Rudolf H. Daumann
Protuberanzen
Gefahr aus der Sonne Ein deutsche Wissenschaftler macht eine katastrophale Entdeckung:...
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Rudolf H. Daumann
Protuberanzen
Gefahr aus der Sonne Ein deutsche Wissenschaftler macht eine katastrophale Entdeckung: Die Ultrastrahlung der Sonne beginnt die Kohlensäure der Luft zu zersetzen, und ein Prozeß läuft an, der in absehbarer Zeit zur Vereis ung der Erde führen muß. Pläne werden entwickelt und kühne Projekte in die Wege geleitet, um die Erde vor dem Kältetod zu retten und der Menschheit das Überleben zu gestatten. Aber es sind auch verantwortungslose Kräfte am Werk, die aus der drohenden Katastrophe Profit zu schlagen versuchen. ISBN: 3-453-30244-3 Originaltitel: Protuberanzen Verlag: Heyne Erscheinungsdatum: 1973
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Autor RUDOLF HEINRICH DAUMANN Der Autor, der 1896 in Groß-Gohlau bei Neumarkt als Sohn eines Bauern geboren wurde, schlug die Laufbahn eines Volksschullehrers ein. Nach dem Ersten Weltkrieg machte er viele Auslandsreisen und arbeitete als Korrespondent. In dieser Zeit entstanden die technischutopischen Romane, die ihn bekannt machten. 1933 mußte er aufgrund seiner politischen Einstellung den Schuldienst verlassen. Während des Zweiten Weltkriegs beteiligte er sich aktiv am Widerstand gegen das Nazi-Regime. Danach lebte und arbeitete er bis zu seinem Tode 1957 in Potsdam in der DDR. Werke: Abenteuer mit der Venus (1940) Das Ende des Goldes Der Mann mit der Machete Der Streik (1932) Der Untergang der Dakota (1957) Diamanten Kiwi Kiwi (1955) Die Insel der tausend Wunder Duenn wie eine Eierschale (1935) Gefahr aus dem Weltall (1957) Herzen im Sturm (1954) Macht aus der Sonne Patrouille gegen den Tod (1939) Protuberanzen (1940) Sitting Bull - Großer Häuptling der Sioux Stürmische Tage am Rhein (1955) Tatanka Yotanka (1955)
-1 »Unsinn, mein lieber Wiedensohl!« sagte laut eine helle, frische Stimme. »Leibhaftiger Unsinn, hier in diesem elenden Südseenest eine anständige Kneipe finden zu wollen. Wir hätten besser daran getan, im Hotel zu bleiben und uns hübsch auf das Ohr zu legen.« »Abwarten, Rudolf Bracke!« Die Worte klangen dunkler, ruhiger. »Astronomen haben sonst mehr Geduld als wir hitzigen Flieger. Dicht am Molo soll ein nettes Lokal liegen, in dem sogar eine leibhaftige Europäerkapelle spielt. Wir müssen hier bald am Hafen sein!« »Eine ägyptische Finsternis in der Südsee!« erklärte wieder der erste Sprecher. »Wozu mögen in diesem verdammten Papeete nur die großen Straßenlampen über dem Makadam hängen, wenn man sie nicht anbrennt?« »Französische Großmannssucht!« stellte der andere fest. »Wenn die großen Touristendampfer auf Tahiti-Nui anlegen, dann erstrahlt das ganze Städtchen in magischer Beleuchtung. Aber für die polynesischen Mischlinge, die paar verkaterten Kolonialbeamten und uns drei Deutsche lohnt sich die Geldausgabe an so einem kommunen Wochentag nicht. Die echten Eingeborenen ge hen mit den Hühnern schlafen... « »Ich bezweifle überhaupt, daß es auf Tahiti noch reinblütige Tahitianer gibt«, wandte Rudolf Bracke ein. »Was uns bisher in Papeete vor Augen kam, waren recht unangenehme Mischungen zwischen Braun und Gelb und Schwarz und Weiß.« »Französische Kolonialpolitik!« meinte Robert Wiedensohl lachend. »Die Herren in Paris wissen, daß sich nichts so leicht beherrschen läßt wie ein Bastardvolk. Doch im Innern der Insel soll es noch unverfälschte Tahitianer geben. Dort drüben schimmert übrigens Licht!« -3-
»Dann hin zum rettenden Pol! Der Manager im Hotel Orohenu hat mir auch hoch und heilig versichert, daß es dort ein prima Spatenbräu geben soll. Marsch, marsch, Wiedensohl! Mich dürstet es fürchterlich!« Bald stolperten die beiden Nachtwanderer die Treppe zu einer Veranda hinauf, über der eine blakende Petroleumlampe hing, und fanden an einem der runden Marmortische Platz. Ein farbiger Diener erschien, die Kellnerschürze wie einen Sarong um die Hüfte geschlungen, verneigte sich unzähligema l, schleppte einen grelleuchtenden Karbidbrenner herbei und nahm auch die Bestellung entgegen. Nach einer Weile kam er wieder und servierte die Bierflaschen in einem Sektkühler, stellte hohe, schmale Gläser auf die Tischplatte und überreichte dann sogleich auf einem angesprungenen Teller die Rechnung. »Donnerwetter, Wiedensohl!« entfuhr es Bracke. »Das echte herrliche Getränk aus der Champagne, Mumm extra dry, könnte auch nicht teurer sein.« »Warum kommt man auch auf den spleenigen Gedanken, in dieser verlassenen Ecke des Stillen Ozeans ausgerechnet süffiges Spatenbräu zu trinken!« neckte ihn der andere. »Bei Ihrer Vermögensanlage aber können Sie sich ja den Scherz leisten. Der Stoff sieht übrigens recht trinkbar aus. Prosit, Herr Doktor!« »Prosit, Herr Chefpilot!... Schmeckt wirklich famos! He, Boy, stell gleich noch zwei Flaschen kalt! Und da ist das Geld!« Er warf dem Braunen mit dem üppig gekräuselten Haar einen Geldschein zu und lehnte sich dann bequem in dem Rohrstuhl zurück. Um seine schmalen Lippen la g ein richtiges Jungenlachen. Seine schlanken Hände fuhren von den Schläfen aufwärts über die hohe Stirn und durch das dichte Blondhaar. Er mochte die dreißig Jahre noch nicht erreicht haben. Der bequeme Sportanzug lag lose um seine schmalen Schultern und -4-
die schlanken Hüften. Sein Gefährte saß breit und wuchtig ihm gegenüber, den Rücken zum Park, der sich bis an das Meeresufer erstreckte. Eine kurze Haarbürste bedeckte den runden Schädel. Unter einer stark gewölbten Stirn lugten gemütliche Braunaugen über die starken Wangenpartien. Für einen braven Gastwirt aus einer deutschen Kleinstadt hätte man den kühnen Chefpiloten Robert Wiedensohl halten können, wenn man nicht in seinen massigen Schultern und seinem starken Nacken die gebändigte Kraft geahnt hätte. »Warum sind Sie eigentlich Astronom geworden, Herr Bracke?« fragte er unvermutet sein Gegenüber. »Wie kommen Sie zu der überraschenden Frage?« wollte Bracke Wissen. »Ich könnte ebensogut antworten: Warum sind Sie, Wiedensohl, Flieger geworden? Eigentlich sehen Sie aus wie ein echter hannoverscher Bauer.« »Bin ich ja auch meiner Abstammung nach!« erwiderte der Pilot. »Und wenn ich mir genug Moneten zusammengeflogen habe und die alten Knochen bei einer gerissenen Rolle ins Zittern geraten, setze ich mich zwischen Harz und Aller irgendwo in ein gottverlassenes Nest, züchte Herdbuchvieh, Kartoffeln und Saubohnen und will bei zwanzig Bienenstöcken meine Piepe in Ruhe schmauchen.« »Das könnten Sie doch jetzt schon tun! Oder hat Ihnen die Fliegerei so wenig eingebracht?« »Nein! Aber die Knochen zittern noch nicht. Sie haben wieder nur die Hälfte meiner Ausführungen ausgewertet, Herr Astronomius. Doch ich wollte etwas wissen, und nun haben Sie mich ins Kreuzverhör genommen. Warum also sind Sie Astronom geworden?« Doktor Bracke nahm erst einen ausgiebigen Schluck des schäumenden braunen Trankes, ehe er antwortete: »Tja, was Sie mich eben gefragt haben, das sagt meine ganze hohe Verwandtschaft auch immer. Warum Astronom? Und diesen -5-
lapidaren Satz mit Augenaufschlag und Vorwurf. Der Rudolf Bracke könnte doch bereits heute wie sein Vater Direktor einer Großbank sein und Geld scheffeln. Statt dessen treibt er eine so brotlose Kunst! Nun, sicher bin ich erheblich mathematisch belastet. Aber eben das reizte mich, meine Veranlagung an interessanteren Gebieten zu versuchen als nur an angewandter Prozent- und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Astronom sein, heißt nämlich Rechner sein!« »Sie haben mich nicht ganz verstanden«, unterbrach ihn Wiedensohl. »Ich habe gegen den ehrenwerten Be ruf der Sternguckerei durchaus nichts einzuwenden. Als Bankmensch könnte ich mir Sie noch viel weniger vorstellen. Aber wenn ich Sie so in Ihrer jungenhaften Schlaksigkeit dasitzen sehe, versetze ich Sie in Gedanken in eine mondäne Bar oder auf einen Golfp latz, in ein schickes Tanzlokal oder als junger Lord hingelümmelt in den Klubsessel des Vestibüls eines sehr vornehmen Hotels. Statt dessen treiben Sie sich wie ein übermütiger Schuljunge, der seinen Pensionseltern ausgekratzt ist, hier in dem finsteren Papeete herum, kriechen morgen durch Urwald und Felsstürze hinauf auf den Drohenu, nur um eine Sonnenfinsternis zu beobachten.« »Und nun sagen Sie bloß noch: Haben Sie denn das nötig?« Bracke lachte auf. »Prosit, Wiedensohl! Sie sind ein wahrhaft philiströser Wolkenkitzler!« »Wieder falsch verstanden!« brummte der Flieger. »Ein Astronom, ein Mensch, der es mit den ewigen Sternen zu tun hat, muß, so nehme ich wenigstens an, einen ernsten und gesetzten Eindruck machen, wie... « »... Professor Doktor Albin Hegar!« setzte der andere seine Betrachtung fort. »Wenn ich das Alter meines hochverehrten Lehrmeisters erreicht haben werde, wird sich auch die nötige wissenschaftliche Würde einstellen. Vorläufig aber liebe ich neben meiner Gelehrsamkeit auch noch das Leben, wogegen auch ein Herr Wiedensohl hoffentlich nichts einzuwenden hat.« -6-
»Nein, der freut sich sogar darüber!« Der Pilot hob sein Glas und trank ihm zu. Er horchte einen Augenblick lang auf das Rauschen der Südsee, dann eine längere Weile auf ein plötzlich aufklingendes Klavierspiel, das aus dem Innern des Hauses drang. »Musik!« sagte er mit einem Ton der Anerkennung. »Und wenn ich mich nicht täusche, nicht einmal schlechte!« »Sehr gute sogar!« Die beiden lauschten den perlenden Läufen. »Die Deutschen Tänze vo n Franz Schubert, direkt meisterhaft gespielt. Freilich ist der Klimperkasten da drinnen den Fingern, die ihn zum Klingen bringen, nicht kongenial.« Sie tranken in kleinen Schlucken weiter den Gerstensaft und lauschten den Melodien, bis der letzte Ton verklungen war. Nach einer Pause des Schweigens lachte Rudolf Bracke fröhlich auf: »Wiedensöhl, können Sie sich eigentlich einen größeren Kitsch denken als das Gemälde: Unter dem Kreuz des Südens und dem Triangulum australe sitzen am rauschenden Stillen Ozean zwei ergriffene Männer bei einem Topp Bier zusammen und hören zwischen Palmensäuseln und Wellenplätschern die Deutschen Tänze. Wenn wir Professor Hegar das berichten, dann wird er sagen: Narretei! Endlich wieder mal ernst werden, Bracke!« Wieder erklang das Instrument. Nach einem kurzen Vorspiel begann eine rührende Stimme zu singen. Ergriffen hörten die beiden Gefährten die sehnsüchtige Melodie, und sie erwachten aus ihren Träumen erst, als drinnen lärmender Beifall aufbrauste. Eine Menge Stimmen schrien durcheinander; Gläser klangen und zerbrachen. »Eine besoffene Bande von Tahitianern und dazu Schubertlieder?« überlegte Bracke laut. »Wiedensohl, hier stimmt etwas nicht!« Der Kellner hatte inzwischen das zweite Pärchen der silberverkapselten Literflaschen gebracht. Als ihn die beiden nach der Sängerin fragten, grinste er augenzwinkernd: »Oh, -7-
nichts als eine hübsche Chanteuse! Serr hübsch und serr frisch hier in Papeete! Monsieur Hamenene, großer Mann von Vanillezucht, gibt schönes Fest für kleines Mädchen.« »Ist es eine Deutsche?« wollte Bracke wissen. »Ich nicht wissen! Ich gar nichts nicht wissen!« sagte er schnell und verschwand wieder im Innern des Hauses. »Wollen wir uns den Zauber einmal ansehen?« fragte Wiedensohl. »Lieber nicht! Vielleicht erleben wir eine Enttäuschung. Reisende Künstlerin in der Südsee? Das ist gerade keine Empfehlung!« Der Lärm der Feier drang immer lauter heraus zu den beiden Schweigenden. Johlendes Gelächter übertönte alle Einzelheiten. Wiedensohl sprang auf: »Da hat doch jemand Hilfe! gerufen?« Plötzlich fiel ein greller Lichtschein durch eine hohe Tür, die hastig aufgerissen worden war. Eine schmächtige Gestalt in einem langen weißen Kleid rang mit einem fetten Mann, der sie in seine Arme zu ziehen versuchte. Nun hatte sie sich ihm entwunden und rannte flink wie ein Wiesel über die Veranda auf die beiden Deutschen zu. Doch der Farbige war trotz seiner Korpulenz schneller als die Fliehende. Mit einem brutalen Griff packte er sie bei der Schulter. Das Kleid zerriß. Mit einem Fetzen Chiffon in der Hand stand er einen Augenblick lang verdutzt da. Da warf sich schon Wiedensohl zwischen ihn und die Verfolgte: »Stopp, Junge! Was geht hier vor?« Ein braungelbes Gesicht verzog sich zu einer Wutfratze. Zwei grobe Fäuste stießen nach dem Gesicht des Piloten; die ausgestreckten Daumen zielten nach seinen Augen. Ein schneller Schritt rückwärts verschaffte Wiedensohl die nötige Distanz. Dann zuckten seine Arme nach vom, und dumpf knallte eine Serie von Schlägen in das schwammige Gesicht. Wie ein Mehlsack plumpste der Mischling zusammen; schlaff lag er auf dem mit Matten bedeckten Fußboden. -8-
»Alter Freund, so darfst du Wiedensohl nicht kommen!« brummte der Pilot und betrachtete kritisch sein Opfer. »Daumen in die Augen! Den chinesischen Trick kenne ich. Und dabei sieht der Mensch beinahe manierlich aus!« Er musterte den tadellosen Frackanzug, die blinkenden Lackschuhe, die wohlgestärkte Hemdbrust und die protzige Perle, die er in. der Krawatte trug. »Wer ist das?« fragte er den Kellner, der, gutturale Klagetöne ausstoßend, herbeigeeilt war. »Großer Herr Olui Hamenene! Oh, ganz tot?« stöhnte er. »Nur ein bißchen groggy! In zehn Minuten steht er wieder auf. Und wer ist der Herr Hamenene?« »Reichster Mann in Papeete! Alle Vanille sein! Viel Perlenhandel. Mächtiger als ganzer Resident!« »Reichtum verpflichtet! Dann soll er sich ein bißdien zivilisierter benehmen. Und was macht das Täubchen?« Er wandte sich an Bracke, an dessen Brust das Mädchen hing, das von einem hysterischen Weinkrampf befallen zu sein schien. Viel war von der Schluchzenden noch nicht zu sehen, so eng hatte sie sich an den Mann gepreßt. Zwei schlanke, fast dünne Arme, ein tizianroter Lockenschopf und eine nackte, perlweiße Schulter, mehr konnte der Pilot vorläufig nicht ausmachen. Sorgsam drängte jetzt Bracke das Mädchen in einen Stuhl und hielt die beiden Hände fest, die sich nervös öffneten und schlössen. Fast ein Kindergesicht, tränenüberströmt, mit einem kecken Stupsnäsdien wurde jetzt sichtbar. Der Mund war ausdrucksvoll geformt, und kräftig wölbten sich die Lippen, die immer noch vor Schreck zitterten. »Helfen Sie mir!« bat die rührende Stimme zwischen dem Schluchzen. »Ach, helfen Sie mir doch!« »Keine Bange, Kindchen!« brummte Wiedensohl. »Immer mit der Ruhe!... Aha, da ist wohl der Chef des Hauses?« wandte er sich einem verlegen lächelnden Manne zu, der sich jetzt in den Vordergrund schob. »Was hat der ganze Zauber eigentlich -9-
zu bedeuten?« Er mußte seine Frage auf Französisch wiederholen, ehe er verstanden wurde. Dann aber brach eine wahre Flut von Beschwörungen und Vorwürfen über ihn herein: »Sie haben Monsieur Hamenene doch hoffentlich keinen Schaden getan?... Ein Mißverständnis alles! Nichts als ein großes Mißverständnis, meine Herren! Diese Dame ist bei mir als Pianistin engagiert. Sie verstehen doch?... Und ihrer großen Kunst zu Ehren gab Herr Hamenene heute ein wirklich hervorragendes Souper. Er hat ihr dabei etwas stürmisch seine Verehrung zum Ausdruck gebracht. Sie faßte die Sache schief auf. Vielleicht ist sie die Glut südlicher Menschen noch nicht gewöhnt... Nur einen Kuß... was ist das schon?... nur einen Kuß wollte er von ihr haben. Nichts weiter! Da floh sie...« Wiedensohl betrachtete das Gesicht des Burschen, den er zusammengeboxt hatte, und lachte fröhlich auf: »Hat anscheinend noch einen unverdorbenen Geschmack, das Mädchen. So eine Froschschnauze, da kann man schon davonlaufen!« Das Mädchen hatte sich inzwischen einigermaßen gefaßt: »Das war abgekartetes Spiel, Herr Barthelmy!« rief es herüber. »Keinen Tag länger bleibe ich hier! Dieses Scheusal da verfolgt mich vom ersten Tag an, als ich hier mein Engagement antrat. Und Sie wollten sich einen dicken Kuppelpelz verdienen, Barthelmy!« Der kleine Franzose war die hämische Liebenswürdigkeit selbst: »Mademoiselle Veith, Sie sind in meinem durchaus anständigen Lokal als Pianistin und Stimmungssängerin engagiert. Auf zwei Monate lautet der Vertrag. Vierzehn Tage sind erst vorüber. So ein kleiner Scherz berechtigt Sie nicht zum Kontraktbruch!« Herr Hamenene schien wieder langsam zu sich zu kommen. Mit idiotischem Ausdruck hockte er auf den Matten und stöhnte -10-
einigemal, ehe er die ersten Worte formen konnte: »Wenn sie nicht will, dann gib mir mein Geld zurück, Barthelmy!« »Der Fall liegt klar!« schnitt Bracke alle weiteren Diskussionen ab. »Herr hochehrenwerter Lokälchenbesitzer, wollen Sie der Dame sofort ihre Effekten aushändigen, die fälligen Gelder auszahlen und... na, auf ein Zeugnis über Wohlverhalten und so weiter verzichten Sie wohl in Anbetracht der besonderen Umstände, Fräulein... « »... Renate Veith!« stellte sich die Schluchzende vor. »Helfen Sie mir bloß, damit ich hier herauskomme!« »Wird gemacht!« stellte Wiedensohl gelassen fest. »Also erst mal die Koffer... « »Bitte! Bitte!« dienerte der Franzose. »Die Dame kann sofort mein Haus verlassen. Aber Zahlungen leiste ich nicht! Ich habe die Überfahrt von Batavia hierher getragen... Die Gage von vierzehn Tagen langt kaum, um diesen Betrag zu decken!« »Behalten Sie Ihr dreckiges Geld!« schrie Renate Veith. »Nur heraus hier aus dieser Spelunke!« Eine halbe Stunde später standen die beiden Freunde mit ihrem neuen Schützling auf der Straße und stolperten durch die Finsternis auf ihr Hotel zu. Wiedensohl fragte unterwegs: »Wie kann so'n lüttes Mädchen eigentlich in so eine verflixte Situation geraten?« Die Pianistin schien den Schrecken vollkommen überwunden zu haben: »Von wegen lüttem Mädchen! Ich habe meine 25 Jahre schon hinter mir!« »Sieht man Ihnen aber nicht an!« neckte Bracke. »Als Musikbeflissene muß ich eben ein gewisses ätherisches Äußeres haben!« verteidigte sich Renate Veith. »Außerdem waren meine Studienjahre mehr mit trockenem Brot als mit nahrhaftem Speck gesegnet. Und was ich bisher verdient habe, hat nur gelangt, um meine Schulden zu bezahlen.« -11-
»Wie kommen Sie eigentlich hierher?« wollte Wiedensohl wissen. »Ich wollte die Welt sehen!« antwortete Renate. »Für den großen Konzertsaal reichen meine Gaben nicht aus. Aber in guten Hotels und ersten Karawansereien sucht man solche Kräfte, wie ich mir einzubilden erlaube, eine zu sein. In Alexandrien, Colombo, Singapur und Batavia bin ich immer sehr anständig bezahlt und behandelt worden. Auf Java erhielt ich ein blendendes Angebot für Papeete. Denken Sie sich: die Südsee, das ewig blaue Meer, die frohen Naturkinder... mußte das nicht locken?... Und so kam es eben, daß Sie mich erretten konnten!« Etwas spöttisch klang der letzte Satz. Bracke ärgerte es, und er fragte: »Und was hätte das mutige Mädchen gemacht, wenn wir nicht gerade auf der Veranda gesessen hätten?« »Ja, das weiß ich auch nicht! Jedenfalls aber habe ich doch durch meine Flucht zwei kühnen Meisterwerken der Schöpfung dazu verholten, ihren Mannesmut zu zeigen. Und damit habe ich auch in Papeete des Guten genug getan. Wo bringen Sie mich denn eigentlich hin?« »Zunächst einmal in unser Hotel zu Madame Brignard. Morgen wollen wir dann weiter sehen!« bestimmte Bracke. »Was werden Sie tun? Für Ihre Fähigkeiten dürfte sich auf Tahiti kaum ein neues Tätigkeitsfeld finden.« »Das wollen wir lieber dem kommenden Tag überlassen. Schief liege ich ja wieder einmal gehörig! Aber es ist noch immer jutjejange, jutjejange...!« sang sie plötzlich fröhlich. »Und was haben Sie hier zu suchen?« »Wir gehören zur deutschen Solarexpedition, die in einigen Tagen die totale Sonnenfinsternis beobachten soll. Unser Chef wird sich wundem, was wir ihm da zu nachtschlafender Zeit ins Hotel bringen. Er ist manchmal etwas knurrig, der Professor Hegar...« Bracke konnte seine Betrachtungen nicht weiter fortsetzen. -12-
»Hegar?« schrie Renate Veith erschrocken auf und blieb stehen. »Albin Hegar aus Rönneberg?« »Gerade der nämliche!« bestätigte Wiedensohl. Energisch wandte sich Renate und packte nach den Koffern, die ihre beiden Helfer trugen. »Kehrt marsch! Mein braver Onkel Albin und seine verdorbene Nichte Renate? Der kriegt einen Kollaps, wenn er mich hier auf Tahiti wiedersieht.« »Ach, Sie sind die Renate Veith?« feixte Bracke. »Die bin ich! Die des Herrn Professors onklige Unterstützung strikt abgelehnt hat, weil er meinem Vater nicht helfen wollte. Sie werden es verstehen, wenn Sie orientiert sind!« »Sehr gut! Aber nun kommen Sie mit! Gerade jetzt! Denn Professor Hegar wird sich freuen, ein Mißverständnis aufklären zu können, das beinahe eine schicksalhafte Tragödie heraufbeschworen hätte. Vorwärts, wir sind gleich in unserem Hotel!«
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-2 Sie standen bereits davor. Mildes Licht drang durch die mit Insektengaze bespannten Fensteröffnungen. Es war das offizielle Unterkunftshaus des Residenten, das der deutschen Solarexpedition für die Zeit ihres Aufenthalts in Papeete zur Verfügung gestellt war. Im Speisesaal saß allein Madame Brignard, die das Unterkunftshaus zu betreuen hatte, bei einer Tasse starkem, süßem Kaffee und begrüßte die Eintretenden freundlich: »Monsieur le Professeur arbeitet noch auf seinem Zimmer. Er kommt aber dann zu einem Schwarzen noch herab«, sagte sie, während sie neugierig das Mädchen musterte. »Fein! Er ist also in seinem Element und wird daher recht umgänglich sein!« stellte Bracke fest. »Schwarzer Kaffee nach 24 Uhr, das bedeutet eine schlaflose, durcharbeitete Nacht. Wollen Sie mich auch mit genügend Koffein versorgen, Madame Brignard? Halt, vorher brauchen wir noch ein gutes Zimmer für Mademoiselle Renate Veith, eine Verwandte des Herrn Professors.« »Aber sofort! Eine Überraschung für Herrn Hegar? Oh, er wird sich sicher sehr freuen!« »Was ich zu bezweifeln wage!« sagte Renate Veith. »Kaffee könnte ich auch eine ganze Kanne gebrauchen. Aber erst umziehen! Wenn mich mein Onkel in diesem ramponierten Gesellschaftsschwenker sieht, dann gibt es gleich in der ersten Minute ein heiliges Donnerwetter!« Sie verschwand mit Madame Brignard durch die Hintertür. Wiedensohl hatte sich bereits eine Tasse vollgegossen, schob einen Block Zucker zwischen die Zähne und sog das belebende Getränk langsam durch die süße Masse. Rudolf Bracke ging unruhig im Raum auf und ab. »Sozusagen eine kleine Familientragödie, die da im Hintergrund schlummert?« fragte der Pilot. -14-
»Teils... teils! Eigentlich nur ein bürgerliches Schauspiel, aber jetzt wäre es ja beinahe zu einer Tragikomödie der Irrungen geworden. Waren Sie vor fünf Jahren mit bei der Expedition auf dem Kljutschewskaja Sopka?« »Nein, Bracke! Ich arbeite erst seit vier Jahren mit Hegar zusammen. Wo liegt übrigens diese unaussprechliche Gegend?« »Der Kljutschewskaja Sopka? In Kamtschatka, da ganz weit hinter Sibirien. Hegar beschäftigt sich doch immer sehr stark mit den Vulkangasen, weil er aus ihnen Näheres über den inneren Zustand der Erde und damit der Sonne erfahren will. Der Kljutschewskaja ist ein Riesenvulkan von über 4800 Meter Höhe, erst in der jüngsten geschichtlichen Zeit entstanden. Ich erinnere mich mit Freuden dieser herrlichen Expedition. Es war meine erste, an der ich unter Hegars Leitung teilnahm. Von Nischne Kamtschatskoje aus hatten wir den Lava- und Tuffberg erklettert. Tage vergingen, ehe wir an dem Krater standen. Fast vier Wochen verblieben wir auf der luftigen Höhe. Einen kompletten Ausbruch mit Bombenhagel, Lapilliregen und Chlorwasserstoffgasangriffen konnten wir sogar miterleben. Mindestens tausend frische Lavaproben und mehr als zweitausend Gasanalysen gewannen wir... « »Sagen Sie mal, Doktor, was hat der spuckende Feuerberg mit der hübschen Renate Veith zu tun?« »Allerlei, lieber Wiedensohl, wie Sie gleich sehen werden. Damals geriet ihr Vater, der Schwager Hegars, in arge wirtschaftliche Bedrängnisse. Er war Großkaufmann, verspekulierte sich in irgendwelchen exotischen Dingen... Pfeffer war es, glaube ich... die Banken gaben keinen Kredit mehr... aus!... Bankrott!« »Und warum half Hegar nicht? Er gehört doch wirklich nicht zu den armen Mitteleuropäern!« »Weil er keine Ahnung von der ganzen bürgerlichen Tragödie hatte. Wir saßen auf dem Gipfel des Kljutschewskaja Sopka. -15-
Alle Wochen erhielten wir durch eine Trägerkolonne die nötigen Viktualien. Was in der Welt vorging, wußten wir nicht. Post erwartete uns erst in Nischne Kamtschatskoje. Und als wir nach sechs Wochen in das kleine Fischernest zurückkehrten, hatte der pflichteifrige Postmeister alle Sendungen wieder zurückgehen lassen, weil vom Gipfel des Kljutscheskaja noch nie ein Mensch lebend zurückgekehrt war. Auch die Telegramme. Alles lag sauber bei der Zentralstelle unserer Expedition, die ihre Zelte am Fuße des Fuji in Numaza, Insel Hondo, Japan, aufgeschlagen hatte. Inzwischen war es Oktober geworden, das Beringmeer füllte sich mit Treibeis. Wir saßen in Nischne Kamtschatskoje fest und konnten erst gegen Weihnachten mit einem Flugzeug nach Wladiwostok gelangen. Anfang Februar etwa hielt der Professor die Hilferufe seines Schwagers in den Händen. Sofort kabelte er die nötigen Vollmachten an seine Bank. Doch der Tragödie erster Teil hatte sich bereits vollendet. Gilbert Veith war einem Herzschlag erlegen, das Geschäft liquidiert. Die einzige Tochter des Kaufmanns, die bereits in früher Kindheit ihre Mutter verloren hatte, war verschwunden. Hegar hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um seine Nichte wiederzufinden. Es gelang nicht. Und nun taucht das Mädchen hier in Papeete auf! Wie bringen wir das dem alten Herrn bloß schonend bei?« »Doller Film!« brummte Wiedensohl. »Eine Geschichte, als wenn sie Raabe erfunden hätte. Das Mädchen imponiert mir. Sich so einfach durch das Leben zu schlagen... das ist gar nicht so einfach!« »Was ist nicht einfach?« fragte eine rauhe Stimme vom Eingang her. »Morgen der Transport der Instrumente auf den Drohenu?« In der Tür stand ein hochgewachsener grauköpfiger Mann. Sein Gesicht zeigte eine gesunde Röte. Ein ungepflegter Schnurrbart hing wirr über den breiten Mund. Tiefe Falten hatten sich auf der Stirn eingegraben. Kühl und abwägend -16-
musterten die großen grauen Augen Wiedensohl. »Der Transport der Instrumente beunruhigt mich nicht, Herr Professor«, erwiderte der Pilot. »Bis fast 2000 Meter Höhe führt eine gute Straße auf den alten Vulkan, genau bis an die große Scharte in der Kraterumwallung. Die Lastwagen habe ich schon gechartert. Nicht einfach... das bezog sich sozusagen auf eine Familienangelegenheit!« Der Gelehrte war inzwischen nähergekommen. Mit einem behaglichen Seufzer ließ er sich in einen Sessel gleiten und kommandierte lakonisch: »Kaffee einschenken, Bracke! Familienangelegenheiten interessieren mich nicht. Eben noch einmal die angeforderten Spektrogramme geprüft. Kein Zweifel, Bracke: Ultraviolettschwingung der Sonnenstrahlung hat sich sehr verstärkt. D1 -, D2 - und E1 -Linien treten nach allen Beobachtungen zurück; das heißt, die Teile des Sonnenlichts, die der Erde die meiste Wärme zuführen, strahlen schwächer. Dafür auffällig das starke Hervortreten der U-Linien, Ultraviolett, Wellenlänge 294,799 millionstel Millimeter, mehr als eine Billiarde Schwingungen in der Sekunde. Bestätigt aus den Messungen von Babelsberg, Genf, Nizza, Licksternwarte. Auch die Boyden-Station bei Arequipa kommt zu keinem anderen Ergebnis. Also Schlußfolgerung? « »Chemische Einwirkung der kurzwelligen Strahlung auf die Erde wahrscheinlich.« Bracke sprach ebenso knapp wie der Professor. »Kohlensäure wird gespalten. Zunehmende Verarmung der irdischen Luft an CO2 .« »Kennt gut mein Steckenpferd, der Bracke!« sagte Albin Hegar anerkennend. »Verläßlicher Denker! Schlußbeobachtungen oben auf dem Drohenu. Nochmals Kaffee!« Er schob seinem Assistenten wieder die Tasse zu. »Noch mehr von dein Herzgift?« fragte dieser erschrocken. »Sie müssen doch auch schlafen, Herr Professor!« -17-
»Heute nicht! Haben auf dem Drohenu Zeit genug. Muß noch vierzig Spektrogramme vom Mount Hamilton auswerten. He, Madame Brignard, einen Kirsch, bitte!« »Wir haben da eine Überraschung für Sie!« ging Wiedensohl gerade auf sein Ziel los. »Sie werden wohl heute nicht mehr zum Arbeiten kommen... « »Lächerlich! Solche Überraschungen vollkommen unerwünscht«, lehnte der Gelehrte die Anbahnung zu einem neuen Gesprächsthema ab. »Bracke, morgen früh gleich kabeln: Licksternwarte, Mount Hamilton: Sofort genaue Lage der Absorptionslinien der Gebiete U, K und H, möglichst auch G nach spektroskopischen Sonnenbeobachtungen der letzten Tage erwünscht... Verstanden?« Doch Wiedensohl ließ nicht locker: »Wir haben nämlich heute für Sie etwas entdeckt, das Ihnen sicher große Freude machen wird.« »Was? Kohlensäuregehalt der Atmosphäre hier betreffend?« »Lassen Sie doch jetzt endlich einmal das verdammte Kohlendioxyd!« polterte der wuchtige Chefpilot los. »Gibt es denn für Sie gar nichts anderes mehr auf der Welt?« »Nein! Nur noch die Wissenschaft. Die verlangt Opfer! Hat schon einem... vielleicht zwei Menschen, die mir lieb waren, das Leben gekostet!« »Das stimmt eben nicht, Herr Professor Hegar!« wetterte Wiedensohl dazwischen. »Bracke, Doktor, so helfen Sie mir doch! Wir haben Renate Veith gefunden!« Mit einem Ruck schob der Gelehrte den schweren Tisch zurück und sprang auf. Sein Atem ging keuchend. »Scherze! Triviale Scherze! Renate ist nicht mehr aufzufinden. Alles versucht!« »So? Dann dreh dich bitte einmal um, lieber Onkel!« klang es vergnügt von der Eingangstür her. »Hier siehst du mich ohne -18-
Refraktor und Altazimut, wenn ich die Worte noch richtig aussprechen kann.« Der grauhaarige Mann wandte sich rasch um. Er mußte nach der Tischkante greifen, um nicht zu wanken. Ihm gegenüber stand das Mädchen Renate in blauem Rock und grauer Bluse und machte ein trotziges Gesicht, das aber immer weicher wurde, je länger es das fassungslose, freudige Staunen sah, das aus den Zügen Hegars sprach. Renate kam mit kleinen Schritten auf ihn zu, warf plötzlich beide Arme um seinen Hals und flüsterte, als sollten es die ändern nicht hören: »Warum hast du uns damals nicht geholfen? Vater ist nun nicht mehr, und ich wäre auch beinahe vor die Hunde gegangen, böser Onkel Albin!« Da lachte der Wissenschaftler laut auf und rief: »Immer noch diese unweibliche Ausdrucksweise, Renate? Wird Zeit, daß dich dein Onkel in strenge Zucht nimmt! Wo kommst du her?« »Haben sie dir noch nichts erzählt? Ach, Onkel Albin, da muß ich ja soviel berichten. Aber erst Kaffee her, Madame Brignard. Schöner Saustall, aus dem ich ausgekratzt bin. Mutter Brignard hat mir erst berichtet, wozu Herr Barthelmy immer so nette frische Pianistinnen für sein Lokälchen verpflichtet. Sieh mal, Onkel, das kam so... Als du uns damals nicht geholfen hast... « »Falsche Prämisse, Mädel! Ganz falsche! Bracke, erzählen Sie, warum wir keine Ahnung hatten! Schuld war allein der Kljutschewskaja Sopka.« »Wer?« fragte verwundert Renate Veith. »Was ist das für ein Monstrum?« Es dauerte eine ganze Weile, ehe ihr Bracke die Umstände der verhängnisvollen Expedition dargelegt hatte. Ein freudiges Strahlen trat in die Augen des Mädchens. »Dann habe ich dir also bitter Unrecht getan, Onkel Albin! Ach, und ich mir auch!...« Und unterbrochen von kleinen Schluchzpausen erzählte es seine Erlebnisse seit jenem schicksalsschweren -19-
Sommer vor fünf Jahren. »Vater hatte sehr auf deine Hilfe gerechnet. Als sie nicht kam, grämte er sich so, daß sein schwaches Herz kränker und kränker wurde. Der schwere Weg, als er mit Justizrat Wolenius seinen Konkurs anmelden mußte, hat ihn getötet. Mein mütterliches Erbteil wollten mir die Gläubiger belassen. Ich verzichtete darauf. Ganze tausend Mark hatte ich noch, als ich in die Schweiz ging. Pianistin wollte ich werden. Das Geld war bald alle. Die teuren Stunden, das Leben! Mit Geld hatte ich nicht umgehen gelernt. Auf einmal saß ich parterre... « , »Mädel, der Ausdruck!« »Nicht schön, aber er stimmt! In Nizza trat ich in eine Musikband ein... Das erste selbstverdiente Geld! Wenn man sich auch die Nächte um die Ohren schlagen mußte... am Tage konnte ich doch weiter Musik studieren. Dann sagte mir ein ehrlicher Lehrer, daß ich es nie zu einer großen Pianistin bringen würde. Schön, langte es nicht für den Konzertsaal, so mußte es eben für einen besseren Schwoof reichen!« »Wieder so... « »... ein Ausdruck! Ich weiß schon. Du wirst dich noch an manche solcher Worte bei mir gewöhnen müssen, wenn du mich länger um dich haben willst. Mein nicht ganz pensionssauberes Mundwerk hat mir übrigens bisher nicht geschadet. Ich habe ein ganz hübsches Stück Welt gesehen, ohne Gouvernante und ohne Onkels Geldbeutel. Und es ist mir immer gutgegangen... in Kairo, in Alexandrien, in Colombo, in Singapur, sogar in Schanghai war ich drei Monate engagiert. Zuletzt in Batavia, bis ich auf dieses verdammte Papeete hereinfiel. Aber hier ist es ja auch nur beim Versuch geblieben, das können dir die beiden Helden da erzählen... und dann pump' mir das Geld für ein Ticket nach Batavia... schon bist du mich wieder los!« Der Professor sah voll Güte in ihre zornigen Augen. »Immer noch die wilde Hummel Renate! Bist doch ein ganzer Kerl -20-
geblieben und auch ein sauberer! Welt kannst du auch mit mir sehen. Du bleibst bei mir!« »Als Haustöchterchen? Kommt gar nicht in Frage!« »Wie du willst! Ich verpflichte dich auf der Stelle als... als... Was haben wir nach dem Haushaltsplan der Expedition noch für eine Stelle frei?« »Materialverwalter!... Küchenchef!« sagte Bracke lachend. »Die Küche übernehme ich!« rief Renate fröhlich. »Aus Sparsamkeitsgründen war ich meist Selbstversorger. Aus einer trockenen Semmel und einem Lot Kaffee kann ich ein herrliches Abendbrot machen.« Wiedensohl schüttelte sich. »Lieber nicht! Bratkartoffeln ohne Fett! Rühreier ohne Speck! Aber eine weibliche Kraft brauc hen wir wirklich, Herr Professor! Wieviel Knöpfe haben Sie noch an Ihrer Jacke? Bei mir sieht es auch nicht viel besser aus. Und das Einund Ausgangsbuch, die Durchschriften, die Kassenführung... « »Himmel ein Bär! Ich soll wohl Universalfaktotum bei euch werden? Aber ich habe ja noch gar nicht gefragt. Was machst du eigentlich auf Tahiti?« Nun war es an Professor Hegar zu berichten. Und er tat es mit einer Gründlichkeit, als halte er in Rönneberg eine seiner vielbewunderten Vorlesungen.
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-3 »Ich muß direkt bei der Erschaffung der Erde anfangen«, so begann er, »um dich mit den letzten Schlußketten meiner Lebensarbeit vertraut zu machen. Bestätigt sollen sie mir hier bei der Beobachtung der totalen Sonnenfinsternis in acht Tagen oben auf dem Drohenu werden. Du stößt also auf einer wichtigen Etappe zu uns. Woraus sich die Luft zusammensetzt, das weißt du wohl noch?« »Ungefähr, lieber Onkel. 21 Raumteile Sauerstoff und 79 Teile Stickstoff, wenn ich mich nicht irre.« »Nun, das sind nur ziemlich grobe Annäherungswerte. Unsere atmosphärische Luft besteht bei 1000 Millibar Druck aus einem Gasgemisch, das sich aus 20,9 Prozent Sauerstoff, 78,1 Prozent Stickstoff, Spuren der Edelgase Argon, Neon, Helium, Krypton und Xenon und 0,03 Prozent Kohlensäure zusammensetzt. Früher, als sich eben die Erdkruste gebildet hatte und der Wasserdampf sich als Wasser niederzuschlagen begann, war die Zusammensetzung eine ganz andere. Die Atmosphäre bestand aus Stickstoff, Wasserdampf, Kohlensäure, Wasserstoff und den schweren Giften Kohlenoxyd, Schwefeldioxyd, Zyan, vielleicht auch Chlorwasserstoff. Der Sauerstoff, der eigentliche Lebensträger, fehlte. Die schweren Giftgase wurden durch das Wasser gebunden, später im schwefelsauren Kalk, in den vielen Verwitterungsprodukten, die sich in den gewaltigen Meeresbecken absetzten, unschädlich gemacht. Keine Pflanze konnte vorläufig existieren, Tiere natürlich schon lange nicht. Da half die Allmacht der Mutter Sonne. Aus uns unbekannten Gründen enthielt das Sonnenlicht damals eine große Menge sehr kurzwelliger Strahlen. Wie heißen doch gleich die Regenbogenfarben, Renate?« Munter wie ein Schulmädchen, das seine Lektion gelernt hat, -22-
schnurrte sie herunter: »Rot, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Dunkelblau/Violett!« »Für einen Laien ganz gut!« freute sich der Professor. »Wir Wissenschaftler aber unterscheiden im Spektrum der Sonne einige Farben mehr: Infrarot, Rot 1, Rot 2, Orange, Gelb 1, Gelb 2, Grün 1, Grün 2, Blaugrün, Indigo, Violett, Ultraviolett. Der geniale Josef von Fraunhofer entdeckte im Sonnenspektrum die Fraunhoferschen Linien, dunkle Schattenstriche von einer schier unzählbaren Menge. Um ihr Auftauchen genau festzulegen, wurde das Spektralband in die Gebiete A, B, C, D1 , D2 , E1 , E2 , F, G, H, K, U eingeteilt. A entspricht dann Rot, U dem Ultraviolett. Eine Lichtwelle aus dem Gebiet A hat die Länge von 759,360 Millimikron. Ein Millimikron ist gleich... Nun, Renate?« »Keine Ahnung!« sagte das Mädchen. Bracke flüsterte ihr vernehmbar zu: »... gleich einem millionstel Millimeter!« »Blasen Sie ihr nichts ein, Bracke!« schalt Hegar. »Aber es stimmt: ein Millimikron ist ein millionstel Millimeter. Ein Lichtstrahl aus dem Gebiet A schwingt 592 billionenmal in der Sekunde, in der ersten Zone des Violettlichtes dagegen schon mehr als 750 billionenmal. Eine Wellenlänge ist dort 593,380 Millimikron lang. Die entsprechenden Zahlen für das Gebiet U lauten 1010 Billionen und 294,799 Millimikron. Manchmal aber ist die Lichtschwingung noch kurzwelliger, und damit erlangen diese Lichtwellen eine gewaltige Aktivität gegenüber der Kohlensäure. Wo kommt CO2 , einfach: Kohlensäure, vor?« »Im Selterwasser, Bier, Sekt... « »Kleine Naschkatze! Aber richtig. Ferner in den Abgasen der Essen, wir atmen sie dauernd aus, bei jeder Verbrennung und Verwesung bildet sich das Gas, auch bei der Gärung. Hunderttausende von kohlensauren Quellen speien es in die Atmosphäre, und ganz unvorstellbare Mengen liefern endlich die Vulkanschlote. Aus den letzten beiden Vorkommen -23-
stammten damals bei der Erdfestwerdung die ungeheuren Massen, die die irdische Atmosphäre erfüllten. Hier setzte nun die chemische Aktivität der kurzwelligen Sonnenstrahlung ein. Daniel Berthelot glückte es, experimentell das Verhalten der Kohlensäure gegenüber ultraviolettem Licht darzustellen. Sie löste sich einfach in ihre chemischen Elemente auf, also in einem Teil Kohlenstoff und zwei Teile Sauerstoff. So spendete die Allmutter Sonne der irdischen Atmosphäre die erste Lebensluft, den Sauerstoff. Nun konnten sich die Anfänge der Pflanzenwelt entwickeln, und seitdem wurde immer mehr Kohlensäure durch die Tätigkeit der Pflanzen in Sauerstoff und Kohlenstoff verwandelt. Dazu ist immer noch das Sonnenlicht notwendig; denn nur unter dessen Einwirkung können die Blattgrünkörner, die Chlorophyllkörperchen, die Aufspaltung vornehmen. Jetzt enthält die Atmosphäre nur noch drei hundertstel Prozent des geheimnisvollen Giftstoffes... « »Sehr interessant!« sagte Renate. »Aber, lieber Onkel, was haben diese chemischbiologischen Überlegungen eigentlich mit Sternkunde, mit Sonnenfinsternissen und Solarexpeditionen zu tun?« Hegar schlug sich vergnügt auf die Schenkel und rief: »Großartig, Mädchen! Genauso wie meine Herren Fachkollegen, die mir immer wieder denselben Vorwurf machen. Mein Kind, wenn man den Kosmos erforschen will, muß man sich um alle Lebensgesetze des Alls kümmern. Wissen und Vorhersehen! Das ist das letzte Ziel der Gelehrsamkeit. Wo waren wir doch stehengeblieben?« »Die Atmosphäre enthält 0,03 Prozent Kohlensäure«, ergänzte Renate Veith. »Du merkst auf, liebe Nichte! Also, ich fahre fort. Dieser Anteil des CO2 hat sich durch die Jahrtausende konstant gehalten, obgleich ungeheure Mengen des Kohlendioxyds durch die Verwitterung verbraucht werden, ferner die Korallentiere in den gewaltigen Riffen Millionen von Tonnen des -24-
lebenswichtigen Gases gebunden haben. Doch hat es auch schon Zeiten gegeben, wo der Anteil der Kohlensäure wuchs. Dann wurde das irdische Klima wärmer. Das geschah in der Steinkohlenzeit und am Anfang der tertiären Zeitperiode, immer dann, wenn eine Periode größter vulkanischer Tätigkeit Riesenmengen der Kohlensäure aus dem Erdinnern frei machte. Verarmte aber die Luft an diesem Zauberstoff, dann sank die irdische Temperatur. Schon ein Zurückgehen auf die Hälfte der Beimischung, also auf 0,015 Prozent, würde die durchschnittliche Jahrestemperatur, die jetzt, bezogen auf den ganzen Erdball, plus 16 Grad Celsius beträgt, um etwa 6 Grad herabsetzen. Das genügt, um der Erde eine neue Eiszeit zu bescheren. Es würde eine Weltkatastrophe bedeuten, wenn die Gletscherzungen vom Montblanc Genf berühren würden oder die der Hohen Tauern Salzburg verschluckten; wenn Skandinavien sich wieder in einen eisgepanzerten Schild verwandeln würde und über die Belte und den Sund die Lappen ihre Herden nach Jütland treiben könnten. Europa, das Herz der abendländischen Kultur, begänne matter und matter zu schlagen. Millionen müßten ihre Heimstätten verlassen... Mein Intellekt sträubt sich einfach dagegen, die Konsequenzen einer Niedertracht unserer Solarwirklingen anzuerkennen. Aber Sehen und Vorhersehen!... Was wollten Sie sagen, Bracke?« »Nichts! Oder vielmehr, daß die Uhr bereits 2 Uhr morgens Ortszeit zeigt... « »Lassen Sie das Pendel weiter seinen Gang gehen! Heute, nachdem eine so große Freude einige Muren von meiner verschütteten Seele weggeräumt hat... « er verbeugte sich unbeholfen gegen seine Nichte... »heute will ich einmal vorbesehen, liebe Gefährten! Seit Jahren beobachten alle Sonnenforschungsstellen eine zunehmende Tätigkeit der Sonnenenergien. Immer neue Linien im Ultravioletten des Spektrums tauchen auf. Immer kurzwelliger wird die Aktivstrahlung der Sonne. Ich sehe den Zeitpunkt kommen, wo -25-
der Kohlensäurevorrat der irdischen Atmosphäre durch die gefährlichen Billiardenschwinger zersetzt wird, wo sich der geheimnisvolle Lebensstoff in giftiges Kohlenoxyd und Sauerstoff auflöst, wo die Temperatur sinkt und wir eine neue Eiszeit erleben. Wir noch, Freunde! Die nächste Woche, die Ergebnisse der Sonnenfinsternisbeobachtungen, werden entweder meine Ängste ad absurdum rühren oder sie bestätigen. Dann aber, wenn das letztere der Fall ist, muß der Erdenbewohner beweisen, ob er das hohe Prädikat des alten Weisen verdient: Nichts ist gewaltiger als der Mensch!... « Er schwieg plötzlich versonnen. Renate griff impulsiv nach seinen beiden Händen und sagte leise: »Du mußt nicht soviel sinnieren! Es kommt ja doch, wie es muß!« Da zerbrach die wehmütige Stimmung des Gelehrten in einem lauten: »Donnerwetter, Marjell! Willst du mich lehren, Fatalist zu werden? Dein Lebenswandel war doch wirklich auch kein sanftes Dahinnehmen! Nimmer sich beugen! Kräftig sich zeigen, rufet die Arme der Götter herbei! sagt... « »... Goethe!« setzte Renate fort. »Womit wir ja schlafen gehen. könnten. Denn einen besseren Begleiter zur sanften Ruhe als den Weimarer Olympier kann man sich nicht wünschen. Sie waren die ganze Zeit so still, Herr Wiedensohl. Sind Sie müde?« Der Niedersachse streckte kräftig seine muskulösen Arme und stieß einen herzhaften Gähner aus. »Nicht gerade müde, Fräulein Renate, aber so'n büschen mau um die Schädelkapsel, um gleich in Ihrem Deutsch zu reden. Und das ist man alles Tatsache, Herr Professor, was Sie da wegen Kälterückfall geredet haben?« »Vorläufig noch Theorie, lieber Wiedensohl! Aber in vierzehn Tagen, wenn wir erst die Messunge n aus der Chromosphäre der Sonne und ihrer Korona ausgewertet haben, kann die Theorie schon brutale Wirklichkeit geworden sein. Übrigens, seit wann interessieren Sie sich für -26-
Sonnenforschung?« Der Pilot räusperte sich einigemal, ehe er zu seinen Darlegunge n ansetzte: »Tja, Herr Doktor Bracke weiß da schon Bescheid. Wenn ich das Zittern in die Knochen bekomme und mich nicht mehr hinter einer Steuersäule bei gerissener Rolle und Turn rückwärts klammern kann, dann wollte ich mir bei Braunschweig einen Erbhof kaufen. Soll man sich nach Ihren Darlegungen da nicht lieber nach Duala oder Uganda verziehen?« »Alter Realist!« schalt ihn Hegar. »Wollen Sie denn schon von vornherein kapitulieren? Was machen Sie, wenn Ihre Maschine die ersten Anzeichen von Vereisung zeigt? Gleich aussteigen?« »Nee! Manöver!« »Nun also! Glauben Sie, daß fast drei Milliarden Menschen keine Manöver machen wollen?« »Ob aber die richtigen?« gab der Pilot zu bedenken. »Dazu sind wir da. Jawohl, Wiedensohl, wir weltfernen Wissenschaftler, über die ihr Menschen des praktischen Lebens so gern die Nase rümpft! Mein Plan, um der ungeheuren Weltgefahr zu begegnen, ist so einfach, daß wahrscheinlich alle Erdenbewohner lauthals lachen werden! Ach, Madame Brignard, haben Sie noch eine Flasche Schampus kalt? Es können auch zwei sein. Zum Schlafen kommen wir nach dieser unterhaltsamen Diskussion doch nicht mehr. Wenn ich dann den Korken knallen lasse, was kommt dann aus dem Flaschenhals heraus, Renate?« »Schluckwasser!« rief sie lachend. »Falsch! Zuerst wird die atmosphärische Luft mit Kohlensäure bereichert. Also ein Opfer bringen wir gleich den schicksalsgewaltigen Sonnenkräften. Und damit habe ich schon mein Rezept verraten. Wir Menschen müssen ebensoviel Kohlensäure unserer Atemluft zusetzen, wie die kurzwellige -27-
Strahlung der Sonne auffrißt! Ah, da kommt der Labetrank! Lassen Sie den heiteren Trank perlen!« Wiedensohl hob langsam den schäumenden Kelch: »Ob die Champagnervorräte der Welt ausreichen werden, um das Defizit zu beseitigen?« Hegar verschluckte sich fast. »Sie sind ein Praktikus, Wiedensohl!« sagte er hustend. »An diese Möglichkeit habe ich wirklich noch nicht gedacht. Doch glücklicherweise, oder vielmehr unglücklicherweise, brauche ich einen solchen Vorschlag nicht der Weltkraftkonferenz zu unterbreiten. Schade eigentlich! Populär wäre er sicher! Aber um endlich wieder einmal emst zu werden, das Richtige haben Sie eigentlich mit Ihrer Bemerkung getroffen. Es gilt, die Kohlensäurevorräte der Erde zu mobilisieren. Die ruhen im Innern der Erde, in den Magmaherden, über denen die Vulkane rauchen oder die kohlensäurereichen Quellen sprudeln, in den Sedimentgesteinen, den Karbonkalkfelsen, den Korallenfelsen, den Magnesialagern und endlich dem ganzen Meerwasser, das bisher alle Kohlensäureüberschüsse der Erde gehamstert hat.« Bracke schüttelte langsam den Kopf, ehe er zu sprechen anhub: »Und welcher Energien wollen Sie sich bedienen, um die bereits fest gewordene Verbindung zu lösen?« »Zweifeln Sie etwa auch an mir, Herr Doktor?« schrie ihn Hegar an. »Wo ein Wille ist, ist mindestens ein Weg! Herr, mit der Kälte, die die Erde bedroht, werde ich den Feind schlagen! Verlassen Sie sich darauf! Das ist keine Hypothese. Mit Hilfe der Kälte werde ich der neuen Eiszeit einen Schild entgegensetzen, an dem der tückische Angriff des Alls, besser gesagt, der Lebensspenderin Sonne, zerschellen wird. Vorausgesetzt natürlich, daß die Menschen auf meine Vorschläge eingehen werden!« Er setzte den Sektkelch so heftig auf den Tisch, daß der schlanke Stiel zerbrach. Ärgerlich warf er die Scherben hinter -28-
sich und fragte seine Nichte: »Nun, Renate, was meinst du zu meinen Hypothesen?« Sie beugte sich schnell über den Tisch und drückte einen flüchtigen Kuß auf seinen Schnurrbart. »Meinen? Das muß ich erst alles überschlafen. Aber du kommst mir wieder so vor, wie ich dich in meiner frühesten Jugend kennenlernte... « »Und wie war dieser Eindruck?« wollte er wissen. »Unheimlich beruhigend!« sagte sie überlegend. »Und unheimlich wissend! Ich hatte immer Angst vor dir. Vielleicht floh ich deshalb, weil sich die Sprunghaftigkeit deines Intellekts niemals mit meiner Musikalität vereinigen lassen wollte. Aber heute habe ich deine Sphären, in denen du wirkst, klingen hören... und, verzeihe, wenn ich jetzt schmeicheln muß, sie tönen schöner als eine Sonate Beethovens.« Hegar kniff sein rechtes Auge zu einem schmalen Spalt zusammen, sann eine Weile, ehe er antwortete: »Entweder Knall oder sehr viel Verstand! Wollen später mal sehen. Bracke, das Kabel! Wiedensohl, Maschine überholen, falls Wolkenbildung Erdbeobachtung verhindert. Steigen dann über die Troposphäre und beobachten von da aus die Sonne. Morgen früh 10 Uhr Ortszeit Abfahrt nach dem Drohenu. Geht schlafen, Kinder! Ich muß noch die Regelquote aus allen Solarspektren finden.«
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-4 Seit vier Tagen hatte die Solarexpedition Professor Hegars nun schon ihr Lager im großen Krater des Drohenu inne. Die Beobachtungsinstrumente waren bereits auf einem Lavaplateau, von dem aus man gute Sicht nach Osten, Norden und Westen hatte, montiert. Am Ufer des mehr als tausend Meter im Durchmesser breiten, fast kreisrunden Kratersees waren die Wohnzelte und die Küchenhütte aufgeschlagen. Eine frische Brise wehte vom Ozean herauf. In strahlender Klarheit stand die Sonne am dunkelblauen Firmament. Weit schweifte der Blick von der Höhe über die Urwälder und Schluchten Tahitis, über das weite Meer bis zu den weißen Brandungszonen der Paumotu-Inseln im Nordosten. »Feiner Platz!« freute sich Professor Hegar. »Guten Gedanken gehabt, als wir Tahiti wählten. Hoffentlich morgen dieselbe klare Atmosphäre.« Dr. Bracke, der an der Nivellierung der Spektroskope arbeitete, ließ seine Steckschlüssel einen Augenblick ruhen: »Nach allen Wetterberichten ist keine Änderung der günstigen meteorologischen Lage zu erwarten. Wir können eine selten gute Ausbeute haben. Die Engländer und Amerikaner auf Upolu, die Franzosen in Neukaledonien werden uns kaum übertreffen können. Wir werden zuerst das wunderbare Schauspiel erleben. Eintritt der vollen Verfinsterung nach Oppolzers Kanon der Finsternisse 10 Uhr 54 Minuten Ortszeit.« »10 Uhr 54 Minuten und 20 Sekunden!« verbesserte der Pofessor. »Dauer der totalen Finsternis 7 Minuten 16 Sekunden. Um 11 Uhr wissen wir, ob sich unsere Befürchtungen bestätigen.« Wiedensohl, der noch mit der Einstellung der Sonnenkamera -30-
beschäftigt war, fragte ironisch: »Und wenn die Verberechnung nicht stimmt?« Hegar lachte: »Stimmt auf jeden Fall! Theodor von Oppolzer irrt sich nicht. Hat 8000 Sonnen- und 5200 Mondfinsternisse für die Jahre 1207 vor bis 2165 nach Zeitwende berechnet.« »Und welchen Zweck hat diese Riesenarbeit?« kritisierte der Pilot weiter. »Richtiger Laienstandpunkt, die Zweckfrage!« antwortete der Gelehrte ärgerlich. »Werde Ihnen mal was demonstrieren!« Er holte aus seinen weitbauschigen Taschen einen kleinen Lederband hervor. »Das ist ein Auszug aus dem Schuking, einem der klassischen Bücher der Chinesen. Darin steht geschrieben: Im 5. Regierungsjahr des Kaisers Tschiungkangh warfen die Geschlechter Hi und Ho ihre Tugend über den Haufen. Sie versenkten sich unordentlich in Wein, verwirrten das Amt, trennten sich von der Rangstufe. Da, im letzten Monat des Herbstes, stimmte der Neumond um 7 bis 9 Uhr morgens nicht überein im Gemach. Der Blinde brachte die Trommel zu Ohren, der sparende Mann jagte einher, die gemeinen Menschen liefen. Die Geschlechter Hi und Ho aber befanden sich in ihrem Amt und hörten und wußten nichts.... Die Historiker hatten aus den chinesischen Annalen berechnet, daß der Kaiser Tschungkangh die Regierung im Jahre 2158 vor Zeitrechnung angetreten hätte. Neumond ist morgens von 7 bis 9 nur bei Sonnenfinsternis sichtbar. Oppolzer berechnete diese Sonnenfinsternis und fand sie am 22. Oktober 2157. Das Jahr ist das fünfte der Regierung dieses Kaisers. Er hat also sein Herrscheramt erst 2141 angetreten, 15 Jahre später, als die Historiker meinten. So korrigiert die Sternenkunde sogar die Geschichte.« Wiedensohl fragte: »Und was geschah mit Hi und Ho?« »Wurden hingerichtet! Schlecht rechnende Astronomen verdienen keine andere Behandlung!« -31-
»Bei Ihnen möchte ich nicht Sternenkunde lernen!« sagte der Pilot lachend. »Herr Bracke, wird Ihnen da nicht manchmal angst und bange?« »Nein! Nur über schlechte und nachlässige Rechner wird so ein Urteil verhängt. Und zu dieser Kategorie gehöre ich wo hl nicht, Herr Professor?« »Nein, im Gegenteil, Bracke! Aber haben auch noch nicht errechnen können, wie weit es von der Erde zur Sonne ist!« knurrte der Gelehrte. »Was?« Der Pilot amüsierte sich. »Die beiden hohen Sterndeuter wissen nicht einmal den Abstand der Erde von der Sonne? Habe ich ja bereits in der Schule gelernt. Das sind rund 150 Millionen Kilometer!« »Ja rund! Aber genau, Wiedensohl?« fragte der Professor. Der zuckte die Achseln: »Wird wohl nichts bedeuten, wenn man es nicht haarscharf auf den Kilometer angeben kann.« Hegar ereiferte sich: »Wieder dieser Laienstandpunkt! Seit 1882 sind wir in der Berechnung der Sonnenentfernung nicht weitergekommen. Damals ging zum letztenmal die Venus für uns sichtbar an der Sonnenscheibe vorüber. Aus dieser Erscheinung hat man die Sonnenparallaxe errechnet, freilich nur einen Annäherungswert, der dicht bei 8,85 Bogensekunden liegt. Das ist ein sehr kleiner Winkel. Die Dicke eines Haares mißt, aus guter Sehweite betrachtet, bereits 15 Bogensekunden. Die Hunderstel der Parallaxe mögen stimmen. Umstritten sind noch die Tausendstel.« »Mein Himmel, Tausendstel von einer Winkelsekunde! Ich bin froh, wenn ich mit einem Winkelmesser genau die Grade festlegen kann!« erklärte Wiedensohl. »Es kommt aber auf die Tausendstel an!« sagte Hegar. »Eine tausendstel Bogensekunde bedeutet eine Entfernung von 17 500 Kilometer. Vielleicht um 9 oder gar um 10 solcher Einheiten ist die Berechnung der Sonnenentfernung noch ungewiß, also -32-
annähernd 175 000 Kilometer. Der Abstand Erde - Sonne ist aber die Grundlage aller Messungen im All. Stimmt das Maß nicht, so stimmen auch die errechneten anderen Entfernungen nicht. Der Planet Neptun steht in dreißigfacher Sonnenweite, manche Kometen entfernen sich bis zur hundertfachen; die nächsten Fixsterne stehen um Hunderttausende dieses Weltraummaßes von uns ab, Nebelflecken gar milliardenmal! He, Herr Wiedensohl, sehen Sie nun ein, daß es wichtig wäre, wenn einer ganz genau die Strecke Erde - Sonne ausmessen würde?« »Das leuchtet mir ein!« antwortete der Pilot. »Seltsam eigentlich: Die Astronomen messen die Welt mit einem Maß aus, das noch gar nicht feststeht. Und wie lang wird die Sonnenweite augenblicklich angenommen?« »Mit 149 480 000 Kilometer. Aber kann leicht 100 000 Kilometer mehr oder weniger betragen.« »Nette Strecke! Wenn man dorthin fliegen wollte... « »... so brauchten Sie mit einem modernen Reiseflugzeug, das eine Durchschnittsleistung von 500 Kilometer stündlich hat, rund 12 500 Tage, etwa 55 Jahre. Hin und zurück also 70 Jahre«, ergänzte Bracke seine Überlegungen. »Einfach astronomisch!« wunderte sich der Pilot. »Und wie groß ist der Sonnenball?« »Sein Durchmesser ist 109 mal so groß wie der der Erde, also 1 390 500 Kilometer. Die Oberfläche 12 000 mal so groß wie die Erdoberfläche. Im Innern der Sonne hätten 1 300 000 Erdkugeln Platz. Im Gewicht freilich ist sie nicht ganz so schwer, wie man es bei ihrer Masse erwarten müßte. Aus der Materie, die den Glutball aufbaut, könnte man 324 400 Weltkörper vom Gewicht unserer Erde formen.« Der Professor nickte zu diesen Darlegungen seines Assistenten und setzte dann selbst die Belehrung fort: »Noch überraschender sind die Zahlen, die etwas von der Größe der -33-
Sonnenenergie verraten. Fabry, der große Solarforscher, hat die Stärke des Lichtes bei Normal-Null am Mittag mit 100 000 Normalkerzen errechnet. Viel schluckt die Atmosphäre. Auf hohen Bergen ist sie bereit wesentlich größer. Die absolute Lichtstärke der Sonne wird mit 288 000 Kerzen eher zu niedrig als zu hoch gewertet. Ein Quadratmillimeter der Sonnenoberfläche hat eine Leuchtkraft von 1800 Kerzen, ein ebenso großes Stück aus dem Leuchtkrater einer Bogenlampe nur 200. Die Wärme der Sonnenoberfläche beträgt 5900 Grad. Jährlich verstrahlt die Sonne 500 Quintillionen Kalorien, bitte, eine 5 und 32 Nullen, so schreibt man diese Zahl. Die Erde erhält davon ein zweitausendmillionstel. Als Sonnenwärme freilich werden nur etwa 96 Billiarden Kalorien wirksam. Eine Kalorie ist gleich der Kraft, die ein Gramm 428 Meter hochhebt. In jeder Sekunde leistet die Wärmestrahlung auf der Erde eine Arbeit gleich der, die notwendig wäre, um 32 1/2 Milliarden Tonnen einen Kilometer hoch zu heben. In Pferdestärken ausgedrückt: Die Wärmestrahlung der Sonne entspricht rund 435 Billionen PS.« »Donnerwetter, das ist ein Motor!« wunderte sich Wiedensohl. »Damit könnte man schon allerhand anfangen!« »Tun wir schon, Herr Ignorant! Die Sonne muß jährlich 660 Billionen Kubikmeter Wasser zu Wolken verdunsten. Die Regengüsse und die Wasserläufe gestalten dauernd das Antlitz der Erde um. Manchmal spannen wir die Wasserkräfte auch für uns ein. Im Niagarafall stellt uns die Sonne 17 Millionen PS zur Verfügung. Denken Sie weiter an die gewaltige Arbeit, die die Sonnenkraft in den Zellen der Pflanzen leistet, wo dauernd die Kohlensäure zerlegt wird. Dagegen spielen die direkten Sonnenkraftwerke freilich eine sehr geringe Rolle. Immerhin ist es schon um das Jahr 1900 möglich gewesen, durch einen Hohlspiegel von 10 Metern Durchmesser so viel Sonnenwärme auf einen Dampfkessel zu konzentrieren, daß die damit betriebene Maschine minutlich 600 Liter Wasser aus der Erde -34-
der kalifornischen Wüste hebt und eine ganze Farm mit der lebensnotwendigen Feuchtigkeit in dieser regenlosen Zone tränkt. Wenn wir erst einmal die Sahara mit einem Spiegelnetz überziehen! Kein Kraftwerk der Welt könnte mit diesem Monsterbetrieb konkurrieren!« »Hallo, ihr Männer! Essen ist fertig!« schrie es aus dem Kratergrund herauf. Renate Veith stand unten vor der Küchenhütte und winkte mit einer großen Schöpfkelle. »Was gibt es heute, Renate?« rief der Professor schon von weitem seiner Nichte zu. Sie trommelte mit der großen Schöpfkelle auf die Tischplatte und rief: »Aorai, die Suppe!« Grinsend kam ein wollhaariger Küchenboy herübergetrippelt, mit beiden Händen einen rußigen Kessel tragend. Sie begann aufzugeben. »Erstens Reissuppe mit Geflügelklein und zarten Kräutem. Und zweitens, hört und staunt: Forellen!« »Forellen?« fragte Hegar verwundert. »Hier auf Tahiti Nui die herrlichen Fische unserer klaren Gebirgswässer? Sicher aus der Konservenbüchse!« »Nur die Butter dazu kommt aus der Zinntube. Aorai und ich haben sie vorhin gefangen. Der Bach an der Fahrstraße wimmelt von den bunten Schwimmern. Wir haben sie bereits versucht. Sie schmecken herrlich! Laßt euch die Suppe wohl bekommen. Ich muß wieder hinüber zu meinen Fischen. Und zum Nachtisch gibt es eine Fruchtschale, daß euch das Herz im Leibe vor Freude hüpfen wird. Mahlzeit!« Die Forellen waren wirklich delikat geraten. Auf großen grünen Wasserwurzblättern wurden sie serviert. Als nur noch ein Gebirge von Gräten, Flossen und Fischköpfen die Teller bedeckte, klatschte das Mädchen in die Hände. Zwei Eingeborene schleppten einen gewaltigen flachen Korb herbei, der mit den herrlichen Früchten der Insel gefüllt war. Wollige Rambutanen, schuppige Ananas, faustgroße Mangopflaumen, Koromandelbeeren, blaugrüne Zimtäpfel und -35-
blaßgelbe Grapefruits waren zu einem reizvollen Stilleben geordnet. Es fehlten nicht die Tahitiäpfel, die Balsampflaumen, die Bananen und Anonen. Wiedensohls Interesse galt zwei fast kopfgroßen Früchten, die mit einer dicken langstachligen Schale umgeben waren. »Was ist denn das?« wollte er wissen. »Riesenkastanien?« Er griff nach dem einen Ungetüm. Professor Hegar sah ihn erschrocken an: »Um Himmels willen, Wiedensohl!« »Ruhig, Onkel! Wiedensohl, Sie sind. ein Schleckermaul. Das Beste nimmt er sich natürlich wieder! Hier ist ein Messer. Schneiden Sie die Frucht auf!« Er befolgte den Rat. Bracke stieß einen Entsetzensschrei aus, raffte schnell einige Zimtäpfel zusammen und flüchtete sich an das Ufer des Kratersees. Einige Minuten hielten der Professor und Renate Veith es länger aus. Dann aber retteten sie sich auch aus der schrecklichen Dunstwolke, die der Durian, die Stinkfrucht, um den seelenruhig schmausenden Wiedensohl verbreitete. »Was habt ihr denn?« fragte er kauend. »Ist ja ein großartiger Fraß.« »Aber Wiedensohl, riechen Sie denn nichts?« rief Renate. »Ich?...Riechen?...Nein, sehr geehrtes gnädiges Fräulein! Diesmal sind Sie reingefallen. Meine Nase besitzt die in diesem Falle sehr angenehme Eigenschaft, weder auf blumige noch auf fruchtige Düfte zu reagieren. Wie riecht denn eigentlich der Durian?« »Er stinkt! Wie hundertjähriger Limburger an einem heißen Julitag! Oh, Sie Schurke, und dabei kennen Sie den Duria n?« »Klar, sehr verehrtes gnädiges Fräulein! Er ist immer meine Leidenschaft, wenn ich wieder einmal meine Füße in die Tropen setze. Nur daß ich sonst immer heimlich, still und leise die herrlichste aller Früchte hinter dem Zaune futtern mußte. Sie aber servieren sie mir sogar. Herzlichen Dank, holde -36-
Küchenfee! Nachher werde ich eine halbe Stunde im Kratersee schwimmen, dann vergeht der Gestank wieder.« Als er das wundervolle Fruchtfleisch beider Duriane verzehrt hatte, warf er die Leinenjacke, Hemd und Schuhe ab und sprang in den kurzen Drillichhosen kopfüber in das blaue Wasser. Wie ein Wal schnaubend schoß er durch die Fluten. Bracke folgte ihm sofort. Renate verschwand einen Augenblick lang in ihrem Wohnzelt und kam dann in einer blauen Badekombination wieder heraus. Professor Hegar begnügte sich, mit aufgestreiften Hosen am Ufer entlangzuwaten. Doch nach einer halben Stunde mahnte er: »Schluß mit der Baderei! Mit vollem Magen soll man überhaupt nicht ins Wasser. Wir müssen wieder an die Arbeit!« »Schade!« erklärte Renate. »Immer, wenn es schön wird, kommt die verdammte Pflicht! Sind Sie jetzt wieder duftfrei, Wiedensohl?« Er brachte seine Lippen in gefährliche Nähe ihrer Nase. »Wollen Sie sich davon überzeugen?«
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-5 Am nächsten Morgen erklang der Weckruf bereits vor Sonnenaufgang im Lager am Kratersee. Professor Hegar war der erste im Freien. Begeistert rief er aus: »Großartig, die Sternenfülle! Kein Wölkchen! An die Arbeit, Herrschaften! 5 Uhr 14 Ortszeit. 8 Uhr 2 tritt die Mondscheibe vor die Sonne. Da muß alles auf seinem Posten sein!« »Reise! Reise!« sang vergnügt Renate Veith vor den Blätterhütten der eingeborenen Helfer. »Raus, Aorai! Vorwärts, Haokoi! Feuer machen! Kaffee kochen! Maiskuchen backen!« Auf einem Stahlblechtiegel hämmerte sie mit einem Stück Holz herum. Wiedensohl steckte seinen Kopf durch die Zeltpladien: »Gehen Sie mal aus meinem Spurt, sehr geehrtes gnädigstes Fräulein! Ich will zu meinem Morgenbad und möchte keinen Anstoß erregen!« Wie Pfeile schössen zwei weiße Körper über den kurzen Rasen und verschwanden in dem nachtschwarzen Wasser, in dem sich die leuchtenden Boten des Alls spiegelten. »Da bin ich auch dabei!« rief Renate, warf ihren Bademantel ab und tauchte ihnen nach. Noch vor dem Frühstück stiegen die Männer bei vollkommener Finsternis hinauf zu den Apparaten, um ihre Einstellung zu mustern. Sorgsam wurden dann wieder die Tautücher über die Sonnenkameras, die Spektroskope und Spektographen, das Altazimut und die Chronographen gespannt; denn dicht begannen sich alle Gegenstände mit der atmosphärischen Feuchtigkeit zu beschlagen. Im Osten tauchte plötzlich ein grüner Dämmerungssaum auf, wurde orangefarbig, verschluckte einige Sterne, quoll zu einem goldroten Band auf, und ohne das bezaubernde Spiel der Morgenröte in europäischen Breiten stieg langsam und -38-
majestätisch der gewaltige Sonnenball aus dem Ozean. »Kaffee fertig!« rief es aus dem Kraterkessel empor. »Auch Zeit!« knurrte Hegar, während er mit dem Abstieg begann. »Höchstens Viertelstunde gebe ich zu dem Frühstück. Hätten doch noch zwei Mann mit nach Tahiti nehmen sollen. Viel Arbeit!« »Wir werden schon fertig werden!« beruhigte ihn sein Assistent. »Sie beobachten direkt durch das Sonnenteleskop, ich bediene die Spektroskope und Spektrographen, Wiedensohl arbeitet an den Kameras. Fräulein Veith kann sich als Handlanger und an den Chronographen verdient machen. Wenn erst die Uhrwerke des Altazimuts richtig laufen, wird sie auch die Gradzahlen notieren können.« »Und Magnetnadeln? Kompensatoren? Tonaufnahmegeräte, Herr Bracke?« »Nehme ich noch mit auf mein Konto!« versicherte ihm Wiedensohl. »Was meinen Sie, wieviel Skalen, Hebel, Druckknöpfe und Einstellräder ich auf dem Führersitz meiner Maschine handhaben muß.« »Ist der Lastwagen betriebsfertig?« fragte plötzlich der Professor, noch ehe er seine erste Tasse Kaffee ausgeschlürft hatte. »Selbstverständlich!« antwortete Wiedensohl. »Soll ich vor der Sonnenfinsternis nochmals hinab nach Papeete brausen?« »Nein! Doch mich beunruhigt das plötzliche Auftauchen von heißen Quellen im Kratersee. Früher schon etwas gemerkt, Bracke?« »Nicht, daß ich wüßte! Ich springe schnell ins Wasser, um die Temperaturdifferenz festzustellen!« Als der Assistent zurückkam, konnte er keine beruhigenden Zahlen melden. Im Zentrum des Kratersees, also über dem dort wahrscheinlich austretenden alten Vulkanschlot, ergab sich nur -39-
eine Wärmezunahme von knapp drei Grad. Doch Professor Hegar schüttelte den Kopf: »Bedenkliches Novum! Nun, morgen sind wir nicht mehr hier!« »Wird uns der alte Drohenu noch eine Überraschung bereiten?« fragte Renate Veith. »Erst sehen, was die Sonne macht!« brummte der Professor und drängte wieder zur Arbeitsaufnahme. Kaum hatte die Forschergemeinschaft das Hochplateau im alten Kraterrand des Drohenu erreicht, stürmte der Professor sofort zu seinem Sechszollrefraktor, riß hastig die Taudecken herab und visierte durch das Suchrohr den gelbstrahlenden Sonnenball an. Dann stellte er eifrig an dem Treibwerk des Bewegungsautomaten, rief endlich Bracke zur Hilfe und wollte sich eben in den Schwenkstuhl niedersinken lassen, als ihn Wiedensohl bat: »Darf ich mir nicht einmal die Sonne ansehen?« »Gern! Noch zwanzig Minuten Zeit bis zum Beginn der Verfinsterung! Auge weg vom Okular! Wohl verrückt, Wiedensohl! Sonne brennt Ihnen im Moment die Netzhaut des Auges zu flokkiger Asche. Erst Blendscheiben einschalten... So... nun schauen!« Er belehrte den Laien noch über die Bedienung des Okulars, korrigierte die Einstellung und sagte dann: »Sehen jetzt die Granulation der Photosphäre? Schmale, weidenblattähnliche Wölkchen, von denen freilich jedes Teilchen die Größe Europas hat...« »Moment!« unterbrach ihn der wortkarge Niedersachse. »Weidenblattähnlich? Bin ein alter Angler und kenne doch die Struktur! Nichts zu machen, Herr Professor! Eher wie Kaffeebohnen?... Nee, direkt wie Reiskörner!« »Weggehen!« befahl Hegar. Er zwängte sich in den Kippsessel, visierte kritisch, ließ die Mikrometerschrauben kreisen und sagte dann nach einem tiefen Atemzug: »Blindes Huhn findet Korn... Reiskörnerstruktur sozusagen! Bracke, -40-
gleich Sonnenaufnahmen! Mindestens zehn Stück! Seit gestern Weidenblattgranulation umgeschlagen in Reiskornstruktur. Folgerung?« »Erhöhte Aktivität unseres Zentralgestims!« stellt sein Assistent fest. »Fackelreichtum? Protuberanzen? Vorgänge in der Chromosphäre?« »Nichts auszumachen! Verdammte Schlieren durch aufsteigende ozeanische Luft. Nehmen Sie die Spektrographen, Bracke. Alle Minuten eine Aufnahme! Renate, Chronographen zuschalten! Damit wir wissen, wann Veränderungen eintreten. Wiedensohl, ran an den Tonaufnahmeapparat! Magnetdraht muß jetzt bis Ende der Beobachtungen schnurren!« »Wie ein General der napoleonischen Zeit!« rief Renate lachend dazwischen. »Soll ich dir ein Megaphon aus einer Papiertüte machen?« »Schweigen, Mädchen!« polterte der Gelehrte. »Schon mit aufgenommen, Wiedensohl?... Schrecklich! Doch Narren meckern immer vor weltgeschichtlichen Ereignissen! Deine Position, Renate!« »Danke!« sagte sie eingeschnappt. »Kommt das auch in deinen Bericht? Wenn ihr mit eurer ganzen Astronomie übrigens nichts anderes könnt, als mich lächerlich zu machen, dann gehe ich lieber hinab in den Küdienstall. Ihr könnt mich gern haben!« »Hiergeblieben!« kommandierte Bracke. »Der Chronograph ist um zwei Sekunden zu korrigieren. Auf minus stellen, Fräulein Rena te! Wiedensohl, erste Filmkassette einsdüeben und langsam anlaufen lassen. Da, die Mondscheibe berührt den Sonnenrand. Schluß mit allen Privatgesprächen! Strikte Ordnung: Nur was auf die Sonnenfinsternis Bezug hat, darf ausgesprochen werden!...« Langsam rückte der Neumond in die strahlende Sonnenfläche ein. Renate Veith achtete auf jeden Zuruf, den ihr Bracke gab, während er am Heliometer die Abnahme des Sonnenlichts maß. -41-
Hegar starrte durch den Kleinrefraktor und rief seine Beobachtungsergebnisse in die flirrende Morgenluft, damit sie die Magnetbänder, die Wiedensohl regelte, aufzeichnen konnten. Tack... tack... tack... tack... knackte das Pendel des Chronographen dazwischen. In dem Moment, wenn einer der Beobachter etwas zu verkünden hatte, drückte Renate auf den Stechkontakt, um die genauen Zeitdifferenzen festzuhalten. Ein stilles Arbeiten war es, und es dauerte Stunden. Immer mehr von der leuchtenden Sonnenscheibe fraß der weiter vorrückende Neumond. Manchmal zeichnete der Magnetdraht des Tonaufnahmegerätes nicht mehr auf als das schwere Schnaufen Wiedensohls, wenn er wieder eine Filmkassette am Heliographen, am spektroskopischen Aufnahmegerät oder an der Sonnenkamera wechseln mußte. Dazwischen kicherte es: »Buntfilm, Wiedensohl! Sie haben ja nur Graufeinkorn in den Händen!« Und wenn der Pilot erschrocken in seinen Manipulationen innehielt, um die Signierung der Kassette zu entziffern, dann rief es hell: »Angeführt, angeführt auf beiden Seiten!« »Ruhe!« kommandierte Hegar dann jedesmal. »Ruhe, Renate! Direktes Spektroskop, Bracke?« »Starke Ultraviolettstrahlung, Herr Hegar. Unglaubliche Verschiebung nach der U-Linie. Fackeln hochintensiv. Protuberanzen noch nicht direkt meßbar, aber anscheinend unerhört lebhaft.« Mehr als dreiviertel der Sonnenscheibe hatte inzwischen der Schatten des Neumondes in sich geschluckt. Fast drei Stunden waren vergangen, als Professor Hegar rief: »Aufpassen, Bracke! In zwei Minuten Eintritt der Totalität. Wiedensohl, nun alle fünf Sekunden Ruheaufnahmen! Umstellen den Farbfilm auf Zeitlupe! Pro Pendelschlag achtzig Bilder! Renate, rechte Hand am Chronographen, linke an den Laufbändern der -42-
Magnetophone. Jede Sekunde genau stoppen! Was sagen die Spektrogramme, Bracke?« »Unheil, Professor! Ran, Wiedensohl! Die Linienverschiebung wollen wir durch die Platte dokumentiert haben... Klick... erster Ton der totalen Finsternis! Umsehen, Kameraden! Die Welt verändert sich!« Er hatte recht. Als schwarze Scheibe stand in diesem Augenblick die Sonne plötzlich am Himmel, umgeben von einem eigentümlichen Schein, der in silberglänzenden, unregelmäßigen Strahlenbündeln in den bleigrauen Himmel hinausragte. Es wurde so dunkel, daß die hellen Planeten und die lichtstärksten Fixsterne sichtbar wurden. Drohend, wie vor einem Gewitter, hing die Atmosphäre über den vulkanischen Zacken. Am Horizont leuchtete durch das düstere Grau ein schmutziges Violettrot auf, zu einem breiten Band gestaltet und zerschlissen, als hätten da die Stürme die nicht vorhandenen Wolken auseinandergetrieben. Als sich die Sonnenscheibe ganz verdunkelte, liefen schlangenähnliche, fliegende Schatten über den Grund des Kraterkessels. Die Tahitianer erhoben vor ihren Blätterhütten ein wildes Schreckensgebrüll und begannen mit ihren Fäusten die Felle der grotesken Muschelpauken zu bearbeiten. Schrille Schreie stiegen aus der Tiefe empor, und vielleicht waren sie es, die die Berg- und Seevögel auf Tahiti veranlaßten, mit grellem Gekreisch ihre Horstplätze aufzusuchen. Die großen Tropenblüten schienen zu erschrecken und schlössen ihre Kelche. Die Bienen, Wespen und Hummeln der Südseeinsel, auch die Fliegen, Stechmücken und Moskitos, die eben noch in dem düsteren Sonnenglast gespielt hatten, ließen ihre Florflügel sinken und bargen sich in dem kurzen Gestrüpp, das die alten Lavaergüsse und Tuffauflagerungen am Krater des Drohenu umgab. Ein unheimliches Schweigen gebar die Sonnenfinsternis. Bis es die rauhe Stimme Professor Hegars durchbrach: -43-
»Bracke, messen! 54 Grad Nord nach meiner Meinung gewaltige Protuberanz, nach Sicht metallische..., Geschwindigkeit nach Spektroskop?« Leises Klirren der Messingteile. Einige tiefe Atemzüge: »Unglaublich!... Sekundlich nach freilich stark verwischter Rotverschiebung mehr als tausend Kilometer... Chronograph?« Eine Weile schwieg das Mädchen am Zeitzähler. Dann sagte es: »Genau 120 Sekunden, Herr Bracke! Seit erster Meldung... « »Geschätzt... 200 000 Kilometer!« schrie Hegar dazwischen. »Was messen Sie, Bracke?« »Energie steigert sich, Herr Professor!« rief der Assistent zurück. »Bereits dreitausend Kilometer in der Sekunde. Gipfelhöhe zur Zeit 48 000 Kilometer jenseits der Chromosphäre! Wogt noch höher... alles Metallinien! Also metallische Protuberanz. Was macht die Sonnenkorona?« »Grauenhafte Verzerrung nach dem Stande der Erde hin. Protuberanz bricht nach meiner Beobachtung zusammen! Letzte gemessene Höhe?« »960 000 Kilometer annähernd! Kann auch mehr als eine Million sein. Sperrkreis versagte, Professor! Aber wir halten es trotzdem fest. Was ist 54 Süd los? Einstellen, Professor!« »Explosiver Ausbruch im Südgürtel! Die Spektroskope umstellen! Metallische Flammen rasen wie elektrisierte Teufel durch die Sonnengranulation. Wo stehen Sie, Herr Bracke?« »Noch höher als Nordausbruch! Geschwindigkeit über 2000 Kilometer... voller U-Linien! Totalität weicht. Spektrallinien versinken im Sonnenspektrum. Was sollen wir tun?« Während dieses dramatischen Dialogs war das Mondrund nach den ewigen Gesetzen des Alls von der verdunkelten Scheibe des Sonnenballs gewichen, und er begann, unsere Welt wieder strahlend mit Licht zu erfüllen. »Abbauen!« kommandierte der Professor. »Wir haben genug -44-
Telegramme aus dem All geerbt!« Er rückte sich aus dem Schwenkstuhl heraus, nahm die Blendscheiben aus dem Objektivschlitz und versuchte, die Stahlbeine des Stativs aus dem lockeren Tuffboden zu lösen. »Nachbeobachtung!« rief Bracke von seinen Einstellokularen herüber. »Kontrollaufnahmen, Wiedensohl!« Und eine schwache Stimme mischte sich darein: »Ich muß abbauen! Die Boys warten darauf, wenn sie euch das Mittagsmahl nach einigen Verzögerungen servieren sollen! Was wollt ihr haben?« Es kam keine Antwort. In dem dunkelblauen Spiegel des Kratersees erhob sich auf einmal ein sprudelnder Kegel; weiß dampften die Wolken des verkochten Wassers über den Zacken des Kraterrandes. »Was ist denn das?« schrie Renate Veith auf, während sich immer dichter und lichtverschluckender die Dämpfe um die Forschergemeinde sammelten. Professor Hegar ließ seine rauhe Stimme durch den Dunst des siedenden Sees dröhnen: »Bracke, der Drohenu wird aktiv. Die Zeit korrespondiert auffällig mit unseren direkten Beobachtungen des riesenhaften Sonnenausbruchs. Die Protuberanzen ausgemessen?« »Nur Annäherungswerte festgestellt. Schauerlicher Mief kommt da aus dem Kraterkessel hoch. Wollen wir die Beobachtungsstelle nicht räumen?« Aber es bedurfte dieser Anregung nicht mehr; denn plötzlich kochte die blaue Flut des Kratersees hoch auf, spie Dampfwolken und Bordämpfe, begann zusammenzuschrumpfen, und der Vulkanschlot schluckte gurgelnd die Wasser in sich! Nur einen Augenblick! Die Flüssigkeit schien die aufsteigenden Magmaschichten berührt zu haben. Hoch schössen plötzlich braunschwarze Qualmsäulen aus dem versickerten Kratersee empor. Ein gewaltiger Erdstoß erschütterte den Berg. Langsam begannen die Felszacken der -45-
alten Kraterumwallung zusammenzubrechen. Krachend und donnernd lösten sich Geröllawinen und schössen stäubend und knatternd über die steilen Flanken des Drohenu hinab. »Instrumente hierlassen!« befahl Hegar. »Nur belichtete Filme, Aufzeichnungen, Magnetband mitnehmen. Zum Lastwagen!« Stolpernd kämpften sich die vier durch die bebenden Felsen, erreichten die Scharte, die zur Straße führte, rannten noch hundert Meter über die Tuffplatte und sprangen, ohne sich umzusehen, auf den Lastwagen, auf dem schon angstschlotternd die beiden eingeborenen Diener hockten. »Wollen wir nicht noch unser Gepäck holen?« schrie Wiedensohl durch das Donnern des beginnenden Ausbruchs dem Professor zu. »Nichts! Fahren Sie los, als wenn tausend Teufel hinter Ihnen her wären. Da, die Aschenwolke...!« Wiedensohl hatte keine Zeit, das gewaltige Naturschauspiel zu bewundern. Er ließ den Motor anspringen und fuhr ab. Die anderen sahen, wie aus dem Krater eine dunkelrot glühende Wolkensäule hochschoß, tausend, zwei-, dreitausend Meter hoch, sich oben zu einer breiten Pinie gestaltete, aus der Blitze hervorzuckten, und es grau und schwarz herabzurieseln begann. Da hatte Wiedensohl bereits den Urwald erreicht. Das gigantische Bild entschwand ihren Augen. Vor einer Brücke über eine Waldschlucht hielt Wiedensohl den Wagen an. Er sprang ab und untersuchte die Haltefestigkeit. »Wird gerade noch gehen!« sagte er zuversichtlich. Mit höchster Geschwindigkeit ließ er den Wagen über die gefährliche Passage sausen. Hinter ihnen krachte der Betonbogen zusammen. »Vorwärts! Schneller!« bat der Professor. »Der Aschenregen kommt!« Und tatsächlich begann es in den hohen Baumkronen geheimnisvoll zu rascheln und zu rauschen. Immer dichter fiel -46-
der heiße vulkanische Sand aus dem himmlischen Wolkenturm herab. »Noch fünf Kilometer bis Papeete!« keuchte Wiedensohl unter dem Tuchfetzen hervor, den er sich gegen den scharfen Aschenstaub rasch um den Kopf geschlungen hatte. »Wird es dort besser sein?« »Kaum! Machen Sie nach unserer Ankunft sofort den Wal flugfertig. Da, sehen Sie, der alte Nachbar des Drohenu, der Aorai, spuckt auch schon Asche! Glücklicherweise scheinen sich die Vulkane Chlorwasserstoffwolken zu sparen. Vorsicht!« Wiedensohl hatte bereits scharf gebremst. Vor Angst und Schrecken brüllend waren die Bewohner des Eingeborenendorfes zu Straße gestürmt. Hunderte von schwarzbraunen Händen hoben sich bittend, als der Wagen heranschoß. »Keinen raufklettern lassen!« schrie der Pilot Bracke zu. »Wir sind sonst verloren!« »Die armen Menschen!« rief Renate Veith empört. »Zehn können wir doch mitnehmen!« »Und die hundert anderen, die wir hierlassen müssen, reißen uns in Stücke!« brüllte Wiedensohl zurück. Er ließ das Boschhorn wild aufheulen und fuhr rücksichtslos in das Gewühl hinein. Nach rechts und links sprangen die Flüchtenden, und glücklich gelangte er durch die Menschenmassen hindurch. »Ein Rohling sind Sie!« schrie Renate. »Wieviel mögen Sie überfahren haben?« »Keinen! Der Wagen hat nicht geschlagen... Danke für das Kompliment!« fauchte Wiedensohl zurück. »Da ist schon Papeete! Gleich zum Hafen?« »Jawohl! Wir müssen erst die Filmkassetten und die Tonaufnahmen sicherstellen!« Eine heulende Dämonenschar schien die Straßen der kleinen -47-
Stadt zu erfüllen. Breite Risse in den Fassaden zeigten an, daß auch hier der gewaltige Erdstoß fühlbar gewesen war. Die Bewohner waren alle auf die Straßen geströmt und starrten nun schreiend hinauf zu dem Aorai-Gipfel, aus dem die glühenden Schwärme der vulkanischen Bomben hervorzuckten. Zu einer gewaltigen Höhe war die Vulkanwolke aufgeschossen. Die schwarzen Florvorhänge des Aschenfalls näherten sich rasch der Stadt. Am Molo trafen sie den Residenten von Tahiti, Paul Brinant. Er schwang sich rasch auf das Trittbrett und fragte den Professor: »Was macht der Drohenu? Das Telegraphenamt ist zerstört. Wir erhalten keine Nachrichten mehr.« »Er ist auch in Tätigkeit! Großer Aschenausbruch! Wie lange haben die Vulkane geschwiegen?« »Mehr als hundert Jahre! Ob Gefahr für Papeete besteht?« »Das kommt auf die Menge des Aschenfalls an. Bringen Sie die Menschen hier zur Besinnung, Herr Brinant. Dieser vulkanische Ausbruch ist ein Glück für die Erde!« »Ein Glück? Sie scherzen, Professor. Mein Inselparadies! Alles verwüstet, alles in Feuer und Asche erstickt...« Wiedensohl schleppte unter der Mithilfe von Bracke und Renate bereits die kostbaren Kassetten, die das Ergebnis der Forschungsfahrt bargen, zu dem Flugboot, das in dem Winkel zwischen Hafenmauer und Mole vertäut lag. »Ich mache die Maschine flugfertig!« sagte er. »Wir müssen starten, solange wir noch einigermaßen klare Sicht haben.« »Recht so! Jawohl, ein Glück, Brinant! Hoffentlich speien in diesem Augenblick alle Feuerberge der Erde. Vulkanische Gase brauchen wir jetzt notwendiger als jemals. Die Sonne hat sich eine kurzwellige Strahlung zugelegt, die geeignet ist, die Kohlensäure zu zerlegen. Nun schafft die allgütige Mutter Erde neue Reserven des lebenswichtigen Gases. Was kommt es da auf einige veraschte Vanillenpflanzungen an? Die Sonne ist der -48-
Feind! Sie bedroht das Leben der ganzen irdischen Welt. Durch diese Vulkanausbrüche gewährt man uns Zeit, um sich gegen die große Gefahr zu rüsten. Und wir werden es tun, wenn die Menschen auf mich hören!« Er ließ den verdutzten Beamten stehen und rief Bracke zu: »Schnell zum Unterkunftshaus. Unsere Koffer holen!« »Meine hat der Drohenu verspeist!« sagte Renate kleinlaut. »Wir kaufen alles neu!« tröstete sie Hegar. »Mein Scheckbuch ist ja gerettet.« Feine Asche begann jetzt über Papeete zu fallen. Die Sicht wurde rasch schlechter. Wiedensohl hatte bereits die Leinen des Flugbootes losgeworfen und bot seinen Leuten hilfreich die Hand, als sie über den schwankenden Laufsteg zur Kabinentür schritten. Nach einer kurzen Weile donnerte auch wieder der Lastwagen heran. Rasch waren die wenigen Koffer verstaut. Bracke entlohnte eben die eingeborenen Helfer, als sich ihm ein schreiendes Menschenknäuel näherte. »Fix, Doktor!« schrie ihm warnend Wiedensohl zu. »Die haben es auf uns abgesehen!« Mit einem Sprung war Bracke auf dem Laufsteg. In der Kabinentür wandte er sich um und sah, wie sich über den Hafendamm hundert Köpfe lehnten. Eine Hand schwenkte ein ganzes Bündel Banknoten. »Fräulein Renate!« rief er überrascht aus. Hier können Sie sich Ihre philantropischen Gefühle sogar bezahlen lassen. Sehen Sie dorthin, da, neben der Eisenleiter am Damm. Das ist dodi Ihr Mäzen, der Mussiöh Hamenene!« »Hunderttausend Franken!« schrie eine Stimme. »Hundertfünfzigtausend für die Passage! Meine Perlen! Alles... nur rettet mich!« Hamenene machte Anstalten, die Leiter herabzusteigen, da begannen die beiden Propeller ihren Donnergesang. Bracke -49-
schloß rasch die Kabinentür. Langsam glitt das Flugboot in das Hafenbecken, immer weiter, auf die Ausfahrt zu. Graues Aschengeriesel überau; erst am Molenkopf gab Wiedensohl Vollgas. Schäumend zerschnitt der Kiel des Wals die Fluten, hob sich immer höher und höher aus dem Wasser, jetzt war er frei und brauste dem hellen Schein zu, der das Sonnenlicht verkündete. Als sie wieder klare Sicht hatten, zeigte Hegar hinauf nach dem strahlenden Gestirn, das nur noch zu einem Zehntel verfinstert war: »Die Sonne hat uns wieder. Bis Apia auf Upolu - etwas über 2000 Kilometer - werden wir es wohl heute noch schaffen. Hoffentlich ist dort nicht auch ein kleiner Weltuntergang durch die Sonne verursacht worden!«
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-6 Ehe sie ihre Füße unter einem Tisch des Grand-Hotels zu Apia ausstrecken konnten, war es schon die Zeit des Sonnenunterganges geworden; denn allzuviel hatte jeder Teilnehmer der Expedition außer der Vertäuung des Flugbootes noch zu erledigen gehabt. Wiedensohl mußte neuen Treibstoff beschaffen; schon am folgenden Tage wollte Professor Hegar zum Rückflug nach Deutschland starten. Doktor Bracke hatte einen ganzen Stapel von Telegrammen auf dem Postamt aufzugeben: erste Berichte an die Presse und viele wissenschaftliche Institute, Benachrichtigungen an die Flugplätze, die sie ansteuern wollten, und einige neue Anforderungen von wissenschaftlichem Beobachtungsmaterial über die Aktivität der Sonne. Hegar endlich hatte mit Renate einen kleinen Einkaufsbummel unternommen, um wenigstens die notwendigsten Dinge aus den verlorenen Koffern zu ersetzen. Als sie endlich wieder im Hotel zusammensaßen, hatte jeder viel zu berichten. Wiedensohl hatte im Flughafen erfahren, daß eine ganze Staffel zur Nachbarinsel Sawai abgebraust sei, um der amerikanischen Solarexpedition Hilfe zu bringen, die durch einen plötzlichen Vulkanausbruch in schwere Gefahr geraten sei: »Die Yankees sitzen am Mauga Ati, dicht am Ufer zwischen zwei Lavaströmen...« »Aha, der Matawanu rührt sich also auch!« stellte der Professor fest. »Sind Menschenverluste eingetreten?« »Eben wasserten zwei Flugzeuge, als ich hier abschwirrte. Sie brachten die ersten Vermißten zurück. Nein, alle Mitglieder der Expedition sind heil und gesund geblieben. Aber sie haben ihre gesamte Ausrüstung verloren. Das Unheil brach über sie herein, noch ehe sie mit den Beobachtungen beginnen konnten.« Bracke nickte: »Tahiti rund 150 Grad Ost, Sawai etwa 175 -51-
Grad... Differenz 25, mal 4 Minuten, macht nach Adam Riese 92, rund ein und eine halbe Stunde später als wir auf dem Drohenu hätten sie die totale Verfinsterung beobachten können. Inzwischen aber erfolgte auf der Sonne die ungeheure Explosion, die die riesige Protuberanz hervorrief und deren Fernwirkung das Magma des Erdinnern zum Kochen brachte. Schade, daß wir nun keinerlei Vergleichsmaterial für unsere Beobachtungen haben.« Der Professor beruhigte ihn: »Nun, da sind ja noch andere Expeditionen. Die werden sich doch hoffentlich nicht auch auf einen Vulkan gesetzt haben.« »Meinst du, Onkel, alle Vulkane sind plötzlich tätig geworden?« fragte seine Nichte. »Hoffentlich, Renate, hoffentlich!« »Aber diese entsetzlichen Verwüstungen?« »Beruhige dich, Mädel! Es gibt nicht immer gleich einen Untergang von Pompeji, wenn die Feuerberge unruhig werden.. Wir werden bald darüber genauer orientiert sein. Ich habe das Vulkanforschungsinstitut in Hüo auf Hawaii anfunken lassen. Die werden uns sicher noch heute abend Bescheid geben. Dort laufen alle Nachrichten über die Ausbrüche zusammen. Hallo, ist das nicht Spirefith?« Er wies auf eine Gruppe Menschen hin, die hastig über die Treppe zur Veranda heraufschritten. Allen voran ging ein blondköpfiger Hüne, das Gesicht geschwärzt, die weiße Tropenjacke angekohlt. In der Hand schwang er die Reste eines Korkhelms, der ebenfalls große Brandlöcher aufwies. »Schert euch zur Hölle!« donnerte er eben wieder seine Verfolger an. »Hardie Huk brennt, die Einwohner sind aber alle gerettet. Wir auch, wie ihr ja sehen könnt! Die gesamte Ausrüstung ist beim Teufel! Und jetzt laßt mich in Ruhe!« »Hallo, Spirefith!« rief ihn Hegar an. »Wenn die Vulkane toben, braudien doch die Astrophysiker nicht das gleiche zu -52-
tun!« Mit einem Ruck wandte sich der Hüne um und starrte einen Augenblick lang den Sprecher verdutzt an. Dann begannen seine Augen hell zu leuchten: »Himmel und Hölle, Hegar! Ich denke, euch hat der Satanas auf dem Drohenu geholt?« »Haben nur seinen Schwanz gesehen, Freund Spirefith! Und ihr?« »Mitten ins Gesicht ist er uns gesprungen! Die Gönner des Washington-Observatoriums werden fluchen wie sieben alte Türken, wenn sie meinen Bericht bekommen!« »Und der wird lauten?« »Nichts gesehen! Alle Ausrüstungsstücke unter der Lava begraben... Den lieben Vettern, den Bulls, geht es aber kein Haar besser.« Er schob sich einen Stuhl an den Tisch und nahm Platz. Dann wandte er wie ein wütender Neufundländer den Kopf und fauchte die Berichterstatter an, die näher drängen wollten: »Abzug jetzt mit euch! Oder ich fange an, mit Sodaflaschen zu bombardieren, Fahrt rüber nach Hardie Huk oder nach Matautu und seht euch die Bescherung selber an!« Dann machte er sich mit den anderen Tischgenossen bekannt: »Hal Spirefith vom Washington-Observator, alter Freund von Hegar. Meine Leute haben sich auf die Expeditionsjacht zurückgezogen. Sehen auch alle aus wie gesengte Säue!... Entschuldigung, Missis! Aber der Ausdruck stimmt!« Interessiert hörte er dann dem Bericht zu, den ihm Hegar gab. Ein zerdrücktes Notizbuch riß er aus der Tasche und verglich einige Zeitangaben. »Stimmt fast bis auf die Sekunde, Mann!« rief er begeistert. »Die Tatsache allein lohnt die Expeditionskosten! Und sonstige Auswertungen?« »Vorsicht, Freund!« mahnte der Deutsche. Ich will erst die -53-
Filme und Spektrogramme in Deutschland entwickeln lassen, ehe ich mir neue spekulative Schlüsse erlaube.« »Ich komme mit nach Rönneberg!« erklärte der amerikanische Forscher entschieden. »Bin schon lange nicht mehr in meiner Mutter Land gewesen. Und dann wollen wir arbeiten, daß die Schwarte knackt! So sagt man doch bei euch?« »Genau so! Sie sind mir ein willkommener Gast. Und vielleicht gelingt es Ihrer Autorität, die Welt leichter von der Richtigkeit meiner Prophezeiungen zu überzeugen, als es mir möglich wäre!« Und er erzahlte dem Amerikaner von seinen Besorgnissen, den Wärmehaushalt der Erde betreffend. Er war mit seinen Schilderungen noch nicht ganz fertig, als ihm ein Telegraphenbote einen umfangreichen Fernspruch brachte. »Das Vulkanforschungsinstitut Hilo auf Hawaii meldet sich schon«, sagte er erfreut. Er überflog die gelben Blätter. »Das ist ja großartig: Starke Tätigkeit zeigen Mauna Loa, Kilauea und der riesige Haleakala auf der Nachbarinsel Maui. Hören Sie nur: Der Krater des letzteren hat sich vollkommen mit dünnflüssiger Lava gefüllt und droht überzuschäumen. 45 Kilometer mißt der Kraterkessel des Haleakala im Umfang. Da hat schon etwas darin Platz... Der Tarawera auf Neuseeland speit Asche, Tanna auf den Neuen Hebriden desgleichen. Meldungen über weitere Ausbrüche liegen vor vom Pogrumnoj auf den Aleuten und den Riesenfeuerbergen in Kamtschatka. Großausbruch des Ksudatsch auf den Kurilen. Die japanischen Vulkane schicken vorläufig nur gewaltige Rauchwolken in die Luft. Auf den Philippinen produzieren vorläufig nur Mayon und Taal, auf Celebes der Gamkanorra Lava und Asche. Die ganze Perlenkette der Feuerberge in der Insulinde vom Krakatau bis zum Komba regt sich gleichfalls, auch die Andenvulkane in Mittelamerika sind aus ihrer Lethargie erwacht. Mit einem Wort: Alle feuerspeienden Berge rund um das große Einbruchsbecken des Stillen Ozeans sind aktiv geworden. Direkte Schäden überall -54-
vorläufig noch sehr gering, melden die vorsichtigen Leute aus Hilo. Ganz falsch gesagt. Freunde von Hawaii! Nutzen dieser Ausbrüche noch gar nicht abzusehen! hättet ihr kabeln müssen. Und da senden Sie mir sogar eine Analyse der Vulkangase vom Kilauea. Wollen doch mal sehen: Großartig! Fast 60 Raumteile Kohlensäure bläst der Krater Halemauman in die Atmosphäre. Und diese Zusammensetzung werden die Rauchschwaden wohl überall haben. Hoffentlich sind alle Vulkane der Erde aktiv geworden. Wir zählten 251 Feuerberge auf dem Erdball. Nehmen wir den günstigsten Fall an... alle speien Kohlensäure in die Atmosphäre. Ein Kubikmeter dieses Gases wiegt... « »Fast zwei Kilogramm!« warf Bracke ein. »Richtig, genau 1 976 800 Milligramm. Wieviel Kubikmeter mag der Orohenu in der Minute produziert haben?« »Nach der Rauchwolkenhöhe und ihrem schnellen Steigen nicht unter hunderttausend Kubikmeter.« »Gut, wollen nur 50 Prozent Kohlendioxyd annehmen. Dann hat dieser Vulkan in einer Minute 50 000 Kubikmeter, gleich einhunderttausend Kilogramm Kohlensäure für unsere Atemluft geliefert. Der Drohenu ist gute Mittelware, wir können seine Produktion unserer Annäherungsberechnung zugrunde legen: 200 tätige Vulkane speien also:... « »200 mal 100 Tonnen, gleich 20000 Tonnen minutlich aus!« setzte Renate Veith die Berechnung fort. »In der Stunde also 1 200 000 Tonnen.« »Am Tage geschätzt über 26 Millionen Tonnen!« schloß Spirefith die Berechnung. »Sechs Tage dauert im allgemeinen ein Vulkana usbruch. Der irdischen Atmosphäre werden also durch diese plötzliche Aktivierung des Erdinnern rund 150 Millionen Tonnen Kohlensäure zugeführt. Das ist eine sehr beachtliche Reserve, die die kurzwellige Strahlung der Sonne erst aufzehren muß, ehe sich die ersten Folgen einer Temperaturverschlechterung bemerkbar machen werden. Und -55-
wie lange wird das dauern?« »Meiner Mutmaßung nach etwa drei Jahre!« erwiderte Hegar. »Doch wir müssen erst experimentell im Labor untersuchen, in welchem Zeitraum eine Ultrastrahlung ähnlich der, die jetzt von der Sonne ausgeht, einen Kubikmeter Kohlensäure zerlegt. Wir werden bald reisen müssen, Freund Spirefith!« »Meinetwegen jetzt gleich!« erwiderte der Deutschamerikaner. »Und wenn wir mit unseren Darlegungen an die Öffentlichkeit treten werden...« »... dann wird Sie die ganze Welt auslachen!« warf Wiedensohl dazwischen. »Ja, das ist zwar eine Laienmeinung, aber wenn ich auch nicht viel von Astronomie und Geophysik verstehe, um so mehr kenne ich doch die lieben Mitmenschen. Ihr Herren Gelehrten habt der Welt doch schon manches Unheil prophezeit. Bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten wurden große Katastrophen vorausgesagt, und niemals sind sie eingetreten. In unserem aufgeklärten Zeitalter ist Prophetentum unerwünscht. Sie werden einige überängstliche Gemüter in einen heillosen Schrecken jagen, die Masse der Menschen aber wird über Sie lachen, Herr Professor!« »Sie auch, Wiedensohl?« »Ich nicht! Dazu habe ich Sie und Bracke zu genau kennengelernt.« »Dann bin ich zufrieden. Dann sind wir also schon ein ganzes Kollegium, das den Feldzug gegen die sprichwörtliche Dummheit der Menschen aufnehmen wird. Morgen früh beim Sonnenaufgang Start, Wiedensohl! Werden wir morgen noch Batavia erreichen?« »Bestimmt! Vielleicht gar Bedan auf Sumatra. Und 36 Stunden später können wir auf dem Bodensee wassern.« »Dann wollen wir schlafengehen, Herrschaften!« empfahl Hegar. »Wir werden morgen früh viel sehen können. Unsere Flugroute führt uns über die lange Kette der Vulkane auf den -56-
Sundainseln hinweg. Dort kannst du dich davon überzeugen, daß ein kleiner Ausbruch noch lange kein Weltuntergang ist, Renate.« »Ich brauche nichts mehr dazuzulemen, Onkel!« erklärte das Mädchen. »Mich schaudert es immer noch, wenn ich die Verzweiflungsbilder von Tahiti sehe.« Ein neues Telegramm wurde dem Professor eben überbracht. Er überflog es. »Du kannst beruhigt sein! Hilo funkt mir eben, daß der Aschenregen des Orohenu und des Aorai sehr wenig Schaden angerichtet hat. Die Lavaströme haben die Hochwaldzone nur angeschnitten.«
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-7 Stunde um Stunde rasten bereits die Propeller, und unter den Tragdecks zogen hundert Kilometer auf hundert Kilometer der Südsee weg. Professor Spirefith war begeistert von der Flugfähigkeit der Maschine. Nur einmal, gegen die Mittagsstunde, hatte Wiedensohl gewassert, um in Samarui auf der Insel Neuguinea Betriebsstoff zu übernehmen. Einen Korb voll herrlicher Tropenfrüchte hatte er gleichfalls besorgt. »Ohne Durian!« wie er lachend Renate Veith versicherte. Sie hatte sich tüchtig auf der kleinen Kochstelle des Wals zu schaffen gemacht und konnte allen Insassen kurz nach dem neuen Aufstieg eine Tasse Schildkrötensuppe, warme Würstchen mit grünen Bohnen und einen kräftigen Kaffee servieren. Die wundervollen Früchte vervollkommneten das Menü. Rudolf Bracke aß ein wenig geistesabwesend; denn er hatte die Kopfhörer des Kurzwellenempfangsgerätes über die Ohren gelegt und nahm Meldung um Meldung aus dem Äther auf. Den Sender Honolulu schaltete er jetzt ab und stellte auf Buitenzorg bei Batavia um. Professor Hegar musterte die letzten Aufzeichnungen: »Hilo kann, 24 Stunden nach Beginn der großen Ausbrüche, bereits eine starke Abnahme der vulkanischen Tätigkeit feststellen. Begleitet sind die Eruptionen von gewaltigen magnetischen Stürmen gewesen. Es wird ein ungeheures Material zu verarbeiten sein, wenn wir erst wieder in Rönneberg sitzen. Keine Erholung für Sie, Spirefith!« »Suche ich auch nicht! Wissen und Vorhersagen! Wenn man diesem größten aller menschlichen Axiome entsprechen will, muß man den Schweiß nicht scheuen. Was meldete Buitenzorg, Bracke? Sie machen ja so ein entsetztes Gesicht?« »Schwere Gefährdung von Soerakarta und Malang! Großausbruch des Merapi und des Semeroe! Die reichsten -58-
Gebiete von Java bedroht!« »Das ist schrecklich!« sagte Hegar nachdenklich. »Um den Merapi liegen die am dichtesten bevölkerten Gebiete der glücklichen Insel Java. Mehr als 500 Menschen wohnen dort auf dem Quadratkilometer. Malang hat etwa 100 000, Soerakarta fast die doppelte Zahl von Einwohnern. Ein reiches La nd: Zuckerrohr, Tabak, Kautschuk, Tee und Kaffee, die Petroleumfelder nicht zu vergessen. Melden die Holländer Näheres?« »Dichte Aschenwolken, tintenschwarze Schlammregen, viele Lavaergüsse, Telegraphenleitungen zerstört, Eisenbahnlinien blockiert. Massenflucht der Bevölkerung!« »Scheint mir mehr nach blindem Alarm auszusehen!« erklärte der deutsche Gelehrte. »Das ist in den Vulkangebieten Javas doch nichts Neues. Wollen uns doch selbst einmal durch Augenschein von den Dingen da überzeugen!« Er griff nach dem Bordtelefon und gab Wiedensohl seine Weisungen: »Genau Ostkurs halten, bis wir Soemba überflogen haben. Dann nach Norden, an der Südküste der kleinen Sundainseln entlang, bis Java erreicht ist. Dort gebe ich neue Weisungen!« »Verstanden, Herr Professor!« »Und wenn Sie können, legen Sie noch etwas Geschwindigkeit »Wird gemacht! Kann auch 800 Kilometer stündlich fliegen. Maschine arbeitet großartig!« In den Nachmittagsstunden schon hatten sie die Bali-Straße gequert und die Ostspitze Javas erreicht. Einige Male waren die hohen Rauchsäulen der qualmenden Vulkane auf den kleinen Sundainseln in ihren Gesichtskreis getreten: Seoea, Komba und Tambora. Doch deuteten die ruhig im blauen Glast stehenden Pinienwolken keine größeren Katastrophen an. Als sie sich aber dem höchsten Berg des glücklichen Java näherten, dem 5700 -59-
Meter hohen Semeroe, änderte sich das Bild gründlich. Die ganze Gegend zwischen dem Semeroe und dem Bromo qualmte. Eine zitternde, sich immer höher schiebende Rauchmasse verdeckte jeglichen Blick in die Täler. Zwischen dem Indischen Ozean und der Java-See schien die ganze Erde zu brennen. »Hinein in den Höllenzirkus?« fragte Wiedensohl trocken. »Nein. Das sieht wirklich schlimm aus! Schlimmer als die Aufnahmen, die von den großen Ausbrüchen des Mont Pélée 1901 und 1902 gemacht worden sind.« Spirefith nickte: »Damals tötete die Glutwolke, die vom Pélée zur friedlichen Hafenstadt Saint Pierre herabrollte, in einer halben Stunde 50 000 Menschen.« »Ich habe davon gelesen!« mischte sich Renate in das Gespräch. »Nur drei Menschen blieben von der ganzen Einwohnerschaft am Leben: ein Fischer, der gerade in das Meer gefallen war, ein Schuljunge, der die Schule geschwänzt hatte und sich in einem Brunnen versteckt hielt, und ein Schwerverbrecher, den die Polizei im tiefsten Kerker eingeschlossen hatte.« Bracke lächelte: »Wieder ein Märchen! Aber ein hübsches. Man kann daran alle möglichen glücklichen Betrachtungen über das Walten einer weisen Vorsehung knüpfen. Oder die Moral daraus ziehen, daß Schuleschwänzen und Straßenraub im gegebenen Falle direkt lebenserhaltende Kräfte sein können!« »Ich rede überhaupt nicht mehr mit Ihnen!« erwiderte Renate zornig. »Immerfort diene ich nur als Zielscheibe Ihres Spottes. Und wenn Sie schweigen, muß Wiedensohl seine Zunge an mir wetzen!« »Aber nur zu Ihrem Guten! Wir müssen Sie allmählich aus dem romantischen Dunstkreis der Musik lösen, um Sie in die kalte Klarheit der Wirklichkeit zurückzuführen. Halt, eben sendet Buitenzorg neue Nachrichten!« Eine Weile schwiegen alle, während das Flugzeug weiter nach -60-
Westen schoß und allmählich das Bild des Schreckens hinter ihnen versank. Bracke hatte seine Notizen beendet und schob das Berichtsblatt Hegar zu. »Manchmal täuscht der schlimmste Augenschein!« sagte dieser nach der Lektüre tief aufatmend. Die Pfropfen in den Vulkanschloten des Semeroe und des Bromo haben wohl zu fest gesessen. Dafür hat sich in den Tälern eine große Menge parasitischer Kleinkrater gebildet, die uns dieses ungewohnte Bild bescherten. Bisher fast gar keine Mensche nverluste! AsAenfall gering! Dort sehen wir ja auch schon den Merapi spucken! Wiedensohl, können wir da die Insel queren?« »Selbstverständlich!« versicherte der Pilot. Und wenige Minuten später hingen sie über der Gebirgskette, die der stumpfe Kegel des rauchspeienden Merapi krönte. Nahe durften sie sich an den Feuerberg nicht herangetrauen. Denn wie ein atmendes Ungetüm stieß er alle Minuten seinen feurigen Hagel von Lavatrümmern und Aschenblöcken aus einem Krater. Nach Norden floß ein breiter, glühender Strom. Dorthin, wo seine Zunge leckte, lohten die Pflanzungen grell auf und stürzten die Riesenbäume, die die Kaffeesträucher schützten, krachend und funkensprühend zusammen. Hegar entwarf, während sie um das Phänomen kreisten, schnell eine Skizze der Landschaft. Bracke ließ eine Handkamera schnurren, um das gewaltige Bild auf das Zelluloidband zu bannen. Dann stieß das Flugboot nach Norden hinab und schwebte bald über Semarang. »Maßlose Übertreibung!« schimpfte der Professor. »Ich werde den Herrn Funkberichtern in Batavia mal gehörig den Marsch blasen. Ich kenne doch hier die Gegend. Habe bereits dreimal den Merapi bestiegen. Soerakarta gefährdet? Der Lavastrom fließt genau nach Norden. Nicht einmal Ambarawa wird er erreichen. Und die Asche ist hochwillkommener Dünger für die fruchtbare Landschaft. Die paar Teefelder und Kaffeepflanzungen, die die Lava frißt... bah, das buchen die -61-
fetten Mynheers Plantagenbesitzer zwischen Cocktail und erstem Löffelstiel ab, ohne daß es ihnen den Appetit verschlägt. Nun Tempo auf Batavia! Heute seid ihr alle zu einer großen Reistafel eingeladen!« In Batavia erreichten sie auch die ersten Nachrichten aus Europa. Die Mittelmeervulkane waren ruhig geblieben. Nur die isländischen Feuerberge hatten ihre Schlote geöffnet. »Man zerbricht sich fast die Zungen an ihren Namen!« sagte Hegar. »Leirnukur, Askja, Eldgja, Laki und Hekla... Aber sie werden uns sehr wertvoll werden, wenn wir die Sonne besiegen wollen. Dort werden wahrscheinlich zuerst unsere Kaltekraftwerke anlaufen!« Der Deutschamerikaner wollte mehr wissen; doch der Professor mochte vorläufig nichts Näheres über seine Plane verraten. »Warten Sie ab, Spirefith! Erst müssen wir unsere Theorie hieb- und stichfest mit wirklichen Beobachtungen untermauert haben, ehe wir die Welt mobilisieren. Dann wird es auch Zeit sein, den Weg zur Rettung zu zeigen!«
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-8 Das Haus des Professors Hegar stand nicht an den sonnigen Hängen des Odenwaldes oder des Königsstuhls. In der Rheinebene, in der alten bäuerlichen Siedlung Handschuhsheim, hatte er sich sein Heim geschaffen. Ein weitgedehnter Obstgarten umgab von allen Seiten das einstöckige, einen fast quadratischen Grundriß bildende Wohngebäude. An der Ostseite überragte ein plumper, vierkantiger Turm das Dach, der oben eine schwenkbare Kuppel trug. Dort befand sich im Obergeschoß die kleine private Sternwarte des Professors. In den unteren Räumen waren seine Arbeitsräume untergebracht. Die ersten Septembertage schenkten dem gesegneten Land ein üppiges Reifen. Renate Veith stand zwischen Halbstämmen des Birnengartens und prüfte vergnügt den Wohlgeschmack einer frühen Williams Christ. »Vorsicht! Unter den roten Wangen sitzen Maden!« rief ihr lachend Rudi Bracke zu, der vor dem Wohngebäude eben von seinem Motorrad sprang. Er rannte in gutem Steherschritt den breiten Weg entlang auf sie zu und verlangte: »Auch mal kosten! Der Herbst soll mir nochmals viel Freuden bereiten!« Sie bot ihm eine Frucht aus der hochgeknüpften Gartenschürze und sagte: »Sie betonen ja Der gar so sehr. Im nächsten Jahr gibt es wieder einen Herbst voller Früchte und Sonne.« »Ja, sehr richtig! Sie sind ein kluges Mädchen! Aber ich schätze, daß wir ihn kaum im warmen Handschuhsheim verleben werden.« »Neue Reisepläne?« wollte sie wissen. »Wir sind doch kaum zwei Monate wieder aus der Südsee zurück. Ich beginne mich langsam hier heimisch zu fühlen.« »Lassen Sie den Heimatkomplex nicht allzusehr -63-
anschwellen!« lachte Bracke. »Herbst, Winter, Frühling... Die drei Jahreszeiten werden wir in Rönneberg verleben. Dann aber geht es hinaus. Diesmal nicht nach Süden, sondern nach dem eisumpanzerten Norden. Ins Männerland! Dabei werden wir Sie wohl kaum brauchen können!« Renate Veith stampfte mit ihren bunten Opanken den Kies des Gartenwegs: »Ich fahre doch mit! Onkel Albin hat sich allmählich an meine hausfraulichen Eigenschaften so gewöhnt, daß er mich kaum entbehren kann. Aber wir schwatzen hier, und Spirefith hat schon dreimal nach Ihnen gefragt. Was haben Sie für merkwürdige Fracht in dem Beiwagen geladen?« Sie wies auf die großen Mappen und langen Rollen, die weit über die Wanne des Beiwagens herausragten. Bracke belud sich bereits mit ihnen und bat: »Hier, die beiden müssen Sie schleppen. Also dann wieder an die Arbeit. Wenn wir zeitig genug fertig werden, lade ich Sie zu einer Spritztour nach Weinheim ein. Aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen!« Die beiden Sternforscher waren in eine lebhafte Debatte vertieft, als Bracke und Renate mit ihrer Last in dem großen, hellen Arbeitsraum anlangten. Eine Unmenge von Registriermappen war auf breiten Tischen gestapelt. Bracke warf mit Wucht sein Traggut auf einen von diesen und nahm dann auch Renate die Fracht ab. »So, hier ist alles, was die Bibliothek der Ruprecht-Karl-Universität an Karten und geologischen Profilen über Nowaja Semlja enthält. Wollen wir uns gleich darüber hermachen?« »Natürlich!« erklärte Hegar. Haben Sie sich auch von dem Experten der Geologie über Grundlagen informieren lassen?« »Selbstverständlich! Professor Hagen hat mir aus dem Stegreif einen einstündigen Vortrag über die merkwürdige Doppelinsel gehalten. Ein tolles Land muß es sein... « »Hagen war zwei Sommer selbst dort«, belehrte ihn Hegar, während er ungeduldig die ersten Verschlußbänder der Mappen -64-
löste. »Hat er sonst nichts mitgeschickt?« »Richtig! Beinahe vergessen!« Bracke griff in die Jackentasche und holte einen Papierbeutel hervor. Er enthielt zwei rote Steine, die sorgsam in Watte eingebettet waren. »Roter Quarz... dieses Stück aus Brancheville in USA., jenes vom Kap Gefahr auf Nowaja Semlja. Professor Hagen empfielt große Vorsicht bei dem Versuch!« Hegar wog die beiden Stücke prüfend in der Hand. »Los, Bracke, schweren Hammer aus der Werkstatt holen! Wollen das Experiment gleich steigen lassen!« »Nur im Freien, empfielt Hagen!« erklärte Bracke. »Hier, ich habe es mir notiert: Steine in feste Drahtgaze einwickeln, dann erst mit dem Hammer bearbeiten. Wenn Volumenmessungen der ausströmenden Gase erwünscht, dann Anschluß an ein Auffanggerät vorbereiten.« »Werden wir morgen im Labor des geologischen Instituts machen!« mischte sich Spirefith in die Debatte. »Heute will ich Freund Hegar nur von der Richtigkeit meiner Behauptungen überzeugen.« Für den deutschen Gelehrten dauerten die Vorbereitungen zu dem Versuch fast zu lange. Er schalt Bracke aus, der keuchend eine große Eisenplatte heranschleppte. »Schneller, Doktor! Dorthin, unter den Apfelbaum!« Der Deutschamerikaner hatte inzwischen über einen gabligen Ast einen starken Bindfaden gehängt und befestigte nun an dem einen Ende einen schweren Vorschlaghammer so, daß er genau über der ersten Gesteinsprobe auf der Metallplatte schwebte. Dann zog er das andere Ende bis hinter die Hausecke und befahl: »Alle Mann hierher in volle Deckung! Auch Sie, Fräulein Veith! Der rote Quarz von Brancheville hat es in sich!« »Unsinn!« rief das Mädchen lachend. »Der Brocken wird zerplatzen, wenn der schwere Hammer darauf fällt. Das ist doch kein Dynamit.« -65-
»Dann werden Sie gleich eines anderen belehrt sein!« sagte Spirefith. »Achtung, ich beginne!« Er ließ die Schnur seiner Hand entgleiten, und der wuchtige Hammerkörper stürzte aus zwei Meter Höhe auf den rosafarbenen Stein in der Drahtgazetasche. Ein lauter Knall ertönte, der Hammerkopf machte einen gewaltigen Satz, und sich wirbelnd überschlagend, flog er wohl fünf Meter weit durch die Luft. Die Drahtgaze war vollkommen zerrissen. Nur wenig feines Steinmehl lag noch auf der Eisenplatte. »Wo ist denn der Quarzklumpen hin?« wollte Renate wissen. »Explodiert!« rief Hegar begeistert. »Spirefith, das ist ja eine Mordssache! Nun zum Brocken aus Nowaja Semlja, Rosenquarz vom Kap Gefahr.« Das Experiment verlief genau in der gleichen Weise, nur daß diesmal der Explosionsschall viel lauter war und der Hammer in einer ganz anderen Richtung flog. Er wirbelte auf das Haus zu und krachte mitten in eine glänzende Fensterscheibe. »Himmel, meine Weckgläser!« schrie Renate entsetzt auf. »Genau in die Küche! Der Schaden!« Und sie wollte davonstürmen. »Nein, der Nutzen!« Hegar hielt sie fest. »Großartig, Spirefith! Wenn wir beim Kap Gefahr genug Material von dieser Beschaffenheit vorfinden, dann kommen wir mit weit weniger Kraft aus, als ich sonst errechnet habe. Nun aber zu den Karten!« Auf dem Wege zurück in die Arbeitsräume erläuterte Spirefith das seltsame Geschehen. »In manchen Gesteinen sind ganz unvorstellbare Mengen von Gasen, meistens Kohlensäure, enthalten. Wenn man ein Kubikzentimeter Granit auf 1000 Grad erhitzt, gibt er 20 Liter Kohlensäure und 89 Liter Wasserdampf ab. Der Brancheviller Quarz muß in jedem Kubikzentimeter mehr als hundert Uter Kohlensäure enthalten. Daher explodiert er bereits, wenn man ihn mit einem Hammer bearbeitet. Wir -66-
haben ja alle mit eigenen Augen gesehen, wie groß die Wucht des Zerknalls war. Roter Quarz vom Kap Gefahr auf Nowaja Semlja scheint mehr als die doppelte Menge CO2 gebunden zu haben. Morgen werden wir im Labor genaue Quantitätsmessungen vornehmen. Legen wir auch nur 100 Liter unseren Berechnungen zugrunde, dann erzeugen wir aus einem Kubikmeter solchen Gesteins 100 Millionen Liter, gleich 100 000 Kubikmeter. Wenn das Kraftwerk imstande ist, täglich tausend Kubikmeter Quarz zu verarbeiten, dann schaffen wir an dieser einen Stelle täglich 100 Millionen Kubikmeter Kohlensäure, eine Menge, die wesentlich den Vorrat der Atmosphäre an dem wichtigen Lebensstoff ergänzt.« »Und hundert solcher Werke auf dem Erdball...«, fuhr Hegar fort, »... damit schlagen wir die kurzwellige Strahlung der Sonne. Spirefith, wir werden die Erde retten!« Angestrengt arbeiteten die drei Gelehrten dann über den geologischen Karten und Profilen, die Bracke überbracht hatte. Die Sonne war bereits im Sinken, als sie für heute die Mappen schlössen. Hegar faßte das Ergebnis zusammen: »Ausreichend Material am Kap Gefahr. Genug für zwanzig Jahre Kohlensäureerzeugung. Und die Kupfervorkommen dort sind eine angenehme Zugabe, garantieren sogar eine gewisse Wirtschaftlichkeit. Schluß für heute... Wiedensohl wollte noch kommen. Ob er bei den Erben Barjots etwas ausgerichtet haben wird?« Nach dem Abendbrot wurde der Professor aus Frankfurt angerufen. Robert Wiedensohl teilte ihm seine glückliche Heimkehr aus Amerika mit und versprach, in einer Stunde in Rönneberg zu sein. Auf die Frage nach dem Erfolg seiner Reise antwortete er nur: »Ziemlich mager... aber wir werden die verhungerte Kuh schon wieder aufmästen!« Spirefith ließ die Gelenke seiner Finger knacken, als er diese -67-
Botschaft vernommen hatte. Er zündete sich umständlich seine Pfeife an und sagte dann: »Trotz allem werden wir aber die Öffentlichkeit von den Ergebnissen unserer Forschungen unterrichten müssen. Gründlich genug sind ja unsere Arbeiten gewesen.« »Gründlich?« fuhr Hegar auf. »Wir sind über die Vorarbeiten noch nicht hinausgekommen!« »Aber, Herr Professor!« warf Bracke ein. »Wir sind doch in den letzten Monaten, bildlich gesprochen, nicht mehr aus den Stiefeln herausgekommen. Zuerst die Auswertung des Materials der Solarexpeditionen... dreihundertachtzig Sammelmappen füllen allein die Ergebnisse... Dann die Versuche mit der Ultraviolettstrahlung, endlich die Bearbeitung der Unmenge von Stoff, die uns die Vulkanobservatorien übersandten... und dazwischen die ewigen Auseinandersetzungen mit den geologischen Experten über die Möglichkeit zur Errettung... Nennen Sie das nur Vorarbeiten?« Hegar sprang auf und begann mit langen Schritten das große Zimmer zu durchmessen. Dabei sprudelte er seine abgehackten Sätze hervor: »Metallische Riesenprotuberanzen zucken weiter aus dem Sonnenball. Gewaltige Zunahme der UltraviolettStrahlung von allen Sternwarten bestätigt. Im Widerspruch dazu steht die schwache Tätigkeit der irdischen Vulkane, die so hoffnungsvoll begonnen hat. An 15 Stellen unseres Erdballes arbeitet man an ständigen Luftuntersuchungen. Nirgendwo wird Abfall der Kohlensäuremenge festgestellt. Also...?« Dicht vor Bracke blieb er stehen und sah ihn fragend an. Sein Assistent schüttelte prüfend den Kopf und erhob sich aus den» Sessel: »Vielleicht haben wir mit allen unseren Vermutungen unrecht... und das wäre ja ein großes Glück für alles auf Erden, was einen Lebenshauch in sich trägt. Doch mir fiel gestern etwas aus den Berichten der meteorologischen Nebenstelle Coronation am Coppermine-River auf... Ich hole einmal die Telegramme...« -68-
Spirefith langte sich einen Handatlas vom Bücherregal: »Coronation... Coppermine-River?... etwa 68 Grad Nord im Nordwestterritorium. Dort hat bis vor ganz kurzer Zeit die Mitternachtssonne geschienen, also wesentlich längere Strahlungseinwirkung als hier. Sollte sich dort schon etwas regen?« Bracke brachte eine der Heftmappen herüber und legte sie aufgeschlagen auf den Tisch: »Da, Harmsen, der Leiter der gottverlorenen Station, hat immer mit größter Genauigkeit die Analysen vorgenommen. 12. August... Südwind, 0,031 Prozent Kohlensäure... 16. August, Nordwind, 0,028 CO2 ... Hier gar 24. August, stürmischer Nordost zu Nord, 0,025 Prozent... Freilich 28. August, Weststurm, wieder dasselbe Volumen wie am 12. August.« Hegar hatte nach dem Atlas gegriffen und zog einige bunte Linien über die Karte des nördlichsten Teiles Kanadas: »Da, die Windrichtungen... Weht die Luft aus dem Polargebiet, dann sinkt die Kohlensäurebeimischung. Kommen die Luftmassen aus dem kürzer bestrahlten Südgebiet, dann ist der Gehalt höher.« »Aber hier, Westwind?« Bracke wies auf einige Zahlen. Der Professor schmunzelte: »Sehen Sie, wo meine Linie endet? Katamai, der Riesenvulkan Alaskas, und das Tal der zehntausend Dämpfe. Dorther hätte eigentlich noch mehr Kohlensäure bis nach Coronation herüberschlagen müssen. Kabeln Sie heute noch an Harmsen. Seine Analysen für uns von größter Wichtigkeit. Neues Material dringend erwünscht. Und wenn Wiedensohl hier ist, muß er uns Luftproben aus den höheren Regionen holen! Vielleicht können wir jetzt schon exakt die Zerlegung der Kohlensäure beweisen.« »Soll Wiedensohl zum Nordpol fliegen?« fragte Renate. »Schäfchen!« lachte Hegar. »Der Kohlensäuregehalt der Atmosphäre nimmt in höheren Lagen nach bekannten Gesetzen -69-
ab. Können also bei Abweichung vom Normalgehalt unsere Schlüsse ziehen und dann die Welt mobilisieren!« Spirefith schüttelte bedenklich seinen Kopf: »Lieber Freund, wir können nicht zeitig genug mit unserer Aufklärungsarbeit beginnen. Nein, jetzt lassen Sie mich einmal sprechen. Gründlich eingeweiht in die ganze Materie sind doch eigentlich nur die hier Versammelten. Eine ganze Reihe von Fachkollegen wird unsere Thesen sehr scharf bekämpfen, andere werden sie mit einem Achselzucken abtun. Wir werden Monate, wenn nicht gar Jahre verlieren in einem fruchtlosen Meinungskampf. Endlich wird die zunehmende Klimaverschlechterung die Menschen von der Richtigkeit unserer Theorien überzeugen. Doch dann, in dem ausbrechenden Chaos der Verzweiflung noch Kräfte für die Bekämpfung der Kälte zu entfesseln, das dürfte sehr schwer sein. Ich schlage daher vor: Wir geben schon in den nächsten Tagen eine möglichst allgemeinverständliche Darstellung über die Ergebnisse unserer Beobachtungen und Spekulationen heraus, nähren dann die öffentliche Debatte von Woche zu Woche mit neuem Stoff und weisen endlich, wenn sich die ersten Zeichen einer Klimaverschlechterung nicht mehr wegleugnen lassen, den Weg zur Rettung. Zum letzten Teil freilich, darin gebe ich Ihnen recht, fehlen uns wohl noch die exakten Grundlagen!« »Nicht im geringsten!« erklärte Hegar. »Die Kräfte stehen uns schon zur Verfügung... Wir müssen sie nur einspannen!« »Sie machen mich neugierig!« Spirefith richtete seine grauen Augen forschend auf den Deutschen. »Hängt Wiedensohls Reise etwa damit zusammen?« »Ja! Sein Amerikaflug erspart uns vielleicht eine Menge eigener Arbeit. Ich muß da einmal etwas ausholen. Um die Wetterverschlechterung abzuwenden, dazu genügen die heute der Menschheit zur Verfügung stehenden Energien nicht. Die Kohlenbergwerke reichen gerade aus, um die Wohnungen und Industrien mit dem nötigen Brennstoff zu versorgen. Wo -70-
ausnutzbare Wasserkräfte vorhanden sind, werden sie he ute bereits in den Dienst der menschlichen Kultur eingespannt. Wir brauchen ungeheure Kräfte, um die in den Gesteinen und im Erdinnern gebundenen Kohlensäuremassen freizusetzen. Was würden Sie mir raten?« Spirefith zuckte mit den Achseln: »Schwer zu sagen. Gezeitenkraftwerke? Die Erfahrungen, die bisher damit gemacht worden sind, sprechen kaum für die Errichtung solcher kostspieligen Anlagen.« »Nun, ganz so ungünstig sind sie ja gerade nicht!« fuhr Hegar fort. »Die Turbinen des San-Jose-Werkes in Argentinien liefern immerhin 5 Milliarden Kilowattstunden jährlich. Aber Sie haben recht, daran habe ich nicht gedacht. Zunächst muß überall da, wo es möglich ist, begonnen werden, die Erdwärme auszunutzen. Direkt an das Magma heranzukommen, das ja eine Temperatur von 5000 Grad haben soll, ist natürlich unmöglich. Aber in der Nähe der Vulkane können wir genügend Heizkraft für große Kraftwerke der Erde entnehmen.« »Gibt es nicht solche Werke bereits?« fragte Bracke. »In Italien am Vesuv?« »Nein, den Burschen hat man bisher noch nicht bändigen können. Doch in der nördlichen Toscana, bei dem Dorfe Larderello, arbeitet bereits seit Jahrzehnten ein Werk mit vulkanischer Wärme. Es liefert ständig 12 000 Kilowatt, und die Straßenbahnen in Florenz und Livorno werden von dort aus mit Strom versorgt. Neuerdings hat man die Leistung auf 30 000 Kilowatt erhöht. Auch die Fumarolen von Lago und die von Pozzuoli bei Neapel erzeugen seit vielen Jahren Elektrizität. In den Vereinigten Staaten bei San Franzisco, in den Mayacama Rangs und in dem Fumarolengebiet des Kwah Kamodjang auf Java sollen große Vulkankraftwerke entstehen. Wir brauchen also nur die Erfahrungen verwerten, die an den genannten Stellen gesammelt worden sind, und können riesige Energiezentralen in Island, auf Neuseeland, in Japan, -71-
Kamtschatka, vor allem aber in Alaska, im Tale der Zehntausend Dämpfe, dem größten Fumarolengebiet der Erde, errichten. Der Kraftbedarf der Menschheit verdoppelt sich etwa alle zwanzig Jahre. 1970 werden wir bereits eine Milliarde Pferdestärken, also rund 750 Millionen Kilowatt braudien. Zusätzlich müssen aber zur Gewinnung von Kohlensäure nochmals 150 Millionen Kilowatt erzeugt werden. 50 Millionen Kilowatt sollen die Erdwärmewerke liefern.« »Und wer spendet die ausstehenden 100 Millionen?« fragte Spirefith. »Die muß uns die Kälte selbst liefern. Kältekraftwerke im hohen Norden... Der Traum vieler Erfinder wird in unseren Jahren Wirklichkeit werden, muß es sogar, wenn die Erde weiter uns Menschen ernähren soll!« Lautes Hupengetön unterbrach seine Ausführungen. Er eilte zum Fenster. Ein schwerer Rennwagen schnob durch die Allee und hielt auf der Auffahrt. »Ah, Wiedensohl! Kommen Sie herein! Sie treffen gerade zum rechten Zeitpunkt ein!«
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-9 »Was bringen Sie Gutes?« fragte Hegar den Eintretenden, der draußen nicht einmal seinen Mantel abgelegt hatte. »Haben Sie Barjots Nachlaß finden können?« Wiedensohl warf zwei große Ledermappen auf den Tisch, öffnete sie und holte dicke Bündel von Fotokopien aus ihnen heraus. »Da ist er! Ich habe verdammt viel Staub schlucken müssen, ehe ich an die richtige Quelle kam. In Ottawa hatte man den genialen Fantasten schon längst vergessen. Patentämter konnten mir keine Auskunft geben. Also hinüber nach den USA. Dort erhielt ich einen Tip! Wenn es mit der Elektrizität zusammenhängt, dann hat davon die General Electric Co. eine Ahnung, sagte mir der Spezialist der Harvard-University. Barjot... Ach ja, das war ein sehr fantasievoller Physiker, aber leider nicht exakt! Nein, das war er nicht ! Wir schlugen den berühmten Zettelkatalog der Harvard durch, und da fanden wir einen Hinweis. In einem Kosmosbändchen längst vergangener Tage sind seine Pläne dargestellt worden... « »Richtig!« unterbrach ihn Hegar. »Ich entsinne mich jetzt. In meiner Jugendzeit muß es erschienen sein. Aber das habe ich doch überhaupt in meiner Bibliothek...« Sinnend blieb er stehen. Renate Veith fragte: »Soll ich es aus der Kartothek heraussuchen?« »Nicht unter Barjot... Wie heißt doch gleich der Verfasser? Halt, ich habe es. Sieh unter Günther nach! Hanns Günther... oder De Haas... eines von den beiden wird schon stimmen. Zwei Namen? Ja, da spukt wohl ein Pseudonym in meinem Gedächtnis!« Renate Veith eilte hinüber in die Arbeitsräume, während Wiedensohl seinen Bericht fortsetzte: »Ich also hin zur General Electric Co. Hätte ich nicht die Empfehlungen von Mister Spirefith vorweisen können, so säße ich heute noch beim Portier -73-
und könnte Daumen drehen. Doch so öffneten sich mir die Tore. Sofort waren drei verdammt versierte Clerks um mich und wollten mich während des Suchens ausholen. Endlich fanden wir, begraben unter handrückendickem Staub, die Akten Barjot. Erst mußten sie freilich einem Spezialisten vorgelegt werden, ehe ich Einblick nehmen konnte. Der große Mann klopfte mir väterlich auf die Schultern und meinte: Werden da kaum einen Dollar dran verdienen können, junger Mann! Fotokopien? Gerne! Aber nimmt Ihnen kein Magazin ab, die seltene Story von Doktor Barjots Eismeerplänen. Schade um Zeit und Geld! Einen Tag lang knipsten wir Seite für Seite die Zeichnungen und Erläuterungen, am zweiten erhielt ich die Kopien, und am dritten wollte ich nach dem schönen Heimatland starten, doch da kam etwas dazwischen...« Hegar fragte verwundert: »Aber weshalb denn? Privatsache?« »Nein, ganzes Gegenteil!« fuhr Wiedensohl fort. »Zwei Mann von der General Electric Co. wollten den ganzen Zauber plötzlich wiederhaben. Ich händigte ihnen die Filme aus. Ging nicht anders, Herr Hegar! Hätten gleich Gmen und Sheriff mitgebracht. Ich schwor einen heiligen Meineid, daß ich keinerlei Kopien besäße. Waren etwas zu vertrauensselig, ließen mich laufen. Und so bin ich eben wieder im schönen Vaterland.« Er reckte sich aufatmend und legte erst jetzt seinen Flauschmantel ab. Hegar vertiefte sich bereits in die einzelnen Blätter, schob einige dann Spirefith hin und bat um Aufklärung, wenn er das Englisch der technischen Begriffsfonnulierungen nicht verstand. Wiedensohl machte sich über die Obstschale her. Inzwischen kam auch Renate Veith zurück und brachte ein schmales Bändchen aus der Bibliothek. Bracke nahm es und blätterte suchend darin. Dann vertierte er sich in die Lektüre und sah nach einer Stunde erst auf, als Hegar -74-
den ganzen Stapel der Fotos von sich schob und fragte: »Was wissen Sie nun, Bracke?« »Allerhand!« Er sann einen Augenblick nach, ehe er fortfuhr. »Dr. Barjot will seine Kraftwerke mit Butan treiben, einem gesättigten Kohlenwasserstoff, C4 , H10 , der bereits bei minus 10 Grad siedet. Der Plan der Barjotschen Kältewerke ist eigentlich genial einfach. In den arktischen Meeren findet man immer unter den Packeismassen Meereswasser von einer Temperatur von plus 2 Grad. Das liefert die Wärme, um das Butan zu verdampfen. Kondensiert wird es wieder durch Laugeneis, das im Packeis gewonnen wird und etwa 20 Grad Kälte besitzt. Eine Butanturbine! Wird denn die Spannung des seltsamen Dampfes ausreichen?« Der Deutschamerikaner sah von seinen Notizen auf: »Barjot hat seinen Plänen, die er der General Electric Co. übergab, sehr genaue Wirkungsberechnungen zugefügt. Er behauptet, aus einem Kub ikmeter Wasser von plus 2 Grad bei einer Kühltemperatur von minus 22 Grad ebensoviel Energie mittels der Butanturbinen zu erzeugen, wie in einem Wasserkraftwerk ein Kubikmeter Wasser bei einem Sturz aus 1200 Meter Höhe auslösen kann. Und das ohne die großen Kosten eines Wasserkraftwerkes. Er hat ja auch das Gefälle, diesmal das Wärmegefälle, recht eng beisammen: Auf dem Packeis die arktische Kälte plus Lösungsabkühlung der Lauge, unter dem Packeis das Wärmereservoir des Polarmeeres mit mindestens 2 Grad plus. Warum mag die General Electric Co. nicht auf seine Pläne eingegangen sein?« Hegar fragte plötzlich Wiedensohl: »Haben die Herren, die Ihnen die Filme wieder abnahmen, keine Andeutung fallen lassen?« Der hatte seine Obstmahlzeit beendet und nickte kräftig mit dem Kopf: »Tja, sie machten einige Bemerkungen, die gerade nicht sehr schmeichelhart für den Zweck meiner Mission waren. Am Coppermine-River ist ein fröhlicher Interessenkrieg im -75-
Gange. Irgendein Spekulantenring hat sich der großen Kupferfelder angenommen und erwirbt auf Teufel komm raus die Bergbaurechte in der Eiswüste östlich vom Großen Bärensee. Die General Electric wittert ein großes Geschäft und möchte wohl die Kraftlieferung übernehmen. Wenn es geht, mit Kälte Kraft zu erzeugen, dann werden Sie wohl jetzt die Pläne des einst verlachten Professors Barjot realisieren.« »Um Dollars zu machen!« sagte Hegar resigniert. »Und wir brauchen, die Genialität des längst Verstorbenen, um die Erde vor dem Kältetod zu bewahren. Wir wollen sehen, welche Interessen siegen!...« Er holte eine Zeichnung mit vielen Bemerkungen aus dem Stapel der Fotokopien hervor und erläuterte jetzt den Plan eines Kältekraftwerkes: »Verblüffend einfach! Hier die Verdampferkessel des Butans, beheizt von Meerwasser, dessen Temperatur über dem Gefrierpunkt liegt. Dahinter die Hochleistungsturbinen, getrieben vom Butandampf. Gekühlt wird er im Kondensator, der mit Laugeneis von etwa 20 Grad minus gefüllt ist. Die geschmolzene Lauge fließt hier ab in die Gefrierkanäle, die im Packeis ausgehauen sind. Schlepperchen sammeln die Laugeneisschuppen wieder. Becherwerke heben sie in den Kondensator, und der Kreislauf beginnt aufs neue. Pumpen holen wieder warmes Meerwasser unter dem Packeis hervor... Das Abfalleis, gleichsam die Asche und Schlacke, wird hier ausgeworfen... Wahrlich, diese Pläne müssen realisiert werden. Am Kap Gefahr, auf Nowaja Semlja, wird in zwei Jahren das erste Versuchswerk anlaufen.« »Wohl ziemlich einsame Gegend da?« fragte Wiedensohl. »Ganz und gar unbewohnt. Am Kap Schela nja eine Polforschungsstation, sonst ist die ganze Nordinsel ohne Menschen.« »Und dann zwischen Eisbären und Seehunden ein Riesenkraftwerk aufbauen? Wird allerhand Schwierigkeiten machen!« zweifelte der Flieger. »Die werden überwunden!« erklärte Hegar siegessicher. -76-
»Bedenken Sie, es geht darum, ob das blühende Europa bis zu den Alpen eine traurige Tundra mit nomadisierenden Lappen und schweifenden Samojeden werden soll, oder ob wir unseren Erdteil auf der alten Kulturhöhe halten können. Freunde, vielleicht, wenn sich alle meine Pläne verwirklichen lassen, kann gar eine Temperaturverbesserung für die ganze Erde erzielt werden. Im Beginn der Braunkohlenzeit wuchsen Palmen und reiften Apfelsinen hier in Deutschland!« Renate Veith erhob sich: »Träumen wir davon, Herrschaften! Spät genug ist es geworden. Morgen früh acht Uhr müßt ihr schon bei Professor Hagen im Labor sein!« Erst gegen Mittag des folgenden Tages waren die Mengenmessungen der aus dem Quarz freiwerdenden Gase beendet. Professor Hagen hatte eben den letzten Kontrollversuch abgeschlossen und stellte zusammenfassend fest: »84 000 Kubikmeter CO2 werden aus einem Kubikzentimeter rotem Quarz von Kap Gefahr frei, wenn er auf 1100 Grad Celsius, also 1373 Grad absolut erhitzt wird. Der Gasgehalt ist am Ursprungsort wahrscheinlich noch wesentlich höher. Bedenken Sie, welche Manipulationen bereits mit diesem Stück Stein vorgenommen worden sind, ehe wir es hier dieser kritischen Untersuchung unterwerfen konnten.« »Und Sie glauben, daß wir genügend Material von dieser Beschaffenheit auf der Nordinsel von Nowaja Semlja finden werden?« fragte Hegar. Der Geologe entwarf auf einem Blatt Papier eine Skizze. »Hier liegt Kap Gefahr. Es ragt etwa dreihundert Meter über das Polarmeer, besser gesagt: über die Packeismassen empor. Von diesem Punkte aus zieht sich zwischen zwei stark vergletscherten Talschluchten eine sich bis fast auf 1000 Meter Höhe erhebende Bergkette zehn Kilometer weit genau westlich in das Land, bis zu dem Gebirgsknoten, den die Russen den Alten Mann nennen. Dieser Kamm besteht vorwiegend aus dem roten Quarz, der übrigens in dem kalten Gebiet seine -77-
Explosionseigenschaft nicht zeigt, weil scheinbar durch die mehr als sibirische Kälte die Gase stärker gebunden sind. Bedenken Sie, Kap Gefahr hat ein Januarmittel von 35 Grad Celsius unter Null und ein Julimittel von 1 Grad unter Null.« Hegar hatte rasch einige Zahlen notiert und sagte: »Sie glauben also, daß wir mehr als eine Million Kubikmeter dieses Wundersteins dort abbauen können?« »Sagen Sie ruhig zehn Millionen oder hundert Millionen!« »Ich brauche nur eine Million! Im Kubikmeter rund 80 000 Liter Kohlensäure oder 80 Kubikmeter, in einer Million also 80 Millionen Kubikmeter. Das allein würde die Anlage des großen Kältekraftwerks rentieren. Dazu noch die Kupferschiefer aus dem Alten Mann... Jetzt handelt es sich nur noch um die Kapitalsbeschaffung, dann kann die Arbeit beginnen.« »Immer langsam, lieber Hegar!« warnte der Geologe. »Die Nordinsel von Nowaja Semlja ist kein liebliches Handschuhsheim. Eisbären, Walrosse und Seehunde können Sie kaum als Betonarbeiter, Kranführer und Maschinenmonteure anlernen.« »Ich werde die Bauleute finden!« sagte Hegar siegessicher. »Wenn erst die Welt erfährt, welche ungeheure Gefahr aus der Ultrastrahlung für alle Menschen droht, dann werden sich Tausende von Freiwilligen melden, um sich für unsere Kultur in die Bresche zu werfen. Einen Krieg gegen die Sonne entfesseln! Wahrlich, das heißt doch einmal etwas Großes leisten!« »Dann muß aber auch die Propaganda bald einsetzen!« riet Spirefith, der bisher geschwiegen hatte. »Gut!« Bald werden wir beginnen. »Bracke, entwerfen Sie ein möglichst populär gehaltenes Expose, das unsere Pläne umreißt. Die Schlußredaktion behalte ich mir vor. Morgen schon wollen wir die Welt alarmieren!«
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- 10 »Mister Coinen ist nicht zu sprechen!« sagte das Mädchen im Vorzimmer und polierte weiter ihre glänzenden Fingernägel. Sie musterte dabei kritisch den breiten wuchtigen Mann mit dem ungepflegten Backenbart und den groben Händen, der sich behaglich in einem Sessel niedergelassen hatte. »Mach keinen Quatsch, Daisy oder Mimi oder Edith!« sagte er phlegmatisch. »Sag dem Coinen, Copper-Bill ist da und bringt die Zertifikate vom Coppermine-River. 88 000 Acres verpflockt und belegt, Bergbauregal gesichert und anerkannt. Alles gutes Kupfererz... Für den Acre bekommt Copper-Bill 5 Dollar, macht 440 000 Platten bar. Coinen wird tausend aus jedem Geviert machen. Soll er! Ist eine böse Gegend da oben im Nordwestterritorium. Will mich jetzt mal erholen. Drei Jahre Arbeit, Mädchen! Und Coinen ist nicht zu sprechen?« Drohend erhob er sich und schritt auf die Polstertür zu. Die Sekretärin sprang schnell auf und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor den Eingang zum Chiefbüro. »Mann, machen Sie sich und mich nicht unglücklich. Bis zehn Uhr darf keine Seele Mister David Coinen stören. Überlegungsstunde! Er prüft jetzt den Stand der großen Partie. Ich fliege raus, wenn ich anklopfe oder anrufe. Und Bronx und Eastside ist ein hartes Pflaster für ein Mädchen, das keine Greenbacks mehr in der Tasche hat!« Der Mann blieb stehen, und ein fast väterliches Lächeln verzog sein zernarbtes Gesicht: »So schlimm immer noch in BroadwayCity? Hast recht, Daisy oder Sissy... « »Ethelrid heiße ich... Ethelrid Quansson!« »Was mich das schon interessiert. Kleines!« brummte er. »Wenn ich das Geld da von dem verdammten Coinen habe, kannst du gleich mitkommen. Bei Monico essen wir heute abend, und im Sekt bade ich dich, wenn du willst.« -79-
Er nahm ihre schmächtigen Hände in seine verschwielten Pratzen und fuhr dann rauh mit den breiten Daumen über die schmalen Unterarme. »Gelt, wenig Dollar und großen Hunger, nicht nur auf Steak und Harn und Eggs, auch auf die anderen Dinge, die New York so bietet: Kleidchen, Raschelwäsche, kleinen Wagen und stille Hausbar? Kenn' ich, Kind! Deshalb war ich ja da oben am Nordmeer. Aber haben es geschafft, Mäuschen. Copper-Bill ist heute ein gemachter Mann. Muß jetzt allerhand vergessen:... Browningknallen und Männer im Blut, hartgefrorene Leichen und verhungerte Kameraden. Fünfzehn Digger waren wir, einer kommt nach Hause, vierzehn fraß die Eiswüste, damit David Coinen seine große Partie gewinnen kann. Ich muß die Toten vergessen, Ethelrid«, bat der Mann. »Heute um 7 Uhr wasserte der Wal aus Sangmijok vor Staten Island. Ein Nachtflug, und um zehn Uhr wird mir der Coinen die Dollars auf den Tisch legen. Kommst du um 11 Uhr mit?« »Wenn Mister Coinen bezahlt... warum nicht?« sagte kühl und zielbewußt das Mädchen. »Ach, dem Chief mal die Kündigung hinfeuern können und sagen: Aus, sucht euch was anderes! Soll ich, Bill?« »Klar Mädchen! Wollen mal sehen!« Und er drängte sie zur Seite und riß die Polstertür auf. An die zweite klopfte er mit seinen zerfressenen Knöcheln, wartete gar nicht auf das Komm herein, sondern stolperte über die Schwelle, hieb die Absätze mit einem Knall zusammen und sagte: »CopperBill zurück! Geschafft, Coinen! 88 000 Acres vermessen, verpflockt und belegt. Hier die Zertifikate! Macht 440000 Dollar absolut... Gebt 'ne halbe Million, Coinen, und ihr seid der Kupferkönig für die nächsten zehn Jahre.« »Ha... ha!« Wie ein trockener Husten klang es von dem großen Schreibtisch her, der in der Mitte des halb verdunkelten Zimmers stand. »Copper-Bill ist wieder da? Und wo sind die anderen Prospektoren?« -80-
»In der Hölle oder im Himmel. Jedenfalls nicht mehr in dem gottverdammten Nordwestterritorium und noch viel weniger hier in New York. Habt doch meine Depeschen bekommen, Coinen?« Ein leises Knacken war zu hören, und sofort flammte ein elektrischer Strahler auf. Augenzwinkernd saß in einem hochlehnigen Stuhl ein schiefschultriges Männchen, fuhr sich mit merkwürdig kleinen Händen durch das schlohweiße Haar, das ihm fast bis auf die Schultern herabhing, und die blaßroten Lippen in dem schwammigen Gesicht formten langsam die Worte: »Hölle und Verdammung, Bill! Ganze Arbeit habt ihr getan, muß man euch lassen. Und meint ihr, daß die nordwestliche berittene Polizei an euren Erfolgen nicht etwas auszusetzen haben wird? He, Bill?« Der alte Prospektor trat drohend einen Schritt näher: »Coinen, Ihr seid gerade der Mann, um mich nach meinen Kameraden zu fragen! Ihr würdet Eure eigenen Kinder verkaufen, wenn Ihr welche hättet und man sie bezahlen wollte. Das Nordwestterritorium hat sie gefressen. Zwischen dem Großen Bärensee und dem Coronations-Golf liegen ihre Knochen. Ich bin heil aus der Eishölle herausgekommen, und ich erhalte daher den Preis, der ausgemacht war... 88 000 Acres... « »Schon gut, Bill! Habe mich ja auf dem laufenden gehalten. Doch gegen 7000 Acres werden alte Rechte geltend gemacht. Die muß ich Euch abziehen!« Copper-Bill hieb die Tasche mit den Verleihungsscheinen auf die spiegelnde Platte; »Ihr werdet mir nicht einen halben Cent abhandeln, Coinen! Oder ich gehe von hier aus sofort zur General Electric und biete denen den ganzen Plunder an!« David Coinen machte eine erschrockene Bewegung: »Ist das Treue, Bill?... Zeigt her, wir werden uns schon einigen!« Mit zitternden Händen prüfte er Urkunde um Urkunde, betrachtete mit gierig funkelnden Augen die Kartenpausen, die -81-
die ungefähre Lage der Kupferfelder angaben, maß mit einem Stechzirkel die Positionen nach und notierte sich einige Daten. Länger als eine Stunde sagte er kein Wort, sondern ließ nur den alten Prospektor sprechen, der ihm einige Erläuterungen zu jedem Verleihungsschein gab. Dann schob er den ganzen Stoß von sich, faltete behaglich seine langgliedrigen Finger über dem dunklen Rock und sagte: »Das Coppermine-River-Areal wäre mein, wenn ich Euch die Zertifikate abkaufe. Was meinst du, was das ganze Minengebiet wert ist?« »Millionen und aber Millionen!« beteuerte der Kundschafter, »Laßt erst mein großes Gepäck aus Sangmijok eintreffen. Ich habe Proben gediggt, die 70 Prozent Feinerz haben.« Trocken schnalzten die Finger des alten Mannes. »Laßt mich mit den Gesteinsproben in Frieden. In deinen Händen, Bill, ist das ganze Land kein Dittchen wert. Werke sollen dort erst entstehen. Mitten in dem Polareis Essen und Hütten und Raffinerieanstalten... neue Städte, Bahnen sollen gebaut werden... He, wer kann das? Du, Bill?... Nein! Aber ich, der krumme David Coinen, und der große Copper-Pool, der hinter ihm steht. Und von fünfzehn Prospektoren kommt einer zurück? Fünfzigtausend sollen hinauf, um Kupfererz zu graben. Möchtest du dabei sein, Bill?« »Nee!« Der Hüne schüttelte sich. »Und wenn ihr mir den Tag hundert Dollar zahlen wolltet, das Nordwestterritorium, der Great Bear Lake und der Lake Paul haben mich zum letzten Male gesehen.« »Nun also!« Coinen spielte wieder mit seinen Haaren. »Finden wir keine Menschen, die dort oben arbeiten wollen, dann ist das ganze Erz am Coppermine-River keinen Cent wert. Und Ihr wollt für die Zertifikate 440 000 Dollar haben?« »Keinen Zehner weniger!« rief Bill. »So war es auch ausgemacht, Coinen! Aber ich sehe schon. Ihr wollt Euch drücken!« -82-
Der Weißhaarige hatte auf einen Knopf gedrückt. Das Mädchen aus dem Vorzimmer stand plötzlich neben dem Schreibtisch. Coinen sagte kühl: »Fertigen Sie einen Barscheck über 440 000 Dollar aus, zahlbar durch Marlands Brothers, und bringen Sie ihn mir gleich zur Unterschrift. Was werden Sie mit dem vielen Geld tun, Bill?« fragte er dann, als das Mädchen wieder gegangen war. Der rauhe Nordmann strahlte jetzt über das ganze Gesicht: »Sie sind doch ein feiner Hund, Mister Coinen! Mit dem Geld? Erst mal als Mensch leben... ganz groß, bei Monico und im Waldorf Astoria und im Ritz Sekt und Weiber und... überhaupt alles, was man in der Eissteppe entbehrt hat!« »Und wenn die Dollar fortgetanzt sind? Nun, melden Sie sich mal wieder, wenn Sie Lust zu einem neuen Auftrag haben. Es gibt noch andere Gegenden, wo ich einen Copper-Bill gebrauchen kann. Aha, der Scheck! Sie unterschreiben mir hier die Quittung und diese Verkaufsakte... So! Da ist das Geld!« Hastig riß der Waldläufer den schmalen Papierzettel an sich. Vergnügt faltete er ihn zusammen: »So viel Geld wird nie alle, Mister Coinen. Ganz ausgeschlossen, daß ich noch einmal ein armer Kerl werde. Habe auch schon jemanden gefunden, der mir helfen will, wie ein Mensch zu leben! Da, das nette Kindchen!« Wieder klang das hüstelnde Lachen auf: »Ethelrid Quansson? Meinetwegen! Könnt gehen! Und wenn du wieder Verdienst suchst, weißt du ja, wo du mich finden kannst, Bill... Bye!« Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, hob Coinen den Telefonhörer von der Gabel, wählte eine Nummer und sprach dann hastig: »Mister Belcombe, ich halte Ihnen bis morgen mittag die Bergbaurechte, von denen wir sprachen, an der Hand. 5 Millionen Dollar?... No, unter zehn gehen sie nicht weg! Oder soll ich direkt mit der Electric verhandeln?« Er lauschte eine ganze Weile auf den anderen Gesprächspartner und schloß dann: »Streiten wir uns heute -83-
abend bei Monico. Rosensaal?... Gut! Einsichtnahme?... Nur bei Heggs, dem Notar. Schaffe die Zertifikate selbst hin. In einer Stunde kann die Prüfung beginnen!« Er nahm die schwere Schweinsledertasche sorgsam auf und schritt durch das verlassene Vorzimmer in einen anderen Büroraum, in dem nur drei junge Männer in Hemdärmeln arbeiteten. »Komme heute nicht mehr zurück, Beacher!« sagte er ruhig. »Wer etwas von mir haben will, mag morgen vorsprechen!« Dann ging er hinaus.
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- 11 »A. B. Belcombe von der Pittsburgh and Western National Bank!« So stellten gute Freunde gern den Gewaltigen auf dem Markt für Bergbauwerke anderen Menschen vor, die den großen Spieler noch nicht kennengelernt haben. »AI Bourbon Belcombe, gut für hundert Millionen Dollar!« flüsterten sie dann geheimnisvoll, wenn der große Oktopus gegangen war, nachdem er einen kräftigen Händedruck ausgeteilt und den Vorgestellten mit den ausdruckslosen Augen knapp gemustert hatte. »100 Millionen?« seufzte man schwermütig hinter ihm her. »Wer das hätte!« Doch die Eingeweihten schüttelten sich und erklärten: »Möchte sie auch ganz gern haben, aber ohne die Toten, die von den Geldsäcken zerquetscht worden sind!« Und sie wußten finstere Balladen zu erzählen. Als A. B. Belcombe an diesem Abend den Rosensaal bei Monico betrat, neigten sich an einigen Tischen die Köpfe zueinander, und ein Flüstern ging von Mund zu Mund. Forschend folgten ihm die Augen, und sie beobachteten all seine Schritte, bis er sich an einem Tisch niederließ. »Aha, Coinen ist da, einer seiner Hetzhunde. Welches Land werden Sie jetzt wieder ausplündern?« David Coinen sprang diensteifrig auf, als Belcombe an seinen Tisch trat. Herablassend winkte dieser mit den weißen Handschuhen einen Gruß und warf sich in einen Sessel. »Wenig Zeit, Coinen!« brummte er. »Also für 5 Millionen das ganze Coppermine-River-Projekt... Anders nichts zu machen!«... »Erlauben Sie, Belcombe!« wandte der andere eifrig ein. »Was glauben Sie, wieviel Kapitalien ich investieren mußte, um die 88 000 Acres in meine Hände zu bekommen!« »Weiß ich! Weiß ich! Zwanzig stumme Männer und noch -85-
keine halbe Million! Schlagen Sie ein, oder ich steige aus! Im Norden lohnen sich in nächster Zeit keine Geschäfte mehr!« »Warum? Weshalb nicht?« Der Makler redete mit den Händen und rutschte dabei unruhig auf seinem Sitz hin und her. »Alle großen Zukunftshoffnungen liegen im Nordwestterritorium... Kraftwerke werden entstehen... Die Schätze werden gehoben!« »Sprechen Sie nur was Sie wollen, Coinen! Ich weiß es besser! Norden ist Essig, sage ich Ihnen. Haben Sie schon die New York Tribune gelesen?« Und Belcombe warf ein zerknittertes Zeitungsblatt auf den Tisch und wies auf einen rot angestrichene n Bericht hin. In dicken Balkenlettern stand über die ganze Seite: »Ernstzunehmender deutscher Gelehrter von Weltrang prophezeit neue Eiszeit. Sonne vernichtet durch Kälte Europa, Kanada und USA. Fantastische Hilfspläne!« Coinen schob ärgerlich das Blatt zur Seite: »Reden wir von Utopien oder von Realitäten? Gelehrter? Schöner Gelehrter! Will durch die Gruselstory nur von sich reden machen! Und Ihnen paßt das gerade so, um mir das Geschäft zu verderben!« Belcombes kalte Augen leuchteten höhnisch auf: »Und wenn das eine Realität ist, die neue Eiszeit, dann sind meine Pläne am Coppermine-River blanke Utopie. Habe verdammt Sorge, diese Mssrs. Hegar und Spirefith sagen die Wahrheit. Hören Sie nur: Ultraviolettstrahlung der Sonne zerlegt Kohlensäure der Luft. Wenig Kohlensäure, wenig Wärmespeicherung der Atmosphäre. Nach Berechnung wird innerhalb dreier Jahre der Kohlensäuregehalt der Lufthülle nur noch 0,018 Prozent betragen statt notwendiger 0,03 Prozent. Das bedeutet Temperaturrückgang um 7 Grad im Jahresmittel... also neue Eiszeit! Ist doch stark real, alles!« »Für Sie! Für Sie, um mir mein Geschäft zu verderben!« jammerte der Makler. »Oder um zusammen die größten Geschäfte aller Zeiten zu -86-
starten!« sagte plötzlich Belcombe lauernd. »Wenn die Eiszeit kommt, was wären dann wohl die Radiumgruben am Großen Sklavensee noch wert? Oder die Erzbergwerke in Skandinavien? Die kaledonischen Steinkohlengruben? Die Goldfelder am Yukon River oder am Kolyma... Graphit auf Taymir, Mangan im Ural, Chrom und Wolfram in Norwegen... Alles wäre für ein Spottgeld zu kaufen, Coinen!« »Wer wird seine goldwertigen Zertifikate in das Geschäft hineinstecken, wenn alles die Gletscher fressen?« flüsterte der Makler. »Sie wissen doch, die reiche Kupfermine am Mount Hunt... Für zehntausend Do llar erwarben wir den reichen Gang; aber gebracht hat er keinen Nickel, weil die Gletscher das ganze Hochtal verschlungen haben.« »Eben, an den Mount Hunt denke ich! Das Geld ist gut angelegt. Einmal wird der Gletscher wieder abtauen... Doch ich will nicht stören. Sie lesen ja schon!« Coinen hatte tatsächlich nach dem Zeitungsblatt gegriffen und vertiefte sich in den Artikel. Schließlich schob er die Zeitung ärgerlich von sich. »Nun?« wollte der Mann der Pittsburgh and Western National wissen. »Sehe keine Chancen! Burschen wollen ja die Welt retten!« »Wenn sie könnten!« zischelte Belcombe. »Oder vielmehr, wenn sie es gleich können. Gerettet werden muß ja die Welt, sonst können wir unsere Geschäfte nicht landen. Aber lassen Sie midi einmal denken: Eiszeit bricht aus; Spirefith und Hegar sind verhindert, der frierenden Welt Hilfe zu leisten. Kleine, nette Vereisung beginnt! Mit faulen Äpfeln können wir dann die Objekte, die in den gefährdeten Gegenden liegen, kaufen!« Coinen sprang auf. Seine Augen leuchteten. »Belcombe, Sie haben Pläne! Können Sie mich dabei gebrauchen?« »Vielleicht! Also wir machen heute die Coppermine-RiverSache glatt, fünf Millionen, keinen Deut mehr, und Sie erhalten -87-
gleich fünf Millionen Einstand dazu für das neue Geschäft, zu treuen Händen und ohne künftige Verrechnung, wenn Sie mir die Leute besorgen, die ihren Kopf hinhalten wollen. Topp?« Er streckte die kleine nervige Hand Coinen entgegen, und dieser packte rasch zu: »Gemacht, Chief! Soll ich die Killer direkt ansetzen?« Belcombe zog mit einem Ruck seine Rechte zurück. Eisig war seine Stimme: »Die Dispositionen treffen Sie, David Coinen! Ich habe die Grundgedanken entwickelt, werde einzustehen haben für gewisse Transaktionen und Fusionen... Im übrigen ist es Ihre Sache, wie Sie die Angelegenheit regeln! Bye, Coinen! Vielleicht fahren Sie nach Rönneberg und lassen sich selbst einmal von den Experten berichten!« Er stand auf und verließ den Raum. Am Eingang wäre er beinahe mit einem leicht angetrunkenen Manne zusammengeprallt, der eben den Rosensaal betrat. Coinen, der Belcombe bis zum Ausgang geleitet hatte, wollte schnell zur Seite treten, doch der Ankömmling hatte ihn schon erkannt: »David, du widerliche Kröte!« sagte er nicht gerade leise. »Komm mit, du alter Knabe, und sag uns mal, was es hier Gutes zu futtern gibt! Ethelrid, gib Patschhand und ärgere den braven Chief nicht so schlimm wie den guten CopperBill!« Der Prospektor war kaum noch wiederzuerkennen. Das Mädchen aus dem Vorzimmer schien ihn gründlich in die Kur genommen zu haben. Ein Smoking aus seinem ersten Fertigwarenhaus hing um die breiten Schultern, die mattschwarze Tuchhose mit den breiten Seidenbiesen fiel haargenau bis auf die spiegelnden Lackschuhe. Rasiert, frisiert, manikürt, präsentierte sich der Nordmann wie der elegante alte Kapitän eines Überseedampfers, der sich gründlich landfein gemacht hatte. Freilich, die Sitten des Nordwestterritoriums hatten sich so schnell nicht ändern lassen. Kaum hatte er einen Platz, der ihm -88-
zusagte, gefunden, schrie er über den ganzen Riesensaal weg nach Whisky und »echtem französischen Knallwasser!« Ethelrid Quanssons Verwandlung war noch gründlicher erfolgt. Aus der grauen Puppe des Vormittags hatte sich in den wenigen Stunden ein schimmernder Nachtfalter entwickelt. Über die nackten Schultern, die aus dem dünnen, kostbaren Abendkleid hervorblühten, hing nachlässig der breite Seeotterschal. Herablassend reichte sie ihrem früheren Chef die schlanke Rechte, um deren schmales Gelenk sich ein prachtvolles Rubinenarmband schlang, und Coinen bewunderte, während er sich über ihren Handrücken neigte, einige schimmernde Solitäre in Platinfassung, die ihre Finger zierten. Mühsam nur konnte er ein leichtes Lächeln unterdrücken, und rasch arbeitete sein kombinationsreiches Gehirn. Ethelrid ging anscheinend aufs Ganze. Lange würde Bill seinen Reichtum nicht mehr besitzen, und ein Kerl wie der alte Prospektor war gut zu gebrauchen. Er duldete also die lärmende Geselligkeit und half sogar, ein echtes Monico-Souper aus der bandstarken Speisekarte zusammenzustellen. Doch sie hatten kaum die halbe Speisenfolge abgegessen, da behagte es dem Manne aus dem Nordwestterritorium nicht mehr in der leisen Atmosphäre des vornehmen Gasthofes. »Fritschie, zahlen!« schrie er dem eleganten Kellner zu. »Genug von eurem Saftladen! Will mal anständigen Betrieb sehen!« Sie landeten danach in einer lärmenden Bar, später in der Nachtvorstellung der Zigfield-Folies, und sie beschlossen ihren Bummel in einem Night-Club, wo Copper-Bill sich nicht mehr aus dem Spielsaal herausbringen ließ, nachdem er behauptet hatte, er würde so'n dummes Spielchen da schon meistern. Es war Roulette und rouge und noir, passe und mancque, pair oder impair, die Dutzende, Ecken, Quadrate, die einzelnen Nummern und das Zero kosteten den rauhen Steppenlä ufer eine ganze Menge der goldwertigen Papierchen, die seine Brieftasche barg. Dann saß er mit schmerzendem Schädel in einer Ecke, in die -89-
ihn endlich Coinen dirigiert hatte, und hörte sich seine Vorschläge an. »Zähle einmal deine Barschaft durch!« begann der weißhaarige Geschäftsmann seine Belehrung. »Ein schönes Stück Geld habe ich dir heute vormittag ausgezahlt... Und wie lange wirst du damit reichen? Lieber Bill, in New York braucht man mehr Dittchen, um den großen Mann zu spielen. Und das willst du doch? Kannst du bei mir verdienen. Ich will da an eine ganz große Sache herangehen. Wenn du sie richtig startest, so sollst du eine runde Million verdienen. Ethelrid Quansson ist Zeuge. Eine Million, Bill! Aber ich brauche deine Zusage!« »Zum Nordwestterritorium aber gehe ich nicht mehr!« Bill saß mit hervorquellenden Augen da und schien in eine weite Feme zu schauen. »Sollst du auch nicht, mein Sohn!« versicherte Coinen. »Wahrscheinlich müssen wir hinüber ins alte Land, nach Europa. Aber wenn du nicht willst? Für eine Million finde ich hundert Burschen, denen es auf einmal mehr Browningziehen nicht ankommt.« Coinen erhob sich. Ethelrid drückte ihn wieder auf die Polster zurück. »Hiergeblieben, Chief!« bat sie. »Mein Bill wird schon vernünftig werden. Denke mal, Boy, eine schlanke Eins und dahinter sechs hübsche, fette Nullen? He, da überlegst du noch? Ach, du Schlappschwanz!« Sie schob mit einer brüsken Bewegung die zernarbte Hand des Diggers von ihrem runden Knie, raffte Puderdose und Zigarettenetui in ihre Handtasche und rückte sich energisch den Seeotterschal zurecht. Da wurde Copper-Bill ganz sentimental: »Verlaß mich heute nur nicht, kleines Mädchen!« flehte er. »Kenne das von früher. Die erste Nacht ist immer die schlimmste. Nicht allein liegen und in die Nacht starren! Bleib da... und Ihr, der Teufel soll Euch lotweise holen. Ihr, Mister Coinen, da ist meine Hand. Auf -90-
den neuen Gang! Eine Million... und die Spesen extra?« »Gemacht! Ethelrid, schlagen Sie durch! Will Euch jetzt nicht mehr länger stören! Übermorgen 11 Uhr in meinem Büro. Da wollen wir über die Story einmal palavern!« Coinen verließ schnell die Klubräume und warf sich unten in ein Taxi. »Central Park 52, Street 177!« befahl er und dachte dabei schon, wie gut es doch die Götter mit ihm meinen müßten, weil er in diesem reichen Viertel eine Etagenwohnung für sich bezahlen konnte.
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- 12 Das stille Heim des Professors Hegar im friedlichen Handschuhsheim hatte sich in den wenigen Septemberwochen in ein turbulentes Hauptquartier verwandelt. In der Mitte des Monats war die einführende Darstellung der großen irdischen Gefahr in einigen Weltblättern erschienen. Die gesamte Presse hatte sich sofort in der stillen Zeit auf diese nervenkitzelnde Sensation gestürzt, und Ströme von Druckerschwärze waren vergossen worden, um die Neuigkeit den Lesern schmackhaft zu machen. Drei Tage lang arbeiteten Übersetzer und Erläuterer an dem trockenen Stoff. Dann brachten die Zeitungen bereits breit ausgemalte Darstellungen der neuen Eiszeit, schwelgten in Weltuntergangsfantasien oder ließen sich durch schreibwütige Pseudowissenschaftler schwülstige Kommentare liefern. Depeschen und Eilbriefe häuften sich auf den großen Arbeitstischen zu Bergen. Die milden Herbsttage hatten in Europa und auch im nördlichen Teil des Westkontine nts sehr rauhen, fast novemberlichen Wochen weichen müssen. Überängstliche Gemüter sahen darin bereits die Vorboten der arktischen Kälte, die prophezeit war. Auf allen meteorologischen Stationen wurden kunstvolle Luftanalysen durchgeführt, häufig auch von Leuten, die sich recht großzügig über die notwendige Genauigkeit und Peinlichkeit hinwegsetzten. Die so erhaltenen Zahlen schienen Hegars Theorie stark zu unterstützen. Aber er hatte keine reine Freude mehr an seiner strengen wissenschaftlichen Arbeit. Zu widersprechend klangen die Meldungen aus aller Welt. Und vor allem, er wartete bis zum heutigen Tage vergeblich auf ein Echo aus den Kreisen der Fachgelehrten. Er war zwar von einigen großen wissenschaftlichen Gesellschaften aufgefordert worden, im Laufe des Winters Vorträge über die Ergebnisse der Solarforschungen zu halten; doch den -92-
Einladungen war immer hinzugefügt worden, er müsse sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß sich auch ein Korreferent zu Wort melden würde. Vor einer Woche hatte er eine eingehende Darstellung seiner Theorie vom Zerfall der Kohlensäure durch Ultrastrahlung an eine große internationale Fachzeitung gesandt. Heute hatte er das Ergebnis seiner konzentrierten Arbeit mit folgenden dürren Worten zurückerhalten: »Die Redaktion bedaue rt es außerordentlich, keinen Platz für die Thesen Euer Hochwohlgeboren zu haben. Unser Ruf und unser Rang als wissenschaftliche Zeitung verbieten es uns, Veröffentlichungen Raum zu geben, die bereits durch die Popularisierungskünste der Tagespresse sich weit vom Standpunkt der voraussetzungslosen exakten Forschung entfernt haben.« Und »wissenschaftliche Zeitung« war gesperrt getippt und unterstrichen. »Sie wollen mich nicht hören, meine Kollegen!« wetterte er los. »Bracke, Spirefith! Was sagen Sie zu dieser Ignoranz?« »Wir haben einen Fehler gemacht!« gab sein Assistent zu. »Erst hätten wir die Magnifice, die hochgelehrten Herren der Welt, überzeugen sollen, dann zu der Öffentlichkeit sprechen dürfen. Eine Sünde wider den heiligen Geist!« »Und die wird in Europa nie verziehen werden!« sagte der Deutschamerikaner bekümmert. »Ist es etwa drüben in Amerika anders?« wollte Hegar wissen. »Doch auch derselbe Klüngel von voreingenommenen Besserwissern. Alle Schutzgötter der Gelehrsamkeit! Mir geht es um die Rettung der Menschheit - und man wirft mir Popularitätshascherei vor, mir, der sich ganz und gar der Aufgabe widmen will, den Angriff des strahlenden Kosmos zurückzuschlagen.« »Nicht verzagen!« bat Bracke. »Die Tagung der Naturforschenden Gesellschaft gibt Ihnen ja bereits in drei -93-
Tagen die Möglichkeit, Ihre Ideen vor einem großen Gremium darzulegen und sie gegen alle Anwürfe zu verteidigen.« Hegar beruhigte sich allmählich: »Sie haben recht, und Sie werden sehen, wie ich auch die Ungläubigsten in den Bannkreis meiner Forschungen zwingen werde. Es ist doch bisher wohl in der Welt nicht geschehen, daß eine letzte Wahrheit abgestritten oder widerlegt werden konnte.« Wiedensohl, der an einem Nebentisch Daten in eine Liste eintrug, warf ein: »Na, na! Wie war das doch mit Galilei oder mit Semmelweis, dem Bekämpfer des Kindbettfiebers... oder mit dem Professor Barjot, der uns ja jetzt besonders interessiert?« »Kein Vergleichsmaterial!« erklärte Hegar nach kurzer Überlegung. »Galilei stand vor einem sturen Inquisitionstribunal, nicht vor einem Gremium denkender Forscher. Semmelweis fehlte für seine Forderung einer sterilen Prophylaxe der wissensAaftliche Unterbau; denn damals wußte noch kein Mensch etwas von den Bakterien. Und Barjot endlich hatte seiner Zeit vorausgelebt. Damals brauchte man eben noch keine Kältekraftwerke. Bei mir aber liegt die Sache ganz anders: Exakte Forschung, quantitative Messung und logische Konsequenz fordern die Organisation der menschlichen Kräfte, um einen entschlossenen Widerstand durchzuführen. Einleuchtend, Wiedensohl?« »Werden wir ja sehen!« brummte der Flieger und übertrug weiter Buchstaben und Ziffern in das Journal. »Man kommt vom Rathaus klüger zurück, als man hingegangen ist!« »Pessimist!« schalt ihn Renate Veith, die die Posteingänge ordnete. »Mindestens vierzig Zeitungen aus aller Welt fordern allein heute neue Artikel an. Dazu noch die unzähligen Rückfragen privater Personen und Vereinigungen. Onkel Albin ist jetzt schon einer der berühmtesten Menschen der Welt!« »Auf dem Papier!« wollte Wiedensohl antworten. Doch er -94-
verschluckte schnell seine Erwiderung und vertiefte sich weiter in seine Arbeit. Nachdem er die letzten Ziffern eingetragen hatte, schob er das Berichtsblatt Hegar hin und sagte: »So, der Wochenbericht über die Luftanalysen ist fertig. Rot die absoluten Zahlen, grün die Werte, die aus den Proben gewonnen worden sind, die ich aus den verschiedenen Höhenstufen her abgeholt habe. Sind sehr instruktiv!« Der Professor beugte sich eifrig über die Tabelle, überflog sie hastig und stieß dann einen schrillen Pfiff aus. »Spirefith, Bracke! Seht euch dieses Blatt einmal genau an! Der letzte und schlagendste Beweis! In 5000 Meter Höhe bereits eine 25prozentige Abweichung nach unten von den Normwerten! Das muß graphisch dargestellt werden. Und davon ein Diapositiv! Dann wird auch der ärgste Zweifler zugeben müssen, daß die Welt vor einer katastrophalen Umwälzung steht.« ««««« »»»»» Die große Tagung der Naturforschenden Gesellschaften, die in einer der rheinischen Kapitalen stattfand, sah Gäste aus aller Welt. Selbstverständlich überwogen die Europäer; doch dazwischen drängten sich auch stille Chinesen, lächelnde Japaner und würdige Hindus. Vier Uhr nachmittags war es fast. Eigentlich hätte die Sitzung seit einer halben Stunde wieder aufgeno mmen sein sollen. »15.30 Uhr, Professor Albin Hegar: Bericht über die Ergebnisse der deutschen Solarexpedition«, sagte trocken das Programmheft. Und trotz dieser mageren Ankündigung herrschte in dem Wandelgang die nervöse Atmosphäre, wie man sie nur bei entscheidenden Premieren in großen Theatern kennt. Renate Veith staubte zum zehnten Male die Apparaturen ab, die vor dem Vortragstisch aufgebaut waren. Bracke schaltete wieder das Licht des Bildwerfers ein und zentrierte nochmals -95-
den schmalen Lichtkegel auf die große Leinwand. Eben betrat Spirefith den Saal und stellte sich zu den beiden. »Sie wollen ihn vorher schon weichkochen!« versicherte er händereibend. »Aber er gibt nicht nach! Nein, das wird er nicht!« Im Präsidialzimmer hieb in dieser Minute Hegar mit zornrotem Kopf seine Faust auf den Tisch: »Zum letztenmal, Herr Kollege Vanderstraat, besteht in der Naturforschenden Gesellschaft noch das Recht der akademischen Redefreiheit, oder soll hier das Prinzip der freien Forschung bestritten werden?« »Sie verkennen mich und mein Vorhaben ganz und gar!« erklärte der Präsident diplomatisch. »Ich möchte Sie vor einer schweren Enttäuschung bewahren. Mir ist bekannt, daß eine große Anzahl von Teilnehmern gegen Ihre Theorien stark voreingenommen ist. Sie müssen mit Zwischenrufen rechnen, mit scharfen Widerlegungen, wenn Sie Ihre Darlegungen nach dem uns eingereichten Manuskript halten wollen. Sprechen Sie von der Möglichkeit, meinetwegen auch Wahrscheinlichkeit, aber niemals von der absoluten Richtigkeit Ihrer Forschungen!« »Ich habe als Wissenschaftler die Wahrheit zu sagen!« erwiderte Hegar. »Die reine Wahrheit trägt die Kraft der Überzeugung selbst in sich. Ich kann von meinem Expose nicht abweichen!« »Dann müssen Sie auch die Folgen tragen!« Achselzuckend drückte Vanderstraat auf den Klingelknopf. Schrill klang das Läuten durch alle Räume des Tagungsgebäudes. Hegar verbeugte sich kurz und stürmte dann hinaus in den Wandelgang. Als er sich durch die Reihen der Plaudernden Bahn brach, war es ihm einigemal, als hörte er ein Lachen hinter seinem Rücken. Mit zusammengebissenen Zähnen stand er dann hochaufgereckt hinter dem Rednerpult und wartete, bis alle ihren Platz gefunden hatten. Leer klangen die Begrüßungsworte, -96-
die an ihn gerichtet waren. Knapp fielen seine einleitenden Sätze dann in die Stille, die über dem großen Saal lastete. »Aus der Vulkankatastrophe auf dem Orohenu, die wie ein Märzgewitter über uns hereinbrach, habe ich diese Filme gerettet, die Sie jetzt sehen sollen. Bitte, Bracke!« Die Lichter im Saal erloschen, und knatternd lief das Filmgerät an. Zuerst sahen die Zuschauer die direkten Aufnahmen der Sonnenfinsternis, erblickten das rasende Aufzucken der Protuberanzen und die seltsame Verzerrung der Korona. Dann erklärte Hegar: »Glücklicherweise sind uns auch die spektrographischen Aufnahmen gut gelungen. Wir haben in sehr mühevoller Arbeit die normalen Sonnenlinien in die Filmbildchen hineinkopieren lassen, damit die unheimliche Verschiebung der Intensivstrahlung nach der Ultraviolettseite jedem Beschauer sofort augenfällig wird.« »Also redaktionell stark bearbeitet!« rief eine erregte Stimme aus der Dunkelheit. »Ruhe!« mahnte es von verschiedenen Seiten. Doch irgendwo klang auch ein Händeklatschen auf, als begrüße man diesen Zwischenruf. Hegar wollte aufbrausen, doch er zwang sich zur Ruhe und setzte seine Ausrührungen fort. »Falls der sehr verehrte Herr Unbekannt, der die Exaktheit dieses für sich sprechenden Filmes anzweifelt, die nötige Sachkenntnis besitzt, überlasse ich ihm gern das Bildmaterial zur eingehenden Prüfung. Dann wird er gleich mir feststellen, welche Erweiterung das Spektrum der ULinien gefunden hat. Ich nehme an, daß im Innern der Sonne, also noch unter der Fotosphäre, gewaltige Energieumsetzungen stattgefunden haben, die sich uns in den riesigen, bisher noch von keines Menschen Auge gesehenen metallischen Protuberanzen offenbaren.« »Trouvelot hat 1885 und Fény 1893 gleichfalls Rieseneruptionen aus dem Sonneninnern beobachtet!« meldete -97-
sich ein anderer Tagungsteilnehmer. »Aber nicht fotographiert!« berichtigte Hegar sofort den Einwurf. »Trouvelots Zeichnungen sind reichlich fantastisch ausgefallen. Fénys Protuberanz wuchs nur sehr langsam. Sie haben ja vorhin die ungeheuerlichen Ausmaße mit eigenen Augen feststellen können. Der Film lügt nicht! Übrigens sind die riesigen Sonneneruptionen nur eine Erscheinung zweiter Ordnung. Sie gefährden das Leben auf der Erde nicht. Beeinflußt wird unser Schicksal nur durch die Ultraviolettstrahlung werden. In dem recht schmalen Raum zwischen der uns bekannten Lichtstrahlung und den längsten oder, besser gesagt, weichsten Röntgenstrahlen scheint eine Gruppe von lichtelektrischen Wellen zu liegen, die chemische Umsetzungen hervorrufen können. Ich habe in den verschiedensten Strahlenforschungslaboren experimentell ihre Wirkungen untersuchen lassen, und überall kam man zu demselben Ergebnis: Diese Wellenlängen zerlegen die Kohlensäure, Verzeihung, das Kohlendioxyd, in Kohlenoxyd und Sauerstoff oder gar direkt in Kohlenstoff und Sauerstoff!« »In der Retorte!« schrie einer erregt zum Rednerpult hinauf. »Aber niemals in der Atmosphäre!« »Dieser kritischen Überlegung bin ich ebenfalls nachgegangen«, entgegnete der Sprecher. »Doch ich kam leider zu der gegenteiligen Erkenntnis. Die chemisch wirksamen Strahlen zersetze n auch in der Atmosphäre das lebensnotwendige Kohlendioxyd. Was eine Verarmung unserer Lufthülle an diesem gerade nicht seltenen Gas bedeutet, brauche ich vor diesem Gremium wohl kaum darzulegen. Seit Angströms und Schukewitschs Forschungen über das Wärmeabsorptionsvermögen der Kohlensäure wissen wir, daß wir von der Sonnenstrahlung nur so viel Wärme erhalten, um eine durchschnittliche Jahrestemperatur von minus 9 Grad Celsius auf der Erde zu haben. Die 24 Grad mehr, die das wirkliche Jahresmittel unseres Planeten beträgt, verdanken wir -98-
allein den 0,03 Volumenprozenten Kohlensäure. Eine Verminderung dieser Menge würde die Temperaturdifferenzen der verschiedenen Erdgebiete wesentlich verschärfen, eine Erhöhung würde diese Unterschiede ausgleichen.« »Blasse Theorie!« klang es wieder aus der Zuhörerschaft. »Nein, brutale Wirklichkeit!« donnerte Hegar dieser Meinung entgegen. »Ich fasse den ersten Teil meiner Ausführungen in diesem Kernsatz zusammen: Die chemisch aktiv wirksame Ultrastrahlung der Sonne zersetzt die Kohlensäure der Luft, und in einer nicht genau bestimmbaren Zeit wird sich als Folge eine wesentliche Temperaturverminderung in allen Teilen unseres Erdballs bemerkbar machen. In Tausenden von Messungen, die in sehr großer Höhe durch meinen Mitarbeiter Wiedensohl vorgenommen worden sind, ist die Abnahme des Kohlensäurevolumens übrigens exakt festgestellt worden. Die Diapositive, bitte!« Auf der Leinwand erschienen zwei Linien, die eine blau, die andere rot. Hegar erläuterte: »Die blaue Ordinate zeigt den üblichen Kohlensäuregehalt der Luft. Sie sehen, wie von tausend Meter zu tausend Meter Abstand über Normal Null der Gehalt absinkt. Bei 9000 Meter Höhe wurden früher noch 0,028 Volumenprozente ge messen, bei 18 ooo Meter Höhe sogar nur 0,017. Die rote Kur ve aber gibt an, was wir tatsächlich in den letzten Wochen nach genauester Analyse errechnet haben. An den bereits genannten Meßpunkten fanden wir nur ein Mittel von 0,021 und 0,012 Volumenprozenten, also Absinkungen um 7/100 000 und 5/100 000 , oder, anders ausgedrückt, Verminderungen um ein Viertel und beinahe ein Drittel. Wir schließen daraus, daß die chemisch wirksamen Strahlen bereits wesentliche Mengen der Kohlensäurereserve zerlegt haben.« Der Professor machte eine Pause. Die Lichter flammten wieder auf. Hegar sah, wie sich überall die Köpfe zueinander neigten, und das Summen vieler rascher Gespräche füllte einige Minuten lang den großen Raum. Da kein neuer Einwurf erfolgte, -99-
fuhr er sicher und stolz fort: »Nach diesen Einsichten, die sich allmählich vo n der reinen Vermutung bis zur absoluten Sicherheit verstärkten, war es mir eine selbstverständliche Pflicht, Überlegungen anzustellen, wie diese ungeheure Gefahr von der Menschheit abgelenkt werden könnte. Die Kohlensäurereserven der Erde müssen wieder aufgefüllt werden, und es muß ständig zusätzlich von dem Gas so viel erzeugt werden, wie schlimmstenfalls die chemisch wirksamen Strahlen zerlegen. Ich glaube auch hier einen Weg gerunden zu haben, richtiger gesagt, sogar gleich zwei, und ich bitte Sie, ruhig und sachlich meine Pläne zu prüfen!« Er legte kurz das Projekt der Vulkankraftwerke dar und fand dabei kaum einen, der ihm widersprach. Als er aber eingehender die Schaffung der Kältekraftwerke behandelte, hagelten nur die Zwischenrufe. »Blanke Utopie!«... »Technische Ignoranz!«... »Chemische Unmöglichkeit!« Das waren die sachlichsten Einwürfe, die er über sich ergehen lassen mußte. Dazwischen aber schallten auch ganz unparlamentarische Rufe herauf: »Lächerlichkeiten!«... »Unsinn!«... »Senilität!« Hegars Gesicht hatten Zorn und Erregung blutrot gefärbt. Seine Faust hämmerte auf dem Rednerpult, als er seine letzten Sätze formte: »Ich und meine Mitarbeiter wissen, daß es erst gilt, die Lethargie der Selbstzufriedenen in Aktivität umzuwandeln, wenn wir diese schwerste Prüfung des Menschengeschlechts siegreich bestehen wollen. Ihre Voreingenommenheit müssen Sie abbauen, dann werden Sie meine Ausführungen verstehen und billigen. Sie, die Vertreter der Wissenschaft, von der Richtigkeit und Durchführbarkeit meiner Ideen zu überzeugen, dazu habe ich hier das Wort ergriffen. Prüfen Sie vorbehaltlos und voll guten Willens meine Darlegungen. Dann werden Sie sich zu mir bekennen müssen, und wir alle werden dann die erste Phalanx sein, die in die Ignoranz der bequemen Masse eine Bresche bricht!« Neues Protestgesdirei übertönte das schüchterne -100-
Händeklatschen, das schnell wieder verstummte. Aufgeregte Weißköpfe stürmten zum Präsidialtisch. Zettel flatterten auf seine Platte, und beschwörend hob der Präsident seine Hände. Er mußte lange warten, ehe er das Wort ergreifen konnte. »Nach oberflächlicher Schätzung haben sich bereits vierzig Herren zum Wort gemeldet, um ihre Stellungnahme vor dem gelehrten Gremium zu vertreten. Neben Astronomen und Geophysikern auch Biologen, Mediziner und Philosophen. Ich bitte, um die Debatte nicht abschweifen zu lassen, nur dann hier zu sprechen, wenn sachliche Argumente gegen oder für die Theorien unseres hochverehrten Herrn Professors Hegar vorgebracht werden können.« Doch seinen Einwurf fegte ein neuer Sturm des Widerspruchs hinweg. »Wann war Hegar sachlich? Wir hörten hier eine Blasphemie der Wissenschaft!« Und schon stand ein Teilnehmer an der Tagung oben neben Hegar am Rednertisch, fuchtelte aufgeregt mit einem Stoß Notizzettel in der Luft und begann mit seiner Kritik: »Es liegt mir vollkommen fern, das Tatsachenmaterial des Herrn Referenten anzuzweifeln. Wenn ich hier das Wort ergreife, so geschieht das nur, um die eigentümlichen Denkmethoden, mit denen wir hier überrascht wurden, einer klärenden Beleuchtung zu unterwerfen. Seit Bacon von Verulams Tagen baut sich jegliche Wissenschaft, und insbesondere die Naturwissenschaft, auf exakte Beobachtung, klärenden Versuch und kritische Spekulation auf. Herr Hegar, dessen hoher Ruf mich bisher mit Verehrung erfüllte, brachte uns leider als Beweismittel wenig erhärtete Tatsachen, ließ sich durch sie zu unkritischem Denken fortreißen und verrannte sich endlich in nebulosen Projekten, die nie und nimmer in das Gebiet ernstzunehmender Wissenschaft gehören...« Wie diese Einleitung, so war dann auch die Fortsetzung der Kritik. Mit nominalistischer Haarspalterei wurde die ganze Theorie Hegars zerpflückt, und mit zerfetzender Schärfe wurden -101-
die praktischen Konsequenzen abgelehnt. Hegar erhielt sofort das Wort zur Erwiderung: »Ich habe in diesen geisttriefenden Ausführungen auch nicht ein Wort gehört, das gegen meine Ideen gerichtet war oder mich in meiner Überzeugung wankend machen könnte. Mit philosophischen Witzeleien und Schöngeistereien schaffen wir auch nicht einen Deut von den harten Tatsachen aus der Welt, denen wir gegenüberstehen und die sich uns feindlich gegenüberstellen. Ich werde auf solche Argumente, die allein einer falsch verstandenen Schullogik entspringen, künftighin nichts mehr erwidern!« Und er kreuzte mit finsterem Gesicht seine Arme und ließ den Sturm der Empörung, den seine Worte auslösten, mit unbeweglichen Mienen verebben. Der zweite Angriff war etwas sachlicher, dafür aber um so schärfer. Ein Physiker führte ihn. »Ich habe mich nicht mit den atmosphärischen oder astronomischen Voraussetzungen zu beschäftigen. Ich will allein diese utopistische Kältekraftmaschine in unser kritisches Blickzentrum setzen. Seit Jahrzehnten werden die ernsthaften Physiker und Techniker mit mehr oder weniger undurchführbaren Projekten behelligt, um die künftige Energieversorgung der Welt sicherzustellen. Claude und Boucherot versuchten, ähnlich wie Herr Barjot und Herr Hegar, die Wärmedifferenz zwischen Oberflächenwasser und Tiefenwasser in tropischen Meeren auszunützen. Die Versuchsanlagen auf dem belgischen Hüttenwerk DugreèMarihaye ergaben einen befriedigenden Nutzeffekt; doch die Großanlage in der Bucht von Matanzas auf Kuba erwies die vollkommen falsche physikalische Grundlage, auf denen Claude seine kühne n Gedankentürme aufgebaut hatte. Barjot ist gestorben, ohne daß er auch nur ein Modell hat zum Arbeiten bringen können. Herr Hegar, dem die Beschäftigung mit den ewigen Sternen nicht die Begeisterungsfähigkeit der Jugend geraubt hat, will das geistige Erbe in einem wirklichen Kältekraftwerk auf Nowaja Semlja realisieren. Er übernimmt -102-
kritiklos die reichlich verschwommenen Ideen eines nicht anerkannten Physikers und will die Welt damit retten. Warum nicht gleich mit dem Perpetuum mobile? Das ist zwar auch unmöglich, aber weit populärer als Barjots Kältekraftwerk. Lassen Sie es sich alle von einem Fachmann gesagt sein: Eine Wärmedifferenz von etwa 20 Grad genügt nie und nimmer, um auch nur eine zehnpferdige Turbine zum Drehen zu bringen!« Und dann sprach der Physiker über den Carnotschen Kreisprozeß, fragte ironisch, ob die neuen Projektemacher imstande seien, ihm die Formel »A gleich R mal (T1 minus t2 ) mal klein in Klammer Vb geteilt durch Va Klammer« zu entwickeln. Er schloß seine giftigen, geistvollen Ausfü hrungen: »Hier sind nun Tatsachen! Antworten Sie jetzt auf diese sachliche Kritik, Herr Hegar!« »Nur mit einigen Analogien!« erklärte der Angegriffene. »Die sogenannten Fachwissenschaftler, die es nie wagen, über den Zaun ihres Spezialistentums hinwegzublicken, haben sich zu viele Male in der Geschichte der Forschung als die ärgsten Gegner jedes neuen, wirklich revolutionären Gedankens erwiesen, als daß ich sie noch ernst nehmen würde. Robert Koch schrie man nieder, als er die Ergebnisse seiner fundamentalen Tuberkuloseforschung darlegte, vor einem ähnlichen Gremium wie diesem. Ludwig Schleich lachte man aus, als er über seine Erfahrungen mit einer gefahrlosen Lokalanästhesie berichtete. Dem Grafen Zeppelin wiesen die Herren Fachgelehrten nach, daß seine Luftschiffe sich niemals zu den Wolken erheben könnten. Rudolf Diesel wurde haargenau vorgerechnet, daß seine Verbrennungskraftmaschine eine physikalische Unmöglichkeit sei. Über die Möglichkeit, die Barjotschen Pläne zu realisieren, entscheiden nicht die sprach- und schreibgewandten Stubengelehrten, sondern die Ingenieure auf den Prüfständen, die bereits begonnen haben, eine Versuchsanlage zu schaffen. Über die Durchführbarkeit eines gewaltigen Kraftwerkbaues auf Nowaja Semlja entscheiden -103-
allein der geniale Baumeister und die opferbereiten Helfer, die die Last der arktischen Zone auf sich nehmen wollen, um einigen hundert Millionen Menschen ihre Heimstätten zu erhalten. Daher bitte ich, auch die Barjotschen Projekte hier in der Debatte nicht zu behandeln!« Die Zwischenrufer tobten. Der Präsident griff nach der Klingel und ließ sie tönen. Beschwörend streckte er wieder beide Arme aus und bat: »Ruhe und Besonnenheit! Es liegen hier zwei Resolutionen vor. Dazu möchte ich jetzt nur noch das Wort erteilen. Die eine, eingebracht von Professor Spirefith, lautet: Die Großtagung der Internationalen Naturforschenden Gesellschaft begrüßt die Ausführun-. gen Professor Albin Hegars, macht sich seine Kerngedanken zu eigen und erwartet von allen Kulturstaaten, daß sie unverzüglich die Realisierung der praktischen Maßnahmen einleitet, um die Welt vor namenlosem Unglück zu bewahren!« »Niemals! Unmöglich!« kreischten die Opponenten. »Ich bitte um Ruhe! Hören Sie doch erst die zweite an. Eingebracht von Solier und Gen. Die Internationalen Naturforschenden Gesellschaften haben einen Bericht des Professors Albin Hegar entgegengenommen und sind dann in ihrer Tagesordnung fortgefahren!« »Bravo!...Ausgezeichnet!« Ein wildes Händeklatschen verschlang die Protestworte, die Hegar hervorstieß. Überall streckten sich die Arme in die Luft, um der zweiten Resolution zuzustimmen., »Wünschen Sie die namentliche Auszählung oder die Gegenprobe?« wandte sich der Leiter der Versammlung an den Referenten. »Nein!« erwiderte dieser knapp. »Doch die Entscheidung über Richtigkeit oder Irrtum fällen nicht Sie, sondern allein die unerbittlichste Richterin, die Natur selbst! Daher bitte ich alle die, die sich zu mir bekennen, sich auf diesem Bogen einzutragen.« -104-
Er verließ das Rednerpodium und schritt rasch durch die plötzlich verstummte Menge. Als ihm Bracke am Abend die Liste überbrachte, zählte er knapp 20 Unterschriften. Mit einem wehen Lächeln legte er das Blatt in seine Aktentasche.
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- 13 Am ändern Morgen ordnete Renate die Posteingänge. Sie hatten noch am Abend den Tagungsort der Naturforschenden Gesellschaft verlassen und nach einer wilden Hetzfahrt wieder das stille Handschuhsheim erreicht. Bracke und Wiedensohl saßen bereits am Frühstückstisch und warteten auf Hegar und Spirefith. »Keine sechzehn Stunden her und schon dieser Lärm!« sagte Renate seufzend und legte ein neues Zeitungsblatt auf den Stapel. »Onkel Albin kriegt den Koller, wenn er liest, was die Presse schreibt.« »Hauptsache keinen Kollaps!« meinte Wiedensohl. »Von der Weltpresse heute heruntergerissen, bedeutet ewigen Ruhm in bald kommenden Tagen.« »Sie haben eine Nilpferdhaut!« empörte sich Renate. »Kann denn gar nichts Ihre Gelassenheit erschüttern?« »Doch! Falls Sie nämlich wieder exotische Interessen hätten und sich für Farben zwischen Veilchenblau und Dunkelsienna interessieren würden. Freilich auch dann nur, wenn der Schwinger neben dem Zielpunkt säße.« Das Mädchen ereiferte sich: »Sie machen faule Witze, und ich bange um den Ruf eines Gelehrten, den ich hoch schätze, nicht etwa nur darum, weil er zufälligerweise mein Onkel ist.« »Bestes Kindchen! Was scheren wir uns um die Kontrahenten? Wir überrennen die Brüder, oder die Natur wird das tun, und dann stehen wir einsam auf der weiten Heide und suchen uns die richtigen Mitstreiter. Der Zahn der Zeit heilt alle Schmerzen!« »Ihre Spruchweisheit und Ihre Phlegmatik sind einfach sagenhaft. Herr Bracke, haben Sie gar nichts zu sagen?« Der Assistent hob seine beiden Arme und ließ sie gleich -106-
wieder resigniert sinken. »Fräulein Veith, vielleicht hat Wiedensohl recht: Man muß die Dinge an sich herankommen lassen. Wenn nur der Chef dieselbe Seelenlage besäße wie dieser Luftkutscher. Hallo, das Telefon schnurrt. Was wollen die da draußen von uns?« Er griff nach dem Hörer und dann nach dem Bleistift: »Bitte, sagen Sie an! Ich notiere... Kabel direkt aus New York... Winnemac-University... Professor David Coinen wünscht direkte Ansprache über Kälteprojekt in jeder Beziehung. Absender bereits mit Helfern auf Nonstopflug nach Europa. Hält Idee und Realisierung für größte Leistung menschlichen Geistes seit Koppemigk. Int. Nat. Ges. hat nur bestätigt, was uns bekannt. Genie wird über Talent siegen. Coinen.« Bracke schwenkte den beschriebenen Bogen wie eine Siegesfahne über seinem Kopf. »Nun kann der Chef kommen! Laßt ihn sich erst einmal durch den Wust der Ablehnungen durchfressen. Ein heilendes Pflaster ist dieses Kabel. Aber erst am Ende legen wir es auf. Still, da kommen sie.« Spirefith schenkte jedem der Anwesenden wenigstens einen Händedruck; Hegar warf sich in den Korbsessel und verlangte: »Kaffee! Bißchen plötzlich, Marjeil!« Dann griff er mechanisch nach den Zeitungsblättern, las die Schlagzeilen, zerknüllte wütend die ersten Bogen und langte sich eine neue Gazette vom Stapel. »Sie verstehen mich nicht! Nein, ganz falsch! Sie begreifen nicht, daß wir den Mut haben, dem naturgegebenen Geschehen in den erhobenen Arm zu fallen. Scharlatan, schreibt der Tintenkuli. Dieser nennt mich einen irre gegangenen Spökenkieker. Wenn die Sensationshascher wenigstens meine Gedanken einer wissenschaftlichen Analyse unterziehen würden. Doch dazu langt ja ihre geistige Potenz nicht aus. Als ein Don Quichotte der Gelehrsamkeit wird mein Name eingehen in die Annalen der Weltgeschichte, wenn es auf diese Zeitungsschreiber ankäme. Windmühlenflügel sehe ich für -107-
drohende Riesen an! Das kann man nun leicht hinschreiben, während ich um die Existenz von dreihundert Millionen Menschen bange!« Er schüttete die Tasse starken Kaffees wie ein Verdurstender in sich hinein und las stumm weiter in dem Morgenbrevier seiner geistigen Vernichtung. Als ihm Renate ein belegtes Brötchen in die Hand drückte, biß er mechanisch davon ab und setzte seine Resignationen fort: »Ich habe diese Nacht keine Sekunde geschlafen. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob es Menschen geben könne, die , durchdachte logische Reihen als Utopien, absolute Erkenntnisse als Faseleien, letzte Schlüsse für dumme Wichtigtuereien werten können, auch wenn es sich nicht um die Existenz unserer Kultur handeln würde. Einer Elite des Geistes stand ich gegenüber, und sie haben mich verlacht. Sollen wir nun arbeiten oder resignieren?« »Selbstverständlich arbeiten, Chef!« rief Wiedensohl. »Bracke, nun kommen Sie doch endlich mit dem heilenden Pflaster!« Der wandte sich erst an Spirefith und fragte ihn inquisitorisch: »Welchen Ruf genießt die Winnemac-University in den Staaten?« »Winnemac? Blauer Himmel! Das ist so irgendeine Baptistenoder Mennoniten- oder Apostoliker-Akademie. Haben davon mindestens ein paar tausend in den USA. Aber Winnemac ist die vornehmste von den Outsiders.« »Kennen Sie Professor David Coinen?« wollte Bracke wissen, und er überlas schnell noch einmal das Kabel, das er in den Händen hielt. Nach einer Überlegungspause sagte Spirefith: »Coinen? Ein Erzexperte dieses Namens ist mir bekannt. Möglich, daß er in der Winnemac als Dozent geführt wird. Wie kommen Sie auf den Mann?« Hegar hatte inzwischen einige neue Zeitungsblätter -108-
überschlagen und dabei bereits die vierte Tasse Kaffee geleert. Nun blickte er auf und fragte: »Kommt aus Winnemac etwa der weiße Rabe geflogen?« »Vielleicht!« sagte Bracke und schob dem Professor das Kabel zu. »Wenn hinter Winnemac starke Kräfte stehen, dann können wir gewärtig sein, bald den endgültigen Umbruch zu erleben. Ein Bekenner, der sich in den Atlantik-Clipper geschwungen hat, um seine Treue zu beweisen, der ist immerhin rar.« »Man soll nicht an der großen Gemeinschaft der Wissenden verzweifeln!« sagte Hegar gerührt, nachdem er das Telegramm gelesen hatte. »Doch was wird dieser eine Mann an der Meinung der ganzen Welt ändern können?« Am andern Tage war der »frische Wind aus dem goldenen Westen« - so hatte Wiedensohl den unbekannten Gläubigen getauft - eingetroffen. »Ich bin nur Titularprofessor der Winnemac-University«, hatte er sich mit gewinnender Offenheit Spirefith vorgestellt. »Private Forschungen im Nordwestterritorium und eine nicht kleinliche Stiftung haben mir diese Ehrung eingetragen. Bin ein alter Mann!« Dabei war er sich durch das weiße Lockenhaar gefahren. »Möchte vor meines Lebens Abschluß noch einmal etwas ganz Großes leisten, wenn auch nur als Mithelfer. Erzählen Sie mir, Professor«, damit wandte er sich an Hegar, »noch einmal die ganze Story von der neuen Eiszeit. Bin ein einfacher Mensch, also bitte ganz unkompliziert, so daß es auch ein Laie verstehen kann. Sprechen Sie ruhig deutsch! Bill Twards, mein ständiger Begleiter auf meinen Forschungsreisen, versteht auch genügend von Ihrer Sprache, um den Fakt zu begreifen.« Hegar musterte das seltsame Paar, das so plötzlich in sein stilles Gelehrtenheim eingebrochen war. David Coinen mochte man allenfalls für einen geistig interessierten Menschen halten; doch dieser Bill Twards, der phlegmatisch in seinem Sessel lag und sich sofort, ohne dazu aufgefordert zu sein, ein Wasserglas -109-
halb voll Kognak gegossen hatte, schien aus einer Welt zu stammen, mit der der Wissenschaftler bisher noch keine Fühlung genommen hatte. Wohl präsentierte sich der alte Steppenläufer in einem tadellosen Reiseanzug als Kulturmensch. Die große Perle in der breiten Krawatte die blitzenden Steine der Ringe auf den klobigen, zemarbten Fingern verrieten Wohlstand. Doch unter den weißen Augenbrauen' leuchteten verschlagene Späheraugen, und die stark modellierten Höcker der Stirn sprachen von Brutalität und Skrupellosigkeit. Das alles war der Grund, weshalb Hegar sagte: »Verzeihen Sie, Mister Coinen, wenn ich Sie noch etwas fragen muß, ehe ich Ihnen die Ergebnisse meiner Forschungen darlege. Falls ich Sie von der Richtigkeit meiner Theorie überzeuge, in welcher Hinsicht würden Sie mich unterstützen?« Der Gefragte griff in seine Brusttasche, holte ein Scheckbuch hervor, warf einige Zahlen auf ein schmales Formular und schob lächelnd die Zahlungsanweisung dem Professor zu. »...four million Dollars... «, las Hegar erschrocken. »Vier Millionen Dollar?« fragte er verblüfft. »So viel wären Ihnen meine Darlegungen wert?« »Von vornherein!« versicherte der Amerikaner ruhig. »Rufen Sie eine verläßliche Bank an und fragen Sie nach, ob David Coinen für diesen Betrag gut ist. Ich überlasse Ihnen den Scheck zur freien Verfügung, ganz gleich, ob ich in das Geschäft... Verzeihung... mich an Ihrem Vorhaben beteiligen werde oder sofort nach erhaltener Aufklärung wieder aussteige. Sollten mir Ihre Gedanken zusagen, dann will ich nicht nur weitere zehn Millionen investieren, sondern darüber hinaus Ihnen auch mein Organisationstalent - so darf ich wohl trotz aller Bescheidenheit sagen? - also das Organisationsvermögen eines versierten Fachmannes zur Verfügung stellen. Gemacht, Professor?« Er bot dem Forscher seine weiße, gepflegte Hand, und Hegar griff impulsiv nach ihr; kräftig schüttelte er sie und übertönte mit einem Wortschwall die letzten leisen Bedenken, die sich in -110-
seinem untersten Bewußtsein noch regten. »Sie erscheinen hier in der Heimstatt eines Verlachten wie der rettende Engel. Nach meiner vernichtenden Niederlage in der Internationalen Naturforschenden Gesellschaft kann ich natürlich nicht mehr mit der Hilfe der interessierten Staatsregierungen rechnen, Mister Coinen. Ihre Großzügigkeit aber gibt mir die Möglichkeit, wenigstens eins der großen Kältekraftwerke zu erbauen und anlaufen zu lassen. Haben wir bei Kap Gefahr auf Nowaja Semlja erst die Produktion von Kohlensäure aufgenommen, dann werden die ärgsten Skeptiker sich belehren lassen, und ich sehe im Geiste die Lebensspender für eine neue glücklichere Zukunft des Menschengeschlechts überall an den Ufern der Polarmeere auf der Basis der bisher nicht genützten Kälteenergie emporwachsen. Mobilisiert wird die Urkraft der Vulkane !Abgeschlagen ist der brutale Angriff der Sonnenstrahlung, und hier, in meinem Garten, werden sich die Äste der Orangenbäume neigen unter der Last der goldroten Früchte!« Wie ein Seher stand Hegar hinter dem Berg von Zeitungen, die seine Niederlage in alle Welt geschrien hatten. Coinen schlug seine Handflächen wie ein leise berührter Premierengast zusammen und bat: »Bravo, Professor! Glauben haben Sie! Und nun enthüllen Sie uns die Quellen, woher Sie Ihr Siegesbewußtsein beziehen. Wir sind ganz Ohr!« Mehr als drei Stunden waren verflossen, als endlich Privatissimum, Fragenbeantwortung und klärende Debatte vorbei waren. Coinen erhob sich mit seinem steinernen Begleiter Bill Twards und versicherte feierlich: »Sie sind mein Mann, Professor Hegar! Und nun unsere Marschroute festhalten: Zuerst die Welt davon überzeugen, daß eine gefährliche Bedrohung besteht! Danach die Kräfte mobilisieren, um das Schlimme zum Guten zu wenden. Einverstanden?« Der Sonnenforscher wagte einen Einwurf: »Meiner Meinung nach müßten beide Vorhaben parallel laufen.« -111-
Doch David Coinen lächelte bezwingend: «Eins nach dem andern, Professor! Wollen erst mal mit allen Mitteln der Propaganda Ihre Ideen den Menschen einhämmern. Die vier Millionen Dollar dürften dazu ausreichen. Nachher fallen uns die Früchte dieses Aufklärungsfeldzuges von selbst in den Schoß. Rettung der europäischen und nordamerikanischen Bevölkerung! Das ist ein hundertprozentiges Geschäft!... Verzeihung!... Projekt, natürlich, wollte ich sagen. Morgen werde ich Ihnen meinen Feldzugspla n unterbreiten. Dick Twards, was meinst du zu der Story?« Der Hüne erhob sich aus dem Sessel, goß den letzten Rest des scharfen Schnapses in seine Kehle und lachte heiser: »Wird schon klappen! Auf David Coinen können Sie sich verlassen. Die Sache geht in Ordnung!«
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- 14 Und der Aufklärungsfeldzug begann. Während Hegar, Spirefith, Bracke und Wiedensohl eifrig weiter neue Tatsachen sammelten, die die Richtigkeit der Eiszeittheorie beweisen sollten, sich auch um die Fortschritte bei der Erbauung der kleinen Versuchsanlage kümmerten, bearbeitete Coinen mit einigen anonymen Helfern die Meinung der Weltöffentlichkeit. Große amerikanische Bildmagazine brachten lange, gut illustrierte Artikel, die die Schrecken einer zukünftigen Eiszeit breit ausmalten. Sonderbroschüren wurden fast umsonst in Schweden, Norwegen und Kanada vertrieben, voller instruktiver Geschichten und fantastischer Darstellungen, was geschehen würde, wenn sich Hegars Hoffnungen nicht erfüllen könnten. Der Winter hatte bereits im November sein strenges Regiment in Mitteleuropa angetreten. Es war vielleicht nur einer der seltsamen, periodisch immer wieder bald in Europa, bald in Amerika auftretenden Temperaturstürze. Doch Coinen wußte in tausend Winkelblätter und auch einige große Zeitungen Berichte zu Iancie ren, die einen logischen Zusammenhang zwischen der Sonnenstrahlung und dem Kältephänomen für möglich erscheinen ließen. Geschickte Wochenschaureporter brachten wunderbares Bildmaterial aus vereisten nordischen Häfen, von zerrissenen Packeismauern, furiosen Schneestürmen, im Eis steckengebliebenen Fischdampfern und Walfängern, riesigen Eisbergen und jaulenden Wolfsrudeln in der weißen Wüste. Die Arktis und die Antarktis wurden auf einmal populär. Alte Polarfahrer sprachen über die Rundfunkstationen vo n ihren Abenteuern zwischen Eisbären und Eskimo, erzählten rührselige Geschichten von der letzten Kiste Pemikan und zerbrechenden Bordwänden. Wenn ihm Coinen freudestrahlend von den Ergebnissen -113-
seines geistigen Feldzuges berichtete, dann warnte Hegar: »Seien wir vorsichtiger! Die Methode gefällt mir nicht. Wir wollen ja keine Panik entfesseln, sondern an die mutigen Herzen der Menschen appelieren.« Doch der smarte Geschäftsmann wußte ihn immer wieder zu beruhigen: »Mit der Kältemode in Wort, Bild und Ton haben wir nichts zu tun. Daraus kann man jetzt Geld machen, und deshalb wird sie überall forciert. Ich zeichne dafür nicht verantwortlich. Da aber tiefe Temperaturen augenblicklich Trumpf sind, werde ich mich natürlich nicht gegen die verdiensthungrigen Mitläufer wenden. Es ist schon so, Professor! Im Winter will der geehrte Leser Geschichten voll Eis und Schnee in seinem Leibblatt finden. Die Rosen kommen wieder im Sommer dran. Wie weit sind übrigens die Vorversuche? Bill Twards erzählt mir ja Wunderdinge!« »Ich kann das leider nicht!« erwiderte Hegar. »Wir kommen nur sehr langsam vom Fleck. Jedes einzelne Maschinenelement muß ja erst konstruktiv entwickelt werden. In vier Wochen etwa dürfte die Prüfstation anlaufen.« »Da muß ich dabei sein!« erklärte Coinen. »Sofort nach den ersten positiven Ergebnissen will ich den zweiten Teil unseres Werbefeldzuges starten: Thema: Wir können die Kälte besiegen, und zwar durch die Kälte selbst! Das wird die Krönung sein, und Sie werden staunen, welche Kapitalien ich dann für Ihr Vorhaben mobilisieren werde. Was machen übrigens die Vulkankraftwerke?« »Sie ruhen vorläufig!« sagte Wiedensohl. »Nur die General Electric wird die Produktion in den Mayacama Rangs aufnehmen, aber nur, um die Straßenbahnen und Subways in Frisco mit billigem Strom zu versorgen. Für unsere Pläne haben die Energiekönige der Welt nur ein bedauerndes Achselzucken.« »Kommt noch! Kommt noch!« versicherte Coinen händereibend. »Was meinen Sie, welche Interessentengruppen bereits jetzt lebhafteste Anteilnahme an der Realisierung Ihrer... ich darf jetzt wohl schon sagen: unserer Theorien zeigen? Leider -114-
darf ich darüber noch nicht sprechen.« Wie ein Wirbelwind war er wieder verschwunden, um von Frankfurt aus, dort hatte er jetzt sein Büro aufgeschlagen, weiter seine Fäden zu spinnen. Hegar war diesen Tag über verstimmt und mit sich selber unzufrieden, ohne daß er einen Grund dafür finden konnte. Am Abend erst sagte er plötzlich zu seinen Mitarbeitern: »Ich werde das Gefühl nicht los, daß sich hinter Coinens schiefe n Schu tern und ehrwürdigem weißen Haar irgend etwas verbirgt. Was mag es nur sein? Ein Teufel oder ein Engel?« Fast zur gleichen Zeit hatte der so Charakterisierte eine lange Unterredung mit seinem Gehilfen Copper-Bill, dem der Aufenthalt im alten Lande sehr gut zu bekommen schien. Der Prospektor, der in früheren Zeiten einmal Bohrmeister bei einer Erdölmutung gewesen war, verstand genug von Maschinenaggregaten, um sich ein einigermaßen sicheres Urteil über die Baufortschritte des Versuchskältekraftwerkes zu erlauben. »Chief«, versicherte er trocken, »Sie können sich darauf verlassen: Die Butanturbinen werden funktionieren. Könnten heute schon rotieren, wenn diese Burschen nur nicht so gründlich wären. Also bringen wir beizeiten unser Schäfchen ins trockene!« »Sehr gut!« antwortete Coinen. »Die Versuchsanlage muß ja auf tausend Touren sein! Daß du mir keine Dummheiten machst! Belcombe hält es mit den Überraschungen: erst die große Furcht vor dem weißen Tod, dann das strahlende Rettungsfeuer, nämlich das Versuchswerk, endlich die große Aktion bei Kap Gefahr - und die muß ein Fehlschlag werden, verstehst du? Wenn dann die Kälte wächst, beginnt unsere große Ernte!« »Verstehe nicht alles, aber wird wahrscheinlich eine höllische Schweinerei werden, Chief. Mir egal! Ich habe mich verkauft zu gutem Preise, und da mache ich alles!« -115-
»Lerne, Bill!« bat Coinen. »Je mehr du von dem Barjotwerk verstehst, um so besser kannst du es dann lahmlegen. Deshalb trage ich die teuren Spesen, die du mich kostest.« »Werden bald höher werden!« grinste der Nordwestmann. »Ethelrid will sich auch einen kleinen Europatrip leisten. Sagen Sie nichts dagegen, Chief! Kleine Freuden muß so ein alter Mann schon haben, damit er seine Spannkraft nicht verliert!« »Aber mehr als tausend Dollar monatlich darf der kleine Spaß nicht verbrauchen!« verlangte der Einpeitscher. »Sei vernünftig, Bill! Sonst fällt bei der Schlußabrechnung nichts mehr für dich ab!« »Wird schon! Eine blanke Million! Coinen, ich möchte wissen, wieviel ihr bei der großen Schiebung verdient!« Der beantwortete diese Frage nicht; denn er überlegte gerade, was Belcombe wohl für die Kryolith-Werke in Christianshaab anlegen würde. Die Davis-Straße zwischen Grönland und Baffinsland war in diesem Jahr bereits seit den ersten Septembertagen vom Eis blockiert. An der Diskabai, zwischen Jacobshavn und Christianshaab, warteten einige Eisbrecher vergeblich auf die kontraktlich zugesicherte Heimholung, die sonst alljährlich zur Zeit der Herbst-Tagundnachtgleiche erfolgte. Verzweifelt waren die Eisbrecher gegen die Packeismauem angerannt. Über Holstenborg kam kein Flugzeug mehr hinaus. Flugzeuge hatten zwar die von der Welt Abgeschlossenen reichlich mit allem, was nötig war, versorgt. Doch die Kryolithgräber waren damit nicht zufrieden. Sie bestanden hartnäckig auf der vertragsmäßigen Heimschaffung und wollten auf keinen Fall einen zweiten Polarwinler in dem unwirtlichen Grönland verbringen. Ein Jahr lang waren sie in den zerrissenen, vereisten Randbergen der großen Insel von Schroffen zu Schroffen geklettert, hatten sich in die finsteren Schluchten gewagt, um den seltsamen Eisstein, den Kryolith, zu sammeln. -116-
Diese seltenen, würfelförmigen Kristalle brauchen die chemische Industrie als Katalysator und die Glashütten zur Milchglasherstellung. Nirgendwo sonst findet man sie auf der Welt als in der rauhen Arktis. Aage Hoom, der Generaldirektor der bereinigten Kryolithwerke in Kjöbnhavn, stürmte verzweifelt in seinem Büro auf und ab und rang beide Hände. Sein Besucher saß gelassen in dem roten Ledersessel und ließ nur ab und zu seine Fingergelenke knacken. »Aber das ist ja Irrsinn!« rief Hoorn zum zehnten Male aus. »Blanker Irrsinn! Sicher, wir haben in unseren Arbeitskontrakten den Passus stehen, daß wir, wenn wir den Heimtransport der Vertragsarbeiter nicht durchführen, eine Entschädigung von 10 000 Kronen für jeden Fall zu zahlen haben. Wir haben mindestens zehnmal versucht, durch das Gewirr von Packeismauern und Eisbergen wenigstens bis Egedesminde vorzustoßen. Dann hätten die Steingräber nach einem kurzen Marsch über das Eis der Bai aufgenommen werden können. Lesen Sie, Herr Heemesrade! Da, ein ganzer Stoß von Funksprüchen der Kapitäne auf den Eisbrechern. Sie kommen nicht durch! Unmöglich! Höhere Gewalt!« »Flugzeuge!« sagte der Besucher knapp. »Flugzeuge? echote der Generaldirektor. »Kennen Sie die Landschaft um die Diskabai? Nein? Seien Sie froh! Ich war sieben Jahre dort oben. Ich weiß, wie es da aussieht. Felsblöcke, Eisstürze, Gletscherabbrüche. Keine hundert Quadratmeter eben. Landen könnte allenfalls ein leichtes Sportflugzeug. Aufsteigen? Niemals!« »Dann werden also die Kryolithwerke die Million Vertragsstrafe zahlen müssen«, erklärte Heemesraade. »Wovon?« schnaufte Aage Hoom. »Unser Aktienkapital beträgt 500 000 Kronen.« »Nominell!« berichtete der andere. »Aber es ist kein Geheimnis, daß manchmal der Jahresgewinn höher war als das -117-
gesamte Anlagevermögen. Ich habe den Auftrag meiner Mandanten und werde die Klage erheben.« »Dann sind wir ruiniert!« erklärte der Direktor resigniert. »Die Aktien sind fast alles Familienbesitz. Rücklagen sind so gut wie gar nicht vorhanden.« »Und können die Besitzer keine Zubuße leisten?« wollte der Besucher wissen. »Wovon? Sie haben sich ein angenehmes Leben geleistet, weil das Weltmonopol der Kryolitherzeugung in ihren Händen lag und ihnen für ewig eine recht ansehnliche Rente zusicherte. Persönliche Haftung? Daß ich nicht lache! Wenn die Besitzer von der Klage erfahren, werden sie die Aktien für ein Butterbrot feilbieten, um nur von der Verantwortung erlöst zu werden.« Der Rechtsanwalt Heemesraade stand auf: »Dann haben weitere Verhandlungen wohl keinen Zweck mehr. Ich muß meine Pflicht erfüllen und werde stehenden Fußes zum Zivilgericht gehen, um die Klage zu erheben.« So geschah es auch. Vier Tage später wurden auf der Börse in Kopenhagen die Aktien der Vereinigten Kryolith in Mengen angeboten und tatsächlich fanden sich Käufer, die zu einem Kurs von 60 für 100 nominell die Effekten übernahmen. In der in den ersten Dezembertagen stattfindenden Generalversammlung traten dem Direktor Aage Hoom zwei amerikanische Bankbevollmächtigte gegenüber und wiesen sich als Besitzer von 90 Prozent des gesamten Anlagekapitals aus. Sie beantragten die Fusionierung mit einem Bergbaupool der USA, setzten alle ihre Wünsche durch und liquidierten nachher die Niederlassung der Gesellschaft in Dänemark. Der Prozeß der Steingräber schleppte sich so lange hin, bis im nächsten Jahr die Davisstraße wieder frei wurde. Als die Zurückgekehrten dann selbst zu den Kosten des Verfahrens beitragen sollten, waren sie froh, wenigstens einige hundert Kronen Abfindung aus dem Zusammenbruch der Vereinigten -118-
Kryolith zu retten. Doch oben zwischen den Eisbergen der Diskabai und den Felsenschroffen des Randgebirges gruben zu dieser Zeit bereits tausend Mann nach dem seltenen Mineral, und Belcombe war der einzige, der mit dem Ausgang dieses ersten Abenteuers der Eiszeit zufrieden war.
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- 15 Und der große Oktopus streckte bald wieder seine Fangarme aus, um neue gewinnversprechende Objekte an sich zu reißen. In Svalbard, auf den Landkarten ist es immer noch mit dem alten Namen Spitzbergen bezeichnet, graben seit dem Jahre 1910 alle Nationen nach den schwarzen Diamanten, nach der Steinkohle. Am Glockensund, im Grünen Fjord und am Eisfjord liegen die Flöze bester Gasflammkohle nur wenige Meter unter dem brüchigen Oberflächengestein. Die Förderwagen rollen im Sommer direkt auf die weit ausladenden Verladebrücken, um die Kohle in die Bunker der Dampfer zu kippen. Im Winter ruhte früher jede Arbeit. Doch da der Energiebedarf der Welt hungrig immer wieder nach neuem Kraftstoff schrie, arbeiteten nun die Kumpel aus allen Ländern auch im Winter, wenn wochenlang die Sonne nicht mehr sichtbar wurde und nur der bunte, flimmernde Schein der Nordlichter aus dem kalten Sternenglanz auf die eisgepanzerte Insel fiel. Nein, sie kennen keinen Winterschlaf, die Menschen dort oben. Im Hauptort von Svalbard, in Longyearbyen, strahlen die elektrischen Lampen vierundzwanzig Stunden hintereinander täglich auf die schneebedeckten Straßen und die hastende Menge. Einst war Longyearbyen nur eine kleine Robbenschlägerstation. 1957 zählte es bereits 2000 Einwohner, jetzt war es ein ansehnliches Städtchen mit mehr als 10 000 Bewohnern geworden, und an den Lohnzahlungstagen strömten von den umliegenden Zechen noch 5000 lebenshungrige Kohlenhauer und schlepper herbei, um sich an dem Glanz der Polarstadt zu erfreuen. Eine Kleinstadt zwar nur, aber voller Lockung und Verführung. Die sieben Kinopaläste ließen ihre Leuchtschriften über die Fassaden zucken und versprachen zarte Sentimentalität, gierige Vamps, entrückende Abenteuerlichkeit oder befreiendes Gelächter. Aus den Musical-Halls drang der Lärm der synkopisierten Rhythmen. Vor den langen Bartischen -120-
drängten sich die Männer und schütteten die leuchtenden Gifttränke hinab, die ihnen von geschminkten Mädchen gereicht wurden. In den Seitengassen gab es manches verschwiegene Haus, wo den Sehnsüchtigen auch handfestere Genüsse geboten wurden, obgleich das die Stadtverwaltung nicht wahrhaben wollte. Sonst waren die Winter trist gewesen; denn die meisten Mädchen und Frauen begnügten sich mit der Beute eines Polarsommers und zogen fort, wenn die letzten Dampfer vor dem vordringenden Packeis die Sunde und Fjorde verließen. Doch in diesem Winter ging das heiße Leben weiter. Als Anfang Oktober die Schiffe von Hammerfest, die den Rücktransport durchführen sollten, die Bäreninsel passiert hatten, mußten sie umkehren. So weit stand bereits die mahlende Packeisgrenze, und jetzt um Weihnachten baute sich die haushohe Wand aus übereinandergeschobenen Eisschollen direkt vor den Lofoten und Vesteralen auf, 1000 Kilometer südlich von Longyearbyen; sie hielt die Mädchen und Frauen, die Saisongeschäftemacher und die abgelegten Kumpel fest auf dem Lande unter dem zuckenden Schein der roten, blauen und grünen Nordlichter. Und darum war das Leben in diesem Winter wilder und drängender denn je. Mochten die Männer trinken! Den Bommerlunder und den Whisky, den Gin und den schweren, süßen Wein aus Oporto gössen sie wie Wasser hinab. Nicht mehr konnten sie dazwischen einen Schluck kühlen Bieres nehmen; denn die Fässer mit dem Wintervorrat lagen in den Häfen von Hammerfest, Sörö und Tromsö fest, weil sich kein Dampfer mehr in die treibenden Schollen hinauswagte. Und Bier war keine lohnende Fracht für die Transportflugzeuge, die vom Festland immer wieder aufstiegen, um Güter aller Art über Longyearbyen abzuwerfen. Es fehlte manches bereits in der Stadt. »Mädels, seht so blaß aus!« knurrte der Barmann die drei Frauen an, die sich hinter dem spiegelnden Nickeltisch auf die hohen Stühle schwangen, -121-
um ihren Dienst anzutreten. »Legt mal ein bißchen Rouge auf! Haben die Kumpels sehr gern!« »Hast du Puder und Schminke?« fragte Chrissy. »Wir besitzen zusammen noch einen halben Lippenstift. Dann ist es vorbei mit dem lieblichen Herzmündchen, Junge. Augenbrauen? Na, ein schwarzer Kork tut es ja auch noch. Wollten ja längst schon in Oslo oder Stockholm oder Antwerpen sein. Und müssen nun hier in dem verdammten Smeerenborg sitzen! Zum Kotzen, Kinders!« »Schimpfe nicht, Chrissy!« erwiderte der Mann gemütlich und rieb weiter eifrig an den Nickelbeschlägen des langen Tisches. »Machst hier zehnmal mehr Geld als in dem knickrigen Stockholm. Den Kerlen brennen die Kronen in den Taschen. Nehmt sie ihnen ab, Mädchen! Kesses Wort und lockender Augenaufschlag, so 'ne süße Patschhand und den küßlichen Herzmund sanft verzogen, ist ja billig und bringt viel ein. Da, sie klopfen schon an die Läden. Seid ihr fertig? Kann ich aufmachen?« »Meinetwegen!« Die Sprecherin gähnte herzhaft und rückte sich einige Gläser zurecht. »Aber nicht länger als bis ein Uhr. Will heute noch ausgehen. Die ändern auch.« »Kino? Poussage?« wollte der Barkeeper wissen, »Quatsch! Ganz total ernste Sache! Lies' mal!« Sie schob ihm einen Handzettel zu und half ihm, den Inhalt zu entziffern. »Habt ihr an euer Seelenheil gedacht? Stehet nicht geschrieben: Es wird Heulen und Zähneklappem sein? Die Zeit ist gekommen. Das Eis wird über die Sünder kommen. Einst wird der letzte Mensch am Äquator erfrieren. Horcht auf und leset die Zeichen der Zeit. Sehet, sie kündigt sich an, die Verzweiflung. Darum kommet und vernehmet die große Trostbotschaft, die euch die Apostel der letzten Tage bringen. Broder Osborn spricht im Saal von Solveigsen am 23.12. früh 2 Uhr zu denen, die der Erweckung harren.« -122-
»Blödsinn!« brummte der Mann. »Seh' euch schon Limonade verkaufen und Traktätchen alten geteerten Bootsleuten in die Hand drücken. Ist jetzt vier Uhr... also bis um eins?... Gemacht! Aber, daß ihr mir bloß nicht fromm werdet und Barchenthosen anzieht! Das hebt nicht das Geschäft in dem verdammten Longyearbyen.« Dann schloß er die Doppeltüren auf und schaltete die strahlenden Neonröhren ein. Eine halbe Stunde später drängten sich die Gäste an dem langen Tisch und schrien mit ihren heiseren Stimmen nach den scharfen Getränken. Die Lohntänzerinnen fanden sich auch bald ein, ein Grammofon dudelte die Modetänze der vorjährigen Saison, und auf dem kleinen Parkett drängten sich die Paare. »Liegt verdammt was in der Luft!« versicherte mit dröhnendem Pathos ein alter Robbenschläger, der sich auf seinen Skiern vom Nordostland über die HinIopen-Straße mitten in der Polarnacht durchgekämpft hatte, weil ihn das Grauen der Einsamkeit gepackt hatte, als seine beiden Gefährten von einem Jagdgang nicht mehr zurückgekehrt waren, da sie die weiße Wüste gefressen hatte. »Klar, Kinners, liegt bestimmt was in der Luft! Das sagt euch Oluf Christiansson, der seine zwanzig Polarnächte hinter sich hat. Die Klappmützen, die wendigen Robben, können ihre Atemlöcher nicht mehr offen halten, und wenn sie noch soviel tausend Touren im Trichterkessel schwimmen. Die alten Walroßbullen sitzen jammernd an den Rissen im Packeis, und man kann sie direkt am Bart kraulen. Hinter mir jumpten zehne her, quer über die ga nze Hinlopenstraße, bis Sie wieder auf Fels kamen. Dann blieben sie hocken und jaulten wie läufige Hunde. Haltet euer Schießzeug fertig! Die Eisbären kommen!« »Nonsens, Mann!« behauptete ein bärtiger Maschinist von der Zeche Trollarodden. »Bin schon zehn Jahre hier bei Longyearbyen. Habe noch nie einen Eisbären gesehen. Die spleenigen Lords und die affigen Döllargirls haben schon vor -123-
zwanzig Jahren den letzten weißen Pelz abgeknallt.« »Ja, hier zwischen Südkap und VerIegen-Huk!« entgegnete der Seehundjäger. »Im Nordost-Land gab es auch nicht viele mehr. Aber droben auf Franz-Joseph-Land, von Graham Bell bis Alexandra, möchte ich dir nicht raten, ohne 'ne Knallröhre dich auch nur zehn Schritte von deinem Iglu wegzugetrauen. Die Burschen kommen. Über die Weiße Insel sind sie im Anmarsch. Luv Heydenthor und Lee Carlson, meine Fangboys, waren zwei feine Jungen! Gehen raus, um ein paar Walroßbullen zu killen. Nehmen Fanglanze und Pistole mit... und sind verschwunden, 'nen blutigen Stiefellappen und 'ne zerfetzte Fellmütze, das ist alles, was mir die beiden Jungs hinterlassen haben. Ruhen sanft im Bärenmagen. Im Neuschnee fand ich vor meinem Iglu tausend Bärenspuren. Die Bestien sind auf dem Anmarsch. Könnt mir's glauben, Männer, 'ne Woche noch, dann haben sie die Seals in der Hinlopenstraße verspeist, und dann rennen sie über die Firnfelder hier herüber, wo sie Futter wittern. Laßt euch beizeiten aus Tromsö Maschinengewehre kommen, um mit den Biestern fertig zu werden! Lacht nicht, Jungs! Euch sagt das einer, der den Norden kennt!« Aber er erbte nur ein stürmisches Hohngelächter. »Hast wohl den Kältetrill?« schrien sie ihm in das zernarbte Gesicht. »Junge, Junge! Stellt euch das mal vor: hier auf der Raatswingede 'ne Prozession von so netten Eisbären, immer in der Dreierkolonne rauf und runter bei elektrischer Beleuchtung! Mensch, werde Wochenschaureporter!« Der Robbenjäger kniff seine geschwollenen Augenlider zusammen. »Seid ja nur Multwürfe, Erdkrabbler, Finsterlinge!« knurrte er die Feixenden an. »Denkt an mich, wenn einmal ein roter, stinkender Rachen im weißen Haargestrüpp genau über eurer Kehle hängt, und ihr habt nichts in der Hand als den Knief, mit dem ihr Brot und Speck schneidet. Dreimal habe ich das erlebt, beim vierten Male fressen mich die Weißbären. Weiß ich ganz genau. Deshalb habe ich zehntausend Sealfelle -124-
liegenlassen und hocke arm wie Peer Gynt bei seinem Tode im Longyearbyen und warte auf das Jüngste Gericht. Chrissy, noch einen Dreistöckigen!« »Trink nicht, Bruder!« Der Robbenschläger sah verwundert auf. Ein blasser Mann im schwarzen Rock, der bis zum Kragen zugeknöpft war, stand vor ihm und legte seine feuchte Rechte auf die Hand, die eben wieder nach dem Weinglas voll Wacholderschnaps griff. »Komme heute noch in den Saal von Solveigsen und berichte den Irrenden, was dir deine Seele von den kommenden Tagen offenbart hat!« Oluf Christiansson riß seinen Arm zurück, als hätte er eine kalte, schleimige Schnecke berührt. »Laß' mich in Frieden, Broder Osborn! Wollt ihr wieder Seelen fangen in der gottverfluchten Finsternis?« Der Apostel der letzten Tage schlug seine Augen anklagend zu der Decke empor, von der Pappherzen, Holzlarven und alte vertretene Seemanns- und Bergstiefel im bunten Wechsel herabhingen, und sagte salbungsvoll: »Einst hattest du mir deine Seele anvertraut, und dann entrissen die Geilheit und der Trotz und der Alkohol sie mir wieder. Jetzt sendet die Hölle die weißen heulenden Hunde hinter dir her. Bereue und bekenne!« »Am Armloch kannst du mich küssen!« brüllte der Nordmann auf. »Die Norderkamps, eine feine Gesellschaft, hast du damals mit deinem Gebible gesprengt. Nachher mußten wir für die Blutsauger von der American-Company arbeiten. Für welchen Pool machst du denn jetzt in Erweckung?« Und er warf sein angetrunkenes Glas Gin mitten zwischen die Füße der Tanzenden und stelzte steifbeinig hinaus in die glitzernde Kälte der Polarnacht. Broder Osborn faltete seine langen, bleichen Hände, sah erst anklagend zum Himmel empor, schien darauf mit niedergeschlagenen Augen den Glanz seiner Lackstie fel zu bewundern und versicherte allen Anwesenden, die plötzlich still geworden waren: »Sehet, Brüder, wie die -125-
Bosheit die Wahrheit verkennt. Zwölf Apostel schwangen wir uns heute früh in die Donnermaschinen der Aero NorskeSvalbard, ließen uns von den trügerischen Fallschirmen über Longyearbyen aus den warmen Kabinen ziehen und stehen nun inmitten eurer Weltverlassenheit, um euch Trost und Erbauung zu bringen. Aber der Böse will unsere Mission nicht leiden. Brüder, Erweckte und Unerweckte, und auch ihr, Schwestern, um die raucht der Qualm der höllischen Gier... Wir haben den Ruf vernommen, und wir waren erschüttert über diese Botschaft, die zu uns kam. Hört: Man gibt ganz Svalbard auf, Spitzbergen und die Bäreninsel und Jan Mayen. Von dreißig Flugzeugen, die herüber nach Longyearbyen flogen, um euch mit dem zu versorgen, was ihr braucht, um unter den mörderischen Nordlichtern zu leben und zu werken, kehrten nur zehn wieder zurück. Die ändern zerschellten in den Eisstürmen und den dichten Nebeln, verloren Kur s und Richtung und stürzten zwischen die malmenden Schollen und Wände des Packeises, das in diesem Jahr schon bis Tromsö steht. Dreißigtausend Seelen gibt man auf. Nie wieder werdet ihr das Donnern der Motoren hören, der Kraftspender, die auf den zerbrechlichen Flügeln euch Freude und Lebenslust und des Daseins Annehmlichkeiten herbeitrugen. Man muß euch vergessen, weil euch keine Hilfe mehr blüht. Bis hinab zu den Nordlanden und den schwedischen Norbotten verlassen die Menschen Haus und Hof und flüchten nach dem Süden, um nicht vom Wintertod erwürgt zu werden. Ein deutscher Gelehrter, und die sind gründlich, hat verkündet, daß sich Eis und Kälte gegen die Erdenwürmer erheben werden und sie wegfegen von Svalbard, Island, Grönland, Labrador, Sibirien... und... nur Er weiß, wie weit er seine Boten schickt. Zu euch hat Er uns gesandt, Brüder! Vernehmet die Botschaft und folget ihr! Wer mehr wissen will, der komme nach Mittemacht zu Solveigsens Saal.« Ehe noch einer einen kräftigen Fluch hatte formen können, war der blasse Broder Osborn aus der Bar verschwunden. -126-
- 16 Vier Tage lang schon fegte der Oststurm über die Gletscher und Nunatakr Spitzbergens. In dicken Wolken trieb er feinnadligen Eisschnee in die Täler und häufte ihn zu riesigen Wehen an. Die hellen Lampen von Longyearbyen verloren ihren Schein in dem weißen Gewoge, das wirbelnd durch die Straßen trieb. Eisige Finsternis brütete über den Randbergen. Kein Mensch wagte sich in der bitteren Kälte aus den Wohnbaracken der Zechen in die Stadt. Wetterstationen verkündeten noch eine lange Frostperiode. 54 Grad minus hatte man am Neujahrsmorgen gemessen, und die Wetterstationen verkündeten noch eine lange Frostperiode. Der Jahresschlußabend war in Longyearbyen recht still verlaufen. Seit den Weihnachtstagen lag es wie eine würgende Hand um die Kehle eines jeden. Oluf Christianssons Nachricht von den nahenden Eisbären und die hysterischen Beschwörungen der Apostel von den letzten Tagen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Von Mund zu Mund waren die Gerüchte geeilt, waren übertrieben und verzerrt worden, schienen auch ihre Bestätigung dadurch gerunden zu haben, da wirklich seit einigen Tagen kein Postflugzeug mehr über Spitzbergen erschienen war. Das eisige Svalbard schien vergessen. Nur die Funkverbindungen bestanden noch; doch sie waren in der letzten Zeit durch gewaltige magnetische Stürme, die zugleich mit den Nordlichtem auftraten, so gestört, daß kaum eine Depesche unverstümmelt in Longyearbyen aufgenommen werden konnte. Guten Besuch hatten eigentlich nur noch die Erweckungsversammlungen der Apostel von den letzten Tagen. In der ewigen Nacht, bei der harten Arbeit und den Unbilden der arktischen Kälte ausgesetzt, trug jeder Mensch in sich eine unbestimmte Sehnsucht nach Erlösung und Tröstung. Am -127-
empfänglichsten für die verschwommene Mystik Broder Osborns und seiner Gefährten waren die Frauen, die hier oben an der Zone des ewigen Eises gestrandet waren. Ivar Bodde, der Resident in Longyearbyen, hatte den Stadtältesten Holger Lind und den Landesrat Jörgen Bork an diesem Neujahrsmorgen zu sich gebeten, um mit diesen beiden Vertretern der Staatsgewalt die notwendigen Maßnahmen zu besprechen. Bodde hatte gehofft, mit einem der letzten Dampfer nach Skandinavien zurückkehren zu können. Er hatte sich auf einen heiteren Winter in Oslo gefreut, vielleicht hätte ihm der Frühling gar eine fröhliche Reise nach der Riviera beschert, und nun saß er in der Nordnacht fest. Resident in Longyearbyen, das war ein Bewährungsposten, auf den mindestens die Beförderung zu einem Fylkerpräsidenten folgte. Zwei Winter hatte er zwischen den Eisströmen der Gletscher und den treibenden Schollen der Fjorde verbracht. Dieser dritte aber schien den kaum dreißigjährigen Mann entnervt zu haben. Der robuste Holger Lind, der eins der größten Schiff- und Fangausrüstungsgeschäfte in diesem hohen Norden leitete, legte wieder seinen Standpunkt dar: »Herr Bodde, so verzweifelt, wie Ihnen die Lage erscheint, ist sie nun wirklich nicht. Auch wenn wir keinen Nachschub aus Norge erhalten, können wir getrost auf den Tag warten, an dem das Eis wieder aufbricht.« »Wenn es uns noch einmal den Gefallen tut!« sagte der Resident. »Ist doch Naturgesetz!« erwiderte der Kaufmann. »Das ist nun mein dreißigster Winter in Longyearbyen. Haben schon kältere erlebt, Mann! Und spätestens im Juni liefen doch wieder die Nordlandfahrer ein.« »Nach Ihrer vorläufigen Schätzung müßten aber die Lebensmittel rationiert werden?« fragte der Beamte. »Selbstverständlich! Knapp werden die Frucht- und Gemüsekonserven und alle Genußmittel. War früher jahrelang auf einem Robbenschlägerboot. Sind manchmal zufrieden -128-
gewesen, wenn wir tranige Seals und widerlich stinkenden Bärenlabskau hatten. Männer | auf Svalbard halten das aus!« »Apropos Bären!« Der Resident lächelte verlegen. »Da sind doch auch tolle Geschichten im Umlauf.« Der Landesrat Jörgen Bork, er war der direkte Untergebene des Statthalters, ein Mann, der wegen seiner unverbesserlichen Trunksucht in den hohen Norden geschickt worden war, polterte los: »Mit der Fanglanze bin ich früher auf die Weißen losgegangen. Ein paar entschlossene Männer, und wir werden mit den Bestien fertig!« »Und woher nehmen wir die Fanglanzen?« fragte Holger Lind etwas spöttisch. »Von den Männern ganz zu schweigen! Haben Sie das Waffeninventar von Longyearbyen und den umliegenden Zechen zusammenstellen lassen?« »Ja... und ich bin schwer enttäuscht!« gestand der Resident. »Vogelflinten, kleinkalibrige Pistolen, Schrotbüchsen mehr als genügend. Aber Bärenrohre oder Gewehre mit hoher Rasanz ganze drei Stück mit kaum hundert Schuß. Mir bangt etwas vor der Invasion der Eisbären.« »Und eure Maschinenpistolen?« Lind wurde zornrot und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Zwei vorhanden mit vier Magazinen!« sagte achselzuckend der elegante Statthalter und betrachtete aufmerksam seine gepflegten Fingernägel. »Dann hole euch der Teufel!« schrie der alte Nordmann. »Was will denn die Regierung machen, wenn die Kumpels in den FörderStollen wild werden, he? Und die machen Krawall, wenn erst die Bären an der Barackentür kratzen. Funken Sie die Heimat an, daß sofort schwere Jagdwaffen und Explosivkörper nach Longyearbyen mit den Aeros verfrachtet werden. Aber etwas flott! Sonst könnte es geschehen, daß die Sprengkapseln erst eintreffen, wenn sich auf dem Postplatz schon hundert halb verhungerte Bestien herumtreiben.« -129-
»Ein guter Vorschlag!« stellte der Resident fest. »Ich rufe sofort Oskarfield, die Funkstation, an.« Er ließ sich verbinden und gab seine Anordnungen. Dann lauschte er eine Weile und warf verzweifelt den Hörer wieder in die Gabel. »Unmöglich, bester Lind! Vollkommen unmöglich! Die Funkstelle ist außer Betrieb. Die Antennenmasten sind vom Wirbelsturm umgestürzt, und der Dieselmotor streikt. Lager verschmort und Wech-| selstromaggregat in den Wicklungen durchgebrannt. Ein Pech kommt selten allein!« »Aber dreie nicht auf einmal!« fluchte der Nordmann. »Das sieht mir verdammt nach Sabotage aus. Wir müssen sofort raus nach Oskarfield, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Los, nicht gefackelt! Hier geht es um das ganze Leben auf Svalbard.« Er warf sich den kurzen Gehpelz über die Schultern, stülpte sich den Baschlik über den Kopf, griff nach der schweren Bärenbüchse, die er an den Garderobenständer gehängt hatte, und stürmte zur Tür. Draußen mußte er in der sturmdurchheulten Finsternis einige Minuten warten, ehe ihm die beiden ändern gefolgt waren. »Habe noch die Polizei angerufen!« entschuldigte der Landesrat das Zögern. »Gleich kommen sechs Mann von der Wache.« »Mit Flitzbogen und Tränengaspistolen!« höhnte Lind. »Laßt euch auslachen, Männer! Die alten Berginvaliden, die hier Staatsgewalt spielen, sind höchstens als Futter für die Eisbären gut, wenn wir ausrücken müssen. Entweder wir gehen sofort, oder ich verbarrikadiere mich in meinem Gehöft und überlasse Longyearbyen dem Hunger und den Bestien.« Er riß die Blende vom Akkustrahler. Weiß schäumten im Lichtkegel die quirlenden Eisnadeln, die in dem sturmgeschützten Winkel in sanftem Wirbel zur Erde sanken. Kaum sechs Meter weit drang der helle Schein durch den Schneefall. Hohl heulte über den niedrigen Dächern der kalte Oststurm. -130-
Gegen ihn warfen sich die drei Männer, als sie die Straßenecke umschritten hatten. Den Oberkörper weit nach vorn gebeugt, kämpften sich die drei hinaus in das Freie, um zwischen einigen Markierungsstangen den Weg zur Funkstation zu finden. Sonst brauchte man vielleicht zehn Minuten, um den flach geschliffenen Gesteinsrücken zu erreichen, auf dem sich die Sendemasten erhoben. Heute aber verging fast eine halbe Stunde, ehe die Männer vor dem Maschinenhaus standen. Grelles Licht fiel aus den schmalen Mauerschlitzen, als sich die drei Wanderer in dem Windschatten der dicken Bruchsteinwände bargen. Vergebens spähten sie hinauf zum Hügelkamm auf dem sich die Masten erheben sollten. Ihr Blick ertrank in den schwarzsilbernen Fluten der Eisnadeln, die ohne Unterbrechung aus dem finsteren Firmament herabsanken. Durch das Heulen des Sturmes drang plötzlich ein anderer Laut, der die Spähenden verwundert aufhorchen ließ. Bodde schrie dem alten Nordmann Lind ins Ohr: »Was jammert denn da so seltsam?« Der gab keine Antwort, sondern ließ den Gewehrkolben seiner Bärenbüchse gegen die Eingangstür trommeln: »Aufmachen! Himmel und Hölle, aufmachen! Schlaft ihr denn auf beiden Ohren?« Er drängte den erschrockenen Landesrat und den Residenten in den Türbogen, riß sich die Handschuhe von den frostklammen Händen und kauerte sich hinter der Mauerecke nieder. »Schlagt die Tür ein! Sie kommen! Verflucht, ich habe nur noch zehn Patronen!... Da...!« Dumpf krachte die schwere Büchse. Im grellen Feuerstrahl sahen die Männer einen rot glänzenden Rachen mit langen gelb blinkenden Zahnen aus dem Schneetreiben auftauchen und sogleich wieder verschwinden. Ein Brüllen übertönte das Brausen des Eissturmes und fand tausendfaches Echo in der weißen Wüste. Da öffnete sich endlich die schwere Tür, und die Männer fielen beinahe übereinander, so drängten sie sich an dem verdutzten Maschinisten vorbei in den Türgang. -131-
»Abschließen! Verrammeln!« brüllte Lind. »Sie sind da, die Bären!« Er schob eine neue Patrone in das Gewehr und lauschte aufmerksam. »Mindestens hundert Bestien! Verhungerte, verzweifelte Kreaturen. Ich mußte zu schnell schießen. Der Bär ist nur verwundet und jetzt rasend vor Schmerzen und Freßgier. Da...!« Ein dumpfer Schlag an der Tür. »Krampen vor! Sperrbalken her! Sind die Fenster gesichert?« »Alle vergittert!« erklärte der Maschinist. »Was ist denn da draußen los?« »Die Hölle, Mann! Oluf Christiansson hat sich nicht getäuscht. Wo sind der Telegrafist und sein Assistent?« »Draußen an den Masten. Wollen eine Notantenne ziehen.« »Dann sei Gott ihren Seelen gnädig! Gibt es dort einen Zufluchtsort?« »Die Wellblechhütte am Mastsockel.« »Hoffentlich haben sie sie erreicht. Da... Verdammt!« Der Hall eines Pistolenschusses drang zu den Lauschenden herüber. Noch einer. Sie zählten... »Sieben Schuß! Das erste Magazin ist verschossen. Und nun das zweite... Sie müssen Schutz gefunden haben. Läuft gar keine Maschine mehr? Wir müssen den armen Burschen doch helfen!« »Die Hilfsaggregate habe ich instand gesetzt«, stotterte der Maschinist. »Dann vollen Strom liefern. Wo steht der Scheinwerfer?« Holger Lind sprang in den Maschinenraum und hastete die Treppe empor zu der Galerie mit den Schalttafeln. »Hier auf dem Balkon?... Schalte mir das Biest ein, und dann gib vollen Strom! Vielleicht lassen sich die Bestien blenden.« Er ließ sich kurz die Handhabung des Leuchtgerätes erklären und befahl dann: »Also nun Druck auf die Maschine! Der Sturm läßt nach... Sie scheinen noch zu leben. Das dritte Magazin -132-
knallt eben. Bodde, rufen Sie alle Nummern in Longyearbyen an und warnen Sie die Stadtbewohner. Können Sie schießen. Bork? Mäßig, was? Dann übernehmen Sie das Lichtspieltheater hier.« Grell stach der strahlende Kegel des Scheinwerfers durch das Eisnadelgeriesel und suchte den Hü gelkamm ab, der hinter der Sendestation lag. In verschwommenen Konturen zeichneten sich die Maststümpfe ab. Ein kleiner schwarzer Würfel in dem eintönigen Weiß, das mußte die Wellblechhütte sein. Gegen sie schien der Schnee in Wellen anzustürmen. »Die Bären - das sind ja Hunderte!« Der Landesrat sah es ab und zu rot aufleuchten. Heißer Nebelhauch wölkte aus purpurnen Rachen. »Sie haben Blut geleckt, die Bestien. Aber sie schießen ja noch... nein, einer nur.« Lind wies auf einen dunklen Heck etwa 20 Meter vor der Hütte. »Ein zerrissener Mantel... Sie balgen sich darum. Ruhig Licht jetzt!« Er riß den Kolben an die Wange und zielte. Dumpf krachte der Schuß. Eine weiße Masse überschlug sich, und mit einem bestialischen Geheul stürzten sich die Tiere in das schützende Dunkel, das um den angestrahlten Kreis lag. »Nach links weitergehen! Eisbären sind kluge Tiere. Vielleicht können wir sie abdrängen, wenn sie erst begriffen haben, daß im grellen Licht der Tod lauert. Ich muß mir die Führer heraussuchen.« Kaum dreißig Meter von dem Gebäude ab hatte sich ein riesiger Polarbär auf die Hinterbeine aufgerichtet und schlug grimmig schnaubend mit beiden Pranken in die Strahlen des Scheinwerfers. Das Explosivgeschoß riß ihm die linke Brustseite auf. Mit einem schmerzvollen Brummen sank er zusammen, und rot färbte sich um ihn der Schnee. »Sieben Schuß noch!« sagte tief aufatmend der alte Nordmann. »Keiner darf daneben gehen!« »Und dann?« wollte Bork wissen. -133-
»Dann müssen der Landesrat und der Resident mit den Eisbären verhandeln!« spottete Lind. »Halt, ein neues Ziel!« Und wieder krachte ein Schuß. »Knallen Sie mit Ihrem Revolver dazwischen, auch wenn die Tiere nur am Hinterschinken angekratzt werden. Der Schock beginnt schon!« Und er wies auf eine Horde hinab, die unruhig im Kreise herumraste, als könne sie sich nicht mehr aus dem Lichtkegel lösen. Plötzlich setzte sich die ganze Menge in Bewegung, und in rasendem Paßgang hetzten die Tiere den Hang hinab. »Genau Richtung Longyearbyen!« knurrte Lind, der alte Nordmann. »Hoffentlich hat der Alarm gewirkt. Dann werden sie warm empfangen. He, Herr Bodde, ist die Stadt von der Gefahr unterrichtet?« »Teilweise! Die meisten scheinen zu schlafen. Doch die Polizei wird auf dem Posten sein.« »Um den Verkehr zu regeln!« lachte Lind. »Da, sie sind abgezogen. Der Telegrafist wagt den rettenden Sprung.« Eine dunkle Gestalt rannte den Hügel hinab, verhielt einen Augenblick bei dem zerfetzten Pelzmantel und stürmte dann auf den Eingang zu. Sie fingen den Taumelnden an der schnell geöffneten Tür auf. Er konnte zuerst kein Wort sagen. Seine linke Wange war von einem Prankenhieb aufgerissen. Die Pistole hielt er noch in der Rechten. »Sendestrom! Sendestrom!« stöhnte er endlich. »Notantenne gespannt! Ruft Hilfe herbei! Hilfe, oder wir sterben wie Brögger Rund!« Dann sank er ohnmächtig zusammen. In der Bar, in der Chrissy mit dem Traktätchen, so hatten sie die Kumpel getauft, erste Maid war, herrschte an diesem Abend ein ganz flauer Betrieb. Oluf Christiansson, der alte Sealjäger, saß trübsinnig bei einem großen Glas Aquavit und sprach mit dem Barmann von diesem verdammt harten Winter in Svalbard. -134-
»Schenk nochmal voll, Chrissy!« bat er. »Wenn es wieder Sommer wird, hole ich die zehntausend Robbenfelle von meinem Fängplatz. Die Bären kriegen sie nicht. Ze hn Stunden lang habe ich Wasser über die Lagerlöcher gegossen. Vierzig Zoll zuverlässiges Eis! Da kommt keine Tatze und keine Schnauze durch. Außerdem habe ich bei Holger Lind noch eine nette Summe Kronen gut. Also schenke ein! Du wirst dein Geld schon bekommen.« Chrissy nickte gutmütig und goß ihm das Glas wieder voll. »Weil du es bist, Oluf! Und wenn die Bären hierherkommen, dann schützt du mich vor den Viechern, ja?« Der Sealer legte knurrend seine Hand auf den blanken Schaft des Halbzöllers und versiche rte: »Kannst dich darauf verlassen, Mädel! Nanu, so spät noch Gäste?« Es schrabbte an der Außentür, als suche eine unsichere Hand nach der Klinke. Dann flog mit grellem Knall der Flügel auf, und Scherben klirrten zu Boden. »Wohl stinkbesoffen, der Kerl!« schimpfte der Barmann. Doch der Robbenjäger hörte ein leises Schnaufen und ein drohendes Röcheln, das ihn an eine alte Gefahr erinnerte. Er griff nach seinem Bärentöter und schwang sich mit einem Satz über den Nickeltisch, so daß eine Serie Flaschen prasselnd vom Bord kippten. »Türmt! Alle! Sie sind da!« flüsterte er heiser. Die andern sahen ihn sprachlos an. Doch als sie dahin blickten, wohin seine ausgestreckte Rechte wies, schrien sie erschrocken auf. Eine spitz plumpe schwarze Schnauze, über der ein Gezo ttel von gelbweißen Haaren hing, schob sich durch den Spalt des dicken Friesvorhanges. Grün irisierende Augen blinzelten suchend in der ungewohnten Grelle. Ein roter Rachen öffnete sich, und mit einem heiseren Schnauben richtete sich der Polarbär auf, um auf seine Beute loszuwanken. Schmetternd hallte der Schuß in dem Barraum wider. Die Kugel aber hatte eine Linie zu hoch gesessen. Sie hatte nur die -135-
Augenwülste des Stirnbeins zertrümmert, ohne die Schädelhöhle aufzureißen. Zwar schleuderte die Gewalt des Kugelschlages den Bären zu Boden. Doch mit einem trommelfellsprengenden Schmerzgebrüll richtete er sich wieder auf, riß in seiner Wut den schweren Türvorhang in lange Streifen und taumelte auf das rote Leuchten der Barlampen zu. »Fort! In den Oberstock!« brüllte Christiansson den jammernden Frauen und dem ratlosen Barmann zu. »Den kriege ich noch. Aber er ist nicht allein!« Sorgsam legte er den langen Lauf auf die Nickelarmatur des Tisches, zielte ruhig und gab den zweiten Schuß ab. Der traf genau in den weit geöffneten Rachen. Der riesige Bär stürzte über die Tischplatte. Der Sealer verspürte noch den Anhauch des stinkigen Atems und wurde von einem warmen Blutbach übersprudelt. Doch nun mußte er auch an die Flucht denken. Zwei neue Bären schienen den Blutdunst gewittert zu haben und brachen durch die zertrümmerten Türen. Mit einem Sprung war der Schütze an der schmalen Schlupftür und warf sie hinter sich ins Schloß. »Her mit den Fässern, Kisten, Brettern!« brüllte er das entsetzte Barpersonal an. »Kein anderer Zugang zu dem Oberstock? Dann verrammeln wir den Weg. Sie werden die Bar total zerschlagen. Aber Menschenfleisch können sie nicht schmecken!« »Doch! Doch!« Chrissy fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. »Broder Osborn war mich heute nachmittag besuchen. Jetzt schläft er im Hinterzimmer. Er hatte einen Drink zuviel genommen. O Gott, was wird ihm geschehen?« »Der Apostel?« fragte Christiansson. »Recht geschieht ihm eigentlich, wenn ihn die Bestien fressen. Ein verdammter Gelegenheitsmacher ist der Kerl, aber immerhin ein Mensch. Laßt mich mal an die Guckscheibe!« Er stieß mit dem Gewehrlauf das Fenster ein und spähte in das Halbdunkel, das in den Barräumen herrschte. Die wütenden -136-
Bären hatten die Stehlampen umgerissen. Keuchend und schnappend leckten sie die dunklen Lachen auf, die, aus dem Blute ihres Artgenossen und den süßen und scharfen Schnäpsen der zertrümmerten Flaschenbatterien gemixt, auf dem Boden standen. Einige hatten die gewaltigen Reißzähne bereits in das langzottlige Fell des Erschossenen geschlagen und rissen dampfende Fleischstücke aus seinem Körper. Ein ganzes Knäuel der Bestien überrollte und überschlug sich in dem engen Raum. Nach einem lohnenden Ziel suchend, ging der lange Lauf der Bärenbüchse hin und her. Da öffnete sich plötzlich die Tür zum Hinterzimmer, in dem bei gutem Betrieb ab und zu eine der Barfrauen einen besonders zahlungsfähigen Gast unterhielt, und, eine Ginbuddel unter den Arm geklemmt, taumelte Broder Osborn, der Apostel der letzten Tage, zwischen den Türpfosten hin und her. »Spring! Osborne, spring!« schrie der Seehundjäger. Der Verkünder der großen Not schien sich trotz seiner Trunkenheit eine rasche Reaktionsfähigkeit erhalten zu haben. Mit einem Satz war er auf dem umgestürzten Bartisch, hatte er sich auch schon in dem Fensterrahmen des Guckloches festgekrallt. Ein Stemmschwung, und Christiansson konnte ihn unter die Achseln fassen und durch den engen Spalt ziehen. Nicht ganz ohne Schaden. Einer der plumpen Bären wagte einen Satz nach dem Hinterteil der Beute, die ihnen so plötzlich entzogen wurde, und die scharfen Krallen der Tatzen rissen die linke Wade auf. Jammernd hockte sich der Prediger auf die Stufen der Treppe, und mit beiden Händen schüttelte er den verletzten Unterschenkel, aus dem das Blut lief. »Spuck drauf!« knurrte ihn Oluf an.»... 'ne verlorene halbe Wade ist besser als ein verlorenes ganzes Leben, Mann Gottes. Chrissy, verbind' deinen Herzensfreund. Hoffentlich geht heute jedes Abenteuer in Longyearbyen ebenso gut aus wie das -137-
unseres Seelenweckers Osborn.« Das war freilich nicht so. Doch konnte der Resident am Ende der Bäreninvasion melden, daß nur verhältnismäßig wenig Menschenopfer in der Hauptstadt Svalbards zu beklagen seien. Von den Kohlenhauern in den Arbeitsbaracken außerhalb des Stadtbereiches sprach er freilich nicht. Diese Schreckensnachrichten wurden nur in den Sondersitzungen der Karbongesellschaften erörtert, und da an eine weitere Produktion nicht zu denken war, verschleuderte man die Kuxe und Abbaurechte für einen Pappenstiel an den, der noch einige Kronen, Pfunde oder Dollar in Svalbards Anthrazitlager hineinstecken wollte. A. B. Belcombe von der Pittsburg and Westem National machte nach Abschluß dieser Transfusionen ein sehr zufriedenes Gesicht und befahl seinem Privatsekretär: »Heft Spitzbergen ablegen. Was kommt nun dran?«
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- 17 An einem der vielen Seen des Oberspreegebirges, der sonst im Winter nur zur Eisgewinnung diente, war inzwischen die Versuchsanlage der Kraftgewinnung aus Kälte entstanden. Es war ein bitterkalter Februartag, als sich auf dem Prüffeld der seltsame Amerikaner Coinen und Professor Hegar trafen. »Die Maschinen werden heute bestimmt anlaufen!« sagte der Leiter des Aufklärungsfeldzugs. »Leider habe ich nicht die Presseleute einladen dürfen, die die Nachricht von dieser epochemachenden Erfindung der Welt verkünden sollten.« »Wiedensohl ist dagegen!« erwiderte der Gelehrte. »Er meint, es könne vielleicht doch ein Fehlschlag werden.« »Sie sind ein unverbesserlicher Pessimist!« schalt ihn Coinen aus. »Copper-Bill, Entschuldigung, ich meine natürlich Bill Twards, hat mich eingehend unterrichtet. Die Turbinen werden kreisen!« »Hoffen wir es! Ah, da ist ja Wiedensohl!« Er stapfte durch den hohen Schnee auf den Piloten zu, der vor der Tür einer langen Holzbaracke stand und den beid en Ankommenden zuwinkte. »Feine Minustemperatur!« begrüßte er Hegar und Coinen. »Glatt 20 Grad unter Null! Wir werden also unsere Hilfseismaschinen gar nicht brauchen. Haben Sie nicht Ihren Famulus Twards mitgebracht, Mister Coinen?« »Nein, der mußte in Berlin bleiben. Seine Braut ist gekommen, und die will sich von ihm das Spreestädtchen zeigen lassen.« »Merkwürdige Dienstauffassung!« brummte der Niedersachse. »Na, mir soll es recht sein. Also, nun eingetreten in das Heiligtum!« Sie durchschritten die Tür und standen vor einer wohl vier -139-
Meter hohen und über dreißig Meter langen seltsamen Maschinerie, an der einige Männer in blauen Monteurblusen oder weißen Technikerkitteln sich zu schaffen machten. Wiedensohl stellte vor: »Mein alter Studienkamerad Bretthorst, Diplomingenieur, der die konstruktive Durchführung der Barjotschen Ideen übernommen hat. Daß das Professor Hegar ist, brauche ich wohl nicht zu sagen... Und hier Mister Coinen, der sich an der finanziellen Seite der Sache interessiert zeigte. Die Hauptsache aber: Darf ich Sie mit dem jüngsten Kind der modernen Technik bekannt machen: die erste Kälteturbine der Welt!« Mit einer weit ausholenden Bewegung wies er auf die Maschinenelemente hin, die fast die ganze lange Halle füllten. Ingenieur Bretthorst übernahm die weiteren Erläuterungen. »Hier liegen zuerst nur einige Druckkessel; denn wir wollen die Turbinenleistungen zunächst einmal durch Preßluft prüfen. Daneben sehen Sie eine Lindesche Eismaschine, die die notwendige Kälte erzeugen sollte, falls uns die bittere Winterluft im Stich gelassen hätte. Die werden wir heute nicht anschalten, da uns das Gefrierfeld am See mit der genügenden Menge von Laugeneis versorgen wird. Dieses Rohr führt hinaus in das Seewasser. Sehen Sie, es ist etwa null Grad kalt und kann durch diese Pumpe in den Verdampfer gedrückt werden.« Er wies auf einen sorgsam gegen Wärme isolierten Kessel hin, öffnete ein seitliches Mannloch und ließ eine Lampe aufblinken. »Hier hinein wird dann das Butan gefüllt. Das einströmende Wasser verdampft sofort den satten Kohlenwasserstoff, gefriert aber durch die Wärmeabgabe selbst und wird durch dieses Becherwerk wieder aus dem Verdampfer herausgehoben.« »Halt!« bat Hegar. »Kann denn dann der nötige Dampfdruck erzeugt werden, wenn das Becherwerk arbeitet?« »Selbstverständlich! Wir haben einen hydraulischen -140-
Verschluß konstruiert, der uns bei dieser Versuchsanlage Drücke bis zu 20 Atmosphären gestattet. Bei einer Großanlage aber können wir ruhig 80 oder 100 Atmosphären bändigen. Durch jene Speichertrichter gelangt der hochgespannte Butandampf in die Turbinen und strömt, nachdem er seine Energie abgegeben hat, hinauf in den Kondensator, der mit gefrorener Lauge gefüllt ist. Wir haben den Verdichter bereits beschickt. Sie können an diesem Elektrothermometer ablesen, daß in ihm eine Temperatur von 22 Grad Kälte herrscht. Hier verflüssigt sich das Butan wieder, wird in dem eingebauten Scheideturm von der geschmolzenen Lauge getrennt, ein einfacher Vorgang, da Butan wesentlich leichter als Wasser oder Eis ist. Durch jene Röhren wird das flüssige Butan wieder in den Verdampfer gepumpt, und der Kreislauf beginnt aufs neue.« »Und Sie meinen, daß die Maschine laufen wird?« fragte Hegar etwas unsicher. »Selbstverständlich! Denken Sie an Diesel. Der hatte nichts anderes als eine Idee, und er brachte damit seinen Motor zustande. Hier aber handelt es sich um die Durchführung einer bereits ausgearbeiteten Planung. Fertig alle? Dann können wir mit den Versuchen beginnen!« Er nahm hinter einem Schalttisch Platz und drückte, während die ändern hinter ihn traten, einen Hebel. Sofort begannen die Turbinen mit hohem singendem Ton zu kreisen. Während er das Ansteigen eines blauen Zeigers auf dem Meßgerät beobachtete, setzte er seine Erläuterungen fort. »Ich habe jetzt die Preßluft, genau 20 Atmosphären, in die Schaufelräder der Turbinen gehetzt. Sie treiben einen Turbogenerator. Da, die errechnete Nutzkraft ist erreicht. Der Zeiger steht fast still. Überzeugen Sie sich! Gute 366 Kilowatt leistet das Maschinenaggregat.« Eine Viertelstunde lang ließ er die Turbinen rasen. Dann schaltete er die Druckluft ab, und mit seinen Hilfskräften unterzog er alle Einzelheiten der Maschinenanlage einer genauen Prüfung. Erst als er selbst jeden Teil kontrolliert hatte, -141-
nahm er wieder hinter dem Schalttisch Platz. »So, jetzt werden wir gleich sehen, ob wir richtig gerechnet haben! Ich lasse das Butan in den Verdampfer einströmen, und zugleich beschicke ich ihn mit Seewasser!« Zwei blaue Hebel riß er herunter in die Ein-Stellung. Ein grelles Zischen ertönte, als würde glühendes Eisen mit Wasser begossen. Der Zeiger des Manometers stieg rasch bis zur 20. Dann gab ein neuer Hebeldruck dem hochgespannten Butandampf den Weg in die Treibräder der hintereinandergeschalteten Turbinen frei. Sie sangen erst tief und leise, dann immer höher und lauter. Die Kraftmesser stoppten endlich ihre Zeiger bei der Zahl 366. »Derselbe Nutzeffekt dieser kleinen Anlage!« erklärte Bretthorst. »Fast 500 Pferdestärken holen wir schon aus dieser Miniaturmaschine heraus. Etwa 50 werden wir zum Betrieb der Schlepprechen, Pumpen, Becherwerke verbrauchen. Es verbleiben also direkt nutzbar 450 PS oder, in Kilowatt ausgedrückt, rund 330. Wieviel Leistung soll Ihr Riesenwerk haben, Herr Professor?« »Einhundert Millionen Kilowatt!« sagt e Hegar etwas bang. Bretthorst nickte eifrig mit dem Kopf. »Dann werden wir einige Kältekraftwerke bauen müssen. Zehn, meine ich!« »Und Sie halten das für möglich?« »Selbstverständlich! Hauptsache, Sie mobilisieren das Geld. Denn die Baukosten im hohen Norden werden nicht gering zu schätzen, sein.« »Das wird meine Sorge werden!« erklärte Coinen wichtig. »Könnten Sie mir aber vielleicht einige Kalkulationsgrundlagen geben?« »Schwer! Ich schätze die Kilowattnennleistung etwa auf 100 Mark Baukosten. Das ist nicht viel. Wasserkraftwerke fordern -142-
manchmal 600 oder 800 Mark. Immerhin würden die Kältekraftwerke nominell einen reinen Anlagewert von 10 Milliarden erfordern.« »Und das erste?« fragte Coinen schnell. »Rechnen wir mit rund einer Milliarde!« »Das ist zu schaffen! Wir werden auch die Initiative der Staaten wecken, und mittels ihrer Unterstützung muß es eine Kleinigkeit sein, diese Summe zu mobilisieren. Mister Bretthorst, machen Sie sich sofort an die konstruktive Durcharbeitung der Pläne für das große Werk am Kap Gefahr auf dieser Insel mit dem unaussprechliehen Namen.« »Ich weiß, Nowaja Semlja! Doch vorerst wollen wir das Versuchswerk einmal mindestens vierzehn Tage lang in Betrieb halten. Nach dieser Frist will ich Ihnen dann eine eingehende abschließende Begutachtung vorlegen. Dann können Sie meinetwegen auch die Presse alarmieren. Aber keinesfalls vorher!« Sie besichtigten dann noch die Gefrierbecken, in der die flüssige Lauge wieder der gewaltigen Kälte ausgesetzt wurde, um dann in seinen Eisschuppen, vo n Schlepprechen gesammelt, durch ein Becherwerk in den Kondensator gehoben zu werden. Hegar wollte Bretthorst und Wiedensohl zu einer kleinen Feier nach dem märkischen Marktflecken, der in der Nähe des Sees lag, einladen. Doch beide erklärten: »Ausgeschlossen! Schicken Sie uns eine gute Buddel hier raus. Können ruhig ein paar sein; denn die Monteure haben ihr gutes Teil auch zum Gelingen beigetragen. In diesen vierzehn Tagen schlafen wir sogar hier in der Maschinenhalle. Wir wollen die Butanturbinen auf Herz und Nieren prüfen, ehe wir wieder des Lebens heitere Freuden genießen.« Die Dämmerung sank bereits über den kleinen See, als Hegar und Coinen die Versuchsanlage verließen. »Tüchtige Leute!« sagte der Amerikaner anerkennend. -143-
»Bretthorst und Wiedensohl! Die beiden Namen werde ich mir merken müssen.« Copper-Bill knurrte ärgerlich etwas von »ewiger Hast«, und Ethelrid Quansson hetzte direkt gegen ihren früheren Chef, als der Mann aus dem Nordwestterritorium dringend aufgefordert wurde, sofort bei Coinen in seinem Hotel vorzusprechen. Sie hatten beide vorgehabt, einen ausgiebigen Nachtbummel zu unternehmen, und nun drohte es ein Abend voller Arbeit zu werden. »Ich komme einfach mit, Bill!« erklärte das Mädchen resolut. »Muß einmal dem Chief meinen Standpunkt klarmachen. Er verdient dicke Gelder, und dich speist er mit kleinen und kleinsten Lappen ab. Das Saphirarmband, wann wirst du es mir kaufen?« »Wenn Coinen wieder einen Tausender springen läßt. Massenhaft Geld frißt dieses alte Land, und der Chief knausert wie ein alter Schacherer in Bronx!« schimpfte Bill Twards. »Dabei bin ich es doch, der ihm die Informationen gibt.« »Werden ihm mal klaren Wein einschenken!« beharrte Ethelrid. Der Mann aber hatte Bedenken: »Er sieht es nicht gern, daß du hier bist. Hat mir einen großen Vortrag gehalten über Unzuverlässigkeit der Weiber und Klatschsucht und so. Ich werde allein gehen!« »Kommt gar nicht in Frage! Er muß mehr Dollar ausspucken, oder wir treten aus dem Unternehmen aus. Du hältst den Kopf hin und er streicht das Geld ein. Ein Narr bist du, Bill!« Der alte Waldläufer kratzte sich seine Borstenhaare: »Weißt du ein anderes, ebenso belegtes Brot, Kindchen? Vorläufig muß ich noch parieren, damit wir wieder zu Geld kommen. Abgemacht, Ethelrid! Um zehn Uhr bin ich in unserer Bar, und wir unternehmen dann den lustigen Trip.« Coinen sprach sofort erregt auf Copper-Bill ein, als dieser -144-
kaum das Hotelzimmer betreten hatte. »Bin nicht zufrieden mit euch!« blies er ihn an. »Was wißt ihr von der Turbinplant, die heute angelaufen ist, he? Glaube, ich habe mehr Ahnung, als mein Vertrauensmann, der da draußen lernen sollte, wie man am besten die gaze Maschine in Stücke gehen läßt.« »Kleine Dynamitladung in das Getriebe!« sagte Copper-Bill und grinste. »Was ist da schon Großes zu denken? Das hält die Turbine bestimmt nicht aus!« Coinen rang verzweifelt seine Hände: »Seid ein großer Narr, Bill! Dafür brauche ich euch doch nicht so schwer an der Sache zu betei-| ligen. Finde jeden Tag hundert Mann, die mit Bomben und Sprengladungen die Aggregate in die Luft jubeln. Damit ist uns gar nicht gedient. Hört einmal genau zu: Die Maschinerie muß versagen, stillstehen, ohne daß Gewalt angewendet wird. Ich habe da einen Plan! Bretthorst und Wiedensohl... Zunächst müßt ihr dicker Freund mit den beiden werden!« »Wird aber bannig Geld kosten!« meinte der Nordwestmann »Und Sie halten mich knapp!« »Ist nicht wahr! Nur die Ethelrid, dieses ausgekochte Frauenzimmer, beutelt dich aus wie einen zerrissenen Mehlsack. Doch hier sind fünftausend. Letzte Dollar hier in der Stadt. Und nun spitzt eure Ohren...!« Es war fast Mitternacht, als Bill Twards endlich in der Bar auftauchte. Das Mädchen wollte zuerst schelten, beruhigte sich aber schnell, als ihm ein ganzes Bündel Geldscheine in die Hand gedrückt wurde. Der Mann spannte dann seine harten Muskeln und erklärte: »Aber nur heute noch einen Bummel! Von morgen ab wird gearbeitet. Und der Chief ist ein Höllenhund, vor dem ich sogar Respekt bekommen habe. Ich suche mir keinen ändern Arbeitsplatz. Bei Coinen kann man noch allerlei lernen!«
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- 18 Renate Veith hielt ihre frostklammen Hände über die Röhren der Warmwasserheizung und stampfte mit beiden Füßen auf. »Das ist ja Ende März jeden Morgen noch eine wahre Hundekälte!« versicherte sie Bracke, der hinter dem großen Arbeitstisch saß und wieder bunte Kurven auf dicke Kartonblätter malte. »Keine Blüte getraut sich heraus. Der Garten macht mir wirklich keine Freude mehr.« »Ja, das Frühjahr kommt diesmal vierzehn Tage später, als es das hundertjährige Mittel für Handschuhsheim verlangt«, erwiderte der Assistent. »Wenn sich diese Erscheinung Jahr für Jahr wiederholt, dann dürfen endlich auch die dicksten Schädel davon überzeugt werden, daß Professor Hegar recht hat.« »Und was sagen die Beobachtungen?« fragte sie. »Sie bestätigen immer eindringlicher, daß die chemische Zersetzungskraft der Sonnenstrahlen wirksam ist. Eine glücklicherweise sehr langsame Verarmung der Atmosphäre an Kohlensäure ist nicht mehr wegzuleugnen.« »Dann wird sich also unseren Einsichten auch die gelehrte Welt nicht mehr länger verschließen!« stellte Renate fest. »Im Gegenteil! Man versucht, dieses Phänomen als rein jahreszeitlich bedingt zu erklären. Oder man gibt der Technik schuld, die immer weniger Kraft durch direkte Verbrennung des Kohlenstoffes gewinnt. Mindestens hundert Streitschriften gegen Hegars Theorien habe ich in diesem Winter mit Fleiß lesen müssen. Was gelten in diesem gewaltigen Papierrascheln die wenigen Zustimmungserklärungen, die bisher eingelaufen sind. Ich hoffe, daß die Ungläubigen von der Eigenart dieses Sommers belehrt werden, obgleich jetzt bereits die Tatsachen eine sehr klare Sprache reden.« »Und die wären?« -146-
»Die Packeisgrenze hat sich in der Arktis wesentlich nach Süden verlagert. Die Eisberge um die Antarktis schwimmen viel weiter nach Norden, als es sonst je der Fall gewesen ist. Vor Kapstadt sah man die Riesenblöcke in ganzen Rudeln treiben, und die Segelschiffspassage um Kap Hom mußte in der südlichen Hochsommerzeit, also im Januar, für einige Wochen aufgegeben werden. Die Stare haben England verlassen, um erst in Südfrankreidi zu überwintern. Der Schnepfenzug nach dem Norden hat überhaupt noch nicht eingesetzt. Die Störche scheinen in diesem Winter sogar Südafrika gemieden zu haben. Bis über das warme Seengebiet großen Grabens sind sie nicht vorgestoßen.« »Sie sprechen immerfort von Tieren. Sind diese denn klüger die Menschen?« wollte Renate wissen. »Wahrscheinlich! Aber leider können sie uns ihre angeborene Weisheit nicht durch Wort oder Schrift mitteilen. Wir müssen versuchen, ihre Handlungsweise zu deuten. Mir sind die Beobachtungen, die über ihr Verhalten in aller Welt gemacht werden, einleuchtendere Beweisstücke als die raffiniertesten Luftanalysen, die nun überall vorgenommen werden.« »Und bestätigen diese nicht auch unsere Meinung?« »Teils... teils!« sagte Bracke zögernd. »Es fehlt uns leider an vergleichbarem älteren Tatsachenmaterial. Der Beimischungsquotient der Kohlensäure in der Luft wurde viele Jahrzehnte lang als eine beinahe unveränderliche Größe betrachtet. Vielleicht hat es schon, immer Schwankungen gegeben, oder sie sind jahreszeitlich oder periodisch bedingt. Außerdem erhalten wir von ein und derselben Untersuchungsstelle häufig sehr verschiedene Resultate, heute ein unerwartetes Mehr, morgen ein überrasche ndes Weniger. Liegt daß nun an vulkanischen Einwirkungen oder an der Unzuverlässigkeit der Apparatur oder gar an der Unzulänglichkeit des Untersuchenden... wer wollte das von hier aus entscheiden. Meine Kurven, die ich säuberlich eintrage, -147-
bestätigen im wahrscheinlichen Mittel die Richtigkeit unserer Behauptungen; die nicht zu übersehenden Einzelheiten aber bestätigen manchmal die Meinung unserer Gegner.« »So kann die exakte Wissenschaft dieses Welträtsel nicht eindeutig erklären?« fragte Renate fast erschrocken. »Nein! Jedenfalls nicht absolut anschaulich. Wir Astrophysiker kennen genau den Begriff Unschärfebeziehung. Unsere Arbeit wird ein klassischer Beitrag zu diesem Problem sein.« »Und trotzdem will mein Onkel bereits seine praktischen Folgerungen realisieren?« »Das muß er tun! Der Bau des ersten Großwerkes am Kap Gefahr ist ja glücklich gesichert; freilich will es der interessierte Staat zunächst als die Kraftspenderin für die reichen Erzlager der Nordinsel erstehen lassen. Ich werde froh sein, wenn ich dieser drückenden Schreibtischarbeit entfliehen kann, um dort oben im ewigen Eis der richtige Mannesarbeit zu leisten.« »Und ich komme auch mit!« versicherte Renate. »Das werden Sie gefälligst sein lassen!« erwiderte der Assistent. »Ein Mädchen und dreitausend Männer! Sie haben hier meine Arbeit fortzusetzen. Bitte, wollen Sie nun endlich beginnen?« Und er zog einen Drehstuhl neben sich und erklärte ihr, welche Wertungspunkte festzulegen seien, damit schließlich eine schöne bunte Kurve auf dem Millimeterpapier erscheine. ««««« »»»»» Seit den ersten Apriltagen dieses späten Frühjahrs herrschte auf der Fischerhalbinsel im hohen Norden Europas eine rege Tätigkeit. Fast über Nacht war hier eine gewaltige Flugbasis entstanden. Wuchtige Schneefräser hatten ein Hochplateau reingefegt und ein ideales Rollfeld geschaffen. Keuchende Trecker und heulende Motorschlitten schleppten von den -148-
Endstationen der Eisenbahn riesige Lasten hinauf, und täglich wuchsen neue Baracken, Hangars, Depotschuppen und Ölzisternen aus dem frostharten Boden. Hier hatte jetzt Robert Wiedensohl das Kommando. Alle Tage flogen in weit gespannten Staffelkeilen die Aufklärer hinaus über die eiserstarrte Barentsee, um die Packeisverschiebungen genau aufzunehmen. Wenn auch die ersten Arbeitskolonnen und Materialtransporte auf dem Luftweg nach Kap Gefahr geschafft werden sollten, so mußte doch auch versucht werden, möglichst bald einen Weg für die großen Dampfer auszumachen, die erst die Hauptlasten nach Nowaja Semlja bringen würden. Eine Flotte der stärksten Eisbrecher der Welt stürmte bereits gegen die Packeismauern an, die gewöhnlich bis in den Hochsommer hinein die Karische Pforte verrammelten. Dynamitladungen und Bombenwürfe zerbröckelten von Tag zu Tag mehr die Wintersperren, und durch die breiten Risse in den Treibeisfeldem wagten sich schon manche Transporter, um so früh wie möglich in das Karische Meer vorzustoßen. Noch ehe sich wieder die arktische Nacht über die einsamen Felsenschründe der Nordinsel von Nowaja Semlja senken würde, sollte das Kraftwerk anlaufen. Arbeitswerber in aller Welt suchten Steinhauer, Betoneure, Maurer, Zimmerleute, Sprengmeister, Treckerführer, Kranleiter, Monteure, Elektriker, Nieter und Kolonnenleiter. Am Kap Gefahr arbeiteten bereits die Vermessungsingenieure mit ihren Hilfsarbeitern und steckten die Straßen der Arbeiterstadt und die Grundrisse der riesigen Maschinenhallen ab. Heute sollten die ersten Arbeitskolonnen mit schwerem Bohrund Abbaugerät den weiten Sprung über die mehr als tausend Kilometer breite, vereiste See wagen. Wiedensohl leitete die Verstauungsarbeiten selbst. Er strich auf einem Berichtsblatt die als vollendet gemeldeten Beladungen ab: »Gruppe Flugplatzbau fertig zum Start!... Gruppe Barackenbau verladen!... Bohrkolonne einsatzbereit!... Siebzehn Transporter -149-
mit Proviant und Ausrüstung klar!« Erst als die letzte Zeile ihren roten Haken trug, gab er den Abflug frei. Dreimal leuchtete vom Kommandoturm ein grellgrünes Licht auf, und die Motoren begannen ihren donnernden Gesang. Gemächlich schritt Wiedensohl über die Rollbahn zu seiner Maschine und schwang sich in die Kabine. Bill Twards räkelte sich am Kartentisch; die beiden Piloten prüften eben zum letztenmal die Apparaturen auf dem Armaturenbrett und gaben endlich Vollgas. Der Niedersachse zog die Haube mit den Funkhörern über den Kopf und ließ die Finger auf dem Summer spielen, um die ersten Befehle zu geben. Flugzeug auf Flugzeug startete nach Nordosten. »Wird das nicht Bruch geben, wenn wir alle zu gleicher Zeit über Kap Gefahr hängen?« fragte Bill Twards. »Keine Sorge! Die Maschinen haben verschiedene Geschwindigkeiten. Wir werden die 1100 Kilometer in zwei Stunden schaffen, die schweren Transporter erst in drei, manche gar erst in vier. Hoffentlich gibt es über der Nordinsel keinen Nebel.« »Mensche n auf der Insel?« wollte nach einiger Zeit Twards wissen. »Einheimisch nur ein paar hundert Samojeden, die aber im Winter meist nach dem Festland ziehen. Wir haben mehrere Tausend angeworben, die sicher jetzt schon auf dem Treck nach der Nordinsel sind. Es sind Fischer, Jäger und Rentierzüchter.« »So 'ne Art Eskimos also!« stellte Twards fest. »Übles Pack, zu nichts nütze! Unsere Pelzjäger im Nordwestterritorium werden mit den Burschen leicht fertig.« Und er ahmte mit der Rechten die Bewegung des Pistolenziehens und des Schießens von der Hüfte aus nach. »Der Export dieser Sitten verbietet sich von selbst!« erwiderte , Wiedensohl bestimmt. »Wir werden die Nenez, so nennen sie -150-
sich selbst, dringend brauchen, falls einmal der Lebensmittelnachschub ins Stocken gerät. Außer ihnen leben auf der Nordinsel nur einige Forscher mit ihren Hilfskräften auf den Polarstationen Matotschkin Schar und Schelanje. Femer sind eine Reihe von Prospektoren tätig, um die genaue Lage der großen Kupferfelder und Platinvorkommen auszumachen.« »Platin und Kupfer? Hm, das wird Mister Coinen freuen!« bemerkte der andere. Wiedensohl wurde aufmerksam. »Was gehen diese Erzvorkommen euren Chef an?« fragte er. »Die sind staatlicher Besitz, und allein ihrer Ausbeutung wegen wagt es der Eigner, den Versuch mit einem Kältekraftwerk zu unternehmen.« »Oh, Coinen interessiert alles!« grinste Twards. Mehr sagte er nicht. Die vorausgesandten Aufklärer meldeten eine breite Wolkenbank zwischen 40 und 50 Grad Ost. Sie empfahlen entweder Tiefflug unter 100 Meter oder Aufstieg auf 2000. Wiedensohl entschloß sich zu letzterem. Er funkte die Leitflugzeuge der einzelnen Staffeln an und gab ihnen die Kursüberhöhung bekannt. »Richtung direkt Matotschkin Schar! Nach Meldung der Polarstation herrscht dort Sonnensche in. Wir können also bequem die Gebirge umfliegen.« Nach zwei Stunden war der Meeresarm, der die Nord- von der Südinsel trennte, umflogen. An der Ostküste des vereisten Landes entlang steuerten sie jetzt nach Norden. Die Eisfelder des Karischen Meeres hatten sich zu hohen Mauern an den Gletscherabbrüchen und Felskanten getürmt. Der Pilot freute sich: »Ein geradezu ideales Gelände für eine ganze Reihe von Kältekraftwerken! Uns wird in dieser Gegend unser Treibstoff, die Kälte, nie ausgehen.« »Wenn ihr Mensche n findet, die es hier aushalten!« brummte Twards. »Mehr als genug!« behauptete der Niedersachse. »Wirkliche -151-
Entbehrungen werden wir nur während der Bauzeit zu tragen haben. Nach der Fertigstellung stehen den Maschinenwärtern und Ingenieuren alle Annehmlichkeiten eines kulturreichen Lebens zur Verfügung.« »Und die Weiber?« fragte der Nordwestmann. »Laßt euch sagen, Mann, daß die Langhaarigen und Kurzbeinigen eine verdammt ernste Notwendigkeit im rauhen Nordleben immer gewesen sind. Habe alte Prospektoren und wilde Jagdmänner gekannt, die zweitausend Kilometer vom Great Bear Lake bis nach Mac Murray geflogen sind, um bloß wieder einmal den Duft einer Frau zu verspüren. Schafft beizeiten Weiber für Kap Gefahr!« »Nein!« erklärte der Deutsche bestimmt. »Wir von der Bauleitung haben übrigens genug Angebote in dieser Hinsicht erhalten. Ihr Chef, Mister Coinen, war dafür; aber Professor Hegar und Bretthorst haben das mit aller Entschiedenheit abgelehnt. Wenn erst die Maschinen laufen und dieser vereisten Landschaft Wärme Licht schenken, werden wir nichts dagegen einzuwenden haben, verheiratete Leute ihre Frauen hinauf in das Polargebiet mit men. Es gibt auch tapfere Kerle im weiblichen Geschlecht.« »Und die dreitausend Workers jetzt?« Bill Twards grinste zynisch. »Laßt euch belehren, Wiedensohl! Meine Arbeitskolonne bringt jedenfalls Mädchen mit. Das habe ich den Burschen aus dem Nordwesten zugestehen müssen. Sonst hätte ich keine Hand für Kap Gefahr anwerben können.« »Dann nehmt euch nur in acht, daß die Missis nicht gleich der umkehren müssen!« erwiderte Wiedensohl trocken. «Lagerkommandant bin ich! Und unsere Gesetze sind ehern. Da gibt es keine Ausnahme!« Scharf zeichnete sich unten ein dunkler Felskegel in dem ewigen Weiß der Landschaft ab. »Das Ferne Kap!« erläuterte der Pilot dem Amerikaner die Karte. »Noch hundert Kilometer, -152-
dann sind wir am Ziel. Sie machen ja so ein unglückseliges Gesicht?« »Fängt ja gut an, das Unternehmen«, brummte Tward. »Für die Workers, na, meinetwegen, laßt sie auf euren ehernen Gesetzen sanft ruhen. Aber für uns, für die Leitung, wird es doch Ausnahmen geben?« »Ausgeschlossen!« erwiderte Wiedensohl fest. »Was wir von jedem einfachen Arbeitsmann verlangen, das haben wir ihnen vorzuleben. Oder wollen Sie alter Nordmann etwa behaupten, daß Sie sechs Monate lang nicht auf die Frau verzichten können?« »Ich sage gar nichts! Aber was Ethelrid Quansson dazu für eine Meinung haben wird...« Dann schwieg er nachdenklich und wachte aus seinen Träumen erst auf, als sich der plumpe Felsblock Kap Gefahr aus der Kimmung hob. »Unser Ziel!« Wiedensohls Rechte arbeitete eifrig auf der Summertaste. »Ich melde uns an. Da... die Rauchraketen! Sie erwarten uns schon. Vorsichtig zur Landung ansetzen! Der Schnee kann sehr tückisch werden, und ich möchte als erste Maschine nicht gleich Bruch machen. Landeklappen ab! Langsam ausschweben! Hoppla, die Erde hat uns wieder!« Genau auf dem bereits ausgelegten Landekreuz stand die Maschine. Einige Männer eilten herbei und halfen den Ankommenden beim Aussteigen. Zwischen einer tief in das Land einschneidenden Bucht und den hohen Felswänden des Kaps breitete sich eine weite Ebene aus. »Ein fast idealer Flugplatz!« stellte der Pilot fest. »Nur der Schnee muß weg! Unsere chemische Kolonne wird es bald geschafft haben.« Dann fragte er: »Und wo soll das Kraftwerk stehen?« Die Leute der Vorkolonne wiesen auf einen hohen Felsabbruch hin, der mit einer Flanke direkt das vereiste Meer berührte. »Dort, Herr Wiedensohl! Das Packeis liegt in der -153-
Bucht absolut fest, angeblich das ganze Jahr lang. Jenseits des Felsgrates mündet ein riesiger Gletscher, der Oltenu Nenez Baba, in das Meer. Ein Stollen von 2000 Meter Länge kann das Kraftwerk mit den Eisfeldern des Gletschers verbinden, damit auch im Sommer keine Stockung in der Stromerzeugung eintritt.« »Wer hat die Planung entworfen?« wollte er wissen. »Ingenieur Weise! Da kommt er bereits! Wann geht es hier los?« »Heute schon! Morgen, Herr Weise! Freue mich, Sie gesund wiederzusehen! Ich besichtige dann Ihre Planung; muß jetzt an die Funkstelle, um der chemischen Kolonne die nötigen Befehle zu geben. Wie hoch liegt der Schnee hier auf dem Landeplatz?« »Locker etwa einen Meter. Darunter sehr zuverlässiger Harsch. So tief müssen die Schneefräser die Decke abheben.« »Nein, machen wir ganz anders! Alle Mann fort aus dem abgesteckten Bezirk! Rote Gefahrfahnen nach Anweisung gesteckt? Ja? Dann kann ich meine Anordnungen geben!« Er stapfte hinüber zum Funkzelt, das zum Schutz gegen die Kälte hoch mit Schnee beworfen war. Twards blieb beim Flugzeug und überwachte den Abtransport aus der Landeplatzzone. Wiedensohl diktierte inzwischen seine Anweisungen. »Befehl an Kennzeichen GFB. Kap Gefahr, Windstärke 2 höchstens. Daher Absprühen von größerer Höhe möglich. Einfliegen in breiten Staffelkeilen. Brandgut ge nau auf durch rote Warnflaggen gekennzeichnetes Gebiet verteilen. Viermaliger Überflug notwendig. Kleinste Geschwindigkeiten. Ansteuern von Nord! Weisung wiederholen!« Nach einer Weile schob ihm der Funker die Antwortmeldung zu. »Alles klar verstanden! Gebe wieder Leitzeichen!« Der Pilot trat ins Freie. Tward traf er am Meeresstrand. -154-
Mißmutig stolperte er über die Eisblöcke und Felstrümmer, griff sich ab und zu einen Bruchstein heraus und beäugte ihn kritisch. »Tauber Quarz!« versicherte er und umzog das ga nze Gebiet mit einer verachtungsvollen Armbewegung. »Wo sollen da Copper und Platin herkommen? Wohl nur Finte für Nichtkenner?« »Nein, Mister Tward! Die Lager liegen nicht hier am Strand, sondern weiter oben in den Bergen. Es fehlt nur die Elektrizität, die Kraft und Wärme spendet, um wahrscheinlich hier das wahrzumachen, was ihr da drüben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten am Coppermine- River bisher versäumt habt. Doch die Maschinen tauchen schon auf. Nun werden Sie einmal sehen, was wir können!« In vier Staffeln geordnet brausten die Flugzeuge über den kahlen Kamm des Bergzugs hinweg und schossen bis zum jenseitigen Talhang. Dort wendeten sie und näherten sich wieder in langsamstem Marschflug dem abgesteckten Landeplatz. Kaum hundert Meter hoch hingen sie noch über dem Gelände. Da begannen sich graue Schleier von den Tragflächen herabzusenken. Am andern Ende des Flugplatzes kurvten die Maschinen wieder und kehrten dann zum zweitenmal zurück. Immer mehr der seltsamen grauen Masse sinterte auf dem Schnee zu einer dicken Schale zusammen. Nach dem vierten Überflug hoben sich die Flugzeuge und schienen über dem Kap Gefahr Sperre zu fliegen. Wiedensohl schritt einige Meter weit in das abgesteckte Gebiet hinein und prüfte die Höhe der abgesprühten sandartigen Substanz. Dann trat er zurück und holte aus seiner Tasche einige Leichtmetallröhren hervor. »Tausalz?« fragte ihn der Amerikaner. »Man könnte es so nennen!« entgegnete der Pilot. »Aber eins von einer ganz besonderen Wirkungsart. Wollen da mal auf dem Felsvorsprung Platz nehmen!« -155-
Twards hockte neugierig auf der Abbruchkante und sah, wie Wiedensohl aus einer der Leichtmetallröhren einen Draht herausriß. Funken sprühten aus der Öffnung. In weitem Bogen warf er den Zündkörper auf das Schnee-Staub-Gemisch, in das er sich zischend einbohrte. Plötzlich schoß eine helle, blauviolette Flamme aus der grau schimmernden Masse, fraß mit rasender Geschwindigkeit um sich, wuchs zu hohen, wehenden Feuerzungen empor und stürmte heulend und brausend über das ganze Flugfeld hinweg. Knatternd erhoben sich aus dem Flammenstrudel kochende Wasserdampfsäulen, fingen selber Feuer und leckten in langen, gelbverfärbten Sprühfahnen empor zu dem immer dichter und dichter werdenden Nebel, der sich in der kalten Luft rasch bildete. »Wasser!« schrie Twards auf. »Kochendes Wasser! Zauberkunststücke, Mister Wiedensohl?« »Nicht im geringsten! Nur angewandte Chemie! Ich habe die unberührten Wangen des ewigen Schnees nur etwas mit einer Thermitmischung einpudern lassen, sie durch die Zündröhren in Brand gesetzt - und das Eisenoxyd-Aluminium- Gemenge frißt jetzt den lockeren Schnee bis zur alten Harschdecke weg. Ich könnte sie auch noch wegpusten. Aber das will ich nicht. Gutes Firneis ersetzt Asphaltdecke und Betonunterlage. Sehen Sie nur, Twards, wie ein Präriefeuer. Zehn Millionen Quadratmeter Schnee verbrennen hier zu kochendem Wasser und leuchtendem Knallgas.« Der Mann aus dem Nordwestterritorium ließ seine Unterlippe hängen: »Imponieren mir, Mann! Mit euch möchte ich mich auf keinen Kriegsgang einlassen.« Neue Befehle aus der Funkhütte summten hinauf zu der chemischen Kolonne. Erst zerwirbelten die rasenden Propeller die dünne Nebelschicht über der Bucht bei Kap Gefahr, um den Sonnenstrahlen ein freies Wirkungsfeld zu geben. Dann troffen aus den Tragflügeln der Maschinen rot schimmernde Schleier herab, und sofort verkrustete sich die spiegelnde Wasserfläche -156-
zu grauem, zernarbtem Bodeneis. Nach einer halben Stunde wagte sich Wiedensohl hinaus auf die Landebahn. Vorsichtig prüfte er Schritt für Schritt den Fortgang des neuen Gefrierprozesses. Bill Twards folgte ihm. Als die beiden in der Mitte des abgesteckten Flugfeldes standen, ohne auch nur bis zu den Knöcheln eingebrochen zu sein, untersuchte der alte Prospektor die Konsistenz der Unterlage und sagte: »Gut für hundert Tonnen Druck! Und was kommt nun?« Der Pilot wies hinauf zum Firmament und erwiderte: »Sie sind schon da! Die Baukolonnen können landen. Ehe der müde Sonnenball sinkt, stehen schon die ersten Wohnbaracken. Wir brauchen keinen Iglu zu bauen, um die erste Nacht bei Kap Gefahr zu überstehen!«
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- 19 A. B. Belcombe von der Pittsburgh and Westem National saß im Rauchsalon des riesigen Dampfers George Washington und starrte mißmutig durch die großen Fenster auf die graue See, über der graue Regenwolken trieben. Seine dreitausend Yards hatte er auf dem offenen Promenadendeck heute nachmittag bereits gemacht, sich dann aber fröstelnd in den warmen Rauchsalon zurückgezogen; denn obgleich es bereits die letzten Maitage waren, wehte ein rauher Nordwest von der Küste Neufundlands her und ließ die Passagiere, die sich auf die Freidecks wagten, bis in die Knochen erschauern. Der Mann, der aus der Kältewelle, die die Erde bedrohte, das große Geschäft machen wollte, empfand es recht unangenehm, daß ihm kein wärmender Sonnenstrahl auf dem schnellen Trip nach Europa beschieden war. Er mischte sich einen besonders starken Whisky und winkte den ersten Funkoffizier heran, der gerade den Raum betrat. Er fragte ihn herablassend: »Bald anderes Wetter zu erwarten?« Der schüttelte den Kopf und erklärte: »Erst hinter dem Teufelskreuz, nach den neuesten Nachrichten.« Belcombe stieß seinen Kopf ruckartig vor und sagte: »Teufelskreuz?... Nie etwas davon gehört! Was ist das für eine Gegend?« Er zog einen Sessel an den Tisch heran und wies mit einer einladenden Bewegung auf den Sitz. »Mischen Sie sich, was Sie wollen! He, Steward, neue Gläser!« Mac Joyce verneigte sich knapp und doch ein wenig geschmeichelt, daß ihm die Ehre zuteil wurde, neben dem großen Mann von der Pittsburgh and Western National Platz nehmen zu dürfen. Er erläuterte eifrig: »Wir Seeleute nennen den Schnittpunkt von 40 Grad Nord und 50 Grad West so, weil da immer der Leibhaftige für die ehrliche Seeschiffahrt so allerhand Überraschungen bereit hält.« -158-
»Sturm?« fragte A. B. Belcombe. »Kann doch dem 80 000Tonner nichts anhaben!« »Nein! Aber Nebel und Eisberge!« »Jetzt schon, im Mai? Kommen doch erst im Hochsommer, die blanken Burschen aus der Baffin- Bai!« fragte der Bankmann besorgt. »Sollen sie; aber diesma l stimmen alle meteorologischen Gesetze nicht. Sind die Nachzügler vom Vorjahr, die zwischen Kap Farvel und Avalen eingefroren waren. Der Käpten wollte eigentlich auf dieser Fahrt bereits Südkurs steuern. Doch wir brauchen dann zwanzig Stunden länger Fahrzeit bis hinüber zum alten Land. Bringe Ihnen das Glas, Mister Belcombe! Auf gute Reise!« Er erhob sich und wollte wieder den Raum verlassen. Doch der Gewaltige aus den Staaten ließ ihn so leicht nicht los. »Eisberge? Interessieren mich! Bleiben Sie hier, Joyce! Erzählen Sie mehr!« »Kann nicht! Muß in die Funkzentrale zurück. Es laufen dauernd Eiswarnungen ein, und Käpten Tommerleß versteht keinen Spaß, wenn ich meinen Dienst versäume.« »Sagen Sie ihm, A. B. Belcombe hat Sie aufgehalten. Dann genügt das scho n! Was kann denn so ein Eisklotz schon einem Riesensteamer anhaben?« »Allerhand! Am 14. April 1912 stieß die Titanic von der Cunard südlich von Neufundland auf einen Eisberg und sank. Fast 1600 Menschen fanden den Tod.« »Alte Geschichten! 1912 und jetzt! Sind doch heute wesentlich weiter.« »Wie man's nimmt! Aber Eisberge können wir eben noch nicht verhüten. Ich muß in die Funkbude! Schiffahrtssicherungsdienst kann sich jede Minute melden!« Er ließ sich nicht mehr länger zurückhalten und ging. -159-
Belcombe starrte wieder mißmutig hinaus in das graue Rieseln und winkte dann einem Steward: »Holen Sie mir Edwans, meinen Sektretär! Wir wollen arbeiten.« Abends, bereits nach neun Uhr Bordzeit, traf er den Schiffsoffizier wieder. Ein letzter verglimmender Schein am westlichen Horizont zeigte die Stelle, wo die Sonne hinter ihren Wolkenschleiern in den Ozean getaucht war. »Immer noch kein Nebel, und die Eisberge lassen auch auf sich warten«, spöttelte Belcombe. »Aber sie kommen!« erwiderte Joyce bestimmt. »Zwar haben wir mit der Weitergabe Ihrer 60 Chiffredepeschen allerhand Zeit in der Funkbude vertrödeln müssen... Entschuldigung, war nur so hergesagt!... Doch die Warnmeldungen sind da. In einer Stunde, nach vierzig Meilen Fahrt, sitzen wir gegen Mitternacht auf Teufelskreuz in der lieblichsten Waschküche. Nein, keine Zeit, Mister Belcombe! Ich muß unsere Nachtaugen richten. Der neue Signalgast versteht sich nicht recht auf die Infrarotstrahler.« »Komme mit! Interessiert mich, wie ihr durch einen hundertgrädigen Nebel gucken wollt.« Belcombe, er galt in den Staaten als der Mann, der noch nie ein Flugzeug benutzt hatte, weil bei einer Havarie ein Fallschirmabsprung mehr Risiko in sich trug als jede der tollkühnen Spekulationen, ohne die sein Leben inhaltslos gewesen wäre, dieser Belcombe wurde zeit seines Lebens beherrscht von der Furcht vor einem jähen Ende. Joyce klemmte sich auf der äußersten Bugkanzel hinter den Sichttisch und winkte den Neugierigen an seine Seite. »Schauen Sie nach vorn, in die Fahrtrichtung! Die großen Scheinwerfer strahlen mit der höchsten Leuchtkraft. Wie weit können Sie wohl blicken, um Einzelheiten zu unterscheiden?« »Gute 2000 Yards, schätze ich! Verdammt diesig die Luft!« »Randzone des Nebellagers bereits erreicht!« belehrte ihn -160-
Joyce. »Unsere Bugaugen werden keine hundert Fuß weit Bresche in den verdammten Grauschleier mehr schlagen, wenn wir erst richtig im Sack stecken. Ich schalte die Infrarotstrahler zu!« Er machte sich an einem kurzen, dicken Gerät zu schaffen. Dabei erläuterte er die Wirkungsweise: »Hier werden unsichtbare, sehr langwellige Lichtstrahlen erzeugt, die in den Nebel hineingeworfen werden. Sie können ihn auf mehrere Meilen Tiefe durchdringen. Treffen sie auf ein Hindernis, so werden sie natürlich reflektiert. Auf der Reflexion der Lichtstrahlen beruht ja bekanntlich alles Sehen. Sie gelangen ins Sichtrohr, durchdringen als lichtelektrische Elektronen die Bildschicht, werden in einer elektrischen Linse, hier im Anodenzylinder, beschleunigt und zeichnen optisch ein Bild auf unserem Sichttisch.« »Joyce, Sie belieben dunkler zu sprechen als ein Magier. Aber soviel habe ich verstanden, daß man die Eisberge auch im Nebel sehen kann. Doch ich kann auf dem Sichttisch nichts erkennen!« »Ich leider auch nicht!« sagte der Funkoffizier und begann an einigen Stellschrauben zu drehen. »Verdammt, das wäre etwas, wenn das Gerät gerade jetzt versagen wollte. Irgend etwas auf der Bugkanzel geschehen?« fragte er die beiden Matrosen, die hier Wache hielten und mit scharfen Nachtgläsem in die milchigen Lichtbündel starrten. »Nichts von Bedeutung!« meldete der eine. »Nur ein Fregattvogel hat vorhin am Nachtauge Havarie gehabt.« »Da haben wir es ja!« schimpfte Joyce los. »Mann, geben Sie Ihren Beinen dreimal volle Kraft voraus und sausen Sie in meine Arbeitskabine. Rechtes Schrankfach, von der Tür aus gerechnet! Den Koffer mit dem roten Querstreifen in eiligstem Tum hierher. Und dabei vorsichtig! Sonst gibt es neuen Bruch!« Er meldete der Brücke, daß der Ultrarotstrahler außer Betrieb sei und bat um Fahrtve rminderung. Der wachhabende Offizier -161-
versprach, sich sofort mit dem Commodore in Verbindung zu setzen. »Masse Zeit vergeht! Temperaturstand?« fragte Joyce den dritten Mann in der Bugkanzel. »Seit einer Stunde ständig 6 Grad hundertteilig. Scheint aber eben zu fallen!... 5,9... jetzt 5,8... 5,7... nun wieder 5,9... Bleibt auf dem Stand!« Tief holte der Funkoffizier Luft. »Flankenangriff!« sagte er erleichtert. »He, Brücke! Stoppt Fahrt, Männer! Eisberge in der Nähe!« »Nördlich vom Kurs!« erhielt er die beruhigende Nachricht. »Abstand nach Temperaturabfall etwa drei Meilen. Werden Sie nicht ängstlich, Joyce! Der Commodore frißt uns unmariniert, wenn wir Dampf aus der Mühle nehmen!« Noch fünf Minuten mußte der Ungeduldige warten, ehe der Wachmann mit dem Reparaturbesteck zurückkam. Hastig schraubte er den neuen Anodenzylinder zwischen Kathode und Sichttisch. Als er jetzt Strom gab, erschienen erst schwach, dann aber von Sekunde zu Sekunde erschreckend deutlicher werdend die zerrissenen Konturen eines Eisgebirges auf der leuchtenden Fläche. Die zerfetzten Grade schienen wild zu schwanken, und ganze Schotterlawinen schossen über die Flanken des riesigen Eisberges herab. »Setzt Kurs genau Süd!... Genau Süd!... Sofort! Hart Stürbord! Dicht voraus kippender Eisberg! Stürbordschraube Rückwärtsgang! Backbord volle Kraft voraus! Arbeitet, Männer! Sonst zerschlägt uns der Eissturz Stampfstock, Kanzel und Spriet mit den Wülsten! Stürbord! Stürbord!« Seine letzten Worte verschlang ein ungeheures Tosen und Donnern, das aus dem dichten Nebel dumpf hervorbrach. »Die Sturzwelle kommt! Aber das Schiff hat den Kurs abgesetzt!« schrie er dem Mann von der Western National in die Ohren. »Festhalten! Gleich haben wir den Segen da!« Er wies auf ein -162-
fast den ganzen Sichttisch füllendes Bild einer gischtenden Wasserwand hin, die mit unheimlicher Geschwindigkeit näher schoß. Eisplatten und klötze von vielen hundert Tonnen tanzten wie Schaumflocken auf der kochenden Flutwelle. »Nun sei Er uns gnädig!« Die Kehrtwendung des Schiffes war fast vollendet. Leicht steuerbords und am Heck schossen die Brecher hoch, rollten gischtend und alle Aufbauten mit den Eistrümmern zerschlagend über die Decks bis zur Brücke. Doch der Riesendampfer ließ sich nicht in die nasse Tiefe zwingen. Hoch richtete er sic h wieder auf, wild krängend und rollend, und taumelte verwundet, aber nicht tödlich getroffen, über die schäumenden Nachtwellen. A. B. Belcombe saß wie gelähmt auf seinem Hocker. Verzweifelt klammerten sich seine Hände um die Sichttischkanten, und in dem zerschmetternden Brechen der Decksaufbauten konnte man seine Stimme vernehmen: »Hunderttausend!... Eine Million, wenn ich heil davonkomme!« Dann warf ihn der Gegenstoß mit der Stirn gegen das Strahlenrohr, und eine wohltuende Ohnmacht schenkte ihm Frieden und Ruhe. Eine Stunde später stand er wieder, wenn auch mit zitternden Beinen, neben dem Commodore auf der Brücke, die ihm der sicherste Aufenthalt zu sein schien, und hörte die Schadensmeldungen mit an. »Halle 2. Klasse und Promenadendeck für dieselbe bis zum Heckmast wegrasiert. Glücklicherweise wenig Menschenverluste, da gerade alle Welt im Kino. Heckschott macht viel Wasser. Schottürrahmen stark gestaucht. Havariekolonnen arbeiten bereits, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Machen aber höchstens noch 30 Knoten statt 40. Maschinenlager oder Schraubenachslager geklemmt!« »Dann geben Sie den Unfallbericht nach Newhaven! Mister Belcombe, wir werden vierundzwanzig Stunden länger brauchen, um das alte Land zu erreichen. Wollen Sie etwa ein Flugboot benutzen?« -163-
»Danke! Danke! Mir genügen die Abenteuer auf einem Dampfer vollkommen! Flugboot? Herr, wissen Sie, wieviel mein Leben wert ist?« Und David Coinen wunderte sich nicht wenig darüber, wieviel Zeit der große Mann aus den Staaten nach Europa mitgebracht; hatte. Erst als die milde Julisonne wieder über dem Atlantik schien, entschloß sich Belcombe zur Heimkehr, aber diesmal auf einer italienischien Route über die Azoren.
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- 20 In dieser Jahreszeit liefen längst die schweren Frachtdampfer von den nördlichen europäischen Häfen hinauf nach Nowaja Semlja durchquerten jetzt sogar schon die Matotschkin Schar, den Meeresarm, der die Nordinsel von der Südinsel trennt, und entluden ihre Lasten am Fernen Kap. Hunderte von Zugmaschinen und Raupenschleppern beförderten dann die Güter zur Baustelle bei Kap Gefahr, auf der Tag und Nacht gearbeitet wurde. Oder vielmehr alle vierundzwanzig Tagstunden lang; denn die Sonne ging über dem Flugfeld und den emporwachsenden Maschinenhallen seit dem Mai nicht mehr unter. Schon begannen die Monteure mit dem Einbau der Maschinen, während noch in schwindelnder Höhe über ihnen die Betoneure an den Tragwerken des Daches hingen. Wer seine acht Stunden hinter sich hatte, der flehte darum, daß ihm in der Freizeit kein Südwind beschert werde; denn der brachte aus den Tundren der Südinsel ganze Wolken von Beißfliegen und Stechmücken, und diese Quälgeister stürzten sich auf alles, was warmes Blut in sich trug. Nur auf die Nenez, die Samojeden, nicht. Die Schmutzkruste auf ihrer Haut war der beste Schutzpanzer gegen die hungrigen Insekten. Bretthorst, Weise und Wiedensohl beneideten die einfachen Naturkinder um ihre Gelassenheit; denn auch Moskitonetze, Mückenschleier und dicke Handschuhe halfen nicht halb soviel wie eine jahrealte Hautpatina. Bill Twards amüsierte sich köstlich über seinen Chef Coinen, der nach der Abreise Belcombes überraschend bei Kap Gefahr aufgetaucht war, um sich, wie er sagte, von dem Fortgang der Arbeiten zu überzeugen. Obgleich der alte Nordwestmann sein Heim durch doppelte Insektengitter und frei schwingende Gazetüren gesichert hatte, waren doch einige Summer und -165-
Schwirrer in seinen Barackenraum eingedrungen, und Coinen hatte dauernd beide Hände in Bewegung, um die Angriffe abzuwehren. »Lassen Sie endlich die armen Tiere in Ruhe!« redete er seinem Chef zu. »Morgen sind Sie wieder in Berlin... und können mit Ethelrid beim Tee sitzen. Möchte mal vier Wochen Urlaub haben!« »Ausgeschlossen, Bill! Jetzt, wo die Maschinen eingebaut werden, muß ein Fachmann hier dabei sein, der unsere Interessen vertritt. Also, Belcombe wünscht, daß die Turbogeneratoren sechs Wochen lang arbeiten. Dann aber... « »Wird besorgt werden, Chief! Aber wie komme ich dann hier fort? Wiedensohl, Bretthorst und Weise sind Männer, die einen kleinen Spaß verdammt falsch verstehen könnten!« »Wird alles vorgesorgt! A. B. B. braucht übrigens einen kleinen Sonderakt, um einige Sachen zu schaukeln. Kleiner Aufstand der Worker wäre sehr erwünscht. Ist das zu machen?« »Sofort?... Kaum! Aber schickt mir mit dem verrückten Pressemann gleich Ethelrid Quansson mit. Dann können wir die Story verfassen!« So kam es, daß sich das Mädchen aus dem Vorzimmer in Hosen und weit über die Waden reichenden Bärenstiefeln in der Gesellschaft von Roger Trix, dem, wie er sich selbst gern nennen hörte, einfallsreichsten und suggestivsten Journalisten der westlichen Hemisphäre, zu dem großen Flug nach Kap Gefahr rüsten mußte. Auf dem Rollfeld des Abflughafens machte Coinen sie miteinander bekannt. Sie behandelte den Pressemann zuerst sehr knapp, obgleich es ihr imponierte, daß er mit einem Sekretär reiste. »Riesig erfreut. Sie kennenzulernen!« erklärte Roger Trix, indem er die kleine Hand kräftig schüttelte. »Bewundern wohl mein Gepäck?... Brauche ich absolut, um geistig schaffen zu können. Schreibmaschine, Diktaphon, Sprechmaschine und -166-
hundert Schallplatten!« »Aber wozu denn?« fragte sie erstaunt. »Geistige Anregung, verstehen Sie? Ohne Musik kann ich meine Gedanken nicht konzentrieren. Geht allen großen Männern so. Schiller brauchte faule Äpfel, Goethe einen guten Wein, Balzac Kaffee und eine Mönchskutte, Tolstoj Birkenteerstiefel und ich Töne!... Musik! Tänze oder exotische Melodien!« »Komisch!« Ethelrid lachte. »Wenn Sie also eine Skizze über mich schreiben wollten, was würden Sie dann auf den Plattenteller legen?« »Green, Nummer 48 Strich I!« befahl der Reporter, lehnte sich gegen einen Grenzpfosten und stützte sein Kinn in die nervös zitternde Rechte. Der Sekretär ließ die Nadel ansurren, und eine grelle Kinderstimme legte in hartem Diskant los: »Meine Mammy, die hat keine Zeit... sie ist von mir immer so weit... heute beim Tee und morgen bei 'ner Schau,... meine Mammy, die, was meine ist, ist eine mondäne Frau! Darum spiel ich immer so für mich halt hin, weil ich alleine, o my Lord God, immer alleine bin!« »Absetzen!« befahl Roger Trix. »Schreiben Sie, Green! Eine kühle Frau voll innerem Feuer begegnete mir heute auf meinem Weg. Sie weiß, was sie will. Oder sie muß erst jemanden treffen, der ihr sagt, wohin sie ihre Sehnsucht lenken soll. Ihre kleine Seele hält sie in der zierlichen Hand wie einen gefangenen Vogel. Aufmachen und fliegen lassen! Das würde ich ihr raten, wenn sie nur auf mich hören wollte. Eine olympische Lösung! Doch sie läßt sich nicht zureden. Mit lächelnder Miene enteilt sie wieder meinen Beschwörungen und wird weiter Seele und Herz gegittert hinter den rosigen Stäben ihrer Finger halten... Absatz, Green! Zweite Strophe!« Schrillend erhob sich wieder die bizarre Tonstimme aus dem Sprechgerät: »Meine Mammy sagt mir niemals: Das ist so!... -167-
Wenn sie Yes spricht, meint sie sicher No, no, no! Ach, wer kann die großen Menschen nur verstehn? Mammys darf man niemals in die Augen sehn. Darum spiel ich immer halt so für mich hin... weil ich alleine, o my Lord God, immer alleine bin!« »Absetzen, Green!« »Aber nicht mehr schreiben, Mister Trix!« unterbrach ihn schroff das Mädchen aus Bronx. »Sie sollten Viertel-DollarWahrsager in Montauk auf Long Island werden! Kinderlieder und gefangene Seele! Daß ich nicht lache! Ihre Musik ist genauso dumm wie Ihr Geschreibsel. Das sagt Ihnen eine, die das Leben kennt!« Und es bedurfte vieler Anstrengungen, um die Erzürnte wieder zu versöhnen, ehe die schwarzen Konturen des Kap Gefahr aus der Kimmung stiegen. Auf dem Rollfeld wurden sie beide ziemlich kühl empfangen. Wiedensohl begrüßte den Mann der Presse knapp und erklärte sofort: »Sie sind ohne meinen Willen hier! Wir brauchen keine Sensationsberichte. Wenn Mister Coinen Ihre Mithilfe unbedingt notwendig hat, so hat er Sie hoffentlich auch genügend orientiert! Hier ist Ihre Ausweiskarte! Der Quartiermeister wird Ihnen Unterkunftsraum und Tischplatz zuteilen. Und nun zu Ihnen, Miß Quansson! Es ist unverantwortlich, daß Sie hierhergekommen sind! Jawohl, Twards! Und wenn Ihr Chef tausendmal anderer Meinung ist! Ich bitte Sie, sich möglichst viel in Ihrem Quartier aufzuhalten und sich auf keinen Fall etwa auf dem Baugelände oder in den Gemeinschaftsräumen zu zeigen. In spätestens drei Tagen müssen Sie zum Rückflug starten!« »Ich bin hier im Auftrag von Mister Coinen, und im übrigen werden wir machen, was wir wollen! Nicht wahr, Bill?« erwiderte,sie schnippisch, hakte sich bei dem verlegen lächelnden Nordwestmann unter und marschierte mit ihm ab. Wiedensohl sah den beiden achselzuckend nach und wandte sich -168-
dann wieder an Roger Trix: »Da haben Sie gleich ein kleines Stimmungsbild von unserer friedlichen Insel. Aber das bleibt aus der Reportage heraus. Überhaupt möchte ich natürlich erst Ihr Manuskript sehen, ehe Sie es an die Presse geben.« »Das ist mir noch nie vorgekommen! erwiderte der Journalist wütend. »Dann begegnet es Ihnen eben hier! Oder Sie fliegen sofort wieder zurück, Mann! Da drüben, in der Baracke mit dem grünen Dach, wohnt der Quartiermeister. Melden Sie sich bei ihm!« Wiedensohl wartete keine Antwort ab, sondern schritt rasch mit Bretthorst zur Baustelle hinüber. »Sie haben ja Haare auf den Zähnen!« lachte der Ingenieur. »Donnerwetter, das war aber ein echter Polarempfang. Was wird Coinen dazu sagen?« »Der? Interessiert mich überhaupt nicht! Wenn es nach mir ginge, hätte ich den seltsamen Privatgelehrten aus den Staaten samt Bill Twards und allen merkwürdigen Hintermännern längst zum Tempel hinausgefeuert. Doch Hegar hat sich so in ein unglückseliges Dankbarkeitsgefühl hinein verrannt, daß ihm in diesem Falle nicht mehr zu raten und zu helfen ist. Aber lassen wir die Auseinandersetzungen darüber. Drüben schreit das Werk nach Hirnen und Händen, und dort ist unser Platz!« In der Mitte des Wohnlagers II, in dem mehr als tausend Arbeiter untergebracht waren, erhob sich das große Gemeinschaftshaus. Die Sonne stand im Nordwesten, acht Uhr abends war es bereits, zwei Stunden nach dem Schichtwechsel, und langsam begannen sich die weiten Räume mit den Männern zu füllen, die ihre Stunden gewerkt und gebaut hatten. Sie trafen dort bereits eine lärmende Gästeschar. Die Bergleute, die weit hinten im Tal an der Rockja Barana und dem Tschieljustin Jab an der Aufschließung der Kupferlager und an der Reßja Dworska in den felsenhart gefrorenen Platinsanden arbeiteten, mochten wohl einen Feiertag eingeschoben haben und waren die sieben Stunden weit herabgestiegen, um einmal andere Männer zu sehen. -169-
In dem großen Saal, auf dem Mittelpodium, wo sonst die Leute der Werkkapelle ihre Weisen spielten, produzierten sich gelenke Ukrainer mit wirbelnden Kosakentänzen zum schwirrenden Klang der Balalaiken, sangen Volkslieder aus aller Welt, gaukelten samojedische Feuerfresser und Glaskauer, wirbelten die Wurfmesser nach den lebenden Zielen und trafen nur millimeterbreit neben die Wange oder den Hals eines stereotyp lächelnden Mannes in das Fangbrett. Verblüffende Kartenkunststücke erweckten stürmischen Beifall und ein melancholischer Musikclown schallendes Gelächter. »Wo bleiben die Girls?« schrie es von einigen Tischen hinauf zu dem Ansager, einem pockennarbigen Burschen, der sonst eine Betonmischmaschine führte. »Von der Bauleitung immer noch gestrichen!« erwiderte er trocken. »Genauso wie der scharre Schnaps!« »Und das haltet ihr so aus?« rief Trix, der mit einigen Minenleuten an eine m Tisch saß, verwundert. »Jungs, ich war im vorigen Monat auf der Monazitbaggerei am Großen Bärensee. Da war was los! Hundert Mädchen in einer einzigen Schau! Fordert doch!« »Haben unseren Kontrakt unterschrieben und halten ihn auch!« versicherten einige. Doch andere rückten neugierig näher und fragten: »Wirklich? In der Eiswüste am Great Bear Lake? Ist doch auch nicht öder als hier, und die Mädchen kommen dahin? Warum nicht hierher?« »Sind auch hier da!« versicherte der verärgerte Journalist. »Nur nicht für euch! Bin doch selbst heute mit einer Frau hierhergeflogen.« »Was?« Viele Männer drängten an den Tisch heran. »Auf Kap Gefahr Frauen? Da soll doch gleich der Teufel dreinschlagen!« Er tat es wirklich. In diesem Augenblick nämlich betrat Bill Twards den Saal, und an seinem Arm hing, lächelnd und in -170-
einem raffinierten Abendkleid, Ethelrid Quansson. Tausend Männeraugen starrten gierig auf diese Erscheinung aus einer anderen Welt. Sie dankte für diese Aufmerksamkeit mit koketten Augenaufschlägen und zierliche n Wiegeschritten. »Wollen Sie sich nicht produzieren?« fragte plötzlich der Ansager in die lastende Stille hinein. »Warum nicht? Wenn ihr wollt, steppe ich euch etwas vor, daß euch die Trommelfelle schwirren!« erklärte sie lachend. »Rauf auf die Bretter!« schrien hundert Stimmen begeistert. »Los, Mädchen! Zeige, was in deinen Beinen steckt!« Kräftige Arme hoben Ethelrid über die Brüstung des Podiums. Bill Twards Protestrufe gingen unter in dem rhythmischen Händeklatschen, das den Balalaiken den Takt angab, und sie ließ, wie zur Probe, einigemal die Hacken und Fußspitzen auf den groben Brettern klappern. Dann schürzte sie das lange Kleid bis über die Knie, und mit wilden Hüftverrenkungen stampfte sie ihren Step. Ihre Beine waren wirklich von keiner klassischen Schönheit. Auf ihrem Gesicht malten sich Anstrengung und Verkrampfung. Die Füße gerieten häufig genug aus dem Takt. Doch das sahen die Männer nicht. Dort oben stand eine Frau, und sie zeigte seidenbestrumpfte Beine, manchmal gar ein rosiges Leuchten der Unterwäsche. Das war mehr als genug für die Zuschauer. Als sie endlich ermüdet in eine Ecke taumelte, erhob sich ein frenetisches Beifallsgebrüll. Alle drängten sich näher an das Podium und schrien ihre Erregung mit heiseren Lobesworten heraus. Auf einmal stand ein langer knochiger Kerl neben ihr, riß sie in seine Arme und küßte sie vor allen Augen wohl zehnmal auf den kokett gemalten Mund. »Bravo, Jim! Weitergeben! Her mit der Puppe!« Bill Twards kaiinte diese Ausbrüche. Er griff nach der Hüfttasche und schwang sich auf das Podium. Mit einem brutalen Ellenbogenstoß befreite er seine Freundin und wandte sich dann -171-
an die Erregten. »Das ist meine Sache! Laßt die Finger davon oder ihr bekommt es mit Copper-Bill zu tun! Verlangt doch Frauen! Bin von Anfang an dafür gewesen! Diese Ingenieure wollen nur nichts davon wissen. Man kriegt nur, was man verlangt!« »Richtig! Vorwärts zum Chef! Er muß nachgeben!« Vergeblich war das Mahnen einiger Vernünftiger; wie ein kochender Gießbach strömte es aus den weit geöffneten Schiebetüren der Gemeinschaftsbaracke, raste durch die Lagerstraßen und sammelte sich wieder vor dem Tor der Bauleitung. »Schnell, Mann!« wandte sich Twards an Trix, der sich ängstlich in eine Ecke gedrückt hatte. »Sofort mitkommen in mein Quartier! Habe da einen kleinen Sender. Funken Sie sofort an Ihre Blätter! Aufstand der Arbeiter auf Kap Gefahr! Wird eine nette Weltsensation!« Und während Wiedensohl die Erregten zu beruhigen versuchte, trug der Äther bereits die Botschaft in die neuigkeitshungrige Welt. Roger Trix lehnte am Fenster und diktierte seinem Sekretär den Bericht: »Platte 25 Teil 2: Das Lied der mexikanischen Rebellen... Wir reiten unter Villa von Paso bis Tampico... Frei ist der Mann und heiß sein Gewehr. O vorwärts, nur vorwärts, du Freiheitsheer!... Absetzen! Schreiben Sie: Maßlose Empörung der Schaffenden auf Kap Gefahr! Sinnlose Härte der Werkleitung verursacht Aufstandsbewegung. Zornige Fäuste erheben sich drohend gegen Wiedensohl. Schuld an der überkochenden Erregung ist die Fehlorganisation der Freizeitgestaltung. Ich habe darüber folgendes in Erfahrung gebracht... « Als er sich den zweiten Teil des Villaliedes vorspielen ließ, herrschte aber bereits draußen tiefe Stille. In kleinen Grüppchen verließen die Protestierenden den Platz. Stahlhart klang eine Stimme auf: »Laßt euch von der Zahlmeisterei die -172-
Abkehrscheine ausfertigen! Rückflug morgen früh sechs Uhr für die Schwachköpfe, die sich nicht beherrschen können. Also, wer zählt nicht zu den Männern?« »Schlechte Regie, Mister Twards!« sagte Trix und hob die singende Nadel selbst von der Platte. »Soll dieser Schluß auch in den Bericht?« »Lieber nicht! Überhaupt, mir schwant so, das dicke Ende kommt nach!« Und er hatte nichts Falsches geahnt. Am andern Morgen startete das Flugzeug mit Ethelrid und Roger Trix samt der anregenden Musikkollektion und dem geplagten Sekretär. Die Quansson schimpfte wie eine Straßenhändlerin aus Bronx auf Wiedensohl und Coinen und auch den verlegen lächelnden Twards, der sie bis zur Kabinentür geleitete. »Wenn du ein Mann wärst, kämst du mit!« schalt sie ihren Freund aus. »Mich hier einfach abzuschieben wie eine Trampmaid! Und das kannst du dulden?« »Kommt zu der andern Rechnung hinzu, Mädchen!« tröstete er sie. »Und nun macht, daß ihr fortkommt. Wenn Wiedensohl etwas von Ihrem Reporterkunststück erfährt, dann kann er noch viel ekliger werden!«
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- 21 Gerade um diese Zeit rüstete sich Bracke, um Professor Hegar auf seinem Flug nach Kap Gefahr zu begleiten. »Schluß mit dem Schreibkram, Fräulein Renate!« erklärte er bestimmt. »Die Vulkanpläne scheint der gestrenge Herr endgültig aufgegeben zu haben. Also auf zur Eisbärenjagd!« »Sie sind so fröhlich wie ein Schulbub, wenn die großen Ferien beginnen!« lachte Renate Veith. »Haben Sie denn in letzter Zeit so günstige Nachrichten gesammelt?« »Ganz im Gegenteil!« sagte, plötzlich sehr ernst werdend, der Assistent. »In Alberta, Saskatchewan und Manitoba ist die Weizenblüte erfroren. Das bedeutet den Ausfall von fast einem Zehntel der Weltproduktion, darüber hinaus aber Verzweiflung, Hunger und Bankrott für viele tausend Farmer. Die Sojabohnenbauern in den Ebenen des Sungari und Liauno, weit hinten in Mandschukuo, klagen über einen katastrophalen Mißstand der nährstoffreichen Eiweißpflanze, und was sonst noch an Ernteschätzungen aus aller Welt vorliegt, läßt sich gerade noch mit dem Urteil kaum befriedigend milde umschreiben. Die Gletscher wachsen, und wenn unsere Gegner behaupten, das käme eben von größeren Niederschlagsmengen her, die gefallen seien, so verwechseln sie wieder Folgerung mit Ursache. Die Atmosphäre gibt Feuchtigkeit ab, weil sie immer mehr an Kohlensäure verarmt.« »Aber dann müßte doch endlich die ganze Welt aus ihrer Lethargie aufwachen!« »Tut sie eben nicht! Die sogenannte Kulturwelt hat ihren Sitz zwischen 30 und 60 Grad Nord, und in diesen Zonen herrscht jetzt trotz aller Klimaschwankungen ein angenehmer Sommer. Wenn man sich vor lauter Wärmebehagen den Halskragen aufknöpfen kann, mag man nicht gern von der harten Winterkälte sprechen. Die Sonne nimmt sich Zeit. Erst in -174-
vielleicht sechs Jahren werde ich die wirklichen Katastrophenmeldungen in unsere Kartothek eintragen.« »Und dann ist es zu spät?« fragte Renate. »Nein, dann werden wir mit doppelter Energie schaffen. Hoffentlich hält es Professor Hegar aus. Er gefällt mir seit einigen Wochen nicht sonderlich!« »Haben Sie es auch bemerkt? Immer, wenn der seltsame Kälteapostel Coinen hiergewesen ist, finde ich Onkel nervös, verstimmt und abgespannt. Was hat denn eigentlich dieser Weißkopf noch hier zu tun?« »Möchte ich auch wissen! Doch leider haben wir uns seinerzeit, als kein Hund ein Stück Brot von uns nehmen wollte, durch einen Gesellschaftsvertrag binden lassen. Darauf pocht jetzt Coinen, und wir können uns den Spaß eines lustigen Kältekraftwerkprozesses nicht leis ten. Wird schon wieder ins Grade hängen, wie unser gemeinsamer Freund Wiedensohl immer zu sagen beliebt. Immerhin, Sie scheinen magische Kräfte zu entwickeln, Fräulein Renate. Da kommt ja Coinen!« »Man soll nicht vom Teufel sprechen!« konnte sie gerade noch sagen, da stürmte er schon in den Arbeitsraum. »Wo ist der Professor?« schrie er erregt, ohne die Anwesenden zu begrüßen. »Ich muß ihn sofort sprechen! Wo steckt er denn? Unsere ganze Arbeit ist in Gefahr!« Renate fragte erschrocken: »Um Himmels willen, was ist denn geschehen?« Doch Bracke verlor so schnell seine Ruhe nicht. »Guten Morgen, Mister Coinen! Wir wollen doch bei aller Nervenüberreizung nicht die Formen der Höflichkeit vergessen. Professor Hegar ist im geologischen Institut der Universität und wird vor Mittag hierher nicht zurückkommen. Sie müssen sich also solange gedulden!« »Ich kann nicht! Total unmöglich! Wissen Sie, was bei Kap Gefahr vorgeht?« »Natürlich! Dort wird gewaltig geschafft! Wiedensohl -175-
berichtete mir erst vorgestern per Funk, daß die Butanverdampfungsanlage betriebsfertig sei. Noch die Turbinen und die Generatoren... « »Ist ja alles in Frage gestellt!« Coinen warf sich verzweifelt auf einen Stuhl und hieb ein dickes Bündel Kabeltelegramme auf den Tisch. »Die Chikago Tribune! Diese verdammte Zeitung! Lesen Sie doch! Aufstand der Arbeiter bei Kap Gefahr! Revolution! Empörung gegen Wiedensohl und die ganze Bauleitung! Schlagen sicher alles in Klump! Vernichten alle unsere Hoffnungen! Soll man dann nicht seine Nerven verlieren dürfen, Herr?« »Pause!« unterbrach ihn Bracke. »Moment Pause, Mister! Sonst geht Ihnen noch der Atem aus. Was orakeln Sie da? Revolte auf Baustelle Kap Gefahr? Lassen Sie mich einmal lesen!« Er überflog hastig die Blätter. Coinen war ein ganzer Zeitungsartikel, der am Vortage in der Chikago Tribune in großer Aufmachung erschienen war, gekabelt worden. Darin war tatsächlich von ernsten Unruhen unter der Arbeiterschaft die Rede. Weiter kritisierte der Reporter sehr scharf das Verhalten Wiedensohls und der übrigen Herren der Bauleitung. Ja, es wurden sogar Maßnahmen gefordert, um den Tausenden von Schaffenden in dem rauhen Nordland baldigst Hilfe und Erlösung zu bringen. Ehe Bracke noch mit der Lektüre fertig war, zeterte Coinen bereits wieder los: »Und so etwas muß ic h, der ich in der Leitung des ganzen Unternehmens sitze, erst durch die Zeitung erfahren? Das ist gewissenlos, Herr! Das ist eine unerhörte Provokation!« »Nun aber Schluß!« Bracke wurde jetzt grob. »Ihr Verhalten ist provokatorisch! Zwei Spalten Pressehetze, und schon kippen Sie aus den Pantinen? Das ist Mache, Herr! Elende Stimmungsmache! Wiedensohl hätte uns bestimmt längst von -176-
diesen Vorgängen unterrichtet, wenn auch nur ein Quentchen Wahrheit dem Bericht zugrunde läge. Wollen ihn doch einmal anrufen!« Er ging zu dem Kurzwellengerät an der hinteren Wand, setzte es unter Strom und stimmte genau die Sendelänge ab. Dann gab er das Rufzeichen. Einigemal mußte er es wiederholen, ehe sich Kap Gefahr meldete. »Bitte Wiedensohl für Handschuhsheim! Dringend! Hier Bracke!« Er schaltete den Lautsprecher für die Empfangsanlage zu, und bald hörte man die frische Stimme des Chefpiloten: »Hallo, Bracke? Hier ist Wiedensohl. Wo brennt es denn in eurem schönen Tal, daß man so dringend gerufen wird?« »Tag, Wiedensohl! Sie leben noch? Ich habe nach der Aufregung von Mister Coinen gedacht, man hätte Sie mindestens geteert und gefedert, um Sie dann den hungrigen Eisbären zum Fraß vorzuwerfen!« »Coinen? Macht der noch mehr Mist, als er schon fertig gekriegt hat?« klang es zornig zurück. »Bracke, wenn ich diesen weißhaarigen Schleicher einmal ganz privat erwische, dann kann er von mir etwas zu hören bekommen. Erst schickt er mir einen vollkommen unerwünschten rasenden Reporter hierher, und dann muß er noch dem alten, haltlosen Säufer Bill Twards seine Donna, die gewisse Quansson, mit einer streng geheimen, privaten Nachricht nachsenden. Dieses Frauenzimmer in unsere spartanische Arbeiterstadt! Ich habe aber die beiden auf die Fahrt gebracht! Ist die Beschwerde schon beim Professor eingelaufen?« »Nein, aber eine Zeitung, die Chikago Tribune, orakelt spaltenlang bei einem Arbeiteraufstand bei euch.« »Da haben wir doch den Salat! Wenn Sie Coinen treffen, sagen Sie ihm, daß ein Ochse, gemessen an seiner Intelligenz, mindestens turmhoch über einem gewissen Titularprofessor zu klassifizieren ist. Arbeiteraufstand? Daß ich nicht lache! Die -177-
Quansson hat meine braven Männer mit Röckchenheben und Strumpfbandzeigen aufgeputscht, und, dann brach der bekannte Koller aus. Sie randalierten, und ich habe ihnen den Kopf gewaschen, bis ihr Gehirn wieder klar war. Nicht ein Mann hat den Abkehrschein verlangt. Daraus macht nun dieser rachsüchtige Reporter einen fulminanten Artikel? Oh, Freundchen Trix, wenn du mir nochmals unter die Finger gerätst! Dann kannst du etwas erleben! Und ebenso der ehrenwerte Mister Coinen, den ich, wenn ich bestimmen könnte, aus unserem Gremium hinauspfeffern würde... « »Danke! Danke!« Bracke lachte schallend. »Bitte, jetzt wieder parlamentarisch! Der Hinauszupfeffernde sitzt nämlich bereits sichtlich geknickt an meinem Arbeitstisch und sinniert wohl schon über einer Erwiderung an die Chikago Tribune. Ist es nicht so, Mister Coinen?« »Wie?... Ja! Selbstverständlich! Ich brauche dazu aber noch Material. Bitte sofort an mein Büro funken, um es dort verarbeiten zu lassen. Bye, bye! Ich spreche gelegentlich wieder einmal vor!« Und noch eiliger, als er gekommen war, verschwand er.
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- 22 Professor Hegar schüttelte bedenklich den Kopf, als er von dem eigenartigen Verhalten Mister Coinens hörte. Hal Spirefith tröstete ihn: »Dieser Durchschnittsamerikaner hat einen ausgewachsenen Presseschock! Es gibt leider in unserem Lande viel zuviele, die sich von jeder Sensationsmache der Zeitungen gleich im Innersten erschüttern lassen. Daher hat er sich so angestellt. Alles das wird wohl meine baldige Anwesenheit in der Union notwendig machen, Unsere Versuche, Interessengruppen zu finden, die hier in Europa die ersten Vulkankraftwerke ins Leben rufen, sind bisher restlos gescheitert. Die General Electric dagegen scheint nun doch Lust bekommen zu haben, die ungeheuren Dampfkräfte in der Mayacama Range industriell zu verwerten. Ich kenne einige Herren in der Leitung und werde versuchen, sie für unsere Vorhaben zu gewinnen. Viel Zeit haben wir ja nicht mehr!« »Nein, wirklich nicht!« erwiderte Hegar. »Nach diesem Sommer wird es auch dem ungläubigsten Thomas klarwerden, daß sich die Erde in einer klimatischen Revolution befindet. Melden jetzt nicht schon alle Beobachtungsstellen Abnahme des Kohlensäuregehaltes, Bracke?« »Fast alle! Unser vorgeschlagenes Standardverfahren zur Luftanalyse ist leider nicht von allen Kontrollstationen übernommen worden. Daher mag es kommen, daß sich bei einigen immer wieder ganz widersprechende Zahlen ergeben.« »Ich mache euch einen Vorschlag!« unterbrach ihn Spirefith. »In vier Tagen geht mein Dampfer von Genua nach den Staaten. Nein, ich nehme nicht den Ozeanklipper. Ich will auch einmal einige Tage ausspannen. Und euch täte es, weiß Gott, ebenso not. Ihr begleitet mich, sagen wir einmal, bis nach Aosta. Auf dem Sankt Bernhard machen wir einen Tag Station, und ihr unterrichtet Heirerer, den Leiter der Wetterwarte, genau über -179-
das einzuschlagende Verfahren.« »Fein!« sagte Renate Veith. »Bracke und ich steuern den Wagen. Da kann ic h meine Bergtüchtigkeit unter Beweis stellen.« Und so kam es, daß zwei Tage später die ganze Gesellschaft fröhlich im wilden Tal der Drance Mittagsrast hielt. Der Gastwirt erkundigte sich: »Wollen die Herrschaften hinauf nach Chable oder noch höher zu den Gletschern von Gietroz? Das ist heuer nicht zu empfehlen!« »Aber warum nicht?« fragte Bracke neugierig. »Es droht ein Bozo, ein Rollibock im Val de Bagne!« erwiderte der Wirt bekümmert. »Ein Bozo? Ein Rollibock? Was sind das für seltsame Worte, die ich in meinem Leben nie gehört habe?« fragte Hai Spirefith. »Das Schlimmste, was uns die Berge im Tal der Drance bescheren können!« erklärte der Gastwirt. »Alle hundert Jahre kommt es nur einmal vor. Da wachsen auf den steilen Hängen bei Gietroz die Gletscher vom Gran Combin und vom Mont Pleurer so stark, daß die Eiswände an den schrägen Flanken keinen Halt mehr haben. Tausende von Tonnen Eis lösen sich dann ab und stürzen in die enge Talschlucht der Drance. Der Bach wird durch den Trümmerwall zu einem großen See gestaut. Und wenn dann die Wassermassen durch den Eisdamm brechen, so fegen sie alles weg, was in dem Tal ist. Das nennen wir einen Bozo oder einen Rollibock!« Hegar war sehr interessiert: »Sind die Gletscher erst in diesem Jahre gewachsen, oder hat man die Zunahme seit längerer Zeit beobachtet?« »Im Val de Bagne erst in diesem Jahr. Die langen Talgletscher stoßen noch nicht vor. Aber bei denen dauert es ja immer viel länger, ehe die neuen Firneismassen bis zur Zunge herabgewandert sind«, meinte der Wirt. -180-
»Kennen Sie die Gletscher von Gietroz? Oder können Sie uns einen wegekundigen Führer besorgen?« fragte Hegar. »Das Gletscherphänomen interessiert mich stark. Freunde. Ist das nicht der eklatanteste Beweis für die bereits eingetretene Klimaänderung? Ich möchte mich durch den Augenschein von dieser Tatsache überzeugen.« »Ich kann Sie führen!« erklärte der Wirt. »Sie haben einen starken Wagen. Damit kommen wir gut bis Gietroz. Dahinter freilich gibt es nur Maultierpfade. Aber auf die Gletscher selbst wagt sich keiner mehr. Der Eissturz kann jeden Tag erfolgen.« Zwei Stunden nachher unterhandelten die Forscher mit einem Pionierhauptmann am Ausgang von Gietroz, der sie nicht weitergehen lassen wollte. »Wenn die Eislawinen kommen, wirft euch der Windstoß tausend Meter weit durch die Luft und zerbricht euch im Fluge schon die Knochen. Nur bis zur Aussichtskanzel, Herr Professor! Höchstens... und das auf Ihre eigene Verantwortung!« Zwanzig Minuten lang stapften sie hinter dem Offizier her, den Saumpfad entlang. Dann wies er auf ein Blockhaus, das mit einer Menge von Bruchsteinen und Sandsäcken umschanzt war, und erklärte: »Wir sind da! Etwas Neues an den Eisriesen?« fragte er die beiden Beobachtungsposten, die an einer Schießscharte standen und in den weiten Talkessel der GietrozMatte hinabstarrten. »Die Risse werden seit Mittag größer. Die Matte ist jetzt vollkommen geräumt. Drüben am Glacier Pleurer muß der Sturz jeden Augenblick erfolgen.« »Und was sollen Sie hier tun?« wollte Bracke wissen. »Beobachten!« erwiderte der Offizier. »Wenn die Eisdämme nicht gar zu gewaltig werden, wollen wir nach dem Sturz versuchen, die Sperre zu sprengen. Aber ich befürchte, daß Menschenmacht hier nichts ausrichten kann.« »Das wäre eine Aufgabe für unsere chemische Kolonne!« -181-
Bracke war wie elektrisiert. »Sie ist doch längst wieder im Heimathorst und wartet auf den eventuellen Einsatz in Grönland oder am Coppermine-River. Könnte sie hier nicht einmal zur Lösung einer Rettungsaufgabe eingesetzt werden?« Hegar nickte: »Wenn sich die Kostenfrage regeln ließe, so könnte sie schon morgen früh hier ihre Arbeit beginnen.« Er erläuterte dann dem Pionierhauptmann das neuartige Verfahren. »Hochwasser wird es natürlich geben. Aber je eher die Sperre der Drance zusammensinkt, um so geringer wird der Umfang des Stausees sein. Kann ich von hier aus mit den verantwortlichen Regierungsstellen sprechen?« Der Offiizier war begeistert: »Ich lasse sofort die Verbindung herstellen. Zehn Millionen Schaden mindestens gibt es, wenn der Rollibock ungebändigt ausbricht.« Fast eine Stunde lang wurde mit allen möglichen Dienststellen telefoniert. Aber eine klare Entscheidung war von keiner einzigen zu erlangen. Da wies plötzlich der Beobachter hinüber zu der im Widerschein der Sonne blau flimmernden Gletscherwand und schrie: »Achtung! Deckt euch, Leutli! Die Eislaue kommt!« Hundert Meter über der äußersten Gletscherzunge zeigte sich ein dunkler Strich, wurde von Sekunde zu Sekunde breiter, und nun neigte sich die ungeheure Eiswand, zerbrach im Sturz in riesige Blöcke. Jetzt wirbelten Millionen von Klötzen und Schollen die steile Bergflanke hinab, auf den Boden der Matte zu. Ein unbeschreibliches Getöse drang herüber. Der Fels zitterte. Im Gegenschlag sprangen Blöcke, Schollen und Platten drei-, vierhundert Meter hoch zu der gegenüberliegenden Felswand empor. Alle Sicht verhüllend schoß aus dem Chaos eine riesige Eisstaubwolke auf. Und nun brauste der Lawinensturm durch das Tal. Die Blockhütte wankte, die Tür wurde aus den Angeln gerissen und fortgeschleudert. Doch der grobe Bau hielt. Zusammengekauert unter der Sichtscharte ließen sich die Beobachter dieses gigantischen Schauspiels von -182-
Eisgrus, Schneestaub und aufgewirbeltem Hangsand überschütten und warteten auf das Nachlassen des ungeheuren Luftstromes. Neues Getöse und neue heulende Orkanstöße kündeten weitere Gletscherstürze an. Erst nach einer weiteren halben Stunde schmetterten die letzten Eislawinen in den Talkessel, und eine lange Weile verstrich noch, ehe der zusammensinkende Eis staub den Blick auf die Gietroz-Matte freigab. Der Talboden war zerschmettert. Kein grünes Hähnchen, kein Baum, kein Strauch war mehr zu sehen. Quer durch das Tal zog sich ein mehr als achtzig Meter hoher Eisdamm, wohl an die tausend Meter breit. Das eifrige Rauschen der Drance in der Schlucht zu ihren Füßen war verstummt. Der Pionierhauptmann stürmte zum Telefon. Doch nach einigem Horchen ließ er resigniert den Hörer sinken: »Kabel gebrochen! Wir müssen zurück nach Gietroz. Nun werden die regierenden Herren schon unsern Faden spinnen wollen!« Und wirklich, jetzt, nachdem der Augenschein gelehrt hatte, daß mit gewöhnlichen Mitteln nichts gegen die ungeheure Eisbarriere auszurichten war, gab man endlich die Zustimmung zum Einsatz der chemischen Kolonne. »Morgen am Mittag kann sie den Kampf mit der Gletschersperre aufnehmen!« versicherte Hegar. »Aber die Stauung der Drance wird dann schon so gewaltig sein, daß ich empfehlen würde, heute noch Gietroz, Chable und Sembranches zu räumen. Es ist eine warme Nacht zu erwarten. Wenn die Bewohner nur hundert Meter am Talhang hochziehen, sind sie in Sicherheit. Und bei vorsichtigen Arbeiten wird. der Schaden vielleicht nicht allzu groß werden.« Hal Spirefith verabschiedete sich jetzt. »Hätte gern noch gesehen, wie das Werk ausläuft. Aber mein Dampfer wartet in Genua nicht auf mich. Schön, Mister Bracke, daß Sie mich bis Aosta bringen wollen. Renate, Sie bleiben besser bei Freund Hegar. Ich habe heute eine so anschauliche Instruktion über die kommenden Gefahren erhalten, daß ich mir zutraue, nun der -183-
beredte Apostel unsrer Aufgaben in den Staaten zu werden. Bald werdet ihr von mir hören!« In den frühen Morgenstunden trafen bereits die Flugzeuge in Martigny ein und landeten auf dem Flugplatz. Sofort stiegen aber die Staffelführer wieder auf, um die Lage des Sperrdammes zu erkunden. Der Pionierhauptmann erschrak, als er den Umfang der angestauten Wassermassen erkannte. »Nicht den Kopf verlieren!« ermunterte ihn der Staffelkapitän. »Ehe es zu Mittag läutet, haben wir das Gröbste geschafft.« Und das schwierige Unternehmen gelang. Gegen 11 Uhr warf der Führer der chemischen Kolonne selbst die Zündbombe in das Thermitgemisch. Riesenhoch schossen die sprühenden Flammen aus der Eisbarriere. Violett leuchtete der verbrennende Wasserstoff dazwischen auf. Der Wasserdampf kondensierte an den kalten Eisflanken und überzog das ganze Tal mit einer dichten grauen Wolkendecke. An der Brücke von Gietroz stand das Pionierkommando und sah in den blauen Himmel jenseits des Felsriegels immer dunkler werdendes Gewölk aufsteigen. Das dünne Wasseräderchen, das bisher den Lauf des Bergbaches bezeichnet hatte, wurde von Sekunde zu Sekunde breiter. Schon brauste es in alter Stärke daher, schwoll jetzt noch höher, füllte mit gischtenden Fluten das ganze Bett, schoß donnernd und tobend daher, den hohen Brückenbogen erfüllend. Eisblöcke tanzten auf der wirbelnden Flut. »Die Brücke sprengen!« rief Hegar. »Sonst gibt es hier einen Rückstau, und der Ort ist verloren.« Der Pionierhauptmann nickte und dreht den Schlüssel im Zündmagneten. Krachend brach das Betongewölbe zusammen und versank in den schäumenden Wassern. Hier und da uferte der Bach aus, raste über die grünen Matten, durch die schmucken Gärten, wirbelte dort über die Fahrstraße und -184-
schmetterte auch einige nahe am Ufer stehenden Häuser zusammen. Doch mehr geschah nicht. Erst in den Abendstunden hatte sich die Flut verlaufen. Als Hegar in dem Geländewagen der Pioniere Chable erreichte, stand wohl der halbe Flecken unter Wasser, doch großer Schaden war hier auch nicht angerichtet. Bereits waren die heimgekehrten Bewohner wieder dabei, in ihre Häuser einzuziehen. In Sembranches versicherte ihm der Gastwirt, daß dies trotz des riesigen Eissturzes der mildeste Bozo sei, der je dem Tal der Drance widerfahren wäre. »Dank Ihnen, Herr Professor!« Und er holte eine ganz verstaubte, dickbauchige Flasche aus dem Keller und sagte: »Ein uralter Saxon! Herrlich wie mein schönes Wallis und milde wie der sonnigste Herbsttag! Unberechnet, weil Sie meiner Heimat geholfen haben!«
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- 23 David Coinen war hellauf begeistert, als er von der Hilfsaktion im Val de Bagne hörte, und hetzte seine Reporter in Scharen in das stille Tal der Drance, um ganze Artikelserien über diesen neuen Angriff der zunehmenden Ultrastrahlung der Presse zuleiten zu können. Vorwürfe hatte er freilich für Professor Hegar: »Sie haben mich wieder nicht orientiert! Das ist ein unverzeihlicher Fehler. Was meinen Sie, welche Weltsensation das erst werden würde, wenn ich meine Wochenschauleute bei dem Eissturz hätte kurbeln lassen können. Von der Hochflut der Drance habe ich ja ganz brauchbare Bildstreifen lancieren können. Aber der Absturz der Gletscher, die rollenden Eislawinen, der Schmetterschlag auf den Mattenboden! Das wäre ein Geschäft geworden!« »Können wir ja noch synchronisieren!« rief Bracke lachend in den Disput hinein. »Ich kenne etwas von den Alpen, die meisten Kintoppgläubigen nicht. Lassen Sie Ihre Meute auf die Bernina los! Im Hochsommer ereignen sich zwischen dem Monte Scerscen und dem Piz Roseg über dem Tschiervagletscherkessel alle Wochen solche Eisstürze, wenn auch vielleicht nicht von der Mächtigkeit, wie wir sie hinter Gietroz erlebten.« »Ich buche Ihnen tausend Dollar gut, wenn das stimmt!« versicherte der Amerikaner. »Schreiben Sie mir die unaussprechlichen Namen auf und geben Sie meinen Boys den Anreiseweg an. Dann garantiere ich Ihnen, daß wir einen tollen Film ohne viel Kosten zusammendrehen. Und natürlich gehört dazu auch die chemische Kolonne. Die können wir auch synchronisieren.« »Die läßt sich nicht!« erklärte Bracke trocken. »Das ist kein Flimmerkistenrequisit... ebensowenig wie das Werk bei Kap Gefahr. Wir fliegen nächstens dorthin. Wollen Sie nicht mitkommen, um sich von Wiedensohl nochmals ins Gebet -186-
nehmen zu lassen wegen der Quansson und einem gewissen Mister Roger Trix?« Aber die Tourenbeschreibung auf den Monte Scerscen gab er ihm vor seinem eiligen Abschied noch mit. Und sie waren nicht ohne Erfolg im Tschiervagletscherkessel tätig, die Drehleute. Die Aufnahmen waren gelungen, und mitten im Hochsommer erlebten die Massen, die allabendlich die Lichtspielhäuser füllten, ein angenehmes oder auch bedenklich machendes Grausen vor den Gefahren, die aus der Kälte für die Menschheit entstehen könnten. Und die Morgen-, Mittag- und Abendblätter brachten unter der Rubrik Aus aller Welt seltsame Nachrichten. Die Marschgeschwindigkeit vieler Gletscher in Alaska hatte sich von 12 auf 20 Meter täglich erhöht. Einige der riesigen Eisströme in Grönland hielten nach genauer Beobachtung gar den Rekord mit stündlich mehr als einem Meter. Die Zungen stießen vor. Der Biafogletscher im Karakorum war um sedis Kilometer über seinen Höchststand gewachsen. 70 Kilometer rund maß er jetzt schon. Und der White-River am Tacoma in Nordamerika ging nicht zurück, wie er es sonst jeden Sommer tat, sondern verzichtete auf jegliches Abtauen. Seine Eismasse wuchs sogar und wurde in den oberen Regionen auf mehr als 700 Meter Dicke gegen sonst 600 geschätzt. Die genügsamen Mandschus, die fleißigen Chinesen und die eifrigen japanischen Siedler im Sungaribecken schnallten sich den Leibriemen enger und erhofften wenigstens eine halbe Ernte von ihren graugrünen Sojabohnenfeldern. Die Weizenfarmer von Alberta, Saskatchewan und Manitoba ließen ihre Mähdreschsätze verrosten und zerbrachen sich vergeblich darüber den Kopf, wie sie ohne Ernte die Bankzinsen bezahlen könnten. Die lappländischen Nomaden zwisdien dem Weißen Meer und der wildzerrissenen Fjordküste trieben schon im Sommer ihre Rentierherden zurück aus den Hochtälern, weil dort die anspruchslosen Nordlandhirsche weder Moos noch -187-
Birkengestrüpp mehr fanden. In Uleaborg und Tornio, in Haparanda und auf den äußersten Erzverladebrücken von Lulea tauchten solche Lemmingsheere auf, daß man sich ihrer weder mit Gift noch mit Waffen erwehren konnte. Den Bewohnern dieser Städte am Bottnischen Meerbusen blieb nichts anderes übrig, als sich in die Häuser zurückzuziehen und auf das Abebben des braunschwarzgelben Stromes zu warten. Tagelang quietschte und kreischte es um alle menschlichen Siedlungen. Dann schwammen Millionen von den Nagern ertrunken in den Küstengewässern, in die sie sich in einer rätselhaften Panik gestürzt hatten. Weithin verpesteten ihre verwesenden Kadaver Meer und Land. Weltuntergangsstimmung schien überhaupt viele Tiere der Arktis ergriffen zu haben, obgleich noch die müde Sommersonne über den kärglichen Moosen und spärlichen Doldenträgem schien. Verzweifelt fluchten die Fischer zwisdien Vardö und den Lofoten, wenn sie tagtäglich ihre Heringsnetze von der unzähligen Schar der Klappmützenrobben zerrissen fanden, die zu Tausenden aus der BarentsSee nach Süden strebten. Von dem gewaltigen Südpolarkontinent, aus der Antarktis, brachten zurückkehrende Walfängerflottillen die Kunde, daß die Roßeisbarriere um mehr als 100 Kilometer nach Norden vorgestoßen sei. Nicht mehr durchschnittlich 45 Meter erhebe sie sich aus den nagenden Fluten des Südpolarmeeres. Über 60 Meter türmte sie sich bereits auf, was beweise, daß dieser ungeheure schwimmende Gletscher nun eine Mächtigkeit von mehr als 500 Metern habe. Hobart auf Tasmanien, Kapstadt an der Südspitze Afrikas, Ushuaia auf Feuerland erlebten täglich den Anblick treibender riesiger Eisberge. Aber noch Schlimmeres brachte der Spätsommer dem Norden der Erde. Reykjavik war trotz Mitternachtssonne und geringer Wolkenbedeckung wochenlang von den Kälbern der riesigen Grönlandgletscher blockiert. Vor Halifax und Boston -188-
schwankten die Nordmeergespenster träge in der Küstendünung, zogen dichte Nebelschleier um sich und rammten als unwiderstehliche Widder gegen die kunstvollen Piers und Molen, zerbrachen sie zu Steingrus und schmolzen langsam und träge am Strande dahin. Die Seewarnstation von NantucketIsland gab für die Antlantikschiffahrt nicht mehr Einzelmeldungen, sondern berichtete nur noch von Eisbergschwärmen, die nach Süden trieben. Jeder Steuermann und jeder Kapitän atmete befreit auf, wenn er aus den trüben Nebeln und kalten Regenschauern des Labradorstromes heraus war und das Schiff auf den milden Fluten des Golfstromes seinem Bestimmungshafen entgegensteuerte. Die Menschen merkten am wenigsten von der gewaltigen Revolution, die sich in der irdischen Atmosphäre vollzog. War es in diesem Sommer etwas kühler geworden, nun, so zog man sich eben die leichten Sommerkleider nicht an oder wenigstens einen Mantel darüber und wartete auf die schönen heißen Tage, die doch einmal kommen mußten. Man aalte sich im warmen Sand wie sonst und war zufrieden mit der milden Kühle, die das Fluß- oder Meereswasser spendete. Die Männer aber, die am Kap Gefahr auf der vergletscherten Insel um die Fertigstellung des Kraftwerkes rangen, verspürten es jeden Tag deutlicher, wie sich die würgende Kälte gegen ihr großes Vorhaben stemmte. Matotschkin Schar und die Karische Pforte, die beiden Lebensadern für den Riesenbau, wurden allwöchentlich von neuen Packeismauern blockiert. Dann rannten die Eisbrecher wieder gegen die sturen, weißen Schanzen an, die durch gewaltige Sprengstoffmassen, abgeworfen von den Fluggeschwadern, bereits erschüttert waren. Professor Hegar freute sich, als er feststellte, wie fest das Eisfeld bei Kap Gefahr lag. »Haben Sie die Dicke messen lassen, Wiedensohl?... Ja?... Zwanzig Meter im Mittel und auf -189-
Risse überall geprüft? Großartig! Drei Meter tief lassen Sie das Laugeneisbecken ausheben? Denken Sie für den Winter mehr an die Strahlungswirkung. Nehmen Sie das Becken flacher, dafür größer im Umfang. Wenn es einmal einen Riß in der Eisdecke geben sollte, der gerade durch unser Gefrierbecken ginge, dann ist das Werk geliefert!« Bill Twards, der dieser Untersuchung beiwohnte, zog laut hörbar seinen Atem ein und grinste plötzlich verbindlich. »An einem kleinen Riß kann unser Vorhaben scheitern?« fragte er voll gut gespielter Besorgnis. »Ein Loch in der Eisdecke, und schon ist es mit dem großen Kältekraftwerk aus? Aber wieso denn?« Wiedensohl hätte Hegar am liebsten einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein versetzt, als sich der Professor herabließ, die Möglichkeiten einer Fehlosmose dem Nordwestmann darzulegen. »Tritt durch einen Spalt oder ein Loch Meerwasser in das Laugengefrierbecken, so verändert sich selbstverständlich das Lösungsvolumen sehr zu unsem Ungunsten, gesehen von der Kältegewinnung aus. Wir können bei einer 50prozentigen Verwässerung nur noch rechnen, daß wir einen Kälteabfall von kaum der Hälfte des berechneten Wirkungskoeffizienten erreichen... Aber verstehen Sie mich denn?« »Ganz genau!« sagte Bill Twards. »Kommt alles in Ordnung, wenn es dazu Zeit ist. Komisch, Professor! Nur ein Loch, und vorbei mit den Hoffnungen? Muß ich mir merken!« Um die übrigen Erläuterungen, die Bretthorst und Wiedensohl noch Hegar und Bracke gaben, um die voraussichtlichen Leistungsdiagramme der Turbinen und der Generatoren, um das Ausglühverfahren des roten Quarzes und die wahrscheinlich zu produzierenden Kohlensäuremengen neben den Sdunelzgütem aus den Erzen kümmerte sich Copper-Bill nicht. Er schritt nach dem Rundgang zurück zu seiner Wohnbaracke und murmelte, als er sich allein wußte: -190-
»Die Quansson und ein Loch im Eis! Kommt euch sicher ziemlich teuer zu stehen, Moschurs!« Hegar war begeis tert über die außerordentlichen Fortschritte, die der Werksaufbau in den Hochsommermonaten gemacht hatte. Wiedensohl versicherte ihm: »In einem Monat werden bereits die Schlepprechen die Laugeneisschuppen aus den Gefrierbecken sammeln. Dort drüben sehen Sie die Montierung der Transportbänder, die das Kühleis in den Kondensator schaffen sollen, im vollen Gange. Die Saugrohre für die Verdampfer sind verlegt, und die Meerwasserpumpen schon angeschlossen. Hoffentlich kommen die Tanker, die uns den Betriebsstoff, das Butan, hierherbringen sollen, noch gut durch Matotschkin Schar. Im Felsrand drüben an der Ledja Barentis habe ich die Vorratsbehälter einbauen lassen. Theoretisch kann ja nur ein kaum spürbarer Butanverlust eintreten. Doch ich will gegen alle Fälle gesichert sein. Mindestens das Sechsfache dessen, was die Maschinen treibt, muß als Reserve gehalten werden. Dann sind wir gegen alle Zwischenfälle geschützt.« Mit einem gewissen Stolz führte Ingenieur Bretthorst die Besucher durch die Wohnhallen, die sich direkt an die Maschinensäle anschlössen. »Die Großzügigkeit der Planung ermöglichte uns eine ganz neuartige Bauweise für die Unterkünfte des Bedienungspersonals. Die Härte des Polarwinters und die Eigenart des Klimas hier auf der Nordinsel von Nowaja Semlja legten uns diese Konstruktion nahe: Wohntrakt, Straße und Freigelände in einer weitspannenden Halle zu vereinigen. Die im Überfluß erzeugte Elektrizität wird alles mit reichlich Wärme und strahlendem Licht erfüllen. Tennisplatz, Sportgelände, ja sogar ein wohl temperiertes Schwimmbad stehen dem Werkspersonal zur Verfügung. Die Frauen, die ihre Männer hierher begleiten wollen, werden kaum mehr Unannehmlichkeiten zu ertragen haben als ihre Schwestern im winterlichen Heimatland, abgesehen von einer gewissen Raumbeschränkung.« -191-
»Und wieviel Mann wird die Belegschaft zählen?« wollte Hegar wissen. »Einhundertfünfzig! Aber Platz haben wir für mehr als 500 Bewohner. Zur Bedienung der Maschinen brauchen wir je Schicht nur zwölf Personen. Die übrigen werden in der Erzschmelze und im Quarzbruch beschäftigt. Darf ich Ihnen dann noch unser neues Verfahren zur Freimachung der Kohlensäure vorführen? Ich glaube, wir kommen mit der inneren Widerstandsglühung am schnellsten zum Ziel. Ich muß den Strom vorläufig noch durch einen Schwerölmotor erzeugen lassen«, erläuterte er dann die neuen Geräte, die bereits angesetzt waren, um einen Tunnel durch den ganzen Gebirgsstock bis zum jenseits liegenden Riesengletscher Oltenu Baba Nenez zu bauen, der im Sommer das große Kältereservoir bilden sollte. »Das sind keine Bohrmaschinen, wenn ihre Wirkung auch eine ähnliche ist. Der hochgespannte Strom wird durch den roten Quarz von diesem Pol bis zu jenem geleitet. Der Widerstand, der sich in dem schlecht leitenden Mittel den Elektronen entge genstellt, wird als Wärme spürbar und zersetzt das gasreiche Gestein. Die staubigen Reste werden hier abgesogen und durch eine Gebläseleitung forttransportiert. Einschalten, Fritz!« befahl er einem Arbeiter, der an der eigenartigen Maschine stand. Ein hoher Summton klang auf, als die beiden Pole gegen die Gesteinsschicht gepreßt wurden. Schneller als eine Knallgasflamme ins Eisen fraßen sich die fast einen Meter auseinandergestellten Arme in die spröde Felswand. Fauchend saugte ein Exhaustor die freiwerdenden Gasmassen und den Zerfallsstaub in die Windlutten. Langsam wurden die Polträger nach oben verstellt, und bald klaffte ein fußbreiter Spalt in dem mattrot schimmernden Quarz. »Nach genauen quantitativen und qualitativen Analysen gewinnen wir aus dem Kubikzoll etwa 500 Kubikmeter Kohlensäure und 100 Liter Wasserdampf. Das ist ein beinahe -192-
ideales Ergebnis. Wenn uns erst die Elektrizität aus dem Großwerk zur Verfügung steht, können wir leicht 50 solcher Maschinen ansetzen, um den Tunnelbau mühelos während der Wintermonate durchzuführen. Später natürlich auch hunderte, wenn erst die Welt eingesehen haben wird, daß es notwendiger ist, unser seltsames Lebensgas zu erzeugen, als Platin und Kupfer zu gewinnen.« Wiedensohl freute sich über das uneingeschränkte Lob, das ihm und seinen Helfern zuteil wurde. Aber er lehnte bescheiden ab: »Wenn eine Idee Tat werden soll, dann finden sich die Hilfsmittel fast von alleine. Hauptsache, daß der Grundgedanke der richtige war. Daher verdanken wir im Grunde genommen alles nur Ihnen, Herr Professor, mögen wir auch manchmal eine eigene Kurve in Ihre große Planung hineinkomponiert haben. Und nun wollen wir uns nach dem langen Rundgang etwas stärken. Wann fliegen Sie wieder ab? Morgen schon?... Aber am Tage der Einweihung des Werkes sehen wir Sie doch wieder?... Und dann muß natürlich auch die zarte Frauenhand mitgeliefert werden, die den Schalthebel niederdrückt, damit die Turbinen anlaufen. Jawohl, Fräulein Renate erwarten wir bestimmt hier zur offiziellen Übergabe! Am 1. Oktober, mittags 12 Uhr, steht das Werk betriebsfertig da!«
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- 24 In den Herbsttagen dieses Jahres widerfuhr Hegar eine stolze Freude. Chikago, die Riesenstadt am Michigansee, erlebte in den Septembertagen einen solchen Temperatursturz, daß der farbenleuchtende Ind ianersommer in einem Regen- und Schneegemisch ertrank. Vierzehn Tage lang starrten die Maiszüchter von Illinois, lowa und Indiana verzweifelt in das Matschwetter hinaus, das in diesem Jahr Monate zu zeitig einsetzte und damit alle ihre Erntehoffnungen begr ub. Zwar besserte sich nach einer zweiwöchigen Schlechtwetterperiode die Temperatur wieder; doch der zernarbte Pferdezahnmais und der glatte Tuscarora hatten ihre Körner nicht mit Stärke, Eiweiß und Fett füllen können. »Nicht einmal zu verwenden als Mixed Pickles!« fluchten die mutlos gewordenen Farmer. »Was sollen denn unsere Schweine fressen? Da wird doch immerfort von der Kältewelle gefabelt. Warum unternimmt das Weiße Haus nichts dagegen. Soll doch ein Wundermittel geben!« So kam es, daß Hal Spirefith Hegar mitteilen konnte, daß auf seinen Vorschlag hin der deutsche Forscher zum Vorsitzenden einer Weltkältekonferenz ernannt worden sei und ein Gremium von Technikern, Wissenschaftlern und Politikern auf seine Vorschläge warte. Hegar kabelte zurück: »Keine Zeit mehr zu Diskussionen und Abstimmungen. Sprechen Sie, Freund Hal, und drücken Sie Vulkankraftwerke durch. Weltkältekonferenz für den 1. Oktober eingeladen zur Inbetriebnahme des ersten Polarkraftwerkes bei Kap Gefahr, Nowaja Semlja. Entscheidung aber bald erwünscht.« So geschah es, daß Flugzeug auf Flugzeug auf dem Rollfeld mitten in der bereits winterlichen Landschaft der vergletscherten Nordinsel landete und die Werksleitung Mühe hatte, die vielen -194-
Gäste unterzubringen. Renate Veith, die bereits seit mehreren Tagen in dem Wohntrakt weilte, wurde etwas nervös. »Wiedensohl, ich habe vor dem feierlichen Akt einen Bammel, den ich gar nicht beschreiben mag. Wenn ich nun auf den Hebel drücke und die Maschinen laufen nicht an?« »Unsinn, solche Gedanken!« schalt sie der Niedersachse aus. »Alle Probeläufe haben hundertprozentig unsere Erwartungen erfült. Warum sollte es in einer Stunde anders gehen? Also nun aber ruhig Blut. Erst den blauen Hebel umlegen, dann das Fernmanometer beobachten, bis der Zeiger auf dem roten Strich steht. Endlich den silberweißen Hebel kräftig herabdrücken, bis er in den Halterasten sitzt. Dann fangen sofort die Maschinen ihren Lobgesang an.« Es herrschte in der großen Maschinenhalle eine recht bittere Kälte, als endlich die große Zeremonie steigen konnte. Alle Redner faßten sich sehr kurz. Als der scharfgeschnittene Gelehrtenkopf Professor Hegars auf der Rednertribüne auftauchte und sich drüben auf der Meßbühne eine schlanke Mädchengestalt vor einer großen Schalttafel emporreckte, wurde es totenstill. »Das erste Kältekraftwerk der Welt ist vollendet. Möge es nun anlaufen zum Heile der gesamten Menschheit und zum Ruhme der Forscher und Denker, die die Voraussetzung für die Durchführung dieses gigantischen Vorhabens geschaffen haben! Einschalten, Renate!« Klick! Alle Zuschauer starrten auf die riesigen Maschinenelemente. Surrend liefen einige Pumpen an, knarrend begannen Transportbänder und Becherwerke ihre Tätigkeit. Doch die Turbinen sangen noch nicht, und keine blauen Flirrfunken tanzten um die Abnehmer der Dynamos. Unruhe brach aus. Köpfe neigten sich zueinander, und Zweifelsworte wurden geflüstert. Da griff das schlanke Mädchen nach einem zweiten Hebel und riß ihn energisch in die Ein-Stellung. Ein tiefes Brummen verschlang plötzlich jedes andere Geräusch; es wurde wie der Gesang einer angelassenen Sirene immer höher -195-
und höher, blieb jetzt stetig auf einem Ton, und zugleich flammten alle elektrischen Strahler auf, erfüllten die hohe Maschinenhalle mit einem warmen Leuchten, und eine milde Brise wehte aus den Öffnungen der Klimaanlage über die Festgemeinde. »Hurra!« schrie einer, und die ändern stimmten mit ihren Begeisterungsworten zu, umdrängten Hegar und Wiedensohl und das Mädchen Renate, wollten ihre Hände schütteln und ihre Glückwünsche anbringen. Doch sieghaft übertönte alles der herrliche, volle Gesang der Turbinen. Erst im großen Gemeinschaftssaal des Wohntraktes, wo das Festmahl gedeckt war, konnten sich die Begeisterten in mehr oder weniger geistreichen Trinksprüchen ihre Bewunderung vom Herzen reden. David Coinen schoß wie ein Wiesel von einem Gast zum ändern. Er schien alle zu kennen, und gerne gaben sie dem gewandten Geschäftsmann Informationen und Auskünfte. »Tausend Millionen Dollar könnte ich heute aus den Leuten herausholen, wenn Sie nur damit einverstanden wären, eine Aktiengesellschaft für Kältekraftwerke aufzuziehen!« sagte er vorwurfsvoll zu Hegar. »Man soll das Eisen schmieden, solange es warm ist. Und jetzt sind die kühlsten Geldmagnaten weich wie Butter an einem Julitage. Wir haben auf der ganzen Linie gesiegt!« »Wir?« Wiedensohl gab dem kurzen Wort einen spöttischen Klang. »Sie oder wir?« »Ich gehöre doch zu Ihnen! Auf Gedeih und Verderb, Mister Wiedensohl!« beschwor ihn der gelenke Weißkopf. »Wenn ich durch meine Presse-, Funk- und Bildagitation die öffentliche Meinung nicht aufgerüttelt hätte, glauben Sie, daß dann das Riesenwerk zustande gekommen wäre? Wiedensohl, lassen Sie uns in dieser Feierstunde die Streitaxt begraben. Ich war unvorsichtig, daß ich Ethelrid Quansson hierhersandte, und Sie -196-
haben unnötigerweise den König der Reporter, Roger Trix, beleidigt. Der nimmt es Ihnen immer noch schwer übel. Er war durch keine Versprechungen dazu zu bewegen, nach Kap Gefahr mitzukommen.« »Sein Glück!« knurrte Wiedensohl. »Ich hätte ihm alle seine Anregungsplatten rechts und links für seine unverschämten Lügen um die Ohren geschlagen.« »Machen Sie doch Frieden!« bat auch Renate Veith. »Ich werde heute mein Stübchen sogar mit der Freundin von Bill Twards teilen müssen, weil sonst kein Platz ist.« »So? Ist die auch wieder da?« brauste der Niedersachse auf. »Die werde ich aber auf den Trab bringen!« »Oder nicht!« warf Coinen ein. »Nachdem bereits zehn Frauen der Maschinenführer ihre Zelte hier in der Eiswüste aufgeschlagen haben, sehe ich keine Veranlassung mehr, meinen Mitarbeiter Bill Twards seiner geistigen Stütze zu berauben. Außerdem haben ihr die hier zuständigen Regierungsstellen eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt.« | »Das kann gut werden!« Wiedensohl reckte sich und schob mit einem Ruck seinen Stuhl hinter sich. »Aber meinetwegen! Nach vier Wochen räume ich ja das Feld. Doch, Coinen, wenn die gewisse Quansson wieder hier Unfrieden stiftet, spreche ich mit Ihnen! Und dann sollen mir Ihre gut frisierten weißen Haare kein Grund zur Mäßigung sein!« Wütend stapfte er hinaus. Achselzuckend sah ihm der Amerikaner nach und murmelte zwischen den Lippen: »Mächtig, aber auch dumm wie ein Eisbär!... Bill Twards! Kommen Sie einmal mit an die Luft! Ich habe einiges mit Ihnen zu besprechen.« Wochenlang war das Kältekraftwerk bei Kap Gefahr die Weltsensation in allen Blättern, für alle Sender und auf jeder Lichtspielbühne. Bittere Kälte brach zwar schon in den letzten Oktoberwochen in die zivilisierte Welt ein. Doch den Schaden -197-
hatten nur die Rübenbauer und die Winzer, die um den größten Teil des Ertrages ihrer Jahresarbeit gebracht waren. Man kann die Kälte mit der Kälte selbst besiegen! Das machte alle, die fröstelnd in den Straßenbahnen und Subways hockten, stolz und ließ sie den Jammer der Geschädigten vergessen. Wochenendfeuilletonisten orakelten schon über die Verfahren, wie man die verderbenbringende Ultrastrahlung der Sonne abschalten könne, und der geschäftsführende Ausschuß der Weltkältekonferenz wurde mit mehr oder minder hirnverbrannten Projekten überschüttet, die angaben, auf welchem Wege man die Sonne knockout schlagen könne. Unter ihnen war der Vorschlag, mittels Raketenschiffen eine Weltraumstrahlenwehr zu bilden, noch der geistvollste. Bei Kap Gefahr lief inzwischen der Betrieb mit voller Kraft. Die Metallschmelzerei brachte gute Ergebnisse, und mehr als hundert Quarzzerleger arbeiteten bereits an der Aufschließung des rostroten Gesteins. Ein Mann konnte zwanzig dieser Bohrmaschinen bedienen, und Tag und Nacht spien die Luttenöffnungen das wärmebindende Gas in die Atmosphäre. Professor Hegar hatte schon längst wieder das rauhe Land verlassen, da ihn Spirefith unbedingt in Amerika brauchte, wo konstruktive Pläne für die ersten Vulkankraftwerke zu erwägen waren. Bracke hatte ihn begleitet, doch Renate Veith war in dem Butanwerk geblieben. »Laßt mich doch hier!« hatte sie gebeten. »Was soll ich allein in Handschuhsheim? Hier kann ich mich eher nützlich machen. Wenn Wiedensohl in vier Wochen die Baustelle verläßt, komme ich mit ihm in die Heimat zurück!« Und sie hatte ihren Willen durchgesetzt. Sie stand der Gemeinschaftsküche vor und präsentierte an der Tafel der Werksleitung. Vierzehn Tage lang saß neben ihr auch Ethelrid Quansson, und die beiden kamen sogar einigermaßen gut miteinander aus. Dann aber hatte das Mädchen aus New York die Polarluft über und brauste wieder nach Berlin zurück. -198-
Seitdem schien der alte Nordwestmann Bill Twards von einer stetig steigenden Unruhe erfüllt zu sein. Wiedensohl spottete manchmal: »Ein Weiberrock zieht bei euch mehr als zehn Pferde, Bill! Spurten Sie ihr doch nach! Neues vom ganzen Maschinenbetrieb könnt ihr doch nicht mehr lernen, und Wacholderschnaps ist in Berlin in größeren Mengen und auch billiger zu bekommen als hier.« Knurrend erwiderte dann der Prospektor: »Ich starte bald! Möchte gern nur noch erleben, wenn die Maschinen Havarie haben. Was ihr dann anrangt, das muß ich noch lernen.« Schwere Stürme, die ungeheure Schneelasten auf die Dächer herabwehten, waren über das Werk hinweggebraust. Nun bewährten sich aufs beste die Schmelzanlagen, die in der Dachbedeckung eingebaut waren. Keine drückenden Lasten konnten die Haltefestigkeit der Tragbögen erschüttern. Auch rund um das Werk hielten elektrische Wärmestrahler die Ebene frei von Schneeverwehungen. Im Windschatten der Hallen bot sich für die Bewohner der Polarsiedlung immer noch einiges Gelände zum Auslaufen. Nun waren aber schöne Tage gefolgt. Zwanzig Stunden lang hing, flimmernd von unzähligen Sternen, der Nachthimmel täglich über dem Kältekraftwerk. In wunderbaren Serpentinen fielen die geheimnisvollen Nordlichter aus dem Firmament auf die Insel. Zwar zeigte das Thermometer manchmal 40 Grad unter Null; doch da kein eisiger Wind blies, konnte man sich hinaus in das Freie getrauen. Häufig fanden die Männer um den elektrisch geladenen Gitterzaun die Spuren von Eisbären; doch wie sie sich auch Mühe gaben, einen der Burschen zu erlegen, niemals wollte sich einer schußgerecht zeigen. »Es muß von den Bestien hier geradezu wimmeln!« behauptete der Bergbauingenieur, der den Polarsommer über die Aufschließung der Platinsande hoch oben am Tscheljustin Jab geleitet hatte und nun den Winter über hiergeblieben war, um einige neue Fundstellen zu prüfen. »Nehmen Sie sich in acht, -199-
Fräulein Veith, und gehen Sie niemals ohne die schwere Sprenggeschoßpistole aus.« Doch sie lachte nur über die Warnungen. »Die getrauen sich niemals in die Drähte der Gatter. Die elektrischen Schläge, die sie schon bezogen haben oder noch beziehen werden, müssen ihnen eine unheimliche Scheu eingeflößt haben.« Und sie unternahm weiter ihre täglichen Ausgänge. Häufig stand sie dann an dem riesigen Gefrierbecken für die Lauge, das ein weites Oval bildete, und sah dem Arbeiten der automatischen Schlepprechen zu, die die Eisschuppen sammelten und bis zu dem Transportband heranschoben. Auch Bill Twards schien ein besonderes Interesse für diesen Teil des Werkes zu haben. Er stolperte manchmal weit hinaus auf das Packeisschild bis zum Grenzgatter und schien die Festigkeit der Schollen zu prüfen. Renate neckte ihn: »Was suchen Sie da in der weißen Wüste? Eigentlich müßten Sie doch nur die Maschinen beobachten!« Dann brummte er: »Habe Sorge vor Rissen! Fließt die Lauge ab, bleiben die Turbinen stehen, gibt es keinen Strom mehr, erfrieren wir alle trotz elektrischer Heizung und Klimaanlage.« »Malen Sie den Teufel nicht an die Wand! Übrigens, wollen Sie nicht bald abreisen?« »Spätestens in einer Woche. Warte nur noch auf eine letzte Weisung vom Chief!« Und an einem Abend, es war erst nachmittags drei Uhr, aber die Sonne war bereits hinter den Randbergen der Bucht versunken, erklärte er: »Morgen Start nach Berlin! Habe die Sache hier satt. Geschieht ja doch nichts bei Kap Gefahr!« Gegen vier Uhr morgens wachte Renate auf. Sie war früh zur Ruhe gegangen, und nun floh sie der Morgenschlaf. Sie wollte dem alten Nordwestmann, der bereits um 6 Uhr zum Rückflug startete, eine letzte kleine Freude machen und zog sich rasch an, um in der Küche ein vollwertiges Frühstück zu bereiten. Als sie -200-
an das Fenster trat und die warmen Friesvorhänge zur Seite schob, sah sie die weite Eislandschaft von einem wunderbaren Blau-Rot-Glanz übergossen. Ein riesiges Polarlicht schwebte im Nordosten, und von ihm sank in herrlichen Draperien die Strahlenfülle herab. Fast verblaßten dagegen die grellen elektrischen Lampen, die hoch über dem Laugenbecken hingen. Sie sah die Schlepprechen wandern und das Eis sammeln. Plötzlich erschien es ihr, als wenn auf dem Traggerüst des einen ein Mann stand. Aufmerksam blickte sie dorthin. Da war die dunkle Gestalt wieder verschwunden. Doch in der matt schimmernden Fläche des Beckens leuchteten nun an zwei, drei Stellen seltsame Funkenregen auf. Überrascht schaute sie zum Himmel empor; denn es konnte sich ja nur um den Widerschein einer besonderen Art der Nordlichtstrahlung handeln. Doch im Firmament hingen immer noch die leuchtenden Draperien und bewegten sich geheimnisvoll nach unbekannten Gesetzen. Das seltsame Phänomen war jetzt übrigens verschwunden. Wie brüniertes Silber schimmernd lag wieder das Laugenbecken da, und die Schlepprechen zogen darin ihre dunklen Bahnen. Doch am Ufer stand tatsächlich ein Mann. Sie warf sich den Pelz über und eilte zum Eingang des Wohntraktes. Dort wäre sie beinahe mit Bill Twards zusammengestoßen, der schon das Wind haus betreten hatte. »Waren Sie so früh draußen am Gefrierteich?« fragte sie ihn. Er schob sie mit dem Ellenbogen zur Seite, knurrte einige unverständliche Worte und drängte sich an ihr vorbei in die Straßenhalle. Aber sie ließ sich von seinem unwirschen Benehmen nicht zurückschrecken. »So antworten Sie doch, Twards! Ich sah vorhin im Laugenbecken ganze Funkenbündel aufsprühen. Haben Sie das auch beobachtet?« Er blieb stehen und sah sie aus zusammengekniffenen Augen tückisch an: »Haben sich wohl den Schlaf noch nicht aus den Augen gewischt. Miß Veith? Funken in der Lauge? Nonsens! Gibt es ja gar nicht! Nordlichtspuk da draußen. Da kriegen sogar -201-
alte Männer den Polarkoller. Bye, Miß! Fliege in einer Viertelstunde ab!« »So früh schon?« meinte Renate verwundert. »Ich wollte Ihnen schnell ein richtiges Männerfrühstück bereiten. Das müssen Sie unbedingt noch einnehmen!« »Keine Zeit! Viel zu lange schon hier getrödelt! Viel Vergnügen hier zwischen Kältetod und Eisbärenhieb! Muß an eine andere Arbeit! Bye!« Und er griff nach einem Handkoffer, der in der Straßenhalle bereitstand, und drängte sich an ihr vorbei wieder in das Windhaus und von da ins Freie. Im Dauerlauf eilte er auf das Rollfeld zu. Als er in das Licht der großen Strahler trat, wurde drüben auf dem Flugplatz ein Motor angeworfen, und langsam schob sich eine wuchtige Maschine auf den Startplatz. Keine drei Minuten waren vergangen, da gab der Pilot Vollgas, und mit donnernden Propellern schoß das Flugzeug nach Südosten fort. »Eine seltsame Hast!« Renate dachte es laut. »Was hat diese merkwürdige Regie bei der Abreise zu bedeuten? Ob man Wiedensohl nicht unterrichten soll?« Sie zögerte vor seiner Wohnung. Doch dann fiel ihr ein, daß gestern abend die Rede von einer lustigen Abschiedsfeier gewesen war, einer richtigen Männersache. Daher schritt sie an der Tür vorbei und suchte wieder ihre Räume auf. Sie warf sich auf das Bett; doch einschlafen konnte sie nicht mehr. Sie grübelte über ihre Beobachtungen nach, konnte aber für das Geschaute keine logische Erklärung finden. Früh um sechs Uhr war sie schon wieder auf den Beinen, um in der Küche die Bereitung des Frühstücks zu überwachen. Auf dem Gang dorthin traf sie Wiedensohl, der, frisch rasiert und gut geduscht, eben aus seiner Wohnung trat. »Guten Morgen, Fräulein Renate!« rief er ihr fröhlich entgegen. »Der Tag fängt gut an, würde jeder alte Jäger sagen. Frühstück?... Moment! Ich muß von Twards noch einige Schlüssel zurückerbitten, ehe er -202-
abfliegt.« Sie hielt ihn fest: »Bill suchen Sie, Wiedensohl? Aber der ist ja schon um vier Uhr gestartet. Ich traf ihn zufälligerweise... « »Wie?« Er sah sie erstaunt an. »Twards bereits seit zwei Stunden über den Harz? Er hat mir doch hoch und heilig versprochen, nach dem Männertrunk gestern abend unser Katerfrühstück noch gemeinsam einzunehmen. Und die Schlüssel?« Er eilte hastig zu den Wohnräumen des alten Nordwestmannes. Auf dem Tisch des Vorzimmers lagen die gesuchten Türöffner und dabei ein Blatt Papier, auf dem in ungelenken Zügen geschrieben stand: »Reise umdisponiert! Farewell, Kap Gefahr! Copper-Bill.«
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- 25 »Merkwürdiger Abschied!« lachte Wiedensohl. »Meinetwegen! Hauptsache, wir sind den Burschen los. Ich habe ihm nie richtig über den Weg getraut. Was suchen Sie denn hier noch?« wandte er sich dann an Renate, die an das Fenster getreten war und die Vorhänge zur Seite zog. »Was ist das für ein seltsamer Kasten?« fragte sie und wies auf eine mit grellroter Farbe angestrichene Blechkiste, die hinter dem schweren Fries verborgen gestanden hatte. Der Pilot betrachtete kopfschüttelnd den Fund. »Der alte Mann scheint seine Geheimnisse gehabt zu haben. Ist das eine chemische Formel?« Er entzifferte einige Zeichen: »Al+Fe2 O3 =12 piece by piece 8 pounds... Das Englisch verstehe ich: 12 Stück für Stück 8 Pfund... AI?... Mein Gott, das ist ja die Formel für Aluminiumthermit Al+Fe2 O3 ... Aluminium und Eisenoxyd. Unsere chemische Kolonne benutzt das Zeug, und die Lieferkisten tragen auch dieselbe Aufschrift.« Er schüttelte den Blechkasten... »Leer! Aus unsem Lagerbeständen stammt er nicht.« »Wozu benutzt man dieses Gemisch?« wollte Renate wissen. »Um eine gewaltige Hitze zu erzeugen. Auch das Schmelzmaterial unserer chemischen Kolonne besteht daraus.« »Um Himmels willen!... Aber nein, das Feuer kam ja aus dem Laugenbehälter, und im Wasser brennt ja nichts!« Beruhigt wollte sie den Fenstervorhang schließen. Doch Wiedensohl packte so heftig ihren Arm, daß sie erschrocken aufschrie. »Was wollen Sie von mir?« »Was haben Sie gesehen, Renate? Flammen aus dem Gefrierbecken?« Er atmete heftig. Sie machte sich mit einem schnellen Ruck frei. »Flammen?... Nein, das wäre falsch. Ein seltsamer Funkenregen schien hinter -204-
dem Schlepprechen aufzusteigen. Ich hielt die Erscheinung für die Widerspiegelung des Nordlichtes in der gefrierenden Lauge, und auch Bill Twards war derselben Meinung, als ich ihn nach seinen Beobachtungen fragte.« »Und war dieser Bursche hier im Hause?« »Nein, er kam drüben vom Packeisfeld. Das war überhaupt alles so seltsam!« Und sie berichtete ihm, was sie gesehen und dann mit Bill Twards erlebt hatte. Wiedensohls Gesicht schien immer mehr zu versteinern. »In die Pelze!« stieß er hervor, als sie alles erzählt hatte. »Eigentlich müßte ich jetzt schon großen Alarm geben; aber erst will ich mich selbst davon überzeugen, ob das Wahrheit ist, was ich vermute. Eine hundsföttische Teufelei ist hier angestellt worden. Die Existenz des Kraftwerks steht auf dem Spiel! Vorwärts, Renate! Sie müssen mir draußen am Laugenbecken assistieren!« Er eilte in seinen Arbeitsraum und kam mit einer breiten Ledertasche zurück. Auf dem Weg zum Strand öffnete er sie und holte einige unten kuglig erweiterte Glasröhren, die eine Skala trugen, heraus. »Aräometer!« erklärte er Renate die Instrumente. »Unsere Lauge hat ein spezifisches Gewicht von 1,55. Die blaue Linie bedeutet den Eichstrich. Wenn der Schurke das Becken vor mehr als zwei Stunden angezapft hat, dann müßte sich bereits eine wesentliche Verdünnung zeigen.« »Aber in dem kalten Laugenwasser kann doch nichts brennen?« warf sie im Laufen ein. »Holz und Stroh freilich nicht. Aber dieses verdammte Thermit! Das Eisenoxyd trägt in sich genug Sauerstoff, um die Verbrennung des Aluminiums zu unterhalten. 3000 bis 4000 Grad Hitze werden dabei frei, genug, um meterweite Öffnungen in das Packeis zu schmelzen. 8 Pfund Stück für Stück! Mir graut, wenn ich an die Folgen denke!« »Und die wären?« Doch Wiedensohl fand nicht mehr Zeit zur Antwort. Er schwang sich bereits auf die Führungsbahn der -205-
Schlepprechen, die das Gefrierbecken durchquerte, eilte zehn Meter hinaus und warf dann das erste Aräometer an der Halteschnur aus. Er brauchte gar nicht zu warten, bis sich die Bewegungen des Schwimmkörpers beruhigt hatten. »Es sinkt viel zu tief ein!« rief er, und in seiner Stimme schwang Schrecken und Zorn. »Die Dichte beträgt höchstens noch 1/25 ! In 24 Stunden wird sie gleich der des Meerwassers sein. Damit geht unsere Kälteausbeute auf den fünften Teil zurück. Das bedeutet, daß wir kaum noch 20 Prozent des Wärmegefälles zur Verfügung haben. Die Maschinen bleiben stehen, der wärmespendende Strom setzt aus, und wir müssen Kap Gefahr räumen. Vorbei... Farewell, Kap Gefahr! O du hundertgrädiger Schuft und Schurke!« Noch vier Kontrollmessungen nahm Wiedensohl vor. Die Ergebnisse wichen nur um einige Hundertstel ab. Schon zeigte das Laugene is, das die Schlepprechen auf das Transportband warfen, eine andere Struktur. In den Vorratshalteräumen lagen feine, kaum pfenniggroße Schuppen und Schildchen, jetzt holten die Fangzähne fast fingerlange, rötliche Eisnadeln heraus. Mit müden Schritten ging Wiedensohl auf das Eingangstor zu. »Alarm!« sagte er wie im Selbstgespräch. »Wozu eigentlich noch Alarm, Renate? Sind wir nicht schon fertig?« »Ich verstehe nicht alles, Wiedensohl!« sagte sie. »Daher fehlt mir wohl auch der große Pessimismus, der Sie gepackt hat. Haben wir keine Vorräte an gefrorener Lauge mehr?« »Genug Rohmaterial liegt da, um drei solcher Becken zu füllen. Aber wo nehme ich die Reservebecken her?« »Bauen, Mann! Neu bauen! Brennen wir nicht die Felsen mit den Widerstandsbohrern zu Gas und Staub? Sollte Eis härter sein?« Der Pilot verhielt einen Augenblick lang seine Schritte: »Wäre das ein Weg? Ja, das muß einer sein! Drücken Sie den roten Hebel auf Ein! Im Straßentrakt hat alles anzutreten! Ich -206-
muß mich schnell noch mit Bretthorst besprechen. Vielleicht! Vielleicht! Ja, das muß gehen!« Grell klangen bereits die Klingelsignale durch alle Räume und Maschinenhallen. Alles, was zu der Belegschaft des Werkes gehörte und nicht gerade Dienst an den Maschinen tat, strömte auf der breiten Mittelstraße im Wohntrakt zusammen, trat zu seinem Gruppenführer und wartete auf die Männer der Werksleitung. Sie staunten nicht wenig, als die großen Röhrenstrahler erloschen und nur müde Notlampen ein kärgliches Licht in der gewaltigen Halle verbreiteten. Plötzlich stand Wiedensohl auf der Estrade vor dem Gemeinschaftssaal/ und seine erhobene Hand heischte Ruhe. »Kameraden!« sagte er emst. »Unser herrliches Werk ist in Gefahr. Ein Bubenstreich ist verübt worden, der seinesgleichen in der ganzen Geschichte sucht. Bill Twards, kein anderer kann es gewesen sein, hat mittels Thermitbrandkörpern Löcher durch die Packeisdecke, die den Laugenbehälter trägt, gebohrt. Die Lauge vermischt sich seit Stunden bereits mit dem Meerwasser, gefriert daher eher und liefert uns viel weniger Kälte, als wir zur Aufrechterhaltung des Betriebes brauchen. Es gibt nur zwei Wege, die wir einschlagen können. Entweder wir räumen Kap Gefahr... oder wir bauen sofort ein neues Gefrierbecken. Nach vorsichtigen Schätzungen brauchen wir dazu, wenn wir alle mit Einsatz der letzten Kraft darangehen, sechs Tage. Die Wetterlage ist gut und verspricht fest zu bleiben. Für sechs Tage haben wir noch genug Laugeneis zur Verfügung, um den Betrieb wenigstens in beschränktem Ausmaß aufrechtzuerhalten. Halt, stimmt noch nicht zu! Um Strom zu sparen, müssen wir auf die gewohnte Lichtfülle verzichten. Die Klimaanlage werde ich bis auf eine Innentemperatur von 4 Grad plus drosseln müssen, um nur den nötigen Arbeitsstrom zu gewinnen. So, nun entscheidet! Feiger Abzug oder mutiger Neuaufbau!« »Bauen!« riefen viele Stimmen. »Abhauen können wir immer -207-
noch!« »Dann wollen wir es versuchen! In 15 Minuten stehen alle Mann fertig zur Arbeitsaufnahme wieder hier. Es gilt im Freien zu schaffen... und draußen herrscht eine Temperatur von 40 Grad minus. Die elektrischen Widerstandsbohrer sofort aus dem Tunnelbau zum Laugenbecken! Kommen Sie, Bretthorst! Wir müssen die Lage des neuen Gefrierfeldes abstecken!« Als er über den Schnee zum Strand schritt, wurde er beinahe kleinmütig. »Wie sollen wir das schaffen?« sagte er und wies auf die breiten Transportbänder und die automatischen Schlepprechen hin, die immer noch in Tätigkeit waren. Doch Ingenieur Bretthorst erklärte: »Das neue Laugenbecken kommt einfach auf die rechte Seite des laufenden Bandes. Bisher wurde das Fördergut von links zugebracht, nun, in einigen Tagen, von der andern Seite. Die größte Schwierigkeit besteht im Umbau der Schlepprechen. Wir müssen sofort beginnen, die Führungsschienen zu verlegen. Reservematerial ist ge nug da. Ich brauche dafür mindestens 60 Mann. Die genügen für die Montage. 30 Leute, um das Baumaterial heranzuschaffen, 20 werden an den Werkmaschinen gebraucht... mit dem Rest heben Sie das neue Becken aus. Zweischichteneinteilung... ich glaube, wenn alles glatt geht, können wir es schaffen!« »Oder sollen wir nicht besser Hilfe anfordern?« fragte Wiedensohl. »Dann erfährt die Öffentlichkeit alles über die Betriebseinschränkung. Und das würde, glaube ich, der Idee der Kältekraftwerke den Todesstoß versetze n. Wollen Sie das?« »Nein! Sie haben recht! Wir müssen allein damit fertig werden.« Noch ehe das erste blasse Morgendämmern im Südosten über den Horizont kletterte, knatterten auf der neuen Baustelle schon die Niethämmer, fraßen sich Knallgasflammen durch Winkeleisen und T-Träger, zischten Dampfwolken über den -208-
Bohrkolonnen und keuchten Traktoren von den Lagerhöhlen mit neuen Baustoffen herbei. Doch die Arbeit ging nicht recht vom Fleck. Alle Schaffenden hatten sich gegen die grimmige Winterkälte dick vermummen müssen, und Wiedensohl und Bretthorst sahen mit Schrecken, welche geringen Fortschritte erzielt wurden. Als die Sonne sich wieder zum Untergang neigte, kaum vier Stunden lang hatte sie einen blassen Schimmer der Landschaft geschenkt, eilte Wiedensohl zurück zum Maschinenhaus, um schnell einige Bissen zu essen. Renate traf er nicht in der Küche. Doch als er dann zu den Magazinen hinüberschritt, sah er sie mit dem Materialverwalter Brücker zusammenstehen und eifrig diskutieren. »Auch schon Feierabend gemacht?« fragte er im Vorbeigehen. »Hat sich was mit Ausruhen, das hübsche Fräulein!« antwortete für sie der Mann. »Erzählen Sie doch mal Herrn Wiedensohl was von Ihren Plänen. Ist gar nicht so dumm, das Mädchen! Ein Boot soll ich ihm bauen.« »Ein Boot?« Der Pilot sah sie verwundert an. »Wollen Sie hier paddeln?« »Freilich! Ist ja eine Leidenschaft von mir... und dabei zugleich einmal ausloten, wo die Schmelzlöcher sind. Das muß doch auszuklaren sein. Bill Twards saß auf dem Südrechen. Daher will ich mir das Gebiet zuerst vornehmen, gestrenger Herr!« »Und wenn wir die Löcher gefunden haben?« »Dann werden sie gelötet! Brücker hat mir vorhin eben die Wirkungsweise eurer Gefriermittel vorgeführt. Mit einer gehörigen Ladung muß es doch möglich sein, die Lecks wieder ausfrieren zu lassen.« »Das läßt sich hören! Versuchen kann man es ja. Brücker, mir haben doch die Samojeden, die Nenez, bei ihrem Abschied ein -209-
wunderbares Kajak verehrt. Wo steckt denn das? Drüben Höhle 5? Dann lassen Sie es sofort klarmachen. Ich werde in meinen Freistunden selbst mit der Lotung beginnen.« »Ausgeschlossen, gestrenger Herr!« lachte Renate. »Ich habe diesen Gedanken gehabt, und ich lasse mir meine Priorität nicht rauben. Vielleicht errechnen aber die viel technischen Gnaden inzwischen die Ladungsmengen, um sichere Pfropfe zu erzielen und bereiten sie schon vor. 12 Stück für Stück! So stand doch auf der Kiste? Also, Sie, Brücker, fertigen mir heute noch 12 Markierungsbojen, damit meine Gondelei einen Zweck hat. Bis morgen früh!« Am andern Tag trugen einige Männer das samojedische Kajak hinab in das Laugenbecken und setzten es vorsichtig in den körnigen Laugengrus. Renate wartete, bis der Schlepprechen anschlug, befestigte dann schnell die Wurfleine an dem Querbalken. Sie ließ sich zuerst nur ziehen, untersuchte dabei aber genau den Laufsteg, der über den Rechen führte. An zwei Stellen war eine pulvrige weiße Substanz in die Planken eingebrannt. Sie bugsierte das Boot nun so, daß es genau vor dieser Markierungsstelle hergepreßt wurde. »Nun ganz langsam treideln!« schrie sie dem Maschinenführer zu, der das Antriebsaggregat des Schlepprechens überwachte. Sie selbst richtete sich auf, faßte nach der langen Prüfstange und maß Fuß für Fuß die Tiefe des Wassers. Schon nach kurzer Zeit hob sie den Arm; sofort hörte die Vorwärtsbewegung auf. Der Peilstock sank hier viel tiefer ein. Seine Länge reichte nicht aus, um die Tiefe zu messen. Schnell ließ sie das Drahtlot über die Bordkante gleiten. »28 Meter«, las sie ab. »Nummer 1 gefunden! Kennboje 1 auslegen auf 174 lang, 6 breit!« Ihre Meldung wurde wiederholt, und der Maschinenführer notierte das erste Ergebnis. Aber fast vier Stunden vergingen, ehe sie acht weitere Löcher im Packeis ausgemacht hatte. Dann konnte sie nicht mehr länger im Boot verharren. Die bittere -210-
Kälte hatte sich durch alle Kleidungsstücke gefressen, und hilfreiche Arme mußten sie aus dem Kajak heben. »Sie wollen sich nicht finden lassen, die drei andern Lecks in der Riesenpfanne«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Oder sind es nur neun?« stellte Wiedensohl fest. »Vielleicht haben einige Thermitkörper nicht gezündet. Oder der Sicherheitskandidat Twards hat an einer Stelle einige Bomben zugleich als geballte Ladungen abgeworfen. Das war sehr tapfer, Renate! Aber nun zurück ins warme Bett! Mit einer Lungenentzündung möchte ich Sie dem Herrn Professor nicht abliefern.« »Lungenentzündung und ich?« Renate lachte. »Zehn Minuten Dauerlauf, damit die eingefrorene Gelenkschmiere flüssig wird, dann bin ich gleich wieder dabei. Sind die Gefrierkörper fertig?« Sie sah fragend zu einem Stapel dicker Luttenröhren hin, die am Ufer lagen. »Ja! Und die Proben sind sehr gut ausgefallen. Ich lasse sofort die Weiten der Lecks nachmessen. Wenn keines einen größeren Durchmesser als einen Meter aufweist, dann genügt eine Ladung, um den Gefrierpfropf unerschütterlich mit dem Packeis zu verbinden. Und Sie haben sich mindestens einen warmen Grog verdient! Hier sind wir nicht mehr notwendig.« »Ich hätte es aber gern gesehen... « »Morgen! Heute ist für Sie Feierabend !« Er geleitete sie bis in ihre Wohnräume und sorgte für warme Getränke. Dann verabschiedete er sich: »Und nun wird geschlafen, bis ich Sie wieder holen komme!«
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- 26 Gegen Mitternacht wachte Renate plötzlich auf. Sie hatte fest und tief geschlafen, obgleich es ihr Wille gewesen war, nur einige Stunden zu ruhen. Neben dem tiefen Singen der Turbinen, die nur noch mit halber Kraft arbeiteten, war ein anderer Ton in der Luft. Er schwoll zu einem dumpfen Heulen an und ebbte dann wieder ab zu einem leisen Sausen. Sie sprang schnell aus dem Bett, zog sich rasch an und trat hinaus in das dämmrige Hell der Wohnstraße. Einen Maschinisten, der mit tief in das Gesicht gezogenem Baschlick vorbeihastete, hielt sie an. »Was geht da draußen vor?« fragte sie. »Der Teufel kocht eine Sondersuppe für uns!« antwortete er. »Der Sibiriak kommt! Schneesturm aus dem Südosten gemeldet. Wenn er vierzehn Tage anhält, sind wir alle fertig.« Sie hüllte sich in ihren Gehpelz und eilte dem Mann nach. Am Gefrierbecken fand sie Wiedensohl und Bretthorst mit einer Arbeiterkolonne, die immer noch dabei waren, nach den letzten Bodenlöchern zu suchen. »Es ist zum Verzweifeln!« sagte der Pilot. »Zehn Lecks haben wir verstopft. Da rinnt kein Tropfen mehr ab. Aber die beiden letzten können wir nicht finden. Und nun haben wir in sechs Stunden spätestens den Sibiriak da, der jede Arbeit im Freien unmöglich macht. Wo wollen Sie hin, Renate?« Sie hatte sich auf den Mittellauf steg geschwungen und war bis zum dritten Stützbalken des Geländers gegangen. »Den Peilstock her! Ich erinnere mich: Hier stand Twards und stopfte etwas unter den Steig!« Sie lehnte sich weit über die Laufplanken und maß den Laugenstand. Plötzlich rutschte die Meßstange aus, und mit beiden Armen tauchte sie in die eisige Flüssigkeit ein. »Hierher eine Kälteladung!« schrie sie und ließ den Stab nicht los. »Pfui Spinne, ist die Tunke kalt! Schnell, oder ich muß loslassen!« -212-
Schon plumpste die Markierungsboje neben ihr ins Wasser. Wiedensohl hatte sie herbeigeschleppt. Dann riß er das Mädchen empor und hüllte es in seinen Pelz. »Sofort zurück ins Warme!« befahl er. »Die dünne Lauge hat immer noch ausreichend Kältegrade, und der Sibiriak hat das Thermometer schon auf 45 sinken lassen. Großartig, Renate! Das war die letzte Öffnung. Eben haben die Arbeiter die 12. Brandbombe mit den Zähnen des linken Schlepprechens gefunden. Kältemischung einhängen...! Überwachen Sie den Gefriervorgang, Brücker! Ich muß mich jetzt um Sie kümmern, Renate, sonst kommen Sie nur als geschundenes Kätzchen nach Hause!« Trotz ihres Protestes schwang er sie auf seine Arme und trug sie im Sturmschritt hinüber zu dem Werk. Mit einem Fußtritt schleuderte er die Tür zum Behandlungszimmer des Arztes auf und rief: »Laugenverätzung und dazu eine nette Erfrierung, Herr Doktor! Was machen wir da?« Sorgsam setzte er seine Last auf dem Untersuchungstisch ab, und fast zärtlich versuchte er, die einengenden Pelze herabzuziehen. Der Arzt hielt seine Hände fest: »Lassen Sie mich das lieber machen!... Hum, schon ziemlich vereist... Wollen doch lieber schneiden!« »Die Arme?« fragte Renate entsetzt. »Nein, nur die Ärmel. Betriebsunfall! Für den Schaden kommt das Werk auf.« Mit einer Winkelschere fuhr er unter die Hüllen und trennte sie mit geschickten Schnitten auf. »Erfrierung minimal!« stellte er dabei fest. »Aber Verätzung ganz ansehnlich! Sie werden ein Jahr lang keine glatte Haut auf Händen und Armen haben, meine Gnädigste.« »Pah!« Sie wollte tapfer sein, aber verzog dabei doch ihr Gesicht. »Das zwickt ja höllisch! Auch hier am Hals...« »Sagen wir lieber Brustansatz!« belehrte sie der Arzt. »Auch da muß die Trennschere noch ran. Wollen Sie jetzt nicht gehen, -213-
Wiedensohl?« Der schrak auf. »Natürlich! Leiden Sie sehr, Renate?« »Eine Kleinigkeit! Aber das trägt man gern, wenn man weiß, daß das Werk gerettet ist. Sie berichten mir dann noch?« »Sicher! Hören Sie nur, wie der Sturm heult! Ich lasse sofort neues Mischgut einbringen und dann die ersten Probepumpungen durchführen. Mein Gott, wenn Sie nun in konzentrierte Lauge gestürzt wären?« »Das dürfen Sie unserer Patientin nicht einreden! Sie wird auch so noch genug zu ertragen haben. Ich kann hier nur lindern. Wenn sich der Sibiriak ausgetobt hat, muß ich Sie heimschaffen lassen, damit Sie in rechte Pflege kommen.« »Ja, meine Zeit hier war ja sowieso um! Pfui, das riecht ja so sauer, was Sie mir da auflegen!« »Essigverbände! Und nun machen Sie endlich, daß Sie gehen, Wiedensohl!« Am ändern Morgen erst durfte der Niedersachse zu Renate Veith. Er hatte vorher auch keine Zeit gehabt; denn die ganze Nacht hindurch waren alle Mann unablässig tätig gewesen, um die Betriebssicherheit des Laugenbeckens wiederherzustellen. Mit einem müden, aber glücklichen Lächeln ließ er sich neben dem Lager der Verletzten auf einen Stuhl gleiten und berichtete: »Horchen Sie nur, wie der Sibiriak tobt! Aber nun kann er uns nichts mehr anhaben. In einer halben Stunde wird das Werk wieder auf vollen Touren laufen. Die Klimaanlage ist bereits ganz angelassen. Nun kann die Polarnacht für Kap Gefahr kommen. Ich habe übrigens vorhin mit Ihrem Onkel gesprochen. Professor Hegar ist in größter Sorge um Sie!« »Wieso denn?« fragte sie verwundert und schob sich die Arme in den dicken Verbänden zurecht. »Er hat doch keine Ahnung, daß mir etwas geschehen ist.« »Nein! Aber die ganze Welt weiß, daß auf Kap Gefahr eine -214-
riesige Katastrophe eingetreten ist. Bisher habe ich geglaubt, daß Bill Twards durch seine Tat einem persönlichen Rachebedürfnis nachgegangen ist. Jetzt aber kann ich schwören, daß der Schuft in einem besonderen Auftrag gehandelt hat. Leider ist er nirgends zu finden.« »So haben Sie ihn suchen lassen?« »Natürlich! Die Kriminalpolizei aller Staaten forscht nach dem Burschen und auch nach der gewissen Quansson. Aber beide sind spurlos verschwunden. Zugleich hat man die unsinnigen Gerüchte vom Bruch des Eisfeldes und von der Zertrümmerung der Gefrieranlage in die Öffentlichkeit posaunt, so daß ein wahrer Frostschock die Kältebegeisterten erfaßt hat. Wenn Sie in die Heimat zurückkehren, werde ich Sie begleiten. Ich will den Zeitungsmenschen einmal klaren Wein einschenken, und vielleicht kommen wir dadurch hinter die dunklen Machenschaften. Hier kann Bretthorst jetzt den Betrieb weiterführen. Wenn es das Wetter wieder gestattet, wird ein Reservebecken ausgehoben und betriebsfertig ge macht. Ich muß unbedingt einige alte Rechnungen gewissen bewährten Mitarbeitern präsentieren!« Zu derselben Stunde erhielt David Coinen in Berlin eine Chiffredepesche von der Pittsburgh and Westem National. Sie lautete, entschlüsselt, so: »Auftrag für altes Land abgelaufen. Sofort zurück nach den Staaten. Sie sind ein Narr und der Oldman ein Trottel! A. B. B.« So packte er dann schleunigst seine Koffer, belegte gar auf dem Atlantic-Klipper einen Platz und verschwand, noch ehe ihn Wiedensohl persönlich hatte zur Rechenschaft ziehen können. Sein Frankfurter Büro überließ er zunächst sich selbst, und da sich an der Fortführung weder Hegar noch die gesamte Weltkältekonferenz interessiert zeigten, löste es sich auf und hinterließ nur eine Unmenge Schnellhefter und Karteikarten, die das Material des Werbefeldzugs enthielten. -215-
A. B. Belcombe empfing Coinen recht ungnädig. »Das Geschäft mit der Kälte ist aus!« begrüßte er ihn in New York. »Die Transaktionen haben leider nur zu sehr mageren Ergebnissen geführt. Die Gewinne decken kaum den Einstand, den ich Ihnen überwies. Ich verzichte also auf die Abrechnung der 5 Millionen Dollar, und wir sind quitt!« »Sie belieben zu scherzen!« keuchte Coinen erregt. »Belcombe, dann verdiene ich ja keinen roten Cent bei der Sache, und CopperBill wird unbedingt auf seiner runden Million bestehen. Wo soll ich die denn hernehmen? Und ehrlich wollen wir dem alten Mann gegenüber doch bleiben. Wer weiß, ob wir ihn nicht noch gebrauchen können!« Belcombe schloß seine wasserblauen Augen, als wolle er nachdenken. Dann sagte er: »Gut, die Prämie für Twards geht noch auf mein Konto. Schätze zwar, daß er nicht mehr auftauchen wird. Lebenslänglich Sing-Sing ist ihm sicher, wenn er sich in den Staaten zeigt, oder Auslieferung an den gewissen Staat, der Besitzer der Werke bei Kap Gefahr ist, und der macht noch kürzeren Prozeß mit dem Trottel!« »Erlauben Sie, Belcombe, meiner Meinung nach hat CopperBiIl schon seinen Mann gestanden. Beide Sachen, die er angestiftet hat, waren doch ganz groß gedreht. Und Sie haben seine Arbeit sicher in eine anständige Menge von Dollars ausmünzen können.« »Ja, aber nicht wirkungsvoll genug! Der Schock hätte mindestens vierzehn Tage länger wirken müssen, dann würde ich mit mir über ein Extrahonorar reden lassen. Die Börse hat zu kurze Zeit auf die Sensationsmeldungen von Kap Gefahr reagiert. Außerdem entwickeln jetzt die beiden Professoren Hegar und Spirefith eine so intensive Tätigkeit auf einem ganz anderen Gebiet, daß wir unsere Arbeit umstellen müssen, wenn wir unsern Fischzug fortsetzen wollen. Die Goldminen in den Kuskowim-Mounts, der große unerschöpfliche Muttergang in der Ogilvie Range, alle Fundstellen am Yukon und Kobuk -216-
River, überhaupt ganz Alaska wäre heute mein, wenn diese Burschen die Besitzer der Bergbaurechte nicht mit ihrem Vulkankraftwerk verrückt gemacht hätten. Und dahinter steht die General Electric, und mit den starken Männern kann man wohl kaum anbinden.« Coinen hieb wütend seine Faust auf die Tischplatte. »Vulkanwerke? Wo? Wieder hat mich Hegar nicht informiert. Nun soll er warten, bis ich ihm die Schlußrechnung über die Erträgnisse unseres Werbefeldzuges ablege!« Dünn pfiff Belcombe durch die Zähne: »Aha, mit meinem Geld noch ein kleines Nebengeschäft getätigt, Mann? Darüber sprechen wir noch einmal. Es wäre aber klug, wenn Sie für Hegar ein günstiges Saldo errechnen, sofort wieder die Verbindung aufnehmen und die Sache mit Bill zu bagatellisieren versuchen. Persönliche Rache... mit dem Motiv könnte man viel decken!« Coinen fuhr sich verzweifelt durch die Haare. »Wie stehe ich vor Hegar da? Er wird mir niemals mehr trauen!« »Das müssen Sie nur richtig anfangen!« sagte der andere trocken. »Ich muß unbedingt Einsicht in die Pläne der General Electric bekommen. Es scheint sich um eine Riesensache zu handeln. Geht um das Tal der Zehntausend Dämpfe und den Mount Katmai in Alaska. Mehr weiß ich noch nicht. Aber wenn Sie mir die nötigen Informationen beschaffen können und mitwirken wollen, wenn wir die Kontermine legen, dann stehe ich sofort wieder für 5 Millionen grade.« »Fünf?... Fünf?...« Die Lippen zitterten. »Ohne Abrechnung, Belcombe?« »Ohne, wenn es gelingt, das Vorhaben zu verhindern. Mit, wenn Sie wieder so jämmerlich versagen wie im alten Land! Sie können mir morgen die Entscheidung übermitteln!« Er erhob sich ohne Gruß und schritt schnell aus dem Hinterzimmer der kleinen Bar. -217-
Als Coinen durch das hohe Marmorportal trat, wo auf einem kleinen Silberschild unter hundert andern auch sein Name prangte, betrachtete er mit wenig Wohlgefallen die Bezeichnung seiner Firma. Im Vorzimmer zu seinem Arbeitsraum saß jetzt ein anderes Mädchen hinter der klappernden Schreibmaschine. Er fragte mechanisch: »Was Neues?« wartete aber gar keine Antwort ab, achtete auch nicht auf den rußgeschwärzten Mann, der hinter einer großen Kiste hockte, sondern betrat eilig sein Chefbüro. Gleich klopfte es wieder an die Tür, und die Sekretärin sagte hereinschauend: »Mister Coinen, hier bringt ein Mann eine eilige Sendung! Will sich mit meiner Quittung nicht zufrieden geben. Besteht auf direkter Übergabe!« »Schicken Sie ihn her!« knurrte er und warf sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch. Schwer wuchtete ein massiger Kerl die Kiste herein, hieb sie ziemlich unsanft auf den weichen Teppich und reichte, ohne ein Wort zu sagen, einen Bogen Papier über die Tischplatte. Coinen griff etwas geistesabwesend, da er bereits in die neuen Pläne versponnen war, nach einem Bleistift, um seine Unterschrift darunter zu setzen. Da klangen rauhe Flüsterworte an sein Ohr: »Lesen, Chief!« Erschrocken fuhr er auf, sah entsetzt den Lastträger an und kommandierte dann dem wartenden Mädchen: »Raus, mein Kind! Habe mit dem Mann zu reden.« Etwas schnippisch machte es kehrt und knallte die Tür ins Schloß. Dann sprang Coinen aus seinem Sessel auf und rief heiser: »Bist du von Gott und der Welt verlassen, daß du dich in mein Büro getraust, Bill? Wo kommst du her?« »Auf Umwegen von Kap Gefahr!« sagte der alte Nordwestmann, zog sich einen hochlehnigen Stuhl heran und setzte sich. »Laßt es euch nicht in die Hosen kommen, Chief! Habe meine Steckbriefe schon selbst gelesen. Alle Cops können sich die Augen aus dem Kopf sehen, ehe sie mich nach dem Zertifikat finden. Haare grau?... Jetzt sind sie rot! Bart dunkel?... -218-
Wo ist er denn? Dicke Augenbrauen?... Hat verdammt weh getan, als mir der Barber zwei Drittel herauszupfte. Gute neue Papiere habe ich auch, und New York ist so ein großer Schweinestall, daß man mich kaum erwischen wird.« »Nun höre einer an! Mit solchen Mätzchen willst du die Leute vom Kriminalamt irrerühren? Ich gebe dir einen guten Rat: Verschwinde, Bill! Rauf in den äußersten Nordwesten, in einen Winkel, wohin die berittenen oder die fliegenden Patrouillen nur alle fünf Jahre kommen!« »Gehe ich! Gleich, wenn es sein muß! Komme mir nur mein Reisegeld abholen. Habt wohl den Schrieb noch nicht gelesen?« »Was? Geld auch noch für die Trottelei, die du bei Kap Gefahr angestellt hast? Bist mir teuer genug zu stehen gekommen, Mann! Hast mich in der letzten Partie um den ganzen Einsatz gebracht. Keinen Greenback verschwende ich mehr an dich!« »So?« Wuchtig stand plötzlich der alte Prospektor vor dem zierlichen Geschäftsmann und griff nach dem Telefonhörer auf dem Schreibtisch. »Zum Dank für alles noch einen Tritt? Ich wähle... H... R... 222... 22...« Entsetzt riß ihm Coinen die Sprechmuschel aus der Hand. »Noch eine zwei? Mann, dann wären wir geliefert. Die Dschimen sind verdammt schnell da!« »Sollen sie auch! Coinen, entweder ich bekomme mein Geld oder die blauen Boys räumen den Laden aus, den Chief mit und mich dazu! Jetzt geht es ums Ganze, Coinen!« »Beruhige dich doch, Bill! Man wird ja noch handeln können, Mann! Wie kommst du denn eigentlich zurück in die Staten?« »Als Stauer! Dreckigste Arbeit, die ich zeit meines Lebens gemacht habe. Und die ertragsloseste! Zehntausend Dollar habe ich dem Sailor auf dem Schnelldampfer für seine Papiere zahlen müssen. Kommt natürlich noch zur Spesenrechnung dazu. Machen wir später ab! Jetzt brauche ich die Million... und dann -219-
könnt ihr mich alle...!« Er sprach es in voller Derbheit aus. Coinen fuhr sich verzweifelt durch sein Haar. Plötzlich sah er mit verkniffenen Augen seinen Helfer an und sagte: »Du kannst das Geld bekommen. Ja, in etwa zwei Stunden; denn natürlich trage ich die Million nicht in meiner Westentasche. Aber du mußt es auf einen neuen Gang mit mir halten. Kennst du Alaska?« »Mann, besser wie meine leere Tasche! Da fing ich ja an.« »Gibt es da ein Tal der Zehntausend Dämpfe?« fragte Coinen lauernd. »Klar! Am Mount Katmai! Die Zehntausend-TeufelsSchlucht, haben wir Digger gesagt. Was ist dort los? Gold gefunden?« »Nein... oder vielleicht! Ich weiß nicht. Aber ich wüßte dort oben jetzt gerne einen zuverlässigen Mann, so einen, wie du es warst, der etwas geschickter die Platte vom Kap Gefahr nochmals spielen möchte. Erzähle doch einmal. Wie sieht es dort oben aus?« »Erst das Geld!« antwortete Copper-Bill grob. »Du wirst die Scheine bekommen! Muß nur einmal telefonieren. Setze dich da drüben ans Fenster und horche gefälligst nicht zu!« Er wählte die Nummer und sprach eine lange Weile hastig mit dem andern Teilnehmer, legte den Hörer dann wieder auf und erklärte: »In einer halben Stunde ist deine Prämie da. Kleine Scheine, damit du nicht auffällst, wenn du die Dittchen springen läßt. Und nun beschreibe mir das Tal der Zehntausend Dämpfe!« Die Dämmerung des klaren Wintertages war längst schon vergangen, als aus dem Marmorportal ein schnaufender Lastträger, der schwer unter einer großen Kiste keuchte, heraustaumelte, die Bürde auf einen kleinen Plateauwagen warf -220-
und grob dem schlanken Chauffeur befahl: »Hau ab, Ethelrid! Die Platten sind da... und 'ne neue Folge werden wir bald wieder haben. Siehst in der Kluft ganz gut aus, Mädchen!«
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- 27 »Oh! Seltener Besuch! Mister Coinen?« sagte Hal Spirefith überrascht, als der gelenke Geschäftsmann die sonnenüberstrahlte, geschützte Hotelterrasse des HamiltonHauses in San Jose, Kalifornien, betrat. »Vermutete Sie eigentlich in einer weit weniger angenehmen Gegend. Hat Sie der Staatsanwalt wieder freigegeben?« »Sie spotten zu meinem Elend noch?« fragte der Titularprofessor der Winnemac-University wehmütig. »Ist Hegar hier? Ich muß ihn unbedingt sprechen! Diese Mißverständnisse müssen doch endlich einmal aufgeklärt werden. Was kann ich dafür, wenn mein Vertrauensmann Bill Twards in seiner blinden Wut auf Wiedensohl, von dem er falsch behandelt wurde, ein Attentat gegen das Kältekraftwerk bei Kap Gefahr unternimmt? Sagen Sie selbst, Spirefith, was habe ich damit zu tun? Die Staatsanwaltschaft selbst hat eingesehen, daß auf mich auch nicht der ge lindeste Schatten eines Verdachts fallen kann. Wollen Sie kirchlicher sein als der Papst?« »Nein! Aber wir wollen nichts mehr mit einem Mann zu tun haben, dessen rechte Hand ein Schurke war, dem es gar nicht darauf ankam, einige hundert Menschenleben zu opfern und unsere ganze Arbeit zu vernichten. Was wollen Sie noch hier?« Coinen ließ sich mit einem Seufzer in einen Sessel gleiten, ohne dazu aufgefordert zu sein, und schüttelte langsam den Kopf. »Schön, Mister Spirefith! Dann müssen wir also unseren Gesellschaftsvertrag liquidieren. Ich habe es ja geahnt. Nur weil ich einem Halunken restlos vertraut habe, der mich dazu noch reichlich viel Geld gekostet hat, werde ich jetzt auch wie ein Gangster behandelt. Ist das gerecht, frage ich Sie? Aber David Coinen ist besser als sein Ruf. Er bringt Geld... eine ganze Masse Geld! Hätte ja verschwunden bleiben können, der Narr, -222-
der ändern zuviel getraut hat! Aber das läßt eben sein Gewissen nicht zu. Ich habe durch einen vereidigten Bookkeeper die Bilanz ziehen lassen und will nun Rechnung legen vor Gott und meinem Gewissen! Ah, Mister Hegar! Da sind Sie ja!« Er hatte immer lauter gesprochen und dabei so getan, als ob er den Professor und Bracke gar nicht bemerkt hätte, die schon eine Weile in der Terrassentür standen. Nun sprang er eifrig auf, verbeugte sich viele Male und setzte ein wahres Märtyrerantlitz auf. Hegar übersah die Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Er ließ sich an dem Tisch nieder und sprach: »Hal, haben Sie ihm unsern Standpunkt bereits auseinandergesetzt? Ja? Dann weiß ich nicht, was Mister Coinen noch hier zu suchen hat.« Spirefith wies auf die Schriftstücke hin, die Coinen hastig aus seiner Aktentasche hervorgekramt hatte, und erklärte: »Er spricht von Abrechnungen, die noch erfolgen müssen.« »Wollen Sie noch Geld aus uns herauspressen?« rief ihm Bracke zu. »Aber! Aber, Doktor! Wie alles mißverstanden wird! Ich und Geld von Ihnen? Umgekehrt! Total das Gegenteil! Ich bringe welches! Der Saldo unseres gemeinsamen Unternehmens schließt mit 142 000 Dollar zu Ihren Gunsten ab, Mister Hegar. Wenn ich so ehrlich bin, dann soll ich es nicht wagen, vor Ihre Augen zu treten, Professor?« Verwundert fragte dieser: »Wie kommen Sie zu dem Betrag?« Coinen merkte, wie er Boden gewann. Mit einem riesigen Wortschwall gab er daher die Erläuterungen zu den einzelnen Posten seiner Rechnung. Einnahmen aus Filmrechten, Erträgnisse einer großen Pressekorrespondenz, verkauftes Bildmaterial, Honorare der großen Rundfunkgesellschaften für Sendeerlaubnisse, Zuwendungen einiger Privatpersonen oder wissenschaftlicher Vereine; Hegar staunte, welche ansehnlichen Summen durch die Hände des gewandten Geschäftsmannes -223-
gegangen waren. Zögernd griff er nach dem Schlußblatt, prüfte die Gewinnverteilung und war beinahe ganz davon überzeugt, daß er seinem Gegenüber Unrecht getan habe; denn Coinen hatte für sich nur ein Viertel des Reinertrags angesetzt. »Wir haben uns eine lange Weile nicht gesehen!« fuhr er versöhnlicher fort, als der andere seine Erläuterungen schloß. Ihre plötzliche Abreise aus Berlin, die seltsam mit dem Eintritt des großen Unglücks auf Kap Gefahr korrespondierte, dann nur einige kurze Depeschen... Weihnachten ist schon vorbei. Was haben Sie die ganze Zeit getan?« Befriedigt leuchteten die Augen unter den weißen Augenbrauen auf. »Er hat angebissen!« dachte er, und dann erzählte er wortgewandt von seinen Erlebnissen: »Sie haben selber schuld an den bitteren Tagen, die mir widerfahren sind, Professor!« sagte er vorwurfsvoll. »Zwei Monate lang mußte ich mich zu der Verfügung des Generalstaatsanwaltes halten. Jeden Tag neue Vernehmungen. Eine Kaution von 100 000 Dollar mußte ich stellen. Dazu die Sorgen um mein Geschäft! Wenn ich nicht schon weiße Haare hätte, ich müßte sie jetzt bekommen haben, meine Herren! Und weshalb? Weil ich ein idealer Mensch war und ein Jahr meines Lebens für eine gute Sache gekämpft habe. So! Das wollte ich noch sagen! Hier ist ein Scheck über 142 000 Dollar, zahlbar durch die San Francisco and Sacramento. Und ich darf wohl jetzt gehen?« Bracke wollte etwas sagen; doch Hegar hob bittend seine Hand. Der Professor wies jetzt einladend auf einen Sessel hin und bat:, »So wollen wir doch nicht scheiden, Mister Coinen. Ich gestehe frei: Ich muß Ihnen in dieser Stunde einiges abbitten. Doch das erklärt sich vielleicht dadurch, daß wir beide in ganz verschiedene Sphären leben. Sie in einer voller Buchhaltungskladden und ich in einer voller dicker, wissenschaftlicher Wälzer, wenn ich das Bild gebrauchen kann.'' So scheinen wir beide wohl etwas stark einander vorbeigelebt zu haben. Und dann der unverzeihliche Mißgriff mit diesem Bill -224-
Twards! Hat man den Burschen eigentlich schon gefunden?« »Nein!« sagte Coinen kläglich. »Sehen Sie, Professor, mich kostet der Elende mehr als 100 000 Dollar. Nicht etwa ideelle Werte! Nein, direktes Geld, das er mir unterschlagen hat!« »In den Abrechnungen steht davon nichts!« unterbrach ihn Bracke spöttisch. »Das habe ich auf mein Konto genommen. Das ist mein privater Verlust.« Hegar wurde die Unterhaltung peinlich. »Ich weiß eigentlich nicht, ob ich das Geld annehmen kann?« meinte er. »Wenn Mister Coinen es selber bringt, dann werden Sie sich wohl über das Herkommen kein Kopfzerbrechen zu machen brauchen!« warf Hal Spirefith ein. »Übrigens wäre es ganz angenehm, wenn wir einen gewissen, frei verfügbaren Expeditionsfonds besäßen. Immerfort vom Weltkältekongreß oder von der General Electric abhängig zu sein, das lahmt doch etwas unsere Schwingen.« »Das glaube ich!« sagte Coinen eifrig. »Wenn Sie wollten, könnte ich Ihnen leicht mit ganz anderen Summen beispringen. War ich es nicht, der Ihnen, nur weil mich Ihre Idee begeisterte, vier Millionen zur Verfügung stellte?« Hegar winkte ab: »Nein, auf eine finanzielle Unterstützung Ihrerseits müssen wir verzichten. Die Kosten der Vorversuche übernimmt ja diesmal sofort eine große, kapitalkräftige Gesellschaft. Wir warten nur in diesem milden Klima ab, bis der rauhe Winter aus Alaskas Täler gewichen ist; dann werden wir unseren Wohnsitz dorthin verlegen.« »Und können Sie mich nicht als Manager mitnehmen?« fragte Coinen schnell. »Nein, lehnen Sie nicht gleich ab! Lassen Sie mich erst sprechen. Ich habe nun einmal die fixe Idee gefaßt, mein Können, mein Wissen und auch mein Kapital für eine große Sache, die der ganzen Menschheit nützen wird, einzusetzen. Ich bin ein alter Mann. Zerbrechen Sie mir doch -225-
nicht meine letzten Hoffnungen!« Der gerissene Weißkopf hatte sich nicht verrechnet. Er hatte das für einen Mann zu weiche Herz Hegars gerührt, und als sie voneinander an diesem Tage schieden, wußte er mehr als irgendein anderer Außenstehender von den genialen Plänen, die in dem Tal der Zehntausend Dämpfe am Mount Katmai realisiert werden sollten. In einer Flüsterkneipe an der Eastside des Hudson konnte er dem verwandelten Bill Twards die ersten Instruktionen geben. »Hier sind die Tickets für die Fahrt nach Seward auf Kenai. Sicher keine Lustpartie, mein Alter! Aber dort oben im hohen Norden sucht dich kein Mensch! Kläre mal jetzt schon das Gebiet zwischen Katmai und Iliamna auf. Wir sind gemachte Leute, wenn wir diesmal den klugen Herren gehörig in die Suppe spucken können. Mich wie einen Schwerverbrecher zu behandeln... und dich gutes Blut wie eine räudige Ratte zu hetzen! Wollen wir uns das gefallen lassen?« »Dann werden wir reisen! Ethelrid, pack die Koffer!« »Ich möchte jetzt aber gern in Manhattan bleiben!« maulte sie. »Und mich verraten, was, Mädchen?« schnauzte der Nordwestmann. »Hast falsch gerechnet, Kind! Was Copper-Bill hat, läßt er erst los, wenn der letzte rote Tropfen aus seinen Adern rollt. In Seward kannst du wieder als große Dame leben... und den besten Seeotterpelz kaufe ich dir auch!« »Ja?« Sie maß ihn mit seltsam lächelnden Augen. »Dann will ich es nochmal mit dir versuchen!«
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- 28 Endlich wich der strenge Winter dieses ereignisreichen Jahres aus den Ebenen der nördlichen Halbkugel. Die ängstlichen Gemüter waren zufrieden, daß er ihnen nicht noch mehr Frosttage beschert hatte. Überhaupt erschien er den meisten Menschen jetzt in der Rückschau gar nicht mehr so schlimm. Die Meteorologen zwar stellten eine merkliche Südverschiebung der Januar-Null-Grad-Isotherme fest und zeichneten seltsame Karten dazu. In den Küstengebieten war sie nur wenig von ihrem früheren Verlauf abgewichen, aber in den Binnenländern hatte sie überall eine auffällige Ausbuchtung nach der äquatorialen Zone angenommen. In Europa war sie bis weit nach Norditalien und bis zu dem Isthmus von Korinth vorgestoßen. Von der südlichen Halbkugel kamen Klagen über einen außerordentlich kühlen Sommer. Nur die Trockenfarmer auf den Wüstenflächen im Innern Australiens waren zufrieden. Seit vielen Jahren hatte es für sie wieder einmal ausreichende Mengen von Niederschlägen gegeben. Was sonst noch über das schnelle Vorrücken der Gletscher, von verheerenden Frühjahrshochwässern und Gefährdung der Schiffahrt durch riesige Eisbergherden gemeldet wurde, vergaßen die Menschen, die davon nicht unmittelbar bedroht wurden, sehr schnell, als sich wieder die ersten Veilchen unter den Hecken zeigten. Nicht so die Männer, denen das Wohl der Völker anvertraut war. Am nördlichen Polarmeer arbeiteten die Vorkolonnen bereits an sieben verschiedenen Stellen, um das Gelände für den Bau von neuen Kältekraftwerken zu erschließen. In den Maschinenhallen bei Kap Gefahr drängten sich die Studienkommissionen und wollten tausend Auskünfte von Bretthorst und Wiedensohl haben. Der Pilot hatte daher, nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland, wieder nach Nowaja -227-
Semlja zurückkehren müssen und konnte erst im späten Frühjahr mit der Via-Pol- Linie nach Alaska fliegen, um an den Vorbereitungsarbeiten für die Errichtung eines riesigen Vulkankraftwerkes im Tal der Zehntausend Dämpfe teilzunehmen. Professor Hegar, Freund Bracke und auch Renate Veith erwarteten ihn in Anchorage an der Südküste. Sie hatten ihm viel zu erzählen. Am Iliamna-See, mitten in der gewaltigen Gletscherwelt zwischen dem Mount Katmai und dem Utamne, hatten sie ihre Zelte aufgeschlagen. »Eine Flugstunde!« sagte Renate, und wir sind mitten in der unbeschreiblichsten Wildnis. Herrlich, Wiedensohl! Viel schöner als am Laugensee bei Kap Gefahr.« »Und was macht die verehrte Epidermis?« fragte er. »Sie ist beinahe geheilt. Etwas rauh, aber doch schon wieder strapazierfähig. Ich bin Ihnen übrigens noch zu vielem Dank verpflichtet. Der Hautspezialist in Rönneberg, der mich behandelte, trug mir auf, Ihnen ein Sonderlob zu spenden. Wenn die Verätzung nur einige Minuten länger angehalten hätte, läge ich wohl jetzt noch in der Klinik.« »Mir ein Lob? Renate, was soll ich dann Ihnen sagen, die Sie durch Ihren Mut unser ganzes herrliches Werk und alle Menschen dort gerettet haben?« »Machen Sie aus meiner vergnügten Winterpaddelei nur nicht gleich eine Großtat der Menschheit!« Sie versuchte zu spotten, aber es gelang ihr nicht recht. »Überhaupt, seit wann reden Sie so geschwollen?« »Da kann ich bloß mit einem Sprichwort antworten. Wess' Herz voll ist...« »Nun hören Sie aber auf! Sie haben auch ein Herz? Bisher habe ich immer geglaubt, Sie besäßen nur ein präzis arbeitendes Gehirn und zwei kräftige Arme.« »Die Arme? Erinnern Sie sich noch daran?« -228-
»Bitte, Wiedensohl, nun wollen Sie gar lyrisch werden! Haben wir jetzt Zeit, an uns selber zu denken? Später einmal, lieber Freund!« »Lieber Freund?... Schön, begnügen wir uns damit. Bracke winkt, das Flugboot ist startbereit.« Kurze Zeit später jagte die Maschine über die heute sonnenüberstrahlte Cookbai nach Südwesten auf den gewaltigen Bergstock des Iliamna zu. Sie umflogen den vergletscherten Bergriesen und suchten sich dann einen Weg über einem verschneiten Paß. Links erhob sich der Mount Katmai; aus seinem vereisten Riesenkrater stiegen an vielen Stellen schwache Rauchsäulen in die stille Luft. Hegar erläuterte Wiedensohl die Route: »Jenseits dieses Bergsattels liegt das Tal der Zehntausend Dämpfe, das gewaltigste Fumarolengebiet der Erde.« Der Pilot wollte wissen: »Was ist das eigentlich, eine Fumarole?« »Man versteht darunter die Gasaushauchungen eines gerade ruhenden Vulkans oder auch die abströmenden hocherhitzten Dämpfe eines Magmaherdes, der sich nicht allzu tief unter der Erde befindet. Vom Katmai bis zum Iliamna-See zieht sich eine tiefe Bruchspalte hin. An tausenden, ja, wie der Name sagt, wahrscheinlich an zehntausenden Stellen brechen in ihr Fumarolen hervor. Diese Naturgasquellen können wir freilich für unsere Zwecke schlecht verwenden. Wir haben daher einige Versuchsbohrungen niedergebracht, und wir sind überrascht von der ungeheuren Dampfausbeute, die sie liefern, obgleich wir nur eine Tiefe von etwa 200 Meter erreicht haben. Temperaturen von 250 Grad haben wir gemessen, das entspricht einen Dampfdruck von 45 Atmosphären. Und scheinbar ist diese Energie unerschöpflich. Es wird hier ein Werk entstehen, das beispiellos in der ganzen Welt sein wird, wenn uns der Katmai nicht einen Strich durch unsere Rechnung macht.« -229-
»Ist er noch unruhig, der alte Bursche?« »Leider! Er hat der Welt einige der größten Vulkanausbrüche beschert, die die Menschheit je erlebt hat. Freilich, da er sich in einer beinahe menschenleeren Einöde erhebt, sind keine Katastrophen eingetreten. Doch das soll ja nun anders werden... Sehen Sie, Wiedensohl, nun bekommen wir einen Einblick in das Schreckenstal. Was sagen Sie dazu?« Grau und schwarz klaffte plötzlich in dem blendenden Weiß des Firnschnees eine tiefe Schlucht. Nackt waren die steilen Felswände. Nur hier und da hatten sich riesige Hängegletscher in die jähen Hänge eingefressen und klebten wie blaue Wundergebilde an den Schroffen. Aus der Talsohle wirbelten an unzähligen Stellen weiße und gelbe Dampfsäulen empor. Der ganze Grund schien zu kochen und zu sieden. Trotzdem sah man, wenn ein Windstoß die Dünste verjagte, einen reißenden Bergstrom sich durch die Felstrümmer hindurchwinden. Allmählich wurde die Schlucht breiter und lief endlich in ein weites Becken aus, das von einem herrlichen, blauen See erfüllt war. »Unser Ziel, der Iliamna-See! Dort stehen unsere Blockhütten.« Das Flugboot kurvte bereits über der spiegelnden Wasserfläche, setzte jetzt auf, und die langsam arbeitenden Propeller trieben es an die Lände, hinter der sich eine Gruppe von Holzhäusern erhob. »Das neue Hauptquartier!« erklärte Renate lachend. »Noch etwas primitiv, aber sehen Sie nur, der Wald reicht bis zum Strand, und ich habe bereits einen Alaskabären geschossen. Der nächste soll Ihrer sein, Wiedensohl!« »Danke, wenn ich einmal Zeit habe und Sie mich auf dem Pirschgang begleiten wollen! Jetzt interessieren mich mehr die Gewalten der Tiefe. Wo liegen die Probebohrungen?« »Rund dreitausend Meter oberhalb der Einmündung des -230-
Gletscherwassers. Wir fahren dann mit einem Raupenwagen dorthin. Die neuen Teufen, die erst niedergebracht werden, sind noch zweitausend Meter weiter oben angesetzt. Das Werk soll aber hier erstehen. Eine Probeturbine wird bereits montiert und wird uns in den nächsten Tagen schon mit Licht und Kraft versorgen.« »Welche Le istungsfähigkeit wird das Werk haben?« wollte Wiedensohl wissen. »Zunächst ist ein Großkraftwerk von einer Million Kilowatt geplant. Die niedergebrachten Bohrlöcher liefern nach vorsichtiger Schätzung bereits stündlich 15 Millionen Kilogramm Dampf. Die neue Sonde dürfte vielleicht allein soviel erbringen. Wenn wir also auch reichlich auf Leitungsverlust, Wärmefehlabgabe und Temperaturschwund abrechnen, so genügt diese Menge schon, um die erstrebte Leistung zu erreichen.« »Das ist ja großartig!« sagte Wiedensohl und nahm am Tisch Platz, um an dem Imbiß, den Renate schnell bereitet hatte, teilzunehmen. »Haben Sie in der Gegend auch roten Quarz gefunden, um die Kohlensäureproduktion beginnen zu können?« »Etwas Ähnliches, das dieselbe Ausbeute verspricht!« erwiderte Hegar. »Wissen Sie, Wiedensohl, es geht mir alles zu langsam. Nicht eins, zehn Vulkankraftwerke müßten sofort gebaut werden, und nicht ein Versuchswerk von einer Million Kilowatt, sondern, ähnlich wie bei Kap Gefahr mindestens mit der zehnfachen Leistung. Kraft hätten wir im Tal der Zehntausend Dämpfe ausreichend zur Verfügung.« Nachdem die Forschergemeinschaft die Mahlzeit beendet hatte, führen die Teilnehmer mit dem Raupenwagen zu den Bohrstellen. Arbeitsgruppen waren dabei, die Dampfleitungsröhren zu verlegen und zu isolieren. »Mit Hochdruck geht es in vier Wochen los, wenn die Transportschiffe in die Bristol- Bai einlaufen können. Wir haben -231-
es hier weit besser als bei Kap Gefahr. Motorleichter können die Baustoffe direkt bis zum Werk bringen; denn der Iliamna River ist gut schiffbar. Hier ist Sonde I, nur 170 Meter tief, und das Bohren war ein Kinderspiel, weil nur lockere Tuffbänke zu durchstoßen waren.« Ein unheimlich heulender Dampf strahl brauste aus der Mundöffnung der Teufe hervor und stieß 200 Meter hoch in die Luft. Wiedensohl wollte näher gehen, doch Bracke hielt ihn zurück: »Es wäre schade um Ihren schönen Sportanzug! Die Sprüher, die aus dem kondensierten Wasserdampf niedergehen, machen in einigen Minuten einen Schleier aus dem besten Wollstoff. Sozusagen Schwefelsäureregen!« Sie besichtigten noch die ändern erfolgreichen Bohrungen, ließen den Wagen dann wieder anlaufen und befanden sich nach einer kurzen Fahrt auf einer kaum gebahnten Straße bei der neuen Teufe die noch nicht fündig geworden war. Der Drillmaster zeigte ihnen die letzten Bohrkerne und erklärte: »Ziemlich fester Untergrund jetzt. Werden noch zwei Tage brauchen, ehe die Dampfader getroffen ist. Aber dann wird es einen schlimmen Springer geben!« »Haben Sie Sorge um das Gerät?« fragte Hegar. »Kalkuliere, es wird zum Teufel gehen, obgleich ich die stärksten Streben genommen habe. Möchte daher am liebsten torpedieren!« Bracke hatte einige Bedenken: »Schauen Sie einmal nach der Engschlucht hinter uns, Meister! Da hängen einige hunderttausend Kubikmeter Gletschereis und warten nur auf eine passende Gelegenheit, um sechshundert Meter in die Tiefe zu donnern. Wenn wir auch nur fünfzig Liter Sprengöl in den amorphen Tuffen zur Explosion bringen, kann es einen netten Bergrutsch geben. Daher lieber Vorsicht!« »Die Eisbrocken da?« Der Bohrmeister sah ihn fragend an. »Müssen doch verdammt fest liegen. Seit Tagen kriechen da -232-
einige Männer oben herum, ganz lustig und quietschvergnügt. Und es geschieht nichts!« »Menschen dort auf den Gletschern?« fragte Hegar verwundert. »Woher sollen denn hier Leute kommen? Ich kenne doch den Einsatz unserer Arbeiter. Kein einziger hat dort etwas zu tun!« »Sind aber da! Nein, Mister Hegar, sind keine Bären! Habe die Burschen deutlich durch das Glas gesehen. Ein starker Kerl und ein schmächtiger. Werde Sie einmal anrufen, wenn ich sie wieder zu Gesicht bekomme. Also nicht torpedieren? Schade, hatte mir die Torpedos schon geladen!« »Und wo haben Sie das Sprengöl?« »Drüben in einer Hangspalte. Kann da kein Unheil anrichten, auch wenn es hier den schlimmsten aller Springer gibt. Wie gesagt, morgen oder übermorgen. Verpassen Sie den Ausbruch nicht!«
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- 29 Hatte den Tag über die Sonne gelacht und dem Land um den Iliamna-See eine milde Wärme geschenkt, so fror es abends doppelt hart, denn die klare Nacht brachte neue, bittere Kälte. Die Forscher und die Arbeiter in der Strandsiedlung merkten davon nichts; denn schon heizten die Dämpfe aus den Fumarolen die behaglichen Blockhäuser. Doch wer in der Frostnacht im Freien bleiben mußte, hatte es nicht so gut. In einem dichten Legföhrengestrüpp an der Südflanke der Schlucht hatten zwei Menschen ihr Lager aufgeschlagen. Es war primitiv genug. Auf der Erde lagen zwei Pelzschlafsäcke, wie sie die Goldgräber in diesem rauhen Gebiet im Sommer benutzten. Nur die Kopfenden waren durch ein kleines Rundzelt geschützt. Ein kümmerliches Feuer brannte am Steilabfall eines gewaltigen Felsklotzes, und darüber hing an einem Dreibein ein rußiger Kessel, in dem es langsam zu sieden begann. »Leg Holz nach!« befahl eine tiefe, rauhe Männerstimme. »Aber sei vorsichtig! Wehe, wenn sich Rauch bildet!« »Tu du es doch, Bill!« Grell tönte der Wortschwall. »Ich mache es sowieso nicht recht! Ich Närrin, mich von dir Gangster hierher in diese Einöde verschleppen zu lassen. Ich fühle meine Beine und mein Kreuz nicht mehr. Die Fingernägel sind alle beim Klettern an den rauhen Steinen zerbrochen, die Knie zerschunden, die Hände zerschrammt. Geld soll das bringen? Du Idiot, nicht einen blanken Knopf werden wir hier verdienen!« »Leg Holz auf... oder ich nehme die Peitsche!« sprach der Mann drohend. Scharf knallte ein langer Riemen durch die Luft. »Wird's bald? In den guten Tagen war ich der liebe Bill, der nette Junge, das gute Gold, und jetzt bin ich das große Ekel, Ethelrid, weil ich auch einmal Arbeit von dir verlange!« Seufzend erhob sich das Mädchen und suchte die dürrsten -234-
Stücke aus dem zusammengetragenen Holzvorrat heraus. »Und dieser Fraß!« schimpfte es weiter. »Wieder Pemmikan mit Reis! Warum hast du mich nicht in Seward gelassen?« »Damit du mich verraten kannst, Herzchen, was?« lachte Bill Twards. »Meinst wohl, ich habe es nicht gesehen, wie du dich an den Sergeanten von der Alaska-Polizei herangemacht hast? Seitdem auf meinen Kopf 100 000 Dollar gesetzt sind und ich nichts mehr herausrücken will, weil ein alter Mann ja auch an seinen Lebensabend denken muß, von da an war der gute alte Bill bei dir abgemeldet. Sollst dir wenigstens das Geld, das du mir abgeluchst hast, redlich verdient haben, wenn ich dir den Laufpaß geben werde. Rühr den Brei um und dann füll die Freßbüchsen! Noch schwere Arbeit heute, du weißt es, und bald kommt der Mond!« Jetzt blieb das Mädchen stumm. Keine Antwort erfolgte. Gut aber, daß Copper-Bill die verzerrten Gesichtszüge seiner Partnerin nicht sehen konnte. Ohne ein Wort zu sagen, schob sie später die gefüllten Eßgeschirre hin, legte sich lang und begann in ihrem Brei zu rühren. Twards aber hieb kräftig ein. »Feste futtern!« knurrte er seine Gefährtin an. »Wirst deine Kraft dann brauchen. Ist kein Dancing, wozu wir bald gehen. Also sei schon vernünftig, Ethelrid, und friß!« »Ich kann nicht, Bill! Sei noch einmal der gute Junge und bringe mich wieder nach Seward! Ich reise gleich ab. Ich werde keinem Menschen ein Wort darüber sagen, wo du dich aufhältst. Mein Ehrenwort, Billy!« »Das Ehrenwort einer Hure! Ich spucke drauf, Weib! Ich kann den Brief auswendig, den ich in deiner Handtasche gefunden habe. Eine gewisse, Ihnen gut bekannte Person bittet Sie um eine Auskunft. Würde die volle Belohnung für die Ergreifung eines steckbrieflich verfolgten Verbrechers an diejenige ausgezahlt werden, die Ihnen genau Aufenthaltsort und beste Verhaftzeit nennen würde? Lassen Sie im Kenai-Observer im Ihr fragt... wir antworten! eine bindende Zusage einrücken. -235-
Dann werde ich handeln, und Sie sollen nicht betrogen werden. Fabelhaft, was du bei dem verdammten Schleicher, dem Coinen, gelernt hast!« Sie schmeichelte sich an den Hünen heran: »Nimm doch die dumme Geschichte nicht so ernst! Ich wollte aus dem öden Seward fort. Niemals hätte ich dich der Polizei übergeben. Ich, und meinen Freund Bill hochgehen lassen? Nein, alter Junge! Aber ich hätte dich dann gewarnt, und wir wären abgehauen, hinunter nach dem warmen Süden, Mexiko oder noch weiter, wo uns kein Mensch kennt. Geld haben wir doch genug!« »Eben nicht. Schätzchen!« grollte er. »Diesen neuen Coup müssen wir noch landen. Aber du sollst diesmal sehen, wie schwer CopperBill seine Dittchen verdienen muß, selbst mitarbeiten, bis dir die Haut in Lappen um die Flossen hängt, selbst einmal das gut frisierte Köpfchen hinhalten, damit du keine Briefe mehr an einen schlanken Polizeisergeanten schreiben kannst. Denn sich selbst anzuzeigen? Dafür bist du ja viel zu klug!« Sie aß schweigend einige Löffel, kippte dann mißmutig die Eßschale aus und erhob sich. »Schön, hier kannst du ja mit mir machen, was du willst. Aber ich nehme dich bei deinem Wort: In der nächsten Woche gondeln wir nach dem Süden!« »Meinst du, ich habe das Schweineleben nicht auch satt? Klar, mein Gold! Nach Panama oder noch viel weiter! Wirst ja sehen, wo du landen wirst!« Mit einem rauhen Gelächter brach der Mann ab. Er schob ihr seine Speiseschale hin und kommandierte: »Sauber machen!« Dann löschte er sorgsam das Feuer mit Wasser aus einem alten Ölkanister und befahl: »Fertigmachen! In einer Stunde kommt der Mond, dann wollen wir die Büchsen holen!« Mühsam war der Abstieg durch das stachlige Legföhrengestrüpp. Endlich standen sie auf der Lichtung, die sich über den -236-
ganzen Boden des Tales der Zehntausend Dämpfe erstreckte. Gespenstisch klang das Schnaufen und Gurgeln der Fumarolen vom Bachlauf herüber. Einen matten Schimmer schenkte das vom Gletschereis widergespiegelte Licht bereits der Schlucht. Undeutlich hob sich das hohe Bohrgerüst der neuen Sonde von den weißen Schleiern der Bruchspalte ab. »Warten! Muß noch heller werden!« befahl der Mann. »Ist eine höllengef ährliche Arbeit, die wir vorhaben.« Ethelrid Quansson wimmerte leise: »Was soll ich dabei helfen? Was willst du tun?« »Wirst es noch zeitig genug merken! Aber dann kannst du nicht mehr zurück, Weib!« lachte er heiser. »Wenn wir mit heilen Knochen aus dem Zehntausend-Teufels-Tal herauskommen, kannst du dich rühmen, etwas geleistet zu haben, was noch keine Frau fertiggebracht hat. Und nun halte das Maul! Vielleicht haben Sie einen Wärter in der Sonde zurückgelassen.« Immer deutlicher traten die einzelnen Konturen in der gespenstischen Schlucht hervor. Endlich blickte die Silberscheibe des Mondes über einen eisumpanzerten Bergrücken, und nun erhob sich Copper-Bill. »Los! Jetzt fängt der Spaß erst an!« Vorsichtig, damit kein Steinchen sich unter ihren Füßen lösen konnte, stiegen sie am Hang wieder empor. Dicht an der Baumgrenze räumte Twards einige Latschenäste weg und griff sorgsam tastend in eine schmale Spalte. »Rucksack auf!« befahl er und hob aus dem Versteck eine runde, fast einen halben Meter lange Blechbüchse, die dicht mit Filzstreifen umwickelt war. »Zehn Pfund das Stück!« sagte er befriedigt. »Du fünf und ich fünf! Aber schleppe sie sorgfä ltiger, als wenn du dein eigenes Kind tragen würdest. Haben es verflucht in sich, die Tins!« Sie sank fast in die Knie, als er die Büchsen auf ihrem Rücken -237-
verstaut hatte. »Das soll ich heben?« jammerte sie. »Ich schmeiße den Krempel in die Schlucht!« Mit einem ehernen Griff umklammerte Twards ihre Hände, die den Traggurt aushaken wollten. »Das wirst du schön sein lassen, Schätzchen! Weißt du, was dort drin ist? Sprengöl, Nitroglyzerin! Fünfzig Pfund des gefährlichsten Sprengstoffes, den es gibt. Wenn du mit der Fracht nur stolperst, bleiben von deinem Fleisch und von deinen Knochen auch nicht ein Kubikzoll beieinander. Halbpart, Bill! War das nicht immer dein Losungswort? Nun machen wir fiftyfifty! Du fünfzig und ich fünfzig! Muß noch 'ne ganze Menge mehr mitschleppen, Zündschnur, Sprengkapseln, Halteklammern. Hat der Drillmaster großartig gemacht, als er das Magazin anlegte. So, nun wollen wir abmarschieren. Gehe hübsch vorsichtig, mein Kindchen, und stürze nicht! Sonst sind wir beide gewesene Menschen!« Es war ein furchtbarer Marsch. Keuchend schleppte sich Ethelrid durch das Gestrüpp, immer angetrieben durch die Stimme des alten Prospektors. Zehnmal wollten ihr die Knie versagen; aber endlich hatte sie es doch geschafft. Vorsichtig hob ihr der Mann die schwere Last von den schmerzenden Schultern, legte sie sorgsam auf ein dickes Moospolster und kroch dann in seinen Schlafsack. »Noch sechs Stunden lang schnarchen! Morgen einen Marsch zu Old-Devils-Mutterbrust, dann haben wir unsere Arbeit hier geschafft. Wenn es klappt, nichts als runter zu unserm Motorkanu am Iliamna River und fort in die schöne Welt. Hau dich hin, Ethelrid!« »Was hast du vor?« fragte sie ängstlich. »Jetzt kann ich es dir sagen. Du kannst es jedem Alaskabären verraten. Kalkuliere nur, er wird dir keine Belohnung auszahlen. Ich sprenge den Gletscher! Old-Devils-Mutterbrust wird morgen in das Tal der Zehntausend Dämpfe hinabprasseln, den Bergstrom stauen und die Sonden ersäufen. Diesmal habt ihr umsonst geplant, meine klugen Herren Professoren und -238-
Ingenieure, die ihr CopperBill als vogelfrei erklärt habt! Hier wird kein Kraftwerk stehen wie bei Kap Gefahr.« Sie wimmerte leise: »Und wir? Was wird uns geschehen?« »Gar nichts, Schäfchen! Sind blaue Sicherheitszündschnüre. Gute zehn Meter... brennen 100 Minuten! In der Zeit sind wir längst am Kanu. Oder kannst ja auch gleich hierbleiben, wenn es dir besser gefällt!« Sie kroch stumm in ihren Schlaf sack und versank in ein dumpfes, schmerzvolles Dämmern. Blau sollten die Zündschnüre sein? Bill war farbenblind, sie hatte sie als rote erkannt. Aber sie schwieg und sagte kein Wort. Als sie beim ersten Morgenschein von einem unsanften Rippenstoß geweckt wurde, hörte sie über sich das Dröhnen einiger großer, schwerer Flugzeuge. Sehnsüchtig sah sie hinauf. Bill Twards höhnte: »Wenn ich ein Vöglein war!... Erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Wenn wir bei Coinen unsere Prämie kassiert haben, kannst du dir gut und gerne so eine Aerokutsche kaufen!« Wiedensohl war früh aufgestanden, aber nicht zeitig genug, um der erste zu sein. Renate Veith stand bereits in Reithosen und hohen Gummistiefeln am Ufer und warf mit kühnem Schwung die Angel mit dem blinkenden Spinner in die in der Morgenkühle dampfende Flut. »Petri Heil!« rief er ihr zu. »Sind Sie in diesem Sport auch zu Hause?« »Hier erst gelernt! Die Salme beißen wie verrückt. Da, der Roller brummt schon wieder ab! Drei Vierpfünder. Genug für ein eisernes Männerfrühstück!« Sie hob eben den letzten Fisch mit dem Kescher aus und warf sie alle einem grinsenden Halbblutboy zu, der den Küchenjungen machte. »Wollen wir einen kleinen Morgenspaziergang unternehmen?« fragte Wiedensohl. »Seit wann suchen Sie die Einsamkeit?« spottete Renate. »Sie -239-
sind überhaupt in letzter Zeit so elegisch... « Er packte ihre kleine feste Hand und bat: »Nicht in diesem Ton weitersprechen, Renate! Ja, ich bin grüblerisch, elegisch, versonnen... Und daran sind Sie schuld! Ich habe mich nämlich, weil Sie so ein tapferer Kerl und überhaupt ein so feines Menschenkind sind... daher habe ich mich bis über beide Ohren in Sie verliebt!« »Wie Bracke!« lachte sie. »Lieber Wiedensohl, der fordert Sie glattweg auf Pistolen über das Schnupftuch, wenn er hört, daß Sie auf seinen eigenen Pfaden pirschen. Habt ihr Männer denn nichts anderes zu tun, als, wenn euch einmal die große Auswahl fehlt, sich in eine unbedeutende Kaffeehauspianistin mit dunkler Vergangenheit und angeätzter Epidermis zu vergucken?« »Hat er um Ihre Hand angehalten?« fragte Wiedensohl bedrückt. »Ja?... Natürlich, da kann ich nur den zweiten Sie ger machen. Der reiche Erbe... die zukünftige Leuchte der Astrophysik... und ich, der bessere Mechanikus! Verzeihen Sie, daß ich so dumm war und erst ein Geständnis machte!« Renate blieb mit heiterster Miene vor ihm stehen und sagte: »Gleich so bitterböse eingeschnappt. Menschenskind? Hätten Sie mich doch ausreden lassen! Jawohl, Bracke hat sich bescheiden danach erkundigt, ob er bei meinem Onkel um meine Hand anhalten könne. Ich habe ihm einen zwar rosaverhüllten, aber trotzdem einwandfreien Korb gegeben und ihm frisch von der Leber weg erklärt, daß ich bereits gebunden sei.« »Also ein dritter? Da soll einer noch aus den Weibsbildern klug werden! Entschuldigen Sie, Fräulein Renate, daß ich es versucht habe, wie ein tolpatschiger Bär in den bereits besetzten Bienenstock einzubrechen!« Und er pfiff grimmig einen uralten Schlager, nach dem vielleicht seine Großmutter einst ihr erstes Ballkleid eingetanzt hatte. »Kenne ich auch!« meinte Renate und pfiff die Melodie -240-
variationsreich mit. »Mein Herz, das ist ein Bienenhaus... Die Mädchen sind darin die Bienen!« »Die Männer!« verbesserte er zornig. »Schwamm darüber! Wenn ich meine Maschine hier hätte, würde ich mir in zehntausend Meter Höhe die dummen Gedanken aus dem Kopf rollen.« »Die kommt ja heute an. Und dann versuchen Sie es. Aber wenn noch ein Rest von einem herzlichen Gefühl für mich übrigbleiben sollte, dann können Sie ja nochmals bei mir anfragen. Sie... Sie... Plumpsack plus Alaskabär plus... « Verdutzt schaute er der Davoneilenden nach. So wütend mit den Stiefeln aufzustampfen, und waren das nicht Tränen gewesen, die plötzlich in ihre Augen geschossen waren? »Und das soll einer verstehen?« sagte er resigniert und lauschte dann auf ein immer mehr anschwellendes Dröhnen, das von den vergletscherten Gipfeln herabklang. Nun schossen fünf dunkle Pfeile über einen weißen Grat, flogen näher, begannen zu kurven, und jetzt erkannte er die Spitzenmaschine. Das war sein Flugboot. Ärgerlich schüttelte er den Kopf, als es der Lenker zu hart auf das Wasser aufsetzte, so daß eine gewaltige Sturzwelle bis über die Tragwerke hinauf gischtete. Er war der erste an der Lände und setzte dem lustig grinsenden Yankee, der die Maschine hierhergeflogen hatte, vorwurfsvoll auseinander, wie man wassern müsse. Dann stieg er sofort in den Führersitz, beugte sich über das Armaturenbrett und prüfte eingehend alle Kontakte, Hebel und Stellschrauben. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß er den Schwärm der Passagiere gar nicht bemerkte, der aus den andern Booten ausstieg, vor allen Dingen einen nicht: Coinen, der den Flug in die Wildnis gewagt hatte, um neue Informationen zu ergattern.
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- 30 Der Drillmeister Wodful ließ den Diesel anlaufen, und seine beiden Hilfsarbeiter schoben die Drehvorrichtung auf das Bohrgestänge. »Fertig! Gib langsam Kraft, Master!« riefen sie ihm zu. »Gut, nun vorwärts mit allen Pferden! Drei Stunden kann die Krone fressen, ehe wir den Kernzieher runter lassen müssen. Also, torpediert wird nicht?« »Nein, Männer! Könnt dann die Nitroglyzerinbüchsen zurück» schaffen. Jeder Mann nur zwei! Müßt eben ein paarmal zum Depot pendeln.« »Wird gemacht!« Und die Arbeiter stiegen gemächlich zu der Spalte empor, wo sie gestern das Sprengöl gelagert hatten. Wodful gönnte sich ein kleines Schwätzchen mit dem Maschinisten; denn gleichmäßig surrend lief das Bohrgestänge in seinen Lagern. Da schreckte ihn ein lautes Rufen aus seiner Ruhe. Im Sturmschritt sah er die beiden von der Lagerstelle des Sprengstoffes zurückkehren, und schon von weitem brüllten sie: »Master, keine Büchse mehr da! Klemmbacken, Zündschnur, Sprengkapseln... alles geklaut!« »Alle Teufel! Unmöglich! Habt ihr auch genau nachgesehen?« »Sicher! Weg die ganze Ladung! Hundert Pfund. Etwa Indians?« »Ausgeschlossen! Die meiden das Tal der Zehntausend Dämpfe wie die Hölle selber. Wenn da nicht eine Riesenschurkerei dahintersteckt, freß ich meine Lederjacke als Salat zu meinen Transtiefeln. Die Burschen auf dem Gletscher... auf Old-Devils-Mutterbrust! Hoffentlich stolpert ihr. Gesegnete Höllenfahrt!« Rasch stieg er selbst zu dem Versteck empor, überzeugte sich, daß nichts mehr vorhanden war, und stürmte dann in das -242-
Maschinenhaus zurück. Er teilte dem Arbeitslager das seltsame Ereignis mit und bat, so schnell wie möglich einige Leute heraufzusenden, um die Verfolgung der Diebe aufzunehmen. Professor Hegar kam selbst an den Apparat und ließ sich alles nochmals berichten. Dann sagte, er: »Wir treffen in einer halben Stunde bei Ihnen an der Bohrstelle ein. Beobachten Sie bitte scharf die Gegend und teilen Sie uns laufend alles Verdächtige mit. Weit können die Diebe mit der gefährlichen Last nicht gekommen sein.« Als der Professor wieder den Speisesaal betrat, kam er dort ge-, rade zurecht, um einen Streit zu schlichten. Wiedensohl hatte nämlieh inzwischen auch Hunger bekommen, seine geliebte Maschine verlassen und war in die Messe zurückgekehrt. Wer ihm dort als erster genau in die Arme lief, das war Coinen. Mit einem Wutschrei stürzte er auf den Weißkopf los und packte ihn hart an beiden Schultern. »Was haben Sie Lausekerl hier zu suchen? Wann soll hier ein Unglück eintreten? Sie Lump, Sie haben sich wieder an den guten Hegar angehauen, um neues Unheil auszubrüten? Wo steckt denn der konfiszierte Schweinehund, Ihr Freund Copper-Bill? Weit kann er ja nicht sein! Aber das sage ich Ihnen: Ich schlage euch allen die Knochen im Leibe kaputt, wenn hier auch nur ein Kiel von den Schluchtwänden rutscht!« Er beutelte dabei sein Opfer so, daß Hegar rasch dazwischentreten mußte, um gröbere Angriffe zu vermeiden. »Ruhe, lieber Wiedensohl! Erst müssen Sie sich orientieren lassen. Unser Verdacht gegen Coinen war unbegründet. Für die Privatrache, die Bill Twards üben wollte, kann er ja letzten Endes nicht!« »So? Hat er Ihnen das eingeredet, dieser dreimal ausgekochte Halunke? Gott segne Ihr kindliches Gemüt, Herr Professor. Ich lasse mir nichts vormachen! Dieser Mensch hat bei allen unnötigen Schwierigkeiten, die sich unserem Werk entgegenstemmten, seine Hand im Spiel gehabt, und dafür soll -243-
er jetzt eine kleine Abschlagszahlung bekommen!« Er krempelte die Ärmel seiner Jacke auf und ging in Auslagestellung. »Los, Coinen! Eine Runde bis zum Niederschlag!« Er konnte den ersten Schwinger nicht setzen. Der Mann von der Telefonzentrale stürmte in den Raum und schrie: »Meldung von Wodful, von der neuen Sonde! Höchste Gefahr fürs Werk! Hören Sie selbst! Lautsprecher zugeschaltet!« Eine keuchende Stimme erfüllte plötzlich den Saal: »Rettet euch! Um eurer Seelen willen, rettet euch! Bill sprengt den Gletscher, des Teufels Mutterbrust! Das Zehntausend-TeufelsTal wird ein See. Hundert Pfund Sprengöl hat er eingebaut. Ich bin ihm entkommen. Bill ist wahnsinnig! Rettet eure Seelen!« »Das ist ja...? Ist das nicht...?« Wiedensohl konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen. Coinen kreischte plötzlich auf: »Die Quansson! Ethelrid! Verflucht, daß ich gerade heute hierherkommen mußte! Er hat mich nicht unterrichtet! Er handelt eigenmächtig!« Da saß der Schwinger! Coinen sank zu Boden. »Binden und im Stauraum einer Maschine einschließen!« befahl Wiedensohl. Dann war er mit drei Sätzen in der Sprechzentrale: »Räumt sofort die Sonde! Raupenwagen da? Dann mit äußerster Kraft zurück zum Hauptlager. Bringt die Männer von den ändern Teufen mit! Das Mädchen auch! Vergeßt es nicht! Unsere Kronzeugin!« Mit besorgtem Gesicht kehrte er wieder in den Speiseraum zurück. »Nun müssen wir schnell handeln. Bracke, Sie machen den Funkgast. Wenn Sie es wagen wollen, Fräulein Renate, dann übernehmen Sie die Beobachtung in meiner Maschine. Ich will mir das Gelände einmal ansehen. Alle übrigen gehen am besten in die ändern Flugboote. Bill Twards, so meine ich, wagt heute einen Hauptschlag, um uns alle zu vernichten.« Als sich die Propeller zu drehen begannen, traf der Raupenwagen von der neuen Sonde ein. Wodfui schleppte ein -244-
zerschlagenes, blutendes Bündel Mensch auf seinen Armen in die Messe. Ethelrid Quansson war nicht wiederzuerkennen. Das Gesicht, die nackten Arme und Beine waren blutig von aufgeplatzten Peitschenschwielen. »Der Hund! Der verdammte Teufel!« wimmerte sie nur. »So hat er mich zugerichtet, weil ich nicht mitmachen wollte. Rettet euch! Oder der leibhaftige Satan wird euch alle fressen!« Mehr war vorläufig nicht aus ihr herauszubringen. Schnell wurde das Flugboot, gesteuert von der sicheren Hand Wiedensohls, wasserfrei und zog in einer steilen Spirale auf 1000 Meter Höhe. Dann flog der Pilot, nur langsamste Marschgeschwindigkeit gebend, das Tal der Zehntausend Dämpfe entlang. »Dort ist des Teufels Mutterbrust!« rief ihm Renate durch die Bordsprechanlage zu. »Halb rechts voraus vom Kurs!« »Verdammt, das sieht ja unheimlich aus! Wenn der ins Rutschen kommt!« In diesem Augenblick sahen sie einen Mann westlich oberhalb der engen Randkluft stehen. Er hatte sich auf eine Felskanzel geschwungen und winkte mit einer Pelzkappe dem Flugzeug zu. Wiedensohl lenkte die Maschine so, daß sie nur 50 Meter über der Gestalt wegschoß. »Das war Bill Twards! Ich kenne den Burschen zu genau, um mich zu täuschen. Freundchen, wenn ich ein Maschinengewehr an Bord hätte, dir wollte ich es geben!« Da verstummte er und riß die Maschine mit Vollgas steil hoch. Seine Fäuste krampften sich um die Steuersäule. Wild zerrte der Gegendruck der gewaltigen Geschwindigkeit am Leitwerk. Doch Wiedensohl gab nicht nach. Erst als der Höhenmesser 2000 Meter zeigte, setzte er zum Gradausflug ab. »Beinahe in die Augen gegangen!« sagte er. Die beiden Begleiter sahen erst jetzt, was inzwischen geschehen war. Der gewaltige Hängegletscher war in das Tal hinabgestürzt. Eine -245-
riesige Eisstaubwolke stieß aus der Schlucht empor, schlug bis fast zu dem Flugzeug hoch und verhüllte zunächst jede Sicht. Aus diesem brodelnden Hexenkessel stiegen neue Wolkentürme heraus und verkündeten, daß weitere Eismassen in das Tal hinabdonnerten. Vorsichtig steuerte der Führer die Maschine dem oberen Talende zu. Hier war die Sicht noch frei. Deutlich konnte man das Bohrgerüst der neuen Sonde erkennen. Aber nur einen Augenblick lang. Dann schien das riesige Stahldreibein einen gewaltigen Satz in die Luft zu machen, mit ihm der Motorschuppen, und nun zischte aus der Erde ein Dampfstrahl, fast tausend Meter hoch. Das donnernde Brausen des Ausbruchs übertönte den Propellerlärm und das dumpfe Dröhnen, das vom Gletscherbruch immer noch heraufklang. »Die neue Sonde ist fündig geworden!« schrie Bracke durch das Toben. »Schade um die zweihunderttausend Pferdestärken, die jetzt nutzlos in der Luft verpuffen!« Länger als eine Stunde kreiste Wiedensohl über dem Tal der Zehntausend Dämpfe. Dann wagte er sich in das Gebiet des Eissturzes und stieß hinab. Eine gewaltige Blockmauer, Hunderte von Metern hoch und mehr als tausend dick, sperrte die Schlucht an ihrer engsten Stelle. Der reißende Bergstrom, der von den vielen abtauenden Gletschern zwischen Katmai und Iliamna gespeist wurde, war bereits zu einem ansehnlichen See angestaut worden. Fast reichte er hinauf bis zu der neuen Sonde, die mit unverminderter Heftigkeit den riesigen Dampfstrahl gen Himmel spie. Besorgt wies Bracke auf die immer höher schwellenden Fluten: »Wenn der Staudamm birst, schwemmt es das ganze Hauptlager in den See. Ich gebe den Räumungsbefehl!« Als sich das Flugboot wieder auf die Wasserfläche des Iliamna-Sees niederließ, bestiegen gerade die letzten Leute die Maschinen. Hegar nahm neben Wiedensohl Platz, und sofort startete er wieder. »Viel Wasser bereits im Höllenschlund?« fragte der Professor. »Ich habe Angst und Hoffnung, daß am -246-
Mount Katmai etwas geschieht, was wir alle nicht erwarten. Wenn in einen weißglühenden Dampfkessel kaltes Wasser hineingepumpt wird, was erfolgt dann?« »Kesselexplosion!« sagte der Niedersachse ruhig. Er zog eine Schleife über dem Lager. »Übrigens, ist Coinen gut verstaut?« »Ist er nicht hier in dieser Maschine?« »Nein, bestimmt nicht! Wir starteten ja zu schnell, und er war noch bewußtlos!« »Um Himmels willen! Dann liegt er noch im Materialschuppen. Wir müssen ihn holen!« »Erst muß ich mir die Stauhöhe einmal ansehen!« erwiderte der Pilot. »Wenn die Fluten nicht gewachsen sind, wage ich noch eine Landung.« Der Talsee reichte bereits bis zu den Trümmern der neuen Sonde. »Einige hunderttausend Pferdestärken schlägt uns der Schurke aus der Hand mitten im Entscheidungskampf gegen die Kälte«, sagte Hegar bitter. »Blicken Sie dorthin, was ist denn das?« Sprachlos starrten alle hinab auf das seltsame Geschehnis. Die gewaltigen Wassermassen versanken plötzlich. Ein Ungeheuer schien sie in sich hineinzutrinken. Ein furchtbares Schnarchen und Gurgeln drang bis zu den Insassen der Maschine hinauf, die mehr als tausend Meter über der Talsohle hing. Hegar besann sich zuerst. »Volle Kraft auf beide Propeller! Ziehen Sie die Kiste hoch, so hoch wie möglich! Bracke, die Sauerstoffgeräte... Der Katmai säuft das Wasser... jeden Augenblick kann die Kesselexplosion erfolgen!« »Viertausend Meter!« sagte nach einer Weile Wiedensohl in das beklommene Schweigen. »Es geschieht nichts...!« »Doch!« Renate wies hinab in die Schlucht, die aus dieser Höhe wie ein dunkler qualmender Riß in der weißen Gletscherund Firnenpracht lag. »Seht nur, sie wird breiter!... Sie frißt sich -247-
in die Berge... Mein Gott, der Iliamna-See versinkt...!« »Höher! Höher!« flehte Hegar. »Wir werden gleich etwas sehen, was noch nie eines Menschen Auge geschaut hat. Steuern Sie Nordost... Fort vom Katmai! Sonst können wir nicht berichten, was sich hier ereignet hat!« Rechts, tief unter ihnen lag jetzt der vergletscherte Riesenkrater des Vulkans. Da verwischten sich auf einmal die Konturen. Täler wurden verschüttet, neue brachen auf. Die Tuffwände des rauchenden Kessels sanken zusammen. Und plötzlich brach das ganze Gebirgsmassiv auseinander. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit schoß eine ungeheure schwarze, rot durchzuckte Wolke aus jener Gegend empor, erreichte in Sekunden die Höhe des Flugbootes, stieß darüber hinaus und immer höher und höher. »Der Katmai ist explodiert! Höchste Geschwindigkeit, Wiedensohl! Nordost!... Nordost! Wir fliegen um unser Leben!« Da packte sie schon der Explosionsstoß. Mit wilden Stößen rüttelten die unterirdischen Mächte an dem Silbervogel, doch die Steuerkunst des Piloten besiegte sie. Am Rand der riesigen Aschenwolke, die sich immer weiter über das Firmament ausdehnte, schoß die Maschine jetzt schon in zehntausend Meter Höhe auf die Cook-Bai zu. Aber fast doppelt so hoch schätzte Professor Hegar die oberste Grenze der von Blitzen durchzuckten Riesenpinie. »Staub in der Stratosphäre! Besseres gibt es gar nicht gegen die Ultrastrahlung!« schrie er begeistert zwischen hastigen Zügen am Sauerstoffgerät. »Milliarden Kubikmeter Kohlensäure sind frei geworden! Wir gewinnen zwei Jahre Zeit im Kampf gegen die Kälte. Vorwärts nach Anchorage! Ein Sieg ist erfochten... ein herrlicher Sieg!« Als sie in der Hafenstadt landeten, trieben die Aschenschleier schon bis zum jenseitigen Ufer der Bai. »Betriebsstoff übernehmen und dann weiter nach Süden. Nein, Gefahr gibt es -248-
kaum für diese Gegend. Aber sechs oder sieben Tage lang wird man zwischen der Behringstraße und dem Vancouver-Golf keine Sonne und keinen Stern sehen«, sagte Hegar. Doch nur Bracke hörte ihm zu. Renate hatte mit Wiedensohl etwas zu besprechen. Er saß müde auf der Mole und sah zu, wie die Tankmänner die Einfüllstutzen aufschraubten. »Sie wollten doch noch einmal nach etwas Gewissem nachfragen?« sagte das Mädchen zu dem Mann. »Ja, ich habe mir seit heute früh den Kopf darüber zerbrochen, wer das sein könnte, an den Sie Ihr Herz verschenkt haben. Ich weiß bloß einen...« »Und der wäre?« Mit blitzenden Augen und lachendem Gesicht stand sie vor ihm. »Der Plumpsack plus Alaskabär plus undsoweiter... Wiedensohl!« sagte er leise und nahm sie in seine Arme. »Recht so, Mädchen?« »Wenn du mich magst! Denn du weißt, in meinem Leben gibt es einige dunkle Flecken...« »... wie in der Sonne, Renate! Aber deshalb lieben wir sie doch!« Der Professor sah aus dem Kabinenfenster und rief ganz verwundert: »Aber, Renate, was ist denn los?« »Robert Wiedensohl hat seinen siebenfachen Panzer gesprengt und sich einmal als Mensch gezeigt! Er spricht auch sehr anerkennend von einer gewissen Sonne!« »Das sind ja Überraschungen! Einsturz! Wassereinbruch, KatmaiExplosion und Verlobung an einem Tage? Wem verdanken wir denn soviel Wunder?« »Copper-Bill und Coinen wahrscheinlich!« sagte Bracke etwas wehmütig. »Gratuliere, Renate! Aber Freunde bleiben wir doch wenigstens so lange, bis wir die Kälte aus der Welt herausgeschlagen haben!« -249-
»Viel länger Bis uns die letzte große Kühle in ihre friedvollen Arme nimmt"«
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