos Tür hinauf.
W
enn Ihr mich fragt, ist diese Sünde in einem Regen aus Gold gemalt«, sagte der Pfarrer zu Bernardo Rossellino. Wie er da stand, fühlte er sich wie in eine andere Sphäre erhoben. Er war umgeben von Seidendraperien, Skulpturen und Federzeichnungen der Kirche, die überall verstreut lagen. Rossellinos Augen wurden verborgen von der Krempe des Samthutes, den er trug. »Ihr irrt euch«, entgegnete Rossellino. »Sagt Eurem Meister, ich sei überzeugt, dass der Papst für diese Tafel einen Platz in seiner Kirche in Erwägung ziehen wird.« Den Pfarrer verwirrte die Begeisterung Rossellinos. Er fragte sich, ob er Gott oder dem Teufel einen Dienst erwies. War er zum gehorsamen Werkzeug böser Mächte geworden? Starke Kräfte um ihn wollten die Tafel in Rossellinos Händen sehen. Warum, konnte er nicht begreifen. Das Bild säte doch nur Zwietracht. Er reagierte einerseits mit Erleichterung, andererseits aber auch mit tiefer Angst darauf, dass Rossellino das Gemälde guthieß. Welche Konsequenzen würde das für ihn selbst haben? Konnte man ihn zwingen, die Offenbarung zu beichten? Falls er erwähnte, dass ein weiblicher Engel ihn gebeten hatte, die Tafel Rossellino zu überbringen, würde manch einer behaupten, das sei das Spiel eines Antichrists. Und er wusste, dass alle Geistlichen sich gegen die Darstellung einer Heiligen verwahren würden, die den Fleisch gewordenen Schmerz zur Schau trug. Die Begegnung zwischen dem Pfarrer und dem Sündenengel durfte nicht ins Gerede kommen. Allerdings konnte der Hirtenjunge die Sache leicht bestätigen. Der Pfarrer fürchtete, man könnte ihn selbst verdächtigen, in Verbindung mit dem Teufel zu stehen. Es war allgemein bekannt, dass Rossellino der Architekt war, der zur
Unsterblichkeit von Papst Pius beitrug. Er war der Mann, der die Geburtsstadt des Papstes zu einem Schmuckstück umgestaltete. Künftige Generationen würden nie mehr den Namen des einen sagen können, ohne gleichzeitig den des anderen zu nennen, dachte der Pfarrer mit einem Stich von Neid, während er gleichzeitig bemerkte, dass Rossellinos Umhang über und über mit Dreck beschmutzt war. In Wind und Regen war er bis nach Florenz geritten. Ohne dass der Architekt es ahnte, lag sein Nachruhm in den Händen des Pfarrers. Der Pfarrer hatte die Macht, den Ruhm in eine Niederlage zu verwandeln, wenn der Brief bekannt wurde. Bald, sehr bald würde Rossellino einen Handel über sein Leben und seine Ehre mit ihm, dem kleinen Landpfarrer, eingehen! Rossellino hatte sich ans Fenster gestellt, um die Tafel im Licht zu studieren. Der Pfarrer trat näher und sagte in Richtung des ihm zugewandten Rückens: »Es ist das Werk des Teufels, das Ihr betrachtet. Es wird Euch nicht zur Ehre gereichen, falls Ihr es dem Papst zeigt. Euch kann ich die Wahrheit sagen, wenn Ihr gelobt, Stillschweigen darüber zu bewahren. Ein weiblicher Engel der Sünde kam zu mir und übergab mir die Tafel. Eine von Satans Verführerinnen, die mich glauben machen wollte, sie sei von Gott gesandt. Sie trug eine Bluse, geschmückt mit einem Band von tyrischem Purpur. Aber ich ließ mich nicht täuschen. Der Himmel verschwendet kein Purpur an seine Engel. So leichtsinnig kann nur der Teufel sein.« »Ein Engel?« Rossellino lachte. »Hattet Ihr Wein zu einer guten Mahlzeit genossen? Redet keinen Unsinn. Diese Tafel braucht keine Engel. Es ist ein einzigartiges Gemälde. Es kann nur von einem talentierten Schüler eines Florentiner Meisters geschaffen worden sein. Eine Märtyrerin, die den Menschen in
die Augen sieht und ihnen zeigt, was sie bei einem Martyrium auf sich nimmt. Den ohnmächtigen Zorn darüber, zum Opfer gemacht zu werden.« Rossellino trat einige Schritte zurück und betrachtete die Tafel, ohne etwas zu sagen. Die Sonne ergoss sich über das Bild. »Es müssen die Hügel von Le Crete sein, die im Hintergrund dargestellt sind«, sagte er zu sich selbst. »Das heißt also, dass es hier in der Gegend gemalt wurde.« Rossellino war in seiner eigenen Welt. Er hatte vergessen, dass der Pfarrer da war. Um sich bemerkbar zu machen, räusperte dieser sich mehrere Male. Doch Rossellino wandte sich nicht zu ihm um. Die Hügel von Le Crete, äffte der Pfarrer ihn innerlich nach. Noch weißt du nicht, dass die Lehmhaufen, die du so zärtlich ansiehst, dein Schicksal besiegeln werden. Rossellino schwieg immer noch. Er strich noch einmal über die sanft gewölbten Hänge aus elfenbeinweißem Ton. Sein Finger näherte sich den roten Brustwarzen. Da geschah es. Er berührte die Leinwand, und sie veränderten ihre Farbe von Rosa zu Rot, wechselten langsam hinüber in ein Dunkelrot und verwandelten sich schließlich in ein Tiefrot, das in Scharlachrot umschlug. »Das ist die Farbe des Teufels!«, brach der Pfarrer aus, vor Entsetzen gelähmt bei diesem Anblick. Er glaubte den Augenblick gekommen, um Rossellino auf seine Seite zu ziehen. »Das kann niemand einem Meister nachmachen«, flüsterte Rossellino. »Vielleicht war es der Pestengel, der mich aufsuchte«, sagte der Pfarrer verbissen. »Eine Warnung, dass die Toskaner bald für die schlimmste aller Sünden bestraft werden.«
Er meinte eine Falte zwischen Rossellinos schön geschwungenen Brauen zu sehen. Es sah aus, als sei er in Zweifel geraten. Rossellino war wie andere auch – beherrscht von dem Gedanken an Gottes Strafe für die sodomitischen Sünden der Toskaner. Es war wichtig, Abstand zur Sünde zu wahren, dachte der Pfarrer. Man konnte ja nicht wissen, was der Hirtenjunge über ihre Begegnung alles ausplapperte. »Verbrennt die Tafel. Sie bringt die Pest über uns«, rief er. »Ihr hört Euch an wie ein Handlanger der Inquisition. Alles, was Ihr nicht versteht, ist Eurer Meinung nach Teufelswerk«, entgegnete Rossellino.
Er musste aufpassen. Es stand viel auf dem Spiel. Zu sagen, dass er mit einem Engel in Berührung gekommen war, konnte zu Spekulationen führen, ob der Engel nicht eigentlich der Teufel gewesen war. So war die Inquisition, so war er selbst. In diesen Bahnen verliefen seine Gedanken. Man konnte nie sicher vor denen sein, die einen zu einem Satansjünger machen wollten. Seine Zukunft als Bischof war in Gefahr. Die bevorstehende Ankunft des Papstes stachelte die Leute auf. Viele meinten, eine Hinrichtung käme passend. Ein solches Ereignis gehörte zu einem Papstbesuch dazu. Dass jemand auserkoren wurde. Der Pfarrer wusste sehr gut, wie es sich anfühlte, andere brennen zu sehen. Es machte den Zuschauer rein. Rein und besser. Es nahm die Sünde von jenen, die um den Scheiterhaufen standen. Wenn noch andere so empfanden wie er, würde jemand sterben müssen. Der Pfarrer fühlte sich beobachtet. Eine tastende Handbewegung zu einer Feder, die auf dem Schreibpult lag, sagte dem Pfarrer, dass Rossellino endlich aus seiner Versunkenheit erwachte. Der Architekt wandte sich ihm zu
und musterte ihn forschend, so als suchte er nach Zeichen. Zeichen, die der Pfarrer vor ihm versteckte. »Sagt, war es eine Frau, die mit der Tafel zu Euch kam?«, fragte Rossellino. »Der Teufel verbarg sich hinter ihrem Schleier«, sagte der Pfarrer rasch, als könnte eine schnelle Antwort Rossellino überzeugen, ihm zu verstehen geben, dass er die Sache gründlich durchdacht hatte. Er beugte sich zu Rossellino vor. »Das Bild verfolgt mich. Die Leute sehen nur eine nackte Heilige mit Brüsten, die sie berühren möchten. Es ist eine schändliche Tafel, die verbrannt werden muss. In den Kreisen des Papstes hat sie nichts zu suchen. Gebt das Urteil ab, das die Leute erwarten. Verbrennt das Bild. Dann sind wir es los.« »Warum sagt Ihr, dass dieses Motiv Euch verfolgt? Der Schöpfer dieses Bildes kann nichts für Eure schmutzigen Fantasien. Die müsst Ihr vor Euch selbst verantworten.« Rossellino betrachtete das Gemälde, sah aber gleich darauf wieder den Pfarrer an. »Seid Ihr gar derjenige, der dieses Bild gemalt hat?«, fragte er spöttisch. »Ich!«, rief der Pfarrer aus. »Wie könnt Ihr nur so etwas glauben.« Er starrte beschämt zu Boden. »Ihr denkt sicher dasselbe wie die Gemeinde. Dass ich mich heimlich an sündigen Bildern erfreue.« Sein Gesicht lief rot an, als er das sagte. »Sündige Bilder? Habt Ihr derartige Gedanken?« »Ich spreche von den Gedanken anderer.« Es wurde still zwischen ihnen. Angesichts seiner verlorenen Würde beugte der Pfarrer schamvoll den Kopf, während er auf Rossellinos Antwort wartete. »Ein solches Heiligenbild muss gesegnet und an die Kirchenwand gehängt werden, damit ihm die Achtung
zukommt, die es verdient«, sagte Rossellino mit Nachdruck. Wieder ließ er den Finger vorsichtig über den unteren Teil des Motivs wandern. »Wer ist der Meister dieses Schülers?« Der Pfarrer sah rasch auf. Finsternis sickerte in ihn hinein. Rachegedanken. An allem war die Tafel schuld. »Ich kann mein Amt verlieren, wenn die heilige Kirche mich mit dieser Darstellung der Heiligen in Verbindung bringt! Die Kirche billigt derartige Veränderungen der Heiligenbilder nicht. Das wisst Ihr genau.« »Ihr könnt Euch nicht von Eurer Verantwortung lossagen und den Maler des Bildes verleugnen. Sagt mir jedenfalls, wer der Meister dieses Schülers ist, und versucht nicht, noch mehr vor mir zu verheimlichen.« Der Pfarrer schwieg. Seine Lippen bebten. »Dann werde ich Euch wohl besser den Kardinälen zum Verhör übergeben.« Rossellino ging zur Tür, öffnete sie und wies einen seiner Gesellen an, nach einem Mönch zu schicken, der eine neue Tafel für die Kirche abholen solle. In wenigen Augenblicken würde Rossellinos Hochmut ihn zu Fall bringen. Noch sprach er als freier Mann ohne Fehl und Tadel. Ein Mann mit Macht. Der Moment war gekommen. Vorsichtig zog der Pfarrer den Brief hervor, den er in seinem Umhang verborgen hatte. Er reichte ihn Rossellino ohne ein Wort und tat, als habe er es eilig, den Raum zu verlassen. »Ich werde draußen warten, bis Ihr den Brief gelesen habt. Anschließend könnt Ihr mir die Altartafel zurückgeben. Ich werde sie eigenhändig verbrennen.« Als der Pfarrer ein paar Schritte gegangen war, rief Rossellino hinter ihm her: »Aber Ihr habt ihn ja bereits geöffnet!«
»Ja. Sein Verfasser bat mich darum. Er wollte mir den Inhalt bekennen, bevor der Brief in Eure Hände gelangt.« Um die volle Wirkung seines Abgangs zu erreichen, ging er auch noch die restlichen Schritte zur Tür. Während er sie öffnete, wandte er sich zu Rossellino um und sagte leise, mit einer Stimme, in der keine Spur von Gnade lag: »Falls Ihr, nach der Lektüre, Euch entscheiden solltet, mir die Tafel zu geben, habt die Güte und sagt denen, die sie zu Gesicht bekommen, dass ein Fremder sie in meiner Sakristei abgelegt hat. Erwähnt den Engel nicht. Offenbarungen dieser Art könnten unpassende Fantasien hervorrufen. Bringt mich nicht in Verlegenheit, dann werde auch ich Euch nicht in Verlegenheit bringen.« Der Pfarrer hielt einen Moment den Atem an, schockiert über seine Kühnheit. Er hatte sich Macht durch Worte erzwungen. Er holte Atem, um fortzufahren. Wie im Rausch rief er: »Haltet meinen Namen heraus, dann werde ich darüber schweigen, dass der Papst verraten werden soll.« War das wirklich er selbst, der da sprach? Er hörte Rossellinos Antwort kaum, so heftig hämmerte das Herz in seiner Brust. Er hatte mit seinen Worten wieder einen dreisten Sprung gewagt. »Ihr wagt es, mich einen Judas zu nennen?«, erwiderte Rossellino ruhig. »Schert Euch hinaus, und tretet mir nie wieder unter die Augen.« Noch hat er keine Angst, dieser von Papst Pius Betraute und Erwählte, dachte der Pfarrer. Er, der zur Rettung seiner Ehre gezwungen ist, falsche Berechnungen vor dem Papst zu verheimlichen. Der Pfarrer blieb stehen und beobachtete Rossellinos Gesichtsausdruck, während dieser den Brief las. Es erschien dem Pfarrer, als begännen die Knie des Architekten zu zittern. Er war so damit beschäftigt, die Reaktionen
Rossellinos zu beobachten, dass es eine Weile dauerte, bis er die zwei Mönche bemerkte, die ins Zimmer gekommen waren, geradewegs auf das Altarbild zugingen, das vor dem Fenster stand, es anhoben und hinaustrugen. Der Pfarrer räusperte sich laut, um Rossellino dazu zu bringen, sie aufzuhalten. Doch Rossellino stand wie vom Donner gerührt. Sein Blick wirkte abwesend, und der Brief zitterte in seinen Händen. Es ist zu spät, dachte der Pfarrer. Die Mönche waren bereits auf dem Weg hinaus zur Loggia des Palastes. Der päpstliche Rat saß unter den Arkaden zusammen und genoss das Abendessen. Sie verspeisten Hasen, das konnte er riechen. Und jetzt war die Altartafel in das Zentrum der Macht vorgedrungen.
A
ndropolus lag in frischer Bettwäsche und hörte, wie Anna Lorenzo erzählte, dass sie das Gemälde an den Pfarrer weitergegeben habe. Lorenzo war aus Bagno di Vignoni zurückgekehrt, wo der Papst die heißen Quellen aufgesucht hatte. Andropolus hörte ihr Gespräch durch die geschlossenen Fensterläden. Schwaches Licht fiel durch die Ritzen. Lorenzo war außer sich vor Zorn. Um ihn zu besänftigen, sagte Anna, dass der Pfarrer ihr Gesicht hinter dem Schleier nicht gesehen und sie für eine Erscheinung des Himmels gehalten habe. Anna und Lorenzo gingen hinaus in den Garten. Andropolus lauschte gespannt und hoffte, Anna möge Lorenzo erzählen, dass sie ihn zu sich geholt hatte. Er achtete aufmerksam auf jede Nuance in den Stimmen, auf die Töne aus den Kehlen jenes Mannes und seiner Frau, die anstiegen und sich herabsenkten zu wispernden Lauten. Laute, die Worte bildeten und nur gerade eben an sein Ohr drangen. An Annas Stimme konnte er erkennen, dass sie über das Schicksal des Altarbildes sprach, zurückhaltend wie zu einem Kranken, der geschont werden musste. Andropolus konnte nicht anders, er musste sich aufrichten und durch die Spalten der Holzläden spähen. Er sah die beiden Gestalten nur von der Körpermitte abwärts. Annas Hand lag auf Lorenzos Arm, und Andropolus erinnerte sich, dass sie auf dem Heimweg vom Pfarrhaus genauso auf seinem Arm gelegen hatte. Ihm war aufgefallen, dass sie ihren Ehering nicht mehr trug. In seiner Haut schlummerte noch die Erinnerung an die zarte Berührung ihrer Hand. Eine Berührung, die ihn beruhigt hatte, sodass er aufgehört hatte zu weinen.
Lorenzo reagierte auf ihre Worte, indem er sich von ihr losmachte. Anna versicherte noch einmal, dass der Pfarrer ihr Gesicht nicht gesehen hatte. »Was willst du damit sagen? Bist du dir deines Standes nicht bewusst? Du gehst zu Fremden, ohne Ehering. Was sollen sie von dir denken?« »Ich meinte doch nur, dass er mich für eine Erscheinung hielt. Er bringt mich nicht mit dem Bild in Verbindung.« »Das hilft auch nicht viel, dass er dich für eine Erscheinung gehalten hat«, erwiderte Lorenzo gedämpft. »Es reicht schon, dass das Gesinde davon weiß. Der Duft einer Frau hat ihn in die Irre geleitet, aber nur kurzzeitig. Die Wahrheit wird an den Tag kommen. Bald wird ihm dämmern, dass du es warst, und er wird nicht zögern, den Skandal publik zu machen. Die Tafel wird bei den Kardinälen Anstoß erregen und als blasphemisch verurteilt werden. Und du gleich mit.« Andropolus wich ein Stück vom Fenster zurück. Er hockte noch immer auf den Knien im Bett, das Gesicht schwach beleuchtet von einem Streifen fahlen Sonnenlichts, das durch den Fensterladen drang. »Ich habe die Altarbilder in Nordeuropa gesehen. Dunkel, düster und gottlos«, sagte Lorenzo herablassend. Eine ganze Weile fiel kein Wort. Andropolus hörte nur das Zwitschern der Vögel, das Muhen der Kühe und von fern die Stimmen der Mägde und Knechte bei der Arbeit. Er begriff, dass Anna in Gefahr war. Gott sei Dank war er der Einzige, der wusste, dass sie sich des Nachts unbekleidet am Fenster gezeigt hatte. Niemand außer ihm war auf den Feldern gewesen. Hätten die Hirten sie gesehen, sie hätten sich bei den Zusammenkünften am Hundebrunnen die Mäuler zerrissen über so viel Schamlosigkeit. Wenn sie von der Tafel mit dem Bild der heiligen Agatha erführen, würden sie glauben, es sei Anna, die sich an der Kirchenmauer nackt zur Schau stellte. Er
hatte Geschichten über Nonnen gehört, die sich den Mönchen im Kloster entblößt hatten. Sie waren entdeckt worden, und man hatte sie aus den heiligen Gemäuern gejagt. Während Andropolus das dachte, beugte er sich vor und presste das Auge noch dichter an den Spalt im Fensterladen. »Die geistlichen Herren werden schnell den Zusammenhang zwischen dem Bild und dir herausfinden. Bald wird es der ganze Vatikan wissen. Was geschieht dann mit mir und meiner Familie?« Lorenzo setzte sich auf eine aus Travertinblöcken gebaute Bank am Teich. Andropolus sah sein Spiegelbild zwischen Wasserlilien und badenden Spatzen. Langsam verbarg Lorenzo das Gesicht in den Händen und das Spiegelbild verschwand. Andropolus hörte, dass Anna weinte. Wo war Lucrezia? Hörte sie, dass ihre Mutter weinte? Bekam sie Angst, so wie er? Er flüsterte ihren Namen. Versteckte sie sich vor ihm auf dem Dachboden, zwischen den Trauben, die dort lagerten, um zu heiligem Wein zu werden? Oder saß sie zitternd im Weinkeller zwischen den großen Fässern? Wo sie auch war, sie wartete darauf, von ihm gefunden zu werden. So ging das Spiel zwischen ihnen. Er würde sie finden. Andropolus legte sich hin und zog das Laken bis unters Kinn, während er das Heiligenbild der Jungfrau Maria betrachtete, das Liam auf Annas Bitte hin aufgehängt hatte. Es hatte einst Andropolus’ Mutter gehört. Die Ikone war das Einzige, was ihm von ihr geblieben war. Das Gesicht der Jungfrau wurde eins mit dem Gesicht seiner Mutter. So hatte sie ausgesehen, da war er sich sicher. Er hatte das kleine Heiligenbild in einer Tasche aus Kalbsleder, die der Vater ihm geschenkt hatte, bei sich getragen, als er Konstantinopel zusammen mit Lorenzo verließ. Andropolus betete immer zur Muttergottes, wenn er wieder seine Eltern vermisste. Jetzt gab es zum ersten Mal eine
Wand, an der die Ikone hängen durfte. Darüber war ein geweihter Olivenzweig befestigt, und auf einer Kommode stand eine Öllampe mit brennendem Docht. Das Zimmer war zu einer Kapelle geworden, in der er die heilige Jungfrau anbeten konnte. Er starrte in das sanfte Gesicht und betete. Er bat, Anna und Lorenzo vor allem Bösen zu beschützen. Er bat darum, so stark wie sein Vater zu werden. Die Heilige war so einfach und still, dass sie leise in seine Gedanken einzog, wenn er zu ihr betete. In ihrer Schlichtheit konnte Andropolus sich die Heilige Jungfrau jederzeit genau so vor Augen rufen, wie sie gemalt war. Ihre Haut war nur bis zum Halsausschnitt des Kleides zu sehen, der Rest der Gestalt war von Stoff verhüllt. Im Gebet vor der Ikone stand die Zeit still, und Gottes Angesicht trat hervor. Er hörte, wie sich Schritte näherten, und richtete sich im Bett auf. Lorenzo und Anna standen direkt unter seinem Fenster. »Man wird mich anklagen dafür, dass ich eine Gemahlin habe, die gegen die Kirche vorgeht«, sagte Lorenzo mit so leiser Stimme, dass Andropolus kaum verstehen konnte, was er sagte. Er fühlte, dass er etwas unternehmen musste. Er zog seinen Hirtenkittel an, der auf einem Stuhl lag. In Gedanken sah er vor sich, wie traurig Lucrezia sein würde, wenn sie ihre Mutter verlor. Ersponnene Abenteuer mischten sich mit seinen Sorgen. Die beiden hatten sich ja eine Welt zusammengedichtet. Für ihn war sie sowohl die heilige Caterina als auch die erwachsene Lucrezia im Buch des Papstes. Anna würde in einem Verlies dahindämmern müssen, weil sie sich auf blasphemische Weise mit einer Heiligen befasst hatte. Er war der Einzige, der sie retten konnte. Und er würde sich damit Lucrezias Freundschaft verdienen. Viele Zeichen
deuteten darauf hin, dass er es schaffen konnte. Er war Andropolus, der Rächer seines Vaters. Jetzt sollte ihn die Kraft nicht mehr verlassen. Er, der es gewagt hatte, sich dem Papst zu nähern, und der es geschafft hatte, dass der Heilige Vater Ziegenmilch aus seiner Lederflasche trank, würde in Zukunft nichts und niemanden mehr fürchten. Er würde den Pfarrer aufsuchen und Annas Altartafel zurückfordern. Er lief aus dem Haus und schwang sich auf Lucrezias Pferd. Mit einem Speer anstatt seines Hirtenstabes ritt er in vollem Galopp über gefällte Eichenstämme, die herumlagen und darauf warteten, zu Planken für die Kreuzfahrerschiffe zu werden. Sie sahen ihn wohl, die Sklaven und Knechte, starrten ihm mit aufgesperrten Mäulern hinterher, sprachlos. Er ritt wie ein Janitschar, furchtlos, den Speer hoch erhoben. Wenn er erst die Tafel der heiligen Agatha zurückerobert hatte, würde er dem Papst den Weg nach Konstantinopel zu Sultan Mehmet zeigen. Als Erstes hielt er am Hundebrunnen. Dort ließ er das Pferd trinken und bat einen der Wasserträger, auf das Tier aufzupassen. Doch durch das Portal des Papstpalastes kam er nicht. Die Wachen versperrten ihm den Weg. Der Platz lag öde und still. Vor den Mauern des Palastes standen Pferde angebunden. Er steckte sich den Speer schräg in den Gürtel auf dem Rücken und begann zu klettern. Rosendornen zerstachen ihm die Hände, doch er achtete nicht darauf. Auf der anderen Seite der Mauer sah er Rauch aufsteigen, und er roch den Duft von Wildbret, vermischt mit dem Geruch von Efeu und Rosen. Sicher hatte der Pfarrer dort gesessen und mit den geistlichen Herren gespeist. Kinder von Handwerkern gingen vorüber und bewarfen ihn mit kleinen Steinen. Er ließ sich nicht aufhalten. Er musste hinauf.
Als er endlich die Mauerkrone erreicht hatte und in den Garten sehen konnte, wurde er von all der Pracht so überwältigt, dass er meinte, er habe das Paradies erreicht. Die Männer des Papstes saßen an einer Tafel und speisten. Doch weder der Pfarrer noch der Papst waren zu sehen. Andropolus begann zu singen, so wie er vor dem Pfarrer gesungen hatte. Er legte all sein Gefühl in das Lied über Johannes den Täufer, während er das zum Himmel reckte, was er für den Hirtenstab hielt. In dem Moment hatte er völlig vergessen, dass er ja einen Speer bei sich trug. Sauberer hatte er solch hohe Töne nie zuvor getroffen. Als die Blicke der Geistlichen sich auf ihn richteten, war es, als sähe Gottes Auge ihn aus allen Dingen an. Aus den Rosen, aus den Lavendelbüschen, aus den Zypressen und den Palmen. Alles um ihn herum spiegelte Gott wider. Auf ihn, der bisher unsichtbar gewesen war, richtete sich die Aufmerksamkeit der Menschen. Nicht die der Schafe und Ziegen, sondern die Blicke der Menschen. Der Reinen und Frommen. Der Schönen und prachtvoll Gekleideten. Alle sahen sie ihn an, als sei er einer von ihnen. Er hatte nie daran gedacht, dass seine Stimme ihn je aus einer Welt herausreißen könnte, die nach Schafen und Ziegen stank. Er, der im Val d’Orcia als Fremder galt, als Heimatloser, den Gott in die Toskana geschickt hatte, damit er Schafe vor dem Wolf bewahre, er war von den Männern des Papstes auserkoren, um zu singen. Sie lauschten seinem Vortrag hingerissen, und er vergaß einen Moment lang, warum er gekommen war. Während er dort stand und im milden Wohlwollen Gottes badete, durchdrang ihn ein Paar anderer Augen, die Augen in einem Mädchengesicht. Plötzlich wusste er es. Lucrezias Augen besaßen ihn. Er war nicht einsam und arm, war keiner,
der an nichts und niemanden auf dieser Welt gebunden war, so wie es die Geistlichen glaubten. Diesen Augen wollte er sich in all seiner Pracht zeigen. Er brach seinen Gesang ab und starrte hinunter auf sie. Ihm war, als welkten sie und verwandelten sich in alte, feiste Männer. Macht, verkleidet als Frömmigkeit, so wie der Pfarrer. »Ich bin Andropolus, einst Sklave Lorenzos. Bringt mich zum Papst«, rief er den Fremden zu. »Ich weiß, dass er in Bagno di Vignoni ist.« »Was willst du mit dem Speer, wenn du Psalmen singst, Sklave?«, rief einer der Geistlichen. »Hast du vor, uns zu töten?« Andropolus reckte den Speer noch höher. »Ich bin bereit, Soldat im Heer Seiner Heiligkeit zu werden«, entgegnete er mit fester Stimme. Zwei uniformierte Männer kletterten mithilfe einer Leiter auf die Mauer. Sie nahmen ihm den Speer ab. Die Kardinäle forderten ihn auf, von der Mauer herunterzukommen und für sie zu singen. Als er wieder auf dem Boden stand, fühlte er sich unsicher. Es war etwas anderes, hier bei ihnen zu stehen. Die Blicke der Kardinäle forderten etwas von ihm, er merkte es daran, wie sie ihn forschend musterten. »Das ist der Sklave, der dem Papst Ziegenmilch aus seiner Lederflasche gab«, flüsterte einer der Kardinäle seinem Nebenmann zu. »Lorenzos Sklave«, sagte ein anderer. »Hat Lorenzo dich freigelassen?« »Ja«, antwortete Andropolus. Er sagte nicht, dass es Anna gewesen war, die ihm die Freiheit geschenkt hatte. »Du singst wie ein Engel«, sagte ein Dritter und wollte ihm die Wange tätscheln. Andropolus wich aus, sodass die Hand des Kardinals ins Leere fuhr.
»Ich bin frei und will unter Lorenzo Soldat im päpstlichen Heer werden. Ich kenne Konstantinopel. Lasst mich sogleich zu Seiner Heiligkeit vor. Das, was ich vorbringen will, duldet keinen Aufschub.« »Warum bittest du uns um Audienz? Lorenzo besorgt dir doch bestimmt einen Platz in den Reihen seiner Soldaten.« »Da ist noch etwas, worüber ich zuerst mit dem Heiligen Vater reden will, deshalb muss ich zu ihm.« Andropolus hatte sich entschieden. Er würde tun, was sein Vater ihn gelehrt hatte. Direkt ins Zentrum der Macht gehen. So würden ihm die Intrigen der Erbsenzähler erspart bleiben. Wenn er dem Papst gegenüberstand, würde er um Gnade für Anna bitten und ihm offenbaren, was er beim Pfarrer hatte erdulden müssen. So würde er den Papst dazu bewegen, dass er den Pfarrer anwies, Annas Altarbild herauszugeben. Er, Andropolus, hatte als kleiner Junge auf dem Schoß Kaiser Konstantins gesessen und gehört, wie sein eigener Vater dem Herrscher strategische Ratschläge zur Verteidigung von Konstantinopel gab. Er trug die Kraft seines Vaters in sich. »Will Lorenzo dich nicht als Soldat haben?«, fragte einer der Kardinäle. Andropolus schluckte. Es war, als saugten diese Worte, so wie sie ausgesprochen worden waren, alle Kraft aus ihm heraus. Plötzlich fühlte er sich nicht mehr wie der Mittelpunkt der Welt. Was sollte er sagen? Er war doch wegen etwas ganz anderem gekommen, wegen einer blasphemischen Altartafel, einer nackten Sankt Agatha, die in die falschen Hände geraten war. Er war hier, um die Tafel zurückzuholen, damit Anna nicht auf dem Marktplatz verbrannt und Lorenzos Familie nicht ins Exil geschickt wurde. Er war hier als Retter Lucrezias, damit sie nicht zur Waise werden sollte, so wie es ihm selbst ergangen war. Er war hier, um sie vor der Schande
und der Demütigung zu retten. Damit sie nicht als Sklavin in der Fremde dienen musste. Soldat des Papstes konnte er später immer noch werden. Er hatte es ja vor kurzem noch klar gesehen: Ihren Augen wollte er sich in all seiner Pracht zeigen. Doch auf einmal fiel ihm ein, dass es der Herr des Hauses war, der darüber bestimmte, ob ein Sklave freigelassen werden sollte. Eine Ehefrau hatte nichts zu sagen, was den Besitz ihres Mannes anging. Und er war ein Teil von Lorenzos Besitz. Er hörte, dass der Kardinal etwas zu ihm sagte. Aus weiter Ferne hörte er, dass er ihn bat, die hohen Töne noch einmal zu singen. »Wir könnten Seine Heiligkeit überraschen und den Jungen im Kastratenchor unterbringen«, sagte der Kardinal zu den anderen. Sie klatschten in die Hände. Anscheinend hielten sie das für eine gute Idee. »Seine Stimme ist makellos«, sagte einer. »Er singt wie ein Engel.« Alle stimmten ihm zu. Andropolus wollte sie bitten, den Pfarrer zu holen. Aber er kam nicht dazu. Ein Zorn erhob sich in ihm, eine blinde Wut, die ihn wünschen ließ, er hätte den Speer immer noch in Händen. Seine Lippen schafften es nicht, den Namen des Pfarrers zu formen. Vielleicht sollte er stattdessen lieber Meister Bernardo Rossellino fragen. Vielleicht hatte der Architekt die Tafel schon vom Pfarrer erhalten. Dann wäre es zu spät, dachte er verzweifelt. »Du hast die Stimme eines Engels, und du sollst Sopran im Kirchenchor des Papstes werden«, flüsterte ihm ein Diener des Kardinals ins Ohr. »Nein«, sagte er. Und dann, laut und deutlich, dass er nun gehen wolle.
Statt ihn ziehen zu lassen, packten zwei Wächter ihn unter den Armen und zerrten ihn aus dem Paradies, weg von allem, was den Widerschein von Gottes Auge in sich trug. »Lasst mich los«, schrie Andropolus. Aber sie entgegneten bloß, dass sie ihn kurz vor Sonnenaufgang kastrieren würden.
Die Kellertreppe des Palastes war finster, und aus den Wänden kam Eiseskälte. Der Gestank von Urin stieg ihm in die Nase, und er versuchte, sich im Dunkeln umzusehen. Er hoffte, bald in zwei freundliche Augen blicken zu können. Die Wachen schleppten ihn weiter zu dem Verlies, das der Stadt als Kerker diente. Sie ketteten ihn an einen Eisenring. Dann gingen sie. Dort sollte er nun liegen und dem Tropfen des Wassers lauschen, das in einen tiefen Brunnen unter dem Boden des Palastes fiel. Hier sollte er bis kurz vor Sonnenaufgang bleiben. Dann würde ein Mann kommen und sein scharfes Messer anlegen.
A
n ebenjenem Nachmittag kniete Anna auf einer Gebetsbank in Papst Pius’ noch ungeweihter Kirche. Sie war nicht hier, um zu beichten; sie war hier, um Gott den Herrn um Vergebung für ihre Eigenmächtigkeit zu bitten. Lorenzo war nach ihrem Gespräch fortgeritten. Sie hatte gehofft, ihn hier in der Kirche zu treffen, doch sie sah ihn nicht zwischen den Adeligen und Geistlichen. Die Altarbilder, die der Papst bestellt hatte, wurden soeben aufgehängt. Sie waren von bekannten Tafelmalern angefertigt worden. Ihr Gemälde war nicht darunter. Unmittelbar vor ihr kniete Bernardo Rossellino. Sein Profil war ihr zugewandt. Sie saß so dicht, dass sie sehen konnte, wie seine Hände beim Beten zitterten. Der Rat des Papstes war anwesend. Der große Leon Battista Alberti, dem nach Lorenzos Meinung die Ehre für die architektonische Gestaltung der Kirche gebührte, stand in der ersten Reihe und beobachtete Rossellino. Unablässig starrte er seinen ehemaligen Schüler an, so als wollte er ihn aus dem Gebet reißen. Doch Rossellino sah ihn nicht. Er kniete mit geschlossenen Augen, als wollte er ein Geheimnis verbergen. Anna deutete sein unerschütterliches Gebet als Zeichen dafür, dass er über seinen Meister hinausgewachsen war und dessen mahnenden Blick nicht länger annehmen wollte. Leon Battista Alberti und seine Räte standen vor einem Gemälde. Anna hatte erkannt, dass es ein Werk des Tafelmalers Vecchietta aus Siena war, obwohl die Männer den Blick auf das Bild versperrten. Nun warteten Alberti und seine Männer darauf, dass Rossellino sein Gebet beendete und sich an der Bewunderung der Altartafel beteiligte. Diskret versuchte Alberti mehrmals, Rossellinos Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als dieser
jedoch in seinem Gebet verharrte, steckten die Männer die Köpfe zusammen und fuhren mit ihrer bewundernden Lobpreisung der Tafelbilder fort. Annas Blick wanderte zu Rossellinos Altar. Er hatte ihn selbst in Travertin gehauen. Der Altar schimmerte im Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster hereinfloss. In dem blendenden Licht erinnerten Leon Battista Alberti und sein Rat an Figuren eines biblischen Dramas. Sie standen mit dem Rücken zu Rossellino und konzentrierten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Gemälde. Anna konnte Bernardos Körper unter seinem Mantel ahnen. Der leicht gebeugte Rücken verriet ihr, dass Sorgen auf ihm lasteten. Anna musste daran denken, was Lorenzo erzählt hatte; man würde Rossellino dafür verantwortlich machen, dass die veranschlagte Summe für die Bauarbeiten überschritten worden war. Bald würden sie alle hier ihm in den Rücken fallen. Bernardos Hände waren weiß, die Augen geschlossen und das Gesicht verletzlich. Vielleicht übertrieb sie die Bedeutung dessen, was sie sah, weil auch sie sich verraten fühlte. War er nur bewegt, wenn er das perfekte Meisterwerk erblickte? Bald würde sie es auch sehen dürfen. Sano di Pietro, Matteo di Giovanni und Vecchietta aus Siena, all die großen Sieneser Meister waren vertreten. Anna schaute sich um. Sie trug einen Schleier. Er war hauchdünn und an den Rändern mit Perlen bestickt. Ihre Haare waren mit Nadeln aus Elfenbein und Perlmutt aufgesteckt. Die Augenbrauen waren blau nachgezogen, und Striche von Goldstaub und Indisch Ruß bedeckten Teile ihrer Lider. Um den Hals trug sie Perlen. Sie hatte die Haut mit Rosenwasser befeuchtet, um den fauligen Geruch der Purpurstreifen in ihrem Kleid zu überdecken. Sie war so gekommen, wie es die Sitte gebot, in einer Sänfte auf den Schultern von vier Trägern. Antonio stand ganz hinten in
der Kirche und wartete. Sie saß in der Bank, die Lorenzos Familie bestimmt war, und hörte die einfachen Leute beten. Auch Rossellinos Baumeister kniete auf einem Betschemel. Sein Blick flackerte hierhin und dorthin, scheinbar abgelenkt vom Gebet. Anna sah, dass seine Augen immer wieder zu Rossellinos Rücken zurückkehrten. Als die Gruppe um Leon Battista Alberti sich auflöste, offenbarte sich Anna ein strahlendes Kunstwerk. Sie starrte auf Vecchiettas Gemälde. Es zeigte Sankt Agatha zusammen mit Papst Pius. Der Papst war in die rechte Ecke gemalt, er trug sein prachtvollstes Gewand. Er hielt die rechte Hand segnend über Sankt Agathas abgeschnittene Brüste. Sie bot sie in einer Schale dar – die Brüste waren formvollendet, ohne jede Spur von den Verwüstungen des Messers. Auf den ersten Blick schien das Bild perfekt zu sein. So schön und harmonisch war es, was Farben und Komposition betraf, dass Anna sich vor diesem Meister der Malerei ganz klein fühlte. Sie fühlte sich so gering, dass sie einen Augenblick lang sogar bereit war, das Gefühl des Verrats zu verdrängen, das sie empfand. Der Künstler hatte seine Agatha unberührt von Leid und Erniedrigung gemalt. Hier gab es keine blutigen Spuren der Strafe, nicht einmal Schmerzen. Indem er den Papst in die Darstellung aufnahm, machte der Künstler den Unterschied zwischen der himmlischen Ewigkeit jenseits aller Zeit und der irdischen Verkörperung des Göttlichen sichtbar. Die theologische Verknüpfung des Motivs ließ kein Leid und keine Erniedrigung zu. Mit einem lieblichen Lächeln um den Mund stand die Heilige Agatha anmutig da und bot dem Papst ihre Brüste wie zwei frisch gebackene Kuchen dar. Kühl und distanziert hielt der Papst die Hand segnend über die Schale. Anna schloss die Augen. Jetzt wurde ihr bewusst, dass diese Frau von der Kirche niemals als Heldin dargestellt werden
würde. Ihr Martyrium war ohne Bedeutung. Es war der Papst selbst, um den es ging. Der Auftraggeber des Werkes stand im Mittelpunkt. Sein Segen. Seine Eitelkeit. Sie hatte das Gegenteil von dem getan, was Pius wünschte. Auf ihrer Tafel fehlte der Papst. Allein Sankt Agathas Augenblick der Qual hatte Anna ihre ganze Aufmerksamkeit gewidmet. Ein so starkes Gefühl, dass es das Gebet übertönte, zwang Anna dazu, sich zu erheben. Sie ging auf Vecchiettas Tafel zu, und eine Unruhe machte sich unter den Anwesenden breit. »Baronessa di Vicenti. Seid gegrüßt.« Leon Battista Alberti versuchte die Stille mit Höflichkeiten zu durchbrechen. »Vecchietta ist unvergleichlich. Findet Ihr nicht? Beachtet die Perspektive…« Ohne die Augen von Vecchiettas Sankt Agatha zu wenden, entgegnete sie: »Nicht ein Blutfleck. Nur zwei vollkommene Brüste in einer Schale.« Als sie den Mittelgang entlangschritt, merkte sie, dass die Männer sich hinter ihrem Rücken bekreuzigten. Sie fühlte, wie ihr Herz pochte. Die Purpurfarbe hatte sie bis hierher geführt. Alles hatte damit begonnen, dass der Vater ihr das Geheimnis der Farbe überlieferte. Von frühester Kindheit an hatte sie gelernt, das Leben der Purpurfarbe über ihr eigenes zu stellen. Hatte gelernt, dass sie bereit sein musste, ihr Leben dafür hinzugeben. Das war sie auch. Bereit zum Kampf auf Leben und Tod, nicht nur, um das Recht an einer Farbe zu behalten, sondern für eine Idee. Sankt Agathas Martyrium war der Ausdruck eines entschlossenen Willens. Anna selbst wurde von einem Willen getrieben, der stärker war als sie. Ebenso kühn, wie verzückte Schreie über die Hügel von Le Crete zu schicken, war es, frei heraus etwas gegen die großen Werke zu sagen.
Der Kirchenraum kam ihr riesig und bedrohlich vor, als sie durch das Mittelschiff schritt. Sie war bereits an den vordersten Kirchenbänken angekommen, als etwas sie aufhielt. Unter dem Fuß erspürte sie die Form des eingelassenen Wappens derer von Vicenti. Sie zog den Fuß zurück und blickte hinab auf das prachtvolle Familienwappen ihres Gatten, das von vielen hundert Jahren Macht und Ehre zeugte. Sie trat heraus aus dem Schild mit Schwertern und Löwen. Obwohl Lorenzo sie daran erinnert hatte, dass das ganze Geschlecht des Landes verwiesen werden konnten, wenn eines seiner Mitglieder in Ungnade fiel, fürchtete sie sich nicht vor dem, was geschehen konnte. Nicht jetzt. Und dennoch, inmitten des erregenden Gefühls des Sieges spürte sie auch eine starke Unruhe. Wovor hatte sie am meisten Angst? Davor, verbrannt zu werden? Von dort, wo sie stand, konnte sie hinausblicken auf den Kirchplatz. Das war der Ort, an dem man für gewöhnlich den Scheiterhaufen entzündete. Sie hatte einen starken Stand beim Papst. Während seiner Regentschaft war noch keine Frau auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Er verriet nicht die, die sich dem Wahren und Schönen verschrieben hatten. Sie glaubte auch nicht, dass er Rossellino verstoßen würde, obwohl die Gerüchte darauf hindeuteten, dass Bestrebungen im Schwange waren, den Architekten zu Fall zu bringen. Rossellino betrog nicht um Geld. Er hatte dem Papst das Beste, Schönste, Wunderbarste gegeben. Am Ende des Mittelschiffes drehte sie sich um und schlug das Kreuzzeichen vor dem Altar mit dem gekreuzigten Christus. Jemand fixierte sie von der Kirchenbank aus. Sie spürte es im Rücken. Sie wandte sich um und begegnete Bernardo Rossellinos Blick. Er erhob sich und verneigte sich.
Das letzte Mal waren sie einander während eines Gastmahls so nahe gekommen, das sie auf dem Hof für ihn bereitet hatte. Er blickte sie genauso an, wie er sie bei ihrer ersten Begegnung angesehen hatte. Könnte sie nur hinübergehen, zusammen mit ihm niederknien und beten! Als hätte Gott ihre Bitte erhört, strich ein Luftzug durch die offene Tür und bewegte den Schleier, der Gesicht und Haare bedeckte. Einen Moment lang unternahm sie nichts, sondern ließ die Sonne auf ihre weiße Haut und die goldenen Locken scheinen. Sie bereute es nicht, die Sonne auf der Haut zu spüren. Ein Leuchten huschte über Bernardos Gesicht. Er lächelte sie leise an. Sie deutete seine traurige Miene als Zeichen dafür, dass er sein Leben und seine Ehre aufs Spiel gesetzt hatte. Ihrer beider Zukunft ruhte in den Händen anderer. Papst Pius würde gezwungen sein zu entscheiden, ob er einen Mann, der ihn und seine Heimatstadt für alle Zeiten unsterblich gemacht hatte, erniedrigen oder erhöhen sollte. Entschied er sich dafür, Bernardo zu erniedrigen, erniedrigte er auch sich selbst. Nicht die Schönheit der Stadt würde in aller Munde sein, sondern der Skandal um einen Kostenplan, der nicht eingehalten worden war. Sie blieb nur einen Augenblick so stehen, nicht länger als der Windstoß dauerte, nicht länger als der Nachklang eines Hammerschlages unter dem Deckengewölbe der Kirche. Sie fühlte sich vom Wind unter Bernardos Bogengänge emporgehoben. Im selben Moment flutete das Sonnenlicht durch die hohen Fenster der Kirche herein. In der Ferne bellte ein Hund. Sie war so versunken, dass sie kaum den Mönch bemerkte, der an ihr vorüberging. Er trug ein Altarbild mittlerer Größe, gerade richtig, um auf einem Esel befördert zu werden. Sie hielt den Atem an und spürte ihr Herz klopfen.
Die Männer scharten sich um die Tafel, die der Mönch aufstellte. Es wurde still. Die Hammerschläge verstummten. Die gedämpften Gebete der Männer und Frauen gingen in ein Raunen über. Nur das Zwitschern der Schwalben war zu hören. Sie flogen weiter unter dem Deckengewölbe herum, als ginge sie das, was auf der Erde passierte, nichts an. Leon Battista Albertis Gesicht war flammend rot vor Zorn, als er sich zu Rossellino umwandte. Die Kardinäle des Papstes standen um ihn herum und lachten, während Worte wie »obszön, vulgär, ketzerisch« über ihre Lippen sprudelten. Sie wichen vor der Tafel zurück, wie um sich vor der Macht des Teufels in Sicherheit zu bringen. Anna hörte ihre Ausrufe sehr gut. Sie brauchte nicht näher heranzugehen. Die Akustik trug Albertis Worte hinaus zu allen, zu Handwerkern, Kardinälen, Handlangern, Mönchen und Boten. Sie begriff, dass sogar Florentiner Meister wussten, dass solche Tafeln sich nicht für die Kirchenwand eigneten. »Lebendige Haut, keine gemalte. Seht!«, rief er. »Seht nur, wie die Brust sich mit dem Herzschlag hebt und senkt! Ich könnte beinahe schwören, dass der Puls schlägt und die Brustwarzen unaufhörlich ihre Farbe ändern!« Sie sah selbst, wie die Sonne auf Sankt Agathas Brustwarzen schien und sich das tiefe Rot in Scharlach verwandelte. So reagierte die Farbe, wenn sie nicht fixiert wurde. Der Prozess war offen für die Einwirkung der warmen Sonnenstrahlen. »Solch brutales Leid bringt einen Mann dazu, sich wehren zu wollen«, murmelte Leon Battista Alberti zu Rossellino. »Auf dieselbe Weise, wie man sich gegen den Teufel wehren muss.« Die Macht, die sie gefühlt hatte, als sie den Geistlichen die Stirn bot, verwandelte sich in Ohnmacht und tiefe Furcht. Die
Männer hatten nichts anderes als einen Scheiterhaufen im Sinn. Sie selbst hatte die Funken geschlagen und war der Flamme entgegengegangen, ohne es recht zu begreifen. Rossellinos Mantel schleppte auf dem Boden, als er zu Alberti trat. Sie bemerkte, dass der Mantel mit Erde beschmutzt und der Wollstoff verfilzt und nass war. »Wart Ihr es, der den Mönch gebeten hat, diese Tafel hierher zu bringen?«, fragte Leon Battista Alberti. »Selbstverständlich.« »Soll das etwa eine Heilige darstellen?«, höhnte Alberti, und die Kardinäle lachten beifällig. »Wer hat das gemalt? Ihr selbst, Bernardo?« »Ich? Nein, ich bin nicht mutig genug, leider.« »Wer dann? Der Mönch sagte, dass es aus Eurem Kontor geholt wurde.« Alberti sah ihn verwundert an. »Ein Engel hat es gemalt. In einer Stadt, in der alles möglich und nichts verboten ist.« »Wollt Ihr mich zum Narren halten?«, fragte Alberti. Er musterte erneut das Tafelbild. »Ketzerisch. Versucht nicht, den Meister vor mir zu verstecken«, sagte er auf dem Weg zum Mittelgang. Er beugte den Kopf, als er an Anna vorüberging, und murmelte eine Entschuldigung. Das Urteil war gefällt. Sie schloss die Augen. Als sie die Lider wieder aufschlug, sah sie in Bernardos braune Augen. Sie las in seinem Blick, dass Männer Schwerter haben, die sie mit beiden Händen zu gebrauchen wissen.
A
ls der Pfarrer auf dem Heimweg zu seinem Haus war, meinte er, den Ruf eines Weibes zu hören. Er blickte sich um, sah aber niemanden. Der Wind hatte aufgefrischt, und graue Wolken sammelten sich um das Amiata-Gebirge. Endlich konnte er wieder durchatmen. Die heiße Sonne war fort. Er hörte wieder den Ruf der Frau. Aber er konnte niemanden entdecken. Der Boden war jetzt trockener. Die Erde saugte ihn nicht mehr an sich, seufzte nicht unter seinen Füßen, um ihn nach unten zu ziehen. Ein Weib, sagte eine Stimme in ihm. Die Stimme, die nicht seine war. Es war, als ob ein anderer die Worte formte. Wie aus dem Nichts überkam ihn die Erkenntnis, wer am Morgen auf seiner Schwelle gestanden hatte. Er hatte mit einem Engel gerechnet und deshalb die vornehme Gestalt der Färberin nicht erkannt. Er hatte sie noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, aber ihre Augen, so munkelte man, waren azurblau wie die eines Engels. Sie musste es gewesen sein! Sie hatte im Gegenlicht gestanden, mit dem Schleier vor dem Gesicht, und ausgesehen wie der Engel, auf den er so sehnsüchtig gewartet hatte. Jetzt begriff er, warum beim Bau der Kirche alles schief gegangen war. Nachdem sie die Seidenbänder für zwei neu ernannte Kardinäle gefärbt hatte, war der erste Riss durch die Grundmauer der Kirche gegangen und Männer waren hinuntergefallen und zu Tode gestürzt. Die Purpurfärberin hatte versucht, ihn hinters Licht zu führen. Als seien ihr die Kleider des Papstes und der Kardinäle noch nicht genug, wollte sie immer näher an Gott heran. Sie war zu weit gegangen. Es gab viele, die dachten wie er. Er hatte
gehört, dass die Färbergilde in Siena sich übergangen fühlte. An ihrer statt vergab der Papst seine Aufträge an die Baronessa. Er bestand auf ihrem Purpur, ebenso wie er darauf bestanden hatte, einen Architekten aus Florenz zu beauftragen statt der heimischen Architekten in Siena. Der Pfarrer hatte oft gedacht, wie unerklärlich es war, dass der Papst Zugang zur Purpurtinte des toten Kaisers Konstantin erhalten hatte. »Lorenzo hat sie nach Hause geschmuggelt«, sagten jene, die dem Papst am nächsten standen und die Macht der Baronessa fürchteten. Womit hatte der Leibwächter des Papstes bezahlt, um an die Rezeptur zu kommen? Lorenzo war derjenige gewesen, den der Papst mit Briefen zu Sultan Mehmet schickte. Es war ja nicht undenkbar, dass sich in Mehmets Schatzkammern Krüge mit dem Purpur des Kaisers befanden. Womit hatte er den Sultan bestochen? Vielleicht diente Lorenzo den Türken und nicht dem Vatikan? Er musste es herausfinden, als Mann der Inquisition und als zukünftiger Bischof. Vielleicht waren alle beide Spione? Sie muss gemerkt haben, dass die Leute reden, dachte der Pfarrer. Aber ihre Gier nach Macht war so groß, dass sie allem trotzte. Jetzt verstand er, warum sie als Engel verkleidet zu seinem Haus gekommen war. Dieser Hirtenjunge gehörte sicher auch zu ihrem Spiel. War er nicht Lorenzos Sklave? Die Baronessa hatte sich vor ihm dargeboten, gekleidet in eine Bluse mit purpurnen Schmuckbändern, die Augen leuchtend wie Saphire unter blau gemalten Augenbrauen. Sie wollte ihre weibliche Macht auf ihn ausüben. Er sollte benutzt werden, sollte für sie mit der Tafel zum Papst gehen. Damit er gehorchte, hatte sie ihn mit Sankt Agathas purpurgefärbten Brustwarzen aufgestachelt – auf dieselbe Art, wie sie die blendende Sonne ausgenutzt hatte, um wie ein Engel zu erscheinen.
Sie hatte ihn dazu gebracht, niederzuknien, so wie er selbst die Frauen dazu brachte, vor Gott zu knien. Welch Narr er war. Hier ging es um Hexerei. Er hatte ja schon gehört, dass die Frauen, die dort oben im Norden am Meer lebten, mit ihrer Zauberkraft große Meerestiere zu sich locken konnten. Damit diese Frauen auf dem Scheiterhaufen überhaupt brannten, mussten sie zuvor in Fischtran getaucht werden. Er lachte in sich hinein. Sollten die geistlichen Herren nur da sitzen und an Hasen- und Fasanenkeulen nagen. Sein Kichern ging in ein befreiendes Lachen über, als er entdeckte, dass er keinen Neid mehr auf sie verspürte. Er sah vor sich, wie Rossellino inmitten der Ratsmitglieder saß. Der hatte natürlich keinen Appetit mehr und trank wohl nur noch Wein. Der Pfarrer hätte jetzt schon unter ihnen weilen können, wenn nur nicht diese unglückselige Altartafel gewesen wäre. Aber er tröstete sich damit, dass die Mahlzeiten in kommenden Zeiten zahlreich und üppig sein würden. Er würde sich bei den Feiern für Johannes den Täufer satt essen. Die Menschen rechneten sowohl mit der Pest als auch mit heiligen Erscheinungen, wenn Papst Pius in die Stadt kam. Doch der Pfarrer würde die meiste Zeit lieber für sich bleiben, damit er, falls die Pest ausbrach, nicht von Beulen und schwärenden Wunden entstellt würde. Er blieb einen Moment stehen, um die neue Kirche aus der Entfernung zu betrachten. Er sah den Riss vor seinem inneren Auge. Sah die Grundmauer, die aus Sandstein in einen feuchten Abhang gebaut war, nachgeben und in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Die Sonne blendete ihn, während er sich die Katastrophe ausmalte. Der Pfarrer schüttelte sich, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Er musste plötzlich an den Hirtenjungen denken. Den hatte er ganz vergessen. Was, wenn der zu den Kardinälen ging und
ihnen erzählte, dass der Pfarrer versucht hatte, Sodomie mit ihm zu treiben? Er hörte einen schwachen Ruf vom Gutshof der Baronessa. Es war, als lenkte die Furcht seine Schritte fort von einem flammenden Scheiterhaufen.
L
ucrezia badete in Schwefelwasser. Eine sprudelnde Säule stieg aus den unterirdischen Quellen auf, und das heiße Wasser dampfte. Wasser sickerte und rann von der Spitze eines erstarrten Schwefelberges hinab in den kleinen See. Efeu und grüne Gewächse kletterten an dem Berg empor, und um das Becken wuchs ein Kranz schöner Lilien. Warum kam Andropolus nicht? Sie hatten verabredet, sich hier zu treffen. Sie hatte versprochen, dass er sie nackt sehen dürfe, lediglich bedeckt von einer Schicht Schwefelschlamm. Warum antwortete er nicht, wenn sie ihn rief? Er wollte sich ein Hemd aus Federn machen. Sie sollte ihn darin fliegen sehen, hatte er gesagt. Er wollte es heute mitbringen. Vielleicht war er stattdessen dem Papst gefolgt und hatte sie vergessen? Lucrezia lag auf dem Rücken und ruderte träge mit den Armen, während sie ihre Brüste betrachtete, die immer wieder an der Wasseroberfläche erschienen. Langsam drehte sie sich auf den Bauch. Sie brach eine Efeuranke und befestigte sie in ihrem Haar. Als sie schwamm, löste sich ihr Zopf und umkränzte sie wie Seegras. Lucrezia stellte sich unter den Wasserfall und ließ das Wasser auf ihr Gesicht plätschern und über Wangen und Kinn den Körper hinunterströmen. Sie streckte den Hals und beugte den Kopf nach hinten und schloss mit entrücktem Lächeln die Augen. Wenn sie so stand, verschwand der Schmerz zwischen den Engelsflügeln hoch im Rücken und sie fühlte sich wieder gesund und schön. Gelegentlich öffnete sie die Augen und sah sich um. Wann kommt Andropolus endlich?, dachte sie. Das Wasser reichte ihr nur bis zur Leibesmitte. Als sie ein Geräusch im Gras hörte, setzte sie sich nieder, sodass nur noch Hals und Kopf zu sehen waren. Sie hielt Ausschau in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, so lange, bis ein Fasan aus dem hohen Ufergras aufflog. Dann erhob sie sich wieder und stand
in dem kleinen See, das Wasser bis zur Taille und die Brüste entblößt.
Der Pfarrer hockte verborgen hinter einem Rosmarinbusch und gaffte auf das Mädchen mit dem hübschen Gesicht. Ihre Brüste waren groß, die Beine lang, doch der obere Teil der linken Schulter war durch einen Buckel zwischen den Schulterblättern entstellt. Wie erstarrte Lava von vulkanischem Schwefel sah es aus, wie Schlacke aus einem Ofen, den der Teufel anheizte, um seine verkrüppelten Glieder zu wärmen. Sie war von Gott verunstaltet. Eine Strafe, die sie in den Rücken getroffen hatte. Er erkannte sie wieder, von la cresima, ihrer Erstkommunion. Da war sie neun oder zehn Jahre alt gewesen. Doch das war vor dem Unglück gewesen, und seitdem hatte er sie nie mehr in der Kirche gesehen. Die Purpurfärberin war ihre Mutter. Sie kam immer in Schwarz mit einem Schleier vor dem Gesicht zum Abendmahl. Der Pfarrer hatte ein drängendes Verlangen verspürt, ihr Antlitz zu sehen. Hatte sie das Recht, die Tochter von der Kirche fern zu halten, nur um deren Missbildung vor den Leuten zu verbergen? Vielleicht war es gar kein Unglück gewesen, sondern eine Strafe Gottes, dachte der Pfarrer. Die Strafe für eine heimliche Sünde, die sie ihm pflichtgemäß hätte beichten müssen. Auch Kinder sollten ihre Sünden bekennen. Wenn er es richtig anstellte, konnte er dem Mädchen vielleicht das Geheimnis der Purpurfarbe abluchsen und der Gilde in Siena das geben, was sie haben wollte. Im Namen der heiligen Kirche würde er dem Mädchen auferlegen, ihm die Geheimnisse der Mutter zu verraten. Er hockte dort hinter dem Rosmarinbusch, betäubt vom Duft der berühmten Marienrose. Der Busch trug den Namen der Jungfrau, weil sie bei der Kreuzigung Jesu ihre Tränen darauf
tropfen ließ. Rührung stieg in ihm auf, und auch er ließ seine Tränen auf die kleinen Blüten tropfen. Er fühlte, wie die Güte in seinem Körper anschwoll. Eigentlich wollte er doch nur diesem jungen Mädchen einen Dienst erweisen. Natürlich sehnte sie sich genau wie alle Frauen nach dem, was nun auch seinen Sinn erfüllte. Dieser Gedanke machte ihn übermütig. »Niemals sah ich einen schöneren Anblick«, sagte er und trat vor sie hin.
Lucrezia erkannte ihn an der Stimme wieder. Einen Augenblick lang vergaß sie, dass sie nackt war, und starrte ihn entgeistert an. Schweiß perlte auf seiner Stirn, während er vor ihr kniete. Lucrezia war zurück ins Wasser geglitten und achtete nun genau darauf, sich gut unter Wasser halten. Sie hoffte, dass er ihre Brüste nicht sah. »Ich kann dich retten«, sagte er und sah ihr in die Augen. Sie kreuzte die Arme vor dem Busen. Plötzlich fühlte sie sich unter seinem Blick verlegen. Was tat er hier auf ihrem Grund und Boden? Spionierte er ihr nach? Wollte er den Leuten in der Stadt erzählen, dass sie nackt badete? »Versprich mir, dass du deiner Mutter und deinem Vater nichts von meiner Wohltat erzählst. Sie müssen wir aus dem Pakt heraushalten«, sagte er mit einschmeichelnder Stimme. »Ein Pakt?« Er meinte wohl ein Gebet. Lucrezia sah auf ihren Körper hinunter. Das Wasser war trübe. Der milchige Schwefel machte es für Blicke undurchdringlich. Von der Mutter hatte sie gelernt, welchen Spaß es bereitete, nackt zu baden. Es war wie in den Dampfbädern des Nordens, sagte sie. Dort waren auch alle nackt. »Warum darf ich Mutter und Vater nichts von dem Gebet sagen?«
»Das muss zwischen uns und Gott bleiben, so wie es auch zwischen dir und mir bleiben wird, dass du nackt badest, ohne Scham und ohne Aufsicht.« Als ob sie es nicht geahnt hatte. Jetzt hatte er sie in der Hand. Sie musste tun, was er sagte. Sie konnte das Gerede der Leute praktisch schon hören. Sie lief Gefahr, dorthin gebracht zu werden, wo sie am allerwenigsten hinwollte. Ins Kloster. Der Vater hatte der Mutter angedroht, sie ins Kloster in Montepulciano zu schicken, damit sie sich Gott weihte. Die Truhe mit den kostbaren Sachen war schon fertig gepackt. Aber keine Mitgift würde groß genug sein, um einen Adeligen dazu zu bringen, eine wie sie zu heiraten. Lucrezia schüttelte energisch ihre nassen Haare. Sie peitschten ihr ins Gesicht, steif vom Schwefel. »Ich habe meine Mutter noch nie von einem Gebet ausgeschlossen. Und dort, wo sie herkommt, ist es keine Sünde, nackt zu baden.« »Dies ist kein gewöhnliches Gebet. Ich muss in die Höhlen deines Körpers hinein, um die Wurzeln dessen zu entfernen, womit Satan deinen Rücken entstellt.« Lucrezia fühlte, wie das warme Wasser sich zwischen ihren Schenkeln bewegte. Es kitzelte wie Vogelfedern. »Ich muss mich erst ankleiden«, sagte sie. »Ich kann nicht nackt zu Gott beten. Bitte entfernt Euch, damit ich aus dem Wasser steigen kann.« Doch der Pfarrer rührte sich nicht von der Stelle. »Was ist das für ein Gebet, von dem Ihr sprecht?«, fragte sie neugierig. »Das wirkungsvollste aller Gebete. Ein Pakt des Heils. Ein Gebet, das allein für Gottes Augen und Ohren bestimmt ist. Sollte sonst noch jemand davon erfahren, verliert es seine Kraft. Komm, leg dich hierher«, sagte er, und sie folgte schamvoll seinen Anweisungen.
Lucrezia war damit aufgewachsen, Geheimnisse für sich zu behalten. Es war ihr verboten worden, das, was sie über den Purpur wusste, anderen zu erzählen. Wenn es nur nicht um einen Aderlass ging, dachte sie. Wenn man ihr Blut abzapfte, wurde sie matt und krank. In der ersten Zeit, als ihre Schulter schief zu werden begann, hatte die Mutter sie dauernd mit Aderlassen geplagt. Aber er war ja der Pfarrer. Nicht ihre Mutter. In diesem Jahr hatte sie alles probiert. Sie hatte in dem hohlen Baumstamm dicht neben Andropolus gelegen, aber nicht um ihrer Gesundheit willen. Sie waren nicht nackt gewesen, und kein Pakt band sie aneinander oder an Gott. Ein Hirtenjunge besaß keine heilenden Kräfte so wie ein Pfarrer, dachte sie nüchtern. Als der Pfarrer ihren Körper berührte, erinnerte Lucrezia sich an ihr Verlangen, gefüllt zu werden. Er raffte seine Priesterkutte bis zur Leibesmitte hoch und legte sich auf sie. Dann drückte er ihre Schenkel auseinander und presste sein hartes Glied in ihren Schoß. Es fühlte sich viel zu groß an, und sie schrie auf. Er legte die Hände auf ihre Brüste und küsste die Brustwarzen, sodass sie steif wurden, und sie merkte, wie ihr Schoß feucht wurde. Sie fühlte die Last seines Körpers auf ihrem Bauch, und sein Gesicht, das so freundlich gewesen war, verwandelte sich in eine fremde und grobe Grimasse. Sein einschmeichelndes Wesen war verschwunden, und sie erstarrte angesichts der Dunkelheit, die in seinem Gesicht aufstieg. Die Nasenflügel weiteten sich und seine gefletschten Lippen entblößten die Zähne. Sein Blick schien so gefährlich, dass sie den Atem anhielt. Sie wollte ihn fortstoßen, ihn mit der Faust ins Gesicht schlagen, aber stattdessen blieb sie liegen und spürte den Schmerz, als die Haut im Schoß riss und das Glied sich hindurchdrängte, in sie hinein – tief in sie hinein. Sie konnte
plötzlich nicht mehr zwischen Schmerz und Lust unterscheiden und hob an zu schreien. Der Pfarrer presste seine Hand auf ihren Mund und winselte, während er sein Gesicht in ihren nassen Haaren verbarg. Als sie merkte, dass sich eine fremde feuchte Wärme zwischen ihren Schenkeln ausbreitete, versuchte sie mit aller Kraft, den schweren Körper wegzuschieben. »Wenn beim nächsten Vollmond die Speerspitze nicht draußen und der Rücken nicht gerade ist, werde ich das hier Mutter und Vater erzählen«, flüsterte Lucrezia dem Pfarrer zu, der sich schwer von ihr gerollt hatte. Sie war wieder zu sich gekommen und sah, dass sie besudelt war von Blut und einer weißlichen Flüssigkeit zwischen ihren Beinen. Es roch nach Fisch, so wie das Purpursekret, mit dem Mutters kleine Fläschchen gefüllt waren. Der Pfarrer richtete den Oberkörper auf und starrte in das junge Gesicht. Er fühlte sich betrogen. Alles war so schnell gegangen, und jetzt empfand er Scham. »Ich bin es, der bestimmt, was du sagen oder nicht sagen sollst. Ich bin jetzt dein Gatte. Ich bestimme über dich. Du bist die ertrinkende Frau, die zu retten Gott mich geschickt hat.« Er sah sie lange an, als erwarte er, dass seine Worte sie dazu bringen würden, sich zu unterwerfen und ihn anzubeten. Doch sie wandte den Blick nicht ab von dem weißen Schleim zwischen ihren Beinen. Sie spürte eine wilde Sehnsucht. Die Sehnsucht nach Andropolus’ Gesicht und seinen Augen. Sie wusste jetzt, was ein Pakt war. Und dass sie einen gebrochen hatte. Mit aller Kraft rief sie nach Andropolus. Sie sah, wie der Pfarrer sich davonschlich. Gleich darauf begann er zu rennen, und schon hatte ihn die Dämmerung verschluckt. »Andropolus! Andropolus! Warum kommst du nicht?«, rief Lucrezia.
Niemand antwortete ihr. Sie sprach ein Gebet an die heilige Caterina und dankte ihr dafür, dass ihr Leib nicht fortgeworfen wurde, so wie man es mit ausgepressten Schnecken tat. Sie rief die Heiligen an, die Jungfrau Maria, Jesus und Gott. Und sie rief nach der Mutter. Nach ihrem Vater rief sie nicht, denn der wachte über das Leben des Papstes, nicht über das ihre. Wo war die Mutter, wo war Andropolus? Es war bereits dunkel. Würden ihre Beine den Weg nach Hause finden? Sie war noch nie allein zur Quelle gegangen. Was sollte sie der Mutter sagen? Nach Hause konnte sie nicht gehen. Sie hatte es getan, weil die Speerspitze des Vaters sie gezeichnet hatte. Damit Mutter und Vater sie zu sich nehmen sollten und damit sie, wenn die Zeit gekommen war, frei wäre, um verheiratet zu werden. Sie verdiene es nicht, erlöst zu werden, hatte der Pfarrer sie beschimpft, ehe er sich davonmachte. Sie habe einen missgebildeten Schoß. Sie verstand nicht, was er meinte. Dennoch durfte sie sich nicht verleiten lassen, den Pakt zu brechen. Sonst würde die Speerspitze zum Herzen wandern und der Buckel auf dem Rücken zu einer solchen Größe anschwellen, dass sie niemals mehr imstande wäre, den Kopf zurückzulegen, um den Himmel und die Sonne zu betrachten. So reinigte sie sich in der Quelle und machte sich dann auf den Weg. Sie ging sehr langsam, denn die Innenseiten ihrer Schenkel schmerzten. Sie wusste nicht, zu wem sie gehen, auch nicht, welchen Weg sie einschlagen sollte. Außerdem war es so dunkel, dass sie kaum sah, wohin sie ihre Schritte setzte. Ging sie womöglich zum Pfarrer, ohne es zu wissen? Bei diesem Gedanken wurde ihr Körper so steif, dass ihr die Beine nicht mehr gehorchen wollten.
Sie kehrte an die Quelle zurück und setzte sich dort, wo der Pfarrer sie verlassen hatte. Er hatte ihr ja gesagt, dass sie dableiben sollte. Wohl deshalb, damit er sie wieder fand. Sie betete darum, dass sie alles richtig gemacht hatte. Der Schmerz saß dort, wo der Pfarrer sich mit ihr vereinigt hatte. Sie fragte sich, ob die Veränderung ihr wohl ins Gesicht geschrieben stand, und versuchte ihr Spiegelbild in dem dampfenden Wasser zu betrachten. Der warme Dampf machte sie schläfrig. Ihr war, als sähe sie in weiter Ferne ein Segel, das sich im Wind blähte. War das nicht ein Schiff, das sich dort näherte, eines der Kriegsschiffe des Papstes, gebaut aus den Bäumen des Tals? Sie meinte zu sehen, dass der Rumpf Dantes Baum ähnlich war, mit einem Hohlraum, in dem Andropolus die Nächte verbringen konnte, und mit Ästen, an denen ein Krüppel hängen konnte. Das Schiff kam, um sie und Andropolus zu holen. Der Rumpf war dazu geschaffen, dass Hirten und Schnecken wie sie sich während der Reise durch tiefere Gewässer daran festkleben konnten. Es war nicht das Segel eines Schiffes, sondern ihr weißes Pferd, das über die Felder galoppiert kam. Als es sie witterte, blieb es stehen und begann zu grasen. Es tat so, als ob es sie nicht gesehen hätte, ging hierhin und dorthin, zögernd, als schämte es sich, dass es seine Reiterin nicht heimbrachte. Plötzlich hob es den Kopf und wieherte mit weiten Nüstern. Es kam auf sie zu. »Wo bist du gewesen, und wer hat dich gesattelt?«, fragte Lucrezia und schlang ihre Arme um seinen Hals. Es beschnupperte sie überall, blies seinen Atem warm über sie, warf sie aber nicht rücklings zu Boden, so wie der Pfarrer es getan hatte. Es war ihr Freund, war es immer gewesen. Irgendwann schlief sie ein und träumte von Vögeln mit herrlichen Federn. Vögel, die bei lebendigem Leib in einem
Kessel gekocht wurden. Die Mutter war es, die sie kochte. Als die Vögel gar waren, bat sie Lucrezia, sich zurückzuziehen, bevor die Gäste kamen.
E
in Schwarm Enten flog über den Hof, unterwegs nach Norden. Die Enten, die Lorenzo verspeiste, erlegte er selbst. Anna hatte sich nach Corsignano begeben. Das war die Nachricht, mit der er empfangen wurde, als er zurück auf sein Gut kam. Die Bediensteten sagten, sie habe es abgelehnt, in Begleitung zu gehen. Was für ein törichter Einfall. Sie benahm sich wie ein Mann, bald dachte sie wohl auch noch wie einer. Sie würde mehrere Stunden fort sein, und er musste in melancholischem Verlangen schmachten. Längst bereute er die harten Worte, die er ihr hinterhergerufen hatte. Er wusste sehr wohl, dass die Leute über ihn redeten, dass sie sagten, er habe Kaiser Konstantins Purpur gestohlen. Sie redeten auch über Anna, darüber, dass sie das Verlangen des Papstes nach Frauen geweckt hatte und dass Lorenzo sie benutzte, um seine Stellung beim Papst zu festigen. Lorenzo fühlte sich herabgewürdigt. Er schämte sich sowohl über seinen Freund Pius als auch über sich selbst. Er stand abrupt vom Tisch auf, gereizt und übellaunig, und ging in Annas Schlafgemach. Wie üblich standen die Fenster hinter den Läden weit geöffnet, und das fahle Licht fiel auf die Tritonshörner, die überall im Raum verteilt lagen. Anna umgab sich mit Schnecken und Muscheln von den Stränden ihrer Kindheit im Norden. Hier lebte sie in ihrer eigenen Welt, dachte Lorenzo und nahm vorsichtig ein Tritonshorn in die Hand. Wenn er daran dachte, dass ihr einziges gemeinsames Kind durch seinen Speer verletzt worden war, überkam ihn ein Gefühl der Ohnmacht. Er war zerrissen zwischen dem Wunsch, seine Tochter zu sehen, und dem Wunsch, von ihrem Anblick verschont zu bleiben. Er unterließ es, Lucrezias Amme zu fragen, wo sie war.
Auf Annas Tisch lag das Buch »Della Famiglia«, geschrieben von seinem Freund Leon Battista Alberti. Er schlug es auf und las in dem Kapitel, das die Fleischeslust in der Ehe verurteilte. Es war mit Sünde behaftet, wenn ein Mann, der seiner Gemahlin beiwohnte, Verlangen nach ihr verspürte. Die Empfängnis durfte nur mit Respekt vor dem Sakrament geschehen. Ein Verstoß gegen dieses Gebot konnte dazu führen, dass ein Mädchen später zur Dirne wurde und ein Knabe zum Dieb. Was dachte Anna, wenn sie das las? Erinnerte sie sich an Lucrezias Empfängnis? Er merkte, wie er vor Scham errötete. Lorenzo hatte gegen diese Regel verstoßen, als Lucrezia empfangen wurde. Von dem Moment an, als er Anna zum ersten Mal sah, war er besessen von dem Verlangen, mit ihr zu schlafen. Er hatte sich einen Sohn gewünscht. Doch er fürchtete auch, dass seine Angst vor der Dunkelheit einen Sohn schwach und feige machen könnte. Heute Abend würde Lorenzo seiner Angst auf den Grund gehen. Er wollte sie beim Namen nennen. Er war gestraft. Ihm war, als würde Gott ihn durch die Liebe zu Anna bestrafen. Einen Moment lang war er versucht, ihr die Schuld dafür zu geben, dass er so tief sank. Für die Macht, die sie über ihn hatte. Eine Macht, die er seit dem Augenblick spürte, als er ihr zum ersten Mal in die Augen gesehen hatte. Nachts, wenn er über den Papst wachte, stand er oft im Kloster am Fenster und blickte über das Val d’Orcia. Er versuchte vergeblich, seinen Hof zu erkennen, er war zu weit entfernt. Dennoch starrte er weiter hinaus, bis er sich einbildete, das verschlossene, geheimnisvolle kleine Castello zu sehen, das seine geliebte Frau des Nachts behütete, ihre verborgenen Taten, ihre Gedanken, ihre kleinen intimen Verrichtungen.
Sein Haus behütete sie. Das Haus, in dem seine Vorväter gelebt hatten, umgeben von Weizenfeldern und weiten Ländereien voller Trauben und Oliven. Er liebte Anna aus der Ferne. Es hatte ihn gequält, dass der Gutshof ungeschützt vor Eindringlingen war. Aus dem Eichenwald, der seinen Besitz wie eine grüne Hecke abgeschirmt hatte, war ein ödes Stück Land geworden, auf dem die gefällten Bäume ihrer Bestimmung harrten. Alles das, was ihm gehörte, sah er vor seinem inneren Auge, wenn er im Schlafgemach des Papstes stand und über das Tal blickte, während die Sonne aufging. Er konnte sie nicht sehen, doch er wusste, dass sie dort lagen, die Stämme. Wie die Leichen auf einem Schlachtfeld waren sie im ganzen Tal verteilt. So lagen sie nach der Schlacht da, die Kämpfer. Bald war die Reihe an ihm. Wie sollte er den Papst zu der Einsicht bewegen, dass der Krieg gegen die Türken bereits verloren war? Mehmet würde Konstantinopel niemals aufgeben. »Allah ist der einzige Gott«, hatte der Sultan dem Papst geantwortet. Lorenzo selbst hatte Mehmet den Brief überbracht, in dem der Papst ihn aufforderte, sich zum Christentum zu bekennen. »Auf dass Europa geeint werde«, hatte Papst Pius mit Annas roter Purpurtinte geschrieben. Der Sultan war darüber so in Wut geraten, als wäre Kaiser Konstantin aus dem Grabe auferstanden. Welch eine Frechheit des Papstes, sich der symbolträchtigen Purpurtinte zu bedienen! Seine Antwort auf ein geeintes Europa unter einer Religion war: »Allahu akbar. Allah ist der Höchste.« Papst Pius gelang es nicht, die Staaten Europas für seine Sache zu begeistern. Das Frankenreich, Venedig, Florenz, ja sogar Siena, woher die Familie des Papstes stammte, machten allenfalls halbherzige Zusagen, Schiffe zu entsenden;
symbolische, aber keine großen finanziellen Beiträge zu einem schlagkräftigen Kreuzzug, der Europa einen könnte. Lorenzo wollte nicht mehr für Gott und den Papst in den Kampf ziehen. Er wollte Anna zurückhaben. Er war auf dem besten Wege, sie von sich fortzutreiben. Er fror, vermutlich wegen des offenen Fensters. Das Wetter schlug um, der Wind nahm zu. Er erinnerte sich plötzlich an die Erscheinung, die er gehabt hatte, als er von Bagno di Vignoni geritten kam. Auf dem Heimweg zu seinem Gut hatte er etwas Weißes flattern sehen, das sich wie auf einer Welle durch das Tal bewegte. Eine weiße Fahne in der Dunkelheit dieser Tage, hatte er gedacht, das Signal der Kapitulation eines Heeres, kaum wahrgenommen von dem Feind, der mit Krummsäbeln herangestürmt kam. So war es gewesen, als er das Zeichen der Aufgabe das letzte Mal gesehen und sich mit seinem Heer im Kampf gegen Sultan Mehmet ergeben hatte. Mochte Gott ihm seine Feigheit vergeben. Damals hatten die Türken seine Laufbahn als Soldat beendet. Die Nahkämpfe mit den Janitscharen hatten ihn seinen Verstand gekostet. Die Türken und Anna. Er war sicher, dass die Besessenheit, die Anna in ihm geweckt hatte, der eigentliche Grund war, warum er nicht länger willens war, im Kampf zu sterben. Er hatte auf Mehmets Angriff mit der weißen Fahne geantwortet. Doch der Sultan hatte seine Mannen überrannt. Seitdem war sein Mut verschwunden. Die Albträume von den bestialischen Methoden der Türken verfolgten ihn bis in den Schlaf, wenn dieser endlich kam. »Allahu akbar«, so lautete der Schlachtruf der Türken, wenn sie angriffen. »Allah ist der Höchste.« Meist erwachte er mitten in der Nacht von den geträumten Schreien auf. Dann tastete er nach Anna. Nur bei ihr fühlte er sich sicher.
Jetzt war sie nicht hier. Es blieb ihm nichts anderes, als die Seherinnen an den magischen Quellen aufzusuchen. Sklavinnen und Mägde. Ihnen gegenüber konnte er zügellos sein. Er fühlte sich hilflos gefangen in seinen Gedanken an Anna und schlug mit der geballten Faust an die Wand neben dem Bett. Es quälte ihn, dass er nicht der Einzige war, der sie zu Gesicht bekam, dass er ihren Anblick mit einem anderen teilen musste. Daran trug er selbst die Schuld. Es geschah ein Jahr, nachdem Aeneas Silvius Bischof von Triest geworden war. Er war nicht mehr Kaiser Friedrichs Berater und Hofpoet und Lorenzo nicht mehr sein Sekretär. Die Zeit, als sie junge Burschen waren und ihre Gespräche sich um Frauen drehten, war vorbei. Ihre Dispute erreichten nicht mehr dieselben Höhen, selbst dann nicht, wenn sie tüchtig Wein genossen hatten. Die Debatte, inwieweit die kritischen Stimmen Recht behielten mit der Behauptung, dass Aeneas schlichte Freudenhausliteratur schrieb, war ebenfalls ausgeschöpft. Der Heilige Geist war im Begriff, Besitz von Aeneas zu nehmen. In ihm wuchs die Gier nach der Purpurfarbe, und er bat Lorenzo, zum Nordmeer zu reisen. Über Jahre hatte er Lorenzo mit Erzählungen von seinem Schiffbruch unterhalten, den er in jungen Jahren vor der Westküste Norwegens erlitten hatte. Norwegische Seefahrer, die ihn vor dem Untergang retteten und ihm von der NucellaSchnecke auf den Klippen dort erzählt hatten. Lorenzo war auf sein Geheiß dorthin gereist, um den Purpurvorrat aus einem Kloster in Bergen in den Vatikan zu holen. Lorenzo brachte außer dem Purpur auch Anna mit. Der Papst hatte ihn gefragt, ob Liebe zwischen ihnen sei. Lorenzo erinnerte sich an jeden Satz, jeden Blick, den sie während ihres Gesprächs wechselten. Wie ein Seemann nach durchzechter Nacht hatte er sein Verlangen auf eine Weise
dargestellt, dass Aeneas von der Leidenschaft angesteckt wurde. Er erinnerte sich noch genau, wie Aeneas Anna und ihr Geschenk, einen Purpurschal mit goldgefassten Kanten, gemustert hatte, als die beiden sich trafen. Sie hatte vor ihm gestanden, das Gesicht verborgen von einem hauchzarten Schleier, und ihm den Schal um die Schultern gelegt. Lorenzo sah, wie Aeneas zu dem jungen Mann von früher wurde. Wie aus einer anderen Welt hatte Aeneas Zeilen aus Vergils »Aeneis« geflüstert: »Um des Königs Schultern glühte von tyrischem Purpur der Mantel, mit goldenem Garne köstlich durchwirkt, den liebenden Herzens einst Dido mit eigenen Händen ihm wob.« Anna war errötet. Sie kannte die lateinischen Verse aus Vergils Epos nicht. Lorenzo war Zeuge gewesen, wie die Verse, als Aeneas sie sprach, etwas in ihr berührten, was Lorenzo nie zu berühren vermocht hatte. »Wie kann es sein, dass es die tyrische Farbe an der Küste Norwegens gibt, und wie ist es möglich, dass Königin Dido im hohen Norden in einem Meer aus schimmerndem Silber auferstanden ist?«, hatte Aeneas gefragt. Er sprach wie im Traum zu Anna, als läge er in einem tiefen Schlaf. Lorenzo fühlte noch heute den Stich von Eifersucht, den er gespürt hatte, als Aeneas Annas Wange streichelte. Er fragte sich, ob sein Freund vergessen hatte, dass sie seine frisch angetraute Gemahlin war. Aeneas war in Gedanken bei seinem Helden und Namensvetter König Aeneas von Troja, der vor der Küste der Königin Dido Schiffbruch erlitten hatte. Aeneas, der Erbauer Roms. Schon als Knabe hatte der Papst diesen Namen angenommen, weil er, wie einst der König, Rom zum Ziel hatte.
Er hatte seine Dido gefunden. Lorenzo spürte, dass er Anna verloren hatte, noch bevor er sie ganz erobern konnte. Etwas Unvorhergesehenes war geschehen, während doch Aeneas’ Gemüt von dem eines Dichters zu dem eines Bischofs umgeformt werden sollte. Aeneas’ Verlangen richtete sich nicht auf Anna als Frau. Vielmehr hatte er bei ihrer ersten Begegnung erkannt, dass sie es war, die ihm den Purpurmantel mit den Goldfäden geben würde, wenn er sein Ziel, den Stuhl Petri im Vatikan, erreicht hatte. Lorenzo hatte für Aeneas die Frau geehelicht, die dieser niemals besitzen konnte. Unter seinem Schutz würde sie immer für Aeneas’ Blicke verfügbar sein. Es genügte Aeneas, sie aus der Ferne zu lieben. So deutete Lorenzo es. Sie liebten sie beide. Doch das würde Anna niemals erfahren. Aus freundschaftlicher Ergebenheit hatte Lorenzo Aeneas Zugang zu dem gegeben, was er mehr als alles andere für sich selbst ersehnte. Ihm war, als sei er es, der den Papst betrog. Aeneas war so unverhohlen in seiner Bewunderung, und Lorenzo spürte, dass Anna dem Papst mehr gehörte als ihm. Das steigerte Lorenzos Angst vor dem Dunkel ins Unermessliche. Wenn der Papst den Mönchen seine Beschreibung der Schönheiten des Val d’Orcia diktierte, kam es Lorenzo so vor, als beschreibe er Annas Schönheit. Aeneas hatte weibliche Körper immer mit großer Leidenschaft geschildert. Er hatte den ganzen europäischen Adel zum Erröten gebracht, indem er direkt und ohne Scham die Attribute der Frauen und ihre rücksichtslose Lust zu lieben beschrieb. Lorenzo erinnerte sich an eine Passage aus »Die beiden Liebenden«, die Lucrezias Gedanken über ihren Ehemann wiedergab: »Ich weiß nicht, was geschehen ist, dass ich meinen Gemahl nicht mehr liebe. Seine zärtlichen Berührungen sind mir gleichgültig, seine Küsse verursachen mir keine Lust, unsere Gespräche
langweilen mich. Vor meinem inneren Auge sehe ich nur das Gesicht des anderen.« Lorenzo blickte sich in Annas Kammer um. Verheimlichte sie etwas vor ihm? Gab es Spuren, die ihm etwas von einem heimlichen Liebhaber während seiner langen Abwesenheit verrieten? Wäre es so, hätte er sicher davon erfahren. Der Leibwächter wurde dafür bezahlt, dass er Anna auf Schritt und Tritt folgte. Oft, ohne dass sie es wusste. Ihr Freiheitsdrang war allzu groß. Erneut nahm er »Della Famiglia« zur Hand und blätterte darin. Es war das einzige Buch, das zu lesen er ihr gestattet hatte. Sein Freund Alberti hatte es ihr anlässlich eines Gastmahls geschenkt, das sie vor mehreren Jahren für ihn ausgerichtet hatte. Verheimlichte sie ihm andere Lektüre? Auf verschlungenen Wegen fanden immer wieder lateinische Schriften zu ihr, obwohl er ihren Lesehunger dadurch zu kontrollieren versuchte, dass er den Bücherschrank verschlossen hielt. Eine vergoldete Truhe mit Schriften, die zu ihrer Mitgift gehörte, hatte er in Verwahrung genommen. Einmal hatte er ihr Aeneas’ berüchtigtes Buch über die Liebenden gezeigt, es mit ihr gemeinsam durchgeblättert und ihr erzählt, dass alles, was darin über die Heldin Lucrezia geschrieben stand, der Wahrheit entsprach. Voll Mitgefühl und Anteilnahme hatte sie gefragt, warum Aeneas beschlossen hatte, ausgerechnet über die Liebe dieser verheirateten Frau zu einem jungen Offizier im Heer des Kaisers Sigismund zu schreiben. Er hatte erwidert, dass ein Freund des Papstes, Graf Kaspar Schlick, ihm die Geschichte seiner Liebe anvertraut hatte. Das beflügelte ihr Interesse noch mehr. Er erinnerte sich, dass Aeneas’ unverblümte Beschreibung von Lucrezias Körper ihr gefallen hatte, und auch seine Darstellung von Lucrezias Eifer, den jungen Mann in ihrem
eigenen Ehebett zu verführen. Es hatte sie beeindruckt, dass diese Frau ihre Ehre opferte, um ihn zu bekommen. Er hatte ihr den Schluss des Buches vorgelesen, wo Lucrezia zugrunde ging und vor Sehnsucht nach dem Mann, den sie niemals haben konnte, starb. Er fand, es gehörte unbedingt zu der Geschichte, dass eine Frau, die ihrer Leidenschaft nachgab, sowohl persönlich als auch gesellschaftlich dem Untergang geweiht war. Anna hatte geweint über das, was sie hörte. Er hatte es darauf geschoben, dass sie guter Hoffnung war. Frauen, die ein Kind erwarteten, waren oft besonders gefühlsbetont und empfindsam. Es hatte ihn peinlich berührt, dass Lucrezias Geschichte Anna so nahe ging, und er hatte das Buch wieder in den Schrank eingeschlossen. Dort konnte es ruhig stehen, zwischen griechischen Philosophen und christlichen Lehrmeistern, hatte er gedacht und den Schlüssel sicher verwahrt. Aber stand es dort überhaupt noch? Das erbauliche Buch von Alberti war ihr ja vielleicht nicht genug? Er stellte das ganze Zimmer auf den Kopf. In seinem Zorn warf er ihre Sachen hierhin und dorthin. Unter ihrem Bett fand er in einer Kiste drei Bücher. Zwei schmale Bände mit Liebesgedichten und »Die beiden Liebenden«. Ihm war, als sei er Zeuge eines Betruges, als sich das Buch von selbst an einer Stelle öffnete, die viel gelesen worden sein musste. Hitze stieg ihm ins Gesicht, als er den Abschnitt mit deutlichen Gebrauchsspuren auf dem Pergament las: »Ihre Brüste waren wie zwei köstliche Granatäpfel, die er in seinen Händen halten wollte.« Der Inhalt der Zeilen schien sich direkt an sie zu richten. Obwohl er wusste, dass Aeneas seine Dichterfeder aus der Hand gelegt hatte, lange bevor er Anna traf, konnte er seine Eifersucht nicht bezähmen, dieses Gefühl, betrogen worden zu
sein. Sie las diese Zeilen des Nachts, wenn Lorenzo nicht bei ihr war. Worte, geschrieben von Aeneas, geboren aus seinem wollüstigen Sinn. So nahe stand er ihr, dass er sie durch seine Worte in Verzückung bringen konnte. Während sie nackt im Bett lag, gab sie sich seinem Text hin. Einem Text, der sie erregte und verwandelte. Aeneas war die Sonne. Lorenzo war nur die Erde, die sie mit Füßen trat. Er warf das Buch heftig auf den Nachttisch. Alle Macht lag bei Papst Pius. Die schützende Hand des Papstes über seiner Ehe war blanker Hohn. Er erinnerte sich noch gut, wie Anna ihn überredet hatte, die Tochter nach der wollüstigen Lucrezia zu nennen. Er hatte sich gewehrt, denn er sah Lucrezia als eine Rebellin, eine, die das heilige Versprechen brach, das sich Mann und Frau vor Gott gegeben hatten. Eine zerstörerische Heldin, die am Ende mit ihrem Leben dafür bezahlen musste, dass sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hatte. Es war eine Schande, dass er eingewilligt hatte, seine einzige Tochter nach ihr zu nennen. Anna hatte versichert, dass sie es nur aus einem Grund wollte – um dem Dichter Aeneas Ehre zu erweisen. Vielleicht lasen Ehefrauen überall in Europa heimlich dieses Buch und gaben sich zügellosen Träumen darüber hin, wie sie ihren Gatten zum Hahnrei machen konnten, dachte er. Man konnte den Weibern nicht über den Weg trauen. Dass die Aufforderung zur Unzucht von ihm persönlich kam, war auch für den Papst ein unerträglicher Gedanke geworden. Pius quälte sich damit und verleugnete sowohl seinen Dichternamen Aeneas als auch seine Werke. Das einzige Buch, von dem er wollte, dass es im Gedächtnis der Leute bleiben sollte, war das Buch über die Pferdehaltung. Aber »Die beiden Liebenden« atmete weiter. Es ließ sich nicht austilgen. Das Buch lebte, obwohl inzwischen eine lange Zeit vergangen war und der Dichter sich mit Gott vereint und der Fleischeslust und der
körperlichen Erregung entsagt hatte. Jedenfalls behauptete er das. Lorenzo schien es, als höre er Gelächter. Bald würden alle über ihn lachen. Spätestens wenn sie entdeckten, dass seine Frau auch Heiligenbilder mit nackten Brüsten malte! Er würde bald nach Abbadia zurückkehren müssen. Er hatte Befehl erhalten, Anna mitsamt einer Flasche Pupurtinte ins Kloster zu bringen. Der Papst hatte bereits Jäger ausgeschickt, um Fasane zu erlegen, und Nonnen angewiesen, ihr Bett mit frisch gewebten Leinentüchern zu beziehen. Er hatte Boten zur Seidenspinnerei in Lucca ausgesandt. Sie sollten ungefärbte Seide bringen. Sein Geschenk an Anna. Was sollte Lorenzo Aeneas sagen? Dass seine Frau darauf bestanden hatte, sich ohne Leibwache nach Corsignano zu begeben? Dass er die Kontrolle über ihr Denken und Handeln verloren hatte? Pius würde ihn dafür zu Rede stellen, dass sie sich ohne Aufpasser auf den Weg gemacht hatte. »Aufpasser«. Das Wort hallte in seinem Kopf wider. War es nicht genau das, was er selbst war? Ein Aufpasser im Waffenrock des Papstes? Sie stand über ihm. Alle beide standen über ihm. Er sah sein Gesicht in dem venezianischen Spiegel über der Kommode. Auf kleinen Spitzendeckchen standen dort glitzernde Flakons aufgereiht. Die Deckchen erinnerten ihn an Leibwäsche, die sie auf der nackten Haut trug. Blasse Rosen steckten in einer roten maurischen Vase. Die Vase hatte er von Sultan Mehmet bekommen. Der Tod trug das Leben in sich. Für ihn waren die türkischen Reitersoldaten mit ihren Krummsäbeln hinter der blutroten Vase verborgen. Die Tautropfen eines frühen Morgens lagen wie Tränen auf den Rosenblättern. Aus allem sprach der Tod zu ihm. Sein Gesicht im Spiegel trug einen grünlichen Schimmer. Er stand mitten im Raum, angeleuchtet von einem
Sonnenstrahl, mit einem Buch über zwei Liebende in der Hand. Sein Blick glitt über das letzte Kapitel, das Lucrezias Ende beschrieb. Gottes Strafe für ihre Untreue. Ausgestoßen und in Einsamkeit gestorben. Ratten hatten das Pergament der letzten Seite zerfressen, wo Lucrezias Tod geschildert wurde. Vielleicht war Anna gar nicht so weit gekommen. Auf dieser Seite wurde Aeneas’ Moral sichtbar. Die Geschichte von Lucrezia war ja eigentlich als Abschreckung für Frauen gedacht, eine Geschichte darüber, wie es Frauen erging, die die Grenzen der Gesellschaft übertraten und ihren Schleier ablegten. In jungen Jahren hatte Aeneas selbst Frauen in solches Unglück gebracht. Es war sogar ein Sohn daraus erwachsen. Aeneas’ Geschlecht würde durch diesen Sohn, der in Unzucht gezeugt worden war, fortbestehen, während ihm, Lorenzo, in seiner heiligen Ehe kein Sohn vergönnt war. Der eiserne Griff, mit dem der Papst Anna umklammert hielt, war eine Bestätigung dafür, dass er sich nie wirklich vom Eros abgewandt hatte. Es verging kein Tag, an dem er nicht etwas über sie erfahren wollte. Lorenzo empfand eine Beichtpflicht, einen Zwang, ihm jedes Detail über ihre Bewegungen, Düfte, Kleider und kleinen Verrichtungen mitzuteilen. Immer und immer wieder wollte der Papst wissen, wie Lorenzo reagiert hatte, als er begriff, dass das Purpursekret im Keller des norwegischen Klosters nicht der heiligen Kirche gehörte, sondern einer jungen Frau. Lediglich Annas Visionen von der heiligen Agatha hatte Lorenzo vor Pius verheimlicht. Anna hatte ihm geschrieben, dass Sankt Agatha sich ihr sieben Mal gezeigt hatte. Sie war so vor ihr erschienen, wie sie es auf der Altartafel dargestellt hatte. Lorenzo hatte es unterlassen, Aeneas von Annas besessenen Träumen zu berichten. So, wie Aeneas heute über Frauen dachte, würde Annas Tafel ihn in Verlegenheit bringen, das wusste Lorenzo.
Er kannte ihn. Aeneas auf dem Stuhl Petri war nicht so mutig, wie Anna glaubte. Seine Haltung zu Frauen war heute eine andere als zu der Zeit, da er über sie dichtete. Doch das wusste Anna nicht. Zu seinem vierzigsten Geburtstag hatte er an Lorenzo geschrieben: »In unserem Alter können wir uns nichts Gutes vom Weibe erwarten. Für sie sind wir ein Abenteuer oder eine Laune. Ich habe genug gesündigt und mehr als das.« Lorenzo stand ihm nahe. An ihn wandte sich Pius während der nächtlichen Gespräche. Der Papst litt an Schmerzen im Bein, die ihm den Schlaf raubten. Im Schutz der Dunkelheit würde er künftig dem langsam düsterer werdenden Frauenbild des Papstes kräftig nachhelfen, als Rache dafür, dass er durch bloße Worte die Farbe der Brustwarzen seiner Frau beeinflusst hatte. Kürzlich des Nachts, als sich der Vogelschwarm im Garten des Klosters San Abbadia niederließ, hatte Papst Pius wieder von seinem Schiffbruch vor der Küste Norwegens erzählt. Die Stellung der Kompassnadel, die Stärke des Windes und die Tücke des Fahrwassers samt der Höhe der Wogen hatten darauf hingedeutet, dass die Stelle, wo der Sturm sie erwischte, die Einfahrt zur Hansestadt Bergen war. Sechs Grad südlich des Polarkreises unmittelbar vor einer Insel, deren Strände bedeckt waren mit leeren Gehäusen von Purpurschnecken, war er aus der Welt abgetrieben – so zitierte er wie aus einer Fabel –, um eine Frau mit rotem Band im Haar und Silberschimmer im Blick zu lieben. Mit einem dichterischen Dreh hatte er die Begegnung von Lorenzo und Anna zu seiner gemacht. »Die beiden Liebenden«. Er starrte auf den Buchtitel und sah Anna und Aeneas vor sich. Anschließend riss er die Seiten aus dem Buch, eine nach der anderen. Knüllte sie zusammen und schleuderte sie in den Kamin. Gleich würden sie brennen.
Sätze, die seine Gemahlin vor Pius dem Heiligen entblößten. Nur seine Schriften über Archimedes und Pythagoras sollten verschont bleiben. Schriften, die er im Kellergewölbe aufbewahrte, Bücher mit edelsteinbesetzten Silberbeschlägen. Sie enthielten die wirklichen Mysterien. Die Mysterien der Zukunft. Maschinen, die die Kunst beherrschten, mit Wasser und Dampf Menschenarbeit auszuführen. Das war etwas, auf das er sich verstand. Die Kriegsmaschinen der Zukunft, die einmal die Menschen ersetzen und die Welt verändern würden. Das Wissen der Alten durfte nicht in einem Rattenmaul zugrunde gehen. Doch Anna suchte nicht nach der Weisheit eines Pythagoras, sondern nur nach den Geheimnissen des Eros. Er warf den letzten Rest von »Die beiden Liebenden« in die Flammen. Ein Schmerz in der Magengegend ließ ihn sich abwenden. Ihm war, als habe er türkische Reiterhorden mit wehenden roten Mänteln in vollem Galopp auf sich zustürmen sehen. In dem Pergament, das sich im Feuer aufbäumte, hatte er einen Blick auf seinen eigenen und Aeneas’ Tod erhascht. Der Rauch schlug ins Zimmer. Lorenzo fühlte sich kraftlos, als er sich von der Feuerstelle abwandte. Der Rauch hing wie ein farbiger Teppich unter der Decke. Er würde der Zukunft Tribut zollen. Sich mehr seiner zerlesenen Bibliothek der Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft widmen, sodass diejenigen, die ihm noch an Wissen unterlegen waren, nicht eines Tages über ihm standen. Wissen war das Erbe der Männer. Um die Geheimnisse des Eros konnten die Frauen sich kümmern. Aeneas hatte Bücher für Frauen geschrieben, nicht für Männer. Das tat er erst jetzt, da er im Begriff war, alt zu werden. Der Rauchgeruch mischte sich mit dem Duft des Lavendels vom letzten Jahr, den Anna an den Deckenbalken aufgehängt
hatte. Er dachte daran, wie sie vor Papst Pius zu knien pflegte. Stille zwischen ihnen. Das unausgesprochene Mysterium. Lorenzo konnte nicht von ihr lassen. Er musste ihre Gedanken erobern. Verhindern, dass sie zweifelte und sich von ihm entfernte. Ein Sonnenstrahl schoss durch den Raum, scharf wie die Klinge eines Schwertes, und blendete ihn. Es erschien ihm am einfachsten, sich an Leon Battista Albertis Lehre von der vernichtenden Begierde zu halten. Doch gleichzeitig schmerzte es ihn, daran zu glauben. Denn die Lehre sagte ihm, dass die Nemesis ihn bald einholen würde. Er fürchtete, dass die Erniedrigung ihn durch Anna ereilte. Etwas Böses wartete auf ihn. Es stand den Inquisitoren ins Gesicht geschrieben.
L
ucrezia saß neben Anna unter einem Olivenbaum. Die Mutter hatte sie völlig verwirrt im Pferdestall gefunden, hatte sie gebadet und ihr zu essen gegeben. Lucrezia sagte nichts vom Pfarrer. Sie wagte es nicht. »Stimmt es, dass du Andropolus die Freiheit geschenkt hast?«, fragte Lucrezia. Es war Nacht geworden, und der Mondschein beleuchtete eine Hälfte ihres Gesichts. Die Wölbung der Wange, der weiche Schwung der Nasenflügel rief ein Gefühl der Zärtlichkeit in Anna hervor. »Ja. Ich wollte, dass ihr wie Schwester und Bruder seid«, antwortete sie. »Du hättest das nicht tun sollen. Jetzt gehört er mir nicht mehr. Und deshalb bleibt er weg.« Anna hatte dasselbe gedacht. Wo war der Junge? Obwohl es eine warme Nacht war, fror Lucrezia unter der Decke. Sie hatte die Mutter gebeten, sie nach draußen unter den schönen Sternenhimmel zu bringen. Albträume hatten sie geplagt, und sie wagte nicht zu schlafen. Im Hintergrund konnten sie Lucrezias Kanarienvogel zwitschern hören. Liam glitt wie ein Schatten durch den Garten und schnitt Äste von einem Weidenbaum. Er steckte sie in den Boden, sodass sie die Rippen eines Bootes bilden konnten. Sein Hund schleppte Zweige heran und hielt alles für ein Spiel. Die Häute zum Bespannen des Bootsrumpfes waren präpariert, und der Teer zum Abdichten stand bereit. Der Mönch hatte sich vorgenommen, auf dem zukünftigen See des Papstes zu segeln. Anna blickte sich um und vergewisserte sich, dass die Nachtwachen ihre Posten bezogen hatten. Lucrezia durfte nichts von ihrer Besorgnis merken. Das Kind schien genug eigenen Kummer zu haben. Warum, das wusste Anna nicht. »Erzähl mir von der Färberstochter aus Fontebranda.«
Lucrezia flüsterte, als fürchtete sie, nächtliche Geister könnten hören, dass sie die Mutter bat, von der heiligen Caterina von Siena zu erzählen. Anna sah sie an und lächelte. Doch das Lächeln erreichte sein Ziel nicht. Lucrezia blickte an der Mutter vorbei, wie um sich zu schützen. Anna merkte, dass ihr Versuch der Annäherung Unbehagen bei der Tochter weckte. Irgendetwas stimmte nicht. Der schmächtige Körper bebte. Im Schein des Mondes konnten sie Salimbenis uneinnehmbare Festung Rocca di Tentenanno erkennen. Auf dem Felsen, der schroff und steil am Ufer der Orcia aufragte, hatte die Färberstochter aus Fontebranda vor hundert Jahren einige Sommermonate zugebracht. »Stell dir vor, dass die heiligste aller italienischen Heiligen einen Sommer hier gewohnt hat. Was glaubst du, wie Caterina von Siena ausgesehen hat?«, fragte Lucrezia. »Dünn und blass, glaube ich. Sie wanderte ja unablässig durchs Land und tat Gutes.« »Stimmt es, dass sie die Tochter eines Färbers war?« »Ihr Vater war Wollfärber in Siena.« »Benutzte er Schneckenpurpur, so wie du?« »Nein, er verwendete Pflanzen dazu.« »Warum kannst du nicht auch Pflanzen nehmen?« »Dazu braucht man Alaun. Und den gibt es hier nicht.« »Kannst du ihn dir denn nicht beschaffen?« »Den gibt es nur in der Türkei.« »Und wie hat Caterinas Vater das mit der Pflanzenfarbe gemacht?« »Er hat das Garn in einem Sud aus Baumrinde gebeizt. Das gibt der roten Farbe einen schmutzigen, bräunlichen Ton, und die Farbe bleicht im Sonnenlicht aus und wird grau. Nur Alaun zusammen mit Weinstein lässt sie dauerhaft werden.«
»Aber der Gerber hat Alaun für das Kalbsleder genommen, aus dem meine Schuhe gemacht sind.« »Es war nur ganz wenig. Ich habe es von Cosimo de’ Medici gekauft. Seine Färbereien beziehen ihn von den Türken.« »Was wird, wenn der Schneckenpurpur aufgebraucht ist, das du aus deiner Heimat mitgebracht hast?« »Ich weiß nicht.« Anna starrte über die Felder und stellte sich vor, wie dort, wo jetzt die Weideplätze der Schafe und Rinder waren, KrappPflanzen wuchsen. Sie besaß genug Land, um Krapp anzubauen. Sie versuchte, sich an die Pflanze zu erinnern, die anzeigte, wo es Alaunstein gab, doch sie konnte sie sich nicht vor Augen rufen. Wenn sie erst Zugang zum Buch »Über die Natur« bekam, würde sie sich von dem Kraut, das salzhaltige Erde liebte, in die Gegenden führen lassen, in denen Alaunstein vorkam. Sie würde nach Ischia reisen und nach dem Gewächs suchen, und sie würde nicht eher aufgeben, bis sie fand, wonach die Expedition des Papstes vergeblich gesucht hatte. Sie sahen eine Sternschnuppe. Hörten einen Fasan nach seinen Hennen rufen. In weiter Ferne sahen sie, wie auf der Festung Rocca di Tentenanno Fackeln angezündet wurden. »Erzähle mir, was in dem Sommer geschah, als Caterina auf Rocca di Tentenanno lebte«, bat Lucrezia ungeduldig. Wieder fiel Anna auf, dass Lucrezia aufgewühlt und ängstlich wirkte, so als hätte etwas sie zutiefst erschreckt. »Waren Fremde auf unserem Hof, während ich fort war?«, fragte sie. »Niemand außer dem Vater.« Anna schwieg. Bald würden ihn Berichte über die Ereignisse in der Kirche erreichen. Es war gekommen, wie er prophezeit hatte. Was würde er unternehmen, wenn er erfuhr, wie zornig Leon
Battista Alberti beim Anblick ihrer Tafel geworden war? Vermutlich würde er seine Drohung in die Tat umsetzen und die Ehe annullieren lassen. Das würde sie zu einer unverheirateten Mutter machen und ihre Tochter zu einem vaterlosen Kind. Lucrezia ahnte von alldem nichts, und so sollte es auch bleiben. Anna bemerkte, dass sie den Blick gar nicht mehr von der Festung am anderen Ufer der Orcia abwenden konnte. »Ist es wirklich wahr, dass Sankt Caterina dort oben Dämonen vertrieben hat?« »Ja, sie hat in der ganzen Zeit, die sie in der Festung verbrachte, gegen Dämonen gekämpft«, erwiderte Anna. »Arme Caterina.« »Aber ich glaube, die Leute waren freundlich zu ihr. Sie hatte ja kurz zuvor Papst Gregor von Avignon zurück nach Rom geholt.« »Dass die Tochter eines Färbers es gewagt hat, dem Papst zu sagen, was Gott von ihm erwartet…« »Der Papst glaubte ihr, als sie ihm sagte, es sei Gottes Wille, dass er Avignon verlassen und nach Rom zurückkehren solle.« Lucrezia saß eine Weile in Gedanken versunken, offenbar völlig entrückt. Anna schwieg. Ihr schien, als habe das Kind einen Augenblick lang Frieden gefunden. »War es nicht auf Rocca di Tentenanno, wo die heilige Caterina entdeckte, dass sie schreiben konnte?«, fragte Lucrezia und deutete hinüber zur Festung. »Doch. Eines Tages fand sie zufällig einen kleinen Krug mit roter Farbe…« »Hast du deswegen die rote Farbe in Tinte für den Papst verwandelt?«, unterbrach Lucrezia sie eifrig. Anna war gerührt über den Vergleich. Endlich war sie zu ihrer Tochter vorgedrungen. Einsamkeit und Furcht schmolzen
dahin. Die Verzweiflung und die Wut, die sie nach den Ereignissen in Corsignano verspürt hatte, waren verflogen. »Können wir nicht hinauf zum Rocca di Tentenanno pilgern? Dort ist doch nichts, wovor wir uns fürchten müssten. Caterina hat ja alle Dämonen verjagt. Und der Mönch… Ist es wahr, dass der Mönch in sie verliebt war und sich schließlich im Wald aufgehängt hat? Können wir nicht morgen dorthin gehen?«, drängte Lucrezia. »Vielleicht hat Andropolus sich dort versteckt?« »Ja, möglich wäre es, dass er dort ist«, nickte Anna. Aber insgeheim vermutete sie etwas anderes. »Er wollte sicher den unheimlichen Wald sehen, in dem der Mönch sich aufgeknüpft hat«, sagte Lucrezia mit hoffnungsvoller Stimme. »Das will ich auch. Erzähle mir genau, warum er nicht mehr leben wollte!« Anna musste sich ein kleines Lächeln verkneifen. Liebesdramen hatten Lucrezia schon immer fasziniert. »Der Mönch verliebte sich in Caterina. Als er begriff, dass er sie nicht bekommen konnte, versuchte er, sie während einer Messe in der Kirche zu töten. Zum Glück gelang es ihm nicht. Anschließend floh er aus der Kirche und lief in den Wald, wo er sich an einem Baum erhängte.« »Hat er ihr auch nichts getan? Weißt du ganz sicher, dass er ihr nichts getan hat?«, fragte Lucrezia. »Auch nicht, als sie in den Quellen badete?« Beim letzten Satz wurde ihre Stimme eine Spur rauer. Anna spürte ein Zittern in Lucrezias Körper, als sie ihren Arm berührte. »Ihre Mutter hatte Caterina verlassen«, sagte Lucrezia düster. »Ihre Mutter zog es vor, in Montepulciano zu sein, im Kloster Sankt Agnes. So hast du es erzählt. Ich finde, sie hätte bei Caterina sein und auf sie aufpassen müssen.«
Als Anna den Arm tröstend um die Schultern ihrer Tochter legte, merkte sie, dass Lucrezias Haare seltsam steif waren. So fühlten sich Haare nur nach einem Schwefelbad an. »Hast du in der Quelle gebadet?«, fragte Anna streng. »Ich war mit Andropolus dort«, entgegnete Lucrezia. »Nur ihr zwei? Davon hat mir niemand etwas gesagt. Und danach ist er verschwunden?« Lucrezia blickte beschämt zu Boden und nickte. Sie wusste sehr gut, dass sie ein Verbot übertreten hatte. Anna versuchte, ihren Ärger zu dämpfen. »Es ist Caterina doch nichts passiert? Nicht wahr?«, fragte Lucrezia nach einer Weile. »Caterina wurde immer von den Mönchen begleitet«, versicherte Anna. »Sie folgten ihr überallhin und passten auf sie auf. Raimondo, Tommaso della Fonte, der Eremit von Santo und mehrere andere. Die Mönche wachten über sie, so wie Liam über dich wacht. Sie war sicher niemals allein.« »Nicht einmal, wenn sie in der Quelle badete?« »Dann war bestimmt ihre Freundin Lisa dabei.« »Glaubst du, dass sie nackt badeten, so wie du und ich?« »Hast du zusammen mit Andropolus nackt gebadet?« Lucrezia schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das tue ich nur, wenn du dabei bist,« Konnte es sein, dass Lucrezia ihr die Unwahrheit sagte?, dachte Anna. Warum hatten die Amme und Liam sie nicht begleitet? Kümmerte sich niemand um sie, wenn Anna außer Haus war? Sie würde das mit den Bediensteten besprechen. »Man kann niemals etwas ganz sicher wissen. Vielleicht hatte der Mönch versucht, sich Caterina zu nähern, indem er sagte, er sei Gott«, spekulierte Lucrezia. »Ich glaube, das hätte er niemals gewagt. Sie stand ja dem Papst nahe.«
»Das hätte den Mönch nicht gekümmert. Er hat immerhin versucht, sie zu töten.« Wieder wurde es still. Der Kanarienvogel sang hin und wieder. Lucrezia sagte eine lange Zeit gar nichts. »Sieh nur, wie Rocca di Tentenanno plötzlich aufschimmert«, sagte sie schließlich mit verwunderter Stimme, so als wäre sie von einer Vision erfüllt. »Das muss die heilige Caterina sein, die mir zulächelt. Pst, still! Kannst du hören, was sie spricht? Sie sagt, dass ich mich für nichts zu schämen brauche. Gott will, dass ich eine Speerspitze unter meiner Haut trage. Das bedeutet, dass ich Papst Pius auf seinem Kreuzzug gegen Sultan Mehmet folgen soll. Zusammen mit Andropolus.« Sie wandte den Kopf so hastig um, dass ihre langen Haare Anna ins Gesicht peitschten. Plötzlich verschwand ihre Freude, und Düsterkeit legte sich über ihr Gesicht. Anna spürte, wie Lucrezia erbebte, und legte ihr die Hand auf die Stirn, um sie zu beruhigen. Da merkte sie, dass die Stirn fieberheiß war. Lucrezia hatte ihren Blick auf die Burg geheftet. »Die rote Farbe ist wie ein Faden«, flüsterte sie. »Was meinst du damit?«, fragte Anna leise. »Dass ich genau wie sie eine Färberstochter bin.« Sie erhob sich so abrupt, dass die Decke von ihren Schultern rutschte. »Finde Andropolus für mich. Kaufe ihn, für alles, was ich in meiner Truhe habe. Er soll mich begleiten, wo immer ich auch hingehe.« Sie lief ins Haus, und Anna folgte ihr rasch. Sie fand Lucrezia am Bauer des Kanarienvogels. Sie stand am Käfig und sammelte die herabgefallenen Federn des Vogels auf. »Ich will wie Caterina sein. Nicht wie Lucrezia«, flüsterte sie. »Lucrezia hat ja niemals gelebt.«
A
nna wartete mehrere Tage, ohne etwas von Andropolus zu sehen oder zu hören. Schließlich machte sie sich nach Corsignano auf, um ihn zu suchen. Liam begleitete sie. Ein Pferdebursche kümmerte sich um ihr Pferd, während sie die Messe in der Kirche San Francesco besuchte. Bevor sie die Kirche betrat, fragte sie den Burschen, ob er Andropolus gesehen habe. »Das fragt Ihr besser die Wasserträger«, erwiderte er ausweichend. Sie verließ die Messe, noch ehe sie beendet war. Ohne die Folgen zu bedenken, folgte sie Bernardo Rossellino, als er aus der Kirche trat. Der Platz zwischen der neuen Kirche und dem Palast des Papstes war nahezu menschenleer. Wie in zwei Welten geteilt, lag der Platz zum Süden hin in Morgensonne gebadet, die östliche Hälfte lag im Schatten, da der hohe Rathausturm der Sonne den Zutritt versperrte. Dort im Schatten stand Rossellino bei seinen Pferden, die aus den Travertinbecken vor dem Piccolomini-Palast tranken. Sie wandte den Kopf ab, als sie merkte, dass sein Blick sich auf sie richtete. Die Wasserträger am Hundebrunnen starrten Anna und Rossellino neugierig an. Anstatt zu ihnen zu gehen und sich nach Andropolus zu erkundigen, blieb sie wie angewurzelt mitten auf dem Platz stehen. Vor den Augen der drei Wasserträger, im Angesicht von Liam und seinem Hund, stand sie da und wartete darauf, dass Rossellino die wenigen Schritte über den Platz ginge, um einige Worte mit ihr zu wechseln. Sie sah, wie er den Sattel auswählte, der seinem Pferd aufgelegt werden sollte. Sie tat, als sei er Luft für sie, obwohl ihnen beiden bewusst war, dass sich ihre Blicke während der Messe mehrmals getroffen hatten. Sie betrachtete die schönen Gebäude. Auf dem Platz war es still wie nie zuvor. Die
Hammerschläge und Sägelaute von den Arbeiten an Pius’ Kirche waren verstummt.
Die Kirche war fertig und wartete darauf, vom Papst geweiht zu werden. Die Stadt war nicht mehr wie früher und konnte es niemals mehr sein. Auch die Menschen, die hier lebten, konnten nie wieder die alten sein, dachte Anna. Sie waren gefangen in einer überirdischen Vision, die der Papst erdacht hatte. Handwerker und Architekten waren abgezogen und hatten die Einwohner im schönsten Bauwerk Italiens zurückgelassen. Die Stadt war fertig. Deshalb war nun auch Rossellino zur Abreise bereit. Solange die Bauarbeiten andauerten, hatte sich Corsignano unablässig gegen die Meister aus Florenz gewehrt. Nun, da die Stadt fertig war, konnte Anna gut verstehen, dass er von hier fortwollte. Kam er nicht endlich herüber, um sich zu verabschieden? Liams Hund strich ruhelos um den Palast herum. Ein Schwarm Tauben ließ sich neben ihr nieder, und Anna registrierte das schöne Fischgrätmuster, in dem das Terrakottapflaster gelegt war. Vorher hatten nur Erde und Lehm den Platz bedeckt. All das nahm sie wahr, während sie still verharrte und es zuließ, dass ein Mann, den sie kaum kannte, sie anstarrte. Sie würde ihn vermissen. Sie hob den Kopf und sah, wie er an der scharfen Grenze zwischen Sonne und Schatten stehen blieb. Die Sonne stieg langsam über den Rathausturm. Um Rossellinos Haupt erschien ein goldener Strahlenglanz. Bald würde die Sonne sie vollends blenden, sodass sie sein Gesicht nicht mehr erkennen könnte. Sie tat ein paar Schritte in den Schatten hinein, um dort zusammen mit ihm zu stehen. Im Hintergrund zäumten seine Diener die Pferde auf. Das Stampfen der Hufe klang beinahe munter.
»Am besten verdrückt man sich, wenn die Leute in der Messe sind. Andernfalls weiß ich nicht, ob die Corsignaner bereit wären, mich gehen zu lassen«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich weiß«, erwiderte sie still. Er gebrauchte nicht das Wort Flucht. Dazu war er zu stolz. »Die Leute haben Angst. Sie fürchten, dass der Papst die Steuern erhöht, weil ich den Kostenplan überschritten habe«, sagte er leise. »Dass sie für eine Stadt zahlen müssen, um die sie nicht gebeten haben.« »Habt Ihr schon neue Pläne?«, fragte sie. Sie wollte vermeiden, dass er sie für indiskret oder neugierig hielt. »Zunächst einmal werde ich mich mit einem Geldgeber in Florenz treffen. Ich hoffe, er gewährt mir Kredit. Wie Ihr vielleicht wisst, muss der Architekt den Betrag, der die veranschlagte Summe übersteigt, selbst aufbringen. Deshalb schulde ich dem Papst eine Menge Geld. Ich werde jedenfalls in Florenz bleiben und darauf warten, dass er mich nach Corsignano ruft, wenn er die Stadt einweiht.« Er sprach so offen und vertrauensvoll über das, was doch das Allerschwierigste war. Sie wusste, dass die Corsignaner ihn mit höhnischen Worten bedachten. »Ich glaube, dass sich alles ordnen wird, wenn der Papst sieht, welch eine Stadt Ihr für ihn geschaffen habt«, sagte sie und lächelte. »Da bin ich mir ganz sicher.« Bernardo blickte einen Moment lang zu Boden. Als gäbe es etwas, was ihn plagte, etwas, was er vor ihr verbergen wollte. »Es geht um mehr. Um Dinge, die es nicht wert sind, ausgesprochen zu werden, die aber doch eines Tages ans Licht kommen müssen.« »Ihr könnt offen zu mir sprechen«, sagte sie und versuchte ihm zu verstehen zu geben, dass sie ihn für den ehrenwertesten Menschen weit und breit hielt.
Er wusste offenbar nichts von dem Purpurmantel. Er wusste nicht, dass der Papst sie beauftragt hatte, für ihn einen Mantel aus purpurnem Samt zu fertigen, der seine Schultern schmücken sollte, falls der Papst zufrieden mit der neu erbauten Stadt war. »Ich habe auf den Engel gewartet, von dem der Pfarrer sprach«, sagte er mit einem kleinen Lächeln und sah sie beinahe verlegen an. »Ein Engel? Erwartet Ihr einen Engel?«, sagte Anna mit einem erschrockenen Unterton in der Stimme. »Ich wusste, dass Ihr der Engel des Pfarrers wart, als er mir die Tafel gab. Die Purpurfarbe hat Euch verraten. Ich habe darauf gewartet, dass Ihr kommt.« »Habt Ihr es gewusst, als Ihr mich in der Kirche saht?« »Ja. Ich habe natürlich gewusst, dass ein Engel aus dem Norden dieses Bild gemalt hat.« Er blickte sich um, als fürchtete er, dass jemand sie belauschen könnte. »Hütet Euch vor dem Pfarrer. Er berichtet alles der Inquisition. Die Altartafel erschreckt die geistlichen Herren. Sie fürchten sich vor der Weltanschauung, die aus dem Bild spricht.« »Wissen noch andere, dass es meine Tafel ist?«, fragte Anna. »Die Purpurfarbe auf den Brüsten der Frau verrät Euch. Vorerst wagt niemand etwas zu unternehmen, wegen Herrn Lorenzo. Ihr solltet Waffen führende Männer um Euch sammeln. Ein kleiner Dolch unter dem Mantel ist nicht genug.« Anna spürte ein Frösteln. »Ich mag aber nicht den ganzen Tag Männer um mich haben«, entgegnete sie und lachte. Er lächelte zurück.
»Ein schöner Morgen«, sagte er und sah sie lange an. Eine ganze Weile sagte keiner von ihnen ein Wort. »Hütet Euch vor Männern, die meinen, Ihr wärt ein Engel. Ebenso schnell, wie sie Euch für einen Engel halten, glauben sie, dass Ihr des Teufels seid.« Bei den letzten Worten wandte er sich ab, sodass sein Gesicht im Schatten lag. Er war in einen Mantel aus braunem Samt gekleidet und trug die goldenen Sporen der Ritter an seinen Stiefeln. Sie erinnerte sich an das Gastmahl, das sie ausgerichtet hatte, als Bernardo das erste Mal kam, um die Pläne der neuen Stadt mit Papst Pius zu besprechen. Lorenzo hatte ihn zusammen mit Leon Battista Alberti auf sein Gut eingeladen. Anna hatte Stoccafisso zubereitet. Während des Mahls hatte Bernardo sie nach ihrer Herkunft ausgefragt. Er war noch nie im hohen Norden gewesen und hatte Stockfisch nur gekostet, wenn er in Venedig war. Das Gericht hatte großen Eindruck auf ihn gemacht und ihm sehr gemundet. Freimütig hatte sie erzählt, dass es aus ihrer Heimat Norwegen stammte, wo die Fische an den Küsten auf Klippen und Holzgestellen trockneten und von Wind und Wetter haltbar gemacht wurden. Sie hatte erklärt, dass der Fisch empfindlich gegen zu große Kälte war und dass seine Haut von der Frühlingssonne gebleicht wurde. Sie hatte von den Hungersnöten der Norweger erzählt, wenn regnerische Sommer die Getreideernte verdarben, von den klirrend kalten Wintern, von der Zähigkeit der Menschen und von der Pest in der Hafenstadt Bergen, die wohl mit einem englischen Schiff gekommen war. Es war bei diesem einen Besuch geblieben. Lorenzo hatte gemeint, dass die Gäste das Essen mit übertriebenem Lob bedachten, besonders Bernardo Rossellino, und außerdem allzu interessiert klangen, wenn sie nach der Hansestadt im hohen Norden fragten. Es hatte ihm nicht
gefallen, dass Anna Bernardo das Gehäuse der NucellaSchnecke zeigte, während sie mit ihm über den Unterschied zwischen den Schneckenarten Murex und Nucella diskutierte. Er fand, dass sie zu laut über Bernardos Geschichten aus Florenz lachte, und als der Abend damit endete, dass Bernardo nach dem guten Essen und dem jungen Wein auf einem Stuhl einnickte, missfiel ihm auch das. Anna hatte vorgeschlagen, dass Lorenzo ihm eine Schlafstatt anbieten solle, doch er hatte den Vorschlag brüsk zurückgewiesen und gesagt: »Er kann gut dort sitzen bleiben, wo er sitzt.« Bernardo schlief bis in den hellen Morgen auf dem Stuhl. Beim Frühstück äußerte er sich über die Hühnereier ebenso begeistert wie über das jungfräuliche Öl. Und nirgendwo sonst im Tal hatte er einen besseren Pecorino-Käse gekostet. Unvergleichlich! Seiner Meinung nach brachte der Boden im Val d’Orcia das beste Olivenöl hervor, das seine Zunge jemals geschmeckt hatte. Als er sich bei Lorenzo nach Möglichkeiten erkundigte, einen Hof in der Nähe zu erwerben, hatte Lorenzo endgültig genug. Er wollte Bernardo nicht als Nachbarn haben. Seine übersprudelnde Freude über die Begegnung mit Anna hatte dazu geführt, dass er nie wieder auf Lorenzos Gut eingeladen wurde. »Ihr selbst nanntet mich einmal einen Engel aus dem Norden«, sagte sie leise lachend. »Damals, als ich Euch mit Stoccafisso bewirtete.« Er lachte ebenfalls. »Ich hatte gehofft, Ihr würdet mich noch öfter zu Stoccafisso einladen. Ich zehre noch heute von der Erinnerung an dieses Mahl.« Sie wechselten rasch zwischen Heiterkeit und Ernst. Als wollte er die Stimmung durchbrechen, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, lachte er plötzlich laut heraus. Vor den Augen
der Wasserträger und Pferdeburschen lachte er ein lautes, befreites Lachen. Als wollte er alles Gerede, das aufkommen konnte, zunichte machen. »Ich muss nun zu meinem Bedauern Abschied nehmen«, sagte er leise. »Bald ist die Messe vorüber, und die Leute werden mich aufhängen wollen, wenn sie sehen, dass ich abreise. Ich muss eine Lösung finden.« Nach einer kleinen Pause sagte er abermals: »Hütet Euch vor dem Pfarrer.« Bernardo bestieg sein Pferd, ließ sich die Zügel reichen und blickte stumm auf Anna herab, während er den Samthut mit einer ehrerbietigen Geste an sein Herz drückte. Dann sagte er: »Eure Tafel kündigt die Gemälde der Zukunft an. Ich wünschte, ich selbst hätte sie gemalt. Vertraut auf den Papst. Ich tue es.« Im nächsten Moment war er fort, noch bevor sie ihm die Frage stellen konnte, wegen der sie gekommen war: Ob er einen griechischen Hirtenjungen gesehen habe, der einen Speer statt eines Hirtenstabes trug. Die Sklaven hatten erzählt, dass er einen von Lorenzos Speeren an sich genommen und den Hirtenstab zurückgelassen hatte. Liam war neben sie getreten. Sie merkte es kaum. Er hatte während des ganzen Zusammentreffens geschwiegen, sich mit keinem Wort eingemischt. Sie konnte noch den Hufschlag von Bernardos Pferd hören, das über das Steinpflaster zum nördlichen Stadttor schritt. Wenn er das Tor durchquert hatte, würde das Pferd in Galopp fallen. Sie wartete gespannt. Da! Da war es! Im Galopp nach Florenz. Er war frei. Sie wünschte, sie könnte die Pferdehufe bald wieder näher kommen hören.
Ihr fiel auf, dass Liam sie ansah. Sein Blick war unergründlich. Es war an der Zeit, das zu tun, weshalb sie gekommen war. Zu Hause wartete Lucrezia auf Andropolus. »Habt ihr Andropolus gesehen?«, fragte sie die Wasserträger am Hundebrunnen. Sie wechselten Blicke untereinander und antworteten zunächst nicht. Sie legte eine Münze auf den Rand des Brunnens. »Er ist die Mauer hinaufgeklettert und hat gesungen«, antwortete einer. »Er hielt einen Speer in der Hand. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen«, sagte ein Junge, der auf einem Bein hinkte. »Der Pfarrer sagt, dass er im Palast bleiben muss, bis der Papst kommt.« »Hält man ihn dort gefangen?«, fragte sie zögernd. »Die Mauern des Palastes sind dick. Kein Laut dringt heraus. Wir wissen nicht, ob er für sie singt oder ihnen… zu Diensten sein muss.« Sie lachten und tauschten viel sagende Blicke. »Warum hat mir niemand etwas davon berichtet?« »Man sagt, dass er nicht mehr zu Herrn Lorenzos Haus und Hof gehört. Und er ist ja auch keiner von uns«, erwiderte der Größte von ihnen. »Vielleicht ist das seine Schwierigkeit. Jetzt gehört er zu niemandem.« Mehr war nicht aus ihnen herauszubekommen. Sie ließen wieder das Brunnenseil hinab und zogen Krüge mit frischem Quellwasser herauf. Frauenstimmen und Schritte näherten sich. Die Messe war vorüber. Eine Gruppe älterer Frauen kam aus der Kirche. Sie überquerten den Platz und kamen zum Hundebrunnen. Sie stellten Wasserkrüge am Brunnen ab und grüßten ehrerbietig.
Annas Blick folgte ihnen, als sie sich auf die Bank vor dem Piccolomini-Palast niederließen. Dort holten sie weißes Leinenzeug, Nadel und Faden heraus und begannen zu sticken. Ab und an steckten sie die Köpfe zusammen und lachten laut über etwas, was eine von ihnen gesagt hatte.
M
utter ist Gott, dachte Lucrezia. Nein, Mutter war nicht Gott. Es schien ihr nur so, weil sie fühlte, dass sie ihr näher als Gott war. Sie behütete sie, als wäre sie Gott. Jede Nacht saß die Mutter am Bett und wachte darüber, dass das Fieber sie nicht wieder überfiel. Doch jetzt war sie nicht da. Plötzlich hatte der Pfarrer in Lucrezias Schlafgemach gestanden und verlangt, mit ihr allein zu sein, um ihr das Abendmahl und die Letzte Ölung zu geben. Er hatte die Mutter gezwungen, den Raum zu verlassen und gesagt, sie verhindere, dass sich ihre Tochter durch die neun Himmel Gott annäherte, falls sie Lucrezia nicht ihm überließe. Er wollte ihr die Beichte abnehmen, und dazu mussten sie allein sein. Zuerst hatte die Mutter protestiert, aber sich schließlich doch gefügt. Sie weinte und nahm Lucrezias Hand und versicherte ihr, dass sie vor ihrer Tür stünde und aufpasste, dass alles mit rechten Dingen zuging. »Um ganz sicher zu sein, dass du Gott auch wirklich erreichst«, sagte sie und ließ sich vom Pfarrer hinausdrängen. In der Tür wandte sie sich um und versicherte wieder und wieder, dass ihr nichts Böses geschehen könne. Anna ahnte nicht, dass das Böse bereits geschehen war. Dass es Lucrezia immer noch widerfuhr, wenn sie nicht da war. Das Böse war zum ersten Mal geschehen, als die Mutter sie vergessen hatte. An dem Tag, als Andropolus nicht zur Quelle kam, wie er es versprochen hatte, an dem Tag, als die Mutter in Corsignano gewesen war. Das war der Unterschied zwischen Mutter und Gott. Gott war immer da. Er ging nicht fort. Er war immer in der Nähe, selbst wenn er weit entfernt war. Gott konnte sie durch Mauern aus Stein hindurch sehen. Denn Gott war immer bei ihr gewesen, ungeachtet der Entfernung. Doch jetzt hatte auch er sie verlassen. Sie war nicht länger in seiner Obhut. Er hatte sie
dem Pfarrer überlassen. Ihre Leibwächter waren nicht hier. Nur die Katze. Es half nicht, nach der heiligen Caterina von Siena zu rufen. Sie konnte die Hände des Pfarrers nicht verjagen, die über ihre Schenkel strichen. Sie bekam eine Gänsehaut und zitterte im Fieber. Die Katze saß in einer Ecke des dunklen Raumes und miaute klagend. Im Schein der Öllampe sah es aus, als stünden Tränen in den Augen des Tieres. Kam sie nicht bald, um ihr die Achselhöhlen zu lecken? Sie wollte lieber von der Katze verschlungen werden als von den gierigen Händen des Pfarrers. »Vergib mir meine Schuld«, bat der Pfarrer. Sie fühlte, wie sie in das Dunkel hinein- und wieder hinausglitt, als er seine Hand unter die Bettdecke schob und ihre Schenkel streichelte. Während er das tat, starrte er ihr ins Gesicht. Seine Augen waren nicht wie die ihrer Mutter oder die der Katze. Sie waren nicht voller Tränen, wenn er sie ansah. Als ob er sie nicht kannte, als wären sie sich nie zuvor begegnet. Er gab sich nicht einmal die Mühe, nachzusehen, ob der Pakt, den sie geschlossen hatten, gelungen war, ob die Speerspitze unter ihrer Haut zerfallen war oder ihr Rücken sich gestreckt hatte. Endlich zog er seine Hand zurück, bekreuzigte sich und faltete die Hände, um das Vaterunser zu beten. »Seid Ihr sicher, dass es nicht die Pest ist?«, hatte er die Mutter gefragt, bevor er sie aus dem Zimmer schickte. Lucrezia wand sich unter der Decke. Sie konnte nicht ruhig liegen, weil ihr Körper so schmerzte. Als die Mutter sie dem Pfarrer überließ, war es, als würde sie verlassen, um einsam zu sterben. Lucrezia konnte durch die Wand die Mutter leise mit der Amme sprechen hören. Warum hatte sie zugelassen, dass der Pfarrer seinen Willen bekam? Begriff die Mutter nicht, wie ernst es war? Sie war nicht Gott.
Sie verstand nicht alles. Sie konnte ihre Gedanken nicht lesen, so wie Gott es konnte. Der Pfarrer wollte ihre Gedanken gar nicht erst hören. Nichts von Sünden oder Reue. Er wollte überhaupt nichts hören. Er wollte sich nur vergewissern, dass sie nicht die Beulenpest hatte. Er riss ihr die Bettdecke herunter, um den Körper in Augenschein zu nehmen, suchte nach nässenden Beulen in der Leiste und in den Armhöhlen. Als er keine Anzeichen der Krankheit fand, ging er zur Tür. Er schob den Riegel vor, kam zurück zum Bett und legte sich auf sie. Lucrezia versuchte, ihn wegzuschieben. Sie bat Gott um Hilfe. Sein Blick bohrte sich in ihre Augen. Sie musste fliehen. Doch sie konnte nur in Gedanken fliehen. Über die Felder, vorbei am hohlen Baum, vorbei an der Quelle mit dem kletternden Efeu und weiter die Anhöhen von Corsignano hinauf zu Andropolus, der am Hundebrunnen saß. Neben ihm wollte sie sitzen und die Sterne am Himmel zählen, während er ihr den Fieberschweiß mit Wasser aus dem Brunnen der bellenden Hunde abwusch. Die Katze machte einen Satz und landete zwischen ihr und dem Pfarrer, genau in dem Moment, als nur noch das Weiße in seinen Augen zu sehen war. Sie war allein, zurückgelassen in ihrer eigenen Finsternis. Einer Finsternis, in der die Gesichter des Pfarrers und der Katze ineinander glitten. Sie ging auf einem Pfad aus Schleim, wollte nur noch sterben. »Schwöre bei den vier Evangelien«, befahl der Priester, als er sich von ihr herunterwälzte. »Schwöre, dass du deiner Mutter nichts sagst.« Er erwartete gar keine Antwort, sondern stieg aus dem Bett und wandte ihr den Rücken zu. Sie sah ihn wie durch Dunstschleier an einem frühen Morgen vor Sonnenaufgang. Sie war vergessen und verlassen. Zum zweiten Mal.
Er war ein Schneckensammler, er hatte sie benutzt und zurück auf die Klippe gesetzt. Er war ein Mal kommen, zwei Mal, und beim dritten Mal würde sie sterben. Er würde es machen wie die Schneckensammler, würde sie auf den Rücken legen und den Körper auspressen, bis das Blut aus allen Hohlräumen quoll. So war das mit den Schnecken. Sie waren Weichtiere, die es nicht ertrugen, ihr Gehäuse zu verlieren. Das hatte die Mutter ihr erzählt. Sie wandte den Kopf ab, damit sie den Pfarrer nicht länger sehen musste. Sollte er das heilige Abendmahl doch dem Esel geben. Sie nahm nichts mehr von ihm an. Keinen Schleim, kein Blut, keinen toten Leib Jesu. Bald war sie selbst ein Kadaver. Sie ekelte sich vor dem Gestank seiner Nähe und wartete nur darauf, dass Andropolus ins Zimmer kommen und ihn mit seinem Hirtenstab erschlagen sollte. Niemand außer Andropolus konnte sie retten. Nur er konnte zu einer Sprache tief in ihr finden. Auf den Vater konnte sie ohnehin nicht zählen. Später stand die Mutter wieder an ihrem Bett. Der Pfarrer hatte sie hereingeholt in den Gestank aus Schande und Verrat. Doch Anna merkte nichts davon, sie sah nur einen unberührten Engel. »Sie widersetzt sich«, sagte der Pfarrer mit einem angedeuteten Lächeln. Er verbeugte sich vor Anna und wollte nach ihrer Hand greifen, während er sich bekreuzigte. »Es steht in den Sternen geschrieben«, flüsterte er. Sie sah Zorn in den Augen der Mutter aufblitzen. »Was meint Ihr mit solch einer ketzerischen Aussage?« Anna zog rasch die Hand zurück.
Lucrezia starrte ängstlich an der Mutter vorbei durch das offene Fenster. Draußen sah sie den »Garten Gethsemane«. So nannte sie ihn, seit die Mutter ihr erzählt hatte, dass diese Olivenbäume schon zu Lebzeiten Jesu gepflanzt worden waren. Ihr schien, als könne sie tanzende Nymphen im Mondlicht sehen. Oder war es Jesus, den sie sah? Es war Jesus. Er wandelte unter den Bäumen. Er suchte den Ort auf, wo er von Judas verraten worden war. Die Olivenbäume standen hinter den Zierbüschen, dem Springbrunnen und dem rosenbewachsenen Lusthaus. In all dem Schönen, das sie umgab, nahm sie den Geruch des Verrats wahr. »Ich möchte dem Heiligen Vater beichten. Nur er darf mir seinen Segen geben. Er allein«, flüsterte sie der Mutter zu. Sie fühlte, dass ihre Zunge beinahe blutleer war. Sie bewegte sich schwerfällig. Wie die Zunge eines toten Fisches. Blau und starr. »Nur er hat das Recht, mich zu berühren.« Sie sah, dass der Pfarrer Angst bekam. Wenn Papst Pius erfuhr, was der Pfarrer getan hatte, würde er außer sich sein vor Zorn. »Papst Pius ist noch nicht in Corsignano«, sagte die Mutter. »Dann bring mich zu ihm. Trag mich nach Abbadia. Vater ist doch auch dort. Warum darf nur Vater über den Papst wachen? Hätte Vater mich nicht mitnehmen können, sodass ich auch über ihn wachen könnte?« »In Abbadia ist die Pest ausgebrochen«, wisperte die Mutter ihr ins Ohr. »Papst Pius ist geflohen. Er ist krank und auf dem Weg nach Corsignano.« »Warum ist er nicht früher gekommen? Er hat schon so lange versprochen, dass er mich segnen wird.« Es war zu spät. Alles war vorbei, dachte Lucrezia. Papst Pius hatte es ja selbst gesagt. Er wollte sie nicht. »Vergiss Aeneas,
es gibt nur noch Papst Pius«, hatte er zum Vater gesagt. Lucrezia gab es nicht mehr. Sie war nur Tinte auf vergilbtem Pergament in einem rattenzerfressenen Buch. Sie hatte es selbst gesehen. Zerfallen. Tot. »O heilige Caterina von Siena. Bring mich fort von hier«, flüsterte sie. Aber niemand hörte ihre Worte. Zur Mutter sagte sie nichts mehr, zur Mutter, die in alle Ewigkeit hätte über sie wachen sollen. Nichts darüber, wie schwer sie trug an Verrat und Scham. Vom Pfarrer würde sie nichts mehr entgegennehmen. Er hatte ihr Gottes Wunder versprochen. Stattdessen hatte Siechtum sie befallen. Und jetzt hatte er den letzten Rest von Leben aus ihr herausgequält. Plötzlich rief sie der Mutter zu, sie müsse einen Bogen spannen und einen Pfeil aussenden. »Spricht sie im Wahn?«, flüsterte der Pfarrer Anna zu, als wäre Lucrezia nicht im Zimmer. Ja, gerade so, als wäre sie bereits tot. »Ruft sie nach Satan?«, fuhr er fort. Lucrezia wurde starr vor Angst. Er hatte den Namen des Höllenfürsten genannt. Sie sah, wie ihre Mutter erbleichte. »Nimm ihn weg, nimm den Namen des Bösen weg«, schrie es in Lucrezias Kopf, während sie ins Dunkel abglitt und nahezu kein Licht mehr sah. »Erwähnt den Namen des Bösen nicht in Gegenwart von Lucrezia. Ich werde dem Papst berichten, wie Ihr Euch heute Abend hier aufgeführt habt.« »Wie kann es angehen, dass sie blutet, wenn sie Wasser lässt?«, fragte der Pfarrer mit einem maliziösen Lächeln. Dieses böse Lächeln ließ Lucrezia aufschreien. »Die Vögel lachen mich aus, weil ich meine Federn verloren habe«, rief sie. Schluchzend und weinend stieß sie die Worte hervor. Die Katze war vor Schreck in eine Ecke geflohen. Sie schlug mit dem Schwanz, wie immer, wenn sie sich unbehaglich
fühlte. Lucrezia kannte sie. Die ganze Zeit lauschte das Tier auf das, was sie sagte. Bald würde es auf das Bett springen und die Zähne in ihren Nacken schlagen, so wie es bei Vögeln tat, die nicht rasch genug aufflogen. Lucrezia war ein Vogel, und die Katze wusste das. Aber die Mutter war blind für diese Verwandlungen. Lucrezia riss sich die Bettdecke herunter und blieb nackt liegen. Sie wollte ihnen zeigen, dass sie ein Vogel war. Ein Vogel ohne Federn, besprenkelt mit Tropfen von Urin, vermischt mit Blut, das aus den Poren sickerte. »Gott sieht durch Mauern«, schrie sie Anna aus ganzer Kraft zu. »Du tust das nicht!« Es war eine Anklage. Die erste. Ihre Zähne schlugen leer aufeinander wie bei einem Tier, und sie biss sich auf die schwere Zunge, die wie ein Sandklumpen in ihrer ausgedörrten Mundhöhle lag. Doch der Schrei drang nicht nach außen. Oder vielleicht war er nur Einbildung gewesen. Mit aller Kraft hob sie die Hand und deutete auf die Olivenbäume. Die Mutter drehte sich um und starrte aus dem Fenster, während die Katze auf das Bett sprang. Lucrezia schob das Tier zur Seite. Sie würde die Augen noch nicht schließen. »Sie muss die Letzte Ölung erhalten«, rief der Pfarrer. »Es zeigen sich ja schon blaue Flecken an ihren Beinen.« Aber die Mutter setzte sich an Gottes Stelle und sah durch alles hindurch. Jetzt waren sie eins, die Mutter, sie und Gott. Anna trug sie durch den römischen Garten, wo die Bäume wie Pyramiden, Quadrate und Rechtecke geformt waren. Die Mutter legte sie zusammen mit der Katze auf eine Decke aus Gänsefedern. Die Sommernacht war kühl, doch von den Bergen kamen milde Winde. Im Mondlicht konnte sie die heilige Caterina auf Rocca di Tentenanno sehen und die Berggipfel über der Orcia. Der Wind raschelte in den
Olivenblättern. Die Knechte und Mägde des Hofes umringten sie. Alle wussten, dass sie bald sterben würde. Nur Andropolus war nicht da. Hatte er sich vielleicht aufgemacht, den Papst zu holen? Andropolus, der den Hirtenstab zurückgelassen und sich mit einem Speer geschmückt hatte, um in die Freiheit zu reiten? Das sagten jene, die ihn gesehen hatten. Dass er zu Pferde gesessen habe wie ein Krieger. Vielleicht war er heute Nacht wieder vorbeigeritten. Sie hätte ihm nicht folgen können, selbst wenn sie ihn gesehen hätte. Ihre Zeit war vorüber. Aber das sagte sie der Mutter nicht, denn dann hätte sie begriffen, dass Lucrezia bald sterben musste. Und das hätte ihr Kummer bereitet. »Der Pfarrer hat versucht, mich zu zwingen, dich zu verraten«, flüsterte sie der Mutter zu. Anna legte ihr Ohr dicht an Lucrezias Mund. »Aber ich habe nichts von der Schneckenfarbe gesagt.« Die Mutter wandte sich um und blickte den Pfarrer an. Sie winkte Liam zu sich heran und wisperte ihm etwas ins Ohr. Liam verwies den Pfarrer des Hofes. Durch einen nebligen Schleier sah Lucrezia, dass er sich entlang der Rosmarinhecke davonmachte. Sie sah seine Gestalt im Schein der Öllampe, die er in der Hand hielt. Das Geräusch der leichten Eselstritte auf dem trockenen Lehmboden wurde schwächer und war rasch verklungen. Der Pfarrer war auf dem Weg nach Corsignano. Sie wusste, was er allen erzählen würde. Etwas über die Letzte Ölung. Dass ihre Mutter ihn daran gehindert habe, sie ihr zu geben. Und dass er, der Pfarrer, der einzige Unbefleckte sei. Lucrezia fühlte sich, als sei sie seine Beute und müsse aus diesem Grund sterben.
Das Lächeln der Mutter sank tief in ihre Brust. Sie hatte dem nichts entgegenzusetzen. Deshalb trafen die folgenden Worte sie wie ein Senkblei. »Du wusstest zum Glück nicht alles«, sagte Anna, während sie ihr sachte die Wange streichelte. »Worüber?« »Über das, was die Farbe des Stoffes bis in Ewigkeit überdauern lässt«, antwortete die Mutter. Ihre Hand streichelte immer noch über Lucrezias Wange. »Ist es das, was sie haben wollen? Eine Farbe, die ewig lebt?« Sie fühlte sich klein und unbedeutend. Hatte die Mutter das Mysterium des Ewigen vor ihr verborgen gehalten? Lucrezia war sich wichtig vorgekommen, weil sie glaubte, sie trüge ein großes Geheimnis. Ein Geheimnis, das ihr und der Mutter gehörte und um jeden Preis bewahrt werden musste. Ein grausamer Zweifel befiel sie wie ein brennender Schmerz. Sie wandte den Kopf zur Seite, und es fühlte sich an, als hinge er nur an einem Faden im Nacken. Das ewige Leben der roten Farbe hatte zwischen ihnen gestanden. Mit tränenerstickter Stimme fragte sie: »Warum hast du mich nicht eingeweiht in das Leben der Schnecken nach dem Tod?« Sie hörte, wie ihre Stimme brach. Dass sie etwas Falsches und dennoch Wahres sagte. Die Stimme hatte ihre Eigenart verloren, gehörte nicht mehr zu ihr. Aber was machte das schon. Sie war ja ohnehin eine Fremde für die Mutter. Das Band zwischen ihnen war der Glaube an etwas gewesen, das es wert war, sein Leben hinzugeben. Annas Hand ruhte auf Lucrezias Stirn. Sie duftete nach Lavendel. Die Mutter war ein Garten, eine Wiese voller Blumen, von der Lucrezia geglaubt hatte, sie niemals verlassen zu müssen. Sie spürte, dass sie selbst bald nicht mehr am Leben sein würde, aber doch noch klar denken konnte. Der
Pfarrer hatte, statt des Geheimnisses über das ewige Leben der Farbe, ihr Leben gestohlen. Lieber hätte sie die Schnecken hingegeben. Man hatte sie für die Farbe der Schnecke geopfert. Lucrezia versuchte, den gekrümmten Rücken zu strecken, ihn dort gerade zu richten, wo des Vaters Speerspitze sich einst hineingebohrt hatte. Getragen vom Lächeln der heiligen Caterina flog sie direkt in einen Sonnensturm hinein. Pfarrer hatte den Arm der Baronessa über dem Körper des sterbenden Mädchens berührt. Das war alles, woran er sich erinnerte, und alles, woran er sich erinnern wollte. Der Rest war Materie, die man getrost zu Grabe tragen konnte. Der Mond hatte Annas Gesicht beleuchtet und ihre zarten Schultern. Er hatte ihre Tränen gesehen, und die hatten ihn an die Versuchung eines anderen erinnert. An den Dominikanermönch, der in die Geschichte eingegangen war, weil er die heilige Caterina begehrt hatte. Er hatte ihr Leben gefordert und sich sein eigenes genommen, als es ihm nicht gelang, die zu töten, die er niemals besitzen konnte. So würde es ihm nicht ergehen. Er würde sein Verlangen zügeln und die Frau, die er begehrte, verlassen, um gestärkt zurückzukehren. Wenn er das nächste Mal durch ihre Pforte kam, würde er es zu Pferde tun und nicht auf einem Esel. Eine Verzauberung hatte ihn ergriffen, eine Verzauberung, wie er sie gespürt hatte, als er das Kleid aus dem Olivenbaum pflückte. Gott hatte all seine Gebete erhört. Er lachte laut über seine freimütigen Gedanken. Er hatte die Kraft, zu töten. Er hatte die Kraft, zu lieben. Er war ein Ritter in der schimmernden Rüstung der Inquisition, und er wollte mit Worten kämpfen, bis es angebracht war, mit der Folter des Eisenkorsetts zu drohen.
Bald gehörte die Frau, die ihn mit den Brüsten Sankt Agathas entflammt hatte, allein ihm. Die Kleine war gestorben, so wie er es insgeheim gehofft hatte. Sie durfte nicht leben. Sie war zu gefährlich für ihn. Solange das Mädchen gelebt hatte, war seine Stellung als Bischof in Gefahr gewesen. Es war traurig für die Färberin, doch er wollte, dass sie in Zukunft um ihn weinen sollte. Niemand sonst sollte sich zwischen sie stellen. Das Mädchen war ohnehin nicht lebenstüchtig gewesen, ob sie also jetzt starb oder erst später, war einerlei. Ab und an zügelte er die schnellen Schritte des Esels auf seinem Ritt nach Corsignano. Er wandte sich um und sah zurück. Ihm war, als wären die Augen des Mädchens auf seinen Nacken geheftet. Als verfolgten ihre Blicke ihn. Bald würden die Gedanken an ihren Tod verschwunden sein. Offensichtlich hatte sie ihrer Mutter nichts von dem Pakt erzählt. Sonst hätte Anna ihn niemals eingelassen in den Raum, in dem ihre Tochter lag und den Tod erwartete. Er formte die Worte. Sagte sie laut in die schwarze Nacht hinaus, damit sie Wirklichkeit werden sollten: »Der heimliche Sachwalter der Inquisition in Corsignano, das bin ich.« Mochte auch der Mönch, der die heilige Caterina begehrt hatte, sein Ziel bei der Tochter des Wollfärbers aus Siena nicht erreicht haben, so würde er vielleicht das seine bei der Färberin Anna erlangen. Seine Gedanken wurden von der Dunkelheit verschlungen, einer Dunkelheit so schwarz, dass sie nicht verraten würde, was er für einen anderen Menschen fühlte. So vieles hier im Tal war von dieser Schwärze verschluckt worden. Die Wahrheitswaffe der Inquisition war auf dem Weg von Siena hierher. Ihm war, als könnte er das Klirren von Eisen hören, das auf der Via Cassia zwischen Siena und Corsignano transportiert wurde. Es verlieh ihm größere Macht. Bald würde
er die Leute in einen ordentlichen Kerker werfen können, in dem Folterwerkzeuge bereitstanden. Corsignano würde eine Stadt sein, die während des Festes zu Ehren des heiligen Johannes alle aufnehmen konnte. Verbrecher wie Engel. Und er selbst: der einzig Unbefleckte. Wenn der Papst mit seinem Gefolge und seiner Leibwache nach Rom zurückkehrte, war der Pfarrer derjenige, der in Corsignano über Leben und Tod entschied. Als er sich dem Stadttor näherte, vernahm er die lauten Gebete der weiß gekleideten Frauen um Verschonung von der Pest. Sie schritten in einer Prozession, um für die Toskaner die Vergebung ihrer Sünden zu erbitten. Fackeln waren entlang der Gasse entzündet, die zur Kirche und zum Palast hinaufführte. Leute standen zuhauf entlang der Hauswände und starrten furchtsam auf die weißen Frauen, die mit brennenden Kerzen und großen Kruzifixen durch die Straßen zogen. Ihre weißen Gewänder verhüllten sie von Kopf bis Fuß, mit Ausnahme eines schmalen Streifens für die Augen. Er fühlte sein Herz klopfen, als er hörte, wie sie um Vergebung für die schwerste Sünde des Menschen baten: Sodomie. Aufgrund dieser Sünde schickte Gott die Pest über die Toskaner. Die Weiber gingen barfuß wie Pilger, und ihre Gewänder trugen ein rotes Kreuz auf der Brust. In regelmäßigen Abständen priesen die Leute in der Prozession den Papst. War er mit seinem Gefolge während der Abwesenheit des Pfarrers bereits in die Stadt eingezogen? Er ritt weiter, ohne anzuhalten. Er war unterwegs zu seinem neuen Hauptquartier, den Katakomben des Palastes.
»Ein Spion des Sultans«, flüsterte der Pfarrer. Andropolus lag gefesselt auf einer Pritsche in der Zelle und starrte empor in das Gesicht des Mannes über ihm. In ihm war
es ganz still, als sollte sich eine prophezeite Strafe vollziehen. Sein Gesang hatte nicht geholfen. Der Pfarrer war hier. Jetzt begriff Andropolus, dass es zwischen seinem Gesicht und dem der Inquisition keinen Unterschied gab. »Ein Spion, der sich als Sänger ausgibt. Sag es nur. Dein Plan war es, dem Papst so nahe zu kommen, dass du ihn hättest töten können. Es ist eindeutig – du wolltest den Heiligen Vater mit dem Speer töten, während du die Kardinäle mit deinem Gesang betörtest.« Der Tonfall des Pfarrers war anders als noch vor wenigen Tagen, als er ihn für ein Mädchen gehalten hatte. »Er kam über die Gartenmauer geklettert«, sagte der Kardinal. »Er stand dort wie eine Offenbarung, und er hatte die Stimme eines Engels. Wir bemerkten den Speer nicht einmal. Wir wollten ihn dem Kastratenchor des Papstes zum Geschenk machen. Deshalb gingen wir gleich ans Werk und gaben ihm Wein, um ihn zu betäuben. Nach einer Weile flüsterte er dann plötzlich den Namen des Sultans.« »Er muss gestehen! Noch vor der Feier für Johannes den Täufer. Seltsam, wie sich doch eins ins andere fügt«, sagte der Pfarrer. Es schien Andropolus, dass des Pfarrers Gesicht aufleuchtete. »Ach ja? Was meint Ihr?«, fragte der Kardinal neugierig. »Er kam zu mir, noch bevor die Sonne aufgegangen war«, erklärte der Pfarrer. »Er kam, weil er einen Engel gesehen haben wollte, der in meinen Olivenbaum fiel. Er steckte in Frauenkleidern und wollte das Bett mit mir teilen.« »Sodomitische Gelüste!«, flüsterte der Kardinal. »Man sagt, dass dies unter Mehmets Männern üblich ist. Die Pest soll sie holen!« »Das ist nicht wahr! Der Pfarrer lügt!«, keuchte Andropolus. »Hat Mehmet dich gesandt, um den Papst zu töten? Antworte rasch, sonst wirst du nach Siena in die Folterkammern
gebracht«, sagte der Pfarrer und näherte sich drohend Andropolus’ Gesicht. Andropolus kannte diesen Blick. Vor langer Zeit hatte er in die Augen von Mehmets Eunuchen geblickt. Die Eunuchen hatten über ihm gestanden und ihn festgehalten. Einer von ihnen hatte ein scharfes Messer in der Hand gehalten, um die Vorhaut von seinem Glied zu schneiden. Mit einem Schnitt raubten sie ihm das Kennzeichen der Christen und machten ihn zu einem der ihren. Er erinnerte sich, dass er sich erbrochen hatte, so wie jetzt auch. Die Männer des Papstes waren bereit gewesen, ihn zu entmannen, um seine klare Stimme für den Kastratenchor zu bewahren, der dem Papst überallhin folgte. Der Chor war berühmt für seinen Gesang. Doch als die Eunuchen der Kardinäle sahen, dass er beschnitten war, erlahmte ihr Interesse an seinem Gesang. Sie legten das Messer zur Seite und fragten die Kardinäle, ob sie wirklich einen Muslim im Chor des Heiligen Vaters haben wollten. So geriet seine Stimme in Vergessenheit, und alle Aufmerksamkeit drehte sich fortan um den Speer, den er gehalten hatte, als er sang. »Warum brauchtest du den Speer, um für uns zu singen?«, fragte der Kardinal. »Ich glaubte, es sei mein Hirtenstab. Ich war umnebelt von dem Wein, den der Pfarrer mir gegeben hatte, und ich merkte nicht, dass ich stattdessen einen Speer in der Hand hielt. Ich versichere Euch, dass ich niemals einen Speer oder ein Schwert getragen habe, seit ich im Val d’Orcia lebe. Ich bin ein einfacher Sklave und hüte die Schafe von Herrn Lorenzo.« Niemand wollte ihm zuhören. Andropolus hätte sich gerne in einen Traum geflüchtet, aber es gelang ihm nicht.
Tage und Nächte waren verstrichen. Er wusste nicht, wie lange er schon in diesem Kellerloch gelegen hatte. Auf dem Platz draußen hatte es Aufzüge gegeben, als der Papst in die Stadt kam. Alle hatten ihm zugejubelt. Andropolus hatte nur den Saum seines roten Gewandes sehen können, als er aus der vergoldeten Sänfte stieg. Durch das Kellerfenster sah er bloß Füße. Seitdem hatte der Papst sich niemandem mehr gezeigt. Er sei krank, sagten die Kardinäle. Andropolus streckte einen Arm aus, so wie er es tat, wenn er Lucrezia umarmte. Doch sie füllte seinen Arm nicht aus. Sie war nicht da. Er befand sich nicht in dem hohlen Baum, dessen gezackte Blätter geformt waren wie die Hände seiner Mutter. Er konnte sich nicht mit dem Duft von Lucrezias Haar trösten. Er lag festgekettet auf einer Pritsche in den Katakomben des Papstes. Und er sollte für den Versuch eines Mordanschlags bestraft werden. »Ich bin Herrn Lorenzos Sklave und hüte seine Schafe. Ein glücklicher Sklave bin ich, denn ich schlafe nicht unter dem offenen Himmel, sondern in einem hohlen Baum.« Seine Worte kamen flüsternd und demütig. Vielleicht würde es sie dazu bewegen, Herrn Lorenzo zu holen? Er blinzelte in die flackernde Kerze, die der Pfarrer ihm vor das Gesicht hielt. »Warum hast du den Namen des Sultans geflüstert?«, fragte der Geistliche, und die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. Was war nur los mit diesem Pfarrer?, dachte Andropolus. Er war es doch gewesen, der ihn in ein Kleid gesteckt und seinen Körper befingert hatte. Und jetzt verkehrte er die Geschichte ins Gegenteil. »Wein«, murmelte Andropolus.
»Wein?« Der Pfarrer schnaubte. »Willst du damit sagen, dass Wein dich dazu brachte, den Namen des größten Feindes aller Gläubigen zu flüstern?« Ja, so war es. Der Rausch hatte Mehmets Namen über seine Lippen getrieben. Er war benommen, halb wie im Schlaf, so wie er einst vor langer Zeit zwischen Tulpen und Tausenden von Schildkröten eingeschlafen war. Er hatte an Mehmets Frühlingsfest für die bekehrten Christen teilgenommen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er war auf der Suche nach dem Jagdschloss seines Vaters gewesen. Dabei hatte er entdeckt, dass Mehmet sich die Ländereien seines Vaters angeeignet und in ein endloses Meer aus Tulpen verwandelt hatte. Jetzt hatte er wieder davon geträumt: Schildkröten mit brennenden Kerzen auf ihren Panzern. Zu Tausenden waren sie aus der Dunkelheit auf ihn zugekrochen, um Mehmets frisch erblühte Tulpen zu beleuchten, damit die Leute sehen konnten, dass Mehmets Garten dem Paradies gleichkam. Es war ein Fest für jene, die sich hatten bekehren lassen. Er war der einzige Christ unter ihnen gewesen. In der Dunkelheit, verborgen zwischen den Tulpen, fiel das Licht der Kerzen auf sein Gesicht. Die Soldaten spürten ihn auf. Ein christlicher Eindringling! Manche dachten, er sei gekommen, um zusammen mit den anderen beschnitten zu werden. Andere meinten, er sei ein Spion der Christen. Er hatte keine Spuren von früher mehr gefunden, von dem Leben zusammen mit den Eltern. Nur noch einen Ameisenhügel und einen alten Bienenstock in einem Baum. Eine Schar Gänse flog über den Garten hinweg Richtung Süden, an derselben Stelle und in derselben Formation wie damals, als er ein kleiner Junge gewesen war. Am nächsten Tag bei Sonnenaufgang legten Mehmets Eunuchen ihn an Händen und Füßen gefesselt auf den Boden.
Mit ihm zusammen lagen dort Hunderte gleichaltriger Knaben mit entblößtem Unterleib. Eine vorhersehbare Strafe hatte ihn ereilt. Die Wut, die ihn erfüllte, als das Messer die Vorhaut seines Gliedes durchtrennte, hatte ihm nicht die Freiheit gebracht. Wut befreite niemanden.
Rufe und Gebete erschallten vor dem Palast. Er drehte den Kopf und sah die bloßen Füße der Frauen in Weiß vor dem Kellerfenster. Ihre großen Gebetsprozessionen waren legendär. Jetzt hatten sie sich auf dem Vorplatz des Papstpalastes mit Kerzen in den Händen zum Gebet versammelt. Sie beteten um Vergebung für das sündige toskanische Volk. Sie beteten zu Gott um Verschonung von der Pest. Die Wasserträger hatten ihm erzählt, dass die Männer in dieser Gegend für Sodomie berüchtigt waren. Eine Todsünde, die Gottes Strafe auf sie herabschickte und von der er nicht wusste, worin sie eigentlich bestand. Es war dieses Wort gewesen, das der Pfarrer benutzt hatte, als er den Kardinälen erzählte, dass Andropolus im Frauengewand zu ihm gekommen sei, mit nachgezogenen Augenbrauen. Sodomie wurde es genannt. Die schlimmste Sünde. Der Papst war noch immer krank, so viel hatte Andropolus heraushören können. Die Leute hatten Angst, dass er die Pest von Viterbo und Abbadia mitbrachte. Sie beteten für den Papst, nicht für einen armseligen Hirtenjungen. Wenn er sich streckte, konnte er den unteren Teil des Hundebrunnens sehen. Die Fesseln schnitten in seine Knöchel. Seine Freunde, die Wasserträger, standen im Kreis um den Brunnen herum. Er erkannte sie an ihren zerrissenen Sandalen. Sie standen dort und begafften die weiß gekleideten Frauen.
Er hatte sich immer zusammen mit ihnen dort aufgehalten und getuschelt. Worte, deren Bedeutung er nicht kannte und die von Mund zu Mund liefen, wenn die Inquisition auf der Suche nach einem Opfer für ihren Scheiterhaufen war. Er hatte nie gewagt, danach zu fragen, welche Magie und Kraft in diesem Wort lag, aus Angst, dass die Wasserträger ihn auslachen könnten. Sodom und Gomorrha. Hatten sie nicht zum Fall Roms geführt?, dachte er. Worte konnten Kaiserreiche auslöschen und Rom in Brand setzen. Vielleicht würde bald Corsignano brennen, weil er eine Sünde begangen hatte, die er selbst nicht verstand. Die dort draußen, die ihn kannten, sahen ihn nicht. Mehr als ein ganzer Ozean lag zwischen ihnen. Er ließ seinen Blick zum Pfarrer und zu den Kardinälen wandern. Einen Augenblick lang glaubte er schon, sie hätten ihn vergessen. Doch sogleich stürzten sie sich wieder auf ihn. »Zu welchem Zweck bist du in der Stadt?«, fragte der Kardinal. »Ich bin ein Hirte«, erwiderte er trotzig. »Ich gehe nicht in einem Weiberrock. Der Pfarrer war es, der mich in das Kleid gezwungen hat.« Er wurde geschlagen. Ein Mann mit harten Händen hatte sich zu ihnen gesellt. Er war groß und schwer. Auf seinem Kopf wuchs kein Haar. Er schlug kräftig zu. »Was hast du beim Sultan gemacht?« »Ich verbarg mich, so gut es ging, zwischen den Tulpen. Aber dann kamen die Schildkröten des Sultans auf mich zu und warfen ihr Licht auf mich. Deshalb wurde ich entdeckt und von Mehmets Soldaten gefangen genommen.« »Du hast dich zwischen Tulpenbäumen versteckt?«, fragte der Pfarrer.
»Tulpen sind Blumen, die gibt es hier im Abendland nicht.« »Willst du uns zum Narren halten?« »Aber es stimmt! Inmitten der ersten Tulpen des Frühlings feiert der Sultan sein Fest für Allah«, sagte Andropolus. »Hat man so einen Unsinn schon gehört?«, fragte der Mann und schlug erneut zu. Und dann wurde er wieder geschlagen, während die anderen lachten. Der Pfarrer faltete die Hände und murmelte Sprüche aus der Heiligen Schrift. Einer der Anwesenden sagte, dass der Rausch die Leute wirr mache. »Vielleicht denkt er sich das alles auch nur aus, um Zeit zu gewinnen«, gab der Pfarrer zu bedenken. Mit einem Mal fühlte Andropolus, dass er nicht aufgeben würde. Mochte kommen, was wollte. »Ich konnte mich nicht in einem Garten verstecken, den Tausende Kerzen erleuchteten«, flüsterte er trotzig. Kraft erfüllte ihn. Der Krieger in ihm erwachte wieder zum Leben. Der Krieger, der mit dem Vater gestorben war. Er wollte den Namen des Vaters laut hinausschreien. Sie schlugen wieder zu. »Wovon faselt er?«, fragte der Kardinal. Blut floss aus Andropolus’ Mund, sodass er kaum sprechen konnte. »Er ruft wohl nach Allah«, antwortete der Pfarrer. Sie lachten wieder. Sollten sie ruhig. Es war besser, wenn sie ihn unterhaltsam fanden. Viel besser. Dann konnte er mit seinen Schmerzen allein sein. Die Männer sahen sich an. »Und dann? Warum bist du in diesen Tulpengarten gegangen?« »Bevor das Land zu Mehmets Schlachtfeld wurde, gehörte es meinem Vater. Es war sein Jagdrevier. Dort wuchsen wilde Tulpen. Ich sollte sie einmal erben.«
»Und was wollte Mehmet mit einem Schlachtfeld voller Tulpen?« Der Pfarrer fragte am eifrigsten von allen, fast so, als hätte der vermeintliche Mordanschlag ihm gegolten. »Die Leute sollten sich von der Schönheit des Paradieses bannen lassen und sich darüber freuen, dass sie sich zu Allah bekannt hatten.« »Treibst du Narretei mit uns?« »Nein! Ich erzähle Euch die Wahrheit, so wie Gott sie mich gelehrt hat.« Er spuckte Blut. »Komm zur Sache, andernfalls weißt du, wohin es mit dir geht!« Andropolus berichtete, dass er gegen Sonnenaufgang auf den Garten gestoßen war, aber keine Überreste von der Macht und dem Reichtum seines Vaters gefunden hatte. Während er erzählte, wurde ihm schwindlig von all den Erinnerungen, die er verdrängt hatte. Er schloss die Lider, und vor seinem inneren Auge verwandelten sich die weiß gekleideten Frauen vor dem Kellerfenster in Tausende von Schildkröten. Sie kamen auf ihn zu wie eine Woge, dicht an dicht, doch völlig unwissend über sein Schicksal. In ihren Augen schienen sie alle Weisheit des Himmels zu tragen. Die Tiere wussten um den unbarmherzigen Zyklus der Gezeiten. Auch die Frauen taten das. Ihr süßer Duft zeugte davon. Er tröstete sich damit, dass die Frauen dort draußen sich wohl auch seines Schicksals annahmen. Der Gedanke daran lullte ihn ein, als läge er in den Armen seiner Mutter. »Hast du im Heer des Sultans das Töten gelernt?« »Ja.« »Wen solltest du töten?« »Meinen Vater.«
Er hörte seine eigene Stimme aus weiter Entfernung. Fast so, als sei es nicht er, der antwortete. Er musste daran denken, wie sein Vater ihm erzählt hatte, dass Schildkröten sich am Licht der Sterne orientierten. Während des Lichterfestes waren sie selbst zu Sternen geworden. Sie krochen ihren eigenen Lichtern hinterher und vergaßen die Sterne am Himmel. Sollte er davon erzählen? Wie die Natur der Tiere sich in die Irre führen ließ? »Hat Lorenzo dir je etwas von dem Nadelöhr erzählt, jenem weichen Punkt im Rücken, durch den das Schwert mit einem Stoß ins Herz vordringen kann?«, fragte der Pfarrer mit heiserer Stimme. »Hast du nicht geplant, dass der Papst so sterben soll? Beim ersten Stoß?«, ergänzte er, während er unablässig in Andropolus’ Augen starrte, um die Pein zu beobachten, die er hervorrief. »War es Lorenzo, der dich das Töten gelehrt hat?« »Das habe ich nicht von Herrn Lorenzo gelernt. Das lernte ich als Janitschar im Kinderheer von Sultan Mehmet. Ich wollte Christ bleiben. Ich wollte meinen Vater nicht töten. Deshalb floh ich aus Mehmets Heer«, erwiderte Andropolus. »Da hört Ihr es. Hinter all dem steht Lorenzo«, sagte der Pfarrer, zu den anderen gewandt. »Lorenzo ist Mehmets Spion, und der Junge ist sein Handlanger. Er hat den Jungen benutzt. Seine Taten stinken zum Himmel! Er ist es, der uns die Pest bringt. Er muss ergriffen und daran gehindert werden.« »Herr Lorenzo hat mich nichts gelehrt! Er hat mich nicht angefasst!« Der Gestank der Sünde, der zum Himmel aufstieg. Niemand anderes als der Pfarrer brachte Pest und Gestank hierher. Anstatt alles so zu erzählen, wie es gewesen war, bat Andropolus, sie möchten Lorenzo holen. Er bettelte, er bat und sagte, sie könnten mit ihm tun, was sie wollten, wenn sie nur
Lorenzo holten. Sie könnten einer die Unschuld des anderen beweisen, sagte er mit ersterbender Hoffnung in der Stimme. »Er hat anderes zu tun. Er trägt heute seine Tochter zu Grabe«, antwortete der Pfarrer. »Die Verkrüppelte hat es endlich hinter sich. Und du auch bald, wenn du nicht bekennst.« Die Tür fiel ins Schloss und Andropolus war allein. Er streckte die Hand aus, als erwartete er, Lucrezia an seiner Seite zu finden. Allein. Ganz allein. Er hatte sie nicht rechtzeitig gefunden. Er hätte nach ihr suchen müssen, ehe er sich auf den Weg machte. Suchen zwischen Weinfässern und getrockneten Feigen, suchen auf dem Dachboden zwischen Bergen getrockneter Trauben. Suchen an den Schwefelquellen. Nein. Sie war nicht ertrunken! Plötzlich fiel ihm ein, dass sie sich an den Quellen hatten treffen wollen. In aller Heimlichkeit sollte er dorthin kommen, um ihre Brüste zu sehen. Er hatte sie im Stich gelassen. Der Rausch hatte dafür gesorgt, dass er es vergaß. Als ihm die Sinne schwanden, sah er Lucrezia vor sich. Er musste an ihr Grab. Dort wollte er wohnen. Er wollte Stuhl und Tisch in die Gruft stellen und all ihre liebsten Besitztümer mitnehmen. Er stellte sich blühende Blumen auf einem winzigen Tisch vor, den Becher, aus dem sie getrunken und den Löffel, mit dem sie gespeist hatte, und auf einem Spitzendeckchen sollten ein Kamm und ein Spiegel liegen. Das Gehäuse einer Schnecke. Eine brennende Kerze unter der Ikone der Heiligen Jungfrau. So wollte er für immer mit ihr leben. Das monotone Murmeln der weiß gekleideten Frauen kam in Wellen über ihn. Hob ihn hoch und ließ ihn hinab. Aber sie beteten nicht für ihn. Sie beteten für die Genesung des Papstes. Eine Männerstimme mischte sich unter die Bitten der Frauen. Sie kam aus den Gängen des Kellers und schallte durch die
feuchten Katakomben, unter deren Boden eine Wasserader verlief. Andropolus konnte das Gluckern des Wassers hören, das sich in einen unterirdischen Brunnen ergoss. Gellende Rufe und Schritte hallten von den Mauern wider. Die Stimme rief, dass jemand eine Peitsche holen solle. Ihm war, als riefen sie alle, auch die Frauen. Andropolus hörte es genau. Sie riefen im Chor: »Hängt Lorenzos Hirtenjungen. Hängt ihn auf, hängt ihn auf!« Dann hörte er plötzlich eine dünne Mädchenstimme. Sie kam aus dem Nirgendwo, brach in seine Dunkelheit ein und erhellte sie. »Das Schloss des Papstes ist eine Stätte der Wunder«, sprach die Stimme. War es Lucrezia, die ihm das zuflüsterte? Er richtete sich auf und wischte sich das Blut vom Mund, damit sie ihn erkennen konnte. Sie war hier. Ganz nah. Sah sie ihn vielleicht nicht? Vielleicht hatte sie eine Binde vor den Augen und glaubte, er befände sich inmitten von Engeln? Wie sollte sie sehen können, dass er zwischen verschiedensten Messern lag, auf einer Pritsche voller Exkremente und Blut? Er schickte ein stilles Gebet zum Himmel. Er war ja um ihretwillen hierher gekommen, dachte er und streckte erneut die Hand aus. Doch er hörte Lucrezias Stimme nicht mehr.
M
it dem Papst kam die Pest, doch niemand wagte es, das auszusprechen. Viele, die ihm heute huldigten, würden tot sein, noch bevor der Sommer vorüber war. Der Gedanke wollte Anna nicht loslassen, als sie in der Kirche vor Papst Pius kniete. Vielleicht würde sie eine von ihnen sein. Sie empfing Jesu Leib und Blut und bemerkte, dass die Hände des Papstes zitterten. Er war noch nicht genesen. Seine Haut war bleich, die Augen groß und eingesunken. Doch sein Blick war klar und erfüllt von erhabenem Geist. Lorenzo hielt sich abseits. Er hatte sich zu den Kardinälen und Offizieren des Papstes gesellt und gab sich den Anschein, als sei er in ein Gespräch vertieft. Aber seine ganze Gestalt verriet, dass seine Gedanken um das kreisten, was hinter seinem Rücken geschah. Es war, als wagte er nicht, sich zu nähern, als sei sein Dienst als Leibwache des Papstes überflüssig, wenn sie anwesend war. Pius war erfreut über das Wiedersehen und wollte sie nicht gehen lassen. Sie spürte seinen eindringlichen Blick. Es bewegte sie. Einen Arm um sie gelegt, schritt er von Altartafel zu Altartafel. Aber ihre war nicht darunter. Die Kirche war noch nicht eingeweiht, dennoch konnte er es nicht erwarten, die Altartafeln zu segnen. Er las Gebete für sie und weihte sie mit Öl. Vecchiettas Bild entzückte ihn. Es sei genau, wie er es sich gewünscht habe, sagte er. Er gab seiner Freude darüber Ausdruck, wie es dem Künstler gelungen war, Sankt Agatha außerhalb, ihn selbst jedoch in der Zeit zu malen. Kein Wort darüber, dass Sankt Agathas Brüste aussahen wie Kuchen in einer Schale. Anna hegte keinen Zweifel. Die Tafel, die den alten Traditionen der religiösen Malerei folgte, begeisterte ihn. Es
schien lange her, dass sie zuletzt hier gewesen war. Es war vor Lucrezias Tod gewesen. Damals hatte sie die Reaktionen auf ihre Malerei gefürchtet. Nun hatte sie vor nichts mehr Angst. Sie war nicht länger die Mutter einer zerbrechlichen Seele, der sie das Geheimnis der roten Farbe hätte vererben sollen. Welche Reise nun vor ihr lag, wusste sie nicht. Sie war darauf vorbereitet, dass sie Lucrezia nicht mehr begegnen würde. Nur in ihren nächtlichen Träumen war sie mit ihr vereint. Es war der einzige sichere Ort, um ihre tote Tochter zu treffen. Für alle Zeit würden ihre Träume von Lucrezia erfüllt sein, und ihre eigenen Gebete würden Buße sein für Sünden, die sie begangen hatte. Immer wieder hatte Anna im Traum gesehen, wie Lucrezia durch die neun Himmel aufstieg, ohne den Sonnenhimmel zu erreichen, wo Gott war. Sie hatte geträumt, dass der Himmel, wo die Engel sich offenbarten, ihrer Tochter versperrt war, wegen der Sünden, die sie, Anna, begangen hatte. Die Tochter der Färberin hatte eine Mutter gehabt, die sich mehr der Farbe widmete als ihrem eigenen Kind. Sie ließ die Augen durch den Kirchenraum wandern, um festzustellen, ob der Pfarrer sich unter den Geistlichen und Soldaten befände. Schon allein der Gedanke, dass ihr Blick plötzlich dem seinen begegnen könnte, ließ sie erstarren. Aber sie hatte ihn nicht entdeckt, als sie mit dem Papst an den Altartafeln entlangschritt. Ein Gefühl sagte ihr, dass der Pfarrer der Schuldige war. Dass er es war, der Lucrezia so krank gemacht hatte, dass sie sterben musste. Aber sie hatte keinen Beweis. Außerdem hatte sie sich von ihm in Lucrezias letzter Stunde verjagen lassen. Sie hatte Lucrezia nicht so beschützt, wie sie es hätte tun müssen. Jetzt endlich kniete sie vor dem Papst und erwartete die Segnung ihrer Tochter, damit sie schließlich in den Sonnenhimmel aufsteigen konnte.
Eine muntere, beinahe heitere Stimmung ging von den Kardinälen und den anderen Geistlichen aus, die unter den Arkaden des Seitenschiffes wandelten. Während sie warteten, bewunderten und kritisierten sie das Bauwerk. Alle warteten. Wie auf eine Hinrichtung. Sie warteten auf Bernardo Rossellino. Der Papst hatte nach ihm geschickt, damit er sich für seine Schulden gegenüber dem Vatikan verantwortete. Anna fühlte, dass Bernardo guten Grund hatte, den Papst warten zu lassen. Große Summen standen im Raum. Gerüchte besagten, dass er keinen Geldgeber für ein Darlehen gefunden hatte. Der Papst ließ die Leute reden. Er würdigte die Sieneser keines Wortes, als sie versuchten, ihn mit gehässigen Verleumdungen gegen Bernardo aufzubringen. Der Papst hatte Kirche und Palast von den Kellergewölben bis zum Dach genau begutachtet. Aber noch wollte er niemanden in sein Urteil einweihen. »Bernardo Rossellino soll der Erste sein, der sein Schicksal erfährt«, antwortete er denen, die fragten. Das Sonnenlicht fiel auf den Altar. Bernardos Altar aus Travertin. Anna hielt ihren Blick darauf gerichtet, während sie ein stilles Gebet für den Architekten sprach. Jetzt wollte sie die Segnung Lucrezias empfangen. »Was hast du mir zu bekennen?«, murmelte der Papst. Sie zögerte einen Moment, bevor sie zu sprechen anhob, verwirrt darüber, dass er seinen Segen nicht mit der Namensnennung der Toten abschloss. »Sein Name ist Andropolus. Er sitzt gefangen in Eurem Palast.« »Du meinst den kleinen Spion aus Mehmets Kinderheer, der versuchte, bewaffnet in den Palast einzudringen? Die Kardinäle haben mir die Geschichte erzählt. Ich hatte die Absicht, Lorenzo im Anschluss an die Kirchenversammlung
darüber zu befragen. Er war es schließlich, der den Knaben ins Land gebracht hat, so sagen sie.« »Der Speer war sein Hirtenstab«, wandte Anna leise ein. »Die Inquisition hat sich der Sache bereits angenommen. Er ist beschnitten wie ein Muslim«, erwiderte der Papst. »Lorenzo kaufte Andropolus als Sklaven, damals, als Eure Heiligkeit ihn mit einem Brief zu Mehmet sandte.« Sollte sie hoffen, oder sollte sie befehlen? Ihm befehlen, so wie Caterina ihrem Papst befohlen hatte? »Um Lucrezias Himmelfahrt willen«, befahl sie und sah ihn fest an. »Lasst Andropolus frei und schenkt ihn mir. Er ist unschuldig. Lorenzo wird bestätigen, dass sein Vater Christ war und dem Kaiser nahe stand. Ich versichere Euch, dass der Junge kein Muslim ist.« Als der Papst nicht sofort antwortete, ließ Anna ihren Tränen freien Lauf. »Es ist nicht so, wie Eure Heiligkeit glaubt. Der Sultan raubt Christenkinder, um sie mit dem Schwert gegen ihr eigenes Volk ziehen zu lassen. Andropolus war nur einer von Tausenden in Mehmets Kinderheer. Es sind slawische und griechische Jungen, auf die Ihr bei Eurem Kreuzzug treffen werdet. Sie sind die gefürchteten Janitscharen.« Der Papst schluckte. Anna stand so dicht vor ihm, dass sie ihn mit den Augen, dem Körper und der Weiblichkeit ihrer Stimme beeinflussen konnte. Dennoch spürte sie, dass es der Inhalt ihrer Worte war, der seine Aufmerksamkeit gefangen hatte. »Er singt sehr hübsch, habe ich mir sagen lassen. Der Pfarrer meint, dass sein Gesang die Leute dazu bringt, die Augen zum Himmel zu heben.« »Der Pfarrer ist ein schlechter Mensch. Er ist nicht der, für den er sich ausgibt«, sagte Anna. »Er legt Zeugnis gegen den Knaben ab«, erwiderte der Papst.
»Er sagt nicht die Wahrheit.« Anna fürchtete, dass er das Thema wechseln könnte, und hielt inne. Der Papst sah sie forschend an. »Er sagt, der Junge sei als Frau verkleidet zu ihm gekommen. Er habe sich die Augenbrauen blau gemalt und ein Kleid angezogen. Und er sei in der Nacht gekommen, während der Pfarrer schlief. Er habe das Lager mit ihm teilen wollen. Das hat der Pfarrer der Inquisition berichtet.« »Der Pfarrer selbst war es, der Andropolus das Kleid angezogen hat. Und es war mein Kleid.« »Deines?«, fragte Pius verwundert. »Halte dich heraus, ich bitte dich. Wenn das stimmt, meine Tochter, dann wahre Stillschweigen darüber.« Doch Anna ließ sich nicht aufhalten. »Es flog mit dem Wind davon. Es war in Purpur getaucht und hing am Fenster, damit die ersten Strahlen der Sonne es färben sollten. Andropolus erzählte mir, dass er dem fliegenden Gewand folgte, weil er dachte, es sei ein Engel. Er sah mit eigenen Augen, wie der Pfarrer es aus dem Olivenbaum pflückte. Er ging zum Haus des Pfarrers, weil er mit dem Engel sprechen wollte.« »Ach? So war das?«, wunderte sich der Papst. »Engel kommen doch, um etwas zu verkündigen«, fuhr Anna fort. »Andropolus wollte wissen, ob der Engel vielleicht einen Gruß von seinem Vater aus Konstantinopel brachte. Aber der Pfarrer zwang ihn, das Kleid anzuziehen, ohne sich um das Gerede von einem Engel zu kümmern. Er flößte dem Jungen reichlich Wein ein, um Sodomie mit ihm zu begehen.« Der Papst wich zurück. »Warst du dabei und hast es gesehen, dass du alles so genau weißt?« »Andropolus erzählte es mir, als ich ihn holte«, antwortete Anna.
»Du hast ihn geholt? Einen Sklavenjungen? Bist du deswegen zum Pfarrer gegangen? Um einen Sklaven zu holen, nicht um zu beichten?« Der Papst sah sie verwundert an. »Ich ging aus einem anderen Grund dorthin. Ich wollte die Tafel der heiligen Agatha, die ich gemalt habe, davor bewahren, verbrannt zu werden. Sie war für Euch bestimmt.« »Deine Tafel? Ich wusste gar nicht, dass du malen kannst. Aber warum hast du sie dem Pfarrer gegeben, wenn sie doch für mich bestimmt war?« »Lorenzo wollte sie verbrennen. Er meint, ich hätte mit dem Bild gegen die Gesetze der Religion verstoßen. Nicht Gott, sondern mein eigener Wille habe den Pinsel geführt. Ich bat den Pfarrer, die Tafel zu Meister Bernardo Rossellino zu bringen, um sie vor dem Scheiterhaufen zu retten«, erwiderte Anna. »Und damit bist du geradewegs darauf zugelaufen. Möge der Herr seine Hand über dich halten, falls es mir nicht gelingen sollte.« Es wurde einen Moment lang still. Die Stimmung in der Kirche war gespannt. Alle gaben sich Mühe, so zu tun, als verfolgten sie das eindringliche Gespräch nicht. »Was hat der Pfarrer gesagt, als du zu ihm kamst? Eine Baronessa, die barfuß über die Heide hastet. Was für ein Anblick. Ich habe bereits gehört, dass du es vorziehst, ohne Leibwache dein Haus zu verlassen, nur begleitet von diesem irischen Mönch.« »Der Mönch war an jenem Tag nicht bei mir. Antonio war mein Wächter.« »Ich habe mich schon oft gefragt: Wer wacht über den Wächter eines Weibes? Kann er bezeugen, dass du die Wahrheit sagst?« »Nein. Ich ließ ihn am Bach zurück. Ich wollte nicht, dass er von der Tafel weiß.«
»Was hat der Pfarrer gesagt, als er dich sah? Begehrte er dich mit Blicken?« »Er war in einem Zustand der Verzückung, als ich kam.« »In Verzückung? Er verging sich doch nicht gerade an dem Knaben?« In den Augen des Papstes gewitterte es. Er hat vergessen, dass er mit einer Frau spricht, dachte Anna. Er wartete gespannt auf ihre Antwort. »Ich meine nicht sinnliche Verzückung«, flüsterte Anna. »Ich weiß kein anderes Wort für das, was ich erblickte. Es war, als habe er eine göttliche Erscheinung, als er mich in der Tür stehen sah. Als sei ein Engel in sein Haus gekommen.« »Es muss das Kleid gewesen sein, das seine Sinne verwirrte«, sagte der Papst nachdenklich. »Dann kamst du. Das ist ja wie in einem Roman.« Er sah einen Moment versonnen vor sich hin und fragte dann betont nüchtern: »Und dort fandest du Andropolus in deinem Kleid?« »Ja. Ich überließ dem Pfarrer die Tafel und bat ihn, sie Meister Rossellino zu übergeben.« »Meister Rossellino genießt dein Vertrauen, entnehme ich daraus?« »Hat er nicht auch das Vertrauen Eurer Heiligkeit?« »Doch, als Architekt und Bildhauer hat er es. Wenn es um Geld und Frauen geht… ich weiß nicht. Da ist er wohl wie andere Männer.« Er sah sie lange an. »Meine Tochter, du Kind Gottes. Was hast du nur angerichtet?«, fragte er beinahe zärtlich. »Du sagst, du hast eine Tafel gemalt? Und dass du das nicht in Unterwerfung vor Gott getan hast, sondern neue Wege gegangen bist? Ja, dann werden wohl viele es so verstehen, dass du dich Gott dem Allmächtigen widersetzt hast. Du weißt ja, was im Zweiten Buch Mose, Kapitel 14, Vers 14
geschrieben steht: ›Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet still sein.‹« »Ich kann nicht still sein. Ich bin jung. Ich fühle mich, wie Ihr Euch fühltet, als Ihr jung wart und Bücher geschrieben habt.« »Du meinst das Buch über die Pferde?« Sie konnte sehen, dass er errötete. »Nein. Nicht das Buch über Pferdehaltung. Ich meine das Buch über Lucrezia.« »Hat Lorenzo es dir zu lesen gegeben?« »Ich kann nicht still sein und den Herrn für mich streiten lassen. Ich habe es hinter seinem Rücken gelesen. Es beflügelte mich, mit derselben Kühnheit zu malen.« Der Papst war gereizt. »Vergiss Aeneas Piccolomini und seine Bücher. Es gibt nur noch Papst Pius«, sagte er streng. »An ihm halte fest.« »Ich will nicht vergessen. Ich kann nicht vergessen. Wenn die Bücher verbrannt werden, wird das, was Seine Heiligkeit geschrieben hat, von denen weitergetragen, die es gelesen haben. Es lebt in mir weiter«, sagte sie und sah ihm in die Augen. »Ich bin der Papst. Nicht der junge Aeneas Silvius Piccolomini, der in Übermut und Torheit schrieb. Folge nicht meiner Spur. Sie führt nur ins Unglück. Vor allem für eine Frau.« »Ihr könnt nicht auslöschen, was Ihr geschaffen habt. Es wird für alle Zeit existieren.« Der Papst wechselte das Thema. »Ich will diese Tafel sehen, die Gott trotzt.« Doch Anna fühlte, dass sie nicht länger Umschweife machen konnte. »Die Tafel trotzt Gott nicht. Sankt Agatha zeigte sich mir, damit ich ihre Schmerzen an Euch überliefere, Heiliger Vater.«
»Sie bat dich darum, so wie du mich bittest, Andropolus freizulassen«, sagte Papst Pius nach einer kleinen Gedankenpause. Er wurde still. Er zieht sich von mir zurück, dachte Anna. War sie doch zu weit gegangen, zu unbedacht gewesen? Hatte sie etwas zu verlieren? Nein. Sie musste den Weg bis zum Ende gehen. Die Wahrheit sagen. »Die Inquisitoren haben sicher viel dazu zu sagen, wenn sie davon erfahren«, fuhr er fort. »Sie werden dich fragen, wie du wissen konntest, dass es Gottes Stimme war, der du so blind gefolgt bist.« »Zweifelt Ihr an mir, die ich Eure treueste Jüngerin bin? Glaubt Ihr, Heiliger Vater, dass der Teufel mich verleitet hat?« Sie blickte ihm fest in die Augen, als sie ihm diese Frage stellte. Die Erinnerung an die zarte Haut ihres Kindes hatte sie dazu gebracht, all das zu sagen. Ihre Sehnsucht danach, wieder die sanfte Wölbung einer Kinderwange zu berühren, führte sie zum Scheiterhaufen. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass der Pfarrer Schuld trug an Lucrezias Krankheit und Tod. Selbst Gott konnte sie nicht dazu bringen, jetzt zu schweigen. »Ich zweifle nicht an der Frau, die mir den Purpur gibt, die vornehmste Speerspitze in meinem Kreuzzug gegen die heidnischen Osmanen. Schon seit Jesu Tagen haben Kaiser den edlen Kampf geführt, das Abendland unter einer Religion zu vereinen. Du hast mir die Möglichkeit zu einem überraschenden Vorstoß gegeben. Ein Schachzug, der den Sultan vor Furcht erzittern lässt. Er sitzt dem Glauben auf, die Purpurtinte stamme aus dem Grab Kaiser Konstantins. Er weiß ebenso wie alle anderen Herrscher, dass nur ein Kaiser das Recht besaß, seinen Namen in Purpur zu schreiben. ›Der Kaiser ist tot. Es lebe der Kaiser.‹ Er weiß, dass die rote Farbe der Murex-Schnecke rund um das ganze Tyrrhenische Meer
nicht mehr aufzutreiben ist. Diese Macht besitze ich durch deinen echten Purpur.« Der Moment war gekommen. Im Beisein der Kardinäle und der anderen Geistlichen überreichte sie ihm die Purpurtinte, auf die er gewartet hatte. Sie hatte ihm die Farbe kaum ausgehändigt, da schwirrte ihr Kopf plötzlich von verstörenden Gedanken an Verrat und Spionage. All das, was mit der Farbe verbunden war und was Andropolus ihr verraten hatte. Die Degen der Leibwachen klirrten. Es klang bedrohlich. Da hob der Papst seine Hand über ihren Kopf und segnete sie. Er war ohne Furcht vor dem Urteil der Menschen hier im Hause Gottes. Doch für Anna war die Stille so unheilschwanger, dass sie sie fast nicht ertragen konnte. Lorenzo befand sich in der Gruppe der Geistlichen. Anna sah, dass er Abstand zu den anderen hielt. Er hatte sie und den Papst die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Sie spürte seinen starren Blick im Rücken und wusste, dass seine Furcht vor der Dunkelheit nun zu einer tiefen Angst geworden war. Der Papst flüsterte ihr etwas zu. Nur sie konnte seine Worte vernehmen. Er flüsterte so leise, dass Lorenzo und die anderen, die sich in respektvoller Entfernung hielten, nicht merkten, dass ihr Heiliger Vater das Segnungsritual durchbrach. Er formte die Lippen zu einem nahezu unhörbaren Namen: Dido. Die Königin von Tyrus. Die Frau, die dem Kaiser, ihrem geliebten Aeneas, einen purpurnen Mantel schenkte. Für Papst Pius war Anna die poetische Dido. Für sie wollte er dastehen als Aeneas, sein Namensvetter und der Erbauer Roms. So verhielt es sich. Sein Vorbild war Vergil, der das Opus über Aeneas und Dido geschaffen hatte. Wie sollte sie sich aus dem Griff eines Dichters befreien? Verlegenheit und Scham wallten in ihr auf. Trug sie die Verantwortung, wie die Leute behaupteten? War sie
mitverantwortlich dafür, dass sein christlicher Glaube untergraben und er zu heidnischem Dichtertum verlockt wurde, sodass er nicht mehr wusste, ob er Poet oder Papst war? Ihr fiel die Purpurhändlerin Lydia ein, die um das Jahr 50 im griechischen Philippi gelebt hatte und vom Apostel Paulus getauft worden war. Vielleicht verbreiteten die Geistlichen das Gerücht, Lydia sei nur deshalb die erste Christin des Abendlandes geworden, weil sie den Apostel Paulus verführt und ihn mit purpurner Seide bestochen habe. Vielleicht glaubten jene, die sich den päpstlichen Plänen eines Kreuzzuges widersetzten, dass es Anna war, die den Dichter in einen aussichtslosen Krieg trieb. Den Krieg eines Träumers, der nicht unterscheiden konnte zwischen Poesie und Wirklichkeit, zwischen Schreibfeder und Schwert. Dass sie ihn dazu anstachelte, den Märtyrertod zu suchen. Hinter ihrem Rücken fand ein Ränkespiel um die Macht statt. Sie fühlte ein unsichtbares Gitter zwischen sich und den anderen herabfallen. Pius war wie sie. Er lebte wie sie, in Träumen und Gestalten, die von anderen erdacht und geschrieben worden waren. Sie hatte ihm ihre Sünde bekannt und er ihr die seine. Seine Hand zitterte, sein Atem ging schwer. Es gelang ihr nicht, ihn aus seiner Entrückung zu reißen. Wie ein Schlafender ergriff er ihre Hand und legte sie auf sein Herz. Sie hing wie ein Schmetterling im Netz und wartete auf eine Gelegenheit, freizukommen. Niemand hörte, wie er »Dido« flüsterte. Die Leute in der Kirche dachten sicher, dass er für die Seele ihrer toten Tochter betete. Obwohl es nur ihre Hand war, die er hielt, spürte sie es im ganzen Leib. Sie war allein. So allein, dass sie nicht wusste, ob sie es würde ertragen können. Als Lorenzo sich plötzlich zu ihr umwandte, ließ sie es nicht zu, dass die Unruhe in seinen Augen auf sie übersprang. Er
blickte vom Papst zu ihr und wieder zurück. Es war, als beobachtete er genau, wie der Papst sie ansah, und sie ihn. Sie versuchte, ihre Unsicherheit zu verbergen. Wusste er, dass sie Pius’ Dido war? Hatte er es Lorenzo in schlaflosen Nächten gestanden, hatte er im Fieber geredet und seine Schriften mit den Frauengestalten Vergils verquiekt? Wie sie war der Papst von Gefühlen getrieben. Gefühle, die sie beide zu gefährlichen Handlungen verleiteten. Sie trugen verschiedene Gesichter im Herzen. Heimliche Gesichter. Gesichter, die ihnen im Traum erschienen. Gesichter, die Verlangen auslösten. Lorenzo würde niemals erfahren, in welcher Verzückung sie Bernardos Antlitz vor Augen gehabt hatte. Der Papst hielt ihre Hand fest umschlossen. Sie spürte den Wunsch, sich zu befreien. Der Gedanke des Begehrens kam vielleicht nicht von ihm. Er kam von ihr, geschaffen durch seine Berührung. War seine Anbetung der Dido vielleicht nur die Liebe zu dem Dichtwerk? Wie der Gesang der Sonne. Nur wer der Wärme der Sonne nahe war, konnte ihn hören. Er war ein Mann. Für ihn war sie der Traum von einer Frau. Eingeschlossen in sein Drama. Er bestimmte, wann sie ihre Hand zurückbekam. War das der Preis für seinen Schutz? Sie spürte, wie dieser Gedanke eine Kluft zwischen sie brachte. Langsam hob sie den Kopf und starrte in die Augen des Papstes. Sie trotzte ihm, sie trat aus Vergils Gedicht hinaus und spürte, wie sie Wirklichkeit wurde. Etwas geschah. Die Macht wechselte den Besitzer. »So gut wie alles, was ich an Purpur hatte, fand Verwendung für Rossellinos Mantel. Das, was ich Eurer Heiligkeit jetzt gab, ist der Rest.« Er ließ ihre Hand los. Langsam kehrte er aus einem Traum zurück.
Hatte sie das wirklich gesagt, oder träumte ihr nur, dass sie auf diese Weise zu einem Papst sprach? Würde er sie weiterhin beschützen? Sie war nicht sicher, ob seine theologische Lehre das zulassen würde. Alle Macht lag in der Orthodoxie, der rechten Denkweise. Außer den Nonnen und ihr selbst waren keine Frauen in dieser Gesellschaft aus Kardinälen, Leibwachen, Sekretären und Edelleuten. Wieder hörte sie das Klirren von Degen und das Rascheln der Kardinalsroben, als die Geistlichen den Papst begleiteten. Sie stützten ihn, während er abermals bewundernd an den Altartafeln entlangschritt. Sie sah, dass er vor Vecchiettas Bild stehen blieb. Er lobte es nochmals mit lauter Stimme, so als wollte er, dass sie es hörte. Dann befahl er, dass niemals und zu keiner Zeit weitere Altartafeln an den weiß gekalkten Kirchenwänden aufgehängt werden durften.
A
m Tag darauf, während der Feiern zum Todestag von Johannes dem Täufer, am Morgen des 29. August 1462, stand Anna mit den Kardinälen, Leon Battista Alberti, mit Angehörigen der römischen Fürstenhäuser, der Leibgarde und einer langen Reihe von Geistlichen in Pius’ Kirche. Hinter ihnen versammelt stand das gemeine Volk von Corsignano. Es war der Tag, an dem der Papst die Kirche einweihen und den Purpurmantel an Bernardo Rossellino übergeben würde. Gemeinsam mit Lorenzo saß sie ganz vorn, in der Bank des Hauses Vicenti. Sie wusste, dass Bernardo auf der anderen Seite des Mittelganges Platz genommen hatte. Doch sie konnte nicht gegen die Etikette verstoßen und den Kopf wenden, um ihn anzusehen. Es war die Morgenmesse. Draußen war es noch immer dunkel. Die Gesichter wurden von Fackeln beleuchtet, die an den Wänden befestigt waren. Im flackernden Schein einer Flamme erkannte sie flüchtig das Gesicht des Pfarrers. Er sang. Sie erstarrte, wollte ausrufen, dass ein Mörder unter ihnen sei. Doch sie tat es nicht. Sie hielt ihren Blick fest auf den Papst gerichtet und betrachtete eingehend seine rote Soutane und das Messgewand aus Spitze. Sie bemühte sich, die Gedanken an den Pfarrer abzuschütteln, während sie jedes Detail des Messgewandes studierte. Der Papst hob den rechten Arm zum Segen. Seine Arme ragten unter der Mozzetta hervor, dem kurzen, runden Umhang, den er um die Schultern trug. Der Flammenschein der Fackeln brach sich schimmernd in seinen perlenbestickten Seidenhandschuhen. Wie auf eine Eingebung hin ließ sie den Blick nochmals zum Pfarrer wandern. Jetzt sah er sie geradewegs an, er sang nicht mehr. Sie starrte zurück und schlug den Blick nicht nieder, bis er den Kopf beugte und sich wieder in den Choral einfügte. Lorenzo beobachtete wachsam jede ihrer Bewegungen und verfolgte ihren Blick.
Es wurde still. Alle erhoben sich und wandten sich um, mit dem Gesicht zur Kirchentür. Durch die hohen Fenster konnte sie sehen, dass die Dunkelheit langsam der Morgendämmerung wich. Während alle darauf warteten, dass die herrliche, breite Kirchentür sich öffnete und die ersten Sonnenstrahlen die Kirche erfüllten, sang der Chor den Kanon von Adams Tränen. Sie fühlte ihr Herz pochen. Sie war nicht sicher, ob es die Anwesenheit des Pfarrers oder die Bernardos war, die ihr solches Herzklopfen verursachte. Freude und Zorn erfüllten ihren Körper abwechselnd mit Wärme und Kälte.
Das Portal öffnete sich langsam. Der Gesang verstummte im selben Moment, als das Sonnenlicht über den Kirchenboden flutete. Die Strahlen trafen auf den Altar. Es war sehr still in der Kirche. Annas Gedanken wanderten zu Sankt Johannes. Am Geburtstag des Heiligen hatte sie einst Lucrezia empfangen. Als die Messe vorüber war, rief der Papst Bernardo Rossellino zu sich. Bernardo trat aus dem Schatten in den Kegel aus Licht. Er ging mit festen Schritten durch das Mittelschiff auf den Papst zu und kniete nieder, um den Ring des Heiligen Vaters zu küssen. Sie wagte kaum, die Zeremonie zu beobachten, aus Angst, Lorenzo könnte bemerken, wie sehr es sie bewegte, dass der Papst nun Bernardo den Purpurmantel umlegen würde. Lorenzo erinnerte sich zweifelsohne daran, wie sie Rossellinos Ehre verteidigt hatte. »Ihr tatet recht darin, uns zu belügen, Bernardo«, sagte der Papst mit lauter Stimme. Die Anschuldigung einer Lüge sorgte für Unruhe in der Versammlung. Mit einem schnellen Seitenblick auf Lorenzo bemerkte Anna, dass ein Lächeln seine Lippen umspielte. Sie
versuchte ihr aufkeimendes Unbehagen zu verbergen. Was würde als Nächstes geschehen? Sollte Bernardo angeprangert werden, anstatt den Purpurmantel in Empfang zu nehmen? Der Papst machte eine kleine Pause, ehe er fortfuhr. Er blickte voller Bewunderung auf den Altar, den Bernardo aus dem Travertin gearbeitet hatte. Es war totenstill in der Kirche, als Rossellino demütig das Haupt senkte, ohne dem Blick des Papstes zu begegnen. Die Worte hallten vom hohen Gewölbe wider, kletterten wie Efeu an den Säulen empor, um endlich als Teil des Chorgesangs von Adams Tränen zu verklingen. Das Wort »belügen« wurde von den Kreuzbögen zurückgeworfen, die er selbst in Stein gehauen hatte. Ein schicksalsschweres Wort, das niemals mehr ausgetilgt werden konnte. »Ihr tatet recht darin, uns zu belügen, wie kostspielig dies alles werden würde«, fuhr der Papst fort. »Weder der schöne Palast noch die herrliche Kirche, die in ganz Italien ihresgleichen sucht, würden heute hier stehen, wenn Ihr uns nicht verheimlicht hättet, welche Summen es erforderte, sie zu erbauen.« Auf diese Weise machte er unmissverständlich deutlich, dass es eine Lüge war, mit deren Hilfe Rossellino die Vision des Papstes von der idealen Stadt verwirklicht hatte. Die Planer dagegen, Leon Battista Alberti und er selbst, kamen ungeschoren davon, dachte Anna erbost. Obwohl der Papst ihn nur bedingt freigesprochen hatte, leuchtete Bernardos Gesicht auf, als der Papst den Purpurmantel nahm und ihm um seine Schultern legte. »Wunderbar. Alles hier ist außerordentlich schön. Wir sind überwältigt«, sagte der Papst und küsste ihn auf beide Wangen. Anna war gerührt, als sie sah, dass Bernardo sich nicht schämte, zu weinen. Der Papst hatte ihm alle Ehre erwiesen und zugleich das Misstrauen der Gemeinde geschürt, dass der
Architekt aus Florenz sie betrogen habe. Bernardo war nicht reingewaschen. Der Papst hatte die Kirche und die Stadt bekommen, die er sich wünschte, und sich selbst gleichzeitig jeder Kritik entzogen. Eine Woge der Erleichterung ging durch die Versammlung, und alle nahmen mit Freuden auf, dass der Papst seine Kirche der Jungfrau Maria weihte. Er beschloss die Zeremonie damit, dass er die Stadt Corsignano in »Pienza« umtaufte und den Kirchplatz nach sich selbst in »Piazza Pius«.
D
ie Feierlichkeiten zum Todestag von Johannes dem Täufer konnte Andropolus nur durch das Gitter seines Kerkers im Papstpalast verfolgen. Nie zuvor hatte er Vergleichbares gesehen! Ein halb nackter geflügelter Junge, der an einem Seil quer über den Kirchplatz schwebte, hoch über den Köpfen der Zuschauer. Das Seil war mit einem Ende am Papstpalast und mit dem anderen am Kardinalspalast befestigt. Die Messe war vorüber, und die Leute strömten aus der Kirche. Auf der Piazza stand der Papst mit hoch erhobenem Haupt, umringt von Kardinälen und Bischöfen. Die Menge versammelte sich auf dem Platz und starrte nach oben. Alle sahen hinauf zu dem »Engel« und lauschten seiner Hymne. Die Kinder stießen begeisterte Rufe aus, und die Erwachsenen erklärten ihnen, dass es kein echter Engel sei, sondern ein Sänger, der sich mit Flügeln verkleidet hatte. Andropolus hatte ganz vergessen, dass er hinter einem Gitter stand. Er fühlte sich wieder wie ein Teil der Menge auf dem Platz. Die Kette, die seinen Fuß an die Mauer fesselte, hatte sich gelöst. Ungehindert konnte er zum Fenster gehen. Ein Wunder. Ein Wunder war geschehen, als der Kastratenchor sang. Er sah den Engel jungen über sich schweben. Das dort oben hätte auch er sein können, wenn die Männer ihr Vorhaben mit ihm in die Tat umgesetzt hätten. So wünschten sie ihn sich, die Eunuchen. Er wäre gerne dort oben, die Blicke aller würden wieder auf ihn gerichtet sein, so wie im Garten des Papstes. »Du hast die Stimme eines Engels«, hatten die Kardinäle gesagt. Er starrte hinaus und hoffte, dass man vergessen würde, das Seil zu entfernen. Vielleicht konnte er heute Nacht fliehen.
Sich hinaufschwingen zu dem Seil und den Wachen weismachen, er sei der Engelsknabe aus dem Kastratenchor. Falls er unentdeckt bliebe, würde er mit den Sängern reisen können. Sie waren eine Schar ziehender Leute, von allen geliebt, und reisten im Gefolge des Papstes. Eine hellere Stimme als seine hatte sicher keiner von ihnen. Sie würden ihn bestimmt gern bei sich haben wollen, jedenfalls für eine Weile. Bis der Stimmbruch kam. Doch bis dahin würde er über den Wassern schweben. Es war an ihm, auf die staunende Menge hinunterzuschauen und für sie zu singen. Es war an ihm, sich hinaufzuschwingen bis unter die Wolken. Ihm wurde so wirr von den Gedanken an eine Zukunft als schwebender Engel, dass er in das Lied des Engelsknaben einstimmte. Die Freude ließ ihn aus voller Kehle singen. Seine Stimme trug bis hoch hinauf zu dem schwebenden Jungen, viel reiner und heller als die Stimme des Engels. Das musste es wohl sein, was den Engelsknaben innehalten ließ, ganz so, als sei ihm entfallen, warum er dort zwischen Himmel und Erde hing. Mit schlaffen Flügeln versuchte er auszumachen, woher der Gesang kam. Der Engel verstummte. Plötzlich merkte Andropolus, dass die Menge auf dem Platz nur zu ihm sah und nicht zu dem Engel über ihren Köpfen. Sie riefen nach ihm! »Andropolus!«, riefen die Pferdeburschen, die erkannten, dass der Gesang von ihm kam. Anna stand neben Lorenzo und dem Papst, als sie Andropolus’ Stimme hörte. »Das ist Andropolus!«, rief Liam. Er drängte sich durch die Menge, um zu ihr zu gelangen. Sein Gesicht bebte vor Freude. »Wer ist das?«, fragte der Papst. »Der Sklavenjunge, von dem ich Euch erzählte«, flüsterte Anna. Lorenzo hörte, was sie sagte.
»Was ist das für ein Unfug? Was macht er im Kellerloch des Palastes?«, fragte er. »Niemand hat wohl gewagt, es dir zu sagen«, antwortete Anna. »Aber es ist mein Sklave«, entgegnete er mit einem leicht gekränkten Unterton. »Wie können sie es wagen…«, zischte er so leise, dass nur Anna es hörte. Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den beflügelten Jungen. Er war von einer Stimme übertroffen worden, die schöner war als seine eigene. In Andropolus’ Gesang lag ein Schmerz, der alle aufhorchen ließ. »Warum steht er da unten im Kellerloch und singt? Warum kommt er nicht zu uns heraus?«, fragte ein Kind seinen Vater. Anna reckte sich, um Andropolus besser zu sehen. Doch alles, was sie von ihm entdecken konnte, waren seine Hände, die sich um die Gitterstäbe klammerten. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, dicht gefolgt von Liam. Als sie bei Andropolus angekommen war, beugte sie sich zu ihm hinunter und nahm seine Hand. Sie hielt sie so lange fest, bis er seinen Gesang beendet hatte. Die Leute riefen seinen Namen und forderten, dass man ihn freilassen solle. Anna ging zurück zu Lorenzo. »Wusstest du nicht, dass dein Sklave eingekerkert wurde, weil der Pfarrer ihn beschuldigt, ein Spion zu sein?«, fragte sie ihn. »Ich habe während der Belagerung von Konstantinopel an der Seite seines Vaters gekämpft«, sagte Lorenzo zum Papst, ohne auf Annas Frage einzugehen. »Es gelang dem Jungen, aus dem Kinderheer des Sultans zu fliehen. Um ihn davor zu retten, erneut gefangen und vielleicht getötet zu werden, bat sein Vater mich, ihn zu kaufen. Das war, als ich mich in
Konstantinopel befand, um dem Sultan Euren Brief zu überbringen.« »Du musst ihn da rausholen«, sagte Anna zu Lorenzo. »Er wird dort unten sterben.« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, da tauchte plötzlich das Gesicht des Pfarrers vor ihr auf. Er war vor sie getreten, ohne dass sie es bemerkt hatte. »Es wird besser, wenn wir erst einen ordentlichen Kerker bekommen haben«, sagte der Pfarrer. Er verneigte sich tief vor dem Papst. »Nicht wahr?«, sagte er zum Papst gewandt. »Wir freuen uns auf den neuen Kerker.« Lorenzo hatte sich schützend vor Pius gestellt. Als er sah, dass es sich um den Pfarrer handelte, schüttelte er resigniert den Kopf. »Was gibt Euch das Recht, meinen Sklaven festzuhalten?« Der Pfarrer überhörte Lorenzo und fuhr mit seiner Lobeshymne auf den neuen Kerker fort. »Wir haben gute Verwendung für ein Zuchthaus. Es wird fleißiger benutzt werden, als der Heilige Vater ahnt.« »Warst du es nicht, der den Hirtenjungen in den Kerker werfen ließ?«, fragte der Papst. »Die ideale Stadt zu bauen bringt Verpflichtungen mit sich. Man muss sich um entlaufene Sklaven kümmern. Sie sind gefährlich. Will die Stadt ihrem Ruf gerecht werden, muss sie sich zweifelhafter Subjekte entledigen«, erklärte der Pfarrer beflissen, wobei er gleichzeitig entschuldigend lächelte. »Der Heilige Vater sollte sich nicht von der Stimme des Jungen täuschen lassen. Es ist die eines Spions. Der Sultan hat ihn sicher gelehrt, mit seiner Stimme Feinde zu hypnotisieren, so wie eine Schlange es mit ihrer Beute tut. Ich kann Euch berichten, dass der Junge den Speer des Sultans unter seinem
Mantel trug«, flüsterte er halblaut. »Er hatte es auf Eure Heiligkeit abgesehen. Ich habe Beweise dafür.« »Wie kommst du zu einer solchen Anschuldigung?«, fragte Papst Pius. »Der Junge ist immerhin der Sklave meines Präfekten«, er nickte mit gespielter Besorgnis in Lorenzos Richtung, »den du mit deiner Behauptung in tiefe Verlegenheit bringst.« Anna bemerkte ein amüsiertes Lächeln um seine Lippen, während er Lorenzo einen Blick zuwarf. »Das ist natürlich nicht meine Absicht, Eure Heiligkeit«, erwiderte der Pfarrer demütig. »Aber Ihr wisst, die Hände des Bösen reichen über alle Landesgrenzen hinweg.« Der Papst schüttelte resigniert den Kopf. »Wer wüsste besser als Ihr, Heiliger Vater, der Ihr den Halbmond der Türken in Eurem päpstlichen Wappen tragt, dass ein neuer Kerker in Corsignano dringend gebraucht wird?« »Pienza«, korrigierte der Papst. »Pienza. Vergebt mir. Der Name ist noch so neu.« »Sprichst du von einem Kerker für unschuldige Kinder oder für Wegelagerer?«, fragte der Papst. Anna sah, dass er ärgerlich wurde. »Der Heilige Vater kennt seine Gemeinde nicht. Ein Landpfarrer wie ich dagegen schon.« »Ich verabscheue jeden, der andere anschwärzen will. Ich fürchte, dass die Gemeinde ihren Landpfarrer besser kennt als dieser seine Gemeinde. Du hast dich an einem Sklaven meines Präfekten vergriffen und versuchst jetzt auch noch, das zu verschleiern, indem du ihn in Misskredit bringst!« »Entflohene Sklaven sind gefährlich, Heiliger Vater. Insbesondere, wenn sie Speere von den Wehrmauern Eures Palastes schleudern.«
Der Papst ärgerte sich zusehends über den Pfarrer. Sein Gesicht rötete sich unter der heißen Augustsonne, und Schweißtropfen rannen über sein Gesicht, das von einem breitkrempigen Kardinalshut beschattet wurde. Zwei päpstliche Kammerherren halfen ihm in die Sänfte. Seine Beine versagten ihren Dienst. »Sorgt dafür, dass der Knabe sogleich freigelassen wird«, befahl der Papst. Plötzlich brach er über die armselige Vorstellung des Pfarrers in Gelächter aus. Das war das Zeichen für die Kardinäle, ebenfalls ein Gelächter anzustimmen. Das Lachen eilte durch die Reihen der geistlichen Würdenträger und verbreitete sich unter allen, die auf der Piazza standen. Sie lachten, auch wenn sie nicht wussten, worüber. Das Lachen wogte auf und ab wie eine Meereswelle – auf und ab und wieder auf. Der Papst und sein Gefolge setzten sich in Richtung des Papstpalastes in Bewegung. Ein Troubadour stimmte eine Volksweise an, eine Laute nahm die muntere Melodie auf. Mit einem Mal verwandelte sich die Piazza Pius in einen Platz des Frohsinns. Anna lachte nicht. Sie wunderte sich darüber, wie die Leute sich von den wechselnden Stimmungen mitreißen ließen. Während der Messe hatte der Papst die Gläubigen aufgefordert, im Gebet niederzuknien. Jetzt erwartete er, dass sie lachten. Und das taten sie. Ohne den Grund dafür zu kennen. Sie blickte den Pfarrer an. Auch er verzog keine Miene. Seine Haut hatte eine grünliche Farbe angenommen. »Heute ist ein Festtag!«, rief ein Mann in der Menge. »Kein Richttag! Der Papst hat uns dreißig Ochsen geschenkt. Geht zu den Zelten, ihr Leute, esst und trinkt nach Leibeskräften!
Später gibt es ein Pferderennen, und danach einen Wettlauf für Knaben über zwölf Jahre!« »Ich… ich bin doch eigentlich gekommen, um dem Papst für das neue Priestergewand zu danken«, sagte der Pfarrer verstört. Er wandte sich um und folgte der päpstlichen Sänfte, die zum Portal des Palastes getragen wurde. Nur Anna nahm den Versuch des Pfarrers wahr, eine Rechtfertigung dafür vorzubringen, dass er dem Papstzug folgte. Sie hatte sehr wohl bemerkt, dass er ein neues Priestergewand trug. Der Papst hatte ihn mit einem Rock beschenkt. »Für die Schuhe will ich Euch auch danken«, rief der Pfarrer, obwohl sich der Papst schon ein ganzes Stück entfernt hatte. »Ich gehe jeden Tag zwischen Hammeln und Rindern und Eseln zur Kirche. Habt Dank, habt Dank«, dienerte der Pfarrer hinter dem Rücken des Papstes. »Die Schuhe werden mir wohl tun… an den alten löste die Sohle sich, der Schuhmacher konnte nichts mehr richten. Sie waren auch zu eng… Gott segne den Papst… den Fürstbischof von Rom… Eigentlich wollte ich über eine ernste Sache berichten. Eine neue Entdeckung, einen Riss in der Grundmauer der Kirche…« Seine Stimme wurde immer lauter und schriller, und zum Schluss hörten alle Anwesenden auf der Piazza, was er rief. Wieder begannen die Leute zu lachen. Niemand nahm ernst, was er von sich gab. Anna verspürte Genugtuung. Nach dieser Schmach würde der Pfarrer es nicht mehr wagen, sich Lorenzos Gutshof zu nähern. Der Papst lachte immer noch helle Tränen. Anna spürte, dass er im Grunde vor Glück darüber lachte, mit den Menschen zusammen zu sein, aus deren Mitte er einst gekommen war. So würde auch sie an dem Tag lachen, an dem sie zu ihrem Volk heimkehrte. In den Gefilden der Kindheit war ein Mensch zum
ersten Mal glücklich. Jetzt empfand der Papst wieder das Glück, das er als Kind gekannt hatte. »Schafft mir den Jungen herbei«, rief der Papst zwischen Lachen und Tränen. »Nur schickt mir nicht den Pfarrer nach ihm. Sonst bekommt der Junge noch Angst und meint, er solle am Todestag des heiligen Johannes aufgeknüpft werden.« Lorenzo scheuchte den Pfarrer mit einer Handbewegung fort. »Wenn der arme Junge mir in die Augen sehen kann und mir versichert, dass er den Speer nicht gegen die Kardinäle richten wollte, darf er am Wettlauf der Knaben teilnehmen«, sagte der Papst. »Falls er imstande ist, zu laufen«, flüsterte Anna. »Ich werde ihn vor dem Lauf segnen«, erwiderte der Papst. Anna vernahm seine Worte durch den Lärm und das Gelächter. Sie spürte eine tiefe Freude. Endlich. Sie sah Liam an und lächelte. Lorenzo sorgte für Ordnung und Disziplin in den Reihen der Soldaten. Sie standen wie eine schützende Mauer um den Papst. Dann ging er, um Andropolus’ Freilassung zu befehlen. In der Menschenmenge konnte sie Bernardo Rossellino erkennen, der Küsse und Gratulationen entgegennahm. Er war in Sicherheit. Niemand hatte das Skandalgeschrei des Pfarrers ernst genommen. Das Drama um die Kirche war vorbei. Die Leute wollten feiern und sich vergnügen. Der Purpurmantel, der um Bernardos Schultern hing, leuchtete im Sonnenschein. Er glich einem Matador, dachte Anna. Sie wünschte sich, dass seine Augen sie in der Menge suchen möchten, doch er schaute nicht einmal in ihre Richtung. Er war berauscht von seinem Erfolg. Wenn er genug von den Schmeicheleien hatte, würde er sicher zu ihr kommen und ihr für den Purpurmantel danken. Es war Bernardo gewesen, der ihr erzählt hatte, dass der Pfarrer ein Helfershelfer der Inquisition war. Lorenzo hatte es
ihr gegenüber nie erwähnt. Wissen denn die Söldner und die Inquisitoren nichts von den wechselseitigen Anschwärzungen, Ränkespielen und Erpressungen?, dachte sie. Niemals hätte sie sich aus Lucrezias Sterbezimmer verjagen lassen dürfen.
A
nna saß im Palast des Papstes und plauderte mit Pius’ Nichte. Das Licht der Abendsonne hing wie ein goldener Schleier im Raum. Die Regenschauer, die sich nachmittags einzustellen pflegten, waren vorüber, und gleißende Sonnenstrahlen brachen durch die Wolkendecke. Der Papst saß am Fenster, umgeben von den Fürsten Roms. Während er immer wieder über das Treiben der Leute blickte, diskutierte er das Verhältnis zu Frankreichs Thron. Das Fest würde bald vorüber sein. Die Gassenkehrer fegten die Hinterlassenschaften des Pferderennens auf, und einige Jungen bereiteten sich auf den Wettlauf vor. Andropolus war unter ihnen. Anna hörte das Trompetensignal, das den Beginn des Wettstreits ankündete. Die Nichte des Papstes hatte Anna soeben gefragt, ob eine ihrer Mägde auf dem Gut imstande sei, ihr zwei Monate altes Kind zu nähren. Sie hatte den Säugling zu dem Fest mitgebracht und erklärte nun unablässig, wie sie sich die Brüste der Amme wünschte. Sie durften nicht zu groß sein. Große Brüste würden sich auf die Nase des Kindes legen und sie flach drücken. Und sie wollte eine junge Magd mit viel Milch. Möglichst eine unverheiratete Frau aus gutem Hause, die einen Bastard hatte, um den sie sich kümmern musste. Es war wichtig, dass der Leib der jungen Mutter so geformt war, dass er an ihren eigenen erinnerte. Anna meinte, dass sie ihr wohl helfen könne. Eine ihrer Mägde hatte kürzlich ein Kind zur Welt gebracht. »Sie hat viel Milch und sieht Euch recht ähnlich«, sagte sie. Dann erhob sie sich und trat ans Fenster, um den Wettlauf zu verfolgen. Die Frau folgte ihr und setzte das Gespräch fort. »Hat sie ein gutes Temperament?«
»Ich denke schon, dass sie das hat«, erwiderte Anna. Sie konnte das nördliche Stadttor sehen, wo Andropolus und seine Mitstreiter sich in einer Reihe aufgestellt hatten, bereit, das Rennen zu beginnen. Sie hatten sich ihrer Kleidung entledigt und standen nackt vor den Zuschauern. Der Papst erheiterte sich vernehmlich über den Anblick der schmächtigen Knabenkörper. Es hatte geregnet. Während die Jungen liefen, klumpte sich der nasse Lehm um ihre Füße. Die Kinder rutschten, fielen und standen wieder auf. Liefen und krochen aneinander vorbei und fielen erneut. Am schnellsten von allen lief Andropolus, dessen Körper über und über lehmverschmiert war. Er rannte, als gelte es sein Leben, und schob sich schließlich an den anderen vorbei. Er gewann. Anna stieß einen Freudenschrei aus, als sie ihn mit hoch erhobenen Armen durchs Ziel laufen sah. »Er hat gewonnen!«, rief sie und klatschte in die Hände. »Er hat gewonnen!« Der Knabe, der drei Schritte hinter Andropolus durchs Ziel kam, war der Sohn einer angesehenen Familie aus Pienza. Er hatte feines Haar und einen anmutigen, zierlichen Körper. Er weinte bitterlich über den entgangenen Sieg und wurde von seiner Mutter getröstet, einer jungen, schönen Frau. Mit einem Tuch putzte sie ihm den Schmutz vom Leib. Als der Kampfrichter die Siegprämie, eine Gans, Andropolus überreichen wollte, rief Lorenzo: »Was fällt dir ein! Er ist nur ein Sklave. Gib sie dem Jungen dort!« Anna beobachtete das Geschehen gemeinsam mit dem Papst. »Die Mutter des Knaben ist eine schöne Frau«, sagte der Papst in trockenem Ton zu den Fürsten, die ihn umringten. Sie lachten. Anna hatte dasselbe gesehen wie der Papst. Lorenzo opferte Andropolus, um der Mutter des Jungen zu gefallen. Sie war nicht zum ersten Mal Zeugin, wie Lorenzo seine
offensichtliche Schwäche für eine andere Frau nicht zügeln konnte. Nicht einmal in der Öffentlichkeit. »Das ist nicht gerecht«, rief Anna, sodass es alle hören konnten. Die Leute auf dem Platz starrten zu dem offenen Fenster hinauf, an dem sie stand. »Das ist nicht gerecht!«, riefen nun auch die Wasserträger und Hirten, die bei Andropolus standen. Alle verliehen sie ihrer Sympathie für Andropolus Ausdruck. Doch es wurde getan, was Lorenzo wollte. Die wenigsten wagten es, sich gegen den Leibwächter des Papstes aufzulehnen.
A
nna und Lorenzo übernachteten im Palast. Lorenzo musste zeitig aufstehen, um die Zeremonie der Treueide vorzubereiten. Andropolus durfte im Zimmer nebenan schlafen. Er hatte sich in ihrem Schoß ausgeweint, bevor er eingeschlafen war. Lorenzo kam spät. Anna konnte ihre Unzufriedenheit über das Vorgefallene nicht verhehlen. »Der Papst war enttäuscht«, sagte sie versuchsweise. »Es ist immer noch mein Sklave, nicht seiner«, entgegnete Lorenzo kurz. Er hatte bis weit in den Abend hinein Gespräche geführt und war nervös wegen des kommenden Tages. Es ging um eine große, jährlich stattfindende Zeremonie, bei der das Vertrauen des Papstes in seine Armee und die Loyalität der Soldaten ihrem Papst gegenüber vor aller Augen verkündet wurde. Lorenzo erzählte, die Königin von Zypern habe ihr Kommen angekündigt. Das würde den Tag besonders anstrengend machen. Er hatte sich entkleidet und stand nackt vor ihr. »Die Königin sucht den Papst voller Verzweiflung auf. Sie und ihre Leibgarde sind aus Zypern geflohen. Dort hat ihr Bruder den Thron erobert und sich mit dem Sultan von Ägypten verbündet, der die halbe Insel beherrscht.« »Die arme Frau«, sagte Anna mitfühlend. »Wie alt ist sie?« »Vierundzwanzig«, antwortete Lorenzo und kroch unter die Bettdecke. Er legte seine Hand auf ihre Brust und sah ihr in die Augen. »Sie heißt Charlotta. Dem Papst ist zu Ohren gekommen, dass sie überaus schön sein soll. Er macht keinen Hehl daraus, wie gespannt er auf sie ist.« »Welche Hilfe erbittet sie vom Heiligen Vater?«
»Geld. Weizen. Wein und Pferde. Sie wurde von venezianischen Piraten ausgeraubt, die ihr alles nahmen, was sie besaß. Sie und ihre Getreuen sind zu Fuß gegangen wie Pilger.« Die bevorstehenden Zeremonien und die Ankunft der Königin waren willkommene Themen für einen späten Abend. Große Ereignisse verdrängten all die kleinen Anliegen, über die Anna so dringend hatte sprechen wollen. Auch waren diese Themen geeignet, die nagende Angst zu vertreiben, die sie wegen ihrer Altartafel verspürte. Hatte der Papst aufgrund der Geschehnisse des Tages die Existenz des Gemäldes vergessen? Lorenzo hatte kein Wort darüber verloren. »Andropolus ist nicht mehr dein Sklave«, sagte sie plötzlich und ohne Vorwarnung. »Er ist ein Mitglied unserer Familie. Ich habe ihm die Freiheit geschenkt. Von nun an ist er dein Sohn.« »Mein Sohn?« Sie spürte, wie seine Hand auf ihrer nackten Brust erstarrte. »Ich entscheide selbst, wer mein Sohn ist.« »Du nimmst ihn in deine Familie auf«, befahl sie. Er lachte. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte aus voller Brust. Sie betrachtete seine Halslinie, ihre Kraft, ihre Stärke. Er hatte den Nacken eines Stiers. Er lachte immer, wenn sie ihm etwas befahl. Sie erinnerte sich, wie er das letzte Mal in ihrem Bett gelegen hatte. Da hatte er vor Angst gezittert. Aus Furcht vor der Dunkelheit. »Mein Sohn? Andropolus? Warum schenkst du mir keinen Sohn?« Er nahm es leicht. Er war guter Laune. Er wollte sich mit ihr vereinigen. Unbeschwert und heiter. Er zeigte keine Spur von Furcht.
»Es ist lange her, dass du mit deinem Heerführer geschlafen hast. Höchste Zeit, dass du mir einen Sohn schenkst«, scherzte er. »Nicht allen Frauen ist es vergönnt, einen Sohn zu gebären.« »Eine habe ich heute gesehen«, erwiderte er neckend. »Das haben wir gemerkt«, sagte sie. »Der Papst ebenso wie ich. Es war ungerecht gegen Andropolus, dass er herhalten musste, weil du eine Schwäche für schöne Frauen hast.« Es wurde still. Eine so treffsichere Antwort hatte er nicht erwartet. »Frauen haben Macht über Männer. Wir sind hilflos dagegen«, sagte er und machte ein zerknirschtes Gesicht, um sie zum Lachen bringen. Er schmiegte sich an sie. »Ich werde vielleicht bald sterben«, sagte er mit plötzlichem Ernst. »Und ich habe keinen Sohn, der mein Erbe antreten kann.« »Was willst du tun? Mich davonjagen? Dir eine neue Gattin suchen?« »Ich dachte, du könntest zu den weisen Frauen gehen und aus den geheimen Quellen trinken. Andere Frauen haben das auch getan.« Anstatt zu antworten, legte sie behutsam den Arm um seinen Nacken. Sie ließ ihre Hand über seinen Rücken gleiten, damit ihre Handfläche ihn wiedererkennen sollte. Sie spürte die weiche Haut über den angespannten Muskeln. Die Narben von Schwertern, die ihm tödliche Wunden hatten beibringen wollen. Muskeln und Narben. Ihre Finger betasteten jede einzelne Erhebung. Während sie das tat, dachte sie: Was soll ich tun, wenn eine andere Frau ihm einen Sohn schenkt? Einen Sohn, der kein Bastard ist, sondern einen Sohn aus einer neuen Ehe?
Er unterbrach ihre Gedanken, indem er ihr Gesicht mit beiden Händen packte und ihr tief in die Augen starrte. Er forderte ein Treueversprechen ein. Völlig überraschend, sein Gesicht dicht über ihrem. »Ich will dich nie wieder ohne meinen Ehering sehen!« Mochte er auch noch so untreu sein, für sie galt dieses Recht nicht. Anna empfand schäumenden Zorn darüber, dass sie so machtlos war. Als kinderlose Ehefrau trug sie nicht zu einer Wertsteigerung seiner Güter bei. Das taten nur Frauen, die einem Mann viele Kinder schenken konnten. Dennoch wirkte er aufrichtig in seiner Liebe zu ihr. Obwohl er sich so über ihre Sankt Agatha erzürnt hatte, merkte sie, dass er immer noch stolz darauf war, sie zur Gemahlin zu haben. Doch ihr war deutlich bewusst, dass er sie jederzeit für eine andere Frau verlassen konnte. Sie hatte nur auf eine einzige Weise zur Steigerung seines Ansehens beigetragen: indem sie dem Papst das Emblem seiner Macht gab. Das hatte die Verbindung zwischen Lorenzo und dem Papst gestärkt. Bald würde sie zu nichts mehr nütze sein, dachte sie, jetzt, wo die Purpurkrüge leer waren. Sein Gesicht war so unmittelbar vor ihrem, dass sie den Dunst von Wein in seinem Atem roch. Sie spürte, wie die Hand, die ihre Taille umschloss, fester zupackte, wie sein Körper sich an ihren drängte, ohne Rücksicht darauf, was sie wollte. Die Nacht war heiß. Durch das offene Fenster hörte sie die Leute auf der Piazza singen, der Geruch von gebratenem Fleisch aus den Zelten vor der Stadtmauer wehte herein. Aber unter den lebhaften Gesängen lag ein klagender Ton. Es war der Wind, der unablässig durch das Tal wehte, wie das leise Wimmern eines Kindes. Er verbreitete trotz Gelächter und Gesang eine unheimliche Stimmung. Der Wind schien nur für sie da zu sein, um Anna an die erste Nacht zu erinnern, die sie
und Lorenzo auf dem Meer miteinander verbracht hatten. In einer Mischung aus Furcht vor dem Sturm und unbezähmbarer Lust hatte sie sich Lorenzo hingegeben. Am darauf folgenden Morgen hatte er sie verlassen, um dem Schiffspriester zu beichten. Sie hatte gelauscht und gehört, dass er sich zur Sünde verführt fühlte, verlockt von der ungehemmten Wollust seiner jungen Gemahlin. Es war sündig, in der Ehe Verlangen zu spüren. Er hatte um Vergebung dafür gebeten, dass Anna ihn dazu gebracht hatte, sie zu begehren, und gleichzeitig hatte er sie vor dem Priester in Schutz genommen und gesagt, dass er seine junge Frau lehren werde, in Zukunft Respekt vor dem Sakrament zu haben. Doch das Unglück war bereits geschehen. Sie hatte Lucrezia in der Nacht empfangen, in der sie ohne Achtung vor dem Sakrament miteinander geschlafen hatten. Das konnte dem Kind ein schweres Schicksal bescheren, hatte Lorenzo ihr erklärt. Anna war nie gelehrt worden, dass es als große Sünde für eine Frau galt, ihre Gefühle zu zeigen. Nach dieser ersten Nacht hatte Lorenzo sie gebeten, ihre Gefühle zu bezähmen, damit sein Begehren nicht geweckt würde. Sie sollte Nein sagen, wenn er sie besitzen wollte, sollte ihm Widerstand leisten, bis sie den Kräften nachgeben musste, die stärker waren als sie. Sie sollte sich während des Beiwohnens schüchtern und züchtig verhalten. Anna hatte sich verschmäht gefühlt. Ein Teil von ihr wurde ins Dunkel verbannt. Ihre Welt entglitt ihr. Eine Welt, in der ihr die Freiheit gegeben war, Freude und Kummer offen zu zeigen, so wie ihre Eltern es sie gelehrt hatten. Vielleicht hatten sie ihr ja etwas Falsches beigebracht, die beiden, die am Ufer standen und dem Schiff nachwinkten, als sie in die Fremde zog. Jetzt waren beide tot, ohne dass sie sie je wiedergesehen hatte. Es hatte ihr viel abverlangt, den Respekt
vor dem Sakrament zu zeigen, den Lorenzo von ihr erwartete. Sie musste das körperliche Glück verheimlichen, das ihr der Beischlaf mit ihm bereitete. Er selbst gab sich keine Mühe, seine Leidenschaft zu zügeln, wenn er mit ihr schlief. Doch sie hörte nie wieder, dass er dem Priester beichtete, solange die Reise nach Italien dauerte. Von dem Augenblick an, da sie sich in Bernardo Rossellino verliebte, hatte ihr Körper sich einer neuen Erkenntnis geöffnet: Ihr Verlangen konnte sich auf einen anderen Mann als Lorenzo richten. Lorenzos Abwesenheit verstärkte das noch. Ihre Gedanken kreisten ständig um die Erfüllung ihrer Sehnsucht nach Liebe. Sie hatte sich retten wollen, indem sie Zuflucht in der Färberei suchte und schließlich in der Tafelmalerei. So nahe war sie ihrer eigenen Finsternis durch das Motiv der leidenden Sankt Agatha gekommen, dass sie einen kleinen Streifen des Lichts darin gefunden hatte. Lorenzo küsste ihren Hals, die Brüste, den Bauch. Sie spürte seine Zunge im Spalt ihres Schoßes, so wie in der ersten Nacht auf dem Meer und seitdem nie wieder. Was wollte er? Sie dazu bringen, abermals gegen das Sakrament zu verstoßen? Sie sah Bernardo vor sich, wie er den Purpurmantel entgegennahm, den sie für ihn gefärbt hatte, und spürte ein süßes Zucken im Leib. Sie schob Lorenzo fort, aber er ließ sich nicht abbringen und begann, andere Teile ihres Körpers zu liebkosen, und es verwunderte sie, dass ihr Körper trotz aller treulosen Gedanken an Bernardo immer stärker auf Lorenzos Zärtlichkeiten antwortete. Bernardos Gesicht verschmolz mit dem von Lorenzo, und eine Lüge folgte der anderen, als sie spürte, dass ihr Körper sich wie ein Bogen gegen Lorenzos Körper spannte. So würde auch Lorenzo morgen lügen, wenn der scharfe Blick des Papstes auf ihm ruhte. Worte der Treue würden gefordert werden, und die Rituale des Körpers würden folgen. Er hatte seine eigene Sprache, um die Lüge zu tarnen.
Sie war die Einzige, die wusste, dass Lorenzo sich vor dem Treueschwur drückte. Sein Herz war bei dem Eid nicht mehr dabei. So wie Lorenzo sich als Verräter gegen den Papst fühlte, so fühlte sie sich als Verräterin, wenn er das Treueversprechen von ihr einforderte. Er war der Heerführer eines künftigen Kreuzzuges, an dessen Notwendigkeit er nicht glaubte. Sie blieb zurück, ohne Purpur und mit einer Heiligentafel, wegen der sie von der Kirche in die Verbannung geschickt werden konnte. Allein der Papst konnte sie retten. Wenn er wollte. Lorenzo drang in sie ein. Er hatte beschlossen, dass sie beide gemeinsam das Sakrament brechen und ihre Sündhaftigkeit genießen sollten. Er wünschte keinen Widerstand, und sie wehrte sich nicht. Sie lag da, mit seinem ganzen Gewicht auf ihrem Leib, und wartete darauf, dass er sie in die Ekstase emporhob. Er trug sie hoch hinauf, aber sie konnte nicht fallen. Etwas in ihr wollte sich nicht fallen lassen, wollte nicht zerbersten. Obwohl er sie besaß, gelang es ihm nicht, den Treuschwur ihres Körpers auszulösen. Sie konnte die Gedanken an die Nacht, als sie nackt am Fenster stand, nicht verjagen. Die Erinnerung kam zurück, stärker als der gegenwärtige Augenblick. Die Nacht, da Bernardos Gesicht vor ihrem inneren Auge eine explodierende Kraft in ihrem Körper freigesetzt hatte. Nur die bloßen Gedanken an seine Gesichtszüge hatten sie hoch emporgehoben und sie dann in ihrem Fall aufgefangen. Beschämt verkroch sie sich in Lorenzos Umarmung. In seinem Griff lebte sie wie im Schatten eines heiligen Berges. Sie schmeckte Tränen. Waren es ihre oder Lorenzos? Sie wusste es nicht. Anna wandte ihr Gesicht zum offenen Fenster und sah hinaus über das Tal. Gegenüber ragte der Monte Amiata auf. Der Mond schien in die Senke und verlieh den Schluchten aus
weißem Ton ein unwirkliches Aussehen. Bleich leuchteten ihr die Anhöhen um Lorenzos Hof entgegen. Bleich und unfruchtbar wie die Wüste und doch voller vulkanischer Quellen, die Heilung bringen konnten. Von diesen Quellen konnten sich Frauen die Fruchtbarkeit holen, um Söhne zu gebären, glaubte Lorenzo. In den Höhlen lebten Wahrsagerinnen und Hexen. Auch unfruchtbare Tiere wurden zu den Quellen gebracht. Le Crete, der elfenbeinfarbene Ton, war dort geformt wie eine Frauenbrust. Wenn sie Wasser aus diesen Quellen trank, konnte auch sie fruchtbar werden. Sie hatte viele Male daraus getrunken. Die Wahrsagerinnen hatten ihr viele Kinder verheißen. Doch es hatte sich nicht bewahrheitet. Ihre Neugeborenen waren nicht lebensfähig gewesen. Sie hatte alle Früchte des Ackers zu den Quellen gebracht, und doch wurden ihr keine Kinder geschenkt, die überleben konnten. Lorenzo ließ von ihr ab, rollte sich auf den Rücken und schlief ein.
S
chwöre«, befahl Papst Pius II. mit weithin hörbarer Stimme. Lorenzo stand direkt vor ihm, eine Fahne vor sich aufgepflanzt. Der Papst hatte darauf bestanden, die Zeremonie selbst zu leiten. Ein Pakt zwischen den beiden. Im nächsten Moment ergriff Lorenzo mit der linken Hand die Fahne und reckte den rechten Arm hoch und gerade nach vorn, drei Finger ausgestreckt. Das Symbol der Heiligen Dreifaltigkeit. »Ich schwöre, dem Heiligen Vater und seinen Nachfolgern treu, loyal und ehrfürchtig zu dienen. Ich werde meine ganze Kraft ausschließlich ihnen widmen und wenn nötig auch mein Leben für ihren Schutz hingeben. Ich gelobe Achtung, Treue und Gehorsam. Das schwöre ich. Möge Gott mir dabei helfen.« Die Feierlichkeiten fanden im Waffensaal des Palastes statt, mit Schwertern und Schilden an den Wänden. Der Papst blickte zufrieden auf seinen Freund hinab. Lorenzo führte ein Heer von gedungenen Söldnern an, und der Papst wusste, dass er sich nur auf sie verlassen konnte, wenn die Autorität ihres Führers stark und ungeschwächt war, dachte Anna. Zu früherer Stunde an diesem Tag hatte der Papst eine Messe für die Soldaten gehalten. Jetzt küsste Charlotta, Königin von Zypern, die Füße seiner Heiligkeit. Anna und Lorenzo und alle Kardinäle waren bei der Audienz zugegen. Sie fand ebenfalls im Waffensaal statt, kurz nach Lorenzos Vereidigung. Der Papst hatte Recht. Die Königin von Zypern war schön. Sie war kleiner als Anna, brünett und nach der neuesten Mode aus Frankreich gekleidet. Sie sprach eindringlich und mit griechischem Temperament. »Heiliger Vater«, begann sie. »Ich glaube, dass das Unglück, welches Zypern befallen hat, Euch nicht unbekannt ist. Die
Ägypter haben mir mein Reich genommen. Sie haben Befehl gegeben, dass alle Kinder außer Landes gebracht werden sollen. Sie zerstören unsere christlichen Tempel, um ihre Religion einzuführen. Mein Bruder hat mich an den Sultan verraten. Mit dessen Unterstützung bestieg er den Thron. Aber mein Bruder wurde getäuscht. Dem Titel nach ist er der König, doch die eigentliche Macht hat der Admiral des Sultans. Auf dem Weg zu Euch, um Eure Hilfe zu erbitten, begegnete ich venezianischen Schiffen. Sie raubten mir all mein Hab und Gut.« Anna bemerkte, wie die junge Frau die Gefühle der Männer in Wallung brachte. »Vom Thron vertrieben, bin ich hierher zu Euch gekommen. Ihr seid der Vater unserer Kirche und das Oberhaupt unseres Glaubens. Es geht Euch an, wenn christliche Erde von den Mohammedanern erobert wird. Falls Zypern fällt, fällt auch Rhodos. Kreta kann sich nicht mehr sicher fühlen. Barbarische Flotten werden Kurs auf Sizilien nehmen. Von den Küsten Ägyptens und Syriens, Kleinasiens und Griechenlands werden sie Italien ins Visier nehmen. Italien ist in Gefahr. Ihr müsst handeln. Ihr müsst ihnen beizeiten entgegentreten, bevor die Reiche im Osten in die Hände des Feindes fallen. Wenn Ihr mir helft, wird es mir nicht an Mut mangeln, in den Krieg zu ziehen. Ich kann meinen Schwiegervater dazu bringen, mir ein Heer zu überlassen. Die Ägypter werden gegen eine abendländische Armee unterliegen. Doch ich muss meinen Schwiegervater in Savoyen bald aufsuchen. Dazu brauche ich Eure Hilfe. Ohne Geld und ohne Pferde kann ich nicht zu ihm gelangen. Ich brauche auch Nahrung und Wein. Ich bin gänzlich in Eurer Macht, Heiliger Vater. Ich werde sterben, wenn Ihr Eure Hand nicht über mich haltet.« Sie brach vor dem Papst in Tränen aus. Eine Frau, die so furchtlos davon sprach, gegen einen gemeinsamen Feind in
den Krieg zu ziehen, zog die anwesenden Männer in ihren Bann, als wäre sie ihresgleichen. Diese Frau, von ihren Eltern dazu erzogen, ein Königreich zu regieren, war willens, dafür in den Tod zu gehen. Sie besaß nichts mehr, doch sie war immer noch eine Königin. Sie brauchte keine Pracht und keinen Pomp, um Autorität zu besitzen, dachte Anna. Sie freute sich darauf, nach der Audienz dieser Frau ihre Sympathie bekunden zu können. »Trockne deine Tränen, meine Tochter, und sei getrost«, sprach der Papst mitfühlend. »Wir werden dich nicht allein lassen. Deine edle Gesinnung ist auch uns bekannt. Was du erfahren musstest, ist ungerecht, aber nicht ungewöhnlich. Ein Thron ist stets gefährdet. Macht ist niemals von Dauer. Das Schicksal, das den einen emporhebt, zerschmettert den anderen.« Anna wiederholte seine Worte im Stillen. Sie hatte etwas mit der Königin von Zypern gemeinsam. Der Papst fuhr fort, über das treulose Fürstentum Savoyen zu sprechen, das sich geweigert hatte, den Kreuzzug gegen die Türken zu unterstützen. »Als dein Gemahl den Po hinaufsegelte, hielt er es nicht für nötig, Uns in Mantua einen Besuch abzustatten. Was er, da er den Ort passierte, leicht hätte tun können. Sowohl dein Schwiegervater als auch dein Gatte haben Uns hintergangen. Meine Kardinäle wissen, dass das Haus Savoyen die Kirche missachtet. Sie wurden gebeten, unsere Religion zu unterstützen, taten es jedoch nicht. Dein Schwiegervater wird Uns auf Knien um Hilfe für seinen Sohn anflehen. Und Wir werden ihm in Gottes Namen helfen. Unsere Vorhersehung hat sich als wahr erwiesen. Gott hat dein Haus und das Haus Savoyen für seine Uneinsichtigkeit gestraft. Du wirst das, worum du gebeten hast, von Uns bekommen.«
Die Königin küsste die Füße des Papstes erneut und zog sich dorthin zurück, wo Anna stand. Sie suchte Annas Hand. Anna drückte die schmalen Finger, die nass von Tränen waren. Der Papst bat Lorenzo, den Hilfeplan in die Tat umzusetzen. Er schlug vor, dass jeder Kardinal ein Pferd abgeben solle. Die Eskorte der Königin bestand aus fünfzig berittenen Männern. Es wurde bestimmt, dass Siena die Lebensmittel bereitstellen solle, wenn die Königin sich in dieser Provinz aufhielt. Dasselbe galt für Florenz und Bologna. In dieser Manier würden auch noch andere beispringen, bis die Königin bei ihrem Schwiegervater in Savoyen angekommen war. Die Königin lehnte ihren Kopf erleichtert gegen Annas Schulter. Sie war zufrieden mit dem Plan des Papstes. Anna spürte, dass Charlottas Wangen heiß waren, und sah, dass ihre Nase vom Weinen geschwollen war. Sie strich der jungen Frau über das lockige Haar. Es war herrlich, zärtlich sein zu dürfen. Sie vermisste Lucrezia. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Königin aber meinte, sie weine um ihretwillen. »Wollt Ihr mich nach Rocca di Tentenanno begleiten?«, fragte sie Anna. »Ich möchte die Märtyrerin Sankt Caterina ehren. Ich weiß, dass sie sich einen Sommer lang in diesem Tal aufhielt, ehe sie nach Rom zu Papst Gregor reiste. Ist es nicht wunderbar, dass Papst Pius sie heilig gesprochen hat?« »Ich werde Euch gern begleiten, Hoheit. Aber fühlt Ihr Euch auch kräftig genug, nachdem Ihr schon so weit gegangen seid?« »Es ist doch sicher nicht mehr als ein Tagesmarsch bis dort hinauf«, antwortete die Königin und lächelte amüsiert. Anna begleitete sie zu ihrem Schlafgemach. Während sie durch die Korridore gingen, vertraute Charlotta sich Anna an.
»Mein Gemahl hat mich im Stich gelassen. Seine Familie in Savoyen hat keinen Finger gerührt, um Zypern zu helfen. Sie verdienen Papst Pius’ Verachtung.« Sie wollte nicht an den Lustbarkeiten teilnehmen, die draußen auf der Piazza für sie veranstaltet wurden. Sie war müde von der langen Reise. So müde, dass sie in den einzigen Kleidern, die sie besaß, zu Bett ging. Ihre Kammerzofe musste sie entkleiden, während sie bereits schlief. Es schien nicht so, als ließe sie sich vom Flötenspiel und dem Gesang der Troubadoure stören. Anna betrachtete die ruhende Königin. Vielleicht träumte sie bereits. Anna stellte sich vor, dass ihre Träume denen der anderen Frau nicht glichen. Sie handelten nicht von süßer Liebe und Unterwerfung. Sie handelten von Strategien, Schlachten und Angriffen aus dem Hinterhalt, von Kriegsschiffen, beladen mit ausreichend Speisen und Wein für ein abendländisches Heer. Sie handelten von Waffen. Vom Tod, der sie in einer Schlacht ereilen konnte. Aber vor allem handelten ihre Träume vom Sieg. Vom Herrscherthron und von politischer Machtübernahme, dasselbe, was auch Lorenzos Träume einst geprägt hatte. Damals, bevor die Angst vor der Dunkelheit kam. Lorenzo hatte heute vielleicht zum ersten Mal eine Frau erlebt, die wie ein Mann dachte. Die sein Wissen über die antike Kriegsführung teilte. Erregte es ihn, einer weiblichen Schönheit zu begegnen, die etwas vom Krieg verstand? Anna fühlte sich von der Begegnung ermuntert und nicht mehr so einsam. Sie hatte beabsichtigt, zu Bett zu gehen, überlegte es sich jedoch anders. Sie wollte mit dem Papst und Lorenzo zusammen sein. Sie wollte still bei ihnen sitzen und beobachten, welche Auswirkungen das Zusammentreffen mit der Königin auf die Männer hatte. Vielleicht wollte Lorenzo die Schwäche der vertriebenen Königin ausnutzen. Sie heute
Nacht aufsuchen. Sie mit Wein locken. Sie verführen. So wie er es mit Anna in ihrer ersten gemeinsamen Nacht getan hatte. Der Heerführer des Papstes war der Mann, den Charlotta jetzt besonders brauchte. Anna kehrte zum Waffensaal zurück. Sie war beunruhigt über die Art, wie der Papst sie in der Kirche unbeachtet gelassen hatte, nachdem sie verkündet hatte, dass ihr Vorrat an Purpur erschöpft war. Sie wollte ihm von der Pflanze berichten, die in den Gefilden wuchs, wo auch das alaunhaltige Gestein vorkam. Vielleicht würde er ihr eine Schar Männer zuteilen, die sie durchs Gebirge begleiten und mit ihr nach dem Kraut suchen konnten. Sie hatte das sichere Gefühl, dass es irgendwo an der Küste Alaun gab. Als sie den Waffensaal betrat, hörte sie, wie Lorenzo seine Theorie über die Konstellation der Sternbilder und ihren Einfluss auf den Gang der Geschichte verfocht. Der Papst war wie üblich nicht interessiert an Astrologie. Er begann stattdessen über sein Verständnis der menschlichen Natur zu sprechen. Die Männer bemerkten nicht, dass Anna zurückgekommen war. Sie blieb an der Tür stehen, wo sie die beiden aus einigem Abstand beobachten konnte. »Die menschliche Natur hat sich nicht geändert«, dozierte der Papst. »Die Menschen haben zu allen Zeiten eine Gier gehabt, die ihre Fähigkeiten übersteigt. Sie sind von Natur aus unzuverlässig, begehrlich, unüberlegt, feige und nicht in der Lage, etwas Gutes zu tun, wenn sie nicht dazu gezwungen werden. Sie verwinden schneller den Tod ihres Vaters als einen Verlust ihres väterlichen Erbes.« »Sie ist schön. Ihr hattet Recht«, sagte Lorenzo leise. »Die Königin?« »Schöner, als ich es mir vorgestellt hatte.« »Und nicht ohne Charme«, nickte der Papst.
Anna spürte eine Intimität zwischen ihnen, aus der sie ausgeschlossen war. Hier saßen nicht ein Papst und sein Leibwächter. Sie waren zwei Rivalen, die sich zu derselben Frau hingezogen fühlten. Der Papst hob das Weinglas. »Wenn du eine Frau siehst, dann denke, dass du den Teufel siehst.« Lorenzo blickte ihn überrascht an. »So etwas hättet Ihr früher nie gesagt«, entgegnete er. »Ich bin älter geworden. Leidenschaft ist nichts für alte Knaben. Sie haben ihre Kraft verloren. Wir sind zu schwach, um es mit ihnen aufzunehmen. Die Frau ist mehr Körper als Geist.« »Meint Ihr, dass die menschliche Natur bei Frauen eine andere ist?« Lorenzo sah den Papst an. »Glaubst du an den Treueschwur einer Frau?«, fragte der Papst. »Glaubt Ihr an meinen?«, fragte Lorenzo zurück. »Wenn wir die Spahis und Janitscharen aus dem Heer des Sultans mit erhobenen Krummsäbeln auf uns zustürmen sehen, wird sich zeigen, wie wahrhaftig deine Treue ist. Dann wird es an den Tag kommen, ob Treueschwüre nur hohle Rituale sind.« Anna trat zu ihnen und stellte sich vor sie hin. »Ist das wahr? Sieht Eure Heiligkeit bei meinem Anblick einen Teufel?« »Ich sehe eine Frau, die keine Möglichkeit hat, mein Begehren zu erfüllen.« »Wollt Ihr mir erklären, was das bedeutet?« »Das bedeutet, dass die Quelle des kaiserlichen Purpurs versiegt und meine Macht geschmälert ist. Ich begehre den echten Purpur. Du sagst, er sei erschöpft. Du hast deinen Treueschwur gebrochen und die Farbe verschwendet. Ich
besitze kaum noch genug Purpursekret, um den Sieg über Sultan Mehmet an dem Tag zu feiern, an dem ich als Pontifex Maximus auf dem Capitol stehen werde.« Die Stimme des Papstes war unbewegt. Ganz ohne den warmen Ton, den sie sonst immer gehabt hatte, wenn er mit ihr sprach. Anna sah zu Lorenzo. Er schickte ihr einen bekümmerten Blick, als er hörte, dass der Vorrat an Purpursekret zur Neige gegangen war. Er schlug die Augen nieder und wandte das Gesicht ab, als sie dem Papst antwortete. »Eure Heiligkeit wird sich in Zukunft an Cosimo de’ Medicis Färbereien wenden müssen, um Purpurmäntel zu bestellen«, sagte Anna. »Schweren Herzens. Cosimo de’ Medicis Farben stammen von Pflanzen, nicht von der Murex-Schnecke. Seine Färber sind auf den Alaun der Türken angewiesen, damit die Farbe sich mit dem Garn verbindet. Medici macht den Sultan reich. Ich gedenke nicht, den Sultan noch reicher zu machen. Deshalb werde ich von Cosimo de’ Medici keine gefärbte Wolle und Seide beziehen«, entgegnete der Papst. »Es tut mir Leid, dass ich Euch nicht helfen kann«, sagte Anna. »Jedes Jahr nehmen die Türken den italienischen Färbern mehr als dreihunderttausend Dukaten für den Alaun ab. Die Welt liegt ihnen zu Füßen«, fuhr der Papst fort. Anna fühlte sich verloren. So verloren, dass sie es nicht über sich brachte, das auszusprechen, weswegen sie gekommen war: dass sie glaubte imstande zu sein, mithilfe einer Pflanze Alaun in italienischer Erde zu finden. Es war ja richtig, was er sagte. Sie hatte ihr Treueversprechen gegenüber dem Vatikan gebrochen und alles verbraucht. Derartig zwischen Pius und seinem Leibwächter zu stehen gab ihr das Gefühl, nichtig zu
sein. Offenbar sah der Papst das genauso. Er wandte sich wieder Lorenzo zu, als wäre sie gar nicht mehr zugegen. »Für die Zukunft wünsche ich, dass die Kleider der Kardinäle scharlachrot gefärbt werden. Purpur soll der Fastenzeit, dem Advent und den Konklaven vorbehalten sein. Nur der Papst hat das Recht, sich in königliches Purpur zu kleiden.« Stille, die einer Strafe gleichkam, senkte sich herab, nachdem der Papst seine Entscheidung verkündet hatte. »Ich habe das Tafelbild deiner Gemahlin gesehen, von dem alle reden.« Lorenzo errötete und seine Augen sprühten Funken, als er Anna ansah. »Die Kardinäle berichteten mir, dass die Brustwarzen der heiligen Agatha bei einem Wechsel des Lichts ihre Farbe verändern. Dass sie eine obszöne Färbung annehmen, die einen Mann auf wollüstige Gedanken bringt. Ich habe es nicht geglaubt, bis ich es mit eigenen Augen sah. Es stimmt, die Kardinäle hatten Recht.« Der Papst würdigte sie keines Blickes, während er sprach. Er hatte sich von ihr abgewandt. Als ob sie für ihn nicht mehr existierte. Der Traum von Vergils »Dido und Aeneas« war dahin. Sie reizte ihn nicht zu großen Träumen von Liebe und Krieg. Der Papst sah Lorenzo geradewegs in die Augen. Als wollte er ihn für die Tafel verantwortlich machen, die sie gemalt hatte. »Es ist eine Sache, einen Sklaven auf freien Fuß zu setzen, der zu Unrecht im Kerker saß. Etwas ganz anderes ist es, sich mit Frauen zu befassen, die dem rechten Glauben nicht mehr folgen«, fuhr er fort. Plötzlich stöhnte er auf und griff sich ans Bein. Er hatte Schmerzen. Seine Beine waren angegriffen, seit er als junger
Mann barfuß nach England gepilgert war. Die Krankheit würde zu seinem Tod führen, hatte Lorenzo ihr anvertraut. »Ihr werdet sicher verstehen, Heiliger Vater, dass man als junger Mensch Kräfte in sich hat, die nach der Wahrheit streben und nicht nach äußerer Pracht. Vielleicht sind es diese Kräfte, die Euch an den Teufel denken lassen, wenn Ihr seht, dass eine Frau dieselbe Lust, dieselbe Kraft besitzt wie ein Mann«, sagte Anna. Der Papst sah sie ohne Mitgefühl an. »Ich dachte, Hexen gäbe es in Savoyen. Ich möchte ungern auch hier welche entdecken. In meiner eigenen Vaterstadt.« »Will der Heilige Vater damit sagen, dass meine Gemahlin eine Hexe ist?«, brauste Lorenzo auf, ohne Rücksicht auf die Rangordnung. Der Papst wechselte in einen humorvollen Tonfall. »Kennst du nicht mehr den Unterschied zwischen Scherz und Ernst?«, entgegnete er und lachte. »Es ist gut, dass niemand hier ist und uns hört«, sagte Lorenzo. »Zu viel Wein kann die Zunge dazu bringen, ernst zu sprechen, wenn sie zu scherzen meint.« »Zurück zu dem Treueschwur, den du heute abgelegt hast. Welche Bedeutung würde er haben, wenn ich deine Gemahlin für eine Hexe hielte? Würde er noch immer gelten?« »In ein solches Dilemma würdet Ihr mich nicht bringen. Jetzt geht der Scherz zu weit.« »Lorenzo. Du hast doch auch Gott dem Allmächtigen Treue in der Ehe gelobt. Was wird aus deiner Loyalität, falls es mir einfiele, sie der Ketzerei schuldig zu sprechen?« Lorenzo starrte schweigend vor sich hin und blickte dann vom Papst zu Anna. »Sie steht doch hier vor uns. Ihr seht selbst, dass sie nicht aussieht wie die Hexen aus Savoyen, von denen Ihr so oft
sprecht. Sie hat Euch alles gegeben, was sie an Purpur besaß, und Euch gedient, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.« »Ich habe sie nicht gebeten, die heilige Farbe damit zu vergeuden, dass sie einer heiligen Märtyrerin teuflische Brustwarzen malt«, wandte der Papst ein. »Ich habe die Tafel studiert. Ich habe sie in meinen Besitz genommen. Sie steht in meinem Schlafgemach. Es ist richtig, was die Kardinäle sagen. Wenn ich die Sonne auf die Tafel scheinen lasse, wechselt die Farbe zwischen Purpur und Scharlachrot, um dann in Hyazinth überzugehen. Sie verändert sich mit dem Licht. So wie das Geschlecht der Ungläubigen gefärbt ist, so hat deine Frau das einer frommen Heiligen gemalt.« »Der Ungläubigen?« »Geschlechtsteile und Brustwarzen der türkischen Frauen sind beinahe blauschwarz. Das weißt du doch am besten, der du dich so gern bei Wahrsagerinnen und Sklavinnen aus Asien aufhältst, Frauen, die allein zum Vergnügen der Männer bestimmt sind.« Es wurde still in dem großen Saal. Hohe Fenster eröffneten den Blick über das herrliche Tal. Anna sah hinaus und fand Trost im Anblick des heiligen Amiata-Gebirges. Sie verstand. Sie lebte im Schatten von allem, was heilig war. »Worüber wir sprachen, war die armselige Natur des Menschen«, fuhr der Papst fort. »Weil die Menschen eine Gier in sich tragen, die ihre Fähigkeiten übersteigt, werden sie unzuverlässig, begehrlich, unüberlegt, feige und sind nicht in der Lage, etwas Gutes zu tun, wenn sie nicht dazu gezwungen werden. Deshalb: Was ist mit deinem Schwur, Gottes Stellvertreter auf Erden Treue zu leisten, wenn deine Gemahlin als Hexe verurteilt wird? Schwörst du ab, oder gilt dein Versprechen auch dann noch?« »Ein Treueeid auf den Papst kann von nichts Weltlichem auf dieser Erde gebrochen werden. Falls so etwas geschehen sollte,
würde ich Eure Heiligkeit bitten, meine Ehe zu annullieren. Das wird meine Gattin verstehen«, sagte Lorenzo und warf einen schnellen Blick zu Anna. Es lag Bedauern darin. Ein Zeichen, dass sie sich Kräften ausgesetzt hatte, die außerhalb seines Einflusses lagen. Sie wandte die Augen von den beiden ab und fasste die Waffen in den Blick, die an den Wänden hingen. Einen Moment lang kam es ihr so vor, als seien sie dort platziert worden, um sich gegen sie zu richten. »Ich bin keine Hexe, Heiliger Vater. Ihr selbst habt in Eurer Jugend Tabus gebrochen. Ihr habt so schön über Lucrezia geschrieben, dass jeder sie liebte. Ihr tratet so überzeugend für ihre Sache ein, dass ich fühlte, Ihr wart auf Lucrezias Seite, wenn sie ihren Gefühlen folgte. Ihr machtet es verständlich, dass sie das Treueversprechen an ihren Gemahl brechen musste. Eure Heiligkeit verteidigte eine Frau, die sich gegen die heilige Ehe versündigte. Mit diesem Buch habt Ihr selbst Grenzen überschritten. Allein aus diesem Grund war ich mir sicher, dass Ihr auch jetzt einen Verstoß gegen die Regeln der Malerei verteidigen würdet.« Der Papst war rot vor Zorn, als er antwortete: »Ich verbiete dir ein für alle Mal, von den Büchern meiner Jugendjahre zu sprechen. Ich habe dir befohlen, den jungen Aeneas zu vergessen und dich an Papst Pius zu halten. Du aber erdreistest dich wieder und wieder, dagegen zu verstoßen. Du missbrauchst meine Güte, die du als Gemahlin meines Heerführers so großzügig genießt.« Der Papst wandte sich Lorenzo zu. »Deine Gemahlin ist vom heiligen Abendmahl suspendiert. Von diesem Augenblick an ist sie aus der Gemeinschaft ausgestoßen und wird als Hexe betrachtet.« Anna wich einen Schritt zurück.
Er hob die Hand, als wollte er sie an einer Entgegnung hindern. Doch sie war nicht gewillt, sich hindern zu lassen. »Eure Heiligkeit schickt mich in den kleinen Bann?«, fragte sie mit ungläubiger Stimme. »Das geschieht, um den Treueschwur deines Gemahls auf die Probe zu stellen«, erwiderte er. »Um meine Theorie zu beweisen, dass die Menschen immer eine Begierde in sich tragen, die ihre Fähigkeiten übersteigt.« »Ich glaube, Ihr irrt.« »Das wird sich daran zeigen, wie du zu sühnen gedenkst«, entgegnete er. Anna kniete nieder und küsste die Füße des Papstes, ehe sie ging, um den Saal zu verlassen. Lorenzo erhob sich nicht, um ihr zu folgen. Er blieb sitzen, um nach verborgenen Feinden Ausschau zu halten, die den Papst angreifen könnten. Er, der die höchste Macht auf Erden besaß, hatte sie exkommuniziert. Sie war ausgestoßen. Unbeschützt und vogelfrei. Wer immer ihr nach dem Leben trachten wollte, konnte das unbehelligt tun. Die Kirche, die ihr Leben von der Geburt bis in den Tod umspannte, war ihr verschlossen, und die Pforte des Paradieses war zugesperrt. So wie es schließlich Adam ergangen war. Während sie zur Tür ging, hörte sie, dass der Papst sich an Lorenzo wandte, in einem Ton, als sei nichts geschehen. Sie hörte ihn sagen, dass er nach Petriolo reisen wolle, um in den heißen Quellen zu baden. Er erhoffe sich davon eine Linderung seiner Schmerzen in den Beinen. Als er keine Antwort erhielt, fragte er Lorenzo, ob die Pest nach wie vor in Rom wütete. Lorenzo erwiderte, dass dem so sei. Sie hörte, dass seine Stimme zitterte, als er dem Papst antwortete. »Ich kehre nicht in den Vatikan zurück, bevor die Pest ganz vorbei ist«, sagte der Papst, als Anna die Tür öffnete und an den Wachen vorbeiging, die Posten bezogen hatten.
Sie hatten alles gehört. Anna sah es ihnen an. Als die schwere Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wusste sie, dass sie weder Lorenzo noch den Papst jemals Wiedersehen würde.
D
ie Königin von Zypern würde sich vermutlich wundern, sie am nächsten Tag nicht im Palast vorzufinden, dachte Anna. Mit Liam und Andropolus ritt sie durch die Dunkelheit nach Hause. Scham überkam sie bei dem Gedanken an die Demütigung. Sie sah die Enttäuschung der Königin deutlich vor sich. Nie zuvor hatte sie bemerkt, dass die Nächte des Südens so dunkel waren. Sie hörte Liam weinen. Er ritt ein Stück hinter ihr. Sie wandte sich um. Im Schein der Öllampe sah sie ihn zusammengesunken auf dem Pferd sitzen. Sie hielt an, um auf ihn zu warten. Sein Gaul wollte sich kaum vorwärts bewegen. Anna wusste, dass Liam sich von der Kirche ausgestoßen fühlte, weil sie ausgestoßen war. Andropolus hielt sich dicht an ihrer Seite, so als wäre er ihr neuer Wächter. Er stellte sich beschützend vor ihr Pferd, als er hörte, dass hinter ihnen Reiter nahten. Sie sah, wie er ein Messer aus dem Mantel zog. »Einer von Herrn Lorenzos Soldaten gab es mir nach dem Wettlauf, weil ich die Gans nicht bekommen habe«, flüsterte er stolz. Sie ließen die Reiter passieren. Anna erkannte in ihnen Lorenzos Kammerdiener. Sie sah die Männer in Richtung des Hofes reiten. »Was wollen sie dort mitten in der Nacht, und warum haben sie solche Eile?«, fragte Andropolus erstaunt. »Vielleicht verschließen sie die Türen vor uns, sodass wir nicht mehr hineinkönnen«, sagte Liam ängstlich. »Sie sollen wohl das Gesinde darauf vorbereiten, dass ihre Herrin eine Ausgestoßene ist«, erwiderte Anna. Doch sie glaubte nicht, dass Lorenzo sie des Hofes verweisen würde. Als sie sich dem Gut näherten, ritten die Kammerdiener wieder durch das Tor hinaus. Nun hatten sie schwer beladene
Saumpferde bei sich. Als Anna und ihre Getreuen das Tor erreichten, kamen ihnen die Knechte und Mägde mit Fackeln entgegen. Sie kannten bereits die ganze Geschichte. Lorenzo hatte bestellen lassen, dass es Annas Pflicht sei, die Bewirtschaftung des Hofes weiterhin zu leiten, bis sie einen anderen Bescheid bekäme, und dass Gesinde und Sklaven ihr in allem zu gehorchen hätten. Die Leute auf dem Hof waren zu abergläubisch, als dass so etwas möglich sein würde. Sie fragte sich selbst, wie sie es fertig bringen sollte, einen Gutshof zu leiten, wo sie doch dazu verurteilt war, außerhalb der Gemeinschaft zu leben. Nicht einmal die Achtung ihrer eigenen Sklaven würde sie genießen. Verachtung, wohin sie auch sah und ging. Wer würde einer ausgestoßenen Frau gehorchen, die beschuldigt wurde, eine Hexe zu sein? Der Hofverwalter stand vor ihr. Sein Blick war gleichmütig wie immer. Er war es gewohnt, ihr zu gehorchen. Lorenzo hatte nie Zeit gehabt, sich um etwas anderes zu kümmern als das Heer und den Papst. Sie war Padrona und Padrone zugleich, in Wirklichkeit gehörte ihr dieser Hof. Aber bald würde die Auflösung ihrer Ehe sie von dieser Aufgabe entbinden. Eine neue, gebärfreudige Frau würde auf das Gut kommen, bevor das Jahr um war. Als sie in ihr Schlafgemach trat und sah, dass die Türen ihres Kleiderschranks offen standen, begriff sie, dass Lorenzos Kammerdiener wenig Zeit gehabt hatten. Überall lagen Kleidungsstücke verstreut. Sie hatten ihren Kleiderschrank geleert und das meiste mitgenommen. Die französischen Roben aus Seide und Brokat waren fort und die Geschenke, die Lorenzo ihr von seinen Reisen an den französischen Königshof mitgebracht hatte. Fort war auch der Schmuck, die Perlen und Topase, die sie von Lorenzo bekommen hatte, nachdem er in Konstantinopel gewesen war. Lediglich das Diadem, das sie
von ihrer Mutter bekommen hatte, als sie ins Kloster ging, lag noch in dem vergoldeten Kästchen. Sie nahm ihren Ehering ab und legte ihn dazu. Sie versuchte, Ordnung zu schaffen. Im Schrank standen Lucrezias rote Schuhe. Sie hob sie hoch und betrachtete das Farbenspiel der Seide. Sie waren türkischrot gefärbt. Die Seidenfäden waren mit einer Mischung aus türkischem Alaun und Salzen aus Rotwein gebeizt. Wenn es ihr gelungen wäre, salzhaltige Gesteinsarten zu finden, wäre sie nach wie vor die Färberin des Papstes. Die Schuhe in der Hand, ging sie ans Fenster. Sie stellte sie auf die Fensterbank und ließ den Mond darauf scheinen, während sie hinauf nach Pienza blickte. Fackeln erhellten Kirche und Palast. Der Duft des Sommers hing in der Luft. Aus der Ferne hörte sie Lachen und Gesang. Das Fest in der Stadt war noch nicht vorüber. »Was wirst du tun, wenn du kein Schneckensekret mehr hast?«, hörte sie Lucrezias Stimme in ihrem Kopf. Sie erinnerte sich noch genau, wie ihre Stimme geklungen hatte in der Nacht, als sie im Garten saßen und hinübersahen zum Rocca di Tentenanno. Was würde sie tun?, fragte sie sich. Den salzhaltigen Stein finden? Sie hatte Bernardos Mantel übereilt gefärbt. Das schöne Gefühl beim Berühren des Stoffes, der ihn ehren sollte, hatte sie allzu großzügig mit dem Schneckensekret umgehen lassen. Ohne daran zu denken, dass der Vorrat in den Krügen abnahm, hatte sie den Mantel mit dem kostbaren Sekret getränkt. Und immer noch fand sie die Purpurfarbe nicht strahlend genug. Sie wandte sich mit dem Rücken zum Fenster. Das Zimmer lag in Mondlicht gebadet. Ihr Blick fiel auf die kreideweiße Eichentafel, die auf dem Tisch lag und auf ein neues Motiv wartete. Bei Sonnenaufgang würde sie vergoldet sein. Ihr Kopf
war erfüllt von so vielen Motiven, die dargestellt werden wollten, mithilfe von allen Farben, die ihr zur Verfügung standen. Erschöpft sank Anna auf ihre Bettstatt. Sie schlief schnell ein und träumte, dass Lorenzo nach ihr rief. Im Halbschlaf stand sie auf und ging nach draußen. Es war heller Morgen. Sie lief zwischen Hecken und Zypressen hindurch. Sie lief dorthin, von wo aus sie ihn im Frühling gesehen hatte, als er mit dem Papst zusammen am Ufer der Orcia stand, umgeben von Rittern, Kardinälen und Maultiertreibern, die in rote Mäntel mit weiten Kapuzen gekleidet waren. An dem Morgen, als sie darauf wartete, dass der Papst kommen würde, um Lucrezia zu segnen. An eine Zypresse gelehnt blieb sie stehen; von hier aus konnte sie das ganze Tal überblicken. Sie hörte die Töne einer Flöte, doch am Flussufer war niemand zu sehen. Dafür sah sie auf der Via Perugina einen Zug junger Pagen, gekleidet in Silberbrokat und mit Federbüschen auf dem Hut, angeführt von einer Gruppe Reiter in scharlachrotem Samt mit Goldbordüren, Messinghelmen und vergoldeten Schwertern. Hinter dem päpstlichen Hofstallmeister, den Kammerdienern der Kardinäle und rot gekleideten Schildknappen ritten Adelige aus den vornehmsten Fürstenhäusern Roms, gefolgt von der päpstlichen Garde in Harnisch und schimmernden Helmen. Dann, in einer Sänfte, Seine Heiligkeit, eingehüllt in kostbare goldene und rote Stoffe, und hinter ihm Soldaten mit zehn Maultiergespannen. Begleitet von Flötenspiel bewegte sich der Zug auf die Brücke zu. Umgeben von Schildknappen im roten Wams ritt eine Frau. Sie trug Annas Kleid aus Brokat und Seide. Um ihren Hals glitzerten Edelsteine. Es war Charlotta. Vor ihr ritt der Heerführer des Papstes. Von ihm wurde Charlotta sicher nach Rocca di Tentenanno geführt, um dort zu
verweilen, wo die heilige Caterina einen Sommer lang gelebt hatte. Anna kehrte zurück ins Haus, ging wieder zu Bett und lauschte der Stille. Ihr Blick fiel auf einen Wandteppich, der eine liebliche Landschaft zeigte. Eine Gruppe Frauen und Kinder, bewacht von Soldaten, hatte sich an einem Flussufer niedergelassen, um zu speisen. Ein Pfarrer im Priestermantel stand ein wenig abseits und beobachtete sie. Herbst kam. Papst Pius und Lorenzo kehrten im Anschluss an ihre Pilgerreise zum Rocca di Tentenanno nach Pienza zurück. Anna hörte, dass sie auch die vulkanischen Bäder in Petriolo besucht und Charlotta nach Siena begleitet hatten. Dort trennten sie sich von der Königin, die nach Savoyen weiterreiste. Anna bekam keine Nachricht von Lorenzo. Sie kümmerte sich um die Traubenlese und die Lagerung des Traubensafts in Eichenfässern. Zu ihrem Erstaunen verliefen die Arbeiten genauso wie immer. Das Gesinde erwies ihr denselben Gehorsam und Respekt wie zuvor. Die Frauen traten den Wein und sangen dabei. Die weißen Maremma-Ochsen zogen Wagen voll beladen mit Trauben. Singende Burschen trieben das Vieh über die Felder, und die Mägde gingen ihnen mit Körben voller Brot und Wein entgegen. Anna nahm die Mahlzeiten nicht mehr mit ihnen gemeinsam ein, saß nicht mit ihnen zusammen und brach das Brot und trank auf ein gutes Weinjahr. Sie blieb für sich allein. Ging ins Haus, wenn der Nachmittag anbrach und die Wolken sich um das AmiataGebirge zusammenzogen. Schloss die Läden vor den Fenstern, wenn der Wind durch das Tal fegte und der Regen auf Äcker und Olivenhaine niederprasselte. Sie versuchte eine Altartafel für die hofeigene Kapelle zu malen. Es lag nichts Widersetzliches in dem Bild, kein Aufbegehren gegen die strengen Vorschriften der Tafelmalerei. Dennoch schimmerte
Lucrezias Antlitz durch die Gesichtszüge der Heiligen Jungfrau. Bevor sie am Abend zur Ruhe ging, pflegte sie vor die große Eichentür zu treten, die das Castello mit la fattoria verband, dem Haus, das wie ein Flügel an das Hauptgebäude anschloss und in dem sich die Lagerräume für die Oliven befanden, der Pferdestall, die Schmiede, die Ochsenkarren für Weizen, Wein und Trauben. Sie ging bis zu dem dunklen Raum, in dem die Kinder des Gesindes unterrichtet wurden. Hier roch es nach einer Mischung aus süßer Milch und Urin. Die Nonne, die dort inmitten der Kinder saß, erhob sich und knickste vor ihr, als sie hereinkam. Doch anstatt zu verweilen und ein paar Worte zu wechseln, schritt Anna vorbei. Sie war auf dem Weg in den Weinkeller. Nicht, um die Gärung des Weins zu kontrollieren, sondern um sich abermals zu versichern, dass wirklich nichts mehr von dem heiligen Purpursekret übrig war. Jedes Mal ging sie gleichermaßen enttäuscht wieder nach oben. Ihre Macht hatte auf einer winzigen Schnecke beruht. Ein letzter Krug hätte ihr Absolution bringen können. Ein Rest, den der Papst verwenden wollte, wenn er seinen Sieg über Mehmets Konstantinopel feierte. Sie fand nichts. Sie hatte nur noch sich selbst. Anna ging von Raum zu Raum. In der Gerberei fand sie Rückstände von Alaunbeize in einer Flasche und ein wenig Krappwurzelextrakt auf dem Boden eines Kruges. Sie stellte die Gefäße wieder hin und setzte ihre Wanderung fort. In der Schmiede blieb sie stehen und sah sich um. Sie hob vorsichtig eine Speerspitze hoch und hielt sie in der Hand, bis das Metall warm wurde. Plötzlich wandte sie sich um, die Speerspitze fest umschlossen. Sie war nicht mehr hier gewesen, seit sie Lucrezia blutend auf dem Steinboden fand. An diesem Abend reagierte sie nicht auf den Hilferuf einer der Sklavinnen. Die Frau lag in den Wehen, und
normalerweise ging Anna um zu helfen, wenn die Geburt schwierig war. Aber heute blieb sie in ihrem Bett liegen, die Speerspitze in die Faust gepresst, bis sie spürte, wie sie sich in ihre Hand bohrte. So lag sie da und starrte an die Zimmerdecke und hörte die Schreie der Sklavin, die nach und nach schwächer wurden. Die Mägde berichteten am nächsten Morgen, dass die Sklavin und ihr Kind, ein Mädchen, bei der Geburt gestorben waren.
Die Tage verstrichen, ohne dass ein Bote von Lorenzo kam. Die gefürchtete Nachricht blieb aus. Mit der Zeit wurde der Vorfall zwischen ihr und Papst Pius immer unwirklicher. Der Ausschluss vom Abendmahl und die Drohung, die Ehe zu annullieren, erschienen ihr wie ein böser Traum. Das Gerücht, in Pienza habe die Pest zwei Opfer gefordert, versetzte die Menschen auf dem Hof in Angst. Anna sammelte heilende Kräuter und besuchte sie, um sie zu beruhigen. Sie bat Liam, mit Weihrauch von Haus zu Haus zu gehen. Er reinigte die Häuser, betete und segnete Bedienstete und Sklaven, die darin wohnten. Der Ausbruch der Pest beschleunigte die Rückreise des Papstes nach Rom. Die Bediensteten des Gutshofes stellten sich am Wegesrand auf, winkten mit Olivenzweigen und riefen Seiner Heiligkeit und den Soldaten »Viva! Viva!« zu, als er in seiner Sänfte an ihnen vorübergetragen wurde. Anna beobachtete, wie der Zug sich in Richtung Süden zur Via Francigena bewegte. Lorenzo ritt an der Spitze seiner Männer. Keinen einzigen Blick warf er hinauf zu seinem Hof.
D
ie Olivenernte begann. Unter den Olivenbäumen wurden Netze gespannt, damit die Ölfrüchte weich fielen. Es war ein kalter Novembertag. Frostige Nebel senkten sich vom Gebirge herab. In der Ferne konnte Anna zwei Reiter ausmachen. Sie galoppierten auf den Hof zu, ohne Rücksicht auf die Sperren, die aufgestellt worden waren, damit niemand aus der Stadt die Seuche verschleppen konnte. Die Reiter wollten zu ihr. Liam hatte sie ebenfalls gesehen. Andropolus schrie und kam zu ihr gelaufen. »Versteckt Euch im hohlen Baum, Herrin! Schnell!« Als sie keine Anstalten machte, wandte er sich an Liam. »Tut etwas, Liam!«, rief er. Vielleicht kamen die Soldaten, um sie nach Rom zu bringen und sie der Inquisition zu übergeben. Ein Kind, das mit seiner Mutter zwischen den Olivenbäumen stand, begann zu weinen. Alle starrten den Reitern in Söldneruniformen entgegen, die sich rasch näherten. »Geht ins Haus und verschließt die Türen«, rief Anna dem Gesinde zu. Sie selbst lief die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Dort stand sie am Fenster und hörte, wie die Pferde näher kamen. Ihr Blick wanderte über die Kastanienwälder, die sich das heilige Gebirge hinauf erstreckten und die einst die Römer mit Galeeren für den zweiten Punischen Krieg versorgt hatten. Große kahle Holzeinschläge erinnerten sie an die Bäume, die nun auch wieder gefällt worden waren, um zu Kriegsschiffen zu werden. Unten im Tal sah sie die Via Francigena, den Pilgerweg. Die Reiter hatten den Hofplatz erreicht und zügelten ihre Pferde. Es wurde still. Nur das vertraute Geräusch des schweren, von einem Esel bewegten Mühlsteins, der die
Oliven zermahlte, durchbrach die Stille. Der Esel ging noch eine Runde um den Brunnen, dann hielten die Soldaten ihn an. Liam rief ihren Namen. Er kam zu ihr mit dem Brief in der Hand, der verkündete, dass ihre Ehe aufgehoben war. Sie wurde beschuldigt, das heilige Sakrament gebrochen und Lorenzo unter falschen Voraussetzungen in die Ehe gelockt zu haben. Von diesem Augenblick an war ihre Ehe ungültig. Die Unterschrift des Papstes besiegelte das Urteil. Sie konnte den Hof nicht verlassen, bevor die Olivenernte beendet war. Die Früchte mussten rasch in die Presse, damit das Öl von jungfräulicher Qualität war. Außerdem mussten die Ernteerträge zwischen Gutsbesitzer und Arbeitern aufgeteilt werden, bevor sie fortgehen konnte. Alles musste seine rechte Ordnung haben, damit keine Unzufriedenheit und Aufwiegelei unter den Bediensteten, Landarbeitern und Sklaven ausbrach. In Lorenzos Brief stand, dass sie auf einem seiner kleineren Höfe weiter oben im Tal wohnen sollte. Die Erträge aus der Bewirtschaftung sollte sie zur Hälfte dem Gut abliefern, so wie es für Pachtbauern üblich war. Das Geräusch des vom Esel bewegten Mühlsteins hielt Anna bis tief in die Nacht wach. Irgendwann schlief sie ein, erwachte aber davon, dass sie träumte, unter den Mühlstein geraten zu sein. Der Esel zog seine Bahnen um ihr Bett. Er war mit einem Seil an einem Pfosten ihres Bettes angeleint und zog Lucrezias Sarg hinter sich her. Es war ihre letzte Nacht in diesem Haus. Sie erhob sich, warf einen Mantel über und ging zu Lucrezias Grab, um Abschied zu nehmen. Sie stellte einen Korb mit Lorbeer neben das Grab.
A
nna packte alles, was sie besaß, in Körbe und Kisten, die auf Esel und Karren geladen wurden. Obwohl die Purpurkrüge leer waren, ließ Anna sie aus dem Weinkeller holen und auf einen Karren stellen. Die Gehäuse der NucellaSchnecken legte sie vorsichtig zwischen Leinentücher, damit sie keinen Schaden nahmen. Die Flasche mit dem Rest Alaunbeize und den Krug mit dem Extrakt der Krappwurzel legte sie dazu. Die Sträuße von getrocknetem Lavendel und allerlei Kräutern packte sie in Kisten. Sie nahm Lucrezias Kommunionskleid und packte es zusammen mit den türkischroten Seidenschuhen ein. Sie verstaute ihre wenigen Besitztümer aus der Mitgift, die sie von ihrer Familie aus Norwegen bekommen hatte: Bettdecken, linnene Laken, Sitzkissen mit Federn gefüllt, Kissenstoffe, Kannen und Krüge, ein kleines schwarzes Kästchen, Trinkbecher und anderen Hausrat, ein französisches Kopftuch und ein Schultertuch, das mit Grauhörnchenpelz eingefasst war. Das Diadem der Mutter verbarg sie an ihrem Busen, ihren Ehering schenkte sie Lucrezias Amme, und das Blattgold, das sie für ihre Tafel brauchte, legte sie in eine Ledertasche. Die schwarze, goldbeschlagene Truhe mit ihren Büchern war in Lorenzos Kellergewölbe eingeschlossen. Aeneas Buch über die zwei Liebenden war verschwunden, ebenso wie die anderen Bücher, die sie unter dem Bett aufbewahrt hatte. Die einzigen Bücher, die sie mitnehmen konnte, waren die Bibel und Leon Battista Albertis »Della Famiglia«. Das hatte Lorenzo nicht angerührt. Einige fertig präparierte Eichentafeln, um darauf zu malen, packte sie zwischen Kleidern und Stoffen in die Körbe. Sie sammelte die kleinen Töpfe mit den Farbpigmenten ein. Legte die Pinsel in ein Futteral aus Leinwand und das Futteral in eine Tasche aus Kalbsleder. Die zerbrochene Vase des Titus kam in eine Kiste mit getrockneten Kräutern, zusammen mit
römischen Münzen, die das Siegel Cäsars trugen. Lucrezias Geschenk für den Papst, eine Mitra aus Olivenzweigen, verstaute sie vorsichtig zuoberst in der Kiste. Lorenzo hatte entschieden, dass sie bis auf weiteres einen verlassenen Bauernhof bewirtschaften sollte. So ritt sie davon, begleitet von Liam, Andropolus und einigen Getreuen aus der Dienerschaft. Eine Kuh samt Kalb hatte sie ebenfalls dabei. Andropolus trieb eine Herde Schafe vor sich her. Zwei weiße Maremma-Ochsen zogen die Karren. Niemand sagte etwas. Außer dem Gackern der Hühner und dem Gurren der Tauben, die in den Körben eingesperrt waren, hörte man nur noch das Klappern der Pferdehufe. Während sie die Anhöhe erklommen, auf der das Bauernhaus lag, spürte sie großes Heimweh nach dem Land ihrer Kindheit. Ein Heimweh nach der Insel draußen im Meer. Nach dem Geruch von Salzwasser, Fisch und feuchter Luft. Sie drehte sich um und schaute über das Tal. Ihr Blick blieb an der Pilgerstraße hängen. Sie wünschte sich, diesem Weg folgen zu können, der sie nach Hause bringen würde. Doch sie durfte das Land nicht verlassen, bevor der Papst nicht entschieden hatte, was ihr Schicksal sein sollte. Sie wusste nicht, ob man sie der Inquisition übergeben oder ob der Heilige Vater ihr Absolution und Vergebung gewähren würde. Sie lebte in Ungewissheit. Ohne Absolution und Vergebung würde sie in keinem Land willkommen sein. Die Buße, die sie zu leisten hatte, beschäftigte sie Tag und Nacht. Es war nicht gleichgültig, welcher Art ihre Sühne war. Der Papst hatte ja zu ihr gesagt, dass die Wahl ihrer Sühnehandlung entscheidend für die Vergebung sein würde. Es reichte nicht aus, immer wieder das Ave Maria zu beten, es war nicht genug, sich Ablass durch eine Geldspende zu erkaufen. Sie musste beweisen, dass sie würdig war, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden.
Ihre Sühne musste sie vollkommen reinwaschen, sonst würde sie in den Augen der Leute für alle Zeit eine Hexe sein. Der Papst und Lorenzo bestimmten über ihr Leben, sie machten sie zu einer Geächteten. Eine dunkle Stelle in ihrem Inneren, ein Öffnung so winzig, dass nicht einmal ein Gedanke hindurchging, offenbarte sich ihr jedes Mal, wenn sie in Verzweiflung versank. Es war dieses Dunkel, das sie gefangen hielt. Nicht der Papst und nicht Lorenzo, dachte sie. Als sie den Bauernhof erreicht hatten, luden die Bediensteten die Ochsenkarren auf dem Platz vor dem Wohnhaus ab. Aus dem Schornstein stieg schon Rauch. Der Hof lag hoch über dem Tal, die Luft war kälter hier oben. Das Amiata-Gebirge wirkte nicht mehr so hoch. Im Süden konnte sie die Festung von Radicofani erkennen. Unten im Tal, noch unter Rocca di Tentenanno, ahnte sie Soldaten, die die Brücke über die Orcia bewachten. Man hatte mit dem Aufstauen des Flusses begonnen. Lorenzos Gutshof thronte auf einer Anhöhe über dem Tal. Von hier oben, wo sie jetzt stand, sah sogar er klein aus. Sie blickte sich um. Die Crete Senese war mit Ginsterbüschen überwachsen, diese Landschaft mit den majestätischen Höhen und den Lehmschluchten, die sich in grauweißen Formationen durch grüne, sanft gewellte Wiesen bis hinunter ins Tal zogen. Der kleine Hof bot einen ernüchternden Anblick. Rund um das verfallene Haus, in dem sie mit der Dienerschaft wohnen sollte, standen alte Olivenbäume und Reihen von Weinreben, die vom Frost angegriffen waren. Mächtige Eichen mit schönen Kronen schirmten das Wohnhaus ab. Sie war nie hierher gekommen, um den Zustand der Olivenbäume und Weinstöcke zu begutachten. Lorenzos Landbesitz erstreckte sich über weite Gebiete des Tals. Das Land hier oben hatte stets magere Erträge gebracht. Zu rasch
floss das Wasser die Talhänge hinab und hinterließ den Lehmboden trocken und ausgedörrt. Das Einzige, was dem Haus Leben verlieh, waren die Tauben, die in der Loggia ein und aus flogen. Die hintere Wand war von dreieckigen Mauernischen durchbrochen, und in jeder Nische fand eine Taube Platz. Efeu wucherte an den Hauswänden, über das Dach und die aus Travertin geschlagene Treppe hinunter. Gemeinsam mit Liam und Andropolus stieg sie zum Obergeschoss hinauf und durchquerte eine Loggia, die in den Hauptraum des Hauses führte. Der Raum war dunkel. Sie öffnete die Fensterläden, um das Licht hereinzulassen. Rauch aus der Feuergrube schlug ihnen entgegen. Die Feuerstelle war groß. Zu beiden Seiten waren entlang der Wände Bänke aufgestellt, wo die Landarbeiter sich aufwärmen konnten, wenn sie vom Feld kamen. Anna ließ die Tür hinter sich offen, damit der Rauch abziehen konnte. Im bleichen Winterlicht, das in einem schmalen Streifen auf den Boden fiel, konnte sie erkennen, dass die Fresken an den Wänden durch Feuchtigkeit beschädigt waren. Holzmehl rieselte aus morschen Kastanienbalken, die sich unter dem Dach entlangzogen. Der Fußboden war aus Terrakotta und im klassischen Muster verlegt. Die Ziegel waren ungewachst, und mehrere von ihnen waren zerbrochen. Alles hatte durch Frost und Feuchtigkeit Schaden genommen. Vom Gutshof aus hatte sie manchmal hier hinaufgeschaut und sich im Winter oft am Anblick des Schnees erfreut, der auf die Lehmschluchten fiel und sie mit einem weichen, weißen Teppich bedeckte.
Anna ließ sich mit Liam und Andropolus an der Feuergrube nieder. Sie blickte sich in dem schlichten Wohnraum um. Auf
dem Fußboden lagen weder Teppiche, noch zierten Waffen die Wände. Es gab auch kein Heiligenbild zum Anbeten. Andropolus hatte das ebenfalls bemerkt und war schon dabei, seine Ikone der Jungfrau Maria auszupacken. »Sie will meine Gebete nicht erhören«, sagte er leise, während er die Ikone betrachtete. Anna stiegen die Tränen in die Augen. Die Ikone war ein Erinnerungsstück von seiner Mutter. Seine Stimme klang so bitter, und er war doch noch so jung. »Du hast nichts Falsches getan, Andropolus.« »Ich träume oft davon, den Pfarrer zu töten.« »Möchtest du ihn gerne töten?«, fragte Anna. Andropolus nickte. »Ich habe ein Schwert.« »Willst du wirklich gehängt werden, weil du einen Kirchenmann getötet hast?« »Wenn es mir gelänge, würde mein Zorn vielleicht verschwinden.« »Es ist leicht, zornig zu werden«, sagte Liam leise. »Wie meinst du das?« »Es ist leicht, zornig zu werden. Aber zur rechten Zeit auf den rechten Mann zornig zu werden, das ist schwer.« »Aber was soll ich denn Lucrezia in meinen Gebeten sagen?«, fragte Andropolus. »Du sollst sagen, dass du deinen Zorn besiegt hast.« Liam lächelte, als Andropolus zur Antwort Lavendel in die Flammen warf.
Der Winter wurde kalt und regnerisch. Die Orcia stieg über ihre Ufer. Schnee legte sich auf die Hügel von Le Crete und ließ sie aussehen wie weiß bestäubte Dünen. Er schadete den Weinstöcken, und mehrere Olivenbäume erfroren und warfen
ihre Blätter ab. Ihre einzige Kuh wurde krank und gab keine Milch. Niemand besuchte sie. Die Essensvorräte waren bald aufgebraucht. Aus der Loggia war kein Taubengurren mehr zu hören. Die Vögel waren längst gefangen und verzehrt.
A
n einem Tag im März ging Anna den langen Weg nach Rocca di Tentenanno, um Hilfe bei Sankt Caterina zu suchen. Liam begleitete sie. Die Sonne schimmerte in seinem Haar, und erst jetzt bemerkte sie, dass es gänzlich weiß geworden war. Es musste geschehen sein, als der Papst sie verstieß. Er betete von morgens bis abends und tat Buße von spät bis früh. Er war ein Mönch ohne Kloster, er kannte nur sie und die Bediensteten. Von einem Augenblick auf den nächsten wurde er vergesslich. Jeden Tag rief er wieder nach seinem Hund, obwohl er ihm selbst mit einer Axt den Kopf gespalten hatte. Er hatte das Tier erschlagen, um ihm den Hungertod zu ersparen. Anschließend hatte er es den anderen Tieren zum Fraß vorgeworfen. Seine mangelnde Erinnerung machte ihn völlig abhängig von Anna und Andropolus. Anna und Liam wanderten durch die engen Gassen des kleinen Dorfes am Fuße der Festung Rocca di Tentenanno. Anna führte ihn zur Kapelle, damit er dort niederknien und beten konnte. Es war sicher das letzte Mal, dass er einen solch weiten Weg machen konnte, dachte Anna, als sie ihn auf seinen Stab gestützt durch die Tür der Kapelle treten sah. Sie blieb vor der Kapelle stehen und schaute sich um. Es hatte Gerüchte gegeben, dass Bernardo di Rossellino hier gewesen sei, um der heiligen Caterina zu danken. Sie ging in Richtung der kleinen Hütte, in der Sankt Caterina vor so vielen Menschenleben gewohnt hatte. Im selben Augenblick gewahrte sie ihn. Er stand vor der Hütte. Sie beobachtete, wie er sich bückte und einen Olivenzweig auf die Türschwelle legte. Die Gassen waren schmal und steil und die Pflastersteine glatt. Als Anna zu ihm hinübergehen wollte, glitt sie aus und stürzte. Er fuhr herum und entdeckte sie. Lächelnd beeilte er sich, ihr aufzuhelfen.
Er war nicht mehr der gebeugte Bernardo, der den Urteilsspruch des Papstes erwartete. Er war freigesprochen. Dennoch fiel Anna auf, dass er bleich und krank aussah. Er war mager und sein Blick matter als früher. Bernardo war kein gesunder und glücklicher Mann mehr. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg hinauf zur Festung, die über dem Dorf thronte. Er nahm ihr den Proviantkorb ab, den sie trug. »Mir ist, als sei der Bann, der auf Euch liegt, meine Schuld. Ich war sicher, dass der Papst sich über das Urteil hinwegsetzen würde, das die Kardinäle und Leon Battista Alberti gefällt hatten. Aber er verlässt sich ja immer auf Alberti.« Als sie ihn sprechen hörte, hatte sie das Gefühl, entblößt vor ihm zu stehen. Verletzlich und schutzlos, so wie an dem Tag, als die Soldaten zu ihr auf den Gutshof kamen. Niemand konnte sie beschützen. Es war Mittag geworden, und die Sonne schickte sich an, durch die Wolkendecke zu brechen. Die Sonnenstrahlen wärmten, sodass Bernardo seinen Mantel ablegte. Sie blickten auf, als sie das Rauschen kräftiger Flügelschläge in der Luft hörten. Ein Schwarm Graugänse zog pfeilförmig Richtung Norden. »Könnt Ihr mir den Unterschied zwischen einer norwegischen und einer italienischen Landschaft beschreiben?«, fragte er. »Den Unterschied machen Wasser, Eis und Fjorde, die vom Meer bis tief ins Land schneiden. Der Boden dort ist feucht, hier ist er trocken. Für viele Pflanzen, die hier wachsen, ist es im Norden zu kalt. Dort gibt es Wälder von Bäumen mit weißem Stamm, die hier unbekannt sind. Das sind Birken, und sie beginnen im Mai zu grünen. Ihr solltet nur mal ihren Duft atmen!« »Ich hoffe, dass ich Eure Heimat bald einmal sehen werde.«
Er sah eine Weile über das Tal, ohne etwas zu sagen. »Seit ich zum ersten Mal in diese Gegend kam, liebe ich sie.« Er machte eine weite Geste mit dem Arm, damit sie seine Bewunderung für das Val d’Orcia mit ihm teilte. »Papst Pius sagt, dass ein Kaiser immer über die Natur in seinem Reich Bescheid wissen sollte«, fuhr er fort. »Wenn er die Veränderungen der Natur kennt, kann ein Kaiser Strategien entwerfen, wie er sein Reich vor dem Angriff eines feindlichen Heeres am besten schützt. Papst Pius studiert die Natur. Er bereitet sich auf Angriffe der Araber vor. Ich betrachte die Natur, weil ich sie in meinen Bildern exakt wiedergeben möchte. Um so etwas zu schaffen, muss man sie sehr genau kennen. Und was man kennt, achtet man, ist es nicht so?« »Was ich kenne, fürchte ich nicht. Das will ich mit ganzer Kraft verteidigen«, erwiderte Anna. »Wie die Tafel der heiligen Agatha? Ihr kennt Euch selbst. Euren Willen und Eure Unbeugsamkeit. Verteidigt Euch gegen die Anklagen der Inquisition. Verteidigt Eure Natur, so wie ein Krieger es tut. Ihr seid in Gefahr. Vergesst das nicht.« Anna verstand. Also hatte die Angst ihn doch nicht aus ihren Fängen gelassen. Der Papst hatte ihn verwundet. Sollte seine Kunst nicht mehr gut genug sein, würde der Papst sich auch von ihm abwenden, ganz genau so, wie er sich von ihr abgewandt hatte. Während er sprach, sah Bernardo ihr unablässig in die Augen. Als wolle er ihnen beiden die Kraft und Stärke geben, die Schwierigkeiten zu bewältigen. Sie spürte, wie seine Worte eine Kampfbereitschaft in ihr auslösten. Sie fühlte sich befreit, wie ein Pfeil, der von der Bogensehne schnellte. Als sie das Ende der Treppe erreicht hatten, die hinauf zur Festung führte, fielen ihr wieder die Granitfelsen in ihrer Heimat ein. Zwei riesige Gesteinsbrocken, die durch die
Bewegung von Eismassen übereinander geschoben worden waren. Von der Spitze dieser Felsen aus hatte sie einst ebenfalls ferne Horizonte gesehen. Sie hatte nie jemandem von den Steinen erzählt. Jetzt fühlte sie den starken Drang, es zu tun. Bernardo breitete seinen Mantel für sie auf den Steinstufen aus und ließ sich neben ihr nieder. Sie öffnete die Weinflasche und schenkte in zwei Zinnbecher ein. Mit einem Messer schnitt sie für jeden eine Scheibe Brot und etwas Pecorino ab. Sie prosteten sich zu und tranken den jungen Wein von dem Bauernhof, auf dem sie jetzt lebte. »Ich habe auch eine Burg«, sagte sie. »Sie wurde nicht von Menschen geschaffen, um die Reichen über die Armen zu erheben, so wie diese. Meine Burg ist ein Felsen, unberührt von Menschenhand. Eismassen haben sie für mich vor zehntausend Jahren gebaut. Als ich jung war, dachte ich, das sei geschehen, damit ich eines Tages die Welt sehen könnte. Ein Felsen, der mir das Gefühl gab, über alles erhaben zu sein. Als Kind bat ich meinen Vater, mich hinaufzuheben. Sobald meine Beine lang genug waren, kletterte ich allein hinauf. So eroberte ich die Welt. Ich erinnere mich an jede Falte, die das Eis zu einer weichen Vertiefung in den harten Granit geschliffen hat. Die Erinnerung daran wohnt in meinen Händen.« Sie drehte die Handflächen nach oben und zeigte sie ihm. Bernardo küsste die Innenseiten ihrer Hände zärtlich, genau dort, wo die Erinnerung an den Felsen saß. »Ich habe das Aussehen und die Härte des Granits erforscht. Mir war, als könnte ich tief hineinsehen und alle Minerale entdecken, aus denen er bestand. Als ich meine Heimat verließ, sah ich, dass der Felsen inzwischen moosbedeckt war. Ich hatte ihn viele Jahre lang nicht besucht, er war ganz grün, so als habe er mir zu Ehren einen grünen Samtmantel angelegt.«
»So wie dieser?«, fragte Bernardo lächelnd und deutete auf den Mantel aus grünem Samt, auf dem sie saßen. »Habt Ihr nur einen moosüberwachsenen Stein, der Euch in Norwegen erwartet?« Sie lachte. »Ich glaube schon. Es ist ein guter Gedanke, dass der Stein noch da sein wird, wo mich doch sonst niemand mehr erwartet. Er ist meine Wiege und mein Grabstein.« »Saht Ihr von Eurem Stein aus auch Korsikas hohe Berge?« Er zeigte auf die Gipfel, die in der Ferne durch die Wolkendecke ragten. »Das Meer«, erwiderte sie. »Das Meer war das Einzige, was ich sehen konnte.« »Ich kenne nur wenige Frauen, die sich Gedanken über die Beschaffenheit von Steinen machen«, sagte er und lächelte sie an. »Ich selbst tue kaum etwas anderes. Mehrere Jahre meines Lebens habe ich in den Marmorbrüchen von Carrara zugebracht. Diese Hände haben mehr Steine als Frauen liebkost.« Er streckte die Hände von sich und betrachtete seine Handflächen. Dann ließ er sie wieder sinken und sah Anna liebevoll an. »Hütet Euch vor Männern, die glauben, Ihr wärt ein Engel, habe ich einmal zu Euch gesagt. Im nächsten Augenblick halten sie Euch vielleicht für einen Teufel. Ich werde zum Papst gehen und um Eure Absolution bitten. Gleich morgen werde ich nach Rom aufbrechen«, sagte er, führte ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. Er streichelte ihr übers Haar. Sie spürte körperliche Freude bei seiner Berührung. Endlich, flüsterte sie insgeheim und lehnte sich an ihn. Endlich würde sie dieses Gesicht im Herzen tragen dürfen, ohne sich dabei schuldig zu fühlen. Dieses Gesicht, das sich von allen anderen Gesichtern unterschied, weil es eine mystische Kraft besaß, die sie von allem erlöste.
Er deckte den Mantel schützend um sie beide, und sie spürte seinen Körper an ihrem. Sie bekam eine wohlige Gänsehaut, als seine Finger ihr Haar und ihren Nacken berührten. Als er sie küsste, suchten seine Hände ihre Taille, und sie sank zurück. Er legte sich auf sie, und sie umfasste seine Hüften mit beiden Händen, als er seinen Unterleib gegen ihre Schenkel presste und sie öffnete. Sie spürte ein süßes Ziehen, als risse ihr Körper vom Becken hinab entlang der Innenseiten ihrer Schenkel auf, und all die Begegnungen mit ihm, die sie sich in ihrer Fantasie ausgemalt hatte, wurden durch seine Nähe ausgelöscht. Sie kam wieder zu sich, als die heißen Wellen langsam verebbten. Mit einem Mal fühlte sie sich zu Hause. Sein Mantel verströmte den starken Duft von frischen Birkentrieben. Sie war zu Hause. Sie schmiegte sich eng an ihn. Was war eigentlich geschehen?, dachte sie mit einem leisen Lachen. Sie konnte sein Gesicht nicht mehr deutlich sehen. War er ein Faun aus den Kiefernwäldern? Das Licht hatte sich verändert. Schwere Wolken türmten sich über den Bergen auf, so wie immer am Nachmittag. Es war der dichte Nebel, der herabsank und Bernardos Gesicht undeutlich werden ließ. Bald würde das Amiata-Gebirge vollständig im Nebel verschwunden sein. Sie hatte vergessen, dass sie im Schatten des Heiligen lebte. Vergessen, dass sie ausgestoßen war. Verdrängt, dass sie sich im »kleinen Bann« befand und am Fuße eines heiligen Berges wohnte. Korsikas Berggipfel waren nicht mehr zu sehen. Sie erhob sich und griff nach Bernardos Hand. Sie raffte den Mantel enger um sich, als wollte sie sich vor der Welt verbergen. Da entdeckte sie ein Gesicht hinter dem bunten Glas des Turmfensters. Die Augen stechend, wie die eines Jagdfalken. Hatte sie dieses Gesicht schon einmal gesehen? Sie begriff,
dass sie ertappt war, dass sie in einer Situation beobachtet worden war, die sich für keine Frau schickte, und schon gar nicht für eine, der vom Papst aufgetragen worden war, mit ihrer Sühne den Gegenbeweis dafür zu erbringen, dass die Fähigkeiten des Menschen geringer waren als seine Begierden.
E
r kam nicht, obwohl er versprochen hatte sie aufzusuchen, wenn er aus Rom zurück war. Die Furcht wollte sie nicht loslassen. Die Augen, die sie am Turmfenster erspäht hatte, verfolgten sie. Es war, als ob diese Augen alles sähen, was sie tat, ja sogar alles, was sie fühlte und dachte. Sie ging zu den geheimen Grotten und trank aus den Quellen. Doch sie war nicht schwanger. Weder von Lorenzo noch von Bernardo. Viele Tränen und viel Zorn ließ sie in den Lehmschründen von Le Crete zurück. Sie sehnte Bernardo herbei. Aber niemand kam. Er kam nicht, obwohl sie ihn in sich aufgenommen und ihm erlaubt hatte, ihren empfindsamsten Punkt zu spüren. Sie fürchtete, dass es die Blicke des Pfarrers gewesen sein könnten, die sie beobachtet hatten. Er würde ihr Schäferstündchen Lorenzo melden, damit er Bernardo festhalten konnte, wenn dieser beim Papst um Audienz nachsuchte. Der Papst hatte den Pfarrer beauftragt, den Bau des Staudamms bei Bagno di Vignoni zu überwachen. Von Rocca di Tentenanno aus hatte sie gesehen, wie der Damm wuchs. Es war viel Regen gefallen. Bald würde das Tal der Orcia überflutet sein, so wie der Papst es gewünscht hatte. Lorenzos Gutshof würde in kurzer Zeit zu einer Insel in einem einzigen großen See werden. Frühling und Sommer waren ins Land gegangen und der Oktober hatte Einzug gehalten. Ein Jahr war verstrichen, seit ihre Ehe aufgelöst worden war. Noch immer hatte Anna ihre Bücher nicht bekommen, die sie einst aus Norwegen mitgebracht hatte. Obwohl sie ihr Eigentum waren, musste Lorenzo seine Einwilligung dazu geben, dass man sie ihr aushändigte. Doch Lorenzo hatte nicht auf ihre Nachfragen geantwortet.
Ihr war zu Ohren gekommen, dass er das Heer des Papstes in der Schlacht um Fano angeführt habe. Es ging das Gerücht, die Kämpfe gegen Kaiser Sigismunds Truppen seien verlustreich gewesen und dass die Söldner unter der Fahne des Vatikans obendrein mit Überschwemmungen zu kämpfen gehabt hätten. Während des Traubentretens entdeckte sie zwei Sendboten in der Uniform des Vatikans, die zu Pferd den steilen Berghang heraufkamen. Liam und Andropolus ließen alles fallen, was sie in den Händen hatten, und kamen herübergelaufen. Die Feldarbeiter brachten die Ochsen vor dem Pflug zum Stehen, und die Mägde scharten sich neugierig um die Backöfen, den Brotteig noch an den Fingern, der Gesang der Traubentreter verstummte. Ihre Kittel waren bis zu den Hüften hochgebunden und ihre Beine rot vom Traubensaft. Sie versteckten sich hinter den Bäumen, damit die Reiter sie nicht derart unschicklich gekleidet sahen, und blinzelten einander zu, als der eine der Söldner vom Pferd sprang. Kamen die Soldaten, um ihr Lorenzos Tod zu melden? Anna spürte wieder die alte Furcht, die sie als seine Ehefrau immer gehabt hatte, wenn er in der Schlacht war. »Ich habe in Lorenzos Heer gekämpft und meinen Kopf hingehalten, lasst mich jetzt von seinem Wein kosten!«, rief der Soldat. Anna schickte eine der Mägde, Wein und Brot aufzutischen. Die Söldner kamen direkt aus der Schlacht. Sie hatten mit ihren Pferden in den Quellen von Bagno di Vignoni gebadet, das merkte Anna am Schwefelgeruch. Der Soldat hob sein Glas. »Lasst uns feiern, dass Fano am fünfundzwanzigsten September in die Hände der Kirche gefallen ist. Lasst uns ein Hoch auf unseren Heerführer ausbringen, der dem Papst eine Stadt zurückließ, die wohl geordnet war. Er bewahrte uns
davor, in der Schlacht zu sterben. Ich habe unter unserem Heerführer Lorenzo gekämpft und Sigismund besiegt.« »Wie habt Ihr das geschafft?«, rief Andropolus. »Als Lorenzo erfuhr, dass Sigismund seinen Sohn Roberto angewiesen hatte, Fano lieber den Flammen zu übergeben, als es erobern zu lassen, zwang Lorenzo die Einwohner, sich zu ergeben. Hebt eure Gläser und trinkt auf das Wohl unseres Heerführers!«, erwiderte der Soldat. »Sagt mir, was führt Euch zu uns?«, fragte Anna. »Oh, nun hätte ich beinahe vergessen, warum wir hier sind«, antwortete der Soldat heiter. Er zog einen Brief hervor und reichte ihn Anna. Sie ging ins Haus und schloss die Tür. Sie hatte Mühe, Atem zu holen, als sie die Treppe nach oben stieg. In ihrer Schlafkammer öffnete sie das Fenster, um Luft zu bekommen. Dort stand sie, den ungeöffneten Brief in Händen. Sie hörte das Lachen und Singen der Söldner. Sie wartete darauf, dass sich der Mut einstellte, das Siegel aufzubrechen. Der Wind ließ das Pergament in ihrer Hand leise flattern. Es bewegte sich wie die Schwingen eines Vogels. Sie spürte, wie ein kalter Hauch die Innenseiten ihrer Hände streifte. Der Wind kam von Norden. Es war der Mistral. Sie ließ die warmen Strahlen der Herbstsonne auf ihrem Gesicht ruhen. »Signorina Anna« stand auf der Vorderseite des Briefes. Sie erkannte Lorenzos nachlässige Schrift. Er titulierte sie, seine frühere Gemahlin, als »Fräulein«. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, und die Männer und Frauen ließen sich mit den Soldaten draußen am Backofen nieder. Andropolus lief unablässig hin und her, um sie mit ausreichend Speis und Trank zu versorgen.
»Wie viele Tote gab es beim Feind? Wie viele Tote im Heer des Papstes? Erzählt von der Stärke der Stadtmauer und vom Widerstand des Feindes, und wie wirkte sich das Wetter auf die Schlacht aus?«, fragte er immer wieder. Die Soldaten wurden zu Bruschetta eingeladen. Brot vom Vortag wurde auf die Glut des Backofens gelegt, und die Mägde stellten Knoblauchzehen, Öl und Salz auf den Tisch. Anna roch den Duft von geröstetem Brot, der zu ihr hinauf ins Zimmer stieg. Fast wie früher, wenn sie und Lucrezia am Backofen saßen und speisten. Es war, als sei mit den Soldaten das Leben auf den Hof zurückgekehrt. Doch sie fürchtete, dass Lorenzos Brief ihr das Gegenteil davon verkündete. Es war ein schöner Herbsttag. Fast ein glücklicher Tag. Sie lächelte, als sie sah, wie die Hofarbeiter das Brot mit Knoblauchzehen abrieben, es mit Salz bestreuten und mit Olivenöl beträufelten. Der frische Pecorino wurde auf der Glut gebraten und vor dem Verzehr in Öl getaucht. Liam lauschte den Erzählungen über die Schlacht, während er aß. Ab und zu warf er einen Blick zu ihrem Fenster hinauf, als wolle er sie im Auge behalten. Wie Anna fürchtete auch er den Inhalt des Briefes.
»Puttana« stand ganz oben auf dem Brief. Das schlimmste aller Schimpfwörter war in Großbuchstaben geschrieben. Der Brief war in Toskanisch abgefasst, in Lorenzos Handschrift. Er schrieb, dass er als Leibwächter des Papstes entschieden habe, sie unter Hausarrest zu stellen, bis der Papst ihr Absolution erteilt hätte. Er forderte für mindestens zwei Jahre ihre Treue. »Dein leichtsinniger Umgang mit fremden Männern hat die Sicherheit des Papstes gefährdet«, schrieb er. »Ich werde ihn töten, wenn ich ihm begegne.«
Sie rang nach Atem. Es musste der Pfarrer gewesen sein. Warum hatte sie Bernardo auf dem Rocca di Tentenanno nicht Einhalt geboten? Doch womit hätte sie ihn aufhalten sollen?, fragte sie sich. Mit der Kraft ihrer Gedanken? Sie hätte es nicht gekonnt, selbst wenn sie gewollt hätte. Vielleicht hatte der Papst Recht, dass die Begierde die Fähigkeit und den Verstand übertraf? Sie war eine Frau von hohem Rang gewesen und war tief gefallen. Sie hatte nichts anderes getan als die Lucrezia in Pius’ Buch. Sie hatte es getan. Die beiden Söldner, die den Brief überbracht hatten, blieben auf dem Hof, um Wache zu halten. Sie sollten dafür sorgen, dass der Hausarrest eingehalten wurde. »Gott strafe den Mann, der es wagt, die Schwelle meines Hauses und meines Eigentums zu übertreten«, schrieb Lorenzo. Sie war eine Gefangene in seinem Haus. Es konnte niemand außer dem Pfarrer gewesen sein, der Lorenzo die Nachricht überbringen ließ. Lorenzo hatte den Brief auf dem Schlachtfeld erhalten. Jemanden zu töten war für ihn das Leichteste der Welt. Das Schwert durch die Haut eines Menschen zu jagen bedeutete für ihn, in die Welt des Wahnsinns einzutreten. Er war es gewohnt, darin zu leben. Der Pfarrer wusste das. Er würde nicht aufgeben, ehe er Bernardo tot sah und sie selbst auf dem Scheiterhaufen brannte. Sie kehrte einer Welt aus Sonne und Wind den Rücken. Sie schmückte das Bild der Jungfrau mit einem geweihten Olivenzweig, der Lucrezia gehört hatte. Sie ging zum Schrank, in dem sie ihre Kleider aufbewahrte, suchte Lucrezias Kleid heraus und drückte den Stoff an ihre Wange. Die purpurroten Schuhe, die sie nie getragen hatte, stellte sie auf den Tisch,
sodass sie sie immer sehen konnte. Anschließend zündete sie die Öllampe an. Sie bat Andropolus, Holz zu holen. Er verharrte zögernd, als sein Blick auf Lucrezias Schuhe fiel. »Ich sah, wie sie sie beim Schuhmacher anprobierte«, sagte er und nahm einen Schuh in die Hand. »Aber sie ist nie darin gegangen. Man sieht es am Leder.« Er hatte den Schuh umgedreht und betrachtete die Sohle. »Nein, sie hat sie nie getragen«, antwortete Anna still. Andropolus stellte den Schuh wieder an seinen Platz und ging. Nach einer Weile kam er mit duftenden Zypressenzweigen und getrocknetem Rosmarin zurück, um die Holzscheite damit anzuzünden. Als das Feuer brannte, legte Anna einen Strauß Lavendel in die Flammen. Allein in der Schlafkammer, sah sie sich in dem Raum um, in dem sie gefangen war, und fühlte sich einem langsamen Tod überlassen. Doch eines war ihr ganz klar bewusst. Sie musste handeln. Sich Wissen aneignen, das ihr Macht geben konnte.
Schließlich brachten die Soldaten Annas Bücher auf den Hof. Anna stand mit Liam und Andropolus auf dem Hof und nahm die Truhe in Empfang. Sie war aus Kirschbaumholz, und ihr Geruch rief Erinnerungen an eine ferne Vorzeit in ihr wach. Der Vater hatte die Truhe mit Büchern von einem holländischen Kapitän gekauft, als er sie hinauf nach Nonneseter ins Kloster brachte. Er hatte sie gemahnt, Latein zu lernen, und gesagt, dass die Bücher ein Teil ihres Vermögens seien und sie sie einmal brauchen werde. Die goldbeschlagene Truhe wurde ins Obergeschoss gebracht. Die Soldaten stellten sie in Annas Schlafkammer ab. In den vierzehn Jahren, die Anna auf Lorenzos Gut lebte, hatte er die Bücher in Verwahrung gehabt. Er hatte sie
eingeschlossen, als wären sie sein Eigentum. Lorenzo war ein großer Sammler von Büchern, doch er hielt ihre Bücher nicht für wertvoll genug, um sie kopieren zu lassen, hatte er ihr gesagt. Im Laufe der Jahre hatte sie viele Bücher gelesen, die aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt worden waren. Sie hatte Lorenzos Schreiber bestochen und die Bücher zur Lektüre bekommen, bevor er sie in Lorenzos Bücherschrank stellte. »Die beiden Liebenden« hatte sie nicht zurückgebracht; sie hatte den Schreiber angeschwindelt und gesagt, sie habe Lorenzos Erlaubnis, das Buch zu behalten. Dank der Bücher hatte sie gelernt, die lateinische Sprache zu verstehen. »Über die Natur«, las Liam laut. »Das ist das Buch, das ich lesen muss«, rief Anna. »Ich kenne es noch vom Kloster«, sagte Liam. »Warum wollt Ihr unbedingt dieses zerfledderte Buch lesen?«, fragte Andropolus. »Die anderen Bücher sind doch viel prächtiger. Schaut hier, eingebunden mit Gold und mit Edelsteinen besetzt. Ihr würdet reich werden, wenn Ihr es an die Bibliothek des Vatikans verkauftet!« Es lagen noch drei weitere Bücher in der Kiste. Das eine hatte sie noch nie gesehen, es war mit Gold und Edelsteinen geschmückt. Dasselbe galt für ein Buch über Astrologie. Liam füllte Öl in die Lampe, damit sie die ganze Nacht lesen konnte. »Stell sie ans Feuer«, bat sie. Die Bänke um die Feuerstelle herum waren so geräumig, dass jede von ihnen vier erwachsenen Menschen Platz bot. Liam bat Andropolus, so viel trockenes Holz zu bringen, wie er nur tragen konnte. Der Junge kam schwer beladen mit der großen Wurzel einer gefällten Zypresse zurück. Wieder lief er die Treppe hinunter und brachte gleich darauf einen Korb voller getrockneter Rosmarinzweige. Anna setzte
sich auf eine der Bänke am Feuer. Zwei Füße der Bank, aus Eisen gegossen, ragten bis in die Feuergrube hinein, an der anderen Seite schloss die Bank mit einem metallenen Ring ab, der für Teller gedacht war. Anna hörte, wie der Wind im Kamin heulte. Die Windstöße rüttelten und zerrten heftig an den Fensterläden. Andropolus stand am Feuer und sorgte dafür, dass es gut brannte. Er legte Lavendel in die Flammen, dessen Geruch sich im ganzen Raum ausbreitete. »Meine Mutter hat das immer gemacht, des Duftes wegen«, sagte er still. »Morgen gehe ich zu Lucrezias Grab. Ich möchte ihr einen Kamm bringen.« »Einen Kamm?«, fragte Anna verwundert. »Ja. Der fehlt ihr. Einen Spiegel hat sie schon. Ich habe den genommen, der auf ihrem Tisch lag. Aber den Kamm hat jemand gestohlen.« Anna suchte einen ihrer eigenen Kämme aus und reichte ihm den. »Ich werde ihn in meinem Haar reinigen, bevor ich ihn auf ihr Grab lege«, sagte er. »Ich bin gerade entlaust worden«, versicherte er und errötete. »Es sind keine Läuse daran«, beruhigte Anna ihn. »Für Lucrezia ist nichts rein genug«, erwiderte er leise. Es war, als ob er es vorzöge, zwischen den Toten zu leben. Seine Mutter, die als Sklavin in den Orient verschleppt worden war, sein Vater, den die Türken töteten, und jetzt Lucrezia. Sein Gesicht leuchtete auf, wenn er über sie sprechen durfte. »Wollt Ihr hier sitzen und lesen?«, fragte er. »Ja. Es steht etwas in den Büchern, das ich lernen muss.« Liam stand mit einem Buch unter der Öllampe und las halblaut auf Griechisch. Es liegt beinahe etwas Feierliches auf seinem Gesicht, wenn er ein Buch in Händen hält, dachte sie. »Ist das Griechisch, was Ihr da lest?«, fragte Andropolus.
»Ja«, erwiderte er. »Du musst mir helfen. Ich habe so viele Worte vergessen.« Um Liam eine Freude zu machen, überließ Anna ihm das Buch für eine Weile. Sie verriegelte die Tür und vergewisserte sich, dass die Fensterläden sorgsam verschlossen waren. Sie kehrte Amiata den Rücken. Das Tal hatte seine Schönheit eingebüßt. Etwas Gnadenloses und Grausames war über die Landschaft gekommen. Etwas, was sie früher nicht gesehen hatte. Le Cretes wüstengleiche Bodenwellen aus Lehm hatten ihre magische Kraft verloren. Das Land war ebenso unfruchtbar wie sie. Die heimlichen Quellen, die sich darin verbargen, hatten keine Macht mehr über sie.
Sie blickte sich im Raum um. Sah den Tisch an, der mit Schneckenhäusern bedeckt war. Zwischen ihnen hatte sie Lucrezias Schuhe aufgestellt. Ein Strauß getrockneter Butterblumen stand in einer aus Scherben zusammengesetzten Keramikvase, deren Innenwände mit der roten Farbe der Rubia bemalt waren – Titus’ Vase, die Papst Pius ihr gegeben hatte. Daneben lagen fünf Münzen mit Cäsars Siegel, ebenfalls ein Geschenk des Papstes, damals, als sie noch seine Auserwählte war. Hier, zwischen den Erinnerungen an vergangene Zeiten, musste sie bleiben. In diesem Raum würde sie sich aufhalten, bis sie herausgefunden hatte, wie sie in die Gesellschaft zurückfinden konnte, aus der Pius sie verstoßen hatte. Sie nahm Abschied vom Marino, dem Wind, der über das Meer kam, von Mistral, Scirocco, Tramontana und Levante. Den Winden, die das Tal heimsuchten und von Osten, Westen, Süden und Norden heranwehten. Winden, die nicht mehr wie früher von schützenden Eichenwäldern aufgehalten wurden.
Das Buch über Astrologie ließ sie in der Kiste liegen. Sie suchte nach Wissen, das ihr Macht verschaffte. Nur mit diesem Wissen würde sie ihr Leben retten. Aber gerade als sie nach »Über die Natur« greifen wollte, stiegen Zweifel in ihr auf, die sie die Hand zurückziehen ließen. Gott erhörte keine Gebete von jemandem, der sein Treuegelöbnis gegenüber dem Papst, Gottes Stellvertreter auf Erden, gebrochen hatte. Wie viele Gebete hatte sie gesprochen, dass der Herr ihr Bernardo schicken möge. Er hatte sie nicht erhört. Vielleicht wollte Gott nicht, dass sie erlöst wurde, indem sie Alaun für den Papst fand? Sie konnte das Buch nicht aufschlagen, bevor nicht alle Zweifel ausgeräumt waren. Gott musste doch wissen, dass sie die Purpurfarbe reinen Herzens verwendet hatte. Nur beim letzten Mal hatte sie Purpur aus Liebe zu einem Menschen und nicht für Gott und den Papst gebraucht. Das dritte Buch mit den Edelsteinen und dem Gold auf dem ledernen Einband, das sie, soweit sie sich erinnerte, vorher noch nie gesehen hatte, lenkte sie ab. Vielleicht sollte sie ein wenig darin blättern, bevor sie ihren Wissensdurst stillte. Das Buch sah so kostbar aus, dass sie kaum wagte, es zu berühren. »Gedicht über Orpheus und Eurydike«, »wiedergegeben von Platon« stand auf der ersten Seite. »Für Anna von Lorenzo«. Die Buchstaben waren in schöner Schrift mit Indigo geschrieben. Sie strich mit der Hand über die Buchstaben und verlor sich in der Vollkommenheit der Farbe. Der blaue Farbstoff stammte von der Indigopflanze; er wurde aus den grünen Teilen der Pflanze gewonnen. Ein Stück Seide fiel heraus. Sie erkannte den Seidenstoff wieder, den sie für den Kragen von Bernardos Mantel verwendet hatte. Was machte der in dem Buch? Die Abschrift auf dem Pergament war frisch, das sah sie. Die Zeichnungen stellten Orpheus dar, wie er in der Unterwelt Eurydike zu sich
lockte. Das Seidenstückchen lag nicht zufällig dort. Lorenzo hatte es hineingelegt, um ihr zu sagen, dass er sie durchschaut hatte. Es genügte ihm nicht, ihr zu drohen und sie eine »Puttana« zu nennen. Lorenzo war auf dem Hof gewesen und hatte die Sachen durchsucht, die sie zurückgelassen hatte. Unter einem Kopfkissen hatte er die Seide gefunden, die sie als Erinnerung an Bernardo aufbewahrte. Er hatte die Farbkraft des Mantels darin wiedererkannt. Das rote Stück Seide hatte enthüllt, dass der Pfarrer die Wahrheit sagte. Sie schloss das Buch und ließ das blutrote Seidenstück in ihrer Hand ruhen. Ihr erster Gedanke war gewesen, das Buch könnte ein Zeichen der Versöhnung sein. Sie hatte sich die Sage von Orpheus und Eurydike gewünscht, und vor langer Zeit hatte Lorenzo sie ihr versprochen. Jetzt spürte sie, dass das kostbare Stück eine Unruhe in ihr weckte. Ob Bernardo etwas zugestoßen war? Ein Fensterladen schlug an die Hauswand und sie ging, um ihn wieder zu schließen. Auf dem Weg ins Tal sah sie den Schatten Andropolus’. Der Junge war unterwegs zu Lucrezias Grab. Einen Augenblick lang wünschte sie sich, Lucrezia hätte sie mitgenommen. Lucrezia, die nicht sterben wollte. Ihr Grabmal stand gleich neben der Kapelle, an dem Baum, unter dem sie gestorben war. Nur Andropolus besuchte es. Sie hatte gemerkt, wie er sich jeden Abend im Schutze der Dunkelheit zurück zum Gut schlich. Sie sah ihn vor sich, wie er die ganze Nacht hindurch am Stamm des alten Olivenbaumes lehnte. Sie legte das Buch von Orpheus und Eurydike zurück in die Kiste und begann, vorsichtig in »Über die Natur« zu blättern. Das Pergament war dick und die Schrift schön. Sie hatte das Buch beinahe fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen, aber es war noch gut erhalten.
Der Einband war aus Kalbsleder, die Hautporen lagen dicht beieinander. Sie strich über die weiche Hülle. »Verzeichnis über die Pflanzenfarbstoffe« stand oben auf der Seite des ersten Kapitels. »Die eigentliche Farbe des Pflanzenstoffes, die ausschließlich durch den Gebrauch von Alaunbeize zu Tage tritt.« Sie las die lateinischen Namen der Pflanzenstoffe, die sie von früher kannte: »cortex«, »flos«, »folium«, »fructus«, »herba«, »lichen«, »lignum«, »radix«, »rhizoma«, und »Coccus ilices«, die Kermesschildlaus, die den Namen Johannesblut trug, weil der Farbstoff aus dem Blut der Läuseweibchen und der Eier stammte. »Die Schildlaus soll behandelt und zu braunen, glänzenden Körnern getrocknet werden«, stand da, und die Krapp-Pflanze, lateinisch »Rubia Tinctorum«, enthielt die Farbstoffe Alizarin und Purpurin. Das folgende Kapitel handelte von dem weißen, salzigen Stein, den es nur in Asien gab und der das Mineral Alaunkristall enthielt. Das Mineral konnte in Wasser gelöst werden und machte die Pflanzenfarben klar und haltbar. Sie wusste, dass Cosimo de’ Medici Kermesschildläuse für den venezianischen Scharlach einführte und dass er den Alaun über die Kolonie Milos erhielt. In Smyrna gab es eine Alaunkocherei. Das war alles, was sie über das Mineral wusste. Sie hatte sich nicht für die Gesteine zum Färben interessiert, bevor sie ins Kloster kam. Ihre Leidenschaft für das Färben hatte sich auf das Schneckensekret beschränkt, und dafür benötigte sie kein Alaun. Sie betrachtete die Zeichnung der Pflanze, die in mineralhaltiger Erde wuchs. Das war die Pflanze, nach der sie gesucht hatte. Dieses Kraut würde sie zum Ziel führen. Es kam ihr entfernt bekannt vor. Hatte sie es bei einem ihrer vielen Ausritte durch die Berge hier einmal gesehen? Sie konnte sich nicht erinnern.
Sie las: »In den weißen Steinen befinden sich Alaunkristalle, die sich aus wasserhaltigen Lösungen bilden. Alaun selbst ist das Salz, das bewirkt, dass der Farbstoff am Faden von Wolle und Seide haftet, und das den Faden beizt.« Sie war neugierig, auf welche Weise die Kristalle sich zu Alaun umwandeln ließen. Vielleicht muss man den Stein bei großer Hitze schmelzen, dachte sie. Wahrscheinlich war Kohle vonnöten, um eine derartige Temperatur zu erreichen. »Durch langsames Verdampfen in der Sonne bilden sich die Alaunsalze«, las sie. »Der Vater ist die Sonne, der Sohn ist die Sphären und der Geist ist das Verhältnis zwischen allen Teilen«, rief sie. Sie sprang auf und lief zum Fenster. Sie öffnete die Fensterläden so heftig, dass sie an die Hauswand schlugen. Gesinde und Soldaten unten auf dem Hof sahen erschrocken zu ihr hinauf. Sie glaubten sicher, sie sei wahnsinnig geworden. Sie, die Eingesperrte, wandte ihr Gesicht der versinkenden Herbstsonne zu und lachte laut. Sie lachte vor Glück! Es machte nichts, wenn sie sahen, dass sie die Hände faltete und ein Dankgebet sprach. Sie war so überwältigt, als hätte sie eine Offenbarung gehabt, als sei sie von Gottes Licht getroffen und soeben in eine andere Dimension eingetreten. Die Dimension der Freude. Auf dieselbe Art, wie das Schneckensekret sich unter den Strahlen der Sonne in Purpur verwandelte, wurden die Kristalle zu dem Salz, das die Farbe an dem Faden haften ließ. Die begeisterte Färberin in ihr war wieder zum Leben erwacht. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie in dem Buch gelesen hatte. Da hatte die Zeichnung der seltenen Pflanze sie am meisten gefesselt. Damals hatte sie den Text mithilfe des Wörterbuchs Wort für Wort übersetzt. Nachdem sie die
Zeichnung lange betrachtet hatte, war sie zu den Nonnen in der Färberei des Klosters gegangen und hatte sie ihnen gezeigt. Sie wusste, dass die Nonnen Alaunschiefer zum Beizen der Wolle verwendeten. Sie ließen Wasser über die Schieferplatten auf das Garn laufen, doch das Garn wurde braun, weil der Schiefer Eisen enthielt, der die Farbe verdarb. Der weiße Stein aber war frei von Eisen. Sie hatte sich ausgemalt, dass es die mineralhaltige Erde vielleicht rund um den Fjord gab, an dem die Stadt Bergen lag. Sie stellte sich die Fundstellen des weißen Steins vor und wie die Pflanze sie dorthin führen würde. Gemeinsam mit den Nonnen ging sie auf Entdeckungsreise ins Gebirge rund um die Stadt. Doch sie fanden nur grauen Granit und Schiefer und kein seltenes Kraut. Stattdessen kamen sie mit Körben voller Eichenrinde zum Beizen zurück sowie mit Pilzen, Moos und Heidekraut zum Färben. Das war sechzehn Jahre her. Noch bevor sie sich mit Lorenzo vermählte und Lucrezia das Leben schenkte. Sie ging zurück ans Feuer und setzte sich. Die Sonne war untergegangen, inzwischen war es dunkel geworden. Der Wind hatte sich gelegt, und es war nur noch das gelegentliche Blöken der Schafe zu hören. Diesmal musste es ihr gelingen, das Kraut zu finden. Das Buch lag schwer in ihren Händen, und sie schwankte zwischen Zweifel und Hoffnung. Ihr war, als zöge der Raum sich um sie zusammen. Die Erinnerung an ihren Traum, in einen Schrank eingesperrt zu sein, kam zurück. Vielleicht war die Vorstellung, in Italien Alaun zu finden, nur der letzte Halm einer Hoffnung, an den sie sich klammerte. Sie wagte nicht, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Sie lebte in Abgeschiedenheit, sie fror, an manchen Tagen hungerte sie. Oft überließ sie Andropolus alle Speisen, so wie Liam früher das beste Fleisch seinem Hund gegeben hatte. Sie hatte ihr
Gesicht im venezianischen Spiegel gesehen und war unsicher, ob die Gestalt, die sie darin sah, wirklich sie selbst war. Ihr Körper war abgemagert, die Haut grau, das Haar längst nicht mehr so hell wie früher. Sie schaute nicht mehr in den Spiegel. Es gab sicher kein Alaun in Italien, davon träumte sie bloß. Sie war verloren in diesem Raum, dessen Wände mit jedem Tag, den sie darin eingesperrt war, näher kamen. Das Feuer in der Grube brauchte Kleinholz, damit die Scheite anfingen zu brennen, aber sie blieb sitzen und bemühte sich nicht, die Flammen zu nähren. Sie schaffte es nicht, sich noch länger wach zu halten. Spät in der Nacht erwachte sie, immer noch auf der Bank am Feuer sitzend, das fast erloschen war. Hatte sie geträumt, oder hatte sie wirklich einen Schrei gehört? Das Buch lag immer noch auf ihrem Schoß, aufgeschlagen an der Stelle mit der Zeichnung der asiatischen Pflanze. Jetzt hörte sie es wieder. Es war ein Schrei. Er kam von Andropolus. Sie erkannte seine Stimme. Ein durchdringender Schrei. Ein Schrei, der lange zurückgehalten worden war. Er schrie stellvertretend für sie, für Liam, für Lucrezia. Aber am allermeisten schrie er für sich selbst. Sie ging zum Fenster und öffnete es. Das Tal lag in Mondlicht getaucht. Stille, als hätte es den Klageton nie gegeben. Übertönt von Stille. Verschluckt von der Dunkelheit. Verborgen in einer Natur, die mächtiger und ewiger war als der Schrei eines Menschen. Im selben Augenblick, als sie Andropolus schreien hörte, hatte sie die Stelle vor Augen gehabt, wo sie die asiatische Pflanze schon einmal gesehen hatte. Es war auf den Anhöhen nördlich von Civitavecchia. Auf dem Berg Tolfa. Dort hatte sie ein Kraut wachsen sehen, das dieser Pflanze ähnelte, zwischen weißen Steinen.
Andropolus hatte ihr einmal erzählt, das Mittel, das blutende Wunden stillte, sei der Saft von einem weißen Stein. Andropolus hatte eine Flasche davon von seinem Vater bekommen und trug sie immer bei sich, für den Fall, dass er sich verletzte. »Andropolus!«, rief sie, so laut sie konnte. Das Echo ihrer Stimme hallte durch das Tal. Niemand antwortete.
A
m selben Abend, als Anna in dem Buch »Über die Natur« las, war der Pfarrer unterwegs hinauf nach Rocca di Tentenanno, um sich zu erhängen. Er hatte verloren. Der Papst hatte ihn seines Amtes enthoben und ihm ein anderes gegeben. »Du eignest dich besser zum Wächter als zum Pfarrer«, hatte er gesagt. Er hatte den Pfarrer angewiesen, den Damm zu überwachen, nicht seine Mitmenschen, so wie er es als heimlicher Helfer der Inquisition getan hatte. Es war ehrenvoll, den Damm des Papstes zu bewachen. Der Papst hatte gesagt, dass die Orcia zu einem See werden sollte, der die Leute ernährte. Aber er wollte den Damm nicht mehr bewachen. Der Wächter eines Dammes hatte keine Macht über Menschen. Das hatte er an dem warmen Frühlingstag begriffen, als er Anna in Rossellinos Armen sah. Der Priester in ihm hatte ihm den Mut gegeben, sich der Frau zu nähern, die er liebte. Während er den Hang nach Rocca di Tentenanno hinaufstapfte, dachte er bekümmert: Wenn der Papst auf ihn gehört hätte, wäre das Schreckliche nie geschehen: dass Bernardo Anna vor seinen Augen in ein Tier verwandelt hatte. Hinterher war Bernardo zurück nach Florenz gereist. Er hatte besessen, was er sich wünschte, und sich aus dem Staub gemacht. Männer waren so. Aber er nicht. Er war eine viel anständigere Seele, wenn es um Liebe ging. Für ihn währte die Liebe ein Leben lang. Er starrte hinüber zu Lorenzos Gut. Es würde eine Insel inmitten des Wassers sein. Er lachte. Anna war eine Insel, auch sie. Von der Kirche verstoßen. Sie waren wie zwei Inseln, er und sie. Anna war vom Abendmahl ausgeschlossen, und er verlor sein Priesteramt. Der Papst hatte sein Versprechen gebrochen, ihn zum Bischof zu machen. Zuerst war er stolz darauf gewesen,
ein Teil der päpstlichen Vision zu sein. Er hatte eine Schar von sechs Männern bekommen. Mit ihm sollten sie sich an der Brücke aufhalten, für den Fall, dass Horden von Mauren, Tataren und Afrikanern angriffen. Doch in erster Linie war es wichtig, dafür zu sorgen, dass die Sandsäcke sich nicht verschoben. Bevor Seine Heiligkeit nach Rom zurückreiste, hatte der Pfarrer versucht, ihm den neuen Riss in der Grundmauer der Kirche zu zeigen. Er hatte den Namen Bernardos erwähnt, des Schuldigen. Doch der Papst hatte nur den Kopf geschüttelt und sich von ihm abgewandt. »Mir bleibt nichts verborgen«, hatte er geantwortet. Dem Pfarrer kamen einen Augenblick lang Zweifel, ob der Papst wirklich der war, der Gottes Wahrheit am besten verwaltete. Er selbst hatte ab und zu das Gefühl, dass er der Wahrheit näher stand. Er war erleichtert, dass der Papst ihn nicht mit der Leichenräumung beauftragt hatte. Die Leichensammler waren die Wächter des Todes. Glockengebimmel kündigte ihr Erscheinen an. Sie kamen im Morgengrauen, um die Toten zu holen, und lebten nicht lang. Die Beseitigung der Pestopfer oblag ihnen. Er fürchtete den Tod. Ihn zu umgehen hatte all die Jahre lang große Aufmerksamkeit gefordert. Aber nachdem er Anna zusammen mit dem Architekten aus Florenz gesehen hatte, war ein Zorn in ihm gewachsen. Er hatte begriffen, dass seine neue Stellung eigentlich nur dazu diente, ihn von ihr fern zu halten. Er wollte nicht länger gegen den Tod ankämpfen. Der Esel war störrisch. Der Pfarrer blieb stehen und atmete aus. »Das ist die letzte Steigung«, sagte er zu dem Esel und versetzte ihm einen Hieb mit dem Zweig, den er in der Hand hielt. Im Mondlicht konnte er Annas Bauernhof sehen.
Eine einsame Gestalt kam den verlassenen Weg vom Haus herunter. War das die Färberin, die wieder einmal auf der Suche nach einem Liebhaber war?, fragte er sich. Eifersucht verfinsterte sein Gemüt. Wie zwei Pflanzen hatten sie und Rossellino sich ineinander verschlungen. Er peitschte den Esel härter als notwendig und erklomm den letzten Hügel. Seine Gedanken drehten sich um Dämonen und Gottes Rache. Um die Sünden, die er begangen hatte. Es war nichts mehr übrig von seiner Ehre und seiner Macht. Er fühlte sich klein, kleiner als früher. War der See erst fertig, würde er womöglich noch als Fährmann enden. Flüchtige Begegnungen mit Reisenden. Niemand, den er in Gottes Namen ermahnen konnte. Er war ans Ende des Weges gelangt. Für Männer, die gesündigt hatten wie er, begann der Tod oft mit Handschellen und Kerker. Wenn die Kerkerstrafe verbüßt war, folgte das Erhängen an einem öffentlichen Gebäude. Die Heilige Schrift sagte es ganz deutlich: »Wer der Kinder eines verführt, dem wäre es besser, dass ihm ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ins Meer geworfen würde.« Er hatte versucht, andere an den Galgen zu bringen. Doch der Papst hatte nicht auf ihn gehört. Hätte er Seine Heiligkeit dazu bringen können ihm zuzuhören, dann wäre über Bernardo zweifellos der Bann verhängt worden. Er blieb stehen und lachte laut und voller Verachtung, als ihm sein eigener Fall bewusst wurde: ein jämmerlicher Nachtwächter, der aufpassen sollte, dass Säcke und Fässer dem Druck der Wassermassen standhielten. Ein abgesetzter Pfarrer, der seinen Leib als Schild gegen Horden von Mauren einsetzen sollte, die des Nachts über die Brücke stürmten. Denn womit sonst sollte er Pienza verteidigen? Er, der niemals eine Waffe gegen einen Menschen erhoben hatte?
Er war ein Soldat Gottes. Kein schlichter Aufpasser, dachte er trotzig. Er bog vom Weg ab. Wurzelwerk und Efeu stellten ihm ein Bein. Dämonen, wie Caterina sie gejagt hatte, wollten sich in ihm verkriechen. Böse Mächte, denen er nicht entrinnen konnte. Er war unterwegs in den Wald, überlegte es sich aber anders. Er brauchte nicht die Dunkelheit eines Waldes. Er konnte im Licht sterben. Er atmete schwer. Er hatte den höchsten Punkt des Berges erreicht. Vor ihm lag die Burg. Er stellte sich neben einen knorrigen Olivenbaum. Die Angst hatte gesiegt. Sie übermannte ihn, als er begriff, dass er Gott als Werkzeug verloren hatte. Ohne die Macht, die sein Priesteramt ihm verlieh, konnte er Anna nicht bezwingen. Sankt Caterinas Mönch hatte es ihm vorgemacht, er hatte sich an einem Baum erhängt, als er seine Geliebte nicht bekam. Nun war die Reihe an ihm. Er blickte sich um. Hier hatte Sankt Caterina den Menschen die bösen Geister ausgetrieben. Da stand sie vor ihm und leuchtete, der eigentliche Engel, der über das Tal wachte, Caterina die Heilige, die Papst Gregor heim nach Rom geholt hatte. Oh, Gott. Der große Gott, den er verloren hatte. Caterina hatte sicher all sein Tun von hier aus gesehen. Wie auf einer Bühne hatte er Untat auf Untat vollbracht, unter den Blicken der heiligen Caterina. Durch Dornengestrüpp hatte er schließlich den Weg zu ihr gefunden. Wie weit der Weg zu Gott für manch einen war. Er weinte, wie er seit langem nicht mehr geweint hatte. Im Licht des Mondes schien es ihm, als sähe er einen Engel. Der Engel hielt eine Flasche Purpurtinte in der Hand. Es war Sankt Caterina, die ihm erschien. Hatte sie nicht die rote Farbe entdeckt, als sie hier im Tal lebte? Ja, so war es, das wusste jeder. Ihre ersten
Lettern hatte sie in Purpur geschrieben. Und sie hatte es hier getan. Sie hielt die Flasche mit der Tinte vor ihm in die Höhe, so als wolle sie ihn daran erinnern, was die Purpurfarbe aus ihm gemacht hatte. Er nahm das Seil und knüpfte es an einen Ast des Olivenbaums. Dann schob er einen morschen, entwurzelten Baumstumpf unter den Ast und legte sich die Schlinge um den Hals. Wieder ging ihm die Stelle in der Schrift durch den Kopf: »Wer der Kinder eines verführt, dem wäre es besser, dass ihm ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ins Meer geworfen würde.« Das waren Jesu eigene Worte. Er musste gehorchen. Wie weit war der Weg zu Gott. Dunkel und hell zur selben Zeit. »Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedeckt ist!« Der Mühlstein hing schon schwer um seinen Hals, dachte er und zog das Seil straff. Er warf einen letzten Blick auf Lorenzos Hof, das verborgene Ziel seiner Begierde. Dort war das Licht des Verlangens und der Liebe in ihm entzündet worden. Wieder fiel sein Blick auf die Gestalt, die den hellen Weg entlangging. Sie bewegte sich auf Lorenzos Hof zu. War das die Ketzerin Anna, die sich einsam zu Lucrezias Grab schlich? Er wusste, dass es ihr verboten war. Die Färberin, die nicht verstanden hatte, dass er sie zur Absolution hätte führen können. Sie wusste sehr wohl, was das Sakrament der Buße verlangte: Reue, Bekenntnis und Sühne. Er hätte ihr helfen können. Doch sie hatte sich geweigert, ihm unter vier Augen ihre Beichte abzulegen, obwohl sie viele Jahre lang seiner Pfarre angehört hatte.
Jetzt sah er, wie die Gestalt vor der Kapelle auf dem Gutshof stehen blieb. »Satan«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie war in Gottes Herrschaftsbereich eingebrochen. Sie, die dazu verurteilt war, ausgestoßen zu sein, verschaffte sich Zutritt zu Gottes Altar und erschlich sich Jesu Leib und Blut, in dem Glauben, niemand sähe sie. Er würde sie daran hindern. Er würde sie zerbrechen. Er würde sie besitzen. Heute Nacht. Er zog den Kopf aus der Schlinge und stieß den Stubben zur Seite. Nun galt es, sich zu beeilen, die bewaffneten Männer des Papstes zu wecken, die in der Dämmerung unter den Bäumen schliefen. Seine Schar musste hinaus in den Kampf. Dies war sein Kreuzzug gegen den Antichrist. Mit Peitschenhieben trieb er den Esel in raschem Schritt den steilen Abhang von Rocca di Tentenanno hinab.
D
er Speer ging geradewegs durchs Herz«, flüsterte der Pfarrer. Anna bemerkte, dass er ein Schutzgebet sprach, während er das Eisenkreuz hochhielt, als wollte er sie abwehren. Die Soldaten, die Andropolus’ Leiche durch das Tor getragen hatten, standen unmittelbar hinter ihm. »Warum?«, wisperte sie. »Er wollte das Grab Eurer Tochter schänden«, antwortete er und ließ das Kreuz sinken. »Er brach in die Kapelle ein, als er uns kommen sah, und er hatte ein Messer gezückt.« Anna nahm den Kamm, der auf Andropolus’ Brust lag. »Ist es dieser Kamm, den Ihr ein Messer nennt?« »Ein Messer. Es war zweifellos ein Messer. Wozu brauchte er einen Kamm, wenn er doch einbrechen wollte? Er hatte ein Messer bei sich, für den Fall, dass er überrascht würde.« »Diesen Kamm gab ich ihm für Lucrezia«, erwiderte sie mit kalter Stimme. »Etwas anderes als den hielt er nicht in der Hand.« »Ein Sklave hat nichts auf einem christlichen Friedhof zu suchen«, wand sich der Pfarrer. »Er war kein Sklave«, entgegnete Anna. »Er war Lorenzos und mein Ziehsohn. Wir hatten ihn in unsere Familie aufgenommen.« Sie bemerkte, wie der Pfarrer es mit der Angst bekam. »Die Wächter der Brücke haben ihn getötet«, verteidigte der Pfarrer sich. »Ich schwöre bei Gott, dass ich nur den Damm bewachte, als sie mich plötzlich alarmierten. Ich bin ein unbewaffneter Mann. Ich töte keine Menschen.« Liam stand neben Anna und beweinte Andropolus’ Tod. »Hast du ihn doch noch gekriegt«, sagte er mit bitterer Stimme zum Pfarrer.
Die Soldaten, die Andropolus getötet hatten, entfernten sich. Leise sprachen sie mit Annas Bewachern. Aber nicht leise genug, Anna konnte hören, was sie sagten. »Nicht wir haben ihn, sondern der Pfarrer hat uns vom Einbruch in Lorenzos Kapelle alarmiert«, sagte der eine. »Wir ritten, so schnell wir konnten. Der Pfarrer dachte, es sei die Signorina, die das Verbot des Papstes missachtet habe. Dass es der Junge war, haben wir erst gemerkt, als es zu spät war.« Anna erstarrte bei dem, was sie hörte. Der Pfarrer stand nicht mehr hinter ihr. Er war in der Dunkelheit verschwunden.
Er verbarg sich hinter einem Olivenbaum und starrte sie aus seinem Versteck heraus an. Anna konnte das Weiße in seinen Augen leuchten sehen. Der Pfarrer hatte sie töten wollen. Jetzt hatte sie Gewissheit. Mit dem Rücken zu ihm sank sie auf eine steinerne Bank. Frierend saß sie so da, bis die Sonne hinter den Bergen aufstieg. Der Pfarrer hatte seinen Blick auf sie geheftet. Doch sie wich nicht von der Stelle, blieb ganz ruhig sitzen und wandte den Kopf kein einziges Mal, um nachzusehen, ob er sie noch belauerte. Sie weinte nicht. Erst als die Strahlen der aufgehenden Sonne sich in den Schwertern der Soldaten brachen, begannen die Tränen zu rinnen. Sie betrachtete die Männer, die ihn getötet hatten. Sie waren nur wenige Jahre älter als Andropolus. Junge Burschen, die man aus dem armen Helvetien angeworben hatte. Für Geld würden sie jeden Mord begehen, so arm waren sie. Anna war sicher, dass Andropolus alles darum gegeben hätte, ihren federgeschmückten Helm tragen zu können. Aber sie wusste auch, dass er es niemals über sich gebracht hätte, zu töten.
Sie trocknete ihre Tränen, doch vergeblich. Ihre Schläfen pochten, Mund und Rachen waren wie ausgedörrt. Sie bat Liam, ihr Wasser zu holen. Niemand außer Liam nahm Anteil an Andropolus’ Schicksal. Die Soldaten und ihre Wächter unterhielten sich darüber, dass Papst Pius seine Kreuzzugspläne vielleicht fallen lassen musste. Es gelang ihm nicht, die europäischen Reiche für einen Krieg gegen die Türken zu gewinnen, sagten sie. Lediglich Philipp von Burgund und der Betreiber eines Freudenhauses in Norditalien hatten ihre Unterstützung zugesagt. Ihre Wächter lachten höhnisch, als sie erzählten, der Freudenhauswirt habe damit geprahlt, zehntausend Söldner verpflichtet zu haben.
In der Nacht zeigte der Papst sich ihr in einem Traum. »Hörst du«, sagte er. »Ein Rauschen wie von einem Vogelzug. Ein Kreuzzug nähert sich.« Sie hörte, dass sie von Osten kamen. »Meine Schlacht ist verloren. Die Soldaten beten zu Allah.« Sie träumte, dass sie an der Via Sacra stand, während Sultan Mehmet zum Capitol hinaufritt. Ein Lorbeerkranz krönte sein Haupt, und seine Stirn war mit Purpur bestrichen. Er feierte seinen Sieg über Rom. »Ich bin der Pontifex Maximus, der größte Brückenbauer zwischen Himmel und Erde«, flüsterte Mehmet und neigte sich zum Gebet gen Mekka. Am nächsten Morgen erwachte sie davon, dass ihre Olivenbäume in hellen Flammen standen. Anna wusste, was das bedeutete. Jemand wollte sie brennen sehen.
Sie bat um Begleitung zu den Gipfeln von Tolfa. Sie erklärte ihren Wächtern, dass die Reise ein Teil der dritten Stufe des Sühnesakramentes sei. Sie musste drei gute Taten vollbringen, die sich speziell an Papst Pius richteten. Der Pfarrer hatte auf ihrem Hof Quartier bezogen. Seine Soldaten hatte er zurückgeschickt, den Damm zu bewachen. Er leistete derweil Annas Wächtern Gesellschaft. Als er von ihrem Plan erfuhr, wollte er sie daran hindern. Er fragte, ob sie ihre täglichen Bußgebete gesprochen habe. »Ich bin dem Wächter eines Staudamms keine Rechenschaft schuldig, auch wenn er früher einmal Pfarrer war«, antwortete Anna. »In meinem Herzen bin ich immer noch Pfarrer«, sagte er hochmütig. »Ihr wart es. Jetzt seid Ihr es nicht mehr«, erwiderte sie. »Sprich mir nach«, sagte er und faltete die Hände. »Ich bekenne meine Sünden vor dir und verschweige nicht meine Schuld. Dem Herrn will ich meine Missetaten bekennen. Du nimmst hinweg meine Sünden.« Anna wiederholte seine Worte nicht. »Ihr tätet gut daran, diese Bitte für Euch selbst zu sprechen. Ihr habt die Männer zum Mord an einem Unschuldigen aufgehetzt. Bewacht lieber den Damm, wie der Papst es Euch aufgetragen hat. Ich brauche Euch nicht als Wächter«, entgegnete sie bloß. Anna hatte erkannt, dass der Pfarrer beabsichtigte, sie aufzuhalten. Er wollte dem Vatikan Bericht erstatten und sie der Inquisition melden. »Um das Leben des Papstes zu beschützen, hat sein Leibwächter Euch unter Hausarrest gestellt. Ihr könnt nicht ohne Erlaubnis von Herrn Lorenzo reisen«, sagte er und sah sie streng an.
»Es gibt keinen Grund anzunehmen, ich wolle das Leben des Papstes in Gefahr bringen. Meine Bewacher werden mich auf der Reise begleiten.« »Die Signorina hat keine Erlaubnis, eigenmächtig von der üblichen Bußregelung abzuweichen. Die Signorina hat die Abfolge von Almosen, Andacht und Gebeten zu befolgen.« »Ich habe eine Absprache mit dem Heiligen Vater. Ich entscheide selbst über die Art meiner Sühne.«
Der Pfarrer dachte nach. Vielleicht konnte er einen Vorteil aus der Reise schlagen? Es konnte dazu führen, dass er sie für sich selbst bekam. »In dem Fall übernehme ich die Verantwortung«, sagte er. Anna legte ihr weißes Bußgewand an. Zusammen mit Liam und ihren Bewachern ritt sie in leichtem Nieselregen durch das Tal. Der Pfarrer folgte ihnen in gebührendem Abstand. Er war zurückgefallen; die anderen hatten Pferde und er nur einen Esel. Aber er trieb das Tier mit Stockschlägen vorwärts und kannte keine Gnade. Mit großer Mühe gelang es ihm, den Zug nicht aus den Augen zu verlieren. Während des Ritts fiel sein Blick immer wieder auf seine Hände, die die Zügel hielten. Waren das seine Hände? Sie, die sonst bleich gewesen waren, weil immer nur in geschlossenen Räumen gefaltet, waren durch ihr Wirken in der freien Natur braun geworden. Sie ragten aus zerfransten Mantelärmeln heraus. Es war, als gehörten sie gar nicht zu ihm. Als hätten sie ihre magische Kraft verloren, Frauen in die Knie zu zwingen. Er fühlte sich abgerissen und ärmlich. Wie schade, dachte er, dass er die neuen Kleider, die er am Tag der Kirchweihe vom Papst bekommen hatte, an den jetzigen Pfarrer hatte übergeben müssen.
Die neuen Schuhe hatte er ebenfalls übernommen. Den steilen Bergpfad hinauf nach Tolfa fühlte der Pfarrer sich geführt. Wie ein Pilger auf dem Weg vom Abgrund der Sünde hinauf in den neunten Himmel ritt er dem Sonnenhimmel entgegen. Jenem Himmelskreis, wo die Engel sich offenbarten. Dort sollte Anna ihr Bußgebet sprechen. Sie war auf dem Berggipfel angekommen, hoch zu Pferd saß sie, um Gottes Himmel nahe zu sein, wenn sie sich ihm fügte. Er fühlte sich erhaben. Sie waren allein. Die Soldaten hatten sich am Fluss niedergelassen, der ins Meer führte. Der Augenblick war gekommen, ihr zu bekennen, dass er eine der sieben Todsünden begangen hatte. Sie, die ihn zum Guten führte, konnte mit ihm tun, was ihr beliebte; sie konnte ihn in die Hölle der Verräter schicken, wo die Sünder ihren Körper verloren. Das Herz hämmerte in seiner Brust, doch davon wusste sie nichts. Sie ahnte nicht, wie die Sehnsucht ihn zum Bösen getrieben hatte. Ihn, einen armen Bauernsohn. Einen abgerissenen Burschen, der einst gehungert hatte, um ein gelehrter Mann zu werden. Ihm fehlte das Gebaren, das zu einem hohen Rang verhalf. Nur die Frauen hatten sich vor ihm verbeugt. Er hatte sie nicht mit den Händen berührt. Er hatte ihnen nur tief in die Augen geblickt und sie gesegnet. »Es war die Gestik«, flüsterte er vor sich hin. Anna war damit beschäftigt, einen Stein zu untersuchen, und hörte ihn nicht. »Die Gestik«, sagte er etwas lauter. Der Wind verschluckte die Worte. Er musste es herausschreien, damit sie es hörte. »Es ist die Gestik, die mich von euch Hochwohlgeborenen unterscheidet«, rief er. Was war an diesem Stein, das sie so fesselte? Er nahm eine trockene Feige aus seiner Tasche und hielt sie ihr hin. Vielleicht war sie hungrig. Doch sie nahm seine ausgestreckte
Hand nicht wahr. Für sie war er unsichtbar. Auch sie glaubte nicht an das Gute in ihm. Er wusste nicht, wann der gute Wille ihn verlassen hatte. Den Rücken Anna zugewandt, blickte er über das Gebirge. Stieg vom Esel und kniete am Fluss nieder, um zu trinken. In weiter Ferne konnte er die Inseln Giglio und Giannutri ausmachen. Vielleicht hatte das Gute ihn bei der Begegnung mit dem Papst und seinem Gefolge am Flussufer verlassen, ausgetrieben mit dem Weihrauch, der die bösen Geister aus der Kirche Sankt Niccoló hatte vertreiben sollen. Damals hatten die Kardinäle und Soldaten des Papstes ihren Narren mit ihm getrieben. Nicht einmal die Kardinäle hatten ihm Jesu Gaben der Barmherzigkeit angedeihen lassen. Der Papst selbst hatte entschieden, ihn zu befördern. »Bischof von Corsignano«, hatte er gesagt. Hatte ihm das Wort unsichtbar versiegelt vor die Nase gehalten, ihn gelockt, ihn versucht, sodass in derselben Nacht, als Eros ihn entflammte, ihm das Wort in den Kopf kam. In derselben Nacht, in der das Kleid in seinen Olivenbaum herabfiel und der Hirtenjunge ihn dazu brachte, ihn für ein von Gott gesandtes Weib zu halten. In dieser Nacht wurde er zum Bischof von Corsignano. Langsam richtete er sich auf und starrte Anna an. Trotz all des Bösen, was sie ihm angetan hatte, sah sie ihn nicht. An allem war Papst Pius schuld.
Pius’ Versprechen, dass er, der Pfarrer, sich über die anderen erheben und ihr Herr werden solle, hatte das Böse in ihm wachgerufen. Er war dazu bestimmt, in der Hölle der Falschheit zu schmoren, wo solche wie er ihren Leib verloren. Sein Charakter hatte ihn im Stich gelassen.
A
nna sah sich in der Landschaft um. Das Gebirge über Tolfa war mit großen Waldflächen bewachsen. Da es nicht weit bis zum Meer war, rechnete sie sich aus, dass es Salz im Gestein geben müsste. Sie begann nach der Pflanze zu suchen, deren Abbildung sie im Buch gesehen hatte. Ihre Bewacher lachten, als sie einen weißen Stein aufsammelte und daran leckte. Dann steckte sie ihn in den Mund und biss darauf. Der Pfarrer schnaubte verächtlich, als er es sah. »Gehört das Verspeisen von Steinen zur Bußübung?«, sagte er und hielt ihr erneut eine getrocknete Feige hin. Sie übersah seine Hand auch diesmal wieder. Gelächter. Sie ließ sie gewähren. Sie suchte weiter, und sie fand, wonach sie gesucht hatte. Die Pflanze, die bestätigte, warum der Stein salzig schmeckte. Sie sagte den anderen nichts davon. Sie ritt über weite Strecken und sammelte Steine in einen Leinbeutel. Sie ritt stundenlang von einem Berg zum nächsten und spürte keine Müdigkeit. Sie untersuchte den Untergrund genau, bis sie sicher war, dass es auf den Anhöhen von Tolfa, südlich des Monte Amiata, eine große Ader salzhaltigen Gesteins gab. Bald würde sie dem Papst wieder Farbe liefern können. Auf dem Heimweg übernachteten sie in Klöstern, und am Tage ritten sie an den Seen von Bolsena vorbei und weiter durch die Kastanienwälder von Savona, bis sie die Via Francigena erreichten. Kurz vor dem Val d’Orcia verließen sie die Pilgerstraße und ritten den Bergweg im südlichen AmiataGebirge entlang hinauf zum Kloster Abbadia San Salvatore.
»Heute kann ich Eurer Heiligkeit den Sieg über die Türken bringen«, schrieb sie an Papst Pius.
Anna saß an einem Tisch im Kloster. Liam stand neben ihr und las, was sie niederschrieb. Er machte Vorschläge für Worte und Wendungen, ohne dass sich jenen, die um sie herumstanden, der Inhalt erschloss. Zwei Mönche warteten darauf, dass sie den Brief beendete. Sie wollten zeitig am nächsten Morgen nach Rom reiten und das Schreiben überbringen, das sie für ein Bittgesuch hielten. »Ich habe sieben Berge gefunden, so reich an Alaunkristallen, dass sie sieben Welten versorgen könnten«, schrieb sie. »Eure Heiligkeit findet die Ader auf den Anhöhen über Tolfa. Falls Eure Heiligkeit das Mineral abzutragen wünscht, können Gruben gebaut und die Adern geschmolzen werden, wie es die Römer in der Antike auf Ischia taten. Wenn der Heilige Vater meinem Rat folgt, wird Er das ganze Abendland mit Alaun versorgen können, sodass die Türken all ihre Einnahmen in Europa verlieren. In diesen Bergen gibt es Wald und Wasser in reichen Mengen. Die Hafenstadt Civitavecchia liegt in der Nähe. Dort kann der Alaun auf Schiffe verladen und in alle Welt gebracht werden. Nun kann der Heilige Vater den Kreuzzug gegen die Türken planen. Die Gruben werden dem Vatikan großen Reichtum einbringen. Ich wage zu hoffen, dass Eure Heiligkeit meine Erkundung als einen würdigen Beitrag zum Schutz unserer Religion betrachtet und dass mein Ausschluss vom heiligen Abendmahl aufgehoben wird. Ich bitte darum, meinen Fund des Mineralkristalls Alaun als drittes Glied der guten Bußtaten anzuerkennen.« Im Schein der Öllampe las Anna den Brief mehrere Male. Schließlich versiegelte sie ihn und überreichte ihn dem Jesuitenmönch, der am Kopf des Tisches saß und die Lampe hielt.
Der Mönch fragte sie, ob er das Bittschreiben im päpstlichen Bußkontor abliefern solle. Sie erwiderte, dass es direkt dem Papst und niemandem sonst zu übergeben sei. »Wir pflegen immer den Weg über das päpstliche Bußkontor zu gehen, wenn wir Bittschreiben von Frauen überbringen, die gegen das kanonische Kirchenrecht verstoßen haben«, antwortete er und warf einen unsicheren Blick zu Liam. »Handle so, wie dir geheißen wurde, Bruder«, flüsterte Liam dem Mönch zu und gab ihm den Leinenbeutel mit den weißen Steinen. »Diese Steine sollen dem Papst ebenfalls übergeben werden.« Liam war müde und wollte bei seinen Brüdern im Kloster Abbadia San Salvatore ausruhen. Er würde den Winter hier verbringen, um zu beten und zu fasten. Zeitig am nächsten Morgen zog Anna mit ihren Begleitern weiter zum Rocco di Tentenanno. Sie wollte der heiligen Caterina dafür danken, dass sie bald frei sein würde.
A
nna stand ganz oben auf der Festung von Rocca di Tentenanno. Der Wind zerrte an ihrem Haar. Sie hob das Gesicht, um den warmen Scirocco zu empfangen, der aus der Wüste kam und roten Sand mitbrachte. Sogar die Luft war rötlich gefärbt. Der linnene Schleier vor ihrem Gesicht blähte sich wie ein Kleid. Anna kümmerte sich nicht darum, ob der Pfarrer sah, dass ihr Gesicht nass von Tränen war. Er stand neben ihr, während sie ein Bußgebet sprach. Als sie das letzte Mal auf der Burg stand, hatte sie Bernardos Arme um sich gespürt. Jetzt stand der Pfarrer an ihrer Seite und starrte sie an, als läge eine große Gefahr darin, sie aus den Augen zu lassen. »Ich befehle der Signorina, vor ihrer Heiligen auf die Knie zu fallen«, flüsterte er. »Das tue ich nur, wenn ich allein bin«, erwiderte Anna. »Es fehlt der Signorina an Demut. Wisst Ihr das?« Anna antwortete nicht, sondern setzte ihr Gebet fort. »Gehorcht. Ich befehle es«, sagte er in gebieterischem Ton. »Stört mich nicht bei meinem Bußgebet«, bat sie. Die Wachen waren nicht mit ihnen heraufgekommen. Sie waren an der Brücke zurückgeblieben und hatten Anna dem Gewahrsam des Pfarrers überlassen. Sie hatte dagegen protestiert, doch der Pfarrer hatte seinen Willen bekommen. Es bestand die Gefahr, dass der Damm brach. Der Fluss war bereits über seine Ufer getreten. Bald würden Lorenzos Olivenhaine und Weingärten unter Wasser stehen. Die Bauern schlossen sich den Soldaten an und arbeiteten schwer, um den Deich mit Baumstämmen und Torfsoden zu verstärken. Große Gestelle waren vor der Brücke errichtet worden, aber das Wasser strömte und stieg schneller, als irgendjemand für möglich gehalten hätte. In diesem Winter war im Amiata-
Gebirge viel Schnee gefallen, und große Mengen Schmelzwasser drängten hinab zum Meer. Anna spürte den Druck der Einsamkeit. Selbst wenn sie sich in der freien Natur aufhielt, war ihr, als sei sie eingesperrt in einer Kammer mit verschlossenen Türen. Die Trauer um Lucrezia und Andropolus wollte nicht weichen. Liam war alt und wollte seine letzten Lebensjahre sicher im Kloster bei seinen Brüdern verbringen. Sie vermisste Bernardo. Warum kam er nicht? Hatte ihre Begegnung für ihn vielleicht nicht dieselbe Bedeutung gehabt wie für sie? Die Erinnerung an seinen Atem auf ihrem Gesicht ließ sie den Text ihres Bußgebetes vergessen. Stattdessen flüsterte sie ein Gebet um die Erfüllung ihrer Liebe. Ihre einzige Rettung. Die Erlaubnis, lieben zu dürfen. Sobald sie die Absolution erhalten hatte, würde sie nach Florenz reisen und Bernardo suchen. Und wenn sie ihn tief in den Marmorsteinbrüchen von Carrara suchen musste, sie würde ihn finden.
D
er Pfarrer stand auf dem äußersten Söller der Festung und ließ Anna nicht aus dem Blick. Für ihn besaß sie eine Schönheit, die mächtiger war als die des Val d’Orcia, eine Schönheit, die ihn stärker ergriff als die der Natur. Seine Augen suchten nach nichts anderem, wenn sie in der Nähe war. Doch sie wollte sich nicht öffnen. Wollte ihn nicht einlassen. Das lag vielleicht an den zerrissenen Kleidern, in denen er ging, dachte er verdrossen. Oder vielleicht lag es daran, dass sie glaubte, er wolle sie töten. Das stimmte ja nicht, so war es doch gar nicht, es waren nur die Stimmen der Dämonen in ihm, die so sprachen. Sie war so still. Hatte sie den Baum entdeckt? Er stand am Fuße des Felsens, das Seil immer noch um den Ast geknüpft. Sah sie, dass die Schlinge an einem Ende um den Hals eines Menschen passte? Vielleicht auch um den einer Frau? Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Aber Anna war nach wie vor stumm. Nicht kalt und nicht heiß, so wie er. Jedes Mal, wenn der Wind den Schleier vor ihrem Gesicht lüftete, sah er, wie ihre Lippen sich bewegten. Was mochte der Inhalt des Gebets sein? Der Pfarrer sah hinunter auf den alten Olivenbaum. Er durfte sich nicht in der Fülle ihrer Lippen verlieren, in ihrer Farbe, die an weibliche Brustwarzen erinnerte. Die Schlinge, die um seinen Hals gelegen hatte, bewegte sich sachte im Wind. Wie der Schleier ein Gesicht bedeckte, so hielt die leere Schlinge ihr Opfer vor der Welt verborgen. Ein Frösteln überlief ihn von Kopf bis Fuß. Wie war er nur auf die Idee gekommen, sich zu erhängen? Ihm schien, als sei es ein anderer gewesen, der zu dem Baum gegangen war. Ein Fremder, nicht er, hatte sich die Schlinge um den Hals gelegt. Aber er war es gewesen. Und er erinnerte sich, dass ihm im selben Moment der Einfall gekommen war, zu töten. In dem
Augenblick, als sich die Schlinge um seinen Hals zusammenzog, hatte er die Gestalt zu Lorenzos Kapelle gehen sehen. »Es ist besser, einen anderen zu töten als sich selbst«, sagte er laut. Er hatte sie aus ihrer Versunkenheit gerissen. Sie sah ihn an. Mit festem Blick. Doch er erwiderte ihren Blick nicht. Jetzt war er sichtbar geworden. Endlich. Er hatte Furcht in ihr geweckt. Das war der Sieg. Ihre Furcht würde ihm helfen, sie zu besitzen. Während sie ihn ansah, beobachtete er die Bewegungen des Seils im Wind. Es hing dort bereit zum Töten, dachte er. Die Schlinge passte. Das wusste er. Der Baumstumpf, den er beiseite gestoßen hatte, passte ebenfalls. Es zeugte von seiner Lebenskraft, dass er ihn so weit vom Baum fortgestoßen hatte. Eine Kraft, die zurückgekehrt war, als er meinte, Anna auf dem Weg zu Lorenzos Kapelle zu sehen. Gott hatte nicht gewollt, dass er starb. Er hatte ihm eine neue Aufgabe gegeben. Er sollte dafür sorgen, dass Anna rein wurde. Der Pfarrer drehte sich um und starrte ihr in die Augen. »Was sagtet Ihr?«, fragte Anna. »Töten ist besser, als selbst zu sterben«, erwiderte er. Er merkte, dass er lächelte, als er es sagte. Das Lächeln erzählte, dass er sie liebte, bis dass der Tod sie schied. Sie waren beide einsam. Er war der Einzige, den sie hatte. Seine Worte waren ihr ein Rätsel. Und indem er sich entfernte, hatte er sich anziehender gemacht, hoffte er. Während er Annas zunehmende Unruhe genoss, fiel ihm ein, wie er nackt vor einem geborstenen Spiegel gestanden hatte. Er selbst hatte ihn zerbrochen, aus Zorn darüber, dass er seine Gestalt genauso verzerrt darstellte wie früher. Am selben Morgen war er gegangen, sich zu erhängen. In der Nacht hatte
er geträumt, Anna habe sich ihm hingegeben. Er war voller Hoffnung aufgewacht, die sich vor dem Spiegel in Schwermut verwandelte. Die Zeiten waren vorbei, da er seine Mängel mit dem Mantel der Macht verhüllen konnte. Seinen Priesterrock trug ein anderer, einer, der in seinen Schuhen und mit seiner Bibel unter dem Arm ging. Jetzt überkam ihn dieselbe Schwermut. Er wandte sich ab. Es wäre besser gewesen, er hätte sterben dürfen, dachte er. Aber das sagte er nicht. Denn er wollte sie durch Furcht bezwingen, wenn er sie schon nicht durch Gott bezwingen konnte. Deshalb wiederholte er: »Töten ist besser.« Das Wort hing zwischen ihnen in der Luft, es war so voller Macht. Er durfte sie nicht berühren. Wenn er das tat, würde alles verkehrt laufen. Er richtete seinen Blick auf den Fluss, der sich um den Fuß des Burgfelsens wand. Während er ein Wunder geschehen sah, spürte er die Scham in sich aufsteigen. Der Fluss änderte seine Farbe. Rote Erdmassen hatten sich vom Flussufer gelöst und das Wasser in Blut verwandelt. Entwurzelte Bäume wurden mit großer Kraft gegen den Damm geschleudert. Eine Welle aus Schlamm und Geröll erhob sich, und er hörte ihr Brüllen, als sie auf den Damm traf. »Terra rosso!«, rief er. Die Stützen, die an der Brücke befestigt waren, brachen zusammen, und Sandsäcke wurden mit dem Strom fortgeschwemmt. Alle, die nicht schnell genug hatten fliehen können, stürzten in die reißenden Fluten und ertranken. Der Pfarrer schrie: »Großer Gott, hilf!« Es war kein Hirngespinst, wie er zuerst geglaubt hatte. Der Damm brach direkt vor seinen Augen. Es war zu spät. Was konnte er tun? Er hatte sein Versprechen, dass er dem Papst gab, gebrochen. Er hatte Anna bewacht anstatt des Damms. Gott hatte ihn auf das Grausamste gestraft.
Er schrie zum Himmel hinauf, als er die Brücke in den tosenden Wassermassen zusammenbrechen sah. »Gott, strecke deine Hand aus und halte die Fluten auf!«
Der Himmel war genauso rot wie das Wasser. Der rote Sand der Wüste war mit dem Scirocco ins Tal getragen worden und hatte alles bedeckt. Ihm war die Farbe der Wüste bisher nie aufgefallen. Terra rosso kündigte nahendes Unheil an. »Allmächtiger Gott! Ich bitte um Vergebung! Herr, du ließest den Damm des Papstes brechen, um mich für meine Sünden zu bestrafen. So straft Jesus nur einen, der eines seiner Kinder verführt hat. Ich bekenne! Ich bekenne, mein Zölibat mit der Tochter des Leibwächters gebrochen zu haben«, schrie er zum Himmel empor. »Hänge den Mühlstein um meinen Hals und versenke mich auf dem Grund des Meeres. Vollbringe Jesu Worte. Die Strafe des Papstes wird schrecklicher sein als die deine«, flüsterte er zum Schluss. Ihm war, als kehrte der Augenblick unter dem Olivenbaum zurück. Die Dämonen hatten gesiegt.
A
nna sah es. Die Brücke brach unter der Gewalt von Erde und Wassermassen zusammen. Menschen schrien, bevor sie von dem schäumenden Fluss verschlungen wurden. In dem Inferno aus Schreien und Rufen hörte sie den Pfarrer um Gnade flehen und verstand, dass er seine Schuld an Lucrezias Tod bekannte. »Was habt Ihr meiner Tochter angetan?« Sie standen Angesicht zu Angesicht. Er klammerte sich an sie und weinte so herzzerreißend, dass sie sich nicht wehren konnte. Er verbarg sein Gesicht im weichen Stoff ihres Mantels, bis ihm langsam aufging, dass er eine Beichte abgelegt hatte. Sein Gesicht war dicht neben ihrem, und heiser flüsterte er heraus, was sie wissen wollte. »Ich tat, was ein Mann jede Nacht mit seiner Frau tut. Glaubt mir. Es waren das seidene Kleid und Sankt Agathas Brüste auf der Tafel, die mich verleiteten. Das war es, was mich das Zölibat brechen ließ. Ich glaubte, Gott stelle mich mit dem Kleid inmitten der glänzenden Olivenblätter auf die Probe. Ich begriff nicht, dass es der Teufel war, der mich besessen machte von dem Gedanken an eine Frau.« Mit tränennassem Blick sah er in ihre Augen. Sie riss sich aus seiner Umklammerung los. Sie erinnerte sich, was Lucrezia gesagt hatte: »Er wollte mich dazu bringen, dich auszuliefern. Er wollte, dass ich ihm das Geheimnis der Farbe verrate.« »Was hast du mit ihr getan, als du sie zu zwingen versuchtest, mich zu verraten?«, zischte sie. Er wich zurück. Er hatte Angst. »Nichts«, entgegnete er. »Sie zeigte mir nur den Weg zu Euch.« »Wie?«, fragte sie.
»Sie sagte, dass Ihr im Besitz eines Zaubers seid, der Meerestiere an Land locken kann«, antwortete er. Er wandte ihr den Rücken zu. Er wollte sicher nachsehen, ob es sich wirklich so verhielt, dachte Anna, dass die Wassermassen die Brücke fortgerissen hatten. Immer wieder hörte sie Menschen schreien. Sie stand unmittelbar hinter dem Pfarrer. Sie reichte ihm gerade bis zu den Schultern und fixierte einen Punkt zwischen seinen Schulterblättern. Lorenzo hatte ihr gezeigt, wo das »Nadelöhr für das Schwert« saß, diese ungeschützte Stelle, durch die eine Klinge ungehindert bis ins Herz dringen konnte. »Gott, hilf mir. Ich kann nicht still sein und dich streiten lassen«, flüsterte sie. Sie umklammerte das Messer, das mit einem einzigen Stoß in das Herz des Pfarrers dringen sollte. Doch warum war die Hand zu kraftlos zum Töten? Die Messerspitze berührte den Mantel des Pfarrers. Das Leben desjenigen, der Lucrezia und Andropolus ermordet hatte, lag in ihrer Hand, und sie vermochte nicht zuzustoßen. Nicht einmal, seine Haut zu verletzen, nicht einmal, ein winziges Loch mit der äußersten Messerspitze hineinzubohren. Sie war nicht in der Lage, zu töten. Der Kummer über den Verlust der Kinder überwältigte sie. Der Gedanke an Rache welkte dahin, und ihre Handfläche brannte wie eine offene Wunde. Der Zorn blieb aus. Stattdessen hatte sie ein Gefühl, als sei sie im Begriff, sich selbst zu töten. Das Messer glitt ihr im selben Augenblick aus der Hand, als sie ihn fallen sah. Sie hörte, wie die Klinge auf die Steine schlug. Kein Tropfen Blut klebte daran. Der Pfarrer hatte sich vornübergebeugt und sich in den Abgrund gestürzt. Sein Schrei ging im Getöse der Wassermassen unter und sie sah, dass die Äste des Olivenbaums am Fuße des Felsens ihn aufgespießt hatten. Ein
Seil, das an einem der Äste befestigt war, bewegte sich wild im Wind. Es war an einem Ende zu einer Schlinge geknüpft. Sie kämpfte lange gegen den Drang, es ihm gleichzutun.
Anna versteckte sich tief im Wald. Sie saß an einem Baum und spürte, wie ihr Körper sich veränderte. Nachdem der Pfarrer sein Verbrechen offenbart hatte, war ihr, als ob sie sich selbst nicht mehr kannte. Eine Fremde, erfüllt von Schuld für das, was Lucrezia und Andropolus widerfahren war. Sie hatte den Drang verspürt, einen Menschen umzubringen. Das Gefühl, nie wieder die Kraft zu haben, sich zu erheben, ließ sie im Gras zusammensinken. »Lucrezia«, wisperte sie. Es war Nacht. Es war still. Hin und wieder hörte sie einzelne Rufe und Weinen aus dem Tal. Mütter riefen die Namen ihrer Kinder. Doch niemand antwortete ihnen. Ihr Pferd graste neben ihr. Sie hielt sich an seiner Mähne fest und zog sich hoch. Mit den Zügeln in der Hand ging sie tiefer in den Wald hinein. Das Pferd sträubte sich. Erschreckt von der Dunkelheit und dem dichten Tann zerrte es am Zaumzeug. Sie wollte fort. Sie wollte keinem Menschen begegnen. Sie wollte nicht bleiben. Aber wo sollte sie hin? Nach Hause durfte sie nicht. Sie hatte dem Pfarrer den Tod gewünscht, und sie hatte ihn in den Tod springen sehen, ohne dass sie ihn getrieben hätte. War es ihr Wunsch, der ihn getötet hatte, oder hatte Gott entschieden? Sie wollte nie mehr zu Lorenzos Haus zurückkehren. Aber wenn sie heute Nacht im Wald bliebe, würde sie die Grenze zum Totenreich überschreiten. Sie fühlte sich wie eine Gesetzlose. Sie hatte die Zehn Gebote brechen wollen. Etwas hatte ihre Hand geführt, etwas hatte sie zurückgehalten. War es das, was Gott ausmachte? Sie blieb. Sie sehnte sich nach Bernardo.
Sie wusste nicht, ob sie weiterleben wollte. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie legte sich nieder, um zu schlafen.
E
s war Februar, und Anna wartete auf ein Lebenszeichen des Papstes. Schnee bedeckte immer noch den Gipfel des Monte Amiata. Draußen auf den Wiesen hockten die Hirten dicht an ihre Schafe gedrängt, um Schutz vor dem Wind zu suchen. Beim nächsten Vollmond sollten die Olivenbäume beschnitten werden. Diejenigen, die vom Feuer verschont geblieben waren. Drei Bäume ergaben einige Krüge Olivenöl. Noch einen Winter würde sie mit dem Wenigen, was ihr zum Leben blieb, nicht überstehen. Sie hatte immer noch böse Träume. Es war, als erwachte sie zur Dunkelheit statt zum Licht. Es ist zu spät, dachte sie an dem Tag, als die Sendboten mit dem Brief kamen. Die Absolution hatte keine Bedeutung mehr. Sie konnte sich selbst keine Absolution erteilen. Immer öfter machte sie sich schwere Vorwürfe, wusste nicht mehr mit Sicherheit, ob es ihr Wille gewesen war oder Gott, der den Pfarrer in den Abgrund geschickt hatte. In ihren Augen hatte sie unwiderruflich das Recht am Abendmahl verwirkt. Ihre Bewacher, die nichts von ihrem Geheimnis wussten, verstanden sie nicht. Wollte sie wirklich nicht zur Nachtmesse gehen? Sie wollten sie begleiten. Bei ihr sein, wenn sie den Silberschrein mit den Reliquien Sankt Agathas entgegennahm, den sterblichen Überresten der Heiligen, ein Geschenk des Papstes. Sie lehnte ab. Die Wächter schüttelten die Köpfe, konnten nicht begreifen, warum sie zurückwies, wofür sie so lange gekämpft hatte. Anna schloss die Fensterläden, damit die Sonne nicht zu ihr hineinkam. Bevor sie das Siegel des Briefes aufbrach, warf sie einen Blick zum Buch »Über die Natur«. Das Wissen daraus hatte ihr Macht und Absolution gegeben. Aber es hatte ihr
nicht den Sieg über die Natur gebracht. Über ihre eigene. Diese unverständliche Natur, die in keinem Buch beschrieben stand, die nicht berechnet oder beherrscht werden konnte. Im Halbdunkel las sie den Brief des Papstes.
»Du bist erlöst vom ›kleinen Bann‹. Ich küsse deine Stirn in Dankbarkeit. Von nun an bist du nicht länger vom Abendmahl ausgeschlossen. Deine Bußtat ist als drittes Glied der ›guten Taten‹ angenommen. Ich kann bestätigen, dass das, was du gefunden hast, Alaun ist, und dass es sich so verhält, wie du sagtest. Die Ader kann das ganze Abendland versorgen. Grubenarbeiter aus Genua mit Erfahrung aus den Gruben des Orients waren bereits dort, um den Fund in Augenschein zu nehmen. Sie bestätigen, dass du Recht hattest. Die ersten Proben haben alle Erwartungen übertroffen. Alaun wurde nach Venedig und Florenz gebracht. Kaufleute aus Genua haben Alaun für 20 000 Dukaten bestellt. Cosimo de’ Medici hat eine Bestellung für 75 000 Dukaten in Auftrag gegeben, und er wird mehr daran verdienen, als er sich jemals erträumt hat. Gott hat dich geleitet, den richtigen Stein zu finden, um uns zu ermutigen, unsere Religion zu beschützen. Mit Gottes Hilfe hast du den Kreuzzug ermöglicht. Aber weder du noch ich dürfen je vergessen, dass all unsere Leidenschaft vom Schneckenpurpur entfacht wurde. Er führte mich zur Poesie und dich zu mir. Wärst du nicht gekommen, wäre vielleicht niemals Alaun in Italien gefunden worden. Mein Kreuzzug gegen die Türken wäre vermutlich nicht einmal geplant worden. Dank sei den Schnecken Nucella und Murex. Ihre Zeit ist vorbei, und nun kann das kleine Geschöpf mit den Fühlhörnern friedlich im Meer leben, unberührt von
der Gier der Menschen, auch wenn sich nichts mit der Farbenpracht des Schneckenpurpurs messen kann. Die purpurnen Gewänder der Kardinäle werden in Zukunft der Fastenzeit, dem Advent und den Zusammenkünften des Konklave vorbehalten bleiben. Scharlachrot wird Purpur in der Mozzetta des Kardinals ablösen. Der echte Schneckenpurpur wird verschwinden, und das ›Blut des heiligen Johannes‹ aus den Eiern der Kermesschildlaus wird künftig die geistlichen Gewänder färben. Alaunsalz ist die zukünftige Grundlage für die Färbung von Wolle und Seide.«
Sie ließ den Brief in den Schoß sinken. Dann erhob sie sich und trat ans Fenster. Sie blickte hinaus über das Tal. Der Monte Amiata thronte dort wie immer. Bald würde der Papst mit seinem glanzvollen Gefolge durch das Tal reiten. Die Sonne würde in Lorenzos Speer blinken, die Begierde, die die Fähigkeit übertraf, würde an Konstantinopel gemessen werden. Sie wartete auf das freudige Gefühl, frei zu sein. Doch es stellte sich nicht ein. Dafür kam der Gedanke, dass ihr Fund Lorenzo in den Krieg schicken würde, den er mehr als alles andere fürchtete. Sie war so versessen darauf gewesen, ihre Absolution zu bekommen, dass sie den Krieg vergessen hatte, der Lorenzos Ende bedeuten würde.
EPILOG
Nach langer Krankheit suchte Bernardo Rossellino Anna auf. Im Frühling des Jahres 1464 verließen sie gemeinsam das Val d’Orcia und ritten auf der Via Francigena gen Norden. Im Laufe des folgenden Winters wurde Bernardo durch Krankheit sehr schwach. Er starb während der Reise durch Europa.
Papst Pius II. verließ Rom am 18 Juni 1464, begleitet vom päpstlichen Heer unter dem Kommando von Lorenzo. Er hatte sich aufgemacht, seinen Kreuzzug gegen Sultan Mehmet in die Tat umzusetzen. Als der Papst in Ancona ankam, erwartete ihn kein Schiff im Hafen. Erst am 11. August erreichte ein Schiff aus Venedig Ancona. In der Nacht vom 14. auf den 15. August starb Papst Pius am Fieber. Sein Leichnam wurde nach Rom gebracht und im Petersdom beigesetzt.
Nach dem Tod des Papstes kehrte Lorenzo ins Val d’Orcia zurück. Er heiratete nie mehr. Im Jahre 1469 starb er. Die Söhne, die er mit Sklavinnen und Mägden gezeugt hatte, wurden in die Familie aufgenommen und teilten sich das Erbe. Anna kehrte an die Westküste Norwegens zurück. Sie beschloss, die Reliquie Sankt Agathas der ersten Kirche zu übergeben, auf die sie nach der Überfahrt von Deutschland treffen würde.
Die Reliquie der heiligen Agatha hat noch heute ihren Platz im Dom zu Stavanger, und die Tafel mit dem Martyrium Sankt Agathas befindet sich im Besitz des Vatikans.